Nach den Diktaturen: Der Umgang mit den Opfern in Europa [1 ed.] 9783666369711, 9783647369716, 9783525369715


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Nach den Diktaturen: Der Umgang mit den Opfern in Europa [1 ed.]
 9783666369711, 9783647369716, 9783525369715

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Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Herausgegeben von Günther Heydemann Band 59

Vandenhoeck & Ruprecht

Nach den Diktaturen Der Umgang mit den Opfern in Europa Herausgegeben von Günther Heydemann und Clemens Vollnhals

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197-0971 ISBN 978-3-647-36971-6 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter www.v-r.de. Mit 2 Grafiken und 6 Tabellen. Umschlagabbildung: Statue der Justitia in Bamberg Bild: picture alliance / David Ebener © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorheri­gen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden

Vorwort Der vorliegende Band basiert auf einer internationalen Tagung, die vom 27. bis 29. Juni 2013 anlässlich des 20-jährigen Bestehens des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung e. V. (HAIT) an der Technischen Universität Dresden stattfand. Das Hannah-Arendt-Institut, dessen Gründung auf einen Beschluss des Sächsischen Landtags zurückgeht, ist in besonderer Weise der Erforschung der NS- und der SED-Diktatur verpflichtet. Zu seinen satzungsgemäßen Aufgaben gehört es, „das Andenken an die Opfer bewahren zu helfen und durch wissenschaftliche Untersuchungen zu unterstützen“. Insofern war die Wahl des Konferenzthemas naheliegend. Europa erlebte im 20. Jahrhundert sehr unterschiedliche Diktaturen: die faschistische in ­Italien und die nationalsozialistische in Deutschland (ab 1938 auch in Österreich), die Militärdiktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland sowie die kommunistischen Diktaturen, die nach 1945 in den Staaten des von der Sowjetunion beherrschten Ostblocks etabliert wurden. Der politische und gesellschaftliche Umgang mit den Opfern diktatorischer Gewalt und Repression sollte auf dieser Konferenz länderübergreifend analysiert werden. Die Leitfrage war: Welche Anerkennung erfuhren die Opfer nach dem Fall der jeweiligen Diktatur, welche Formen der Rehabilitierung und Entschädigung gab es in den betreffenden Ländern? In der Zusammenschau ganz unterschiedlicher Verlaufsformen und Ergebnisse ergibt sich eine vergleichende Perspektive, die viel über den Zustand von postdiktatorialen Gesellschaften aussagt und eventuell zur Ausbildung eines gesamteuropäischen Geschichtsbewusstseins beitragen kann – so jedenfalls die Hoffnung der Herausgeber. Die Auftaktveranstaltung fand im Plenarsaal des Sächsischen Landtags statt und wurde mit einer Ansprache des Landtagspräsidenten und Mitbegründers des HAIT Dr. Matthias Rößler eröffnet, gefolgt von einem Grußwort der Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst Prof. Dr. Dr. Sabine Freifrau von Schorlemmer. Den Festvortrag hielt der ungarische Dissident, Schriftsteller und Historiker György Dalos. An dieser Stelle möchten wir allen Referenten herzlich danken. Unser Dank gilt auch den Mitarbeitern, die hinter den Kulissen die Konferenz organisatorisch mit vorbereitet haben. Für die redaktionelle Mithilfe bei der Drucklegung der Beiträge danken wir Robin Reschke und Tina Kreller. Günther Heydemann / Clemens Vollnhals

Inhalt I. Faschistische Diktaturen

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Federico Scarano Der Umgang mit den Opfern der faschistischen Diktatur in Italien

11

Constantin Goschler Der Umgang mit den Opfern des Nationalsozialismus in Deutschland nach 1945

27

Stefan Karner Die Opfer des Nationalsozialismus in Österreich. Opferfürsorge und „Wiedergutmachung“

47

II. Militärdiktaturen

55

Walther L. Bernecker Der Umgang mit den Opfern von Gewalt und Repression im nachfranquistischen Spanien

57

António Costa Pinto und Filipa Raimundo Die Opfer der Salazar-Diktatur. Der Umgang mit den Opfern und Tätern im demokratischen Portugal

81

Heinz A. Richter Griechenland – ein Sonderfall III. Kommunistische Diktaturen

107 125

Clemens Vollnhals Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer der SED-Diktatur

127

Karel Vodička Vergangenheitsaufarbeitung in Tschechien

157

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Inhalt

Tytus Jaskułowski Polen – Transitional Justice Policy nach der Friedlichen Revolution 1989

173

Krisztián Ungváry Der Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit in der heutigen ungarischen Erinnerungskultur

189

Claudia Matthes Opfer und Opferverbände in Lettland – erneut Opfer einer doppelten Deutung der Geschichte?

209

Elena Zhemkova Zwischen Mitgefühl und Gleichgültigkeit – die Rehabilitierung der Opfer sowjetischer Verfolgungen

233

Günther Heydemann Wiedergutmachung und Entschädigung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Vergleichende Überlegungen

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IV. Anhang Abkürzungsverzeichnis Autorenverzeichnis

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I. Faschistische Diktaturen

Der Umgang mit den Opfern der faschistischen Diktatur in Italien Federico Scarano

Die Opfer der faschistischen Gewalt in Friedens- und Kriegszeiten (1920–1945) Italien war das erste europäische Land, in dem sich schon in den Jahren 1922 bis 1925 eine Diktatur faschistischen Typs etablierte. Nach dem sogenannten Biennio rosso (Rotes Biennium) 1919/20 und der Furcht vor einer bolschewistischen Revolution, kam es 1920 bis 1922 zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen, die durch schwere Zusammenstöße und sogenannte Strafexpeditionen der Faschisten gegen Sozialisten und Kommunisten gekennzeichnet waren, die Hunderten von Personen, vielleicht auch einigen Tausenden das Leben kosteten.1 Jedoch etablierten die Faschisten ein eher autoritäres Regime, dessen Herrschaft bei Weitem nicht so totalitär organisiert war wie die brutale Diktatur der Natio­ nalsozialisten. Mussolini musste Kompromisse, aber auch Bündnisse mit dem König und der katholischen Kirche schließen. In den Jahren 1920 bis 1922 waren die Opfer hauptsächlich die sozialistischen und kommunistischen Organisationen sowie die Gewerkschaften, die ebenfalls zahlreiche Tote zu beklagen hatten, während der alte liberale Staatsapparat, der königstreu gesonnen war, sich in seiner großen Mehrheit mit dem Regime arrangierte. Die Hauptgegner wurden jedoch zum Schweigen gebracht, indem man sie einschüchterte, einsperrte oder ins Exil trieb. Der liberale, antifaschistische Anführer Giovanni Amendola wurde 1924 von einem Schlägertrupp

1

Die Zahl der Opfer der faschistischen Gewalt lässt sich nicht mehr genau feststellen. Vgl. Emilio Gentile, Storia del partito fascista 1919–1922. Movimento e Milizia, Roma 1989, S. 461–543; Adrian Lyttelton, Fascismo e violenza: conflitto sociale e azione politica in Italia nel primo dopoguerra. In: Storia Contemporanea, 13 (1982), S. 965–984; Jens Petersen, Il problema della violenza nel fascismo italiano. In: Storia Contemporanea, 13 (1982), S. 985–1008; Mimmo Franzinelli, Squadristi. Protagonisti e tecniche della violenza fascista, Milano 2003; Fabio Fabbri, Le origini della guerra civile. L’Italia dalla grande guerra al fascismo, 1918–1921, Milano 2009. Die faschistische Propaganda sprach von 3 000 Toten auf eigener Seite, ihre tatsächliche Zahl dürfte jedoch unter 500 liegen, vgl. Franzinelli, Squadristi, S. 509.

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überfallen und verstarb im französischen Exil an den erlittenen Verletzungen; ebenso erging es dem jungen, liberalen Faschistengegner Piero Gobetti. Das bedeutendste und bekannteste Opfer in den ersten Jahren des Faschismus war der sozialistische Abgeordnete Giacomo Matteotti, der 1924 nach einer flammenden Rede gegen den Faschismus im Parlament von einem faschistischen Stoßtrupp entführt und ermordet wurde. Dieser Vorgang rief in Italien eine derartige Entrüstung hervor, dass der Sturz Mussolinis nahe zu sein schien; der Duce verlor aber das Vertrauen des Königs nicht, und es gelang ihm, die Krise zu überstehen und die Diktatur auszubauen. Während der gesamten Zeit der faschistischen Diktatur von Oktober 1922 bis zum 25. Juli 1943 befanden sich 5 000 Personen aus politischen Gründen in Haft, während weitere 10 000 Antifaschisten per Urteil in die Verbannung innerhalb Italiens geschickt wurden.2 Eine weitere Gruppe von Opfern der Diktatur waren die nationalen Minderheiten, die sich der italienische Staat nach dem Ersten Weltkrieg einverleibt hatte, insbesondere die 250 000 deutschsprachigen Südtiroler und die etwa 500 000 Slowenen und Kroaten in Istrien. Die Politik des Faschismus war es, sie ihrer nationalen Identität zu berauben und zu italianisieren. So wurde versucht, sie an der Beibehaltung ihrer eigenen Kultur und sogar ihrer Sprache zu hindern, indem zum Beispiel ausschließlich italienischsprachige Schulen eingerichtet wurden. Diese Politik war gegenüber den Slowenen und Kroaten noch strikter als gegenüber den Deutschen.3 Das Großherzogtum Toskana war das erste Land weltweit, das die Todesstrafe abgeschafft hatte, und zwar schon 1786. Das neue Königreich Italien, das sich 1861 gebildet hatte, schaffte sie offiziell 1889 ab, auch wenn sie im Militär- und im Kolonialstrafrecht erhalten blieb. Nach vier gescheiterten Attentaten auf sein Leben gründete Mussolini ein faschistisches Sondergericht (Tribunale speciale per la sicurezza dello Stato), führte 1926 die Todesstrafe für schwere Anschläge auf den Staat wieder ein und dehnte sie 1931 auch auf einige allgemeine schwere Verbrechen aus. Gleichwohl wurden in der Zeit von 1926 bis 1943 nur 31 Hinrichtungen aus politischen Gründen vollzogen,4 meistens an Kommunisten, Slowenen und Kroaten. Anders sah es mit der Kolonialpolitik des Faschismus in Libyen und Äthiopien aus, wo auf äußerst brutale Art Aufstände niedergeschlagen wurden, wobei es Zehntausende Opfer gab.5 Nach der Eroberung Abessiniens 1936 und der

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Walter Rauscher, Hitler und Mussolini. Macht, Kriege und Terror, Graz 2001, S. 601; http://www.storiaxxisecolo.it/antifascismo/antifascismo6.html. Vgl. Claus Gatterer, Im Kampf gegen Rom. Bürger, Minderheiten und Autonomien in Italien, Wien 1968; Jože Pirjevec/Milica Kacin Wohinz, Storia degli sloveni in Italia 1866–1998, Padova 1998. Claudio Longhitano, Storia del Tribunale speciale: 1926–1943, Roma 1995, S. 17, 127; Adriano Dal Pont/Alfonso Leonetti/Pasquale Maiello/Lino Zocchi, Aula IV Tutti i processi del Tribunale Speciale fascista, Roma, 1976, S. 548. Vgl. Angelo Del Boca, Gli italiani in Libia. Dal fascismo a Gheddafi, Roma 1988; ders., Gli italiani in Africa Orientale, 4 Bände, Milano 1992. Für eine andere Schätzung, die

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Ausrufung des italienischen Kaiserreichs hegte Mussolini die Hoffnung, erfolgreich mit den großen imperialen Mächten Großbritannien und Frankreich in Wettbewerb treten zu können, um die Herrschaft über das Mittelmeer zu erlangen. In diesem Kontext begann er, die Diktatur im Inneren auszubauen. Dies verstärkte sich im Zuge der Annäherung und schließlich dem Bündnis mit dem nationalsozialistischen Deutschland. Bezeichnend für diese Wende waren die Rassengesetze von 1938, mit denen die italienischen Juden (47 000 nach der Volkszählung von 1938) massiv diskriminiert wurden, wobei allerdings auch in diesem Fall das Regime erklärte, dass es die Juden im Unterschied zu Deutschland zwar diskriminiere, aber nicht verfolge.6 Dieses Bild einer alles in allem eingeschränkten Anzahl von Opfern änderte sich mit dem Kriegseintritt Italiens. Die Faschisten ergriffen brutale Repressalien gegen die Zivilbevölkerung in Jugoslawien und in Griechenland.7 Die Gewaltmaßnahmen verschärften sich besonders nach dem italienischen Waffenstillstand vom 8. September 1943, der deutschen Besetzung Mittel- und Nord­ italiens und der Schaffung des faschistischen Marionettenstaats der Republik von Salò, an dessen Spitze Mussolini stand. Mussolini war von den Deutschen befreit worden, nachdem ihn der Große Faschistische Rat abgesetzt und der König ihn am 25. Juli 1943 hatte verhaften lassen, womit das faschistische Regime in Italien zusammenbrach. Unter den ersten Opfern waren nun die italienischen Soldaten, die sich den deutschen Streitkräften nicht ergeben wollten und bewaffneten Widerstand leisteten: Davon wurden bis zu 6 300 erschossen, weitere 13 300 büßten auf den Gefangenentransporten ihr Leben ein.8 Weitere 600 000 italienischen Soldaten, die friedlich ihre Waffen niedergelegt, sich aber geweigert hatten, die neue faschistische Regierung anzuerkennen, wurden bis zum Kriegsende in Deutschland als italienische Militärinternierte (IMI) festgehalten. Sie besaßen damit einen schlechteren Status als Kriegsgefangene aus anderen westlichen Ländern und waren nur wenig besser gestellt als die sowjetischen Gefangenen. Von den Militärinternierten sind nach Angaben Schreibers 25 000

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die italienischen Verbrechen relativiert: Federica Saini Fasanotti, Etiopia 1936–1940. Le operazioni di polizia coloniale nelle fonti dell’esercito italiano, Roma 2010; dies., Libia 1922–1931. Le operazioni militari italiane, Milano 2012. Zur Judenpolitik vgl. Renzo De Felice, Storia degli ebrei italiani sotto il fascismo, Torino 1988; Meir Michaelis, Mussolini e la questione ebraica: Le relazioni italo-tedesche e la politica razziale in Italia, Milano 1982; Enzo Collotti, Il fascismo e gli ebrei. Le leggi razziali in Italia, Roma 2006; Michele Sarfatti, L’Italia fascista e gli ebrei. Vicende, identità, persecuzione, Torino 2000; Susan Zuccotti, The Italians and the Holocaust. Persecution, Rescue, Survival, New York 1987; Jonathan Steinberg, Deutsche, Italiener und Juden. Der italienische Widerstand gegen den Holocaust, Göttingen 1992; Raul Hilberg, La distruzione degli Ebrei d’Europa, Band 1, Torino 1995, S. 660–677. Vgl. Davide Rodogno, Il nuovo ordine mediterraneo. Le politiche di occupazione dell’Italia fascista in Europa (1940–1943), Torino 2003. Gerhard Schreiber, Die italienischen Militärinternierten im deutschen Machtbereich 1943 bis 1945, München 1980, S. 579.

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allein während der Gefangenschaft zu Tode gekommen. Zählt man die Ermordeten und die auf den Transport umgekommenen Personen dazu, beläuft sich die Zahl der Toten auf insgesamt rund 45 000.9 Der frühere Militärinternierte Claudio Sommaruga, der sich als Historiker mit diesen Fragen befasst hat, geht von mehr als 57 000 Opfern aus.10 Eine deutsch-italienische Historikerkommis­sion, die von den Außenministern beider Länder ins Leben gerufen wurde, spricht von 50 000 Opfern und 10 000 Vermissten.11 Hermann Frank Meyer hingegen vertritt die Ansicht, dass die Anzahl der italienischen Soldaten, die in Kefalonia erschossen worden sind, wesentlich geringer sei als bisher angenommen.12 Als Opfer der nationalsozialistischen deutschen Besetzung und ihrer faschistischen Kollaborateure gibt Giorgio Rochat etwa 10 000 Zivilpersonen an, die im Zuge von Repressalien und Massakern ihr Leben verloren. Hinzu kommen 24 000 in ein Lager deportierte und dort verstorbene Antifaschisten sowie 7 860 Juden. Weiterhin wird eine Zahl von 30 000 bis 40 000 Partisanen genannt, die im Kampf gefallen oder nach ihrer Gefangennahme erschossen worden sind.13

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Schreiber, Militärinternierte, S. 507, 579; Gabriele Hammermann, Gli internati militari in Germania 1943–1945, Bologna 2004; Gabriele Bergner, Aus dem Bündnis hinter Stacheldraht. Italienische Häftlinge im KZ Dachau 1943–1945 – Deportation und Lebensbedingungen, Hamburg 2002. Claudio Sommaruga, Una storia „affossata“. Gli italiani schiavi di Hitler. Traditi, disprezzati, dimenticati e beffati dalla Germania e dall’Italia! 1943–2007. Quaderno – Dossier n.3 – (2° edizione), Archivio „IMI“ 2007, S. 29. Bericht der von den Außenministern der Bundesrepublik Deutschland und der Italienischen Republik am 28.3.2009 eingesetzten deutsch-italienischen Historikerkommission, 2012, S. 131 (http://www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/633874/ publicationFile/175259/121219-DeuItalHistorikerkommission-Bericht.pdf). Hermann Frank Meyer, Blutiges Edelweiß. Die 1. Gebirgsdivision im Zweiten Weltkrieg, 1. Auflage Berlin 2007, S. 423. 40 000 tote Partisanen nach Giorgio Rochat, Appendice statistica e dati quantitavi. In: Enzo Collotti/Renato Sandri/Frediano Sessi (Hg.), Dizionario della resistenza , 2 Bände, Torino 2001, Band 2, S. 765–773, hier 773; 44 719 tote Partisanen nach Enciclopedia dell’Antifascismo e della resistenza, a cura di Pietro Secchia ed Enzo Nizza, 5 Bände, Milano 1968–1989, Band 1, S. 415 – ein altes und nicht unparteiisches Werk; 30 000 tote Partisanen und zwischen 10 000 und 15 000 ermordete Zivilisten nach der neusten Schätzung: Bericht der deutsch-italienische Historikerkommission, S. 92, 124. Vgl. außerdem Giuseppe Mayda, Storia della deportazione dall’Italia 1943–1945. Militari, ebrei e politici nei lager del Terzo Reich, Torino 2002, S. 85; Gerhard Schreiber, Deutsche Kriegsverbrechen in Italien. Täter, Opfer, Strafverfolgung, München 1996, S. 8; Friedrich Andrae, La Wehrmacht in Italia. La guerra delle forze armate tedesche contro la popolazione civile 1943–1945, Roma 1997; Lutz Klinkhammer, L’occupazione tedesca in Italia 1943–1945, Torino 1996; ders., Stragi naziste in Italia. La guerra contro i civili (1943–1944), Roma 1997, S. 15; Liliana Picciotto Fargion, Il libro della memoria: Gli ebrei deportati dall’Italia 1943–1945, Milano 1991, nennt 7 860 Opfer und die Namen von 10 689 Deportierten. Das noch nicht abgeschlossene Forschungsprojekt der ANED über die Namensverzeichnisse der politischen Deportierten kann bisher 23 826 Namen von Deportierten und 10129 Toten nennen: Brunello Mantelli/Nicola Tranfaglia (Hg.), Il libro dei deportati. Ricerca del Dipartimento di Storia dell’Università di Torino promossa da ANED – Associazione Nazionale ex Deportati, 3 Bände, Milano 2009, S. 2363, S. 2402–2403.

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Die Opferverbände von 1945 bis heute Nach dem Krieg erklärte die neue Republik Italien den Antifaschismus und den antifaschistischen Befreiungskampf der Partisanen zu ihren normativen Grundlagen. Die neuen Regierungsparteien und ihre Anführer hatten alle dem „Comitato di Liberazione Nazionale“ (CLN – Nationales Befreiungskomitee) angehört. Die Führungspersönlichkeiten Alcide De Gasperi (Christdemokrat), Pietro Nenni (Sozia­list), Giuseppe Saragat (Sozialdemokrat), Palmiro Togliatti (Kommunist) und Randolfo Pacciardi (Republikaner) waren alle Opfer des Faschismus gewesen und hatten gegen ihn gekämpft. Die erste Regierung nach der Befreiung wurde zunächst von dem Partisanenbefehlshaber Ferruccio Parri von der „Aktionspartei“ (Partito d’Azione) geleitet, der als Antifaschist zu einem Jahr Gefängnis und fünf Jahren Verbannung verurteilt worden war. Nach sechs Monaten wurde Parri von De Gasperi abgelöst. Außer den Parteiführern waren auch viele Abgeordnete ehemals politisch verfolgte Antifaschisten oder Verwandte von solchen, zum Beispiel die kommunistischen Brüder Giancarlo und Giuliano Pajetta und die beiden Söhne Giovanni Amendolas, Giorgio und Pietro, auch sie kommunistische Abgeordnete; ebenso Gianmatteo und Giancarlo Matteotti, Söhne von Giacomo Matteotti und für die Sozialdemokraten und die Sozialisten gewählt, bzw. der Sozialist Sandro Pertini. Für die erste Legislaturperio­de (1948–1953) wurde festgelegt, dass der Ersten Kammer (dem Senat) 97 bedeutende antifaschistische Persönlichkeiten als stimmberechtigte Senatoren angehören sollten, deren Mandat aber auf diese Legislatur beschränkt blieb. Am 21. Juni 1945 wurde das Ministerium zur Überwindung der Kriegsfolgen gegründet, das die Unterstützung all derer zur Aufgabe hatte, die wegen der Kriegsfolgen Hilfe benötigten. Dieses Ministerium bestand nur bis zum Februar 1947 und wurde abwechselnd von wichtigen Vertretern des Antifaschismus geleitet: zunächst von Emilio Lussu (sardische Aktionspartei), dann von Luigi Gasparotto („Demokratie und Arbeit“) und später vor allem von Emilio Sereni, einem führenden Intellektuellen der kommunistischen Partei. Sereni sprach sich dafür aus, die vorhandenen Mittel zur Arbeitsbeschaffung für Heimkehrer und Partisanen in Einzel- und Kollektivmaßnahmen einzusetzen. So gingen 500 Millionen Lire an Genossenschaften für den Ankauf von Materialien sowie zur Durchführung von Hunderten von Kursen zur Berufsausbildung. Er finanzierte außerdem sommerliche Erholungslager, Volksküchen für Heimkehrer und Partisanen, medizinische Behandlungsstätten usw., die von den Gemeinden, dem Partisanenverband ANPI (Associazione Nazionale Partigiani d’Italia – Nationale Vereinigung der Partisanen Italiens) und der Vereinigung italienischer Frauen (Unione Donne Italiane – UDI) betrieben wurden.14 Noch während des Kriegs hatten sich in den nach und nach von der NS-Herrschaft befreiten Gebieten verschiedene Vereinigungen von Partisanen und 14 Vgl. Giorgio Vecchio, Emilio Sereni – Un profilo (http://www.fratellicervi.it/content/view/ 59/83/).

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­ pfern des Faschismus und der nationalsozialistischen Besatzung gebildet. Die O wichtigste war der italienische Partisanenverband ANPI, der anfänglich alle Partisanen, darun­ter auch viele Nicht-Kommunisten, vertrat, aber der kommunistischen Partei nahestand. Sein Vorsitzender war von 1947 bis 2006 der kommunistische Partisanenführer Arrigo Boldrini, der vielfach für seine Teilnahme am Befreiungskampf ausgezeichnet wurde und von 1946 bis 1994 als Abgeordneter der kommunistischen Partei PCI (Partito Comunista Italiano – Italienische Kommunistische Partei, nach 1992 PDS) im Parlament saß.15 Der Schulterschluss der ANPI-Leitung mit der PCI und ihrer Politik – und damit mit der Politik der Sowjetunion – hatte zur Folge, dass beim ersten ANPI-Nationalkongress vom 6. bis 9. Dezember 1947 in Rom die einem solchem Bündnis abgeneigten Teile der ehemaligen Partisanen einen Trennungsstrich zogen. So entstanden die katholisch orientierte „Federazione Italiana Volontari della Libertà“ (FIVL – Italienischer Bund der Vorkämpfer für die Freiheit) aus Christdemokraten und Parteifreien und die „Federazione Italiana delle Associazioni Partigiane“ (FIAP – Italienischer Bund der Partisanenverbände) aus Sozialdemokraten, Republikanern, Anarchisten und Freiheitlichen. 1946 entstand die Vereinigung ehemaliger Lagerinsassen (Associazione Nazionale Ex Internati – ANEI), um vor allem jene ehemaligen Militärinternierten zu betreuen, die nach fast zwei Jahren im Gefangenenlager – viele von ihnen hatten unter unsäglichen hygienischen Bedingungen und Versorgungsschwierigkeiten Zwangsarbeit leisten müssen – oft mit schweren Krankheiten wie Tuberkulose und Hepatitis nach Hause kamen. Offiziell war die Vereinigung unabhängig, sie besaß jedoch eine vorwiegend katholisch-konservative Ausrichtung und sollte sich in der Folge der FIVL anschließen. Ihr erster Vorsitzender war Paride Piasenti, der für die Christdemokraten 1948 in das Parlament sowie 1958 und 1963 in den Senat gewählt wurde. Am 12. April 1948 wurde dieser Verband, nunmehr mit der Bezeichnung „Italienische Vereinigung ehemaliger Lagerinsassen – Vorkämpfer der Freiheit“ (kurz ANEI), vom Staat als Körperschaft mit eigener Rechtsfähigkeit anerkannt. Ein weiterer Verband ehemaliger Militärinternierter war die „Associazione Nazionale Reduci dalla Prigionia dall’Internamento e dalla Prigionia e Loro Familiari“ (ANRP – Italienische Vereinigung der Heimkehrer aus Gefangenschaft, Internierung und aus dem Befreiungskrieg, und ihrer Angehörigen). Die ANRP wurde am 1949 als Körperschaft mit eigener Rechtsfähigkeit anerkannt. Sie war parteipolitisch unabhängig, aber wie die ANEI gehörte sie der konservativ-katholischen Ausrichtung der italienischen Gesellschaft an.16 15 Vgl. Cesare De Simone, Gli anni di Bulow. Nel cinquantesimo della Repubblica la testimonianza di Arrigo Boldrini, Milano 1996. 16 Die Angaben über die Vereinigungen stammen aus den Berichten der Polizei, die nicht immer unparteiisch sind. Die Berichte befinden sich im Archivio centrale dello Stato, PS, G (1944–1986) Mappen 8–18 (ANPI), Mappen 23, 56 (ANRP), Mappe 128 (ANPPIA), Mappe 129 (ANEI), Mappe 63 (ANED), Mappe 218 (UCI) M.I.Gab. 1944–1946, Mappe 7–8 (UC).

