Für ein Europa der Bürger!: Den Europa-Diskurs erneuern 9783495998731, 9783495998724


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Ukraine: Den Europa-Diskurs erneuern
1 Zur Einführung: Erfolgsmodell und Tiefenkrise
1.1 Erfolgsmodell
1.2 Tiefenkrise
1.3 Strukturprobleme
1.4 Bürgerunion statt Elitenprojekt
1.5 Grundlegende Reform!
Erster Teil Das politische Projekt
2 Geographie oder Geschichte und Kultur?
2.1 Die Kultur transzendiert die Geographie
2.2 Zeus raubt eine phönizische Königstochter
2.3 Eigentümlichkeiten
2.4 Statt Krieg jetzt Wettstreit
2.5 Exkurs: Deutschland bändigen?
3 Pflichteuropa oder Wahleuropa?
3.1 Wider die Vertreibung europäischer Staaten aus dem Europa-Diskurs
3.2 Ein europäischer Gesellschaftsvertrag
3.3 Pflichteuropa
3.4 … und Wahleuropa
3.5 Erfolgskriterien
4 Europa als Heimat?
4.1 Das Problem
4.2 Ein aufgeklärter Heimatbegriff
4.3 Minimale, mittlere und optimale Heimat
5 Gemeinsame Grundwerte?
5.1 Rangstufen
5.2 Welche Grundwerte?
5.3 Mehr als nur Grundwerte
5.4 Recht auf Differenz
6 Europäische Bürgeridentität?
6.1 Ein komplexes Phänomen
6.2 Eine Entgrenzung
6.3 Erneut: Recht auf Differenz
7 Wo bleiben Rechtsstaat und Demokratie?
7.1 Das wahre Demokratiedefizit
7.2 Justiz
7.3 Finanzpolitische Rechtsverletzungen: Die Währungsunion
7.4 Politik statt Recht?
8 Europäische Öffentlichkeit?
8.1 Wo bleiben europäische Medien?
8.2 Vier Exklusionen
8.3 Mehrsprachigkeit
8.4 Mehr direkte Demokratie
8.5 Die kleine Öffentlichkeit
Zweiter Teil Der kulturelle Reichtum
9 Ein alternatives Haus der Europäischen Geschichte
10 Sprache, Literatur und Philosophie
10.1 Vielheit und Einheit
10.2 Philosophie der Dichtung
10.3 Von Platon über Aristoteles zu Kant
11 Recht und Gerechtigkeit
11.1 Ein sprechender Mythos
11.2 Der Weg zum Rechtstaat
11.3 Positives Recht und Naturrecht
11.4 Herrschaftslegitimation und Menschenrechte
11.5 Gesetzesrecht oder Richterrecht?
11.6 Rechtsverletzungen der Union
11.7 Demokratie ohne Liberalismus?
11.8 Die Gegenkultur: Kriege, Bürgerkriege und Kolonialismus
12 Wirtschaft und Finanzen
12.1 Was ist europaspezifisch?
12.2 Gemeinwohl durch Selbstinteresse?
12.3 Ein Blick auf den Kapitalismus
12.4 Wirtschaftlicher Fortschritt
12.5 Grenzen des Marktes
12.6 Sozialismus oder soziale Marktwirtschaft?
13 Wissenschaft mit Technik und Medizin
13.1 Ein universales Phänomen
13.2 Eigentümlichkeiten Europas
13.3 Interessengebunden?
13.4 Befreiung und neue Fesseln
13.5 Forschungsethik
14 Religion
14.1 Idiophobie?
14.2 Religion
14.3 Toleranz oder Gleichgültigkeit?
14.4 Säkularisierung
14.5 Wie christlich ist das Abendland?
14.6 Gehört der Islam zu Europa?
15 Musik
15.1 Eine Weltsprache
15.2 Ist Europas Musik einzigartig?
15.3 Weltweite Präsenz
15.4 Das »Phänomen Bach«
15.5 Ein Blick in die Geschichte
15.6 Globalisierungsfähigkeit
15.7 Neugier auf das Fremde
16 Baukunst, Malerei und Visualisierung in der Philosophie
16.1 Architektur als Ingenieurskunst
16.2 Religiöse Kunst: Europa als Ausnahme
16.3 Visualisierung von Philosophie
16.4 Visuelle Begrifflichkeiten
17 Aufklärung
17.1 Allgemeinmenschlich
17.2 Die Epoche der Aufklärung
17.3 Exkurs: Kritische Hermeneutik
Dritter Teil Die Vision: Ein Europa der Bürger
18 Das angebliche Vorbild: USA
18.1 Ein Vorbild?
18.2 Unterschiede
18.3 Ein schleichender Staatsstreich
19 Geeignete Vorbilder
19.1 Ein Europäer ohne Hochmut: Immanuel Kant
19.2 Wettstreit – in Frieden
20 Subsidiarität
20.1 Das Prinzip
20.2 Politische Erfordernisse
20.3 Drei Kriterien
20.4 Freiheit und Haftung
21 Gibt es schon eine europäische Identität?
21.1 Wie entsteht kollektive Identität?
21.2 Gibt es sie in der Union?
21.3 Mehr Demokratie
22 Kosmopolitisch …
22.1 Eine sanfte Expansion
22.2 Drei Muster
22.3 Tatsächlich sanft?
23 … und regional
23.1 Die Gegenrichtung
23.2 Regionale Verbünde
24 Bilanz: Zehn Thesen für ein Europa der Bürger
Literatur
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Für ein Europa der Bürger!: Den Europa-Diskurs erneuern
 9783495998731, 9783495998724

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Otfried Höffe

Für ein Europa der Bürger! Den Europa-Diskurs erneuern

https://doi.org/10.5771/9783495998731 .

https://doi.org/10.5771/9783495998731 .

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Otfried Höffe

Für ein Europa der Bürger! Den Europa-Diskurs erneuern

https://doi.org/10.5771/9783495998731 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99872-4 (Print) ISBN 978-3-495-99873-1 (ePDF)

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de

https://doi.org/10.5771/9783495998731 .

Für Cosima, Philippa und Valentin, Leonore, Carlotta und Josefine: daß unsere Enkel ein bürgerfreundliches Europa erleben.

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https://doi.org/10.5771/9783495998731 .

Vorwort

Zur Neuauflage Dem Verleger des Nomos Verlages, Martin Hähnel, danke ich für diese Neuauflage. Sie bietet meinem Europa-Essay die Möglichkeit zu knappen Aktualisierungen, wie sie namentlich der Überfall Russ­ lands auf die Ukraine erforderlich macht. Überdies erlaubt sie, wenn auch nur im Vorübergehen, jene sachfremd scharfe Kritik von Wilfried Loth zurückzuweisen (Frankfurter Allgemeine, 19. Mai 2020), über die in einem Leserbrief der Zürcher Politische Philosoph Georg Kohler »nur den Kopf schütteln« konnte (Frankfurter Allgemeine 6. Juni 2020). Denn wie könne der Rezensent übersehen, daß Otfried Höffes Essay die umfassende europäische Idee vorstelle, ohne deshalb wie viele Europaenthusiasten das »Mißvergnügen vieler Menschen mit ›Brüssel‹« verdrängen zu müssen. Tübingen und München im Sommer 2022

7 https://doi.org/10.5771/9783495998731 .

Vorwort

Zur Erstauflage Seit der Friedensnobelpreis im Jahr 2012 an die Europäische Union verliehen wurde, ist der ganzen Welt bewußt, wovon aufmerksame Beobachter schon seit langem überzeugt waren: daß die allmähliche Fortbildung europäischer Zusammenarbeit zur Europäischen Union eine herausragende Leistung darstellt, die vermutlich die größte politische Innovation ist, die die Welt seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt. Der Sinn dieser Entwicklung läßt sich jedoch nicht, wie vie­ lerorts behauptet, auf einen einzigen Zweck festlegen. Auch wenn in Festreden der Friede gern als Leitzweck beschworen, vielleicht noch um Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand für alle ergänzt wird, bricht sich dieses Trio von Friede, Recht und Wohlstand an der weit facettenreicheren europäischen Wirklichkeit. Über Europa kann man nun tagespolitisch nachdenken. Dann erscheint unser Kontinent als menschlich, also nicht bloß mit objektiven Schwierigkeiten konfron­ tiert, sondern auch von Habsucht, Ehrsucht und Herrschsucht heim­ gesucht, überdies durchsetzt von Neid und Eifersucht, gelegentlich sogar Bosheit. Ebenso menschlich ist die Fähigkeit, über Alltagspla­ gen hinauszudenken, eine Vision zu entwerfen, um mit Hilfe der Vision, sofern sie erfahrungsgesättigt ist, die »harten Bretter« der Tagespolitik durchbohren zu lassen. Dieser Versuch wird hier unter­ nommen: Vorschläge für und Erfahrungen mit Europa zu reflektieren und zu einer realistischen Vision fortzuentwickeln, vorgenommen von einem Philosophen zwar, der sich aber auch in den einschlägigen Einzelwissenschaften kundig macht und vor allem sich als Bürger engagiert. Der hier vorgelegte Essay versteht sich daher als Beitrag zu einer wahrhaft politischen Philosophie. Vor etlichen Jahren habe ich in Zeiten der Globalisierung für eine Weltrechtsordnung, pointierter, für eine föderale und subsidiäre Weltrepublik plädiert. Schon damals schloß der Vorschlag großregio­ nale Zwischenstufen wie die Europäische Union ein. Diese Studie nimmt die Zwischeninstanz genauer unter die Lupe. Sie bestreitet nicht, daß Europas Hauptaufgabe nach dem Zweiten Weltkrieg wie angedeutet in der Sicherung eines Friedens besteht, der ein Leben in Freiheit ermöglicht, daher nach einem von Grund- und Menschen­ rechten bestimmten Recht verlangt, um die über Jahrhunderte nicht überall durchgehend, aber doch immer wieder verfeindeten Völker miteinander zu versöhnen und ihnen – bei entsprechender Anstren­ gung! – einen für alle offenen wachsenden Wohlstand zu bescheren.

8 https://doi.org/10.5771/9783495998731 .

Zur Erstauflage

Diese Studie erkennt den Rang und das Gewicht dieser drei Leitgedan­ ken an. Sie ergänzt sie jedoch um zahlreiche weitere Gesichtspunkte, da ohne sie Europas politischer und kultureller Reichtum nicht annä­ hernd sachgerecht erörtert wird. Mit entsprechenden Fragen befasse ich mich seit vielen Jahren: in Vorträgen und Zeitungsessays sowie in neun Symposien, die ich im Laufe von vier Jahren mit Andreas Kablitz im Arbeitskreis der FritzThyssen-Stiftung »Europa – politisches Projekt und kulturelle Tradi­ tion« veranstaltet habe. Es fehlte allerdings, was weder Vorträge und Zeitungsessays noch einzelne Symposien leisten können und wollen: ein systematischer Versuch. Im Gegensatz zu zahlreichen Engfüh­ rungen des Themenfeldes, insbesondere zur Verkürzung unseres Kontinents auf eine wirtschafts- und finanzpolitische Zweckgemein­ schaft, soll Europa hier in jener Vielfalt betrachtet werden, die diesen Kontinent auszeichnet. Nach der Grundthese konstituiert sich Europa durch ein kulturelles Erbe, das gemäß einem weiten Verständnis der Kultur selbstverständlich das Recht und die Politik, die Wirtschaft und die Welt von Wissenschaft, Medizin und Technik mit dem Ziel einschließt, technokratische Vorschläge von Krämerseelen durch eine veritable Vision, durch ein Europa für seine Bürger, zu ersetzen. Dieser Vision liegt eine Leitthese aus zwei ineinander greifenden Stufen zugrunde. Um legitim zu sein, halten moderne Gemeinwesen zwei Grundgedanken für unverzichtbar und unverhandelbar, Demo­ kratie und Rechtsstaatlichkeit. Gemäß der ersten Stufe der Leitthese lassen sich die beiden Grundsätze nicht, wozu die derzeitige Union tendiert, in einem bürokratisch zentralisierten Verbund von mehr und mehr entmachteten Einzelstaaten verwirklichen, die man, nicht ganz sachgerecht, auch Nationalstaaten nennt. Es kommt vielmehr weit stärker auf die Letztbetroffenen und Letztentscheidenden, die Bürger, an. Ihretwegen müssen die bislang allein bekannten Primärgestal­ ten rechtsstaatlicher Demokratie, die Einzelstaaten, trotz vielfacher europäischer Gemeinsamkeiten zumindest derzeit ihre konkreten Eigenarten behalten dürfen. Nach der zweiten Stufe der hier vertretenen Vision dürfen die Gemeinsamkeiten Europas sich durchaus erweitern, verdichten und verstärken. Wie das reflexive »sich« aussagt, muß dieser Prozeß aber von den Bürgern und ihren Staaten, zusätzlich von bürgerbzw. zivilgesellschaftlichen Gruppierungen, insofern »von unten« und freiwillig erfolgen. Er darf jedenfalls nicht »von oben«, weder von Brüssel, der Europäischen Kommission, noch von Luxemburg, dem

9 https://doi.org/10.5771/9783495998731 .

Vorwort

Europäischen Gerichtshof, und auch nicht vom Europaparlament in seiner derzeitigen Wirklichkeit erzwungen werden. Dabei wird sich zeigen, so die zweite Stufe dieser Vision, daß die Bürger, ihre Staaten und ihre Bürgergesellschaft gut beraten sind, nicht leichtfertig auf ihre Eigenarten zu verzichten und den maßgeblichen Ort ihrer Selbst­ regierung, den Einzelstaat, aufzugeben. Es versteht sich, daß der Stachel des Nationalismus den Nationen zu nehmen ist. Sie deshalb abzuschaffen und an Stelle der den Kontinent bereichernden Verschie­ denheit eine europäische Supranationalität aufzubauen, widerspricht einem Europa, das stolz darauf ist, seinen Bürgern zu dienen. Ich danke für zahllose Anregungen meinem Kollegen und Freund Andreas Kablitz, ferner für hilfreiche Kommentare meinem langjäh­ rigen Mitarbeiter beim Thyssen-Europa-Arbeitskreis, Moritz Hildt, nicht zuletzt der Fritz Thyssen-Stiftung und dem Tübinger Unibund für ihre wieder einmal großzügige finanzielle Unterstützung. Tübingen im Winter 2019/20

Otfried Höffe

10 https://doi.org/10.5771/9783495998731 .

Inhaltsverzeichnis

Ukraine: Den Europa-Diskurs erneuern . . . . . . . . .

17

1

Zur Einführung: Erfolgsmodell und Tiefenkrise . . .

23

1.1

Erfolgsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

1.2

Tiefenkrise

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

1.3

Strukturprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

1.4

Bürgerunion statt Elitenprojekt . . . . . . . . . . . .

33

1.5

Grundlegende Reform! . . . . . . . . . . . . . . . .

37

Erster Teil

Das politische Projekt . . . . . . . . . . . .

41

Geographie oder Geschichte und Kultur? . . . . . .

45

2.1

Die Kultur transzendiert die Geographie . . . . . . . .

45

2.2

Zeus raubt eine phönizische Königstochter

. . . . . .

47

2.3

Eigentümlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

2.4

Statt Krieg jetzt Wettstreit . . . . . . . . . . . . . . .

53

2.5

Exkurs: Deutschland bändigen? . . . . . . . . . . . .

57

2

3

Pflichteuropa oder Wahleuropa?

. . . . . . . . . .

61

3.1

Wider die Vertreibung europäischer Staaten aus dem Europa-Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

3.2

Ein europäischer Gesellschaftsvertrag . . . . . . . . .

64

3.3

Pflichteuropa

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

3.4

… und Wahleuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

3.5

Erfolgskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

11 https://doi.org/10.5771/9783495998731 .

Inhaltsverzeichnis

4

Europa als Heimat? . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

4.1

Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

4.2

Ein aufgeklärter Heimatbegriff

. . . . . . . . . . . .

81

4.3

Minimale, mittlere und optimale Heimat . . . . . . .

85

Gemeinsame Grundwerte? . . . . . . . . . . . . . .

91

5 5.1

Rangstufen

5.2

Welche Grundwerte?

. . . . . . . . . . . . . . . . .

93

5.3

Mehr als nur Grundwerte . . . . . . . . . . . . . . .

100

5.4

Recht auf Differenz

100

6

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

Europäische Bürgeridentität?

91

. . . . . . . . . . . .

105

6.1

Ein komplexes Phänomen . . . . . . . . . . . . . . .

105

6.2

Eine Entgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

107

6.3

Erneut: Recht auf Differenz . . . . . . . . . . . . . .

109

7

Wo bleiben Rechtsstaat und Demokratie?

. . . . .

111

7.1

Das wahre Demokratiedefizit . . . . . . . . . . . . .

112

7.2

Justiz

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

117

7.3

Finanzpolitische Rechtsverletzungen: Die Währungsunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

120

7.4

Politik statt Recht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

123

Europäische Öffentlichkeit? . . . . . . . . . . . . .

125

8.1

Wo bleiben europäische Medien? . . . . . . . . . . .

125

8.2

Vier Exklusionen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

128

8.3

Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

130

8.4

Mehr direkte Demokratie . . . . . . . . . . . . . . .

132

8.5

Die kleine Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . .

133

8

12 https://doi.org/10.5771/9783495998731 .

Inhaltsverzeichnis

Zweiter Teil Der kulturelle Reichtum 9

. . . . . . . . . .

Ein alternatives Haus der Europäischen Geschichte

10 Sprache, Literatur und Philosophie

135 139

. . . . . . . . .

143

10.1 Vielheit und Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

143

10.2 Philosophie der Dichtung . . . . . . . . . . . . . . .

148

10.3 Von Platon über Aristoteles zu Kant . . . . . . . . . .

149

11 Recht und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . .

153

11.1 Ein sprechender Mythos . . . . . . . . . . . . . . . .

154

11.2 Der Weg zum Rechtstaat

. . . . . . . . . . . . . . .

156

11.3 Positives Recht und Naturrecht . . . . . . . . . . . .

158

11.4 Herrschaftslegitimation und Menschenrechte . . . . .

159

11.5 Gesetzesrecht oder Richterrecht?

. . . . . . . . . . .

161

11.6 Rechtsverletzungen der Union . . . . . . . . . . . . .

163

11.7 Demokratie ohne Liberalismus? . . . . . . . . . . . .

164

11.8 Die Gegenkultur: Kriege, Bürgerkriege und Kolonialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

167

12 Wirtschaft und Finanzen . . . . . . . . . . . . . . .

171

12.1 Was ist europaspezifisch? . . . . . . . . . . . . . . .

171

12.2 Gemeinwohl durch Selbstinteresse? . . . . . . . . . .

173

12.3 Ein Blick auf den Kapitalismus . . . . . . . . . . . . .

177

12.4 Wirtschaftlicher Fortschritt

. . . . . . . . . . . . . .

180

12.5 Grenzen des Marktes . . . . . . . . . . . . . . . . .

181

12.6 Sozialismus oder soziale Marktwirtschaft? . . . . . . .

182

13 Wissenschaft mit Technik und Medizin . . . . . . .

187

13.1 Ein universales Phänomen . . . . . . . . . . . . . . .

187

13.2 Eigentümlichkeiten Europas . . . . . . . . . . . . . .

191

13.3 Interessengebunden?

193

. . . . . . . . . . . . . . . . .

13 https://doi.org/10.5771/9783495998731 .

Inhaltsverzeichnis

13.4 Befreiung und neue Fesseln . . . . . . . . . . . . . .

194

13.5 Forschungsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

196

14 Religion

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

201

14.1 Idiophobie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

201

14.2 Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

203

14.3 Toleranz oder Gleichgültigkeit? . . . . . . . . . . . .

204

14.4 Säkularisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

210

14.5 Wie christlich ist das Abendland? . . . . . . . . . . .

212

14.6 Gehört der Islam zu Europa?

. . . . . . . . . . . . .

218

15 Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

223

15.1 Eine Weltsprache

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

223

15.2 Ist Europas Musik einzigartig? . . . . . . . . . . . . .

224

15.3 Weltweite Präsenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

226

15.4 Das »Phänomen Bach«

. . . . . . . . . . . . . . . .

228

15.5 Ein Blick in die Geschichte . . . . . . . . . . . . . . .

230

15.6 Globalisierungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . .

232

15.7 Neugier auf das Fremde . . . . . . . . . . . . . . . .

237

16 Baukunst, Malerei und Visualisierung in der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

241

16.1 Architektur als Ingenieurskunst . . . . . . . . . . . .

241

16.2 Religiöse Kunst: Europa als Ausnahme

. . . . . . . .

242

16.3 Visualisierung von Philosophie . . . . . . . . . . . .

248

16.4 Visuelle Begrifflichkeiten

. . . . . . . . . . . . . . .

251

17 Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

257

17.1 Allgemeinmenschlich . . . . . . . . . . . . . . . . .

257

17.2 Die Epoche der Aufklärung

260

. . . . . . . . . . . . . .

17.3 Exkurs: Kritische Hermeneutik

. . . . . . . . . . . .

14 https://doi.org/10.5771/9783495998731 .

262

Inhaltsverzeichnis

Dritter Teil Die Vision: Ein Europa der Bürger . . . . .

267

18 Das angebliche Vorbild: USA . . . . . . . . . . . . .

271

18.1 Ein Vorbild? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

271

18.2 Unterschiede

272

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18.3 Ein schleichender Staatsstreich

. . . . . . . . . . . .

274

19 Geeignete Vorbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . .

279

19.1 Ein Europäer ohne Hochmut: Immanuel Kant . . . . .

279

19.2 Wettstreit – in Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . .

281

20 Subsidiarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

285

20.1 Das Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

285

20.2 Politische Erfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . .

287

20.3 Drei Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

289

20.4 Freiheit und Haftung

292

. . . . . . . . . . . . . . . . .

21 Gibt es schon eine europäische Identität?

. . . . .

295

21.1 Wie entsteht kollektive Identität? . . . . . . . . . . .

295

21.2 Gibt es sie in der Union? . . . . . . . . . . . . . . . .

297

21.3 Mehr Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

299

22 Kosmopolitisch … . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

303

22.1 Eine sanfte Expansion . . . . . . . . . . . . . . . . .

303

22.2 Drei Muster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

304

22.3 Tatsächlich sanft?

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

307

23 … und regional . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

309

23.1 Die Gegenrichtung

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

309

23.2 Regionale Verbünde . . . . . . . . . . . . . . . . . .

310

15 https://doi.org/10.5771/9783495998731 .

Inhaltsverzeichnis

24 Bilanz: Zehn Thesen für ein Europa der Bürger . . .

313

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

323

16 https://doi.org/10.5771/9783495998731 .

Ukraine: Den Europa-Diskurs erneuern

Putins rechts- und völkerrechtswidriger Angriff auf einen souveränen Staat, die Ukraine, hat die Welt und besonders, sowohl wegen der geo­ graphischen Nähe als auch der politisch-kulturellen Verwandtschaft, Europa grundlegend verändert. Ein Kontinent, in dem West-, Nordund Westmitteleuropa mehr als 75 Jahre in jenem Frieden lebt, der seit mehr als 30 Jahren auch im Rest des Kontinents herrscht, wird aus dieser Lage, der in politischer Hinsicht allein menschenwürdigen Situation, schonungslos und rücksichtslos herausgerissen. Betroffen sind allerdings nicht alle europäischen Länder. Der Anfang eines Weltkrieges findet glücklicherweise nicht statt. Aber ein Land, eben die Ukraine, ist zum Opfer eines brutalen Angriffskrieges geworden. Die Hilfe, die die Ukraine in dieser Situation bitter nötig hat, überdies rundum verdient, besteht naturgemäß als erstes in militäri­ scher, medizinischer und finanzieller, auch in emotionaler, sozialer und medialer Unterstützung. Nur in Klammern: Sie sollte allerdings überhaupt nicht, aber schon gar nicht mit Verbalattacken eingefordert werden. Hilfe muß man erbitten und, wo sie erfolgt, »mit Dank und Anerkennung«, wie man traditionell sagt, beantwortet werden. Da Putins Angriff offensichtlich Völkerrecht verletzt, wäre die Hilfe von jedem Staat zu erwarten, der für sich mehr als bloß eine vage Wertschätzung erhofft. Schon die rechtlich-moralische Selbstachtung sollte wenigstens das Minimum von Hilfe, eine Kritik an Rußlands Vorgehen und eine Unterstützung der Sanktionen gebieten. In Wahr­ heit sind es nicht etwa nur einige kleinere Staaten, die sich diesem Minimum verweigern. Selbst große Staaten wie Brasilien und Indien denken lieber in Machtkategorien, ohnehin China, das zu seinem sozialistischen Brudervolk hält. Daß Putins Krieg das Völkerrecht, also immerhin mehr als lediglich ein moralisches Gefühl, verletzt, fällt für diese Länder nicht hinreichend ins Gewicht. Europa nimmt aber nicht lediglich das global verbindliche Recht, das Völkerrecht, in den Blick. Diesem Kontinent sind mindestens die eigenen politischen und kulturellen Wurzeln ebenso wichtig. Ihretwegen empfiehlt sich, den Europadiskurs zu erneuern und ihn in

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dem thematisch und perspektivisch weiten Horizont zu führen, der von der Sache geboten ist. Auch wenn Eigenlob zu Recht in der Regel peinlich ist, sei es hier in der bescheidenen Weise erlaubt: Keineswegs muß in meinem Europa-Essay jede der Aussagen glaubhaft sein. Überzeugend dürfte aber die dort praktizierte Vielfalt der Themen und Gesichtspunkte sein. Jedenfalls ist die allzu weit verbreitete Ver­ engung des Europadiskurses weder generell noch in der jetzigen durch den Ukrainekrieg angestoßenen Wiederaufnahme der Debatte sinn­ voll. Zu beginnen ist mit dem, was ich in bewußter Pointierung »die Vertreibung europäischer Staaten aus dem Europa-Diskurs« nenne. Allzu gern, zumal von seiten der Europäischen Union, wird Europa auf diese Union verkürzt. Sie ist zwar fraglos ein Erfolgsmodell von weltgeschichtlichem Rang. Das erlaubt aber nicht, Länder, die wie Norwegen und die Schweiz der Union nicht beitreten wollten oder wie Großbritannien aus ihr wieder ausgetreten sind, nicht zu Europa zu zählen. Ebenso gehören zu Europa Länder, die wie jetzt die Ukraine der Union gern beitreten wollen, aber noch nicht aufgenommen sind. Selbst das schon länger autoritäre, überdies derzeit militärisch aggressive Rußland gehört zu Europa. Dabei kommt es in erster Linie nicht auf den in geographischer Aspekt an, daß ein Teil, übrigens der kleinere Teil zum europäischen Kontinent gehört. Weit wichtiger sind kulturelle Verbindungen, die in beiden Richtungen bestehen: von anderen europäischen Ländern zu Rußland und von ihm aus auf das europäische Ausland. Die Belege sind allzu bekannt: daß zum Beispiel russische Schriftsteller und Intellektuelle vielerorts in Europa gelesen und hochgeschätzt sind, sie nicht zuletzt die Literatur anderer europäischer Länder stark beeinflussen. Das Entsprechende trifft auf russische Komponisten zu, die sich ihrerseits von anderen europäischen Komponisten haben inspirieren lassen. Nicht zuletzt sind die künstlerischen Ausbildungsstätten wie Konservatorien und Ballettschulen und deren Absolventen europa- und weltweit hochbe­ rühmt und vielgefragt. Schon darin, in dieser wohl einzigartigen kulturellen Vielfalt und wechselseitigen Neugier, beginnen die Besonderheiten, die unseren Kontinent auszeichnen und auf die er zu Recht stolz sein darf. Auch die weiteren Eigentümlichkeiten sind bekannt, zudem als Besonderheiten unstrittig, auch wenn sie weder im Laufe der Geschichte noch gegen­ wärtig immer praktiziert werden:

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Sie beginnen mit einer Staatsform, deren Mitglieder freie und gleiche Bürger sind. Es ist die Demokratie in ihren drei Dimensionen: einer Herrschaft, die vom Volk ausgeht, für das Volk und von ihm ausgeübt wird. Hinzukommen die Rechtsstaatlichkeit, der Gedanke unveräußerlicher Grund- und Menschenrechte sowie die Gewalten­ teilung, nicht zuletzt Haltungen wie Rechtssinn und Bürgersinn, aus denen eine kraftvolle Bürgergesellschaft entsteht, sowie eine Tole­ ranz, die keineswegs die eigenen Einstellungen und Überzeugungen aufgibt, sie im Gegenteil, wo sie es für sinnvoll hält, couragiert vertritt und trotzdem andersartige Einstellungen und Überzeugungen aus freien Stücken anerkennt – vorausgesetzt, sie beeinträchtigen nicht das Lebensrecht der anderen und des anderen. Nicht auf irgendeinem Weg, schon gar nicht mittels Gewalt, sondern nur im Rahmen dieser konstitutionellen Demokratie und mit ihrer Hilfe soll ein Wunschtraum erfüllt werden, den die Menschheit seit jeher hegt: Innerhalb jeden Volkes und zwischen allen Völkern soll ein Friede herrschen, der alle Unterdrückung und Ausbeutung aufhebt und ein allseitiges Wohlergehen ermöglicht. Dieses Wohlergehen darf man keineswegs bloß, nicht einmal vorrangig, wie gelegentlich behauptet und noch häufiger praktiziert wird, nur materiell verstehen. Selbstverständlich sind Hunger und Armut zu überwinden. Insgesamt ist aber nicht bloß ein wirtschaftli­ ches, sondern auch ein gesellschaftliches, politisches und facettenrei­ ches wissenschaftliches und kulturelles Wohlergehen gesucht. Aus diesem Grund beschränkt sich mein Europabuch nicht auf das politische Projekt. Und selbst bei ihm kommt es auf mehr als lediglich die Union an. Kaum minder bedeutsam ist die Frage, wie Europa für seine Bürger eine Heimat, freilich in einem aufgeklärten Sinn, sein kann. Ferner, wie Europa seine Einheit nicht in einer unterschiedslosen Homogenisierung, sondern »mit einem Recht auf Differenz« verwirklichen kann. Nicht zuletzt braucht es eine wahrhaft europäische, nicht etwa auf wenige wirtschaftliche und politische Eliten verkürzte Öffentlichkeit. Auch wenn mein Essay beim politischen Projekt anhebt, bleibt es dort nicht stehen. Vielmehr legt er Wert auf den kulturellen Reichtum. Dieser beginnt mit der Sprache, Literatur und Philosophie. Dem schließen sich Recht und Gerechtigkeit an, danach die Welt der Wirtschaft und Finanzen, die Wissenschaft einschließlich der Medizin und der Technik. Vergessen darf man nicht, trotz ihrer abnehmenden Bedeutung, die Religion, ohnehin nicht die wirkliche Weltsprache,

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die Musik, schließlich nach der Baukunst und der Religion die Aufklä­ rung. Für den dritten Teil, die Vision eines Europas der Bürger, liegt die Bedeutung für einen wegen des Ukrainekrieges zu erneuernden Europa-Diskurs auf der Hand: Ohne das Prinzip der Subsidiarität und den sowohl kosmopolitischen als auch regionalen Charakter Europas kann es keinen auch für die Ukraine auf Dauer erfolgreichen Europa-Diskurs geben. Für das angedeutete vieldimensionale Wohlergehen braucht es in all diesen Bereichen, nicht etwa nur in der Wirtschaft, sondern auch in Politik, Wissenschaft und Kultur, jene Sozialform, die Anstrengung, Kreativität und Originalität fördert, mehr noch: Sie provoziert, also den freien Markt. Es versteht sich, daß er, seiner Grenzen und Gefah­ ren wegen, in zwei teils ergänzende, teils korrigierende Sozialformen einzubinden ist: in den Rechtsstaat, der etwa den Gefahren von Kor­ ruption und Nepotismus entgegenwirkt, und den Sozialstaat, der allen Bürgern jenes Minimum an materieller Unterstützung bietet, die menschenwürdig zu leben erlaubt. Zu einer die Eigenverantwortung einschränkenden Fürsorgestaatlichkeit soll es dabei nicht kommen. Offensichtlich ist für all diese Besonderheiten zunächst jeder Staat selber verantwortlich. Andere können den betreffenden Staat motivieren, sogar ein wenig drängen. In erster und letzter Instanz ist aber jeder Staat selber zuständig: von sich selbst aus gesehen sowohl wegen seiner Selbstachtung als auch seiner Souveränität. Ihretwegen, und damit kommt zugleich die Außenperspektive ins Spiel, verbittet man sich gewaltsame Eingriffe von anderen, die wiederum, sofern sie gemäß europäischen Werten, nämlich als konstitutionelle Demokra­ tien, gewaltsame Eingriffe gegen andere ausschließen. (Die etwaige Ausnahme, eine humanitäre Intervention, kann hier beiseite bleiben.) Diese Überlegung hat eine Folge, die in der jetzigen Debatte, inwieweit die Ukraine zu Europa gehört, von fast allen Seiten unter­ schlagen, zumindest unterschätzt wird. Die Frage, ob die Ukraine zu Europa gehört, entscheidet das Land grundsätzlich selber: Ist es zu einer konstitutionellen Demokratie mitsamt deren Rechtsund Sozialstaatlichkeit sowie Gewaltenteilung, nicht zuletzt deren Bürgergesellschaft und deren Toleranz bereit und fähig? Europa, eine weitere Eigenart, auf die der Kontinent durchaus stolz sein darf, ist in vielen Hinsichten ein Schmelztiegel der Kulturen, allerdings nicht der Sprachen, auch wenn manches Land, nicht zuletzt die Grande Nation, im Laufe der Jahrhunderte eine Sprache den ande­

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ren Regionen aufgezwungen hat. Es darf durchaus eine Lingua franca geben. Mindestens ebenso wichtig ist, daß die Bürger jedes (!) Landes eine Fremdsprache aktiv und eine zweite passiv zu beherrschen ler­ nen. Ob die Ukrainer wegen des Angriffs von Rußland gegen dessen Sprache derzeit zurückhaltend sind, muß ihnen überlassen bleiben. Die russische Kultur, etwa der angedeutete Reichtum an großen Schriftstellern und Komponisten, der zweifellos zum unaufgebbaren Teil Europas gehört, sollten sie aber weder abwerten noch aus ihrem Land verbannen. Ein Punkt der europäischen Besonderheiten verdient eine emphatische Betonung. Er ist vor allem für ein Land erforderlich, in dem lange Zeit die pazifistische Devise »Nie wieder Krieg!« promi­ nent war, als ob die Unlust, sich nicht einmal zu verteidigen, ehren­ wert sei, überdies Kriege wie Putins Angriff auf die Ukraine verhin­ dern könnte. Die Ergänzung oder Fortsetzung lautete bekanntlich »Lieber rot als tot«, hier und heute also lieber sich dem russischen Diktator zu unterwerfen, als um sein Überleben zu kämpfen. In dieser Hinsicht muß sich mancher sogar schämen: Wem seine politische und kulturelle Eigenart und Eigenständigkeit wichtig ist, der zeigt Courage statt Feigheit und kämpft dafür. Und dies tut er exemplarisch für Europa und dessen Grundwerte. Denn seit der Schlacht von Salamis (480 v. Chr.) war es den freiheitlichen Demokratien, hier des klassi­ schen Griechenlands, wichtig, sich nicht fremden Großmachtplänen zu unterwerfen. Dabei geht es heute nicht lediglich um einen Ein­ spruch gegen einen ausländischen Eroberer. Ukraines brutaler Feind, Putin, will mit der Erweiterung seines Territoriums zugleich den Grundgedanken und die Staatsform des Westens, die freiheitliche Demokratie, angreifen. Indem sich die Ukraine dem verweigert, indem sie sich für die politische und kulturelle Selbstbehauptung, also für mehr als nur ein animalisches Überleben kämpft, zeigt sie »handgreiflich« und für alle Europäer sichtbar und erlebbar: Die Ukraine gehört zu diesem, unserem Kontinent.

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Die Grundfrage, was unseren Kontinent auszeichnet, läßt sich schon methodisch gesehen nicht leicht beantworten. Denn Europa ist kein mathematischer Gegenstand, der wie ein geometrischer oder arith­ metischer Begriff im Anschluß an eine Definition wohlabgegrenzt vorliegt. Ebensowenig ist Europa in dem Sinn ein wissenschaftliches Objekt, daß es wie etwa beim Recht oder bei der Demokratie ein hinreichend klares Vorverständnis gibt, das dann zu entfalten wäre. Europa ist vielmehr ein geschichtliches, dabei nicht auf der Hand liegendes Phänomen. Infolgedessen pflege man eine typisch europäische Tugend, die Neugier, und begebe sich – erste Seite der Neugier – auf eine Entdeckungsfahrt in die Geschichte. Hier sieht man rasch, daß Europa viel größer und in beidem, in Kontinuitäten und Diskontinuitäten, weit spannender ist als der jeweils neueste Streit in Brüssel oder Straßburg. Schon deshalb ist für Europa-Debat­ ten ein geschichtliches Denken einzufordern, das über die letzten zwei, drei Generationen hinausschaut und bei dem die Kenntnisse von Daten (der Kriege, Dynastien oder Päpste) zum Unwichtigsten gehören. Wichtiger ist der thematisch nicht eingeschränkte Blick, der sowohl in der Geschichte als auch der Gegenwart die vielen Facetten Europas wahrnimmt, also sowohl Friedens- als auch Kriegszeiten, sowohl Recht als auch Unrecht, ferner Armut und Wohlstand, Kultur, Wissenschaft, Medizin und Technik, nicht zuletzt Philosophie und Aufklärung. Bekanntlich besteht Geschichte nicht bloß aus der Ver­ gangenheit, sondern auch aus der Gegenwart. Weil diese auf eine Zukunft hin offen ist, die wiederum von Menschen mitgestaltet wird, spielt eine zweite Seite der Neugier eine Rolle: die Vision eines zukunftsfähigen Europas. Dazu gehört aktuell die Aufgabe, ein brutal angegriffenes Land, die Ukraine, schon jetzt als integralen Teil der europäischen Welt wahrzunehmen und das Land, sobald es die Bedingungen erfüllt, in die Europäische Union aufzunehmen.

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1 Zur Einführung: Erfolgsmodell und Tiefenkrise

1.1 Erfolgsmodell Gemäß einer nur wenig vereinfachten Diagnose bietet Europa ein Doppelgesicht. Drei Generationen nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg und bald 70 Jahre nach der Gründung einer ersten europä­ ischen Gemeinschaft, der Montanunion, darf man, ohne überheblich zu sein, behaupten: Die Europa-Idee ist ein Erfolgsmodell von weltge­ schichtlichem Rang, fraglos die in globaler Hinsicht größte politische Errungenschaft seit dem Zweiten Weltkrieg. (Zu deren Geschichte vgl. van Middelaar 2016.) Ein Kontinent, der seit Zeiten des großen Römerwalls, des Limes, in Großbritannien des Hadrianwalls, sich durch Grenzen definiert, hat seine Grenzen weitgehend aufgehoben. Ein Kontinent, der in wechselnden Freund-Feind-Konstellationen über Jahrhunderte von Kriegen (zum Teil über Jahrzehnte wie der Hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich und der Dreißigjährige Krieg in Mitteleuropa), von religiösen und politischen Bürgerkriegen, selbst sogenannten Erbfeindschaften gebeutelt wurde, lebt seit vollen drei Generationen im Frieden, allerdings bis zum Mauerfall im Oktober 1989 nur im westlichen Teil. Der Kosovo-Krieg stellt einen Sonderfall dar. Einen weiteren, den Angreifer beschämenden Sonderfall stellt Rußlands Versuch die Ukraine zu erobern dar. Zu Recht vergessen die betroffenen Völker nicht, daß von OstBerlin über Budapest bis Prag und Warschau ihre Aufstände gegen die herrschenden Despoten nur mit Hilfe sowjetischer Panzer nieder­ gewalzt wurde. Nicht zuletzt verbindet ein Kontinent, aus dem man bis weit ins 20. Jahrhundert aus Armut oder wegen religiöser und politischer Verfolgung auswandern mußte, jetzt politische Freiheit mit materiellem Wohlstand. Allerdings, das weiß die Philosophie seit der Antike, stellt der Wohlstand lediglich ein Zwischenziel dar. Man lebt nämlich gern »in Wohlstand«, aber nicht »um des Wohlstandes willen«. Zusätzlich zu den drei Elementarzielen, dem Frieden, dem Recht und einem großzügigen Auskommen, wollen die Menschen auch eine wissenschaftliche und insbesondere eine kulturelle Blüte erleben. Zu Europas Erfolg, der Überwindung von Grenzen, einem dau­ erhaften Frieden und einer vielfältigen Kooperation mit einem erheb­ lichen materiellen und kulturellen Wohlstand, kommt ein Maß an Recht und Freiheit hinzu, das die Bürger neuer Mitgliedstaaten – man denke an die baltischen Staaten, die ebenfalls Jahrzehnte der

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1.2 Tiefenkrise

Unterdrückung erlitten hatten – zu enthusiastischen Elogen bewegt (z. B. Ivaškevičius 2017). Die Folge ist bekannt: Der politische Kern Europas, die Europäische Union, ist so attraktiv, daß es trotz der bis jetzt schon großzügigen Erweiterung immer noch Nachbarn gibt, die den Beitritt begehren, und Großregionen außerhalb Europas nehmen sich die Union zum Vorbild. Auf diese Weise findet eine Missionierung auf die humanste Weise statt: keine Predigt, ohnehin keine Gewalt, sondern eine show, aber ohne business, nämlich ein bloßes Vor-Zeigen, das der Devise folgt: »Kommet und seht«. Und es kommen nicht bloß Staaten, son­ dern auch Kulturschaffende und Studenten: aus aller Herren Länder, in wachsender Zahl, mit den Musikhochschulen als den Orten des höchsten Ausländeranteils. Ohne für Europa vielleicht medienwirk­ sam, aber jedenfalls unrealistisch den Superlativ, ein Übergewicht, zu behaupten – ein großes Gewicht besitzt und behält der Kontinent ohne Zweifel.

1.2 Tiefenkrise Trotz des überwältigenden Erfolges, teilweise sogar seinetwegen, befindet sich Europa in einer Krise, die mit diesem Wort, aber nur mit ihm die Erfolgsgeschichte bestätigt. Der Ausdruck entstammt nämlich einer Geburtssprache Europas, dem Altgriechischen, und ist längst weltweit geläufig, anerkannt sowohl in der Politik, erneut einem aus dem Griechischen stammenden Ausdruck, als auch in den Sozialwissenschaften. Der Stolz auf diese Herkunft darf die bezeichnete Sache aber weder beschönigen noch verharmlosen: Europa befindet sich in einer Krise, die weit tiefer als jene Dutzende bisheriger Krisen reicht, die am Ende nächtelanger, die Bürger zu Recht nervender Sitzungen schließlich überwunden wurden. Sie reicht auch tiefer als die Krise des Jahres 2005, als zwei Gründerstaaten der ersten europäischen Gemeinschaft, Frankreich und die Niederlande, per Referendum eine Fortentwicklung Europas ablehnten. Bemerkenswerterweise fiel die Ablehnung in dem Gemeinwesen besonders hoch aus, das sich seiner Weltoffenheit zu rühmen pflegt, den Niederlanden. In Staaten wie Deutschland hingegen, deren Politiker froh waren, sich auf keine Volksabstimmung über Europafragen einlassen zu müssen, ist die Zustimmung zu Europa in manchen Jahren eingebrochen, später

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1 Zur Einführung: Erfolgsmodell und Tiefenkrise

freilich wieder gewachsen. In einem der Gründerstaaten, in Italien, herrscht jedoch laut neuer Umfragen eine deutliche Ablehnung der EU vor. Die heutige wahrhafte Tiefenkrise entspricht einer ursprüngli­ chen Bedeutung des Wortes. Im Altgriechischen kann krisis den knapp bemessenen Zeitraum bezeichnen, in dem eine wichtige Entscheidung fällt. In der Medizin ist es die Entscheidung über Genesung oder Ver­ schlechterung, zugespitzt: über Leben und Tod. Die Gesundung Euro­ pas entscheidet sich zwar nicht in einem engbegrenzten Zeitraum, bildlich gesprochen: über Nacht. Selbst der Austritt Großbritanniens, der Brexit, zieht sich etliche Jahre hin. Das übliche »crisis as usual« verkennt aber die tatsächlichen Phänomene. Man darf nicht verdrängen, daß einige Länder den Beitritt zu Europa von vornherein abgelehnt haben. Trotzdem sind sie wie Liech­ tenstein, Norwegen und die Schweiz, auch Island, sowohl politisch als auch wirtschaftlich und kulturell gut gefahren. Nach dem ProKopf-Einkommen gehören sie zu den wohlhabendsten Ländern des Kontinents. Neu ist, daß ein Land, ein großes zudem, das Vereinigte Königreich, sich für den Austritt entschieden hat. Hierzu kommt, daß in anderen Ländern trotz wirtschaftlicher und politischer Vorteile die Zustimmung zur Union nicht mehr unangefochten ist. Wegen des zunehmenden Nationalismus, oft sogar Chauvinismus, erhalten vie­ lerorts dezidiert antieuropäische Parteien einen derart starken Zulauf, daß Pessimisten die EU schon für ein großes Jugoslawien halten, also für einen bloß künstlichen Zusammenschluß, der mittlerweile dem Zerfall entgegensieht. Nicht wenigenorts breiten sich Mißtrauen, Polarisierung und Legitimitätszweifel aus. In der Flüchtlingskrise tritt in zahlreichen Staaten ein erheblicher Mangel an Solidarität zutage. Und die Spannungen zwischen einigen Unionsländern reichen so tief, daß Botschafter abberufen werden. Keineswegs die Gesamtheit, aber doch ein nennenswerter Teil der politischen, intellektuellen und wirtschaftlichen Führungskräfte macht es sich mit beiden Phänomenen, mit der Tiefenkrise und dem Erstarken nationalistischer Bewegungen, übrigens populistischer Bewegungen auch von Links, zu leicht. Er liebt nämlich ein TotschlagArgument: Wer immer sich einer Fortentwicklung der Union wider­ setzt oder auch nur an der bisherigen Entwicklung Kritik übt, wird als Anti-Europäer, zugleich politischer Reaktionär diffamiert. Und wo man Eigenrechte seines Staates verteidigt, vielleicht sogar Rechtsund Souveränitätsverzichte zurücknehmen will, ist abwertend von

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einem »regressiven«, gemeint ist »rückwärtsgewandten« Nationalis­ mus die Rede. Realistischer im Sinne von Realitätsnähe ist es, für die Teilnahme an der Union unterschiedliche Leitmotive anzuerkennen. Dazu nur wenige Beispiele: In Deutschland ist selbst nach drei Generationen gelungener rechtsstaatlicher Demokratie immer noch der Gedanke gegenwärtig, aufgrund seiner Geschichte sollte es auf möglichst viel an Eigen­ staatlichkeit verzichten. Frankreich hingegen beansprucht teils aus­ drücklich, teils unausgesprochen seit Beginn, wenn nicht in der Wirtschaft, so doch in der Politik, zusätzlich als Atommacht im Militär, nicht zuletzt in der in Brüssel zu pflegenden Sprache einen Vorrang. Polen wiederum genießt zwar die enormen Zahlungen aus Brüssel, will deshalb aber möglichst nichts von der nach Jahrzehn­ ten endlich wiedergewonnenen Souveränität, einschließlich gewisser Sonderwege aufgeben. Auch weiteren neueren Beitrittsländern ist das Wohlstandsversprechen der Union mindestens ebenso wichtig wie die von der Union geforderte Durchsetzung einer rechtsstaatlichen Demokratie. Schaut man auf die Wirklichkeit, ist also die Annahme eines einheitlich gemeinsamen Leitzweckes, sobald man ihn hinrei­ chend konkretisiert, nicht leicht zu finden. Weitere Gefahren kommen hinzu. Zwei der Großmächte, Ruß­ land und die USA, suchen, um ihre eigenen Interessen zu stärken, Europa zu spalten. Glücklicherweise droht dort, wo die Sorge vor einer »radikalen Renationalisierung« berechtigt ist, eines nicht: daß Europa seine hochgeliebte Friedensperiode aufs Spiel setzt. Auch wenn der Streit mancherorts lieber mit Gewalt als mit Argumenten angefochten wird, überdies der Wert des Friedens, weil allzu selbstverständlich geworden, nicht mehr so hoch geschätzt wird, droht in Europa kein Krieg, weder ein Bürgerkrieg noch ein Krieg zwischen den europä­ ischen Ländern, weshalb man die Gefahr eines Krieges auch nicht an die Wand malen sollte. Selbst dort, wo eine Renationalisierung die Rechtsstaatlichkeit, insbesondere die Unabhängigkeit der Justiz, beeinträchtigt, ist der Weg zu den früheren Diktaturen weit. Diese noch vor zwei Jahren zutreffende Diagnose hat Putins Überfall in die Ukraine zur Fehldiagnose gemacht. Glücklicherweise verhält sie jedoch für alle anderen Länder – hoffentlich nicht nur vorläufig – ihr Recht. Andernorts herrscht eine Europa-Euphorie, die, statt uni­ onsskeptische Stimmen ernst zu nehmen, die Staaten der Union auffordert, mehr und mehr ihrer Rechte aufzugeben. Wird damit aber,

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ist zu fragen, nicht wieder einmal der zweite Schritt vor dem ersten geplant? Müßten die Bürger nicht zuvor erheblich mehr Gemeinsam­ keiten entdecken und das Entdeckte im täglichen Leben real erfahren? Müßten sie nicht nur als Touristen, vielleicht noch als Konsumenten und als Unternehmer, sondern auch als Staatsbürger sich als echte Europabürger empfinden? Denn erst dann können sie sich – wenn es denn überzeugende Gründe gibt – aus vollem Herzen zu Rechts-, sogar zu Souveränitätsverzichten bereiterklären. Im Gegensatz zur vielerorts dominierenden Engführung ist nämlich die derzeitige Krise Europas nicht bloß eine Wirtschafts- und Finanzkrise, sondern ebenso eine Krise der Legitimation und des Vertrauens. Die Vertrauenskrise reicht sehr tief, denn sie betrifft nicht erst die Union als Gemeinschaft, sondern schon die einzelnen Mitglieder­ staaten. Obwohl diese sich als Demokratien verstehen, wird nach einer Mehrheit von befragten Bürgern ihre Stimme in der Politik nicht gehört. Weil zwei Drittel sogar der Ansicht waren, »ihre« Regierun­ gen handelten nicht in ihrem Interesse (Democracy Perception Index 2018), rückt die Vertrauenskrise in die Nähe einer Legitimationskrise, der zweifellos bedrohlichen Diagnose »Krise der Demokratie«. Mangelndes Vertrauen ist zwar in erster Linie ein subjektives Phänomen, dem man aus objektiver Sicht diese Beobachtung entge­ genhalten könnte: Trotz nicht zu leugnender Mängel und Versäum­ nisse, wohl auch Irrwegen funktionieren die rechtsstaatlichen Demo­ kratien immer noch in einem hohen Maß und kommen den Interessen ihrer Bürger eventuell zu wenig, aber tatsächlich doch erheblich entgegen. Wenn diese umsichtigere Diagnose zutrifft, dann bleibt den Regierungen und den staatstragenden Parteien, Intellektuellen und Medien der Vorwurf nicht erspart, bei so umstrittenen Problemen wie der Flüchtlingskrise und den Rettungshilfen für hochverschuldete Mitgliedsländer, ferner über Sacherfordernisse und über konkurrie­ rende Probleme oder über nötige Güterabwägungen, nicht zuletzt, was (Macht-)Politiker generell scheuen, über eigene Fehler die Bürger nicht rechtzeitig aufgeklärt zu haben. Einer mündigen Bürgerschaft darf man durchaus die Einsicht zumuten, daß kluge Politik auch einen Charakter von Versuch und Irrtum hat. Nur ein Beispiel: Statt der selbstgewissen und korrekturresis­ tenten Behauptung der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel: »Wir schaffen das« wäre die vor- und umsichtigere, zugleich korrek­ turoffene Aufforderung vernünftig gewesen: »Wir versuchen das«. Die zweite Formulierung (»Wir versuchen es«) erkennt die damalige

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Wirklichkeit an, die die erste Formulierung (»Wir schaffen das«) in naiver Zuversicht, vielleicht auch mit einem Beiklang unbewußter Hybris unterschlägt: Wie groß genau der Flüchtlingsstrom sein wird und was genau an finanziellen, administrativen, rechtlichen, sozialen und kulturellen Aufgaben auf Deutschland und auf Europa zukommt, läßt sich ehrlicherweise gar nicht abschätzen. Hingegen kann man die Bürger auffordern, besser sogar: bitten, die Aufgabe, obwohl in ihrer Tragweite noch nicht zu übersehen, anzuerkennen und bei der Bewältigung der Aufgabe kräftig mitzuwirken. Im einen Fall werden die Bürger zu etwas gezwungen, wozu weder ihre Meinung noch ihre Bereitschaft gefragt war. Im zweiten Fall wird an ihr Gewissen und ihre Hilfsbereitschaft appelliert. Was mündige Bürger vorziehen, daher demokratiegerechter ist, liegt auf der Hand. Vermutlich ist es langfristig gesehen sogar beides: sowohl erfolgreicher als auch besser für den inneren Frieden. Nicht zu den geringsten Herausforderungen des Flüchtlings­ stroms, die zu Beginn unterschätzt, vielleicht sogar verdrängt wur­ den, gehört die folgende Frage: Wie läßt sich in Anerkennung des geltenden Rechts, des Dublin Abkommens, zugleich in europäischer Solidarität die Flüchtlingsfrage so lösen, daß die Europäische Union und deren Mitgliederstaaten vollumfänglich Herr über die Union und ihr jeweiliges Land bleiben? Eine weitere enorme Herausforderung, die ebenfalls derzeit noch nicht bewältigt ist, wirft der Brexit auf: Wie weit verbleibt das Vereinigte Königreich im europäischen Binnenmarkt oder bean­ sprucht aus mindestens vier Gründen seine volle Souveränität: um sich Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs zu entziehen, um keine Mitgliedsbeiträge zu bezahlen, um nicht mehr die vier Grund­ freiheiten, namentlich die Personenfreizügigkeit, anzuerkennen, und um eigene Handelsverträge abzuschließen. Angesichts der skizzierten Schwierigkeiten empfiehlt es sich, an eine unbestrittene Leistung zu erinnern. Der wohl größte Erfolg der Union ist wirtschafts-politischer Natur: Er besteht in einem einheitlichen Wirtschaftsraum, in dem sich Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen frei bewegen und dank großzügiger Hilfen strukturschwache Länder und Regionen sich, freilich mehr oder weni­ ger gut, entwickeln können. Dieser Erfolg hat der Union erlaubt immer wieder neue innere Spannungen, bislang selbst den heftigen Streit um die Flüchtlingspolitik, zu überleben.

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1.3 Strukturprobleme Eine die demokratische Substanz gefährdende Entwicklung der Europäischen Union wird durch zahlreiche Strukturprobleme in der Konstruktion der Union verschärft. Sie beginnen mit der Erweiterung, die allen Quantitäten, insbesondere der für die EU gewachsene Bevöl­ kerungszahl, zum Trotz sich vorhersehbar auf eine Schwächung belief: Die neuen Staaten sind allesamt Empfänger-, keine Geberländer; in Lehre und Forschung liegen sie nicht einmal im Mittelfeld; nicht bloß in der Wirtschaft, sondern auch in Demokratie, in korruptionsfreier Verwaltung und unparteilicher Justiz sind sie bis heute entwicklungs­ bedürftig. Nach dem von Transparency International aufgestellten Korruptionsindex, dem »Corruption Perceptions Index« (CPI), ste­ hen viele der neuen Mitgliedstaaten, nämlich Kroatien, Ungarn und Rumänien sowie Bulgarien, weit hinten, hier allerdings in enger Nachbarschaft mit Altmitgliedern wie Griechenland und Italien. Die Strukturprobleme setzen sich in rechtlich-politischen Wider­ sprüchen fort: Weil die Verleihung der Staatsbürgerschaft in die Hoheit der souveränen Gliedstaaten fällt, können diese ein »Golden Visa-Programm« auflegen, das dem jeweiligen Staat eine lukrative Einnahmequelle beschert. EU-Staaten wie Zypern, mittlerweile auch Griechenland bieten reichen Ausländern, die kostspielige Immobilien kaufen, eine zweite Staatsbürgerschaft an, die ohne Wohnsitzerfor­ dernis und wegen der Personenfreizügigkeit sich dann andernorts, etwa in Berlin, Paris oder Rom, niederlassen, ohne daß deren Regie­ rungen ein Einspruchsrecht hätten. Ein Land verschafft sich also Vorteile, deren eventuelle Nachteile andere Länder, obwohl hier ohne Mitsprache, ertragen müssen. Und weil in einem Land die Eintrittskarte, der minimale Immobilienpreis, weniger als im anderen Land kostet, entsteht unter den Ländern der Golden-Visa-Politik ein Wettbewerb. Nicht zuletzt leiden die Einheimischen unter steigen­ den Immobilienpreisen. Ein weiteres Strukturproblem steckt in dem Umstand, daß in der Europäischen Zentralbank ein winziges Land, Malta, über dasselbe Stimmrecht wie das Land, Deutschland, verfügt, das für mehr als ein Viertel, nämlich 27 % der Risiken, haftet. Es kann daher von den Nehmerländern, ohne daß diese sich im Geringsten gefährden, vor­ hersehbar überstimmt werden. Hinzukommt als viertes Problem, daß die Geldpolitik der Euro-Union vergemeinschaftet ist, die Fiskalpoli­

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1.3 Strukturprobleme

tik dagegen in der Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten bleibt, die allzugern die Regeln für einen stabilen Haushalt verletzen. Hier sei eine Randbemerkung erlaubt: Die Europäische Union könnte das Vorbild für eine neue Weltordnung ohne Vorherrschaft, dafür in Kooperation, kurz: sie könnte eine Modellwerkstatt für die Zukunft abgeben. Der Akzent müßte allerdings auf »Werkstatt« liegen, also auf der Bereitschaft, Erfahrungen zu sammeln und ihretwegen nötige Änderungen vorzunehmen. Daß die finanziellen Nehmerländer dasselbe Gewicht wie die Geberländer haben, je eine Stimme in der Europäischen Zentralbank, ist schon für die EU eine schwere Hypothek. Und für eine künftige Weltordnung ist es eine pure Illusion: Warum sollte eine rasch zu findende Mehrheit der Nehmerländer entscheiden dürfen, was ihnen die Geberländer zukommen lassen müssen? Es ist weder gerecht noch effizient, da nötige wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Strukturrefor­ men nicht lohnen, die Geberländer daher klug wären, auch bei sich den Schlendrian einreißen zu lassen. Dasselbe gilt für eine globale Union: Den Pazifik-Atolls oder Monaco dasselbe Gewicht wie den USA, China oder Indien zu geben, ist weder gerecht noch realistisch, denn die Zustimmung wird aus­ bleiben. Warum sollten nämlich einige tausend Menschen dasselbe Gewicht wie Hunderte Millionen oder sogar 1,4 Milliarden haben? Dieser Vorstellung, jeder Einzelstaat, selbst der allerkleinste der Welt, sollte dasselbe Gewicht wie die allergrößten Staaten haben, liegt ein etatistisches Mißverständnis zugrunde, nach dem nur die Staat­ lichkeit zählt. Ein gewisses Gewicht soll diese Vorstellung durchaus behalten, denn die Einzelstaaten sind rechts- und staatstheoretisch die Primärstaaten. Andererseits bildet die natürliche Person den letztentscheidenden Bezugspunkt. Zurück zu den Strukturproblemen der Union. In anderen Berei­ chen, fünftes Strukturproblem, kann wegen Einstimmigkeit ein sehr kleiner Teil Europas, Beispiel Wallonien, von den anderen Teilen Zugeständnisse erpressen, ohne das übliche Gegengewicht, mehr oder weniger subtile Retorsionen, zu befürchten. Oder: Ein vorbe­ strafter Krimineller kann gefahrlos innereuropäische, auch innerdeut­ sche Ländergrenzen überschreiten, einen LKW-Fahrer ermorden, auf einem Berliner Weihnachtsmarkt existentielles Leid schaffen und wird nur durch Zufall jenseits der Alpen gestellt. In diesen und weiteren Phänomenen zeigt sich, was wir liberale Demokraten und Europa-Enthusiasten nicht mögen, recht eigentlich

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sogar verabscheuen: ein düsteres Bild. Wer für Europa die Wirklich­ keit verschönt, gibt sich aber für den Kontinent mit Homöopathie zufrieden, obwohl es Antibiotika braucht. Schon früher genügten homöopathische Dosen nicht. Im Jahr 1954, also gegen Beginn, scheiterte der Gedanke einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) an der französischen Nationalver­ sammlung. Ein Grund lag auf der Hand, ohne ihn lauthals verkünden zu müssen: Frankreich gehört wie Großbritannien zum exklusiven Club der Atommächte. Warum soll es die mit dieser Exklusivität ver­ bundenen Privilegien in einer Gemeinschaft mit Nichtatommächten aufgeben oder zumindest einschränken? Mit dem Scheitern der EVG scheiterte auch der Plan des bereits konzipierten Vertrags über die Europäische Politische Gemeinschaft (EPG). Die sechs Gründerstaaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) beendeten die Krise im Jahr 1957 mit dem Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die die vertragliche Fortentwicklung der europäischen Einigung auf das Ökonomische begrenzte. Knapp ein Jahrzehnt später folgte eine weitere Krise: Im Jahr 1965 boykottierte Frankreich mit der »Politik des leeren Stuhls« die Sitzungen des EWG-Ministerrates. Damit wollte es den Übergang vom Einstimmigkeitsprinzip zum Mehrheitsprinzip bei Ratsentschei­ dungen verhindern. Die damaligen Mitgliedstaaten beendeten diese Vertragskrise mit dem Verzicht auf die vertraglich schon vorgesehe­ nen Mehrheitsentscheidungen. Nach Ansicht von Integrationsbefür­ wortern wurde mit diesem »Luxemburger Kompromiß« von 1966 für viele Jahre der Fortgang der Einigung behindert. Während Kritiker darin ein kräftiges Votum für bleibende staat­ liche Souveränität sahen, konstatiert der damalige Präsident des Europaparlaments zu Recht konkurrierende, aber je legitime Interes­ sen, was die genannte Skepsis gegen konkrete gemeinsame Leitmo­ tive bekräftigt: »Frankreich will seine Souveränität nicht verlieren, Deutschland sein Geld behalten, Großbritannien möglichst viele Kompetenzen aus Brüssel zurückholen. Die Gläubigerstaaten rufen nach der Vergemeinschaftung von Disziplin und Kontrolle, das Echo der Schuldnerstaaten klingt nach der Vergemeinschaftung von Haf­ tung und Transfer. Alle Regierungen wollen die Vertragsänderungen so gering halten, dass die Ratifizierung keine Volksabstimmung erfordert. Und die Bürger in allen Mitgliedstaaten wollen ein Ende der

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1.4 Bürgerunion statt Elitenprojekt

Krise. Ein Diskurs über europäische Vertragskonstruktionen erreicht sie nicht.«

1.4 Bürgerunion statt Elitenprojekt Unter Berufung auf einen weiteren Grundwert Europas, nach der Neugier jetzt die Aufklärung, empfiehlt sich ein offenes Wort. Die Aufklärung hat, wie oft übersehen, zwei Bedeutungen: Als siècle de lumières oder Enlightenment, als Aufklärung im ersten, zugleich wörtlichen Verständnis, sucht sie Licht ins Dunkel zu bringen, um am Ende Klarheit zu schaffen. Nach der berühmten Definition des Weltbürgers aus Königsberg hingegen, nach Immanuel Kant, besteht die Aufklärung im Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschul­ deten Unmündigkeit. Zu diesem Zweck verlangt sie den Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Bei dieser, gegenüber dem wörtlichen Verständnis neuen, tiefergreifenden Bedeutung von Auf­ klärung entdeckt man sich zuerst und verwirklicht sich sodann als selbstverantwortliche Person, mithin als Mensch, der sich nicht einem fremden Vormund unterwirft. In Begriffen der Staatsbürgerkunde beginnt man, sich als mündiger Bürger zu realisieren. Zu Kants Zeiten war der Mut gegenüber absolutistischen Königsthronen und bevormundenden Kirchenkanzeln vonnöten. Couragierte Bürger nahmen dabei durchaus existentielle Gefahren auf sich; ihnen drohten Entlassung aus ihrem Beruf, zusätzlich Gefäng­ nisstrafen, gelegentlich sogar die Hinrichtung. Heute schwingen sich andere Instanzen zum Vormund auf, und gegen sie zu opponieren ist entschieden weniger gefahrvoll. Trotzdem fehlt es mancherorts an einer Kantischen Aufklärung. Nicht überall, aber in etlichen EuropaDebatten mangelt es an der Courage, eine einseitige Europa-Euphorie mit einer kräftigen Prise Europa-Skepsis zu würzen. Hingegen erfordert es keinen Mut, »mehr Europa« zu fordern und damit Souveränitätsverzichte der Einzelstaaten zugunsten einer wachsenden Macht der Union zu verlangen. Nicht derjenige beweist Kants couragierten Verstand, der sich für ein Aufgeben von einzel­ staatlichen Rechten ausspricht, statt sich dem Muster der bestimmten Negation zu unterwerfen. Dann müßte er nämlich genau prüfen, wer in der genau derzeitigen Lage welche staatlichen Rechte warum aufgeben sollte. Falls nämlich die wirtschafts- und finanzpolitisch verantwortlicheren Länder auf Eigenrechte verzichten, fördern sie das

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Gegenteil des sachlich Erforderlichen. Stattdessen prämieren sie die wirtschafts- und finanzpolitische Unvernunft, nachweisbar durch die Notsituation der anderen, die im Ruf nach Hilfe offensichtlich genug zutage tritt. Deshalb muß genau der, der nach Hilfe ruft und in dem Maße, wie er Hilfe sucht, Rechte aufgeben. Ist schon couragiert, wer das Wort »Vereinigte Staaten von Europa« in die Debatte wirft? Oder sucht er nur die für Politiker und Intellektuelle wichtigste Währung, die öffentliche Aufmerksamkeit? Oft kommt noch der zweitwichtigste Lohn, »respektvolles Lob«, hinzu. Mut jedoch und zusätzlich Verstand beweist erst, wer auf die Unterschiede zum angeblichen Vorbild, den USA, verweist (s. Kap. 18). Eine Europafreundlichkeit, die nichts anderes als eine Stärkung der Union kennt, muß sich die Frage gefallen lassen, ob sie mit ihrer gelegentlich heftigen Kritik an Gegenansichten der Grundaufgabe demokratischer Debatten, die Sorgen des eigentlichen Souveräns, des Volkes, ernst zu nehmen, noch hinreichend gerecht wird. Es ist weder klug noch demokratiefreundlich, die gewachsene Macht europaskep­ tischer Stimmen schlicht als zynische Demagogie zu diskreditieren. Weder den europäischen Politikern, abgekürzt: Brüssel, zu ergänzen um Straßburg (Europa-Parlament) und Luxemburg (Europäischer Gerichtshof), noch den Legionen von bürgerschaftlichen Europa-Ini­ tiativen und Europa-Lobbyisten ist es nämlich gelungen, nicht nur wie vielerorts, aber nicht überall eine Mehrheit, besonders erfreulich in der Jugend, sondern sogar den überwiegenden Teil der Bevölkerung rundum zu überzeugen. Mittlerweile ist es jedenfalls unabdingbar, über Grenzen nachzudenken, sowohl über Grenzen der Leistungsfä­ higkeit der EU als auch über Grenzen ihrer Legitimität. Der beliebte Hinweis auf eine zu hohe Komplexität der anste­ henden Aufgaben entlastet selbst dort, wo er zutrifft, nicht von der Ver-antwort-ung im wörtlichen Sinn, nämlich von der Aufgabe, Rede und Antwort bei Fragen zu stehen, die hier nur genannt und erst später näher untersucht werden. Warum gibt es so viele eventuell nicht schlicht unvernünftige, aber fraglos nicht zwingend notwendige Regulierungen wie die Normierung von Gurkengrößen, wie das Verbot von Glühbirnen und wie die Begrenzung der Wattstärken von Staubsaugern? Warum begnügt man sich nicht mit dem Appell an mündige Verbraucher?

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1.4 Bürgerunion statt Elitenprojekt

Warum ist das Prinzip, das dem entgegensteuern sollte, das sogar in verfassungsähnliche Dokumente aufgenommene Prinzip der Subsidiarität, so gut wie wirkungslos geblieben? Warum ist Europa in den Worten des ersten Kommissionspräsi­ denten, Walter Hallstein, stolz, wesentlich eine Rechtsgemeinschaft zu sein, und geht trotzdem mit dem selbstgesetzten Recht allzu groß­ zügig und kreativ um? Eigene Regeln werden nämlich gedehnt, über­ dehnt, sogar gebrochen. Hier ein einziges, aber sprechendes Beispiel: Im Widerspruch zum No-Bailout-Prinzip im Maastricht-Vertrag, also entgegen der damaligen Ablehnung einer gegenseitigen Haftung für Schulden, fließen seit 2010 an finanziell angeschlagene Euroländer umfangreiche Hilfskredite, deren Laufzeit erheblich gestreckt wird, was am Ende denn doch auf eine Haftung für fremde Schulden hinaus­ läuft. Nicht zuletzt verletzt der Europäische Gerichtshof das Grund­ prinzip der Justiz, die Unparteilichkeit. Denn in Streitfragen pflegt das Gericht sich auf die Seite der EU und gegen Einzelstaaten zu schla­ gen, was deren Kompetenzen schleichend und ohne legislatorische Entscheidungen aushöhlt. Eine gefährliche Folge war vorhersehbar: Weil der »kreative« Umgang mit dem Recht allzuoft, in der Umgangssprache: »mit Fleiß«, geschieht, scheuen Einzelstaaten vor den zwar schmerzlichen, aber nötigen wirtschafts- und finanzpolitischen Strukturreformen zurück. Sie können nämlich, was ausdrücklich und mit Nachdruck ausgeschlossen war, eine Transferunion erwarten, die sich auf ein systematisches Trittbrettfahren beläuft: Die reformbereiten Länder zahlen für den mangelnden Reformwillen der anderen, was die Euro­ päische Zentralbank (EZB) im Widerspruch zu ihrer Verpflichtung auf politische Neutralität mit einer überweichen Geldpolitik politisch unterstützt. Hier sei eine generelle Bemerkung erlaubt: Beginnend mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), der Montanunion (1951), lag dem Einigungsprozeß in Europa min­ destens stillschweigend das Ziel zugrunde, mit dem Überwinden der Ursachen der beiden Weltkriege einen dauerhaften Frieden auf dem Kontinent zu errichten, um zumindest für Europa das Friedensprojekt eines Kant, aus seiner Schrift Zum ewigen Frieden, zu realisieren. Mit zunehmender Verläßlichkeit eines Friedens in Europa, ver­ bunden mit dem Heranwachsen von Generationen, die weder den Zweiten Weltkrieg noch die Nachkriegszeit aus eigenem Erleben kennen, tritt ein Prinzip, das der hedonistischen Diskontierung, auf

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den Plan: Was gesichert ist, verliert an erfahrbarem Wert. Infolgedes­ sen verschwindet das unausgesprochene Leitziel aller europäischen Einigungsprozesse, die Sicherung des Friedens, und weicht dem »handgreiflichen«, im Titel Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) offensichtlichen Interesse an wirtschaftlichem Wohlergehen. Seinetwegen findet eine zunehmende Vereinheitlichung des Wirt­ schaftsrechtes, neuerdings auch des Sozialrechtes, nicht zuletzt des Währungsrechtes statt, was eine der ursprünglichen Motive, die umfassendere Rechtsgemeinschaft, verblassen läßt. Stattdessen wächst eine europäische Bürokratie heran, die von den Letztbetroffenen, den Bürgern, als eine fremde, übermächtige Behörde wahrgenommen wird, da sie den Handlungsspielraum der einzelnen Staaten, deren Gliedstaaten, deren Kommunen und am Ende den der einzelnen Bürger mehr und mehr einengt. Daß Bürger, die einer politischen Diktatur entkommen sind, sich jetzt, wie es zwei­ fellos übertrieben heißt, mit den »Diktaten der Bürokratie« quälen müssen, wird als frustrierend empfunden. Die Hoffnung, mit dem Erlassen neuer Vorschriften würden so viele andere abgeschafft, daß die Bilanz der Vorschriften sich auf ein Nullsummenspiel beliefe, diese Hoffnung dürfte vergeblich sein. Die damit zusammenhängende Erwartung, die Entscheidungen der Brüsseler Bürokratie zeichneten sich durch Respekt vor gewachsenen Besonderheiten der einzelnen Staaten aus, entpuppt sich als ein unerfüllter Wunsch. Eine der Folgen war vorhersehbar und wird trotzdem nicht hinreichend ernst genommen: Obwohl es populistischen Parteien von Rechts, auch Links, wohlfeile Argumente liefert, droht Europa zu einem Projekt politischer und intellektueller, auch wirtschaftlicher Eliten zu degenerieren, das sie ohne hinreichende Verwurzelung im demokratischen Souverän, den Staatsbürgern, weitertreiben. Die Gegenaufgabe liegt auf der Hand. Sie besteht in einem radikal neuen Verständnis der beliebten Forderung nach »mehr Europa«. Bevor man der Union neue Kompetenzen zuspricht, stelle man sich der sachlich vorrangigen Aufgabe, das bisherige Europa – gemeint ist hier die Union – in einer breiten Bevölkerung fest zu verankern. Aus Gründen der Demokratie wandele man ein Marx-Wort ab und stelle Europa vom Kopf, nämlich Brüssel, auf die Füße, die Bürger. Das verlangt mehr, als es immer wieder, sogar von Brüssel aus selbstkritisch heißt: Wir müssen die europäischen Bürger näher an Europa, gemeint sind die europäischen Institutionen, heranführen. Es verlangt nämlich nichts weniger als eine Umkehrung des Blicks.

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1.5 Grundlegende Reform!

Bürger und Europa sind kein Gegenüber, die sich einander annähern sollten. Schon gar nicht sind die Institutionen Europas ein stabiles Gebilde, das selber unbeweglich stehenbleiben darf und die Annähe­ rung lediglich von seinen Bürgern erwartet. Europa besteht aus seinen Bürgern. Sie bilden den Bezugspunkt und das Maß, an dem sich letztlich die europäischen Institutionen bewähren oder aber gegen die sie sich schuldig machen. Mehr Europa verlangt also, die Vielfalt des Kontinents ernst zu nehmen, sich letztlich auf die Instanz zu verpflichten, von der alle politische Gewalt ausgeht, die Gesamtheit der einzelnen, aber nicht vereinzelten Bür­ ger. Mit einem Satz: Europa muß endlich eine Bürgerunion werden. Man könnte auch von einer Bürgerrepublik sprechen. Denn nach dem republikanischen Ideal ist der Staat eine Gemeinschaft selbstbe­ stimmter Bürger, die sich dabei, das versteht sich, an übergeordneten Maßstäben wie den Grund- und Menschenrechten und der Herrschaft des Rechts (Rule of Law) ausrichten. Der Ausdruck der Republik ist aber schon für Einzelstaaten Europas wie Deutschland, Frankreich, Irland, Italien und Österreich reserviert. In der »Bürgerunion« hinge­ gen klingt der Ausdruck der Europäischen »Union« an, auf die es hier doch ankommt.

1.5 Grundlegende Reform! Die beiden Diagnosen, Tiefenkrise und Strukturprobleme, rufen den Vergleich mit einem Ereignis auf den Plan, an das vor wenigen Jah­ ren mit einer Fünfhundertjahrfeier erinnert wurde: die Reformation (1517). Denn deren Gegenstand, die christliche Kirche, war damals ähnlich bis in die Grundlagen reformbedürftig wie heute Europa. Daher drängt sich die Frage auf: Braucht Europa, des näheren die Europäische Union, eine so grundlegende Erneuerung, daß man sie eine Reformation oder, um Mißverständnisse zu vermeiden, eine Tiefenreform nennen sollte? Wenn man unter »Reformation« eine bis zu den Wurzeln rei­ chende Umgestaltung versteht, dann legt sich die positive Antwort nahe: Ja, Europa braucht eine Reformation. Allerdings kann sie auf zwei Folgelasten verzichten, die in den Reformationsfeiern, deren Festcharakter gemäß, lieber im Hintergrund blieben: auf eine Spal­ tung, verbunden mit gnadenlos geführten Kriegen. Die erstgenannte Folgelast ist der EU freilich nicht erspart geblieben. Abgesehen davon,

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1 Zur Einführung: Erfolgsmodell und Tiefenkrise

daß es seit den Vorläufern wie der Montanunion oder der Europä­ ischen Wirtschaftsgemeinschaft immer schon Außenstehende gab, hat das Spalten mit der Einführung der Währungsunion begonnen, denn viele EU-Länder bleiben der Euro-Zone fern. Mit dem Brexit setzt sich das Spalten fort. Und die gelegentlichen Vorschläge für ein »Europa mit zwei Geschwindigkeiten« deuten eine eventuelle Fortset­ zung der Spaltungen an. Glücklicherweise finden all diese Spaltungen zwar unter heftigem Streit, aber ohne eine gnadenlose Gewalt, in der Regel sogar rechtsförmig statt. Die für die Europäische Union sachge­ rechte Tiefenreform kann dem Vorwurf mancher Reformkritiker, es käme dann zu einer Regression, entkräftigen; denn sie besteht nicht notwendig in einem Rückbau. Wer genauer hinschaut, nimmt aller­ dings auch beträchtliche Unterschiede wahr. Zunächst einmal wurde die Reformation nicht auf dem ganzen Kontinent gefeiert, denn im transalpinen Teil hatte keine Reformation stattgefunden. Vergleichba­ res trifft auch auf die Europäische Union zu. Denn sie macht, was gern verdrängt wird, nur einen Teil Europas aus; zugespitzt umfaßt sie lediglich Klein-Europa. Es ist nicht nötig, Europa geographisch, institutionell und konzeptionell zu einem gemeinsamen Binnenmarkt von ansonsten rundum souveränen Nationalstaaten zurückzubauen. Wohl aber muß Europa, es sei wiederholt – endlich – zu einer wahren Republik ihrer Bürger und die Europäische Union zu einer veritablen Bürgerunion, einer Bürgerrepublik, umgestaltet werden. Diese Forderung hat den Charakter einer Leitthese, deren Begründung einer näheren Diagnose und deren Ausführung zahl­ reicher Teilthesen bedarf. Nach einem erfahrenen Europa-Politiker, dem langjährigen Präsidenten der Europäischen Kommission, Jaques Delors, hat die Union die größten Schritte immer angesichts der Gefahr des Untergangs gemacht. Dabei unterstellte er vermutlich, daß dann weitere nationale Rechte nach Brüssel wanderten. Diese Rich­ tung, Krisen durch eine Verlegung der Probleme und ihrer Lösungen in die Brüsseler Institutionen zu bewältigen, ist aber nicht zwingend, angesichts der skizzierten Tiefenkrise und Strukturprobleme sogar kontraproduktiv. Der Gedanke einer Bürgerunion schlägt daher die Gegenrichtung ein. Klammert man die Differenz von wenigen Monaten ein, so fand in Europa zur selben Zeit wie die Reformation ein zweites Ereignis von überragender Bedeutung statt: Ein brillanter Jurist und großer Staatsmann sowie feinsinniger Gelehrter, Thomas More, latinisiert Morus, begründet mit seinem Reiseroman Utopia eine

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1.5 Grundlegende Reform!

neue Gattung politischen Denkens. Mit ihr, dem Vorbild für positive politische Visionen, ereignet sich kurz vor der kirchlich-theologischen Reformation eine weitere, kaum minder wirkungsmächtige, jetzt politisch-geistige Reformation. Ähnlich wie Luther ist auch Morus von einer beklagenswerten Situation, bei ihm den damaligen Verhältnissen Englands, geprägt. Diese stellt er im ersten Buch seiner Schrift Utopia dar. Erst im Anschluß des zweiten Buches, entwirft er, freilich nicht ohne Ironie und mancherlei Übertreibung, ein wünschenswertes Gegenbild: das Modell einer geographisch mit Großbritannien vergleichbaren Insel, auf der aber in vieler Hinsicht bessere Verhältnisse als in seinem Heimatland herrschen. In der heutigen Situation, da das Ausscheren von Morus’ Heimat, Großbritannien, aus Europa zur Tiefenkrise der Europäischen Union beiträgt, kann sich ein Vorschlag zur Tiefenreform der Intention nach an Morus orientieren. Er versucht nämlich, für Europa bessere Verhältnisse zu entwerfen. Sie bestehen, so der Vorschlag dieser Studie, in einer Bürgerunion, die sowohl der Fülle an Gemeinsamkei­ ten als auch dem Reichtum der Eigenarten und Besonderheiten zur Wirklichkeit verhilft. Wie Morus setzt dieser Vorschlag mit den Stichworten »Erfolgs­ modell« und »Tiefenkrise« bei einer Diagnose der Zeit an. Nach der Voraufgabe, einer Darstellung des Projekts Europa, folgt er soweit wie möglich dem Argumentationsmuster der bestimmten Negation, überlegt also, was richtig bleibt und was unrichtig, zumindest verbes­ serungswürdig ist. Aus der genauen Diagnose des Falschen sucht er dann, die empfehlenswerten Verbesserungen zu gewinnen. Da der Streit bei der Darstellung des Projekts beginnt, setzt diese Studie bei den einschlägigen Grundfragen an. Erster Teil: Das politische Projekt, das zahlreiche Fragen aufwirft: Geographie oder Geschichte und Kultur? (Kap. 2); Pflichteuropa oder Wahleuropa? (Kap. 3); Europa als Heimat? (Kap. 4); Gemeinsame Grundwerte? (Kap. 5); Europäische Bürgeridentität? (Kap. 6); Wo bleiben Rechts­ staat und Demokratie? (Kap. 7), schließlich Europäische Öffentlich­ keit? (Kap. 8). Der zweite Teil stellt unter dem Titel Der kulturelle Reichtum jene facettenreiche Wirklichkeit Europas vor, die mit dem Widerspruch zu unterkomplexen Diagnosen zwei verbreitete Verkürzungen Europas zurückweist, sowohl die geographische Einschränkung auf die Union als auch die Themenbegrenzung auf Recht und Wirtschaft: Dem

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Entwurf eines »Alternativen Hauses der europäischen Geschichte« (Kap. 9) folgen Sprache, Literatur und Philosophie (Kap. 10), Recht und Gerechtigkeit (Kap. 11), Wirtschaft und Finanzen (Kap. 12), Wissenschaft, einschließlich Medizin und Technik (Kap. 13), Religion (Kap. 14), Musik (Kap. 15), Baukunst, Malerei und Visualisierung in der Philosophie (Kap. 16), schließlich die Aufklärung (Kap. 17). Der dritte Teil stellt die demokratische Vision vor, ein Europa der Bürger, das sich nicht die USA zum Vorbild nimmt (Kap. 18), sondern einen Europäer ohne Hochmut, Immanuel Kant, und als soziales und politisches Muster einen Wettstreit in Frieden (Kap. 19). Das dafür entscheidende Prinzip besteht im Gedanken der Subsidiarität (Kap. 20), deretwegen sich die Frage stellt, ob es schon jetzt eine europäische Identität gibt (Kap. 21). Daran schließen sich zwei konträre, trotz­ dem komplementäre Gesichtspunkte an, der sowohl kosmopolitische (Kap. 22) als auch der regionale Charakter Europas (Kap. 23). Die »Bilanz« besteht in Zehn Thesen für ein Europa der Bürger (Kap. 24).

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Erster Teil Das politische Projekt

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Heute versteht man unter Europa verschiedenes. Wie einführend erwähnt, gibt es mindestens drei Grundbedeutungen, die kaum einen gemeinsamen Kern enthalten: ein geographisches, ein politisches und ein kulturelles Verständnis. Selbst eine Familienähnlichkeit läßt sich hier schwer entdecken, so daß der Ausdruck äquivok zu sein droht. Der erste Teil stellt die deshalb erforderlichen Fragen, einschließlich einer schon in meiner Studie Vernunft und Recht (Höffe 21998, Kap. 11) erörterten Frage, ob es vor allem in politischer Hinsicht nicht ein doppeltes Europa, ein Pflichteuropa und ein Wahleuropa, gibt (Kap. 3). Beiden Europas geht die Frage voraus, woran sich die Zugehörigkeit zu Europa entscheidet, an der Geographie oder nicht eher an der Geschichte und an der in deren Verlauf entstandenen Kultur (Kap. 2). Weiterhin drängen sich die Fragen auf, ob Europa, wenn man sich mit ihr emotional verbunden fühlen will oder soll, zu einer Heimat werden kann (Kap. 4), ob es gemeinsame Grundwerte (Kap. 5) und eine gemeinsame europäische Bürgeridentität gibt (Kap. 6), ferner wo in den europäischen Institutionen und Gremien die für legitime Gemeinwesen unverzichtbaren Prinzipien, Rechtsstaat und Demokratie, bleiben (Kap. 7) und wie es mit einer Voraussetzung einer konkret erlebbaren und gestaltbaren Einheit, einer europäischen Öffentlichkeit, aussieht (Kap. 8).

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Geographisch betrachtet ist Europa einer der fünf Kontinente, seiner Fläche nach der zweitkleinste Erdteil, der, klimatisch und von seiner Bodenstruktur vielerorts begünstigt, eine dichte Bevölkerung besitzt. Streng genommen ist Europa kein eigener Kontinent, weil keine in sich abgeschlossene Landmasse, sondern lediglich die große westli­ che Halbinsel Asiens, weshalb man beide Erdteile, Europa und Asien, auch zu »Eurasien« zusammenfaßt. Blickt man auf die weit geringere Größe, so wird Europa gern abfällig ein »Anhängsel« der asiatischen Landmasse genannt. Im Unterschied zur riesigen Festlandmasse des asiatischen Teils ist Europa freilich durch Flüsse und Berge außer­ gewöhnlich stark gegliedert. Aus diesem Grund sind, wie schon der schottische Philosoph David Hume bemerkt, mehrere getrennte Gemeinwesen entstanden, was der Bildung von Großreichen mitsamt deren Gefahr einer zu großen Machtfülle entgegenwirkt. Die Viel­ zahl von Gemeinwesen provoziert zwar zahlreiche Kriege, aber auch jenen friedlichen Wettbewerb, der zu Europas außergewöhnlichem wirtschaftlichem, politischem und kulturellem Reichtum beiträgt. So zwingend wie nach Westen mit einem Ozean, dem Atlantik, ist die Abgrenzung Europas nach Osten nicht. Frühere Geographen ließen Europa am Don enden. Erst im 18. Jahrhundert verlegte man die Grenze weiter nach Osten, bis zum Uralgebirge, dem Uralfluß und Kaspischen sowie zum Schwarzen Meer, was weder als ganz willkürlich noch als alternativlos richtig anzusehen ist. Die südliche Grenze hingegen, das Mittelmeer, weckt schon von seinem Namen her, Mittel-meer, Zweifel am Versuch, Europa geographisch bzw. territorial zu definieren.

2.1 Die Kultur transzendiert die Geographie Trotz derselben geographischen Lage wie heute fühlten sich die Anrainerstaaten des Mittelmeeres über viele Jahrhunderte hinweg nicht voneinander getrennt, sondern miteinander verbunden. Das

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2 Geographie oder Geschichte und Kultur?

traf vor allem wirtschaftlich zu, denn über das Mittelmeer, auch über den Landweg von Klein- und Vorderasien nach Südeuropa und nach Nordafrika läßt sich leichter als über Ozeane Handel treiben. Die Bewohner rund ums Mittelmeer und auf dessen Inseln sind nämlich bald nicht mehr bloß Jäger und Sammler, dann Handwerker, Ackerbauer, Viehzüchter und Kaufleute, sondern auch Seefahrer. Und gemäß dem etymologischen Zusammenhang mit dem Ausdruck »handeln« im Sinne von »tun« und »agieren« beschränkt sich ihr Handel, den man damals auf dem Land und über das Meer treibt, nicht auf Waren, sondern schließt Kultur und Wissenschaft ein. Die Folge ist verblüffend: Über Jahrhunderte ist das wirtschaftli­ che und kulturelle (Süd-)Europa mehr mit nichteuropäischen Ländern als mit großen Teilen des geographischen Europas, insbesondere Nord- und Osteuropas, verbunden. Die großen Zentren, in denen Europa bis heute wurzelt, Athen, Jerusalem und Rom, auch Alexan­ dria, gruppieren sich wie gesagt um eine Mitte, die schon mit der Bezeichnung Mittel-meer nicht die Trennung, sondern die Verbin­ dung anzeigt. Selbst die griechische Philosophie und Wissenschaft entstehen nicht auf dem europäischen Festland, sondern in Städten Kleinasiens, die wiederum durch Handel und Kulturaustausch weit nach Asien, zusätzlich nach Ägypten und anderen Teilen Afrikas vernetzt sind. Auf Handelswegen wandern nicht bloß Waren, sondern wie angedeutet auch Kulturgüter. Aus Ägypten stammen beispielsweise der Monotheismus mit den Annahmen eines Totengerichtes und eines Lebens nach dem Tod. Die Astronomie und die Mathematik der Griechen hat ägyptische und babylonische Quellen, die später mit der Zahl Null um indische Einflüsse bereichert werden. Vorläufer der philosophischen Ethik wie die Lebensweisheit und das Recht kommen aus Ägypten und Mesopotamien (»Zweistromland«). In Ägypten finden wir zum Beispiel die Aufforderung zur Hilfsbereitschaft, ferner ein interkulturell anerkanntes Moralprinzip, die Goldene Regel, und Ma’at, die Göttin sowohl von Ordnung und Wahrheit als auch von Recht, Gerechtigkeit und Rechtsgesinnung. Und aus Mesopotamien stammen die ältesten uns bekannten Rechtstexte, beispielsweise der Codex Hamurapi, der den König beauftragt, für Recht und Gerech­ tigkeit in seinem Land und für das Wohlergehen seiner Bewohner zu sorgen. Die Vernetzung reicht weiter, denn sie beginnt bei den Anfängen der europäischen Dichtung, setzt sogar noch früher, bei mythischen

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2.2 Zeus raubt eine phönizische Königstochter

Wurzeln, an. Man muß es paradox formulieren: Europa übersteigt von Anbeginn Europa, denn das wirtschaftliche und das kulturelle Europa sprengen die geographischen Grenzen. So liegt beispielsweise die Heimat des wirkungsmächtigen Vorbildes der europäischen Erzähl­ kunst, Homer, mit den beiden Epen, der Ilias und der Odyssee, in Kleinasien. Dasselbe trifft auf die erste intellektuelle Blüte der Griechen, die ionische Aufklärung mit ihren ersten europäischen Phi­ losophen, Naturforschern und Mathematikern, zu. Sie alle kommen aus Ionien, eben der Küste Kleinasiens: Die drei Vorsokratiker Thales, Anaximander und Anaximanes wirken in der Handelsstadt Milet, der Religionskritiker Xenophanes stammt aus Kolophon, Heraklit aus Ephesus, schließlich kommt von der unweit von Milet gelegenen Insel Samos der Philosoph, Mathematiker und Musiktheoretiker Pythago­ ras.

2.2 Zeus raubt eine phönizische Königstochter Eine weitere Transzendenz des geographischen Europa bietet der mythische Ursprung. Dieser liegt nämlich nicht in Europa, auch nicht in Kleinasien, sondern entweder in Ägypten, also Afrika, oder in Vorderasien. Denn nach der griechischen Sage, übermittelt durch Vergil und Ovid, ist Europa entweder eine Tochter des bei den Ägyp­ tern heiligen Vogels Benu oder Boine, den die Griechen lautmalend Phoinix nannten. Oder sie ist, so der wirkungsmächtigere Mythos, Tochter von Agenor, dem Herrscher von Tyrus und Sidon, also des Königs von Phönikien, das einen Teil des heutigen Syrien bildet. Zeus, der Götterkönig, habe dort die mit ihren Freundinnen spie­ lende Jungfrau Europa erblickt und sei beim Anblick von der Macht derjenigen Göttin, die allein den ansonsten unbesiegbaren Götterva­ ter zu besiegen vermochte, der Liebesgöttin Aphrodite, überwältigt worden. Deshalb habe er sich in einen starken, aber sanftmütigen Stier verwandelt, der die Königstochter betört, mit ihr auf dem Rücken zur Insel Kreta, also gewissermaßen zum Südzipfel des später nach seiner geliebten Beute benannten Kontinents, gelangt und sich dort in einen göttergleichen Mann verwandelt, der sich sodann als Herrscher der Insel offenbart. Nach dem Beilager mit Zeus – im Laufe der Zeit empfängt sie von ihm drei Söhne – ist Europa erschrocken und von Scham über ihr Tun erfüllt. Nun erscheint ihr Aphrodite und verkündet: »Tröste dich,

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2 Geographie oder Geschichte und Kultur?

Europa! Du bist die irdische Gattin des unbesiegbaren Götterkönigs Zeus. Dein Name wird unsterblich sein, denn der fremde Erdteil, der dich aufgenommen hat, wird inskünftig nach dir ›Europa‹ heißen.« Darin deutet sich eine weitere Eigentümlich­ keit an, die festzustellen nicht schlechthin neu ist, aber bislang nicht deutlich genug beachtet wird: »Europa« ist seit den Anfängen, dem Mythos, ein mit hohen, dabei auch moralischen Erwartungen aufge­ ladener Begriff. Der Erzählung zufolge beginnt also Europa paradoxerweise außerhalb von Europa. Und in diesen Anfängen, einer Entführung, verbindet sich der Charme eines erfahrenen Verführers mit Gewalt. Die Fortsetzung, das Beilager, erfolgt vermutlich mit überwältigender Virilität, mithin in einer Verbindung von Zwang und Freiwilligkeit. Die seitdem blühende Kultur (im weiten Sinn verstanden) verdankt sich also drei Faktoren: zu einem Drittel fremden Ursprüngen, Phöni­ zien, das eine blühende junge Frau hervorbringt, eine Königstochter zwar, aber nur einen Menschen; zu einem weiteren Drittel den Grie­ chen, hier einer übermenschlichen Kraft, einem Gott, sogar Götterkö­ nig; zusätzlich, deshalb ein weiteres Drittel, den bei Griechenland höchst förderlichen Randbedingungen. Die Sage charakterisiert europäische Besonderheiten auf tref­ fende Weise: Als Quelle vieler Wissenschaften und Künste ist unser Kontinent ein Götterliebling, sogar die Gemahlin des Göttervaters. Zwar schwingt ein Unterton der Illegitimität mit. Überdies ist man der Götterliebling nur für kurze Zeit; damit es in Zukunft bleibt, sind eigene Anstrengungen vonnöten. Hält man das Beilager von Europa mit Zeus weder für erzwungen noch für rundum freiwillig, sondern für eine Verbindung von Eros und Gewalt, so tritt im Mythos eine weitere Eigenheit Europas zutage, das Zusammenspiel von Zeiten der Kriege, Bürgerkriege, Aufstände, selbst Revolutionen mit einer vielfältigen friedlichen Kooperation. Ein Sohn der Göttergemahlin, Minos, erbaut das Muster ver­ schlungener Wege, das Labyrinth, das treffend Europas Schwierigkei­ ten charakterisiert, Schwierigkeiten, aus denen man nur auf langen Wegen, einschließlich Umwegen und mit Findigkeit, also erneut eigenen Fähigkeiten, hier mit Geduld und Überlegung, herausgelangt. Aus europapolitischer Perspektive drängen sich zwei Anschlußfragen auf. In der griechischen Sage gibt es eine externe Hilfe, Ariadne, Minos’ Tochter, deren Faden dem griechischen Helden Theseus aus dem Labyrinth herauszufinden hilft. Wer, so die erste

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2.3 Eigentümlichkeiten

Anschlußfrage, zeigt der heutigen Union den Ausweg aus ihrer Tiefenkrise und worin, zweite Frage, besteht der Ausweg? Hier lehrt die Erfahrung, daß beide Fragen keine simple Antwort erlauben. Diese Studie versucht, das Labyrinth Europa neu zu vermessen und als Ausweg eine Bürgerunion zu skizzieren. Zurück zur Verbindung des griechischen Gottes mit der phönizi­ schen Jungfrau. Hier klingt im Mythos an, daß sich der Kontinent Europa nicht allein Europa verdankt und, wie die Insel Kreta andeutet, Europa jahrhundertelang nicht auf dem europäischen Kontinent, sondern rund um das Mittelmeer stattfindet. Dabei fängt Europa, was Kreta mit seiner minoischen Kultur (König Minos ist ja der leibliche Sohn von Europa mit Zeus) ebenfalls anzeigt, lange vor der klassischen griechischen Kultur an. Nimmt man all diese Faktoren in den Blick, so tritt eine vielfältige Vernetzung zutage. Ihretwegen greift schon im zweiten Jahrhundert vor Christus der griechische Schriftsteller Polybios der Globalisierung vor. Er erklärt, von nun an werde »die Geschichte ein Ganzes, gleich­ sam ein einziger Körper; es verflechten sich die Ereignisse in Italien und Afrika mit denen in Asien und Griechenland« (Historiae I 3,5).