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Anders als die Partisanen wurden die Militärinternierten, als sie 1945 nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs heimkehrten, ziemlich vernachlässigt.17 Für viele Italiener und Politiker waren sie die Vertreter eines geschlagenen Heeres. Einige Militärinternierte waren noch Monarchisten wie der bekannte Schriftsteller Giovannino Guareschi, Autor eines der ersten und bekanntesten Erinnerungswerke an die Gefangenschaft.18 Besonders die Kommunisten standen den Militärinternierten mit viel Skepsis gegenüber. So lehnte 1954 der Verlag der kommunistischen Partei (Editori Riuniti) die Veröffentlichung eines Buchs über das Schicksal der Militärinternierten aus der Feder des kommunistischen Intellektuellen und Abgeordneten Alessandro Natta ab, der selbst interniert gewesen war19 und 1984 Vorsitzender der PCI wurde. Sein Buch wurde erst 1997 veröffentlicht.20 Ein weiterer Verband, der eine wichtige Rolle spielen sollte, war die „Associazione Nazionale Ex Deportati“ (ANED – Italienische Vereinigung ehemaliger Deportierter) von Heimkehrern aus den NS-Konzentrationslagern, besonders Mauthausen, aber auch Dachau und Auschwitz-Birkenau. Ihr erster Vorsitzender war der Antifaschist, Partisan und Mauthausen-Heimkehrer Pietro Caleffi, der sozialistischer Abgeordneter und Staatssekretär wurde, ebenso wie ein anderer bedeutender Funktionär namens Francesco Albertini, der ebenfalls im KZ Mauthausen inhaftiert gewesen war. Der Verband tendierte zu den Sozialisten und der Linken, war aber parteiunabhängig. Die ANED ist heute die einzige Vereinigung, die alle aus politischen Gründen Deportierten vertritt; sie fordert auch mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die Aufarbeitung der Geschichte der Deportation. 2009 hat die ANED ein großes Forschungsprojekt zur biografischen Erfassung der italienischen politischen Deportierten gefördert.21 Tatsächlich bildeten sich in den italienischen Städten mit dem Rückzug der deutschen Truppen zahlreiche Opferverbände, sie waren aber zumeist nicht sehr bedeutend und bestanden nur kurze Zeit: So existierten 1945 in Neapel die umstrittene „Unione Nazionale Antifascista“ (Nationale antifaschistische Vereinigung), die „Associazione Vittime Politiche del Fascismo“ (Vereinigung politischer Opfer des Faschismus) und das „Comando Partigiani d’Italia“ (Italienisches Partisanenkommando). In Mailand gab es unter anderen im Dezember 1945 die „Unione Martiri Antifascismo“ (Vereinigung der Märtyrer des

17 Vgl. Luciano Zani, Il vuoto della memoria: I militari italiani internati in Germania. In: Pietro Craveri/Gaetano Quagliariello (Hg.), La seconda guerra mondiale e la sua memoria, Soveria Mannelli 2006, S. 127–152. 18 Giovannino Guareschi, Diario clandestino 1943–45, Milano 1949; posthum ist 2008 erschienen: Il grande diario: Giovannino cronista del Lager 1943–1945, Milano 2008. Dieses Buch berichtet nicht nur über die Tugenden der Mehrzahl von IMIs, sondern auch über die Schwächen und die Niederträchtigkeiten einiger weniger. 19 Zani, Vuoto, S. 138. 20 Alessandro Natta, L’altra resistenza. I militari italiani internati in Germania, Torino 1997. 21 Mantelli/Tranfaglia (Hg.), Libro.

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­ ntifaschismus). Vor allem in Mittel- und Norditalien bestanden zahlreiche OrA ganisationen ehemaliger kommunistischer Häftlinge unter dem Namen „Sesto braccio“ (6. Flügel, gemeint ist damit die Haftanstalt). Dies gilt auch für Rom, wo sich am 15. März 1944 die grauenhaften Repressalien der Nazis an den Ardeatinischen Gräben mit 335 Opfern als Folge des Attentats kommunistischer Partisanen in der Via Rasella abgespielt hatte. Der wichtigste dieser Opferverbände war die ANFIM (Associazione Nazionale delle Famiglie dei Martiri Caduti per la Libertà della Patria – Nationale Vereinigung der Familien der für die Freiheit des Vaterlandes gefallenen Märtyrer; später geändert in: Nationale Vereinigung der Familien der für die Freiheit des Vaterlandes Gefallenen). Die ANFIM war sogleich nach der Befreiung Roms, im Juli 1944, von Angehörigen der Opfer an den Ardeatinischen Gräben gegründet worden. Als erster Vorsitzender amtierte der bekannte Dichter Corrado Govoni, der einst dem Faschismus nahegestanden hatte, aber auch Vater eines der Opfer war. Sein Sohn, Aladino Govoni, Hauptmann der Armee, hatte als Partisan für die kommunistisch inspirierte, aber unabhängige Gruppierung „Rote Fahne“ gekämpft. Am 27. April 1947 wurde Amedeo Pierantoni Vorsitzender der ANFIM, Vater des Unterstabsarztes und Opfers an den Ardeatinischen Gräben, Luigi Pierantoni, der ebenfalls der Partisanengruppe „Rote Fahne“ angehört hatte. Die ANFIM war also ihrem Wesen nach von den politischen Kräften unabhängig und verbreitete sich durch die Eröffnung von Geschäftsstellen in fast allen Regionen Italiens. Ehrenvorsitzender wurde Umberto Tupini, ein führender konservativer Christdemokrat, der mehrmals Minister war. Unter den regionalen Geschäftsstellen sei besonders jene in Bellona (Kampanien) genannt, die stark katholisch geprägt war. Dort hatten Soldaten der Hermann-Göring-Division im Oktober 1943 ein schweres Massaker begangen, dessen Opfer mit einem Denkmal und jährlichen Erinnerungszeremonien geehrt werden.22 Die ANFIM setzte sich für Vergünstigungen und Hilfeleistungen zugunsten der Opfer ein, und das Kabinett dehnte auf Betreiben Tupinis am 3. Juli 1947 die bevorzugte Einstellung von Waisen und kriegshinterbliebenen Witwen in die öffentliche und private Verwaltung auch auf diesen Personenkreis aus. Auf das Engagement der ANFIM geht auch die Errichtung der Gedenkstätte der Märtyrer der Ardeatinischen Gräben als nationales Mausoleum für alle im Befreiungskampf Gefallenen zurück, das von Minister Tupini am 24. März 1949 eingeweiht wurde. Eine weitere Organisation war in Rom die „Federazione dei Sacrificati per la Libertà“ (Unabhängiger Bund der Hingebung für die Freiheit), die den Kommunisten nahestand, aber nur wenige Mitglieder besaß. Sie löste sich später auf und schloss sich der ANPPIA (Associazione Nazionale Perseguitati Politici Antifascisti – Nationale Vereinigung politisch verfolgter Antifaschisten) an. Ein

22 Vgl. Gabriella Gribaudi (Hg.), Terra bruciata. Le stragi naziste sul fronte meridionale: per un atlante delle stragi naziste in Italia, Napoli 2003, S. 368–370.

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anderer Verband war die „Unione fra i Licenziati in Roma dai Nazifascisti“ (Vereinigung der von Nazifaschisten in Rom um ihre berufliche Stellung Gebrachten). Dabei handelte es sich nicht um einen politischen Verband, sondern um eine Hilfsorganisation, die alle diejenigen erfassen wollte, welche während der Zeit der Faschisten und Nationalsozialisten vom 8. September 1943 bis 4. Juni 1944 in Rom aus ihren Stellungen in Ministerien, Körperschaften, verschiedenen Instituten, soweit unter staatlicher Kontrolle, verdrängt worden waren. Anscheinend haben 1947 alle Betroffenen ihre Stellen wiederbekommen, und der Verband löste sich auf. Wie aus Berichten einiger Mitglieder hervorgeht, schlossen sich manchen dieser Verbände auch ehemalige Faschisten an, die sich auf diese Weise Deckung verschaffen wollten, wie aber auch Personen, die nicht vom Faschismus verfolgt worden waren. Stark kommunistisch ausgerichtet war die ANPPIA, die eng mit der ANPI verbunden war. Sie entstand im Oktober 1946 als „Confederazione Nazionale Perseguitati Politici Antifascisti“. Auf dem ersten nationalen Kongress vom 7. bis 9. Oktober 1946 erfolgte der Zusammenschluss von verschiedenen linksorientierten Verbänden von Opfern des Faschismus und besonders derjenigen vom „6. Flügel“.23 Beim zweiten Kongress 1948 in Florenz wurde dann der Name ANPPIA angenommen. Die ANPPIA setzte sich gemäß ihrem Statut u. a. für die „Herbeiführung wirtschaftlicher Maßnahmen seitens der Regierung zugunsten der infolge faschistischer und nazifaschistischer Verfolgungen Behinderten und Versehrten“ ein, damit diese „eine angemessene und menschenwürdige Entschädigung“ erhielten. Außerdem drängte sie auf den Erlass einer Verordnung, welche die Rentenansprüche für arbeitsunfähige Invaliden und Kriegsversehrte sowie für Hinterbliebene regeln sollte. Darüber hinaus pflegte sie die Erinnerung an die Opfer der faschistischen Gewalt und veröffentlichte eine Buchreihe, die in späteren Jahren auch bedeutende historische Werke enthielt. Vorsitzender der ANPPIA war der Senator und einflussreiche Vertreter der kommunistischen Partei Umberto Terracini, der auch schon Präsident der verfassunggebenden Versammlung gewesen war. Er engagierte sich im Parlament mit Gesetzesvorlagen, die Maßnahmen zugunsten der Verfolgten und Opfer des Faschismus zum Inhalt hatten. Die ANPPIA trat dem „Internationalen Bund ehemaliger politischer Gefangener“ (FIAPP) bei, der in Warschau seinen Sitz hatte und von Moskau abhängig war. Dieser Bund nannte sich seit dem Kongress vom 27. Juni bis 3. Juli 1951 in Wien „Internationaler Bund der Kämpfer in der Widerstandsbewegung, der ehemaligen Gefangenen und der Opfer des Faschismus“ (FIR). Sein Vorsitzender war der Oberst Frédéric Henri Manhès, ebenfalls ein Kommunist. Die jüdischen Opfer wurden dagegen von der „Unione delle Comunità Israelitiche Italiane“ (UCII – Union der italienischen israelitischen Gemeinden) 23 Vgl. Maria Venturini, Antifascisti e vittime della guerra contro il riarmo e per un incontro dei 5 Grandi, Roma 1951; Enciclopedia dell’antifascismo e della resistenza, Band 1, S. 80 f.

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v­ ertreten, die seit 1930 alle in Italien bestehenden jüdischen Gemeinden umfasste und als Körperschaft mit eigener Rechtsfähigkeit anerkannt war. Ab 1987 hieß sie dann „Union jüdischer Gemeinden in Italien“ (UCEI). Vom 26. März 1946 bis 1951 wirkte als Vorsitzender der UCII Raffaele Cantoni, eine bedeutende zionistische Persönlichkeit. Er war als Antifaschist in das Internierungslager Urbisaglia (Marken) verbannt worden, aus dem er entkam, wiedergefasst wurde und erneut floh. Ab 1943 engagierte er sich sehr in der Hilfs- und Unterstützungsorganisation für jüdische Flüchtlinge (DELASEM), die bis zum 8. September 1943 eine Zulassung von der faschistischen Regierung hatte und danach mit inoffizieller Unterstützung der Kirche und des Vatikans im Untergrund weiterarbeitete. Als Vorsitzender der UCII und auch später setzte sich Cantoni intensiv für eine Wiedergutmachung der Schäden ein, welche die Juden durch die rassistischen Verfolgungen erlitten hatten, und war erfolgreich darum bemüht, dass in die Verfassung der neuen Republik Italien die Zusicherung der völligen Gleichberechtigung der Juden und ihrer freien Religionsausübung aufgenommen wurde. Obwohl er die Möglichkeit gehabt hätte, sich schon bei den Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung 1946 in das Parlament wählen zu lassen, lehnte Cantoni dies ab, um die Unabhängigkeit seiner Organisation nicht in Zweifel geraten zu lassen.24 Wie die ANEI und die ANRP sprach er sich auch gegen die Aufforderung der ANPPIA zum Protest gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik aus und unterhielt gute Beziehungen zu De Gasperi. Er verteidigte zudem den verstorbenen Papst Pius XII., als dieser 1964 in dem Theaterstück „Der Stellvertreter“ von Rolf Hochhuth wegen seines Schweigens zum Holocaust schwer kritisiert wurde.

Der Umgang mit den Opfern nach dem Ende der Diktatur und des Zweiten Weltkriegs bis heute Trotz allen Einsatzes, vor allem seitens der Linken und der kommunistischen Partei, kamen doch nur wenige konkrete gesetzliche Maßnahmen zugunsten der Opfer des Faschismus zustande. Dazu trug bei, dass sich seit 1947 mit dem Ausschluss der Kommunisten und Sozialisten aus der Regierung, dem Zerbrechen der antifaschistischen Front und dem Ausbruch des Kalten Kriegs zwischen West und Ost das politische Klima in Italien veränderte. Nach der Niederlage des Faschismus und der Nationalsozialisten und galten nun der Kommunismus und die Sowjetunion als die größten Bedrohungen der Demokratie. Die neuen Machthaber in Italien waren überzeugte Antifaschisten und in vielen Fällen selbst Verfolgte und ehemalige Kämpfer gegen den Faschismus, darunter z. B. De Gasperi, Sforza, Pacciardi und Saragat, die zugleich entschiedene Antikommunisten waren. 24 Zur Biografie von Raffaele Cantoni vgl. Sergio Minerbi, Un ebreo fra D’Annunzio e il sionismo: Raffaele Cantoni, Roma 1992.

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So wurde das Problem der Opfer des Faschismus zweitrangig. Vielmehr wurden seit 1948 sogar 830 Gerichtsverfahren gegen kommunistische Partisanen durchgeführt, die Verbrechen begangen hatten, besonders nach der Befreiung: Einige hatten persönliche Racheakte verübt, summarisch Faschisten umgebracht, gewöhnliche Verbrechen begangen und auch Großgrundbesitzer, christdemokratische Partisanen und Priester getötet. Das geschah vor allem im sogenannten roten oder Todesdreieck in der Emilia Romagna. In dieser Gegend waren die kommunistischen Partisanen sehr stark, und einige von ihnen erhofften sich den Ausbruch einer kommunistischen Revolution wie in Russland. Jedenfalls sind wohl an die 10 000 Faschisten während des Kriegs und nach seinem Ende von kommunistischen Partisanen ohne Verfahren getötet worden. Diese Zahl wird von den Neofaschisten heftig bestritten, die von mindestens 30 000 Opfern sprechen, aber man kann auch die Angabe von nur 2 000 Opfern lesen.25 Nach Kriegsende gab es rund 30 000 Gerichtsverfahren gegen Faschisten, von denen viele mit einem Freispruch endeten. Zudem wurde am 22. Juni 1946 eine Amnestie verkündet, die für die große Mehrzahl der verurteilten Faschisten die Freilassung brachte.26 Das Umschlagen des politischen Klimas, der durch den großen Wahlsieg der christdemokratischen Partei und der antikommunistischen Kräfte der Mitte am 18. April 1948 eindrücklich bestätigt wurde, und die Verurteilung der von den kommunistischen Partisanen nach Kriegsende durchgeführten summarischen Hinrichtungen in der öffentlichen Meinung erklären, weshalb die ersten gesetzlichen Maßnahmen vor allem den Kriegsopfern, Soldaten wie Zivilisten, zugute­ kamen, nicht aber speziell den Opfern der Diktatur. Dank der Initiative der ANEI galt das Gesetz vom 10. August 1950 auch für die Militärinternierten und andere Opfer, die durch das „Wirken von feindlichen Kräften“ zu Schaden gekommen waren. Es bestimmte nämlich, dass „Renten, Anweisungen und Kriegsentschädigungen gewährt werden bei Todes- oder Invaliditätsfolgen auch aus Entbehrungen, Folter oder Misshandlungen während einer Internierung im Ausland, oder wenn sie jedenfalls wegen des Wirkens von feindlichen Kräften erduldet wurden“.27 Es wurde also nicht den von Terracini im Parlament eingebrachten Vorschlägen entsprochen, mittels Gesetzen, Renten für die Opfer des italienischen Faschismus zu beschließen. 25 Hans Woller, I conti con il fascismo. L’epurazione in Italia 1943–1948, Bologna 1997, S. 387–391. Rochat nennt 10 000, maximal 12 000 faschistische Opfer nach Kriegsende. Rochat, Statistica, S. 773. 26 Vgl. Woller, Conti, S. 533–559. Die Verfahren gegen deutsche Soldaten wegen Kriegsverbrechen wurden nach 1950 praktisch eingestellt (und erst 1994 wieder aufgenommen). Der Grund war, dass die italienischen Behörden der verbündeten Bundesrepublik Deutschland und der deutschen Wiederbewaffnung nicht schaden wollten, vgl. Mimmo Franzinelli, Le stragi nascoste. L’armadio della vergogna: impunità e rimozione dei crimini di guerra nazifascisti 1943–200, Milano 2003, S. 123–133. Andere Autoren glauben auch, dass Italien keinen Anlass zur Auslieferung von italienischen Kriegsverbrechern geben wollte (Berichte, S. 14). 27 Legge n. 648 vom 10.8.1950 (http://www.isfol.it).

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Jedoch hatte auch die ANPPIA ihre Aufgabe, ein Verband der Opfer zu sein, überschritten, indem sie sich in den Dienst der Sowjetpropaganda stellte und sich unter anderem massiv gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik engagierte. Diese galt ihr als Verschwörung gegen den Frieden, weil sie angeblich ausgerechnet jene Folterknechte aus den Konzentrationslagern wieder an die Macht bringe, die bewaffnet noch gefährlicher seien, weil sie nach Rache und Revanche dürsteten. Es sei deshalb die Pflicht der Opferverbände, gegen die Wiederbewaffnung mobilzumachen. Entsprechend heftig kritisierte die ANPPIA auch die ANEI, die sich an dieser Kampagne nicht beteiligte. Die ANPPIA beklagte auch, dass viele Antifaschisten noch immer Schwierigkeiten hätten, eine Arbeit zu bekommen, weil sie als vorbestraft gälten, und stellte kostenlose Anwaltshilfe für sozialistische und kommunistische Sympathisanten, die sich von der Polizei oder anderen Behörden zu Unrecht verfolgt fühlten. Nach Auffassung des kommunistischen Senators Pietro Secchia handelte es sich dabei um ungerechte und skandalöse Angriffe der Regierung auf die Partisanen und ihre Geschichte.28 Ende 1953 besaß die ANPPIA nach Angaben des Polizeipräsidiums von Rom noch 25 000 eingetragene Mitglieder, die aber in vielen Fällen keine politisch Verfolgten des Faschismus waren, sondern wegen krimineller Delikte ins Gefängnis gekommen seien und sich nunmehr als Verfolgte ausgeben würden. Erst im Herbst 1954 wurde im Senat die vom ANPPIA-Vorsitzenden Umberto Terracini und den Sozialisten eingebrachte Gesetzesvorlage behandelt, die Unterstützungsmaßnahmen für die aus politischen und rassischen Gründen Verfolgten und für deren Verwandte, falls Bedürftigkeit gegeben war, vorsah. Das Gesetz wurde am 10. März 1955 unter dem Namen „Versorgungsmaßnahmen für die wegen Antifaschismus oder aus rassischen Gründen politisch Verfolgten und ihre hinterbliebenen Familienangehörigen“ verkündet.29 Es sah die Gewährung einer Rente an all diejenigen vor, die aus politischen Gründen zu Gefängnis oder Verbannung verurteilt worden waren oder körperliche Schäden davongetragen hatten, sowie an all jene, die nach der Hinwendung des Faschismus zum Rassismus, d. h. nach dem 7. Juli 1938, aufgrund ihrer „Rassenzugehörigkeit“ Verfolgungen erleiden mussten. Wenn diese politischen oder rassebedingten Verfolgungen zum Tode geführt hatten, stand die Rente den Familienangehörigen zu. Die Waisen dieser Opfergruppen wurden in jeder Hinsicht den Kriegswaisen gleichgestellt. Wie die Historiker Lutz Klinkhammer und Filippo Focardi herausgearbeitet haben, war die Rente jedoch marginal; sie machte nur einen Posten von 100 Millionen Lire im Staatshaushalt aus.30

28 Pietro Secchia, La resistenza accusa. Discorso tenuto al Senato della Repubblica il 28 ottobre 1949, Roma 1949; auch in Pietro Secchia, La resistenza accusa (Sammlung von Artikeln und Reden), Milano 1973, S. 66–96. 29 Gazzetta Ufficiale Serie Generale, n. 70 vom 26.3.1955 (http://www.gazzettaufficiale.it). 30 Vgl. Filippo Focardi/Lutz Klinkhammer, Wiedergutmachung für Partisanen? Das deutsch-italienische Globalabkommen von 1961. In: Hans Günter Hockerts/Claudia

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Aufgrund der Beschwerden der Opferverbände wurde die Leistung schließlich mit dem Gesetz Nr. 1317 vom 8. November 1956 auf einen Gesamtbetrag von 150 Millionen Lire erhöht. Was jedoch die italienische Regierung und auch die Opferverbände vor allem erreichen wollten, war die Erlangung einer Wiedergutmachung von Deutschland, hatte es doch die übergroße Zahl der Opfer während der deutschen Besatzung von 1943 bis 1945 gegeben. Auch die Vereinigung der israelitischen Gemeinden verlangte, dass die italienische Regierung sich wegen der Wiedergutmachung an die Bundesrepublik wenden sollte. Die ANED unter Caleffi und Albertini und die ANEI übernahmen es, die italienische Regierung in diese Richtung zu drängen. Piasenti war zwar 1953 nicht mehr ins Parlament gewählt worden, aber 1958 wurde er als Senator wiedergewählt. Piasenti besaß gute Beziehungen zu dem christdemokratischen Staatssekretär im Außenministerium, Carlo Russo, der wiederum dem christdemokratischen Politiker Antonio Segni sehr nahe stand, der zu der Zeit öfter als Ministerpräsident oder Außenminister amtierte. Piasenti wurde außerdem Vorsitzender der „Fédération Internationale Libre des Déportés et Internés de la Résistance“ (FILDIR – des Freien Internationalen Bundes der Deportieren und Internierten der Widerstandbewegung). Besonders die Opferverbände hielten die anfänglich von der deutschen Regierung vorgeschlagene Summe von nur zehn Millionen DM für absolut unzureichend. Die ANED besorgte auch Aufstellungen aus ihren regionalen Organisationen, in welchen die bekannten Namen der Deportierten verzeichnet waren, die nicht Militärinternierte gewesen waren. Von ihnen hatten 1 700 Personen die Lager überlebt, während die Zahl der Toten mit 15 660 angegeben wurde.31 Am 3. März 1961 begannen in Bonn direkte deutsch-italienische Verhandlungen über ein entsprechendes Abkommen. Der italienischen Delegation gehörte als Vertreter aller drei Verbände Rechtsanwalt Enrico Ciantelli, Mitglied im Leitungsorgan der ANEI, an. Am Ende einigte man sich auf 40 Millionen DM. Das Abkommen wurde in Bonn am 2. Juni 1961 von dem italienischen Botschafter Pietro Quaroni, Staatssekretär Karl Carstens und Staatssekretär Ludger Westrick unterzeichnet; als Vertreter der Opferverbände waren anwesend: Ciantelli (ANEI), Albertini (ANED) und Fritz Becker (UCII).32 Das Abkommen sah vor, dass die Bundesrepublik die Entschädigungssumme „einen Monat nach Inkrafttreten dieses Vertrags zur Verfügung“ stellt und dass „die Art der Verwendung des Betrags zugunsten des vorbezeichneten Personenkreises [...] dem Ermessen der Regierung der Italienischen Republik überlassen“

Moisel/Tobias Winstel (Hg.), Grenzen der Wiedergutmachung. Die Entschädigung für NS-Verfolgte in West- und Osteuropa 1945–2000, S. 458–512, hier 462. 31 Focardi/Klinkhammer, Wiedergutmachung, S. 478. Die ANED ging von einer großen Dunkelziffer von Deportierten und Verstorbenen aus. 32 Vgl. Christian Vordermann, Deutschland-Italien 1949–1961. Die diplomatischen Beziehungen, Frankfurt a. M. 1994, S. 97; La Stampa vom 3.6.1961.

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bleibt.33 Die Ratifizierungsverhandlungen zogen sich dann jedoch in die Länge. Erst am 6. Februar 1963 wurde seitens der italienischen Regierung das Gesetz über Ratifizierung und Durchführung des „Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Italienischen Republik über Leistungen zugunsten italienischer Staatsangehöriger“ verkündet. Das Gesetz legte fest, dass die Entschädigung nur italienischen Staatsbürgern zugutekommen sollte, die aus Gründen der Rasse, ihres Glaubens oder der politischen Überzeugung deportiert worden waren. Obwohl im Dezember 1963 erstmals eine Mitte-links-Regierungskoalition aus Christdemokraten, Nenni-Sozialisten, Sozialdemokraten und Republikanern zustande kam und den von Aldo Moro geleiteten Mitte-links-Regierungen bis Juni 1968 auch der Vorsitzende der ANED Pietro Caleffi (Staatssekretär im Bildungsministerium) und Francesco Albertini von der ANED (Staatssekretär im Schatzministerium) angehörten, setzte die Regierung erst am 9. Mai 1964 eine Kommission zur Festlegung der Wiedergutmachung ein. Aufgrund großer bürokratischer Komplikationen – nicht zuletzt, weil erst Hunderttausende von Wiedergutmachungsansprüchen gesammelt werden mussten – trat die Kommission jedoch erst zwei Jahre später, am 8. Juli 1966, zu ihrer ersten Sitzung zusammen. Sie bestand aus acht Mitgliedern, darunter die Vertreter der drei großen Opferverbände ANED, ANEI und UCII. Bezeichnenderweise vertrat der kommunistische Senator Gianfranco Maris die ANED, heute deren Vorsitzender, eine bedeutende Persönlichkeit des Antifaschismus und des Widerstandes, angesehener Strafverteidiger und als Partisan nach Mauthausen deportiert. Maris handelte als Generalbevollmächtigter des Vorsitzenden Caleffi, der als Regierungsmitglied der Kommission nicht angehören konnte. Weitere Mitglieder der Kommission waren ihr Vorsitzender Francesco Felici, Oberstaatsanwalt am Landgericht von Perugia, Lamberto Calpicchio, Sekretär der Kommission, Ernesto Bolasco als Vertreter des Außenministeriums, Elia Dionigi als Vertreter des Schatzministeriums, Brigadegeneral Pietro Porrazzo als Vertreter des Verteidigungsministeriums, der Vorsitzender der ANEI Paride Piasenti und der Vorsitzende der UCII Sergio Piperno Beer.34 Man kann sagen, dass in der Kommission die Einheit der antifaschistischen Kräfte wie einstmals im Nationalen Befreiungsausschuss CLN wiedererstanden war – unter Einschluss auch der Kommunisten, obwohl diese ja in Opposition zur Mitte-links-Regierung standen. Die Kommission hatte in nur acht Monaten die Anträge von 330 000 Opfern oder ihrer Nachfahren zu bearbeiten, die sich alle die Zahlung einer Wiedergutmachung erhofften. Die Mitglieder der Kommission beschränkten sich jedoch auf die Fälle der Opfer von Vernichtungslagern, also besonders auf die Juden,

33 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Italienischen Republik über Leistungen zugunsten italienischer Staatsangehöriger, die von nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen betroffen worden sind (BGBl., Teil II, Nr. 22 vom 5.6.1963, S. 793–794, hier 793). 34 Vgl. Focardi/Klinkhammer, Wiedergutmachung, S. 509.

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sowie auf die aus politischen Gründen Verfolgten und musste deshalb fast alle Militärinternierten ausschließen. Von Letzteren konnten nur wenige, wenn sie z. B. in Straflagern festgehalten worden waren, eine Wiedergutmachung bekommen. Darunter befanden sich einige Hundert antifaschistische Offiziere, die bei Razzien gefasst worden waren, 2 200 Militärgefangene in Peschiera, 3 000 Militärinternierte, die zwangsweise in ein KZ oder Straflager verbracht worden waren – in Lager für Personen, die aus politischen oder rassischen Gründen deportiert wurden, darunter über 900 Offiziere, 374 davon in das Straflager von Köln, die einer ideologischen Widerstandshaltung, der Sabotage, des Fluchtversuchs sowie schwerwiegender Zuwiderhandlungen etc. beschuldigt worden waren.35 Nach Berechnungen von Lutz Klinkhammer und Filippo Focardi lehnte die Kommission 278 400 Anträge ab; 30 720 wurden positiv beschieden und 17 280 für zweifelhaft erklärt. Die Namen der Wiedergutmachungsempfänger wurden sodann im „Supplemento ordinario alla Gazzetta Ufficiale“ (Ordentlicher Anhang zum Gesetzblatt) Nr. 130 vom 22. Mai 1968 veröffentlicht. Viele Militärinternierte blieben jedoch unberücksichtigt, unter ihnen Rechtsanwalt Ciantelli, der mit zahlreichen Klageerhebungen Wiedergutmachung von der deutschen Regierung zu erreichen suchte. Denselben Weg schlug auch die andere Interessenvertretung von Heimkehrern ein, die bis dahin kaum hervorgetreten war: die 1949 entstandene ANRP. Sie sollte die ANEI als hauptsächliche Vertretung der Militärinternierten verdrängen und bot viele Anwälte auf, um ehemalige Militärinternierte in Prozessen gegen die deutsche Regierung zu vertreten, die jedoch erfolglos blieben. Dies galt besonders, als die Bundesregierung im Jahr 2000 mit der Gründung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) für die Wiedergutmachung an den Zwangsarbeitern des Dritten Reichs auch die Möglichkeit einer Wiedergutmachung für alle Militärinternierten durchblicken ließ, sie dann aber 2001 definitiv ablehnte.36 Die ANRP wandte sich deshalb erfolglos an das Bundesverfassungsgericht, an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.37 Nach dem bitteren Urteil des ehemaligen Militärinternierten Claudio Sommaruga wurden die Militärinternierten „verraten, verachtet, vergessen [...] und von Deutschland und Italien verspottet“.38 Völlig entgegengesetzter Ansicht als die ANRP ist dagegen der gegenwärtige Vorsitzende der ANEI, Rechtsanwalt

35 Vgl. http://lombardia.anpi.it/media/blogs/lombardia/2012–01/Memoria_e_Libertacata nia_NunzioDiFrancesco_Parte1.pdf. 36 Vgl. Il libro bianco dell’ANRP (http://www.anrp.it/_altre_pubblicazioni.htm#libro_bianco); Gabriele Hammermann, Le trattative per il risarcimento degli internati militari italiani 1945–2007. In: Italia Contemporanea, 249 (2007), S. 541–557. An den Verhandlungen mit Vertretern der Stiftung EVZ und der deutschen Regierung nahmen nicht nur der Vorsitzender der ANRP, sondern auch der damalige Vorsitzende der ANEI General Dr. Max Giacomini teil. Vgl. Il libro bianco dell’ANRP, S. 83. 37 Vgl. Hammermann, Trattative, S. 552. 38 Sommaruga, Una storia affossata, S. 28 f.

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Raffaele Arcella, ein ehemaliger Armeeoffizier und Militärinternierter. Er stellt das schwere Leid der Militärinternierten, über das er selbst wie viele andere Heimkehrer in einem autobiografischen Bericht Zeugnis abgelegt hat, nicht in Abrede; er ist aber der Auffassung, dass sich die Militärinternierten mit den Kriegsteilnahmerenten (und den Zuschlägen bei zunehmendem Alter) und den anderen Anerkennungen, die sie von der italienischen Regierung empfangen, begnügen sollten, ohne weitere Forderungen zu stellen.39 Bezeichnend ist auch, dass sich die ANEI seit Ende der 1960er-Jahre praktisch nur noch mit sozialen Eingliederungsmaßnahmen befasst, wie z. B. für die armen Kinder und Straßenjungen in Neapel, die „scugnizzi“, und natürlich mit Kampagnen und Publikationen zur Erinnerung an das Schicksal und die Opfer der Militärinternierten sowie der Organisation von Besichtigungsreisen in die Lager.40 1965 ließ die ANED ein kleines Museum zu den Internierungen errichten, das 1995 und 2001 stark erweitert wurde. Dieses Museum sammelt wichtige Erinnerungen und Dokumente und besitzt eine wertvolle Bibliothek. Der derzeitige Vorsitzende der ANEI, Rechtsanwalt Arcella – ein Bruder kämpfte bei den Partisanen, der andere wurde während des Vier-Tage-Aufstands in Neapel verhaftet und kam mit 19 Jahren im KZ Mauthausen zu Tode – schrieb vor Kurzem: „Eine eventuelle Verletzung der Genfer Konvention seitens der Gewahrsamsmacht hätte Gegenstand von Verhandlungen zwischen den beiden Regierungen sein müssen, ohne Beitritt der von der Verletzung betroffenen Opfer. Ein Scheitern der Verhandlungen zwischen den beiden Staaten hätte eine Lösung durch eine internationale Instanz nötig gemacht, aber niemals ein Tätigwerden einzelner Betroffener erlaubt. Dies war, ist und wird immer meine Ansicht sein, die durch keine Beeinflussung geändert werden kann, und ich habe immer vertreten, was das Verhalten des italienischen Verbands ehemaliger Internierter bestimmt hat, die stets ihren Grundsätzen treu geblieben sind: vergeben, nicht hassen, nicht vergessen.“41 Die Militärinternierten erhielten das Kriegsverdienstkreuz, die Anerkennung als Vorkämpfer der Freiheit und die Ehrenurkunde an die Kämpfer für die Freiheit Italiens. 2006 verfügte der italienische Staat, dass allen Militärinternierten vom Staatspräsidenten oder in seiner Vertretung von den Regierungspräsidenten eine Ehrenmedaille verliehen wird. Das Verdienst für diesen Schritt wird vor allem der ANRP zugerechnet. Auch wenn das Schicksal der Militärinternierten früher wenig Beachtung fand, so wird es heute ebenso hoch geschätzt wie die Opfer all der anderen, die der Barbarei der Nazis und Faschisten Widerstand geleistet haben.

39 Raffaele Arcella, La mia vita concentrazionaria. Frammenti, Napoli 2013. 40 Vgl. Vittorio Emanuele Giuntella, L’attività dell’ANEI per la storia degli internati italiani. In: Istituto Storico della Resistenza in Piemonte (Hg.), Una storia di tutti. Prigionieri, internati, deportati italiani nella seconda guerra mondiale, Milano 1989, S. 51–55; Paride Piasenti (Hg.), Il lungo inverno del Lager, Roma 1976. 41 Arcella, La mia vita concentrazionaria, S. 115.

Der Umgang mit den Opfern des Nationalsozialismus in Deutschland nach 1945 Constantin Goschler Der Umgang mit den Opfern des Nationalsozialismus war in Deutschland in besonderer Weise von den Folgen des Zweiten Weltkriegs und der militärischen Niederlage des Deutschen Reichs geprägt. Bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 hielten die alliierten Besatzungsmächte nicht nur die politischen Geschicke des in vier Besatzungszonen aufgeteilten Deutschlands in ihren Händen, sondern bestimmten auch die Grundprinzipien, nach denen NS-Opfer behandelt werden sollten. Die grundsätzliche Frage, wer überhaupt als NS-Opfer zu betrachten sei, war dabei von den jeweiligen Auffassungen vom Wesen der nationalsozialistischen Herrschaft abhängig. Der westlichen, liberalen Auffassung zufolge hatte der Nationalsozialismus vor allem die individuelle Freiheit und die Bürgerrechte verletzt. In sowjetischer Sicht hingegen hatte der als Erscheinungsform des Monopolkapitalismus verstandene Fa­schismus vor allem die Zerstörung der kommunistischen Arbeiterbewegung betrieben. Dementsprechend unterschieden sich auch die Herangehensweisen an die NS-Opfer in den drei westlichen und der sowjetischen Besatzungszone, zumal mit dem unterschiedlichen Blick auf die nationalsozialistische Vergan­ genheit auch jeweils ein unterschiedlicher Blick auf Gegenwart und Zukunft verbunden war: Während der westliche Ansatz im Zeichen des Kalten Kriegs schon bald die Sowjetunion als neue totalitäre Bedrohung entdeckte, galt es im Zeichen des Antifaschismus vor allem, den Kapitalismus als die Wurzel allen Übels zu bekämpfen. Auch nach der Gründung der beiden deutschen Staaten blieben dies zunächst die grundsätzlichen Determinanten. Die DDR gründete ihr Selbstverständnis auf den antifaschistischen Widerstandskampf, als dessen legitimer Erbe sie sich darstellte, und dementsprechend richtete sich der Blick auch nicht in erster Linie auf die Opfer des Faschismus, sondern auf die Kämpfer gegen ihn. Nirgendwo kommt dies besser zum Ausdruck als im 1958 eingeweihten Nationaldenkmal Buchenwald, das die DDR als einen antifaschistischen Phönix aus der Asche der getöteten Widerstandskämpfer versinnbildlichte. Die kommunistischen Wider­ standskämpfer in der DDR wurden auf diese Weise mitunter zu Ikonen, die mit ihrer persönlichen Aura die Legitimität der politischen und sozialen Ordnung der DDR verbürgen sollten. In der Bundesrepublik herrschte dagegen ein kompliziertes und wechselhaftes Spannungsverhältnis zwischen den Opfern des

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Nationalsozialismus und den Opfern des Kriegs im weiteren Sinne – worunter sich maximal alle Deutschen verstehen konnten.

Konjunkturen des Umgangs mit den Opfern Eingelagert in diesen großen Gegensatz zwischen NS-Opfern und Kriegsopfern, der teils zu Überwölbungsversuchen, teils zu Konkurrenzen führte, waren wiederum Veränderungen im Verhältnis verschiedener Gruppen der NS-Opfer. Während der antifaschistische Universalismus in Westdeutschland von Anfang an einen schweren Stand hatte, dominierte hier zunächst vor allem der Bezug auf den Universalismus der „Menschheit“ – und dem wurden anfänglich auch die jüdischen Opfer untergeordnet, wie sich an den frühen Bearbeitungen des „Tagebuchs der Anne Frank“ studieren lässt.1 Erst im letzten Jahrzehnt der alten Bundesrepublik begann sich dies zu ändern, denn nun trat – nicht zuletzt auch als Reaktion auf die 1979 ausgestrahlte Fernsehserie „Holocaust. Die Ge­schichte der Familie Weiß“ – die Vernichtung der Juden als besonderes Schicksal stärker hervor. Zugleich wurden seither, gewissermaßen im Gegenzug, die sogenannten „vergessenen Opfer“, bei denen es sich vor allem nicht um Juden handelte, öffentlich intensiv thematisiert. An die Stelle des bisherigen universalistischen Versuchs, ein gemeinsames Opferschicksal einer gequälten Humanitas zu konstruieren, trat nun zunehmend die Praxis einer partikularistischen Iden­ ti­tätspolitik, die den historischen Opferstatus zum Movens der Aner­ken­nung aktuell diskriminierter Minderheiten vereinnahmte. Dazu gehörten etwa Sinti und Roma, Homosexuelle und andere mehr. Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten endete zwar einerseits der doppelte Pfad, der beim Umgang mit den NS-Opfern beschritten worden war. Dafür trat eine neue Dimension hinzu, nämlich der Gegensatz von Opfern des Nationalsozialismus und SED-Opfern. Einerseits ging es Letzteren darum, nicht im Schatten der NS-Opfer als „Opfer zweiter Klasse“ abgestempelt zu werden.2 Andererseits wurden diese mitunter zum Gegenstand eines politischen Deu­tungskampfs, bei dem es darum ging, ob nationalsozialistische und kommunistische Verbrechen letztlich auf einer Stufe stünden oder ob die nationalsozialistischen Verbrechen vor allem an den Juden die Spitze einer Verbrechensskala des 20. Jahrhunderts darstellten. Diese akademische Debatte ließ sich allerdings auch auf eine tagespolitische Ebene herunterbrechen, etwa in der Auseinan­dersetzung mit postkommunistischen Parteien. Dominierte

1 2

Vgl. Hanno Loewy, Das gerettete Kind. Die „Universalisierung“ der Anne Frank. In: Stephan Braese/Holger Gehle/Doron Kiesel (Hg.), Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust, Frankfurt a. M. 1998, S. 19–41. Vgl. Ulrike Guckes, Opferentschädigung nach zweierlei Maß? Eine vergleichende Unter­ suchung der gesetzlichen Grundlagen der Entschädigung für das Unrecht der NS-Diktatur und der SED-Diktatur, Berlin 2008.

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nach 1990 zunächst der Eindruck, dass der Nationalsozialismus nun zur diktatorischen Vor­vergangenheit degradiert werde, so bestätigte sich diese Erwartung auf lange Sicht nicht. Doch nahm die Aufmerksamkeit für die nationalsozialistische Vergangenheit nun eine veränderte Gestalt an: An die Stelle der bundesrepublikanischen Kultur der „Vergangenheitsbewältigung“, wie sie sich seit den 1960er-Jahren entwickelt hatte, trat immer mehr „Erinnerungskultur“. Es ging also nicht mehr in erster Linie um die Faktizität der opfererzeugenden Vorgänge, sondern vor allem um den Gebrauch und die Vergegenwärtigung der Vergangenheit.3 Die Auswirkungen des zunehmenden zeitlichen Abstands zum National­sozialismus betrafen aber auch die NS-Opfer, die seit den 1990er-Jahren immer mehr im Schatten der Erwartung ihres bevorstehenden biologischen Endes standen. In dieser Situation entstand die auratische Figur des „Zeitzeugen“,4 die vor allem NS-Opfer – bezeichnenderweise nun oftmals als „Überlebende“ tituliert – einschloss, aber wiederum auf alle möglichen Gruppen ausgedehnt werden konnte. Und so wurde und wird seit der Jahrtausendwende die alte Frage nach dem Verhältnis der NS-Opfer zu den „Opfern des Kriegs“ mit erneuter Inten­sität diskutiert.

Opferverbände und gesellschaftliche Debatte Der grenzüberschreitenden Natur des nationalsozialistischen Kriegs und Ter­ rors entsprechend, waren die NS-Opfer und ihre Organisationen über ganz Europa und darüber hinaus verbreitet. Dagegen konzentrierte sich die deutsche Aufmerksamkeit für die NS-Opfer lange Zeit vor allem auf jene, die entweder nach dem Krieg in Deutschland lebten oder aufgrund der Verfolgung aus dem Deutschen Reich emigriert waren. Nach dem Kriegsende organisierten sich zunächst vor allem die politisch Verfolgten, oftmals auf der Grundlage von Lagergemeinschaften ehemaliger Häftlinge. Dass die politisch Verfolgten organisatorisch häufig dominierten, hatte verschiedene Gründe: Zum Ersten entsprach es ihrem Selbstverständnis, aus dem gegen das NS-Regime geleisteten Widerstand einen Anspruch auf politische Führung abzuleiten. Hinzu kam die Tradition und das Know-how politischer Organisation und nicht zuletzt die Tatsache, dass die ins Ausland emigrierten politisch Verfolgten – anders als die emigrierten rassistisch verfolgten Juden – nach 1945 in der Regel nach Deutsch­ land zurückkehrten, da sie zumeist noch über soziale und politische Anknüp­ fungspunkte verfügten.5

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Vgl. Michael Jeismann, Auf Wiedersehen Gestern. Die deutsche Vergangenheit und die Politik von morgen, München 2001, S. 73. Vgl. Norbert Frei/Martin Sabrow (Hg.), Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttin­ gen 2012. Vgl. etwa Cordula Lissner, Den Fluchtweg zurückgehen. Remigration nach Nordrhein und Westfalen 1945–1955, Essen 2006.

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Zur wichtigsten Organisation der NS-Verfolgten wurde vorübergehend die von politisch Verfolgten geleitete „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN), die den Anspruch erhob, alle NS-Opfer zu vertreten, und so zählte anfänglich beispielsweise auch Konrad Adenauer zu ihren Mitgliedern.6 Die ursprünglich gesamtdeutsch ausgerichtete VVN geriet jedoch im Zeichen des Kalten Kriegs sowohl in West- als auch in Ostdeutschland bald in Schwie­rigkeiten: Im Westen wurde sie zunehmend als kommunistische Vorfeld­organisation betrachtet, und bereits 1948 beschloss die SPD die Unvereinbarkeit der Mitgliedschaft in beiden Organisationen. Seit Beginn der 1950er-Jahre wurde die VVN dann in die gegen Kommunisten ergriffenen Staats­schutz­maß­nahmen einbezogen, sodass die VVN-Mitgliedschaft für die Mitglieder zu erheblichen Schwierigkeiten führte. Dieser Druck verstärkte am Ende aber nur noch die ihr unterstellte Abhängigkeit von der DDR.7 Dort geriet die VVN allerdings aus anderen Gründen Anfang der 1950er-Jahre gleichfalls in Bedrängnis. Grund hierfür war vor allem die den kommunistischen Westemigranten unterstellte latente Unbotmäßigkeit gegenüber einem strikt moskauhörigen Kurs, wie ihn die herrschende SED-Elite in der DDR vertrat. Dies führte 1953 zur Farce einer erzwungenen Selbstauflösung und zur von oben bestimmten Neugrün­ dung als „Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR“, das die geforderte Abhängigkeit vom jeweiligen SED-Kurs organisatorisch und personell garantierte.8 Aber auch bei der internationalen Zusammenarbeit von NS- Opfern führte die Ausgrenzung nicht strikt moskautreuer Genossen zur Spaltung der Häftlingsverbände. Dafür steht insbesondere das Beispiel des „Internationalen Auschwitz Komitees“, dessen österreichischer Generalsekretär Hermann Langbein 1960 aus seiner Position verdrängt wurde, nachdem er sich seit dem 1956 niedergeschlagenen Ungarnaufstand zunehmend von der KPÖ distanziert hatte.9 Gegenüber der in der DDR entstandenen monolithischen Struktur der Verfolgtenverbände ergab sich in der Bundesrepublik ein eher fragmentiertes Organisationsspektrum. Zwar existierte die zur kommunistisch dominierten

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Constantin Goschler, Wiedergutmachung. Westdeutschland und die Verfolgten des Nationalsozialismus 1945–1954, München 1992, S. 196. Vgl. Till Kössler, Kommunistische Verfolgungserfahrung. Die Vereinigung der Ver­folgten des Naziregimes (VVN) und die Frage der Wiedergutmachung. In: Alfons Kenkmann/ Christoph Spieker/Bernd Walter (Hg.), Wiedergutmachung als Auftrag. Begleitband zur gleichnamigen Dauerausstellung – Geschichtsort Villa ten Hompel, Essen 2007, S. 193–204. Vgl. Christoph Hölscher, NS-Verfolgte im antifaschistischen Staat. Vereinnahmung und Ausgrenzung in der ostdeutschen Wiedergutmachung, Berlin 2002, S. 162–168; K. Erik Franzen, Verordnete Opfererinnerungen. Das „Komitee der Antifaschistischen Wider­ stands­kämpfer in der DDR“. In: ders. (Hg.), Opfernarrative. Konkurrenzen und Deu­ tungskämpfe in Deutschland und im östlichen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, München 2012, S. 29–44. Vgl. Katharina Stengel, Hermann Langbein. Ein Auschwitz-Überlebender in den erinnerungspolitischen Konflikten der Nachkriegszeit, Frankfurt a. M. 2012.

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Randorganisation geschrumpfte VVN weiter, doch war ihr 1950 mit dem antikommunistischen und CDU-nahen „Bund der Verfolgten des Naziregimes“ (BVN) eine allerdings gleichfalls nicht sehr einflussreiche Konkurrenz erwachsen. Schon vorher hatte sich mit der „Arbeitsgemeinschaft ehemals verfolgter Sozialdemokraten“ (AvS ) ein weiterer Teil des politischen Spektrums organisatorisch verselbstständigt.10 Andere Opfergruppen waren hingegen wenig erfolgreich, sich dauerhaft verbandsmäßig zu organisieren, was zum Teil mit ihrer gesellschaftlichen Stigmatisierung zu tun hatte. Das trifft etwa auf Opfer der Zwangssterilisation zu, die nach 1945 zunächst lediglich periphere Verbands­ gründungen zustande brachten.11 Die größte Opfergruppe – nämlich die Juden – organisierte sich in Deutschland dagegen, soweit sie nicht etwa Mitglied in der VVN oder anderen politisch orientierten Verfolgtenorganisationen waren, vor allem in jüdischen Gemeinden, die als ihre Interessenvertretungen agierten. Auch bei der 1951 gegründeten und bis heute aktiven „Jewish Conference on Material Claims Against Germany“, kurz: Jewish Claims Conference, handelt es sich nicht um einen Verfolgtenverband, sondern um eine von jüdischen Organi­ sationen aus vielen westlichen Ländern getragene jüdische Interessenvertretung in Entschädigungs- und Rückerstattungsangelegenheiten, mit der, anders als bei Verfolgtenverbänden, weder individuelle Mitgliedschaften noch ein allgemeines politisches Mandat verbunden sind. Dagegen wurden diejenigen Katholiken und Protestanten, die von den Nationalsozialisten als Juden klassifiziert worden waren, nach 1945 durch evangelische und katholische Hilfsorganisationen vertreten, die damit an ihr punktuelles Engagement zugunsten dieser Gruppen während der Zeit des Dritten Reichs anknüpften.12 Erst seit den 1980er-Jahren, im Gefolge der Debatte um die „vergessenen Opfer“, veränderte sich die Organisationsstruktur der NS-Opfer grundlegend: Nun gründete sich eine ganze Reihe neuer Verbände. Neben dem „Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma“, der seine Bemühungen, die aktuelle Situation seiner Klientel zu verbessern, nicht zuletzt auf die behaupteten Kontinuitäts­ linien der nationalsozialistischen Diskriminierung stützte, organisierten sich auch andere Gruppen aus dem Kreis der „vergessenen Opfer“, etwa Homo­ sexuelle, Deserteure, Zwangsarbeiter, Gehörlose etc. Bemerkenswerterweise verschob sich dabei zugleich die Agency: Hatten nach dem Krieg zumeist NS-Opfer selbst die Initiative zur Organisation übernommen, traten jetzt zunehmend Bürgerrechtsaktivisten aus der Nachkriegsgeneration als Stimme be­stimmter Gruppen auf. Damit ging ein zweiter Effekt einher, der besonders für politisch Verfolgte aus linker Tradition ambivalent war: Aus ihrem Geschichts­ bild heraus verstanden sie sich in erster Linie als aktive „Kämpfer“ und nicht

10 Vgl. Goschler, Wiedergutmachung, S. 194–199; Kössler, Kommunistische Verfolgungs­ erfahrung, S. 200. 11 Vgl. Henning Tümmers, Anerkennungskämpfe. Die Nachgeschichte der nationalsozialistischen Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik, Göttingen 2011. 12 Vgl. Goschler, Wiedergutmachung, S. 207–209.