2.3 Eigentümlichkeiten Die genannte enge Verbindung spricht zwar gegen eine geographische Abgrenzung Europas. Die Tragweite dieses Umstands darf man aber nicht überschätzen. Schon drei Jahrhunderte vor Polybios, seit dem griechischen Historiker Herodot, immerhin seit zweieinhalb Jahrtau­ senden, bestimmt sich, was wir heute unter Europa verstehen, über die Kultur. Deren Blüte wird allerdings, wie Hume bemerkt, durch die Geographie erleichtert, nämlich durch die die Kooperation und den gleichzeitigen Wettstreit provozierende reiche Binnengliederung. Zunächst definiert sich Europa über denjenigen Teil der Kultur, der nach griechischem Selbstverständnis allen anderen Völkern fremd ist, über eine im ursprünglichen Sinn politische, nämlich von der Polis, der sich selbst regierenden Stadtrepublik, her bestimmte Kultur. In scharfem Gegensatz zu den orientalischen Reichen setzt Europa zwar noch nicht bei Herodot, aber auch nicht viel später auf eine freiheitliche Demokratie. Dieser Grundwert ist ihm im wörtlichen Sinn existentiell unverzichtbar, weshalb er ihn, wo erforderlich, etwa seit den Schlachten von Marathon, Salamis und Platää, ,neuerdings,

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2 Geographie oder Geschichte und Kultur?

im Ukrainekrieg, zwar nicht im Rahmen der Nato, aber doch mittels kräftiger Unterstützung des Landes durch viele westliche Länder, notfalls militärisch verteidigt. Durchlaufen wir die weitere Entwicklung mit Sieben-MeilenStiefeln (nähere Überlegungen folgen in Teil II). Dabei lernt man weitere in Europa geschätzte und praktizierte Grundwerte kennen. Zu ihnen gehört der Reichtum an Architektur, bildender Kunst und Literatur, hier sowohl der Erzählkunst als auch der Theaterkunst (Tragödie und Komödie) und der Lyrik. Nicht minder reich ist die wissenschaftliche Kultur. Seit so überragenden Figuren wie Thales, Pythagoras und Hippokrates, also seit dem fünften Jahrhundert v. Chr., blühen die Mathematik und die (ebenso theoretische wie empirische) Naturforschung, ferner die Medizin und seit Platon und Aristoteles die reich gegliederte Philosophie. Mit der Geschichtsschreibung – hier ist insbesondere Thukydides hervorzuheben – ferner mit der Homerphilologie, der Grammatiklehre und einer Philosophiegeschichte kommen Anfänge der Geistes- und Kulturwissenschaften hinzu. Weiterhin beginnt mit den Sophisten, danach Platon und Aristoteles ein Unterrichtswesen, das später zu den Grammatik- und Rhetorikschulen ausgebaut wird. Vor allem durch Rom werden weitere Faktoren bedeutsam. Ein großes Gewicht erhalten das Recht und der den Griechen noch unbe­ kannte Juristenstand. Und mit dem Bau von Straßen und Wasserlei­ tungen, den bis heute auch architektonisch bewunderten Aquädukten, verbessert sich die materielle Infrastruktur. Seit der Spätantike wird der christliche, personale Monotheismus wesentlich, denn einen apersonalen Monotheismus kennen schon die griechischen Philoso­ phen. Die griechische Volksreligion war aber nicht anders als die der Römer, auch die der Germanen polytheistisch. Der Kosmos der von Europa praktizierten Grundwerte wird jedenfalls immer reichhaltiger. Schon bald, im frühen Mittelalter, verlagert sich der geographi­ sche Schwerpunkt Europas vom Mittelmeer weg in das vor allem nordalpine Reich der Franken. Zugleich wird Europa zu einer religiö­ sen, dabei kulturell vielfältig unterfütterten Einheit. Im Reich der Karolinger wird sie sogar zu einem übernationalen Gemeinwesen. Das Hochmittelalter steuert die bis heute weltweit vorbildliche Institution der Forschung und Lehre, die Universität, bei. Etwa zur selben Zeit beginnen die administrative Kultur, die rationale Verwal­ tung, für deren Anfänge der Vatikan wichtig ist, nicht zuletzt eine Kultur mit dem Geld, also die Anfänge des Finanzkapitalismus, das

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2.3 Eigentümlichkeiten

sowohl Wirtschaftsunternehmen als auch Kreuzzüge finanzierende Bankenwesen. Weiterhin setzt sich die Blüte der Literatur, Kunst und Musik sowie die der religiösen und profanen Architektur fort. Und das Theater mit der Tragödie und der Komödie ergänzt sich später um geistliche und weltliche Konzerte, nicht zuletzt um die Kunst- und Naturaliensammlungen, die Museen. Mitlaufend mit diesem bunten Strauß von Faktoren, einem weltweit bewunderten Reichtum von Wissenschaft und Kultur, von Wirtschaft und Politik, wird Europa nach und nach auch zu einem geo­ graphischen Begriff. Verantwortlich sind nicht klare Außengrenzen. Hier bleibt Europa die westliche Halbinsel (Eur-)Asiens. Entschei­ dend ist vielmehr die Binnenstruktur: Aus dem Zusammenwirken von sozialen und kulturellen mit religiösen und politischen Elementen entsteht der Raum einer immer engeren, immer dichteren Binnen­ kommunikation. Diese speist sich sowohl aus einer materiellen Kul­ tur, etwa einem dichten Wege- und Herbergenetz für die Pilger ebenso wie für die Handwerker und Kaufleute als auch aus einer sozialen und intellektuellen Kultur. Greifen wir exemplarisch einen oft vernachlässigten Gesichts­ punkt heraus: Der Wiener Historiker Michael Mitterauer beantwor­ tet in seinem Werk »Warum Europa?« (2003) seine Titelfrage, den europäischen Sonderweg, bewußt provokativ mit »Roggen und Hafer«, wie sein erstes Kapitel überschrieben ist. Denn zum einen mußte man das Getreide transportieren, was die Bedeutung des schon zuvor wichtigen Straßennetzes noch einmal ansteigen ließ. Zudem mußte das Getreide weiterverarbeitet werden, was eine enorme Tech­ nisierung bedingt: von der Wasser- und der Windmühle über die Druckerpresse bis zum Dampfroß, der Eisenbahn. Obwohl Europa seitdem eine intensive Binnenkommunikation pflegt, decken sich auch dann die kulturellen Besonderheiten nicht mit den geographischen Grenzen Europas. Hier seien nur vier Berei­ che erwähnt: Mit der Gründung der Übersetzungsakademie bait-el-hikma, dem »Haus der Gelehrsamkeit«, beginnt der islamische Kulturraum eine geradezu enzyklopädische Rezeption des griechischen Denkens, was später, im Hochmittelalter, auch dem christlichen Europa zugute­ kommt. Denn vorher kennt es zum Beispiel nur einen kleinen Teil des Aristotelischen Œuvre, etwa nicht die so wirkungsmächtige Politik. Mit der islamischen Eroberung von Nordafrika, dem Geburts­ land eines überragenden christlichen Theologen und Philosophen,

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2 Geographie oder Geschichte und Kultur?

Augustinus, und anschließend von Spanien und Portugal wird ein geographischer Teil von Europa kulturell, zumindest hinsichtlich der Religion für eine gewisse Zeit de-europäisiert. Aus zwei Gründen, weil sie sich bei Aussagen auf dieselben philosophischen Autoritäten, insbesondere Platon und Aristoteles, berufen und weil sie ihretwegen mit Aussagen der eigenen heiligen Bücher, nämlich der Thora, dem Alten und Neuen Testament und dem Koran, dieselben theologischen Probleme haben – wie lassen sich die Schöpfungs-, die Gnaden- und die Freiheitslehre mit dem Gedanken der »heidnischen« Philosophen vereinbaren –, finden vom 9. bis zum 13. Jahrhundert theologischphilosophische Dispute statt. Diese werden von den christlichen, jüdischen und islamischen Denkern in aller Selbstverständlichkeit über die Grenzen ihrer jeweiligen Religion hinweg geführt. Heute reicht der europäische Kulturraum, nimmt man die Amts­ sprachen zum Kriterium, weit über den Kontinent hinaus. Dafür nur zwei Beispiele: Albert Camus stammt wie Augustinus aus Nordafrika; und der senegalesische Präsident Senghor war ein französischer Schriftsteller, überdies ein großer Verehrer Goethes. Nicht zuletzt wird die europäische Literatur weltweit gelesen, die europäische Theaterkunst weltweit gepflegt. Es ist daher mehr als nur eine Gedankenlosigkeit, es ist ein historisches, überdies zeitgenössisches Unrecht, wenn viele bei ihrer Rede von Europa einen Teil, KleinEuropa, die Europäische Union, mit den Größeren, dem gesamten Kontinent, gleichsetzen und beim gesamten Kontinent wiederum seine über die europäischen Grenzen hinauswirkende Kultur verdrän­ gen. Seit der Übergangszeit des Spätmittelalters in die frühe Neu­ zeit glänzt Europa durch eine Fülle von Entdeckungen und Erfin­ dungen sowie durch eine humanitäre Technik einschließlich der wissenschaftsgestützten Medizin. Der Kontinent bringt nicht bloß ein bald blühendes Bankenwesen hervor, sondern ergänzt auch die Wirt­ schafts- und Finanzkultur dieses »Kapitalismus« um einen ungestü­ men Erwerbs- und Handelsgeist. Seit der europäischen Aufklärung, aber mit älteren Wurzeln, etwa in dem für fremde Gottheiten offenen Polytheismus der Griechen und Römer, kommen Toleranz, zunächst mehr eine religiöse, später eine vor allem politische Toleranz, dabei die Menschenrechte und als deren Kern die Menschenwürde hinzu. Dieses längst üppige Bukett von Gemeinsamkeiten wird bald um Bildungs- und Ausbildungsangebote für jedermann bereichert, ferner um die als Solidargemeinschaft eingerichteten Sozialversicherungen.

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2.4 Statt Krieg jetzt Wettstreit

Heute besteht die Besonderheit Europas in der Balance von Wertepaaren, die für sich betrachtet in sich konkurrieren, durch die Balance aber zur gegenseitigen Korrektur fähig sind. Es sind eine dynamische Wirtschaft, aber in sozialer Verantwortung; die Anerken­ nung von Mehrheiten, jedoch mit Respekt für Minderheiten; die wachsende Einheit nach außen mit Vielfalt im Inneren. Nicht zuletzt spielt die spannungsvolle Balance von übernationaler Aufklärung und einer vornehmlich im jeweiligen (National-)Staat wurzelnden Demokratie eine Rolle. In dieser als dialektisch zu qualifizierenden Eigentümlichkeit liegen die Einzigartigkeit und, wenn sie denn weiter gepflegt wird, die politische und kulturelle Strahlkraft Europas.

2.4 Statt Krieg jetzt Wettstreit Aus »eitel Liebe und Freundschaft« besteht Europa allerdings nicht. Eine objektive Entdeckungslust nimmt jedenfalls trennende Faktoren ebenfalls wahr, die lange vor der Neuzeit einsetzen. Dazu gehören sowohl die Teilung des Frankenreichs als auch die frühe Spaltung der Christenheit in Rom und Byzanz (später Konstantinopel) mit Folgen bis heute: Vom ehemaligen Jugoslawien ist Kroatien zu Rom, Serbien zu Byzanz und dessen partiellem Nachfolger, Moskau, zuzurechnen. Im Westen darf man nicht die von blutigen Kriegen begleitete Teilung der Christenheit in Katholiken und in die sich noch unterein­ ander befehdenden Protestanten vergessen. Der ehrliche Blick über­ sieht weder die oft gnadenlose Verfolgung von Häretikern und von Juden noch die Sklaverei, weder Kolonialismus und Imperialismus noch die lange Vorherrschaft des Mannes und die über lange Zeit fehlenden Rechte des Bürgertums oder die noch länger ausbleibenden Rechte der Arbeiterschaft. Er übergeht nicht die Verschiedenheit der Nationalsprachen, die nach dem Rückgang des Lateinischen als Lingua franca mehr und mehr an Macht gewinnen. Dabei entfalten sie eine große soziale und kulturelle Kreativität; sie schaffen aber auch Grenzen und fördern Feindschaften. Vor allem bemerkt der offene Blick die Konkurrenz, den wirt­ schaftlichen und politischen, oft genug auch kulturellen Kampf um Macht und Vormacht. Denn seit Jahrtausenden durchzieht Europa eine nicht abreißende Welle von Kriegen. Ihretwegen ist die europäi­ sche Geschichte über Jahrhunderte von grausamen Kriegen und Bür­ gerkriegen, langen Phasen der religiösen, politischen, kulturellen

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2 Geographie oder Geschichte und Kultur?

Unterdrückung und der Ausbeutung durchtränkt. Ohne Zweifel hat der Historiker Dieter Langewiesche (2008, S. 7f.) Recht mit seinen zwei Behauptungen: »Das moderne Europa hat seine staatliche Gestalt in Kriegen erhalten.« Und: »Das Europa der gemeinsamen Kultur und das Europa des Krieges sind zwei Seiten einer einzigen Geschichte.« Barbara Stollberg-Rilinger bekräftigt es, wenn sie im Buch Maria Theresia (22017) feststellt: »Europas Einheit bestand – paradoxerweise – in seiner Zwietracht. Das Europa der Potentaten, das Theatrum Europaeum, war seit Jahrhunderten von unaufhörlichen kriegerischen Auseinandersetzungen geprägt. Was man im 18. Jahr­ hundert Europa nannte, gewann seine Konturen vor allem durch die permanente Konkurrenz unter den verschwägerten Dynastien.« Glücklicherweise läßt sich in Langewiesches Doppelthese die zweite Behauptung ein wenig abschwächen: Die europäische Aufklä­ rung, die Entwicklung von Philosophie und Wissenschaft, die von Musik, Architektur und Literatur werden zwar da und dort von Kriegen inspiriert. So beginnt die europäische Kultur mit einem Kriegsepos, Homers Ilias; später findet sie in Caesars De bello Gallico (Über den Krieg in Gallien) ein Vorbild für prägnanten Prosastil und weit später in Tolstois Krieg und Frieden ein Vorbild moderner Roman­ kunst. In der Geschichtsschreibung denke man vor Caesar an Thuky­ dides’ Geschichte des Peloponesischen Krieges, in der frühen Neuzeit an Hobbes’ Geschichte des englischen Bürgerkrieges, Behemoth. In der Musik darf man die Marschmusik, in der Architektur die Krieger­ denkmäler und Gräber des unbekannten Soldaten nicht vergessen, in der Malerei nicht die Gemälde von Schlachten oder von (vor allem siegreichen) Feldherren. Selbst in der Philosophie ist der Krieg eine Inspirationsquelle, am berühmtesten in Hobbes’ Charakterisierung des vorstaatlichen Naturzustandes als »Krieg aller gegen alle«. Kaum weniger prominent ist aber Kants Entwurf einer endgültigen Über­ windung des Kriegszustandes in der Schrift Zum ewigen Frieden. Trotz dieser und vieler weiterer Beispiele kann man eine Literatur-, Musik-, Kunst- und Philosophiegeschichte schwerlich wie eine Poli­ tikgeschichte als kulturelle Kehrseite einer Kriegsgeschichte schrei­ ben. Gewiß, noch heute herrscht in vielen Bereichen eine nicht bloß persönliche, sondern auch nationale, dabei nicht immer fair ausgetragene Konkurrenz. Die einschlägigen Streitpunkte sind auch keineswegs zweitrangig. Im Gegenteil reichen sie so tief in die Macht-,

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2.4 Statt Krieg jetzt Wettstreit

Ordnungs- und Personalpolitik und sind so stark von Mentalitäts­ unterschieden getragen, daß jeder bloß irenische Blick sich bald an der Realität bricht. Der bleibende Wettstreit beginnt zwar mit dem subkutanen Kampf um die politische Vormacht, macht dabei aber nicht halt. Inzwischen ist der Wettstreit vor allem friedlich geworden. Trotzdem setzt er sich nahtlos in tiefreichenden Kontroversen fort, beispielsweise in der Kontroverse um das Organisationsmodell der Europäischen Union: Soll ein Zentralismus oder eher ein Föderalis­ mus, gestärkt durch das Prinzip der Subsidiarität, vorherrschen? In der Wirtschaftsform gibt es die Kontroverse um Planification à la France oder soziale Marktwirtschaft mitsamt Mitbestimmung nach deutschem Muster. Die Konkurrenz setzt sich bei der Frage fort, wo die nach der Europäischen Kommission (Brüssel, also Belgien), dem Europäischen Parlament (Straßburg, also Frankreich) und dem Europäischen Gerichtshof (Luxemburg) nächst wichtigen Institutio­ nen oder Ämter ihre Hauptstadt finden: Euratom (Brüssel, also erneut Belgien), Europäisches Patentamt (München und Den Haag), Europäische Zentralbank (Frankfurt), Bankenaufsicht (von London nach Paris gewandert), Interpol (wieder Paris). Das Europäische Polizeiamt (EUROPOL) hat ebenso wie die Europäische Einheit für justizielle Zusammenarbeit (EUROJUST) den Sitz in Den Haag, also den Niederlanden, in die auch die EMA, die europäische Arznei­ mittelagentur, von London nach Amsterdam umziehen soll. Nicht zuletzt hochbegehrt, folglich stark »umkämpft« sind die zugehörigen Leitungspositionen. Und die »ewige Frage« lautet: Wer sind die Net­ toempfänger, wer die Nettozahler der europäischen Subventionen? Diese und weitere Fragen werden auf die in der Politik üblichem Wege gelöst: mit Anreizen und Drohungen, mit Versprechungen und deren Bruch, mit Kompromissen und Deals, mit Politiktechniken und wei­ teren von Machiavellis Fürst bekannten Strategien. Über all dem, über dem von Herrschsucht, Ehrsucht und Habsucht motivierten Kontroversen, darf man aber die beiden wesentlichen Unterschiede gegenüber früher nicht vergessen: Nicht Fürstenhäuser konkurrieren miteinander, sondern demokratisch gewählte Parlamente und Regie­ rungen. Und deren Wettbewerb findet nicht in Form einer Gewalt statt, die vor Kriegen nicht zurückschreckt, sondern rechtsförmig, freilich häufig nur »im Prinzip«, da an die Stelle des Rechts oft eine gewisse Willkür, euphemistisch »Politik« genannt, tritt.

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2 Geographie oder Geschichte und Kultur?

Trotzdem bleibt eines wahr: Mit Vorläufern in den Landsmann­ schaften der mittelalterlichen Universitäten entwickeln sich seit der Epochenwende zur Neuzeit nicht bloß nationale, sondern oft sogar nationalistische Ideen. Deren trennende Faktoren stoßen aber auf Gegenkräfte, so auf den Gedanken eines übernationalen Völkerrechts oder auf die europäische Ordnung des Westfälischen Friedens. Zudem bildet sich im 17. und 18. Jahrhundert eine europäische Gelehrtenrepublik heraus, deren wichtigste Teilrepubliken, die wis­ senschaftlichen Akademien, Träger der Aufklärungsepoche bilden. Wenn Schriftsteller wie Stefan Zweig mit seinen Reflexionen über »Die Welt von gestern« und Franz Werfel, wenn Georges Duhamel, Giuseppe Antonio Borgese oder Romain Rolland sich dem Thema Europa zuwenden, so schwebt ihnen eine Vereinigung des Geistes und des friedlichen Zusammenlebens, jedenfalls ein weltoffener Kon­ tinent vor, kein »stahlhartes Gehäuse« der Bürokratie. Ähnlich fühlt Julian Barnes 2005 sich »seit jeher als Europäer«. Dabei denkt er nicht an Wahlen, Referenden und eine Verfassung, sondern an das alternative Europa, an die »Europäische Republik des Geistes«, in der er einen freundlich anarchischen Ort nie endender Fragen und Selbstzweifel sieht. Europa besteht jedenfalls wesentlich aus dem Zusammenspiel von zwei gegenläufigen Faktorenbündeln. Einerseits gibt es das Geflecht von noch weithin souveränen, untereinander konkurrieren­ den Staaten mit sich befehdenden Konfessionen, Wirtschaftsunter­ nehmen und kulturellen Einrichtungen. Andererseits wird der Konti­ nent von Gemeinsamkeiten wie der griechischen Wissenschaft und Philosophie, wie dem römischen Recht und dem Christentum, wie einem rastlosen Wirtschaftsantrieb, der reichen Kultur von Musik, Kunst, Literatur und Architektur, aber auch der Erinnerung an Spal­ tungen, Feindschaften, Unterdrückung und Ausbeutung zusammen­ gehalten. Hinzukommt eine stolze Reihe von Aufklärungen und Renaissancen, von Reformationen und Revolutionen. Glücklicherweise herrscht seit drei Generationen ein Wille vor, den man revolutionär nennen darf, da er mit einer in der europä­ ischen Geschichte herrschenden Tendenz bricht: Streitigkeiten sollen ausschließlich rechtlich oder aber politisch, jedenfalls friedlich gelöst werden. Spätestens dieser Wille strahlt eine derartige Überzeugungs­ kraft aus, daß sein politischer Kern, die Europäische Union, sich trotz mancher Schwierigkeit als so attraktiv, als so hochanziehend, erweist, daß man die These wiederholen darf: Für die gesamte Nachkriegszeit

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2.5 Exkurs: Deutschland bändigen?

bildet der europäische Gedanke, der sich in der Europäischen Union konkretisiert, die originellste, vermutlich auch wirkungsmächtigste politische Innovation. Blickt man auf all diese Faktoren zurück, so bekräftigt die erste Antwort auf die Frage, was denn Europa sei, die in der Einführung genannte Forderung, geschichtlich zu denken. Das »Wesen« Europas entscheidet sich nicht an der Geographie, auch wenn sie in mancher Hinsicht hilfreich war, sondern an der in einer langen Geschichte entwickelten, nach ihren zahlreichen Gebie­ ten und der hohen Qualität überaus reichhaltigen, in jüngerer Zeit im Kern friedlichen Kultur. Allerdings besteht diese nicht nur aus Gemeinsamkeiten. Zu Recht erklärt die Präambel einer Verfassung der Europäischen Union mit dem für einen Verfassungstext angemes­ senen Pathos: »daß die »Völker Europas, stolz auf ihre nationale [!] Identität und Geschichte, entschlossen sind, die alten Gegensätze zu überwinden … IN DER GEWISSHEIT, daß Europa, ›in Vielfalt [!] geeint‹, ihnen die besten Möglichkeiten bietet, unter Wahrung der Rechte des Einzelnen und im Bewußtsein ihrer Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen und der Erde dieses große Unterfangen fortzusetzen, das einen Raum eröffnet, in dem sich die Hoffnung der Menschen entfalten kann.«

2.5 Exkurs: Deutschland bändigen? Im Hintergrund steht ein weiterer Faktor: Wer in Europa bloß ein Projekt von Frieden und Recht mit wachsendem Wohlstand wahrnimmt, übersieht ein entscheidendes Gründungsmotiv, die dau­ erhafte Lösung der sogenannten deutschen Frage. Denn mit dem Nationalsozialismus, dessen mitleidlosem Krieg und dem Holocaust, hatte Deutschland über Europa unendliches Leid gebracht. Daß auch Stalin und Mao namenlose Schrecken verursacht haben und weltweit viele kleinere Diktatoren immer noch ihrer Bevölkerung, oft auch Nachbarn blutiges Unrecht zufügen, entlastet davon in keiner Weise. Aus Gründen einer die Vergangenheit in Fairneß erinnernden, mithin »anamnetischen« Gerechtigkeit darf es aber nicht verschwiegen wer­ den. Die Bedingungen, die Deutschland nach seiner Kapitulation auf­ erlegt wurden, sind bekannt: etwa der Verlust der Ostgebiete mit der Vertreibung deren Millionenbevölkerung, die Reparationszahlungen an die Westmächte und die Sowjetunion, vor allem der in den 1950er

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2 Geographie oder Geschichte und Kultur?

Jahren begonnene Prozeß einer wachsenden Integration in Europa. Diese Bedingungen hatten, bald ausdrücklich, bald unausgesprochen, das Ziel, Deutschland nachhaltig zu bändigen: Von dem in der Mitte Europas gelegenen, mittlerweile deutlich verkleinerten und durch die 1949 von den Sowjets geschaffene Deutsche Demokratische Republik gespaltenen Land solle keine politische Gefahr, insbesondere kein Krieg mehr ausgehen können. Andere Optionen, um diesen Zweck zu erreichen, wurden damals verworfen, etwa Deutschland auf Dauer unter Vormundschaft zu stellen, vielleicht zu zerstückeln oder, gemäß dem Morgenthau-Plan, seiner Industrie zu berauben und in ein bloßes Agrarland umzuwandeln. Der Beginn mit der Europäischen Montanunion, der am 18. April 1951 in Paris gegründeten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), ist bezeichnend: Obwohl für deren Gegenstand, eben Kohle und Stahl, nicht Frankreich führend ist, sondern Belgien und Deutschland die weit wichtigeren Länder sind, übernimmt den ersten Vorsitz ein Franzose, Jean Monnet. Die Nachfolge tritt erneut ein Franzose, René Mayer, an, dann ein frankophoner Belgier, Paul Finet, der später von Vertretern eines für Kohle und Stahl wirklich nicht entscheidenden Landes, von den zwei Italienern, Piero Malvestiti und Dino del Bo, abgelöst wird. Seit Juli 1967 wird das wichtigste Organ, die Hohe Behörde, durch eine gemeinsame Kommission ersetzt, deren erster Präsident, Jean Reg, erneut ein frankophoner Belgier ist. Das für Kohle und Stahl wichtigste Land, Deutschland, wird also beim Vorsitz mehr als eineinhalb Jahrzehnte übergangen. Auch die Fortentwicklung der Europäischen Institutionen ist von einer Außen-Bändigung Deutschlands stark geprägt, deutlich sichtbar bei der Einführung der Währungsunion. Auch ist nicht abwegig zu erinnern, was ein Kommentator zum EU-Projekt eines Supercomputers sagt: Es sollen »die Deutschen viel zahlen, aber wenig zu sagen haben. Die Franzosen wollen viel sagen, aber wenig zahlen. Die Italiener traten schon in den Vorverhandlun­ gen nie mit Geld, aber immer mit teuren Wünschen auf, die Schweizer halten sich da raus, mit Erfolg. Sie haben heute den besten Computer des Kontinents« (Finsterbusch 2018). Mittlerweile haben nicht wenige Kreise in Deutschland die Zähmung von außen ins eigene Denken aufgenommen, also inter­ nalisiert. Für unsere Nachbarländer ist die Union ein Mittel, ihren Gemeinwesen zu einem möglichst großen innereuropäischen Gewicht zu verhelfen. Für nicht wenige Deutsche hingegen ist Europa

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2.5 Exkurs: Deutschland bändigen?

ein Mittel, die eigene Nationalität, wenn nicht aufzulösen, so doch zugunsten der Union zu schwächen. Die sachlich erste und weit wichtigere Bändigung besteht aber nicht im Sich-Verkleinern oder sogar Sich-Verleugnen. Entscheidend ist die eigene, innere Selbstbändigung, vorzunehmen in Form eines demokratischen Rechtsstaates. Dies darf mittlerweile, nach sieben Jahrzehnten, als so gelungen gelten, daß die Aufgabe, Deutschland von außen zu bändigen, ihr Recht verloren hat. Zur inneren Bändigung haben zahlreiche eigene Rechts-, Kulturund Mentalitätstraditionen mitgeholfen, wie sie beispielsweise in anderen Ländern, deren Diktatoren gestürzt wurden, fehlen, so daß etwa in Libyen, Ägypten und dem Irak nach dem Sturz ihrer Diktato­ ren von einem baldigen Erfolg versprechenden Weg zu einer rechts­ staatlichen Demokratie keine Rede sein kann. Daß schließlich dank entsprechender Eigenanstrengungen Deutschland eine nennenswerte Wirtschaftsmacht geworden ist, darf weniger als neue Gefahr denn als Chance für die anderen angesehen werden, da Deutschland als größter Nettozahler für die Finanzierung der Union einen erheblichen Beitrag leistet, zusätzlich als ziemlich sicherer Wirtschaftsmotor den europäischen Volkswirtschaften hilft. Nur in Klammern darf das Wort eines französischen Schriftstel­ lers erinnert werden, der um 1900 erklärt, vier Barrieren gegen die Barbarei gebe es in Europa: das britische Oberhaus, das Institut de France, den Vatikan und – in Zeiten der Erbfreundschaft zwischen Deutschland und Frankreich kaum zu glauben – den deutschen Gene­ ralstab. Als weitaus größter Nettozahler der Union sollte Deutschland, dürfte man von außen gesehen erwarten, das Recht erhalten, einen entsprechenden Einfluß auf die europäische Finanzpolitik, sowohl deren Unionsanteil, namentlich die EZB, als auch die Finanzpoli­ tik einzelner Länder, haben. Ohne einen derartigen Einfluß wäre Deutschland nur Zahlmeister, folglich Diener der anderen, was beide Aspekte gefährdet: daß Deutschland genug finanzielle Ressourcen erwirtschaftet, um erfolgreicher Nettozahler zu bleiben, und daß Deutschland seine Selbstachtung behält. Für andere zahlen zu dürfen, ohne eine erheblichen Einfluß auf die Fiskalpolitik der Nehmerländer zu nehmen, wird nämlich kein Land, das seine Selbstachtung bewahren will, auf Dauer mitmachen. Allerdings ist auch diese Kehrseite zu beachten: Ein zu großer Einfluß bringt Deutschland in eine Hegemonialposition, die weder das Land

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2 Geographie oder Geschichte und Kultur?

selber will noch die anderen Länder goutieren. Hier eine Balance zu finden, die weder Deutschland bloß zahlen läßt noch die anderen zwingt, sich stets deutschen Vorstellungen zu beugen, ist eine der schwierigsten Aufgaben sowohl Deutschlands als auch der Union. Schlichte, trotzdem auf Dauer erfolgreiche Rezepte gibt es hier nicht; die Balance muß immer wieder neu erarbeitet werden.

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3 Pflichteuropa oder Wahleuropa?

3.1 Wider die Vertreibung europäischer Staaten aus dem Europa-Diskurs Die häufige Gleichsetzung der Europäischen Union mit Europa kann man beim Blick von außen, etwa von Nordamerika, China und Indien, mit Gedankenlosigkeit entschuldigen. Wird sie von Unionsbürgern vorgenommen, so erweckt sie bei Europäern, die nicht der Union angehören, den Anschein einer Überheblichkeit, da sie für Gesamteu­ ropa zu sprechen vorgibt, obwohl die Union doch nur einen kleinen Teil umfaßt. Selbst ein so kluges Buch wie das des Staatsrechtlers und ehemaligen Bundesverfassungsrichters Dieter Grimm trägt den Titel »Europa ja – aber welches?«. Tatsächlich wird nämlich, ohne damit die Nichtunions-Länder Europas aus Europa verbannen zu wollen, im Wesentlichen nur die verfassungsrechtlich wünschenswerte Zukunft der Union erörtert. Auch der Wiener Historiker Wolfgang Schmalz kommentiert aktuelle politische Entwicklungen in einem Blog unter dem in der Sache übergriffigen Titel »Mein Europa«. Sein Büchlein zur »Geschichte und Zukunft« des Kontinents trägt allerdings den bescheideneren, zugleich auch präziseren Titel »Was wird aus der Europäischen Union?« (2018). Die in der Regel unüberlegte Gleichsetzung, polemisch zuge­ spitzt: der verbale Imperialismus, hat nicht unerhebliche Folgen. Sie hat nicht nur das paradoxe Ergebnis, daß Europa fortan aus europä­ ischen und nichteuropäischen Ländern besteht. Sie beeinträchtigt auch die öffentliche Wahrnehmung. Beispielsweise sucht man im Binnenvergleich europäischer Länder und in den einschlägigen Sta­ tistiken häufig die »nichteuropäischen Staaten Europas« vergeblich. Selbst wenn man glaubt, auf Island und Liechtenstein verzichten zu können, vermißt man doch schon Norwegen und noch mehr das mit nicht weniger als vier Unionsländern, Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich, eng verknüpfte, dabei sowohl ähnliche als auch andersartige Nachbarland Schweiz. Infolgedessen sähe man die Schweiz gern bei bildungs-, wirtschafts- und kulturpolitischen

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3 Pflichteuropa oder Wahleuropa?

Vergleichen, bei Statistiken zu Einkommen und Vermögen, zur Abitu­ rienten- und zur Akademikerquote, zu Patentanmeldungen pro Kopf bzw. pro 100.000 Bewohnern usw. nicht nur gelegentlich, sondern immer mitberücksichtigt. Nicht zuletzt sollte der Blick großer Zeitungen auf die ostund südeuropäischen Länder wie Albanien, Serbien, Ukraine und Weißrußland sowie, mit dem erheblichen europäischen Anteil, Ruß­ land nicht wie üblich unter die Rubrik »Deutschland und die Welt«, sondern unter die »europäische Perspektive« fallen. Lediglich bei Andorra, Monaco, San Marino und dem Vatikanstaat läßt sich das Fehlen mit deren Größe, einer Zwergstaatlichkeit, erklären, die Nicht­ präsenz der Türkei schließlich damit, daß ihr europäischer Anteil relativ gering ist. Die allzu häufige Gleichsetzung der Union mit Europa, die generelle »Vertreibung europäischer Staaten aus dem Europa-Diskurs« hingegen, diese horizontale Exklusion eines erheb­ lichen Teils von Europa, verdient scharfen Einspruch. Nehmen wir als Beispiel das Recht. Hier ist schon das Nichtbe­ achten der Türkei innerhalb des Europa-Diskurses nicht unbedenk­ lich. Der Grund liegt nicht in Argumenten für eine Aufnahme der Türkei in die Union, denn dabei handelt es sich um ein eigenes Thema. Der Grund liegt vielmehr im türkischen Rechtsdenken, das von deutschem und Schweizer Recht beeinflußt ist. Für die politische Wirklichkeit folgt daraus gewiß keine vorbildliche Rechtsstaatlich­ keit. Bis heute treffen sich aber türkische Juristen regelmäßig mit ihren deutschen und Schweizer Kollegen zu intensiven Gesprächen. Für Rußland wiederum darf man vermuten, daß das zaristi­ sche Rechtsdenken vom Römischen Recht, also der europäischen Rechtstradition, nicht unbeeinflußt blieb und daß ein Teil dieses Einflusses die sozialistische Revolution des Rechts und deren spätere Reformen zumindest subkutan überlebte. Das Recht der »nichteuro­ päischen« Länder Skandinaviens, also von Island und Norwegen, ähnelt aufgrund vergleichbarer Tradition und ausdrücklicher Anglei­ chung untereinander dem Recht der Unionsmitglieder Dänemark und Schweden. Die Schweiz und Liechtenstein wiederum stehen weitgehend in der Rechtstradition ihrer Nachbarländer, hier vor allem von Deutschland und Frankreich. Weil all die genannten Länder starke Wurzeln in einer gemein­ europäischen Rechtstradition haben, war es in der politischen Wirk­ lichkeit sowohl empfehlenswert als auch möglich, eine Institution, die an den EU-Grenzen nicht haltmacht, zu schaffen: die Europäische

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3.1 Wider die Vertreibung europäischer Staaten aus dem Europa-Diskurs

Menschenrechtskonvention (EMRK). Am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet, ist sie sogar ein halbes Jahr älter als der Vorläufer der EU, die Montanunion. Zusammen mit der Europäischen Kommission für Menschenrechte als erster und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, EGMR, als zweiter Instanz dürfte die EMRK für den Gesamtkontinent wichtiger sein als die Rechtsprechung des allein für die Union kompetenten Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg. Schließlich darf man zahlreiche gesamteuropäisch zuständige, mindestens die Grenzen der Union überschreitende Organisationen und Ämter nicht vergessen, beispielsweise die Europäische Güter­ wagengemeinschaft (mit Sitz in Bern), die Europäische Kernener­ gie-Agentur (European Nuclear Energy Agency: ENEA) die Euro­ päische Organisation für Kernforschung (Counseil Européen pour la Recherche Nucléaire: CERN, Sitz in Genf), das schon erwähnte Europäische Patentamt (Hauptsitz in München), die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organization for Economic Cooperation and Development: OECD, Sitz in Paris). Diese und viele weitere nicht an die Europäische Union gebundenen Einrichtungen haben ihre speziellen Aufgaben und schon ihretwegen ihre eigene Geschichte. Ein Nachdenken über Europa muß diesen reichen und bunten Strauß der Zusammenarbeit zwar nicht in deren Fülle vor Augen haben. So bedeutsam die Europäische Union auch sein mag, sie bildet aber nur einen Teilausschnitt des in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht weit größeren Kontinents. Im Verhältnis zu Gesamteuropa – es mag auch Großeuropa heißen – bleibt die Europäische Union, selbst wenn sie weitere Mitglieder aufnimmt, noch sehr lange ein Teileuropa bzw. Kleineuropa. Dieser Sachverhalt sollte selbst Europaenthusiasten nicht irritie­ ren. Denn wenn sie nur über ein Minimum an Realitätsoffenheit verfügen, werden sie nicht ernsthaft am europäischen Charakter von Nicht-EU-Staaten wie Island, Norwegen und der Schweiz zweifeln. Ebensowenig werden sie bestreiten, daß die europäische Kultur – von der Sprache und Literatur über Recht und Gerechtigkeit, über wirt­ schaftliche, wissenschaftliche und technische Rationalität, über die Religion, Musik, Baukunst und Malerei bis zur Aufklärung – nicht nur lange vor der Europäischen Union beginnt, sondern auch, vielleicht vom Recht und den Finanzen abgesehen, ins ihrer Originalität und Kreativität nur zu einem geringen Teil seitens der EU gefördert wird.

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3 Pflichteuropa oder Wahleuropa?

Putins Krieg gegen die Ukraine mag zwar auch im Bereich der Wissenschaften und der Kultur eine Zurückhaltung gegen Rußland fördern. Daß Schriftsteller wie Puschkin, Tolstoi und Dostojevski, daß Komponisten wie Tschaikowski, Prokofjew, Rachmaninow und Skrjabin, daß der Filmregisseur Eisenstein und daß Konservatorien, Opernhäuser, Orchester und Ballettensembles etwa von St. Peters­ burg und Moskau aus europäischen Quellen arbeiten und diese ihrerseits vielfältig bereichern, daß also erneut Europa weit über die Europäische Union hinausreicht, wird niemand bestreiten. Das schließt die Möglichkeit nicht aus, sich einmal auf »Das politische Denken der Europäischen Union« zu konzentrieren, aber wichtig ist, wie Ludger Kühnhardt 2022 diese thematische Einschränkung schon im Titel auszusprechen, statt – aus Werbegründen? – Überlegungen zu Europa ohne thematische Einschränkung anzukündigen und damit dem von mir diagnostizierten »verbalen Imperialismus« zu frönen. Diese Sachlage, daß jedenfalls Gesamteuropa weit mehr als der EU-Teil ist, legt eine doppelte Frage nahe, die an dieser Stelle bloß formuliert, aber nicht einmal ansatzweise beantwortet werden kann: Ist es empirisch zu erwarten und normativ zu wünschen, daß selbst für den Fall, daß alle Länder Europas sich der Union anschließen, diese – dann zweifellos veränderte – Union die Gesamtheit aller europä­ ischen Organisationen und Ämter in sich aufsauge, oder wird, wozu diese Studie neigt, ein offenes Geflecht von Einrichtungen dem Reich­ tum Europas und dem Wohlergehen ihrer Bürger nicht weit besser gerecht? Für die Europäische Union mögen Europa-Enthusiasten an einen Masterplan glauben. (Allerdings: Wer soll ihn aufstellen? Und: Ist mit einer allseitigen Zustimmung zu rechnen?) Für Gesamteuropa eignet sich jedenfalls nur das Bild eines organisch gewachsenen und noch weiter wachsendenden Wurzelgeflechts.

3.2 Ein europäischer Gesellschaftsvertrag Vor mehr als 70 Jahren, am 19. September 1946, forderte der britische Premier Winston Churchill in Zürich, »die Vereinten Nationen auf­ zubauen« und »innerhalb dieser weltumfassenden Konzeption die europäische Völkerfamilie in einer regionalen Organisation neu zusammenzufassen, die man vielleicht die Vereinigten Staaten von Europa nennen könnte«.

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3.2 Ein europäischer Gesellschaftsvertrag

Wer bei den »Vereinigten Staaten von Europa« (»United Nations of Europe«) als deren Vorläufer an die bald auf den Weg gebrach­ ten Europäischen Gemeinschaften und deren Fortentwicklung zur Europäischen Union denkt, kann die Ironie, sogar doppelte Ironie dieser Aufforderung nicht übersehen: Der Redner nimmt nicht bloß damals sein eigenes Land, Großbritannien, aus, obwohl es später im Brexit die doch eingegangenen Bindungen an die Union wieder kappt. Und das Land, in dem Churchill die Rede hält, eben die Schweiz, wird in mehreren Volksabstimmungen den Beitritt zur Europäischen Union bzw. zu dessen Vorläufer, die Europäische Wirtschaftsgemein­ schaft (EWG), ausdrücklich ablehnen. Trotzdem gibt es gute Gründe, an der Vision eines friedlich geein­ ten Europas festzuhalten, zumal es in einer langen Tradition steht, von der hier nur drei von Hunderten Beispielen erinnert seien: William Penns Essay Über den gegenwärtigen und zukünftigen Frieden (1693), St. Pierres Plan eines ewigen Friedens (1712) und Novalis’ Fragment Die Christenheit oder Europa. Die Vorschläge dieser und weiterer Texte sind aber nicht bloß vielfältig, sondern auch so heterogen, daß sie eine einzige Gestalt für ein einiges Europa nicht erwarten lassen. Des Näheren drängen sich für das Projekt einer »Neuschöpfung der europäischen Völker«, für die friedliche Einigung Europas, zwei grundverschiedene Gestalten auf, nämlich die basale Unterscheidung einer allen Völkern bzw. Staaten Europas verbindlich gebotenen Form des Zusammenlebens, ein Pflichteuropa, von einem den Staaten freigestellten, aber keineswegs verbindlichen Mehr an Zusammen­ arbeit, einem Wahleuropa. Gemeinsam ist ihnen jener Gedanke eines Gesellschaftsvertrages, der den Zwangscharakter, ohne den kein Gemeinwesen auskommt, rechtfertigt. Glücklicherweise gehört dieser Gedanke zum Erbe, das Europa über alle Grenzen und Unterschiede hinweg verbindet. Das Erbe tritt schon in einem der ersten staatstheoretischen Texte Europas, in Platons Dialog Kriton (50a-52d), zutage: In der Nacht bevor Sokrates auf Beschluß der Athener Volksver­ sammlung den tödlichen Schierlingsbecher trinken soll, versucht sein Freund Kriton mit großer Dringlichkeit den Philosophen zur Flucht zu bewegen. Sokrates lehnt die Bitte mit dem Argument ab, mit Athen einen Vertrag, allerdings keinen ausdrücklichen, sondern nur stillschweigenden, nämlich durch sein Leben in Athen praktizierten Vertrag abgeschlossen zu haben. In der Neuzeit wird zunächst Hobbes den Vertragsgedanken zum Grundbegriff der Rechtfertigung einer

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3 Pflichteuropa oder Wahleuropa?

zwangsbefugten Rechts- und Staatsordnung ausarbeiten, worin ihm mit unterschiedlichen Veränderungen Spinoza, Locke und Rousseau folgen werden. Ob man an die Platonischen Wurzeln oder an die neuzeitlichen Ausgestaltungen denkt – der Gedanke eines politi­ schen Grundvertrages zur Legitimation eines rechtsförmigen, dabei zwangsbefugten Zusammenlebens trennt nicht die Staaten Europas, sondern eint sie zu Gesamteuropa. Dieser Sachverhalt erlaubt eine erste These: Das Legitimati­ onsmuster des Gesellschaftsvertrages ist von seinem griechischen Ursprung und seiner neuzeitlichen Ausführung her ein gemeineuropäi­ scher Gedanke. Gemeineuropäisch, aber keine Besonderheit Europas ist die Grundaufgabe: die Legitimation eines Gemeinwesens, das mit seiner Kerngrammatik, dem Recht, und den dafür zuständigen öffentlichen Gewalten Zwangscharakter hat. Daß das Zusammenleben der Men­ schen nicht herrschaftsfrei, als Fremdwort nicht anarchisch, sondern in Form von Herrschaft organisiert wird, bedarf der Rechtfertigung. Um mehr als bloße positive Geltung, Legalität, nämlich um mora­ lische Berechtigung, Legitimität, zu begründen, muß die Rechtferti­ gung gegenüber den Betroffenen erfolgen. Aus diesem Grund darf legitime Herrschaft weder mit Unterdrückung noch Ausbeutung einhergehen. Im Gegenteil muß sie den Betroffenen zugute kommen und zu diesem Zweck begrenzt werden. These zwei: Die Rechtfertigung von Herrschaft, ihre Legitimation, geht mit deren klarer Begrenzung, der Limitation, Hand in Hand. Wegen des erheblichen Gewichts dieser These sei sie bekräftigt: Der Gesellschaftsvertrag begnügt sich nicht mit einer Legitimation von Herrschaft bzw. von öffentlichen Gewalten überhaupt. Denn andernfalls erhielte die höchste öffentliche Gewalt, der Souverän, die im Absolutismus annähernd gegebene Blankovollmacht. Wegen des inhaltlichen Prinzips verbindet eine sachgerechte Vertragstheorie beides, die Rechtfertigung öffentlicher Gewalten mit deren Einschrän­ kung und Normierung. Der Gesellschaftsvertrag erteilt keine Blanko­ vollmacht, sondern ist herrschaftslegitimierend und herrschaftslimi­ tierend zugleich. Nach bisheriger Kenntnis wird der Gesellschaftsvertrag vielleicht nicht ausschließlich, in dieser Klarheit aber doch lediglich in der Philosophie Europas entwickelt. Diese erweist sich dabei als Anwalt der Menschheit, was zur dritten These führt: Nicht an Besonderhei­ ten Europas gebunden, bildet für viele Staatstheoretiker die Argumen­

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3.2 Ein europäischer Gesellschaftsvertrag

tationsfigur des Gesellschaftsvertrages die philosophische Grundlage jeder politischen Ordnung, die legitim sein soll. Obwohl in Europa entstanden, ist daher die Sache interkulturell bzw. universal gültig, womit Europa einen Beitrag zum gemeinsamen Erbe der gesamten Menschheit leistet. Für den Gesellschaftsvertrag sind drei Elemente wesentlich; alle drei sind nicht für Europa spezifisch, sondern von allgemeinmensch­ licher Bedeutung. In diesem Sinn konstitutiv, nämlich wesentlich und über Staats- und Kulturgrenzen hinweg, also interkulturell gültig ist schon die Grundaufgabe. Sie besteht in der Legitimation dessen, was im Strafrecht überdeutlich zutage tritt: Eine zwangsbefugte Rechtsund Staatsordnung, deren öffentliche Gewalt, bedarf der Rechtferti­ gung. Allgemein gültig ist weiterhin das formale Legitimationsprin­ zip: daß eine öffentliche Gewalt weder durch überlegene Macht noch »von Gottes Gnaden« gerechtfertigt wird, sondern ausschließlich durch die Zustimmungsfähigkeit der Betroffenen. Die Verfassungs­ theorie sagt lapidar: Alle Gewalt geht vom Volke aus. Dabei genügt keine noch so qualifizierte Mehrheit. Damit die Gewalt für keine auch noch so kleine Minderheit, damit sie für niemanden violentia, pure Gewalt, vielmehr potestas, autorisierte Macht ist, bedarf es der Ein­ stimmigkeit. Schließlich erfolgt die Zustimmung weder unüberlegt noch unbegründet. Nach dem zweiten, jetzt inhaltlichen Legitimati­ onsprinzip gibt man deshalb seine Zustimmung, weil man sich von der Rechtsordnung eines Gemeinwesens und von deren öffentlichen Gewalten einen größeren Vorteil verspricht. Die vierte These erläutert diese Aufgabe: Der Gesellschaftsvertrag bindet die politische Legitimation an die Zustimmung jedes einzelnen, folglich an einen distributiven, nämlich für jeden einzelnen, nicht bloß kollektiven, der Gesamtheit zugute kommenden Vorteil. Föderale Staaten gibt es nicht bloß in Europa, sondern mit Brasilien und Kanada beispielsweise auch in Amerika, weiterhin in Indien, ferner mit Südafrika in Afrika, inzwischen sogar, selbst in Australien, in der halben Welt. Ihnen allen ist verfassungstheoretisch gesehen eines gemeinsam, so daß auch hier eine kulturübergreifende Gültigkeit vorliegt. Ein föderales Gemeinwesen besteht nicht lediglich aus Bürgern, die zusammen ein Staatsvolk bilden, sondern zusätz­ lich aus Gemeinwesen eigenen Rechts, aus den (Bundes-)Ländern, Kantonen oder (Teil)-Staaten. Beim entsprechenden Bundesstaat, einer Bundesrepublik, geht innerhalb der Gliedstaaten alle Gewalt von der Gesamtheit der Rechtsgenossen, dem Volk der Gliedstaaten,

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3 Pflichteuropa oder Wahleuropa?

aus, im Gesamtstaat hingegen von beiden Seiten, vom Gesamtvolk und von allen Gliedstaaten zugleich. Dadurch kompliziert sich die Situation, was in der Zweiteilung des Gesetzgebers sichtbar wird und in verfassungstheoretischer Hinsicht notwendig ist: In födera­ len Gemeinwesen besteht das Parlament aus zwei Kammern, einer­ seits dem Bundesparlament bzw. der Nationalversammlung oder dem Repräsentantenhaus, andererseits aus der Vertretung der (Bun­ des-)Länder bzw. Kantone, dem Bundesrat (oder Ständerat: Schweiz) oder Senat (USA). These fünf: In föderalen Gemeinwesen ist der Gesellschaftsvertrag mit Notwendigkeit zweistufig, denn es bedarf einer zweifachen Zustimmung, der Zustimmung des (Gesamt-)Volkes und der der Gliedstaaten. Die entscheidende Frage, welcher Vertrag zum Zweck der Ein­ stimmigkeit nicht bloß die kollektiven Vorteile für die Gesamtheit, sondern auch die distributiven Vorteile für jeden einzelnen zustande bringt, läßt sich nicht mit den gewöhnlichen Interessen von Menschen beantworten. Diese sind, zumal in den pluralistischen Gesellschaften der Moderne, so vielfältig, daß hier Einstimmigkeit ausgeschlossen ist. Anders verhält es sich mit höherstufigen Interessen, nämlich mit den notwendigen Bedingungen, um Interessen überhaupt ausbilden, sie artikulieren und sie zielstrebig verfolgen zu können. Philosophen können sie »transzendentale Interessen« nennen, denn es handelt sich um die unverzichtbaren Voraussetzungen, um eine sowohl für sich als auch gegenüber den Mitmenschen verantwortliche Person sein zu können. These sechs: Allein mit dem Schutz von allgemeinen Voraus­ setzungen der Handlungsfähigkeit, mit den notwendigen »conditions of agency«, läßt sich legitime Herrschaft rechtfertigen. Ein klares Beispiel bildet das Interesse an Leib und Leben. Selbst derjenige, der sein Leben für ein politisches oder religiöses Ideal zu opfern bereit ist, der Märtyrer, oder wer aus Verzweiflung, aus Überdruß oder anderen Gründen sein Leben zu beenden sucht, hält das bloße Leben nicht für sein höchstes Gut. Er will nämlich selbst entscheiden, wann und wie oder auch wofür er das eigene Leben aufgibt. Auf diese Weise erkennt er das Leben als unverzichtbare Bedingung seiner Handlungsfähigkeit an. Wer nun jemanden tötet, bereitet dessen Handlungsfähigkeit ein Ende. Da dies niemand will, »tauscht« er seine Fähigkeit, allein oder mit Hilfe anderer zu töten, gegen dieselbe Fähigkeit der anderen ein. Statt sowohl Opfer von Tötungsdelikten als auch deren Täter zu sein, zieht man das Weder-Opfer-noch-Täter vor, was sich auf ein

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3.3 Pflichteuropa

wechselseitig gewährtes Recht auf das eigene Leben, kurz auf das Lebensrecht, beläuft. Nach diesem Argumentationsmuster eines wechselseitigen Tau­ sches erhalten die unverzichtbaren Interessen jenen Rang von unver­ äußerlichen und unverletzlichen Rechten, die man Menschenrechte nennt. Da diese Rechte definitionsgemäß jedem zugute kommen, könnte man meinen, sie setzten sich von allein durch. Träfe diese Ansicht zu, so wäre hier ein zwangsbefugtes Gemeinwesen überflüs­ sig. Zumindest für die Menschenrechte ließe sich der Gedanke des philosophischen Anarchismus vertreten, für das Zusammenleben der Menschen bräuchte es keine Herrschaft. Dagegen spricht, daß der genaue Inhalt der Menschenrechte ver­ bindlich zu bestimmen ist, wofür es einen Verfassungsgeber braucht. Zudem sind die Menschenrechte notwendig, aber nicht zureichend. Für das Funktionieren einer Rechts- und Staatsordnung ist weit mehr, beispielsweise noch ein Zivilrecht, ein Handels-, ein Wirtschafts- und Sozialrecht sowie zu diesen und weiteren Rechtsgebieten das jeweilige Prozeßrecht, nötig, wofür großenteils der gewöhnliche Gesetzgeber zuständig ist. Da außerdem weder die Menschenrechte, als Bestand­ teile eines Gemeinwesens »Grundrechte« genannt, noch die mittler­ weile zahllosen Gesetze sich von allein durchsetzen, benötigt man eine Regierung und eine Verwaltung, für Streitfälle zusätzlich ein Gerichtswesen. These sieben: Zu einem legitimen Gemeinwesen gehört die klassische Trias der öffentlichen Gewalten, Legislative, Exekutive und Justiz.

3.3 Pflichteuropa Zu diesen sieben Thesen drängen sich durchaus zahllose Feindebatten auf. Im Prinzip enthalten sie aber kaum mehr als Binsenwahrheiten, die längst ihren Platz in der Staatsbürgerkunde gefunden haben. Ernsthafte Probleme wirft erst ein Umstand auf, den unter den großen Rechts- und Staatsphilosophen bloß Kant gebührend erörtert hat: Daß es die Staaten im Plural gibt, weshalb sich die Legitimationsaufgabe des Gesellschaftsvertrages wiederholt. Wie natürliche Individuen, so haben auch einzelne Staaten sowohl elementare Rechte gegenei­ nander als auch die Aufgabe, die Rechte nicht von ihrem eigenen, partikularen Standpunkt und mit eigener Gewalt, sondern mittels

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3 Pflichteuropa oder Wahleuropa?

öffentlicher, hier: international gemeinsamer Gewalten zu verwirkli­ chen. Im oben skizzierten Wettstreit um die Leitziele einer Europä­ ischen Einigung ist keines ihrer Ziele als exklusiver Sieger hervorge­ gangen. Statt um alternative Themen handelt es sich vielmehr um sich ergänzende, also komplementäre, nicht konkurrierende Leitauf­ gaben. Hier seien sieben Gründe wiederholt, die man gern zugunsten einer Europäischen Einigung aufzählt: (1) ein die kollektive Sicher­ heit der einzelnen Staaten garantierender dauerhafter Friede, (2) die Herrschaft des Rechts (Rule of Law), (3) die Überwindung von nationalen Grenzen, (4) ein wachsender Wohlstand, (5) neuerdings verstärkt durch die Forderung nach europäischer Solidarität, und (6) die Bündelung des handelspolitischen und des außenpolitischen Einflusses gegen­ über Großmächten wie China, Rußland und den USA. Hinzukommt ein Auftrag, den die öffentliche Debatte meist unterschlägt, (7) die im EU-Vertrag enthaltene Beistandsverpflichtung: »Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaates schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht ste­ hende Hilfe und Unterstützung.« Obwohl jeder der sieben Gründe überzeugen kann, sind sie untereinander so heterogen, daß sie nicht einen einzigen Gesell­ schaftsvertrag rechtfertigen. Sie sprechen vielmehr wie angekündigt für zwei wesentlich verschiedene Arten von Europaverträgen. Das gemeinsame Grundmuster, der in Europa geborene Gedanke eines Gesellschaftsvertrages, tritt in zwei unterschiedlich verbindlichen Gestalten auf. Denn die ersten zwei Gründe, mit klarem Vorrang der allerersten Leitaufgabe, rechtfertigen ein den gesamten Kontinent umfassendes »Pflichteuropa«, die nächsten vier das in der Europä­ ischen Union realisierte »Wahleuropa«, während die letzte Aufgabe beiden Begriffen von Europa zuzuordnen ist. Wie noch zu erläutern, kann man analog zu den Menschenrechten natürlicher Personen hier von »Menschenrechten der Staaten« sprechen. (Um die Grenzen der Analogie anzudeuten, setze man den Ausdruck der Menschen­ rechte in Anführungszeichen oder nenne sie Quasi-Menschenrechte.) Danach hat jeder Staat auf die kollektive Sicherheit seiner Bürger­ schaft und seines Territoriums einen rechtsmoralischen Anspruch. Der dafür zuständige Gesellschaftsvertrag hat den Rang eines Pflicht­ vertrages. Er beläuft sich auf einen »Europäischen Friedensbund«, der nach dem Vorbild der Vereinten Nationen, der UNO, aber nicht

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3.3 Pflichteuropa

dem der Vereinigten Staaten von Nordamerika, den USA, »Vereinte Nationen von Europa« (VNE) oder »United Nations of Europe« (UNE) heißen mag. Mit der Aufgabe, die kollektive Sicherheit jedes Gemeinwesens zu garantieren, hat der Europäische Friedensbund den Rang eines uneingeschränkt verbindlichen, eines kategorischen Friedensimperativs. Für alle europäischen Staaten verpflichtend, ist das entsprechende Europa ein Pflichteuropa. Sinngemäß gilt die europapolitische Vision der »Vereinten Nationen von Europa« als »Pflichteuropa« auch für andere Groß­ regionen, die sich geographisch nach der üblichen Unterscheidung von Kontinenten, aber auch mehr nach geschichtlichen, kulturellen und politischen Gemeinsamkeiten bilden können. Bleibt man zur Vereinfachung bei der Unterscheidung von Kontinenten, so braucht es ebenso einen Afrikanischen wie einen Asiatisch-Pazifischen und einen Amerikanischen Friedensbund, schließlich als globale Stufe den in der UNO ansatzweise realisierten globalen Friedensbund. Namentlich in Afrika zeigt sich eine erfreuliche Entwicklung: Im Jahr 2002 wurde die Afrikanische Union (AU) als Nachfolgerin der Organisation für afrikanische Einheit (OAU) mit Sitz in Adis Abeba geschaffen. Gemäß der Gründungscharta ähnelt sie aber mehr der Europäischen Union, mithin dem noch zu skizzierenden Wahleuropa als einem bloßen Friedensbund. Denn ihr Mandat erstreckt sich ausdrücklich auf alle Bereiche des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenlebens. Im Unterschied zur Europäischen Union umfaßt die AU allerdings mit ihren 55 Mitgliedern alle Staaten. Anders als bei der EU handelt es sich bei der AU nicht um einen Teil, um ein Klein-Afrika, sondern um den ganzen afrikanischen Kon­ tinent. Von den zahlreichen Organen sind die folgenden besonders wichtig: Die Versammlung der Staats- und Regierungschefs, der Exekutivrat (er bereitet auf Ebene der Außenminister die Treffen der Staats- und Regierungschefs vor), das Pan-Afrikanische Parlament (es setzt sich aus 265 von den Parlamenten der AU-Mitgliedstaaten gewählten Vertretern zusammen und hat sowohl beratende als auch kontrollierende Aufgaben) und die Kommission der AU, die deren Exekutivorgan ist. Wie der einzelstaatliche Gesellschaftsvertrag so ist auch der europäische Pflichtvertrag für unverzichtbare Interessen, die genann­ ten Interessen zweiter Stufe, und die sich daraus ergebenden Men­ schenrechte zuständig. Jetzt handelt es sich allerdings, wie ange­

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3 Pflichteuropa oder Wahleuropa?

deutet, um eine neue Art, um die Quasi-Menschenrechte der europäischen Staaten. Dabei gibt es, ebenso klar wie eng umgrenzt, vor allem zwei Rechte: Wie Individuen so haben auch Staaten ein Recht auf Leib und Leben sowie auf Eigentum, was vor allem die kol­ lektive Sicherheit und territoriale Unversehrtheit beinhaltet. Hinzu kommt das Recht auf politische und kulturelle Selbstbestimmung. Weil die Einzelstaaten die Primärstaaten sind und als solche Mehr­ aufgaben zu erfüllen haben, ist das für alle Staaten verbindliche Pflichteuropa nur ein Sekundärstaat, dem infolgedessen bloß eine minimale Staatlichkeit zukommt: Pflichteuropa ist seinem Wesen nach nicht weniger, aber auch nicht mehr als ein Friedensbund. Die vertrauten Staatsaufgaben, die Verantwortung für das Zivilund das Strafrecht, für das Arbeits- und Sozialrecht, für das Recht der Sprachen, Religionen und Kulturen, für eventuelle soziale und regionale Umverteilungen – all diese und weitere Aufgaben verblei­ ben zunächst in der Kompetenz der einzelnen europäischen Staaten. Denn wie innerstaatlich, so können sich auch zwischenstaatlich einige Zusatzaufgaben ergeben. These acht: Ein europäischer Pflichtvertrag ist für den Frieden in Europa und dabei vor allem für zwei Quasi-Menschenrechte der europä­ ischen Staaten zuständig: zum einen für deren kollektive Sicherheit und territoriale Integrität, zum anderen für deren Selbstbestimmungsrecht. Würde Pflichteuropa seine Zuständigkeit um eine Sozial-, vielleicht sogar Kulturstaatlichkeit erweitern, so fände nichts Geringeres als eine illegitime Rechtsanmaßung statt. Die beiden Friedensaufgaben enthalten übrigens eine politische Sprengkraft, die der politische Diskurs bislang verdrängt: Ein fremdes Territorium verletzt nicht nur, wer dort wie Rußland in die Ukraine militärisch einmarschiert, sondern auch, wer seine Nachbarn ökolo­ gisch schädigt, sogar wer sie etwa durch seine Atomkraftwerke, zumal die in Grenznähe, ökologisch gefährdet.

3.4 … und Wahleuropa Während das friedliche Zusammenleben der europäischen Staaten rechtsmoralisch geboten ist, besteht zur Anerkennung der anderen europäischen Leitziele keinerlei Pflicht. Nach aller Erfahrung dient es dem Wohl eines Staates, seine Grenzen zu öffnen und mit anderen Staaten wirtschaftlich zu kooperieren. Kein Staat hat aber das Recht,

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3.4 … und Wahleuropa

vom anderen, sich auf diese Vorteile einzulassen, zu fordern. These neun: Vom Pflichtvertrag für Europa ist ein zweiter Gesellschaftsvertrag zu unterscheiden, ein freiwilliger Vertrag oder Wahlvertrag, der von den dazu bereiten und von den anderen auch akzeptierten Staaten ein Wahleuropa schafft. Zu Pflichteuropa, dem europäischen Friedensbund, gehören alle Länder Europas ohne Ausnahme, von Island und Norwegen über die Schweiz, Liechtenstein, Kroatien, Serbien bis Rußland, ebenso Weißrußland und die Ukraine. Offensichtlich verhält es sich für Wahleuropa grundlegend anders. Schon weil das im Pflichteuropa enthaltene Selbstbestimmungsrecht jedem Staat seine Eigenart, sogar Eigenwilligkeit erlaubt, darf weder eine europäische Gemeinschaft ein europäisches Land zum Beitritt noch ein europäisches Land die europäische Gemeinschaft zur Annahme eines Beitrittsgesuches zwingen. Zwei Bedingungen sind vielmehr zugleich zu erfüllen: Zu Wahleuropa gehört jedes Land, das erstens aufgenommen werden will und das zweitens von den anderen als Aufnahmeland anerkannt wird. Für die zweite Bedingung, die Anerkennung, empfehlen sich klare Vorgaben, die zudem streng unparteiisch anzuwenden sind. Man darf nicht einem Land wie der Türkei über viele Jahre hin Inte­ grationshoffnungen machen, obwohl es im Rechts- und Menschen­ rechtsschutz das in einer Europäischen Gemeinschaft selbstverständ­ liche Niveau noch nicht annähernd erreicht. Ebensowenig darf man in ein kleineres Land, in den 1990er Jahren Österreich, hineinregieren wollen, in dem zwar bedenkliche nationalistische Töne zu hören waren, von einer signifikant gestiegenen Anzahl diesbezüglicher Klagen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aber nicht zu lesen war. Gegen die politisch einflußreicheren nationalistischen Töne des in einem größeren Land regierenden Ministerpräsidenten, Silvio Berlusconi, hingegen hüllte man sich damals in Schweigen. Ferner sind rechtsmoralisch gesehen europäische Länder berech­ tigt, entweder wie Island, Norwegen, die Schweiz und Liechtenstein von vornherein oder wie Großbritannien neuerdings durch den Aus­ tritt aus der Union für sich zu bleiben. Ob sie dabei politisch klug handeln, ist eine andere Frage. Freilich zeigen die genannten der Union nie beigetretenen Länder, daß sie mit ihrem »Alleinbleiben« durchaus erfolgreich sind. Allerdings ist hinzuzusetzen, daß diese Länder mit der Union eng zusammenarbeiten, sogar einen erhebli­ chen Teil von deren Bestimmungen übernehmen müssen, ohne bei den einschlägigen Entscheidungsprozessen mitwirken zu dürfen. Die

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3 Pflichteuropa oder Wahleuropa?

formalrechtliche Souveränität wird also materialrechtlich erheblich eingeschränkt. Wie es für das Vereinigte Königreich nach dem Brexit aussieht, wird die Zukunft zeigen. Nehmen wir als Beispiel einen Kleinstaat von nur 36.000 Ein­ wohnern, das Fürstentum Liechtenstein. Es zeigt, wie es ohne Norwe­ gens Vorteile, den Öl- und Gasreichtum, auch ohne die strategisch günstige Lage der Schweiz, den strategisch wichtigen Transitstrecken, überdies ohne wie Island und Norwegen einen den Handel erleich­ ternden Zugang zum Meer sich trotzdem in einer immer globaleren und komplexeren Welt zu behaupten vermag. Entscheidend ist ein pragmatisches Souveränitätsverständnis, verbunden mit der Konzen­ tration auf das Nötige und der Auslagerung gewisser Staatsaufgaben (die Währung beispielsweise ist die der Schweiz) und der Offenheit für europäische Integration. Ob realistisch oder nicht – in einem Gedankenexperiment kann man sich vorstellen, daß in Europa, aber außerhalb der Brüsseler Union politische Zusammenschlüsse entstehen. Diese müssen sich dann nicht an die geographischen Grenzen Europas binden. Nicht zuletzt ist selbst innerhalb der bisherigen Europäischen Union der Gedanke eines Kerneuropa – man spricht lieber von zwei Geschwin­ digkeiten – nicht a priori von der Hand zu weisen. Weit mehr als die sogenannte Freundschaft zweier Staaten, Frankreich und Deutschland, vielleicht auch mehr als die sechs Gründerstaaten, also zusätzlich Belgien, Italien, Niederlande und Luxemburg, sollte es jedoch umfassen. Einen Zusammenschluß der derzeit siebenund­ vierzig Staaten Europas zu einer einzigen Union kann man sich hingegen nur als deren extreme Ausdünnung vorstellen, nämlich als die Rückentwicklung der Europäischen Union zu einem lockeren Staatenbund. Sollte eine bloße Freihandelszone übrigbleiben, so wäre sie nicht viel mehr als Pflichteuropa, nämlich ein Friedensbund, lediglich um eine gewisse ökonomische Kooperation in Form einer Freihandelszone erweitert. Zwei Alternativen sind denkbar: Entweder nimmt die Brüsseler Union – fast – keine neuen Staaten mehr auf und läßt die anderen, die »Reststaaten«, eine zweite, vielleicht auch dritte Union bilden. Oder man entwickelt Assoziierungs- und Kooperationsverträge, die sich allerdings ausdrücklich nicht von vornherein auf eine spätere Vollmit­ gliedschaft festlegen sollten. In manchem Beitrittsgesuch spricht sich ohnehin lediglich das Interesse an einer Freihandelszone, in anderen das Interesse an den Brüsseler Finanzquellen aus. Bekanntlich verlief

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3.5 Erfolgskriterien

die geschichtliche Entwicklung anders, denn die Union nahm großzü­ gig Staaten auf, die bis heute die Eintrittsbedingungen, insbesondere die Bedingung der Rechtsstaatlichkeit, nicht überzeugend erfüllen oder wieder ausdünnen. These zehn: Eine großzügige quantitative Erweiterung hat die Qualität gefährdet, die sich Wahleuropa in der Entwicklung von den ersten europäischen Gemeinschaften schließlich bis zur Bildung einer Europäischen Union erarbeitet hat.

3.5 Erfolgskriterien Die Frage »Welches Europa?« kann man mit unverzichtbaren Inter­ essen allein nicht beantworten. Es braucht vielmehr Erfahrung, zum Beispiel diese: Im Zusammenhang seines Versuches, über eine Erneuerung der deutsch-französischen Freundschaft Europa vor dem (angeblich drohenden) Zerfall zu retten, erzählt der französische Präsident Macron, der mit dem großen deutschen Philosophen Kant den Vornamen teilt: »Deutschland habe ich mir zuallererst über die Literatur erschlossen. Für mich war es wichtiger, statt schnelllebiger Eindrücke eine echte literarische, philosophische und musikalische Beziehung zu Deutschland zu entwickeln.« Diese zweifellos sehr spezielle Erfahrung läßt sich vorsichtig zu einer kaum strittigen Antwort extrapolieren. These elf: Ein Wahleuropa hat nach innen, unionsintern, den Reichtum Europas, dabei, im Gegensatz zur ökonomistischen Verkür­ zung, nicht nur den wirtschaftlichen, sondern auch den politischen und sozialen, darüber hinaus den sprachlichen, kulturellen und wis­ senschaftlichen Reichtum zu mehren. Und nach außen hat es das Gesamtgewicht von Wahleuropa, erneut nicht nur das wirtschaftliche, zu stärken. Bekanntlich entfaltet sich der kulturelle Reichtum am besten im freien Spiel der Kräfte, auch wenn dies gewisse Subventionen nicht ausschließt. Die großartigen Kulturleistungen des antiken Griechen­ land stammen aus einer Zeit, in der die vielen kleinen Stadtrepubli­ ken, eifersüchtig auf ihre Unabhängigkeit bedacht, im Wettbewerb untereinander Glanzleistungen vollbrachten. Ein weiteres Beispiel bietet Deutschland: Die lange Zeit der oft geschmähten Kleinstaaterei hat zu einer Fülle und Dichte von Theater- und Opernhäusern, von Museen, großen Bibliotheken und weiteren Kultureinrichtungen

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3 Pflichteuropa oder Wahleuropa?

geführt, die in der Welt kaum ihresgleichen kennt. Weil im Rahmen des kulturellen Reichtums die Sprachenvielfalt eine besondere Rolle spielt, wird sie eigens zu erörtern sein. Ein anderes Problem werfen die Regional- und Strukturfonds auf, deren Finanzvolumen sich in den letzten Jahren vervielfacht hat und unter wechselnden Titeln, etwa der europäischen Solidarität oder eines europäischen Finanzministers mit eigenem Budget, noch weiter gesteigert werden soll. Dabei ist nicht bloß zu befürchten, sondern sogar damit zu rechnen, daß auf mancher Seite das Wesen der Solidarität, die Wechselseitigkeit, verloren geht. Man beschränkt sich dort nämlich auf das Nehmen, weist jedes Geben von sich und empfindet kaum Dankbarkeit dem Land gegenüber, Deutschland, das den größten Teil der einschlägigen Zahlungen leistet. Für die Frage, ob auf Dauer Wahleuropa eine Föderation (Bun­ desstaat) oder eher eine Konföderation (Staatenbund) oder aber etwas Eigenes, Drittes, werden soll, ist eine politische Kreativität gefragt. Sie hat ein Modell herauszufinden, für das die Bürger und die Staaten der Union sich in der Zukunft entscheiden müssen. Schon jetzt darf man aber sagen, aus Gründen politischer Klugheit bleibe man noch einige Zeit in der Nähe der anspruchsloseren Form, dem Staatenbund, der ohnehin in der Union nicht mehr sehr locker ist. Nur wenn die derzeitige, längst nicht mehr bescheidene Form weiterhin Zustimmung findet, und zwar nicht nur seitens der Regierungen, sondern gemäß dem Grundgedanken dieser Studie, der Bürgerunion, vor allem seitens der Letztbetroffenen, der Bürger, und dabei nicht bloß ein verbales, sondern tatsächlich gelebtes Einverständnis, und nur, wenn zusätzlich ein nachweisbares Bedürfnis nach mehr Integra­ tion besteht, nur dann, also bloß unter zwei strengen Bedingungen, darf man an ein Mehr an europäischer Staatlichkeit denken. Die Wirklichkeit der Union, wird sich zeigen, weist überdeutlich in die Gegenrichtung, in eine zunehmend zentralistische, an die Bürger unzureichend zurückgebundene Union. Dagegen schon hier die These zwölf: Für Wahleuropa bedarf es jener gestuften Staatlichkeit, die Föderalismus heißt und dem Prinzip der Subsidiarität gerecht wird. Das antike Griechenland war extrem föderalistisch aufgebaut, denn es gab keine politische Einheit namens »Hellas«. Man hatte zwar eine gemeinsame Sprache und Kultur, auch gemeinsame religiöse Einrichtungen wie das Orakel von Delphi und die Olympischen Spiele sowie, wenn erforderlich, Kriegsbündnisse nach außen, im Inneren hingegen so verheerende innergriechische Kriege wie den Peloponne­

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3.5 Erfolgskriterien

sischen Krieg zwischen Athen und Sparta. Die politische Grundein­ heit war jedenfalls die selbständige und selbstbewußte Stadtrepublik, die Polis. Rom hingegen war trotz mancher Eigenrechte, die man einigen wenigen Provinzen ließ, stärker zentralistisch organisiert. Obwohl Europas politische Philosophie von ihrem Ursprung her griechisch inspiriert ist, setzt sich in der politischen Praxis bedauerlicherweise oft genug das Muster Rom durch. Es sind nicht nur Europagegner, bei denen der Brüsseler Zentralismus jenes Unbehagen hervorruft, das nur die tatsächliche Anerkennung des in wichtigen Dokumenten schon verankerten sozial- und politikethischen Prinzips entkräften kann, daher in die These zwölf aufgenommen ist, das Votum für Sub­ sidiarität.

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4 Europa als Heimat?

4.1 Das Problem Von ihrer Abwesenheit, der Heimatlosigkeit, zu sprechen, fällt leich­ ter als von ihr selbst. Denn nach Ansicht von Kritikern hat der Ausdruck »Heimat« einen Hautgout der verlorenen Idylle und läßt ein »geistiges Wurzelgefühl« anklingen, das als ethnisches Denken, oft zur Ideologie von Blut und Boden verkehrt, genug Unheil in die Welt gebracht hat. Kaum jemand bestreitet jedoch, daß, wer aus der Heimat vertrieben wird, einen hohen Verlust empfindet. Indirekt räumt man damit ein, daß es, wenn auch nur vage, das Vermißte, eben eine Heimat, gibt: Vorher war sie selbstverständlich, erst beim Verlust wird der überragende Wert bewußt. Das Heimatgefühl hat sogar eine anthropologische Dimension, allerdings in Ambivalenz. Seiner Natur nach ist der Mensch ein Nesthocker, der ziemlich lange braucht, bis er eine selbstverantwort­ liche Person geworden ist. Dieser Prozeß zieht sich in wirtschaftlich und kulturell entwickelteren Gesellschaften, nimmt man zum Krite­ rium die wirtschaftliche Eigenständigkeit, also die Fähigkeit, seinen Lebensunterhalt selber zu verdienen, noch länger hin. Nestflüchter ist der Mensch aber auch, denn schon während der Kindheit und Jugend ist er auf Abenteuer aus, und später suchen viele ihr Glück in der Ferne. Für den, der die angedeuteten Bedenken teilt, ist eine neuere Umfrage irritierend. Nach den im April 2018 veröffentlichten Ergeb­ nissen des Instituts für Demoskopie Allensbach ist »Heimat« keines­ wegs ein Begriff des rechten politischen Randes. Im Gegenteil ist, die GRÜNEN ausgenommen, Heimatverbundenheit bei Anhängern aller politischen Parteien annähernd gleich stark vertreten. Bei »Heimat« denken nun die Befragten vor allem an Kindheit (87 %), Familie (87 %) und Freunde (84 %), des weiteren an alte Zeiten (75 %) und Geborgenheit (72 %). Mit den verbreiteten Vorwürfen von Spießig­ keit, Zwang und Enge verbinden den Heimatbegriff nur ein recht kleiner Teil, 20 % der Befragten. Obwohl andere Faktoren einen weit

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4 Europa als Heimat?

größeren Einfluß haben, sowohl das Phänomen der Gastarbeiter als auch das der politisch oder wirtschaftlich motivierten Flüchtlinge, nicht zuletzt die von der globalisierten Arbeitswelt erforderliche Mobilität – die von der Europäischen Union eingeführte berufliche Freizügigkeit wird diese Tendenz, den Lebensraum der Kindheit und Jugend entweder verlassen zu dürfen oder aber aufgeben zu müssen, in beiden Fällen jedenfalls sein bisheriges Zuhause, eine Heimat, zu verlieren, noch verstärken. Umso wichtiger ist zumindest für die Per­ sonen, die aus ihrer Heimat ungern oder sogar nur aus Not oder Zwang fortgehen, ein Gegensteuern, das sich weder einerseits mit der Pflege von Folklore noch andererseits mit der Kritik an einem Rechts­ populismus zufrieden gibt. Eine neuere sozialtheoretische Bewegung, der Kommunitaris­ mus, betont das Gewicht kleinerer Gemeinschaften (englisch: com­ munities), weil sie sich durch kulturelle Besonderheiten auszeichnen, die ihrerseits die Integrität einer Person, die Bildung der Moral und ein Wir-Gefühl erleichtern. Der Anspruch, eine umfassende Alternative zu Liberalismus und Globalisierung zu bieten, ist zweifellos verfehlt. Denn als Konsument, Tourist und als Teilnehmer im Internet, als Student oder Dozent, nicht zuletzt als Mitglied der längst multinatio­ nalen Betriebe und Forschungseinrichtungen sind auch diejenigen, die die Globalisierung attackieren, längst konstruktive Teilnehmer dieses Phänomens. Als ein Kontrapunkt gegen ein Vernachlässigen, nicht selten sogar Verächtlichmachen von gewachsenen kommunalen, regionalen und nationalen Eigenheiten dürfte der Kommunitarismus jedoch berechtigt sein. Denn die vielerorts stattfindende Rückbesin­ nung auf Besonderheiten weist auf ein Interesse, das nicht ausschließ­ lich, aber doch zu einem Teil so lange in nationalistische, sogar fremdenfeindliche Bewegungen zu pervertieren droht, wie berechtigte Anteile dieses »kommunitaristischen Bedürfnisses« von gewissen politisch und intellektuell herrschenden Kreisen vernachlässigt wer­ den. Auch wenn Zuwanderer mit ihrer Andersartigkeit ein Willkom­ men verdienen, sollte niemand befürchten müssen, im eigenen Land sich fremd zu fühlen. Wo die Sorge unberechtigt ist, sollte man es den Bürgern glaub­ haft machen, wo aber einschlägige Gefahren sich abzeichnen, ihnen wirksam entgegentreten. Nicht zuletzt bedarf es der Differenzierung: Für die Veränderungen der Lebensverhältnisse aufgrund der Globa­ lisierung darf man nicht den Zustrom von Flüchtlingen, für deren

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4.2 Ein aufgeklärter Heimatbegriff

(berechtigte oder unberechtigte) Ansprüche aber nicht die weit facet­ tenreichere Globalisierung verantwortlich machen. Wie steuert man nun dem entgegen: Wie sorgt man um einer lebendigen Demokratie willen dafür, daß die von vielen Bürgern empfundene, oft sogar erlittene Identitätskrise überwunden wird und etwa eine Entfremdung zwischen den etablierten Eliten und einfachen Bürgern schwindet? Wie hilft man, daß die die eigenen Einzelstaaten überschreitende politische und kulturelle Einheit, daß also Europa, zumindest Wahleuropa, die Union, zu einem Lebensraum wird, zu dem die freien und gleichen Bürger (nicht etwa Untertanen!) von innen heraus zustimmen? Wie ist gegen die tatsächlichen Gefahren oder aber unberechtigten Sorgen ein Wir-Gefühl zu entwickeln, ein Gefühl dazuzugehören (»sense of belonging«), in dem eine emotio­ nale Verbundenheit mitschwingt? Wie wird die Europäische Union, was für sie als einer Union der Bürger unerläßlich ist, mindestens ansatzweise zu einem Zuhause, vielleicht sogar zu einer Heimat? Wie wird aus der europäischen Idee, einem Gedanken, ein geleb­ tes Gefühl?

4.2 Ein aufgeklärter Heimatbegriff Wer sich einer unbeschwerten Kindheit und Jugend erfreuen konnte, für den ist die Heimat vor allem dann, wenn er gewaltsam aus ihr vertrieben wird, ein Kosmos, zwar kein System, aber doch ein dichtes Gewebe des Sich-wohlfühlens. In ihm spielen Brauchtum und Folklore weniger eine Rolle als Wege und Gebäude, als eine Landschaft und sei es die eines Stadtbezirks. Dieses Gewebe besteht vor allem aus Pflanzen, Farben und Gerüchen, aus Sonne, auch Regen, noch mehr aus einem Beziehungsgeflecht von Freundschaften und Nachbarschaften, weiterhin aus Träumen der Kindheit, aus Erzählun­ gen, an die man sich erinnert, aus Plänen und Hoffnungen der Jugend und vielem mehr. Selbst für die Union kann »Heimat« nicht in dieser emotional hochaufgeladenen Bedeutung gemeint sein. Etwas, das für einen kleinen, sowohl vertrauten als auch überschaubaren, dabei relativ homogenen Lebensraum und vor allem für eine Lebensphase möglich ist, in der es noch keine Berufspflichten gibt, aber intensive Erlebnisse – in gelungenen Fällen die Erfahrung von Geborgenheit, Weltver­ trauen und Verhaltenssicherheit – die sich tief in das emotionale

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4 Europa als Heimat?

Hirn eingraben, eine derartige Heimat ist für einen in vieler Hinsicht heterogenen Teilkontinent und noch heterogeneren Gesamtkontinent und eine Bürgerschaft mit Berufspflichten ohne Frage unmöglich. Und völlig ausgeschlossen ist ein Heimatgefühl, in dem die Sehnsucht nach jenem einfachen Leben mitschwingt, das es in Wirklichkeit nie gab. Europa zu einer verklärten Heimat machen zu wollen, wäre also nicht etwa visionär, sondern im wörtlichen Sinne u-topisch, ortlos, denn so gut wie alle Menschen müßten sich als heimatlos betrachten. Anders verhält es sich mit einem nüchternen, zugleich reflektierten, sogar aufgeklärten Begriff: »Heimat« nenne man den Lebensraum, der mit dem Elternhaus beginnt, der sich bald auf die Nachbarschaft und nähere Umgebung ausdehnt, der mit wachsendem Alter mit­ wächst, häufig den Berufs- und Freundeskreis, vielfach auch den eigenen Sprach- und Kulturraum, spätestens bei geographischer Ferne sogar das Vaterland einschließt. In diesem Sinn ist der aufgeklärte Heimatbegriff in seiner Ausdehnung offen: Sowohl der geographische und soziale als auch der politische und kulturelle, jedenfalls multidi­ mensionale Raum, den man als Heimat erlebt, pflegt zu wachsen. Dies geschieht allerdings nicht von allein, bedarf vielmehr der eigenen Auseinandersetzung mit seiner Umwelt und mit sich selbst. Im Zuge dieser Entwicklung muß der kleinere Teil dieses kom­ plexen Raumes durch den größeren nicht annulliert werden. Wenn die Zustimmung zur Union, jetzt von unten vorgenommen, nicht von oben diktiert, sich aus freien Stücken sowohl erweitert als auch vertieft, dann löst die geographisch größere Heimat, Europa, die geographisch kleineren Heimaten nicht ab. Weder kommunale noch regionale oder nationale, weder betriebliche noch berufliche, sprachliche oder religiöse Verbundenheiten müssen verschwinden. Die Gesamtheimat nimmt vielmehr die Gestalt von teils konzentrisch aufeinander aufbauenden, teils sich überlappenden Kreisen von Teil­ heimaten an. Die Gesamtheimat wird dabei zu einem komplexen und dynami­ schen, zugleich offenen Phänomen, bei dem es bald durch glückliche neue Lebenssituationen wie Partnerschaft und Familie, bald durch unglückliche Umstände wie längere Arbeitslosigkeit oder den Verlust nahestehender Personen zu Verschiebungen, sogar Brüchen kommen kann. Die Heimat ist nämlich weder ein einmal für immer gleiches noch ein gesichertes Phänomen. Schließlich ist auch dieses zu beach­ ten: Die emotionale Intensität pflegt von oben nach unten zu-, von

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4.2 Ein aufgeklärter Heimatbegriff

unten nach oben abzunehmen. In einer Nachbarschaft oder im Kiez gibt es in der Regel eine engere Verbundenheit als in und mit der Großstadt; im Staat, zumal einem Kleinstaat, gibt es engere als in einem Staatenverbund. Klugerweise erwarte man daher für Europa weder persönlich, als Bürger, noch von den für Europa verantwortlichen Akteuren eine alternative Heimat. Allein sinnvoll ist nur eine ergänzende, komple­ mentäre Heimat, die verständlicherweise die emotionale Intensität der »kleineren Heimat« nie auch nur annähernd erreicht. Die Gesamt­ heimat darf jedenfalls die angedeuteten Teilheimaten nicht aufheben. Grundlegende Schwierigkeiten kommen hinzu. Nehmen wir als Beispiel die in der Union eingeführten vier Freiheiten, die des Personen-, des Waren-, des Dienstleistungs- und des Kapitalver­ kehrs. Der dadurch geschaffene gemeinsame Lebensraum mag als ein Element von Heimat wahrgenommen werden: Bürger aus Län­ dern hoher Arbeitslosigkeit können im staatlichen Ausland, aber europäischen Inland Arbeit suchen; Geschäftsleute, Krankenhäuser, auch Privatpersonen finden dringend gesuchtes Personal aus Ländern mit Arbeitskräftemangel. Diese fraglos begrüßenswerte Entwicklung hat freilich eine Kehrseite: Geschäftsleute, Krankenhausleiter und Kommunen klagen über hohe bürokratische Erfordernisse, andere über unliebsame Konkurrenten und viele über zu geringe Sprach­ kenntnisse mit vorhersehbaren Verständigungsschwierigkeiten. Nun nimmt man erfahrungsgemäß die Nachteile häufig stärker als die Vor­ teile wahr, weshalb die genannten vier Freiheiten, die objektiv gese­ hen dem Zusammenwachsen Europas dienen, im subjektiven Erleben auf das Zugehörigkeitsgefühl zu Europa nicht hinreichend durch­ schlagen. Auch dieses liegt auf der Hand: Heimat läßt sich weder politisch erzwingen noch künstlich herstellen. Weil sie in tätiger Auseinander­ setzung mit sich und der Umwelt, weil sie lebensweltlich entsteht, kann Heimat nie ein direktes Ziel der Politik sein. Daraus folgt aber keine völlige Unzuständigkeit. Die Politik kann nämlich indirekt, unterstützend oder behindernd, zu jenen Rahmenbedingungen und Voraussetzungen beitragen, unter denen die Bürger sich Heimat und als deren Minimum und Kern sich eine Zusammengehörigkeit und einen Zusammenhalt schaffen. Dazu gehören Plätze und Orte der formellen und informellen Kommunikation und Interaktion: sowohl für Bürgerbeteiligung als auch für Feste und Feiern. Vor allem ist die

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4 Europa als Heimat?

Politik dafür mitverantwortlich, daß die Alltagswelt nicht in einem unwirtlichen sozialen und kulturellen Umfeld stattfindet. In diesem Sinn könnte ein europäisches Heimatgefühl beinahe von selbst zustande kommen. Es begänne dann mit eigenem Erleben: in der Nachbarschaft, in der Schule und Hochschule, am Arbeitsplatz und bei Reisen. Es setzt sich in der Lektüre und in den Medien, nicht zuletzt in der Wahrnehmung durch andere – im Ausland wird man als »Europäer« eingeschätzt – fort. Jedenfalls bildete es sich, nicht von oben vorgeschrieben, sondern von unten gewachsen, also »bottom up« statt »top down«, heraus. Auf diese und nur diese Weise würde die Union zu einer Einheit, die nicht bloß wirtschaftliche und politische Vorteile bietet, sondern eine gewisse emotionale Zustim­ mung verdient und auch findet. Die zahllosen Heimatvertriebenen zeigen, daß beides geschieht: einer verlorenen Heimat nachzutrauern und auf die Heimat, in der man geboren wird, nicht ewig fixiert zu sein. Der Oxforder Professor für Europäische Politik, Jan Zielonka, nennt sich einen »Schlesier, der in Polen aufgewachsen ist, einen niederländischen Paß besitzt, in Italien seine Steuern zahlt und in Britannien arbeitet«. Wie die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Norddeutschland vertriebenen Ostpreußen, wie damals Schlesier in Hessen oder Nordrhein-Westfalen, wie Sudetendeutsche in Bayern und Baden-Württemberg oder wie die wegen der Nazi-Verfolgungen aus Deutschland und den Nachbarländern Geflohenen etwa in Skan­ dinavien, Nord- und Südamerika beweisen, kann man eine zweite Heimat finden. Die entsprechende Offenheit, die schon im Buchtitel des Sude­ tendeutschen SPD-Politikers Peter Glotz Von Heimat zu Heimat anklingt, ist der großen Literatur längst vertraut: Theodor Fontane, der brandenburgisch-preußische Schriftsteller, hat hugenottische, also französische Vorfahren. Einer der wichtigsten englischsprachi­ gen Schriftsteller, Vladimir Vladimiroviĉ Nabokov, stammt aus St. Petersburg, lebt einige Zeit in Berlin, lehrt etliche Jahre an der US Cornell-Universität russische Literatur und lebt später in der Schweiz. Der Franzose Jean-Claude Izo ist »Marseiller« durch und durch, nämlich, wie er erläutert, »halb Italiener halb Spanier mit arabischem Blut und Oliven von beiden Seiten«. Der englische Schriftsteller Josef Conrad stammt aus Polen. Der gebürtige Düsseldorfer Dieter Forte beschreibt in seinem Roman Das Muster, wie eine italienische Seiden­ weberfamilie von Lucca über Florenz und Lyon ins Rheinland gelangt und sich dort mit einer ins Ruhrgebiet eingewanderten polnischen

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4.3 Minimale, mittlere und optimale Heimat

Bergarbeiterfamilie verheiratet, woraus eine für das Rhein-Ruhrge­ biet typische Verflechtung unterschiedlicher Mentalitäten entsteht. Der sich hier abzeichnende nüchterne, zugleich aufgeklärte Begriff der Heimat erinnert daran, daß der Ausdruck sich von »Heim« ableitet, das wie das englische »home« und das schwedische »hem« mit dem griechischen Ausdruck komē: Dorf, Sippe, verwandt ist. Es geht auf eine indogermanische Wurzel »kei«, »liegen«, zurück, erinnert also im Vorübergehen an die kulturelle, hier sprachliche Ver­ wandtschaft in Europa. Ursprünglich bedeutet »Heimat« den Ort, an dem man sich niederläßt, das Lager, oder das Haus, in das man gehört, das Domizil. In diesem Sinne taucht der Ausdruck in Ortsnamen wie Mannheim oder Rosenheim auf, wie im englischen Birmingham, Nottingham oder dem schwedischen Varnhem und Gudhem. An diese bescheidene Bedeutung, an die Heimat als das Land oder den Landstrich, in dem man entweder geboren wurde oder, gemäß einer zweiten oder dritten Heimat, seinen bleibenden Auf­ enthalt findet, kann Europa leicht anknüpfen. Begriffsgeschichtlich reichert sich der Ausdruck später um ein wirtschaftliches und ein rechtliches Moment an oder erhöht deren Gewicht, woran man ebenfalls einfach anknüpfen kann: Europa als die »elementare Hei­ mat«, nämlich als der Aufenthaltsort, an dem man sein wirtschaftli­ ches Auskommen und seinen Rechtsschutz findet. Selbst für einige »Reduktionseuropäer« ist Europa eine Wirtschaftsgemeinschaft; und wer eine Menschenrechtsklage einreicht, weiß die Europäische Men­ schenrechtskommission als Appellationsinstanz zu schätzen. »Ubi bene, ibi patria«, sagt Cicero in den Tuskulanischen Gesprächen: »Wo es einem gut geht, dort ist sein Vaterland«.