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als passive „Opfer“. Die zunehmende diskursive Hegemonie des Opferbegriffs im heraufdämmernden postheroischen Zeitalter brachte somit gleichermaßen mehr öffentliche Aufmerksamkeit und besondere Herausforderungen für die Betroffenen mit sich.13 Vor allem auf jüdischer Seite tauchte dagegen seit den 1980er-Jahren eine neue Figur auf – der „Survivor“, der gewissermaßen das passive Erleiden der Verfolgung mit der aktiven Haltung des Überlebens verbindet. Seit diesem Jahrzehnt wurde auch die bisher bestehende Monopolstellung der Jewish Claims Conference von in den USA und Israel neu gegründeten Organisationen herausgefordert, in welchen sich nunmehr die Holocaust Survivors zusammenschlossen. Dieser Konflikt wurde letztlich durch deren Aufnahme in die Jewish Claims Conference beigelegt. Nach dem Ende des Kalten Kriegs kam es zudem, vor allem in Osteuropa, zu Zusammenschlüssen ehemaliger Zwangsarbeiter. Zuvor war dies nicht möglich gewesen, da im sowjetischen Machtbereich Zwangsarbeit für das nationalsozialistische Deutschland als Kollaboration gegolten hatte, was eine selbstbewusste Interessenvertretung ausschloss. Zudem hatte sich nach dem Kalten Krieg die Entschädigungsdebatte auf Osteuropa ausgedehnt, was einen Anreiz zur organisatorischen Interessenvertretung bot. Dabei rückten als Folge des gewachsenen zeitlichen Abstands zum Kriegsende auch hier die noch im Kindesalter nach Deutschland Verschleppten oder gar erst dort Geborenen medial wie organisatorisch immer mehr ins Zentrum.14 Diese neue thematische Fokussierung, die zugleich von der moralischen Ressource der mit Kindern verbundenen Unschuldsvermutung zehrte, bildete zugleich wieder eine Brücke zur Thematisierung einer anderen, diesmal deutschen Opfergruppe: nämlich deutschen Kindern, deren Traumatisierung durch Bombenkrieg, Flucht etc. in den letzten Jahren verstärkt diskutiert wurde.15 Auch hier gab es gleichzeitig Ver­suche, die europäischen Dimensionen zu betonen, was jedoch das Problem eines potenziellen Ausschlusses der NS-Opfer aus dieser Form der gemeinsamen Erinnerung aufwirft.

13 Vgl. Henning Borggräfe, Zwangsarbeiterentschädigung. Vom Streit um „vergessene Opfer“ zur Selbstaussöhnung der Deutschen, Göttingen 2014, S. 82–89, 133–135. 14 Vgl. etwa Julia Landau, „Es ist unzulässig, dass die Worte der Entschuldigung nur an den Grabsteinen erklingen“. Zwangsarbeiterentschädigung in der Ukraine und der Republik Moldau. In: Constantin Goschler (Hg.) in Zusammenarbeit mit José Brunner, Krzysztof Ruchniewicz und Philipp Ther, Die Entschädigung von NS-Zwangsarbeit am Anfang des 21. Jahrhunderts. Die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ und ihre Partnerorganisationen, Band 4: Helden, Opfer, Ostarbeiter. Das Auszahlungs­programm in der ehemaligen Sowjetunion, Göttingen 2012, S. 7–103. 15 Vgl. die diesbezüglichen Beiträge in Stephan Burgdorff/Christian Habbe (Hg.), Als Feuer vom Himmel fiel. Der Bombenkrieg in Deutschland, München 2005; vgl. dazu auch die Homepage des Vereins Kriegskind.de e.V.: http://www.kriegskind.de.

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Juristische Rehabilitierung der Opfer politischer Verfolgung Der Zusammenhang zwischen dem Umgang mit den NS-Opfern und den veränderlichen Auffassungen über das Wesen der nationalsozialistischen Herrschaft zeigte sich nicht zuletzt bei der Auseinandersetzung um die Aufhebung von NS-Urteilen. Der Alliierte Kontrollrat hatte hier frühzeitig Maßstäbe gesetzt und Grundsätze für den Umgang mit der nationalsozialistischen Rechtsprechung aufgestellt: In seiner Proklamation Nr. 3 vom 20. Oktober 1945 legte er fest, dass aus rassischen, religiösen oder politischen Gründen erfolg­te Verurteilungen aufzuheben seien. Zugleich trugen die vier Alliierten den Justizbehörden der in den Besatzungszonen geschaffenen Länder auf, diese Anordnung praktisch umzusetzen.16 In der Folge entwickelten sich in den vier Besatzungszonen jedoch sehr uneinheitliche Verhältnisse, da sich die hierzu geschaffenen Regelungen und deren Umsetzung von Land zu Land unterschieden. Die Gesetzgebung in den Ländern der amerikanischen Besatzungszone sticht insofern heraus, als das am 17. April 1946 zoneneinheitlich erlassene Gesetz zur Wiedergutmachung in der Strafrechtspflege als einziges den Weg ging, bestimmte Urteilskategorien automatisch aufzuheben. Dies betraf Urteile, die aufgrund dezidiert nationalsozialistischer Strafrechtsnormen gefällt worden waren; dazu gehörten etwa das „Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Partei und Staat“, das „Blutschutzgesetz“, die Kriegssonderstrafrechtsver­ord­nung oder die Verordnung gegen „Volksschädlinge“.17 Die entsprechenden Bestim­ mungen in der britischen und französischen Zone blieben dahinter zurück: So war etwa in der britischen Zone lediglich die Straffreiheit, aber nicht die Urteilsaufhebung vorgesehen.18 Maßgeblich für die sowjetische Besatzungszone war dagegen der SMADBefehl 228/46 vom 30. Juli 1946, womit dort die Frage der Fortwirkung von NS-Urteilen nicht durch Länderrecht, sondern unmittelbar durch Besatzungs­ recht geregelt wurde. Auch in der SBZ/DDR wurden Urteile nur auf Antrag aufgehoben, wobei der Fokus vor allem auf Verurteilungen aus politischen Gründen lag. Ebenso wie in den westlichen Besatzungszonen lag auch hier das Augenmerk vor allem auf den Motiven der verurteilten Straftaten und weniger auf der Motivation der urteilenden Gerichte, wobei in der SBZ/ DDR vor allem die in der NS-Zeit erfolgten Verurteilungen antifaschistischer Widerstands­kämpfer aufgehoben wurden. Bis 1954, als in der DDR alle Befehle

16 Vgl. Matthias Lehr, Probleme der Bestandskraft und der Aufhebung politisch motivierter Strafurteile aus der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, Tübingen 2007, S. 192; Andreas Roth, „Was damals Rechtens war, kann heute doch nicht Unrecht sein“. Der Kampf um die Aufhebung der Verurteilung des Marinus van der Lubbe im Reichstagsbrandprozess. In: Journal der juristischen Zeitgeschichte, 5 (2011) 2, S. 66–74. 17 Vgl. Lehr, Probleme, S. 193 f. 18 Ebd., S. 216.

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und Anordnungen der SMAD außer Kraft gesetzt wurden, wurden etwa 2 000 derartiger Urteilsaufhebungen registriert.19 In der DDR war die Frage der Aufhebung von NS-Urteilen damit abgeschlossen, da keine Rechtsgrundlage mehr für solche Verfahren existierte, während in der Bundesrepublik das diesbezügliche Besatzungsrecht weiterhin in Kraft blieb. Die nun zuständigen Bundesländer zögerten und zauderten jedoch in dieser Angelegenheit, und so waren einzelne angestrengte Rehabilitierungsverfahren keineswegs immer erfolgreich. Als etwa der Bruder des 1933 im Reichstags­ brandprozess verurteilten Marinus van der Lubbe 1955 beantragte, dieses Urteil aufheben zu lassen, zog sich dieses Verfahren über Jahrzehnte hin. Zwar wurden 1967 die Todesstrafe sowie der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte nachträglich aufgehoben, doch wurde die Strafe in der Annahme, dass ihm die Brandstiftung auch tatsächlich anzulasten sei, zunächst lediglich auf acht Jahre Zuchthaus verringert. Dies ist insofern symptomatisch, als die bundesrepublikanischen Gerichte bei derartigen Aufhebungsanträgen oftmals versuchten, den auch nach gegenwärtiger Rechtsprechung strafbaren Kern zu isolieren und zu bewerten und gewissermaßen lediglich den nationalsozialistischen Überschuss des Strafmaßes zu subtrahieren. Erst 2007 wurde das Urteil gegen Marinus van der Lubbe vollständig aufgehoben, wozu es allerdings einer geänderten Rechts­lage bedurfte, auf die noch zurückzukommen sein wird.20 Das Kernproblem bei der sich in der Bundesrepublik über Jahrzehnte ziehenden Auseinandersetzung um die Aufhebung von NS-Urteilen war also, dass immer wieder versucht wurde, zwischen der scheinbaren Normalität einer geregelten Rechtsprechung zwischen 1933 und 1945 und juristischen Exzessen unter NS-Vorzeichen zu unterscheiden. Bundesjustizminister Thomas Dehler brachte 1950 die vorherrschende Einstellung der bundesdeutschen Juristenzunft auf den Punkt, als er das Argument der Rechtssicherheit gegenüber Forderungen nach einer Generalamnestie in den Vordergrund stellte und sich stattdessen für Einzelfallprüfungen aussprach.21 Die hohe personelle Kon­tinuität der westdeutschen Richterschaft dürfte ihr Übriges dazu beigetragen haben, die Recht­sprechung in der NS-Zeit nicht nachträglich pauschal infrage zu stellen. Das kastenartige Selbstbewusstsein der Richterschaft, die sich im Zeichen der Naturrechtsrenaissance der Nachkriegszeit im Nachhinein hinter der angeblichen Vorherrschaft des Rechtspositivismus in der NS-Zeit verschanzte, die mit dem Dezisionismus nationalsozialistischer Rechtsprechung eigenartig kontrastierte,22 wurde Ende der 1970er-Jahre zum Gegenstand öffentlicher Empörung: Im Februar 1978 thematisierte der Dramatiker Rolf Hochhuth öffentlich die

19 Ebd., S. 208 f. 20 Vgl. Roth, Kampf, S. 67–72. 21 Vgl. http://www.juraforum.de/lexikon/aufhebung-von-ns-unrechtsurteilen; http://www. uwk-bmj.de/aufhebung-von-ns-urteilen.html. 22 Vgl. Bernhard Schlink, Recht – Schuld – Zukunft. In: ders., Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht, Frankfurt a. M. 2002, S. 11–37, hier 15–19.

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Vergangenheit des baden -württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbin­ ger als Marinerichter im Zweiten Weltkrieg. Die in der Wochenzeitung „Die Zeit“ ausgebreitete Beteiligung an mehreren noch kurz vor Kriegsende nachdrücklich durchgesetzten Todesurteilen eskalierte schnell zu einem öffentlichen Skandal. Versuche Filbingers, dem die Charakterisierung Hochhuths als „furchtbarer Jurist“ bald wie Pech anhaftete, den Autor gerichtlich zur Unterlassung seiner Äußerungen zu zwingen und sich zugleich selbst als Opfer und bekennenden Anti- Nationalsozialisten zu stilisieren, gingen nach hinten los. Alsbald wurden immer mehr Details seiner kriegsrichterlichen Tätigkeit bekannt, die seine Behauptungen und seine Glaubwürdigkeit unterminierten, und noch im selben Jahr erklärte Filbinger angesichts des öffentlichen Drucks schließlich seinen Rücktritt. Dazu hatte nicht zuletzt die Empörung über eine vom „Spiegel“ kolportierte Äußerung Filbingers beigetragen, wonach heute nicht Unrecht sein könne, „was damals Recht“ gewesen sei. Auch wenn er bestritt, diese Worte in dieser Form geäußert zu haben, konnte er sich von deren Nachklang nicht befreien, da sie die jahrzehntelang von ehemaligen NS-Juristen an den Tag gelegte Haltung scheinbar genau auf den Punkt brachten.23 Die Affäre Filbinger markiert damit einen Wendepunkt in der Auseinan­ dersetzung mit nationalsozialistischen Urteilen, die nun nicht mehr nur ihre Opfer, sondern auch deren Protagonisten – die Richter und Staatsanwälte – mit einschloss. Die Gründe dafür sind komplex, aber der Generationswechsel in der Justiz spielte hierfür gewiss eine zentrale Rolle. Zudem ließ sich mittlerweile Kritik an der NS-Justiz nicht mehr reflexartig als Wasser auf den Mühlen der DDR-Propaganda diskreditieren, und diese normative Verschiebung erleichterte schließlich auch mediale Skandalisierungen. Dazu gehörte etwa die Debatte um die im Abspann von Michael Verhoevens Spielfilm „Die weiße Rose“ – der erfolgreichste deutsche Kinofilm des Jahres 1982 – aufgestellte (irrtümliche) Behauptung, dass die Urteile des Volksgerichtshofs immer noch gültig seien. Vor dem Hintergrund dieser Debatte nahm der Deutsche Bundestag 1985 – fast 40 Jahre nach Kriegsende – schließlich einstimmig eine Ent­schließung an, mit der er den Volksgerichtshof zu einem Terrorinstrument erklärte, dessen Urteilen keine Rechtskraft zukomme.24 Aber auch in den folgenden Jahren kam es immer wieder zu Auseinan­ dersetzungen um einzelne mehr oder weniger bekannte Fälle von NS-Justiz, darunter auch Urteile gegen so prominente Widerstandskämpfer wie den 1945 hingerichteten Hans von Dohnanyi. Seit der Wiedervereinigung intensivierten

23 Vgl. Torben Fischer/Matthias N. Lorenz (Hg.), Lexikon der „Vergangenheitsbe­wäl­ti­ gung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2007, zur Filbinger-Affäre S. 202–204; Wolfram Wette (Hg.), Filbinger. Eine deutsche Karriere, Springe 2006, S. 21 f. 24 Deutscher Bundestag, 10. Wahlperiode, Drucksache Nr. 2368 vom 14.11.1984; Steno­ graphische Berichte des Deutschen Bundestags, 10. Wahlperiode, 118. Sitzung am 25.1.1985, S. 8 761–8 767.

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sich die parlamentarischen Initiativen, um die nach wie vor bestehenden großen Lücken bei der Aufhebung von NS-Urteilen zu schließen. Dazu trug vor allem bei, dass bei der Deutung des Nationalsozialismus der Bereich der scheinbaren Normalität und des spezifisch Nationalsozialistischen in der öffentlichen Debatte immer stärker zusammenrückten. Und so gerieten die Verfechter eines vorgeblichen Residuums ordentlicher Justiz auch unter den Bedingungen der NS-Diktatur immer mehr in die Defensive. Politisch gesehen folgte die Aus­einan­ dersetzung grob einem Rechts-links-Schema: SPD, Grüne und später auch die PDS/Linke forderten eine mehr oder weniger umfassende Aufhebung sämtlicher Urteile aus der NS-Zeit, während CDU und FDP nach wie vor zumindest einen Teil der Urteile unangetastet lassen wollten. Letztlich wurde hier auf dem Boden der Auseinandersetzung um NS-Urteile ein aktueller Wertekonflikt ausgekämpft: Besonders deutlich wurde dies bei der Auseinandersetzung um die Aufhebung von Urteilen gegen Deserteure25 und Homosexuelle, bei der es nur vordergründig um die NS-Zeit ging – tatsächlich stand die Rolle der Bundes­wehr und der gesellschaftlichen Gleichstellung von Homosexuellen in der Bundes­ republik zur Debatte. Hinzu kam, dass sich die Rechtszersplitterung durch die Wiedervereinigung erheblich vergrößert hatte, insbesondere weil in den neuen Bundesländern infolge der Aufhebung der besatzungsrechtlichen Vorschriften 1954 keine entsprechenden Rechtsgrundlagen mehr existierten, nach denen neue Anträge auf Aufhebung von NS-Urteilen hätten bearbeitet werden können. Mehr als 50 Jahre nach Kriegsende kam es deshalb schließlich zu einer umfassenden Regelung auf Bundesebene: Am 25. August 1998 beschloss der Bundestag das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege (NS-Aufhebungsgesetz), das die bestehenden Lücken schließen sollte. Durch eine Generalklausel wurde automatisch eine ganze Reihe von Urteilskategorien der NS-Justiz aufgehoben, wozu der Volksge­ richtshof und Standgerichte gehörten, aber auch Urteile, die auf spezifischen NS-Gesetzen beruhten. Einige Problembereiche waren in dem noch durch den liberalen Justizminister Edzard Schmidt-Jortzig eingebrachten Gesetzesentwurf ausgeklammert worden, die dann nach dem rot-grünen Regierungswechsel erneut im Bundestag aufgegriffen wurden. Durch ein erstes Änderungsgesetz wurden 2002 schließlich Verurteilungen wegen Desertion und Homosexualität und 2009 durch ein zweites Änderungsgesetz auch Verurteilungen wegen Kriegs­verrats in die Liste der aufzuhebenden Urteile aufgenommen. Im Gegensatz zu der einmütig erfolgten Entschließung des Bundestags 1985, die auf die Aufhe­bung der Volksgerichtshofs-Urteile gezielt hatte, blieben hier jedoch die politischen Konflikte um die Frage, wieweit die Rehabilitierung von Urteilen aufgrund von Kriegsverrat gehen sollte, bis zuletzt bestehen.26

25 Vgl. Wolfram Wette, Deserteure der Wehrmacht rehabilitiert. Ein exemplarischer Meinungswandel in Deutschland (1980–2002). In: Zeitschrift für Geschichtswissen­schaft, 52 (2004), S. 505–527. 26 Vgl. Roth, Kampf, S. 72 f.; Lehr, Probleme, S. 224–234; Wette, Deserteure, S. 522–527.

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Wiedergutmachung und Entschädigung Die Debatten um die Aufhebung von NS-Urteilen berührten immer wieder einen eng verwandten Problemkreis, bei dem es vor allem um materielle Leis­ tungen für überlebende NS-Opfer ging, nämlich die Wiedergutmachung und Entschädigung. Auch hier bestimmten zunächst die alliierten Besatzungsmächte die Grundlinien. Nach Kriegsende wurden die NS-Opfer dabei zunächst vor allem in den Kategorien eines sozialen Fürsorgeproblems wahrgenommen. Doch begann bereits in der Besatzungszeit die Rückerstattung geraubten Eigentums, und zugleich wurde die individuelle Entschädigung von NSOpfern vorbereitet, die die vorläufigen Fürsorgemaßnahmen ablösen sollte. Schon vor Gründung der beiden deutschen Staaten trennten sich allerdings die Wege in Ost und West: In den drei westlichen Besatzungszonen setzte sich eine „bürgerliche“ Lösung durch, die von der Perspektive des individuellen Schadensersatzes geprägt war. Immer stärker wurden dabei die anfänglich noch wichtigen politisch-pädagogischen Ansätze zugunsten der materiellen Aspekte reduziert. Demgegenüber wurden die Wiedergutmachungsbemühungen in der sowjetischen Besatzungszone in stärkerem Maße nicht nur moralisiert, sondern auch politisiert und damit zum Bestandteil des Systemwechsels: Nicht das Ausmaß des erlittenen Schadens, sondern der individuelle Beitrag zum Kampf gegen den Faschismus bildete das entscheidende Kriterium für die Gewährung von Hilfen für „Opfer des Faschismus“. Während im Westen die Juden als „Hauptopfer“ in den Mittelpunkt rückten, waren dies im Osten die Kommunisten. Einig war man sich dagegen weitgehend darin, Sinti und Roma und andere im Dritten Reich als „Asoziale“ verfolgte Grup­­pen überwiegend auszuschließen, womit das liberale und das antifaschistische Entschädigungsprinzip ein gemeinsames Exklusionskriterium teilten. Ost-West-Gemein­samkeiten finden sich auch im Hinblick auf die gesellschaftspolitische Funktion der Wiedergutmachung: Sowohl im Westen als auch im Osten stellte sich schon frühzeitig das Problem, eine prekäre Balance zwischen den Gerechtig­keitsforderungen der NS-Opfer und der Notwendigkeit der Integration vieler Millionen NS-belasteter ehemaliger „Volksgenossen“ herzustellen. So wurden bereits in der Besatzungszeit die Grundlagen für einen Konflikt gelegt, der die Ge­schichte der Bundesrepublik und der DDR gleichermaßen dauerhaft begleitete. In der Bundesrepublik entwickelte sich schließlich auf der Grundlage alliierter Vorgaben ein kompliziertes Geflecht von Wiedergutmachungsregelungen:27 Die 27 Vgl. ausführlich und mit weiteren Literaturangaben Constantin Goschler, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, 2. Auflage Göttingen 2008; Hans Günter Hockerts, Wiedergutmachung in Deutschland. Eine historische Bilanz 1945–2000. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 49 (2001), S. 167– 214; ders./Christiane Kuller (Hg.), Nach der Verfolgung. Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Deutschland?, Göttingen 2003; José Brunner/Norbert Frei/ Constantin Goschler (Hg.), Die Praxis der Wiedergutmachung. Erfahrung und Wirkung

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bereits in der Besatzungszeit erlassenen alliierten Rückerstattungsgesetze für wieder auffindbares Eigentum – also vor allem für Immobilien und Firmen – wurden 1957 durch ein Bundesrückerstattungsgesetz ergänzt. Damit erfüllte die Bundesrepublik endlich auch Rückerstattungsansprüche gegen das Deutsche Reich. Gleichfalls auf alliierten Vorgaben basierte auch das 1956 verabschiedete Bundesentschädigungsgesetz (BEG), das bis 1965 mehrfach umfangreich novelliert und schließlich durch den Zusatz „Schlussgesetz“ petrifiziert wurde. In ma­terieller Hinsicht handelt es sich um das Kernstück der Wiedergut­ machung: Auf Grundlage des BEG haben bis heute etwa eine Million NS-Opfer einmalige oder laufende Leistungen erhalten. Im weitesten Sinne handelte es sich bei diesen vor allem um Deutsche. Unabhängig von alliierten Vorgaben kam dagegen schließlich eine dritte Säule der Wiedergutmachung zustande, die in der öffentlichen Bewertung lange Zeit als Zentrum dieser Bemühungen galt: Die Rede ist vom Wiedergutmachungsabkommen zwischen der Bundesrepublik und Israel sowie der Jewish Claims Conference von 1952. Ihm folgte später eine Reihe von Globalabkommen, die seit Ende der 1950er-Jahre mit insgesamt zwölf westeuropäischen Staaten abgeschlossen wurden.28 Die Grundlagen der westdeutschen Wiedergutmachung wurden also in der Zeit des deutschen Wiederaufbaus geschaffen. Dies geschah im Medium einer diskreten Arkanpolitik, an der die Öffentlichkeit nur geringen Anteil nahm, und wenn, dann meistens in negativer Weise. Im Bonner politischen Establishment wurde die Wiedergutmachung weder als rechtsstaatliche noch als sozialstaat­ liche Angelegenheit, sondern als Kriegsfolgenregelung behandelt, und folge­ richtig ressortierte sie im Bundesfinanzministerium. Dort dominierte eine Men­ta­li­tät der „sieghaften Besiegten“ (Lutz Niethammer). Dazu gehörte die Selbst­stilisierung der Beamten zu mannhaften Verteidigern finanzpolitischer Bollwerke angesichts sturmflutartig heranwogender Wiedergutmachungs­ ansprüche. Allenfalls eine kleine parteienübergreifende politische Gegenelite, zu der Franz Böhm, Otto Küster, Adolf Arndt und Martin Hirsch zählten, betrachtete die Wiedergut­machung dagegen nicht als lästige Erfüllung alliierter Verpflich­tungen, sondern als genuin deutsche Aufgabe. Der offiziellen Verkündung des „Endes der Nachkriegszeit“ in den Regie­ rungserklärungen Ludwig Erhards 1963 beziehungsweise 1965 entsprach auch ein grundsätzlicher Einstellungswandel im Bereich der Politik der Wieder­ gutmachung: Immer fordernder mahnte die deutsche Seite nunmehr einen Schlussstrich an. Damit sollte ein Blickwechsel von der Vergangenheit auf die Zukunft einhergehen. Dementsprechend wurde dem BEG anlässlich seiner

in Deutschland und Israel, Göttingen 2009; sowie den Forschungsbericht von Benno Nietzel, Neuere Literatur zur Wiedergutmachung von NS-Unrecht in Deutschland. In: Neue Politische Literatur, 56 (2011), S. 207–234. 28 Vgl. vor allem Hans Günter Hockerts/Claudia Moisel/Tobias Winstel (Hg.), Grenzen der Wiedergutmachung. Die Entschädigung für NS-Verfolgte in West- und Osteuropa 1945–2000, Göttingen 2006.

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letzten Novellierung im Jahre 1965 demonstrativ der Zusatz „Schlussgesetz“ beigefügt. Dieser Idee der Wiedergutmachung als eines endlichen Prozes­ses widersprach freilich ein vor allem auf jüdischer Seite greifbares Begriffsverständnis: Demzufolge handelte es sich hier um einen nach vorn offenen, unabschließbaren Prozess. Hinzu kam ein weiterer Gegensatz: Sollte, wie in der Bundes­republik favorisiert wurde, die Wiedergutmachung künftig als Mittel dienen, die Erinnerung an die Verfolgungsgeschichte in den Hintergrund treten zu lassen? Oder sollte die Wiedergutmachung diese Erinnerung in die Zukunft hineintragen, wie auf jüdischer Seite gefordert wurde? Diese Kontroversen standen auch im Zeichen eines sich seit Anfang der 1970er-Jahre allmählich vollziehenden politischen Generationenwechsels der westdeutschen politischen Elite: Die um 1930 Geborenen fühlten sich nicht mehr länger durch die Verbrechen des Nationalsozialismus persönlich belastet oder zumindest befangen. Der enge Zusammenhang von Schuld und Schulden löste sich dadurch in der deutschen Selbstwahrnehmung auf. Zentral war in dieser Perspektive nicht mehr die Bewältigung der Hinterlassenschaften des Kriegs, sondern die Erfüllung der anstehenden Zukunftsaufgaben. So erwies sich auch die sozialliberale Ära keineswegs als besonders wiedergutmachungsfreundlich: Nunmehr konkurrierten Leistungen für die Wiedergutmachung mit den erheblichen Kosten der Finanzierung des „Modells Deutschland“. Die „Ära Kohl“ brachte dagegen weniger die angekündigte geistig-moralische Wende als vielmehr den Einstieg in den postmaterialistischen Wertewandel der späten Bonner Republik. Bezeichnend dafür ist die aufkommende Debatte um die „vergessenen Opfer“, die sich auch als Bestandteil einer Auseinandersetzung um die kulturelle Hegemonie lesen lässt. Damit waren neben den Zwangsarbeitern vor allem im Dritten Reich verfolgte gesellschaftliche Rand­gruppen gemeint. Dies markierte zugleich einen Wechsel von einer system­immanenten zu einer systemkritischen Auseinandersetzung mit der Wiedergut­machung. Gleichzeitig deutete sich auch das Ende der bislang vorherrschenden Konzentration der Wiedergutmachungsdiskussion auf die jüdischen NS-Opfer an. Auf diese Weise nahm die Bundesrepublik in den 1980er-Jahren auch am westeuropäischen Aufschwung der Identitätspolitik teil: Die Selbst- bzw. Fremd­zuschreibung als Opfer wurde dabei zu einem wichtigen Vehikel gesellschaft­licher Positionskämpfe. Wie verhielt sich dies demgegenüber in der DDR? Grundsätzlich stand im SED-Staat zunächst die Frage der Kriegsreparationen an die Sowjetunion und Polen an erster Stelle. Die individuelle Entschädigung für NS-Opfer besaß dagegen weitaus geringere Bedeutung als in der Bundesrepublik. Bereits bei der Gründung der DDR war das bürgerliche Entschädigungsprinzip fallen gelassen worden und durch das Prinzip der „permanenten Soforthilfe mit Zügen einer sozialen Privilegierung“29 ersetzt worden. Das sozialistische Modell der 29 Ralf Kessler/Hartmut Rüdiger Peter, Wiedergutmachung im Osten Deutschlands, 1945–1953. Grundsätzliche Diskussionen und die Praxis in Sachsen-Anhalt, Frankfurt a. M. 1996, S. 228. Zur Wiedergutmachung in der DDR vgl. auch Hölscher, NS-Ver­ folgte im antifaschistischen Staat; sowie Goschler, Schuld und Schulden, S. 361–411.

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­ iedergutmachung ordnete sich dem von der SED angestrebten gesellschaftlichen W Umbau unter. Und nicht zuletzt aufgrund der sozialistischen Eigentumsrevo­ lution unterblieb im Prinzip auch eine Rückerstattung geraubten Eigentums, die ja eng mit der Wiederherstellung bürgerlicher Eigentumsrechte verbunden war. Vor allem aber bezogen sich die Leistungen der DDR nur auf die in ihrem Staatsgebiet lebenden NS -Opfer – dies stand in der Tradition der Sozialfürsorge. Der Umgang mit den NS-Opfern in der DDR stand dabei von Anfang an im Spannungsfeld von Sozialpolitik und Antifaschismus. Verantwortlich für diese Haltung war nicht zuletzt, dass die Etablierung eines sozialistischen Staats auf deutschem Boden als die „eigentliche“ Wiedergutmachung galt. Für die SEDFührung ging es somit nicht darum, die Schuld an den Opfern, sondern den Lauf der Geschichte zu heilen. Deshalb standen auch vor allem die „Kämpfer gegen den Faschismus“ im Mittelpunkt, die zugleich einen wichtigen Beitrag zur Legitimation der DDR als antifaschistischer Staat leisteten. In der DDR basierten die seit 1949 bestehenden Fürsorgeregelungen für Verfolgte des Naziregimes rechtstechnisch auf der Unfallversicherung. Unfall oder Unrecht: So ließe sich also der Ost-West-Gegensatz aus dieser Perspektive charakterisieren. Aber auch im SED-Staat spiegelte die Höhe der Leistungen von NS-Verfolgten anfänglich das frühere Sozialniveau wider: Denn diese waren am früheren Einkommen orientiert, wodurch sich kommunistische Arbeiter­ veteranen vor allem gegenüber ehemaligen jüdischen Selbstständigen und Unternehmern benachteiligt sahen. Solche Klagen bedienten sich immer wieder auch des Stereotyps: Juden seien Kapitalisten. Die Forderung kommunistischer Kämpfer nach einem Systemwechsel der Verfolgtenfürsorge war allerdings erst 1965 erfolgreich. Die damals in der DDR erlassene Ehrenpensions-Verordnung differenzierte nunmehr zwischen „Kämpfern“ und „Verfolgten“. Zugleich wurde die Höhe der Rentenleistungen nicht mehr nach dem früheren Arbeits­ einkommen bemessen, sondern in Form einer pauschalen Leistung gewährt. Gewinner waren dabei die „Kämpfer“, die eine etwas höhere Ehrenpension als die „Nur-Opfer“ erhielten, wodurch zugleich ein symbolischer Abstand zwischen beiden Gruppen hergestellt wurde. Sozialversicherungstechnisch basierten die Leistungen für NS-Opfer in der DDR damit nicht mehr auf der Behandlung des Nationalsozialismus als eines Arbeitsunfalls, sondern auf der Vorstellung der Honorierung eines Diensts am Aufbau des Sozialismus. Die materielle Versorgung der Verfolgten des Naziregimes wurde auch nach 1965 immer weiter ausgebaut. Die im Vergleichsmaßstab des DDR-Sozial­ systems ausgesprochen großzügigen Leistungen für Ehrenpensionäre, zu denen aufwendige Maßnahmen zum Erhalt ihrer Gesundheit kamen, zielten auf die Mobilisierung der „Kämpfer“. Ihren Gehaltsvorsprung gegenüber den „Nur- Opfern“ mussten sie hart erarbeiten: Durch ständige öffentliche Auftritte verbürgten sie persönlich die antifaschistische Integrität der DDR. So waren die Kämpfer ein höchst wichtiges und sorgsam gepflegtes symbolisches Human­kapital des SED-Staats. Nicht zuletzt dienten die Leistungen der DDR für Verfolgte des Naziregimes auch dazu, jüdische Wiedergutmachungsfor­de­

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rungen aus dem Ausland abzublocken. Letztlich war das Hauptergebnis solcher jahrzehntelangen jüdischen Vorstöße, diese Ansprüche überhaupt am Leben zu erhalten. Der Erfolg dieser Bemühungen erwies sich nach dem Ende der DDR, als die vereinigte Bundesrepublik mit entsprechenden Forderungen konfrontiert wurde. Die Epochenwende von 1989/90 revolutionierte auch die Politik der Wieder­gutmachung: Zunächst endete der doppelte Entwicklungspfad in Ost und West, und wie in anderen Bereichen auch führte dies in erster Linie zur Angleichung der ostdeutschen Verhältnisse an westliche Standards. Zudem sah sich die entstehende Berliner Republik mit umfangreichen Forderungen im Zusammenhang des Zweiten Weltkriegs konfrontiert. Dazu gehörten vor allem Ansprüche ausländischer NS-Opfer aus Ländern hinter dem ehemaligen Eisernen Vorhang. Gerade mit Blick auf die Verhandlungen, die im Jahr 2000 zur Etablierung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) führten, entstand der Eindruck, dass in den 1990er-Jahren Geld und Moral in der Politik der Wiedergutmachung so schroff aufeinanderstießen wie niemals zuvor. Dies war erstens eine Folge der nunmehr endgültig vollzogenen Abkehr von der bis dahin üblichen Arkanpolitik: Konflikte wurden nun weltöffentlich ausgetragen, und im Zuge der verstärkten Medialisierung der Politik der Wiedergutmachung wurden Öffentlichkeit und Medien selbst zu einem wichtigen Faktor. Zweitens befanden sich nun die Opfer und ihre Vertreter in einer öffentlichen Konkurrenz untereinander. Und drittens verstärkte die starke Verrechtlichung der Politik der Wiedergutmachung, die durch den wachsenden Einfluss des amerikanischen Rechtssystems auf diesem Gebiet ausgelöst wurde, den Eindruck, dass es nun vor allem um gewaltige Geldbeträge ginge. Die Situation in den 1990er-Jahren verweist zudem auf weitere wichtige Entwicklungen: Erstens saß nun die Bundesrepublik nicht mehr allein auf der Anklagebank. Die Wiedergutmachungsfrage wurde vorübergehend auch in anderen europäischen Ländern akut, angefangen mit der Schweiz. Zweitens verhandelte die Bundesrepublik nun mit einer Vielzahl von Partnern gleich­ zeitig. Europäisierung und Multilateralisierung prägten somit die Politik der Wiedergutmachung seit diesem Jahrzehnt. Michael Jeismann kam deshalb zu dem radikalen Schluss, dass „deutsche Schuld als solche, also als exklusiv deutsche in der internationalen Diskussion gar nicht mehr relevant ist“.30 Die Politik der Wiedergutmachung trat in der Berliner Republik somit aus jenem vergangenheitspolitischen Koordinatensystem heraus, das sie seit den 1950erJahren beherrscht hatte. Nicht zuletzt war nun die Kategorie der „Schuld“ gänzlich durch die der „Verantwortung“ abgelöst worden. Verantwortlich dafür war vor allem die aus dem gewachsenen zeitlichen Abstand resultierende biografische Distanz der deutschen Bevölkerung sowie der politischen Eliten zum Dritten Reich. Diese Entwicklung erleichterte einerseits die Monetarisierung der aus den

30 Jeismann, Auf Wiedersehen Gestern, S. 56.

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nationalsozialistischen Verbrechen resultierenden Verpflichtung, andererseits aber auch die Anerkennung der Opfer im Medium der Entschuldigung. Beides wurde in den 1990er-Jahren zu Schlüsselelementen eines globalen Wieder­ gutmachungsdiskurses, in dem die Bundesrepublik die dankbare Rolle eines Präzedenzfalls spielen durfte.31 So renommierte die Berliner Republik nunmehr offen mit ihren bisherigen finanziellen Wiedergutmachungsleistungen: Bis Ende 2006 hatte die öffentliche Hand im Rahmen des westdeutschen Systems der Wiedergutmachung nach offiziellen Berechnungen insgesamt rund 64 Milliarden Euro gezahlt,32 und diese Zahl markierte noch keineswegs den Endstand. Der immer wieder öffentlich vorgetragene Hinweis auf die umfangreichen materiellen Wiedergutmachungs­ leistungen diente freilich oftmals einer paradoxen Zielsetzung; nämlich einerseits der Politisierung und andererseits der Entpolitisierung. Politisierung bedeutete hier, dass eine Gesamtsumme genannt wurde, deren schiere Größe Respekt einforderte und zugleich helfen sollte, weitere Ansprüche zurückzuweisen. Umgekehrt bedeutete Entpolitisierung, dass durch die Addition zum Teil sehr heterogener Leistungen oder von jährlich wiederkehrenden Leistungen die Frage nach Verteilungskriterien und Verteilungsgerechtigkeit abgeblockt und damit aus politischen Kontroversen herausgehalten wurde. So kommt hierin auch der politische Wunsch zum Ausdruck, die Wiedergutmachung endgültig in Geschichte zu verwandeln und zumindest in juristischer, wenn schon nicht in moralischer Hinsicht einen Schlussstrich zu ziehen. Dem Zweck, zumindest die Frage der materiellen Wiedergutmachung abschließend zu regeln, sollte auch die im Jahr 2000 gegründete Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ dienen, deren Hauptaufgabe die Entschädigung der Zwangsarbeiter der deutschen Kriegswirtschaft war und deren Arbeit 2007 abgeschlossen wurde.33 Sie überführte die jahrzehntelangen Entschädigungsdebatten weitgehend erfolgreich in den Rahmen symbolischer Leistungen beziehungsweise zuletzt vor allem karitativer Bemühungen um alte und pflegebedürftige NS-Opfer. Gleichzeitig rückte auch in der Arbeit der Stif­ tung EVZ der Zusammenhang globaler Menschenrechtspolitik immer stärker in den Vordergrund. Dies soll, wie es auch in der Konstruktion dieser Stiftung eingeschrieben ist, den Blick perspektivisch allmählich von der (deutschen) Ver­ gangenheit in die (globale) Zukunft lenken. Die in der Bundesrepublik vorhandenen Erwartungen, wonach mit der Stiftung EVZ alle noch offenen Entschädigungsfragen und ebenso auch die 31 Vgl. auch José Brunner/Norbert Frei/Constantin Goschler (Hg.), Die Globalisierung der Wiedergutmachung. Politik, Moral, Moralpolitik, Göttingen 2013. 32 Leistungen der öffentlichen Hand auf dem Gebiet der Wiedergutmachung. Stand: 31. Dezember 2006. Druck: Goschler, Schuld und Schulden, S. 539. 33 Vgl. Constantin Goschler (Hg.) in Zusammenarbeit mit José Brunner, Krzysztof Ruch­ niewicz und Philipp Ther, Die Entschädigung von NS-Zwangsarbeit am Anfang des 21. Jahrhunderts. Die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ und ihre Part­ nerorganisationen, 4 Bände, Göttingen 2012.

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geschichtspolitischen Kontroversen um die NS-Opfer zu einem gewissen Abschluss gelangen würden, erfüllten sich jedoch nur unvollständig. Seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts sorgten neue Wiedergutmachungsforderungen, die sich in erster Linie auf jüdische Opfer beziehen, für politischen Wirbel. Großes Aufsehen erregt nach wie vor die eng mit der kulturellen und politischen Identität der Bundesrepublik verknüpfte Frage der Restitution von Kunstwerken aus vormals jüdischem Besitz. Die Dauerhaftigkeit von Eigentumsansprüchen übersteigt hier die Endlichkeit des individuellen Lebens der NS-Opfer und sorgt für eine unabsehbare zeitliche Verlängerung dieses Themas. Ein anderes nach dem scheinbaren Abschluss der Wiedergutmachungs­ debatte aufgetauchtes Thema lebt dagegen gerade von dem Zeitdruck, der aus dem über kurz oder lang unausweichlichen biografischen Erlöschen der noch lebenden NS-Opfer resultiert. 2002 beschloss der Deutsche Bundestag das Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto, kurz: Ghettorentengesetz (ZRBG), wodurch die Rentenansprüche jüdischer Ghettoinsassen aufgrund ihrer Beschäftigung für deutsche Firmen im Zweiten Weltkrieg in den besetzten Gebieten geregelt werden sollten. Der Gesetzgeber hatte allerdings die Problematik völlig unterschätzt, denn tatsächlich kam es nun zu einer Prozesslawine, weil der überwiegende Teil der erhobenen Ansprüche zunächst abgelehnt wurde, was zu komplizierten juristischen und politischen Auseinandersetzungen führte.34 Wo lag nun das Problem? Der juristischen Logik des Ghettorentengesetzes zufolge mussten die Antragsteller beweisen, dass sie während ihres erzwungenen Aufenthalts in einem von den Deutschen eingerichteten Ghetto freiwillige Arbeitsverhältnisse eingegangen waren, denn dies bildete die Voraussetzung für sozialversicherungsrechtliche Ansprüche. Mit anderen Worten ging es nun nicht etwa darum, die Verfolgung und den daraus resultierenden Opferstatus darzustellen, sondern im Gegenteil, die sozialrechtliche Normalität des Arbeitsverhältnisses im Ghetto zu beweisen. Diese Beobachtung führt zu einem paradoxen Befund: Über die vergangenen Jahrzehnte hinweg hatte sich in der (west-)deutschen Vorstellung das Ver­ brecherische des Nationalsozialismus wie ein sich ausbreitender Tintenfleck immer weiter über die lange Zeit sorgsam gehüteten Bereiche der „Normalität“ innerhalb des Dritten Reichs ausgedehnt – bis das Bild der NS-Zeit schließlich vollständig eingefärbt war, sprich: in seiner Gesamtheit als verbrecherisch erschien. Dieser Vorgang war für die Auseinandersetzung um die Gültigkeit von NS-Urteilen wie um Entschädigungsansprüche gleichermaßen bedeutsam. In der Auseinandersetzung um das Ghettorentengesetz geschah nun plötzlich

34 Vgl. Jürgen Zarusky (Hg.), Ghettorenten. Entschädigungspolitik, Rechtsprechung und historische Forschung, München 2010; Stefan Lehnstaedt, Geschichte und Gesetzes­ auslegung. Zu Kontinuität und Wandel des bundesdeutschen Wiedergut­machungs­ diskurses am Beispiel der Ghettorenten, Osnabrück 2011; Christine Platt, Bezweifelte Erinnerung, verweigerte Glaubhaftigkeit. Überlebende des Holocaust in den Ghetto­ renten-Verfahren, Paderborn 2012.

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etwas Irritierendes: Die allgegenwärtig verbrecherische Natur des NS-Regimes wurde auf einmal durch die Normalitätsfiktion eines geregelten Arbeitsver­ hältnisses im Ghetto infrage gestellt. Nur war es diesmal nicht die deutsche Mehrheitsgesell­schaft (in Gestalt wenig diabolischer Vertreter der Sozialver­ sicherungsträger), sondern die Opfer selbst (beziehungsweise ihre Anwälte), die nun zur Durchset­zung ihrer rechtlichen Forderungen das Wahre im Falschen beweisen mussten.

Fazit Die letzte Beobachtung soll verhindern, dass die Schlussfolgerung am Ende zu einfach ausfällt: Vielmehr sollte der Versuchung widerstanden werden, den Umgang mit den Opfern des Nationalsozialismus seit 1945 als lineare Erfolgs­ geschichte zunehmender Aufklärung der deutschen Gesellschaft und wachsender Empathie mit den Opfern zu erzählen. Stattdessen sollten die Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten dieses Prozesses im Blick behalten werden. Die in diesem Beitrag aufgezeigten Veränderungen lassen sich vor allem auf die ver­änderten Kontexte beziehen, innerhalb derer der Umgang mit NS-Opfern gestaltet wurde – Nachkriegszeit – Kalter Krieg – Wiedervereinigung und Globalisie­rung –, aber auch auf die generationellen Verschiebungen. Letzteres betrifft vor allem das Gegenüber von NS-Opfern und deutscher Mehrheitsgesellschaft: Waren am Anfang noch sprichwörtlich „die Mörder [ … ] unter uns“, wie der berühmte Film von Wolfgang Staudte 1946 postulierte, sodass es innerhalb Deutschlands zu einem gefühlten oder tatsächlichen Nebeneinander von Tätern und Opfern kam, so standen später die noch lebenden NS-Opfer immer mehr einer nachgeborenen Gesellschaft gegenüber, die nur noch indirekte biografische Bezüge zu den Verbrechen besaß. Die Unruhe und Verwirrung, die jüngst die Frage der Beerdigung des mit 100 Jahren verstorbenen Kriegsverbrechers Erich Priebke auslöste, bestätigt dies nur, denn sie verweist auf die Überraschung der gegenwärtig Lebenden, dass auch heute möglicherweise immer noch leibhaftige Mörder unter uns sind. Aber auch diejenigen NS-Opfer, die im Kindesalter verfolgt wurden und deshalb noch in einiger Zahl unter uns sind, werden in absehbarer Zeit nicht mehr da sein. Damit wird auch die Verschiebung von den materiellen zu den symbolischen Dimensionen des Umgangs mit den NS-Verfolgten endgültig zum Abschluss kommen, die den sich verändernden individuellen und gesellschaftlichen Inte­ ressen Rechnung trägt: Für die NS-Opfer lässt sich dies als zeitliche Abfolge von Rehabilitierung, Entschädigung, Anerkennung und schließlich gegebenenfalls Altenpflege beschreiben. Will man nicht den Weg in die intergenerationelle Verlängerung der Frage, etwa über die gelegentlich geführte Debatte über die Weitergabe von traumatischen Belastungen der Opfer an die Kinder und Kin­ deskinder gehen, dann bleibt am Ende nur noch die Erinnerungskultur übrig. Vieles spricht dafür, dass es dort zu Fragmentierungen und Neusor­tierungen

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kommen wird: NS-Opfer verwandeln sich gegenwärtig in Opfer von Genoziden, Vertreibungen, ethnischen Säuberungen und so weiter, und dabei entstehen neue historiografische Konfigurationen, die sie unter Umstän­den auch mit Opfern aus anderen historischen Verbrechenszusammenhängen subsumieren, um nur etwa die Armenier zu nennen. Die gegenwärtig vorherrschende Per­ spektive, das 20. Jahrhundert als ein Zeitalter der Gewalt zu beschreiben, bringt es so mit sich, dass zahlreiche Opfergeschichten erzählt werden, die teils anschlussfähig, teils konkurrierend zu den Geschichten der NS-Opfer sind. Es ist zu früh, um schon endgültige Aussagen darüber zu treffen, wo diese dort am Ende erscheinen werden.

Die Opfer des Nationalsozialismus in Österreich. Opferfürsorge und „Wiedergutmachung“ Stefan Karner Die NS-Herrschaft auf dem Gebiet des heutigen Österreich hinterließ eine schreckliche Bilanz. Mindestens 110 000 Menschen wurden aus politischen, religiösen, rassistischen, nationalen oder ideologischen Gründen ermordet: 66 000 Juden, 25 000 Opfer von NS-Medizinverbrechen, 9 000 bis 10 000 Roma und Sinti, 9 500 politisch Verfolgte. Rund 200 000 Personen aus verschiedenen Ländern wurden im KZ Mauthausen inhaftiert, davon knapp die Hälfte getötet. Die „Arisierungen“ des jüdischen Vermögens, vor allem in Wien und Graz, waren die bis dahin größte Besitzumschichtung in Österreich in so kurzer Zeit.1 Etwa eine Million ausländischer Arbeitskräfte kamen auf österreichischem Gebiet zum Einsatz. Unter ihnen waren die meisten zivile Zwangsarbeiter, vor allem aus Polen, Frankreich und der Sowjetunion. Dazu Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge und ungarische Juden, die hauptsächlich gegen Kriegsende unter unmenschlichen Bedingungen am „Südostwall“ Schanzarbeiten durchzuführen hatten und danach in endlosen Kolonnen in Richtung Mauthausen getrieben wurden. Die NS-Repression erfasste auch andere Gruppen: Zeugen Jehovas, „Asoziale“ und Homosexuelle. An die 1 000 Kärntner Slowenen wurden deportiert und ihres Besitzes beraubt. Der politische Umgang mit den NS-Opfern im Österreich der Zweiten Republik war ein wichtiger Teil der Gesellschafts- und Innenpolitik; ein breites und umfassend lösungsorientiertes Vorgehen durch die Politik fand allerdings erst seit Ende der 1990er-Jahre statt, und dies wesentlich unter internationalem Druck. Ein zentrales Thema waren dabei die Fragen des widerrechtlich in der NS-Zeit angeeigneten Vermögens, vor allem von jüdischen Bürgern, sowie die Entschädigungszahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter durch die Republik, die wiederum etwa die Hälfte des Betrags von Unternehmen erhielt, die in der NS-Zeit Zwangsarbeiter beschäftigt hatten.2

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Zu den Opferzahlen vgl. http://www.doew.at/erforschen/projekte/datenbankprojekte/ namentliche-erfassung-der-opfer-politischer-verfolgung-1938-1945; 11.3.2014. Hier und zum Folgenden siehe vor allem die Arbeiten von Brigitte Bailer-Galanda, Hannah Lessing, Wolfgang Neugebauer, der österreichischen Historikerkommission und zuletzt den Sammelband: Stefan Karner/Walter M. Iber (Hg.), Schweres Erbe und „Wiedergutmachung“. Restitution und Entschädigung in Österreich. Die Bilanz der

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Die österreichische Restitutions- und Entschädigungspolitik nach 1945 lässt sich im Wesentlichen in zwei Phasen einteilen: In einen ersten Abschnitt vom Kriegsende bis Anfang der 1960er-Jahre, der jedoch aus verschiedenen Gründen zu unbefriedigenden Ergebnissen führte. Und in eine zweite Phase, ausgelöst schon ab Mitte der 1980er-Jahre durch die Debatten um die Vergangenheit des Präsidenten österreichischen Kurt Waldheim, beginnend in den ersten 1990er-Jahren. Die wesentlichen Akzente zur Lösung vieler noch offener Fragen um Restitution und Entschädigung wurden jedoch ab dem Jahr 2000 gesetzt, als die Bundesregierung von Wolfgang Schüssel und Susanne Riess-Passer unter enormem internationalen und zeitlichen Druck die entsprechenden legislativen und organisatorischen Maßnahmen umsetzte.

Die ersten Maßnahmen der Zweiten Republik Nach Kriegsende wurden bis 1949, wesentlich auf Druck der Westalliierten, insgesamt sieben Rückstellungsgesetze erlassen, deren Wirkung aufgrund kurzer Meldefristen, komplizierter Antragstellung und mangelnder Öffentlichkeitsarbeit jedoch begrenzt blieb. Den Kern bildeten die ersten drei Gesetze 1946/47, wobei ein Großteil der Fälle nach dem dritten Rückstellungsgesetz abgehandelt wurde, das die Restitution von in Händen von Einzelpersonen oder juristischen Personen befindlichem entzogenem Eigentum regelte. Eines der Hauptprobleme lag darin, dass die österreichische Gesetzgebung nur die Naturalrestitution von noch vorhandenem und auffindbarem entzogenem Vermögen vorsah. Die Rückstellung blieb also im Wesentlichen auf unbewegliches Vermögen beschränkt, während es für andere Vermögenskategorien (z. B. Urheberrechte, Konzessionen etc.) keine Rückerstattungsmöglichkeiten gab.3 Als wesentliches Hindernis stand einer breiten und opferorientierten Aufarbeitung der Thematik in erster Linie argumentativ zwar fraglos die „Opfertheorie“ im Wege (Österreich als erstes Opfer der Aggressionspolitik Hitlerdeutschlands). In Wahrheit waren es jedoch das ab 1947 vonseiten beider Großparteien, ÖVP und SPÖ, betriebene Schielen nach Wählerstimmen, die vordringliche Beschäftigung mit dem wirtschaftlichen Aufbau, ein latenter Bodensatz an Antisemitismus und ein damit verknüpfter gesellschaftlicher Grundkonsens, „die Sache in die Länge zu ziehen“ (SPÖ-Innenminister Oskar Helmer). Aufgrund der Bestimmungen des Staatsvertrags (Artikel 26) wurden jedoch – als kleine

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­ egierung Schüssel, Innsbruck, dessen einleitende Bemerkungen dem Beitrag zugrunde R liegen. Gedankt sei in diesem Zusammenhang vor allem Brigitte Bailer-Galanda, Herwig Hösele, Walter M. Iber und Hannah Lessing für viele Anregungen und Hinweise. Vgl. Brigitte Bailer-Galanda, Rückstellung, Entschädigung und andere Maßnahmen für Opfer des Nationalsozialismus von 1945 bis zum Washingtoner Abkommen. In: Karner/Iber (Hg.), Schweres Erbe und „Wiedergutmachung“, S. 23–44, hier 30–34.