4.3 Minimale, mittlere und optimale Heimat Zu einer mehr als nur elementaren Heimat gehört ein Moment, das man allerdings nicht überfrachten darf, die erwähnte emotionale Komponente: ein existentielles Sichwohlfühlen. Ihretwegen sollte man nicht über jedes Brauchtum, jede Folklore, die Nase rümpfen. Rheinischer Karneval, oberschwäbische Fasnacht und Basler Morges­ traich, das Zürcher Sechseläuten, in München der Nockherberg und das Oktoberfest sowie zahllose weitere regionale Traditionen pflegen Zugezogene rasch hereinzunehmen und ein Wir-Gefühl entstehen zu lassen, mit dem weder der Tag der Arbeit noch ein anderer staatlich

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verordneter Feiertag ernsthaft konkurrieren kann – es sei denn, es gibt eine lange Tradition wie in Frankreich der 14. Juli, der 4. Juli in den USA oder in der Schweiz der 1. August. Diese Sachlage entlastet aber nicht von der einschlägigen Auf­ gabe. Im Gegenteil fordert es Europa auf, sich nicht mit rationalen Argumenten von Frieden, Recht und Wohlstand zufriedenzugeben, sondern sich zu einer auch emotional unterfütterten Einheit fortzu­ entwickeln. Andernfalls muß die Union, wenn auch schweren Her­ zens, das demokratietheoretisch doch gebotene Projekt eines Europa für seine Bürger, also das Ziel einer europäischen Bürgerunion, aufgeben. Der aufgeklärte Heimatbegriff ist ein gradueller Begriff, der mit einer Elementar- oder Grundstufe beginnt, dem wirtschaftlichen Auskommen und dem Rechtsschutz, und über eine mittlere Stufe relativer Zugehörigkeit schließlich zu einem Rundum-Sichwohlfüh­ len führt. Da diese Optimalheimat aber mit innerer Zustimmung und innerer Verbundenheit verknüpft ist, kann sie weder ein bloßes »Geschenk des Himmels« noch lediglich eine Bringschuld der anderen sein. Wer selbst nach vielen Jahren an seinem neuen Aufenthaltsort keine Heimat findet, braucht sich nicht schuldig zu fühlen; er sollte aber auch nicht lediglich »die anderen« verantwortlich machen. Ob minimale, mittlere oder optimale Heimat – zum aufgeklärten Begriff gehört eine dritte Offenheit, die einem Wort von Karl Kraus 1917 folgt: »Eine Heimat zu haben, habe ich stets für rühmlich gehal­ ten…, aber zum Hochmut ist kein Grund vorhanden, und sich gar so zu benehmen, als ob man allein eine hätte und die anderen keine, erscheint mir verfehlt.« Wer aufgeklärt heimatverbunden ist, verfällt nicht jener schlichten Opposition, die aus Angst, als provinziell zu erscheinen, zunächst dem Geburtsort, später der Region seines Fami­ lien- und Berufslebens, wieder später seinem Gemeinwesen jeden Heimatcharakter abspricht. Er erkennt vielmehr diese Faktoren an, ist aber zugleich bereit, den Mitmenschen ihre andere Heimat zu gönnen. Zu den vielen Faktoren, die Europa befähigen, mindestens eine Minimalheimat anzubieten, ist ein »herzliches« Willkommen nicht unabdingbar. Nur zum Vergleich: Trotz Hilfsbereitschaft und Lasten­ ausgleich, die den deutschen Flüchtlingen nach dem Zweiten Welt­ krieg zugute kamen, fanden sie höchst selten eine aus vollem Herzen kommende Aufnahme oder gar Gastfreundschaft. Auch die heutigen Neuankömmlinge sollten sich schon deshalb nicht zu rasch beschweren, weil die Heimat, wie angedeutet, nicht etwas ist, was man ohne eigenes Zutun schlicht vorfindet. Sie kom­

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4.3 Minimale, mittlere und optimale Heimat

men aus andersartigen Kulturräumen und teilen nicht einmal wie damals die deutschen Flüchtlinge eine seit langem gemeinsame Spra­ che und Rechtskultur, Mentalität, Musik, Literatur und ein gemeinsa­ mes Schicksal. Auch dieses sollte man nicht übersehen: Wer das Neue stets mit einem Früher vergleicht, das angeblich in allem besser war, darf sich nicht wundern, daß er, gewollt oder ungewollt, das Neue als a priori »nicht konkurrenzfähig« deklassiert. Er raubt ihm jede Chance, je zur Heimat zu werden. Man muß sich schon mit den neuen Eigen­ arten vertraut machen, sie zunächst neutral in ihrer Andersartigkeit, Besonderheit sehen, angefangen mit so elementaren Dingen wie der Luft und der Landschaft über das Klima und die Jahreszeiten bis zur Sprache oder Sprachfärbung, bis zur Architektur und den Sitten, also zu Lebensverhältnissen, Denkweisen und Gepflogenheiten, deren etwaigen Vorteile man nach und nach wahrnehmen und für sich anerkennen kann. Unverhandelbar ist jedoch die Rechtsordnung des neuen Landes, unverzichtbar die Aufgabe, die Landessprache zu lernen, ebensowenig aufgebbar ist die Forderung, Dinge wie die Gleichberechtigung von Mann und Frau anzuerkennen. Wer sich kulturell integriert, das lehrt die Erfahrung, findet schneller einen Arbeitsplatz und kann bei entsprechender Begabung und Bereitschaft auch besser »Karriere machen«. Die kulturelle Inte­ gration, die in den pluralistischen und toleranten westlichen Ländern keineswegs Anpassung bedeutet, ist also schon vom Eigeninteresse zu empfehlen. In den Worten des Niederländer Migrationsforschers Ruud Koopmans: Assimilation ist besser als Multikulturalismus (2017; Kurzfassung unter dem Titel »Multikulti ist gescheitert« in der FAZ 11.6.2017, S..28). Zunächst war der Autor nach eigenem Bekunden anderer Ansicht, mittlerweile hält er den früher von ihm mitpropagierten Multikulturalismus als Politikkonzept für einen Feh­ ler, denn er führt, empirisch nachweisbar, zu Parallelgesellschaften. Blickt man auf das griechische Wort für Haus und Heimat, den oikos, und für dessen Herrichten und Herstellen, die Poiesis, so han­ delt es sich hier um einen Akt der Oikopoiese: Durch entsprechendes Wahrnehmen und Sicheinstellen nehme man seinen Aufenthaltsort das Fremde, oft sogar Bedrohliche und verarbeite ihn zu einem Ort des Wohlbefindens. Dieses geschehe nicht in kindlicher Naivität, sondern in der eines Erwachsenen würdigen Form, also im Wissen um eine bleibende Fremdheit und um manche Gebrochenheit. Denn das vollkommene Heil ist nicht von dieser Welt, weshalb Gläubige

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4 Europa als Heimat?

von sich sagen, daß sie auf Erden nur als Gast oder Fremdling weilen. Wer trotzdem das Heil hier sucht, ist gegen Enttäuschungen nicht gefeit. Und wer, um sein Leben zu retten, ins Exil gehen muß, wird dem Aphorismus des Philosophen Theodor W. Adorno zustimmen: »Heimat ist das Entronnensein«. Um den neuen Aufenthaltsort zu einem Raum zu gestalten, in dem man sich zurechtfindet und später sich wohlfühlt, ist als zweiter Faktor der Oikopoiese die Bereitschaft vonnöten, die erforderlichen Mühen auf sich zu nehmen; und als dritten Faktor braucht man Zeit. Ihretwegen ist die Frage erlaubt, wie lebenserfahrene Politiker glauben konnten, die nach dem Zusammenbruch des kommunisti­ schen Lagers vorgenommene Aufnahme von zehn neuen Ländern in die Europäische Union könne und dürfe im wesentlichen von oben, vom Ministerrat und der Kommission, auch dem Parlament aus bewerkstelligt werden. Denn über aller Freude über das Freiwerden dieser Länder vom sowjetischen Joch darf man die nüchterne Frage nicht vergessen: Wo gab es und gibt es es denn schon, von beiden Seiten, den neuen und den alten Ländern, von unten gesucht jene nicht bloß Dutzende, sondern Hunderte Schüler- und Studentenaustausche sowie weitere überregional, aber binneneuropäisch gelebten Treffen, die mit ihren Orten und Zentren der Begegnung den Weg zu Europa als Heimat vorbereiten? Und wo finden sie vor allem unter gewöhn­ lichen Bürgern, nicht nur unter deren berufsmäßigen Repräsentanten oder professionellen Europavermittlern statt? Unter dem Aspekt, daß die Union ihren Bürgern zumindest ansatzweise eine Heimat sein sollte, war die Aufnahme so vieler und andersartiger Mitglieder keine rundum vernünftige Entscheidung. Eine weitere Verantwortung, zugleich ein vierter Faktor, liegt bei den Politikern, die allerdings von der Presse zu unterstützen sind: Man setze sich für einen Schulunterricht ein, der nicht mit dem Gegenstand europäischer Feindschaft, dem Zweiten Weltkrieg, endet. Vielmehr lehre er auch die Nachkriegsgeschichte: in ihrer europä­ ischen Vernetzung, nicht zuletzt in deren überwältigendem Erfolg. Nach einem der weltweit einflußreichsten Gerechtigkeitstheo­ retiker, Aristoteles, halten selbst Gesetzgeber etwas anderes für noch wichtiger als die Gerechtigkeit: die Freundschaft (Nikomachische Ethik, Buch VIII, Kap. 1, 1155a23 f.). Denn diese stiftet etwas, das für politische Einheiten jedweder Art unerläßlich ist, nämlich eine erlebte und gelebte Verbundenheit. Dabei denkt Aristoteles nicht an die frag­ los seltene und für ein Gemeinwesen kaum wichtige »romantische

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4.3 Minimale, mittlere und optimale Heimat

Seelenfreundschaft«. Er hat vielmehr eine Staatsbürgerfreundschaft (civic friendship) im Blick. Naturgemäß entwickelt sich diese in einem in langer Tradition gewachsenen »Nationalstaat« leichter und schafft, der pauschalen Verunglimpfung von Nationalstaaten zum Trotz, eine engere Verbundenheit als in der weit jüngeren, zudem sprachlich und kulturell heterogenen Europäischen Union. In einem abgeschwächten Sinn ist sie aber auch hier, dann als bürgerrepublikanische Freund­ schaft, möglich. Ohne Orte und Zeiten von Staatsgrenzen überschrei­ tenden intensiven Begegnungen kommt sie allerdings schwerlich zustande. Freilich muß man sich im klaren sein, daß die Eingliederung von Zuwanderern, zumal wenn sie aus politisch, sprachlich, kultu­ rell und religiös sehr andersartigen Ländern kommen, nicht wenige Jahre, sondern etliche Jahrzehnte dauern wird. Ferner steht fest, daß die erforderlichen Hilfen nicht einige, sondern viele Milliarden Euro kosten, nicht zuletzt daß von der Gefahr integrationsunwilligen Parallelgesellschaften, gelegentlich sogar mit einer Paralleljustiz, zu sprechen, keine realitätsferne Böswilligkeit ist. Aus der Erfahrung als Berlins Regierender Bürgermeister spricht jemand, der rechten Parolen gewiß abgeneigt ist, Klaus Wowereit (2018), sogar von »knallharten Machtstrukturen«, in denen sich einschlägige Klans die Geschäfte aufteilen. Sich für gewisse Grenzen bei der Aufnahme weiterer Flüchtlinge einzusetzen, muß nicht als hartherzig oder fremdenfeindlich, es kann auch als lebensklug beurteilt werden. Darüber hinaus sollte man die Beobachtungen und Warnungen von Entwicklungsökonomen wie des Oxforder Paul Collier (Exodus, 2014) ernst nehmen, daß es »tragisch ist, junge Afrikaner zur Migration zu verlocken, die nach Europa wollen, weil sie sich ein besseres Leben erhoffen. Europa hat keine ethische Verpflichtung, ihre Einreise zuzulassen. Ich habe mein ganzes Wissenschaftlerleben mit der Frage verbracht, was den ärmsten Gesellschaften auf der Erde wirklich hilft. Aber es ist keine Lösung, dass die besten, mutigsten jungen Männer auswandern und ihrer Heimat den Rücken kehren.« Vergleicht man hier abschließend Europa bzw. die Union mit einem Schiff, so trifft ein hier nur wenig zugespitztes Wort von Antoine de Saint-Exupéry zu: »Créer le navire, c’est uniquement fonder la pente vers la mer.« Wer das Schiff Europa fortbauen will, der muß lediglich die Sehnsucht nach Frieden und Recht sowie wirtschaftliche, aber auch kulturellen Wohlstand, einschließlich dem Recht auf Eigenarten und Besonder­

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4 Europa als Heimat?

heiten, wecken. Dann kann Europa eine Heimat zunächst im elemen­ taren, später auch im anspruchsvolleren Sinn werden: »Créer l’Europe, c’est uniquement fonder la pente vers la paix et le droit en richesse économique et culturelle«.

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5 Gemeinsame Grundwerte?

Worin besteht, was die Sehnsucht nach Europa beflügeln und ein gemeinsames Heimatgefühl entstehen und wachsen lassen kann? Die Antwort darf mit der Erinnerung an Europa als einem Erfolgsmodell beginnen. Auch wenn es vielen Bürgern so selbstverständlich gewor­ den ist, daß sie die darin liegenden Chancen, Europa als Heimat zu empfinden, verdrängen: Weltpolitisch gesehen ist Europa, mit der Union als Kern, ein global beneidetes Vorbild.

5.1 Rangstufen Welche Grundwerte schaffen eine gemeinsame europäische Kultur? Hier ist der Ausdruck der Kultur im weiten Sinn als die Gesamtheit der Lebensbereiche einer Gemeinschaft oder Gesellschaft gemeint. Sie steht dann nicht etwa im Gegensatz zu Wirtschaft, Recht und Wis­ senschaft, sondern umfaßt diese Bereiche genauso wie die Literatur, Religion, Musik, bildende Kunst und Architektur und wird in Teil II ausführlich behandelt. Hier genügt es, die entscheidenden Werte unter der Frage einzuführen, was den betreffenden Menschen, hier den Bürgern der Union und deren Institutionen, gut und wichtig, was ihnen wertvoll ist. Welche Grundwerte können Europa und seinen politischen Kern, die Europäische Union, so zusammenhalten, daß sie Ansätze zu einer – komplementären – Heimat bieten? Der Ausdruck »Wert« stammt zwar aus der Wirtschaftstheorie. Wo ihn die für Grundwerte zuständige Philosophie, die philosophi­ sche Ethik, übernimmt, denkt sie aber nicht an Quantifizierbarkeit; keineswegs erliegt sie einer Ökonomisierung oder gar Monetarisie­ rung. »Werte« bedeuten ihr die Orientierungsstandards oder Leitvor­ stellungen, die besagen, was den Menschen wert ist, was sie achten und hochschätzen, sei es tatsächlich, sei es sinnvollerweise. Im weiten Feld der Werte lassen sich drei Hauptgruppen, zugleich Rangstufen unterscheiden. Die Werte der ersten Stufe, die instru­ mentalen beziehungsweise funktionalen Werte wie Sparsamkeit,

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5 Gemeinsame Grundwerte?

Pünktlichkeit und Ordnungsliebe, auch Tatkraft, Disziplin und Selbst­ disziplin sorgen für Verläßlichkeit, bei denen man sich, falls man sie sowohl von daheim als auch von der Schule gewöhnt ist und dann andernorts antrifft, schon ein wenig Zuhause fühlt. Gesteigert wird dieses Gefühl bei den Werten der zweiten, pragmatischen Stufe, insbesondere bei deren zweiter Teilstufe. Soweit Europa sozialprag­ matische Werte wie den Wohlstand eines Gemeinwesens und dessen Sicherheit im Inneren und nach Außen garantiert, hat der lebenswich­ tige Kern einer Heimat, jenes wirtschaftliche Auskommen in recht­ lich geschütztem Rahmen, eine große Chance. Dessen emotionalen Anteil wissen insbesondere diejenigen Personen zu schätzen, die als Kriegsopfer, Heimatvertriebene oder politische, auch wirtschaftliche Flüchtlinge sich diesen Kern herbeigesehnt haben. Innerhalb der dritten und höchsten Stufe, der nicht wegen etwas anderem, sondern für sich selbst guten und richtigen moralischen Werte, sind noch einmal zwei Teilstufen zu unterscheiden. Die Aner­ kennung der unteren Teilstufe, der rechtsmoralischen Werte wie dem Schutz von Leib und Leben, von Eigentum und einem guten Namen bzw. der Ehre, schulden die Menschen einander; die Verletzung dieser Werte verdient Protest und Empörung. Die Optimalstufe, die tugend­ moralischen Werte wie Mitleid, Wohltätigkeit, auch Dankbarkeit, fordern hingegen zu jenen verdienstlichen Mehrleistungen auf, deren Nichterbringen nicht Empörung, wohl aber Enttäuschung verdient. Im Rahmen dieser Wertehierarchie nehmen diejenigen den Rang von Grundwerten ein, die den Grund dafür abgeben, daß man anderes tut. Zu ihnen, der Wertgrundlage für andere Werte, gehören offen­ sichtlich nicht die funktionalen Werte. Von Grundwerten kann man erst auf der pragmatischen, noch mehr auf der moralischen Stufe spre­ chen. In ihrem Rahmen ist ein zwangsbefugtes Gemeinwesen, sowohl ein Einzelstaat Europas als auch die Europäische Union, in erster Linie, nach liberaler Ansicht sogar ausschließlich für die Rechtsmoral verantwortlich. Zuständig ist es über die Rechtssicherheit hinaus insbesondere für den demokratischen Rechtsstaat, mit dessen Grundund Menschenrechten wie der Gleichheit vor dem Gesetz, mit der Freiheit der Person, der Gleichberechtigung von Mann und Frau, mit einer dynamischen Wirtschaft in sozialer Verantwortung und einer nationale Eigenarten respektierenden übernationalen Aufklärung. Die Tugendmoral hingegen darf kein Gemeinwesen einfordern. Sie muß freiwillig von den Bürgern geübt werden. Mit der Hoch­ schätzung ehrenamtlicher Tätigkeit kann das Gemeinwesen hier frei­

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5.2 Welche Grundwerte?

lich Unterstützung leisten. Und beim Zwischenphänomen zwischen Rechts- und Tugendmoral, der Solidarität, beachte man, daß zum Kern eine Wechseltätigkeit gehört. Eine überwiegend einseitige Hilfe kann der Hilfesuchende nicht im Namen der Solidarität einfordern.

5.2 Welche Grundwerte? Welche Grundwerte sind für Europa und seine Union charakteris­ tisch, also ausdrücklich »charakteristisch«, nicht »spezifisch«? Die Grundwerte können nämlich auch für andere Regionen gültig sein; Europa braucht für keinen seiner Grundwerte ein Exklusivrecht. Die Frage geht in die andere Richtung: Welche Grundwerte gehören zur Identität Europas – und erlauben, ohne dafür gemäß Haase 2021 »koloniale und romantische Denkformen« überwinden zu müssen, die Ukraine zu Europa zu rechnen? Erste europäische Grundwerte in einem doppelten Sinn, nämlich Grundwerte, die sowohl seit alters her als auch vorrangig gelten, zeigen sich im antiken Mythos. Um das überragende Gewicht sinn­ fällig zu machen, personifiziert er entscheidende Werte zu Göttern, womit sie sich, in säkularer Sprache, durch eine der Willkür des Men­ schen entzogene, überpositive Gültigkeit auszeichnen: Nach Ansicht der Griechen zeugt die höchste autorisierte Macht, der Göttervater Zeus, mit dem Gegengewicht von Macht, der Göttin von Sitte und Ordnung, Themis, drei Töchter, die Horen. Die Älteste, Dike, sorgt für Sitte, Recht und (gerechte) Rechtsprechung; die nächste, Eirene, für einen Frieden, der das wirtschaftliche und kulturelle Wohlergehen einschließt; die Jüngste schließlich, Eumonia, bemüht sich sowohl um gute Gesetze als auch um deren persönliche Anerkennung durch den Rechtssinn. Soweit die europäischen Gemeinwesen dem Gehalt dieses Mythos verbunden bleiben, verstehen sie sich als Gemeinschaften eines möglichst gerechten Rechts. Und dieses hat, rechtsmoralisch gesehen, kompromißlos zu herrschen. Auf keinen Fall darf es im Namen wirtschaftlicher oder kultureller Vorteile oder zugunsten der Mächtigen gebrochen werden. Nicht minder wichtig ist die doppelte Gestalt, in der das Recht auftritt. Als Eumonia, personaler Wert, als Rechtssinn oder »perso­ nale Gerechtigkeit«, bezeichnet sie die Tugend einer Person. Als Dike, als ein institutioneller Wert hingegen, namentlich als Wert einer

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5 Gemeinsame Grundwerte?

Rechtsordnung, betrifft das Recht die Institutionen, insbesondere die Institution zweiter Stufe, das politische Gemeinwesen. Gemäß der dritten Göttin, Eirene, sind politische Einheiten wesentlich Koope­ rationsgemeinschaften, die auf ein wirtschaftliches und kulturelles, heute ist zu ergänzen: auch auf ein wissenschaftlich-technisches Wohlergehen abzielen. Geht man vom Mythos zum Logos über, so bestimmt sich Europa, exemplarisch eine griechische Stadtrepublik, die Polis, durch die politische Kultur einer freiheitlichen Demokratie, die später, nach Jahrhunderten ohne Demokratie, zum Gedanken der Volkssouverä­ nität konkretisiert und um die Menschen- und Grundrechte, die Gewaltenteilung und eine kritische Öffentlichkeit ergänzt wird. Zu den mittlerweile anerkannten politischen Grundwerten gehören fer­ ner die Hochschätzung des Sozialstaats und die einer facettenreichen Zivil- bzw. Bürgergesellschaft. Deren Ort ist der Zwischenbereich und zugleich das Verbindungsglied zwischen der Privatsphäre von Familie, Vereinsleben und privatrechtlicher Ökonomie auf der einen und den staatlichen Instanzen wie Parlament, Gericht, öffentlicher Verwaltung und Parteien auf der anderen Seite. Mit Bürgerinitiativen, Bürgerclubs und zahllosen Ehrenämtern, mit den Institutionen der wissenschaftli­ chen Selbstorganisation und mit sozialen, kulturellen und politischen, aber auch wissenschaftlichen Stiftungen wird die politische Sphäre erheblich ausgeweitet. Dabei findet eine teilweise Politisierung der angeblich entpolitisierten Gesellschaft und spiegelbildlich dazu eine teilweise Entstaatlichung der Verantwortung fürs Gemeinwohl statt. Wohlklingende Texte genügen allerdings für die Anerkennung politischer Werte nicht. Obwohl die Verfassung der Volksrepublik China von 1954 in Artikel 87 den Bürgern »das Recht auf die Freiheit der Rede, der Presse, der Versammlung, des Zusammenschlusses, der Prozession und Demonstration« einräumt, wurde im Juni 1989 die Demonstration auf dem Platz des Himmlischen Friedens blutig niedergeschlagen. Oder: Die Türkei nennt sich einen »laizistischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaat«, trotzdem bleiben immer wieder so selbstverständliche Dinge einzufordern wie die vollständige Abschaffung der Folter, wie eine politisch unabhängige Justiz und eine ebenso unabhängige Verwaltung. Ferner fehlt ein verläßlicher Schutz der ethnischen, sprachlichen und religiösen Minderheiten. Insbesondere in der Benachteiligung der christlichen Kirchen zeigt die Türkei, wie weit sie vom europäischen Wert der Religionsfreiheit entfernt ist. Überdies sind seit etlichen Jahren die Meinungs- und

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5.2 Welche Grundwerte?

Pressefreiheit und die Grundsätze einer unparteilichen, faire Prozesse garantierenden Justiz gravierend bedroht. In etwa zur selben Zeit wie die politische Kultur, also im anti­ ken Griechenland, beginnt die wissenschaftliche Kultur in Europa aufzublühen, nämlich die Mathematik, die Naturforschung, die Phi­ losophie, ferner die Medizin und die Technik. Darin spricht sich ein zweiter Strauß von Werten aus, zusammengehalten durch die schon in der Einführung betonte Neugier. Facettenreich wie sie in Europa blüht, lebt sie sich in einer Entdeckungs- und Erfindungslust aus, stellt sich als Medizin und Technik in den Dienst menschlicher Zwecke und sucht in anderen Bereichen eine nutzenfreie Erkenntnis. In manchen Forschungen, so beim überwiegenden Teil der empirischen Naturund Sozialforschung, auch Teilen der Geisteswissenschaften, gehen nutzenfreie und nutzenverpflichtete Neugier ineinander über. Erst das gegenwärtige Europa muß sich vorhalten lassen, im Vergleich zu Antike, Mittelalter und früher Neuzeit über einen weit größeren materiellen Reichtum zu verfügen und trotzdem, im Zuge der Ökono­ misierung der Universitäten und der außeruniversitären Forschung, einen Grundwert Europas aufs Spiel zu setzen, die nutzenfreie Wißbe­ gier. Ein Teil der Wissenschaften, die weltweit bewunderten Geistesund Kulturwissenschaften, pflegen etwas, das moderne Gesellschaf­ ten dringend benötigen und das sich langfristig auch ökonomisch auszahlt: Ihr Verständnis für andere und anderes setzt dem von Samuel Huntington 1996 voreilig beschworenen Kampf der Kulturen die Kräfte der Offenheit und der Toleranz entgegen. Die Geisteswis­ senschaften befassen sich auch mit einem Themenkomplex, den eine oberflächliche Wertdebatte unterschlägt. Dazu gehört einerseits die Realität nicht bloß gemeinsamer, sondern auch höchst unterschiedli­ cher sozial-, wirtschafts-, kultur- und politikgeschichtlicher Erfahrun­ gen, andererseits die Erinnerung nicht nur an Glanzlichter, sondern auch an große Untaten, hier einschließlich dem totalitären Erbe vieler Regionen und verschiedenartigen Spätfolgen der Kolonialgeschichte. Typisch für Europa und eventuell einmalig in der Welt ist ein Raum, in dem sich innerhalb kleiner und kleinster Abschnitte so viele unterschiedliche Kulturen herausgebildet haben. Diese verändern sich ständig, haben überdies zwar bedeutende Metropolen wie London und Paris, wie Madrid, Rom und Berlin. Aber keine dieser Städte ist das Zentrum, weder des jeweiligen Landes noch gar von Europa. Denn auch Dublin und Edinburgh, Bordeaux, Lyon und Marseille,

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5 Gemeinsame Grundwerte?

Oslo, Stockholm, Kopenhagen und Helsinki, Amsterdam und Brüssel, Hamburg, Köln, Frankfurt und München, Prag, Warschau, Budapest und Petersburg, Moskau und viele weitere Städte strahlen über ihre Umgebung hinaus, lassen sich aber auch von außen beeinflussen und schaffen immer wieder neue Konstellationen und Brennpunkte. Weil Geistes- und Naturwissenschaften diese unendlich kom­ plexe Wirklichkeit erforschen, weil eine schon zweieinhalbtausend­ jährige Schulung von kritischem Denken und Dialogbereitschaft die Kulturen, deren Zeugnisse und deren Protagonisten in ein teils distanziertes, teils irenisches, teils polemisches Gespräch bringen, ist es töricht, daß die europäische Projektförderung schon wegen ihrer Großformate die klassischen Geistes- und Kulturwissenschaften zu benachteiligen pflegt. Damit vergibt sie eine Chance, der Ursache vieler Querelen innerhalb Europas entgegenzusteuern: der Fixierung auf die eigene Kirchturmsperspektive und auf einen Nationalismus, der die eigenen Leistungen zu überschätzen, fremde Leistungen aber zu unterschätzen, oft sogar zu mißachten pflegt und sich selber gern nur als Opfer, die bösen Nachbarn dagegen bloß als Täter vielfachen Unrechts wahrnimmt. Ein weiterer Wert Europas: Damit die Wißbegier den sicheren Gang einer Wissenschaft einschlägt, wird sie methodisch betrieben. Die glückliche Nebenwirkung, daß das Wissen lehr- und lernbar wird, findet in der Einheit von Forschung und Lehre, der Universität, die bis heute weltweit vorbildliche Gestalt. Im Rahmen der Schulpflicht und deren vorherrschender Form, der Pflichtschule, wird das Wissen allen Bürgern angeboten; auf der Kürschule dagegen, von den Berufs­ akademien über die Fachhochschulen zu den Universitäten, steht es den entsprechend Begabten und Lernwilligen offen. Ob Pflicht oder Kür, Europa legt großen Wert auf gleiche Bil­ dungschancen für Männer und Frauen. Daß in wohlbekannten Ein­ wanderergruppen gegen diesen Gleichheitswert deutlich verstoßen wird, haben die Staaten der Europäischen Union jahrelang nicht wahrhaben wollen, daher eine rechtzeitig korrigierende Rechtspoli­ tik versäumt. Ähnliches trifft auf das Thema Gewalt zu. Daß in den Frauenhäusern Deutschlands und bei der Gewalttätigkeit von Jugendlichen gewisse Kulturgruppen überproportional vertreten sind, beweist deren fehlende Anerkennung eines europäischen Grundwer­ tes, der gewaltfreien Konfliktlösung. Man kann zwar eine gewisse Perspektivenlosigkeit für mitverantwortlich halten, darf darüber aber

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5.2 Welche Grundwerte?

nicht den Faktor verdrängen, der in vielen Einwanderungsgruppen offen zutage tritt, einen gewaltbereiten Patriarchalismus. Zu Europa gehören auch sozialpragmatische Werte wie die Kul­ tur einer rationalen Verwaltung, die in Verbindung mit der liberalen Demokratie zu einem Wesensmerkmal des Rechtsstaates, zur korrup­ tionsfreien, sogar streng unparteiischen Administration geworden ist. Ein anderer pragmatischer Wert, die ökonomische Rationali­ tät, hat in Verbindung mit einem ungestümen Erwerbsstreben und Handelsgeist zu einem weltweit bewunderten Reichtum verholfen. Hinzukommt der in der ökonomischen Rationalität enthaltene Druck zu einem effizienten Umgang mit jeder Art von Ressource. Weil er mittlerweile vielerorts gepflegt wird, leider häufig mehr mit der Arbeitskraft als mit den natürlichen Ressourcen, ist ein sowohl inner­ europäischer als auch globaler Wettbewerb entstanden, der die Frage aufdrängt: Wie kann sich in der neuen Lage, der Verbindung von neuen Absatzmärkten mit neuen Arbeitsplatzkonkurrenten, ein Stück europäischer Wertegemeinschaft ausbilden? Wer in den Vereinigten Staaten neben den reichen Wohngebieten die erschreckend armen, überdies gewaltreichen Elendsviertel erlebt, wird bei aller Anerkennung der dynamischen US-Wirtschaft die Sozi­ alstaatlichkeit Europas nicht missen wollen. Oder: Wer Japan besucht, kann die vom Buddhismus und dem Schintoismus gepflegte Natur­ verbundenheit bewundern, nimmt aber mit Erstaunen zur Kenntnis, daß sich die Umweltschutzethik weniger von dort als von westlichen Quellen speist. Infolgedessen empfiehlt sich, die spezifisch europäische Wirt­ schafts- und Arbeitswelt in einem »magischen Dreieck« fortzubilden: Die wirtschaftliche Rationalität verbinde man mit einem nachhaltigen Umweltschutz und mit einer Sozialstaatlichkeit, die aber nicht zu einem maternalistischen Fürsorgestaat degeneriere. Die Alternative, die Hilfe zur Selbsthilfe, lasse sich auf einen Sachverhalt von anthro­ pologischem Rang ein: daß das Arbeits- und Berufsleben, angefangen mit der vorlaufenden Ausbildung und der begleitenden Fortbildung, in einem hohen Maß zur Selbstverwirklichung, zur Selbstachtung und zur Achtung durch andere beiträgt. Ein zeitgerechter Sozialstaat verdrängt nicht die Gerechtigkeit gegen künftige Generationen, sichtbar sowohl im nachhaltigen Umwelt- und Klimaschutz als auch in einem Abbau der Staatsver­ schuldung und in einer Rentenpolitik, die die Rentnergenerationen gegenüber dem demographisch immer kleineren Anteil von Jugend­

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5 Gemeinsame Grundwerte?

lichen bevorteilt. Ferner braucht es Investitionen in die materielle und soziale, nicht zuletzt auch kulturelle Infrastruktur. Denn die für Europa charakteristische Vielfalt, zugleich Dichte von Kulturein­ richtungen, von Theatern, Bibliotheken, Orchestern und Literatur­ häusern, von Musikschulen und Musikhochschulen, erlaubt vielen kleinen und mittleren Kommunen Europas mit weit größeren nicht­ europäischen Städten zu konkurrieren. Nicht das geringste Element von Europas Werten liegt in der Aufklärung. Gemeint ist nicht bloß das Aufklärungszeitalter der Neuzeit, sondern weit allgemeiner und zugleich grundsätzlicher jener »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündig­ keit«, den einer der größten Denker europäischer Werte, Immanuel Kant, betont. Die bisher genannten Werte sind für Europa typisch, in ihrer Gültigkeit jedoch nicht an Europa gebunden, folglich nicht auf diesen Kontinent eingeschränkt. Den Kern der europäischen Wertegemein­ schaft bilden Werte, die übereuropäisch gültig sind. Es sind insbe­ sondere drei. Der Mensch, bloß weil er Mensch ist, hat unveräußerli­ che Rechte: der Wert der Menschenrechte; die Menschen verdienen auch in ihrer Andersartigkeit wechselseitige Achtung: der Wert der Toleranz; schließlich hat nicht nur innerhalb eines Gemeinwesens, sondern auch zwischen den Völkern das Recht statt der Gewalt zu herrschen: der Wert eines mehr und mehr zu entwickelnden Völkerrechts, damit am Ende eine globale Rechtsordnung mit einer subsidiären und föderalen Weltrepublik entstehen kann. Seit der Spätantike entfaltet das Christentum eine geistige, kul­ turelle und soziale Macht, die die Grundwerte Europas umfassend und tiefgreifend beeinflußt. Auch wenn das Christentum in den letzten Generationen an öffentlich wirksamem Gewicht verloren hat, ist es immer noch präsent. Welche Grundwerte tatsächlich dem Christentum zu verdanken sind, ist zwar nicht leicht zu entscheiden. Denn das dem Christentum und seinen jüdischen Wurzeln innewoh­ nende Potential an Grundwerten fällt mit der – langwierigen, von Rückschritten unterbrochenen, auch von Verblendungen behinderten – Aktualisierung des Potentials nicht zusammen. Ohne in subtile Kontroversen einzutreten, kann man jedoch folgende Grundwerte für christlich inspiriert halten (s. Kap. 14.5); der systematisch gesehen erste Grundwert liegt in der unantastbaren Würde jedes Menschen, die in religiösen Begriffen der Genesis »Got­ tesebenbildlichkeit« heißt. Die darin liegende fundamentale Gleich­

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5.2 Welche Grundwerte?

heit findet allerdings im jüdischen Gedanken des auserwählten Volkes eine ethnische Relativierung. Diese wird vom Christentum mit dem Gedanken »alle Menschen guten Willens« aufgehoben, freilich für lange Zeit weitgehend nur theologisch, nicht auch rechtlich. Denn christliche Staaten und ihre christlichen Theologen tun sich mit der rechtlichen Gleichheit von Mann und Frau, mit dem Verbot der Sklaverei und der Anerkennung der Menschenrechte jahrhunderte­ lang schwer. Ein anderer christlicher Grundwert, die Überbietung der Rechts­ moral durch die Tugendmoral der Nächstenliebe, dürfte zu den nor­ mativen Grundlagen des europäischen Sozialstaates gehören. Er birgt freilich die Gefahr, die einander geschuldete Rechtsmoral sachfremd um verdienstliche Mehrleistungen anzureichern. Politisch gesagt, läuft der freiheitsfunktionale Sozialstaat Gefahr, zum maternalisti­ schen Fürsorgestaat zu degenerieren, wobei karitative Mehrleistun­ gen zu rechtlichen Grundforderungen erhoben werden. Auch in der Flüchtlingspolitik ist die Frage berechtigt, ob »human« genannt wird, was, zum Teil unreflektiert, vom christlichen Geist der Nächstenliebe inspiriert ist. Diese vorsichtige Rückfrage deutet exemplarisch an, daß zwischen den Grundwerten Europas keineswegs in der Regel, gelegentlich aber doch sich Spannungen auftun können. Mitverant­ wortlich ist die Fülle der Grundwerte, die Europa aber keineswegs aufs Spiel setzen will, daher gegebenenfalls hier eine Werteabwägung vornimmt. Auf das Recht jedoch, die freiheitliche Demokratie und die wissenschaftliche Kultur, auf die rationale Verwaltung, die öko­ nomische Rationalität und deren sozialstaatlichen Rahmen will – hoffentlich – kein europäisches Land, ob Mitglied der Union oder nicht, verzichten. Hilfreich dafür ist, daß die Grundwerte sich auch gegenseitig stützen: Die freiheitliche Demokratie beispielsweise begünstigt die Wißbegier, diese wiederum die Aufklärung, die ihrerseits die frei­ heitliche Demokratie und die Wißbegier sowohl zu begründen als auch fortzuentwickeln hilft. Der rationale Handelsgeist schafft einen materiellen Reichtum, der den allgemeinen Wohlstand fördert und Steuereinnahmen sprudeln läßt, die unter anderem den Institutionen des Wissens und der Kultur zugute kommen. Und dank einer sozial­ staatlichen Demokratie samt korruptionsfreier Verwaltung dürfen im Prinzip alle Bürger daran teilhaben.

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5 Gemeinsame Grundwerte?

5.3 Mehr als nur Grundwerte Ohne Zweifel erschöpft sich eine Heimat nicht in gemeinsamen Grundwerten. Zu Recht beginnt »Die Pariser Erklärung: Ein Europa, woran wir glauben können«, verfaßt von zehn politischen Intellektu­ ellen, unter anderem dem Franzosen Rémi Brague, dem Briten Roger Scruton und dem Deutschen Robert Spaemann, mit dem Stichwort »Europa ist unsere Heimat«. Nach der Erläuterung, geht es dabei »um geteilte Geschichte, Hoffnungen und Liebe. Es geht um alther­ gebrachte Gewohnheiten, Pathos und Schmerz. Es sind inspirierende Momente der Versöhnung und das Versprechen einer gemeinsamen Zukunft. Gewöhnliche Landschaften und Ereignisse sind aufgeladen mit besonderer Bedeutung – für uns, aber nicht für andere. Heimat ist ein Platz, an dem die Dinge vertraut sind und wir wiedererkannt werden, egal wie weit wir umhergewandert sind. Das ist das echte Europa, unsere wertvolle und unersetzliche Zivilisation und Kultur.«

5.4 Recht auf Differenz Vor allem unter Deutschen, aber auch einigen Österreichern, hier ins­ besondere Robert Menasse, ist die Aussicht beliebt, die Einzelstaaten sollten ihre Staatlichkeit zugunsten eines europäischen Supranatio­ nalstaates aufgeben. Diese Ansicht ist sowohl realitätsfremd als auch alles andere als wünschenswert. Realitätsfremd ist sie, weil niemand ernsthaft glauben könnte, Staaten, die wie Norwegen und die Schweiz nicht einmal der EU beitreten, würden auf friedlichem Weg, also freiwillig, auf ihre Eigenstaatlichkeit verzichten. Ebensowenig wird ein EU-Mitglied wie Frankreich freiwillig seinen doppelten, an die Eigenstaatlichkeit gebundenen Sonderstatus unter den EU-Staaten aufgeben, nämlich zum einen ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und zum anderen, nach dem Brexit, die einzig verbleibende Atommacht der EU zu sein. Ebensowenig wird ein Land wie die Niederlande, das per Referendum eine Europäische Ver­ fassung abgelehnt hat, freiwillig seine Eigenstaatlichkeit aufgeben. Ähnliches gilt für Dänemark, Italien, Polen, Spanien usw., kurz für alle Länder. Selbst für die angeblichen Ausnahmen, Deutschland und Österreich, ist der Verzicht auf die eigene Staatlichkeit wirklichkeits­ fremd geworden.

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5.4 Recht auf Differenz

Nun könnte man die Wirklichkeit kritisieren und für deren Überwindung zugunsten eines besseren, idealen Europa plädieren. Dagegen spricht der Umstand, daß eine konkrete Großgemeinschaft wie die Europäische Union nicht nur aus charakteristischen Gemein­ samkeiten, sondern ebenso aus der »typisch europäischen« Vielfalt lebt. Diese beginnt, es sei wiederholt, mit jener Sprache oder wohl­ definierten Mehrsprachigkeit, in der die Rechtstexte formuliert und im Parlament sowie in der Öffentlichkeit debattiert wird. In deren Hintergrund steht eine reiche philosophische, literarische, soziale und vor allem auch juristische Kultur. Mit der Wirtschaft verdient eine Gesellschaft ihren Lebensunterhalt, mit Recht, Menschenrechten und Demokratie genügt sie den Leitwerten der Freiheit und der Gerechtigkeit. Ihren Zusammenhalt findet sie aber über die Sprache, über Wissenschaft und Philosophie, nicht zuletzt über Musik, Kunst und Architektur oder auch den Sport. Zur europäischen Wertegemeinschaft gehören nun beide Seiten: ein hohes Maß an Gemeinsamkeit in Kultur und Wissenschaft und eine Vielfalt der Sprachen und Kulturen. Zu Recht erscheint in der Präambel des Entwurfs einer europäischen Verfassung das Selbstbild der Union in der Formel: »in Vielfalt geeint«. Die Bürger und Länder Europas gehören nämlich zu einer jeweils bestimmten, aber gegen­ über den anderen unterschiedlichen Geschichte und Kultur, einem in concreto anderen Rechts- und Staatsverständnis, vor allem einer anderen Sprache oder einer Mehrsprachigkeit, vielleicht auch Religion und Konfession, nicht zuletzt anderen Gewohnheiten (»Sitten«) und Mentalitäten. Mit einem Bild von Thomas Mann (1942) bildet Europa ein gemeinsames Dach, das den verschiedenen Nationen ihre eigene Wohnung erlaubt. Um über der Einheit die nicht nur Europa, sondern sogar die Welt bereichernde Vielfalt nicht zu vergessen, muß die Union nicht bloß in Festreden, sondern in der gelebten Wirklichkeit der Fülle der genann­ ten Aspekte das Eigenrecht, das Recht auf Differenz, anerkennen. Hier seien nur wenige Beispiele erwähnt, die später näher erörtert werden: Die Sprachenvielfalt darf nicht einer dominanten Verkehrssprache geopfert werden. Der gemeinsame Rechtsrahmen muß in concreto für unterschiedliche Rechtstraditionen, einschließlich so sensibler Bereiche wie dem Steuerrecht und dem Arbeitsrecht, offen bleiben. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik darf nicht Gemeinsamkeiten dekretieren, die sich dann, wie zu erwarten, an den unterschiedlichen Mentalitäten, die in der Berufs- und Arbeitswelt herrschen, brechen.

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5 Gemeinsame Grundwerte?

Generell hat die Union etwas, das innerstaatlich selbstverständ­ lich geworden ist, die Anerkennung von Pluralismus, auch auf ihrer Ebene zu respektieren. Folglich darf sie einen »innereuropäischen Plu­ ralismus« nicht bloß widerwillig erlauben, muß ihn vielmehr frei und großzügig willkommen heißen. In diesem Sinn muß die Union Unter­ schiede, einschließlich Konkurrenzen gelten und walten lassen, statt, wie es die homogenisierende Union immer wieder unternimmt, sie zu übersehen, zu verdrängen oder sogar zu unterdrücken. Denselben Fehler begehen Bewegungen wie der von Daniel Röder gegründete »Pulse of Europe«, die im Widerspruch zum Subsidiaritätsprinzip für ein stetes »Mehr an Integration« trommeln. Hier kann die klassische deutsche Universität als Gegenbild und Muster dienen. In ihr ver­ sammelten sich nämlich recht unterschiedliche, durchaus heterogene Fakultäten, innerhalb derer auch die Fachbereiche und Fächer sich durch inhaltliche und methodische Andersartigkeit auszeichnen. Nicht der ist ein »bekennender Europäer«, der für Brüssel immer mehr Kompetenzen und eine gleichmachende Homogenisierung for­ dert, sondern wer – aus Respekt vor der europäischen Vielfalt! – sich diesen Forderungen widersetzt. Ein bekennender Europäer verteidigt das Recht auf Differenz und das ihm dienende Prinzip der Subsidiari­ tät. Das Recht auf Differenz hat freilich eine oft unterschlagene Rückseite: Man muß für seine nationalen Eigenarten auch einstehen. Unzulässig ist es, nationale Mentalitäten und Eigenwillen zu »pri­ vatisieren«, deren Folgelasten aber »europäisch zu sozialisieren«. Beispielsweise darf man sich nicht finanzielle Überlasten einbrocken, sich dabei jede Warnung von außen verbitten, für die vorhersehbare Not hingegen äußere Hilfe erwarten, beinahe einfordern. Im selben Maß, wie man auf seine nationale Souveränität pocht, muß man auch die dazugehörige Verantwortung, einschließlich der Haftung, tragen: für die eigene Wirtschaft, für den eigenen Haushalt und für die eigene Sozialstaatlichkeit. Die jeweiligen Zugehörigkeiten schaffen im Inneren Gemein­ samkeiten, nach Außen aber Grenzen, weshalb viele der Zugehörig­ keiten in innereuropäischem Wettbewerb stehen. Einen erheblichen Teil derartiger Grenzen kann man aber durch das gemeinsame Euro­ päersein und weiter bestehende Grenzen durch das gemeinsame Menschsein relativieren. Infolgedessen finden die Bürger in einer ersten Stufe zu kulturellen Gemeinsamkeiten ihres Staates, in einer zweiten zu einem nicht alternativen, aber komplementären gemeinsa­

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5.4 Recht auf Differenz

men Europa, das sie in einer dritten Stufe, wird sich im Verlauf dieses Essays noch zeigen, zu einem erneut nicht alternativen, vielmehr komplementären Weltbürgertum oder Kosmopolitismus hin über­ schreiten.

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6 Europäische Bürgeridentität?

6.1 Ein komplexes Phänomen Schon in der bekannten Gestalt des Staatsbürgers ist die Bürgeriden­ tität ein komplexes Phänomen. Denn man ist nicht nur Rechtsbür­ ger, Staatsbürger und jener Gemeinschaftsbürger, der sich für sein Gemeinwesen engagiert und auf es sowohl nach Innen als auch nach Außen ein wenig stolz ist. Nicht wenige Bürger füllen nicht einmal die erste Dimension voll aus. Zu derartigen Minimalbürgern gehören beispielsweise Per­ sonen, die sich über ihre staatliche, dann gern als nationalstaatlich diskreditierte Identität mokieren, sich lieber nur für Europäer halten und im globalen Maßstab sich als bloße Weltbürger empfinden. Halten sie sich aber in politisch gefährlichen Gegenden auf, geraten dort in Gefangenschaft und werden nur gegen Lösegeld freigelassen, so erwarten sie staatliche Hilfe, die selbstverständlich vom bislang diskreditierten Nationalstaat und bei doppelter Staatsbürgerschaft vom politisch und wirtschaftlich hilfreicheren Staat erfolgen soll. Diese Bürger pflegen eine staatliche Minimalidentität, bei doppelter Staatsbürgerschaft zusätzlich eine Wahlidentität, die in beiden Fällen gern zu einer puren Forderungsidentität degeneriert. Ein wenig, aber nicht viel mehr als lediglich fordernd lebt, wer zu seinem Gemeinwe­ sen außer erzwungenen Gegenleistungen wie Steuern nichts beiträgt. Kaum mehr als ein bloßer Paßinhaber, braucht er keine emotionale Bindung an sein Land. Er empfindet keinerlei Aufgabe, sich affirmativ oder kritisch mit der Geschichte, Tradition und Kultur seines Landes auseinanderzusetzen. Manche fühlen sich sogar lange Zeit nicht einmal mit der Amts- und Verkehrssprache ihres Landes verbunden. Die Identitätsschrumpfung kann noch weiter reichen. Die mittels Steuern finanzierten Gemeinwohlaufgaben fangen beim Rechtsschutz an und reichen über die materielle Infrastruktur, also Kanalisation, Strom- und Gasleitungen, Straßen-, Eisenbahn- und Telekommunikationsnetze, zum Gesundheitswesen, zum Bildungsund Ausbildungswesen, zur großzügigen Sozialstaatlichkeit, nicht

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6 Europäische Bürgeridentität?

zuletzt zur Verteidigung und zu Beiträgen der Kultur. Bürger, die eventuell ein Leben lang keine Steuern zahlen, gelangen trotzdem in den Genuß all dieser Leistungen. Gelegentliche Versuche, zumindest kommunale Tätigkeiten einzufordern, werden in der Regel rasch eingestellt. Ob man damit so lebenswichtigen Dingen wie der Selbst­ achtung und der Anerkennung durch andere gerecht wird, muß hier dahingestellt bleiben. Die Notwendigkeit, Gemeinwohlaufgaben zu finanzieren, weist jedenfalls auf eine Dimension hin, die die genannte Trias von Rechts­ bürger, Staatsbürger und Gemeinschaftsbürger unterschlägt: Ob als Angestellter oder selbständiger Unternehmer – die hoffentlich über­ wiegende Mehrheit der Bürger füllt eine Rolle aus, die zu Unrecht häufig diskreditiert wird, die vierte Dimension, die des Wirtschafts­ bürgers, des Bourgeois. Dieser sorgt selber für seinen Lebensunter­ halt und ermöglicht mit seinen Steuern die staatlichen Gemeinwohl­ aufgaben. Jedes Gemeinwesen braucht eine Amts- und Verkehrssprache, ohne daß diese im Singular auftreten müßte. Im Laufe der Generatio­ nen entwickeln die Bürger Literatur, Musik und Kunst, auch Philoso­ phie, Wissenschaft, Medizin und Technik, die von einer fünften, in sich facettenreichen Dimension getragen wird. Pars pro toto kann man hier vom Kultur- und Bildungsbürger sprechen, der etwa als Lehrer und Hochschullehrer, als Forscher, Pfarrer und Journalist nicht nur in Deutschland bis heute eine das Gemeinwesen prägende Rolle spielt. Der kulturelle Gemeinsinn, der dabei gepflegt wird, praktiziert, ohne den Anspruch aussprechen zu müssen, eine intergenerationelle Gerechtigkeit. Er sucht nämlich das kulturelle Kapital den künftigen Generationen mindestens ebenso reich zu hinterlassen, wie er es ererbt hat. In Zeiten der Ökonomisierung sprechen für diese Leistung sogar ökonomische Gründe. Denn wohin ein Wissenschaftler eine Berufung annimmt oder wohin ein Konzern seine Europazentrale stellt, hängt auch vom »Handelswert« der Landessprache und von der kulturellen Infrastruktur des zuständigen Ortes ab. Letztlich kommt es dem kulturellen Gemeinsinn aber nicht auf pragmatische Vorteile, sondern auf den Eigenwert von Sprache und Kultur an. Ein weiterer, jetzt sechstens, politischer Gemeinsinn hat, was die übliche Bestimmung des Citoyens unterschlägt, ein doppeltes, sowohl innen- als auch außenpolitisches Gesicht. Im Inneren bemüht er sich um ein hohes Maß an bürgerschaftlichem Engagement, mit dem er sich gegen einen etatistisch verkürzten Politikbegriff wendet.

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6.2 Eine Entgrenzung

Allerdings darf man es nicht mit dem gleichsetzen, was die größere Aufmerksamkeit auf sich zieht, mit bloßem Protest, gesteigert zum sogenannten »Wutbürger«. Zweifellos mag für manche Menschen die wöchentliche Demonstration ein Gottesdienstersatz sein, womit eine religiös plu­ ralistische Gesellschaft keine Schwierigkeit hat. Bedenken tauchen erst dort auf, wo »Wutbürger« ihrem Interesse an Medienpräsenz ein so kostbares politisches Gut wie die Rechtsstaatlichkeit und dessen strengen Gewaltverzicht opfern. Ohnehin nimmt der unvoreinge­ nommene Blick das Bürgerengagement nicht nur in Bürgerinitiativen wahr. Zugleich widerspricht er einem Kulturpessimismus, der die Bürger wohlhabender Demokratien zu egoistischen Monaden erklärt. In Wahrheit gehört für ausgeprägte Individuen die Mitwirkung in gemeinnützigen Vereinen, Verbänden und Selbsthilfegruppen, die ehrenamtliche Betreuung von Randgruppen und neuerdings den Flüchtlingen, kurz: ein soziales und politisches Engagement, zu ihrer Bürgeridentität wesentlich hinzu. Nach außen wiederum bekennt sich der politische Gemeinsinn zu einem umsichtigen Ausgleich von Selbstwertgefühl und Fremd­ schätzung. Als ein aufgeklärter Patriotismus vermeidet er zwei Fehl­ formen. Weder läßt er sich auf ein nationalistisches Selbstlob ein, noch pflegt er eine Idiophobie, die aus Angst vor dem Xenophobie­ vorwurf das Eigene nur zu mißachten oder zu kritisieren versteht. Hier hat die angedeutete Klage ihren Ort: daß hochrangige Politi­ ker, immerhin Repräsentanten ihres Volkes, so wenig öffentliche Selbstachtung haben, daß sie sich nicht einmal gegen Karikaturen in Naziuniform empören, und daß ein erheblicher Teil der deutschen Medien sich der ängstlichen Idiophobie bereitwillig anschließt. Nur in Klammern: Von gestandenem Selbstbewußtsein zeugt auch nicht, daß kirchlich geführte Krankenhäuser wegen muslimi­ scher Patienten die Kreuze aus den Krankenzimmern entfernen oder daß Kirchenfürsten im nichtchristlichen Ausland zwar in Ornat auf­ treten, sich dann aber drängen lassen, ihre christlichen Zeichen abzu­ legen.

6.2 Eine Entgrenzung Ein zukunftsoffener Bürger begnügt sich nicht mit diesen eher tra­ ditionellen Rollen. Schon wegen staatenübergreifender Gemeinsam­

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6 Europäische Bürgeridentität?

keiten wie Sprache, Religion und Berufstätigkeit, ferner wegen des vielfältigen wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, politischen und kul­ turellen sowie sportlichen Austausches, weiterhin wegen des globa­ len Handlungsbedarfs bei der Verbrechensbekämpfung und beim Klimaschutz, nicht zuletzt wegen der universalistischen Rechts- und Staatsprinzipien erweitert er die Tätigkeit seines Gemeinsinns auf überregionale, schließlich auf globale Aufgaben. Die hier angesprochene Entgrenzung des kulturellen und des politischen Gemeinsinns betrifft nicht bloß die Jetset-Eliten. Ob als Tourist, Konsument oder Arbeitnehmer, ob als Zeitungsleser, an Kul­ tur Interessierter oder als Student und Dozent, nicht zuletzt über eine multiethnische Schüler- und Arbeiterschaft sowie das elektronische Weltnetz (»Internet«) und das großstädtische Erscheinungsbild − so gut wie jeder Bürger erlebt schon heute fast täglich, was sich in unse­ rer Zuwanderungs- und Einwanderungsgesellschaft noch verstärken wird: Er erfährt und praktiziert weit über die Wirtschaft hinaus globalisierte Lebensverhältnisse. Ihretwegen versteht er sich, erneut ohne das hier zuständige anspruchsvolle Wort vor sich herzutragen, als Weltbürger oder Kosmopolit. Die Bürger Europas leben also längst in einer komplexen, dynamischen Identität, freilich mit dem Staatsbürgersein als der bis heute immer noch wichtigsten Bürgeridentität, auch wenn in diesen Zeiten der Globalisierung, der weltweiten Wanderbewegungen, das Bürgersein nicht auf den Staatsbürger zu verkürzen ist. Trotzdem ist es ein folgenschwerer Irrtum zu glauben, eine EU-Bürgerschaft könne in absehbarer Zeit die Staatsbürgerschaft ablösen. Allerdings könnte es eine neue Art von mehrfacher Staatsbürgerschaft geben. Neu ist sie, weil es nicht um das gewissermaßen »horizontale« Recht geht, Staatsbürger mehrerer Staaten zu sein, sondern um eine »vertikale« mehrfache Staatsbürgerschaft. Primär ist man entweder Deutscher, Niederländer oder Russe usw., sekundär Europäer (und in anderen Großregionen Afrikaner, Amerikaner oder Asiate) und tertiär, worüber noch zu sprechen ist, Weltbürger, nämlich Bürger einer subsidiären, komplementären und föderalen Weltrepublik (s. Teil III).

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6.3 Erneut: Recht auf Differenz

6.3 Erneut: Recht auf Differenz Welche Rolle kommt hier der Europäischen Union zu? Um den Bür­ gern die komplexe mehrdimensionale Identität sowohl zu erlauben als auch zu erleichtern, besinnt sich ein zukunftsfähiges Europa, ohne die EU aufzugeben, auf deren klare Grenzen. Zum einen erweist sich das von Europa geprägte Rechts-, Wissenschafts- und Wirtschafts­ denken längst als globalisierungsfähig, womit der Kontinent sachlich und geographisch weit mehr als Klein-Europa, als die EU, ist. Er zeichnet sich vielmehr durch einen kosmopolitischen, folglich über das gesamte Europa hinaus gültigen Kern aus. Zum anderen lebt es von der bunten, durchaus anarchistischen Fülle der Regionen und Einzelstaaten, sowohl von deren Eigenart und Eigenverantwortung als auch von deren Kreativität. Europa wird daher schwerlich überleben, wenn es nicht das genannte Recht auf Differenz als unverzichtbar anerkennt, infolge­ dessen dem wahrhaft reichen Strauß von Sprachen, Traditionen und Mentalitäten mitsamt deren Potential an Konkurrenz und Konflikt, auch jenes Potential an fluiden und hybriden Identitäten Raum zum Blühen läßt, das beispielsweise einer aus Bayern stammenden Labour-Politikerin, Gisela Stuart, erlaubt, im Vereinigten Königreich eine neue Identität zu finden, dort Britin, aber ausdrücklich nicht Engländerin zu sein und sich mit Nachdruck für das Ausscheiden aus der Europäischen Union, für den Brexit, zu engagieren. Das Recht auf Differenz schließt zwar kein weiteres Zusammen­ wachsen aus, es muß aber auf eine demokratische Weise zustande kommen, also anstelle des vorherrschenden top down-Vorgehens sich auf die weit demokratischere bottom up-Strategie einlassen. Das Zusammenwachsen darf nicht von oben, weder von den einzelnen Regierungen noch gar von »Brüssel«, dekretiert werden. Es muß von unten, von den Bürgern und deren Kommunen aus, wachsen. Eines der vielen Argumente: Das Grundprinzip der modernen Politik, die Demokratie, läßt sich in Einzelstaaten wegen deren gerin­ gerer Größe, wegen der daraus fließenden größeren Bürgernähe, wegen der dort stattfindenden öffentlichen Debatten und der daraus folgenden größeren Lern- und Korrekturfähigkeit, also wegen eines bemerkenswert reichen Straußes von Gründen, sowohl intensiver verwirklichen als auch erleben. Angesichts der schon genannten Regelung von Glühbirnen, Duschköpfen und Staubsaugern klingt André Wilkens’ Buchtitel gegen Brüsseler Auswüchse zu liebens­

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6 Europäische Bürgeridentität?

würdig: Der diskrete Charme der Bürokratie. Gute Nachrichten aus Europa (2017).

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7 Wo bleiben Rechtsstaat und Demokratie?

Mit einer bloßen Schelte darf dieses Thema schon deshalb nicht beginnen, weil die Ansprüche, auch wenn sie noch nicht zureichend erfüllt werden, von niemandem in der Union abgelehnt werden. In den Einzelstaaten herrschen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit oder werden, in der Regel kompromißlos, eingefordert. Rechtlich gesehen versteht sich die Union als eine Gemeinschaft von konstitutionellen Demokratien, die sich auch als Gemeinschaft den Prinzipien von Rechtsstaat und Demokratie unterwirft. Empirisch gesehen ist die Zustimmung zur Union oder die Skepsis gegen sie für das Maß der auf EU-Ebene gegebenen rechtsstaatlichen Demokratie mitentscheidend. Selbst dort, wo für die Union zwar erhebliche Defizite an Demo­ kratie, insbesondere der Rückbindung an den eigentlichen Souverän, die Bürger, zu beklagen sind, läßt sich so Wesentliches nicht bestrei­ ten: Die Union wurde weder von unionsexternen Staatsmächten erzwungen noch im Inneren von einer Vormacht, die den anderen Staaten ihre Wünsche aufoktruiert hätte. Keine der klassischen Fehl­ formen politischer Herrschaft liegt hier vor, weder eine Diktatur noch eine Tyrannis oder ein totalitäres Regime. Dasselbe trifft auf die Fortentwicklung der europäischen Gemeinschaften von der Montanunion über die EWG bis zur EU zu: Sie erfolgte von innen heraus und ohne Gewalt, vielmehr freiwillig, mit Einstimmigkeit aller Mitgliedsstaaten, die wiederum, weil ihrer Bürgerschaft verpflichtet, die Zustimmung kaum leichtfertig erteilt haben. Kein Staat wurde zum Beitritt gezwungen, Altmitglieder wie Dänemark konnten den Beitritt zur Währungsunion ablehnen, ohne deshalb einen Hauch von Retorsionsmaßnahmen zu befürchten. Ob aus ehrenvollen Gründen wie der Stärkung von Rechtsstaatlichkeit oder aus dem weniger ehrenvollen Grund, kräftige finanzielle Hilfe zu erhalten – jedes Neumitglied bat um Aufnahme und mußte für deren Anerkennung einen anspruchsvollen Prozeß durchlaufen, der die Aufnahmefähigkeit streng prüfte, um erst danach die Zustimmung der Altmitglieder zu erhalten. Sowohl bei ihrer Gründung als auch

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ihrer Fortentwicklung verfügt die Union also über ein erhebliches Maß an demokratischer Legitimation. Ein näherer Blick auf die drei klassischen öffentlichen Gewalten, die Legislative, die Exekutive und die Justiz, enthüllt jedoch erhebliche Legitimationsdefizite. Sie beginnen damit, daß die skizzierte Zustim­ mung weithin formal und ziemlich pauschal erfolgt. Nach einem unstrittigen Element der Demokratietheorie liegt der Vorrang der öffentlichen Gewalten beim Parlament. In der Union hingegen hat die Europäische Kommission eine Übermacht, die keiner hinreichenden Kontrolle unterworfen ist (Abschn. 7.1). Für etwaige Streitfälle, die zwischen den Einzelstaaten und der Kommission auftreten, gibt es zwar ein eigenes Gericht. Dessen Unparteilichkeit ist aber nicht über allen Zweifel erhaben (Abschn. 7.2). Vor allem in der Finanzpolitik ist die Union gegen Rechtsverletzungen nicht gefeit (Abschn. 7.3). Unter dem Deckmantel »Politik« wird da und dort der Grundpfeiler einer demokratisch verfaßten Bürgerunion, das Recht, verletzt, was sogar generell zu beklagen ist (Abschn. 7.4).

7.1 Das wahre Demokratiedefizit In einem der frühesten Texte zur Demokratie erklärt ein überragender Staatsmann Athens, Perikles, laut dem Historiker Thukydides (hier gestrafft): »Die Verfassung, die wir haben, heißt Demokratie, weil unsere Polis nicht auf wenige Bürger, sondern auf viele ausgerich­ tet ist.« Klagen über Demokratiedefizite sind in der Europäischen Union seit langem bekannt. Sie schieben die Verantwortung aber gern in die Ferne, nach Brüssel, dort auf die Europäische Kommission, eventuell noch auf den Ministerrat, weil beide dem Europaparlament die ihm demokratietheoretisch zukommende Macht verweigerten. Tatsächlich reicht das Demokratiedefizit weiter. Ob es die Medien, die kulturellen Verbände oder einzelne Intellektuelle sind – über ihrer Kritik an anderen vergessen sie die Selbstkritik, über ihren Bedenken am »Moloch Europa« verschlafen sie ihre eigene Aufgabe, die über Machtgrenzen des Europaparlaments weit hinausreichenden Defizite an Demokratie wahrzunehmen. Denn nach dem Grundsatz »ohne genaue Diagnose keine erfolgreiche Therapie« kann man erst nach der Einsicht in die Defizite zu ihrer Überwindung schreiten.

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Für die Frage, wo genau die Demokratiedefizite herrschen, ist die für eine Europäische Union entscheidende Demokratieart wesentlich: daß Europa aus dem Zusammenschluß von Staaten entstanden ist, die sich einen erheblichen Teil ihrer Rechte, insbesondere den Inbegriff der Letztentscheidung, die Souveränität, vorbehalten. Wegen dieses Vorbehalts hat die Union einen deutlich föderalen Charakter. Beim Zusammenschluß der Einzelstaaten zur Union kann man aber derzeit und vermutlich noch lange nicht von einem europäischen Volk, einem dêmos europeikê, sprechen. Einer der Gründe liegt, wie wir sehen werden, im Fehlen der notwendigen Voraussetzung, einer europä­ ischen Öffentlichkeit. Wer in absehbarer Zeit glaubt, von einem europäischen Staatsvolk reden zu dürfen, betreibt Etikettenschwindel. Wegen der föderalen Verfaßtheit läßt sich aber schon jetzt festhalten, daß der demokratische Gesetzgeber einer Europäischen Gemeinschaft aus zwei Häusern zu bestehen hat, aus einer Vertretung der intern demokratischen Einzelstaaten und aus einer direkten Vertretung der Bürger. Wer bei der europäischen Gesetzgebung nur auf den einschlägi­ gen Ausdruck, das Parlament, achtet, übersieht das seit den Anfängen praktizierte Zwei-Kammernsystem. Denn er nimmt lediglich das Europäische Parlament wahr, bemerkt zudem dessen noch geringe Befugnis und versteht diesen Befund als einen erheblichen Mangel an demokratischer Legitimation. Häufig hält er ihn sogar für das größte, wenn nicht sogar einzige Demokratiedefizit. In Wahrheit gibt es schon jetzt beide für ein föderales Gemeinwe­ sen unverzichtbare Bestandteile der Europäischen Legislative, außer dem Europäischen Parlament nämlich den Ministerrat. Blickt man auf föderale Staaten wie Deutschland, Österreich und die Schweiz, so pflegt die Bürgerkammer, der Bundestag (in Österreich und der Schweiz der Nationalrat) gegenüber der Länderkammer, dem Bun­ desrat (in der Schweiz der Ständerat) einen gewissen Vorrang zu haben. Daß es sich in der Union anders verhält, wird häufig kritisiert. Tatsächlich ist es derzeit und wohl noch länger demokratietheoretisch so geboten. Weil die Staats- und Regierungschefs der Einzelstaaten demokratisch gewählt sind, verfügt die erstgenannte Gesetzgebungs­ kammer, der Europäische Bundesrat, derzeit »Europäischer Rat« genannt, ohne Zweifel nicht nur über ein gewisses, sondern aus noch zu nennenden Gründen über das weit höhere Maß an demokratischer Legitimation als die Versammlung der Europaabgeordneten, das Europaparlament. Es ist ein folgenschwerer Irrtum zu behaupten, die

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größere Macht des Europäischen Rates und die geringere des Europa­ parlaments belegten das derzeit entscheidende Demokratiedefizit, das folgerichtig mit der Stärkung des Europaparlaments behoben würde. Zu wiederholen ist: Ein nicht geringer Beleg für den radikal föderalen Charakter der Union liegt in ihrem ausdrücklichen Verzicht auf eine »Hauptstadt Europas«. Allerdings nähert sich der Sitz von Ministerrat und Kommission, Brüssel, diesem Rang an, auch wenn es mit Straßburg (Sitz des Europaparlaments) und Luxemburg (Sitz von Gerichtshof und Rechnungshof) sowie mit Frankfurt/Main (Sitz der Europäischen Zentralbank) weitere Hauptorte gibt. Zurück zum Demokratiedefizit: Das erste und größte Defizit besteht nicht in mangelnden Rechten des Europaparlaments, sondern im Übergewicht derjenigen europäischen öffentlichen Gewalt, die nach klassischer Demokratietheorie nur die Exekutive legislatorischer Vorgaben ist, der Europäischen Kommission. Denn diese kann ohne hinreichende Kontrolle der beiden eigentlichen Gesetzgeber, des Ministerrats und des Europaparlaments, de facto legislatorisch agie­ ren. Von der Fülle der von der Brüsseler Kommission verabschiedeten Verordnungen und Erlasse kann sich nämlich nur ein sehr kleiner Teil auf die für eine Demokratie übliche Legitimation durch die Legis­ lative, hier durch die beiden Kammern eines europäischen Gesetz­ gebers, berufen. Darin, in der überwältigenden Übermacht einer europäischen Institution, der legislatorisch aufgewerteten Exekutive, der Europäischen Kommission, liegt Europas größtes Demokratiede­ fizit. Auf nationaler Ebene ist das Parlament der höchste Ausdruck einer Demokratie. Warum soll dann, wie hier behauptet, im derzeiti­ gen Europaparlament als solchem ein zweites Demokratiedefizit lie­ gen? Ein erster Grund liegt im Zuschnitt der Wahlkreise. Die meisten Demokratien sorgen dafür, daß sie von der Zahl der Wahlberechtigten her in etwa die gleiche Größe haben. Infolgedessen kommt jedem Bürger sowohl bei der direkten Wahl der Abgeordneten als auch bei deren Verhältniswahl ungefähr das gleiche Gewicht zu. Im Europapar­ lament hingegen vertritt ein Luxemburger Europaabgeordneter weit weniger Bürger, nämlich 27.000 Bürger, als etwa ein polnischer und dieser deutlich weniger, nämlich etwa 400.000, als ein deutscher Europaabgeordneter: 828.000. Folglich ist ein deutscher Europawäh­ ler nur die Hälfte eines polnischen und sogar nur ein Dreißigstel eines Luxemburger Abgeordneten wert. (Zur »Prinzipienkonkurrenz von

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7.1 Das wahre Demokratiedefizit

Bürgergleichheit und Staatengleichheit im supranationalen Gemein­ wesen« s. u. a. Habermas 2014.) Wenn man zusätzlich darauf achtet, daß der Europäische Gerichtshof seinen Sitz in Luxemburg hat, nicht zuletzt, daß euro­ päische Spitzenämter überproportional von Bürgern des Großherzog­ tums besetzt werden, ist für einen Luxemburger die Union sehr viel intensiver erfahrbar als für einen Deutschen. Nicht aus nationalisti­ schem Eigeninteresse, sondern aus demokratischer Verantwortung gegenüber den eigenen Bürgern hat Deutschland die Aufgabe, sein strukturelles Gewicht in Europa zu stärken. Nun kann man einwenden, daß dann die Gesamtheit der deut­ schen Abgeordneten ein zu großes Gewicht hätten. Dieses Argu­ ment wird aber innerhalb eines Bundesstaates nicht anerkannt. Daß beispielsweise Bayern wegen seiner Größe in den Bundestag weit mehr Abgeordnete als etwa Bremen oder Sachsen-Anhalt schickt, ist sowohl nach Theorie als auch Praxis der Demokratie unstrittig. Ohnehin pflegt auf beiden Ebenen, nicht nur in den Einzelstaaten, sondern auch in Europa, nicht die landsmannschaftliche, sondern die Partei-Zugehörigkeit entscheidend zu sein. Insbesondere werden wie in föderalen Staaten üblich die unterschiedlichen Ländergrößen in der Länder- bzw. Staatenkammer extrem relativiert. Zu diesem Zweck kann man den Abgeordneten der Kleinstaaten ein etwas größeres Gewicht einräumen, das Dreißigfache muß es aber nicht sein. Im übrigen sind die Kleinstaaten unter anderem im Europäischen Rat, in der Europäischen Kommission, im Europäischen Gerichtshof und der Europäischen Zentralbank genauso mit einem Vertreter präsent wie die großen Länder. Ihr Gewicht ist also keineswegs gering. Das Europaparlament leidet unter zwei weiteren Demokratiede­ fiziten: Erstens, Defizit Nr. 3, fehlen bei den Europawahlen, was bei nationalen Wahlen im Vordergrund steht, sowohl Parteiprogramme als auch das persönliche Profil und der Bekanntheitsgrad des jeweili­ gen Abgeordneten. Zumindest in den bevölkerungsreicheren Staaten wird bei Europawahlen wegen der vielen Hunderttausenden, die zu repräsentieren sind, weit weniger auf die Persönlichkeit als auf die Partei geachtet, die sie vertritt. Die Parteien wiederum treten weit mehr mit innenpolitischen Themen als mit einem spezifisch auf Europa zugeschnittenen Programm auf. Ein Niedersachse, ein Hesse und ein Baden-Württemberger nehmen bei ihren Landtagswahlen neben ihren Landesproblemen auch Bundesprobleme in den Blick, ein Belgier, ein Italiener und ein Tscheche schauen bei ihren nationalen

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Wahlen kaum auf EU-Fragen. Aus beiden Gründen ist die Europawahl zu einem erheblichen Teil eine Fortsetzung der nationalen Wahlen mit neuen Mitteln. Um das dem derzeitigen Europaparlament innewohnende Demokratiedefizit abzubauen, müßten einige Dinge geändert wer­ den: Im Gegensatz zur derzeitigen enormen Ungleichheit ist das Gewicht der Bürger der größeren europäischen Staaten im Verhältnis zu dem der kleineren deutlich zu stärken. Dann könnten die Abgeord­ neten der größeren Staaten in ihren kleiner gewordenen Wahlkreisen auch leichter persönlich bekannt werden. Weiterhin dürften die Europaabgeordneten nicht deutlich höher entschädigt werden als die nationalen Abgeordneten, was einen falschen, zu stark finanziellen Anreiz setzt. Ihre innerparteiliche Machtstellung, folglich die in der Politik übliche Währung, Einfluß und Macht, ist aber in der Regel weit geringer. Deshalb eignet sich die innerparteilich auszuhandelnde Europakandidatur zu einem ehrenvollen Abschieben aus dem Zentrum der Macht; die politische Entmachtung wird durch ein hohes Salär abgefedert. Um dem entgegenzusteuern, also die Entschädigungen zu sen­ ken, den Einfluß dagegen zu erhöhen, muß der Europaabgeordnete nicht erst in Straßburg, sondern schon in seiner Heimat gewichtig sein. Das ist aber nur dann möglich, wenn die Europapolitik der Parteien ein entschieden größeres Eigengewicht erhalten. Das setzt voraus, daß schon bei den nationalen Wahlprogrammen und noch weit stärker in der Vorbereitung der Europawahlen europaspezifische Themen und Thesen nicht unter »ferner liefen« erscheinen, sondern in den Mittelpunkt rücken. Für ein viertes, ebenfalls zu wenig beachtetes Demokratiedefi­ zit gibt es ein hohes Maß an nationaler Eigenverantwortung. Die­ ses beginnt mit der Aufgabe demokratisch gewählter Regierungen, über die Kompetenzen der Europäischen Kommission, über deren Zusammensetzung und über wesentliche inhaltliche Beschlüsse zu entscheiden. Es setzt sich darin fort, daß viele Regierungen ihre Ent­ scheidungen für »mehr Europa« zu wenig an die aktuellen Interessen ihrer Bürger zurückbinden und daß sie dort, wo sie mit guten Gründen über diese Interessen hinausgehen, dies nicht vor der Bürgerschaft rechtfertigen müssen. Mit einem Wort: Das in Europa herrschende Defizit an Bürgerunion ist enorm. Erst wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, verdient das Europaparlament die für ein Parlament entscheidenden stärkeren Kontrollrechte über die Exekutive. Gemäß

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7.2 Justiz

den zwei Kammern eines föderalen Gemeinwesens muß sich aber auch dann die Bürgerkammer, das Straßburger Parlament, die Kon­ trolle der Kommission mit der anderen Kammer, der Staatenkammer bzw. dem Ministerrat, teilen. Dieser wiederum hat seine Kontrollauf­ gabe weit gründlicher und sorgfältiger als derzeit auszuüben. Erst unter dieser Bedingung entfällt eine wenig beachtete Erscheinung des Demokratiedefizits: Daß Regierungen Brüssel kritisieren und die Verantwortung für ungeliebte Entscheidungen dorthin abschieben, obwohl sie für den legislativen Rahmen der Entscheidungen selber mitverantwortlich sind. Zur Überwindung von allen vier bisher genannten Defiziten, für die Übermacht der zu wenig kontrollierten europäischen Exeku­ tive, der Europäischen Kommission, für die bislang zu geringen Kontrollrechte der legislatorischen Bürgerkammer, des Straßburger Parlaments, für deren zu geringen Rückhalt bei den nationalen Bür­ gern und nationalen Parteien und für die zu geringe Kontrolle der Exekutive durch die Staatenkammer, den Ministerrat, braucht es, so ein fünftes Defizit, eine gemeinsame und wirksame europäische Öffentlichkeit. Weil in deren Fehlen ein besonders starkes Defizit liegt, wird es im nächsten Kapitel eigens behandelt.

7.2 Justiz Streitigkeiten sind unvermeidbar, zumal in einem so komplexen, in mancher Hinsicht recht heterogenen Gebilde wie der Union. Als deutlicher Baustein in Europas Rechtsstaatlichkeit ist der Europäische Gerichtshof eingerichtet worden. Als ein Oberstes Gericht, Supreme Court, der Gemeinschaft verfügt er über beträchtliche Zuständig­ keiten. Sie beginnen mit der verfassungsrechtlichen Aufgabe, über Konflikte zwischen Mitgliedstaaten und Gemeinschaftsorganen zu entscheiden. Als Verwaltungsgericht befaßt er sich mit Streitigkeiten zwischen Einzelpersonen und Organen der EU. Hinzukommen etliche zivilrechtliche, zivilprozessuale und weitere Aufgaben. Und wie bei einem derartigen Gericht zu erwarten, droht dem Gerichtshof die Gefahr, in einer Flut von Einzelklagen zu »ertrinken«, wogegen man gerichtliche Kammern einrichtet. Im Rahmen dieser weitläufi­ gen Zuständigkeit ist ein weiteres, mittlerweile sechstes Demokra­ tiedefizit zu beklagen. Es betrifft die Europäische Justiz. Nach dem modernen Verständnis besteht eine wahre Demokratie aus weit mehr

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als der in Wahlen und Abstimmungen, eventuell auch Plebisziten zutage tretenden Volkssouveränität. Ebenso wichtig ist die Bindung an Rechtsstaatlichkeit, deren unverzichtbaren Kern die Grund- und Menschenrechte bilden. Folglich ist die Rede von Demokratie häufig die Abkürzung für das eigentlich Gemeinte, die rechts- und verfas­ sungsstaatliche, die konstitutionelle Demokratie. In den Anfängen der Demokratien konnte man im Rahmen der Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative das Gerichtswesen mit Montesquieu (L’esprit des lois, 1748, Buch IX, Kap. 6) als nicht vorhanden behaupten und mit dem Essay Nr. 78 der Federalist Papers der Vereinigten Staaten die Justiz für die schwächste Gewalt halten. Denn sie habe weder wie die Exekutive via Militär und Polizei Einfluß auf das Schwert noch wie das Parlament durch die Budgetentscheidungen Einfluß auf die Geldbörse. Im Verlauf der Geschichte wächst die Macht jedoch selbst dort enorm, wo sie nicht wie in den USA, Deutschland und anderen Ländern das Recht auf Normenkontrolle sich genommen hat oder von vornherein besitzt. Gemäß der Zweiteilung von Gesamt- bzw. Pflicht- und von Wahleuropa gibt es hier zwei höchste Gerichte. Für den gesamten Kontinent, also für Pflichteuropa und dessen rechtsmoralischen Kern, die Menschenrechte, ist die Europäische Menschenrechtskommission (EMRK) verantwortlich, während der Europäische Gerichtshof nur für die freiwillige Union zuständig ist. Dieser erfreut sich wie in allen funktionierenden konstitutionellen Demokratien der Unabhän­ gigkeit. (Länder wie Polen, auch Ungarn zeigen jedoch mit Eingriffen in ihre höchste Justiz, daß die Unabhängigkeit nicht überall und jederzeit gesichert ist.) Nun ist ein Gericht an das geltende Recht und Gesetz gebunden. Dieser Kern ist unverzichtbar, da ohne ihn innerhalb der demokratischen Gewaltenteilung die Judikative ihre Legitimität verliert. In dieser doch wesentlichen Hinsicht ist nun der Europäische Gerichtshof nicht über allen Zweifel erhaben. Damit ist nicht gemeint, was für jede Justiz zutrifft: Nicht nur wie zu erwarten sind viele Betroffene, sondern auch juristische Fachleute wie Rechts­ professoren bei manchen Entscheidungen anderer Meinung. Diese Art von Dissens ist weder überraschend noch vermeidbar. Gemeint ist etwas anderes, Grundsätzlicheres. Der Europäische Gerichtshof, mittlerweile zu einer Behörde mit etwa 2.000 Mitarbeitern gewachsen, versteht sich nicht, wie von einer Judikative geboten, als neutrale, nur an das Recht und Gesetz gebundene Instanz. Er maßt sich vielmehr ein Recht an, das nur der

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Politik, insbesondere deren Legislative zusteht. Er betrachtet sich als Motor der europäischen Einigung, legt infolgedessen die Kompeten­ zen der Europäischen Gemeinschaft nicht neutral aus, sondern, was einer Todsünde der Justiz gleichkommt, expansiv; in allen Fällen von Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Einzelstaaten und der Europä­ ischen Gemeinschaft, pflegt sie sich auf die Seite einer Partei, nämlich der Gemeinschaft, zu schlagen und zugunsten einer »Stärkung der Gemeinschaft« zu entscheiden. In nüchterner Juristensprache pflegt er einen »gelegentlich kühn vorwärtsschreitenden ›Judicial Activism‹« (Oppermann 32005, 114) oder, deutlicher, eine Herrschaft der Rich­ ter (»Gouvernement des Juges«). Gemeint ist das rechtlich fragwür­ dige Überschreiten der von der Gewaltenteilung festgelegten Rolle, womit der Europäische Gerichtshof sich selbst, ohne von der Europä­ ischen Legislative dazu autorisiert zu sein, zum Integrationsmotor ermächtigt hat. Dazu zählt etwa der vom Gericht eingeführte und seitdem fleißig praktizierte Grundsatz, das Gemeinschaftsrecht habe nicht bloß einen gewissen, sondern einen unbedingten Vorrang vor dem nationalen Recht der Einzelstaaten. Ebenfalls gehört dazu eine gemeinschaftsrechtliche Haftung der Mitgliedstaaten, nicht zuletzt ein Grundsatz, der in einer von ausdrücklichen Verträgen konstituier­ ten und fortgebildeten Union schwerlich zu legitimieren ist, nämlich das Prinzip »ungeschriebener«(!) Gemeinschaftsgrundrechte. Diese für ein Gericht geradezu ungeheuerliche Parteilichkeit, eine Entmachtung der Mitgliedstaaten ohne Gesetzesgrundlage, und zwar eine faktisch inappelable Entmachtung, ist schon bald doku­ mentiert (vgl. Bruha 1989) und gerügt worden (vgl. Kirchhof 1992, 878, später Assmann 2014, 123 ff.). Auch der Staatsrechtler und ehe­ malige Verfassungsrichter Dieter Grimm 2018 moniert »eine schlei­ chende Aushöhlung nationaler Kompetenzen« durch die »extensive Interpretation« der dem Europäischen Gerichtshof übertragenen Befugnisse. Dabei finde beispielsweise eine gravierende Umkehrung der Schutzstandards der Grundrechte statt. Denn bei der EuGH Inter­ pretation der europäischen Grundrechtecharta würden die »nationa­ len Grundrechte zurückgedrängt«, was die in der Union herrschende Neigung, die wirtschaftlichen gegenüber den personalen und kom­ munikativen Grundrechten zu bevorzugen, stärke, während im deut­ schen Verfassungsrecht die Gegenrichtung vorherrsche. Sie wird vom Europäischen Gerichtshof jedoch, man muß es so deutlich sagen, kräftig weiter praktiziert. Die üblichen Korrekturmechanismen wie etwa eine breite, fachlich kompetente Kritik scheinen hier zu versagen.

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Zum einzigen Mittel, das hier Abhilfe verschaffen könnte, wird es nie kommen, nämlich: daß die beiden parlamentarischen Kam­ mern, das Bürger- und das Staatenparlament, für den Europäischen Gerichtshof ein Gesetz verabschieden, das die parteiliche Auslegung verbietet. Vor allem vom Bürgerparlament ist das nicht zu erwarten, da das Straßburger Europaparlament auch tendentiell eher gemein­ schafts- als einzelstaatenfreundlich ist. Im übrigen dürfte die EuGHRichterschaft raffiniert genug sein, ein entsprechendes EuGH-Gesetz in ihrem Sinn zu interpretieren, folglich ihre expansive Auslegungs­ praxis trotz eines eventuell anders ausgerichteten Gesetzes fortzuset­ zen. Bislang folgt der europäische Einigungsprozeß dem Grundsatz, zunehmende Integration habe Vorrang vor der Demokratie, sie dürfe sogar unausgesprochen, aber faktisch zulasten der Demokratie statt­ finden. Nur wenn Demokratie und Recht wieder den Rang erhalten, der den Einzelstaaten selbstverständlich sein soll, den klaren Vorrang, gewinnt Europa seine basale demokratische Legitimation zurück. Nach der »Ewigkeitsklausel« der deutschen Verfassung, des Grundgesetzes, ist dieser Vorrang von Demokratie und gewissen Grundrechten kompromißlos gültig. Ein schlichter Bürger muß sich daher fragen, warum es seinem Land von Seiten des Parlaments und der Verfassungsgerichts erlaubt ist, einen erheblichen Teil von Demokratie auf dem Altar der europäischen Einigung zu opfern.

7.3 Finanzpolitische Rechtsverletzungen: Die Währungsunion Obwohl die bislang monierten Demokratiedefizite erheblich sind, ist noch ein weiteres, jetzt siebentes Demokratiedefizit zu beklagen: Bei allen Fragen, die von der Erfahrung und der einschlägigen Fachkom­ petenz mitabhängen, empfiehlt sich die entsprechende Lernfähigkeit und als deren Vorbedingung die Lernbereitschaft. Zutage tritt sie, wenn die Verantwortlichen nach einiger Zeit sowohl prüfen, ob der beabsichtigte Erfolg eingetroffen ist, als auch, ob etwaige negative Nebenfolgen sich in vertretbaren Grenzen halten. Gegebenenfalls müssen sie sich Veränderungen überlegen: bei geringem Mißerfolg Verbesserungen, bei größerem Mißerfolg oder zu starken negativen Nebenfolgen die Zurücknahme eines Beschlusses. Gute Politik bedarf jedenfalls der Korrekturfähigkeit.

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7.3 Finanzpolitische Rechtsverletzungen: Die Währungsunion

In der Europäischen Union werden Lernbereitschaft und Lernfä­ higkeit durch eine »ungeschriebene« Grundentscheidung erschwert, beinahe unmöglich gemacht: Veränderungen der Union werden fak­ tisch nur als Verdichtung der Einheit, und zwar einer zentralistisch homogenisierenden Einheit, vorgenommen. Die in dieser Studie ver­ tretene Vision einer Bürgerunion fordert demgegenüber die »Einheit in Vielfalt«. Ihretwegen muß man dort, wo sich Einheitsbeschlüsse als zu wenig hilfreich erweisen, die Beschlüsse zurücknehmen. Weil jedoch die genannte Grundentscheidung dies verbietet, sieht die Wirklichkeit nicht selten, vorsichtig gesagt, unschön aus. Ein deut­ liches Beispiel bietet die Währungsunion. Angefangen mit dem Vorteil für Touristen, beim Urlaub im Ausland ihr Zahlungsmittel nicht umtauschen zu müssen, bis zum Vorteil für Geschäfte, keine Währungsrisiken einzugehen, bietet eine gemeinsame Währung zahlreiche Vorteile. Allerdings hängt ihr effizientes Funktionieren von wichtigen finanz- und wirtschaftspolitischen Voraussetzungen ab. Andernfalls werden die Vorteile durch ein größeres Maß an Nachteilen per Saldo zunichte gemacht. Innerhalb der damals heftigen Debatten hatte Jürgen Habermas die Kritik an der Einführung einer gemeinsamen Währung, des Euro, mit dem rhetorisch glänzenden, weil politisch tödlichen Stichwort des »DM-Nationalismus« in Verruf gebracht. In Wahrheit stand hinter der DM eine von vielen Nachbarn bewunderte, von einigen freilich auch beneidete Leistung: Fleiß, ein findiges Unternehmertum und eine soziale Marktwirtschaft, die ausweislich des hohen Maßes an Sozialstaatlichkeit die Eigenschaft des Sozialen ernst nimmt, denn immerhin kommen dem Posten »Arbeit und Soziales« mehr als 40 Prozent des deutschen Bundeshaushaltes zugute. Erheblich mitverantwortlich war außer der wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Leistung eine mit hohem Sachverstand ausge­ stattete und glücklicherweise von der Politik unabhängige Institution, die Bundesbank. Obwohl die Deutschen als Touristen seit Jahren quer durch Europa Urlaub machten, also die Vorteile, ihr Geld nicht gegen fremde Währungen eintauschen zu müssen, kannten, waren sie in überwältigender Mehrheit, bis zu zwei Dritteln, gegen die Einführung einer Währungsunion. Zu den Gründen der Ablehnung könnte die Erfahrung mit den ständigen Abwertungen der Währung von so beliebten Urlaubsländern wie Frankreich, Italien und Spanien, also ein Gespür für das große finanzpolitische Risiko, sein. Trotzdem gab ein Land, zum Teil wegen seiner älteren Vergangenheit, den beschämen­

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den Jahren 1933–45, die jüngere Vergangenheit, die erfolgreichen Jahre ab 1945 bzw. 1949, zugunsten einer schön klingenden, aber wirtschaftspolitisch riskanten Währungsunion auf. Vom damaligen Präsidenten der Deutschen Bundesbank, Hans Tietmeyer, habe ich erfahren, daß sein US-Kollege, Alan Greenspan, der Präsident der Federal Reserve Bank of New York, der Fed, dem ausdrücklichen Vorbild der Deutschen Bundesbank, ihn einmal fragte: Warum braucht ihr überhaupt eine Währungsunion. Ihr habt doch schon eine: die unter Führung der Deutschen Bundesbank. In der Tat folgten ihren Beschlüssen nach wenigen Minuten, bestenfalls einigen Viertelstunden die Nationalbanken der anderen europäischen Länder wie der Niederlande, Belgien, Spanien und Skandinavien. Selbst das nichteuropäische Land Europas, die Schweiz, hatte keine politischen Vorbehalte. Nur Frankreich agierte jeweils stärker zeitver­ zögert und widerstrebend. Es wäre daher kein Ausrutscher, wenn eine regierungsnahe Zeitung zur Einführung des Euro geschrieben haben soll: Nachdem »wir« weder mit Versailles noch der deutschen Kapitulation 1945 Deutschland besiegten, gelingt es uns jetzt mit dem Euro. Drei Vorteile hatte die stillschweigend von der Deutschen Bundesbank getragene Währungsunion: Als erstes folgte diese Währungsunion dem Konstitutions- und Strukturprinzip Europa: statt einer homogenisierenden Einheit hier eine Einheit in Vielfalt. Den anderen Nationalbanken stand es nämlich frei, die deutschen Beschlüssen außer Acht zu lassen und ihrer eigenen Währungspoli­ tik zu folgen. Falls dies aber wegen der Übermacht der deutschen Währung schwer möglich gewesen wäre, hätten Francs, Lira und Pesotas tiefergehende wirtschafts-, finanz- und haushaltspolitische Reformen auf den Weg bringen müssen, die zumindest für Italien unwidersprochen immer noch ausbleiben. Ein Strukturproblem kommt hinzu: Nicht nur haben im Direkto­ rium der EZB die kleinsten Länder dasselbe Gewicht wie die großen, sondern vor allem auch die Nehmerländer dasselbe wie die Geberlän­ der. Darf man hier erwarten, daß die Vertreter, die nicht von einer unabhängigen Instanz, sondern von den Politikern der Nehmerländer gesandt werden, eine rein fachliche, von nationalen Interessen völlig unabhängige Bankpolitik betreiben? Daß also die Nehmerländer, die gegenüber den Geberländern doch die klare Mehrheit bilden, sich den guten Gründen der Geberländer beugen? Erneut sind Zweifel nicht als europafeindlich abzutun. Und daß dem größten Geberland,

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7.4 Politik statt Recht?

Deutschland, nicht einmal in den Direktorien ein ständiges Stimm­ recht eingeräumt wurde, nähert sich einem Skandal.

7.4 Politik statt Recht? In einer konstitutionellen Demokratie darf der Gesetzgeber jederzeit ein bestehendes Gesetz verändern, es entweder erneuern (novellie­ ren) oder ein vollständig neues Gesetz beschließen. Die Exekutive ist jedoch – ebenso wie die Justiz – an das jeweils geltende Gesetz gebun­ den. Die Europäische Gemeinschaft hingegen nimmt sich das Recht, geltendes Recht nicht nur zu dehnen, sondern es auch zu überdehnen, sogar deutlich zu brechen. Die Union darf sich hier einer Rechtsver­ gessenheit rühmen. Der Höhepunkt und zugleich Wendepunkt der europäischen Aufklärung, Immanuel Kant, pflegt in seiner Moralund Rechtsphilosophie eine auffallend nüchterne Sprache; überaus selten wird er pathetisch. In einer der wenigen Ausnahmen, in der Schrift Zum ewigen Frieden, zusätzlich in seiner Pädagogikvorlesung, erklärt er das Recht zum Augapfel Gottes. »Recht« bedeutet nun mindestens dieses: daß man Regeln, auf die man sich geeinigt hat, unparteiisch und wirksam durchsetzt. In Europa hingegen werden Regelverletzungen nicht bloß tole­ riert, sondern erstens »schamvoll« verschwiegen. Regelverletzungen erweisen sich zweitens als lohnenswert: Wurde etwa Griechenland für die betrügerische Beschönigung seiner Zahlen beim Eintritt in die Europäische Währungsunion zur Rechenschaft gezogen, etwa nach­ träglich aus der Währungsunion ausgeschlossen? Im Gegenteil wurde es mit enormen Hilfskrediten belohnt. Im Wirtschafts- und Finanz­ bereich finden weitere Rechtsverstöße statt, etwa gegen das Verbot, im Staatshaushalt mehr Schulden als 3 % des Bruttoinlandproduktes (BIP) aufzunehmen. Wie schon erwähnt, verbietet der Vertrag zur Währungsunion ausdrücklich eine Transferunion. Obwohl die armen Länder im Rah­ men des Europäischen Strukturfonds schon jetzt viele Milliarden Hilfsgelder erhalten, mehren sich die Stimmen, die noch weit mehr fordern. Hier droht die Gefahr, daß die Verstöße gegen das geltende Recht wie gewohnt schleichend und in Trippelschritten erfolgen, so daß zu keinem Zeitpunkt mit einem klaren Veto zu rechnen ist. Wie es in einschlägigen Ethik-Debatten heißt, bewegt man sich auf einer abschüssigen Bahn (»slippery slope«). Allerdings wird in Ethik-

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Debatten davor erfolgreich gewarnt, während in der Europa-Debatte einschlägige Warnungen zu verpuffen pflegen. Bekanntlich pflegt sich die Europäische Union von Krise zu Krise zu entwickeln. Dieses Vorgehen spottet nicht nur der Weisheit aller Regierenden Hohn. Es läßt auch erwarten, daß jede Krise, als Not interpretiert, das angeblich Außergewöhnliche zum Normalfall werden läßt. Nicht zuletzt dürften keine roten Linien definiert werden, da sie ja wegen angeblicher Not doch überschritten werden. Statt dessen sind die EU-Partner durch Erfahrung gewitzt genug. Sie hoffen nicht bloß, sondern wissen es mittlerweile: Das angeblich mächtige Deutschland wird fünf vor Zwölf schon »schwach werden«, also ein­ knicken. Die Entmachtung der Einzelstaaten geschieht, es sei wiederholt, insofern auf demokratische Weise, als sie nicht wie etwa die Expansion des Römischen Reiches oder des Reichs von Dschingis Khan gewalt­ sam von oben erzwungen, vielmehr von unten, den europäischen Demokratien, in freier Zustimmung vorgenommen worden ist. Dies trifft allerdings nur »im Prinzip« zu. Denn die Entmachtung folgt nicht immer einem Leitprinzip, dem sich die Europäische Union selber unterworfen hat, der Subsidiarität. Da in der Union noch immer die Bürgerschaften der eigentliche Souverän und ihre Einzelstaaten die Primärstaaten sind, bildet schon für die jeweiligen Entscheidungen zur Rechtsangleichung, noch mehr für den Anspruch auf eine eigen­ ständige Rechtspolitik das seinem Rechtsrang grundlegendere Prinzip der Subsidiarität das verbindliche Kriterium. Gemäß seinem begriff­ lichen Kern – das lateinische Wort »subsidium« bedeutet Beistand, Hilfe – gebietet die Subsidiarität große Zurückhaltung (vgl. Art. 5 (ex 3b) EGV), weshalb sie erst dann ein Eingreifen erlaubt, wenn die pri­ mären Hilfsinstanzen überfordert sind (s. Kap. 20). Infolgedessen dürfen weder die Rechtsangleichung noch die eigenständige Rechts­ politik als Selbstzweck betrieben werden.