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Verbesserung – im Jahr 1957 Sammelstellen für nicht beanspruchtes entzogenes Vermögen eingerichtet. Mit dem Erlös – die betroffenen Vermögenswerte waren entweder an die Sammelstellen abzugeben oder abzulösen – wurden soziale Maßnahmen für in Österreich lebende NS-Opfer finanziert. 1959 vereinbarte Österreich in einem Notenwechsel mit den Westalliierten einen Fonds zur Abgeltung von Vermögensverlusten politisch Verfolgter (Abgeltungsfonds), der 1961 auch umgesetzt wurde.4 Die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Opferverbänden war lange Zeit ein Spiegelbild der jeweiligen Wahlergebnisse bzw. der daraus resultierenden innenpolitischen Stimmung und auch des Kalten Kriegs. Nachdem 1947 der „Bund der politisch Verfolgten – Österreichischer Bundesverband“ als alleinige Interessenvertretung der Opfergruppen und unter Einfluss aller drei Parteien (ÖVP, SPÖ und KPÖ) gegründet worden war, traten SPÖ und ÖVP bereits im darauf folgenden Jahr aus diesem wieder aus. Der ursächliche Grund lag in den Majorisierungsversuchen der KPÖ, wobei schließlich die kommunistische Machtübernahme in der Tschechoslowakei den letzten Anstoß gab. Erst in den 1960er-Jahren erzielten die Parteien eine Einigung und fungierten fortan gemeinsam unter dem Schirm der „Arbeitsgemeinschaft der Opferverbände“. Immerhin wurde 1945 das Opferfürsorgegesetz erlassen, das zunächst vor allem Renten für Widerstandskämpfer vorsah. Ab 1949 konnten unter bestimmten Bedingungen auch Opfer von Verfolgung aus rassischen, nationalen und religiösen Gründen eine Rente erhalten. Ausgeklammert blieben Opfergruppen, die über keine politische Lobby verfügten: Homosexuelle und als „asozial“ verfolgte Menschen, Opfer der NS-Militärjustiz, welche keine politischen Motive vorweisen konnten, Roma und Sinti (sofern sie nicht im KZ gewesen waren) usw. Zudem war der Anspruch auf die meisten Leistungen des Opferfürsorgegesetzes mit der österreichischen Staatsbürgerschaft verknüpft;5 diese Beschränkung wurde erst 2001 behoben. Zentrale Anlaufstelle für die zahlenmäßig zur Entschädigung bedeutendste Opfergruppe der Juden wurde die Israelitische Kultusgemeinde in Wien, die bereits bei den Verhandlungen in den 1950er-Jahren eine wichtige Rolle gespielt hatte. Sie prägte auch die Entschädigungsverhandlungen ab den 1990er-Jahren, im Verbund mit der Jewish Claims Conference, ganz wesentlich mit.6

4 5 6

Ebd., S. 34 f. Ebd., S. 35–39. Vgl. Erika Jakubovits, Die Restitutionsdebatte aus der Sicht der Israelitischen Kultusgemeinde. In: Österreichisches Jahrbuch für Politik 2005, S. 489–503.

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Von der Gründung des „Nationalfonds“ bis zu den Restitutions- und Entschädigungsmaßnahmen Nach jahrelangem – mehr oder weniger starkem – Stillstand brachten erst die späten 1980er- und frühen 1990er-Jahre wieder Bewegung in die Restitutionsdebatte. Hervorgerufen durch die „Waldheim-Affäre“ begannen in Medien und Politik Diskussionen über die Mitverantwortung Österreichs bzw. von Österreichern am NS-Regime. Bundeskanzler Franz Vranitzky räumte 1991 in seiner Regierungserklärung erstmals öffentlich eine Mitschuld von Österreicherinnen und Österreichern an den Verbrechen des Nationalsozialismus ein. Der damit eingeleitete offizielle Standpunktwechsel führte 1995 zur Gründung des „Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus“, der Einmalzahlungen für alle Opfer des NS-Regimes – auch für die bis zu diesem Zeitpunkt unberücksichtigt gebliebenen – in der Höhe von 5 000 Euro vorsah.7 Im Weiteren bewegte sich Österreich in seinem Bemühen um eine Entschädigung von NS-Opfern und später auch von Zwangsarbeitern im internationalen Gleichschritt. Durch „class actions“, US-amerikanische Sammelklagen, wurde der Stein in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre ins Rollen gebracht. Zunächst brach eine wahre Flut an Sammelklagen über die Schweiz herein, es folgten schnell Deutschland und Österreich. Nach einer Affäre rund um Egon Schieles Bildnis „Wally“ nahmen in den Jahren 1998/99 drei weitere Einrichtungen ihre Arbeit auf: die im Bundesdenkmalamt angesiedelte „Kommission für Provenienzforschung des Bundes“, die „Historikerkommission der Republik Österreich“ und die Anlaufstelle der Israelitischen Kultusgemeinde (Betreuung von NS-Opfern, Kunst- und Naturalrestitution). Zu diesem Zeitpunkt bestanden noch viele weitere, teils neu vorgebrachte offene Forderungen, wie die nach Entschädigungszahlungen für ehemalige Zwangsarbeiter.8 Erste Auflistungen für die Regierungsspitze Viktor Klima und Wolfgang Schüssel lieferten Stefan Karner und Oliver Rathkolb Ende der 1990er-Jahre. Daher erhielten Restitution und Entschädigung – beschleunigt noch angesichts der kurzfristigen außenpolitischen Probleme („Sanktionen“ der EU-14 gegen Österreich) nach der Regierungsbildung aus ÖVP und FPÖ unter Wolfgang Schüssel und Susanne Riess-Passer am 4. Februar 2000 – eine vorrangige Stellung in der Arbeit der Bundesregierung. Nach zähen und schwierigen Verhand-

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Vgl. Maria Luise Lanzrath/Hannah Lessing, Der Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus zur Zeitenwende. Was war. Was ist. Was bleiben soll. In: Maria Halmer/Anton Pelinka/Karl Semlitsch (Hg.), Was bleibt von der Shoah?, Wien 2012, S. 97–116. Vgl. Dieter Bacher, Zwangsarbeit in Österreich und die Arbeit des „Österreichischen Versöhnungsfonds“. Zur Einleitung. In: Dieter Bacher/Stefan Karner (Hg.), Zwangsarbeiter in Österreich 1939–1945 und ihr Nachkriegsschicksal. Ergebnisse der Auswertung des Aktenbestandes des „Österreichischen Versöhnungsfonds“. Ein Zwischenbericht, Innsbruck 2013, S. 15–58, hier 37–49.

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lungen wurden dennoch mit den Opfervertretern in den USA, teilweise unter Beteiligung der Israelitischen Kultusgemeinde, relativ schnell die entsprechenden Maßnahmen für eine, zumindest symbolische, „Wiedergutmachung“ gesetzt. Die Verhandlungen zu den Zwangsarbeiterentschädigungen wurden von österreichischer Seite von der ebenfalls im Jahr 2000 ernannten Regierungsbeauftragten Maria Schaumayer geführt und rasch zum Abschluss gebracht. Noch im Jahr 2000 wurde der „Fonds für Versöhnung, Frieden und Zusammenarbeit“ (Versöhnungsfonds) installiert, dessen Aufgabe die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter war. Bis zum Jahresende 2005 bearbeitete der Versöhnungsfonds rund 155 000 Anträge, von denen rund 132 000 mit einem Gesamtumfang von 352 Millionen Euro genehmigt wurden.9 Die Auszahlung erfolgte in drei Kategorien: Landwirtschaft und persönliche Dienstleistungen (1 453 Euro); Industrie/öffentliche Einrichtungen (2 543 Euro) und Sklavenarbeit (7 630 Euro). Die Tätigkeit des Versöhnungsfonds endete mit dem 31. Dezember 2005, seine Restmittel von rund 100 Millionen Euro wurden nach einem bestimmten Schlüssel aufgeteilt; so wurde aus ihnen u. a. der „Zukunftsfonds der Republik Österreich“ gegründet und eine Stipendienstiftung für Menschen aus Staaten eingerichtet, die unter dem NS-Regime besonders zu leiden hatten, ebenso wurde die NS-Opfergruppe der Roma und Sinti bedacht. Des Weiteren wurden Geldmittel zur Aufstockung des „Allgemeinen Entschädigungsfonds“ bereitgestellt.10 Mit dem Washingtoner Abkommen, ausgehandelt von einer österreichischen Delegation unter Sonderbotschafter Ernst Sucharipa, und dem darauf basierenden Entschädigungsfondsgesetz von 2001 wurde die Entschädigung für in der NS-Zeit „arisiertes“, enteignetes oder geraubtes Vermögen vorangebracht. Der Allgemeine Entschädigungsfonds, organisatorisch beim Nationalfonds der Republik Österreich angesiedelt, wurde mit insgesamt 210 Millionen US-Dollar (ca. zwölf Prozent des effektiv in der NS-Zeit entzogenen Vermögens) dotiert. Von insgesamt 20 700 Anträgen wurden über 18 000 bewilligt, das bisherige Auszahlungsvolumen beläuft sich auf 209 Millionen US-Dollar.11 Neben den Zwangsarbeitern und NS-Opfern wurden noch weitere Gruppen entschädigt: Für 1945 vertriebene Mitglieder der deutschen Minderheiten

 9 Vgl. Hubert Feichtlbauer, Zwangsarbeit in Österreich 1938–1945. Fonds für Versöhnung, Frieden und Zusammenarbeit. Späte Anerkennung – Geschichte – Schicksale, Wien 2005. Zur Arbeit des Versöhnungsfonds vgl. auch Jürgen Strasse, Die Tätigkeit des Österreichischen Versöhnungsfonds – ein Projekt von europäischer Tragweite. In: Karner/Iber (Hg.), Schweres Erbe und „Wiedergutmachung“, S. 123–149, hier 135– 141; Gerald Wotava, Die Arbeit im Büro des „Versöhnungsfonds“. In: ebd., S. 284–289. 10 Vgl. Strasser, Die Tätigkeit des Österreichischen Versöhnungsfonds, S. 140–142. 11 Vgl. Ursula Kriebaum/Ernst Sucharipa, Das Washingtoner Abkommen. Die österreichische Restitutionsvereinbarung vom 17. Jänner 2001. In: Verena Pawlowsky/Hans Wendelin (Hg.), Die Republik und das NS-Erbe. Raub und Rückgabe – Österreich von 1938 bis heute, Wien 2005, S. 164–221.

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wurde ein sogenannter Vertriebenenfonds (mit rund 7 Mio. Euro) eingerichtet und außerdem österreichischen Kriegsgefangenen, d. h. österreichischen Angehörigen der Deutschen Wehrmacht, die im Zweiten Weltkrieg in Kriegsgefangenschaft geraten waren und 2001 noch lebten, eine monatliche Entschädigung von 200 bis 500 Schilling (heute 15 bis 37 Euro) auf Lebenszeit zugesprochen (Kriegsgefangenenentschädigungsgesetze 2001/02).12 Außerdem trat 2005 eine Novellierung des Opferfürsorgegesetzes in Kraft, die erstmals Opfer der NS-Militärjustiz sowie als „asozial“ oder aufgrund einer Behinderung oder ihrer sexuellen Orientierung Verfolgte als Verfolgte im Sinne des Opferfürsorgegesetzes anerkannte.13 Die Bilanz der zweiten Phase der staatlichen Entschädigungspolitik fällt daher grundsätzlich überaus positiv aus. Die entsprechenden Gesetze konnten in Österreich weitgehend im politischen Grundkonsens beschlossen werden. Die österreichische Regelungen und ihre Umsetzung riefen auch international ein sehr positives Echo hervor. Der große Unterschied zu den staatlichen Restitutionsmaßnahmen in der ersten Nachkriegszeit war zum einen, dass nunmehr alle im Parlament vertretenen Parteien hinter den Maßnahmen standen. Zum anderen war die in den 1980er-Jahren durch die Waldheim-Debatte und die historischen Arbeiten aufgebrochene, bis dahin weitgehend in Stein gemeißelte „Opfertheorie“ nun nicht mehr im Wege. Auch ökonomische Fragen der Aufbaujahre konnten nicht mehr als Argument verwendet werden. Nicht zu vergessen bleibt, dass durch die breite Nutzung der Medien die Öffentlichkeitsarbeit bedeutend effizienter gestaltet werden konnte. Trotz der erfolgreichen Abwicklung war freilich allen Beteiligten bewusst, dass die „Wiedergutmachung“ nur ein symbolischer Akt war und dass es damit eben keine wirkliche Abgeltung von erlittenem Leid und Unrecht geben konnte. Natürlich gab es, gerade was die „Entschädigungs- und Wiedergutmachungs“-Politik der Regierung Schüssel/Riess-Passer betrifft, auch geteilte Meinungen und ernst zu nehmende Stimmen in Österreich. Nicht wenige sahen in der konsequenten Art und Weise, mit der Schüssel die Restitution und Entschädigung als Geste umsetzte, ein Manöver, um die internationalen Auswirkungen seiner über längere Zeit und bis heute umstrittenen Koalition mit der FPÖ unter Jörg Haider abzufedern. Außer Frage steht auch, dass die neue Bundesregierung ab Frühjahr 2000 auf bereits laufenden Vorarbeiten aufbauen konnte. „Es waren viele Handlungsstränge, die schon Wirkung entfaltet hatten, bevor das Thema Zwangsarbeit und die umfassende Aufarbeitung des jüdischen Vermögensentzuges in das ÖVP-FPÖ-Regierungsprogramm Eingang fanden.“14

12 Vgl. Walter M. Iber/Stefan Karner, Die Restitutions- und Entschädigungsbemühungen der Regierung Schüssel und ihre Rezeption im In- und Ausland. In: dies. (Hg.), Schweres Erbe und „Wiedergutmachung“, S. 92–104, hier 97 f. 13 BGBl 2005, I, S. 86. 14 Ursula Plassnik, Die Zeit war reif: von den Worten zu den Taten. In: Karner/Iber (Hg.), Schweres Erbe und „Wiedergutmachung“, S. 246–256, hier 254.

Österreich

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Als einen „Motivmix“ bewertet „Standard“-Journalist Hans Rauscher die Politik Schüssels: „Grundsätzliche Anerkennung des Leidens der Verfolgten (ohne besondere Empathie), realistisches Anerkennen der politischen Situation seiner umstrittenen Regierung, Hoffnung, das leidige Thema nun endgültig los zu sein. Die Entschädigung war ihm wohl weniger eine Herzenssache als die seines scharfen Verstandes.“15

Bilanz Als abschließende Bilanz bleiben die Fakten: 2005 war die Rechtssicherheit für Österreich in Fragen der Restitution auch in den USA tatsächlich erreicht. Die Regierung Schüssel hatte sich des heiklen Themas angenommen, die Maßnahmen zügig umgesetzt und damit viele positiv überrascht. Nicht umsonst hielt der damalige US-Chefunterhändler Stuart Eizenstat in Bezug auf das Washingtoner Abkommen rückblickend fest: „These agreements, which were made possible in significant part by the courageous leadership of Wolfgang Schuessel and his team, are a watershed in modern Austrian history.“16 Die Opfer der NS-Zeit gehören zum Fundament der Zweiten Republik Österreich, die sich stets als Antithese zur NS-Diktatur und zu jeder Form von Totalitarismus verstanden hat. Die Opfer der NS-Herrschaft können auch als „Samenkorn“ der demokratischen Ordnung unseres heutigen Staats, der Zweiten Republik Österreich, verstanden und gewertet werden.

15 Hans Rauscher, Weniger eine Sache des Herzens als des Verstandes: Wolfgang Schüssels Motiv-Mix bei der Entschädigung für NS-Opfer. In: Karner/Iber (Hg.), Schweres Erbe und „Wiedergutmachung“, S. 257–265, hier 265. 16 Stuart Eizenstat, 10 Jahre Washingtoner Abkommen. Hintergründe, Erfolge und die Zukunft. Rede, gehalten vor der Österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik und den Vereinten Nationen, Wien am 19.11.2011. Abgedruckt in: Österreichisches Jahrbuch für Politik 2010, S. 381–402.

II. Militärdiktaturen

Der Umgang mit den Opfern von Gewalt und Repression im nachfranquistischen Spanien Walther L. Bernecker Der gesellschaftliche, juristische und politische Umgang mit den Opfern von staatlicher Gewalt und Repression während des Franquismus hing (und hängt) ganz entscheidend von der politischen Entwicklung Spaniens in den Jahren nach dem Tod des Diktators Francisco Franco 1975 ab. Einleitend muss daher im Folgenden auf die postfranquistische Transition eingegangen werden, da sie zu den bestimmenden Rahmenbedingungen der Vergangenheitspolitik im demokratischen Spanien gehört.

Die Transition als entscheidende Rahmenbedingung postdiktatorialer Vergangenheitspolitik Unter Transition versteht man in Spanien jenen im Wesentlichen gewaltfreien Übergang vom autoritären Franco-Regime in eine liberal-parlamentarische Monarchie nach dem Tod des Diktators; das Ergebnis der Transition ist der heutige demokratische Rechtsstaat Spanien. Das Besondere des Regimewandels bestand darin, dass er unter Leitung und Kontrolle der franquistischen Institutionen und eines Teils der in ihnen vorherrschenden politischen Elite durchgeführt wurde; formal somit innerhalb der von Franco errichteten Legalität vor sich ging und mit dem autoritären Verfassungsrecht des Franquismus nicht brach – was wohl der wesentliche Grund dafür war, dass die Streitkräfte nicht eingriffen, sondern die Veränderungen akzeptierten. Inhaltlich zielte der Wandel jedoch nicht auf eine Reform oder Revision des franquistischen Systems ab, sondern – unter Bruch mit den Strukturprinzipien des franquistischen Staats – auf dessen Ersetzung durch eine neue, auf demokratischen Prinzipien basierende Regierungsform.1 Der Tod Francos bedeutete noch nicht das Ende des Franquismus. Er war aber ein Katalysator der folgenden Reformentwicklungen. In seiner Thronrede am 22. November 1975 kündigte König Juan Carlos I. eine Öffnung und 1

Die Literatur zur Transition ist inzwischen unübersehbar. Zum Verlauf der Transition in den wichtigsten gesellschaftlichen und politischen Bereichen vgl. Walther L. Bernecker/ Carlos Collado Seidel (Hg.), Spanien nach Franco. Der Übergang von der Diktatur zur Demokratie 1975–1982, München 1993.

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­ emokratisierung des politischen Systems an; dieses Programm wurde dann in D der Regierungserklärung vom Dezember 1975 konkretisiert (Reform der repräsentativen Institutionen, Gewährung des Vereinigungsrechts, Ausweitung der Freiheiten und Rechte der Bürger), machte in der ersten Hälfte des Jahres 1976 jedoch unter der noch stark dem alten System verpflichteten Führung des franquistischen Ministerpräsidenten Carlos Arias Navarro nur wenig Fortschritte. Die Frage, die sich für die politisch Verantwortlichen stellte, lautete: Bruch mit dem Franquismus (wie es die Opposition forderte) oder Kontinuität bei unwesentlichen Korrekturen am System (was die Rechte erstrebte)? Die schließlich eingeschlagene Lösung verzichtete auf die abrupte Demontage des Franco-Systems, setzte stattdessen auf den langsamen Wandel, auf das Aushandeln von Änderungen, auf den „paktierten“ Übergang (transición/ruptura pactada). Die „Transición“ erfolgte als Reform; ihre Originalität bestand darin, dass sie politisch als Verhandlung zwischen Regierung und Vertretern des alten Regimes einerseits, den Kräften der demokratischen Opposition andererseits erfolgte und verfassungsrechtlich mittels den in den franquistischen „Grundgesetzen“ für deren Revision vorgesehenen Mechanismen stattfand, sodass die franquistische Legalität für ihre eigene Ersetzung durch eine neue, demokratische Legalität instrumentalisiert wurde. Die erste, entscheidende Maßnahme im Prozess des Übergangs war die Ablösung von Arias Navarro durch Adolfo Suárez im Amt des Minister­präsidenten im Juli 1976. Suárez’ Strategie, die bereits im „Projekt für die politische Reform“ (September 1976) zum Ausdruck kam, war dualer Art: Einer­seits musste er die erforderliche Unterstützung seitens der Franquisten für die geplanten, als „Reform“ dargestellten Änderungen erreichen, andererseits zielte er auf Duldung des eingeschlagenen, inhaltlich als „Bruch“ dargestellten Prozesses seitens der demokratischen Opposition ab. Die Dialektik Reform/Bruch begleitete dann auch die gesamte Übergangsphase, deren Erfolg darin bestand, einen breiten Konsens dieser sich eigentlich ausschließenden Posi­tionen erreicht zu haben. Längst ist die soeben kursorisch vorgestellte Transition Gegenstand zeitgeschichtlicher Forschungen geworden. In der Historiografie zu diesem Thema lässt sich ein dominierender Diskurs feststellen: Die Transition wird zumeist als modellhaft und als historischer Erfolg dargestellt. Victor Pérez Díaz hat darauf verwiesen, dass die neue spanische Demokratie ihre Symbole, Riten und Ikonen weder aus der Franco-Zeit noch aus der (zumeist kritisch interpretierten, da gescheiterten) Zweiten Republik der 1930er-Jahre hernehmen konnte. Daher seien neue Symbole erforderlich geworden: das Bild der nationalen Versöhnung, der volkstümlichen Monarchie, der Verfassung für alle politischen Lager, der erfolgreichen Transition.2 Da diese Bilder der Legitimierung der jetzigen Staats-

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Victor Pérez Díaz, La emergencia de la España democrática. La invención de una tradición y la dudosa institucionalización de una democracia, Madrid (CEACS Working Paper 18, Instituto Juan March) 1991.

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und Regierungsform dienten, erkläre sich auch die überwiegend positive Zeitgeschichtsschreibung zum Übergang vom autoritären System in die Demokratie. Der dominierende historiografische Diskurs, der die Transition als eine Er­ folgs­­­geschichte darstellt, wird nur vereinzelt von kritischen Stimmen gebrochen. Zu den frühesten Kritikern zählte Gregorio Morán, der als Erster eine ambivalente Suárez-Biografie veröffentlichte und sich sodann in einer viel diskutierten Studie der Frage nach dem „Preis“ der Transition zuwandte.3 Ein zentraler Aspekt seiner Argumentation war der Verweis auf das Verdrängen der historischen Erinnerung: Der hochgelobte gesellschaftliche „Konsens“ der Übergangszeit sei mit einem Verschweigen der Vergangenheit, einer Tabuisierung der franquistischen Verbrechen erkauft worden. In der Tat kam es in Spanien weder zu einer juristischen Aufarbeitung der Diktatur noch zu einer breiten gesellschaftlichen oder politischen Diskussion über Verantwortlichkeiten in der Diktatur. Die Demokratisierung und der soziopolitische Frieden hatten ihren politischen und moralischen Preis. An vielen Orten überlebte auch das franquistische Symbolsystem, was die Spanier viele Jahre lang daran erinnerte, dass die politische Reform aus einem Pakt hervorgegangen war, der innerhalb der autoritären Institutionen ausgearbeitet wurde und schließlich zum „Übergang in die Demokratie“ führte. Diesem Übergangscharakter entsprechend gingen die Streitkräfte, der juristische Apparat, die Bürokratie sowie alle anderen staatlichen Instanzen ohne jegliche Art von Säuberung von der Diktatur in den Postfranquismus über. Die Tatsache, dass es keinen klaren demokratischen Bruch mit der franquistischen Diktatur gab, hat einen Schatten auf jene Bereiche der Vergangenheit geworfen, die Pierre Nora „Orte des Gedächtnisses“ genannt hat. Die Tran­sition stellte eine Art Ehrenabkommen dar, durch das die Kompensation der Franquisten für die Übergabe der Macht in der Praktizierung einer kollektiven Amnesie erfolgte. Beschränkte sich das offizielle Vergessen und Ver­drängen zuerst auf den Bürgerkrieg (1936–1939), so wurde es später – Morán zufolge – auf die Repression im Franquismus ausgedehnt. Wegen des konsensualen Reformcharakters der Transition mussten ein Bruch mit der diktatorischen Vergangenheit und eine klare Distanzierung von der franquistischen Pro­paganda nach 1975 ausbleiben; daher bestanden auch franquistische Mythen vorerst weiter. Übereinstimmung wurde schnell hinsichtlich der aus der Bürgerkriegserfahrung zu ziehenden Lehren erzielt: Der Krieg wurde als kollektive Tragödie dargestellt, die sich nie wiederholen dürfe. Aus dieser Deutung ergab sich die zwingende Notwendigkeit einer Versöhnung der seit dem Bürgerkrieg gespaltenen spanischen Gesellschaft; diese Versöhnung bedeutete zugleich die „Bewältigung“ des Kriegs und ermöglichte die friedliche Demokratisierung. Eine radikale Kritik am Demokratisierungsprozess übte der frühere sozialistische Politiker Pablo Castellano, demzufolge die Transition vom und für den

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Gregorio Morán, Adolfo Suárez, Historia de una ambición, Barcelona 1979; ders., El precio de la transición, Barcelona 1992.