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8 Europäische Öffentlichkeit?

Das Ziel, eine europäische politische Öffentlichkeit zu schaffen, dürfte unstrittig sein: Will Europa eine Bürgerunion sein, so müssen die Bür­ ger intensiv untereinander und mit ihren gewählten Vertretern disku­ tieren. Insbesondere bei Themen, deren Folgen tief in die Zukunft rei­ chen, also bei Themen von wahrhaft existentiellem Gewicht, müssen die Politiker verzichten, den Bürgern von oben herab Entscheidungen aufzuzwingen, statt sie von unten vorzubereiten. Mithin kommt es darauf an, zunächst die Ansichten der Bürger kennenzulernen, sodann die Bürger durch Argumente auch für jene Beschlüsse zu gewinnen, deren Wünschbarkeit nicht spontan einleuchtet, vielleicht sogar auf Vorbehalte und Ängste stoßen. Die Öffentlichkeit ist für eine rechtsstaatliche Demokratie unverzichtbar. Denn in ihr hat der Informations- und Meinungsaus­ tausch mit dem Ziel der Meinungsbildung weder geheim noch privat, vielmehr für die Allgemeinheit durchsichtig und nachvollziehbar stattzufinden. Alle wichtigen Tatbestände und Entscheidungsprozesse müssen für die Bürger transparent und mittelbar oder unmittelbar ihrer Beurteilung zugänglich sein. Die Meinungs- und die Pressefrei­ heit sind daher verfassungsrechtlich unaufgebbare Faktoren, sogar Konstitutionselemente des demokratischen Rechtsstaates.

8.1 Wo bleiben europäische Medien? Es ist hier nicht der Ort, über die Gefährdungen nachzudenken, die mit dem »Strukturwandel der Öffentlichkeit« einhergehen. Daß eine offene demokratische Kommunikation etwa durch eine fortschrei­ tende Kommerzialisierung und Boulevardisierung, zusätzlich eine Skandalisierung, daß sie durch Wellen der Erregung und Empörung, bedroht wird und daß neuere Phänomene wie Gratiszeitungen oder die übermächtig gewordenen sozialen Netze die Prozesse demokra­ tischer Legitimation aushöhlen, ist unstrittig. Eine demokratische Debatte über europäische Themen ist aber so schwach entwickelt,

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8 Europäische Öffentlichkeit?

daß hier jene Öffentlichkeit noch kaum existiert, bei der ein Struk­ turwandel zu beklagen wäre. Während Regierungskonferenzen der Mitgliedstaaten und noch mehr der Europäischen Kommission Ent­ scheidungen über die Zukunft der Europäischen Union treffen, fehlen häufig jene zeitlich vorlaufenden Debatten, die über die Gespräche weniger Experten und der entsprechenden Funktionseliten in Politik, Publizistik und Verbänden hinausgehen. Eine politische Öffentlich­ keit, die sich mit derjenigen, die in den Einzelstaaten stattfindet, auch nur annähernd vergleichen kann, sucht man auf europäischer Ebene vergebens. Im kleinen Rahmen der eigenen Erfahrung kann es jeder Bürger bestätigen: Selbst wer viel mit europäischen Berufs­ kollegen zusammenkommt, diskutiert selten über Europa. In einer europäischen Öffentlichkeit, die diesen Namen verdient, müßten nicht nur Parteien, Gewerkschaften, Arbeitsgeberverbände und deren Funktionäre zu Wort kommen, sondern all die Gruppierungen, Ver­ eine und Verbände, in denen sich ein Gutteil unseres Lebens abspielt. Hier sollte ein strenges Junktim bestehen. Nur so viel europäische Einheit darf es geben, wie sie in einer europäischen Öffentlichkeit und von einer europäischen Öffentlichkeit getragen wird. Daß diese Rückbindung mißachtet wird, inzwischen seit vielen Jahren, ist eine grobe Fahrlässigkeit, sogar ein Skandal. Deshalb darf die politische Integration erst dann und in dem Maß voranschreiten, wie sich zuvor eine europäische Öffentlichkeit und in ihr ein Konsens über weitere Integration gebildet hat. Solange diese Grundbedingung einer europäischen Bürgergesellschaft und Bürgerunion fehlt, ist auf ein unzureichendes Interesse an und eine mangelnde Fähigkeit zu einer europäischen Integration zu schließen. Eine Vorbedingung liegt auf der Hand und wird trotzdem nicht hinreichend beachtet: Wie soll Europa zusammenwachsen, wenn die Welt der Vermittlung, die Medien, die sich bislang vornehmlich im jeweiligen Land bewegen, sich nicht in hohem Maße den nahen und fernen Nachbarländern öffnen? Das Kriterium liegt jedenfalls nicht in frommen Worten, sondern im neutestamentlichen Wort: »An den Früchten werdet ihr sie erkennen.« Wollen sich die Medien nicht bloß floskelhaft zu Europa beken­ nen, so müssen sie angesichts der sprachlich bedingten, deshalb durch keine Politik aufzuhebenden Fragmentierung dem mit eigenen Rubriken europäischer Gestalt entgegenwirken. Die schon üblichen Korrespondentenberichte »Aus aller Welt« sollten unter dem Titel »Aus Europa« einen eigenen Teil erhalten. Nicht minder wichtig sind

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8.1 Wo bleiben europäische Medien?

eigene europaorientierte Rubriken. Bislang liest man in anspruchs­ vollen Zeitungen nur »Die Stimmen der anderen« und »Aus fremder Feder«, in denen durchaus Stimmen und Autoren aus anderen Län­ dern zu Wort kommen. Es fehlt aber an einer auf Europa bezogenen Selektion und Konzentration. Dafür braucht es eine Rubrik »Stimmen der Europäer«, eine weitere »Aus europäischer Feder« und eine dritte »Aus europäischen Medien«. Alle drei Rubriken müsste häufig, in erheblicher Länge und an prominenter Stelle zu lesen sein. Man könnte auch eine neue Kolumne »Unser europäischer Gast« einfüh­ ren. In all diesen Rubriken darf nicht bloß ein Loblied auf die Euro­ päische Union gesungen werden, an das sich bruchlos ein Plädoyer für mehr und mehr europäische Einheit anschließt. Die mancherorts auftretende, keinesfalls stets unqualifizierte Skepsis verdient stärkere Beachtung. Andernfalls darf man sich nicht wundern, daß europa­ freundliche Kreise (»Eliten«) sich ihrem demokratischen Souverän, dem Volk, entfremden. Wer die gesamte Bürgerschaft überzeugen will, muß dem Grundsatz einer fairen Debatte folgen, folglich sowohl Befürworter als auch Skeptiker, selbst Gegner zu Wort kommen lassen. Und in Leserbriefen nehme man die Reaktion des Publikums zur Kenntnis. Diese Vorschläge für die Tages-, Wochen- und Monatspresse eignen sich ebensogut für die Hundertschaften von Zeitschriften und Magazinen, die jeder bessere Kiosk führt. Ob Frauen- oder Modethemen, ob das Auto oder die Vielfalt von Hobbys – weil bei diesen Gegenständen die nationalen und sprachlichen Grenzen immer weniger zählen, könnte man problemlos Kolumnisten und Kommentatoren aus den verschiedenen Ländern Europas einladen, freilich in Wechselseitigkeit. Zunächst mag ein Land ein Beispiel abgeben, auf Dauer müssen aber alle Länder Europas folgen. Dieselbe Forderung richtet sich an das Radio und das Fernsehen. Warum herrschen hier zum einen die Innen- und Außenpolitik des eigenen Landes, zum anderen Neuigkeiten aus aller Welt vor, während Europa nur auftaucht, wenn es unter eine dieser zwei Rubri­ ken fällt? Darin deutet sich schon als weiteres Problem an, daß die Medien allein keine hinreichende europäische Öffentlichkeit zustandebrin­ gen. Für sie braucht es zusätzlich eine intensiv geführte Diskussion der Bürger über europäische Themen. Soweit es sie schon gibt, zeichnet sie sich jedoch durch eine zur Zeit fast unüberschreitbare

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8 Europäische Öffentlichkeit?

Barriere, eine Fragmentierung des politischen Diskurses, aus. Statt auf gemeinsamen europäischen Plattformen finden sie nämlich vor­ nehmlich, beinahe sogar ausschließlich gesondert in den Einzelstaa­ ten statt. Selbst hier gibt es Fachdebatten, etwa juristische und poli­ tikwissenschaftliche oder zu Eurofragen, die sich kaum gegenseitig zur Kenntnis nehmen, geschweige denn beeinflussen. Eine weitere Barriere bildet der Mangel an Vertrauen, nämlich der Zweifel, daß die einschlägigen Diskussionen auf die reale Europa-Politik tatsächlich Einfluß nehmen können. Denn es setzt wiederum voraus, die politisch führenden Kreise auf jedes paternalistische Besserwissen verzichten.

8.2 Vier Exklusionen Themen existentieller Tiefe tauchen für Europa, namentlich die Union, in Hülle und Fülle auf. Trotzdem herrscht ein Defizit an europäischer Öffentlichkeit vor. Die Beispiele liegen auf der Hand. Denn die Debatten etwa zur Energiewende, vorher zur Währungs­ union, später zur Finanzhilfe für Griechenland, wieder später zu den nicht abreißenden Flüchtlingsströmen, lassen sich nicht immer auf die komplexen Problemlagen, also nicht nur auf die rechtlichen, vielleicht noch die wirtschaftlichen und die finanziellen, sondern auch die sozialen und die kulturellen Herausforderungen ein. Und sofern es sie gibt, finden sie mit einer vierfachen Exklusion statt. Ob es beispielsweise um Wirtschaftswachstum, Pro-KopfExportquote und Patentanwendungen, um Hochschulzugänge und Arbeitslosigkeit geht – als erstes praktizieren die häufigen Länder­ vergleiche eine »Vertreibung Europäischer Staaten aus dem Europa­ diskurs«. Denn in der Regel fehlen die Nicht- EU-Länder, obwohl sie fraglos einen integralen Teil der gemeinsamen europäischen Geschichte bilden. Europa zeichnet sich durch einen Reichtum von Sprachen und Mentalitäten, nicht zuletzt durch deren Konkurrenz aus. Mit der Intel­ ligenz des listenreichen Odysseus führen die Länder einen wirtschaft­ lichen, steuerlichen und politischen, oft genug auch kulturellen Kampf um Macht und Vormacht – und um eine Solidarität, vorausgesetzt, sie wird von den anderen finanziert. Eine europäische Öffentlichkeit darf sich daher nicht auf bloße Gemeinsamkeiten konzentrieren, für die die politischen und kulturellen Unterschiede nur als Faktoren der Verunreinigung gelten, daher möglichst ausgemerzt werden. Überall

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8.2 Vier Exklusionen

dort, wo die Sprache kein kulturneutrales Transportmittel ist, darf Europa als Bürgerunion nicht nur auf Englisch debattieren. Wer politische Debatten mit allen Bürgern und für sie alle führen will, muß sich gegen diese zweite Exklusion, die der nichtanglophonen Kommunikation, wehren. Die seitens der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Elite beim Grenzübertritt gepflegte Geringschätzung der eigenen Sprache dürfte für die dritte, gravierendste Ausschlußbewegung mit­ verantwortlich sein, für den lange Zeit vorherrschenden, erst jüngst etwas ausgeweiteten »Eliten-Diskurs«, der demokratiefeindlich und im Widerspruch zum Gedanken der Bürgerrepublik die soziale und politische Exklusion großer Bevölkerungsteile aus dem Europa-Dis­ kurs in Kauf nimmt. Nach der für den Kontinent allein sachgerechten Devise »in pluribus unum« muß Europa, statt sich dem Zwang zur Hegemonisierung und Standardisierung zu unterwerfen, das erwähnte »Recht auf Differenz« pflegen. Dessen Kern besteht in der Bereitschaft, nicht zur exklusiven, wohl aber zur komplementären Wertschätzung der eigenen, »nationalen« Sprache und Kultur. Dafür sind zwei Strategien denkbar. Die eine Strategie belässt dem im Laufe von Generationen gewachsenen eigenen Staat den Vorrang. Sie folgt dem Grundsatz: »So viel eigene, ›nationale‹: soziale, ökonomische, politische und kulturelle Kultur wie möglich und nur so viel Europa wie nötig«. Die andere Strategie kehrt die Priorität um: »So viel Europa wie möglich und so viel ›nationale‹ Kultur wie nötig«. Solange der wahre Kern Europas, Frieden und Recht, gewahrt bleiben, verdient offensichtlich keine der beiden Strategien a priori den Vorrang. Entscheidend ist vielmehr die Instanz, von der alle Staatsgewalt ausgeht, die Bürgerschaft, das Volk. Wer es für »seine« Strategie gewinnen will, muß alle Bürger, nicht nur die des eigenen Landes überzeugen. Dabei kommt die vierte Exklusion ins Spiel: Wem Europa mehr als nur ein frommes Wort ist, muß sich die anderen Länder zumindest anhören: deren Interessen, deren Diagnosen und deren Lösungsvorschläge. Eine auf diese Weise deutlich breitere Erfahrung fördert, was jeden politischen Diskurs ziert, möglichst viel an Objektivität, Nüchternheit und Besonnenheit. Zusätzlich zur bis­ lang vorherrschenden binnenstaatlichen Debatte braucht es jedenfalls eine, die die Staats- und Sprachgrenzen überschreitet. Es braucht, wofür vor allem die Medien gefordert sind, einen die genannten vier Exklusionen überwindenden Bürgerdiskurs.

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8 Europäische Öffentlichkeit?

8.3 Mehrsprachigkeit Zum kulturellen Reichtum Europas gehört wie gesagt der Reichtum seiner Sprachen und Literaturen. Viele dieser Sprachen lassen sich zu kleineren und größeren Sprachfamilien zusammenfassen, aus denen nur wenige Sprachen wie das Baskische, das Finnische und das Ungarische herausfallen. Weil für den Menschen als dem zur Sprache fähigen, aber auch dazu berufenen Lebewesen die Sprache einen anthropologischen Rang hat, weil die sprachlich vermittelte Kommunikation für das Miteinander, einschließlich dem gewaltfreien Gegeneinander unver­ zichtbar ist, weil sie für die demokratischen Gewalten, namentlich dem zum Sprechen, parler, verpflichteten Parlament und nicht zuletzt für die Öffentlichkeit konstitutiv ist, hat jedes Gemeinwesen, folglich auch eine europäische Union die Aufgabe, sich mit allen Kräften für die Sprachen seiner Bürger einzusetzen. Wenn schon ein Kleinstaat wie die Schweiz sich eine Mehrspra­ chigkeit, zusätzlich das Nebeneinander von Dialekt und Hochspra­ che »leistet«, wenn eines der kleineren Länder der Europäischen Union, Belgien, seine Dreisprachigkeit, Flämisch und Französisch sowie Deutsch pflegt, sollte Wahleuropa hier eine seiner wichtigsten Aufgaben sehen, statt wie der belgische Sozialphilosoph Phillip Van Parijs die sprachliche Verarmung als gesellschaftliche Bereicherung zu preisen. Dagegen verfaßt der Berliner Romanist Jürgen Trabant »Ein Plädoyer für Europas Sprachen«: Globalesisch oder was? Bekanntlich herrschen in Europa bislang trotz vielfacher Gemeinsamkeiten etwa im Deutschen, Englischen, Französischen und Italienischen unterschiedliche Denk- und Bildungstraditionen der Philosophie, auch der Archäologie und Geschichte vor. Sobald es nur noch eine, dann englischsprachige Welt gibt, geht die in der Mehrsprachigkeit liegende Bereicherung verloren. Mit Blick auf die deutsche Philosophie und Literatur hat ein Franzose, Gérard de Nerval, Deutschland zu »unser aller Mutter« erklärt. Wer die Nachkriegsphilosophie in Frankreich kennt, die dortige Bedeutung von Hegel, Husserl und Heidegger, ferner die von Kant und Nietzsche, kann das schmeichelhafte Wort nachvollziehen. Eine »Sprachgerech­ tigkeit«, die Van Parijs in seinem Titel ankündigt, verstärkt jedenfalls die ohnehin schon herrschende Hegemonie des Englischen. Früher konnte man von »Gebildeten« erwarten, daß sie Franzö­ sisch sprachen, es zumindest verstanden. Heute lernt man sogar

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8.3 Mehrsprachigkeit

in neusprachlichen Gymnasien nicht selbstverständlich Französisch. Daß eine lingua franca hilfreich ist, steht außer Frage, der Vorteil einer gemeinsamen Arbeitssprache spricht aber nicht gegen Mehrsprachig­ keit. Da Fremdsprachenkenntnisse generell die Kommunikationsfä­ higkeit erhöhen, sollte Europa dafür sorgen, daß alle Heranwach­ senden mindestens eine Fremdsprache aktiv, eine zweite passiv zu beherrschen lernen. Fremdsprachenkenntnisse haben freilich nicht bloß eine utilitäre Bedeutung. In ihnen zeigt sich die für Europa unverzichtbare Haltung wechselseitiger Anerkennung: Wer andere Sprachen lernt, achtet die zugehörigen Kulturen als so weit gleichbe­ rechtigt, daß er sie einer sprachlich-kulturellen Kenntnis für wert hält. Denn im Unterschied zu mathematischen Formeln sind Spra­ chen keine kulturneutralen Medien. Bald ausdrücklich, bald unbe­ wußt »transportieren« sie Bilder und Metaphern, die Sinnliches auf Geistiges übertragen, ferner Assoziationen, Traditionen und Denkge­ wohnheiten, kurz: ein Ganzes, das in Jahrhunderten von zahllosen Sprechern und Autoren geschaffene Kulturgut. Daß das Englische die Verkehrssprache in aller Welt, vielerorts auch die vorherrschende Arbeitssprache geworden ist, hat den Vorteil, so gut wie überall auf dem Globus verstanden zu werden und im Fall des Englischen als Arbeitssprache eine auf Übersetzer verzichtende Kommunikation zu ermöglichen. Für Europa hat es allerdings auch einen erheblichen Nachteil. Die Nationalsprachen werden nicht etwa aufgehoben. Vielmehr bleiben sie die Sprachen, die in den Medien, in den Schulen, in der Verwaltung und der Justiz sowie im Alltag der Bür­ ger vorherrschen, zudem von den Essayisten und den Schriftstellern gepflegt werden. Es entsteht aber eine neuartige Zweisprachigkeit: Englisch herrscht für die »großen Dinge« vor, für die Wirtschaftsund die Finanzwelt ebenso wie für die Wissenschaften, zumindest für die Medizin und die Naturwissenschaften, die »Nationalsprache« hingegen für unwichtige Anlässe und den kleinen Alltag. Auf diese Weise wird Englisch zur Hohen Sprache, Deutsch, Französisch, Italie­ nisch, Polnisch, Spanisch usw. sinken zu Niederen Sprachen ab. Damit wird das Ansehen dieser »Volkssprachen« unvermeidbar beschädigt. Zudem findet in sprachlich-kultureller Hinsicht ein Auswandern statt: Ohne geographisch ihr Heimatland zu verlassen, wandert zumindest die ökonomisch und die naturwissenschaftlich-medizinische-techni­ sche Elite in die Anglophonie aus. Hinzu kommt in vielen Lebensbe­ reichen ein Verlust an sprachlicher Kreativität. Für neue Sachverhalte

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8 Europäische Öffentlichkeit?

überlegt man sich nicht mehr eigene Ausdrücke, die sich in das Kon­ tinuum der über Jahrhunderte gewachsenen Sprachwelt einpassen. In seinen »Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie« rühmt Hegel die »ciceronische Weise des Philosophierens«. Sie habe zwar »keinen spekulativen Wert gehabt«, helfe jedoch, »den Men­ schen in sich selbst« zurückzuführen, »das Fremde für ihn aufzuhe­ ben«, worin eine der überragenden Leistungen der Übersetzungen der Bibel in die Volkssprachen besteht. Denn erst »in der Muttersprache ausgesprochen ist etwas mein Eigentum«. Hegel dürfte mit seiner Behauptung Recht haben, »daß eine Wissenschaft nur dann einem Volke angehört, wenn es sie in seiner eigenen Sprache besitzt«. In den Worten des Latinisten Ernst A. Schmidt (2019, 86), auf seinen Forschungsbereich bezogen: »Nur eine Philologie, die im Zusammenhang mit der eigenen Kultur steht und von den eigenen geschichtlichen Erfahrungen her fragt, ist lebendig und sinnvoll, besser gerüstet gegen Technisierung und Nihilismus«. Natur-, ingenieurswissenschaftliche und medizinische Forschungsbeiträge mag man aus dem Grund ausnehmen, daß hier Nichtanglophones nicht mehr gelesen werde, also gewissermaßen inexistent ist. Für die Sozial-, noch mehr die Kulturwissenschaften bringt aber die Mißachtung der eigenen Landessprache einen erheb­ lichen demokratischen und kulturellen Schaden.

8.4 Mehr direkte Demokratie Eine Politik, die wegen des Gedankens der Bürgerunion den demokra­ tischen Souverän ernst nimmt, infolgedessen zwar Überzeugungsar­ beit leistet, ein paternalistisches Besserwissen aber aufgibt, braucht den Mut zu einer in manchen Ländern unbeliebten Maßnahme: Gegen den manchmal entmutigenden Funktionsverlust der demo­ kratischen Meinungs- und Willensbildung räume man der direkten Demokratie mehr Gewicht ein. Die Gegenargumente sind bekannt, sodaß man sich hier auf wichtige Dafür-Argumente konzentrieren darf. Wo die Betroffenen nicht bloß über Personen, sondern auch über Sachgeschäfte ent­ scheiden, wird die empirische Wirklichkeit der Volkssouveränität gesteigert: Ein weitgehend zur »Zuschauerdemokratie« absinkendes Gemeinwesen wandelt sich zur »Mitwirkungsdemokratie«. Dabei wächst das Maß an Identifikation, an »Wir-Gefühl«. Drittens wird

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8.5 Die kleine Öffentlichkeit

sowohl bei der Fachkompetenz der Bürger als auch ihrem Engagement ein höheres Niveau stimuliert, denn, zeigt die Schweiz, den Referen­ den und Initiativen gehen, sofern sie nicht zu häufig vorkommen, intensive Sachdebatten voraus. Ferner wird der als ausufernde Macht einer »politischen Klasse« empfundenen Entwicklung Einhalt geboten, nicht zuletzt wird die Erziehung zur politischen Mündigkeit über einige Schuljahre vor der Wahlmündigkeit hinaus zu dem andernorts längst üblichen lebens­ langem Lernen erweitert. Nur Politiker, die sich auf das Erringen und Erhalten von Macht fixieren, empfinden die Mitwirkung des Staats­ volkes bei Sachentscheidungen als Störung. Die Alternative besteht in einer Demokratie aus drei Säulen: aus einer repräsentativen, einer bürgergesellschaftlichen und einer direkten Demokratie. Infolgedes­ sen muß sie keineswegs jedes Thema einem Plebiszit unterwerfen, wohl aber jedes Thema von politisch existentieller Bedeutung. Zweifelsohne traf diese Bedingung auf die sogenannte Europäi­ sche Verfassung und für die Währungsunion zu, denn es handelte sich um zwei der wichtigsten Entscheidungen der Nachkriegspolitik. Trotzdem gewann man vor allem in Deutschland den Eindruck, daß die Politiker und die politischen Medien das Gesetz lieber »durchwin­ ken« wollten, statt ihre Bürger im Zuge einer Aufklärung erneut für Europa zu gewinnen. In der betreffenden Zeit, den Monaten April und Mai des Jahres 2009, widmeten sie sich lieber der Vergangenheit, der Erinnerung an den vor 60 Jahren beendeten Krieg, als über die nahe Zukunft, die etwaige Fortentwicklung der Europäischen Union, nachzudenken.

8.5 Die kleine Öffentlichkeit Zur Öffentlichkeit im weiten Verständnis zählt, was man die kleine Öffentlichkeit nennen mag. Gleichwohl ist sie für die Bürgerrepublik unverzichtbar und wird von Untertanen der Diktaturen schmerzlich vermißt: Orte freien Begegnens und Verweilens, öffentliche Plätze und Parks wie in München den Englischen Garten, wie Schloß Schön­ brunn in Wien, den Jardin du Luxembourg in Paris oder den Hyde Park in London. Zu diesen Beispielen für große Publikumsmagneten kommen noch Hunderte und Aberhunderte kommunaler Parks und Schloßgärten hinzu, nicht zuletzt Spielplätze, bei denen Eltern, und Biergärten, in denen Wildfremde miteinander ins Gespräch kommen.

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8 Europäische Öffentlichkeit?

Und nicht nur in Ländern wie der Schweiz mit ihrem hohen Maß von direkter Demokratie haben die Gespräche im Gasthaus für die Bürgergemeinschaft eine nicht zu unterschätzende Bedeutung.

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Zweiter Teil Der kulturelle Reichtum

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Wer Europa beleben will, kein Schrumpfeuropa, sondern den Konti­ nent in seiner geographischen Größe und kulturellen Fülle, darf sich weder auf die Nachkriegszeit und die Europäische Union beschränken noch die politischen Gesichtspunkte überbewerten, die im ersten Teil dieser Studie im Vordergrund standen. Den entsprechenden Gefahren trifft der zweite Teil mit seinem Perspektivenreichtum und einem längeren historischen Atem entgegen.

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9 Ein alternatives Haus der Europäischen Geschichte

Nach Ansicht von Europas Meisterdenkern, exemplarisch einem in Athen niedergelassenen Ausländer, Aristoteles, zeichnet sich der Mensch durch zweierlei aus: durch Sprach- und Vernunftbegabung und durch die Polis-Natur, die sich wiederum wesentlich in gemeinsa­ men Vorstellungen von Recht und Unrecht und von Nutzen und Scha­ den realisiert. Damit sind wesentliche Bereiche, die Europa verbinden, benannt: die Sprache mitsamt der Literatur, ferner das Recht und über die Stichworte Nutzen und Schaden sowohl die Wirtschaft als auch die Wissenschaft mitsamt Medizin und Technik, schließlich mit der Vernunftbegabung eine nichtutilitäre Wissenschaft, einschließlich der Philosophie und Aufklärung. In der reichen Wirklichkeit Europas kommen drei weitere Berei­ che hinzu: die Religion, die Musik und die Welt der Bilder. Demge­ genüber erscheint das von der Europäischen Union in Brüssel im Jahr 2017 eröffnete Haus der Europäischen Geschichte als wenig gelungen, man muß schon sagen: als beschämende, sogar skandalöse Verarmung. Das Ziel des Hauses kann zwar überzeugen: Um »zu einem besseren Verständnis der gemeinsamen Vergangenheit und der verschiedenen Erfahrungen der Menschen in Europa beizutragen«, soll man in diesem Haus »unterschiedliche und gemeinsame Stand­ punkte in der europäischen Geschichte entdecken«. Diesem hehren Ziel wird die Wirklichkeit des Hauses aber nicht annähernd gerecht. Als erstes zeigt sich das Haus dem Titelausdruck »Geschichte« zum Trotz als extrem geschichtsvergessen: Die vielen Jahrhunderte vor der Französischen Revolution finden wenig Raum, zusätzlich wird die Themenvielfalt stark verkürzt. Die griechische Phi­ losophie zum Beispiel ist nur mit einem Aristoteles-Porträt vertreten, während selbst Sokrates und Platon fehlen, und von den späteren Denkern tauchen weder Cicero noch Augustinus, weder Thomas von Aquin noch Wilhelm von Ockham oder Machiavelli auf; auch die vielen neuzeitlichen und zeitgenössischen Denker sucht man vergeb­ lich. Statt dessen findet sich nur das Porträt der Inspirationsquelle

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des Hauses der Europäischen Geschichte, des Feuilleton-Intellektuel­ len Slavoj Žižek. Nicht minder beklagenswert ist die Abwesenheit des Römischen Rechts und des Völkerrechts. Unter den Begriffen ist die Linke kräftig vertreten, während Freiheit und Liberalismus sowie deren Vordenker fehlen. Schließlich erhalten die Künste: Musik (einschließlich Chansons und Schlagern), Film und Fernsehen, Lite­ ratur und Malerei sowie Architektur keine Aufmerksamkeit. Ein möglicher Grund für dieses Verdrängen der Künste liegt auf der Hand: Nur wenige Wortführer der Europadebatten haben hier hinreichende Sachkenntnisse, oft fehlt sogar das Interesse. Dem Brüssler Haus der Europäischen Geschichte ist jedenfalls Geschichtsvergessenheit, Themenverengung und zusätzlich Partei­ lichkeit vorzuwerfen. Dagegen setzt sich der zweite Teil dieser Studie nachdrücklich ab. Er versucht, den wahren Reichtum europäischer Kultur zu vergegenwärtigen, und zwar der Kultur in dem weiten, alle genannten acht Lebensbereiche umfassenden Sinn. Zu diesem Zweck wird hier ein alternatives Haus der Europäischen Geschichte entwor­ fen, das in acht Hauptsälen an das weit größere Erbe Europas erinnert. Der Gang durch das alternative Haus geht bei den ersten vier Bereichen von einschlägigen Stichworten aus, die Europa den für seine Kultur wesentlichen Griechen verdankt. Er setzt bewußt nicht bei einem politischen Gesichtspunkt, sondern beim Logos, der Sprache und Literatur, an (Kapitel 10), kommt dann zu drei weiteren Gestalten des Logos, zu Recht und Gerechtigkeit (Kapitel 11), zu Wirtschaft und Finanzen (Kapitel 12) und zu Wissenschaft mit Medizin und Technik (Kapitel 13). Es folgen das komplexe Thema der Religion in einem zunehmend säkularen Europa (Kapitel 14), ferner die Musik (Kapitel 15) sowie die Architektur mit der bildenden Kunst und weiteren Aspekten des Visuellen (Kapitel 16). Den Abschluß bildet erneut der Logos, jetzt in der Gestalt der Aufklärung (Kapitel 17). Ohne Frage gibt es weitere wichtige Lebensbereiche. Obwohl hier keine Vollständigkeit beabsichtigt ist, seien zwei Bereiche zumin­ dest erwähnt, die unabhängig von den sozialen Zusammenhängen, in denen sie früher und in anderen Kulturen eine Rolle spielen, längst ein Eigenrecht entfaltet haben. Um beim Bild eines Museums zu bleiben, wandern sie ins Depot des Europäischen Geschichtshauses. Es ist zum einen der längst von allen militärischen und religiösen Zusammenhängen gelöste Sport mit mittlerweile Dutzenden eigener Sportarten (bei den Olympischen Spielen und beim sogenannten Military Reitwettkampf erinnern nur noch die Namen dort an den

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9 Ein alternatives Haus der Europäischen Geschichte

religiösen, hier an den militärischen Zusammenhang) und zum ande­ ren ein Tourismus, der nicht wie früher und andernorts im religiösen Kontext von Pilger- und Wallfahrten steht, sondern zum wichtigen Wirtschaftszweig eines weitläufigen Freizeitverhaltens gehört. Ein weiterer Gesichtspunkt ist für die Eigenart Europas wichtig: Trotz gegenläufiger Ansätze, aber auch nur Ansätze etwa im Römischen Reich und im Reich Karls des Großen gibt es nie ein den gesamten Kontinent umfassendes Reich. Statt dessen folgen in Europa viele Länder und häufig selbst Untergliederungen der Länder dem Muster des antiken Griechenland, später von Italien und von Deutschland: Es gibt viele politische Akteure, die untereinander in Konkurrenz stehen. Diese politische, auch kulturelle Fragmentierung wird häufig als bloße Schwäche ausgelegt, trägt aber in Wahrheit, das darf die Euro­ päische Union nicht verdrängen, jene produktive Herausforderung in sich, die eine der größten Stärken Europas hervorgebracht hat. Die Konkurrenz, beispielsweise die der Staaten, hat eine blühende Theater- und Musikkultur und im Wettstreit um gute Juristen, Theo­ logen, Lehrer und Mediziner eine schon spätmittelalterliche, dann frühneuzeitliche Bildungsexplosion zur Folge. Nicht minder wichtig ist die Kommunikationsrevolution, die sich an Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern anschließt. In Ländern mit größeren Freiheiten wie den Niederlanden, auch Deutschland und Italien verbreitet sich der Buchdruck rascher als in zentralistisch regierten Ländern wie England, Frankreich und Rußland. Dazu kommt sehr früh, besonders deutlich in den griechi­ schen Stadtrepubliken, jene institutionelle Mitsprache etwa in Form eines Parlaments, die im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation nicht nur zum Reichstag, sondern in vielen Territorien zu zusätzlichen Landesparlamenten führte. Schließlich wird das Themenfeld von Sicherheit, Verteidigung und Militär ausgespart, weil es eigene Untersuchungen erfordert. Damit das alternative Haus der Geschichte überschaubar bleibt, wird jeder der acht Säle mit einer dreifachen Bescheidenheit gestal­ tet. Zu Beginn steht jeweils ein persönlicher Ein- und Überblick zur Fülle an Gemeinsamkeit, aber auch an Verschiedenheit. Da die Europäische Einheit stets aus und in Vielfalt lebt, wird für jeden Themenbereich exemplarisch eine charakteristische Gemeinsamkeit in Differenz behandelt. Zugleich tritt eine Eigenart zutage, die ein Haus europäischer Geschichte nicht unterschlagen darf, nämlich daß jeder Themenbereich weit über Europa hinausstrahlt. Jeder der acht

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zweifellos großen Kulturbereiche zeichnet sich nämlich nicht bloß durch eine Gemeinsamkeit in Differenz aus, sondern auch durch eine nicht an Europa gebundene Eigenart, durch eine Globalisierungsfä­ higkeit, die in den verschiedenen Bereichen freilich unterschiedlich zutage tritt. Dieser generelle Befund hat für Europa eine besondere, ver­ mutlich sogar einzigartige Bedeutung. In den Worten des weltweit geschätzten Max Weber entstehen »gerade auf dem Boden des Okzi­ dents Kulturerscheinungen … von universeller Bedeutung und Gül­ tigkeit« (Gesammelte Aufsätze zur Religions- soziologie, »Vorbemer­ kung«). Dank seiner universalgeschichtlichen Bildung kennt Weber den Reichtum der außerwestlichen Kulturen und kann genau deshalb die wahre Originalität des bei ihm zum Okzident erweiterten Europas herausstellen: In den Jahrhunderten von den großen Entdeckungen bis zum Ersten Weltkrieg wird die europäische Kultur nicht allein in politischer, sondern auch in wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und kultureller Hinsicht zur globalen Vormacht, die mit ihren Sprachen, mit der rationalen Verwaltung und einem überlegenen Kriegswesen, ferner mit Medizin, Technik, Wissenschaften und Künsten der Welt seinen Stempel aufgedrückt hat. Nicht minder wichtig ist aber der Umstand, daß europäische Einsichten, Errungenschaften und weitere Leistungen ein übereuropäisches Potential bergen. Zweite Bescheidenheit: Nach den Hinweisen zu Europas Gemeinsamkeit in Differenz wird in jeder der acht Hauptsäle in der Regel ein einziges Beispiel näher skizziert. Dieses hat, selbst wenn es aus dem Umkreis der Kompetenz des Autors, der Philosophie, stammt, einen exemplarischen Charakter. Bekanntlich bildet jedes dieser Beispiele einen beinahe eigenen Kosmos von Fachdebatten, in die aber, so die dritte Bescheidenheit, nur am Rande einzutreten ist. Denn andernfalls ginge der Blick auf das Entscheidende verloren, auf das in aller Verschiedenheit doch verbindende Gemeinsame.

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10 Sprache, Literatur und Philosophie

zôon logon echon: sprach- und vernunftbegabtes Tier Aristoteles, Politik, Buch I, Kap. 2

Der für Europa wesentliche Logos beginnt mit der gemeinsamen Kultursprache, dem Griechischen, wird später teilweise vom Latein abgelöst und zerfällt wieder später in eine Fülle von Logoi, von Volks­ sprachen und deren Literaturen (Abschnitt 10.1). Ob im Singular oder Plural – der europäische Logos bringt nicht nur Glanzstücke einer mittlerweile in aller Welt gelesenen oder gespielten Literatur, son­ dern auch deren philosophische Reflexion hervor (Abschnitt 10.2). Diese zeigt sich in drei exemplarischen Modellen, in Platons von Wahrheit und Moral geprägten Dichterkritik, in Aristoteles’ Theorie, die das Eigentümliche der Dichtung, eine affektive Rationalität und eine allgemeinmenschliche Mimesis, würdigt und schließlich Kants Philosophie einer ästhetischen Autonomie (Abschnitt 10.3).

10.1 Vielheit und Einheit Am Anfang der europäischen Literatur stehen zwei Glanzstücke der Erzählkunst, die ihren Vorbildcharakter nicht verloren haben, Homers Epen, die Ilias und die Odyssee. Weiterhin verfassen zu Beginn der europäischen Theaterkunst Aischylos, Sophokles und Euripides Tragödien, die bis heute die einschlägigen Spielpläne schmücken. In derselben Sprache, dem Alt-Griechischen, sind auch die Komödien, ferner die Schriften der Historiker und Philosophen, der Mathemati­ ker, Naturforscher und Medizin verfasst, so daß beide zum gemein­ samen Fundament Europas gehören, sowohl die Sprache der antiken Griechen als auch ihre thematisch und methodisch weitverzweigte Literatur. Auf letztere trifft eine Einschätzung zu, die Hegel in den erwähnten »Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie« exem­ plarisch für Platon vornimmt. Die griechische Literatur, eines »der schönsten Geschenke« des Altertums, hat »von ihrer Entstehung

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10 Sprache, Literatur und Philosophie

an auf alle folgenden Zeiten für die Bildung und Entwicklung des [europäischen] Geistes den bedeutendsten Einfluß gehabt«. Dem ingeniösen, sowohl erfindungsreichen als auch scharfsin­ nigen Geist der Griechen verdankt Europa ein auf Sprache und Literatur bezogenes Quartett von Leistungen: In Homer findet es das Vorbild der Erzählkunst, in der Tragödie ein Muster der Theaterkunst, im Sophisten Gorgias und den zehn attischen Rednern vollendete Beispiele der Redekunst und bei Platon, vielleicht noch mehr bei Aristoteles, nämlich in dessen Poetik und Rhetorik, eine die Literatur, hier einschließlich der Redekunst, kritisch begleitende philosophische Reflexion. In weiten Teilen bietet Aristoteles’ Poetik sogar ein bis heute überzeugendes »Werkzeug« zum literarischen Schreiben. Selbst nach dem Untergang der griechischen Stadtrepubliken bleiben deren Sprache und literarische Glanzleistungen noch über viele Generationen das gemeinsame Band der gebildeten Welt Euro­ pas. Nach und nach drängt sich zwar, zumindest im westlichen Teil ihres Reiches, die Sprache der Römer in den Vordergrund und bleibt dann bis weit ins 17., sogar 18. Jahrhundert, also nicht weniger als etwa eineinhalb Jahrtausende, das gemeinsame Kommunikationsmittel der Gebildeten. Aber auch in dieser Zeit und bis heute behält die Literatur der Griechen ein überragendes Gewicht. Bald findet eine tiefgreifende Spaltung statt. Während das Grie­ chische, sieht man von regionalen Dialekten ab, nicht nur die Sprache der politischen und kulturellen Führungselite, sondern wie auch spä­ ter das Lateinische die gemeinsame Sprache der unterschiedlichsten Schichten ist, zerfällt wieder später diese Einheit. Die ins Römische Imperium mehr oder weniger gewaltsam integrierten Stämme oder Völker Europas bringen ihre eigene Sprache mit. Sie bleiben aber nicht eigenständig, sondern verschmelzen mit dem Lateinischen, woraus in den römischen Provinzen nach und nach die romanischen Sprachen entstehen: das Italienische, Spanische, Französische usf. Die Sprache der Gelehrten, lange Zeit auch die der hohen Literatur bleibt zwar das Latein, das Volk kommuniziert aber in Sprachen, die von Verächtern gelegentlich als Vulgärlatein diskreditiert werden. Eine Europäische Union, als Gemeinschaft der Bürger etabliert, schließt sich dieser Her­ abwürdigung nicht an, sie heißt vielmehr die bürgernahen Sprachen, die Volkssprachen, willkommen. Ohne Zweifel gibt es Übergangsphänomene. Obwohl der über­ ragende Kirchenlehrer Thomas von Aquin in Latein schreibt, hält er seine Fastenpredigten in der Klosterkirche Neapels, in S. Domenico

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10.1 Vielheit und Einheit

Maggiore, in der Volkssprache. Und der italienische Schriftsteller Dante Alighieri benutzt in etlichen seiner Werke noch die Gelehr­ tensprache Latein, sein monumentales Hauptwerk, die Göttliche Komödie, verfaßt er aber in der Sprache seiner Heimatstadt, der Volkssprache von Florenz. Im Laufe der Zeit, in der Regel von Jahrhunderten, haben sich die europäischen Volkssprachen zu Weltsprachen entwickelt. Darun­ ter ist kein wirklichkeitsfremder Sprachchauvinismus zu verstehen, demzufolge alle Welt etwa Dänisch, Deutsch oder Slowenisch spricht. Vielmehr werden die europäischen Sprachen fähig, alle Gegenstände in der Welt zu erörtern. Neuerdings setzen freilich manche Spra­ chen diese umfassende Weltfähigkeit aufs Spiel, da sie für etliche neue Phänomene die Ausdrücke anderer Sprachen, namentlich des Englischen/Amerikanischen übernehmen und dabei sind, sich deren Grammatik anzuverwandeln. Trotz der zahlreichen, untereinander verschiedenen Volksspra­ chen bleiben zahlreiche Gemeinsamkeiten bestehen. Sie beginnen mit literarischen Vorbildern, den griechischen und römischen Epikern, Lyrikern und Theaterschriftstellern. Später setzen neuere Autoren Maßstäbe, die von Schriftstellern der verschiedenen »nationalen« Sprachräume anerkannt und übernommen werden. Dazu gehört ohne Zweifel das Triumvirat des Renaissance-Italien, aber Bocaccio, Dante und Petrarca, weiterhin der Spanier Cervantes, der überragende Dra­ maautor Englands, Shakespeare, später und in anderer Weise etwa Goethe und Kafka, weiterhin skandinavische Dramen- und russische Romanautoren. Ferner gibt es gemeinsame europäische Figuren wie Ödipus, Parzival, Doktor Faustus und Don Juan sowie trotz einer Jahrhunderte langen Dominanz der Männer bemerkenswert viele Frauengestalten: Elektra, Iphigenie, Antigone und Medea. Unter dem Eindruck der katastrophalen Auswirkung nationaler Überheblichkeit, sichtbar in den beiden Weltkriegen, veröffentlicht ein Romanist und Komparatist, der Bonner Gelehrte Ernst Robert Curtius, im Jahr 1948, also bald nach der Katastrophe des Zwei­ ten Weltkrieges, ein monumentales Werk Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter. Gegen die Fehleinschätzung, die europäische Literatur sei nur in nationalsprachlicher Vereinzelung existent, weist der Autor tiefliegende Gemeinsamkeiten nach, die sich aus der in der Spätantike formierenden lateinischen literarischen Kultur ergeben. Curtius legt großen Wert auf die antike Rhetorik, deren Repertoire von geläufigen Ansichten und Argumenten, den sogenannten Topoi,

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10 Sprache, Literatur und Philosophie

einen Motivschatz und ein literarisches Vorratslager schafft, auf die europäische Schriftsteller immer wiederzurückgreifen und damit trotz aller Verschiedenheit eine Einheit europäischer Literatur zustande­ bringen. In dem, was Curtius herausarbeitet, ist ihm weithin zuzustim­ men. Sein Anliegen, die literarische Einheit Europas mindestens bis zur Schwelle des 19. Jahrhunderts zu betonen, läßt sich aber noch erheblich erweitern. Zur Einheit, allerdings in Vielfalt, gehört wie erwähnt die vorlateinische literarische Kultur, die der Griechen. Ferner ist an eine Fülle von literarischen Innovationen zu erinnern, die wie etwa der provenzalische Minnegesang zwar an einem geogra­ phisch benennbaren literarischen Ort stattfinden, von dort aber auf weite Teile Europas einwirken und eine gehaltvolle Gemeinsamkeit stiften (vgl. Kablitz 2016). Ein weiteres Phänomen kommt hinzu. Die großen Schriftsteller der gemeinsamen Sprach- und Politikräume, der sogenannten Natio­ nalliteraturen, behandeln fraglos Themen, die man ihrer Nationalkul­ tur zuordnen kann. Mit ihren allgemeinmenschlichen Charakteren und Konstellationen weisen sie aber darüber hinaus. Als Beispiele seien der englische Dichter Geoffrey Chaucer mit seinem Meister­ werk, den Canterbury Tales (Canterbury Geschichten) angeführt, des­ gleichen Cervantes und Tolstoi. Allerdings gibt es große Gegenbeispiele. Shakespeare siedelt seine berühmteste Tragödie, Hamlet, in Dänemark an. Calderóns Drama Das Leben ein Traum spielt in Polen und Rußland, Lope de Vegas Ehebruchsoper El castigo sin venganza in Italien. Und von Schiller, läßt sich ergänzen, spielt ein großer Teil der Dramen, wie schon deren Titel anzeigt, im Ausland: Die Verschwörung des Fiesko zu Genua; Don Carlos, Infant von Spanien; Die Jungfrau von Orléans und Die Braut von Messina. Auch Wilhelm Tell spielt bekanntlich nicht in Deutschland, sondern in der Schweiz. Nicht zuletzt überträgt Fried­ rich Schiller auf Wunsch von Goethe das Meisterwerk des Franzosen Jean Baptiste Racine, Phèdre, ins Deutsche und benutzt dabei statt des in der französischen Klassik vorherrschenden Alexandriners den freieren, leidenschaftlicheren Blankvers. Weitere, nicht minder deutliche Beispiele belegen europäische Gemeinsamkeiten beim Überschreiten nationaler Grenzen, also ein Geflecht von Homogenität und Differenz: Die letzte Novelle in Bocaccios Novellensammlung Decameron, die in ihrer Geschichte verstörende Giselde-Novelle, wird nicht bloß in viele europäische

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10.1 Vielheit und Einheit

Sprachen übersetzt, sondern auch in kaum weniger nationalsprachli­ chen Erzählungen und Bühnenwerken variantenreich adaptiert. Im Rahmen seiner Shakespeare-Begeisterung setzt der Mitbe­ gründer des romantischen Kunstverständnisses, August Wilhelm Schlegel, fort, womit Christoph Martin Wieland begonnen hatte: kon­ geniale Übersetzungen zahlreicher Shakespeare-Dramen. Darüber hinaus übersetzt er spanische, portugiesische und italienische Dichter. Zusätzlich trägt er maßgeblich zur Verbreitung der in Deutschland entwickelten Grundideen der Romantik in die europäischen Länder und den USA bei. Ähnliches läßt sich von Friedrich Nietzsche sagen, der außer der griechischen und lateinischen Antike die französische Moralistik rezipiert, seinerseits später französische Schriftsteller wie André Gide, André Malraux und Albert Camus inspiriert, ferner italienische Autoren und die beiden irischen Schriftsteller Bernhard Shaw und James Joyce. Joyces letztes Werk, Finnegans Wake, speist sich sprachlich aus nahezu allen europäischen Sprachen, was den Roman zu einem wahrhaft europäischen Projekt, man könnte auch sagen: zu einem europäischen Turm von Babylon macht, seine Lesbar­ keit nämlich nicht erleichtert. Diese wenigen Beispiele wechselseitiger Einflüsse deuten ein Gewebe von Wirkungen und Gegenwirkungen an, in dem es immer wieder gewisse Hauptautoren, auch federführende Kulturräume gibt, daß nämlich eine Person oder ein Kulturzentrum sternförmig auf die Nachbarkulturen ausstrahlt, um jedoch später von anderen Hauptau­ toren und Kulturräumen abgelöst zu werden. Diesem sich in Jahrhunderten bildenden Vorgang wechselseiti­ ger Beeinflussung und gegenseitiger Bereicherung liegt die für Europa charakteristische Neugier auf andere und anderes zugrunde, sowohl verbunden mit einem kreativen Respekt vor dem Fremden als auch dem Willen, fremde Innovationen produktiv weiterzuführen. Wie in der europäischen Politik so geht es aber auch in der Lite­ ratur nicht nur friedlich her. Auch hier herrschen Neid und Eifersucht, dabei ein gelegentlich ins Maßlose gesteigertes Bedürfnis nicht bloß nach Anerkennung, sondern sogar nach einem die Jahrhunderte über­ dauernden Ruhm. Infolgedessen herrschen Konkurrenz und Streit, um mit den eigenen literarischen Werken »in die Geschichte einzu­ gehen«, zugleich die Konkurrenten beiseite zu drängen, mindestens zu übertrumpfen. Diese Seite Europas darf man jedenfalls nicht verdrängen oder beschönigen. Trotz der skizzierten Gemeinsamkeiten, die vielerorts

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10 Sprache, Literatur und Philosophie

den nationalen Kulturen zugrundeliegen, enthalten diese Kulturen auch einen nationalistischen Sprengstoff. Ferner trifft dieses zu: Obwohl die Gesellschaften Europas sich mehr und mehr säkularisieren, findet sich eine Gemeinsamkeit in den heiligen Schriften der Juden und Christen. Das alttestamentarische Schicksal Hiobs beispielsweise motiviert zu kreativen Neudichtun­ gen. Vor allem haben das Alte und das Neue Testament kongeniale Übersetzer gefunden, die die jeweiligen Volkssprachen in einer heute fast ungeahnten Breite und Tiefe bereichert haben. Der Gedanke eines literarischen Kanons mag umstritten sein; insbesondere die Frage, wer am Rande noch dazugehört, mag strittig bleiben. Auch ändern sich im Laufe der Zeit Vorlieben und Wertschätzungen. Unkontrovers dürfte jedoch ein Kern sein, sichtbar an den Übersetzungen in andere Sprachen. In dieser Hinsicht steht die Bibel vermutlich an der Spitze.

10.2 Philosophie der Dichtung Im Motto dieses Kapitels, in Aristoteles’ Bestimmung des Menschen als zôon logon echon, pflegt man den zweiten Bestandteil, die anthro­ pologische Besonderheit des Logos, als »Sprach- und Vernunftbega­ bung« zu übersetzen. Diese Übersetzung ist nicht falsch, berücksich­ tigt aber nur das anthropologische Verständnis. Logos hat aber zwei weitere Grundbedeutungen. Als Verbalsubstantiv zu legein: sagen, sprechen, bezeichnet es einerseits dessen Grundeinheit, den Satz, andererseits Verknüpfungen von Sätzen, mithin die Rede, also bei­ spielsweise einen Prosatext oder eine Fabel. Als Grundform der Artikulation der Sprach- und Vernunftbega­ bung kann allerdings auch diese Bedeutung als anthropologische Besonderheit gelten: Der Mensch ist das Wesen, das seine Sprachund Vernunftbegabung in Reden und Geschichten realisiert. Mit Geschichten erschließt sich der Mensch den Sinn der Welt. Eine dritte Bedeutung des Logos hingegen kann schwerlich als universale Besonderheit des Menschen gelten. Wenn es auch anderen Kulturen nicht fremd ist, zeichnet es doch in einem besonderen Maß die Griechen aus: daß nach ihrem Verständnis der Logos als Begriff, Grund und Argument die bloße Erfahrung übersteigt und als Definition, Beweisführung, Rechtfertigung und im anspruchsvollen Fall als Theorie das in der Logos-Begabung enthaltene Sprach- und Vernunftpotential zu seiner Vollendung bringt. Fraglos gibt es auch

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10.3 Von Platon über Aristoteles zu Kant

in anderen Kulturen, etwa in China, Überlegungen zur Theorie von Literatur und Dichtung. Deren Philosophie dürfte aber eine Eigenart Europas sein. Selbst wenn sie keine Besonderheit ist, bildet sie jedenfalls einen integralen Bestandteil europäischer Kultur. Aufgrund dieser Eigentümlichkeit haben die Griechen nicht nur große literarische Kunstwerke hervorgebracht, sondern auch, beginnend mit den großen Wortführern Platon und Aristoteles, das Wesen von Literatur und Dichtung zu bestimmen gesucht. Eine weitere Gemeinsamkeit Europas liegt darin, daß es eine Philosophie der Literatur und Dichtung hervorbringt, die über die Grenze der Sprachräume, in denen sie formuliert wurden, in so gut wie alle europäische Literaturen und Literaturtheorien ausstrahlt. Da diese Eigentümlichkeit noch weniger präsent ist als die skizzierte Einheit und Vielfalt der Sprachen und Literaturen, sei sie hier als bewußter Kontrapunkt zu einer Verkürzung der Europa-Debatten näher darge­ stellt. Dazu gehört eine Beobachtung, die sich zwar von selbst versteht, an die aber zu erinnern ist: daß Europas Dichtung erheblich älter als ihre Philosophie ist, denn diese ist ihrem Wesen nach Reflexion, also Rückwendung auf eine ihr vorgegebene Wirklichkeit. Trotz ihres Reflexionscharakters muß sie aber nicht das Hegel-Wort bekräftigen, die vielzitierte These aus der Vorrede der Grundlinien der Philosophie des Rechts: »Die Eule der Minerva«, also der Wappenvogel der Göttin der Weisheit und Philosophie, beginne ihren Flug erst mit der einbre­ chenden Dämmerung. Die Dichtung, an die sich die philosophische Reflexion wendet, lebt nach deren ersten Philosophien über viele Jahrhunderte, sich immer wieder erneuernd und verjüngend, bis heute munter fort.

10.3 Von Platon über Aristoteles zu Kant Man könnte erwarten, daß die von den ersten Philosophen vertrete­ nen Theorien nur für frühere Texte Anwendung finden, etwa für kürzere Heldenepen, ferner für Chorgesänge, Kultlieder, Arbeitslie­ der und Einzelgesänge. Die älteste große Dichtung Europas bilden aber die genannten Epen Homers, die Ilias und die Odyssee. Genau darauf bezieht sich das erste Modell der europäischen Dichtungsphi­ losophie, entwickelt vom ersten Lehrer des Abendlands, zugleich ersten Kirchenvater der Philosophie, von Platon.

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10 Sprache, Literatur und Philosophie

Platon verpflichtet die Dichtung auf Wahrheit und auf Moral. Aristoteles hingegen erkennt ihren Eigenwert an, eine affektive Rationalität und eine allgemeinmenschliche Mimesis. Aber erst Jahr­ hunderte später, bei Kant, erhält die Welt des Ästhetischen ihre volle Autonomie. Blickt man auf die drei Modelle europäischer Literaturphiloso­ phie zurück, so könnte man die Entwicklung, den Weg von Platon über Aristoteles zu Kant, als einen Emanzipationsprozeß verstehen. Denn zunächst, bei Platon, unterwirft die Philosophie die Dichtung dem für Wissenschaft und Philosophie zwar eigentümlichen, der Dichtung als solcher aber fremden Kriterium, der Wahrheit. Schon bei Aristoteles wird jedoch mit der für die Dichtung typischen Tätigkeit, der Poiesis im Sinne eines (handwerklichen) Hervorbringens und Machens im Unterschied zu den Tätigkeiten des Erkennens und der moralisch-politischen Praxis, ein hohes Maß an Eigengesetzlichkeit, an Autonomie, erreicht. Infolgedessen können Grundgedanken sei­ ner Dichtungsphilosophie, namentlich die Mimesis und eine affek­ tive, im Prozeß einer éducation sentimentale auszubildende Rationali­ tät aktuell bis heute bleiben. Während für Aristoteles, auch für Platon, die Dichtung als Poiesis von Handwerkskunst nicht grundverschieden ist, erhebt Kant sie weit darüber hinaus. Ihren großen Vertretern räumt er nämlich den Rang von Ausnahmemenschen, von Genies, ein. Noch wichtiger ist, daß er mit dem Begriff des Schönen als interesselosem Wohlgefallen das Ästhetische sowohl von Wahrheits- als auch von Moralansprüchen freisetzt und zu einem selbständigen Bereich erklärt, der ausschließ­ lich internen Gesetzen folgt. Nach diesen Überlegungen läßt sich bestenfalls eine sehr vorläu­ fige Bilanz zur europäischen Sprache, Literatur und Philosophie der Dichtung ziehen. Drei Thesen drängen sich dabei auf, von denen die Titelfrage dieses Abschnitts nur auf die dritte These anspielt: Wer durch Europa reist, bemerkt augenfällig, daß in den ver­ schiedenen Staaten keine einzige Sprache, vielmehr eine überreiche Fülle vorherrscht. Andererseits gehören beinahe alle europäischen Sprachen zur selben Sprachfamilie, dem Indogermanischen bzw. Indoeuropäischen, was sich in einer starken Übereinstimmung von Wortschatz und Formbildung niederschlägt. Eine weitere Gemein­ samkeit kommt hinzu: Die verschiedenen europäischen Sprachen haben in ihre Fachsprachen teils aus dem Griechischen, teils aus dem Lateinischen stammende Fremdwörtern aufgenommen.

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10.3 Von Platon über Aristoteles zu Kant

Auf die europäische Literatur trifft ein ähnlicher Befund zu. Hier findet sich ein weltweit bewunderter, in seiner Fülle vielleicht sogar einzigartiger Reichtum von Eigenarten, zugleich aber auch eine enge Verflechtung. Diese verdankt sich erneut in hohem Maße zwei gemeinsamen Bezugskulturen. Die epische und dramatische Literatur sowie die Lyrik des Griechischen und des Lateinischen haben sowohl mit ihren Stoffen und Motiven als auch mit ihrem Form- und Stilvollen bis heute den literarischen Geist Europas tief geprägt. Schließlich läßt sich, jetzt zur Philosophie der Literatur bzw. Dichtung, die Titelfrage dieses Abschnitts bejahen. Denn bei Platon wird die Dichtung noch von außen, von den Aspekten des Wahren und moralisch Guten beurteilt. Für Aristoteles hingegen zählen allein dichtungsinterne Kriterien, die Mimesis und eine affektive Rationalität, zusätzlich soll Dichtung einen allgemeinmenschlichen Wert haben. Aber erst Kant gelingt mit dem Begriff des Schönen qua inter­ esselosem Wohlgefallen etwas, was man die vollendete Emanzipa­ tion nennen kann. Denn der Bereich des Ästhetischen ist damit so eigenständig wie der des Erkennens und der Moral geworden. Dazu gehört, daß durch den Gedanken »Symbol der Sittlichkeit« das Ästhetische wie bei Kant alles, selbst die theoretische Vernunft, einerseits autonom, nämlich vollständig eigenen Gesetzen, also Bin­ nen-, nicht Außennormen, unterworfen wird. Andererseits wird auf das verwiesen, was die Würde des Menschen ausmacht, die Moral. Ihretwegen, könnte man glauben, stimme Kant stillschweigend denn doch Platon zu, der für die Dichtung die Moral ins Spiel bringt. Bei Platon erscheint sie aber als ein der Dichtung von außen auferlegter Maßstab, bei Kant hingegen ist sie dichtungsinterner Natur, weshalb derselbe Dichter, Homer, bei Platon als zutiefst kritikwürdig, bei Kant hingegen als dichterisches Vorbild gelten kann. Sowohl mit seiner ästhetischen Wertschätzung Homers, die übrigens Aristoteles teilt, als auch mit der Bezugnahme auf die Würde des Menschen dürfte Kant das auf den Punkt gebracht haben, was seit dem die große Literatur Europas, vermutlich auch die anderer Kulturen, auszeichnet: Obwohl sich die Dichtung keinem externen Moralanspruch unterwirft, hält sie sich die Möglichkeit offen, die Sittlichkeit zu symbolisieren, und praktiziert trotzdem die Autonomie des Ästhetischen.

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11 Recht und Gerechtigkeit

ho de logos … to dikaion kai adikon: Der logos dient dem Gerechten und Ungerechten. Aristoteles’ Politik, Buch I, Kap. 2

Nach dem Zweiten Weltkrieg steckte das Zukunftspotential Europas in der Hoffnung auf einen von Recht und Gerechtigkeit geprägten dauerhaften Frieden, später erweitert um die Hoffnung auf einen materiellen Wohlstand für möglichst viele. Allerdings weiß man seit der Antike, daß der Wohlstand, selbst in breiter Verteilung, strukturell gesehen lediglich ein Zwischenziel ist; man lebt zwar gern »in Wohlstand«, aber nicht »um des Wohlstands willen«. Wegen dieser Besonderheit erhalten die beiden Grundwerte ein überragendes Gewicht, was ein griechischer Mythos, also ein weiteres Element europäischer Literatur, überaus anschaulich macht (Abschnitt 11.1). Anschließend sei der europäische Weg zum Rechts­ staat skizziert, in dem die beiden Grundwerte zu einer einklagbaren Wirklichkeit werden (Abschnitt 11.2). Zu den für Europa charakteris­ tischen Grundlagen des Rechtstaates gehören das Zusammenspiel und Widerspiel vom positiven Recht und Naturrecht (Abschnitt 11.3) und eine sich an Menschenrechte bindende Herrschaftslegitimation (Abschnitt 11.4). Überall in Europa findet sich das auf dem Kontinent vorherr­ schende systematische Rechtsdenken nicht, denn neben dem hier einschlägigen Gesetzesrecht gibt es insbesondere in Großbritannien ein Richterrecht, dessen Grundlage aber die Rechtsstaatlichkeit, die Rule of Law, bleibt (Abschnitt 11.5). In der Rechtswirklichkeit der Europäischen Union sind allerdings die schon in Kapitel 7 erwähnten Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit zu beklagen (Abschnitt 11.6). Daran schließt sich die Frage nach der zwischen Demokratie und Liberalismus eventuell herrschenden Spannung an (Abschnitt 11.7). Schließlich darf man beim Themenfeld von Recht und Gerechtigkeit nicht deren Gegenkultur verdrängen, die beklagenswerte »Kultur« der Kriege und Bürgerkriege (Abschnitt 11.8).

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11 Recht und Gerechtigkeit

11.1 Ein sprechender Mythos Aufgeklärte Zeitgenossen halten den Mythos für vorrational, folglich für überholt. Eine aufgeklärte Aufklärung hingegen filtert einen sach­ lichen Kern heraus, der bis heute überzeugt: Die göttliche Gestalt spricht der Rechtkultur einen der Willkür der Menschen, ihrer Satzungsmacht, enthobenen, überpositiven Rang zu. Dieser wird dadurch noch verstärkt, daß wie in Homers Epen, der Ilias und der Odyssee, und in Hesiods Theogonie, also in vorphilosophischen Tex­ ten, die Gerechtigkeit mit dem Recht eine ununterschiedene Einheit bildet. Denn zuständig ist eine einzige Göttin, Themis, die zudem als Tochter der Allmutter Erde, Gaia, und des Himmelsgottes, Uranos, noch älter, insofern in ihrer Göttlichkeit noch höherrangiger als der spätere Götterkönig Zeus ist. Demzufolge herrscht die Einheit von Recht und Gerechtigkeit selbst über die späteren Götter, schafft also eine der Welt von Göttern und Menschen gemeinsame, ewige und unwandelbare Ordnung. Themis bringt die Ordnung allerdings nicht selbst, sondern erst mit Hilfe von drei Töchtern, die sie von Zeus empfängt, auf die Welt, womit die Ordnung als vom Götterkönig bestätigt, darüber hinaus mit der ihm eigenen Macht und Autorität versehen wird. Zugleich tritt in der Mehrzahl der Töchter, den Horen, eine erste Ausdifferenzie­ rung zutage. Ihretwegen erscheint das griechische Denken als relativ »moderner«, nämlich als weniger archaisch denn beispielsweise der ägyptische Grundbegriff Ma’at, der als Begriff nicht bloß Recht und Gerechtigkeit, sondern zusätzlich noch Wahrheit, Weisheit und Auf­ richtigkeit bedeutet. Auch der hebräische Ausdruck Sädaqah (SDQH) bezeichnet mehr als nur Recht und Gerechtigkeit. Im griechischen Mythos bildet, weil mit Dike und Eumonia zweifach vertreten, der Inbegriff zwangsbefugter und zugleich berech­ tigter Regeln, das legitime Recht, den überragenden Grundwert. Die europäische Wirklichkeit wird dies häufig bestätigen: Das hier vor­ herrschende Recht verbindet sich mit einem Gerechtigkeitsanspruch, der im Verlauf der Jahrhunderte trotz gelegentlicher Rückschläge zunehmend anspruchsvoller wird und deren Verletzung bald Proteste, bald von ihnen inspirierte Reformen, gelegentlich sogar Revolutionen hervorruft. Und im Prinzip herrscht dieses von seinen Gerechtigkeits­ ansprüchen geadelte Recht kompromißlos. Überdies tritt das Recht in einer doppelten Gestalt auf. Als ein personaler Wert, als ein Rechtssinn, meint es die Gerechtigkeit

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11.1 Ein sprechender Mythos

als Tugend einer Person. Als ein institutioneller Wert hingegen, als Qualität der Rechtsordnung, betrifft das Recht die Institutionen, insbesondere die Institutionen zweiter Stufe, das politische Gemein­ wesen, heute in der Regel einen Staat. Nicht zuletzt ist die Gesellschaft gemäß der dritten Göttin, Eirene, eine Kooperationsgemeinschaft, die ein wirtschaftliches und kulturelles, heute ist zu ergänzen: auch ein wissenschaftlich-techni­ sches Aufblühen anstrebt. Nicht zuletzt ist der griechische Mythos insofern erstaunlich modern, als die von Dike vorgenommene Vergel­ tung sich klarerweise auf die Leistungen der Rechtsprechung bezieht, die wiederum nur negativer Natur ist: Rechtsverletzungen werden bestraft, nicht aber Rechtschaffenheit belohnt. Die antiken Griechen bleiben dem Rechtsdenken weiterhin krea­ tiv aufgeschlossen. Mehr als zwei Jahrhunderte nach Hesiod widmet der älteste der drei großen Tragödiendichter, Aischylos, der Entste­ hung einer elementaren Gerechtigkeitsinstitution, des Strafgerichts, ein von tödlichen Leidenschaften und deren schließlicher Überwin­ dung handelndes Drama. In der Orestie-Trilogie führt er zunächst, gemäß dem archaischen Prinzip der Blutrache, den deshalb unver­ meidbaren Flächenbrand der Gewalt vor. Statt aber die Blutrache in einer finalen Katastrophe enden zu lassen, schließt die Orestie kon­ struktiv, eben mit der Einrichtung eines Strafgerichtshofes. Dessen erstes, den Gerichtshof konstituierende Urteil folgt dem bis heute wichtigsten Prinzip strafprozessualer Gerechtigkeit, der Unschulds­ vermutung. Während aber gewöhnliche Strafprozesse einen Einzelfall behan­ deln, geht es bei der von Aischylos thematisierten Unschuldsver­ mutung nicht um eine Fall-Gerechtigkeit, sondern um eine DeliktGerechtigkeit. Denn ob Orest schuldig ist, da er die Ermordung seines Vaters mit der Tötung der Mutter rächt, läßt sich nach damaligem Rechtsverständnis nicht eindeutig entscheiden. Nach dem älteren, matriarchalischen Gesetz darf es auf keinen Fall einen Muttermord geben, nach dem neueren Gesetz der Gleichheit verdient für ihr Unrecht, die Anstiftung zum Gattenmord, auch die Mutter eine hohe Strafe. Nun gab es damals noch keine öffentliche Justiz, so daß es Orest oblag, die Bestrafung der Mutter zu vollziehen. Weil wegen dieser Situation einer deliktmäßigen Unklarheit – Verbot eines Muttermordes kontra Gebot, die Mutter zu bestrafen – genau so viele Richter für Orest als auch wider ihn entscheiden, greift die Göttin

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11 Recht und Gerechtigkeit

Athene ein und spricht sich, dabei in Übereinstimmung mit dem Grundsatz »im Zweifel für den Angeklagten«, zugunsten Orests aus.

11.2 Der Weg zum Rechtstaat Unbestreitbar ist die Entwicklung von Athens damaligem Strafge­ richtshof und einer ersten Anerkennung des Prinzips der Unschulds­ vermutung bis zum heute vorherrschenden Rechtsstaat ein langer Weg. Für den Gedanken eines Europa der Bürger genügt es, ihn mit Sieben-Meilen-Stiefeln zu durchlaufen: Eine erste Wegmarke stellt Platon dar. Bei ihm werden Recht und Gerechtigkeit zu rein säkularen Phänomenen. Deren Verbindlichkeit ist den Menschen zwar vorgeordnet, für deren tatsächliche Anerken­ nung tragen die Menschen aber die volle Verantwortung. Wenn auch Platon Recht und Gerechtigkeit als »göttlich« qualifiziert, so hebt er damit lediglich den überragenden Wert, aber keinen religiösen Ursprung hervor. Die nächste Wegmarke bildet mit drei wirkungsmächtigen Ele­ menten Aristoteles. Das erste Element besteht nach dem einschlä­ gigen Buch V der Nikomachischen Ethik in der Unterscheidung verschiedener Arten des dikaion, des gerechten Rechts, und der entsprechenden Haltung, der Gerechtigkeit (dikaiosynê). Wichtig ist die Trennung einer allgemeinen Gerechtigkeit, die sich auf einen umfassenden Rechtssinn und eine nicht minder umfassende Recht­ schaffenheit beläuft, von jener besonderen Gerechtigkeit, die später häufig schlicht Gerechtigkeit genannt wird. Bei ihr wiederum setzt Aristoteles die für das Zivilrecht zuständige Tauschgerechtigkeit gegen die das Strafrecht bestimmende ausgleichende (korrektive) Gerechtigkeit ab. Für den Rechtsstaat nicht weniger bedeutsam ist ein zweites Element, nämlich der Wert, den Aristoteles bei den Staatsbzw. Verfassungsformen auf das Recht legt, in deren Namen er eine bloße, sich nicht an das Recht bindende Demokratie verwirft. Das dritte Element, der Gedanke eines Naturrechts, wird im nächsten Abschnitt näher erläutert. Aus heutiger Sicht erstaunlicherweise, nach dem Gewicht, das sie der Gleichheit aller Bürger beimessen, aber verständlich, vielleicht sogar bewundernswert, kennen die Griechen weder professionelle Richter und Anwälte noch einen eigenen Juristenstand. Zweifellos sind Platon und Aristoteles sowohl Gerechtigkeitsphilosophen als

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11.2 Der Weg zum Rechtstaat

auch Verfassungstheoretiker und auf diese Weise veritable Rechts­ theoretiker. Platons Dialog Nomoi enthält sogar konkrete Ehe- und Religionsgesetze sowie Erläuterungen des Strafrechts. Und in Aristo­ teles’ Nikomachischer Ethik findet sich eine bis heute relevante, hoch subtile Analyse der Zurechenbarkeit. Eine eigene Juristenzunft bildet sich in Athen aber nicht aus. Sie und die wichtigste abendländische Rechtssammlung verdankt Europa erst Rom. Die mit legislatorischer Macht ausgestattete Rechtsammlung stammt allerdings nicht aus dem Stammland der Römer, sondern aus Ostrom bzw. Byzanz. Nur in Klammern: Da ein guter Jurist die Rechtssammlung kennen und zu interpretieren verstehen muß, wird die Jurisprudenz zur Angele­ genheit eines professionellen Juristenstandes. Für diese Professiona­ lisierung der Rechtsauslegung zahlt das Gemeinwesen aber mit der Entdemokratisierung der Rechtskompetenz der gewöhnlichen Bür­ ger. Die zuständige »Sammlung des bürgerlichen [nicht des kirchli­ chen] Rechts«, das Corpus Juris civilis, setzt im Buch Über Gerechtigkeit und Recht (De iustitia et iure) mit der Behauptung an, das Recht (ius) leite sich seinem Namen nach von Gerechtigkeit (iustitia) ab. Darauf folgen drei Rechtsvorschriften (iuris praecepta) programmatischen Charakters, die ihrer uneingeschränkten Verbindlichkeit wegen als kategorische Rechtsimperative gelten werden dürfen: Lebe ehrenhaft (honeste vive), tue niemandem Unrecht (neminem laede) und gewähr­ leiste jedem das Seine (suum cuique). Als nächste Wegmarke sei an die Gattung der Fürstenspiegel erinnert, die die Herrscher zu Recht und Gerechtigkeit auffordern. Davon seien einige wenige Errungenschaften hervorgehoben. Mit Thomas Hobbes beginnt die Legitimation der für Recht und Gerech­ tigkeit verantwortlichen Instanz, des souveränen Staates. Gegen dessen Neigung zu absolutistischer Herrschaft melden sich in der Aufklärung Forderungen nach einer Liberalisierung des Rechts, vor allem des Strafrechts, zu Wort, und es entstehen die Gedanken von Menschen- und Grundrechten, von Volksherrschaft und Gewaltentei­ lung, was schließlich in den modernen Rechts- und Verfassungsstaat mündet, der wiederum sich bald um eine immer dichtere Sozialstaat­ lichkeit erweitert. Als jüngste Fortschritte seien das ständig wachsende Völker­ recht, die zunehmende Ausbildung globaler Institutionen und Regie­ rungs- und Nichtregierungsorganisationen und die Errichtung von Weltgerichten erwähnt, die zusammen auf erste Bausteine einer

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11 Recht und Gerechtigkeit

künftigen Weltrechtsordnung, vielleicht sogar einer, dann freilich streng subsidiären und föderalen Weltrepublik hinauslaufen. Die überragende Bedeutung des Rechts, die sich im Laufe dieser nur angedeuteten Entwicklung herausbildet, bringt der überragende Phi­ losoph der europäischen Moderne, Immanuel Kant, in ein treffendes Bild. Obwohl er auch in der Moral- und Rechtsphilosophie eine auffallend nüchterne Sprache pflegt und in seinem gesamten Werk überaus selten pathetisch wird, erklärt er wie erwähnt in einer der wenigen Ausnahmen, an einer Stelle der Schrift Zum ewigen Frieden, das Recht zum Augapfel Gottes. Damit spricht er dem Recht einen alles andere überragenden Rang zu, dies allerdings nicht in beliebigen Bestimmungen. Kant meint vielmehr die Alternative zu privater Will­ kür und privater Gewalt, mithin jenen Rechtsbegriff, der im Gedanken der Rechtsstaatlichkeit bzw. der englischen Rule of Law besteht.

11.3 Positives Recht und Naturrecht Seit sich Antigone laut Sophokles’ gleichnamiger Tragödie unter Berufung auf die »ungeschriebenen Gottgebote, die wandellosen, die nicht von heute oder gestern stammen«, über ein Gebot von Thebens König Kreon hinwegsetzte und unter Einsatz des Lebens ihren Bruder Polyneikes bestattete, lebt das abendländische Rechtsdenken und die darauf gründende Rechtsentwicklung von einem kritischen Impuls. Gegen die Arroganz der Macht, die glaubt, beliebige Vorschriften in den Rang geltenden Rechts erheben zu dürfen, wird die Idee einer aller menschlichen Autorität enthobenen Verbindlichkeit verfochten. Deren Anerkennung schulde jedes Gemeinwesen seinen Bürgern, während krasse Mißachtung Widerstand erlaube. Die Gesamtheit derart vor- und überpositiv gültiger Rechtsverbindlichkeiten nennen die Griechen das »von Natur aus Rechte bzw. Gerechte« und setzen es scharf gegen das gesetzte, positive Recht ab. Eine der für Jahrhunderte wirkungsmächtigsten Stellen findet sich in Aristoteles’ Ethik, dort innerhalb seines Buches über die Gerechtigkeit. Bemerkenswerterweise kommen diese Überlegungen sowohl ohne jede Religion beziehungsweise Theologie als auch ohne jede Metaphysik aus. Weder die politheistische Volksreligion der Griechen noch Aristoteles’ eigener Monotheismus aus der Metaphy­ sik, Buch Lambda, die Lehre vom unbewegten Beweger, spielen eine Rolle. Nicht aus mehr oder weniger kontingenten Gründen konnte

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11.4 Herrschaftslegitimation und Menschenrechte

Aristoteles’ Gedanke eines vor- und überpositiv gültigen Rechts, des Naturrechts, so wirkungsmächtig werden und vermag er Europa zu einen, verantwortlich ist vielmehr dieser nachdrückliche Verzicht auf Metaphysik und Theologie. Der Grundsatz des modernen Naturrechts, daß der Mensch als Mensch das Subjekt und Maß der politischen Ordnung bildet, ist Aristoteles zwar fremd. Der dafür notwendig erste Schritt, der Gedanke eines der menschlichen Willkür entzogenen und allem posi­ tiven Recht vorgeordneten Naturrechts, geht aber dank Aristoteles und einer Fortentwicklung in der Stoa lange vor der Moderne ins allgemeineuropäische Denken ein.

11.4 Herrschaftslegitimation und Menschenrechte Im Verlauf der Neuzeit entsteht ein kritisches Naturrecht, daß sich normativ weder auf eine – eventuell von Gott gestiftete – Weltord­ nung (»kosmologisches Naturrecht«) noch auf ein Wesensmerkmal des Menschen (»anthropologisches Naturrecht«), vielmehr auf die praktische Vernunft beruft. Dieses »rationale Naturrecht« oder »Ver­ nunftrecht« wird vor allem mit dem Gedanken eines Gesellschaftsver­ trages begründet. Nach einem in Zeiten blutiger Kriege und Bürger­ kriege entwickelten Gedankenexperiment – wichtig sind hier Thomas Hobbes, Baruch de Spinoza, John Locke, Samuel Pufendorf und JeanJaques Rousseau sowie Immanuel Kant – herrschen in einem rechtsund staatsfreien Zustand Privatjustiz und Gewalt. Überwunden wird dieser Naturzustand durch einen Rechts- und Staatszustand, für den zweierlei gilt. Laut Gesellschaftsvertrag ist erstens nicht jede Herr­ schaft für das Zusammenleben des Menschen legitim, vernünftig, sondern bloß eine zwangsbefugte, von öffentlichen Gewalten gewähr­ leistete gemeinsame Rechtsordnung. Im Gegensatz zu absolutisti­ schen Tendenzen gilt zweitens nicht jede Rechts- und Staatsgewalt als gerechtfertigt. Gemäß der politischen Moderne Europas ist es allein diejenige Gewalt, die sich an unveränderliche und unverletz­ liche Rechte jedes Bürgers, an Menschenrechte, bindet und deren Gewährleistung der Gewaltenteilung von Legislative, Exekutive und Judikative überantwortet. Die Legitimation von Recht und Staat geht also mit deren Limitation eine unverbrüchliche Verbindung ein. Selbst ein Kritiker der Argumentationsfigur des Gesellschafts­ vertrages, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, erkennt den limitativen

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11 Recht und Gerechtigkeit

Anteil, die Menschenrechte, an, nennt ihn sogar einen Gedanken von unendlicher Wichtigkeit: »Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist« (Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 209). Beim philosophischen Höhepunkt des modernen Naturrechts, bei Kant, ist das Naturrecht ähnlich wie schon bei Aristoteles nicht bloß von Religion und Theologie, sondern ebenso von Metaphysik qua Ontologie frei. Nicht einmal an das Wesen des Menschen gebun­ den, vielmehr für alle sinnlichen Vernunftwesen gültig, ist es aus­ schließlich in der rechtlich-praktischen Vernunft gegründet und gibt »zu aller positiven Gesetzgebung die unwandelbaren Prinzipien« der Gerechtigkeit her (Rechtslehre, § A und § 36). Die erste Menschenrechtserklärung erfolgt zwar nicht in Europa, sondern in den späteren USA, in die jedoch europäische Religions­ flüchtige fliehen mußten. Es sind Briten, die in ihrem geistigen Gepäck die europäische Aufklärung mit sich führen. Die erste Deklaration von Menschenrechten, die Virginia Bill of Rights, erfolgt also ideen­ geschichtlich aus dem Geist der europäischen Aufklärung und poli­ tikgeschichtlich wegen einer gravierenden Verletzung der Menschen­ rechte, damals der Religionsfreiheit. Die Geburt der Menschenrechte hat somit zwei europäische Eltern, den Geist der Aufklärung und die gewalttätigen religiösen und politischen Unterdrückungen. Das in der politischen Moderne zu einem Vernunft- und Frei­ heitsrecht fortgebildete Naturrecht inspiriert die Amerikanische und die Französische Revolution, letztere aber ohne deren Jakobinerter­ ror. Insbesondere trägt es zur modernen Gestalt des Gemeinwesens bei, zu jenem demokratischen Rechts- und Verfassungsstaat, der im Gegensatz zu feudalen und absolutistischen Verhältnissen weder Pri­ vilegien noch Diskriminierungen zuläßt, der keine Vetternwirtschaft oder Korruption, auch keine fürstliche Gnade erlaubt, der sich zur religiösen Neutralität, zur Trennung von persönlicher Moral und politischer Gerechtigkeit, zu Volkssouveränität, Gewaltenteilung und den zu Grundrechten positivierten Menschenrechten bekennt. Schon vorher prägt das neuzeitliche Naturrecht europäische Gesetzgebungswerke wie das Allgemeine Landrecht für die Preußi­ schen Staaten (1794), wie den französischen Code Civil (1804) und das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (1812), womit die zuvor scharfe Zweiteilung von überpositiver Instanz und positiv geltendem Recht eingezogen wird. Einen wichtigen Bestandteil des europäischen Rechts, zunächst des Naturrechts, später des positiven

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11.5 Gesetzesrecht oder Richterrecht?

Rechts, bildet der Eigentumsschutz, der schon seit dem 15. Jahrhun­ dert den Schutz geistigen Eigentums einschließt. Im Gegensatz zu anderen Herrschern, dem russischen Zaren, dem orientalischen Sul­ tan oder Schah und dem Kaiser von China, konnte ein europäischer Fürst in das Eigentum seiner Bürger – vom Bauern und Handwerker bis zum Bankier und Fernkaufmann – nicht willkürlich eingreifen. Obwohl das Naturrecht die europäischen Rechtskodifikationen prägt, verliert es bald an ausdrücklichem Gewicht. Erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts, als in den Unrechtsstaaten die normativen Ansprü­ che an das Recht sich vor dessen positiver Wirklichkeit als ohnmächtig erweisen, erhält das Naturrecht sowohl eine neue rechtstheoretische als auch vor allem politische Bedeutung. Hier genügen als wenige Beispiele die Atlantik-Charta (1941), die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen (1948), die Auflistung von unveräußerlichen Grundrechten in vielen europäischen und anderen westlichen Verfas­ sungen, die europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte (1950), die Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen (1966) und mehrere Urteile des deutschen Bundesgerichtshofs und Bundesverfassungsgerichts. Selbst die Verfassung der Volksrepublik China (1954) enthält ein eigenes Kapitel »Grundrechte«, erweitert es aber wie auch die Weimarer Verfassung um »Grundpflichten« der Bürger. Trotz dieser faktischen Rehabilitierung spielt das Naturrecht in der zeitgenössischen Rechts- und Staatstheorie eine Randrolle. In der politischen Praxis jedoch erfährt es eine nachdrückliche Rehabili­ tierung. Denn die großen Dispute der Rechtspolitik kommen ohne eine Berufung auf vor- und überpositiv gültige Rechtsgrundsätze nicht aus. Die Debatten um den Umweltschutz, um Strafrechtsrefor­ men, um medizinische Ethik und den Tierschutz sind nämlich den Ideen der Menschenwürde, der Menschenrechte, der Gleichheit und des Selbstbestimmungsrechts sowie eines gewissen Eigenrechts der Natur verpflichtet.

11.5 Gesetzesrecht oder Richterrecht? Während auf dem Kontinent unter dem Einfluß des Naturrechts die großen Rechtsgebiete, insbesondere das Zivilrecht und das Strafrecht, unter systematischen Gesichtspunkten vereinheitlicht werden, bleibt England, vom Naturrechtsdenken kaum beeinflußt, einem »Common

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11 Recht und Gerechtigkeit

Law« treu. Gemeint ist das nach der normannischen Invasion des Landes im Jahr 1066, also schon etwa 750 Jahre vor den angedeuteten Kodifikationen begonnenes und, wie der Ausdruck »Common Law« besagt, gegenüber den unterschiedlichen Rechtsgewohnheiten der einzelnen Landesteile »Gemeinsames Recht«. Dieses entsteht aus Entscheidungen von umherreisenden Richtern der königlichen Justiz und gelten fortan für alle künftigen Rechtsfälle als verbindlich, was sie zu Prä-judizien, Vor-Entscheidungen, aufwertet. Infolgedessen herrscht im Common Law das in Form eines Rechtshandwerks gelernte Richterrecht, auf dem Kontinent hingegen das in Rechtsfa­ kultäten nach den leitenden Grundbegriffen gelernte Gesetzesrecht. Dieser klare Gegensatz mildert sich aber bei näherer Betrachtung ab. Zum einen werden auch in England bzw. dem Vereinigten König­ reich von den Parlamenten Gesetze erlassen, die dann gegenüber dem Präjudizieren den Vorrang genießen: Gesetzesrecht bricht Rich­ terrecht. Zum anderen benötigt auch der kontinentale Richter die den englischen Richter auszeichnende rechtsschöpfende Kompetenz. Im Gegensatz zur vielzitierten Behauptung von Montesquieu, der Richter sei lediglich der Mund des Gesetzes (Esprit des lois, Buch XI, Kap. 6), findet nämlich in einer richterlichen Entscheidung mehr als die Subsumtion des Einzelfalles unter eine vorgegebene Regel statt. Man hat nämlich zuerst zu überlegen, welche Regel überhaupt infrage kommt: Da der zu entscheidende Fall nicht so einfach unter eine allgemeine Regel fällt wie eine geometrische Figur unter ihre Konstruktionsvorschrift, hat der Richter sich zunächst eine speziel­ lere, auf den Einzelfall hin zugeschnittene Regel zu erarbeiten, unter die er sodann seinen Fall subsumieren kann. In noch höherem Maß wird der Richter dort rechtsschöpferisch tätig, wo er Gesetzeslücken zu schließen oder gesetzliche General­ klauseln wie »Treu und Glauben« oder »gute Sitten« auszufüllen hat. Da er bei beiden Aufgaben sich an früheren Entscheidungen der höheren Gerichte zu orientieren hat, nähert sein Vorgehen sich dann dem des Präjudizienrechts an. Außerdem ist beispielsweise das französische Recht weit stär­ ker von einer Descartes verpflichteter logischen Geschlossenheit bestimmt als das deutsche Recht, das stark von der historischen Rechtsschule mitgeprägt ist. Ihr zufolge entstehe legitimes Recht als Gewohnheitsrecht im Volksbewußtsein, weshalb zwar aus Gründen der Rechtsvereinheitlichung und Rechtssicherheit eine Kodifikation

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11.6 Rechtsverletzungen der Union

vorzunehmen sei, diese sich aber nicht über alle Rechtstradition hinwegsetzen dürfe. Zwei weitere Gründe schwächen den Gegensatz zwischen den beiden europäischen Rechtsfamilien ab. Zum einen gibt mittlerweile eine viele Generationen alte, in entsprechenden Kommentarwerken zusammengeführte Tradition höchstrichterlicher Entscheidungen der Fallinterpretation die einzuschlagende Richtung vor, wodurch die (zivil-, straf-) rechtliche Dogmatik einen gewissen Präzedenzcharak­ ter erhält. Zum anderen orientiert der Europäische Gerichtshof im Handelsrecht sich weniger am kontinentalen als am angelsächsischen Rechtsdenken. Hinzu kommt noch eine methodische Ähnlichkeit; der Europäische Gerichtshof verweist in seinen Entscheidungen auf­ fallend häufig auf die eigene Rechtssprechung (Dederichs 2004, 134). Nicht zuletzt hat sich das englische Recht der unerlaubten Handlung (tort of negligence) und der ungerechtfertigten Bereicherung (unjust enrichment) in Anlehnung an kontinentale Vorbilder weiterentwi­ ckelt. Vor allem aber bewahrt Europa seine Gemeinsamkeit beim Leitprinzip, der kompromißlosen Bindung an das Recht. Was im Deutschen »Rechtsstaatlichkeit« heißt, nennen die Briten wie gesagt und mit berechtigtem Stolz die »Rule of Law«.

11.6 Rechtsverletzungen der Union Die dieses Kapitel einleitende Zuordnung des Rechts zum Kern der europäischen Kultur hat eine erhebliche, wo erforderlich auch politi­ sche Tragweite. Recht samt Gerechtigkeit sind für Europa Grundwerte im emphatischen Sinn, nämlich Werte, auf die andere Werte gründen und die selbst unverzichtbar und unveränderbar sind. Als nicht ver­ handelbare Werte erlauben sie keinerlei Deal. Offensichtlich hat dieser Rang politische Sprengkraft. Er drängt nämlich die Kritik an einer Europa-Politik auf, die sich dem immer wieder beschworenen Gedanken der Rechtsstaatlichkeit allzu offen­ sichtlich widerspricht. Hier seien nur zwei prominente Stimmen der Beschwörung des Rechtsstaates erwähnt: Nach dem ersten Kom­ missionspräsidenten, Walter Hallstein, versteht sich Europa wesent­ lich als eine »Rechtsgemeinschaft«, was Jahre später der damalige deutsche Verfassungsgerichtspräsident, Wilhelm Voßkuhle, hier um das Stichwort der Demokratie ergänzt, bekräftigt: »Wir wollen ein

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11 Recht und Gerechtigkeit

demokratisches und rechtsstaatliches Europa.« Angesichts derartiger Stimmen ist die nicht seltene Verletzung des selber gesetzten Rechts schwerlich entschuldbar.

11.7 Demokratie ohne Liberalismus? Das Ansehen der liberalen Demokratie ist nicht mehr unbeschädigt. Nach dem Ende des Kalten Krieges erwartete man noch, dieses »Modell des Westens« werde sich über die ganze Welt ausbreiten. Mittlerweile dementieren beide Seiten, das politische Selbstbewußt­ sein des Westens und die Entwicklung der Welt, die Vorhersage eines globalen Siegeszuges. Zunächst findet zwar John Rawls’ Politi­ scher Liberalismus große Zustimmung. Ein Jahrzehnt später nimmt man jedoch Colin Crouchs Diagnose von einer Postdemokratie mit größerem Beifall auf. Im Westen greifen nationalistische Parteien die liberale Rechtsordnung an, und, global betrachtet, stärkt China seinen Griff nach der Weltmacht nicht nur mit einer boomenden Wirtschaft, sondern auch mit einem immer besseren Schul- und Hochschulwesen. Die erwartete Folge ließ nicht lange auf sich warten: daß in China eine gebildete, auch wohlhabende Bevölkerungsschicht heranwächst und, vom politischen Kader abgesehen, die Gleichberechtigung von Mann und Frau weit fortgeschritten ist. Nur ein Beispiel: Von den 90 Milliardärinnen der Welt sind zwei Drittel Chinesinnen. In all diesen Aspekten kann das vom Westen gestützte Saudi-Arabien nicht mithalten. Lediglich in der Überwachung der Bevölkerung und in der Unterdrückung von Opposition steht es China nicht nach. Wegen dieser Situation, der demokratieinternen Bedrohung der libe­ ralen Demokratie und dem globalen Gewicht autokratischer Regime, hat ein nordamerikanischer Althistoriker und Politikwissenschaftler, Josiah Ober, diese Frage aufgeworfen: Kann sich die Demokratie auf einen Kern konzentrieren, der die angebliche »Staatsreligion« der westlichen Demokratien, die universalen Menschenrechte und eine umverteilende soziale Gerechtigkeit, aufgibt? Seine Antwort, eine »Demopolis« genannte Demokratie ohne Liberalismus, gibt sich mit drei Elementen zufrieden, mit einer kollektiven Selbstregierung, eben einer Demokratie, die sich angeblich lediglich auf zwei politische Ziele, auf Sicherheit und Wohlstand, verpflichtet. In Wahrheit genießen auch die Bürger von Obers Demopolis die Rede- und Versammlungsfreiheit; sie leben in politischer Gleichheit

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11.7 Demokratie ohne Liberalismus?

und erfreuen sich zum Zweck allseitiger Mitwirkung des Zugangs zu grundlegender Bildung. Weil überdies mit der Bindung ans Gesetz Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung vorherrschen, ist das angeb­ liche Gegenmodell zur liberalen Demokratie in Wahrheit diesem Modell nicht fern. Die Rede- und Versammlungsfreiheit steht nämlich für die erste Gruppe der Menschenrechte, die negativen Freiheits­ rechte, der Zugang zu elementarer Bildung für die zweite Gruppe, für positive Freiheitsrechte, und mittelbar, wenn man auf die extreme Ungleichheit des US-Bildungswesen achtet, zusätzlich für ein erheb­ liches Maß an Umverteilung, folglich für eine Sozialstaatlichkeit. Und diese fällt, weil es den Bürgern der Demopolis auf Wohlstand ankommt, keineswegs gering aus. Die dritte Gruppe der Menschen­ rechte schließlich, die politischen Mitwirkungsrechte, sind als ein Definitionselement in die Demopolis eingraviert. Infolgedessen lässt sich diese Einschätzung nicht vermeiden: Obers Versuch eines über­ zeugenden Gegenmodells zur liberalen Demokratie ist gescheitert. Wenn man wie angedeutet die Grund- und Menschenrechte für unverzichtbar erklärt, folgen für Europa erhebliche rechtspolitische Forderungen: Erstens darf keine Religion sich das Recht nehmen, selber andere zu missionieren, ihren Anhängern aber den Austritt aus der Religionsgemeinschaft unter weltlicher Strafe, sogar Todesstrafe zu verbieten. Dagegen sprechen sowohl die interkulturell anerkannte Goldene Regel als auch ein unstrittiges Element der Gerechtigkeit, das Willkürverbot bzw. die Ungleichbehandlung. Zweitens: Selbst wenn wie im Islam (»Scharia«) und im ortho­ doxen Judentum das Recht als ein Teil der Religion gilt, folglich die zuständigen Rechtsgelehrten Sakraljuristen sind, Kenner und Ausleger eines religiösen Rechts, müssen sie sich jener bescheidenen Säkularisierung öffnen, die dem durchaus religiösen Grundsatz folgt »Caesari Caesaris, Deo Dei« (Matthäus 22,21). Die Gesellschaft überlasse dem weltlichen Gemeinwesen, was dessen Sache ist, und gebe der Kirche, Moschee oder Synagoge das, aber auch nur das frei, was genuin religiöser Natur ist. Die damit anhebende Säkularisierung (s. Abschnitt. 14.4) beinhaltet sowohl das Verbot, den Bereich des Religiösen zu weit auszudehnen, als auch das Gebot, den Bürgern freizustellen, welcher Religion oder Konfession sie angehören oder ob sie lieber religionslos bleiben wollen. In frühen Gesellschaften waren Staat, Gesellschaft und Religion häufig so eng verquickt, daß man selbst mit der angedeuteten beschei­ denen Säkularisierung Schwierigkeiten hatte. Im Fall des Islam könn­

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11 Recht und Gerechtigkeit

ten zwei Faktoren eine Rolle spielen, zum einen das Vorbild des christlichen Byzanz, das der welterfahrene Großkaufmann Moham­ med kannte, zum anderen die altorientalische, polytheitische Gesell­ schaft, bei der das staatliche Gewaltmonopol fast zwangsläufig in die Religion hereinreichte. Nach beiden Faktoren gründet freilich die Verquickung nicht in der religiösen Substanz des Islam, nicht in dessen strengem Monotheismus. Allerdings droht noch eine andere Gefahr. Nach Heiko Heinrich und Nina Scholz (2019), unter anderem gestützt auf Aussagen des »Europäischen Rates für Fatwa [eine von einer muslimischen Autori­ tät auf Anfrage erteilte Rechtsauskunft] und Forschung« und dem Jah­ resbericht 2019 des Verfassungsschutzes von Nordrhein-Westfalen, hat sich ein sogenannter legalistischer, weil gewaltfreier Islamismus auf den sprichwörtlichen »Marsch durch die Institutionen« begeben. Dieser zielt auf die Abschaffung der westlichen Demokratie zuguns­ ten eines weltweiten islamischen Staats unter einem Kalifat (gemeint ist eine islamische Herrschaftsform, bei der die weltliche und geist­ liche Herrschaft in einer Person, dem Kalifen, also dem Nachfolger oder Stellvertreter Mohammeds, vereint sind). Drittens ist mit dem Islam der lange Zeit verdrängte Diskurs zu führen, und zwar nicht bloß der »weiche«, religiös-kulturelle, sondern auch der »härtere«, philosophisch-theologische Grundlagendiskurs. Der Islam benötigt beispielsweise eine rationale Hermeneutik, die mittels philologischer, literaturkritischer und philosophischer Überlegungen den religiösen Kern des Koran von zeitbedingten Anlagerungen zu trennen lehrt. Auch sollte er helfen, dem skizzierten legalistischen, ohnehin dem gewaltbereiten Islamismus entgegenzutreten. Diese rechtspolitischen Bemerkungen wären einseitig, richteten sie sich nur gegen den Islam, gewissermaßen gegen ein »okzidentales Ausland«. Tatsächlich, vierte Bemerkung, muß man auch einen der Wortführer der normativen Modernisierung, die Vereinigten Staaten von Amerika, in den Blick nehmen. Deren Gefährdung der Moderni­ sierung hatte mit der großzügigen Anwendung nationaler Gesetze begonnen, mit der US-Gerichte das in Rechtsstaaten geltende Recht auf den gesetzlichen Richter aushebeln dürfen und Schadenersatzpro­ zesse unabhängig vom Ort der Schädigung in den USA zu behandeln beanspruchen. Die Folgen für Europa sind enorm. Sie beginnen mit einem hierzulande unbekannt strengen Haftungsrecht, den exorbitant hohen Schadens- und Strafsummen, und setzen sich in den aufwendi­ gen Vorverfahren und den Sammelklagen mit einem offenen Strauß

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11.8 Die Gegenkultur: Kriege, Bürgerkriege und Kolonialismus

potentiell Betroffener fort. Auch zeigen sie sich in der Politik des US-Kongresses, seine außenpolitischen Vorstellungen gegen auslän­ dische Geschäftspartner und gegen andere Staaten durchzusetzen. Früher betraf es den Handel mit Kuba, neuerdings den mit dem Irak. Bei diesen und anderen Fällen darf man sich nicht der Illusion hingeben, den USA gehe es nicht um wirtschaftliche, kulturelle und politische Macht und Übermacht.

11.8 Die Gegenkultur: Kriege, Bürgerkriege und Kolonialismus Teils verdrängt, teils schlicht vergessen tritt das Gegenbild zu Recht und Gerechtigkeit, die in Kollektiven auftretende Gewalt, häufig nicht in den Blick. In Wahrheit spielt sie als Krieg und als Bürgerkrieg in der Kultur Europas eine herausragende Rolle. Langewiesche (2019) zeigt höchst materialreich, daß der Krieg in der Moderne eine histo­ rische Gestaltungskraft ersten Grades ist. Die Frage, ob Kriege die europäischen Geschicke öfter, grausamer und tiefer prägen als die anderer Kontinente, steht hier nicht zur Debatte. Zwei besonders wirkungsmächtige kriegstheoretische Schriften seien aber exempla­ risch genannt, für das alte China Meister Suns Kriegskanon und für die europäische Neuzeit Karl von Clausewitz’ erste drei Bände Vom Krieg. Jedenfalls gehören Kriege und Bürgerkriege zur Kultur Europas, verdienen den Rang einer Kultur aber nur in Anführungszeichen. Auf der positiven Seite steht die Selbstverteidigung, die schon in Europas Anfängen nicht zu übersehen ist. Die griechischen Stadtre­ publiken, obwohl zu anderen Zeiten in steter Konkurrenz, verbünden sich gegen Persien und bewahren in den Schlachten von Marathon und von Salamis ihre Eigenständigkeit, statt zu Provinzen eines orientalischen Großreiches Persien zu degenerieren. Gewalt gab es zweifellos schon früher, denn die Einwanderung in ihre neue Heimat, die Landnahme dessen, was Griechenland heißen wird, kann man sich schwerlich als einen rein friedlichen Vorgang vorstellen. Vergessen darf man auch nicht den innergriechischen Krieg zwischen dem von Athen angeführten Attischen Seebund und dem Peloponnesischen Bund unter der Führungsmacht Sparta, der nach beinahe 30 Jahre (432–404 v. Chr.) mit dem Sieg der Spartaner endet und den Athener Thukydides zum ersten wissenschaftlichen Geschichtswerk Europas motiviert.

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11 Recht und Gerechtigkeit

Als nächstes ist an den Sieg Philipp’ II. von Mazedonien über die griechischen Stadtrepubliken, danach an die imperiale Politik seines Sohnes, Alexander, zu erinnern. In ihr spielten durchaus kulturelle und interkulturelle Motive eine Rolle, die aber den vorrangig militä­ rischen Charakter dieser sogenannten Alexanderzüge nicht leugnen können. Die Kämpfe der Nachfolger um die Vormacht waren wieder bürgerkriegsähnlicher Natur. Das Römische Reich entsteht ohne Zweifel nicht friedlich. Das­ selbe trifft auf die großen Spaltungen zu, auf die Zweiteilung des Römischen Reiches in West- und in Ostrom (Byzanz, später Kon­ stantinopel, heute Istanbul) und auf den Zerfall des von Karl dem Großen durch Kriege geschaffene Frankenreichs in einen westlichen Teil, in etwa das spätere Frankreich, und einen östlichen Teil, der grob gesagt dem späteren Deutschland entspricht. Dazwischen lag das viel umkämpfte Burgund. In den zehn Jahrhunderten des Mittelalters gibt es neben zahl­ losen anderen Kriegen die häufig gewaltsame Auseinandersetzung zwischen der weltlichen Macht, dem Kaiser, und der religiösen Macht, dem Papst. Zusätzlich findet in der Zeit von 1337 bis 1453 der sogenannte Hundertjährige Krieg zwischen dem schon 1066 von Frankreich aus militärisch eroberten England und Frankreich statt, der lehnsrechtliche und thronfolgerechtliche Fragen betraf und am Ende auf beiden Seiten ein eigenes Nationalbewußtsein hervorbrachte. Später hat das theologische Ereignis der Reformation jene mitleidlo­ sen, nicht bloß religiös motivierten Konfessionskriege zur Kehrseite, die Deutschland mit dem Dreißigjährigen Krieg so verheerende Folgen »bescheren«, daß sie sich mit denen der beiden Weltkriege vergleichen lassen. Zu diesen und weiteren innereuropäischen Kriegen, etwa Napo­ leons Feldzug durch die Nachbarländer bis Rußland oder die deutschdänischen und deutsch-französischen Kriege, kommen Kriege von außen hinzu. So wird Spanien im achten Jahrhundert von muslimi­ schen Arabern erobert, die das Land zwar mit einer hohen Kultur beschenken, nach Jahrhunderten aber nicht weniger gewaltsam ver­ trieben werden. Die Hunnen unter Attila, später unter Dschingis Khan bedrohen Europa vom Osten, die Heere des Osmanischen Reiches von Südosten. Europa verhält sich nach außen nicht friedlicher. Im Zuge der einschlägigen Kolonisierung bringt es den Krieg nach Nord-, nach Mittel- und nach Südamerika, nach Afrika, in den Nahen und in den

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11.8 Die Gegenkultur: Kriege, Bürgerkriege und Kolonialismus

fernen Osten. Auch die Ureinwohner des fünften Kontinents, die von Australien, verschont es nicht. Keine dieser von Europäischen Mächten ausgehenden Kolonisierungen verläuft gewaltfrei, denn, wie Kant in der Schrift Zum ewigen Frieden sagt, »die [dort lebenden] Einwohner zählten sie für nichts«. Nicht weniger gewalttätig ist die spätere Zeit des Imperialismus. Nach zahlreichen weiteren Kriegen mit den beiden Weltkrie­ gen als verheerenden Höhepunkten und den sich anschließenden mitleidslosen Vertreibungen findet zunächst Westeuropa, seit 1989 auch Osteuropa zu einem glücklicherweise bis heute andauernden Frieden. Trotzdem darf man auch hier die Zeiten der Bedrohung nicht vergessen: während des Kalten Krieges das gefährliche Wettrüsten, das unter den Großmachtintentionen Rußlands seit Putin wieder aufgelebt ist und, je nach weltpolitischer Einschätzung, auch von sei­ ten der USA, vielleicht China mitverantwortet wird und in gezielten Hackerangriffen eine neue Gewaltform gefunden hat. Schon dieser überkurze Blick zeigt, daß man die Geschichte Euro­ pas als eine über Jahrhunderte nie endgültig abreißende Welle von innen- und außenpolitischer Gewalt, mithin als unübersehbar klares Gegenbild zu Recht und Gerechtigkeit schreiben kann. Die »Kultur«, Kriege vorzubereiten und durchzuführen, droht dabei immer wieder die anderen, wahren Kulturphänomene wie Literatur, Wissenschaft, Musik und bildende Künste zurückzudrängen oder für die Kriege zu instrumentalisieren. Im Hintergrund steht eine Militärtechnik, die sich wegen der fast permanenten innereuropäischen Kriege stän­ dig weiterentwickelt. Allerdings ist die Gewaltbereitschaft trotz ihres in Europa erschreckend hohen Ausmaßes kein europäisches Privileg. Die Mon­ golen etwa, die entlang der Seidenstraße zahllose Städte niederbren­ nen, die Japaner, die im Jahr 1597 als Ersatz für die schwer trans­ portierbaren abgeschnittenen Köpfe in Kyoto einen »Ohrenhügel« errichten, und die Grausamkeit des saudischen Wahabismus im 18. Jahrhundert entschuldigen keinerlei europäische Gewalt, sprechen aber gegen einen »europäischen Sonderweg«. Ähnliches trifft auf die Sklaverei zu, die in muslimischen Ländern blühte, vor Italien nicht haltmachte und im Fall der Krimtartaren Rußland und die Ukraine einschloß. Erfreulicherweise stammen aus Europa zwei herausragende Werke zur Alternative des Krieges, zum Frieden. In der Spätantike verfaßt der Theologe und Kirchenlehrer Augustinus das für Jahrhun­

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11 Recht und Gerechtigkeit

derte wichtigste staatstheoretische Werk, das jedoch gemäß seinem Titel De civitate dei, Vom Gottesstaat, sich weniger für das weltliche Gemeinwesen als für das himmlische Jerusalem interessiert. Dement­ sprechend richtet sich auch dessen vieldimensionale Friedenstheorie nur zum geringen Teil auf die Sicherung des Friedens in dieser Welt. Die zweite große Friedensschrift, eine neuzeitliche und bis heute noch aktuelle Theorie, ist rein säkularer Natur, zudem von offenen oder versteckten Vormachtsinteressen völlig frei. In dem schon erwähnten, ebenso kurzen wie souverän verfaßten Essay Zum ewigen Frieden entwickelt Immanuel Kant zunächst Überlegungen, wie man den Krieg, solange er noch vorherrscht, zähmen kann. Es folgt eine Theorie der drei Dimensionen des öffentlichen Rechts: des Staatsrechts mit der friedensförderlichen Verfassung einer Republik, des Völkerrechts mit dem Ziel eines Völkerbundes und des – neuarti­ gen – Weltbürgerrechts, das Kant mit Nachdruck zwar als Besuchs-, aber nicht als Gastrecht konzipiert. Bezogen auf Europa hat sich glücklicherweise Kant durchgesetzt. Wie schon gegen Anfang erwähnt, ist die Gewalt des Krieges dem friedlichen Wettstreit gewichen, nicht global, aber als ein von Bürgern anderer Regionen beneideter Sonderweg.

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12 Wirtschaft und Finanzen

ho de logos … esti to sympheron kai to blaberon: Der Logos ist für das Nützliche und das Schädliche da. Aristoteles, Politik, Buch I, Kap. 2

12.1 Was ist europaspezifisch? Beim zweiten Tätigkeitsbereich der menschlichen Sprach- und Ver­ nunftbegabung, der Zuständigkeit für Nutzen und Schaden, spielen Wirtschaft und Finanzen eine exemplarische Rolle. Offensichtlich und von einer allgemeinmenschlichen Begabung zu erwarten, verhält es sich dabei nicht anders, als bei Recht und Gerechtigkeit festzustellen war: Der Bereich ist weder eine europäische Erfindung noch eine europäische Eigentümlichkeit. Von der Wortgeschichte her erscheint ein Grundbegriff, der Markt, zwar als europäisches Phänomen. Denn der Ausdruck stammt vom lateinischen Wort »mercatus« ab und bedeutet die in Deutsch­ land tätigen Hausierergeschäfte römischer Krämer. Später bezeichnet »Markt« das öffentliche Anbieten von Waren, den Handel, und den dafür bestimmten Platz einer Siedlung, den Marktplatz, um den herum die modernen Städte entstehen. Der Verkauf von Waren ist aber typisch menschlich, weshalb sich die Institution des Marktes in so gut wie allen Kulturen findet, schon in den neolithischen Handelsorten und im Orient beispielsweise als Basar. Die Besonderheit Europas liegt erst in einer umfassenden, sowohl den Begriff als auch die Voraussetzungen und die Vorteile, schließlich die Grenzen und die Gefahren des Marktes reflektierende Praxis. In den Anfängen, bei den Griechen als Agora und bei den Römern als Forum, hatte der Markt noch keinerlei ökonomische Bedeutung. Er bezeichnet den Platz der Volksversammlung, ist also der Ort der politischen Öffentlichkeit. Erst später erweitert er sich, ohne seine politische Bedeutung aufzugeben, zum Versammlungs­

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12 Wirtschaft und Finanzen

platz der Händler, noch später verdrängt die ökonomische die politi­ sche Seite. Andere Phänomene sind ebensowenig europaspezifisch, weder daß der Handel über weite Strecken hin betrieben wird – ein berühm­ tes Beispiel bietet die Seidenstraße, die das heutige China wiederbe­ lebt – noch daß Märkte an den Schnittpunkten wichtiger Handelsstra­ ßen entstehen, ferner an Flußübergängen, zum Beispiel Er-furt und Frank-furt, zudem an befestigten Orten wie Burgen, bei religiösen Städten wie Klöstern und bei Herrschaftszentren. Ebensowenig euro­ paspezifisch ist die Bedeutungserweiterung: daß zur ökonomischen Bedeutung, dem Handel, und der geographischen, dem Handelsplatz, als dritte eine rechtliche Dimension hinzutritt, sowohl als Privileg ein Marktrecht als auch der Schutz von Handel und Handelsplatz gegen politische Gewalt und politischen Unfrieden, der Marktfrieden. Selbst die vierte, ordnungstheoretische Bedeutung muß nicht rundum europaspezifisch sein. Denn den Markt als eine Institution, in der alle Arten von Verkäufern/Anbietern und Käufern/Nachfra­ genden aufeinandertreffen und über dem Ausgleich von Angebot und Nachfrage die Preise der gehandelten Güter bilden, zunächst nur die von Waren, bald auch von Dienstleistungen, später ebenso von Geld und Finanzinstrumenten, nicht zuletzt von politischer und kultureller Macht. Damit hat sich das Verständnis des Marktes zu einem umfassenden, nicht nur die Wirtschaft beherrschenden uni­ versalen sozialtheoretischen Konzept ausgeweitet. Der Markt ist zu einem Grundbegriff aller menschlichen Kooperation und Konkurrenz geworden, die am Tausch, an rationaler Preisbildung und an einer keineswegs nur pekuniären Gewinnsteigerung orientiert ist, denn sie reicht über die Dimension des Geldes und anderer materieller Werte hinaus. Dabei kommt eine weitere Eigentümlichkeit hinzu: die von Begriffen und Argumenten getragene, methodisch vorgenommene lehr- und lernbare Theorie. Diese erstreckt sich sowohl auf die Wirt­ schaft im engeren Sinn als auch auf den Markt als einer generellen Gestaltungsmacht der Gesellschaft. Hier sind es nicht nur Wirtschaftstheoretiker, sondern auch Philosophen, die sich für den Wettbewerb einsetzen, in der Neuzeit etwa von Montesquieu über David Hume und Condorcet bis Kant. Montesquieu spricht im Esprit des lois (Geist der Gesetze, 1748) von der zivilisierenden Kraft des »sanften Handels«, da er den Krieg der Leidenschaften durch den Kompromiß zwischen divergierenden Kräften ablöst. Nach Kant ist der Mensch dazu bestimmt, all seine auf

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12.2 Gemeinwohl durch Selbstinteresse?

den Vernunftgebrauch abzielenden Naturanlagen vollständig zu ent­ wickeln, wozu der Wettbewerb hilft, da er »alle Kräfte des Menschen erweckt, ihn dahin bringt, seinen Hang zur Faulheit zu überwinden und, getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen« (Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht). Dabei denkt Kant nicht nur an einen ökonomischen Wettbewerb, denn die segensreichen Wirkun­ gen der Konkurrenz zeigen sich auch in den Wissenschaften und der Kultur, selbst der Politik.

12.2 Gemeinwohl durch Selbstinteresse? Daß in Europa eine wirkliche Wissenschaft der Wirtschaft entsteht, hängt mit der bei den Griechen vorbildlich praktizierten Perfektio­ nierung des Wissens zu Wissenschaft und Philosophie zusammen. Auch wenn die Wirtschaftstheorie sich erst in der Neuzeit ähnlich explosionsartig wie die Naturwissenschaften mitsamt Medizin und Technik entwickelt, liegen die keineswegs unerheblichen Anfänge schon bei den Griechen. Einer der ersten europäischen Wirtschaftstheoretiker ist erstaun­ licherweise der gern als Idealist belächelte Platon. Schon er plädiert in der Politeia mit drei Argumenten für eine kooperative Arbeitsund Wirtschaftswelt. Aus einem Rationalitätsargument, dem Vorteil eines geregelten Verfahrens, dem Prinzip Technik, aus dem Bestehen von natürlichen Begabungsunterschieden, dem Prinzip Begabung, und aus dem Produktivitätsgewinn durch Spezialisierung im engeren Sinn, übernimmt jede Person nur seine ihm eigentümliche Aufgabe. Indem jeder »seinen Job«, seine Aufgabe und Rolle, erfüllt, folgt er sei­ ner Begabung und trägt zugleich zum gemeinsamen Wohl bei, so daß man beiden Seiten, dem Individuum und dem Gemeinwesen, gerecht wird: Selbstinteresse und Gemeinwohl greifen nahtlos ineinander. Drei Visionen prägen das Gesellschaftsdenken in Europa: zusätz­ lich zur Vision einer von Gerechtigkeit bestimmten Rechtsordnung und der Vision einer auf Naturforschung basierenden Macht über die Natur ist es die Vision, durch einen freien Markt die Gesell­ schaft zu einer facettenreichen Blüte zu bringen. Schon bei Platon deutet sich nun an, was die Wirtschaftstheorie der europäischen Neuzeit, maßgeblich Adam Smith, zum Programm erhebt: Der Markt wird zum Gestaltungsprinzip der Arbeits- und Berufswelt, darüber

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12 Wirtschaft und Finanzen

hinaus zu einer die gesamte Gesellschaft gestaltenden Institution. Diese zeichnet sich durch drei Strukturmerkmale aus: rechtlich durch Privateigentum, motivational durch die Steigerung, sogar Maximie­ rung von Gewinn und vom Koordinationsmechanismus her durch freie Preisbildung. Üblicherweise nimmt man für diese Organisationsform nur einen schmalen Ausschnitt in den Blick, eine bestimmte Art von Gütern und Dienstleistungen und als deren Steuerungsmittel das Geld. Zu den Gütern und Dienstleistungen gehören jedoch auch die Dinge, in denen sich Künstler, Intellektuelle und Wissenschaftler manifestieren; auf der Güterseite Bücher und Kunstwerke, auf Seiten der Dienstleistungen Ausstellungen, Konzerte, Vorträge und Beiträge in den Medien. In der Politik wiederum, zumal in einer Demokratie, konkurrieren Politiker, Parteien und Programme um Resonanz in den Medien und um Zustimmung bei den Bürgern. Sogar die Kritik am Markt hat Marktcharakter, sodaß sie, sofern sie prinzipiell auftritt, in einem pragmatischen Widerspruch gerät. Sie lehnt ab, was sie im Ablehnen selber beansprucht: Aufmerksamkeit im freien Markt der öffentlichen Debatten. Um ihren Marktwert zu erhöhen, lieben man­ che Marktkritiker die rhetorische Zuspitzung, sogar Übertreibung. Sie spielen sich zum Querdenker, Grenzgänger oder Tabubrecher auf, obwohl es so gut wie keine Tabus mehr gibt. Daß das Geld, wie der Soziologe Niklas Luhmann erklärt, den Markt steuert, wird beim politischen, wissenschaftlichen und künst­ lerischen Markt relativiert, aber nicht außer Kraft gesetzt. Auch wenn der ökonomische Markt und eine Demokratie in vieler Hin­ sicht Antipoden sind, läßt sich diese formale Gemeinsamkeit nicht bestreiten: Abgeordnetenmandate und andere Ämter, die Politiker anstreben, bieten nicht bloß einen Zugang zu so knappen Dingen wie Macht und Einflußmöglichkeit, sondern zusätzlich ein gutes finanzielles Auskommen. Bücher wiederum und Kunstwerke sollen gekauft werden und sowohl für den Autor bzw. Künstler als auch für Verleger bzw. Galeristen einen finanziellen Gewinn abwerfen. Ein anderes Steuerungsmittel, das oft sogar im Vordergrund steht und das vor allem noch knapper als das Geld zu sein pflegt, kommt hinzu: die Reputation, die sich im Fall der Medien mit Macht und Einfluß verbindet. Obwohl also der Markt viel weiter reicht, als man üblicherweise annimmt, taugt er nicht zur einzigen Ordnungskraft. Denn, weiß die Philosophie seit Sokrates, Platon und Aristoteles so, lebenswichtige

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12.2 Gemeinwohl durch Selbstinteresse?

Dinge wie Treue, Vertrauen und Freundschaft kann man weder mit Geld kaufen noch dem Prinzip der Gewinnsteigerung unterwerfen. Die Vorteile sind bekannt: Der Markt stimuliert jene beiden Grundformen menschlicher Koexistenz, die auch unter Politikern, Künstlern und Intellektuellen vorherrschen, die Kooperation und vor allem die Konkurrenz. Ein schönes Beispiel für künstlerische Konkurrenz, die zu Höchstleistungen anspornt, bietet der Wettstreit zwischen den beiden Renaissance-Malern Michelangelo und Raffael. Von Papst Julius II. nach Rom berufen, schaffen sie dort weltberühmte Kunstwerke: Michelangelo die Sixtinische Kapelle, Raffael die Stan­ zen des Vatikans. Ein politisches Beispiel bietet sowohl der Wettstreit der italienischen Stadtrepubliken untereinander und mit dem Vatikan als auch der Wettstreit deutscher Fürstentümer um kulturellen Glanz, der im deutschen Sprachraum die dichteste Theater- und Opernland­ schaft der Welt hervorbringt. Generell stachelt die Kooperation, noch mehr die Konkurrenz zu Kreativität, Wagemut und Anstrengung an; sie fördert die Eigenver­ antwortung und den Leistungswillen, bei vielen Tätigkeiten zusätzlich die soziale und emotionale Kooperationsbereitschaft, einschließlich der sogenannten Sekundärtugenden wie Ordnungsliebe, Pünktlich­ keit und Fleiß. Heute kommen Fremdsprachenkenntnisse, ferner die Fähigkeit zur Fortbildung sowie soziale und interkulturelle Kom­ petenzen hinzu. Nicht zuletzt muß man um der eigenen Zukunft willen in der Gegenwart Verzicht üben, beispielsweise eine längere anspruchsvolle Ausbildung auf sich nehmen. Kurz, in Erwartung, daß es sich später nicht nur finanziell, sondern auch in Zufrieden­ heit auszahlt, stachelt der Markt den Menschen an, seine Bildung und Ausbildung, seine Fähigkeiten und Fertigkeiten, also das soge­ nannte Humanvermögen, zu steigern. Dies wiederum läßt die Pro­ duktivität, und zwar nicht bloß die ökonomische, sondern auch die soziale und die kulturelle, langfristig auch die politische Produkti­ vität wachsen. Auf diese Weise hat der nicht bloß ökonomische Markt einer breiten Bevölkerung ein zuvor ungeahntes Maß sowohl an Wohlstand als auch an kulturellen und an wissenschaftlichen Möglichkeiten, an wachsender Erkenntnis und deren humanitärer Anwendbarkeit beschert. Konzentriert man sich auf den Markt im engeren Sinn, so hat dessen effizienter Umgang mit der Arbeitskraft und den Ressourcen, einschließlich dem Geld bzw. Kapital, die Mühen der Arbeit zu verringern geholfen, so daß man entweder bei gleichem Einsatz den

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12 Wirtschaft und Finanzen

Ertrag erhöht oder aber denselben Ertrag mit geringerem Einsatz erzielt. Darüber hinaus hat er die betreffenden Länder von der Geißel des Hungers und des Elends und dem Zwang auszuwandern befreit. Die wirtschaftliche Effizienz erlaubt zudem, natürliche Ressourcen zu schonen, dies allerdings nur unter Voraussetzung des ökologi­ schen Imperativs, weder den Pro-Kopf-Bedarf an Ressourcen noch die Bevölkerungszahl zu erhöhen, es sei denn man verringert bei wachsenden Bevölkerungen den Pro-Kopf-Bedarf. Zweifellos kommt der unmittelbare Gewinn denen zugute, die die Leistung erbringen: Die Unternehmer erhalten zahlungsbereite Kunden, die Politiker Wählerstimmen und die Buchautoren Käufer. Vor allem gewinnt man, worauf es dem Menschen letztlich ankommt, also nicht Geld, sondern Achtung, sowohl die Achtung durch andere als auch die Achtung seiner selbst. Diese Hinweise deuten jenes größere visionäre Potential des freien Marktes an, dessen Kern schon Platon, in der Neuzeit Adam Smith herausgearbeitet haben: Ein konsequent arbeitsteilig verfolg­ tes Individualwohl fördert zugleich das Gemeinwohl. Insofern das Gemeinwohl nicht einer Gruppe zulasten einer anderen, vielmehr jedem einzelnen zugute kommt, leistet der freie Markt einen erheb­ lichen Beitrag zur Gerechtigkeit. Dies übersieht die gelegentlich pauschale Kritik am Wirtschaftsliberalismus: daß weder nach Platon noch nach Adam Smith die Vorteile von Arbeitsteilung und Speziali­ sierung vornehmlich den Unternehmern zugute kommen. Darüber hinaus müssen alle Beteiligten schon für die notwendige Kooperation Sozialfähigkeiten entwickeln. Selbst wer sein Bürgersein auf einen bloßen Wirtschaftsbürger verkürzt, tritt wegen der Arbeitsteilung in Kontakt zu seinen Mitmenschen und lernt dabei, durch seine ökonomischen Geschäfte mit anderen vernetzt, ein Minimum von Sozialität. Zumindest verpflichtet er sich auf Verträge, und es entsteht, wenn die Verträge wie meistens eingehalten werden, ein so kostbares, weil leicht zu verspielendes, aber schwer wiederzugewinnendes Gut wie Vertrauen. Ohne die gegenläufigen Eigenschaften herunterzuspielen, die der Wettbewerbscharakter des Marktes prämiiert, entfalten selbst rein ökonomische Märkte eine friedensförderliche, zivilisierende Wir­ kung. Vor allem fördern sie nicht bloß das materielle, sondern darüber hinaus das wissenschaftliche, technische und kulturelle Wohlergehen. Fassen wir das liberale Ideal zusammen: Der freie Markt erlaubt, das für den Menschen notwendige Arbeiten und Wirtschaften sowie

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12.3 Ein Blick auf den Kapitalismus

jede Form von Wettstreit und Konkurrenz frei und ohne Einschrän­ kung seitens Dritter vorzunehmen. Dabei ergänzt er in Bezug auf die Arbeit das Freiheitspotential der Technik. Während diese mittels Geräten und Verfahren die Arbeit erleichtert und ihren Ertrag erhöht, sorgt der ungehinderte Markt dafür, daß das zur Befreiung von Hunger und Armut notwendige Wirtschaften effizient stattfindet, die erforderlichen Begabungen sich entfalten, und stimuliert vermittels Konkurrenz zu innovativen Leistungen. Dieser freie Markt reicht wie gesagt weit über die Wirtschaft hinaus. Namentlich der Gesellschaftsbereich, der für die Wirtschaft den verbindlichen Rahmen festlegt, die demokratische Politik, hat wegen des ihr innewohnenden Wettbewerbs selbst Marktcharakter. Denn sowohl Personen als auch Organisationen, insbesondere Par­ teien, nicht zuletzt Programme, sogar Weltanschauungen, konkurrie­ ren miteinander: um Aufmerksamkeit und Reputation, um Stimmen, um Ämter und um den Zugriff zu öffentlichen Finanzen. Man mag sich über das Stichwort der Weltanschauungen wun­ dern. Der freie Markt von teils religiösen, teils säkularen umfassenden Lehren ermöglicht aber den in europäischen und anderen okziden­ talen Ländern bekannten Pluralismus, hier einen Wettstreit von Sinnangeboten, die den Bürgern helfen, ihre je eigenen Vorstellungen von einem guten Leben zu suchen und ihnen dann zu folgen.

12.3 Ein Blick auf den Kapitalismus Das Mehr-und-mehr-Wollen, das schon die Antike geißelt und sich in der Welt der Wirtschaft als unendliches Gewinnstreben breit macht, lasten voreilige Kritiker gern dem von Europa ausgehenden Kapitalis­ mus an. In Wahrheit, zeigt der Soziologe Max Weber überzeugend, handelt es sich um eine allgemeinmenschliche Leidenschaft, neutra­ ler: Antriebskraft. Nach den universalgeschichtlichen Beobachtungen aus den schon zitierten Aufsätzen zur Religionssoziologie, »fand und findet sich« das Streben nach einem möglichst hohen Geldgewinn »bei Kellnern, Ärzten, Kutschern, Künstlern, Kokotten, bestechlichen Beamten, Soldaten, Räubern, Kreuzfahrern, Spielhöllenbesuchern, Bettlern: – man kann sagen: bei ›all sorts and conditions of me‹, zu allen Epochen aller Länder der Erde«. Daher überzeugt seine Folgerung: »Schrankenloseste Erwerbsgier ist nicht im mindesten gleich Kapitalismus, noch weniger gleich dessen Geist«. Typisch

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12 Wirtschaft und Finanzen

europäisch ist erst die Verbindung der grenzenlosen Erwerbsgier mit einer facettenreichen Rationalität, woraus die »schicksalsvollste Macht unsres modernen Lebens, der Kapitalismus«, hervorgeht. Gegen Max Webers vielbeachteter Zusatzthese eines Zusam­ menhangs von Kapitalismus mit Protestantismus überzeugt eher Werner Sombarts Gegenthese, daß insbesondere der Frühkapitalis­ mus mit dem Protestantismus nichts zu tun hat. Ein schöner Beleg: Die Sprache des Kapitalismus ist die eines katholischen Landes; die Ausdrücke banca, capitale, conto, credito usw. entstammen nämlich dem Italienischen. Ein besonderes Gewicht in Geldgeschäften entfal­ ten übrigens religiöse Minderheiten wie Juden im christlichen und Armenier im muslimischen Umfeld. Noch einmal: Die moralisch verwerfliche Geldgier, in traditio­ neller Sprache die Leidenschaft oder auch Todsünde der Habsucht, läßt sich nicht, wozu Moralisten unter den Sozialkritikern neigen, dem Kapitalismus anlasten. Vielmehr ist die Habgier eine allgemein­ menschliche Leidenschaft, vor der schon die alten Ägypter vor fast viereinhalb Jahrtausenden warnten: »Hüte dich vor der Verführung zur Habgier, denn sie ist eine schlimme, unheilbare Krankheit. Ein Sack ist sie, voll von allem Hassenswerten, ein Bündel von allem Übel« (Lesebuch zur Ethik, Nr. 1). So wundert es nicht, daß man die Habgier omnikulturell antrifft und selbst die Märchenwelt, etwa das Märchen vom Fischer und seiner Frau, vor ihr warnt. Im Kapitalismus des engeren Verständnisses, im effizienten Umgang mit der Ressource Geld, also im Kapitalismus als Leitprin­ zip der Finanzwelt und der ihr zugeordneten Unternehmen, kann laut Max Weber sogar das Gegenteil stattfinden, eine »Bändigung«, mindestens »rationale Temperierung dieses irrationalen Triebes«, der Geldgier. Denn statt sich unüberlegt und unmittelbar der Habsucht hinzugeben, wird sie einer Kontrolle unterworfen, zugleich auf eine verläßliche Spur gebracht: Der Kapitalismus beruht auf einer Rech­ nung, die »in Geld aufgemacht wird«, einer Kapitalrechnung, bei der der erwartete Gelderfolg deutlich über dem Geldeinsatz liegen muß. Die für Marktprozesse typische Handlungsform, der Tausch, nimmt dabei eine komplexe Gestalt an. Außer dem gewöhnlichen, interpersonalen Tausch, dem Tausch zwischen verschiedenen (natür­ lichen und juristischen) Personen, findet ein zweiter, jetzt außerge­ wöhnlicher Tausch statt, ein intrapersonaler und zugleich phasenver­ schobener Tausch, der in sich noch zweigeteilt ist: Läßt man einige hochkomplexe Finanzgeschäfte beiseite, so tauscht ein und dieselbe

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12.3 Ein Blick auf den Kapitalismus

(natürliche oder juristische) Person gegenwärtiges Geld gegen den in der Zukunft erwarteten, allerdings nur unter Risiko oder Unsicher­ heit eintretenden Gewinn. Dieser, der Profit, besteht längerfristig in Rentabilität, dessen Hintergrund die von Max Weber herausgehobene Kapitalrechnung bildet. Ob jemand Geld anlegt oder einen Kredit gewährt – er tauscht zum einen seine Gegenwart gegen Zukunft und zum anderen seine Sicherheit, die der gegenwärtigen Gabe, gegen die Unsicherheit der zukünftigen Gegengabe. Auf Seiten des Subjekts liegt dem eine doppelte Einstellung zugrunde. Die Fähigkeit zum Verzicht, nämlich die Bereitschaft, die gegenwärtige Gratifikation zugunsten eines längerfristigen Nutzens zurückzustellen, verbindet sich mit einer bestimmten Art von Spiel­ natur: Für die Erwartung einer künftigen großen Belohnung opfert man, wie der risikobereite Unternehmer exemplarisch zeigt, die gegenwärtige Sicherheit. Blickt man auf die Folgen, so läßt sich zweierlei schwerlich bestreiten: Der für diese Geschäfte zuständige Wirtschaftszweig, die Finanzwirtschaft mit ihren Banken, Börsen, Kreditanstalten, Sparkas­ sen und Versicherungen, hat als eine kaum noch wegzudenkende Stütze für die moderne kapitalistische Marktwirtschaft einen erhebli­ chen Rationalisierungsgewinn erbracht, der erneut einem großen Teil der Bevölkerung zugute kommt. Die Finanzwirtschaft beflügelt näm­ lich nicht bloß Unternehmen, sie ermöglicht auch Ratenkäufe und Wohnungshypotheken, was den von Adam Smith diagnostizierten nicht nur materiellen Wohlstand vermehrt. Denn eine Gesellschaft, die den Rationalisierungsgewinn umsichtig sucht, erlebt in vieler Hinsicht eine Blüte. Selbst die so weit skizzierte Rationalisierung, zugleich partielle Bändigung der Habgier durch längerfristiges Rentabilitätsdenken ist laut Max Weber in allen Kulturländern der Erde und ihren Epochen zu finden: »In China, Indien, Babylon, Aegypten, der mittelischen Antike, dem Mittelalter so gut wie in der Neuzeit«. Charakteristisch für den Okzident, für dessen Neuzeit mit Vorläufern im Spätmittel­ alter, ist erst »eine ganz andere und nirgends sonst auf der Erde entwickelte Art des Kapitalismus: die rationalkapitalistische Organi­ sation von (formell) freier Arbeit«, beispielsweise von großindustriel­ len Unternehmen und freien Lohnarbeitern. Hinzukommen gemäß Max Weber zwei weitere, jedoch eng damit zusammenhängende Elemente, »die örtliche und rechtliche Trennung von Haushalt (per­ sönlichem Vermögen) und Betrieb (Betriebsvermögen)« und »die

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12 Wirtschaft und Finanzen

rationale Buchführung«. Erst die Verbindung all dieser Elemente führt zur ökonomischen Besonderheit des neuzeitlichen Europa, zum »bürgerlichen Betriebskapitalismus mit seiner Organisation der freien Arbeit«. Dieser Wirtschaftsform, dem modernen Kapitalismus, kann sich, wenn auch in veränderter Form, selbst die angebliche Alternative, der ebenfalls in Europa geborene Sozialismus, schwerlich entziehen. Denn von der Frage des Privat- oder Kollektiveigentums abgesehen müssen auch sozialistische Betriebseinheiten um ihres Überlebens willen Bilanzen aufstellen, die Arbeitsprozesse rational organisieren, und zumindest auf Dauer dürfen sie keinen steten Verlust ausweisen. Anderenfalls gehen zunächst einige Betriebe und nach einiger Zeit der sie alimentierende Staat in ökonomischer Hinsicht zugrunde, es sei denn, er läßt wie in Nordkorea Millionen seiner Bürger hungern.

12.4 Wirtschaftlicher Fortschritt Erstaunlicherweise fiel es der traditionellen Wirtschaftstheorie schwer, den für die Wirtschaftsgeschichte charakteristischen Fort­ schritt zu denken. Denn die in der Wirtschaftstheorie vorherrschen­ den Gleichgewichtsmodelle waren statischer Natur. Aber schon vor mehr als einem Jahrhundert entwarf Josef Schumpeter eine »Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung« (1912). Am Beispiel des Autokö­ nigs Henry Ford zeigte er, wie große Unternehmer das Gleichgewicht in Form einer durch Wagemut und Kreativität beförderten »inneren Unruhe«, der Innovation, durchbrechen. Ein neueres Beispiel bietet die Informationstechnik. Sie verdankt sich nicht (subventionierten) Forschungsprogrammen, kommt sogar weithin ohne die Start-, zumindest Erfolgsbedingungen der traditio­ nellen Unternehmen aus, nämlich die Verbindung von patentierten Erfindungen mit einer beträchtlichen Menge von Kapital. Verantwort­ lich sind, was eine voreilige Marktkritik lieber verdrängt: die vom freien Markt angestachelte Kreativität und Originalität. Man muß es neidlos anerkennen: Die jeweiligen Gründer sind geniale Unterneh­ mer. Dabei tritt eine radikal neue, in ihrer Neuartigkeit noch unbe­ merkte Gestalt des Kapitalismus zutage. Im traditionellen Kapitalis­ mus soll Geld, Kapital genannt, eine hohe Rendite abwerfen. Im neuartigen Kapitalismus ist es schlicht der Geist, nämlich eine bril­

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12.5 Grenzen des Marktes

lante Geschäftsidee, die die Rendite abwirft, welche selbst für die sogenannten Heuschrecken unvorstellbar hoch ausfällt, nämlich nicht die 5–10 Prozent, mit denen Großunternehmer zufrieden sind, nicht die 10–15 Prozent, die mittelständische Unternehmer erwarten. Die Erfinder von Google, Apple, Facebook, auch von Amazon usw., die allesamt ohne Kapital starteten, sind innerhalb von zwei Jahrzehnten in den exquisiten »Orden« der Milliardäre aufgestiegen. Es klingt fast obszön und ist doch kaum zugespitzt: Die Partner­ schaft von Markt und Geist hat die höchsten Renditen hervorgebracht. Auf Seiten des Marktes sind es zwei Faktoren, die in den originellen Ideen steckende Kreativität und die von jener Nachfrage bestimmten exorbitant hohen Gewinne. Die aus Unternehmerkraft und krisenhaften Schock resultie­ rende Abfolge immer neuer Innovationen ist keineswegs auf materi­ elle Dinge beschränkt. Karl Marx lastete bekanntlich dem Kapitalis­ mus eine »maßlose Verlängerung des Arbeitstages« an. Tatsächlich wurde seit dem die Tages,- Wochen- und Jahresarbeitszeit mehr und mehr verkürzt. Zugleich beweist der Markt seine Zukunftsfähigkeit. Ein freier und mäßig expandierender Markt führt, wie schon Adam Smith einsah, zu relativ hohen Löhnen, ziemlich niedrigen Preisen und einem im Verhältnis zum Frühkapitalismus deutlich geringeren Profit. Insofern liegt der – weithin – freie Markt weniger im Interesse der Händler und Unternehmensbesitzer, der Kapitalisten, als dem der Arbeitsnehmer und der Konsumenten.

12.5 Grenzen des Marktes Damit der Markt seine Kräfte positiv entfaltet, braucht er, was pure Marktapologeten übersehen, einen Rahmen, den das Gemeinwesen festzulegen hat. Um seinen Aufgaben, dem freien Spiel der Kräfte, Raum zu geben, hat der Markt drei Kriterien zu erfüllen. Erstens tritt er ohne institutionelle Vorbedingungen gar nicht in die Welt. An der Spitze steht ein Rechtsrahmen, der »private«, nämlich weder kollektive noch andere »öffentliche« Eigentums- und Verfügungs­ rechte zuläßt, ohne deshalb alles der Privatisierung zu überlassen. Ist diese Vorbedingung gegeben, so braucht es, zweitens, weitere rechtsförmige, jetzt aber nicht marktetablierende, sondern marktre­ gulierende Regeln, die für eine faire Kooperation und Konkurrenz sorgen, zu diesem Zweck, drittens, marktinterne Barrieren des freien

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12 Wirtschaft und Finanzen

Marktes wie Monopole, Oligopole oder Kartelle verhindern oder wieder abschaffen. Andere Freiheitseinschränkungen, vor allem sofern sie vom Staat erfolgen, sind politisch umstritten, beispielweise ein Monopol auf den Brief-, Paket- und Telekommunikationsdienst, die Post, staatliche Konzessionsrechte wie Schürfrechte, ferner Festpreise, Höchst- oder Mindestpreise, auch Mietpreisbindungen und Mindestlöhne, nicht zuletzt das Privileg eines (zwangsfinanzierten) öffentlich-rechtlichen Senders. Die Frage, ob derartige Einschränkungen vom Gemeinwohl her plausibel, vielleicht sogar geboten sind, bleibt hier außer Betracht. Die drei Vorbedingungen, private Eigentums- und Verfügungs­ rechte, faire Konkurrenz und das Veto gegen Monopole, Oligopole und Kartellen, werden vom Markt nicht spontan, rein naturwüchsig erfüllt, setzen vielmehr eine freiheitliche Rechtsordnung voraus. Auch durch eine Politik, die gewisse Personen und für das Gemeinwohl wichtige Branchen, die auf dem Markt nicht erfolgreich sind, subventioniert oder alimentiert wird zwar die Marktfreiheit, aber nicht die Freiheit insgesamt eingeschränkt. Dadurch wird näm­ lich die Freiheit teils ermöglicht, teils gefördert.

12.6 Sozialismus oder soziale Marktwirtschaft? Die Besonderheit der europäischen Wirtschaftstheorie verkennt, wer auf den Markt lediglich einen positiven Blick wirft. Denn in Wahrheit entsteht in Europa, namentlich im englischen, französischen und deutschen Sprachraum, auch der scharfe Widerspruch. Gemäß der vielstimmigen Bewegung von Sozialismus und Kommunismus, die für sich ebenfalls visionäre Kraft beanspruchen, enthält der freie Markt ein derart hohes Potential an Inhumanität, daß er durch eine diametral entgegengesetzte Gesellschaftsordnung abzulösen sei. Hier sei exemplarisch Karl Marx mit seinem Förderer und häufigen Mitau­ tor Friedrich Engels erwähnt. Methodisch ist Marx von Hegels Dialektik, wirtschaftstheore­ tisch von einer Kritik der »bürgerlichen«, insbesondere der britischen politischen Ökonomie (Adam Smith, David Ricardo), sozialtheore­ tisch unter anderem von Jean-Pierre Proudhon und sozialpolitisch vom Elend der damaligen Arbeiterklasse inspiriert. In seinem Gesell­ schaftsideal, dem Kommunismus, wird der Gemeinwohleffekt, auf den sich der freie Markt wegen seiner Arbeitsteilung und Spezialisie­

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12.6 Sozialismus oder soziale Marktwirtschaft?

rung beruft, entweder rundweg bestritten oder zumindest in seiner Vorherrschaft untergraben. Mit großer Emphase erklärt Marx in der Deutschen Ideologie, daß jedem, statt auf »einen bestimmten, ausschließlichen Kreis der Tätigkeit« festgelegt zu werden, es ihm möglich sein soll, »heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, … ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden«. Man könnte diese Passage insofern positiv interpretieren, als sich niemand der Fron einer spezialisierten Arbeit unterwerfen müsse, vielmehr sich jeder mit dem beschäftige, wozu er Lust habe. Aller­ dings muß, wer als Jäger, Fischer, Hirt und Kritiker erfolgreich sein will, die Kompetenzen des Jagens, Fischens, Hirteseins und Kritik­ übens erlernen. Das aber ist selten ohne einen längeren, immer wieder mühevollen Lernprozeß möglich. Infolgedessen drängt sich die Frage auf, warum man sich mehreren, nicht immer mühelosen Lernprozessen unterwerfen, dabei jene Stufe von Kompetenz erwer­ ben soll, mit der man die Tätigkeit sowohl in Selbstachtung als auch in Anerkennung durch andere vollzieht. Wer in der Regel erfolglos bleibt, wer kein Tier erlegt, keinen Fisch fängt, die Herde nicht zusammenhält, läßt sich schon als Kind schwerlich trösten und als Erwachsener gewiß nicht. Um die Kritik an Marx und Engels sich nicht zu vereinfachen, könnte man bei der zitierten Stelle erklären, auch in der kommunisti­ schen Gesellschaft bleibe der Mensch ein Wirtschaftsbürger, der die ökonomischen und sozialen Vorteile von Arbeitsteilung und Spezia­ lisierung anerkennt und sich in ihr lieber auf eine wohlbestimmte Tätigkeit konzentriert, jedoch als Staatsbürger sich gegen das Ansin­ nen wehrt, nur ein (spezialisierter) Wirtschaftsbürger zu sein. Allgemeiner formuliert liegt die Stärke der von Sozialisten wie Marx vorgetragenen Kritik an der damaligen politischen Ökonomie in einer der »modernen« Wirtschaft innewohnenden Dialektik: Läßt man der Marktwirtschaft ihren freien Lauf, so erbringt sie, das räumt Marx ausdrücklich ein, einen zwar unvorstellbaren Reichtum von Gütern und Dienstleitungen, treibt überdies einen ungeahnten technischen Fortschritt an. Für diesen offensichtlichen Gewinn zahlt man aber einen hohen Preis an Arbeiterelend und Arbeitslosigkeit, zusätzlich an Ausbeutung der Natur und an Zerstörung gewachsener Lebensverhältnisse. Erstaunlicherweise zieht Marx nicht die Mög­ lichkeit in Betracht, den Markt durch strenge Rahmenbedingungen zu kontrollieren, wie es einer sozialen, mittlerweile auch ökologischen

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12 Wirtschaft und Finanzen

Marktwirtschaft möglich ist. Marx überschätzt jedenfalls das Eigen­ gewicht der Wirtschaft und unterschätzt das dem Recht und dem Staat mögliche Gestaltungs- und Kontrollpotential. Daß der freie Markt weder von allein noch aus sich heraus eine faire Konkurrenz zugunsten des Eigenwohls und des Gemeinwohls zustande bringt, ist der nichtsozialistischen, liberalen Tradition der europäischen Wirtschaftstheorie längst bewußt. Denn nur eine naive Apologie der angeblich selbstheilenden Kräfte des freien Marktes übersieht die genannten Probleme: daß in dem sich selbst überlas­ senen Markt außer Ungleichheiten auch Oligopole, Monopole und Kartelle zu entstehen pflegen, was das Gegenteil des freien Marktes zur Folge hat. Die Verbesserung der Produkte läßt nämlich nach, stattdessen steigen für die Konsumenten die Preise und für die Unter­ nehmen die Gewinne. Derartige Wettbewerbsverzerrungen sind paradoxerweise von der ökonomischen Rationalität her geboten. Denn bei entsprechender Macht erzielt man entweder mit gleichen Mitteln einen größeren Profit oder man erreicht denselben Profit mit geringerem Einsatz. Wegen dieses »Gesetzes der rationalen Wettbewerbsverzerrung« braucht es steuernde Kräfte, die den gemeinwohlförderlichen Rahmen zunächst schaffen, später aufrechterhalten. Die Einwände gegen den reinen Marktgedanken setzen sich in der Einsicht fort, daß das der Marktfreiheit zugrundeliegende Modell, der sein Eigenwohl maximierende Wirtschaftsbürger, der sogenannte homo oeconomicus, eine pure, in der Realität nie anzutreffende Fiktion ist. Jedenfalls ist die Marktfreiheit kein absoluter, Ja- oder Nein-, sondern ein komparativer Mehr- oder-Weniger-Begriff. Um die angedeutete Verkehrung zu verhindern und dafür zu sorgen, daß der Markt schon marktintern, darüber hinaus auch marktextern für die letztlich entscheidende Instanz, das Individuum, frei ist, gibt es zwei in funktionierenden Gesellschaften sich ergän­ zende Gegenkräfte. Die erste Gegenkraft entstammt nicht etwa einer zwangsbefugten Rechtsordnung, sie besteht vielmehr in einem per­ sönlichen Ideal, dem des ehrbaren Kaufmann. Dessen ungeschriebe­ ner Kodex von Achtung des Richtigen und Verachtung des Falschen hilft, eine gemeinwohlfördernde Atmosphäre zustande zu bringen. Nach Auskunft von Kennern haben die heute mehr und mehr ver­ ordneten Compliance-Regeln ihren Ursprung in den entsprechenden Londoner Clubs der englischen Bankenwelt. Wer dort nicht mehr als ehrbarer Bankkaufmann galt, wurde geächtet, was sich auf weit

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12.6 Sozialismus oder soziale Marktwirtschaft?

mehr als einen erheblichen Geldverlust belief: Man gehörte nicht mehr dazu und griff wegen dieser Schande zur Pistole. Aus anderen Wirtschaftskulturen ist Ähnliches bekannt, weshalb der Gedanke des ehrbaren Kaufmannes kein weltfremdes Ideal ist, sondern die Realität einer »harten« Geschäftswelt tatsächlich geprägt hat. Selbst bei rein ökonomischen Geschäften erweisen sich also Vertrauen und Reputation als nicht materielle und doch weit kostbarere »Güter«. Erst wenn die Welt der vorrechtlichen und vorstaatlichen Sank­ tionen versagt, braucht es die zwangsbefugte Rechtsordnung, eben die genannten auch rechtlich verbindlichen Compliance-Regeln. Sie allein genügen allerdings nicht, um den gemeinwohlschädlichen Fol­ gen einer bloßen Marktwirtschaft entgegenzutreten. Da der Wettbewerb, in einseitiger Zuspitzung »Kapitalismus« genannt, zwar den Wohlstand fördere, dabei jedoch den gesellschaft­ lichen Zusammenhalt gefährde, weil beispielsweise geringer Quali­ fizierte gegen höher Qualifizierte, ländliche Regionen gegen Metro­ polen rebellieren sollen, mag man mit Paul Collier einen »sozialen Kapitalismus« fordern (2019). Um viel mehr als ein wohlklingendes Stichwort handelt es sich dabei aber nicht. Für Arbeitsplätze sorgt schon eine soziale Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitspolitik. Auch die Steuerpolitik achtet darauf, daß sich Arbeiten lohnt, und fraglos können beispielsweise in Deutschland mittelständische Weltmarkt­ güter außerhalb der Großstädte florieren. Schließlich gibt es für eine so lebenswichtige Aufgabe wie bezahlbaren Wohnraum keine Patentrezepte. Mehr oder weniger erfolgreich stehen diese Aufgaben aber längst auf der Agenda von allen politischen Parteien. Schon deshalb empfiehlt sich, die spezifisch europäische Wirt­ schafts- und Arbeitswelt in einem »magischen Dreieck« fortzubilden: Die wirtschaftliche Rationalität verbinde man mit einem nachhaltigen Umweltschutz und mit einer Sozialstaatlichkeit, die aber nicht zu einem maternalistischen Fürsorgestaat degeneriere. Einem Konti­ nent, der 7 % der Weltbevölkerung und 25 % des globalen Bruttoin­ landprodukts umfaßt, aber 50 % der globalen Sozialabgaben finan­ ziert, darf man kaum mangelnde Sozialstaatlichkeit vorwerfen. Als Alternative zu einem Fürsorgestaat unterstütze man lieber die Hilfe zur Selbsthilfe. Denn erst mit ihr erkennt man einen anthropologi­ schen Rang: daß aus einem Arbeits- und Berufsleben, angefangen mit der vorlaufenden Ausbildung und der begleitenden Fortbildung, das höhere Maß an Selbstverwirklichung, Selbstachtung und Achtung durch andere resultiert.

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12 Wirtschaft und Finanzen

Ein politisch sensibles Gemeinwesen verpflichtet sich jedenfalls auf eine wirtschaftspolitische Verantwortung, auf das nur in sei­ ner Bezeichnung etwas altväterlich erscheinende Leitbild »sozialer« Marktwirtschaft. Dank dieses Leitbildes ist die vor allem in Westund Nordeuropa vorherrschende Wirtschaftsordnung längst zu einer Mischform von Privat- und Gemeinwirtschaft geworden. Trotzdem richtet sich die unter europäischen Intellektuellen beliebte Kritik in der Regel, dann der Realität zum Trotz, gegen den reinen Markt. Wenn man ihn für eine höchst gefahrenträchtige Veranstaltung hält, andere sogar eine »Diktatur des Marktes«, neuerdings eine Diktatur des Kapitals, befürchten, so verkennt man die gesellschaftliche Wirklich­ keit. Die soziale Marktwirtschaft mag im einzelnen noch kritikwürdig sein, sie bedarf dann aber einer weit differenzierteren, argumentativ anspruchsvolleren Kritik. Ein Kernelement der sozialen Marktwirtschaft bilden die gesetz­ liche Sozialversicherungen. Mit ihnen versichern sich die Bürger gegen Krankheit, Unfälle, Arbeitslosigkeit und für ein gutes Auskom­ men nach ihrer Berufs- und Erwerbszeit. Allerdings haben sie zuvor in die gesetzlichen Kassen einzuzahlen, was viele Selbstständige, weil sie dazu nicht verpflichtet sind, zum eigenen Schaden unterlassen. Nicht minder wesentlich für den Sozialstaat sind die progressive Lohn- bzw. Einkommenssteuer und weitere Maßnahmen zur Umverteilung des Reichtums, ferner das öffentliche Bildungswesen. Im Blick auf künftige Generationen kommen der Umweltschutz und weitere intergenerationelle Aufgaben hinzu, weshalb eine »bloß soziale Marktwirtschaft« nicht genügt. Es braucht vielmehr eine »öko­ soziale Marktwirtschaft«, die sich über nur ökologische Aufgaben hinaus für eine umfassende intra- und intergenerationell gerechte Freiheit eintritt. Daß die notwendige Balance einerseits zwischen den Polen Sozial und Markt, andererseits zwischen heutiger und nachfolgender Generation nicht leicht zu finden ist und im einzelnen politisch umstritten ist, liegt auf der Hand.

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13 Wissenschaft mit Technik und Medizin

Pantes anthrôpoi tou eidenei oregontai physei: Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen. Aristoteles, Metaphysik, Einleitungssatz

Nach einer verbreiteten Ansicht herrscht in den heutigen Wissen­ schaften eine Einbahnstraße vor: Von der Mathematik und Infor­ matik über die Naturwissenschaften und Medizin bis zu den Wirt­ schafts-, Sozial- und Technikwissenschaften gebe Europa zusammen mit Nordamerika den dominanten Ton an. Mehr noch: Die moderne Wissenschaft entstamme ausschließlich dem Westen und habe sich, ohne Anregungen anderer Kulturen zu benötigen, über die ganze Erde ausgebreitet. Träfe diese Ansicht zu, so wäre die Lage desaströs. Denn in poli­ tischer Hinsicht setzte sich eine fraglos verwerfliche Einstellung, der westliche Kolonialismus und Imperialismus, fort, jetzt als Kulturim­ perialismus und Kulturkolonialismus lediglich mit etwas subtileren Methoden. Brauchen folglich die Wissenschaften, was andernorts längst üblich geworden ist, eine Dekolonialisierung? Richtig ist, daß die Wissenschaften sich durch das Gegenteil einer geographisch definierten Partikularität, nämlich durch Universalität, auszeichnen. (Abschnitt 13.1). Ihretwegen ist es nicht leicht, Europas Besonderheit herauszufinden, etliche Eigentümlichkeiten lassen sich aber entde­ cken (Abschnitt 13.2). Zur neueren Debatte gehört die These, alle Erkenntnis sei interessengebunden (Abschnitt 13.3), tatsächlich ist sie ein Prozeß, der aus der gegenläufigen Bewegung von Befreiung und erneuter Fesselung besteht (Abschnitt 13.4), die wiederum zu einer weiteren Besonderheit führt, zu einer für die Welt der Wissenschaften notwendigen Ethik (Abschnitt 13.5).

13.1 Ein universales Phänomen Die Wissenschaft ist ein universales Phänomen, das in einem anthro­ pologischen Faktum gründet. Das Motto dieses Kapitels drückt es in

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den Wörtern aus, die der Einleitungssatz von Aristoteles Metaphysik auf den Punkt bringt: »Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen.« In der Tat herrscht die letzte Antriebskraft aller Wissen­ schaft, eine Gier, die kein Laster ist, die Neugier oder Wißbegier, in vielen Kulturen. Hier genügen wenige zum Teil schon erwähnte Bei­ spiele. Die Gespräche (Lun-yu) des Meisters Kung, latinisiert zu Konfu­ zius, beginnen mit der Maxime: »Lernen und fortwährend einüben – das ist doch eine wahre Freude!« Einige der aus der konfuzianischen Wißbegier folgenden Leistungen sind bekannt: Lange vor dem Wes­ ten erfinden die Chinesen das Papier, den Buchdruck, den Kompaß und das Schießpulver. Ein zweites Beispiel bietet die damalige Hauptstadt der arabi­ schen Welt, Bagdad, wo im Jahr 830 der Kalif al-Ma’mun, ein Sohn Harun al-Raschids, bait- al-hikma, das »Haus der Gelehrsamkeit«, gründet. Mehrheitlich über Übersetzungen syrischer Christen ver­ mittelt erschließt es nach und nach sowohl das philosophische als auch das mathematische, astronomische und vor allem medizinische Schrifttum der Griechen. Ein drittes Beispiel geben die Griechen ab, denn sie rezipieren ägyptische und babylonische Mathematik, die sie dann durch Pytha­ goras, Euklid und Archimedes kräftig bereichern. Blickt man auf die heutige Wissenschaft, so lebt ihre metho­ disch gepflegte Wißbegier, auf Niederländisch: Wiysbegeer im Sinne von Philosophie, erstens aus dem Streit bzw. der Kritik. Mit einem Pathos das man sonst nur vom Strafprozeß kennt, verpflichtet sie sich zweitens auf die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, auch wenn nach Ansicht des kritischen Rationalismus wissenschaftliche Aussagen nicht verifizierbar, nur falsifizierbar sind. Um die Gefahr der Vorurteile zu verringern, sucht sie drittens die Ursachen und Gründe, jedenfalls Argumente und wird, weil sie dabei methodisch vorgeht, überprüfbar, zugleich lehr- und lernbar. Viertens richten sich die wissenschaftliche Kritik und ihre Argu­ mente nicht bloß auf Aussagen, sondern auch auf ihre Kriterien und Methoden. Die kritische Selbstreflexion gehört zu den in Europa prak­ tizierten Wissenschaften wesentlich hinzu. Eine Folge der europä­ ischen Wissenschaft: Ohne die Leistungen chinesischer, indischer, persischer, japanischer, und anderen Forscher zu leugnen, läßt sich nicht bestreiten, daß, von einer »morale du changement« angetrieben, seit etwa 1500 ein ständiger Strom von Neuerungen aus Europa

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13.1 Ein universales Phänomen

kommt, bei dem erst später andere Wissenschaftsregionen mithal­ ten. Die vier Bedingungen, Kritik, Wahrheitssuche, Argument samt Methode und reflexive Selbstkritik, dürften für diese einzigartige Erfolgsgeschichte verantwortlich sein: daß die europäische Wissen­ schaft blüht und sich über den ganzen Globus ohne Gewalt ausbreitet. Mit einem fünften Merkmal, der thematischen Universalität, pflegten die Wissenschaften eine bislang so noch nicht wahrgenom­ mene Weltoffenheit und thematische Globalisierung: Europäische Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften interessieren sich nicht bloß für Europa, ihre Universitas scholarum richtet sich schon seit längerem auf die gesamte Welt, auf die Sprachen, Literaturen, Manu­ fakturen und Gebräuche aller Regionen und Epochen. Zugleich tragen sie, ebenfalls noch wenig bemerkt, in der Sache aber wichtig zu einer anamnetischen Gerechtigkeit bei, nämlich zur Erinnerung an die verschiedensten Kulturen und Zeitalter. Mitlaufend steuern sie der Ursache vieler Querelen innerhalb und außerhalb Europas entgegen: der Fixierung auf die eigene Kirch­ turmperspektive und auf einen Nationalismus, der sich selber nur als Opfer, die bösen Nachbarn dagegen bloß als Täter wahrnimmt. Eine weitere Leistung kommt hinzu: Statt in schlichten Schwarz-WeißSchablonen zu denken, liebt man Differenzierungen und Nuancie­ rungen. Infolgedessen bietet sich für ein Europa, das Identität und Profil sucht, eine vortreffliche Gelegenheit, die dank der geringeren Kosten auch gut finanzierbar ist: Man fördere nachhaltig die Geistesund Kulturwissenschaften. Darüber braucht man freilich die Natur-, Ingenieur- und Medizinwissenschaften nicht zu vernachlässigen. Denn diese verwirklichen das von der Menschheit schon immer gesuchte Können in einem vorher ungeahnten Maß: die Linderung materieller Not, die Heilung von Krankheiten und die Verringerung mühevoller Arbeit. Was davon ist für Europa eigentümlich? Dank der so gut wie universalen Wißbegier bilden sich, mit den Zwischenstufen der Erin­ nerung und Erfahrung schließlich jene Gestalt heraus, Wissenschaft und Philosophie, deren Inhalte das Gewicht einer globalen epistemi­ schen Allmende zukommt. Denn unabhängig von der Frage, woher die einzelnen Elemente kommen, nimmt allerorts die Menschheit das kumulierte Wissen in Anspruch. Weil den heutigen Forschern dieses globale Gemeineigentum selbstverständlich ist, sind sie überall Migranten: Sie kommen aus aller Welt, gehen in alle Welt und entwickeln für ihre Freude, Neues zu lernen, einen detektivischen

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Spürsinn, der sich erst dann zufrieden gibt, wenn er herausgefunden hat, warum etwas sich genau so und nicht anders verhält. Interkulturelle Moral- und Rechtsdiskurse lehren, daß Haltun­ gen, die die eigene Kultur hochschätzten, beispielsweise Rechtschaf­ fenheit, persönliche Zivilcourage und Korruptionsfreiheit, in ande­ ren Kulturen ebenfalls hochgeschätzt werden. Entsprechend sind interkulturell gültige Gemeinsamkeiten auch in den Wissenschaften zu erwarten. Sie beginnen mit allgemeinen Denkprinzipien wie dem Satz vom Widerspruch; sie setzen sich in dem Umstand fort, daß Wahrneh­ mungen sowohl räumlich als auch zeitlich verfaßt sind, daß das rezep­ tive Wahr-nehmen allein noch keine Erkenntnis zustande bringt, es vielmehr zusätzlich des aktiven Verstandes bedarf, für den sich allgemeine Grundbegriffe (»Kategorien«) wie Einheit und Vielheit, Ursache und Wirkung, möglich, wirklich und notwendig nahelegen. Der Universalitätsanspruch der Wissenschaften läßt sich bei­ spielhaft an einem Gedankenexperiment von Mathematikern zeigen: Mittels eines höchst leistungsfähigen Gerätes funkt man eine Reihe von Primzahlen ins All. Dann erwartet man von intelligenteren Wesen anderer Planeten, wozu die Primaten unseres Globus nicht imstande sind, nämlich daß sie die Primzahlreihe als solche erkennen, dann fortsetzen und ihre Fortsetzung zurückfunken. Die vermutlich ein Menschenleben weit übersteigende Wartezeit kontrafaktisch ein­ geklammert, rechnen die Mathematiker bei inner- oder außergalakti­ schen Wesen nicht nur mit derselben Mathematik, sondern zusätzlich mit drei weiteren Gemeinsamkeiten: mit derselben Physik, die den Funkkontakten zugrundeliegt; hinsichtlich der Funkgeräte mit der im wesentlichen selben Technik; schließlich mit der Fähigkeit, die Funk­ botschaft interpretieren zu können, womit ein Stück Hermeneutik ins Spiel kommt. Eine Primzahlreihe entsteht nämlich nicht durch eine zufällige Konstellation von Wellen, sie verdankt sich vielmehr Wesen, die trotz ihrer uns unbekannten Anatomie, Physiologie usw. über denselben Kern von Intelligenz verfügen. Schon bei einem einzigen Gedankenexperiment taucht also eine facettenreiche, vier Disziplinen umfassende Universalität auf, die jede Einschränkung auf das Menschengeschlecht sprengt. Sie ver­ dient deshalb einen Ehrennamen, der den Wissenschaften in Zeiten der Globalisierung hochwillkommen ist: Rein als Wissenschaftler betrachtet sind die Wissenschaftler nicht Bürger einer Stadt, eines Landes oder einer Kultur, selbst nicht des Erdkreises, obwohl sie ihn

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13.2 Eigentümlichkeiten Europas

kontingenterweise bevölkern. Sie sind vielmehr Bürger des alle Staa­ tengrenzen, selbst unseren Globus sprengenden Universums; sie sind wahrhafte Kosmopoliten. In den Worten eines großen Naturforschers, Max Planck, kennt die Wissenschaft keine Landesgrenzen, denn ihre Grenze ist lediglich die Grenze menschlicher Erkenntnis.

13.2 Eigentümlichkeiten Europas Die Steigerung des Wissens zur Wissenschaft dürfte die längste Zeit der Menschheitsgeschichte nur zu praktischen Zwecken betrieben worden sein: die Geometrie für die Feldmessung, die Astronomie für die Einteilung des Jahresverlaufs, die Naturwissenschaften als Grundlage für Technik, die Medizin, um Kranken und Unfallopfern zu helfen, die Botanik sowohl für die Landwirtschaft als auch für die Kochkunst und für mögliche Heilmittel, ferner die zum Teil glanz­ volle Technik für Wohnungs-, Festungs- und Städtebau, für Straßen, Brücken, Brunnen, Wasserleitungen sowie für die Salzgewinnung und den bunten Strauß von dazu hilfreichen Geräten. Nicht zuletzt dienen Sprach- und Literaturwissenschaften praktischen Zwecken. Sie überlegen nämlich, wie man heilige Texte wie die Bibel und den Koran oder klassische Texte, im Abendland etwa Homer, in China Konfuzius, Laotse und deren Meisterschüler, zu lesen, zu verstehen und gegebe­ nenfalls veränderten Lebensbedingungen gemäß auszulegen hat. Daß Menschen aus Neugier Wissen suchen, um mit dessen Hilfe von Naturzwängen möglichst frei zu werden, um ferner die Arbeit und andere Mühen des Lebens zu erleichtern und um Krankheiten und Unfallfolgen zu heilen, überdies um möglichst lange jung zu bleiben und das Leben zu verlängern, nicht zuletzt um wichtige, aber schwie­ rige Texte zu verstehen, ist ein so offensichtlich allgemeinmenschli­ ches Interesse, daß hier keine Kultur ein Exklusivrecht beanspruchen kann. Infolgedessen finden sich die entsprechenden Wissenschaften in vielen, zudem sehr frühen Kulturen, etwa bei den Assyrern und Babyloniern, in Ägypten, Indien und China sowie bei den Mayas. Deshalb können Mathematik, Naturforschung, Technik und Medizin trotz ihrer überragenden Gestalt, die sie diesem Kontinent, Europa, verdanken, universalistisch sein. Als europaspezifisch erscheinen erst fünf weitere Elemente. Während vier ihnen das Wissen steigern, übt das fünfte Element eine Kontrollfunktion aus.

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Die ersten zwei Elemente bringen die Wissenschaft zu einer sachlichen Vollendung, sind daher der Grund, daß die heute in aller Welt betriebene Wissenschaft zwar viele, nicht etwa nur europäische Wurzeln hat. Trotzdem wird sie im Wesentlichen in der von Europa ausgehenden und seither als allein »gültig« anerkannten Gestalt betrieben. In der erwähnten »Vorbemerkung« bringt es erneut Max Weber auf den Punkt, dort allerdings nur für den Vergleich von Europa mit Indien: »Der indischen Geometrie fehlte der rationale ›Beweis‹: wiederum ein Produkt hellenistischen Geistes, der auch die Mechanik und Physik zuerst geschaffen hat. Den nach der Seite der Beobachtung überaus entwickelten indischen Naturwissenschaft fehlt das rationale Experiment: nach antiken Ansätzen wesentlich ein Produkt der Renaissance, und das moderne Laboratorium«. Typisch europäisch sind also zum einen der mittels Begriffen und Argumen­ ten geführte Beweis, zum anderen das wegen seiner methodischen Planung wiederholbare, deshalb überprüfbare Experiment. Beides zusammen führt beispielsweise in der Heilkunde zur evidenzbasier­ ten Medizin. Eine dritte Eigentümlichkeit wird zwar nicht immer und überall in Europa, hier aber auch nicht höchst selten und vor allem nach allem bisherigem Wissen zum ersten Mal in Europa praktiziert: Auch wenn es vielerorts teils direkte, teils indirekte Abhängigkeiten (von Stiftungen, von der Industrie usw.) geben mag, findet sich auch eine Wissenschaft, die keiner Anwendbarkeit dient, vielmehr, von aller Nutzenorientierung frei, sich selbst, dem puren Wissenwollen, genügt. Aus nichts anderem als epistemischer Freude betrieben, hat sie den Charakter eines um ihrer selbst willen, streng intellektuellen, aber methodisch durchgeführten »Spiels«. Eine vierte, im nächsten Abschnitt näher erläuterte Eigentüm­ lichkeit kommt erst seit der frühen Neuzeit voll zum Tragen: ein nimmermüder Innovationsdrang, der sich aus zwei Antriebskräften speist, wissenschaftsintern aus einem auf Entdeckung und Erfindung abzielenden Forschungsbegriff und wissenschaftsextern aus dem schon genannten Wettstreit zwischen Individuen, Städten, weltlichen und geistlichen Herrschern um den größeren Ruhm. Das fünfte, im übernächsten Abschnitt erläuterte Element, eine Moral oder Ethik von Forschung und Wissenschaft, entsteht teils innerhalb, teils von außerhalb der Wissenschaft. Die Attraktivität dieser Besonderheiten ist bekannt: In Form einer »weichen Expansion Europas« wird der auf diesem Kontinent

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13.3 Interessengebunden?

entwickelte, freilich von außereuropäischen Quellen gespeiste, später auch in den Vereinigten Staaten fortentwickelte Kosmos von Phy­ sik, Chemie und Biologie sowie deren »Fortsetzungen« in Technik, Medizin und Pharmazie mittlerweile überall in der Welt erforscht, gelehrt und angewendet. Anders verhält es sich bei jener um ihrer selbst willen betriebenen Wissenschaft, die die Griechen Theoria nennen. Sie muß immer wieder, insbesondere auch in Europa um Anerkennung ringen.

13.3 Interessengebunden? Vielerorts sitzt die neuzeitliche Naturforschung mitsamt der Medizin und der Technik auf der Anklagebank. Wirkungsmächtig war Haber­ mas’ These, den modernen Naturwissenschaften liege »das Erkennt­ nisinteresse an der technischen Verfügung über vergegenständlichte Prozesse« zugrunde. Keine der beiden ersten Eigentümlichkeiten, weder der Beweis noch das wiederholbare Experiment, rechtfertigen diese These. Auch die Wirklichkeit drängt ein Fragezeichen auf. Die allgemeine Relativitätstheorie, einschließlich der von ihr vorherge­ sagten, neuerdings experimentell bestätigten Gravitationswellen sind in absehbarer Zeit nicht anwendungsfähig, und zweifellos ist die Gravitationstheorie nicht um einer etwaigen Anwendungsfähigkeit aufgestellt worden. Ähnliches gilt für den Nachweis der Gravitations­ quellen, ferner für die reine, trotzdem hochangesehene Mathematik, ähnliches für verschiedene Forschungen, die in den letzten Jahren mit Physik-Nobelpreisen geadelt wurden, etwa die Prognose von Higgs-Teilchen, die Lösung des Sonnen-Neutrino-Rätsels oder die Suche nach einer umfassenden Theorie aller Elementarteilchen. Auch wenn eine Naturforschung, die lediglich erkennen will, zunehmend weniger Unterstützung findet, ist sie immer noch kräftig präsent. Außerhalb der Naturforschung sieht es ähnlich aus: Die Entzifferung der ägyptischen Bilderschrift, der Hieroglyphen, erfolgte um des bloßen Wissens willen, was auch für die noch ausstehende Entzifferung der Maya-Schrift zutrifft. Zu befürchten ist allerdings, daß eine nutzenfreie Forschung, früher hochanerkannt, heute ein immer geringeres Ansehen genießt. Die Gründe der nachlassenden Reputation treten in einer historischen Differentialanalyse deutlich zutage (s. schon Höffe 42000, Kap. 3–4): Das im antiken Griechen­ land entstehende Ideal einer nutzenfreien Forschung, die Theoria,

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wird zunächst mit dem Einbruch des Christentums und ein zweites Mal durch die Forschungsinteressen der frühen Neuzeit verändert. Aufschlußreich ist der Beginn einer über Jahrhunderte hochge­ schätzten Textsammlung, Aristoteles’ Metaphysik. Die Schrift beginnt nicht, wie man wegen ihres Titels erwartet, aber auch befürchtet, mit einer verstiegenen Spekulation, sondern mit der genannten anthro­ pologischen These, daß alle Menschen von Natur aus nach Wissen streben. Daran schließt sich eine Stufenfolge an, die in der Wissen­ schaft und in ihrem Rahmen in der in epistemischer Hinsicht höchsten Wissenschaft, der Ersten Philosophie, der Fundamentalphilosophie oder Metaphysik gipfelt und deren Tätigkeit Theoria heißt. Ein Reflex dieser Bestimmung findet sich in der mittelalterli­ chen Einschätzung, etwa der Mathematik und der Musik, als freie Kunstfertigkeiten, als artes liberales. Wie es universitäre Vorlesungs­ verzeichnisse bis heute praktizieren – ein deutliches Zeichen der Entmachtung der Theoria – werden sie jedoch ihrem Rang nach den als nützlichen geltenden Wissenschaften, nämlich dem Recht und der Medizin, untergeordnet. Und trotz der Säkularisierung unserer Gesellschaft hat sich eine zusätzliche Unterordnung bis heute durch­ gesetzt: Den Spitzenplatz in den Vorlesungsverzeichnissen, noch vor dem Recht und der Medizin, nimmt die (christliche) Theologie ein.

13.4 Befreiung und neue Fesseln Die neuzeitliche Naturforschung setzt sich gegen jede theologische Indienstnahme radikal und umfassend ab. Trotzdem macht sie sich nicht von allen Diensten frei. Keinesfalls wird das epistemische Ideal der Antike rehabilitiert, man begibt sich vielmehr in neue Dienste. Selbst ein Denker, der in die Wissenschaftsgeschichte nicht nur als spekulativer Philosoph, als Begründer einer neuen Metaphysik, eingeht, sondern auch als Mathematiker mit einer Grundlegung der analytischen Geometrie, nicht zuletzt als Physiker, René Descartes, erklärt in seiner Programmschrift, der Abhandlung über die Methode (1637), daß er aus seinen bloßen Gedanken nie viel Staat gemacht habe; veröffentlichenswert sei erst eine Forschung von lebensprakti­ schem Nutzen. In seinem »Reiseroman« Neu-Atlantis (1627) reihte sich Bacon zwar in die ebenfalls für Europa charakteristische Tradition sozia­ ler Utopien ein. Dort entwirft er jedoch nicht wie der Begründer

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13.4 Befreiung und neue Fesseln

dieser Tradition, Thomas Morus, eine wirtschaftlich und politisch vorbildliche Gesellschaft, sondern das Ideal einer naturwissenschafts­ geprägten Zivilisation. Deren Mittelpunkt bildet ein riesiger Wis­ senschaftscampus, das »Haus Salomons«. Auf ihm wird, höchst modern, um des menschlichen Wohlergehens willen in alle nur erdenkliche Richtungen geforscht. Zusätzlich macht man sich mit Hilfe von »Kaufleuten des Lichts« in aller Welt über die neuesten Entdeckungen und Erfindungen kundig. Kurz: Man pflegt einen nie zufriedenen Innovationsdrang. Eine weitere Besonderheit kommt hinzu: Bei Aristoteles gipfelt die natürliche Wißbegier in einem schlechthin höchsten Wissen, der Fundamentalphilosophie. Das christliche Mittelalter erhöht die epistemische Pyramide noch um die Stufe der Theologie, behält den Gedanken einer qualitativen Vollendung des Wissens aber bei. Bacon hingegen entwertet den Gedanken, freilich nicht durch einen frontalen Angriff, sondern durch Desinteresse. An die Stelle einer in epistemischer Hinsicht vertikalen und qualitativen Steigerung tritt ein horizontales und quantitatives Wachstum, das Mehr-und-immermehr-wissen-Wollen einer entfesselten Neugier. Kant wird sie zu einer regulativen Idee der theoretischen Vernunft erklären. Denn den universalen Horizont aller Naturerkenntnis könne man nie ausschrei­ ten, sondern sich ihm nur durch fortgesetztes Forschen annähern. Beim Stichwort »Entfesselung« pflegt man heute an zwei andere Phänomene zu denken, an das entfesselte Machtstreben des homo faber und an das rastlose Gewinnstreben des homo oeconomicus. Diese beiden Entfesselungen gibt es durchaus. Zuvor, am Beginn der epistemischen Modernisierung, steht jedoch eine dritte Form, die rastlose und nie endgültig gestillte Neugier. Ihretwegen zeichnet sich die Forschung auf Neu-Atlantis wie angedeutet durch eine enzyklopä­ dische Vielfalt der Forschungsgebiete aus und zusätzlich durch eine epistemische Transformation des von vielen Religionen praktizierten Missionsgebotes: In regelmäßigen Abständen werden zwei Schiffe in die Welt geschickt, deren Reisende, die genannten »Kaufleute des Lichts«, Erkundigungen »über die Wissenschaften, die Künste, das Gewerbe und die Erfindungen« fremder Länder einziehen. Die erste, antike Revolution der Wissenschaft hatte ein innerwis­ senschaftliches Ziel, sie führte zum Ideal der nutzenfreien Forschung, der Theoria. Die zweite, religiöse Revolution der Wissenschaft, die des christlichen Mittelalters, unterwirft sich dem wissenschaftsexter­ nen Motto: Theologie statt Theoria bzw. Metaphysik. Die dritte,

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neuzeitliche und säkulare Revolution folgt einem Wahlspruch, der exemplarisch formuliert so lautet: »statt Theoria oder Theologie jetzt Medizin«. Allgemeiner formuliert muß man, um dem menschlichen Wohl zu dienen zwar die Naturkräfte zunächst einmal erkennen; vor aller Indienstnahme steht freie, reine Erkenntnis. Diese hat aber keinen Selbstzweck, vielmehr nur den Rang eines Zwischenziels, das einem höherem Zweck, dem menschlichen Wohl, dient. Weil er diese Sachlage unmißverständlich klar angesprochen hat, darf sich Bacon rühmen, schon vor bald 400 Jahren das humanitäre Ideal moderner Naturforschung auf den Begriff gebracht zu haben, mittels gründlicher und auffassender Erkenntnis das menschliche Leben zu verbessern und Übeln abzuhelfen.

13.5 Forschungsethik Offensichtlich liegt dem humanitären Dienst eine moralische Ver­ pflichtung zugrunde, erstaunlicherweise, nämlich trotz epistemischer Entmachtung der Theologie, das christliche Ideal der Nächstenliebe bzw. Barmherzigkeit. Eine humanitären Imperativen folgende Forschung ist jedenfalls keine Besonderheit Europas. Typisch, wenn auch nicht exklusiv euro­ päisch, wird die Wissenschaft erst durch eine zweite Moral, die in Bacons Forschungsprogramm ein erhebliches Gewicht erhält: eine Kontrollmoral. In Bacons Forscherrepublik ist sie der Forschung eingebaut und besteht aus zwei Elementen. Als erstes müssen die Mitglieder sich überlegen, welche Entdeckungen sie zur Bekanntgabe freigeben werden. Damit spricht sich Bacon zwar gegen eine generelle Publizität aus, aber nicht etwa, um eine öffentliche Kontrolle zu vermeiden, sondern im Gegenteil, um sie überflüssig zu machen. Um den bei jeder Technik stets möglichen Mißbrauch nicht erst zu verhindern, sondern um von vornherein das zustande zu bringen, was die Menschheit sich im Fall etwa der Atombombe vermutlich gewünscht hätte, nämlich gefährliche Entdeckungen in die Welt erst gar nicht eintreten zu lassen, werden sie von den Neu-Atlantis-For­ schern nicht bekanntgegeben. Kriterien, an denen sich die Forscher dann orientieren müssen, werden freilich nicht genannt. Als zweites zeichnen sich die Mitglieder der Forscherrepublik durch jene Weisheit aus, die auf eine ebenfalls nicht näher bestimmte

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13.5 Forschungsethik

Art intellektuelle Fähigkeiten mit moralischen Qualitäten verbindet. Die Träger der Forschung bilden also eine wissenschaftliche und moralische Elite zugleich. Nun sind Forscher aber kaum bloß deshalb, weil sie Forscher sind, Moralisten im Sinne von besseren Menschen, die etwa der Ruhm- und der Habsucht grundsätzlich enthoben sind. Insofern entpuppt sich Bacons Projekt als eine Utopie im wörtlichen, nämlich wirklichkeitsfremden Sinn, da Forscher nicht von innen heraus eine moralische Elite bilden. Deshalb empfiehlt sich, wie man längst praktiziert, externe Instanzen einzurichten, als Minimum eine Rechtsordnung, die auch bei Forschern kriminellen Verfehlungen ent­ gegentritt. Selbst wenn diese Kontrollmoral systemimmanent funktioniert, folglich weder eine moralisch unzulässige noch eine allgemeinwohl­ schädliche Forschung zu befürchten ist, stellt sich der Moral eine weitere, mittlerweile dritte Aufgabe. Sie hat rechtzeitig negative Nebenfolgen, etwa Gefahren, in den Blick zu nehmen, die entweder bei den Forschungsexperimenten selbst oder bei der Umsetzung der Forschung in die gesellschaftliche Wirklichkeit, insbesondere bei ihrer Massen-Anwendung, drohen. Zur ersten, der Initialmoral und zur zweiten, der Kontrollmoral tritt die Moral als Frühwarnsystem hinzu. Bei ihr zeichnet sich schon eine vierte Funktion ab. Eine Wissen­ schaft, die nur ihre humanitäre Intention beachtet, neigt zu einer übermäßigen Selbstschätzung. Dagegen verlangt die Moral Beschei­ denheit. Denn die von der modernen Zivilisation nur positiv einge­ schätzte humanitäre Intention zeichnet sich in Wahrheit durch etliche Ambivalenzen aus. Im Vergleich zum antiken Ideal der epistemisch sich selbst genügenden Theoria bezahlt nämlich die Wissenschaft ihre Modernisierung mit einem dreidimensionalen Verlust: Als erstes gibt sie das Moment der epistemischen Vollendung auf. Den Gedanken einer in epistemischer Hinsicht Ersten Wissen­ schaft erkennt sie allenfalls als Logik und Wissenschaftstheorie und diese lediglich als Propädeutikum an. Noch einschneidender ist der zweite Verlust. Das was auf den ers­ ten Blick als rein positiv erscheint, die Forderung nach nachprüfbaren Experimenten, hat zur Folge, daß man nicht mehr wie in der Theoria die Natur in Ruhe läßt. Vielmehr greift man in sie ein, deutlich etwa bei Tierversuchen und kaum weniger deutlich dort, wo gefährliche Stoffe, etwa Radioaktivität, in die Umwelt gelangen. Dadurch gibt die Forschung schon im Prinzip, nicht selten genug auch konkret ihre gesellschaftliche Unschuld auf.

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Schließlich verliert sie durch die humanitäre Zielsetzung ihre Freiheit und setzt zugleich ihre Dignität aufs Spiel, nämlich eine Kultur des Wissens, die, als Selbstzweck gepflegt, dem Menschen eine humane Selbstverwirklichung ermöglicht: Eine in Medizin und Tech­ nik gipfelnde Forschung verdrängt mit dem Humanitären als bloßer Intention das Humanum als in der Theoria schon praktizierte Wirk­ lichkeit. Eine der dominierenden Theorien der Moderne spricht von »Säkularisierung« und versteht darunter – unter anderem – eine Entmachtung von Religion und Theologie (vgl. Abschnitt 14.4). Christliche Elemente überleben, wenn überhaupt, ohne ihre religiö­ sen Wurzeln. Im Wissenschaftsideal der Moderne findet die Gegen­ bewegung statt. Es entwertet zwar die christliche Dogmatik, nimmt aber ein Kernelement der christlichen Praxis ernst, was, müssen wir anerkennen, heute praktisch-politisch gesehen unaufhebbar sein dürfte. Objektivität und Kreativität organisiert sich die Wissenschaft selber, gewiß. Ihrer Zielsetzung nach steht sie aber in Diensten. Bei Fragen der Finanzierung beispielsweise, nicht notwendigerweise bei der Detail-, wohl aber bei der Gesamtfinanzierung, ferner bei der Frage nach dem Existenzrecht der Wissenschaften überhaupt ist die Berufung auf humanitäre Zwecke nicht mehr wegzudenken. Allerdings taucht hier ein weiteres Problem auf: Die Wissen­ schaft läßt sich auf humanitäre Zwecke gar nicht festlegen. Der Handlungsstruktur nach ist es trivial, in der praktischen Bedeutung jedoch kaum zu unterschätzen, daß der Entdeckungszusammenhang nicht über die Verwendung entscheidet. Auch wenn die Naturkräfte nur um humanitärer Zwecke willen erforscht werden, kann man sie am Ende für beliebige Zwecke einsetzen. Darin liegt zwar kein Widerspruch, wohl aber die Gefahr einer Selbstüberschätzung: Die Wissenschaft erhebt einen (moralischen) Anspruch, den sie, rein als Wissenschaft gesehen, nicht einlöst. In einem sehr grundsätzlichen Sinn kann die Forschung der Rolle des Zauberlehrlings nie entkommen: Die Nächstenliebe treibt zu einer Erkenntnis der Naturkräfte, die, einmal erreicht, von der Antriebskraft unabhängig existiert. Denn die zwei Aufgaben ergän­ zen sich und bleiben doch grundverschieden: Hilfspotentiale zu ent­ wickeln und sie jemandem zukommen zu lassen. Vorausgesetzt, die Naturforschung verfolgt überhaupt humanitäre Zwecke, so erfüllt sie nur die erste Aufgabe. Sie stellt Hilfsmöglichkeiten bereit, deren sich die gesamte Menschheit bedienen kann, ohne daß eine bestimmte

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13.5 Forschungsethik

Hilfsmöglichkeit, oder ein bestimmter Adressat festgelegt würden. Daraus folgt Eine erhebliche Differenz zum einschlägigen Gleichnis des Neuen Testamentes: Der Samariter hilft einem Notleidenden wirk­ lich; die Wissenschaften stellen lediglich Hilfsmöglichkeiten bereit; die Sorge für deren Verteilung, also die Verantwortung für die Realisie­ rung der Hilfe, übersteigt ihre Macht. Nur der einäugige Blick auf die Wissenschaft übersieht die positive Seite, den Versuch, das Los der Menschheit zu verbessern. Trotzdem kann man, moralisch betrachtet, eine wissenschaftsgeprägte Zivilisation nicht auf eine säkularisierte Weise christlich, nämlich lediglich den religiösen Wurzeln entfremdet nennen, denn in Wahr­ heit praktiziert eine humanitäre Wissenschaft bestenfalls ein halbier­ tes Christentum. Eine zweite Halbierung kommt noch hinzu: Der Samariter hilft aus einer sowohl elementaren als auch offensichtlichen Not; er bringt eine existentiell entscheidende Hilfe. Die entfesselte und dank des methodischen Vorgehens höchst erfolgreiche humani­ täre Forschung kann sich zwar auf eine Bacon-These berufen: »but of charity there is no excess«, (»von Nächstenliebe kann es nie genug geben«). Sie hat aber bald einen abnehmenden Grenznutzen zur Folge: Die Zuwachsrate an Hilfsfähigkeit fällt immer geringer aus, so daß vom Christlichen gewissermaßen nur ein Viertel übrig­ bleibt. Weil die moderne Forschung das Leben oft genug lediglich ein wenig verbessert oder erleichtert, verliert sie erheblich an existentiel­ lem Gewicht.

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14 Religion

»Religio est quae superioris cuiusdam naturae, quam divinam vocant, curam cerimoniamque affert«. Religio[n] ist das, was die Menschen eine höhere Ordnung der Natur, die sie göttlich nennen, dienen und anbeten läßt. Cicero, De Inventione II, 53

Offensichtlich ist der Bereich der Religion nicht nur in der europä­ ischen Kultur, sondern weltweit politisch hochsensibel, vermutlich sensibler als die Bereiche von Sprache, Recht, Wirtschaft und Wissen­ schaft. Denn Religionen betreffen den Kern menschlichen Selbstver­ ständnisses, die persönliche Identität, was der Rechts- und Staatsord­ nung äußerste Zurückhaltung gebietet. Ihretwegen droht allerdings in Europa eine bislang noch kaum beachtete Gefahr, die der Idio­ phobie (Abschnitt 14.1). Da die Religion eine starke Zurückhaltung gebietet, ist schon, um Mißbrauch zu verhindern, der Begriff der Religion zu klären (Abschnitt 14.2). Weil Religionen nicht ohne Gewalt auskommen, empfiehlt sich ein Blick auf die Gegeneinstel­ lung, die Toleranz, die sich allerdings vielerorts in Gleichgültigkeit aufhebt (Abschnitt 14.3). Nach einem dominanten Selbstverständnis hat sich in Europa eine Säkularisierung ausgebreitet, was sowohl deren Begriffsklärung als auch einen knappen Blick in die einschlägige Geschichte empfiehlt (Abschnitt 14.4). Den Abschluß bilden zwei Fragen, deren Antworten hochumstritten sind: »Wie christlich ist das Abendland?« (Abschnitt 14.5) und: »Gehört der Islam zu Europa?« (Abschnitt 14.6) (vgl. neuerdings Höffe 2022.)