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Franquismus entworfen worden sei und daher logischerweise die Kontinuität des Regimes darstelle.4 Die Hauptspielregeln seien von der Regierung Suárez vorgegeben worden; wer am Reformprozess partizipieren wollte, musste die Eckpunkte akzeptieren: monarchische Staatsform, parlamentarisches System, Verzicht auf Abrechnungen.5 Von Bedeutung ist schließlich jene politisch - strukturelle Interpretation der Transition, die auf die Schwäche der Akteure und die Stärke des Staats abhebt. Denn im Grunde genommen kann man nicht nur von der Schwäche und Fragilität der Opposition sprechen;6 sämtliche Akteure, auch das Regime, wiesen unübersehbare Schwächen auf. Der Tod von Diktator Franco hatte unter seinen Gefolgsleuten Uneinigkeit und Ungewissheit über die politische Zukunft zurückgelassen. Das dahinsiechende Regime verfügte nicht über ein politisches Zukunftsprojekt, konnte außerdem in seinen eigenen Reihen keine Disziplin herstellen. Dieser relativen Schwäche des Regimes muss die seit Jahrzehnten gewachsene Stärke des Staats gegenübergestellt werden: Die Verwaltung war ausgebaut worden, Polizei und Streitkräfte funktionierten besser als in früheren Phasen der spanischen Geschichte; die öffentlichen Dienste wiesen zwar zahlreiche Mängel auf, bestimmten aber den Alltag der meisten Spanier (Gesundheitswesen, Sozialversicherung, öffentliche Erziehung, Sozialwohnungen, Straßennetz, Steuersystem). Diese Stärke des Staatsapparats bedingte auch seine Stabilität. Der Systemwechsel von der Diktatur zur Demo­kratie war zwar radikal, eine Staatskrise aber blieb aus. Es gab weder Säu­berungen noch eine gesetzgeberische Leere noch einen legalen Bruch. Ganz im Gegenteil: Die Veränderungen wurden erheblich von reformistischen Ver­tretern des alten Systems vorangetrieben. Die Stärke der staatlichen Verwal­tungs­strukturen führte zur Mäßigung der Opposition und zwang die Erben des Franquismus, den angebotenen politischen Kompromiss zu akzeptieren.

Gewalt und Repression in Krieg und Nachkriegszeit Die unterschiedlichen Interpretationen der Transition verweisen auf differierende Deutungen des Bürgerkriegs und des Franquismus. Eine Sichtweise des Bürgerkriegs, die sich in der Transition nicht nur unter den gemäßigten Kräften

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Pablo Castellano, Por Dios, por la patria y el rey. Una visión crítica de la transición española, Madrid 2001. Vgl. Paloma Aguilar Fernández, Justicia, política y memoria. Los legados del franquismo en la transición española, Madrid (CEACS Working Paper 163, Instituto Juan March) 2001; José Alvarez Junco, Del Franquismo a la Democracia. In: Antonio Morales Moya/ Mariano Esteban de Vega (Hg.), La Historia Contemporánea en España, Salamanca 1996, S. 159–170. Die Schwäche der Opposition lässt sich vor allem auf die enorme Repression im Bürgerkrieg und während der Diktatur zurückführen. Zur Rolle des Bürgerkriegs im Übergang zur Demokratie vgl. Paloma Aguilar, Memory and Amnesia. The Role of the Spanish Civil War in the Transition to Democracy, New York 2002.

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des politischen Zentrums, sondern weitgehend – allerdings nicht vollständig – auch unter Sozialdemokraten und in großen Teilen der seriösen Historikerzunft durchsetzte, betrachtet den Krieg von 1936 bis 1939 als einen Kampf zwischen zwei Spanien, in dem es auf beiden Seiten zu großen Grausamkeiten gekommen ist und der deswegen möglichst schnell vergessen werden sollte. Diese Version postuliert eine Äquidistanz beider Lager zu den Verantwortlichkeiten für die Grausamkeiten; die Verabschiedung der Verfassung von 1978 bedeutete demnach das Ende der zwei Spanien. Letztlich lässt diese versöhnungsbereite Deutung das Übergewicht konservativer Positionen in der nachdiktatorischen Debatte erkennen. Denn jene immer wieder zitierten „zwei Spanien“ des Bürgerkriegs waren keineswegs gleich stark; vielmehr kämpfte, zumindest anfangs, eine Minderheit aufständischer Militärs und konservativer Oligarchen gegen eine deutliche Mehrheit von Arbeitern und Bauern, intellektueller Mittelschicht und regionalistischen Kräften. Um sich nach dem Krieg an der Macht halten zu können, mussten die Sieger daher auch auf eine in der spanischen Geschichte einzigartige Repression zurückgreifen, die in der einen oder anderen Form nach der extrem terroristischen Brutalität der 1940er -Jahre die gesamte Diktatur über aufrechterhalten wurde. Unabhängig von den unterschiedlichen ideologischen Positionen, die bis heute die Sichtweise auf den Bürgerkrieg prägen, lässt sich unumwunden feststellen, dass der Krieg für das ganze Land verheerende Konsequenzen hatte. Besonders hoch waren die Menschenverluste, ebenso waren die wirtschaftlichen Schäden gewaltig. Wichtiger als die materiellen waren jedoch die ideologischen und psychologischen Folgen des Kriegs. Das wichtigste Vermächtnis des Bürgerkriegs von 1936 war die auf ihn folgende Spaltung der spanischen Gesellschaft in zwei Lager: das der Sieger und das der Besiegten.7 Zwischen beiden gab es vorerst eine nahezu hermetische Trennung. 1951 schrieb Raimundo Fernández Cuesta, der damalige falangistische Generalsekretär der Bewegung: „Zwischen ihrem Spanien und unserem besteht ein Abgrund, der nur durch Reue und Unterwerfung unter unsere Doktrin überwunden werden kann. Andernfalls ist es besser, dass sie jenseits des Abgrundes bleiben; falls sie ihn heimlich zu überqueren trachten, sollen sie umkommen.“8 Für das Lager der „Nationalen“ stand von Anfang an fest, dass die Sieger regieren und die Früchte der Macht genießen würden. Die Besiegten, die in den Augen Francos das absolut Böse verkörpert hatten, sollten zahlen und büßen. Für Hunderttausende begann mit dem Ende des Kriegs nicht ein besserer Lebensabschnitt, sondern eine ­qualvolle ­Leidensgeschichte, deren Ende in Abertausenden von Fällen ein gewaltsamer Tod war. Die Vergeltung der Sieger war nämlich ­ungeheuerlich, die blutige

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Raymond Carr/Juan Pablo Fusi, España, de la dictadura a la democracia, Barcelona 1979, S. 30 f. Zit. nach Comisión Internacional de Juristas, El imperio de la ley en España, Genf 1962.

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Repression erreichte im ersten Jahrzehnt nach 1939 einen in der spanischen Geschichte wohl einmaligen Höhepunkt. Erst allmählich ging das Regime, nachdem es sich definitiv konsolidiert hatte, zu differenzierteren, weniger brutal terroristischen Methoden über. Die fürchterliche Repression der 1940er-Jahre vertiefte die vorhandenen Gräben weiter, als diejenigen, die (bewusst oder weil ihnen keine andere Möglichkeit blieb) die Republik der Volksfront unterstützt hatten, verfolgt, gefoltert, erschossen oder verbannt wurden. Die Inhaber der Macht dachten nach 1939 nicht an eine Wiederversöhnung; ihnen ging es vor allem um Rache. Der 1. April – der Tag, an dem der Bürgerkrieg für beendet erklärt wurde – war nicht etwa ein „Tag des Friedens“; er wurde in der Franco-Ära vielmehr als „Tag des Sieges“ begangen und erinnerte damit Spanien Jahr für Jahr an die Zweiteilung des Landes in Sieger und Besiegte. Auch die, die vom Racheregime Francos nicht direkt verfolgt wurden, sahen sich einer katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Situation gegenüber. Es waren vor allem die Angehörigen der sozial schwachen Schichten, der Arbeiterschaft, die die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Kriegs zu tragen hatten. In ihrer überwiegenden Mehrheit wurden der Bevölkerung im ersten Nachkriegsjahrzehnt unsägliche Opfer abverlangt. Die Arbeiterschaft erlebte ausgesprochene Hungerjahre (años del hambre) und vegetierte zumeist am Rande des Existenzminimums dahin. Mit der Lebensmittelknappheit und der Ausbreitung blühender Schwarzmärkte war der Rückfall weiter Landgebiete in Subsistenzwirtschaft, Tauschhandel und soziale Inaktivität verbunden.9 Die Folgen der franquistischen Siegermentalität waren die gesamte Franco-­ Ära über zu spüren. Viele der Toten duldete Francos Racheregime nur als „Verschwundene“ oder „Vermisste“, um die Schreckensbilanz der Abrechnung zu verschleiern. Hinrichtungen und Säuberungen haben bis ans Ende der Franco-Ära im Volk die Erinnerung an die Spaltung in „zwei Spanien“ aufrechterhalten, trotz aller bombastischen Propaganda des Regimes über den „Frieden Francos“. Für viele Spanier dauerte der 1939 offiziell für „beendet“ erklärte Bürgerkrieg bis 1975, bis zum Todesjahr des Diktators. Erst danach wurde dem ehemals unterlegenen „linken“ Spanien in einem neuen, demokratischen Staat sehr allmählich Existenz- und Gleichberechtigung zugestanden. Am Ende des Kriegs war Spanien ein in jeder Hinsicht verwüstetes Land.10 Die Menschenverluste gingen in die Hunderttausende, wovon im Zuge der Kampfhandlungen allerdings „nur“ 100 000 bis 150 000 gefallen sein dürften. Eine mindestens ebenso große Anzahl fiel zwischen 1936 und 1944 in Franco-­ Spanien politischem und Justizmord zum Opfer: ca. 140 000. Zu diesen Zahlen

 9 Vgl. die Beschreibung der katastrophalen Lebensverhältnisse während der 1940er-Jahre bei Walther L. Bernecker, Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 202–219. 10 Vgl. Gabriel Jackson, A Concise History of the Spanish Civil War, London 1974.

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sind noch weitere knapp 500 000 aus politischen Gründen Exilierte hinzuzuzählen, die nach 1939 das Land verlassen mussten. In den ersten Kriegsmonaten verbreitete sich Panik unter der Zivil­be­ völkerung, als sich herumsprach, dass es im „nationalen“ Lager zu Massener­ schießungen ohne Gerichtsurteile kam. Später kam es zwar zu Schnellgerichten (juicios sumarísimos), aber die Verurteilungen erfolgten rein willkürlich und ließen jegliche rechtsstaatliche Garantie vermissen. Die Willkür der Verfahren lässt sich schon an der Anklagebegründung erkennen. Verurteilt wurden die Ange­klagten „wegen Unterstützung eines Aufstandes“; gemeint war genau das Gegenteil, nämlich dass sie sich dem Aufstand gegen die Republik entgegengestellt hatten. Die Gesetze hatten außerdem rückwirkende Geltung, sodass all jene verurteilt werden konnten, die in der Republik einer „linken“ Partei oder einer Gewerkschaft angehört hatten. Die Unschuldsvermutung galt für die Angeklagten nicht, da die Gerichte der Anklage des Staatsanwalts grundsätzlich Glauben schenkten. Am 9. Februar 1939 wurde das „Gesetz über politische Verantwortlichkeiten“ (Ley de Responsabilidades Políticas) erlassen. In seiner Präambel stand zu lesen: „Kurz vor der vollständigen Befreiung Spaniens hält es die Regierung [… ] für angebracht, ein Gesetz über politische Verantwortlichkeiten zu erlassen, das dazu dient, all die Vergehen zu liquidieren, die auf diesem Gebiet von jenen Personen verübt wurden, die durch Handlungen oder schwere Verfehlungen dazu beigetragen haben, die rote Subversion zu fördern, sie über mehr als zwei Jahre am Leben zu erhalten und den von der Vorsehung gewollten und historisch unausweichlichen Sieg der Nationalen Bewegung zu behindern.“ Zur Ausführung des Gesetzes wurden auf dem gesamten spanischen Territorium „Sondergerichte für politische Verantwortlichkeiten“ (Tribunales Especiales de Responsabilidades Políticas) eingerichtet. Vorgesehen waren Schnell - und Standgerichte, deren Vorsitz ein Militärrichter innehatte. Die Bestimmungen des Gesetzes galten rückwirkend ab dem 1. Oktober 1934, sie umfassten somit auch all jene Taten, die in Zusammenhang mit dem asturischen Oktober­aufstand von 1934 verübt worden waren. Das Gesetz zog eine Prozesslawine nach sich, die speziell für die politische Repression eingerichteten Gerichtshöfe waren völlig überfordert. Bis zum 30. Oktober 1941 waren 125 250 Prozesse eröffnet worden; bis dahin hatte es allerdings erst 38 055 Urteile (somit 30,38 Pro­zent) gegeben. Am 19. Februar 1942 wurden daher die Sondergerichte wieder abgeschafft und die anhängigen Fälle den zivilen Provinzgerichtshöfen übertragen. In den Jahren seiner Gültigkeit verfolgte das Gesetz zwei Ziele: Zum einen ging es um die Einschüchterung all derer, die die Republik unterstützt hatten; zum anderen ging es um ökonomische Interessen, da bei Verurteilung wirtschaftliche Sanktionen drohten, die den Beschuldigten ruinieren konnten und dem Staat in einer Zeit ausgesprochener Wirtschaftskrise Mittel verschafften. Aufgrund zahlreicher bürokratischer Hindernisse zogen sich viele Prozesse über Jahre hin; in dieser Zeit lebten die Angeklagten in einem ständigen Klima der Angst und Bedrohung. Über Hungertote und „Verschwundene“ liegen

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keine verlässlichen Zahlen vor, doch belegen inzwischen viele erschütternde Berichte die unvorstellbaren Lebensbedingungen politischer Gefangener und ihrer Ange­hörigen, ihre systematische Benachteiligung (etwa bei der Essensmar­ ken­zu­teilung) und ständige Demütigung, ihre andauernde Angst vor Verfolgung und Inhaftierung.11 Im letzten Jahrzehnt hat die Forschung über die Toten und die Opfer der Repression deutliche Fortschritte verzeichnet. Aufgrund lokaler und regionaler Detailstudien lassen sich heute die Opferzahlen für viele Gegenden Spaniens mit hinreichender Genauigkeit bestimmen. Bisher sind 25 Provinzen systematisch erforscht, d. h. rund 50 Prozent des spanischen Territoriums. Allein für diese Provinzen haben die Historiker 72 883 Todesopfer des Franquismus er­ rechnet. Teilergebnisse weiterer sieben Provinzen kommen auf (vorerst) 17 311 Repressionsopfer; definitiv belegt sind somit 90 194 Tote. Hierbei handelt es sich um ein vorläufiges und partielles Ergebnis. Auch die Opfer der Repression im republikanischen Lager sind errechnet worden. Bisher liegen die Ergebnisse für 22 Provinzen vor: 37 843 Opfer. Insgesamt geht die Forschung davon aus, dass die Opfer republikanischer Repression 50 000 nicht überstiegen haben, während die der franquistischen Repression (zwischen 1936 und 1950, also in der Kriegs - und Nachkriegszeit) bei ungefähr 140 000 liegen.12 Entsprechend diesen Detailergebnissen hebt Javier Rodrigo in einem vorläufigen Fazit hervor, dass die Mordrate durch die Franquisten dreimal höher als die der Republikaner war;13 für Katalonien kommt Conxita Mir zum Ergebnis, dass die Zahl der republikanischen Opfer dort doppelt so hoch wie die der franquistischen Seite war.14 Eines der umstrittensten und im letzten Jahrzehnt besonders intensiv untersuchten Phänomene ist die Frage der Repression im Hinterland beider Kriegszonen. Den Anfang machte die solide Untersuchung von Alberto Reig Tapia,15

11 Vgl. Miguel García, Spanien – Kampf und Gefangenschaft 1939–1969, Berlin 1975; Ronald Fraser, Im Versteck, Reinbek 1972. 12 Der neueste Stand der Forschung (mit umfangreicher regionaler und lokaler Bibliografie zum Thema) bei Santos Juliá (Hg.), Víctimas de la guerra civil, Madrid 2004. Eine systematische Analyse der franquistischen Gewalt- und Repres­sions­maßnahmen (Zwangshandlungen jeglicher Art, Ausschluss aus der Gesellschaft, Sozialkontrolle, Repression, willkürliche Erschießungen, nächtliche „Abholungen“, Beschlagnahme von Gütern, Entlassungen, Säuberungen, Todesurteile durch Mili­tär­gerichte, Gefängnis-„Theologie“, Umerziehung, Zwangsarbeit, kulturelle Unter­drückung etc.) findet sich in dem jüngsten Sammelband von Julio Aróstegui (Hg.), Franco: la represión como sistema, Barcelona 2012. 13 Javier Rodrigo Sánchez, La bibliografía sobre la represión franquista: Hacia el salto cualitativo. In: Spagna contemporanea, 19 (2001), S. 151–169. Vgl. auch den systemati­ sierenden Überblick über die zahlreichen Studien zur franquistischen Gewaltausübung während des Bürgerkriegs und im ersten Nachkriegsjahrzehnt bei Angela Cenarro, Miradas y debates sobre la violencia franquista. In: Ayer, 91 (2013) 3, S. 241–253. 14 Conxita Mir, Vivir es sobrevivir. Justicia, orden y marginación en la Cataluña rural de posguerra, Lérida 2002. 15 Alberto Reig Tapia, Ideología e historia. Sobre la represión franquista y la guerra civil, Madrid 1986.

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die das Funktionieren und die Folgen dessen untersucht, was der falangistische Innenminister Ramón Serrano Suñer zutreffend „die verkehrte Justiz“ genannt hat, d. h. jenes System der „Nationalen“, das die Verteidiger der republikanischen Legalität in Staatsverräter verwandelte und sie einer gnadenlosen Repression aussetzte. Reig Tapia belegt und beklagt die ideologische Manipulation, der franquistische Historiker das dunkle Kapitel der Repression unterworfen haben. Er weist auf die Schließung der Archive im Franquismus hin, auf das Verschwinden von Dokumenten, auf administrative Schwierigkeiten beim Versuch, weiterführende Daten ausfindig zu machen, und auf die politische Instrumentalisierung der Geschichte durch franquistische Pseudo-Historiker wie Ricardo de la Cierva.16 Der Autor rechnet nicht quantitativ die Repressionen beider Seiten gegeneinander auf, wenn er auch die Mangelhaftigkeit älterer quantitativer Studien deutlich aufzeigt. Er betont vielmehr die qualitativen Unterschiede zwischen dem Terror in der franquistischen und dem in der republikanischen Zone; dabei geht er auch ausführlich auf die Mechanismen der Prozessführung, d.h. auf die „legalisierte“ Repressionsform ein. Im Lager der späteren Bürgerkriegssieger stand hinter dem Terror eine Ideologie; die Repression ging von oben aus und wurde Teil der Funktionsweise des entstehenden „Neuen Staats“, dessen Herrschaftselite meinte, das gegnerische „Anti-Spanien“ (auch physisch) vernichten zu müssen, um selbst bestehen zu können. Verurteilungen des Terrors, wie sie im republikanischen Lager Azaña, Irujo, Prieto, Peiró und viele andere vortrugen, die sich gegen den Ausbruch von angestautem, gewalttätigem Hass der seit vielen Jahrzehnten unterdrückten Unterschichten wandten, hat es bei den Siegern nicht gegeben. Während im Kriegsverlauf die Republik die Kontrolle über die Staatsorgane zurückgewann und die ohne staatliche Sanktionierung begonnenen Exzesse kontrollierte, wurde im Lager der Sieger der (Staats-)Terror systematisch gegen die Besiegten angewandt. Für die Frage der Repression stellte das Ende des Bürgerkriegs sodann keine Zäsur dar; vielmehr haben neuere Studien gerade für dieses Gebiet die thematische Zusammengehörigkeit von Bürgerkrieg und erster Nachkriegsphase (bis weit in die 1940er-Jahre hinein) herausgearbeitet.17

16 In seinem Beitrag über „polyfone Geschichtsinterpretationen“ analysiert Stefan Peters die (Dis-)Kontinuitäten der Geschichtspolitik in Spanien seit dem Bürgerkrieg. Er vertritt die These, dass die anfängliche Heroisierung der Bürgerkriegsgewinner zunächst einem agonalen Memorialkult wich. Seit Mitte der 1990er-Jahre gibt es in Spanien Raum für „polyfone Geschichtsinterpretationen“, die um die Erlangung gesellschaftlicher Hegemonie kämpfen. Vgl. Stefan Peters, Polyfone Geschichtsinterpretationen: Geschichtspolitische (Dis-)Kontinuitäten zwischen Diktatur und Demokratie in Spanien. In: Jahrbuch für Politik und Geschichte, 2 (2011), S. 91–108. 17 Vgl. Julián Chaves Palacios, La historiografía reciente sobre la Guerra Civil de 1936– 1939 en los umbrales del nuevo milenio. In: Anales de Historia Contemporánea, 16 (2000), S. 409–430 (dort eine nahezu erschöpfende Auflistung sämtlicher Territorialstudien zur Repression im Spanien der Nachkriegszeit). Vgl. auch die Sammelrezensionen von Ángeles Egido, Memoria y represión. In: Historia del Presente, 2 (2003), S. 139–147 und Javier Rodrigo Sánchez, Prisioneros de guerra y campos de concentración. In: Pasado y Memoria. Revista de Historia Contemporánea, 2 (2003), S. 295–306.

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Zu den Opfern des Franquismus zählten auch viele Frauen und Kinder, gegen die sich die Repression nicht weniger gewalttätig als gegen Männer wandte.18 Jene „verlorenen Kinder des Franquismus“ – so ein Buchtitel – verloren zu Tausenden ihre Eltern, weil diese im Krieg umgekommen waren. Vielen Kindern von Republikanern raubte man außerdem ihre Identität und ihre Herkunft. Ungefähr 12 000 von ihnen wurden ihren verhafteten und häufig vergewaltigten Müttern in den Gefängnissen weggenommen, in katholische Internate gesteckt und dort „umerzogen“, sodann einer illegalen Adoption durch Militärs und stramme Franquisten anheimgegeben. Der Militärpsychiater Antonio Vallejo Nágera hatte für diese „Säuberung der hispanischen Rasse“ eine eigene „Theorie“ entworfen, in der er den Marxismus „empirisch“ als Geisteskrankheit definierte.19 José Bergamín wird der Satz nachgesagt, dass auf einen Bürgerkrieg ein militärischer Friede folgt. Der Satz trifft auf den spanischen Fall voll zu. Der „Friede Francos“ wurde auf der Grundlage von 900 Haftanstalten verschiedenen Typs errichtet: 194 Konzentrationslager, 217 Zwangsarbeiterbataillone, 87 Diszipli­ nierungsbataillone und 200 Gefängnisse. Die Geschichte dieser Vollzugsan­ stalten war im franquistischen Spanien, aber auch in den ersten Jahrzehnten der Demokratie tabuisiert. Erst in den letzten Jahren hat sich die Forschung dem heiklen Thema zugewandt, inzwischen allerdings mit großem Nachdruck. Ins Zentrum des Interesses rückten schnell die franquistischen Kon­ zentrationslager. Angelegt wurden die ersten bereits ab Dezember 1936; in ihnen sollten Hunderttausende republikanischer Häftlinge umerzogen werden und sodann Verwendung als Quasi-Sklavenarbeitskraft beim Aufbau des „Neuen Staats“ finden.20 Die Bürokratie des Regimes hat gewaltige Mengen an Dokumenten produziert, mit deren Hilfe als zentrales Element des „Neuen Staats“ die physische und moralische Gewalt definiert werden kann, die unerbittlich als Unterdrückungs- und Beherrschungsinstrument gegenüber den militärisch Unterlegenen und später den politischen Gegnern eingesetzt wurde.21 Die franquistischen Konzentrationslager waren keine Vernichtungslager; in einer perversen Symbiose von Kasernengeist und Klerikalmentalität sollten sie politische

18 Vgl. Ricard Vinyes, Irredentas. Las presas políticas y sus hijos en las cárceles franquistas, Madrid 2002. 19 Das Thema der „geraubten Kinder“ und der Zwangsadoptionen ist in den letzten Jahren in den Mittelpunkt vieler Forschungen getreten. Vgl. Arno Gimber/José Manuel Rodríguez, Niños robados y adopciones forzadas. Su presencia en la memora colectiva en España y Alemania. In: Werner Altmann (Hg.), Historia hispánica. Su presencia y (re) presentación en Alemania, Berlin 2012, S. 15–28. 20 Vgl. Javier Rodrigo Sánchez, Los campos de concentración franquistas. Entre la historia y la memoria, Madrid 2003. 21 Vgl. die detaillierten Ergebnisse des Sammelbandes von Carme Molinero/Margarida Sala/Jaume Sobrequés (Hg.), Una inmensa prisión. Los campos de concentración y las prisiones durante la Guerra Civil y el franquismo, Barcelona 2003.