14.1 Idiophobie? Daß selbst zu einer modernen Gesellschaft gemeinsame Vorstell­ ungen von Recht und Gerechtigkeit und eine gemeinsame Sprache oder eine wohlbegrenzte Mehrsprachigkeit gehören, läßt sich schwer­ lich bestreiten. Wie aber verhält es sich mit der Religion? Einiges

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14 Religion

versteht sich mittlerweile von selbst: daß niemand wegen seiner Religion diskriminiert werden darf; daß Religionsangehörige sich in Religionsgemeinschaften organisieren dürfen; und daß sowohl im privaten Umgang als auch im Verhältnis der Religionsgemein­ schaften zueinander jene Toleranz zu herrschen hat, die ein bloßes Dulden übersteigt. Ist alles Weitere ausgeschlossen? Ist es kulturell unsensibel, eventuell sogar rechtlich unzulässig, an Schulen in Europa jene christlichen Traditionen zu pflegen, die dort lange Zeit vor den »Gast­ arbeitern« und anderen Zuwanderern aus muslimischen Ländern ungebrochen waren? Darf man von Zuwanderern, die wegen politi­ scher Unterdrückung oder aus wirtschaftlicher Not in Europa Zuflucht suchen, erwarten, die hier vorherrschenden Traditionen zu achten? Muß, wer die weiterhin gewünschten Traditionen, wenn sie denn an öffentlichen Schulen verboten werden, Privatschulen aufsuchen und dann Schulgeld und einen längeren Schulweg in Kauf nehmen? Ferner: Darf jedes Land der europäischen Union diese Fragen für sich entscheiden, oder muß es sich gemeinsamen Regeln beugen, die die Möglichkeit, gegen die Zuwanderung von Muslimen hohe Barrieren zu errichten, verbietet? Nach Ansicht des sardischen Juristen und Moralphilosophen Antonio Delogu leiden europäische Staaten unter einem Mangel an Selbstachtung, verbunden mit fehlender Courage, ihre rechtliche, politische und kulturelle Eigenständigkeit selbstbewusst zu verteidi­ gen. Aus Angst, andernfalls der Xenophobie beschuldigt zu werden, verfielen insbesondere liberale Intellektuelle dem planen Gegensatz zur Fremdenfeindlichkeit (Xenophobie), einer Feindschaft gegen das Eigene (idion) »Idiophobie«, die sich jede Berufung auf ein christliches Erbe verbietet. Die Alternative zu derartiger Idiophobie ist leicht zu finden: Man bekennt sich zur verfassungsgebotenen Religionsfreiheit samt der Trennung von Kirche und Staat. Trotzdem pflegt man ohne eine gelegentlich schon krankhafte Scheu, das Eigene zu bewahren, eine über Jahrhunderte gepflegte, hier religiöse Tradition, ohne Angst, einer vormodernen Religionstreue und einer xenophobienahen Über­ heblichkeit geziehen zu werden. Die Alternative besteht also in einem »mittleren Weg«. Dieser kann sich an Aristoteles’ Mesoteslehre orientieren. Er besteht nämlich nicht in einer quantitativen Mitte, hier absurderweise in weniger Idio­ phobie und weniger Xenophobie. Denn beide Haltungen sind trotz

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14.2 Religion

ihrer konträren Einstellung Phobien, mithin unüberlegte Haltungen und nicht, was Aristoteles’ Mitte fordert, ein umsichtiger Umgang mit der jeweiligen Herausforderung. Im Fall der Religion ist eine Selbstachtung geboten, die sich der Toleranz gegen das Andere, der freien Fremdachtung, nicht sperrt.

14.2 Religion Weil Religionen eine Eigengesetzlichkeit verlangen, in die, so die Forderung, weder Recht noch Staat und Politik eingreifen dürfen, ist zu klären, wer diese Autonomie verdient. Diese Aufgabe ist schwer zu bewältigen, da die zuständigen Fachleute, Religionswissenschaftler, Religionsphilosophen und Theologen, den uferlosen Streit lieben und sich nur in einem Punkt einig sind: Es gibt keinen allgemeinverbindli­ chen Begriff. Denn weder religionsinterne Versuche, die Religion bzw. wie früher in der christlichen Welt, den Glauben, durch gemeinsame innere Merkmale zu bestimmen, noch religionsexterne Versuche haben sich als umfassend phänomengerecht erwiesen. Trotzdem las­ sen sich zwei Hypothesen vertreten: Erstens empfiehlt sich, die Religion von beiden Seiten, sowohl von innen als auch von außen, zu betrachten und bei der interdiszipli­ nären Außenbetrachtung folgende Gesichtspunkte ernst zu nehmen: Die Religionen sind eine wichtige Autorität für das Ausbilden und Vermitteln jener Werte und Normen, sowohl der personalen als auch der öffentlichen und politischen Moral, auf die selbst konstitutionelle Demokratien angewiesen sind, ohne sie selber verläßlich hervorbrin­ gen zu können. Außerdem bringen sie Gemeinschaft und Gemein­ schaften zustande und sind für viele schon deswegen, gelegentlich aber auch davon losgelöst ein wichtiger Baustein der Identität. Weitere Leistungen kommen hinzu. So bieten Religionen in ihren Texten und Traditionen eine Fülle von Lebensweisheit und dienen, säkular gesprochen, dem Auseinandersetzen mit Schicksals­ schlägen, dabei namentlich der Kontingenzbewältigung: der Kompen­ sation von Verlusten. Ferner enthält der jüdisch- christliche Gedanke der Gottebenbildlichkeit das Potential für Vorstellungen von der uni­ versalen Gleichheit aller Menschen. Allerdings verbinden diese sich gern mit dem de-universalisierenden Gedanken eines auserwählten Volkes und bedürfen dann einer Re-Universalisierung.

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Nicht minder wichtig ist, daß Religionen den Menschen lehren, ihre Grenzen einzusehen und vor dem, was ihnen geschenkt ist, Ehrfurcht zu empfinden. Auch spielt der Vorbildcharakter sowohl der Religionsstifter als auch der Heiligen eine große Rolle, nicht zuletzt eine Modellgemeinschaft wie die Heilige Familie von Jesus, Maria und Joseph. Ebenso ist an das Sinn- und Intensivierungspotential von Reli­ gionen zu erinnern, nämlich an Vorstellungen einer »Heil« genannten Fülle und Vollkommenheit. Überdies machen die Religionen spiritu­ elle Angebote, die ebenfalls über die gewöhnliche, »säkulare« Moral hinausreichen und unterschiedliche Modelle von Befreiung verspre­ chen. Nicht zuletzt gehören zu den meisten Religionen Liturgie und Kult sowie die Fähigkeit, bei religiösen Festen Gefühle und Leiden­ schaften von außergewöhnlicher Intensität zu wecken, ferner die Fähigkeit, dem Leben einen Glanz zu geben, wesentlich hinzu. Ähn­ liches gilt für die Fähigkeit, Trost zu spenden, zu trauern und zu vergeben, ohnehin für die Bereitschaft zu Mit-Leiden, Wohltätigkeit und Nächstenliebe. Weil auch die Musik vielfältige und intensive Emotionen zu wecken vermag, überrascht es nicht, daß Religionen die Kooperation mit Musik suchen, was fraglos beide Seiten bereichert. Auch in anderen Bereichen setzen Religionen, in Europa vor allem das Christentum, eine enorme künstlerische Kreativität frei. Sie beginnt mit der geistlichen Musik (Choräle, Messen, Orato­ rien, Passionen, Kantaten, …), der Architektur (Kirchen, Kapellen, Wegkreuze und Klostergebäude) und dem Kunsthandwerk (Altäre, Kreuze, Orgelbau, Gewänder usf.) und setzt sich sowohl in der Lite­ ratur (Mysterienspiele, Passionsgeschichten, Hymnen, Liedtexte…), nicht zuletzt in Meisterwerken wie Dantes Göttliche Komödie als auch in einer bildenden Kunst fort, die in all diesen Bereichen auch von »religiös Unmusikalischen« geschätzt, oft sogar geliebt wird.

14.3 Toleranz oder Gleichgültigkeit? Nach einer zweiten Hypothese angesichts der Schwierigkeiten, einen unstrittigen Begriff der Religion zu bilden, darf ein phänomenaler Begriff manche Kehrseite der Religion nicht unterschlagen, so etwa weder eine verbreitete Sinnen- und Leibfeindlichkeit (weniger im Hinduismus) noch eine strenge, nicht selten mitleidlose Selbst-

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14.3 Toleranz oder Gleichgültigkeit?

und Fremdkontrolle. Dort, wo eine Religion ihren Mitgliedern den Austritt so gut wie unmöglich macht, hat die Rechtsordnung einzu­ schreiten. Dasselbe ist geboten, sobald eine Religion, selbst wenn sie mit Buddha oder Jesus auf einen friedlichen Stifter zurückgeht, blutige Konfessionsstreitigkeiten und nicht minder blutige Religionskriege verursacht. Infolgedessen darf keine Religion oder Konfession sich rechtlich und politisch absolut setzen und ihre Vorstellungen zur überall höchsten Richtschnur des Handelns erklären. Konzentrieren wir uns auf Europa, so entdecken wir in dessen antiken Polytheismus eine bemerkenswerte Toleranz, die sich in vie­ len nichteuropäischen Polytheismen wiederfindet. Während mono­ theistische Religionen »keine fremden Götter« neben sich dulden (Exodus 20,3), und erklären: »Wer nicht für mich ist, der ist wider mich« (Matthäus 12, 30), hatten die Griechen keine Schwierigkeiten, vorgriechische Gottheiten, und die Römer keine Probleme, etwa auf die Weise des Verschmelzens – Jupiter mit Zeus, Minerva mit Athene usw. – griechische Gottheiten in ihren römischen Götterhim­ mel zu integrieren. Alexander der Große macht sich die kulturelle, einschließlich religiöse Verschmelzung von Griechenland und Per­ sien sogar zum politischen Programm, und der »heidnische« Kaiser Hadrian läßt in Rom ein Pantheon, ein allen Göttern jedweder Her­ kunft geweihtes Heiligtum, erbauen. Diese Toleranz bricht ab, sobald das Christentum zum Staats­ kirchentum avanciert und sich später noch spaltet. Während es einem Japaner nicht schwerfällt, sowohl Schintoist als auch Buddhist, manchmal sogar zusätzlich Christ zu sein, können Christen nicht gleichzeitig katholisch und protestantisch sein. Stattdessen werden schon in der Frühzeit der Christenheit Häretiker verfolgt. Anderer­ seits pflegt man gegen »heidnische Bräuche« vielerorts eine kreative »Inkulturation«, beispielsweise wird die winterliche Sonnenwende zum Geburtsfest des eigenen Gründers »umfunktioniert«, und man kommt einem »polytheistischen Bedürfnis« in Form von Heiligenver­ ehrung entgegen. Sobald nun Häretiker zu zahlreich und zu mächtig werden, brechen Konfessionskriege aus, ein Preis, den man auch bei der Reformation nicht verdrängen darf. Der Blutzoll fällt freilich so hoch aus, daß, teils durch die Religionskriege erschöpft, teils der spitzfin­ digen konfessionellen Kontroversen überdrüssig, sich mittels dreier Argumentationsstrategien nach und nach die Forderung der Toleranz durchsetzt. Zur Verbreitung dieser Haltung verhelfen kräftige Voten

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für eine authentische, aktive Toleranz, die schon vorreformatorische Denker wie Nikolaus von Kues verlangen, Humanisten wie Erasmus von Rotterdam und Thomas Morus bekräftigen und nach der Refor­ mation Schriftsteller und Philosophen wie Lessing, Spinoza und Locke fortsetzen, letzterer aber nur begrenzt, da er Atheisten und Katholiken ausschließt. Eine erste, innerreligiöse Argumentationsstrategie erklärt die Glaubensfreiheit als mit der Religion vereinbar. Dabei kann sie beispielsweise auf neutestamentliche Grundlagen, etwa auf die Berg­ predigt, auf das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen und Jesus’ großmütige Haltung gegen Sünder, zurückgreifen oder auf Seiten des Islam auf den Vers 7 aus der Sure 109 des Koran: »O ihr Ungläubigen! … Euch euer Glaube und mir mein Glaube«. Eine zweite, sowohl staats- als auch religionstheoretische Strate­ gie folgt der schon genannten neutestamentlichen Formel »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers und Gott, was Gottes ist«. Sie entläßt nämlich den Staat aus seiner angeblichen Pflicht gegen Religion und Kirche. Als eine weltliche Schutzeinrichtung ist der Staat lediglich beauftragt, grundlegende Rechtsgüter wie Leib und Leben, Freiheit und Eigentum der Bürger zu sichern. Das Ziel der Religion hingegen, das Heil, und ein Gegenstand vieler Religionen, der Blick auf das Jenseits, fallen aus der hoheitlichen Zuständigkeit des Staates heraus. Selbst die Religion, die in manchen ihrer Stammländer Schwie­ rigkeiten mit Religionsfreiheit und Toleranz hat, der Islam, hat mit der gegenseitigen Emanzipation von Religion und Staat keine prinzi­ piellen Schwierigkeiten. Denn die aus dem Alten Orient stammende Verquickung der Religion mit Staat und Gesellschaft gründet nicht in seiner religiösen Substanz. Nach dem schlechthin ersten Prinzip, übri­ gens einer funktionalen Äquivalenz zum ersten Gebot des Dekalogs, nach dem Bekenntnis »Es gibt keinen Gott außer Allah«, kommt es dem Islam vor allem anderen auf einen reinen Monotheismus an. Da der Ausdruck »Allah« im Arabischen nichts anderes als »Gott« bedeu­ tet, könnte das Bekenntnis »Es gibt keinen Gott außer Gott« auch von Juden und Christen verwendet werden. Auch die nächstwichtigen Elemente werden durch die skizzierte Emanzipation nicht beeinträch­ tigt, weder das Bekenntnis zur Prophetenschaft Mohammeds oder das fünfmalige tägliche Gebet noch das Almosengeben, weder das Fasten im Ramadan noch die Wallfahrt nach Mekka. Ohnehin kennen selbst islamische Gemeinwesen die Trennung von weltlichem und geistlichem »Herrscher«, nämlich von Kalif und Sultan.

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In jedem Fall ist ein Minimum von Emanzipation zu fordern: Selbst ein Gemeinwesen mit einem stark christlichen, hinduistischen, jüdischen oder muslimischen Hintergrund hat den anderen Religions­ gemeinschaften sowohl die persönliche als auch die korporative Reli­ gionsfreiheit zu gewähren. Sofern Religionsgemeinschaften abwei­ chende Ansichten, Häresien genannt, mit Ausschluß ahnden, darf dies keinerlei weltlich-staatliche Folgen haben. Sie dürfen zwar aus der Religionsgemeinschaft, aber nicht aus der Staatsgemeinschaft ausgeschlossen werden. Vor allem darf man ein etwaiges Verbot, vom angestammten Glauben abzufallen, nicht mit weltlichen, weder mit rechtlichen noch mit sozialen Strafen erzwingen. Ohnehin hatten sie selber dagegen verstoßen: sowohl die Christen als auch die Muslime und die Buddhisten, als sie durch eine Mission der »Heiden« sich nach und über den gesamten Globus verbreiteten, folglich zu Weltreligio­ nen wurden. Nach einer dritten, personalen Rechtfertigungsstrategie hat jeder Mensch aufgrund seiner personalen Integriät nicht bloß eine Befug­ nis, sondern sogar eine Verpflichtung, nach seinem (aufgeklärten) Gewissen zu handeln. Bei religiösen Verbindlichkeiten allerdings, die den gesellschaftlichen Frieden bedrohen, beispielsweise den Bürger zur Meinung verleiten, den staatlichen Gesetzen nicht gehorchen zu müssen, endet die vom Staat zu garantierende Gewissensfreiheit. Um den heute gebotenen interkulturellen Blick an zumindest einem Beispiel zu praktizieren, sei ein außereuropäisches Vorbild religiöser und interkultureller Toleranz erwähnt: In dem von Inkas errichteten Reich lebten über zweihundert ethnische Gruppen mit höchst unterschiedlichen Sprachen, gesellschaftlichen Strukturen, nicht zuletzt auch Religionen zusammen. Wie nach Konfessionskriegen zu erwarten, macht sich vielerorts eine Gleichgültigkeit gegen Religionsdinge, eine Indifferenz, breit. Dazu gehört schon, daß im Rahmen der nach dem Dreißigjährigen Krieg errichteten »Westfälischen Ordnung« Kriege nicht mehr »fun­ damentalistisch« um religiöse Identitäten, sondern »pragmatisch« um Interessen geführt werden, was schließlich eine friedliche Kompro­ mißfindung erleichtert. Schon vorher, seit den Konfessionskriegen und durch die Aufklä­ rung sowohl verstärkt als auch beschleunigt, wenden sich zunächst etliche intellektuelle Wortführer, später die europäischen Gesell­ schaften selbst mehr und mehr von den christlichen Kirchen, auch dem Christentum ab. Dies geschieht teils schleichend, teils mit Nach­

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druck, nicht selten sogar mit einer deutlich antikirchlichen und anti­ christlichen Spitze. Diesen Vorgang kann man systematisch in sechs Phasen einteilen: (1) Verzicht auf das Recht einer Konfession oder (beim Verhältnis von Christentum und Judentum) einer Religion über (2) die Toleranz und die (3) Gleichgültigkeit zur (4) Kritik der jeweils vorgefundenen institutionellen Seite, den Religionsgemeinschaften und (5) der institutionellen Verfaßtheit von Religion überhaupt bis schließlich (6) zur Ablehnung der Religion selbst. Eine derartige Diagnose ist nicht falsch, aber einseitig, da sie Gegenbewegungen verdrängt. Insbesondere unterschlägt sie, daß das Recht der Religion und ihres Platzes auch in einer vom Geist der Auf­ klärung bestimmten Welt von so großen Philosophen erörtert werden wie Kant und den Vertretern des Deutschen Idealismus (Schelling, Fichte und Hegel), die ihrerseits einen so wirkungsmächtigen Theo­ logen wie Friedrich Schleiermacher beeinflussen. Später sind es der französische Vertreter der Lebensphilosophie, Henri Bergson, weiter­ hin der von deutschen Denkern inspirierte amerikanische Pragmatist Henry James und heute der von europäischer Philosophie geprägte Kanadier Charles Taylor, die die bleibende Bedeutung von Religion erörtern. Selbst der nach eigenem Bekunden »religiös unmusikali­ sche« Jürgen Habermas bricht zunehmend stärker eine Lanze für die Religion. Schon einem oberflächlichen Blick in die Geistesgeschichte bietet sich weder die Vergangenheit noch die Gegenwart als zunehmend religionsarm an. Religionen sterben nicht, wie viele Wortführer der letzten zweieinhalb Jahrhunderte – man denke an das Nietzsche-Wort »Gott ist tot« – meinten, zunächst intellektuell, dann auch sozial ab. Die ihrem liberalen Gemeinwesen loyalen Bürger können vielmehr beides, liberal und religiös, zugleich sein. Umgekehrt zeigt der Staat seine Liberalität darin, daß er seinen Bürgern die Doppelrolle pro­ blemlos ermöglicht. Er regelt ein Miteinander statt eines Gegeneinan­ ders der Religionen, ohne diese entweder aus dem Gemeinwesen zu verdrängen oder ihnen eine absolute Macht zuzubilligen. Ein schönes Beispiel bietet Bosnien-Herzegowina, wo, obwohl mittlerweile zu einem überwiegend muslimischen Land geworden, sowohl orthodoxe als auch liberale Muslime und beide Gruppen mit Katholiken, sla­ wisch-orthodoxen Christen und Juden in einer vorbildlich friedlichen Weise zusammenleben. Zugegeben, die Kritik an gewissen Ansichten der Kirchen und Verhaltensweisen kirchlicher Autoritäten ist fraglos gewachsen. Die

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Mitgliederzahlen sind rückläufig, noch mehr die Teilnahme an den Gottesdiensten, stattdessen steigt die Anzahl der Kirchenaustritte. Diese Entwicklung belegt aber noch keine zunehmende Abwendung von der Religion, da die Häufigkeit des Kirchgangs kein verläßliches Kriterium ist. Sie kann auch nur Gewohnheit oder ein gewisser Gruppenzwang gewesen sein, der vor allem in Großstädten entfallen ist. Zusätzlich droht bei Ländern, in denen wie Belgien, Deutschland, Österreich und großen Teilen der Schweiz, wie in Italien und Spa­ nien, wie in Großbritannien, den Niederlanden und Skandinavien die Kirchen entweder Staatskirchen sind oder sich eines besonderen Status öffentlichen Rechts erfreuen, die Gefahr, daß die Kirchen, statt Biotope lebendigen Glaubens und spiritueller Praxis zu sein, zu anpassungsfähigen Dienstleistungsunternehmen degenerieren. In Deutschland beispielsweise gehören die Kirchen zu den größten Arbeitgebern, die derzeit für das Schul-, Sozial- und Gesundheitswe­ sen, überdies in der Entwicklungshilfe eine unverzichtbare Stütze bilden – mit der Gefahr, daß sie sich, um im Sozialstaat wettbewerbs­ fähig zu bleiben, einer Entspiritualisierung unterwerfen. Trotzdem bleiben die Religionsgemeinschaften noch in weiteren Hinsichten gegenwärtig. Zum einen werden namentlich in medi­ zinethischen Debatten kirchliche Stimmen besonders aufmerksam gehört; ein Vorrecht steht ihnen hier allerdings nicht zu. Anderer­ seits werden kirchliche Feste wie Weihnachten und Ostern alleror­ ten, Weihnachten auch von nichtchristlichen Kreisen gern gefeiert. Nicht zuletzt sind bei existentiell wichtigen, zugleich punktuellen Einschnitten wie Eheschließung und Sterben/Tod religiöse Rituale, gelegentlich auch das Angebot, eine Lebensbilanz zu ziehen, gefragt. Überdies macht sich bei religiösen Ritualen ein neuartiges Phä­ nomen breit: daß man einer Volkskirche, in Skandinavien einer Staatskirche, angehören kann, ohne ernsthaft zu glauben (»belonging without believing«). Allerdings findet sich auch das entgegengesetzte Phänomen: daß man glaubt, ohne sich einer Religionsgemeinschaft anzuschließen (»believing without belonging«). Manche basteln sich sogar ihre persönliche Religion zusammen und vermeinen, mit die­ ser Privat- und Bastelreligion ihr autonomes Selbst unter Beweis zu stellen. In beiden Gestalten, als Religionsgemeinschaft und als kirchenfreie Religiosität, spielt jedenfalls die Religion eine so wichtige Rolle, daß der nichtdogmatische Blick sich ihrer bleibenden Gegen­ wart nicht verschließt.

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Als weiteres Phänomen sieht der erfahrungsoffene Blick quasireligiöse Bewegungen, zum Beispiel Pop-Festivals und politische Events wie die wöchentlich stattfindenden Montagsdemonstrationen. Auch hier, in sozialer Hinsicht, ist die Lage vieldeutig geworden.

14.4 Säkularisierung Die skizzierte Abwendung von Religion und Kirche wird gern »Säku­ larisierung« genannt, woran sich die bewußt provozierende Behaup­ tung anschließt, mit der Säkularisierung, zugleich einem Kennzeichen von Modernisierung, seien in Europa die Religion im allgemeinen und das Christentum im besonderen überflüssig geworden. Oder historisch formuliert: Die Modernität einer Gesellschaft verhält sich umgekehrt proportional zu ihrer Religiosität. Mit zunehmen­ der Modernität einer Gesellschaft wachse ihre Areligiösität, so daß starke Religiosität ein Zeichen von Modernisierungshemmnis und Fortschrittsfeindlichkeit sei. Gelegentlich spitzt sich die intellektuelle Skepsis in einer plakativen These zu, die Marx’ berühmtes Wort, Religion sei Opium fürs Volk, noch verschärft. Sie erklärt nämlich, die Religion verspreche das Paradies und schaffe die Hölle, denn obwohl sie Liebe verkünde, bringe sie in Wahrheit mitleidlose Gewalt. Schon das angedeutete breite soziale Engagement christlicher Kirchen und christlich inspirierter Teile der Bürgergesellschaft stel­ len diese Behauptung infrage. Die vorsichtigere Diagnose, die der Säkularisierung, verdient eine knappe Überprüfung und zuvor eine Klärung des Begriffs. Wörtlich bezeichnet »säkular« das, was sich nur einmal in hundert Jahren ereignet, Säkularfeiern sind Jahrhun­ dertfeiern. Abgeschwächt bedeutet »säkular« das Außergewöhnliche. Daneben, mittlerweile vornehmlich, bezeichnet der Ausdruck den angesprochenen Prozeß. Der entsprechende Vorgang, die Säkularisierung, meint ursprünglich ein Phänomen des kanonischen Rechts und des Staats­ kirchenrechts: den Übergang von kirchlichen Gütern in weltliche Hände, beispielsweise die Enteignung von Kirchengütern zugunsten von weltlichen Herrschern, wie es im Mittelalter etwa unter Karl Martel, in der Neuzeit im Anschluß an die Reformation und später, im Jahr 1803, in Deutschland im sogenannten Reichsdeputationshaupt­ schluß stattfand. Andere kirchliche Enteignungen erlebt England unter Heinrich VIII., Frankreich während der Revolution, in Italien

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14.4 Säkularisierung

der Kirchenstaat; und kommunistische Staaten nehmen sie noch lange nach den beiden Weltkriegen vor. In der Debatte um die Religion kommt es jedoch auf eine andere Bedeutung an, auf die Säkularisierung als Verweltlichung, namentlich als eine Entchristlichung. Sie reicht historisch weit zurück, mindes­ tens in den Investiturstreit zwischen Kaiser und Papst, in dem in den Jahren 1057 bis 1122 weltliche Herrschaft um ihre vom Papsttum infrage gestellte Autonomie, um die »Säkularität der Politik«, kämpft. In der Sache ist die Säkularisierung sogar noch älter, setzt nämlich im Neuen Testament an, so daß die Säkularisierung nicht nur eine Abwendung vom Christentum bedeutet. Gemäß zwei biblischen Worten, einmal der schon öfters genannten Forderung »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist« (Matthäus 22,21), zum anderen der Erklärung: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt« (Johannes 18,36), ist ein wichtiger Faktor der Säkularisierung zugleich ein Kennzeichen des Christentums selbst. Diesem beschei­ denen, aber keineswegs unbedeutenden Anteil der Säkularisierung ist jedenfalls zuzustimmen: Die an der zitierten Stelle angegebene Säkularisierung ist als Trennung von Kirche und Staat zum nicht mehr aufzugebenden Bestandteil konstitutioneller Demokratien geworden. Dazu gehört auch die spätere Bedeutung von Säkularisierung: daß der staatlichen Hoheitsgewalt die Rechtsprechung über alle weltlichen Lebensbereiche zusteht, selbst über diejenigen, die zuvor von der Kirche verwaltet wurden. Im 19. Jahrhundert versteht man unter Säkularisierung die Absage an die von Augustinus in De civitate dei vertretene Lehre von zwei Reichen, der jenseitigen Ewigkeit und der diesseitigen Welt. Für die heutige Debatte interessanter, weil wirklichkeitsnäher ist Max Webers These, die europäisch-westliche Gesellschaft habe einen Prozeß der Säkularisierung durchlaufen, in dem sich eine Profanierung, Verweltlichung, mit einer zunehmend rationalen Welt­ beherrschung verbinde. Um die so weit angedeutete Vielfalt der Begriffe und Phänomene von Säkularisierung durch eine gewisse Einheit zu bändigen, hat die Religionssoziologie fünf Bedeutungen von Säkularisierung unter­ schieden. Danach sei entweder (1) der Untergang der Religionen oder (2) eine Weltanpassung gemeint oder (3) eine Desakralisie­ rung der Welt, ferner (4) die Befreiung der Gesellschaft von der Religion und schließlich (5) eine Transposition, die Übertragung, von

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Glaubensformen und Verhaltensweisen von der religiösen auf die weltliche Sphäre. Diese Typologie läßt sich zugunsten von zwei Hauptbedeutun­ gen vereinfachen. Beide haben für das gegenwärtige Europa ein gewis­ ses Recht. Zum einen werden christliche Elemente und Prinzipien zurückgedrängt oder schlicht vergessen. Zum anderen haben sich gewisse Elemente und Prinzipien kaum in ihren Inhalten, in ihrer Bezeichnung aber grundlegend verändert. Beispielsweise werden Weihnachtsmärkte zu Wintermärkten deklariert. In anderen Fällen noch deutlicher allem religiösen Kontext entzogen, werden etwa Kon­ firmation bzw. Firmung jetzt zunehmend als eine weltliche, profane »Jugendweihe« praktiziert. Allerdings gibt es wie angedeutet auch Gegenbewegungen, insofern eine De-Säkularisierung, mancherorts sogar eine Renaissance des Religiösen. Weil diese gegenläufigen Phänomene nebeneinander bestehen, kann man die heutige Situation der Religion wohl nur als unklar bilanzieren: Wie in manch anderem Bereich so ist auch hier die gegenwärtige Welt Europas irritierend unübersichtlich geworden.

14.5 Wie christlich ist das Abendland? »Konservativ« genannte Kreise vertreten gern die These vom »christ­ lichen Abendland«, die die sogenannten progressiven Kreise bestrei­ ten. Die Frage, wie weit der einen oder der anderen Seite Recht zu geben ist, sei hier in zwei Schritten geprüft. Erster Schritt: Wer unvoreingenommen auf das Stadtbild und die Landschaft schaut, wer aus seiner Wahrnehmung weder die Kirchen, Kapellen, Wallfahrtsorte, Klöster und Wegkreuze noch dort die Tradition der Weihnachtsmärkte verdrängt, wo man ihnen lieber heidnische Namen gibt, wer auf die Zeitrechnung, die Kalendarien und etliche Hochfeste achtet, wer in Musikprogrammen die Weih­ nachtsoratorien, Passionen und Orchestermessen nicht »mit Fleiß« übersieht, obwohl sie keineswegs nur gläubige Christen faszinieren, wer an die künstlerische Kreativität denkt, die in der bildenden Kunst freigesetzt wird, weil von einigen Bilderstürmern abgesehen im Christentum kein Bilderverbot vorherrscht, wem der Einfluß von Bibelübersetzungen auf die europäischen »National«-Sprachen noch bewußt ist, wer darauf achtet, daß der so weitverbreitete Gedanke der Solidarität neben seiner Herkunft aus

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14.5 Wie christlich ist das Abendland?

dem römischen Recht auch als säkularisierte Schwester der Nächsten­ liebe zu verstehen ist, wer anerkennt, daß die Sozialstaatlichkeit in Europa nicht ausschließlich, aber auch in der christlichen Sozialethik wurzelt, wer nicht zuletzt um die Bedeutung eines Staatskirchenrechts weiß und das Gewicht kirchenamtlicher Stimmen bei ethischen, etwa bioethischen Fragen bemerkt, wer auf all diese Phänomene achtet, der kann, ob frommer Christ oder gläubiger Atheist, den Einfluß christlicher Faktoren sowohl auf die Entwicklung Europas als auch auf dessen Gegenwart nicht leugnen. Weitere christliche Elemente sollte man ebensowenig verdrän­ gen: Zur christlichen Tradition gehören so große Werke wie Augusti­ nus’ Confessiones (Bekenntnisse), die Rousseaus gleichnamiges Werk beeinflussen, wie Dantes Divina Comedia, wie Hobbes’ Leviathan, auf dessen Titelkupfer der Herrscher nicht nur das weltliche Schwert, sondern auch den christlichen Bischofsstab trägt, wie Descartes’ Meditationes mit ihrem Gottesbeweis und Kants Kritik der reinen Vernunft, die alle Gottesbeweise verwirft. Selbst wer Spinozas und Kants Wertschätzung der jüdisch-christlichen Moral nicht teilt und wer im Unterschied zu Hegel das Christentum nicht für die Religion der Freiheit, sondern die der Leibfeindlichkeit und einer nicht sel­ ten gewaltbereiten Intoleranz hält, kann die erwähnten Phänomene christlicher Prägung Europas nicht leugnen. Überschätzen darf man das Gewicht aber auch nicht. Die Kultur des Westens ist, geographisch pointiert, von drei Leitorten, Athen, Rom und Jerusalem, bestimmt. Hinzukommen, aber weniger so klar zu verorten, eine vierte und fünfte Säule, für Gesamteuropa die keltische Kultur und für Europa nördlich der Alpen die germanische. Bleibt man bei den genannten drei Leitorten, so liegt die Paradoxie der Rede vom christlichen Abendland im Umstand, daß Athen und das hier einschlägige, also nicht päpstliche, sondern antike Rom, vorchristlich sind und Jerusalem nicht im Abendland liegt. Athen. Im Leitort Athen bündelt sich eine Fülle von Errungen­ schaften der griechischen Kultur, die allerdings nicht allesamt von Athen ausgehen. Aus dem Griechischen stammt Homer, dessen Epen die europäische Erzählkunst bis heute beeinflußen, sogar mit Stich­ worten wie Achillesferse, homerisches Gelächter und Trojanisches Pferd in die Alltagsrhetorik eingedrungen sind. Die schon erwähnten griechischen Tragödiendichter könnten sogar noch einflußreicher sein, denn noch immer schmücken ihre Dramen die Theaterpro­ gramme der westlichen Welt. Und die großen Titelfiguren, auffallend

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viele Frauen: Antigone, Elektra, Iphigenie und Medea, inspirieren bis heute Nachdichtungen oder eigenständige Neuentwürfe. Aufgeführt wurden die Dramen in öffentlichen Theaterfestspielen, bei denen die Athener Bürger Jahr für Jahr ein Wir-Gefühl zelebrierten, zu deren Subkontext subtile politische Debatten gehörten, was einem bloßen Verfassungspatriotismus versagt bleibt und auch christlichen Feiertagen wegen zurückgehender religiöser Bindung zunehmend weniger gelingt. Als libidinöse Bindung des Sohnes an die Mutter ist der Ödipus­ komplex zu einem Grundbegriff der Psychoanalyse geworden. Wei­ terhin sehen Historiker in Herodot ein Vorbild für eine Geschichts­ schreibung, die politische Ereignisse in ihren kulturgeschichtlichen Zusammenhang stellt. Thukydides wiederum schätzen sie als ein Muster für eine möglichst objektive Historie, die die unterschiedli­ chen Befunde kritisch verarbeitet. Einen im wesentlichen griechischen Ursprung hat auch der Beweis mathematischer Sätze. Viele Kulturen verknüpfen ihre moralischen Verpflichtungen mit der Religion. Spätestens Aristoteles entwickelt eine philosophische Ethik und eine politische Philosophie, die auf Religion und Theologie verzichten. Infolgedessen verfügen sie auch in einer säkularen Welt über ein hohes Maß an Überzeugungskraft. Dies trifft vor allem auf die Methode, auf ein Denken mittels Begriff, Argument und Refle­ xion, sowie auf eine möglichst reiche Erfahrung zu. Nicht weniger aktuell sind die Ausdifferenzierung von Einzelwissenschaften und Spezialforschungen und das bis heute gültige literarische Muster von Wissenschaft, die Abhandlung. Christliche Denker wie Augustinus fordern wie erwähnt ein gottesfürchtiges Forschen, das hinter allen Naturvorgängen Gott als Schöpfer sieht. Die heutigen Wissenschaftler, einschließlich den christlichen, folgen nicht diesem Muster, sondern dem von griechi­ scher Philosophie inspirierten Gedanken einer von fremden Bindun­ gen unabhängigen, autonomen Vernunft. Nicht aus dem Christentum stammen auch Aristoteles’ Begriffe, die über ihre lateinische Übersetzung zum festen Bestandteil der abendländischen, vielfach auch der theologischen Weltorientierung geworden sind. Dazu gehören die Unterscheidung von Materie und Form, von Wirklichkeit (»Akt«) und Möglichkeit (»Potenz«), von Theorie, Praxis und Technik, ferner das Schema von drei gelungenen: Königtum, Aristokratie, und Politie/ Republik, und drei mißlungenen Staatsformen: Tyrannis, Oligarchie und jene Art von Demokratie,

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14.5 Wie christlich ist das Abendland?

die, weil aller Rechtsbindung enthoben, einer Willkürherrschaft nahekommt, schließlich zwei bis heute gültige Grundbestimmungen der Anthropologie: der Mensch als ein politisches Lebewesen das vernunft- und sprachbegabt ist und zu einer Politik berufen ist. Von Platons Denken seien die vier Kardinaltugenden, Besonnen­ heit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Weisheit, erinnert sowie die von ihm gegründete »Schule«, die bis heute für die Einheit von Forschung und Lehre vorbildliche »akademische« Institution. Ferner sind die griechische Medizin mit Hippokrates, Asklepsios und Galen und der Mathematiker und Ingenieur Archimedes zu erwähnen, weiterhin die Bildhauerkunst, Vasenmalerei und Architektur, namentlich die Tem­ pel, Theater und Städte, außerdem die dezidiert religionsfreie Natur­ philosophie Epikurs und dessen hedonistische Ethik, nicht zuletzt die über viele Jahrhunderte wohl wirkungsmächtigste philosophische Ethik, die stoische Ethik, die zunächst vom Christentum aufgesogen wird, später aber, in der europäischen Aufklärung, als Alternative zur christlichen Ethik wiederbelebt wird. Schließlich darf man Byzanz und Alexandria als Horte, später Rückvermittler griechischen Wissens an das lateinische Europa nicht vergessen. Selbst diese allzu knappe Erinnerung, gebündelt im Leitort Athen, zeigt einen schier überwäl­ tigenden Einfluß der griechischen Kultur. Vorchristliches Rom. Roms Selbstbewußtsein ist nicht gering. In einem Epigramm preist der Dichter Martial die Stadt, in der er 35 Jahre lebt, als »Göttin aller Welt und aller Völker, der nichts gleich ist auf Erden und nichts nachkommt«. In kultureller Hinsicht tritt Rom zwar »nur« das Erbe Griechenlands an, freilich in eigenständiger Verarbeitung. In mindestens vier Bereichen aber ist Rom gegenüber Athen kreativ und prägt, hier in aufsteigender Bedeutung, Europa bis heute: in der Rhetorik, im Recht, in der Sprache und, obwohl von Athen beeinflußt, im Gedanken der Republik. Am Muster römischer Rhetorik, Marcus Tullius Cicero, schulen sich Politiker und Anwälte bis ins 20. Jahrhundert. Darüber hinaus kann dieser Staatsmann, Redner und Philosoph sich wie gesagt rühmen, unter Rückgriff auf griechisches Gedankengut eine so umfas­ sende lateinische Begrifflichkeit geschaffen zu haben, daß es seitdem kein Gebiet der Philosophie gebe, das nicht in lateinischer Sprache zugänglich sei. Und zum größten Teil in dieser Sprache geht die griechische Philosophie in das europäische Denken und dessen Natio­ nalsprachen ein. Griechenland bringt so bedeutende Gesetzgeber wie Solon hervor, einen Juristenstand verdankt das Abendland aber

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erst Rom. Die europäische Rechtswissenschaft wird von römischen Juristen wie Celsius, Julian und Ulpian geschaffen. Diese besaßen die Befugnis, im Namen des Kaisers den Richtern autoritativ verbindliche Antworten auf Anfragen über die Entscheidung von Streitfällen zu geben. Ihre im Corpus iuris civilis zusammengestellten Gutachten und Leitsätze prägen nicht nur das kontinentale Rechtsdenken über Jahrhunderte. Ihre Ansichten werden auch vielfach übernommen und bestimmen beispielsweise das deutsche Schuld- und Erbrecht bis heute. Im Gefolge der ausgreifenden Herrschaft Roms wird das Lateini­ sche zu einer »Weltsprache«. Erneut »über viele Jahrhunderte«, bis weit in die Neuzeit, ist es die gemeinsame Sprache sowohl der christ­ lichen Liturgie als auch der Gelehrten. Es lebt in den romanischen Sprachen fort, einschließlich im romanisch-französischen Anteil des Englischen, ferner in Form von Fremdwörtern in den germanischen und slawischen Sprachen. Und zu einem beträchtlichen Teil ist es in der Terminologie noch der heutigen Wissenschaft gegenwärtig. Wenn heute die Republik als Ideal eines Gemeinwesens gilt, steht im Hintergrund Ciceros Definition: »Der Staat [res publica] ist also die gemeinsame Sache des Volkes; Volk aber ist nicht jede belie­ bige Ansammlung von Menschen, sondern der Zusammenschluß einer Menge, die einvernehmlich eine Rechtsgemeinschaft bildet und durch gemeinsamen Nutzen verbunden ist.« Offensichtlich kann sich die moderne, rechtsstaatliche Demokratie in dieser Bestimmung wiederfinden, insbesondere in der Rechtsgemeinschaft, dem Gemein­ wohl sowie dem Anspruch »einvernehmlich« (consensu) zu sein. Sogar in der Selbstbezeichnung sozialistischer Staaten als »Volksre­ publik«, heute etwa noch für China und Nordkorea, lebt der Gedanke der Republik fort. Jerusalem. Der dritte Leitort des »christlichen Abendlandes« hat endlich einen christlichen Charakter, er liegt allerdings nicht im Abendland, sondern in Jerusalem, wo das Christentum als Reformju­ dentum entsteht. Wie angedeutet bereichert es die abendländische Musik, Architektur, Literatur und wegen der häufigen Nichtableh­ nung eines Bilderverbots die bildende Kunst. Die wahrhaft weltgeschichtliche Leistung besteht aber in drei weiteren Faktoren. Als erstes übernimmt das Christentum vom Judentum die anthropologische Auszeichnung, die Wertschätzung des Menschen als Ebenbild Gottes, nach der jedem Menschen ein nicht mehr zu steigernder Wert zukommt. Wer hochentwickelte Tiere

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14.5 Wie christlich ist das Abendland?

wie etwa die Primaten nicht nur – zu Recht! – schätzen, sondern sogar auf den Rang des Menschen heben will, vergißt diesen Wesens­ unterschied: Nur der Mensch trägt sowohl für sich als auch für die Welt, in der er lebt, sowohl für die soziale als auch für die natürliche Welt Verantwortung. Aus dem Gedanken der Gottebenbildlichkeit läßt sich der Gedanke der Menschenwürde gewinnen. Daß sich daraus Grundund Menschenrechte ergeben, etwa die Religionsfreiheit und die Meinungsfreiheit zu gewähren sind und die Sklaverei abzuschaffen ist, haben allerdings die Christen, Protestanten kaum anders als Katholiken, nur widerstrebend gelernt. Die weltgeschichtliche Leistung des Christentums setzt sich darin fort, daß es sich, durch die damals intellektuell führende Macht, die Philosophie, provoziert, gezwungen sieht, eine Theologie im strengen Sinn, einen logos tou theou, eine wahrhaft philosophische Gotteslehre, zu entwickeln. Theologische Fakultäten müssen ihre heiligen Schriften, das Alte und Neue Testament auslegen und als Theo-logen sich dabei wissenschaftlichen Kriterien unterwerfen. Sie müssen die Geschichte ihrer Kirche und Kirchen erforschen und sollen sich mit Liturgie und Kirchenmusik, Pastoral und Predigt befassen. Wenn sie darüber jedoch auf evangelischer Seite die sys­ tematische Theologie und auf theologischer Seite die Fundamental­ theologie und systematische Dogmatik sowie deren philosophisches Propädeutikum verringern, vernachlässigen sie, was unabhängig von veränderbaren politischen Konkordaten ihr Recht an einer Universität beeinträchtigt: die ihrem methodischen Kern nach philosophische Auseinandersetzung mit den Grundlagen der eigenen Religion. Eine noch bedeutendere weltgeschichtliche Leistung dürfte, drit­ tens, in der Aufhebung jeder ethnischen Begrenzung liegen, in der Gleichberechtigung aller Menschen. Diese universalistische Botschaft wird trotz zu erwartender Widerstände alle Säkularisierungswellen überleben, infolgedessen auch in einer kulturell pluralistischen Welt­ gesellschaft die gelebte Anerkennung finden. Die Leistung wird allerdings mißverstanden, wenn man glaubt, die Ethnien mit ihren unterschiedlichen Sprachen, Kulturen und Mentalitäten würden auf­ gehoben. Schon ein so wichtiger Text wie die Apostelbriefe wenden sich nicht unterschiedslos an die Christenheit als ganze, sondern an die Epheser, die Korinther, die Römer usf. In all diesen Briefen bleibt aber, so der Anspruch, der Kern der Botschaft gleich. Insbesondere muß der Adressat nicht entweder schon Jude sein oder Jude werden.

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14 Religion

Schließlich darf man an Max Webers allerdings nicht unstrittige These erinnern, der »Geist des Kapitalismus«, nicht etwa die schran­ kenlose Erwerbsgier, sondern das rationale Streben nach immer neuen Gewinnen, gründe in einer christlichen Ethik, nämlich in der der Calvinisten und Puritaner. Zweifellos findet sich dieses Streben, längst von der protestantischen Ethik gelöst, sowohl im »rheinischen Kapitalismus« als auch im chinesischen Sozialismus. Es beweist, daß neben der Wissenschaft (Athen) und dem Recht (Rom) die wohl schicksalhafteste Macht in den heutigen Gesellschaften christliche Wurzeln hat. Wer allerdings hat sie vor Augen, wenn er vom christ­ lichen Abendland spricht? Wer heute den Kapitalismus noch mit protestantischer Ethik verbindet, wird zumindest in Europa eher an die Verurteilung des Kapitalismus als an ein Plädoyer zu dessen Gunsten denken. Denn man kritisiert das Gewinnstreben, obwohl es sich – darin ist Max Weber Recht zu geben – bei »all sorts and conditions of men« findet. Hebt man im Sinne einer Zwischenbilanz bei den drei Leitorten Europas jeweils nur wenige der bis heute hochwirksamen Leistungen heraus, so steht Athen für eine autonome Wissenschaft und eine Selbstregierung der Bürger, Rom für eine Republik und mit der Mit­ verantwortung professioneller Juristen für die Herrschaft des Rechts, Jerusalem schließlich für den hohen Rang eines jeden einzelnen Menschen. Wenn man diese Elemente unter dem Titel »christliches Abendland« versteht und sie um die genannten spezifisch christlichen Elemente erweitert, dann darf man sie nie aufgeben, sondern muß sie jenseits von Idiophobie und Xenophobie sowohl Christen als auch Nichtchristen zumuten: Auch für eine säkulare Gesellschaft bleiben sie unverzichtbar gültig.

14.6 Gehört der Islam zu Europa? Seit einiger Zeit ist die positive Antwort beliebt, zu »progressiv tolerant« geadelt, daß auch der Islam zu Deutschland bzw. zu Europa gehöre. Gemeint ist: tatsächlich schon heute, nicht etwa: vielleicht in der Zukunft. Die Behauptung scheint unstrittig zu sein, denn schätzungsweise sind schon heute in Deutschland und anderen west­ europäischen Ländern (Osteuropa sperrt sich gegen muslimische Zuwanderer) fünf bis sechs Prozent der Bevölkerung Muslime. Je nach Zuwanderung und Geburtenzahl wird ihr Anteil, so wird vermutet,

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14.6 Gehört der Islam zu Europa?

auf das Zwei- bis Dreifache steigen. Aus dieser Tatsache folgt aber, selbst wenn alle Muslime gläubige Anhänger ihrer Religion wären, lediglich, daß die Muslime zu den entsprechenden europäischen Ländern gehören. Es muß jedoch noch nicht auf ihre Religion, den Islam, selbst zutreffen. Erstaunlicherweise stellt man die Frage, ob er zu Deutschland gehört, für eine andere Religion, den Buddhismus, nicht. Diese Beobachtung mag als merkwürdig, vielleicht sogar als weithergeholt erscheinen. Die Zahl der in Deutschland lebenden bekennenden Buddhisten wird aber auf mehrere Hundertausende geschätzt (dar­ unter ein namhafter Philosoph), womit es sich keinesfalls um eine marginale Gruppe handelt. Vor allem gibt es für den Buddhismus, was für den Islam kaum zutrifft, daß eine der führenden deutschen Geistesgrößen, Arthur Schopenhauer, sich, »vom Jammer des Lebens ergriffen«, dem Buddhismus zuwendet, da »einem hell im Kopf werde«. Er nimmt die buddhistische Moral eines Mitleids mit allen Kreaturen, ausdrücklich auch mit den Tieren, auf und propagiert diese Mitleidsmoral weder als christlich noch jüdisch-christlich, viel­ mehr als Alternative zu der bislang vorherrschenden Moral. Seit Hermann Hesses Siddharta. Eine indische Dichtung (1922, 36. Auflage 2003), die mehrere Wellen der Buddhismus-Begeisterung auslöst, wird diese Religion hier hochgeschätzt. Für die größere Frage, was Deutschland oder Europa zusammenhält, wäre es also sinnvoll zu überlegen, warum Anhänger des Buddhismus sich nicht so deutlich in die Öffentlichkeit drängen oder gedrängt werden wie Muslime. Weil die Frage aber nicht akut ist, kann man bei der zweifellos dringlicheren Frage bleiben, wie es sich mit dem Islam verhält. Gegen die Gegenthese, also die Behauptung, der Islam gehöre derzeit noch nicht dazu, drängen sich Einwände auf. Gebildete Zeitge­ nossen können auf Lessings Drama Nathan der Weise verweisen oder auf Goethes Gedichtsammlung, den West-östlichen Diwan. Schaut man aber genauer hin, so fällt auf, daß Lessing als Titelfigur keinen Christen, sondern einen Juden, Nathan, wählt. Ihm stellt er einen Herrscher zur Seite, immer noch keinen Christen, sondern einen zwar nicht von Anfang an, schließlich aber doch toleranten muslimischen Fürsten, Saladin. Mit dem berühmtesten Element, der Ringparabel, die der Autor übrigens nicht erfindet, sondern vom italienischen Dichter und Humanisten Bocaccio übernimmt, plädiert Lessing nicht für eine Konversion zum Islam, zumindest nicht zu dessen Moral. Vielmehr erklärt er die drei Religionen, Judentum, Christentum und

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14 Religion

Islam, für zum Verwechseln gleich und vor allem für gleichwertig. Infolgedessen spielen spezifisch muslimische Elemente keine Rolle, weder ein die christliche Trinität ablehnender Monotheismus noch gewisse Speiseverbote oder das Gebot der täglichen Gebete und das der jährlichen Fastenzeit. Bei Goethe verhält es sich im Kern nicht anders. Der Dichterfürst aus Weimar schätzt am Islam den Monotheismus, ob trinitarisch oder homogen interessiert ihn nicht. Erstaunlicherweise gefällt ihm auch der Fatalismus (»Wenn Islam Gott ergeben heißt / Im Islam leben und sterben wir alle«). In seiner geistigen Persönlichkeit ein Freigeist, spricht sich aber auch Goethe nicht für die muslimischen Gebote und Verbote aus. In der Gedichtsammlung West-östlicher Diwan flieht er zwar, wie er rückblickend feststellt, angesichts der damaligen politischen Bedrohung in »das Entfernteste«, nämlich zunächst in den fernen Orient, nach China, dann in den näheren Orient, in die muslimische Welt. Im Diwan kommt es ihm jedoch nicht auf das religiöse, sondern auf das sinnenfrohe Leben an, also nicht auf den genuin religiösen, sondern den religionsindifferenten, orientalischen Anteil an. Nach der mehr und mehr beliebten »laizistischen Legende« ist die Geschichte des Westens von den Religionen nicht wesentlich bestimmt. Das Gegenteil, zeigen die vorangehenden Abschnitte, ist der Fall: Trotz fortschreitender Säkularisierung ist Europa tief vom Christlichen, also einer dem Judentum entstammenden Reli­ gion geprägt. Erweitert man den Blick, so zeigt sich, daß die europäische Kultur, beschränkt man sich auf die Religionen, nächst dem Christentum nicht etwa vom Islam, sondern – trotz der oben genannten Beobach­ tungen – vor allem vom Judentum beeinflußt ist. Ihm entstammt zum Beispiel jener Freund Lessings und Gesprächspartner Kants, der Philosoph Moses Mendelssohn, der die Emanzipation des Judentums in Deutschland einleitet. Sein Enkel, Felix Mendelssohn-Bartholdy, ein brillanter Pianist, Dirigent und Komponist, trägt wesentlich zur Wiederentdeckung eines für Europa so überragenden Komponisten wie Johann Sebastian Bach bei. Der Großindustrielle Emil Rathenau entstammt wieder ebenso dem Judentum wie sein Sohn Walther Rathenau, ebenfalls ein Industrieller, überdies ein bedeutender Poli­ tiker. Hinzu kommen zahllose Wissenschaftler, darunter Albert Ein­ stein, ferner Kulturschaffende und Intellektuelle, Wirtschaftsführer, Ärzte und Politiker. An nächster Stelle, siehe Schopenhauer, steht

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14.6 Gehört der Islam zu Europa?

der Buddhismus, dann folgt China mit seinem Konfuzianismus, den etwa Leibniz und sein Schüler Christian Wolff hochschätzen. Einen vergleichbaren Rang in der deutschen Kultur gewinnt der Islam nicht. Gewiß, wer die Geschichte mit einem langen, nicht aktualistisch verkürzten Atem betrachtet, weiß, daß im neunten Jahrhundert in der islamischen Welt eine Aufklärungszeit beginnt, die vielerorts bis ins zwölfte, mancherorts weit darüber hinaus reicht und so überragende Denker wie Avicenna und Averroës umfaßt. Vielleicht kennt man sogar Ibn Tufail bzw. Abubacer, dessen Abenteuerroman Hayy ibn Yaqzan: Vom Lebenden, dem Sohn des Wachenden Daniel Defoe zu einem Long- und Bestseller, Robinson Crusoe, inspiriert haben könnte. Es ist jedenfalls unbestritten, daß der persisch-arabische Kulturraum die griechische Philosophie und Wissenschaft umfas­ send rezipiert, daß wegen der sich anschließenden kulturellen Blüte das Arabische nach dem Griechischen und Lateinischen zur dritten Sprache der Philosophie aufsteigt und etwa für die mittelalterliche Rezeption des Aristoteles unverzichtbar wird. Oder: In ihrer Blütezeit beherbergt die Kalifenstadt Cordoba mehrere so reiche Bibliotheken, daß im Vergleich dazu gute Klosterbibliotheken der Zeit bestenfalls wie Stadtbüchereien statt Universitätsbibliotheken aussehen. Während diese Glanzzeiten aber vor Jahrhunderten erloschen sind, reicht näher an die Gegenwart jene Belagerung Wiens durch das expansionistische osmanische Reich, für deren glückliche Abwehr der verantwortliche Feldherr, Prinz Eugen, von seinen Zeitgenossen und von vielen Generationen danach hochgerühmt wird. Deutsche, französische, schwedische und weitere europäische Bürger muslimischer Religion sind zweifellos Teil des jeweiligen Landes. Dort, wo sie ihre Religion in den demokratischen Rechtsstaat integrieren, ohnehin die Amts- und Verkehrssprache beherrschen, zusätzlich sich in die Arbeits- und Sozialwelt einleben, können sie sogar zu Vorreitern eines europäischen Islam werden. Falls sie sich sowohl von den humanen Idealen ihrer Religion als auch von den Idealen der Aufklärung mitsamt der Toleranz und den Grundund Menschenrechten, einschließlich der Meinungsfreiheit und der Gleichberechtigung der Frau, inspirieren lassen, können sie den mus­ limischen Glaubensgenossen in aller Welt einen zukunftsfähigen Islam vorleben. In Deutschland gibt es dafür schöne Beispiele wie Neklek Kelek und Navid Kermani sowie ein Schriftsteller wie Su Turhan, der als Titelfigur einen Kriminalkommissar wählt, der sowohl die Moschee besucht als auch den Schweinsbraten mitsamt Bier liebt.

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14 Religion

Gegenbeispiele gibt es freilich auch. Die Sorge vor einem Islam, der offensiv auftritt, der mit ausländischem Geld überdimensionierte Minarette baut, der in einer Moschee abendlandkritische Imame agitieren läßt, der die Freiheit und Gleichberechtigung der Mädchen und Frauen behindert, der dem zunehmend autokratischen Herrscher der Türkei, Erdogan, zujubelt und aus dem zahlreiche Terroristen hervorgehen – diese vielfältige Sorge ist nicht aus der Luft gegriffen.

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15 Musik

hêdonês charin hoi pleistoi metechousin autês [mousikês]. hoi d’ex archês etaxan en paideia dia to tên physin autên zêtein. Die meisten interessieren sich für Musik um des Vergnügens willen, ursprünglich aber galt sie als ein Mittel der Bildung, weil die Natur selbst danach strebt. Aristoteles, Politik, Buch VIII, Kapitel 3

15.1 Eine Weltsprache Musik pflegt die Menschheit seit ihrer Frühzeit, vermutlich lange bevor es dafür Zeugnisse gibt. Ihre Grundmittel, Melodie, Rhythmus und Harmonie, sind so eng mit dem Wesen des Menschen, mit seiner Natur als sinnenfrohes und ausdrucksstarkes, an Freude und Miteinanderfeiern, aber auch am Wunsch, Schmerz, Leid und Trauer zu artikulieren, verknüpft, daß es nicht erstaunt, Musik in allen uns bekannten Kulturen zu finden. Musik ist eine universale Sprache, vielleicht besser: Quasisprache, die zwar in den einzelnen Kulturen unterschiedlich ausgestaltet wird, trotzdem in vieler Hinsicht, etwa beim Ausdruck von Freude oder Klage, unmittelbar, kulturindifferent »verstanden« wird. Nach aller Erfahrung werden die Grundzüge der Musik leichter als die verbalen Sprachen grenzüberschreitend gelernt. Rhythmus ist oft »ansteckend« und in Melodien versucht man, direkt einzustimmen: Musik hat eine kaum zu überbietende, die Menschen aller Völker verbindende Kraft. Zwei der Grundelemente der Musik, das Melos (Lied, Gesang) und der Rhythmus, dürften die Musik in den Rang einer Univer­ salsprache, sogar der Universalsprache der Menschheit erheben: Melodien und Rhythmen kann jeder Mensch »verstehen«, und beim Tanzen kann jeder mitmachen. Hinzu kommt eine facettenreiche Faszination: Obwohl die Tonkunst selbst im Fall der postseriellen Musik nach Regeln, insofern »rational« komponiert wird, hat sie eine starke emotionale, bald betörende, bald besänftigende, bald

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15 Musik

aufmunternde Macht, nicht zuletzt entfaltet sie mit der impliziten Aufforderung, doch mitzusingen, mitzuspielen oder mitzutanzen, eine soziale Wirkung. Die Musik der einzelnen Kulturen läßt sich fraglos als unter­ schiedliche Dialekte oder Dialektgruppen der einen Weltsprache betrachten. Je nach Klangmaterial und den daraus entwickelten Klang­ systemen, je nach den (ein- oder mehrstimmigen) Konstruktions­ prinzipien, je nach den sozialen Funktionen der Musik, hier von der Magie und Trance über Liturgie und den Volkstanz, über das Sich-verrenken oder das Aufstacheln bis hin zur Unterhaltung, nicht zuletzt dem ästhetischen Erlebnis, finden wir sowohl innerhalb der einzelnen Kulturen, Kulturkreise und Epochen als auch zwischen ihnen unterschiedliche Musikkulturen. Insofern ist die Musik ein treffendes Beispiel für eine globale Einheit, die dem wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Europa als Vorbild zu empfehlen ist: Sie bietet ihre Einheit ohne jede einebnende Homogenität, viel­ mehr in reicher, sogar überreicher Differenz an. Die Differenz hat nun, so ein weiterer Vorteil der Musik, wegen der angedeuteten anthropo­ logischen Gemeinsamkeit zwar einen unterscheidenden, selten aber einen trennenden oder gar Feindseligkeit stiftenden Charakter.

15.2 Ist Europas Musik einzigartig? Kann man von einer derart universellen und universal verbreiteten Kunst die Besonderheit einer gemeinsamen Dialektgruppe, also eine für Europa typische Gestalt erwarten? Wie in den anderen Themenbe­ reichen so zählen auch hier nicht geographische Grenzen, vielmehr kommt es auf Europa als Kulturraum an. Unter europäischer Musik werden daher sowohl die in Europa entstandenen Kompositionen als auch die zwar von außerhalb kommenden, aber in ihrer Kompositi­ onsart europäischen Mustern folgenden Tonwerke verstanden. Für die Annahme einer für Europa typischen Gestalt geben zwei prominente Stimmen eine positive Antwort, sie behaupten: ja, es gibt die Eigentümlichkeit. Diese Behauptung überzeugt freilich nur dann, wenn man nicht wegen universalhistorischer Ignoranz etwas für typisch europäisch hält, was in Wahrheit weit verbreitet ist. Nun die erste positive Stimme: Wie mehrfach erwähnt, tritt der Soziologe und Universalhistoriker Max Weber in der »Vorbemer­ kung zur Religionssoziologie« einer voreiligen Überbewertung des

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15.2 Ist Europas Musik einzigartig?

Europäischen entgegen. Aufgrund seines stupenden Wissens hebt er die Gemeinsamkeit mit anderen Kulturen hervor und räumt sogar eine gelegentliche Überlegenheit ein: »Das musikalische Gehör war bei anderen Völkern anscheinend eher feiner entwickelt als heute bei uns; jedenfalls nicht minder fein. Polyphonie [Mehrstimmigkeit] verschiedener Art war weithin über die Erde verbreitet, Zusammen­ wirken einer Mehrheit von Instrumenten und auch das Diskantieren [die Hauptstimme um eine hohe Gegenstimme zu bereichern] findet sich anderwärts.« Danach hebt Weber allerdings auch für die Musik hervor, was er generell für Europas Einzigartigkeit hält, eine bestimmte Rationalität. Keineswegs reklamiert er jede Rationalität der Musik für Europa, denn: »Alle unsere rationalen Tonintervalle waren auch anderwärts berechnet und bekannt.« Für einzigartig hält er erst weitere, insge­ samt recht zahlreiche Rationalitätselemente wie den Kontrapunkt und die Akkordharmonik, nämlich die Bildung des Tonmaterials auf der Grundlage der Dreiklänge, wie die harmonisch gedeutete Chromatik, die Erhöhung oder Erniedrigung der Stimmtöne und die Enharmonik: In der sogenannten temperierten Stimmung von Tasteninstrumenten werden zwei streng genommen verschiedene Töne wie dis und es als gleich gespielt. Typisch europäisch sind auch die Orchester mit dem Streichquartett als Kern, der Generalbaß, die Notenschrift, die »das Komponieren und Üben moderner Tonwerke, also ihre ganze Dauer­ existenz überhaupt, ermöglicht«, ferner die Sonaten, Symphonien, Opern »und als Mittel zu dem alle unsre Grundinstrumente: Orgel, Klavier, Violine: dies alles gab es nur im Okzident«. Ein weiteres Rationalitätselement bleibt noch hinzuzufügen, das analog in allen Kulturbereichen Europas zutage tritt: Es besteht in einer Reflexion über die genannten Rationalitätselemente, die die schon in sich vielfältig rationale Musik Europas um eine Rationalität zweiter Stufe erweitert: um eine facettenreiche Theorie der Musik Europas und deren Steigerung zu einer Philosophie, die wie in den anderen Kulturbereichen auf die schon in sich rationale Musikpra­ xis einwirkt. Als zweite Ja-Stimme zur Singularität europäischer Musik sei aus einer Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weiz­ säcker (185, 247) zitiert: »Bei Licht betrachtet ist die Musik, was uns vielleicht nicht immer ganz bewußt ist, das Eigenste, das Ele­ mentarste, was Europa der Weltkultur geschenkt hat.« Gegen den Exklusivanspruch dieser Aussage zusammen mit v. Weizsäckers Fort­

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setzung »Poesie, Philosophie, Malerei, Skulptur, Architektur, das alles gibt es in anderen Kulturen auch« drängen sich zwar Beden­ ken auf. Denn wie in den anderen Kapiteln dieses zweiten Teiles gezeigt, nämlich in der Philosophie, im Recht, der Wirtschaft, und der Wissenschaft mitsamt Medizin und Technik, finden sich ebenso Eigentümlichkeiten Europas, die als Geschenk an die Welt betrachtet werden können. V. Weizsäckers Fortsetzung kann man aber ohne Bedenken zustimmen: »In keiner anderen Kultur jedoch hat – ich glaube, das dürfen wir ohne Anmaßung der Europäer sagen – die Musik solche Höhen erreicht, ist in so tiefe Schichten vorgedrungen, wie in Europa.«

15.3 Weltweite Präsenz Die weltweite Präsenz der europäischen Musik ist enorm, im Bereich der sogenannten E-Musik (»ernster Musik«) sogar einmalig. Bei aller Wertschätzung etwa chinesischer Opern oder afrikanischer oder indischer Kunstmusik werden diese in den Konzertsälen und Opern­ häusern der Welt nicht annähernd so häufig wie europäische Werke aufgeführt. Früher, in Zeiten von Kolonialismus und Imperialismus, konnte man dieses Phänomen noch zu einem erheblichen Teil auf einen musikexternen Faktor, auf eine mehr oder wenig offensive Kul­ turexpansion, zurückführen. Nachdem diese Zeiten glücklicherweise überwunden sind, auch weil europäische Musik in Ländern blüht, die wie China und Japan von europäischem Kolonialismus weitgehend verschont blieben, nicht zuletzt weil imperialistische Tendenzen über Wirtschafts- und Militärpolitik kaum hinausreichen, sind andere, vornehmlich musikinterne Gründe zu suchen. Zu fragen ist also, inwiefern und warum birgt die Musik Europas in sich ein Potential an Globalisierungsfähigkeit, das längst weltweit wahrgenommen und realisiert wird? Vorab seien Belege für die behauptete überwältigende Präsenz in aller Welt angeführt. Trotz der noch zu skizzierenden innereuropäi­ schen Vielfalt, sogar in nachdrücklicher Anerkennung der Vielfalt, wiederholt sich das für die Wissenschaften genannte Phänomen: Die europäische Musik erweist sich als globalisierungsfähig, sogar in mehreren Hinsichten. Als Amateur, mithin Liebhaber, jedoch Laie, darf ich mich auf einige von persönlicher Erfahrung geprägte

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15.3 Weltweite Präsenz

Vermutungen konzentrieren. Manche von ihnen mögen trivial sein; einmal genannt zu werden, verdienen sie aber doch. Auf der einen Seite werden europäische Kompositionen überall auf der Welt aufgeführt, in Istanbul, Neu Delhi, Peking und Shanghai, in Seoul, Sydney, Taipeh und Tokio nicht anders als in den europä­ ischen und nord- sowie südamerikanischen Metropolen. Europäische und weitere »westliche« Solisten und Orchester gehen auf Weltreisen. Vielerorts werden für die europäische Musik eigene Konzertsäle und Opernhäuser gebaut und Orchester speziell für die europäische Musik gegründet. Oft werden sogar die Kantaten, Oratorien, Passionen und Opern in der europäischen Originalsprache vorgetragen. Während in anderen Bereichen die Religionen und Konfessio­ nen eine Konkurrenz »zelebrieren«, die nicht selten in Feindschaft ausartet, ist selbst die tief vom Christentum und anderen jüdischen Wurzeln geprägte geistliche Musik, sind sogar die entsprechenden Oratorien, Choräle, Passionen und Messen in Kulturen mit anderen Religionen oder mit bewußt atheistischen Kulturen hochwillkom­ men. Mitverantwortlich dürfte der Umstand sein, daß in den religiö­ sen Werken allgemeinmenschliche Probleme »zur Sprache« finden, im Agnus Die von Beethovens Missa solemnis zum Beispiel »die Exis­ tenz des Menschen in einer gefährdeten Welt«. Oder das Friedensge­ bet »Dona nobis pacem« von Bachs h-moll Messe beeindruckt ein von den Sorgen seines Landes bedrücktes Moskauer Publikum. Schließ­ lich beschämt Bach alle christlichen Theologien und ihre Kirchen, die bei ihren ökumenischen Aufgaben so wenig Fortschritte zeigen: Der Protestant Bach folgt mit der lateinischen h-moll-Messe einer katholischen Liturgie, für die er frühere Kompositionen verwendet, so die zwei ersten Teile, das Kyrie und das Gloria, die er einem katholi­ schen Herrscher, dem sächsischen Kurfürsten und polnischen König Friedrick August II. widmet. Nicht zuletzt gibt es zeitgenössische Belege: Der in New York lebende chinesische Komponist und Dirigent Tan Dun (*1957) komponiert eine Matthäus-Passion: »Water Passion after St. Matthew« (2002). Weil nicht nur Chinesen, Japaner und Koreaner, sondern viele weitere außereuropäische Studenten seit Jahrzehnten an die Musik­ hochschulen und Konservatorien Europas drängen, sind zum Beispiel in Deutschland die Musikhochschulen mit ihren etwa zur Hälfte ausländischen Studenten die in höchstem Maß internationalen Aus­ bildungsstätten der Republik. Allein Baden-Württemberg, also ein Bundesland mit wenigen Prozent der europäischen Bevölkerung,

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15 Musik

bildet laut zuständigem Ministerium Jahr für Jahr zahlenmäßig ein ganzes koreanisches Symphonieorchester aus. Und weil die Nichteu­ ropäer, namentlich Japaner, neuerdings auch Koreaner und Chinesen, so engagiert Instrumente und Gesang studieren, heißt es mittlerweile in den Medien pointiert: »Beethoven braucht das Abendland nicht«. In der Tat darf man Erfahrungen von Berlin, München und Stutt­ gart verallgemeinern: In europäischen Opernhäusern beispielsweise, ihren Orchestern, Chören, selbst unter den Gesangsolisten findet sich ein erheblicher Anteil von außereuropäischen Mitgliedern. Zwei Bei­ spiele mögen genügen: In der Stuttgarter Oper, ihrer Tosca-Auffüh­ rung, singen in den sieben Hauptrollen vier Nichteuropäer, darunter ein Südkoreaner; im Ersten Tenor des Staatsopernchors ist Südkorea mit einem Drittel vertreten. In der Bayrischen Staatsoper wiederum übernimmt für die Boris Godunow-Aufführung der US-Japaner Kent Nagano die Musikalische Leitung; einer der Solisten stammt aus Japan, ein anderer aus Kuwait. Überdies werden, nach europäischem Vorbild Orchester gegründet, die sich auf einzelne Komponisten spezialisieren, beispielsweise in Japan ein Bach-Orchester. Nicht zuletzt kommen große Interpreten aus der Ferne, so etwa die weltweit gefeierte Interpretin von Mozarts Klavierwerken, Mitsuko Ushida, aus Japan. Und die in Shanghai geborene Pianistin Zhu Xiao-Mei, Autorin des Bestsellers »Von Mao zu Bach«, antwortet auf die Frage, was sie sich im Himmel wünscht: »daß mir Gott Bach vorstellt«.

15.4 Das »Phänomen Bach« Bekanntlich steht Zhu Xiao-Mei mit ihrer Hochachtung vor dem großen Meister nicht allein. Gemäß dem Wort, das man einem Philosophen, Theologen und Arzt, Albert Schweitzer, zuspricht, ist Johann Sebastian Bach nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes »der wahre fünfte Evangelist«. Nach Ansicht von Kennern ist Bach der gemeinsame Nenner (fast) aller westlichen Musik, wichtig nämlich nicht bloß für die Klassik und Romantik, sondern auch für die Zwölftonmusik, für den Jazz (man denke an die »Play Bach«-Musiker) und den Rap. Der Grund ist nicht lange zu suchen. Bachs Kompositionen strah­ len nicht bloß Harmonie und Ordnung aus, sondern machen auch reichen Gebrauch von Disharmonien. So ist diesem überragenden Komponisten gelungen, was generell unseren Zeiten, insbesondere

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15.4 Das »Phänomen Bach«

aber Europa als Vorbild dienen kann: Bachs Werk ist das Muster einer Ordnung in überragender Vielfalt und hoher Komplexität. Ähnlich wie bei europäischen Schriftstellern gibt es bei ihm beides und beides oft zugleich: Wir finden sowohl einen eigenen, sehr persönlichen, wenn auch mit der eigenen Kultur verbundenen Stil als auch einen europainternen Zusammenhang: Bach kannte die unterschiedlichen Regional- und Nationalstile der damaligen Zeit, also die aus Italien, Frankreich, England und Polen stammenden Arten zu komponieren. Vor allem verstand er, das darin schlummernde Potential von so gut wie unendlich vielen Möglichkeiten auf eine höchst eigene Weise zu realisieren. Nach seinem Ideal musikalischer Schönheit ist eine Komposition in ästhe­ tischer Hinsicht umso vollkommener mit je umfangreicheren und farbenreicheren, phantasievolleren Mitteln sie arbeitet. Indem Bach die vielen Musiksprachen in seinem persönlichen Kompositionsstil einverwandelt, wird er zu einem typisch europäischen Musikgenie, nämlich zu einem Europäer, der im Europäersein er selbst wird. Wie auf kaum einen anderen Komponisten trifft auf Bach zu, daß sich seine Musik, vermutlich auch die von Mozart und Beethoven, als fester Bestandteil des kulturellen Erbes Europas, wenn nicht gar der Menschheit insgesamt etabliert hat. Wer die Musik Bachs zu lesen vermag – die Texte der Kanta­ ten, Passionen und Messen bleiben einmal beiseite gesetzt –, der braucht nicht europäische Sprachen, nicht einmal Alphabete in ihrer Verschiedenheit (des Griechischen, Lateinischen, Kyrillischen) zu lernen. Damit unterscheidet sich wie gesagt die Musik, übrigens auch die bildende Kunst Europas von der europäischen Literatur: Weil man keine Übersetzungen benötigt, ist die Musik selbst einer Quasi-Uni­ versalsprache, damals dem Latein, heute dem Englischen, im wört­ lichen Sinn radikal, nämlich fundamental überlegen. Die Kenntnis einer einzigen Schrift genügt, die überdies, klammert man wenige Besonderheiten ein, einen wahrhaft kosmopolitischen Charakter hat. Gemeint ist die Notenschrift, die sich daher mit Leichtigkeit als globalisierungsfähig erweist. Könnte man – man stelle es sich als Gedankenexperiment vor – diachron weitergeben, was viele Pianisten, auch Dirigenten selbst bei hochkomplexen Partituren beherrschen, nämlich ein AuswendigSpielen oder Auswendig-Dirigieren, so wäre selbst das genannte Minimum, die Notenschrift, entbehrlich. Ein gewiß schwacher Beleg: Der Dirigent Marc Minkowski zählt unter seine drei Lieblingsauf­

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nahmen das Album La femme chocolat der Sängerin Olivia Ruiz, von der er sagt:,,Ruiz kann keine Noten lesen, singt aber trotzdem richtig. Wundervoll«.

15.5 Ein Blick in die Geschichte Die innereuropäischen Anfänge der Musik liegen wieder einmal bei den Griechen. Bei ihnen umfaßte sie allerdings ursprünglich, als mou­ sikê technê, alle Kunst der Musen. Als Töchter des Göttervaters Zeus und der Mnemosyne, der Erinnerung oder des Gedächtnisses, haben sie jenen das gewöhnliche Menschsein überragenden göttlichen Rang, der sie zu der hier behaupteten Universalsprache befähigt. Unter Führung des Gottes Apoll werden sie, die Göttinnen der Künste und Wissenschaften, als singend und tanzend vorgestellt. Als Inbegriff aller den Geist und das Gemüt bildenden Künste, also nicht lediglich als Tonkunst, ergänzt die Musik die Leibes-Kunst, die Gymnastik, und schließt bei Pythagoras die Wissenschaft der Harmonie ein. Vor allem als Tonkunst vermag sie in ihrer gesteigerten emotionalen Kraft, als magische Gewalt, sowohl die Menschen als auch die äußere Natur zu bezwingen, selbst die Götter zu beschwich­ tigen. Später, schon bei Aristoteles, also nicht etwa erst in christlicher Zeit, wird der Ausdruck der Musik auf das Phänomen des Klanges eingeengt, auf die Einheit von Bewegung, Ton und Wort. In Aristo­ teles’ Entwurf der vorbildlichen Polis (Politik, Bücher V-VII) dient sie, immer noch als Gegenstück zur Gymnastik, verschiedenartigen Zwecken, neben (1) der heilenden Reinigung von den Leidenschaften und (2) dem Vergnügen und Spiel (paideia) auch (3) der sinnvollen Gestaltung der Muße (diagôgê). Für sich selbst betrachtet ist die Musik aber nicht anders als die Philosophie eine zweckfreie Tätigkeit. Sobald die genannten Zwecke eine konkrete Gestalt annehmen, erweisen sie sich als Eigentümlichkeiten, die als solche keinen globa­ len, nicht einmal einen gemeineuropäischen Charakter haben. In der Oper beispielsweise werden bewußt landeseigentümliche, nationale Traditionen geschaffen. Am bekanntesten dürfte Die Entführung aus dem Serail (1782) sein, die Mozart im Auftrag des Kaisers Joseph II. ausdrücklich zum Zweck komponiert, um mit diesem »Natio­ nalsingspiel« ein Gegenstück zur italienisch geprägten Hofoper zu schaffen. Spätere Beispiele bieten für Rußland Mussorgskis Oper

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15.5 Ein Blick in die Geschichte

Boris Godunow (1879) und für die Tschechen verschiedene Opern von Leoŝ Janáĉek. Ebenfalls auf nationale Elemente, namentlich auf Melodien, Rhythmen und Harmonien der slawischen Volksmusik, greift Antonín Dvořák zurück. Zunächst von gemeineuropäischen Vorbildern wie Mozart und Beethoven, später von Brahms und der deutschen Romantik beeinflußt, zeigt Dvořák exemplarisch, wie kreative Komponisten die gemeinsame europäische Tradition um regionale Elemente bereichern können. Andere Komponisten sind schon in ihrer Biographie, vor allem auch in ihrer Musik Europäer. Georg Friedrich Händel stammt aus der kleinen mitteldeutschen Residenz, späteren preußischen Univer­ sitätsstadt Halle und gelangt über eine Ansstellung an der Hamburger Gänsemarktoper an die italienischen Opernbühnen von Florenz, Rom, Neapel und Venedig, um dann, nach kurzen Zwischenstationen in Hannover, Düsseldorf und Halle, in der europäischen Kulturmetro­ pole London eine so triumphale Karriere zu machen, daß er nach vielen Jahren reicher Kompositionstätigkeit nach seinen Tod in der Krönungs- und Grabeskirche englischer Könige, in der Westminster Abbey, beigesetzt wird. Ein zweites Beispiel: Wolfgang Amadeus Mozart wird in Salz­ burg geboren, unternimmt Konzertreisen nach München und Wien, Paris und London, wo er dem Bachsohn Johann Christian Bach begegnet. Er komponiert und konzertiert an vielen Orten von Mittelund Westeuropa, feiert große Erfolge unter anderem in Wien (wo er Haydn trifft und ihm sechs Streichquartette widmet), in Prag und Berlin und stirbt in Wien, wo er nicht, wie sein überragendes Werk verdiente, ähnlich prominent wie Händel, vielmehr in einer »allgemeinen Grube« beerdigt wird. Da seine Werke vor allem in Deutschland, Frankreich und England gedruckt erscheinen, erfahren sie rasch eine europaweite Ausstrahlung, wobei dank fremdsprachli­ cher Fassungen vor allem die Oper Zauberflöte in allen wichtigen Musikorten Europas glänzen wird. Der Opern- und Ballettkomponist Christoph Willibald Gluck wird in Böhmen geboren, studiert in Prag (übrigens Logik und Mathe­ matik), zieht weiter nach Wien, später Mailand, lebt einige Monate in London, wo er Händel trifft, zieht mit einer Wandertruppe durch Europa und läßt sich in Wien nieder, wo er kaiserlich-königlicher Hofkomponist wird, trotzdem immer wieder nach Paris reist. Kurz: Europäisch waren schon die Lebensläufe vieler Musiker, die der Komponisten nicht weniger als die der Interpreten, zumal

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die Komponisten häufig selber bedeutende Interpreten, insbesondere Klavier- und Orgelvirtuosen waren. Trotzdem ist für die Werke der gesamten Komponisten eine »gesamteuropäische« oder »innereuro­ päische« Biographie eher ein Randphänomen als ein musikalisches Kernelement. Für die Musikwerke wesentlicher ist ein »gesamteu­ ropäisches« bzw. »innereuropäisches« Komponieren: Wie bei Bach exemplarisch angedeutet, pflegen große europäische Komponisten den »gemischten Geschmack«, nämlich die Verbindung verschiedener sogenannter Nationalstilen, also Formen und Satztechniken unter­ schiedlicher Herkunft. Sie lieben eine polyglotte Fülle. Händel bei­ spielsweise ist in seinen Opern mitinspiriert von der neapolitanischen Arienoper, in seinen Oratorien von der englischen Chorkultur und in seiner Klaviermusik von Domenico Scarlatti. Weitere Beispiele bieten die beiden Komponisten, deren gemein­ samen 200. Geburtstag die Musikwelt im Jahr 2013 feierte. Beide schreiben zwar »national«, Verdi typisch italienische, Wagner typisch deutsche Opern. Ihre Vorlagen finden sie aber in der gesamteuropäi­ schen Kulturgeschichte, Verdi bei Victor Hugo (Ernani und Rigoletto), bei Shakespeare (Macbeth und Othello) und Schiller (I Masnadieri) und Giuseppe Verdi (Luisa Miller und Giovanna d’Arco). Und La forza del destino (Die Macht des Schicksals) erfährt seine Uraufführung nicht in Italien, sondern in St. Petersburg (1862). Wagner dagegen, der quer durch Europa, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Riga, Paris, Zürich, Palermo und Luzern wirkt, lehnt sich im Liebesverbot an Shakespeares Maß für Maß, im Rienzi an E. G. Bulwer-Lytton und im Parzifal an den bretonischen Sprachkreis an. Angesichts dieser Sachlage, der Musik als verbindendes Element Europas, in gewisser Weise sogar der Welt, ist nun eines verblüffend: Die griechische Erzählung von der Entführung Europas, einer Tochter des Phönix oder des phönikischen Königs Agenor, durch den stier­ gestaltigen Zeus nach Kreta, wo der zurückverwandelte Zeus mit ihr Kinder zeugt, dieser Europa-Mythos wird von der europäischen Literatur vielfach behandelt, in der Musik hingegen ist er überhaupt nicht präsent.

15.6 Globalisierungsfähigkeit Der universale Charakter von Musik erklärt für die europäische Musik zwar das Potential für die Globalisierungsfähigkeit, aber nicht

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15.6 Globalisierungsfähigkeit

dessen außergewöhnliche Aktualisierung. Denn als Universalsprache der Menschheit ist die Musik anderer Kulturräume ebenso globa­ lisierungsfähig, weshalb Europäer chinesische Opern, koreanische Hofmusik, orientalische Tonkunst oder japanische Zenmusik trotz ihrer zum Teil andersartigen Melodien und Instrumenten, wenn auch nicht immer leicht, verstehen können. Die damit zusammenhängende Präsenz in Europa erfolgt aber nicht in vergleichbarer Breite und Intensität. Auch wenn unter dem Titel »Weltmusik« die »fremdartige« Musik zunehmende Verbreitung findet, verliert sie zumindest in Konzertsälen kaum ihren exotischen Charakter. Der Grund liegt nicht in einem angeblich in Europa vorherrschenden Mangel an Neugier auf das Fremde, denn in der bildenden Kunst beispielsweise, man denke nur an Gauguin oder Picasso, haben »exotische« Elemente längst Eingang gefunden, was gegen eine tiefverwurzelte Abwehr des Fremden spricht. Und zumindest bei Komponisten wird sich noch ein »offenes Ohr« für das Andere finden. Gibt es in der Musik ähnliche Verhältnisse? Eine europäische Besonderheit gemäß Max Webers Diagnose, die rationale Harmonik, kann durchaus als eine musikinterne Verbesserung von revolutionä­ rer Tragweite gelten, erklärt aber kaum die überragende Präsenz Europas in der globalen Musikwelt. Ähnliches dürfte für manche Beispiele einer rationalen Ordnung der Musik gelten, etwa für die diatonische Tonleiter, also die Tonordnung aus den natürlichen Ganzund Halbtönen, für die (siebenstufigen) Dur- und Molltonarten und für die »akkordharmonische Rationalität harmonischer Dreiklänge«. Die mit diesen Faktoren von Klang einhergehende Rationalität, man mag sie »Vergeistigung von Klangerscheinungen« nennen, und das darin enthaltene Potential für autonome Musik sind für Europa zwar charakteristisch, erklären aber nicht annähernd deren weltwei­ tes Willkommen. Allenfalls kann man in ihnen Vorbedingungen, freilich weder notwendige noch hinreichende, vielmehr lediglich im Hintergrund wirkende hilfreiche Elemente sehen. Die Rationalität zweiter Stufe schließlich, die Reflexion auf die Musik, läßt diese zwar nicht völlig unberührt, verändert aber zum geringeren Teil die Kompositionen, stattdessen weit mehr die einschlägigen Musik­ wissenschaften: von der Kompositionslehre bis zur Theorie, sogar Philosophie der Musik. Für die überwältigende Präsenz sucht man am besten nicht anderorts, nicht in den Rationalitätselementen europäischer Musik, sondern in ihr selbst, zum Beispiel im Facettenreichtum und der

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Intensität sowohl der emotionalen als auch der sozialen Seiten der Musik, folglich zum einen in der Fülle, Tiefe und Eindringlichkeit der angesprochenen Stimmungen und Leidenschaften, nicht zuletzt der bloßen musikalischen Spiellust, und zum anderen in der Vielfalt der sozialen Orte, an denen sie musikalisch artikuliert werden. Der Grund der außergewöhnlichen Präsenz ist also in der überragenden Fülle von Melodien, Rhythmen, Gesangs- (Chören) und Instrumentalkörpern (Orchestern), auch Spielorten zu suchen. Kaum minder wichtig ist ein weiterer Faktor, der exemplarisch in Mozarts Zauberflöte, in Beetho­ vens Oper Fidelio und der Neunten Symphonie, besonders eingängig in der Vertonung von Schillers »Ode an die Freude« zutage tritt: Hier erhalten allgemeinmenschliche Werte wie Vernunft und Freiheit, wie Frieden, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit eine musikalische Gestalt, die ein globales Publikum zu faszinieren fähig ist. Wer in dieser Richtung sucht, dem legen sich folgende musikin­ terne Vermutungen nahe: Erfolgreiche, oft auch machtvolle Träger einer Musikkultur finden sich in vielen Gesellschaften. Im Zuge gesellschaftlicher Umbrüche geht aber deren Einfluß häufig stark zurück oder ganz verloren. Auch Europa ist von Wellen der Entmach­ tung bislang führender Gesellschaftsschichten nicht frei. Trotzdem zeigt sich eine Besonderheit, vielleicht sogar Singularität, auf die sich eine erste, musikexterne, im weiteren Sinn sozialgeschichtliche Vermutung stützt: Die beiden Institutionen, die für die Musik Europas über Jahrhunderte entscheidend sind, die Kirchen und die Höfe der Adligen oder Patrizier, haben der Musik einen so außergewöhnli­ chen Aufstieg und Glanz geschenkt, daß die Musik die weitgehende Entmachtung beider Institutionen überlebt. Der einfachste Beleg: In zwei neueren Institutionen, in der keineswegs ausgestorbenen Haus-Musik und in den eigens dafür geschaffenen Konzertsälen und Opernhäusern kann die Tonkunst bis heute weiterblühen. In ihrem Rahmen konnte das Musiktheater, dessen Verbindung von Gesang (Solo- und Chorgesang) mit Orchester plus Bühnenbild zu einem Gesamtkunstwerk, die Oper, die im höchsten Maß europäische aller Theaterformen werden. Dabei nimmt in mancher Hinsicht der deutsche Kulturraum eine überragende Stellung ein. Nach der neueren Geschichte der Oper (2013), verfaßt von der Amerikanerin Carolyn Abbate und dem Engländer Roger Parkin, sei das Musiktheater zwar in Italien geboren worden. Heute habe aber nicht das Geburtsland, vielmehr Deutschland – man sollte erweitern: der deutsche, auch Österreich

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und die Schweiz einschließende Kulturraum – eine Weltmacht. (In Deutschland gibt es etwa 7 Millionen singende und musizierende Menschen, beinahe 50.000 in Verbänden organisierte Chöre und darüber hinaus noch 100.000 Chöre.) Mit Recht steht seit Ende des Jahres 2014 Deutschlands Theater- und Orchesterlandschaft auf der UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes. Beispielsweise besitzt Deutschland von allen weltweit institutionalisierten Orchestern ein Viertel. Ebenfalls auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes befin­ det sich seit dem Jahr 2017 die Orgelkunst mit der Fülle der in diesem Land stehenden Orgeln und der ihnen gewidmeten Handwerkskunst, dem Orgelbau. Der genannte Aufstieg und Glanz allein kann noch nicht erklä­ ren, warum die Musikkultur den Niedergang der Institutionen, an denen sie vorher hauptsächlich gepflegt wurde, überlebt. Der mit den Stichworten von Aufstieg und Glanz schon angedeutete musik­ interne Faktor ist um einen weiteren musikinternen Faktor noch zu verstärken: Nicht nur besteht die frühere Adelskultur in großbürger­ lichen Salons, später bei Festveranstaltungen aller Art in Form einer obligaten Musikdarbietung fort, sie ging also nicht vollständig unter. Wichtiger und jetzt tatsächlich musikintern ist, daß die an Adelshöfen gepflegte Tafelmusik ihrem Gehalt nach weder von der höfischen Tafel-, sprich: Eß- und Gesellschaftskultur noch von den Nachfolge­ kulturen abhängt. Sie hat sich nämlich vornehmlich aus musikalischer Kreativität heraus entwickelt. Sie verdankt sich also einer vom sozia­ len Kontext, von kirchlichen bzw. höfischen Anforderungen weithin unabhängigen, aus der Musik selbst gespeisten Dynamik. Einschlägig ist also ein häufig unbemerkter Emanzipationsprozeß, der vielleicht sogar früher als andere europäische Befreiungsprozesse einsetzt und vermutlich dank des Selbstbewußtseins der größten Komponisten sich auch schwerlich bremsen oder gar umkehren läßt. Daß nicht jede Musik an jedem Ort und zu jedem Anlaß sich eignet, versteht sich. Trotzdem muß sich das Publikum weit mehr auf die Musik, auf ihre neueren und älteren Kompositionen, als der Musiker sich auf das Publikum einstellen. In all diesen Phänomenen deutet sich schon eine zweite, jetzt allein musikinterne Vermutung an: In Europa zeichnet sich die Musik durch eine außergewöhnliche Experimentierfreude und Dynamik aus, sichtbar in einer sowohl diachron als auch synchron singulären Vielfalt. Dabei ragen drei Faktoren hervor: die Mehrstimmigkeit, eine hohen Komplexität und die Instrumentenvielfalt. Nach und

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nach werden im Laufe der Jahrhunderte die tonalen, atonalen und rhythmischen Möglichkeiten der Musik, nicht zuletzt sowohl ihre raffinierten Konstruktionen als auch ihre emotionalen Ausdrucks­ möglichkeiten so weit entfaltet, daß man sie nicht selten als so gut wie ausgeschöpft wahrnimmt. Es erstaunt daher nicht, daß sich in aller Welt das dafür neugierige Ohr und die dafür offene Seele davon faszinieren lassen. Allerdings hat diese Entwicklung eine etwas betrübliche Nebenwirkung: Das Repertoire der großen Orchester, noch mehr das der Opernhäuser ist so gut wie abgeschlossen, wodurch es von musealen Zügen nicht völlig frei ist. Glücklicherweise trifft dies aber nur in Grenzen zu. Denn von einem Ende der europäischen Musikentwicklung kann keine Rede sein. Diese Entwicklung würde allerdings ins Leere laufen, fehlten auf Seiten der Mäzene und des Publikums eine entgegenkommende Ein­ stellung, also die Bereitschaft, verbunden mit der nötigen Fähigkeit, das Neue zu goutieren und am bisher Fremden Geschmack zu finden. Glücklicherweise trifft dies in Europa zwar nicht immer und überall, aber doch hinreichend oft und stark zu. Es gibt nämlich nicht nur die nötigen Komponisten, sondern auch ihre Auftraggeber, ferner die zur kompetenten Aufführung erforderlichen Interpreten, nicht zuletzt ein aufnahmefähiges und aufnahmewilliges Publikum. Dort, wo noch stattfindet, was nur Ignoranten als »Höhere-Töchter-Bildung« ver­ achten, daß nämlich viele Kinder und Jugendliche ein Instrument lernen, in Chören und Orchestern mitwirken und die Musikliebe ins Erwachsenenleben integrieren, wo also die musikalische Bildung wie durchaus in Europa noch weit verbreitet ist, dort hat eine reiche, auch auf Neues offene Musikwelt gute Chancen. Noch ein weiterer, jetzt sowohl musikexterner als auch musikin­ terner Faktor hat die überragende Fülle der Musik Europas befördert: die Vielfalt der unterschiedlichen Mentalitäten und Kulturen, die regionalen und nationalen Besonderheiten innerhalb dieses Konti­ nents. Man kann es als eine der glücklichen Folgen und Spätfolgen der insbesondere von Deutschland ausgehenden, bald auf viele Län­ der sich ausbreitenden geistesgeschichtlichen Epoche der Romantik ansehen, daß große Komponisten vielerorts regionale und nationale Eigentümlichkeiten, beispielsweise Volksmelodien, Volksrhythmen und Volksinstrumente, aufgreifen und damit jene »nationale Musik­ kulturen« hervorbringen, die zur Blüte europäischer Musik unver­ zichtbar hinzugehören. Hier erweist sich die europäische Musik als

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15.7 Neugier auf das Fremde

ein komplexes Konglomerat aus gemeineuropäischen Eigenarten und regionalen sowie nationalen Besonderheiten. Europas Musikentwicklung beherrscht schließlich ein weiterer, jetzt rein musikexterner Faktor: der Wettbewerb. Als beispielhaft darf der Streit um das Erbe Beethovens gelten, der zwischen den Anhängern der sogenannten Neudeutschen Schule (Richard Wagner und Franz Liszt) und den Konservativen ausgetragen wird, dessen Muster Johannes Brahms abgibt. Glücklicherweise findet hier, was das politische Europa als Vorbild nehmen soll, ein gewaltfreier, in der Regel sogar friedlicher Wettbewerb statt. Er besteht zwischen den Komponisten, obwohl nicht selten jüngere Tondichter, zum Beispiel Mozart, einem bewunderten älteren Kollegen Haydn einige ihrer Werke widmen; ferner herrscht eine Konkurrenz zwischen Interpre­ ten (von Liedern, Arien, Instrumentalstücken usf.). Vermutlich noch beflügelnder ist eine Konkurrenz zwischen weltlichen und kirchlichen Fürstenhöfen und anderen Musikmetropolen und Mäzenen, nicht zuletzt die zwischen musikalischen Nationalkulturen.

15.7 Neugier auf das Fremde Wer über die Globalisierungsfähigkeit der europäischen Musik nach­ denkt, darf eine weitere Gestalt nicht übergehen: die zumindest unter den Komponisten zu findende Öffnung für den Fremden und das Fremde. Zweifellos liegen dieser Öffnung unterschiedliche Motive zugrunde. Die Belagerung Wiens durch osmanische Heere, zunächst im Jahr 1529, später 1683, ruft in Mitteleuropa panikartige Ängste hervor, die zum Beispiel den bedeutendsten deutschen Dramatiker des Spätbarocks, zum Drama Ibrahim Bassa, inspirieren. Hier behan­ delt Daniel Caspar von Lohenstein die Greuel, deren sich die Türken gegen die Christen schuldig gemacht haben sollen. In der Tonkunst hingegen ist von derartigen Ängsten wenig zu finden. Im Gegenteil gehen fremde Elemente sowohl ins Instrumen­ tarium der Orchester, etwa die als Türkische Trommel angesehene Große Trommel, als auch in die Kompositionen ein, so zum Beispiel in Mozarts Allegretto in Rondoform Alla Turca (1783/84). Kurz, die für manche europäische Epoche charakteristische Neugier auf den Fremden und das Fremde springt im Musiktheater besonders rasch und deutlich ins Auge. Ein schönes Beispiel bieten zwei Opern, die der persischen Heldin Turandot gewidmet sind, die eine stammt von

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Ferruccio Busoni (1917), die andere von Giacomo Puccini (1926). Schon lange vorher, etwa in Händels Oper Xerxes oder in Rameaux’ Ballettoper Les indes galantes, wo den kriegslüsternen Europäern die liebevollen Indianer entgegengestellt werden, wird der Fremde hoch geachtet. Ein besonders eindrucksvolles Exempel für den wohlwollenden Blick in die Ferne bietet Mozarts Oper Die Entführung aus dem Serail. Hier tritt neben Osmin, dem komisch-finsteren, die Zofe Blondie bedrohenden Aufseher, Osmins Herr, Bassa Selim, auf, der schließlich auf die Ausübung seiner Macht selbstlos verzichtet. Trotzdem ist er keine Figur im Sinne von Lessings Nathan dem Weisen, denn Bassa Selim, erfährt man gegen Schluß, ist ein zum Islam konvertierter ehemaliger Christ, der also am Ende zum aufgeklärten Denken seiner europäischen Herkunft zurückfindet. Mozarts Handlungskern, die Befreiung einer schönen Frau aus der Macht eines orientalischen Fürsten, werden übrigens der Finne Anlis Sallinen in der Oper Der Palast und Gioachino Rossini in der Oper Die Italienerin in Algier (1813) übernehmen. Erneut und endlich abschließend die Frage: Worin gründet diese zweite Art von Globalisierungsfähigkeit? Nach meiner Vermutung gibt es zwei sich ergänzende Gründe. Auf der einen Seite die musikali­ sche Neugier der großen Komponisten samt ihrer Fähigkeit, aber auch einem Antrieb zu Kreativität, Originalität und Experimentierfreude, die bei der Suche nach Neuem selbstverständlich auch das Fremde aufgreift. Auf der anderen Seite dürfte der facettenreiche Grundcha­ rakter europäischer Musik ein Grund sein: ihre Mehrstimmigkeit, vielleicht noch deutlicher ihre melodische, rhythmische und instru­ mentale Offenheit, nicht zuletzt ein außergewöhnlicher, vermutlich unvergleichlicher Reichtum an Kompositionen, an musikalischen Gattungen, an Stimmen und Instrumenten. Ohne die außereuropäi­ sche Musik geringzuschätzen, darf man Weizsäckers Einschätzung zustimmen: Europa bringt eine wohl einzigartige Dynamik, Vielfalt und Aufnahmebereitschaft für das Fremde hervor, die in Jazz und Blues, dann stark von Nordamerika geprägt, afroamerikanische Ele­ mente aufnimmt. Nicht zuletzt darf man, auch wenn hier die sogenannte ernste Musik (E-Musik) im Vordergrund stand, die Unterhaltungsmusik (U-Musik) nicht vergessen. Denn sinngemäß treffen auf sie viele der hier erwähnten Beobachtungen zu. Die Begeisterung für französische Chansons oder für Bands wie die Beatles und Rolling Stones, auch die

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15.7 Neugier auf das Fremde

Neue Deutsche Welle, die Scooter und The Scorpions macht selten an Ländergrenzen halt. Infolgedessen gilt dies für die E-Musik und U-Musik gleicherma­ ßen: Während der eine Grund der außergewöhnlichen Bedeutung, die offene Neugier, die Integration des Fremden erleichtert, heißt der andere Grund, die Suche nach immer Neuem, das Fremde nachdrück­ lich willkommen.

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16 Baukunst, Malerei und Visualisierung in der Philosophie

Schöne Kunst ist Kunst des Genies. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, § 46

Die Architektur, die Malerei und sich anschließende Themen bilden einen derart facettenreichen Kosmos, daß hier nur ein sehr kleiner Ausschnitt behandelt werden kann. Leitend ist erneut die Frage nach europäischen Besonderheiten: In der Architektur scheint es wieder eine typische Rationalität zu geben (Abschnitt 16.1). Eine auffallen­ dere Besonderheit stellt die Präsenz der Bildlichkeit im Bereich der Religionen dar (Abschnitt 16.2). Bemerkenswert sind auch die Gegen­ wart des Visuellen in der europäischen Philosophie (Abschnitt 16.3) und visuelle Begrifflichkeiten (Abschnitt 16.4), obwohl sie dem Wesen der Philosophie doch fremd sind.

16.1 Architektur als Ingenieurskunst Allerorten baut der Mensch gegen die Wetterunbilden sichere, zudem bequeme Wohngebäude, die sich nicht nur bei den Reichen und Mächtigen häufig durch einen Mehrwert auszeichnen, durch einen erfreulichen, nicht selten sogar eleganten Anblick. In geglückten Fällen steigert sich die Eleganz zu einem interesselosen Wohlgefallen, womit große Architektur Nutzbarkeit mit einer die Jahrhunderte überdauernden Schönheit verbindet: Aus Wohnungen werden Domi­ zile, aus Villen Herrenhäuser, sogar Paläste, aus befestigten Häusern Burgen, aus Amts- und Herrschaftssitzen Rathäuser und Schlösser, aus Gebetsorten Tempel, Kirchen, Synagogen und Moscheen. Nicht zuletzt gehören schon zur Dorf-, noch mehr zu einer Stadtarchitektur öffentliche Plätze und Parks, also Orte des Begegnens und Verweilens. Selbst Konzerthallen, Theater-, Opern- und Literaturhäuser bieten Raum für freie Begegnungen.

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16 Baukunst, Malerei und Visualisierung in der Philosophie

Ebenfalls vielerorts, zudem früh wird die Menschheit findig und an Erfahrungen überreich. Bewässerungsanlagen in Babylon, Indien und bei den Mauren, erdbebensichere Gebäude der Maya, Hänge­ brücken in Südamerika und Südostasien sind nur wenige Beispiele von weltweit zu bewundernden Meisterleistungen der Planungsund Handwerkskunst. Angefangen mit griechischen Tempeln und römischen Aquädukten kann Europa hier durchaus mithalten, aber schwerlich eine Sonderstellung beanspruchen. Dieser beginnt, folgt man wieder Max Weber (Religionssoziolo­ gie, Vorbemerkung), mit einer spezifischen Rationalität, weitgehend einer Zweckrationalität und einer »planmäßigen Anpassung an Inter­ essenlagen«: »Spitzbogen hat es als Dekorationsmittel auch ander­ wärts … gegeben …. Aber die rationale Verwendung des gotischen Gewölbes als Mittel der Schubverteilung und der Ueberwölbung beliebig geformter Räume und, vor allem, als konstruktives Prinzip großer Monumentalbauten … fehlen anderweitig«, ebenso »jene Lösung des Kuppelproblems und jene Art von »klassischer« Ratio­ nalisierung der gesamten Kunst – in der Malerei durch rationale Verwendung der Linear- und Luftperspektive«. Gesteigert wird diese Zweckrationalität durch den Einbezug der Wissenschaften. Mittels Mathematik und Naturwissenschaften erfährt die bisherige Baukunst eine revolutionäre Veränderung, die eine erfahrungsbasierte Handwerkskunst in eine wissenschaftsge­ stützte Ingenieurkunst verwandelt: Ob Hoch- oder Tiefbau – die künftigen Architekten und Baukünstler lernen ihr Metier nicht mehr im Handwerksbetrieb oder, Duales System genannt, in der Verbindung mit einer Berufsschule, sondern als Hochschulstudenten. Mittlerweile hat sich dieses aus Europa stammende Muster in den entsprechenden Fachbereichen und Fakultäten überall in der Welt durchgesetzt. Infolgedessen überrascht es nicht, daß ein chinesischer Architekt den Wettbewerb zur Erweiterung des Louvre gewonnen hat, und daß die Architekturfakultät der Tsinghua Universität in Peking mittlerweile zur Weltspitze gehört.

16.2 Religiöse Kunst: Europa als Ausnahme In der bildenden Kunst könnte man die für Europa charakteristische Rationalität zumindest in einer Philosophie der Kunst – man denke in Deutschland an Kant, Hegel oder Heidegger –, zusätzlich in

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16.2 Religiöse Kunst: Europa als Ausnahme

einer Wissenschaft der bildenden Künste oder akademischen Kunst­ geschichte sehen. Falls sich schon darin eine europäische Besonderheit zeigt, im Reichtum der Maler und Architektur, deren verschiedenen, aber auch untereinander zusammengehörigen Stile, deren Beeinflus­ sung durch außereuropäische Faktoren und den wissenschaftlichen Untersuchungen, ist sie nicht annähernd so bemerkenswert wie ein anderes Phänomen. Bildschmuck, dem man zum Teil magische Kräfte beimißt, gibt es schon in vorschriftlichen Kulturen. Berühmt sind Höhlenbilder, die Jagdtiere, vereinzelt auch Menschen darstellen. In den Buchreligionen des Vorderen Orients erfährt die bildende Kunst jedoch eine Grenze, die beim Vergleich von Griechenland mit Alt-Israel, später auch mit dem islamisch-arabischen Kulturraum, auffällt: Europa und nur Europa pflegt eine religiöse Bildkunst. Dafür verantwortlich dürfte das Zusammenwirken zweier Ursachen sein: Wie das Judentum und später der Islam, so kennt auch der griechische Kulturraum religionsbezogene Texte, die hier mit den beiden Epen Homers beginnen und sich in zwei Werken Hesiods fortsetzen. Es handelt sich jedoch nicht um sakrale, daher gegen Kritik abgeschirmte, in einem wörtlichen Verständnis sakrosankte, nämlich hochheilige und unverletzliche Texte. Beispielsweise darf der Wandersänger und Philosoph Xenophanes den Epikern Homer und Hesiod vorwerfen, Götter dargestellt zu haben, die all das tun, »was bei den Menschen Schimpf und Tadel verdient: Stehlen und Ehebrechen und gegenseitiges Betrügen«. Ähnlich darf Platon, wie gesagt, in der Dichterkritik der Politeia die großen Dichter kritisieren, ohne von Seiten der zuständigen Herrschaftsinstanzen verurteilt zu werden. Homer und Hesiod bleiben also hochverehrte Dichter, ohne daß ihre Texte als sakrosankt gelten. Zu diesem Faktor, einer stillschweigenden Toleranz, kommt die erwähnte grundsätzlichere, weil dem Polytheismus innewohnende zweidimensionale Großzügigkeit hinzu: Ein schon von vielen Perso­ nen bevölkerter Götterhimmel hat keine prinzipiellen Schwierigkei­ ten, weitere Personen aufzunehmen. Vor allem, zweite Dimension, dürfen all diese Götter bildlich, etwa in Statuen und in der Vasenma­ lerei, dargestellt werden. Hier kommt den Griechen genau das zugute, was Xenophanes ihnen vorwirft: daß ihre Götter menschenähnlich, daher einer zwar idealisierten, aber menschlichen Gestalt zugänglich sind. Ähnliches erlaubt der Hinduismus – und zelebriert es in opulen­ ter Pracht: die Darstellung zahlreicher Göttinnen und Götter.

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16 Baukunst, Malerei und Visualisierung in der Philosophie

Anders, teilweise radikal anders verhält es sich mit zwei der drei Buchreligionen, dem Judentum und dem Islam. Dem gläubigen Juden ist die Thora genau so sakrosankt wie dem gläubigen Muslim der Koran. Es sind hochheilige, allenfalls für eine (kritische) Hermeneutik offene, aller inhaltlichen Kritik hingegen enthobene Bücher. Vor allem ist ihr Gottesbild kompromißlos streng monotheistisch. Dazu gehört das Verständnis der Gottheit als einer gegenüber allem Menschli­ chen radikal andersartigen Person, die aus theologischen Gründen, nämlich um die Andersartigkeit nicht auszutasten, aller bildlichen Darstellung entzogen wird: Weil die Andersartigkeit sich bildlich nicht darstellen läßt, weil folglich jeder Versuch, das göttliche Wesen zu visualisieren, die Andersartigkeit nicht zufällig, etwa mangels künstlerischer Begabung und Kreativität, sondern notwendigerweise verfehlt, ist jede bildliche Darstellung verboten. Für den jüdischen Monotheismus ist das strenge Bilderverbot wesentlich, sichtbar in der Vorschrift, die zum ersten der zehn Gebote gehört: »Du sollst dir kein Gottesbild machen.« Erstaunlicherweise setzt sich diese Vorschrift noch in einem generellen Bildverbot fort: »und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde«. Dieses Veto dürfte in einer anderen Heiligkeit gründen, nicht in der von Gott selbst, wohl aber in der Heiligkeit der göttlichen Schöpfung. Obwohl der Islam ebenfalls einen strengen Monotheismus ver­ tritt, scheint sein heiliges Buch, der Koran, selbst kein Bilderverbot zu enthalten. Später wird jedoch die Legitimität von Bilddarstellungen bezweifelt. Der erste schriftlich überlieferte Beleg für das Verbot bildlicher Darstellungen taucht in der Hadith-Literatur gegen Ende des achten Jahrhunderts auf und wird den Istanbuler Nobelpreisträger für Literatur, Omar Pamuk, zum Roman Die Farbe Rot inspirieren. Eine Folge des seitdem im Islam vielerorts vorherrschenden Bilderverbots läßt sich bei Veränderungen des bedeutendsten Bau­ werkes der byzantinischen Kunst beobachten: Bei der Umwandlung von Konstantinopels christlicher Kirche Hagia Sophia in eine jetzt Istambuler Moschee werden die vier Seraphine (sechsflügelige Engel) überputzt, nach der Umwidmung der Moschee in ein Museum aber wieder nach und nach freigelegt. Zur innertheologischen Begründung des Bilderverbots dürfte, von den damaligen Autoren wohl unbemerkt, ein religionspolitisches bzw. sozialgeschichtliches Argument hinzukommen: Beide, Juden­ tum und Islam, entwickeln ihren Monotheismus in einem kulturellen

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16.2 Religiöse Kunst: Europa als Ausnahme

Umfeld, in dem für den mächtigen Konkurrenten, den Polytheismus, Bilder und Bildwerke der verschiedenen Gottheiten bedeutsam, sogar wesentlich sind. Um diese Konkurrenz radikal, von den Wurzeln her, auszuschalten, wird, so meine Vermutung, ein wesentliches Medium der Konkurrenz, das Bild, geächtet. Ob es aus inner- oder außertheologischen Argumenten geschieht – ein religiös begründetes Bilderverbot schränkt die Kreativität bil­ dender Künstler ein, denn die Bildfreudigkeit und Bilderlust kann sich dann im Wesentlichen nur in der weltlichen Kunst ausbreiten. Selbst dieser Bereich kann sogar wie an der zitierten Stelle des Alten Testa­ ments tabuisiert werden. Allerdings finden Künstler Auswege. So wie in der europäischen Musik nach dem Verbot von Frauenstimmen Kas­ traten auf der Bühne auftreten und nach dem Verbot weltlicher Opern die Kunst »heiliger Melodramen«, die der Oratorien, sich entwickelt, so blüht im islamischen Kulturraum die Kunst der Arabesken. Diese Kunst, die sich aus den hellenistisch-römischen Rankenornamenten entwickelte, besteht aus ineinander verschlungen Linien von streng stilisierten Pflanzenranken, die sich vornehmlich in der Buchmalerei, aber auch in der Keramik mit arabischen Schriftzeichen verbinden. Im 16. Jahrhundert gelangt sie mit der muslimischen Kunst ins außerislamische Europa und wird zur Maureske umgewandelt, einem vor allem in Deutschland beliebten Flächenornament von erneut kal­ ligraphisch geschwungenen, sich überschneidenden Ranken aus stark abstrahierten Pflanzen. Nicht zuletzt blüht in der islamischen Kultur die Web- und Teppichkunst. Eine Bilder verbietende, sie zumindest ächtende Theologie kann also die bildende Kunst nicht ganz abtöten, will es auch kaum. Das Christentum stellt nun im Rahmen der drei Buchreligionen hinsichtlich der religiösen Kunst die Ausnahme dar. Obwohl die erste Bedingung des Bildverbotes, der Monotheismus, hier ebenfalls zutrifft, die Thora zudem als sogenanntes Altes Testament unbestrit­ ten zum Kanon seiner heiligen Schriften gehört, erlaubt das Christen­ tum nicht nur bildliche Darstellungen, sondern auch Bilderverehrung bzw. den Bilderkult, nämlich die Verehrung Gottes und göttlicher Kräfte in bildlichen Darstellungen. Diese Verehrung, vielerorts auf bewundernswert vorbildliche Christen, auf Heilige, erweitert, ist zwar nicht unumstritten geblie­ ben. Sie wird nämlich im achten und neunten Jahrhundert von etli­ chen byzantinischen (oströmischen) Kaisern verboten, von mehreren

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(westlichen) Päpsten hingegen zugelassen, schließlich im Jahr 843 generell erlaubt. In der Reformation wiederum, in einer Zeit, die die überragende Dominanz des Wortes propagiert, werden Bilder als Idole und Feti­ sche, also als Götzenbilder von angeblich magischer Kraft, grundsätz­ lich geächtet. Es wird nicht lediglich vor Mißbrauch, vor Götzendienst oder Abgötterei gewarnt. Vielmehr wütet vielerorts ein Bildersturm, dem zahllose Statuen und Bilder zum Opfer fallen. Während sich die katholische Kirche und die orthodoxen Kirchen dagegen wehren, in ihrer Liturgie sogar mit feierlichen Gewändern und Kerzen weitere visuelle Elemente hinzufügen, da ihnen die Schönheit des Sichtbaren als Abbild für den Glanz des Unsichtbaren gilt, während das Luther­ tum Statuen und Bilder zumindest als Schmuck in den Kirchen noch gestattet, bleiben sie in reformierten Kirchen verboten. Für die also nicht in allen Konfessionen, aber doch von vielen anerkannte Zulässigkeit von Bildern dürften wieder zwei Argumente, ein theologischer und ein sozialgeschichtlicher Grund, wichtig sein. Auf der sozialgeschichtlichen Seite legen sich sogar zwei Gründe nahe. Theologisch ist es die Erscheinung Gottes in Menschengestalt, die Inkarnation (»Fleischwerdung«), die deren bildliche Darstellung nicht nur erlaubt, sondern geradezu herausfordert. In Folge ist die christliche Tradition an Gemälden und Skulpturen überreich. Diese stellen Gott in seinen drei Gestalten als Gottvater, als heiliger Geist und als Gottessohn dar, ferner Maria als die Gottesgebärerin und Hei­ lige. Die Fülle dieser Themen erlaubt, so gut wie das gesamte Spek­ trum von Gefühlen zu visualisieren: Herrschaft und Demut, Freude und Schmerz, Trauer, Verlassenheit und Verzweiflung, Vertrauen und Mißtrauen, Rücksichtslosigkeit, Fürsorge und Liebe, nicht zuletzt das Jüngste Gericht, Himmel und Hölle sowie das Fegefeuer werden ver­ anschaulicht. Schließlich bringt die christliche Ikonographie, angefan­ gen mit Darstellungen der Kreuzigung Jesu, dann auch von Heiligen, die den Märtyrertod erleiden, tief verstörende Bilder hervor. Selbst bei einem einer Religion des Bilderverbots entstammenden Schriftsteller, beim Muslim Navid Kermani, führt diese reiche Bilderwelt dann zu einem bewundernden, wenn auch »Ungläubigen Staunen«. So der Titel des einschlägigen Buches (2015). In der anderen, sozialgeschichtlichen Perspektive versteht sich für das Christentum, weil seiner Herkunft nach ein Reformjudentum, der Monotheismus von selbst. Da der Polytheismus keine Gefahr mehr darstellt, wird ein Bilderverbot überflüssig. Genau deshalb,

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16.2 Religiöse Kunst: Europa als Ausnahme

weil das Christentum in seinem Kern einer schon monotheistischen Religion entstammt, diese, so das christliche Selbstverständnis, nur reformiert, ist es der religionspolitisch begründeten Notwendigkeit eines Vetos gegen Bilder enthoben. Ein seiner selbst sicher geworde­ ner Monotheismus kann Bilder sogar willkommen heißen. Ansonsten genügt ihm die Warnung vor der Gefahr eines Rückfalls in abergläu­ bische Anbetung, in Idolatrie. Der Reichtum religiöser Bilder hat noch einen weiteren, erneut sozialgeschichtlichen Grund. Wie die Innenfresken der im neunten Jahrhundert erbauten Stiftskirche St. Georg auf der Insel Reichenau und die bemalten Außenwände der rumänischen Moldauklöster bei­ spielhaft zeigen, führen die Bilderzyklen älterer christlicher Kirchen einer des Lesens unkundigen Bevölkerung die Grundzüge des Chris­ tentums im wörtlichen Sinn »vor Augen«. Die in weiten Teilen des Christentums erlaubte Bilderverehrung öffnet nun der bildenden Kunst sowohl einen Reichtum von Bildmotiven als auch eine Fülle von möglichen, teils kirchlichen, teils weltlichen Auftraggebern. Zusätzlich zu den schon genannten Themen kommen in der europäischen Bildkunst noch die vielen Motive aus der griechischen und römischen Antike hinzu, in der bald in der Plastik, bald der Vasen­ malerei die Bildkunst eine einzigartige Blüte erlebt, sichtbar etwa in der Darstellung männlicher und weiblicher Götter, siegreicher Kämp­ fer, nackter Jünglingsgestalten (Kuroi) und großer Persönlichkeiten. Damit nicht genug, gibt es zahlreiche weitere Motivwelten: Darstel­ lungen von militärischen und politischen Ereignissen, einschließlich der Grausamkeit der Kriege, Porträts von weltlichen und geistlichen Fürsten sowie von Bankiers und Kaufleuten, Städteansichten und Landschaften mitsamt den mehr naturalistischen, realistischen oder aber idealistischen Intentionen der Künstler, ihrer Überhöhung oder der Karikatur, ihren Wunsch- und Schreckensträumen, überhaupt einer überbordenden Vorstellungskraft. Aus all dem resultiert nun eine so außergewöhnliche Fülle und Dynamik europäischer Bildkunst, daß sie weder den Vergleich mit den Wissenschaften noch mit der Tonkunst scheuen muß. In einer gewiß vorläufigen Bilanz seien vier der den schier unbe­ grenzten Themenbereichen und Antriebskräften der Wissenschaften analogen Besonderheiten hervorgehoben. Ihretwegen erhalten in Europa zwei der Welt des Verstandes und der Welt der Wissenschaf­ ten diametral entgegengesetzte, zugleich komplementäre Welten der

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16 Baukunst, Malerei und Visualisierung in der Philosophie

Sinnlichkeit, nach der Musik auch die Welt von Bild und Bildlichkeit, eine überragende Bedeutung. Als erstes fehlen Bilderverbote, was eine so gut wie unbegrenzte Neugier freisetzt: Sowohl die Gottheit als auch deren reiche Schöp­ fung, nicht zuletzt die verschiedenartigen Schöpfungen des Menschen werden der Originalität der Künstler überantwortet. Als zweites besteht ein Produktivitäts- und Kreativitätsdrang, der drittens durch Mäzene aus weltlicher und kirchlicher Aristokratie, bald auch des wohlhabenden Bürgertums die erforderliche finanzielle Unterstüt­ zung findet. Bei einem vierten Grund entfällt zwar die Analogie zu den Wissenschaften, bleibt jedoch eine Analogie zur Tonkunst wichtig: Wegen ihres enormen Potentials überlebt die Bildkunst nicht anders als die Musik alle Arten von Säkularisierung. Die aus dem Christentum geborene Dynamik der Bildkunst hat, hier im Blick auf das fehlende Bilderverbot zugespitzt, ein derart hohes Eigengewicht, daß sie dem abnehmenden Gewicht des Christentums trotzen kann und in der europäischen Kultur ungebrochen fortbesteht. Allerdings ändern sich die Hauptorte der Präsentation; an die Stelle der Kirchen und Adelspaläste treten Villen reicher Bürger, Museen und öffentliche Orte und Plätze.

16.3 Visualisierung von Philosophie Nicht alle Bilder lassen sich mit dem Gesichtssinn wahrnehmen. Denn es gibt auch ein inneres Auge, mit dem man sich früherer sinnlicher Bilder erinnert oder mit Hilfe seiner Vorstellungskraft neue Konstellationen von Bildern schafft. In der Literatur und in Reden sind Bilder, Gleichnisse und Metaphern ein wichtiges Stilmittel, etwa um Handlungsweisen (»er kämpft wie ein Löwe«) und Situationen (»es schlug ein wie ein Blitz«), selbst um Gedanken zu veranschaulichen. Erstaunlicherweise setzt sich die überragende Bedeutung des Bildli­ chen in einem Bereich fort, der sich seinem Wesen nach der Visualisie­ rung entzieht, in der Philosophie. Diese zeichnet sich nämlich durch drei Aspekte aus, durch Begriff, Argumentation und Reflexion, die als solche zur Gegenwelt der Sinnlichkeit und Bildlichkeit, der des Verstandes, gehören. Obwohl sie sich deshalb der Visualisierung zu sperren scheint, stehen der Philosophie, um diese Barriere zu über­ winden, drei Möglichkeiten offen. Sie stehen nicht auf der gleichen

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16.3 Visualisierung von Philosophie

Ebene, sondern verbinden sich mit einem in philosophischer Hinsicht zunehmenden Anspruch. Die erste Möglichkeit ist der Philosophie äußerlich: Porträts und Porträtbüsten, für die zwei Beispiele genügen. In der berühmtesten, als römische Kopie überlieferten und in Wiens Kunsthistorischem Museum aufgestellten Büste von Aristoteles sieht man den etwa sech­ zigjährigen Philosophen mit gestutztem Bart, starker Unterlippe und, als Hinweis auf seine überragende Intelligenz und Konzentration, mit einer auffällig hervortretenden Stirn. Eine arabische Handschrift zeigt »den Philosophen« mit einer Aureole, die den vom Neuplatoniker Proklos stammenden und im Islam übernommenen Ehrentitel des »göttlichen Aristoteles« symbolisiert: Mit dem auf die Linke gestütz­ ten Kinn, einem Zeichen konzentrierter Nachdenklichkeit, richtet der Philosoph den wißbegierigen Blick auf sein muslimisches Gegenüber. Für eine zweite, philosophisch schon anspruchsvollere Visuali­ sierung bietet Raffaels »Schule von Athen« ein sprechendes Beispiel: Im Mittelpunkt stehen die beiden bedeutendsten »Kirchenlehrer« der Philosophie, Platon und Aristoteles. Dabei weist Platon, den naturphilosophischen Dialog »Timaios« in der Linken, mit dem Zei­ gefinger der Rechten nach oben, gewissermaßen in den Himmel der Ideen. Aristoteles hingegen, seine »Ethik« in der Linken, weist mit einer mäßigenden Gebärde der Rechte zu Boden. In diesem Gegensatz spiegelt sich eine beliebte Ansicht wider, der Gegensatz des »Empiristen« und »Realisten« Aristoteles zum »Idealisten« Platon. Wahr ist, daß Aristoteles Platons Ideenlehre kritisiert, die Kritik aber weit subtiler ausfällt. Philosophisch noch einmal anspruchsvoller sind einige Titelkup­ fer. Wegen der offensichtlichen Schwierigkeit, philosophische Gedan­ ken bildlich darzustellen, finden sie sich aber nur bei einem Bruchteil der großen Werke, so weder bei Spinozas Ethica oder Lockes Essay on Human Understanding noch Rousseaus Contrat Social, weder bei Kants Kritik der reinen Vernunft noch Hegels Phänomenologie des Geistes, Heideggers Sein und Zeit oder Wittgensteins Tractatus. Zwei positive Beispiele, zugleich emblematisch herausragende Titelkupfer, zeigen den philosophischen Sinn entsprechender Bilder: Sie geben zu denken. Das Titelbild zu Francis Bacons »Instauratio magna« (»Große Erneuerung«), geht über die Fähigkeit, einen ein­ zelnen Gedanken ins Bild zu setzen, weit hinaus. Visualisiert wird nämlich nichts weniger als das Programm einer wissenschaftlichen Revolution: Das Titelkupfer zeigt ein Schiff, das die Meeresenge von

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16 Baukunst, Malerei und Visualisierung in der Philosophie

Gibraltar mit den beiden »Säulen des Herkules« durchfahren und sich unter vollen Segeln auf den unbegrenzten Ozean gewagt hatte und jetzt von seiner wissenschaftlichen Abenteuerreise zurückkehrt. Der grenzenlose Ozean symbolisiert eine nie endgültig gestillte Wißbegier; die Meeresenge, die das Schiff hinter sich gelassen hat, steht für eine von Fesseln freigewordene Neugier; die Ausrüstung, die das Schiff braucht, für die zur Forschung unerläßlichen Geräte; und die Mannschaft erinnert an die in der modernen Wissenschaft erforderliche Kooperation vieler Personen. Daß kreative Künstler intellektuelle Gedanken ins Bild zu setzen vermögen, wird von einem zweiten Beispiel, dem Titelkupfer zu Hobbes’ Leviathan, bekräftigt. Dieses berühmteste, auch berüchtigtste Bild, das jemals einem philosophischen Werk vorangestellt wurde, steht unter einem Bibel-Vers, Hiob 41, 24, der an der oberen Bildkante zu lesen ist: »Non est potestas Super Terram quae Comparetur ei« (»Keine Macht auf Erden ist ihr [dieser Macht] vergleichbar«). Diese Formulierung spielt auf den Kern der Hobbschen Staatstheorie an, auf die souveräne Gewalt, die in dieser Welt nichts über sich hat. Weit mehr als der Hiob-Vers springt jedoch die Figur ins Auge, auf die sich der Text bezieht, eine gigantische menschliche Gestalt: Zeichen des Staates, den Hobbes einen riesigen künstlichen Men­ schen nennt. Blickt man genauer hin, so sieht man den Leib aus lauter kleinen Menschen zusammengesetzt, die sich aber, obwohl es sich um mehr als dreihundert zumeist präzis gestochene Rückenfiguren handelt, sich nicht etwa gequält zusammendrängen oder ängstlich ducken. Auf diese Weise visualisiert der Gigant zweierlei: daß die Bür­ ger im allmächtigen Staat zwar vollkommen aufgehen, der Souverän den Bürgern aber innerhalb der vom Staat gezogenen Grenzen ihre Eigenart läßt. Der riesige Mensch trägt nicht bloß die Königskrone, er hält noch zwei weitere Herrschersymbole in den Händen: das Symbol der weltlichen, sogar über Leben und Tod entscheidenden Macht, das Schwert, und das Symbol der kirchlichen Autorität, den Bischofsstab. Jede Deutung des Titelkupfers bleibt unvollständig, die nicht die Friedlichkeit jener Landschaft samt ihren Dörfern und Städten berücksichtigt, die der riesige Herrscher mit seinen ausgebreite­ ten Armen umschließt: Der aus den zahllosen kleinen Menschen gebildete große Mensch dient deren Wohl, an dessen Spitze der Friede steht.

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16.4 Visuelle Begrifflichkeiten

Viele Abbildungen des Titelkupfers unterschlagen die untere Hälfte, die in je fünf Bildfeldern die jeweiligen Machtbefugnisse konkretisiert. Daß unter dem weltlichen Arm eine Burg, eine Krone, eine Kanone, dann Gewehre, Lanzen und Fahnen, zuunterst eine Schlacht zu sehen sind, zeigt unmißverständlich, daß der Souverän über den Bürgerkrieg der Waffen triumphiert, indem er ihn, zeigt die friedliche Landschaft, überwindet. Unter dem anderen, geistli­ chen Arm sind nicht etwa Symbole von Frömmigkeit, Ritus und Spiritualität, auch nicht von Offenbarung oder einer jenseitigen Welt dargestellt, sondern ausschließlich Insignien irdischer Macht, die die weltliche Seite der Geistlichkeit symbolisieren: Die Kirche, der Bischofshut (Mitra), die Bannstrahlen, die zugespitzte (scholastische) Distinktionen und das Konzil besagen, daß der Souverän auch über den Bürgerkrieg der geistigen und geistlichen Waffen obsiegt – sofern sie in weltlichem, politischem Gewand auftreten. Denn nicht über die religiöse Wahrheit entscheidet der Herrscher, wohl aber über deren öffentlich verbindliche Auslegung. Infolgedessen drängt sich folgende Bilanz auf: Kreative Künstler verstehen es, selbst das offensichtliche Gegenteil des Sinnlichen, philosophische Gedanken, sichtbar zu machen.

16.4 Visuelle Begrifflichkeiten Blickt man auf das Verhältnis von Philosophie und Visualisierung, so ist ein Zweites erstaunlich: Im klassischen griechischen Denken nimmt das Bild keinen hohen philosophischen Rang ein und erweist sich trotzdem bei genauerer Betrachtung als unverzichtbar. Für die philosophische Abwertung des Bildlichen haben zwei berühmte Elemente von Platons Politeia, das Linien- und das Höhlen­ gleichnis eine enorme Wirkungskraft entfaltet. Im Höhlengleichnis bezeichnen die beiden Ausdrücke für Bild, zugleich für Abbild, eidôlon und eikôn, eine niedrigere, vom Höheren abgeleitete Seinsstufe. Auch bei Aristoteles bedeutet eikôn einen niedrigeren Rang, denn der Ausdruck bezeichnet jedes Werk, das durch Nachahmung (mimêsis) entsteht, insofern lediglich das Abbild eines Vorbildes ist. Insbeson­ dere finden die Bilder, seien es Gemälde oder Statuen, im Verhält­ nis zur Dichtung fast kein philosophisches Interesse. Aristoteles’ einschlägiges Werk, die Poetik, befaßt sich beinahe ausschließlich mit einer Theorie der Dichtung, namentlich der Tragödien und Komödien,

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16 Baukunst, Malerei und Visualisierung in der Philosophie

während eine Theorie der bildenden Kunst fehlt. In der philosophi­ schen Terminologie hingegen erweist sich die Welt des Visuellen als unverzichtbar, obwohl die genannten Elemente der Philosophie, Begriff, Argument und Reflexion, ihren Ursprung im spontanen Verstand haben, das bildlich Sichtbare hingegen zum rezeptiven Erkenntnisvermögen, der Anschauung, gehört. Schon mit dem letzten Ausdruck, dem Gegenbegriff zum Ver­ stand, der gleichwohl einen unaufgebbaren Bestandteil der philoso­ phischen Begrifflichkeit bildet, der An-schauung, befindet man sich im Bereich des Visuellen. Um ihre erkenntnistheoretische Besonder­ heit zu bestimmen, braucht also die Philosophie den Blick – erneut ein visueller Ausdruck – auf die Welt der Sinnlichkeit. Schränkt man die sinnliche Welt nicht auf ihren visuellen Anteil ein, so bedient sich die Philosophie weiterer, außerhalb der Verstandeswelt beheimateter Ausdrücke. Ihr in systematischer Hinsicht erstes Element, der Begriff, weist mit der Tätigkeit des Greifens und Begreifens auf das Fühlen. Allerdings ist hier die Welt der Sinnlichkeit nicht für die Tätigkeit selbst, sondern bloß für deren Benennung unverzichtbar. Kehren wir zur engeren Welt des Sinnlichen, dem Visuellen, zurück, so finden wir, daß einer der wirkungsmächtigsten Ausdrücke der Philosophie, ein Ausdruck, der als Fremdwort nicht bloß in die europäischen, sondern auch in nichteuropäische Sprachen eingedrun­ gen ist, überdies ein Ausdruck, der seit Platon einen Gipfel philo­ sophischer Spekulation bezeichnet, später in die Niederungen der Umgangssprache wandert, genau aus diesen Niederungen stammt, gemeint ist die Idee. In der griechischen Umgangssprache bezeichnet idea das äußere Aussehen und die Gestalt. Im Gegensatz dazu versteht Platon unter der idea, was seinen Mitbürgern als paradox erscheinen muß: die reine, selbst nicht mehr sichtbare, angeblich aber allem Sichtbaren zugrundeliegende Gestalt. Denn sofern die Sichtbarkeit des Unsicht­ baren gelingt, tritt in ihr das Eigentliche, das Wesen des Gegenstan­ des, in Erscheinung. Während also das Muster von Metaphysik, Platons Lehre der zur Welt des Sichtbaren jenseitigen Ideen, sich eines Begriffs der sichtbaren Welt bedient, kann die erste Metaphysikkritik, Aristoteles’ Lehre der den Dingen innewohnenden Wesenheit oder Substanz, die ousia, darauf verzichten. Auch spätere Philosophen entkommen Platons Paradoxie nicht: Das Medium der Philosophie, der Gedanke, versperrt sich gegen das Bild, zur Darstellung der Gedanken greift er jedoch auf Bilder des

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16.4 Visuelle Begrifflichkeiten

Sehens zurück. Obwohl der Gedanke als das Geistige schlechthin sich nicht verbildlichen läßt, braucht also die Philosophie, um ihre eigene, nichtsinnliche Welt des Verstandes und dessen für die Philosophie spezifischen Ausschnitt, die Vernunftwelt, zu benennen, Ausdrücke der gering geschätzten Gegenwelt, des Visuellen. Der alternative Sinn, den man in Erwägung ziehen könnte, das Hören, taugt hier nicht. So, wie man nämlich den wahrhaft philosophischen Gegenstand im Rahmen des Über-sinnlichen als das Un-sichtbare bezeichnen kann, läßt er sich nicht als das Un-hörbare benennen. Denn die Hörbarkeit ist ein Wesensmoment der Sprache, kann deshalb in der wesentlich sprachlichen Welt der Philosophie schwerlich negiert wer­ den. In der Notwendigkeit, auf das Sinnliche, dabei insbesondere auf das Sichtbare, das Visuelle, zurückzugreifen, tritt ein Wesensmoment der Philosophie zutage, nämlich bei der für den Menschen primären Lebenswelt, der sinnlich erfahrbaren Welt, anzusetzen. Für diesen Rückgriff spricht noch ein grundlegenderes, erkenntnistheoretisches Argument. Wie nicht mehr ein antiker, sondern neuzeitlicher Phi­ losoph, Kant, in der Kritik der Urteilskraft, ihrem Paragraphen 59, prägnant erklärt, werden, um »die Realität unserer Begriffe darzuthun immer Anschauungen erfordert«. Mit anderen Worten: Zur objekti­ ven Erkenntnis (»Realität«) bedarf es der Sinne. Die deutsche Sprache ist an philosophisch relevanten Ableitun­ gen zum Grundwort »Bild« besonders reich, weshalb das Vocabulaire europeénne dem deutschen Ausdruck »Bild« einen eigenen längeren Artikel widmet (David 2004): Zusätzlich zum griechischen Wortfeld von eidenai und eidos wie eidolon, das Bild, Abbild und Trugbild, und eikôn, das Bild, Abbild und Gleichnis bedeutet, kommen Ausdrücke wie Nachbild, Vorbild und vor allem Urbild, nicht zuletzt Bildung und Einbildungskraft hinzu. »Bild«, im Althochdeutschen »bilidi«, bedeutet übrigens ursprünglich das Vorbild und Muster, rückt also in die Nähe der Pla­ tonischen Idee. Erst später überwiegt das Verständnis von »Abbild«. Weiterhin fallen im Deutschen unter die Welt des Visuellen die Aus­ drücke: Absicht, Einsicht und Weltsicht, ferner viele wissensbezogene Worte, die aber philosophisch weniger bedeutsam sind wie Aussehen, Beobachten und Spähen, wie Augenblick, Aussicht und Übersicht. Das wissenschaftsrelevante Wortfeld des Visuellen ist jedenfalls so enorm, daß die Philosophie sich mit einer Auswahl begnügen kann. Für eine weitere Sprache der Philosophie, für die von der Antike bis weit in die Neuzeit wichtige lateinische Sprache, seien exemplarisch

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16 Baukunst, Malerei und Visualisierung in der Philosophie

erwähnt: contemplatio, evidentia, intuitio, lumen (naturale), perspec­ tio und visio. Für die Vermutung, das Visuelle reiche in das Wesen der Philo­ sophie hinein, genügen wenige Beispiele nicht. Setzen wir die Suche noch einmal bei der Geburtssprache europäischer Philosophie, dem Griechischen, fort: Aristoteles beginnt das Muster einer hochspekula­ tiven Philosophie, die Metaphysik, mit einer Art Phänomenologie des Wissens. Deren Basis, die erste Stufe, bildet die aisthêsis, die sinnliche Wahrnehmung, die auch unabhängig von allem Nutzen geliebt werde. Etymologisch hängt aisthêsis vermutlich mit audire, also Hören, zusammen, was einem Vorrang des Visuellen zuwiderliefe. Auch im deutschen Ausdruck »wahr-nehmen« klingt nicht das Visuelle, vielmehr das Taktile an. Andererseits hält schon der Vorsokrati­ ker Heraklit die Augen für die »genauesten Zeugen«. Und an der genannten Aristotelesstelle ragt Wahrnehmen mit den Augen, das Visuelle, heraus. Über verschiedene Zwischenstufen nichtvisuellen Charakters: Erinnerung/mnêmê, Erfahrung/empeiria und Wissen­ schaft/epistêmê gelangt man laut Aristoteles schließlich zum episte­ mischen Gipfel, der sophia/Weisheit. Deren Aktualisierung trägt wieder einen visuellen Ausdruck, der zudem in so gut wie alle europäischen Sprachen eingegangen ist, die schon erwähnte theōria. In der griechischen Umgangssprache meint der Ausdruck das Wahr­ nehmen einer Schau (thea) oder das Gewahren, Anschauen einer Gottheit (theos). Trotz des hier angedeuteten überragenden Gewichts visueller Ausdrücke darf man die schon genannte Grenze nicht übersehen, daß das Philosophieren als solches eine nichtvisuelle Tätigkeit bleibt. Die visuellen Ausdrücke idea und theôria eignen sich also zur Bezeich­ nung ihres Gegenstandes nur mittels einer radikalen Entfremdung: Um für die Philosophie tauglich zu sein, bedarf das Visuelle einer vollständigen De-Visualisierung. Die sinnliche Tätigkeit des Sehens muß ihrer Sinnlichkeit entkleidet, sie muß ent-sinnlicht werden und bleibt doch via negationis an die Sinnlichkeit gebunden. Der einschlägige Weg der Abstraktion, des Ab-sehens vom Sichtbaren zum Un-sichtbaren – zeigt Platon im zweiten der PoliteiaGleichnisse, dem Höhlengleichnis –, ist nicht bloß schwierig. Es kann am wahren Ende auch nur visuell beschrieben werden: als Idee und als deren Schau. Daher drängt sich diese Zwischenbilanz auf: Eine autonome, eigengesetzliche Terminologie zu entwickeln, scheint für

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16.4 Visuelle Begrifflichkeiten

die Philosophie, von einigen Kunstausdrücken abgesehen, unmöglich zu sein. Die Unmöglichkeit, ihre Terminologie zu de-visualisieren, bestä­ tigt ein weiteres griechisches Wortfeld, das der Ausdrücke nous, noêsis und noein. Das Verb noein bedeutet wahrnehmen, auch einsehen – erneut ein visueller Ausdruck; nous bezeichnet das entsprechende Wahrnehmen, noêsis das zugehörige Vermögen, den Sinn als Ver­ mögen der Wahrnehmung, wobei in der Philosophie erneut eine Ent-Sinnlichung stattfindet. Entscheidend ist nämlich ein geistiges Wahrnehmen, das den visuellen Charakter beibehält, denn es kommt auf ein unmittelbares, mithin erneut nichtdiskursives Erfassen, um eine Ein-sicht, an. Zum Abschluß dieser Überlegungen ist ein Gegenbefund zu erwähnen: Unter den Hauptbegriffen der Ethik und Politik finden sich keine visuellen Ausdrücke: Ob agathon/ gut, aretê/ Tugend, hexis/ Haltung, dikaion/ gerecht oder phronêsis/ Klugheit, orexis, Streben, boulêsis oder prohairêsis für die Welt des Willentlichen, ob Glück/ eudaimonia, Selbstgesetzgebung/ Autonomie – all diese Aus­ drücke haben weder einen visuellen noch einen mit anderen Sinnen verbundenen Kern. Das Visuelle taucht also nicht in der praktischen Philosophie, sondern lediglich in der theoretischen Philosophie, hier in der Erkenntnis- und Wissenstheorie sowie der Metaphysik, auf und erhält im Sensualismus von Epikur bis zu britischen und franzö­ sischen Sensualisten ein überragendes Gewicht. John Locke bringt deren Ansicht auf den Punkt: »Nichts ist im Verstand, was nicht vorher im Sinn bzw. der Empfindung (»sense«) war«. Kant wird dem mit der Behauptung von »zwei Grundquellen des Gemüts« widersprechen, mit der Rezeptivität der sinnlichen Eindrücke und der Eigenleistung des Verstandes, seiner Spontanität. Sein Widerspruch verbleibt hier im Theoretischen. Vor Kant wird diese Einschränkung überwunden. Denn in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts halten vor allem britische Philosophen, namentlich Shaftesbury, Francis Hutcheson und David Hume, einen »morali­ schen Sinn« (»moral sense«) für die entscheidende Tätigkeit, um das moralisch Richtige vom moralisch Falschen zu unterscheiden. Später setzt sich die Nicht-Einschränkung fort. Beim Kritiker von Hegels spekulativem Idealismus, Søren Kierkegaard, ist die ästheti­ sche, der Sinnlichkeit verpflichtete Existenz eine von drei Lebensfor­ men, freilich die unterste, zwischen denen der Mensch zu wählen hat. In Heideggers Sein und Zeit übersteigen Begriffe wie »Augenblick«

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16 Baukunst, Malerei und Visualisierung in der Philosophie

(§ 68) und »Umsicht« (§§ 15–17, 22–23, 31–33) den auf die Dinge nur theoretisch hinsehenden Blick. Bei dem Existenzphilosophen und Phänomenologen Jean-Paul-Sartre spielt das visuelle Modell zwi­ schenmenschlicher Beziehungen, unter anderen das Beobachten und der Blick des Anderen, eine große Rolle, woran sich der Phänomeno­ loge und jüdische Philosoph Emmanuel Levinas mit dem Gedanken anschließt, Freiheit werde erst durch einen Aufruf »im Angesicht« des Anderen möglich.

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17 Aufklärung

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschul­ deten Unmündigkeit … Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? 1. Absatz

Wer über den kulturellen Reichtum Europas spricht, darf die Phi­ losophie und als eine ihrer wichtigsten Aufgaben die Aufklärung nicht vergessen. Hier findet sich freilich ein ähnliches Problem wie bei der Literatur, der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Musik: Nicht die Aufklärung, noch weniger die unter diesem Titel firmie­ rende Epoche der europäischen Moderne ist schon für Europa spe­ zifisch. Denn Epochen der Aufklärung gibt es in vielen Kulturen, und in Europa finden sie keineswegs bloß in der Neuzeit statt. Vermutlich gehört das Interesse an Aufklärung sogar zur Natur des Menschen, zu seiner Sprach- und Vernunftbegabung. Zumindest ist es der menschlichen Natur nicht fremd (Abschnitt 17.1). Allerdings ist die »Aufklärung« genannte Epoche der europäischen Moderne wirkungsgeschichtlich betrachtet besonders wichtig (Abschnitt 17.2). Den Abschluß bildet die generelle Forschung nach einer kritischen Hermeneutik (Abschnitt 17.3).

17.1 Allgemeinmenschlich Für die These, Aufklärungsepochen gebe es auch außerhalb der europäischen Moderne, mögen vier Beispiele genügen. Weil deren nähere Kenntnis sich dem kultur- und geisteswissenschaftlichen Blick verdanken, belegen sie exemplarisch dessen herausragenden Beitrag für den heute so wichtigen interkulturellen Diskurs. Mit ihrer Neu­ gier auf andere Kulturen und andere Epochen lehren die Kulturund Geisteswissenschaften wie gesagt jenes dreifache Verstehen, das die in so gut wie allen Kulturen verbreitete kulturelle Egozentrik zu überwinden hilft. Der Blick lehrt nämlich, die anderen in ihrer

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17 Aufklärung

Andersartigkeit, ferner die anderen und sich selbst in ihrer Gemein­ samkeit und schließlich, durch die Verbindung von Verschiedenheit und Übereinstimmung, sich selber besser zu verstehen. Ein Beispiel für chinesische Aufklärung, zugleich für ein erstes Grundmodell der Aufklärung, für ihre Traditionskritik, bietet ein konfuzianischer Meister aus dem dritten Jahrhundert v. Chr., Xun Zi. Während der Konfuzianismus in der Regel großen Wert auf die Tra­ dition, einschließlich deren patriarchalischer Sippenordnung mitsamt einem quasi-religiösen Ahnenkult legt, erklärt Xun Zi, man solle nicht immer der Tradition folgen, statt dessen, wo nötig, den menschlichen Geist von Aberglauben und Vorurteilen befreien. Wegen dieser für Aufklärungen typischen Forderung entsteht eine Art »rationaler Kon­ fuzianismus«, in dem der Ahnenkult seinen quasi-religiösen Rang verliert und sich zu einem ehrerbietigen Gedenken abschwächt. Ein zweites Beispiel und zweites Grundmodell stammt aus der europäischen Antike und besteht in scharfer Religionskritik. Die menschliche Vernunft nimmt sich hier das Recht, die Religion samt ihren Göttervorstellungen auf Vernünftigkeit hin zu überprüfen. Ein Wandersänger (»Rhapsode«), der schon drei Jahrhunderte vor Xun Zi, im sechsten Jahrhundert v. Chr. wirkt, Xenophanes, ist nicht nur ein aufklärerischer Naturphilosoph, der etwa den Regenbogen nicht mehr zur Erscheinung einer Göttin namens Iris, sondern zu einem bloßen Naturphänomen erklärt. Darüber hinaus verwirft er, wie bereits erwähnt, die im griechischen Polytheismus vorherrschende Vermenschlichung des Göttlichen, den Anthropomorphismus. Bei einer (negativen) Religionskritik bleibt Xenophanes aller­ dings nicht stehen und zeigt damit, daß große Aufklärung nicht nur destruktiv, vielmehr auch konstruktiv ist. Aus dem Widerspruch zur griechischen Volksreligion gewinnt er nämlich einen neuen, »aufgeklärten« Gottesbegriff: »ein einziger Gott, unter Göttern und Menschen der Größte, weder an Gestalt den Sterblichen ähnlich noch an Gedanken«. In diesem vorjüdischen und vorchristlichen Monotheismus tauchen schon vier der entscheidenden Elemente eines philosophischen Gottesbegriffs auf: daß Gott ein einziger ist, daß er sich durch einen »absoluten« Superlativ auszeichnet – er ist der Größte, überdies (ganz) Andere –, daß er Geist und schließlich Urheber von allem ist: »Ohne Mühe bringt er alles in Gang durch seines Geistes Denkkraft«. Ein drittes Grundmodell, die nicht mehr religionsexterne, son­ dern religionsinterne Aufklärung, bietet wie bereits angesprochen das

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17.1 Allgemeinmenschlich

Neue Testament. Im Alten Orient waren Religion, Gesellschaft und Staat trotz ihrer funktionalen Differenz eng miteinander verquickt. Demgegenüber lesen wir bei Matthäus, auch Markus eine Entqui­ ckung: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist.« (»Caesari Caesaris, Deo Dei«). In diesem kurzen Satz wird die reli­ giöse von der staatlichen Sphäre getrennt, was beide Seiten von einer externen Umklammerung befreit, sich also auf eine wechselseitige Emanzipation beläuft. Die politische Aufgabe, die Herrschaft, wird von der religiösen Aufgabe, dem Heil, abgesetzt. Ein viertes Beispiel von Aufklärung bietet die islamische Philoso­ phie, die vom neunten bis zum 13. Jahrhundert rund ums Mittelmeer einen wachsenden Einfluß gewinnt. Nach der umfassenden Über­ setzung »heidnischer« Texte, nämlich der griechischen Philosophie, Mathematik, Naturforschung und Medizin, in die heilige Sprache des Islam, das Arabische, blüht ein rationales Denken unter den Bedingungen des Islam auf. Wie es analog im Judentum und im Christentum geschieht, über weite Strecken sogar im Gespräch mit diesen beiden Religionen, werden die Lehren des heiligen Koran mit Hilfe von Logik und Metaphysik zu einer wissenschaftlichen Theologie fortentwickelt, so daß selbst religiöse Skeptiker rational überzeugt werden können. Dem widerspricht zwei Generationen später Al-Farabi (ca. 870– 950). Unter Rückgriff auf Aristoteles’ Organon, den Schriften zur Dialektik (Topik), Logik und Beweistheorie, stellt er eine Hierarchie von Wissensformen auf. An deren Spitze setzt er, für seine frommen Zeitgenossen bewußt provokativ, die Philosophie denn allein sie erlaube ein allgemeingültiges, weil beweisbares Wissen. Die Theolo­ gie hingegen sei nur zu den als wahr erscheinenden Aussagen der Dialektik bzw. Topik fähig. Einen noch geringeren epistemischen Rang, den der Rhetorik (»das Volk überzeugen«), habe der Ritus, da er die Wahrheit nur als partikular, für einen gewissen Kulturraum gültig, darstelle. Den untersten epistemischen Rang schließlich nehme, hier im Widerspruch zu dem ansonsten hochgeschätzten Philosophen Aristoteles, die Dichtung ein, da sie die Wahrheit lediglich »bild­ lich« ausdrücke. Gut ein Jahrhundert später geht die Aufklärung über eine wis­ senstheoretische Relativierung von Religion und Theologie noch hinaus. Ibn Sina, latinisiert Avicenna (980–1037), einer der bedeu­ tendsten Denker des gesamten Mittelalters, bestreitet einige für den Islam wesentliche Aussagen, womit er aus Sicht orthodoxer Muslime

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17 Aufklärung

zum Häretiker wird. Er leugnet nämlich sowohl die Erschaffung der Welt in der Zeit als auch die im Koran behauptete Auferstehung des Fleisches. Auch der wichtigste islamische Philosoph im Westen, Ibn Ruschd, latinisiert Averroës (1126–1188), lehnt den Gedanken der »volkstümlichen Theologie« ab, die göttliche Schöpfung sei ein zeit­ liches Ereignis. In Wahrheit werde die Welt durch das ewige und unwandelbare Denken Gottes geschaffen, so daß sie keinen zeitlichen Anfang habe, vielmehr ewig sei. Selbst diese knappen Hinweise dürfen das im Westen der dama­ ligen islamischen Welt bemerkenswerte Phänomen der »conviven­ cia«, des »Zusammenlebens«, nicht übergehen: In al-Andalus, dem unter islamischer Herrschaft stehenden Spanien, findet vom achten und neunten Jahrhundert an bis zur christlichen Wiedereroberung (»Reconquista«) im Jahr 1248, also in einer Zeitspanne von mehr als einem halben Jahrtausend, ein vorbildlicher Dialog der drei Religio­ nen Islam, Christentum und Judentum statt, in dem sich übrigens die Gestalt des modernen europäischen Intellektuellen abzeichnet.

17.2 Die Epoche der Aufklärung Bei aller Wertschätzung außereuropäischer und, innerhalb Europas, vorneuzeitlicher Aufklärung verdient die Aufklärungsepoche der europäischen Neuzeit, das lange 18. Jahrhundert, besondere Beach­ tung. Der Grund liegt nicht in einem Eurozentrismus, vielmehr in einer nach Themenvielfalt, Zahl der beteiligten Personen und Radikalität des Denkens, auch nach Eingriffstiefe und zeitlicher Dauer weltgeschichtlich denn doch einzigartigen Bewegung. Weil man für sie beides sagen darf: diese Aufklärung ist eine Epoche, und sie macht Epoche, darf Europa, ohne deshalb ein Exklu­ sivrecht auf Aufklärung zu beanspruchen, auf seine neuzeitliche Aufklärung stolz sein. Denn sie zeichnet sich durch eine alle Bereiche der Kultur verändernde Form aus. Sowohl in geistiger als auch sozialer und politischer Hinsicht entwickelt sie sich nach und nach zu einer umfassend beherrschenden Bewegung. Im Sinne einer Vor- und Frühaufklärung sind ihr schon Philosophen, zugleich Wissenschaftler des 17. Jahrhunderts wie Thomas Hobbes, René Descartes, Baruch de Spinoza und John Locke zuzurechnen. Vergessen darf man nicht, daß für sie die Aufklärung lebensgefährlich sein konnte, weshalb viele,

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17.2 Die Epoche der Aufklärung

um ihr Leben zu retten, ins Exil gingen und selbst von dort ihre Werke nur anonym veröffentlichten. Die Anfänge der Aufklärung reichen sogar in das Zeitalter von Renaissance, Humanismus und Reformation zurück. Vier Leitbegriffe bestimmen die Epoche: (1) die Vernunft als Wesensmerkmal des Menschen und als Vermögen, allgemeingültige Maßstäbe für Erkennen, Handeln und Politik bereitzustellen; (2) die Freiheit als Prinzip persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Handelns; (3) der Fortschritt als Inbegriff von Neuerungen, die zum Besseren führen; und (4) die Kritik aller Ansichten und Institutionen, namentlich die des absolutistischen Staates und einer bevormunden­ den Kirche. Im Fortgang der Epoche erfaßt die Kritik auch die Aufklärung selbst, insbesondere ihren Vernunft- und Fortschrittsoptimismus. Noch in dieser Selbstkritik, am einflußreichsten von Jean-Jaques Rousseau in seinen beiden Abhandlungen (Discours) vorgetragen, erweist sich die Aufklärung als »Zeitalter der Philosophen«, die lange vor Marx eine Veränderung der Welt in Gang bringen. Allerdings tritt diese nicht, wie bei Marx in der letzten Feuerbachthese erklärt, an die Stelle einer Interpretation der Welt, sondern erfolgt mit deren Hilfe. Die von den genannten vier Leitbegriffen bestimmte Epoche setzt einen großen Emanzipations- und Säkularisationsprozeß in Gang. Die Menschen treten nämlich den beiden Majestäten der damaligen Zeit, den Kirchen und dem Staat, als selbstbewußte und selbstverantwortliche Personen entgegen, die ihrem eigenen Gewis­ sen folgen, einer natürlichen Moral anhängen und in deren Rahmen das eigene Glück als Richtpunkt ihres Lebens betrachten. Der Grund­ haltung nach ist die Zeit optimistisch, da ihr die Welt nicht als tragisch, sondern als ständig verbesserbar erscheint: die natürliche Welt mittels Naturforschung, Medizin und Technik, die soziale Welt mittels allge­ meiner Bildung, religiöser Toleranz und eines humanisierten Rechts. Unter Kants Wahlspruch: »Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen«, schiebt Europa alle politischen Querelen beiseite und bringt, bald in geistiger Kooperation, bald in intellektueller Konkurrenz, eine gemeineuropäische Bewegung hervor. Seitdem gehört die Aufklärung zu Europas unaufgebbarem Erbe, vorausgesetzt, daß man sie nicht als den einmal für immer festgeschriebenen Kanon von Ansichten versteht. Die Aufklärung ist eher ein Prozeß, der sich durch den Entschluß zum Selbstdenken auszeichnet, mit diesem Entschluß die Aufhebung von Ignoranz,

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17 Aufklärung

Irrtümern und Vorurteilen, auch die allmähliche Loslösung von partikularen Beschränkungen in Gang bringt und schrittweise die allgemeinmenschliche, streng universale Vernunft freisetzt. Zu deren Durchschlagskraft gehört eine beachtenswerte literarische Kompe­ tenz. Im Verlauf der Aufklärung bildet sich eine europäische Gelehr­ tenrepublik mit den wissenschaftlichen Akademien als den wichtigs­ ten Teilrepubliken aus. Deren Bürger sind »Selbstdenker«, die von den Staaten und Kirchen die Gedankenfreiheit einfordern, einander das gleiche Rederecht einräumen, aber auch gegeneinander um größeren Einfluß und Ruhm wetteifern. Diese Hinweise dürfen in ihrer Vielfalt genügen, um die Aufklä­ rung als einen facettenreichen Prozeß des mutigen Selbstdenkens anzuerkennen, was folgendes Fazit aufdrängt: In der europäischen Moderne findet zweifellos die Aufklärung zwar in einer einzigartigen Breite und Dichte statt, derentwegen diese Epoche sich zum globalen Vorbild eignet. Glücklicherweise handelt es sich aber nicht um die einzige Aufklärungsbewegung. Denn wäre sie ein europäisches Son­ derphänomen, drohte die Gefahr, daß jedes Plädoyer für Aufklärung eine Überheblichkeit Europas, zugleich einer Demütigung aller ande­ ren Kulturen bedeutete, was ein antieuropäisches bzw. antiwestliches Ressentiment begünstigte.

17.3 Exkurs: Kritische Hermeneutik Bei vielen Aufklärungsprozessen, zumal bei der skizzierten Epoche der europäischen Aufklärung spielt die Auseinandersetzung nicht nur mit religiösen Autoritäten wie der Kirche, sondern ebenso die mit der Religion selbst eine herausragende Rolle. Namentlich Philosophen bestreiten den Theologen ein Exklusivrecht auf die Auslegung religiö­ ser Texte und unternehmen eigene Auslegungen. In diesem Sinne sei hier der von der europäischen Aufklärung inspirierte Versuch unter­ nommen, aus religiösen Texten heraus für die Aufklärung Gründe zu nennen, die man in Anwendung eines Kantischen Titels zu Bausteinen für eine »Theologie innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« erklären kann. Ein erster Baustein: Nach der Genesis (1, 26) werden weder bloß Theologen noch lediglich fromme Religionsanhänger zum Ebenbild Gottes erklärt. Dasselbe gilt für die Aussage des Koran, Gott habe

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17.3 Exkurs: Kritische Hermeneutik

den Menschen seinen eigenen Geist eingehaucht. Fast wortidentisch findet sie sich in der Sure Saod (Kapitel 38), Vers 72, der Sure Sajde (Kapitel 32), Vers 91 und der Sure Hejr (Kapitel 15), Vers 29. Da also der hohe Rang, die Gottebenbildlichkeit, jeden Menschen aus­ zeichnet, hat jeder Mensch das mit diesem Rang verbundene Recht, »sich seines eigenen Verstandes zu bedienen« und zur Aufklärung zu suchen. Zweiter Baustein: Diese Berufung des Menschen schließt das Recht, sogar die Pflicht ein, den eigenen Verstand nicht vor der Tür zur Kirche, zur Synagoge oder zur Moschee abzugeben. Für dieses Recht bieten sich beide Modelle an. Der »fromme Aufklärer« wird das Modell al-Kindi vorziehen, dem die Offenbarung – beim Juden die Thora, beim Christen das Alte und vor allem das Neue Testament – als irrtumsfrei überlegene Wissensform gilt. Der »liberale Aufklärer« dagegen wird dem Modell al-Farabi folgen und die säkuläre Vernunft für epistemisch vorrangig halten. Dritter Baustein: Selbst eine Religionsgemeinschaft, die sich für das Modell al-Kindi entscheidet, sollte dem anderen Modell einräu­ men, was Kant das »Recht auf öffentliches Gehör« nennt: »Urtheile und Einsichten … frei und öffentlich der Welt zur Prüfung darlegen.« (Was ist Aufklärung?). Als dessen Minimum sollte sich die Religion auf eine wissenschaftlich-philosophische Auseinandersetzung, eine Theo-logie im anspruchsvollen Verständnis, einlassen. Vierter Baustein: Gewisse Offenbarungstexte mögen für den »gewöhnlichen« Verstand provokativ, vielleicht sogar ein Skandalon sein. In diesen Fällen darf sich die Religion gegen jene verkürzte Aufklärung zur Wehr setzen, die die skandalösen Texte zu entschärfen verlangt. Denn auf den Boden des gewöhnlichen Verstandes braucht die Religion ihre heiligen Texte nicht »herunterzuziehen« zu lassen. Sie ist auch nicht verpflichtet, der in der europäischen Aufklärung vielerorts vorherrschende Einschränkung der Religion auf Moral zu folgen. Den fünften Baustein bildet die von der Aufklärung erhobene Forderung, religiöse Texte, obwohl sie eine »geheiligte Offenbarung« sind, auf methodischen Wegen auszulegen und dabei kontroverse Interpretationen zuzulassen. Dazu gehört zu erfahren, wann und in welchen Zusammenhängen die Texte entstanden sind und wann sie ihre kanonische Gestalt erhalten haben. Schon eine moderate Aufklärung erwartet von der Religion eine kritische Hermeneutik, die den genuin religiösen Kern von zeitbedingten Anlagerungen trennt.

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Selbst Muslime müssen damit keine prinzipiellen Schwierigkeiten haben. Beispielsweise erklärt der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Nadeem Elyas, den Islam nicht für einen Monolithen, der einer einzigen Auslegung verpflichtet sei. Im Gegen­ teil sei jener innerislamische Pluralismus erlaubt, den es tatsächlich längst gebe. Der Großmufti von Marseille, Soheib Becheikh, verlangt sogar, die vielerorts noch vorherrschenden archaischen Interpretatio­ nen des Islam aufzugeben. Sechster Baustein: Ein Minimum an kritischer Hermeneutik dürfen nicht erst die Mitglieder von ihrer Religionsgemeinschaft einfordern. Die Weltöffentlichkeit, ob Muslim oder nicht, muß bei­ spielsweise vom Islam verlangen, den Vers 5 der Sure 9 friedensfähig auszulegen und die friedensfähige Auslegung allen Muslimen zuzu­ muten: »Sind aber die heiligen Monate verflossen, so erschlaget die Götzendiener, wo ihr sie findet, und packet sie und belagert sie und lauert ihnen in jedem Hinterhalt auf.« Vergessen darf man freilich nicht, daß auch andere heilige Texte anstößige Passagen enthalten. Nach der Thora sollen zum Beispiel die im Heiligen Land eintreffen­ den Juden alle fremden Götterstandbilder zerstören. Bekanntlich teilt der Islam die Menschheit in drei Gruppen ein: Die »Gemeinde« (umma) besteht aus den Muslimen; »die Leute des Buches« (ahl al-kitab) wie die Juden, Christen und Mandäer (eine gnostische Johannes-der-Täufer-Religionsgemeinschaft) hän­ gen nach islamischer Ansicht einem Fast-Monotheismus an; erst die Polytheisten (und die Atheisten) sind im vollen Sinne Ungläu­ bige. Die Juden und Christen fallen also nicht unter die mit Gewalt bedrohten Götzendiener. Schon der Selbstschutz der westlichen, im islamischen Sinn auch Götzendiener umfassenden Gemeinwesen, vor allem aber die Selbstachtung jetzt der gesamten nichtmuslimischen Welt muß freilich von den Muslimen fordern, sowohl von ihren religiösen als auch ihren politischen Führern, jeden Krieg gegen Nichtgläubige zu ächten. Intellektuell mag man miteinander streiten; jeder Streit mit Waffen ist dagegen ausnahmslos zu verbieten. Vorläufig letzter Baustein: Wer über Politik nicht bloß philoso­ phiert, sondern sich auch als politischen Philosoph versteht, darf von den bisherigen Grundsatzüberlegungen exemplarisch zu einer konkreten politischen Anwendung übergehen. Sie ist keineswegs nur für ein einziges Land, etwa Deutschland, relevant: Weil ein aufgeklär­ tes Gemeinwesen von den Religionsgemeinschaften eine methodisch anspruchsvolle Theologie und eine kritische Hermeneutik erwarten

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17.3 Exkurs: Kritische Hermeneutik

darf, hat es ein Recht, seinen muslimischen Bürgern gegenüber sogar die Pflicht, für alle Schulen, die der Schulpflicht zugeordnet sind, folglich auch von den muslimischen Religionslehrern die für die Schu­ len übliche, wissenschaftsgestützte Ausbildung an einer zuständigen deutschen Hochschule zu verlangen.

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Dritter Teil Die Vision: Ein Europa der Bürger

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Überlegungen zur Kultur Europas fallen notwendigerweise umfang­ reich aus. Nach der Zahl der einschlägigen Lebensbereiche und nach deren Kreativität, Dynamik und Originalität zeichnet sich der Kon­ tinent durch einen außergewöhnlichen Reichtum aus. Mit diesem Hintergrund blickt der letzte Teil dieses Buches in die Zukunft: Welche Vision empfiehlt sich für dieses Europa? Wie schon zu Anfang bemerkt, wäre es ohne Zweifel vermessen, eine über Jahrhunderte gewachsene Gestalt von Grund auf neu erfinden zu wollen. Umsich­ tiger ist zu überlegen, welche im Prinzip bekannten, aber nicht immer anerkannten Gesichtspunkte ein zukunftsfähiges, insbesondere auch zukunftswürdiges Potential enthalten. Die gesuchten Leitgedanken erhalten dann eine größere Über­ zeugungskraft, wenn sie einem Grundmuster philosophischer Argu­ mentation, der bestimmten Negation folgen, also mit dem Gegensatz beginnen, hier mit dem immer wieder beschworenen, bei näherer Betrachtung aber falschen Vorbild, den USA (Kapitel 18). Darauf folgen zwei überzeugende Vorbilder, als Beispiel eines Europäers ohne Hochmut, Immanuel Kant und als Modell des Zusammenlebens ein Wettstreit in Frieden (Kapitel 19). Aufgrund dieser Überlegungen zeichnet sich der sachgerechte Leitgedanke ab, das mit dem Recht auf Differenz verbundene Prinzip der Subsidiarität (Kapitel 20). Seinetwegen darf kein Europa-Projekt, das nur um seiner Bürger willen berechtigt ist, deren Interessen vernachlässigen. Diese werfen unter anderen die Frage auf, ob es schon eine gemeinsame europäische Identität gibt (Kap. 21). Unabhängig von der Antwort, die sich hier aufdrängt, weisen die Interessen der Bürger in zwei Richtungen, die in der gelebten Wirk­ lichkeit zwar nicht spannungsfrei sind, sich aber friedlich ergänzen können: Wie bei jedem Baustein kulturellen Reichtums angedeutet, weisen die für Europa typischen Elemente nicht etwa von außen angestoßen, sondern: aus sich heraus über Europa hinaus, denn sie enthalten wesentlich ein kosmopolitisches Potential (Kapitel 22). Zum anderen lebt die konkrete Gestalt der einzelnen Kulturbereiche, so die Transzendenz nach Innen, von nationalen und regionalen Besonderheiten, ohne deren Anerkennung kein Europa als Institution seiner Bürger möglich ist (Kapitel 23). Den Abschluß des dritten Teiles, der demokratischen Vision, bildet eine Bilanz: Zehn Thesen für eine Europäische Union der Bürger (Kapitel 24).

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18 Das angebliche Vorbild: USA

Der Hinweis auf ein unpassendes Vorbild verwirft nicht die infrage stehende Sache, hier die Europa-Idee, sondern lediglich deren Fort­ entwicklung in die falsche Richtung. In diesem Sinne und gemäß dem Argumentationsmuster der bestimmten Negation zielt dieses Kapitel auf Einwände und Bedenken, mithin auf negative Argumente, während die Position später folgt. Nach einer Skizze der Elemente und Faktoren, die das angebliche Vorbild, die USA, charakterisieren (Abschnitt 18.1), werden die für Europa wesentlichen Unterschiede herausgearbeitet (Abschnitt 18.2), die allerdings, in der die Entwick­ lung der Union mehr und mehr eingeebnet werden, ein Vorgang, der sich, polemisch zugespitzt, auf einen schleichenden Staatsstreich beläuft (Abschnitt 18.3). Um über dieser hier bewußt provokativ formulierten Hypothese den unaufgebbaren Sinn der Europa-Idee nicht aus dem Auge zu verlieren, werden die dann folgenden Kapitel für das positive Leitbild, eine Einheit in Vielfalt, plädieren.

18.1 Ein Vorbild? Wir erinnern uns: Europa, genauer nur ein Teil, Klein-, nicht Groß­ europa, hat sich von bescheidenen Anfängen schließlich zu einer Europäischen Union (EU) entwickelt. Für sie legt sich nach Ansicht von Europa-Enthusiasten der Gedanke nahe, de Gaulles Vision eines Europas der Vaterländer zu verabschieden, um nach dem Vorbild der USA endlich »Vereinigte Staaten von Europa« (VSE) bzw. »United States of Europe« (VSE) zu schaffen. Ohne Zweifel muß ein Europa auf dem Niveau der politischen Moderne demokratisch sein. Demokratie herrscht aber bis heute im Wesentlichen nur in den einzelnen Mitgliedstaaten. Ebenfalls kommt die Souveränität nach heutigem Verständnis nur den einzelnen Staa­ ten, nicht der Union zu. Allerdings haben die einzelnen Staaten an die Union eine Reihe jener Kompetenzen abgegeben, die nach dem ursprünglichen Verständnis zum Begriff der Souveränität gehören.

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18 Das angebliche Vorbild: USA

Um die trotzdem vorgenommenen Kompetenzverzichte nicht als Aufgeben von Souveränität verstehen zu müssen, unterscheidet das neuere Verfassungsrecht zwischen Hoheitsrechten, von denen man durchaus einen Teil abgeben könne, und der eigentlichen Souveräni­ tät, die bei den Staaten verbleibt. Vor Winston Churchills bekannter Rede wird die Vision schon ein Jahrhundert vorher vom französischen Schriftsteller Victor Hugo in seiner Eröffnungsrede des Pariser Friedenskongresses von 1849 entworfen. Für die Aufforderung an Frankreich, Russland, Italien, England und Deutschland, »die große europäische Bruderschaft zu begründen«, nimmt Hugo die Vereinigten Staaten von Amerika zum Vorbild, da sie damals neben der Schweiz die einzige gefestigte Demokratie der Welt waren. Allerdings betont er, daß alle Nationen die »Eigentümlichkeiten ihrer ruhmreichen Individualität« nicht ein­ büßen sollen, was ein Bundesstaat wie die USA schwerlich möglich macht. Deshalb empfiehlt sich ein Blick auf die Unterschiede, die zwischen der Europäischen Union und den USA bestehen.

18.2 Unterschiede Bekanntlich erklären am 4. Juli 1776 die dreizehn an der nordameri­ kanischen Küste gegründeten englischen Kolonien ihre Unabhängig­ keit von Großbritannien. Dadurch werden sie nicht etwa zu einem einheitlichen Gemeinwesen, vielmehr zu dreizehn vollsouveränen Einzelstaaten, die sich eine je eigene Verfassung geben. Diese setzt sich zumeist aus zwei Teilen, einem Grundrechtskatalog und einem organisationsrechtlichen Teil, zusammen. Einige Jahre später schlie­ ßen sich die souveränen Staaten in den Articles of Confederation (1781) zu einem sehr losen Bund zusammen. Wegen drei politisch brisanter Fragen, wegen der Verteilung der Lasten des Unabhängigkeitskrieges, wegen der Ansprüche auf den noch unerschlossenen Westen des Kontinents und wegen der Ausgabe von Papiergeld, kommt es jedoch zu einem heftigen Streit. Dieser wird durch den einen gemeinsamen Verfassungskonvent nach teilweise erbitterten Auseinandersetzungen mit einer grundlegend neuen Art des Zusammenschlusses beendet. Vor allem von den Federalist Papers inspiriert, dem überragenden Beitrag der Vereinigten Staaten zur politischen Philosophie, setzen sich die Befürworter eines Bundesstaates, die Föderalisten, gegen die Kritiker, die Konfödera­

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18.2 Unterschiede

listen, durch: Der zunächst lockere Zusammenschluß der dreizehn ehemaligen Kolonien, der konföderale Staatenbund, mutiert zu einer Föderation, also zu einem echten Bundesstaat, mit weitreichenden Kompetenzen, zwei Gesetzgebungskammern und einem mächtigen Präsidenten an der Spitze. Abstrakt betrachtet könnte sich Europa ähnlich entwickeln. Ohnehin hat es den konföderalen Zusammenschluß, einen losen Staatenbund, längst aufgegeben. Aus Verlegenheit, wie man das Gebilde bezeichnen soll, nennt man es einen Staatenverbund. Dieser ist allerdings von einem veritablen Bundesstaat, der die Bezeichnung »Vereinigte Staaten von Europa« verdient, noch weit entfernt. Und bevor man sich – angeblich visionär – dieses Muster zum Vorbild nimmt, vergegenwärtige man sich die Unterschiede: Fraglos wird mit Louisiana eine französischsprachige Kolonie, werden etwa mit Florida und mit Kalifornien auch spanischsprachige Kolonien Teile der USA und legen die Einwanderer ihren unterschied­ lichen kulturellen Hintergrund nicht ab. Aus diesen und weiteren Gründen werden die USA bald zu einem Land innerer Vielfalt. Als Zusammenschluß von dreizehn englischen Kolonien entstanden, bleiben sie aber ein sowohl sprachlich als auch in der Rechtskultur weithin homogenes Gemeinwesen. Detaillierte Geschichtskenntnisse muss man von allen Euro­ paenthusiasten nicht erwarten. Die Präambel der Verfassung der Europäischen Union sollten sie aber kennen. Danach sind die »Völ­ ker Europas« stolz auf ihre nationale Identität. Sie sind zwar, fährt die Präambel fort, »entschlossen, die alten Trennungen zu überwin­ den«. Sie verbinden diese Entschlossenheit aber mit der Gewißheit, daß »Europa in Vielfalt geeint, die besten Möglichkeiten für eine verantwortungsvolle Zukunft ermöglicht«. Daraus folgt der für den Vergleich der Europäischen Union mit der USA entscheidende Unter­ schied. Die für alle US-Amerikaner täglich sichtbare, weil in die Dollarnoten eingestanzte Devise der USA lautet: »e pluribus unum«, aus der Vielfalt entstehe Einheit. Europa hingegen zeichnet sich durch ein: »in pluribus unum« aus. Folglich heißt die hier zuständige Devise: Einheit in Vielfalt. Nicht etwa, weil verbohrte Nationalisten auf Eigenwilligkeiten pochen, hat Europa seine sprachliche, kulturelle, mentalitäre, soziale und politische Vielfalt zu bewahren, sondern weil ihre Bürger, zeigt ihr tägliches Leben, es wollen und weil darin der weltweit bewunderte kulturelle Reichtum Europas gründet. Infolgedessen waren die Ver­

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18 Das angebliche Vorbild: USA

antwortlichen, die den Euro als gemeinsame Währung einführten, bei der Gestaltung der Euro-Münzen klug beraten. Während alle Welt bei ihren Geschäften mit Dollarnoten das Leitbild der USA »e pluribus unum« vor Augen habt, zeigt die Ein-Euro-Münze jedem Benutzer das Wesen Europas: auf der einen Seite die Einheit, den gemeinsamen Kontinent, auf der anderen Seite die Vielfalt, denn jedes Land präsentiert auf der Rückseite nach freier Entscheidung eine Besonderheit, die es für sich für wichtig hält. Wenn man den europäischen Völkern nicht Gewalt antun und dabei ihre beiden Hauptwerte, den Rechtsstaat und die Demokratie, über Bord werfen will, ist Europa nur auf eine Weise denkbar, die unter dem Titel »Union« nicht zu viel an »unum«, an »Einem«, will. Realis­ tischerweise denkbar und vor allem für seine Bürger wünschenswert ist Europa nicht als homogene Einheit, sondern lediglich als eine Gemeinschaft, die das Recht auf Differenz pflegt, mithin gemäß der erwähnten Devise »in pluribus unum« als Einheit in Vielfalt.

18.3 Ein schleichender Staatsstreich Die tatsächliche Entwicklung der Union orientiert sich nicht an großen staatsphilosophischen Begriffen, vor allem nicht an der Alternative von Staatenbund und Bundesstaat. Darin liegt ein weiterer Unter­ schied zu den USA. Dort geschah der Übergang schon wenige Jahre nach dem ersten Zusammenschluß und aufgrund des förmlichen Verfahrens einer Verfassungsgebung. In Europa hingegen findet der Prozeß in vielen recht kleinen Schritten statt, womit die Union Karl Poppers sozialphilosophischem Gedanken des »piecemeal enginee­ ring« folgt. Hier im Gegensatz zu einer laut Popper tendenziell totalitären Gesamtplanung nimmt man sich eher Einzelprobleme vor, die in einer »Stückwerktechnologie« gelöst werden. Man kann auch von einer »ewigen Großbaustelle« sprechen, auf der ständig hinzugebaut wird. Die Union erhält nämlich seit Jahren zunehmend mehr Zustän­ digkeiten. Wie schon moniert, erfolgt dieser fortlaufende Zuwachs an Befugnissen nicht selten ohne die ausdrückliche Zustimmung der eigentlich Verantwortlichen, der einzelnen Staaten. Falls dann gegen einen Beschluss der Europäischen Kommission Einspruch erhoben wird, pflegt der Europäische Gerichtshof (EuGH) sich auf die Seite der

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18.3 Ein schleichender Staatsstreich

Kommission zu schlagen, um teilweise ohne eine zureichende Rechts­ grundlage die Binnen-Homogenisierung weiter voranzutreiben. Für den Supreme Court der USA wäre das höchst befremdlich. Weil im Folgenden starke Bedenken gegen diese Entscheidung geäu­ ßert werden – wegen der Schärfe der Argumentation mag man von polemischer Kritik sprechen –, passen diese Überlegungen auch zum ersten Teil. Sie werden aber hier plaziert, weil sie weitere Unterschiede zu den USA beinhalten. Richtig ist zwar, daß wichtigen Kompetenzerweiterungen oder Kompetenzvertiefungen förmliche Beschlüsse als völkerrechtliche Verträge zugrundeliegen. Diese werden bekanntlich nach den Städten benannt, in denen die Verträge abgeschlossen wurden: Maastricht 1992, Amsterdam 1987, Nizza 2001 und Lissabon 2007, wo der Euro­ päische Unionsvertrag (EUV) beschlossen wurde, der einer Verfas­ sung für die Europäische Union nahekommt, auch wenn der Ausdruck der Verfassung wegen ablehnender Referenden in den Niederlanden und in Frankreich bewußt vermieden wurde. Man muß es hier wiederholen: Im Zuge der genannten Verträge haben die Mitgliedstaaten mehr und mehr Souveränitätsrechte abge­ geben und die entsprechenden Kompetenzen, etwa die der eigenen Währung, die einer die nationale Staatsbürgerschaft ergänzenden Unionsbürgerschaft, ferner die der autonomen Finanzpolitik, die der Sicherheitspolitik und des Besteuerungsrechts der Union übertragen. Überdies haben sie Kommissariate geschaffen oder stillschweigend zugelassen, die für weitere Souveränitätsfelder, selbst für so essenti­ elle Bereiche wie die Handels- und Entwicklungspolitik zwar nicht allein –, aber doch mitverantwortlich sind, ferner für Bildung, For­ schung und Technik, für Sozialpolitik und Beschaffungspolitik, für Umwelt, Verbraucherschutz und Gesundheit, selbst für einen so wichtigen Bereich wie die Außenpolitik im engeren Sinn. Wird dieser Prozeß der Erweiterung und der Verdichtung von Kompetenzen fortgesetzt, so mag man den Ausdruck »Bundesstaat« noch vermeiden, um möglichen Gegnern die Gegnerschaft nicht zu erleichtern, weder den generellen Europagegnern noch den Verteidi­ gern eines Europas der Vaterländer noch den Staatsrechtlern, die im Namen der Verfassung ihres Landes die Errichtung eines europä­ ischen Bundesstaates für verfassungswidrig halten. In Deutschland beruft man sich dann auf die sogenannte Ewigkeitsklausel, Artikel 79 Absatz 3, des Grundgesetzes: »Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die die grund­

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18 Das angebliche Vorbild: USA

sätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung … berührt werden, ist unzulässig.« Nach herrschender Meinung gilt nämlich ein etwaiges Aufgehen Deutschlands in einen europäischen Bundesstaat, diese umfassende Entstaatlichung der Bundesrepublik Deutschland, als »für ewig« verboten. Das Verbot muß allerdings nicht in einem punktuellen Akt verletzt, es kann auch schleichend, dabei in einer Art von »Diktat der Zwangsläufigkeit«, unterlaufen werden. Für das Veto ist in Deutschland zwar das Bundesverfassungs­ gericht zuständig. Bei strittigen Fragen wie der Einführung der Wäh­ rungsunion oder dem Versuch, den Finanzmarkt zu stabilisieren, oder den Finanzhilfen für Griechenland traf es jedoch Entscheidungen, die die schleichende Einrichtung eines Bundesstaates nicht verhindern, vermutlich ungewollt sogar befördern. Denn das Gericht argumen­ tierte zwiespältig. Auf der einen Seite stellte es ein kategorisches Verbot aus: »Das Grundgesetz ermächtigt die für Deutschland han­ delnden Organe nicht, durch einen Eintritt in einen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in Gestalt der völker­ rechtlichen Souveränität aufzugeben.« Auf der anderen Seite erlaubt es – bislang jedenfalls – jeden einzelnen Schritt, selbst so erhebliche Souveränitätsverzichte wie die durch den Euro verlorene Währungs­ hoheit. Da mit weiteren Verzichten auf Hoheitsrechte zu rechnen ist, die nicht immer von der Versammlung der souveränen Einzelstaaten, dem Ministeriat, ausdrücklich beschlossen werden, von eben diesem Ministeriat lange Zeit sogar fahrlässig, eventuell grob fahrlässig hin­ genommen wurden, muß sich das Bundesverfassungsgericht, müssen sich auch der Bundestag und die Regierung fragen lassen. Wie wollen sie den zunehmenden Verlust an Staatlichkeit desjenigen Staates, für dessen Wohl sich einzusetzen sie sich in feierlichem Eid verpflichtet haben, wie wollen sie die faktisch stattfindende »Entstaatlichung durch die Hintertür« noch ernsthaft stoppen? Wie wollen und können sie verhindern, daß, irgendwann ausdrücklich beschlossen, der für Deutschland und vermutlich auch andere Staaten verfassungswidrige Bundesstaat tatsächlich politische Wirklichkeit wird? In der Staatstheorie heißt (1) ein Umsturz der Machtverhältnisse, der sich (2) gegen die Verfassung richtet und (3) von oben kommt, Staatsstreich. Zu diesen Kernelementen treten in der Regel zwei weitere Elemente hinzu: Der Umsturz erfolgt in einem Sprung: plötzlich, zu einem festen Zeitpunkt, und mit Gewalt. Die beiden Zusatzelemente sind aber nicht begriffsnotwendig. Wo sie fehlen,

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18.3 Ein schleichender Staatsstreich

liegt ein neuartiger bzw. atypischer Staatsstreich vor. Genau dieser, so die hier vertretene, bewußt provokative Hypothese, ist für die Euro­ päische Union zu befürchten: In dieser Klarheit und Schärfe noch nicht erkannt und anerkannt, überdies nicht plötzlich, punktuell, sondern gleitend vorgenommenen, droht faktisch, was sich auf längere Sicht auf nichts weniger als einen Staatsstreich beläuft, die fortschreitende Entstaatlichung der europäischen Staaten. Von keiner Staatsgewalt als solcher legitimiert, ist Europa, ohne dieses Etiketts zu bedürfen, auf dem Weg zu einem Bundesstaat weit fortgeschritten. Für diese Entwicklung könnte man sich zwar auf den Europä­ ischen Unionsvertrag (EUV) von Lissabon berufen. Denn dieser spricht im Artikel 1, Absatz 2 zwar noch von den »Völkern Europas«, nicht vom »europäischen Volk«. Er gibt ihnen aber den Auftrag, eine immer engere Union zu verwirklichen, ohne dabei eine »rote Linie« zu ziehen, die um einer verbleibenden Eigenstaatlichkeit der Völker willen nicht überschritten werden darf. Unter Berufung auf diesen Artikel des EUV könnte man also den neuartigen Staatsstreich für legitim halten, ihm damit den Charakter eines Staatsstreiches absprechen, denn man verwirkliche nur den dortigen Auftrag zu einer immer engeren Union. Dann unterschlägt man aber die dort erwähn­ ten »Völker Europas«. In einem Bundesstaat wie den USA bildet die Gesamtbürgerschaft trotz bleibender Rechte der Einzelstaaten staats­ rechtlich ein gemeinsames (US-)Amerikanisches Volk. Nach diesem Vorbild würden in einem europäischen Bundesstaat die bisherigen Völker Europas zu einem europäischen Volk verschmolzen, folglich in staatsrechtlicher, nicht ethnischer, sprachlicher oder sonstwie kultu­ reller Hinsicht in ihrem Fortbestand als je eigeneVölker aufgehoben. Es versteht sich, daß ein etwaiger Widerstand umsichtig und mit Augenmaß vorzunehmen ist, um der entgegengesetzten Gefahr zu entkommen, daß die schon jetzt stark fremdenfeindlichen populisti­ schen Parteien die Oberhand gewinnen und die Europäische Union unter deren Druck in europafeindliche Nationalstaaten zerfällt. Hier trägt der öffentliche Diskurs große Verantwortung. Er muß eine Debatte nicht bloß erlauben, sondern sogar fördern, der gegen eine Verstaatlichung der Europäischen Union, der also gegen die Schaffung eines staatstheoretisch einheitlichen Bundesstaates Ein­ spruch erhebt, ohne in populistische Nationalismen zurückzufallen. Es empfiehlt sich, für ein konföderales Europa, in heutigen Begriffen: für einen Staatenverbund einzutreten. Als Modell einer veritablen Union der Bürger taugt ein Bundesstaat Europa jedenfalls nicht.

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19 Geeignete Vorbilder

19.1 Ein Europäer ohne Hochmut: Immanuel Kant Zu einem wahren Europäer, darüber hinaus echten Weltbürger wird man weder durch Reisen noch durch Geschäfte, die im geistigen Gepäck nichts anderes als den eigenen Sprach- und Kulturraum und den eigenen Berufshorizont mit sich führen. Entscheidend, zeigt Kant, der in seinem Lebenslauf über seine Heimatstadt Königsberg und deren nähere Umgebung nie herauskam, sind eine interkulturelle Neugier und eine interkulturelle Toleranz. Dank der interkulturellen Neugier lernt man nämlich andere Völker mit ihren anderen Sitten kennen. Und dank der interkulturellen Toleranz ist man bereit, das Andere in seiner Andersartigkeit nicht bloß wahrzunehmen, sondern in seinem Eigenwert auch anzuerkennen. In beiden Hinsichten ist Kant ein Vorbild. Aufgrund einer Neu­ gier auf so gut wie alles in der Welt, aufgrund von Gesprächen mit weitgereisten Kaufleuten seiner Stadt und vor allem dank einer weit­ gefächerten, keinesfalls auf die Philosophie und deren Nachbargebiete begrenzten, vielmehr zum Beispiel Reiseberichte einschließenden Lektüre erwirbt er sich außergewöhnlich themen- und facettenreiche Weltkenntnisse. Auf diese Weise wird er zum Weltbürger in einem bislang unvertrauten Verständnis: Mittels einschlägiger Kenntnisse öffnet er sich für andere Denkweisen und Kulturen und wird sowohl zu einem Weltbürger im Wissen, zu einem kognitiven Kosmopoliten, als auch zu einem Weltbürger seiner Lebenshaltung nach, zu einem Kosmopoliten der Toleranz. Kant pflegt beides schon gegenüber seinem Heimatkontinent. Obwohl seine Philosophie tief im Denken Europas verwurzelt ist, spielt dieser Kontinent keine große Rolle. Seine Vorlesung Physische Geographie beginnt im dritten Teil, der »summarische[n] Betrachtung der vornehmsten Naturmerkwürdigkeiten nach Geographie der Ord­ nung«, nicht etwa mit Europa. Vielmehr setzt er bei Asien an, das er den »ersten Weltteil« nennt und am ausführlichsten behandelt. Erst nach Afrika, »dem zweiten Weltteil«, folgt, auffallend kurz, Europa als

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19 Geeignete Vorbilder

dritter Weltteil, wobei Deutschland, Österreich und die Schweiz ganz fehlen. Daran schließt sich Amerika an. Bei den Ausführungen zu Europa steht keine Abgrenzung nach außen, sondern die geographische Binnenunterscheidung im Vorder­ grund. Ähnlich begnügt sich die Vorlesung Anthropologie in prag­ matischer Hinsicht (VII 311–319) mit einer Binnendifferenzierung, gewissermaßen mit einem Recht auf Unterschiede, auf Differenz. Denn die Vorlesung hebt auf jenen unterschiedlichen »Charakter des Volks« ab, worin sich die »Sinnesart eines Volks« ausdrückt. Und statt hier das eigene Volk zu loben, hält Kant England und Frankreich für »die zwei zivilisiertesten Völker auf Erden« (311). Beim Blick auf Gemeinsamkeiten bietet sich Europa laut Kant eher als negatives Vorbild an. Denn gemäß der Friedensschrift, ihrem zweiten Präliminarartikel, hält man den Staat für eine »Habe«, die man »als Pfropfreis einem anderen Staate« einverleiben dürfe. Dadurch werde der Staat zu einer Sache herabgewürdigt, was seinem Wesen widerspreche, »eine Gesellschaft von Menschen« zu sein. Daß ein »für sich bestehender Staat … von einem andern Staate durch Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung erworben« werde, verletzte den einzigen Rechtfertigungsgrund einer zwangsbefugten Rechtsord­ nung, eines Staates, die »Idee des ursprünglichen Vertrags«. Der Gemeinspruch verpflichtet den Gesetzgeber, »daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes habe entspringen können«. Vermutlich weil diese Idee, das Kriterium für die »Rechtmäßig­ keit eines jeden öffentlichen Gesetzes« (ebd.), in Europa entwickelt wurde, führt Kant in den Reflexionen (Nr. 1497) auch ein rechtsmo­ ralisches, zugleich positives Verständnis von Europa ein: »Europäisch nenne ich eine Nation, hier zu verstehen als Gemeinwesen oder Staat, wenn sie nur [durch] den gesetzmäßigen Zwang annimmt, folglich Restriktion der Freiheit durch allgemeingültige Regel.« (XV 773) Kant behauptet nicht wirklichkeitsfremd, alle Staaten Europas genügten diesen Legitimationskriterien. Er erklärt vielmehr, ein Staat gelte nur dann in einem normativen Verständnis als europäisch, wenn er dem rechtsmoralischen Begriff des öffentlichen Rechts, vereinfacht gesagt: der Rechtsstaatlichkeit, genüge. Läßt man diese Beobachtungen Revue passieren, so erscheint Kant deshalb als Vorbild eines europäischen Weltbürgers, weil ihm ein europäischer Hochmut fremd ist. Das zeigt sich schon im geringen Interesse am Thema Europa. Zudem übersieht er nicht erhebliche

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19.2 Wettstreit – in Frieden

Schwächen, namentlich die Perversion einer Personengemeinschaft, eines Staates, zu einer Sache, die man erben, tauschen oder verkaufen dürfe. Noch wichtiger ist Kants radikal neues, namentlich rechtsmo­ ralisches Verständnis von Europa. Mit ihm wird alle geographische Bedingtheit beiseitegeschoben: Auf welchem Kontinent auch immer ein Gemeinwesen existiert – legitim ist es nur in der Gestalt eines Rechtsstaates. Nicht zuletzt wird die Binnendifferenzierung positiv gesehen, was als Plädoyer für Europas Vielfalt zu verstehen ist.

19.2 Wettstreit – in Frieden Offensichtlich hat Europa die Jahrhunderte währenden Zeiten von Kriegen überwunden, glücklicherweise aber die Konkurrenz nicht auf­ gehoben. Schon innerhalb der Staaten herrscht der Wettbewerb etwa zwischen Einzelpersonen und zwischen Gruppen, zwischen Unter­ nehmen, Verbänden und Parteien, nicht zuletzt zwischen Kommunen und Bundesländern, Provinzen oder Départments. Ohne Zweifel besteht dieser Wettbewerb, teils verdeckt, teils offen, auch zwischen den Staaten. Für den allseitigen Wettbewerb gibt es einen anthropologischen Grund, den unser Vorbild eines europäischen Weltbürgers, Kant, auf den Begriff gebracht hat. Er besteht in der Verbindung zweier gegen­ läufiger Antriebskräfte, »ungesellige Geselligkeit« genannt, nämlich im Hang des Menschen, »in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welche diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist« (Idee zu einer allgemein Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Vierter Satz). Kant zufolge ist die ungesellige Geselligkeit höchst vorteilhaft. Sie drängt nämlich die Menschheit zur Entwicklung ihrer Anlagen und in ihrem Gefolge zu einem Fortschritt, der zunächst innerhalb der Staaten, dann auch zwischen ihnen das Recht statt der Gewalt herrschen läßt. Auf Europa bezogen sind deren Staaten insofern gesel­ lig, als sie das einträchtige Miteinander suchen, ungesellig hingegen, sofern jeder Staat sich mittels so menschlicher Antriebskräfte wie Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht gegenüber anderen Staaten auszeichnen will. Vorausgesetzt, daß der Wettstreit friedlich, fair und vor allem in Freiheit verläuft, sollte er, wie im Kapitel zur Wirtschaft exemplarisch erläutert, hochwillkommen sein. Denn er tritt dem ebenfalls mensch­

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lichen Hang, der Zufriedenheit mit einem gemütlich-gemächlichen Leben, entgegen. Statt die Begabungen und Kräfte verkümmern zu lassen, stimuliert er sie und bringt damit jene wirtschaftliche und kulturelle Blüte zustande, auf die Europa stolz sein darf. Indem sie dem Kontinent das hohe Gut des Friedens mit den segensreichen Folgen des Wettbewerbs verbindet, vereint sie die Geselligkeit mit Ungeselligkeit zu einem friedlichen Wettstreit. Bei dem überragenden Friedenstheoretiker der Moderne, Kant, bildet der Friede ein Grundmotiv des gesamten Denkens. Im Bereich des Politischen gelingt es ihm, die für eine Friedensphilosophie ent­ scheidenden Denkmotive der europäischen Geistesgeschichte, die bislang neben- oder gegeneinander liefen, zu einer Einheit zu bringen. Kant verbindet sowohl das Rechts- und Staatsdenken seit der Antike, einschließlich dem weitgehend apolitischen Kosmopolitismus der Stoa, mit dem Völkerrecht der Neuzeit und Augustinus’ Gedanken eines ewigen Friedens. Dieser bleibt aber nicht dem Jenseits vorbehal­ ten, sondern ist im Diesseits und hier durch das Recht nach seinem moralischen Begriff zu verwirklichen. Dabei wird die Friedenstheorie von allen friedensexternen Elementen wie religiösen Motiven und politischen Interessen freigesetzt. Stattdessen wird sie in die Grund­ züge einer vollständigen Rechts- und Staatsphilosophie eingebettet und um die Prinzipien ihrer Umsetzung in reale Politik ergänzt. Denn Kant entwirft keine wirklichkeitsfremde Utopie, sondern eine so erfahrungsgesättigte, folglich realistische Vision, daß sie bis heute sowohl für Philosophen als auch Politikwissenschaftler, selbst Öko­ nomen, das maßgebliche Muster abgibt. Vor Kant versteckten viele Friedenspläne das Interesse an Hege­ monie ihres Landes unter der behaupteten Verantwortung für ein europäisches Gleichgewicht. Kant hingegen überwindet sowohl das Hegemonie- als auch das Gleichgewichtsdenken und erklärt den Frie­ den zu einem unbedingt gültigen Gebot, zu einem kategorischen Frie­ densimperativ. Innerstaatlich besteht er in der Pflicht, einen Rechts­ staat einzurichten, völkerrechtlich im Gebot, einen Föderalismus freier Staaten zu gründen, und auf der Ebene eines Weltbürgerrechts in der Verpflichtung auf ein globales Besuchsrecht, aber nicht Gastrecht. Demzufolge darf ein Händler seine Waren, ein Forscher sein Wissen, selbst der Missionar seine Religion anbieten, vorausgesetzt, daß auf beiden Seiten Freiheit herrscht: Weder darf man die ankommen­ den Personen töten, versklaven oder ausrauben noch umgekehrt die Einheimischen unterwerfen, ausbeuten oder versklaven. In diesem

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19.2 Wettstreit – in Frieden

Zusammenhang übt Kant eine scharfe Kritik an der damaligen Kolo­ nialpolitik: »denn die Einwohner rechneten sie für nichts« (Frieden, VIII 358). Weil Kant anders als seine Vorläufer einen von religiösen Zugehörigkeiten unabhängigen, sowohl räumlich als auch zeitlich universalen Frieden fordert, schafft er in Verbindung mit der politi­ schen Neuerung von damals, der Republik, den politisch kühnsten Plan. Gleichwohl entgeht seine Friedenstheorie dabei, aufgrund einer dreifachen Bescheidenheit der Gefahr, zu einer »Zauberflöte des Weltfriedens« zu degenerieren. Für ein knappes Fazit dieses Kapitels genügt es, die beiden Hauptgedanken zu wiederholen: Europäische Denker können dann der Union als Vorbild dienen, wenn sie wie Kant ohne den europä­ ischen Hochmut auftreten. Und als Motivationskraft bietet sich ein bleibender Wettstreit an, aber ohne Gewalt, stattdessen in Frieden.

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20 Subsidiarität

Für die Europäische Union ist die Subsidiarität zum einen wichtigen Strukturprinzip geworden. Dieses Kapitel beginnt mit einer Klärung dieses Begriffs (Abschnitt 20.1), arbeitet erste europapolitische Erfor­ dernisse heraus (Abschnitt 20.2), stellt drei Kriterien auf, die sie pro­ beweise auf die Europäische Union anwendet (Abschnitt 20.3), und schließt mit einen von der Subsidiarität her inspirierten Gedanken: In dem Maße, wie ein Mitgliedsland bei wirtschafts- und finanzpoli­ tischen Fragen auf seine nationale Souveränität pocht, muß es auch für die Folgen die nationale Haftung übernehmen (Abschnitt 20.4).

20.1 Das Prinzip Die politische Anerkennung des Subsidiaritätsprinzips wird durch den Umstand erschwert, daß es noch keine lange rechts- und staats­ philosophische Tradition hat. Auch wenn es für die Sache ältere Aufsätze gibt – der Ausdruck selbst taucht erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, dort beim Mainzer »Arbeiterbischof« W. E. v. Ketteler, auf. Das Subsidiaritätsprinzip entstammt also nicht einer philosophischen oder juristischen Staatstheorie, sondern einer christ­ lichen Sozialethik, die damals für die soziale Frage, die Schutzlosigkeit gegen Krankheiten, Unfälle und Arbeitslosigkeit, kurz: gegen Armut und Elend, eine humane Lösung sucht. Zunächst erscheint das Sub­ sidiaritätsprinzip in katholischen Sozialenzykliken; später findet es auch in der protestantischen Sozialethik einen Niederschlag. In der einschlägigen christlichen Sozialethik bildet die Subsidia­ rität zusammen mit der Personalität und der Solidarität ein Trio von sozialethischen Kardinalprinzipien. Nach dem Prinzip der Subsidiari­ tät – vom lateinischen Wort subsidium: Hilfe, Beistand – soll das, was die kleineren Sozialeinheiten, insbesondere, gemäß dem Perso­ nalitätsprinzip, die kleinsten Einheiten, die selbstverantwortlichen Personen, selber leisten können, diesen Einheiten überlassen bleiben. Dabei kommt es auf die »kleineren« und »kleinsten« Einheiten an.

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20 Subsidiarität

Denn schon die verbreitete Rede von »unteren« und »untersten« Ein­ heiten widerspricht dem Subsidiaritätsdenken, da sie eine Hierarchie von oben nach unten unterstellt, was die untere Ebene degradiert, während im Subsidiaritätsdenken genau sie den Vorrang genießt. Für den Europa-Diskurs genügt eine knappe Begründung. Sie setzt bei dem in sachlicher Hinsicht ersten und vorrangigen sozial­ ethischen Prinzip, der Personalität, an. Ihm zufolge gilt der einzelne, aber nicht vereinzelte Mensch als eine zurechnungsfähige Person, die in ihrer Fähigkeit, freilich nicht immer Wirklichkeit der Selbstverant­ wortung jenen unendlichen Wert hat, den man auch Menschenwürde nennt und die der Grund- und Menschenrechte begründet. Unter dieser Voraussetzung, daß der Mensch eine selbstverant­ wortliche und in dieser Verantwortung sowohl zu respektierende als auch zu schützende Person ist, hat das Subsidiaritätsprinzip eine zwei­ fache, sowohl negative als auch positive Stoßrichtung; das Prinzip hat einerseits einen Verbots-, andererseits einen Gebotscharakter. In negativer oder kritischer Hinsicht wendet sich das Subsidiaritäts­ prinzip gegen zwei der damals dominanten Positionen. Es wider­ spricht sowohl dem Sozialismus, insofern dessen kollektivistischen Tendenzen dem Personalitätsprinzip zuwiderlaufen, als auch jener Gestalt eines bloßen Wirtschaftsliberalismus, dem soziale Folgeschä­ den gleichgültig sind, wogegen sich das weitere sozialethische Prinzip, das der Solidarität, wendet. Mindestens ebenso wichtig wie die negative Seite der Subsi­ diarität, ihr Verbot von sozialistischem Kollektivismus und reinem Marktliberalismus, ist ihr positiver und konstruktiver Gehalt. Dessen Rechtfertigungsgrundlage bildet das Personalitätsprinzip. Seinetwe­ gen gelten in Fortsetzung des Verbotscharakters alle Sozialeinheiten, einschließlich deren Behörden und Machtzentren, nicht als an sich legitim, sondern nur, so der Gebotscharakter, unter der Vorausset­ zung, daß sie letztlich der einzelnen Person ein Subsidium, bieten. Zu diesem Zweck, der Hilfe und Unterstützung, sollen, so setzt sich die konstruktive Seite fort, zwischen den Individuen und den nicht etwa höheren, sondern lediglich größeren Sozialeinheiten, nament­ lich den zwangsbefugten Gemeinwesen, intermediäre Gesellschafts­ formen zwischengeschaltet werden, insbesondere die Familie, aber auch Betriebe und Gemeinden. Auf diese Weise wird den größeren Einheiten Zurückhaltung geboten, und sofern sie berechtigterweise Unterstützung leisten, muß diese, soweit wie möglich, als Hilfe zur Selbsthilfe erfolgen.

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20.2 Politische Erfordernisse

Politiker und Politikwissenschaftler neigen bei ihrer Wertschät­ zung, wenn sie diese überhaupt vornehmen, dazu, Subsidiarität mit Delegieren und Dezentralisieren, also mit einer Bewegung von oben nach unten gleichzusetzen. Wer delegiert, gibt aber Kompetenzen ab, die ihn vielleicht überfordern, die er aber im Prinzip besitzt. Das Subsidiaritätsdenken schlägt die Gegenrichtung ein. Es setzt nämlich alle Rechtfertigung »unten« an, weshalb wie gesagt schon die Rede »von unten« das Fehlverständnis einer Hierarchie befördert, die staatsrechtlich gesprochen den eigentlichen Souverän, die selbstver­ antwortliche Person, entmachtet. Das Subsidiaritätsprinzip besteht also aus zwei Seiten, aus einem Zuständigkeitsrecht und einem Wegnahmeverbot: Das, was die einzelne Person aus eigener Initiative und mit eigenen Kräften zustande bringen kann, darf seiner Zuständigkeit nicht entzogen und der Gemeinschaft zugewiesen werden. Ebenso muß das, was eine kleinere Einheit leisten kann, ihr belassen bleiben. Die Personen bzw. kleineren Einheiten haben also das Recht, als Kehrseite freilich auch die Pflicht zur Eigen-Verantwortung und Selbsthilfe.

20.2 Politische Erfordernisse Seit dem Artikel 3b der Maastrichter Verträge vom 7. Februar 1992, also seit einer Generation, bildet das Subsidiaritätsprinzip einen Teil jenes in der Europäischen Union geltenden Rechts, das einem Ver­ fassungsrecht nahekommt. Infolgedessen sind etliche Zuständigkei­ ten, die die Europäische Union gelegentlich schon vom Ministerrat, vornehmlich aber von der Kommission aus beansprucht, illegitime Mehrkompetenzen, folglich nichts weniger als Rechtsanmaßungen. Der deutsche Gesetzgeber hat das Subsidiaritätsprinzip sogar ausdrücklich in Verfassungsrang erhoben. Denn der »Europa-Artikel« 23 des Grundgesetzes, der die ursprüngliche Formulierung von Arti­ kel 23 ersetzt, »verpflichtet« die Bundesrepublik bei der Entwicklung der Europäischen Union sowohl auf »die demokratischen, rechts­ staatlichen, sozialen und föderativen Grundsätze« als auch auf den »Grundsatz der Subsidiarität« (Artikel 23 II, Absatz 1). Zusätzlich ermächtigt dieser Artikel den Bundestag und den Bundesrat, bei einem Verstoß seitens der Europäischen Union vor dem Europäischen Gerichtshof dagegen zu klagen (Absatz 1a).

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20 Subsidiarität

Obwohl also das Subsidiaritätsprinzip im Unionsrecht, überdies in der deutschen Verfassung verankert ist, spielt es in der europä­ ischen Wirklichkeit eine zu geringe Rolle. In einem umfangreichen Lehrbuch Europarecht (Oppermann 32005) wird es im höchst detail­ lierten Sachverzeichnis nicht einmal erwähnt. Diese Beobachtung ist nur ein kleiner Beleg für die fehlende europapolitische Gestaltungs­ macht: Die Subsidiarität erscheint bestenfalls als ein Lippenbekennt­ nis, das für die Wirklichkeit der Union so gut wie folgenlos bleibt. Bei der häufig auftauchenden Frage, auf welcher Ebene die Kom­ petenzen denn anzusetzen sind, verlangt die Subsidiarität von den kleineren Einheiten und den einzelnen Personen her zu entscheiden. Allerdings sind die kleineren Sozialeinheiten nicht grundsätzlich zu bevorzugen, was auf ein Plädoyer für einen schwachen Staat hinauslaufen könnte. Die kleineren Einheiten verdienen vielmehr nur dann möglichst viel an Kompetenz, wenn dies dem individuellen Bürger zugute kommt. Andernfalls kann sogar eine Schwächung der kleineren Einheiten geboten sein. Für die zwangsbefugten Gemeinwesen, also die Einzelstaaten, auch für deren etwaigen Zusammenschluß zu einer Union folgt daraus das Recht, entsprechende Einheiten zu schaffen. Dieses Recht unter­ liegt aber dem Demokratieprinzip: daß die Betroffenen sowohl den Ausgangs- als auch den Bezugspunkt aller öffentlicher Gewalt bilden. Für alle Staatsgewalt gilt, daß sie, subsidiaritätstheoretisch betrachtet, vom Volk ausgeht, vom Volk ausgeübt wird und dem Volk, hier: der Gesamtheit der Staatsbürger, zu dienen hat. Vielfältig miteinander verbunden, bilden die Betroffenen im Laufe der Geschichte wirtschaft­ liche und gesellschaftliche, kulturelle und politische Gemeinsamkei­ ten heraus, die man im Sinne von Montesquieu den Esprit oder von Herder den Geist oder, gemäß dem lateinischen Wort für Geist, mens, die Mentalität einer Gruppe, eines Volkes usw. nennen kann. Ohne daß die Gesamtheit der Gemeinsamkeiten eine nur aus sich entstandene und gegen außen abgekapselte Einheit bildet, finden sich hier klare Unterschiede, deutlich sichtbar in den Sprachen und Literaturen, aber auch, trotz einer Gemeinsamkeit im Kern, in den konkreten Rechtsordnungen, nicht zuletzt in Lebensstil und Lebens­ art, in Küche, Kleidung, Musik und Architektur. Diese Unterschiede haben, es sei wiederholt, eine dreifache Bedeutung. In empirischer Hinsicht belaufen sie sich auf die Wirklichkeit von Differenz. Im Ver­ gleich mit anderen Regionen der Welt, also komparatistisch, zugleich normativ betrachtet, hat die Differenz einen Wert, da sie jenen

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20.3 Drei Kriterien

kulturellen Reichtum hervorgebracht hat, der Europa vor anderen Großregionen auszeichnet, von ihnen auch bewundert wird. Gemäß dem Subsidiaritätsprinzip gibt es das Recht auf Differenz. Denn nach dem Subsidiaritätsprinzip dürfen und sollen die kleineren Einheiten sich selbst bestimmen, dabei ihren eigenen Traditionen und Mentalitäten folgen, woraus sich jenes oft unverwechselbare Gepräge ergibt, auf die die Einheiten häufig stolz sind. Aus diesem subidiaritätsgestützten Grund haben historisch gewachsene Eigenar­ ten und Bindungen ein erhebliches Eigenrecht, ohne jedem Recht auf Veränderung enthoben zu sein, (vgl. Die Pariser Erklärung von zehn europäischen Intellektuellen, 2005).

20.3 Drei Kriterien Manche Rechtswissenschaftler werfen der Subsidiarität mangelnde Operationalisierbarkeit vor. Daß es bei konkreten Rechtsfragen schwierig anwendbar ist, mag zutreffen, ist aber kein überzeugen­ des Gegenargument. Denn auch andere veritable Rechtsprinzipien entbehren einer leichten Anwendbarkeit. Weder vom Gedanken der Rechtstaatlichkeit noch der Sozialstaatlichkeit, ohnehin nicht von der Menschenwürde und auch nicht von der Subsidiarität darf man den Orientierungswert eines Rezeptbuches erwarten, nachdem man konkrete Streitfälle zu entscheiden vermag. Prinzipien, von Kant als »Anfangsgründe« übersetzt, sind ihrem Wesen nach Regeln zweiter Stufe, die den konkret anwendungsfähigen Regeln erster Stufe Sinn und Richtung geben. Die in diesem Sinn schwierige Anwendbarkeit erlaubt der Europäischen Union jedenfalls nicht, das rechtspolitische Gewicht der Subsidiarität zu mißachten. Noch weniger berechtigt es den Europä­ ischen Gerichtshof, bei Klage gegen mangelhafte Subsidiarität seitens der Europäischen Kommission stets zugunsten der Europäischen Union zu entscheiden. Denn dadurch wird das Subsidiaritätsprinzip minimiert, beinahe sogar annulliert. Zu Recht fordert ein Staatsrechtlehrer wie Dieter Grimm (2016, 23), dem »unstillbaren Kompetenzhunger der EU« Grenzen zu setzen. Während Grimm bei dieser Aufgabe dem Subsidiaritätsprinzip wenig zutraut, kann man gemäß dem Völkerrechtler Bogdandy 2017 vom Europarecht verlangen, bei Fragen, ob etwas überhaupt europäisch geregelt werden soll, sich neutral zu verhalten. Jedenfalls dürfe das

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20 Subsidiarität

Europarecht kein »Zahnrad mit Rücklaufsperre« sein. Vielmehr sei »dem Subsidiaritätsprinzip« eine positive Bedeutung zuzusprechen. Denn Gesichtspunkte wie der Schutz nationaler Identität dürfen nicht grundsätzlich einer Politik weiterer Vergemeinschaftung geop­ fert werden. Methodisch gesehen ist der Subsidiaritätsgedanke ein regulati­ ves Prinzip, mithin ein Grundsatz, der den Entscheidungsträgern genügend Freiraum lässt, um angesichts unterschiedlicher Sachlagen und Sacherfordernisse verantwortungsvolle Entscheidungen zu tref­ fen. Als regulatives Prinzip gibt die Subsidiarität eine Richtung, eine Weichenstellung vor, die sich in drei sukzessive einzuhaltende Beweislastregeln operationalisieren läßt: Nur wenn das erste Krite­ rium erfüllt ist, darf man weitergehen, muß aber das zweite und bei dessen Erfüllung noch das dritte Kriterium anwenden. Nach dem hocherfahrenen Europapolitiker und langjährigen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker soll jedes Problem, das irgendwie in Europa auftaucht, selbst dann von der Union gelöst werden, wenn weder die rechtlichen noch die administrativen Möglichkeiten gegeben sind. In Wahrheit dürfen nach dem ersten Kriterium der Subsidiarität, der Erfordernis-Klausel, »Brüssel« und »Straßburg« nur unter zwei Bedingungen tätig werden. Erstens muß die Union gefordert sein, weil die Einzelstaaten, gegebenenfalls sogar schon deren Untergliederungen, in Bundesländern oder Provinzen nicht selber zu agieren vermögen. Des Weiteren muß es den Einzelstaaten als sinnvoll erscheinen, statt untereinander Verträge (Konkordate) abzuschließen, die Union zu beauftragen. Infolgedessen sollte man nicht etwa, wie es nach Juncker nötig wäre, rechtliche und administrative Möglichkeiten, wo sie noch fehlen, rasch schaffen. Vielmehr sollte man den Einzelstaaten und in ihrem Rahmen den mancherorts blühenden kommunalen Selbstverwaltungen die entsprechenden rechtlichen und administra­ tiven Verantwortlichkeiten belassen. Und dort, wo man in sie schon eingegriffen hat, sind sie zurückzugeben. Wird die erste Klausel erfüllt, weil beispielsweise für das Leitziel des Friedens jedes europäische Land zu schwach ist, tritt das zweite Kriterium auf den Plan, die Besser-Klausel. Ihr zufolge muß die Union, sofern sie gemäß Kriterium Nr. 1 überhaupt ein Recht ver­ dient, es besser als die Einzelstaaten machen, und es tatsächlich besser tun.

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20.3 Drei Kriterien

Der Entwicklung Europas wirft man gelegentlich eine Bevorzu­ gung des Ökonomischen vor. Sofern die Union den Vorrang von Frieden und Recht anerkennt und das Ökonomische nur nachrangig, überdies in Maßen bevorzugt, liegt darin vom Standpunkt der Subsi­ diarität aus gesehen kein Nachteil, viel eher ein Vorteil. Denn andere große Bereiche, etwa die der Schule, Hochschule, Wissenschaft und Kultur, können die einzelnen Staaten weitgehend allein bewältigen, um genau damit Europas kulturelle Vielfalt zu bewahren. In der Wirtschafts- und Finanzpolitik muß dies aber nicht der Fall sein. Wird, was freilich häufig nicht zutrifft, auch das zweite Kriterium, die Besser-Klausel erfüllt, so ist noch das dritte Kriterium, das Gebot der Verhältnismäßigkeit, zu beachten. Danach beginne man mit bescheidenen Lösungen, mache mit ihnen Erfahrungen und halte sich für eventuelle Korrekturen ausdrücklich offen. Die daraus resultierenden Aufgaben erfordern allerdings eine fast übermenschliche Anstrengung. Denn selbst wenn der Europäi­ sche Ministerrat sich in seiner gelebten Politik für eine kräftige Stärkung des Subsidiaritätsprinzips entschiede, wird der Brüsseler Apparat mit den für Bürokratien typischen Beharrungskräften und persönlichen Interessen ein stärker subsidiäres Europa verhindern. Der Machtapparat hat nämlich längst ein schwerlich zu bändigendes Eigengewicht errungen. Trotzdem wird Europa kaum als Bürgerunion überleben, wenn es nicht seinem wahrhaft bunten Strauß von Sprachen, Traditionen und Mentalitäten Raum läßt. Ein weiteres Zusammenwachsen anzustre­ ben, das versteht sich, ist nicht ausgeschlossen. Ein demokratisches Vorgehen muß aber beim eigentlichen Souverän, den Bürgern, anset­ zen, die zu überzeugen sind. Selbst heikle Entscheidungen müssen sich dem Grundsatz unterwerfen: Mündige Bürger verdienen und ver­ tragen die Wahrheit. Dabei darf die häufig geforderte Verbesserung der Bürgerbeteiligung sich nicht auf ein Von-oben-herab-Verfahren verkürzen, das schon gefallene Entscheidungen nachträglich den Bür­ gern »schmackhaft macht«. Eine Demokratie verlangt vielmehr, daß, über die nationalen Regierungen vermittelt, die Union die Wünsche und Bedürfnisse, auch Sorgen der Bürger kennenlernt und ernst nimmt. Schon ein demokratischer Einzelstaat, noch mehr die Euro­ päische Union sollte sich, im Bild der Computerprogramme, nicht nach dem Vorbild von Microsoft/Windows, sondern dem von Linux richten: nicht von oben und mit Gewinn für die Oberen, sondern von unten und kostenfrei, zumindest kostenarm.

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20 Subsidiarität

20.4 Freiheit und Haftung Der von der Subsidiarität her gebotenen Bottom-up-Strategie droht eine Gefahr, deren kleine Schwester als »Wahlgeschenke« bekannt ist: Um die Gunst der Wähler zu gewinnen, pflegen Regierungen vor den Wahlen Gesetze zu beschließen oder als Oppositionsparteien sie zu versprechen, die wie Steuersenkungen, höhere Renten, höhere Mindestlöhne oder ein früherer Renteneintritt den Wählern erfah­ rungsgemäß gefallen. Allerdings haben derartige Wahlgeschenke finanzielle Kosten, die mit wachsender Staatsverschuldung und abnehmenden staatlichen Investitionen oft schon die nahe, gewiß die ferne Zukunft beeinträchtigen. Sie verstoßen also gegen die Genera­ tionengerechtigkeit, was gegenüber den Kindern und Kindeskindern unverantwortlich ist. Innerhalb eines Staates schaden die Wahlgeschenke nur der eigenen Bürgerschaft, während innerhalb der Union der von unver­ antwortlichen Wahlgeschenken angerichtete Schaden über das eigene Land hinausreicht. Der Schaden beginnt beim Vertrauen auf die Rechtsstaatlichkeit der Union: Wenn ein Land sich anschickt, die gegen europäische Verträge schon verstoßenden Staatsschulden noch zu erhöhen, weil es erfahrungsgemäß kaum mit den vertraglich verabredeten Sanktionen rechnen muß, so beeinträchtigt es das euro­ päische Gerechtigkeitsbewußtsein. Da vielerorts ein wirtschafts- und finanzpolitisches Denken vorherrscht, könnte man Beschädigungen des Rechts- und Gerechtig­ keitsbewußtseins als »weiche«, letztlich harmlose Einbußen abtun wollen. In Wahrheit beschädigen sie eine Ressource, die man schwer aufbauen, aber leicht verlieren kann, deshalb besonders kostbar ist: das Vertrauen. Im übrigen bleiben die genannten Wahlgeschenke für die sogenannten harten Faktoren, die europäischen Finanzen, nicht folgenlos. Ist die jeweilige Volkswirtschaft hinreichend groß, so verliert die gemeinsame Währung, der Euro, gegen den ohnehin übermächtigen Dollar, auch gegen andere Währungen, etwa den Schweizer Franken, an Wert. Dadurch wird die Kaufkraft aller der Währungsunion angehörenden Bürger geschwächt, worin eine ele­ mentare Ungerechtigkeit liegt. Denn die versprochenen Vorteile der Wahlgeschenke kommen nur einigen, den betroffenen Nationalbür­ gern zugute, den Schaden müssen aber alle tragen. So findet eine Variante der vielfach monierten strukturellen Ungerechtigkeit statt:

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20.4 Freiheit und Haftung

Die Vorteile, die Gewinne, werden partikularisiert, die Nachteile, die Verluste, hingegen sozialisiert. Eine weitere strukturelle Ungerechtigkeit kommt hinzu: Man ist mitbetroffen, darf aber nicht mitentscheiden. Nicht einmal ein Mitre­ den ist erlaubt, denn jede Warnung, jeder Kommentar von außen wird als illegitimer Eingriff in die eigene Innenpolitik gebrandmarkt. Wie lassen sich diese Gefahren beheben, zumindest verringern? Erneut weist die Methode der bestimmten Negation den Weg. Das betreffende Land muß die Folgen erstens in vollem Umfang und zwei­ tens allein tragen. Einschlägig ist ein Gerechtigkeitsprinzip der Pro­ portionalität: In dem Maße, wie ein Land auf seine uneingeschränkte Souveränität pocht, hat es auch die volle wirtschafts- und finanzpoli­ tische Verantwortung zu tragen. Wer dagegen Hilfe erbittet, muß sich auf die nicht etwa willkürlichen, sondern von Sachgesetzlichkeiten und Randbedingungen gebotenen Veränderungen einlassen. Eine verantwortungsvolle Wirtschafts- und Finanzpolitik ist jedenfalls nur dann zu erwarten, wenn alle Länder für ihre Schulden selbst aufkommen müssen, also das Prinzip der fiskalischen Eigenver­ antwortung praktizieren. Hier bietet sich die Schweiz als Vorbild an.

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21 Gibt es schon eine europäische Identität?

Über einen Punkt sollten sich beide Seiten, enthusiastische und zurückhaltende Europa-Befürworter, einig sein: Bei keiner Forderung nach einer Umgestaltung der Union darf die große Errungenschaft der politischen Moderne, die Demokratie, geopfert oder auch nur beeinträchtigt werden. Nun gehört zur Demokratie ein dichtes Netz gelebter Gemeinsamkeiten, das als kollektive Identität zu bezeichnen ist und für die Union die Frage aufdrängt, ob es für sie eine nicht bloß erwünschte, sondern schon tatsächlich gelebte europäische Identität gibt (Abschnitt 21.2). Zuvor ist zu überlegen, wie kollektive Identität überhaupt entsteht (Abschnitt 21.1), nachher, wie Europa das Demo­ kratiegebot ernster zu nehmen hat (Abschnitt 21.3).

21.1 Wie entsteht kollektive Identität? Eine kollektive Identität bildet sich gemäß dem französischen Soziolo­ gen Pierre Bourdieu erst in einem langen Zeitraum. Erforderlich näm­ lich ist, wie er in den am Collège de France unter dem Titel Sur l’ État (Über den Staat, 2014) gehaltenen Vorlesungen für sein Heimatland, zusätzlich für England minutiös herausarbeitet, eine »kollektive Kon­ struktionsarbeit«. Danach besteht das moderne Frankreich gegenüber seinem Vorgänger, einem monarchisch-dynastischen Staat, in einer »entprivatisierten, entfeudalisierten, entpersonalisierten Macht«. Für sie ist zweierlei charakteristisch, eine öffentliche Realität, »Republik« genannt, und eine Nation mit einer gemeinsamen Sprache, einer Fahne, einem überwiegend öffentlichen Schul- und Hochschulwesen und einer repräsentativen Spitze, dem politisch übermächtigen fran­ zösischen Präsidenten. Die Antriebskraft dieser Entwicklung liege in einem Wider­ spruch, der dem vorangehenden dynastischen Staat innewohnte, nämlich in der Konkurrenz von zwei Herrschaftsprinzipien, zum einen den Verwandten des Königs, zum anderen den Ministern, also Fachleuten, die sogar von außerhalb des Landes kommen durften. In

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21 Gibt es schon eine europäische Identität?

diese Konkurrenz, so Bourdieu, setzt sich unvermeidlich die Fachkom­ petenz durch. Auf diese Weise wandelt sich die dynastische Autorität von innen heraus, also keineswegs durch eine externe Revolution, sondern aufgrund eines mehr oder weniger kontinuierlichen Reform­ prozesses, zu jener bürokratischen Autorität, die nach Max Weber auch anderorts den modernen Staat beherrscht. Zu diesem Zweck kommt, wie Bourdieu pointiert, ein »Staats­ adel« an die Macht, was jedoch nur für Frankreich und England, für Deutschland aber kaum zutreffen dürfte. In Frankreich treten an die Stelle des Erbadels die Absolventen der Großen Schulen, vor allem der École Polytechnique und der École d’Administration (ENA). In Eng­ land sind es sogar nicht erst die Absolventen der Spitzenuniversitäten wie Oxford, Cambridge und der London School of Economics (LSE), sondern schon die Absolventen der kostspieligen Internate, weshalb hier eine Devise noch Gewicht hat, die zweifellos demokratiefeindlich ist: »Cherchez la classe!«. Als erfahrungsoffener Soziologe stellt Bourdieu fest, daß in Frankreich die Ablösung des Erbadels durch einen Staatsadel noch weiter reicht, denn die Hierarchie der vormaligen Aristokratie lebe in der heutigen Meritokratie fort: Die besten Absolventen der ENA werden in die Einnahmen beschaffenden Resorts wie das Wirtschaftsund das Finanzministerium berufen und wechseln später gern in Privatbanken, tauschen dann also politischen Einfluß gegen höhere Gehälter. Die weniger erfolgreichen Absolventen wandern in die »ausgabefreundlichen« Ministerien, also in die Ministerien des Sozi­ alstaates bzw. des Vorsorgestaates. Der Kernbegriff von Bourdieus Staatsbegriff heißt »Kapital«, das aber nicht auf den Begriff des Finanziellen verkürzt wird. Vielmehr unterscheidet er vier »Kapitalsorten«, ein politisches, ein ökonomi­ sches, ein kulturelles und ein symbolisches Kapital, das seinerseits jenes juridische Kapital umfaßt, das den Staat »zur Zentralbank symbolischen Kapitals« werden läßt. (Ob die »harten Zwangsmittel« des Staates wie die Polizei, die Strafgerichte und die Armee mit ihrer Nuklearmacht in Frankreich sich unter die symbolische Macht subsu­ mieren lassen, sei hier dahingestellt.) Nicht minder überzeugend ist Bourdieus Rede von einem Kapital zweiter Stufe, dem symbolischen Kapital als einem »Meta-Kapital«, das über die anderen Kapitalsorten Macht ausübe.

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21.2 Gibt es sie in der Union?

21.2 Gibt es sie in der Union? Aus Bourdieus exemplarisch vorgenommener Genese des modernen Staates lassen sich für eine etwaige Identität in der Europäischen Union mehrere Einsichten gewinnen: Als erstes braucht die Identi­ tätsbildung eine Antriebskraft. Diese kann man für die Union in den blutigen Erfahrungen der beiden Weltkriege und in dem daraus fließenden Friedens- und Rechtswillen sehen. Die Erfahrungen und der davon inspirierte Wille treffen aber auf alle europäischen Staaten, auf Unionsländer nicht mehr als auf die Nichtunionsländer, zu. Daß zwischen den Menschen und ihren Staaten ein auf recht gegründeter Friede herrscht, ist sogar moralisch geboten. Gemäß der in dieser Studie getroffenen Unterscheidung von Kapitel 3 geht es daher um Pflichteuropa. Schon dazu mag es eine kollektive Identität geben, die aber, weil noch recht abstrakt, mit den »üblichen« Identitäten, Niederländer, Slowene oder Portugiese usw. oder Westfale, Bayer usf. zu sein, schwerlich mithalten kann. Für Länder mit ziemlich autoritären Herrschern – die Beispiele liegen auf der Hand – ist es aber eine Identität, die man sich dringend wünscht. Nach den Zerstörungen der beiden Weltkriege und der vielerorts herrschenden Armut kommt dem Friedens- und Rechtswillen zwei­ fellos das Interesse an wachsendem Wohlstand hinzu. Offensichtlich reicht es über Pflichteuropa hinaus in den Bereich eines Wahleuropa, das aber nicht auf die Union beschränkt ist. Denn Nichtbeitrittsländer wie Lichtenstein, Norwegen und die Schweiz wollen ebenfalls Wohl­ stand und haben dabei mehr Erfolg als die meisten Unionsländer. Mit Frieden, Recht und Wohlstand als Antriebskräfte ist eine für die Union eigentümliche Identität jedenfalls noch deutlich unter­ bestimmt. Denn die entsprechenden Ziele werden nicht nur überall in Europa, sondern in so gut wie allen Teilen der Welt angestrebt. Zur Bildung einer europaspezifischen Identität genügen die genannten Antriebskräfte also nicht. Sie haben vielmehr das Potential für eine globale, kosmopolitische Identität Laut Bourdieu bieten sich als Zusatzfaktoren die gemeinsame Sprache, die in der Fahne symbolisierte nationale Einheit und das öffentliche Schul- und Hochschulwesen sowie die Art der politischen Spitze an. Auf die Union angewandt benennen alle diese Faktoren aber eher europäische Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Die Euro­ pafahne und die Europahymne können nämlich in der täglich gelebten Wirklichkeit eines Franzosen, Italieners, Polens usw., sie können

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21 Gibt es schon eine europäische Identität?

selbst in Deutschland, blickt man auf Sportereignisse und andere Wettbewerbe, schwerlich mit den nationalen Symbolen konkurrieren. Nach Bourdieus Diagnose wird der französische Nationalismus von mächtigen Gruppen getragen. Insbesondere die höhere Beamten­ schaft und die »Kleineigentümer kulturellen Kapitals« wie Verfasser von Wörterbüchern und Grammatiken haben ein persönliches, priva­ tes Interesse an der Aneignung der Öffentlichkeit. Erschwerend kommt hinzu, daß ein so identitätswichtiger Faktor wie die Medienwelt sprachgebunden, folglich weitestgehend »natio­ nal« ist. Keineswegs muß sie deshalb nationalistisch sein, wie beson­ ders deutlich das politische Kabarett zeigt, da es sich auf Personen des eigenen Landes konzentriert und seinem Wesen nach weder für sie noch für die eigene Nation »Lobeshymnen singt«. Überdies mag ein Schweizer auch französische Zeitungen und Zeitschriften, ein Deutscher die Neue Züricher Zeitung lesen und ein guter Schweizer Eidgenosse für die Medien aller Landesteile offen sein. Bei kaum jemanden in Europa werden die Medien anderer Sprachgruppen und Länder aber annähernd so gewichtet wie die des eigenen Staats- und Sprachraumes. Im übrigen liest man auch die New York Times, hört man, vom Brexit kaum beeinträchtigt, weiterhin BBC, womit man, eine etwaige Europa-Identität relativierend, über die Union heraus­ blickt und Ansätze einer kosmopolitischen Identität praktiziert. Nicht zuletzt machen europäische Gemeinsamkeiten wie Demo­ kratie, Rechtsstaatlichkeit und ein vielfältig gemeinsames kulturelles Erbe nicht an den Grenzen der Union halt. Ferner bleibt das Englische auch nach dem Brexit die in der Union dominierende Fremdsprache, vermutlich auch die vorherrschende Arbeitssprache, worin kein uni­ onsspezifischer Identitätsfaktor liegt. Dieses und viele weiteren Argumente sprechen nicht gegen die Möglichkeit einer kollektiven Identität der Union. Im Gegenteil steht es in der politischen Debatte jedem Bürger frei, nach Argumenten für oder aber gegen ein höheres Maß von Vergemeinschaftung zu suchen und sie gegebenenfalls mit Leidenschaft vorzutragen. In der hier favorisierten Variante, einem Europa für die Bürger, zählt aber in der für eine Demokratie entscheidenden Hinsicht weder der unions­ freundliche Wunsch noch der von Unionsskepsis getragene Gegen­ wunsch, vielmehr der in der gelebten Wirklichkeit tatsächlich prakti­ zierte politische Wille. In diesem Sinn verstehe man die angeführten Argumente nicht als verstecktes Loblied auf einen europafeindlichen Nationalismus. Sie stellen lediglich eine Realität fest, die nur eine

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21.3 Mehr Demokratie

bürgerfeindliche Europa-Politik verdrängen darf: Zur Zeit gibt es eine für die Union spezifische kollektive europäische Identität nicht. Nicht der geringste Grund liegt in den von Bourdieu betonten Faktor »langer Zeitraum« und »kollektive Konstellationsarbeit«, wobei das Moment »Arbeit« für Anstrengungen steht.

21.3 Mehr Demokratie Um die Bürger von Europa zu überzeugen, organisiert die Union gern Aufklärungskampagnen. Bei vielen von ihnen handelt es sich allerdings weniger um die Aufklärung mündiger Bürger als um die Erziehung von als unmündig unterstellten EU-Untertanen, wodurch ein antieuropäisches Ressentiment sich bestätigt fühlt. Nehmen wir als Beispiel eine im Prinzip sinnvolle Regelung wie die des Daten­ schutzes. Aus zwei Gründen, für den Schutz der Privatsphäre mit dem »Recht auf informationelle Selbstbestimmung« und für die Selbstbe­ hauptung Europas gegen Internetgiganten, die sich der demokrati­ schen Kontrolle entziehen, ist die Aufgabe einer europäischen Daten­ schutzverordnung wenig strittig. Den ebenso unstrittigen Kriterien von Verständlichkeit, Transparenz, Reichweite und leichter Anwend­ barkeit wird sie aber, sagen wohlwollende Kritiker, nicht gerecht. Denn die Arbeit kleiner Sportvereine, Musikgruppen, Handwerksbe­ triebe usf. werde durch eine unverhältnismäßig hohe Bürokratie und durch die Gefahr von Bußen, sogar Strafen unnötig behindert. Außer der Forderung nach legislatorisch besseren Regeln emp­ fiehlt sich der Mut zu einer bislang unbeliebten Maßnahme: Gegen den bei einigen Themen schon beunruhigenden Funktionsverlust der demokratischen Meinungs- und Willensbildung räume man der direkten Demokratie mehr Gewicht ein. Da die Gegenargumente bekannt sind, kann man sich hier auf die wichtigsten Dafür-Argu­ mente konzentrieren: Wo die Betroffenen nicht bloß über Personen, sondern auch Sachgeschäfte entscheiden, wird die nicht bloß verfas­ sungsrechtliche, sondern auch empirische Wirklichkeit der Volkssou­ veränität gesteigert. Der Bürger wird nämlich zum virtuellen Amts­ träger, und ein weitgehend zur »Zuschauerdemokratie« absinkendes Gemeinwesen wandelt sich zur »Mitwirkungsdemokratie«. Des weiteren wächst das Maß an Identifikation, an »WirGefühl«. Drittens wird sowohl bei der Fachkompetenz der Bürger als auch ihrem Engagement ein höheres Niveau stimuliert. Ferner

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21 Gibt es schon eine europäische Identität?

wird der ausufernden Macht der »politischen Klasse« Einhalt geboten, stattdessen mancherlei Entfremdung zwischen Bürgern und Politi­ kern abgebaut. Fünftens wird die Erziehung zur politischen Mündig­ keit über einige Schuljahre vor der Wahlmündigkeit hinaus zu dem erweitert, was in anderen Lebensbereichen längst üblich ist: zu einem lebenslangen Lernen. Nicht zuletzt ist in fortgeschrittenen Demokratien das Partizi­ pationsbedürfnis der Bürger erheblich gewachsen. Die schon des längeren gepflegte »vorgouvernementale« Ausweitung der Bürgerbe­ teiligung mit Hilfe der Zivil- bzw. Bürgergesellschaft ist deshalb durch eine stärker »gouvernementale« Bürgerbeteiligung mittels direkter Demokratie abzurunden. Nur eine politische »Elite«, die den Erwerb und Erhalt von Macht in den Vordergrund stellt, empfin­ det diese Ausweitung, das angebliche Hereinregieren des Volkes in Sachentscheidungen, als Störung. Die Alternative besteht in einer Demokratie aus drei Säulen: aus einer repräsentativen, aus einer bürgergesellschaftlichen und aus einer direkten Demokratie. Nach diesem »integrativen« Modell soll keineswegs jedes Thema einem Plebiszit unterworfen werden, wohl aber jedes Thema von politisch existentieller Bedeutung. Zweifelsohne traf dies im Frühjahr 2015 für die sogenannte Europäische Verfassung zu, denn es handelte sich hier um eine der wichtigsten Entscheidungen. Die Skeptiker, die nicht Gegner sein müßten, befürchteten von der »EU-Verfassung« eine Aushöhlung der Rechte der Parlamente, in Deutschland also des Bundestages und des Bundesrates, und zusätzlich der beiden ande­ ren Gewalten, der Regierung und der obersten deutschen Gerichte, namentlich des Bundesverfassungsgerichts. Trifft dies zu, so besteht umso mehr Anlaß, das Volk zu fragen. Ist es aber nicht der Fall, so sollten die Verteidiger couragiert ihre Gegen-Gründe vortragen. Denn trotz berechtigter Kritik an gewissen Absonderlichkeiten der Brüssler-Bürokratie ist die Entwicklung der Europäischen Union im großen und ganzen ein Erfolg. Das vorläufige Fazit liegt auf der Hand: Eine Politik für »MehrEuropa«, die das Mehr als stete Zunahme von politischen, rechtlichen und administrativen Kompetenzen sieht, braucht eine nachhaltig verläßliche Zustimmung der überwiegenden Mehrheit der Bürger. Für den Nachweis einer derart klaren Zustimmung genügen nicht Meinungsumfragen. Bei jedem Kompetenzzuwachs, der neue Wei­ chen stellt, also erheblich ausfällt, bedarf es aus beiden Gründen, dem generellen Demokratie- und dem für die Europäische Union

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21.3 Mehr Demokratie

speziellen Subsidiaritätsprinzip, Bürgerentscheide. Für deren genaue Art, beispielweise die Frage, ob es in jedem Land eine klare Mehrheit geben muß, sind weitere Überlegungen vonnöten. Die dann zu erwar­ tenden Kontroversen sind aber kaum ein stichhaltiges Gegenargu­ ment: Solange die Bürger der Europäischen Union sich nicht explizit für den »Mehr-Europa« genannten Kompetenzzuwachs aussprechen, fehlt es an dem aus Gründen der Demokratie und der Subsidiarität erforderlichen politischen Willen der Bürger.

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22 Kosmopolitisch …

22.1 Eine sanfte Expansion Der griechischen Philosophie verdankt Europa Begriffe von der Natur des Menschen, namentlich der Sprach- und Vernunftbegabung (zôon logon echon), auch der politischen Natur (physei politikon zôon) und der natürlichen Wißbegier (tou eidenai oregontai physei), die genau wegen des anthropologischen Charakters eine globale Bedeutung, in politischen Begriffen: einen kosmopolitischen Rang haben. Aus dieser Eigenart, die sich auch in anderen Bereichen findet, der kulturabhängigen Herkunft, aber globalen Bedeutung, geht Euro­ pas wohl einmalige Erfolgsgeschichte hervor. Noch einmal in den Worten des weltweit geschätzten Max Weber entstehen »gerade auf dem Boden des Okzidents«, also des um Nordamerika erweiterten Europa, »Kulturerscheinungen … von universeller Bedeutung und Gültigkeit«. Webers schon erwähnte Liste beginnt mit der Wissen­ schaft, sofern es ihr auf das rationale Experiment und den rationalen Beweis ankommt, was die moderne Physik und Chemie ermöglicht. Auch in anderen Kulturbereichen, hat Teil II dieser Studie gezeigt und soll hier rückblickend erinnert werden, bergen europäische Errun­ genschaften ein übereuropäisches, folglich globales beziehungsweise kosmopolitisches Potential. Selbst dort, wo Europa für sich keine globale Bedeutung bean­ spruchen kann, reicht der europäische Kulturraum weit über den Kontinent hinaus. Nimmt man die Amtssprachen zum Kriterium, so trifft dies für Nord-, Mittel- und Südamerika zu, ferner für Australien und Neuseeland, weiterhin, da Russisch eine europäische Sprache ist, für einen großen Teil von Asien. Achtet man auf die jeweilige Ver­ kehrs-, nicht selten auch Amtssprache, so kommen viele Länder des britischen Empires hinzu und, wenn auch abgeschwächt, erhebliche Teile von Afrikas ehemaligen belgischen, britischen, französischen und portugiesischen Kolonien. Decken sich schon die kulturellen Grenzen Europas nicht mit den geographischen Grenzen, so reichen beide, das geographische

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22 Kosmopolitisch …

und das kulturelle Europa, selbst über die stark gewachsene Europäi­ sche Union noch weit hinaus. Trotzdem pflegt die politische Elite, erstaunlicherweise auch die Mehrheit der Politik- und Sozialwissen­ schaftler, bei ihrer Rede von Europa Klein-Europa, die Europäische Union, mit Großeuropa, dem gesamten Kontinent und dessen über die europäischen Grenzen hinauswirkenden Kultur gleichzusetzen. Auf der anderen Seite läßt sich schwerlich leugnen, daß die Kultur Europas in so gut wie allen Facetten sich durch einen dominanten, erfreulicherweise aber gewaltfrei dominanten, durch einen im wörtli­ chen Sinn attraktiven Charakter abzeichnet: Europäische Werte üben auf Menschen aller Kontinente eine derart starke Anziehungskraft aus, daß man gemäß der schon erwähnten Devise »Kommet und seht« gern und in Scharen kommt, was Europa und, um Nordame­ rika erweitert, dem Westen eine »sanfte Expansion« ermöglicht. Ohne dabei einen Kulturimperialismus zu praktizieren, haben sich erstaunlich viele Kulturbereiche als globalisierungsfähig erwiesen. Nicht etwa nur in Literatur, Kunst und Musik, sondern auch, sogar noch deutlicher in der Wissenschaft mitsamt Medizin und Technik, in der Wirtschaft und im Recht mit Staat und Politik haben sich europäische bzw. okzidentale Denk- und Verhaltensmuster über den ganzen Globus ausgebreitet.

22.2 Drei Muster Für die sanfte Expansion Europas bzw. des Abendlandes herrschen je nach Sachbereich drei Muster vor. Das erste Muster dominiert die Mathematik, Physik, Chemie und Biologie sowie deren Anwendun­ gen in Technik und Medizin vor: Daß man sich hier auf Beweise stützt und wiederholbare Experimente vornimmt, diese Eigentümlichkeit okzidentaler Wissenschaft wird seit langem überall in der Welt prak­ tiziert. Der Grund dieser Globalisierungsfähigkeit liegt auf der Hand. Hier werden zwei Interessen von anthropologischem Rang, eine allgemeinmenschliche Wißbegier und das nicht minder allgemein­ menschliche Interesse an einer facettenreichen Erleichterung des Lebens, auf methodischem Weg erfüllt. Mittlerweile erweist sich der genannte Komplex der Wissenschaften als so gut wie alterna­ tivlos, womit das erste Muster, ein exklusiver Kosmopolitismus, vorherrscht. Klammert man einige Randbereiche wie indische Ayur­

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22.2 Drei Muster

veda-Medizin und chinesische Akupunktur aus, so sind Naturwissen­ schaft, Medizin und Technik so, genau so und nicht anders als in der okzidentalen Gestalt zu betreiben. Für Europa hat dieser Kosmopolitismus eine nur auf den ersten Blick erstaunliche Konsequenz. Wegen des anthropologischen Ranges der genannten zwei Interessen verlieren die Wissenschaften, obwohl in Europa geboren, ihren genuin europäischen Charakter. Dies beläuft sich auf die paradoxe Situation, daß ein Großteil dessen, was man für europäisch hält, sich bei näherer Betrachtung als nicht europa-spezi­ fisch erweist. Bei einem zweiten Bereich, der Wirtschaft, sprechen gute Gründe für dieselbe Einschätzung: daß eine Entwicklung europä­ ischen Ursprungs von aller Welt übernommen wird, was erneut einen exklusiven Kosmopolitismus zur Folge hat. Während das Gewinn­ streben eine allgemeinmenschliche Antriebskraft ist, ist typisch euro­ päisch erst dessen Verbindung mit einer rationalen Kapitalrechnung und einer rationalen Arbeitsorganisation. Diese Wirtschaftsform, der sogenannte Kapitalismus, liegt in veränderter Form auch der angeb­ lichen Alternative, dem ebenfalls in Europa geborenen Sozialismus zugrunde, da auch sozialistische Betriebseinheiten, um keinen Verlust auf Dauer auszuweisen, Bilanzen aufstellen und die Arbeitsprozesse rational organisieren müssen. Bei der europäischen Literatur verhält es sich ähnlich, zugleich anders, was das zweite Muster der Globalisierungsfähigkeit begrün­ det. Die Ähnlichkeit mit dem ersten Muster besteht in dem Umstand, daß Europas literarische Größen, etwa Homer, Shakespeare und Goethe, in aller Welt gelesen und studiert werden. Im Unterschied zur ersten Globalisierungsfähigkeit bleiben sie aber Vertreter der europä­ ischen Literatur, weshalb diese globalisierungsfähig, im Gegensatz zu den Wissenschaften aber nicht kosmopolitisch ist. Noch einmal anders verhält es sich in der europäischen Tonkunst: Für zwei Kernelemente der Musik, das Melos und den Rhythmus, dürfte die allgemeinmenschliche Grundlage auf der Hand liegen und der Musik den Rang einer, vielleicht sogar der Universalsprache der Menschheit verleihen. Hinzukommt eine facettenreiche Faszination: Obwohl nach strengen (»rationalen«) Regeln komponiert, entfaltet die Tonkunst eine starke emotionale, bald betörende, bald besänfti­ gende, bald aufmunternde, nicht zuletzt, mit der impliziten Aufforde­ rung, doch mitzusingen, mitzuspielen oder mitzutanzen, eine soziale Wirkung. Trotz ihrer innereuropäischen Vielfalt erweist sich die euro­

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22 Kosmopolitisch …

päische Musik als globalisierungsfähig, sie ist kosmopolitisch, aber anders als die Wissenschaften nicht exklusiv, sondern, so das dritte Muster, exemplarisch kosmopolitisch. Denn die europäische Musik ist keineswegs alternativlos, wohl aber ein in aller Welt geschätztes Vorbild, sichtbar in Aufführungen europäischer Kompositionen über­ all auf der Welt. Ein weiterer Baustein Europas, das Recht, hat einen ähnlich hohen, sogar superlativischen Rang wie die Sprache und Literatur. Vermutlich sind nicht wenige Elemente des griechischen, später römischen Rechtsdenkens globalisierungsfähig. Dazu zählen die auf die Sophisten zurückgehende Unterscheidung von nomô und physei dikaion, eines nur positiv geltenden Rechts von einem überpositiven Standpunkt. Auch Aristoteles’ Unterscheidungen zum dikaion, dem Recht und der Gerechtigkeit, lassen sich als Beispiele anführen, und vor allem die Grundsätze der Verfahrensgerechtigkeit: in dubio pro reo (»im Zweifel für den Angeklagten«), audiatur et altera pars (»man höre auch die andere Seite«) und nemo est iudex in causa sui (»niemand ist Richter in eigener Sache«). Begründen kann man diese Globalisierungsfähigkeit sowohl empirisch, durch Belege aus vielen Kulturen und Epochen, als auch systematisch, bei den Verfahrensprinzipien beispielsweise durch den Hinweis auf eine funktionsspezifische Unverzichtbarkeit: Ohne Anerkennung dieser Prinzipien kommen unparteiische Entscheidun­ gen schwerlich zustande. Unter der europäischen Perspektive sind jedoch drei andere Gesichtspunkte wichtiger, die, oben erläutert, hier kurz erinnert werden: (1) Das europäische Rechtsdenken hat zum Teil europäische Quellen. (2) Mindestens Aristoteles’ Beiträge zum Rechts- und Gerechtigkeitsdenken werden von der islamischen Kultur aufgegrif­ fen, womit Europa erneut über die Grenzen des Kontinents hinaus­ wirkt. Das erlaubt zwei politische Folgerungen: Zum einen darf man, ohne deshalb des Eurozentrismus geziehen zu werden, die in vielen Teilen der Welt deplorable Rechtswirklichkeit zu kritisieren. Zum anderen ergibt sich dort, wo die Kritik nicht bloß verbal, sondern in der Realität ernst genommen wird, keine Pflicht, alle außereuropäischen Länder, sofern sie europäische Rechtstraditionen schätzen, in die Europäische Union aufzunehmen. (3) Die Europäische Union darf das europäische Recht auch deshalb nicht exklusiv für sich beanspruchen, weil in Nichtunionsländern wie Liechtenstein, der Schweiz und Nor­ wegen sowie, wegen des Einflusses deutschen und Schweizer Rechts­

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22.3 Tatsächlich sanft?

denkens, selbst in der Türkei europäisches Rechtsdenken gegenwärtig ist. Zudem ist die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in der politischen Wirklichkeit kaum weniger wichtig als der lediglich für die Union zuständige Europäische Gerichtshof. In allen drei Mustern der Globalisierungsfähigkeit trifft eine Art von Selbsttranszendenz zutage: Europäische Werte und Errungen­ schaften weisen über ihren Entstehungszusammenhang hinaus. Nun verdankt sich die Selbsttranszendenz nicht der Europäischen Union, was die Union in ihrem Selbstbewußtsein und ihren Kompetenzan­ sprüchen zu Bescheidenheit mahnt. Wie auch immer die Union sich fortentwickelt – weder die historischen Quellen Europas noch deren kosmopolitisches Potential machen an den Grenzen der Union halt.

22.3 Tatsächlich sanft? Globalisierungsfähig, zugleich der Globalisierung wert ist eine wei­ tere Besonderheit Europas: die immer wieder praktizierte Selbstkritik. Sie meldet sich auch gegen die hier vertretene These der »sanften« oder »weichen« Expansion. Mehrere Einwände liegen sogar auf der Hand: Beginnen könnte man mit den Feldzügen Alexanders des Gro­ ßen, der die griechische Kultur im Marschgepäck, also militärisch mitführt und sie über Vorderasien bis nach Indien verbreitet. Ähnlich verhält es sich mit der lateinischen Sprache und Kultur, denn Rom setzt sie wesentlich dank seiner Militärmacht durch. In der Neuzeit sind es seit der Entdeckung Amerikas europäische Seefahrer, zunächst Spanier und Portugiesen, bald auch Briten und Niederländer, Fran­ zosen sowie, deutlich weniger, Deutsche, deren Kolonialismus und Imperialismus bald schwächer, bald stärker gewaltsam große Teile der abendländischen Kultur aller Welt aufprägen. Diese unstreitig kritikwürdigen Phänomene widersprechen allerdings nicht der These einer sanften Expansion. Bei ihnen handelt es sich nämlich um Faktoren, die dem jeweiligen Kulturbereichen, also der Sprache, dem Recht usf., äußerlich sind. Die genannte These rich­ tet sich jedoch auf die den jeweiligen Bereichen inneren Faktoren. Das den Kulturbereichen innewohnende Potential der Globalisierungsfä­ higkeit wäre ohne die »imperialistische Unterstützung« vermutlich langsamer, auf lange Sicht aber fraglos doch aktualisiert worden.

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22 Kosmopolitisch …

Die These weicher Expansion entscheidet sich an der Frage, ob die von außen kommenden, insofern zunächst »fremden« Kultur­ elemente der eigenen Kultur aufgezwungen werden oder ob man sich in ihnen wiederfinden kann. Für die zweite Option sprechen nun die genannten zwei allgemeinmenschlichen Interessen. Ohnehin lassen sich fremde Kulturelemente in der Regel nur vorübergehend aufzwingen. Auf Dauer setzen sie sich nur dann durch, wenn sie den eigenen Interessen nicht bloß entgegenkommen, sondern ihnen bes­ ser genügen als die eigenen Mittel und Wege, was auf die genannten Elemente europäischer Kultur tatsächlich zutrifft: Weil ein Wissen, das sich auf wiederholbare Experimente und rationale Beweise stützt, dasjenige eher erreicht, was jedes Wissen sucht, nämlich ein Höchstmaß an Objektivität; weil eine Medizin, die verläßliche Diagnosen und Therapien leistet, die einschlägigen allgemeinmenschlichen Erwartungen überzeugender erfüllt; weil eine naturwissenschaftsgestützte Technik die von allen Menschen gewünschte Erleichterung des Lebens stärker bewerkstelligt; weil eine rationale Arbeitsorganisation und ein kontinuierlicher Gewinn die Interessen allen Wirtschaftens nachhaltiger befördert – aus diesen allgemeinmenschlichen Interessen, zugleich sachinternen Gründen vermag sich die europäische bzw. okzidentale Kultur friedlich auszu­ breiten. Infolgedessen erweist sich Europa, dieses große Wort sei hier erlaubt, als Anwalt der Menschheit. Der Ausdruck der Menschheit ist dabei im doppelten Sinn von natura bzw. essentia hominum und als genus humanum zu verstehen. Nicht in jeder Hinsicht, aber in den genannten Aspekten ist Europa der Sachverwalter und Wortführer sowohl dessen, was den Menschen zum Menschen macht, also seine Natur oder sein Wesen definiert (essentia hominum), als auch der Gesamtheit der zur Gattung der Menschen gehörenden Lebewesen (genus humanum).

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23 … und regional

23.1 Die Gegenrichtung Neben der skizzierten Selbsttranszendenz mit dem Potential zu Glo­ balisierbarkeit und Kosmopolitismus herrscht in Europa auch die Gegenrichtung vor, eine Regionalisierung, für die es erneut drei Muster gibt. Die ersten beiden Muster liegen auf der Hand, verdienen aber trotzdem erwähnt zu werden: Erstens besteht die Union aus einzelnen Staaten, die ein je eige­ nes, gegen die anderen deutlich abgegrenztes Territorium umfassen, das ihre Region in einem ersten Verständnis, das betreffende Land, bildet. In diesem geographischen Sinn setzt sich die Union aus derzeit 28 Staatsgebieten zusammen, deren Bewohner das entsprechende Staatsvolk der Dänen, Griechen, Letten usf. bilden. Jedes dieser Staatsgebiete zerfällt noch in Regionen einer zweiten Bedeutung: Belgien in Flandern, Wallonien und die Region Brüssel, Frankreich in die Bretagne, Normandie, Provence usf., Spanien in Andalusien, Baskenland, Katalonien usw. Gelegentlich mit einer Spitze gegen andere Regionen empfinden sich manche Bewohner vornehmlich ihrer Region zugehörig; sie sind beispielsweise in erster Linie Bretonen oder Normannen und erst danach Franzosen. Andern­ orts, etwa im Baskenland oder in Katalonien, enthält ein starkes Regionalbewußtsein politischen Sprengstoff. Nicht zuletzt sind die einzelnen Staaten in Bundesländer, Départements oder Provinzen untergliedert, bei denen, zeigt Deutschland, die Untergliederung mit der regionalen Verbundenheit und deren kulturellen Hintergrund nicht zusammenfallen muß. In Baden-Württemberg fühlt man sich durchaus entweder als Badener oder als Schwabe, in Nordrhein-West­ falen als Westfale, Rheinländer oder als Bewohner des »Ruhrpotts«, außerdem gibt es die Verbundenheit zum dritten Bestandteil des Landeswappens, dem ehemaligen Lippe-Detmold.

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23 … und regional

23.2 Regionale Verbünde Schließlich gibt es, drittes Muster, regionale Verbünde, für die schon die Geschichte erfolgreiche Vorbilder bietet. Ein Modell bietet die Hanse: Freiheitlich gesinnte, vom Nord-, noch mehr dem OstseeHandel lebende deutsche Städte bilden seit Mitte des 12. Jahrhunderts zur Förderung ihrer vor allem wirtschaftlichen Interessen einen locke­ ren Bund, der bald Niederlassungen (Hanse-Kontoren) in Nowgorod, Brügge und London unterhält und in der Blütezeit, im 15. Jahrhun­ dert, mehr als 160 Städte umfaßt. Zu den Gründen des Niedergangs der Hanse gehörte die Vor­ herrschaft einer Stadt, lange Zeit die von Lübeck, die bei günstiger Gelegenheit andere Mitglieder aufkündigten. Die Frage, ob bei einer »demokratischeren«, nämlich auf Gleichheit basierenden Organisa­ tion die Hanse überlebt hätte, kann hier dahingestellt bleiben. Als Vorbild taugt sie jedenfalls aus zwei Gründen: wegen ihrer im Verhält­ nis zur bisherigen Europäischen Union weit größeren Lebensdauer von mehreren Jahrhunderten, die wiederum, so der zweite Grund, sich der bescheidenen Zielsetzung verdankt, nur offensichtlich gemein­ same Interessen zu fördern. Genügte damals ein sicherer Handel, so kommen heute Friede, Recht und Wohlstand hinzu. Ansonsten belasse man, sofern man dem Vorbild Hanse folgt, den einzelnen Mit­ gliedern, damals Städten, heute Staaten und Regionen, ihre Eigenart und Eigenständigkeit. Der zuletzt genannte Gesichtspunkt, ein politischer Vorschlag, schlägt den Bogen von der Geschichte zur Gegenwart. Das heutige Europa kennt vier Arten regionaler Verbünde. Sie bestehen teils innerhalb eines Bundeslandes, teils innerhalb eines Einzelstaates, aber über die Grenzen dessen Untergliederung, in Deutschland der Bundesländer, hinaus; teils überschreiten sie die Staatsgrenzen, gele­ gentlich sogar, vierte Art, die Grenzen der Union. Erneut wird die Union hier zur Bescheidenheit gemahnt. Denn die vier Arten regionaler Kooperation wurden von unten aus, von den Regionen selber, auf den Weg gebracht. Von Brüssel oder Straßburg weder ins Leben gerufen noch von dort am Leben erhalten, gehen sie unabhängig von der Union auf eigene Initiativen zurück und sind von der Regional- und Strukturpolitik der Union zugunsten wirtschaftlich schwacher Regionen zu unterscheiden. Ebenso zu unterscheiden sind sie von einer auf der globalen Ebene angeblich festzustellenden De-Globalisierung, bei der eine

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23.2 Regionale Verbünde

Regionalisierung anklingt. In einer Übertreibung, mit der der Autor vermutlich auf einen Bestseller gehofft hat, vertritt Finbarr Livesey im Buch »From Global to Local« (2017) die These, die der Untertitel ankündigt: »The End of Globalisation«. Fraglos richtig ist einer seiner Belege: In einer Welt von 3-D-Druckern gibt es immer intelligentere Maschinen (Roboter) und zu deren Nutzung fähige Personen, wes­ halb manche Güter und Dienstleistungen nicht mehr um die halbe Welt wandern müssen. Denn man kann sie von zuhause aus oder in der näheren Umgebung zustande bringen. Lastwagen, Eisenbahn­ waggons, Kräne und andere Großmaschinen dürften aber noch lange nicht mit 3-D-Druckern herzustellen sein. Eine weitere Prise Skepsis drängt der vermutlich immer noch wachsende Verkehr von Personen und Gütern, ferner die nicht nur von wirtschaftlichen, sondern auch von politischen, wissenschaftlichen und kulturellen Führungskräften geforderte Unzahl von Reisen auf, die sich nur zum Teil durch Videooder Telefonkonferenzen ersetzen lassen. Unabhängig davon kommt eine Rückkehr vom Globalen zum Lokalen, wenn sie denn stattfindet, kaum ohne eine Stärkung der Regionen als Zwischenebene zustande. Diese beschränkt sich bei Livesey aber auf Produktionsstätten, die bei dem in diesem Essay ver­ tretenen Votum für regionale Verbünde nur eine geringe Rolle spielen. Insbesondere kommt es bei ihnen nicht auf einzelne Orte, sondern auf die rechtliche Organisation der Zusammenarbeit an, die nicht bloß wirtschaftlicher, sondern auch gesellschaftlicher, kultureller und politischer Natur ist. Denn für ihren Zweck soll die Kooperation vereinfachet und auf Dauer gestellt werden, zugleich soll deren Prä­ senz im nationalen, im europäischen und im globalen Wettbewerb gestärkt werden. Wegen dieser Ziele verstehen sich die regionalen Kooperationsverbünde als Motoren nicht bloß der wirtschaftlichen, sondern auch der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung. Für jede der vier Arten regionaler Verbünde sei nun ein Bei­ spiel genannt: Im Februar 2018 haben innerhalb des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen 35 rheinische Städte, Kreise und Interessens­ verbände die »Metropolregion Rheinland« gegründet. Nach ihrem Anspruch will sie das Rheinland in seinem Gewicht als die bedeu­ tendste, dynamischste Metropolregion zwischen Berlin und Paris und mit dem international bekannten Köln als Zentrum repräsentie­ ren. Eine ähnliche Organisation nennt sich »Metropolregion RheinRuhr«.

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23 … und regional

Das Beispiel einer nicht auf ein einziges Bundesland einge­ schränkten Metropolregion bietet »Hamburg«, das die Freie und Han­ sestadt Hamburg mit Teilen von Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern verbindet. Entsprechendes trifft auf die Region »Rhein-Main« zu. Für einen länderübergreifenden, aber innerhalb der Europä­ ischen Union verbleibenden Verbund bietet ein Beispiel die Koopera­ tion von Nordrhein-Westfalen mit den Niederlanden und Belgien, ein weiteres die Kooperation ostdeutscher Bundesländer mit ihren polnischen Nachbarn. Ein drittes Beispiel, der oberrheinische Hoch­ schulbund, der Teile von Deutschland (Südbaden), Frankreich (Südel­ saß) und der Schweiz (Basel-Stadt und Basel-Land) zusammenführt, überschreitet die Unionsgrenzen. In politischer Hinsicht am eindrucksvollsten, in der rechtlichen Konstruktion vermutlich am schwierigsten dürfte die noch stärker über EU-Grenzen hinaus stattfindende Zusammenarbeit sein, exem­ plarisch realisiert in der Barents-See-Region zwischen zwei NichtEU-Ländern, Norwegen und Rußland, und dem EU-Land Finnland. Zu diesen rechtlich organisierten Verbünden kommen zahllose weitere mehr oder weniger formelle Kooperationen hinzu, die die regionale Seite Europas bekräftigen. Europäer sind jedenfalls in vielfacher Hinsicht »partikulare Kosmopoliten«, nämlich weltoffene Bürger, die in einer und häufig auch aus einer Region leben.

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24 Bilanz: Zehn Thesen für ein Europa der Bürger

Der Vorschlag, Europa zu einer Institution der Bürger umzubauen, darf keine wirklichkeitsfremde Utopie, er muß eine realistische Vision sein. Zu diesem Zweck beginnt er mit einer möglichst genauen Diagnose, hier als erste These formuliert, an die sich ein Therapievor­ schlag aus weiteren neun Thesen anschließt. Die Diagnose, These Nummer 1, stellt für die derzeitige Union eine mehrteilige, insgesamt tiefe Krise fest: Ein wohlhabender, kul­ turell blühender Rechtsstaat, das Vereinigte Königreich, verläßt die Union. Andere wohlhabende Rechtsstaaten wie Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz haben den Beitritt von vornherein abge­ lehnt. Weiterhin lassen sich einige Unionsländer Milliarden Euro überweisen und verweigern, wie zum Beispiel Polen, so gut wie ohne jedes Risiko von Sanktionen jede Solidarität in der Flüchtlingsfrage. Ein anderes Mitgliedsland, Griechenland, verhält sich schon vorher wie der listenreiche Odysseus, tritt dem Euro-Raum mit gefälschten Zahlen bei und empfängt, ohne die Gesamtheit der versprochenen Reformen effektiv durchzuführen, jahrelang neue Hilfe. Wieder ein anderes Land, Italien, entscheidet sich für einen finanzpolitischen Widerstand gegen Brüssel, will nämlich entgegen geltenden Verträ­ gen seine schon jetzt enorme Staatsverschuldung noch erhöhen. Zusätzlich herrscht in manchen EU-Ländern ein hohes Maß an Mißwirtschaft und Korruption oder wird ein Pfeiler rechtsstaatlicher Demokratie, die unabhängige Justiz, angetastet. Bei der Vergabe der Spitzenämter im Sommer 2019, des Kommissionspräsidenten, des Parlamentspräsidenten und des Präsidenten der Europäischen Zen­ tralbank, zelebriert die Union ein unwürdiges »Postengeschacher«. Und wenn man zusätzlich auf die vielen anderen Ämter schaut, so scheint Europa zu einer bloßen Geschäftsgemeinschaft zu verkom­ men. Hinzu kommt, daß die Union auf das Recht als einem ihrer unverletzlichen Grundwerte stolz ist und sich trotzdem nicht immer an ihre selbstgesetzten Regeln hält.

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Angesichts dieser denn doch deplorablen Diagnose bilanzie­ ren die folgenden Thesen die in dieser Studie vorgeschlagene The­ rapie, Europa für seine Bürger einzurichten. Jede einzelne These versteht sich als Antithese gegen realitätsresistente Ansichten. Die ersten sechs Thesen, die Thesen zwei bis sieben, sind kritischer Natur. Auf der Grundlage der vorangehenden Überlegungen wenden sie sich zunächst gegen eine generelle Europa-Müdigkeit, sodann gegen eine gegenläufige, die komplexere Wirklichkeit verkürzende Europa-Euphorie. Die letzten drei Thesen, die Thesen acht bis zehn, fassen noch einmal die Leitaufgabe, Europa als Institution der Bür­ ger, zusammen. Gegen die immer wieder auftauchende Europamüdigkeit und einen Europapessimismus betont These Nummer 2, daß die Entwick­ lung der europäischen Integration in globaler Hinsicht nicht bloß einmalig ist, sondern auch die größte politische Errungenschaft seit dem Zweiten Weltkrieg darstellt. Als Friedens-, Rechts- und Wohl­ standsprojekt fördert sie die politische und wirtschaftliche Freiheit ihrer Bürger, weshalb sie in aller Welt bewundert, nicht selten sogar beneidet wird. Über viele Jahrhunderte herrschten in Europa zwei konträre Realitäten, zum einen Kriege, Bürgerkriege, Aufstände, sogar gewalt­ tätige Revolutionen, zum anderen Kooperation und ein friedlicher Wettstreit. Glücklicherweise ist seit mittlerweile drei Generationen die erste Wirklichkeit ins Museum der Geschichte verbannt und hat die zweite Realität nicht nur die Oberhand gewonnen, sondern sich als allein existierend erwiesen. Weil sie sich zudem mit dem Recht und mit der materiellen und kulturellen Seite verbindet, hat Europa die globale Wertschätzung durchaus verdient: Überall dort, wo Unterdrückung, Gewalt und Armut vorherrschen, ist ein Neid auf Europa kein mißgünstiges Ressentiment, sondern ein die eigenen Anstrengungen stimulierender Kreativitätsfaktor. Wer sich zum vierdimensionalen Projekt Europa, der Verbin­ dung von Frieden und Recht mit einem sowohl materiellen als auch kulturellen Wohlstand bekennt, muß weder, These Nummer 3, der Europäischen Union beitreten, noch, einmal beigetreten, ihr ewig angehören. Ohnehin darf die Union nicht für sich beanspru­ chen, was durch andere Faktoren zustande kam: Das Kriegsende verdankt Europa den Alliierten, die Fortdauer des Friedens der Nato und die Verbesserung von Frieden und Recht Europas konstitutio­ nellen Demokratien. Der materielle Wohlstand wiederum geht auf

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die Anstrengungen der Bürger und Unternehmer sowie einer sozial­ staatlich abgefederten Marktwirtschaft zurück. Ähnliches gilt für die kulturellen Werte Europas: Sie verdanken sich der Kreativität und Produktivität der Kulturschaffenden und der ihre Arbeit schätzenden Bürger. Wer die entsprechenden Werte teilt, darf außerhalb der Union bleiben, wer ihr beitritt, hat sie jedoch anzuerkennen. Daran schließt sich These Nummer 4 nahtlos an, denn sie rich­ tet sich gegen den, polemisch zugespitzt, verbalen Imperialismus, nämlich gegen die Verkürzung Europas auf die Union. In Wahrheit gehören zu Europa auch die genannten fünf westlichen Länder, ferner alle Nachfolgestaaten Jugoslawiens, weiterhin der europäische Teil von Rußland, außerdem Weißrußland, die Ukraine und der nichtana­ tolische Teil der Türkei. Wer trotzdem den Kontinent nicht vom Nordkap bis zum Bos­ porus und vom Ural bis zum Atlantik reichen sieht, wer stattdessen Europa geographisch mit der Union gleichsetzt, macht sich nicht bloß einer Gedankenlosigkeit, sondern sogar eines gravierenden Unrechts schuldig. Denn er setzt den eigenen Teil, ein trotz aller Erweiterungen Rumpf- oder Kleineuropa, mit dem wahren Europa, dem Großeuropa, gleich. Selbst profunden Darstellungen der neueren und neuesten Geschichte Europas ist vorzuwerfen, daß sie in der Regel, selbstver­ ständlich unausdrücklich aus der Perspektive der Union herausge­ schrieben werden. Eine realistische Vision Europas erhebt gegen diese Verkürzungen Europas auf die Union Einspruch. Sie erkennt an, daß Isländer, Liechtensteiner, Norweger und Schweizer Europäer sind und die Briten es nach dem Brexit bleiben, daß selbst Rußland und Weißrußland, ohnehin die Ukraine zu Europa gehören und daß die einen Staaten mehr, die anderen weniger erhebliche Teile der kulturel­ len Werte der Union teilen. Die Europäische Union wiederum erkennt nicht etwa widerwillig, sondern aus vollem Respekt an, daß einige Länder ausdrücklich der EU nicht beitreten wollen und trotzdem den normativen Aufforderungen, namentlich der rechtsstaatlichen Demokratie, in vollem Umfang genügen. Länder hingegen, die diesen Aufforderungen nicht gerecht werden, sind von vornherein für einen Beitritt zur Union ungeeignet. These Nummer 5: Der visionäre und zugleich realistische Blick auf Europa folgt dem britischen Staatsmann und Schriftsteller Edmund Burke und nimmt für Europa eine bis heute schwerlich zu bestreitende »Ähnlichkeit von Religion, Gesetz und Sitte« wahr. Selbst wer daran zweifelt, sieht, daß so bedeutende europäische Institutionen wie

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der Europarat, die Europäische Menschenrechtskommission und die OSZE an den Grenzen der Union nicht haltmachen und trotzdem, teilweise sogar deshalb für Frieden und Recht und auch manchen Wohlstand unverzichtbar sind. Insbesondere unterstützt er jene facet­ tenreichere, die Unionsgrenzen überschreitende Kooperation, für die exemplarisch noch einmal an zwei Beispiele erinnert sei, an die Oberrhein-Region aus Südbaden, dem Südelsaß und dem Basler Großraum und an die Barents-See-Kooperation zwischen Norwegen, Finnland und Rußland. Die aus all diesen Beobachtungen folgende Aufgabe liegt auf der Hand: Unter Verzicht auf ihren verbalen Imperialismus beanspruche die Union auf Europa kein Exklusivrecht. Und in der realen Politik etabliere sie sich als eine Union, die keine Kooperation und Integra­ tion, die die Unionsgrenzen überschreiten, erschwert, geschweige denn verhindert. These Nummer 6 verwirft eine zweite, jetzt thematische Verkür­ zung: Europa ist mehr als eine Friedens-, Rechts- und Wirtschafts­ gemeinschaft. Eine Bürgerunion erkennt selbstverständlich die von manchen Pro-Europäern betonten Elemente, eine Öffentlichkeit mit Parteien, Parlamenten, Legitimität, Gerichten und Demokratie, an, sieht darin aber zu wenig. Was not tut, ist, wie dieser Versuch in Teil II herausarbeitet, die europäischen Kulturlandschaft endlich in ihrer thematisch weit größeren Reichweite wahrzunehmen. Sichtbar wird die kulturelle Gemeinschaft zum Beispiel in den bis heute anerkannten, immer wieder neu gedeuteten literarischen Vor­ bildern, etwa in den Epen Homers, den griechischen und lateinischen Tragödien und Komödien sowie der weitreichenden Wertschätzung aller großen europäischen Erzähler und Dichter. Hinzukommen der Reichtum der Malerei, Architektur und Musik sowie der Philosophie und der darauf gerichteten Geistes- bzw- Kulturwissenschaften, wei­ terhin die Mathematik und die auf Experimenten und Beweisen fußenden Naturwissenschaften samt Medizin und Technik, nicht zuletzt die religiösen Traditionen, auch wenn sie im Zuge der Säkula­ risierung an Gewicht verlieren. These Nummer 7 widerspricht einer weiteren Verkürzung, der Begrenzung des thematisch erweiterten, also nicht bloß politischen und wirtschaftlichen, sondern auch kulturellen Europas lediglich auf den Kontinent. Die skizzierten Kernelemente, das friedliche Zusammenleben von Staaten mit Rechtsstaatlichkeit, einer sozialen Marktwirtschaft, der Anerkennung unveräußerlicher Grund- und

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Menschenrechte und einer demokratischen Legitimation sowie einem kulturellen Reichtum, ist, womit Europa seinen wesentlich kosmo­ politischen Charakter beweist, globalisierungsfähig und glücklicher­ weise in vieler Hinsicht schon globalisierungswirklich. Wegen des kosmopolitischen Charakters eifern viele außereuropäische Staaten den genannten Kernelementen Europas nach. Europa folgt also der Maxime friedlicher Missionierung, der Devise: »Kommet und sehet.« Dafür ist weit mehr zu leisten als eine ständige Erweiterung der Union. Ob es sich um unionsinterne oder um unionsexterne Staaten handelt – Europa pflege seinen kosmopolitischen Charakter, was langfristig gedacht für eine globale, freilich lediglich subsidiäre, kom­ plementäre und föderale Weltrechtsordnung, kurz: für eine entspre­ chende Weltrepublik, spricht. Eine entscheidende Voraussetzung benennt die These Nummer 8: Man leiste einer mächtigen Tendenz Widerstand, sowohl die innereu­ ropäische als auch die globale Vielfalt, also die teils unionsinternen, teils globalen Unterschiede zu verringern oder gar zu unterdrücken. Wer die Forderung nach »Mehr Europa« aufgreift, darf sie ausschließ­ lich auf eine dem Wesen Europas sachgerechte, das heißt auf eine die Vielfalt und Unterschiedlichkeit stärkende Weise verwirklichen. Zu diesem Zweck pflege man das in den Unionsverträgen schon rechtsverbindlich verankerte, politisch aber bislang folgenarme Prin­ zip der Subsidiarität: Keine, selbst die kleinste politische Einheit darf als Selbstzweck behandelt werden, sondern hat als subsidium, als Hilfe, der letztverantwortlichen Einheit, der zurechnungsfähigen Person, dem einzelnen Bürger, zu dienen. Vom Subsidiaritätsprinzip aus betrachtet, ist alles, was kleinere politische Einheiten zu leisten vermögen, diesen Einheiten zu überlassen; schließlich sind selbst die kleinsten Einheiten von den Bürgern her zu rechtfertigen. Der Grund liegt im Demokratieprinzip, nach dem die von poli­ tischer Herrschaft Betroffenen, immerhin der eigentliche Souverän, sowohl den Ausgangs- als auch den Bezugspunkt aller öffentlichen Gewalt darstellen. Im Laufe der Geschichte bilden nun die Betroffenen wirtschaftliche, politische, kulturelle und mentalitäre Gemeinsamkei­ ten, zugleich von außen betrachtet Eigenarten und Besonderheiten aus. Diese pflegen sich gegenseitig zu beeinflussen, dabei glücklicher­ weise häufig zu bereichern. Selbst dieser Prozeß findet jedoch auf unterschiedliche Weise statt. Daraus folgen empirisch gesehen die als europäische Wirklichkeit allseits bekannte Verschiedenheit der Sprachen und Literaturen, ferner die trotz eines gemeinsamen Kerns

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im Konkreten andersartigen Politik-, Rechts- und Wirtschaftsordnun­ gen, nicht zuletzt die Unterschiede in Lebensstil und Mentalität, in Küche, Kleidung, Musik und Architektur. In dieser bis in den Alltag hinein wirkenden Realität tritt zwei­ tens der Sinn und Wert der Differenz zutage, jene kulturelle Viel­ falt, deren Dichte Europa vor anderen Großregionen auszeichnet. Schließlich besteht wegen des Demokratieprinzips ein Recht auf diese Unterschiede. Infolgedessen favorisiert eine realitätsgesättigte Vision für »Mehr Europa« ein Mehr an gesellschaftlichem, wirtschaftlichem, politischem und kulturellem Reichtum statt der mit fortschreitender Homogenisierung einhergehenden Verarmung das Wort zu reden. Pointiert: Lieber ein »Besseres Europa« als »Mehr Europa«. Nun hat der Gedanke der Subsidiarität, wie für Prinzipien üblich, nicht den Orientierungswert eines Rezeptbuches. Er verlangt jedoch eine radikal neue Weichenstellung, sichtbar in der Anerkennung von drei Kriterien. Nach dem ersten Kriterium, der Erfordernis-Klausel, darf die Union nur dort tätig werden, wo die Einzelstaaten nicht selber zu agieren vermögen. Nach dem zweiten Kriterium, der Besser-Klau­ sel, muß es die Union besser machen als die Einzelstaaten. Nach der dritten Klausel, dem Gebot der Verhältnismäßigkeit, hat sie sich mit den tatsächlich nötigen Lösungen zu begnügen und sich dabei nachdrücklich für erfahrungsbedingte Korrekturen offenzuhalten. Die überwiegende Mehrheit von Proeuropäern kann eine gewisse Parteilichkeit nicht verstecken. Sie spricht nämlich nur dort von »proeuropäischen Grundeinstellungen«, wo man, wenn auch nach Feldern und Projekten differenziert, sich für ein Mehr an Ver­ gemeinschaftung einsetzt. Warum aber soll es angesichts der europä­ ischen Vielfalt ausgeschlossen sein, gelegentlich die Gegenrichtung, ebenfalls nach Feldern und Projekten differenziert, »proeuropäisch« zu nennen? Eine Union, die selbstbewußt, aber nicht selbstgerecht ist, läßt jedenfalls ein partielles Zurücknehmen von Vergemeinschaftung zu. Entsprechende Forderungen dürfen nicht pauschal als populistische Renationalisierung diskreditiert, deshalb ausgeschlossen werden. Einzelnen Unionländern, eventuell sogar einer Mehrheit muß es erlaubt sein, eigenstaatliche Zuständigkeiten zu behalten, sie sogar zurückzugewinnen, sofern drei Voraussetzungen erfüllt werden: Auf jeden Fall geschehe es ohne Gewalt, ferner, ohne die Gegner zu verunglimpfen, schließlich ohne eine »Rosinenpickerei«, die nach dem Prinzip von Privatisierung der Vorteile und Sozialisierung der

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Nachteile den Nutzen für sich reserviert, den Schaden hingegen den anderen überläßt. Darin zeichnet sich die These Nr. 9 ab. Gegen die vorherrschende Neigung, einzelstaatliche Verantwortlichkeiten auf die Union zu übertragen, gegen die angebliche Krönung der Union in »Vereinigte Staaten von Europa«, bedient sich eine erfahrungsverpflichtete Phi­ losophie der Methode der bestimmten Negation. Sie fragt zunächst, was für das angebliche Vorbild Vereinigter Staaten, der USA, charak­ teristisch ist und überlegt sodann die Übertragbarkeit des Vorbildes auf Europa: Bekanntlich verfügen die USA über ein reiches Bündel von Gemeinsamkeiten, von denen hier nur die gemeinsame Sprache, die gemeinsame Rechtstradition und das gemeinsame Leitinteresse, volle Religionsfreiheit, erinnert seien. Hingegen hat sich Europa zwar zum Prinzip religiöser Toleranz durchgerungen, schon in deren konkreter staatskirchenrechtlicher Gestalt herrscht jedoch die Vielfalt vor. Im konkreten Staats-, Rechts- und Politikverständnis gibt es ebenfalls erhebliche Unterschiede, die bei den Sprachen und bei den Mentalitäten enorm zunehmen. Ein subsidiäres Europa nimmt diese Vielfalt nicht etwa unwillig hin, sondern pflegt sie auf allen Ebenen. Beispielsweise läßt sie sowohl reine Demokratien als auch monarchische Elemente wie in Belgien, Dänemark und Luxemburg, ferner sowohl Präsidialdemokratien zen­ tralistischen Zuschnitts wie Frankreich als auch Bundesstaaten wie Belgien, Deutschland und Österreich zu. Weil der Reichtum Europas genau in dieser Vielfalt liegt, darf das Motto nicht wie in den USA heißen: e pluribus unum, sondern in plu­ ribus unum. Die Einheit ist also nur in jener Vielfalt willkommen, die sich schwerlich beibehalten läßt, wenn man mehr und mehr Zustän­ digkeiten, somit Verantwortlichkeiten abtritt. Nach aller Erfahrung pflegen Bundesstaaten im Laufe der Zeit ihre Kompetenzen zulasten der Gliedstaaten zu erhöhen. Dies trifft selbst auf ein so überzeugt föderales Gemeinwesen wie der Schweiz, vermutlich noch deutlicher auf die USA zu. Häufig selbstverschuldet, nämlich auf dem Weg der vom Bund erbetenen Finanzhilfen, wird die Macht der politischen Einheiten, die sich zum Bund zusammengeschlossen haben, also die der Einzelstaaten oder Bundesländer bzw. Kantone, zwar schleichend, im schließlichen Ergebnis aber beträchtlich verringert. Infolgedessen müssen die kleineren Einheiten, um ihre Eigenständigkeit zu wahren,

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in gewissen Bereichen Zuständigkeiten zurückholen und immer wie­ der gegen die Aushöhlung ihrer Zuständigkeiten opponieren. Da die Eigenart unseres Kontinents, das Genie Europas, aus einer Gemeinsamkeit in Vielfalt besteht, hat sich ein ihren Bürgern verpflichtetes Europa auf drei Bedingungen zu verpflichten: Erstens unterwerfe es sich streng und effektiv der Subsidiarität, halte sich zweitens für die die Unionsgrenzen überschreitenden Regionen offen und pflege drittens offensiv das in Europa vorhandene kosmopoliti­ sche Potential. Sichtbar wird diese Vision in einer komplexen Bürge­ ridentität, die beiden Vereinfachungen Widerstand leistet, sowohl jenem Abschied von der Europäischen Union, der sich aus allen Vergemeinschaftungen in quasi-autarke Nationalstaaten zurückzieht, als auch dem Einschmelzen der europäischen Vielfalt in staatlich homogenisierte Vereinigte Staaten von Europa. Den früheren Nationalstaaten kann man zwar vorwerfen, mit­ geholfen zu haben, Europa zu verwüsten, was jedoch im Gefolge der Reformation ebenfalls geschah. Die keineswegs immer friedliche Nationenbildung hatte aber auch einen erheblichen Gewinn, so den Ausbau eines leistungsfähigen Schul- und Hochschulwesens, ferner nach und nach die Gleichberechtigung aller Bürger, die Entstehung einer politischen Öffentlichkeit, mitlaufend die liberale und soziale Demokratie sowie vielerorts eine Blüte von Literatur, Musik, bildende Kunst und Architektur. Diese facettenreiche Vielfalt würde in Verei­ nigten Staaten von Europa eher behindert als gefördert. Es verwun­ dert daher nicht, daß nur bei wenigen Bürgern die Zuneigung zur Europäischen Union mit den jeweiligen Nationalfeiertagen, National­ hymnen und einer auch emotionalen Verbundenheit mit dem eigenen Land mithalten kann. Der Gedanke eines aufgeklärten, dann in fünf Hinsichten modernisierten Nationalstaates bleibt jedenfalls vertret­ bar. Mit der damit angesprochenen komplexen, weil mehrdimensio­ nalen Bürgeridentität dürfte die gebildete Mittel- und Oberschicht Europas geringe, andere Kreise aber, das darf man nicht hochmütig verdrängen, große Probleme haben. Die komplexe Identität beginnt mit dem Kommunalbürger. Man ist Bürger von Tübingen, Genua, Aix en Provence oder Riga; das Bürgersein setzt sich fort, indem man entweder ein autochthoner oder aber zugewanderter Schwabe, Ligurer, Provençale oder aber Lette ist. Und es erreicht seine vorläu­ fige Vollendung im »nationalen« Staatsbürgersein mit dessen bis heute wohl immer noch wichtigsten Bürgeridentität. Zu glauben, eine

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EU-Bürgerschaft könne in absehbarer Zeit die nationale Staatsbürger­ schaft ablösen, ist ein folgenschwerer Irrtum, dem selbst Deutsche, sofern man auf ihre gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische und kulturelle Wirklichkeit achtet, kaum erliegen. Warum auch sollte ein Land nach drei Generationen gelungener Demokratien sich immer noch des Deutschseins schämen? Da vor allem die anderen Länder ihrer Nationalstaaten nicht überdrüssig sind, ist eine gestufte Staatsbürgerschaft sinnvoll. Ihr zufolge sind die Unionbürger primär Deutsche, Finnen, Slowenen oder Spanier, sekundär hingegen EU- Bürger. Dabei ist nicht auszu­ schließen, daß sich die Rangfolge einmal umkehrt und man, vermut­ lich erst in ferner Zukunft, primär EU-Bürger und nur sekundär Bürger seines Staates ist. Die wahre Vollendung jedoch erreicht eine aufgeklärte Bürgeridentität erst mit einer weiteren Dimension, die schon längst wie selbstverständlich gelebt wird und die jede pauschale Globalisierungskritik Lügen straft: Als Konsument, als Tourist und als Teilnehmer des Internet, als Student oder Dozent, nicht zuletzt als Mitglied in den multinationalen Betrieben und Forschungseinrichtungen sind wir schon heute zusätzlich Weltbürger oder Kosmopoliten. Um seinen Bürgern diese mehrdimensionale Identität zu erleich­ tern, gibt eine zukunftsfähige Vision Europas die Union nicht auf, sie besinnt sich aber auf deren klare Grenzen. Insbesondere lebt sie aus der bunten, sogar anarchienahen Fülle der Einzelstaaten und der die Staatengrenzen überschreitenden Regionen. Europa wird daher schwerlich seine tiefgreifende Krise überwinden, wenn es nicht dem reichen Strauß von Sprachen, Traditionen und Mentalitäten mitsamt deren Potential an Konkurrenz und Konflikt im Rahmen eines friedlichen Wettbewerbs genügend Raum zum Blühen läßt. Das dafür zuständige Recht auf Differenz schließt zwar kein weiteres Zusammenwachsen aus, es darf aber nur auf demokratische Weise zustande kommen: Das vorherrschende top down-Vorgehen ist durch die weit demokratischere bottom up-Strategie zu ersetzen. Daraus lassen sich einige Folgerungen ziehen, konkrete Vor­ schläge, die, gegen realitätsresistente Träume gerichtet, zusammen die These Nummer 10 ausmachen. Zum einen lerne man eine Fremd­ sprache zu sprechen, möglichst eine unionsinterne Amtssprache, und eine zweite zu verstehen. Zum anderen lade man in Radio und Fernsehen und den Aberhunderten von Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen, die jeder Bahnhofskiosk anbietet, man lade also dort, wo

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so gut wie alle Bürger zugreifen, Kommentatoren und Kolumnisten aus den Nachbarländern ein und lasse von beidem, sowohl von den Hoffnungen, die die unterschiedlichen Bürger hegen, als auch von deren Sorgen berichten. Zusätzlich empfiehlt sich, eine europäische Zeitschrift zu gründen, deren Beiträge in der Landessprache des Autors zusammen mit einer englischen Fassung erscheinen könnten. Erst auf dieser Grundlage und nicht durch Sonntagsreden kann sich nach und nach ein gemeinsamer europäischer Geist herausbilden, der weit mehr umfaßt als den allzu selbstverständlich gewordenen Frieden und den vielerorts herrschenden Wohlstand. Der kosmopolitische Charakter Europas empfiehlt abschließend, den Blick auf eine andere Kultur zu werfen, hier auf China. Nach dessen nicht weniger als drei Tausend Jahre alten Gedanken Tian-Xia (天下): »Alle und alles unter demselben Himmel« ist Herrschaft nur dann legitim, wenn sie »die aufrichtige und wahre Unterstützung der Völker erhält«. Spezifiziert man dieses Kriterium auf die für Europa konstitutive Demokratie, so lautet das Fazit, die These Nr. 10: Europa und ihr derzeitiger politischer Kern, die Europäische Union, dürfen keinerlei Einheit erzwingen, die nicht dem Willen des eigentlichen Souveräns, dem der Bürger und der Bürgerschaften, entspringt.

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