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und ökonomische Funktionen erfüllen. Vor allem ging es um „geistige Ausmerzung“, „Liquidierung“, „Reinigung“ – so die Terminologie der Zeit – und um die Erlösung von der Sünde, vom rechten Weg abgekommen zu sein, durch Arbeitsleistung.22 Am 5. Juli 1937 bestimmte eine Verordnung des „Kriegssekretariats“ der franquistischen Regierung in Burgos die nunmehr systematische Einrichtung von Konzentrationslagern für Gefangene, deren Funktionsweise den nationalsozialistischen Lagern nachempfunden wurde.23 Die Generalleitung der Lager (Inspección) war in der Praxis ausschließlich dem Generalquartier Francos unterstellt. In der ersten Phase wurden 72 Konzentrationslager und „Diszipli­ nierungsbataillone“ geschaffen, vorzugsweise in alten Burgen, Klöstern, auf Fußballplätzen oder in Stierkampfarenen. Eingesperrt wurden sowohl gefangen genommene republikanische Soldaten als auch Angehörige der Internationalen Brigaden. Einige Lager bestanden nur für kurze Zeit und wurden wieder aufgelöst, wenn die inhaftierten Gefangenen den Militärgerichten überantwortet oder Arbeitsbataillonen zugewiesen worden waren; dafür wurden  – mit Erweiterung des „nationalen“ Herrschaftsbereichs im weiteren Verlauf des Kriegs – neue eröffnet.24 Für die Jahre 1936 bis 1942 kommt Javier Rodrigo auf 104 dauerhaft eingerichtete Konzentrationslager; mit den temporären Konzentrationslagern sind es insgesamt 188. Allein für die Bürgerkriegsjahre zählt er 57 000 KZ-Häftlinge.25 Das franquistische Regime richtete während und nach dem Bürgerkrieg verschiedene Formen des Strafvollzugs ein: Neben den Konzentrationslagern auch Arbeiterbataillone, Erziehungsbataillone, Bataillone von Arbeitersoldaten, militarisierte Strafkolonien, Strafbataillone etc. All diese Formen gehen auf das Dekret 281 vom 28. Mai 1937 zurück, das die systematische Ausbeutung republikanischer gefangener Arbeitskräfte regelte. Die Zwangsarbeiter wurden von den franquistischen Regierungen als kostenlose oder allenfalls völlig

22 Den neuesten Stand der Forschung (mit quantitativen Angaben und qualitativen Interpretationen) stellt der von Santos Juliá herausgegebene Sammelband dar: Víctimas de la guerra civil, Madrid 2004. 23 Inzwischen liegen einige wertvolle Sammelbände vor. Vgl. Carme Molinero/Margarida Sala/Jaume Sobrequés (Hg.), Una inmensa prisión. Los campos de concentración y las prisiones durante la Guerra Civil y el franquismo, Barcelona 2003; dies., Los campos de concentración y el mundo penitenciario en España durante la Guerra Civil y el franquismo, Barcelona 2003; Javier Rodrigo Sánchez, Los campos de concentración franquistas. Entre la historia y la memoria, Madrid 2003; Gonzalo Acosta Gonzalo/José Luis Gutiérrez Molina/Lola Martínez Macías/Angel del Río Sánchez, El canal de los presos (1940–1962). Trabajos forzados: de la represión política a la explotación económica, Barcelona 2004. 24 Vgl. die umfangreiche namentliche Auflistung der Konzentrationslager bei Francisco Agramunt Lacruz, Arte y Represión en la Guerra Civil Española, Valencia 2005, S. 223–225. 25 Javier Rodrigo Sánchez, Los campos de concentración franquistas. Entre la historia y la memoria, Madrid 2003.

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­ nterbezahlte Arbeitskräfte beim Wiederaufbau der zerstörten Infrastruk­tur­ u ein­richtungen eingesetzt. Genaue Zahlen liegen nicht vor, Schätzungen gehen aber von 200 000 bis 400 000 Zwangsarbeitern aus. Hinzugezählt werden müssen 10 500 Häftlinge, die ab 1941 als Zwangsarbeiter nach Deutschland geschickt wurden, und ca. 40 000 in Frankreich lebende Exilanten, die ebenfalls als Zwangsarbeiter in deutschen Konzentrationslagern eingesetzt wurden. Auch das Exil, das Hunderttausende erleiden mussten, gehört zur sozialen Realität Franco-Spaniens und ist als besonderer Aspekt der Repressionspolitik zu werten. Die größte Welle der Flüchtlinge ergoss sich nach Frankreich, wo die Exilierten in schnell errichteten Auffang- und Konzentrationslagern eher das kümmerliche Schicksal von Gefangenen denn von politischen Asylanten fristeten. Im Januar und Februar 1939 überquerten knapp 500 000 Spanier im Nordosten des Landes die Pyrenäengrenze; es war der Beginn eines Exils, das für viele ein Leben lang andauern sollte. Andere kehrten zurück, vor allem jene, die zuvor keine politische Verantwortung getragen hatten. Ende 1939 war die Hälfte, zum Teil aufgrund massiven Drucks durch französische Behörden, wieder in Spanien. Die ersten Exilierten waren Kinder. 32 000 Kinder verließen im Verlauf des Bürgerkriegs Spanien, meist über den Hafen von Bilbao. Ihre Eltern brachten sie im Ausland in Sicherheit – in der Hoffnung, sie nach der baldigen Niederschlagung der franquistischen Aufständischen wieder zurückholen zu können. Für viele wurde aus jener Reise ein lebenslanges Exil, in Frankreich, Großbritannien, Mexiko, Chile oder der Sowjetunion. Die ideologische Rechtfertigung des Franquismus beruhte stets auf der Behauptung, im Juli 1936 sei es nötig gewesen, das Vaterland zu retten, das sich kurz vor einer kommunistischen Machtübernahme und damit vor seinem Untergang befunden habe. Der Militäraufstand sei voll gerechtfertigt, ja notwendig gewesen, um der unmittelbar drohenden Gewalt begegnen zu können. Zugleich betonten die Sieger immer wieder, Gott sei mit ihnen (gewesen). Der Finger der Vorsehung habe den Retter des Vaterlands auserkoren, und im Bund mit übernatürlichen Kräften sei der endgültige Sieg errungen worden. Der Kulturpolitiker José María Pemán definierte den Krieg als Auseinandersetzung zwischen dem Guten und dem Bösen, als Kampf derer „mit Gott“ gegen die „ohne Gott“, als Streit zwischen Geist und Materie. Die blutrünstige Nachkriegsrepression wurde dergestalt vor Gott und der Geschichte gerechtfertigt. Aus der Sicht der Kirche war die Repression als Sühneakt erforderlich. Die unbeschränkte Machtausübung der Sieger wurde auch damit gerechtfertigt, dass der Besiegte delegitimiert wurde. Dieser Überlegung zufolge hat es nie einen „Militäraufstand“ gegeben, sondern den eigentlichen Aufstand betrieben die Republikaner, und gegen diesen (geplanten) Aufstand setzte sich das Militär zur Wehr. Der Aufstand vom 18. Juli 1936 gegen die Republik war demnach legitim, da es um die Wiederherstellung der tatsächlichen Werte des wahren Spanien ging, die durch den revolutionär-marxistischen Feind ernsthaft gefährdet worden seien. Auf dieser Grundlage beruhte das gesamte Repressionssystem des Franquismus.

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Die gesellschaftliche und politische Debatte über franquistische Verbrechen im Postfranquismus Während des Franquismus und danach war der Bürgerkrieg im politischen und gesellschaftlichen Diskurs stets obligater Bezugspunkt; kaum jemand versäumte es, auf den Ursprung des Franco - Regimes im Krieg hinzuweisen. Allerdings unterlagen während der Diktatur alle Themen, die mit Gewalt und Repression durch Franquisten zusammenhingen, einer radikalen Tabuisierung. Umso mehr wurde erwartet, dass im demokratischen Spanien (insbesondere an den Jahrestagen des Bürgerkriegs) verstärkte Aktivitäten stattfinden würden, um dem Informations- und Aufklärungsbedürfnis der Bürger nachzukommen. Die Jahrestage 1976/1979 fielen allerdings in die politisch aufgewühlte Tran­si­tionsphase; sowohl die Politiker als auch die Zivilgesellschaft mussten all ihre Energien auf die Bewältigung des Übergangs von der Diktatur in die Demokratie konzentrieren. Als diese Gratwanderung erfolgreich abgeschlossen war und seit 1982 die Sozialistische Partei unangefochten regierte, bot der Jahrestag 1986 zum ersten Mal im redemokratisierten Spanien die Gelegenheit, ohne staatlich verordnete ideologische Vorgaben des Bürgerkriegsbeginns vor 50 Jahren zu gedenken. Allerdings ließ sich das „offizielle“ Spanien so gut wie nicht vernehmen. Im Juni 1986, wenige Wochen vor dem eigentlichen Jahrestag des Bürger­ kriegsbeginns, standen Parlamentswahlen auf der politischen Tagesordnung, bei denen es für die regierende Sozialistische Partei um den Erhalt ihrer absoluten Mehrheit ging, und in dieser politisch heiklen Situation durften Wähler der Mitte und der gemäßigten Rechten nicht verunsichert oder gar verschreckt werden, indem öffentlich auf die Spaltung der spanischen Gesellschaft in den 1930er-Jahren hingewiesen wurde. Damals war ja die Sozialistische Partei eindeutig auf dem linken Spektrum des politischen Lebens angesiedelt. Außerdem wäre wohl eine öffentliche Debatte nicht zu verhindern gewesen, in der auch die Mitverantwortung der stärksten Arbeiterpartei am Scheitern der spanischen Demokratie diskutiert worden wäre. Die einzige Verlautbarung aus dem Moncloa-Palast – Ministerpräsident Felipe González verkündete sie als Regierungschef aller Spanier, nicht als Generalsekretär der Sozialistischen Partei – besagte, der Bürgerkrieg sei „kein Ereignis, dessen man gedenken sollte, auch wenn er für die, die ihn erlebten und erlitten, eine entscheidende Episode in ihrem Leben darstellte“. Inzwischen sei der Krieg jedoch „endgültig Geschichte, Teil der Erinnerung und der kollektiven Erfahrung der Spanier“; er sei „nicht mehr lebendig und präsent in der Realität eines Landes, dessen moralisches Gewissen letztlich auf den Prinzipien der Freiheit und der Toleranz basiert“.26

26 „Una guerra civil no es un acontecimiento conmemorable“, afirma el Gobierno. In: El País vom 18.7.1986, S. 17.

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Sicherlich sind derartige Äußerungen in Zusammenhang mit dem demokratischen Neuaufbau nach 1975 und dem Schlüsselwort beim Abbau der Diktatur zu sehen: consenso, dem Zusammenwirken aller. Die traumatische Erfahrung von Bürgerkrieg, brutalster Gewaltausübung und gesellschaftlicher Spaltung dürfte unausgesprochen den Hintergrund vieler Haltungen und Maßnahmen in der Übergangsphase zur Demokratie gebildet haben: für die Akzeptanz der Monarchie durch die republikanischen Sozialisten, für die gemäßigten Positionen der Kommunisten, für das Zusammenwirken aller politischen Kräfte bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung. Die neue Demokratie sollte nicht von einem Teil gegen den Willen des anderen, sondern möglichst unter Mitwirkung aller politischen Lager aufgebaut werden. Voraussetzung hierfür aber war die Wiederversöhnung aller ehemals verfeindeten Lager. Nicht alte, noch ausstehende Rechnungen sollten beglichen, sondern ein endgültiger Schlussstrich unter die Kämpfe und Feindschaften der Vergangenheit gezogen werden. Dieser Wunsch nach Aussöhnung und die Angst davor, alt-neue, nicht verheilte Wunden wieder aufzureißen, mögen die regierenden Sozialisten – die zu den Hauptverlierern des Bürgerkriegs gehörten! – mitbewogen haben, den Jahrestag 1986 offiziell nicht zur Kenntnis zu nehmen, ja, zu verdrängen und außerdem politisches Verständnis für die ehemals „andere“ Seite zu zeigen. Weiter heißt es nämlich in der Moncloa-Erklärung, die Regierung wolle „die Erinnerung an all jene ehren und hochhalten, die jederzeit mit ihrer Anstrengung – und viele mit ihrem Leben – zur Verteidigung der Freiheit und der Demokratie in Spanien beigetragen haben“; zugleich gedenke sie „respektvoll jener, die – von anderen Positionen aus als denen des demokratischen Spanien – für eine andere Gesellschaft kämpften, für die viele auch ihr Leben opferten“. Die Regierung hoffe, dass „aus keinem Grund und keinem Anlass das Gespenst des Kriegs und des Hasses jemals wieder unser Land heimsuche, unser Bewusstsein verdunkle und unsere Freiheit zerstöre. Deshalb äußert die Regierung auch ihren Wunsch, dass der 50. Jahrestag des Bürgerkriegs endgültig die Wiederversöhnung der Spanier besiegle.“ Die bis 1996 regierenden Sozialisten griffen auf die Erblast der Angst als Folge des Kriegs zurück, um ihre politische Vorsicht abzusichern, um keine radikalen Veränderungen vorzunehmen, die möglicherweise die Stabilität des Systems gefährden könnten. Die in Spanien nach 1975 relativ schnell erreichte Stabilität hatte ihren politischen und moralischen Preis, der soziopolitische Friede musste erkauft werden. Über den Bürgerkrieg, noch mehr sogar über die ersten Jahre der Franco-Ära, legte sich zumindest im politischen Diskurs für längere Zeit eine Decke des gesellschaftlichen Schweigens; wahrscheinlich erachteten es die Demokratisierungs-Generationen nicht für ratsam, auf eine derart konfliktbeladene Epoche zurückzublicken. Inwieweit dem politischen „Vergessen“ in den Transitionsjahren (1975– 1982) und der Epoche der sozialistischen Regierung (1982–1996) ein bewusster Konsens zugrundelag, ist schwer abzuschätzen. Tatsache ist aber, dass in den auf Francos Tod folgenden zwei Jahrzehnten die politischen Eliten (gleich

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welcher Couleur) in der Frage der Vergangenheitsaufarbeitung eine auffällige Zurückhaltung an den Tag legten.27 Bis Ende des 20. Jahrhunderts war die Amnestie, die zu Beginn der Transition (1977) verkündet worden war, mit einer politischen Amnesie verbunden, die eine umfassende gesellschaftliche Aufar­ beitung der Vergangenheit verhinderte. Kritiker sehen darin eines der größten Defizite der Transition. Als weiteren Indikator für die Imperfektion der Transition lässt sich die Behandlung der Familienangehörigen der auf republikanischer Seite im Bürgerkrieg „Verschwundenen“ nennen. Während nämlich die franquistische Seite sofort nach dem Bürgerkrieg ihre Toten identifizieren und ehrenhaft bestatten konnte, ist dies mit den Republikanern bis heute nicht geschehen. Angeblich über 30 000 Republikaner warten darauf, aus anonymen Massengräbern in die Obhut der Familienangehörigen überführt zu werden. Erst im Jahr 2002, nachdem die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen eingeschaltet worden war, kam Bewegung in diese Frage; erste Leichen wurden exhumiert und umgebettet. Und erst Ende 2002 verabschiedete das spanische Parlament eine Resolution, die die Regierung aufforderte, die Suchaktionen auch finanziell zu unterstützen und die politischen Opfer des Franquismus als solche anzuerkennen. Die damals regierende konservative Volkspartei konnte allerdings verhindern, dass der Putsch von 1936 explizit verurteilt wurde; außerdem, so hieß es in der Resolution, dürfe die Anerkennung der Opfer nicht dazu benutzt werden, alte Wunden wieder aufzureißen. Eine Anklage gegen die damaligen Putschisten durfte somit nicht erhoben werden. Es scheint klar zu sein, dass diese Phänomene fehlender Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auf den Kompromisscharakter der Transition zurückzuführen sind. Nach 1975 kam es formal zu keinem Bruch; daher konnte der Antifranquismus auch nicht – wie etwa die Resistenza in Italien – zum Grün­ dungsmythos der neuen spanischen Demokratie werden. Es musste fast ein Vierteljahrhundert vergehen, bis jener gesellschaftliche „Konsens“ der Übergangszeit, der einer Tabuisierung der franquistischen Verbrechen gleichgekommen war, aufgebrochen wurde. Angesichts der lange Zeit ablehnenden Haltung der Regierung schritt im Herbst 2000 eine Bürgerinitiative in der nordkastilischen Ortschaft Priaranza del Bierzo selbst zur Tat und führte – von mehreren professionellen Archäo­ logen unterstützt – die Exhumierung der Leichname von 13 „Ver­schwundenen“ des Bürgerkriegs durch. Das große öffentliche Echo auf die Exhumierungen in Kastilien-León hatte die Gründung des „Vereinigung zur Rückgewinnung der historischen Erinnerung“ (Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica, ARMH) sowie einiger ähnlicher Plattformen mit Internetpräsenz zur

27 Vgl. Walther L. Bernecker, Zum Umgang mit ungeliebter Vergangenheit. Die spanische Gesellschaft und die Erinnerung an den Bürgerkrieg von 1936. In: Jürgen Weber/Michael Piazolo (Hg.), Justiz im Zwielicht. Ihre Rolle in Diktaturen und die Antwort des Rechtsstaates, München 1998, S. 111–130.

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Folge.28 Die Asociación wurde von dem Journalisten Emilio Silva gegründet, der nach seinem verschollenen Großvater suchte.29 Seither kämpft der Verein um die landesweite Aufklärung von politischen Morden und Massenhin­richtungen, die die Aufständischen während des Bürgerkriegs an den Anhän­gern der Republik verübt haben. Angesichts der großen Zahl nicht identifizierter Toter fehlen dem Verein jedoch die für die Exhumierungen erforderlichen Mittel.30 Mit der geradezu buchstäblichen „Entdeckung“ jener Verbrechen, die im Namen des franquistischen Staats seit Ausbruch des Bürgerkriegs begangen wurden, begann nun die öffentliche Konfrontation mit einer Vergangenheit, die aus Sicht der Fachhistorie schon seit Längerem kaum noch Geheimnisse barg. Die breite Öffentlichkeit indes betrat mit dieser Auseinandersetzung ein Neuland, das lange Zeit aufgrund der politischen Unwägbarkeiten sehr bewusst gemieden worden war. Was den Zusammenhang von öffentlicher Aufarbeitung der franquistischen Repression und Bürgerkriegshistoriografie betrifft, verdient die These von Santos Juliá Aufmerksamkeit: Er bestreitet, dass es in Spanien je einen „Pakt des Schweigens“ gegeben habe; im öffentlichen Diskurs sei die Erinnerung vielmehr stets präsent gewesen. Erst die Erinnerung habe als stete Mahnung den entscheidenden Impuls für die Aushandlung der Amnestien in der Frühphase der Transition gegeben und jenes „heilsame“ Vergessen ermöglicht, durch das der Bürgerkrieg als Argument des politischen Wettbewerbs gebannt werden konnte. Juliá verweist auf die intellektuelle Vorgeschichte der Transition, in der sich die gemäßigten Kräfte innerhalb und außerhalb des Regimes schon lange vor dem Tod des Diktators angenähert und den späteren Versöhnungsdiskurs gewissermaßen mental vorbereitet hätten. Deutlichstes Anzeichen dafür war die allmähliche Umdeutung des Bürgerkriegs, der nun – von ideologischer Last und gegenseitigen Schuldzuweisungen befreit – in erster Linie als ein kollektives Unglück betrachtet wurde, für das beide Seiten gleichermaßen Verantwortung trugen. Hinter den aktuellen Erinnerungsansprüchen zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht somit, folgt man Juliá, nicht die Ablehnung eines (ohnehin inexistenten) „Verschwiegenheitspakts“, sondern die Aufkündigung des Erinnerungskonsenses der Transition, der eine gleichmäßige Verteilung der Schuld implizierte.31 Dass die gesellschaftliche Aufarbeitung der franquistischen Repressions­ vergangenheit in den letzten beiden Jahrzehnten zu einem so unerwartet be-

28 Vgl. hierzu die Seiten der ARMH (http://www.geocities.com/priaranza36) sowie der Ver­einigung „despage“ (http://www.nodo50.org/despage). Weitere Internetadressen zur aktuellen Vergangenheitsarbeit in Spanien bei Walther L. Bernecker/Sören Brinkmann, Kampf der Erinnerungen. Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936–2008, Nettersheim 2008, S. 389–391. 29 Vgl. Emilio Silva, Las fosas de Franco. Crónica de un desagravio, Madrid 2005. 30 Vgl. http://www.memoriahistoria.org. 31 Santos Juliá, Echar al olvido. Memoria y amnistía en la transición. In: Claves de razón práctica, 129/2002, S. 14–24.

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deutenden Thema in Spanien wurde, hing damit zusammen, dass von 1996 bis 2004 in Madrid der konservative Partido Popular (PP) unter José María Aznar die Regierung stellte. Von Anfang an verhielt sich die PP-Regierung in zeitgeschichtlichen und geschichtspolitischen Fragen als Sachwalterin des franquistischen Erbes. Auf die Initiativen der Opposition, 60 Jahre nach Kriegsende (1939–1999) das Andenken der Bürgerkriegsexilanten zu ehren und Gelder für deren Entschädigung bereitzustellen, reagierte die Regierungspartei ablehnend – angeblich, da der Text des Gesetzentwurfs eine Verurteilung des Militärputsches von 1936 enthielt. Auch in der Folgezeit beharrte der PP darauf, dass der Bürgerkrieg eine „überwundene Phase“ spanischer Geschichte darstelle. In ihrer zweiten Amtszeit lehnte die Regierung Aznar über 25 parlamentarische Initiativen ähnlicher Stoßrichtung ab. Zivilgesellschaftlich führte diese Regierungshaltung allerdings zu verstärkten, von den Oppositionsparteien zumeist unterstützten Aktivitäten wie etwa zur Gründung der bereits erwähnten „Vereinigung zur Rückgewinnung der historischen Erinnerung“.

Die moralische und juristische Rehabilitierung der franquistischen Opfer Bis zum Ende der Regierung Aznar im März 2004 behinderte die Exekutive nahe­zu jegliche Erinnerungsarbeit, die einer Verurteilung der franquistischen Verbre­chen gleichgekommen wäre. Erst die im Frühjahr 2004 nach den islamistischen Terroranschlägen von Madrid überraschend ins Amt gekommene sozialistische Regierung von Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero (PSOE) schlug eine neue Tonart an und beschloss die Einsetzung einer Untersuchungs­kommission, die Vorschläge zur „moralischen und juristischen Rehabilitierung“ der Repressionsopfer erarbeiten sollte. Bald war die Rede von einem „Wieder­gutmachungsgesetz“. Dieses wiederholt angekündigte „Gesetz zur moralischen Rehabilitierung der Opfer von Bürgerkrieg und Diktatur“, das umgangssprachlich nur „Gesetz der historischen Erinnerung“ (Ley de Memoria Histórica) genannt wird, wurde nach mehreren Verschiebungen und Verzögerungen im Sommer 2006 endlich vom Ministerrat verabschiedet. Der Gesetzesentwurf kam aber der Forderung vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen nicht nach, die Urteile der franquistischen Militär- und Sondergerichte pauschal zu „Unrechtsurteilen“ zu erklären; Ministerpräsident Zapatero erklärte, der spanischen Regierung sei es nicht möglich, die Urteile der Franco - Justiz in toto aufzuheben, da ein derartiger Akt einen „Bruch der Rechtsordnung“ bedeute. Im Herbst 2006 begann die parlamentarische Debatte. Bald war abzusehen, dass der Gesetzesentwurf in der vorgelegten Form keine parlamentarische Mehrheit finden würde. Die Konservativen lehnten das gesamte Projekt ab, da es angeblich die Gräben der Vergangenheit wieder aufriss. Die links von den Sozialisten angesiedelten Parteien und die zivilgesellschaftlichen Organisationen kritisierten den Entwurf, da er ihnen nicht weit genug ging. Es war keine Aufhebung der franquistischen Unrechtsurteile vorgesehen, die finanzielle

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­ nterstützung der Exhumierungsarbeiten hielt sich in engen Grenzen. Das GeU setz bewegte sich im Wesentlichen im symbolischen Bereich. Ende 2006 rückte der PSOE allmählich von seinem Gesetzesentwurf ab und kündigte eine gründliche Überarbeitung an, um doch noch eine parlamentarische Mehrheit für sein Vorhaben zu erhalten. Zu den polemischen Aspekten des Gesetzesprojekts hatte die Regierungsabsicht gehört, die Gerichtsurteile des Franquismus „aus Gründen der Rechtssicherheit“ nicht zu annullieren. Trotz massiver Kritik seitens der Linken beharrte die Regierung auf ihrer Haltung, erklärte sich nunmehr aber bereit, die „Ungerechtigkeit“ der Verurteilungen und Strafen anzuerkennen und die franquistischen Sondertribunale als „illegitim“ zu bezeichnen.32 Wirtschaftliche Entschädigungsfolgen sollte das Gesetz allerdings nicht haben. Erst im Oktober 2007 konnte nach hektischen Schlussverhandlungen und zahlreichen Kompromissen eine Parlamentsmehrheit für das umstrittene Gesetz erreicht werden. Nur der konservative Partido Popular und die katalanischen Linksrepublikaner verweigerten sich. Die wichtigsten Bestimmungen des Gesetzes sind folgende: Der Franquismus wird explizit verurteilt. Die Gerichtshöfe, die während des Bürgerkriegs Urteile aus politischen, ideologischen oder religiösen Gründen fällten, werden als „illegitim“ bezeichnet, ebenso die Gerichtsurteile während der Diktatur, die in diese Kategorie fallen. Die Normen, die im Franquismus unter Verletzung der Grundrechte verabschiedet wurden, sind juristisch ungültig. Unmittelbare juristische oder wirtschaftliche Folgen hat das Gesetz nicht, wenn auch die Illegitimität der Gerichtsurteile bei einer beantragten Revision oder Aufhebung derselben ein wichtiges Argument ist. Der Staat verpflichtet sich, bei der Öffnung der Massengräber von Hin­gerichteten und der Exhumierung von Leichen zu helfen. Außerdem müssen von allen öffentlichen Gebäuden die Symbole, die das franquistische System verherrlichen, entfernt werden; dies gilt auch für entsprechende Straßen­bezeichnungen. Falls sich die Kirche weigert, die Inschriften der sogenannten „Märtyrer für Gott und Spanien“ zu entfernen, kann die ihr ansonsten zustehende finanzielle Unterstützung seitens des Staats entzogen werden. Das „Tal der Gefallenen“, wo Francisco Franco und José Antonio Primo de Rivera, der Gründer der Falange Española, ruhen, darf nicht mehr zu politischen Demons­trationen genutzt werden. Trotz aller nach wie vor von zivilgesellschaftlichen Organisationen geübten Kritik muss betont werden, dass die Ley de Memoria Histórica im Vergleich zu den vorhergehenden Jahrzehnten geradezu einen Meilenstein im offiziellen Umgang mit der jüngeren Vergangenheit bedeutet: Während der langen Franco- Diktatur war eine kritische Auseinandersetzung mit Bürgerkrieg und terroristischer Nachkriegsphase nicht möglich gewesen. Am Anfang der neuen

32 Vgl. El proyecto de Ley de Memoria Histórica divide al Congreso. In: El País vom 14.12.2006, S. 30 f. Vgl. auch den Wortlaut des Gesetzesentwurfs in El País vom 20.4.2007, S. 18.

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Demo­kratie stand dann ein Generalkonsens aller relevanten politischen Lager, demzufolge alle Seiten auf eine allzu explizite Verurteilung der jüngsten Vergangenheit verzichteten.33 Als gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine neue, deutlich jüngere Generation von Spaniern der Erinnerungskultur neue Popularität verschaffte, wurde schnell deutlich, dass das Gedenken an Krieg und Diktatur keineswegs auf einem Erinnerungskonsens beruhte, der zu einem Ausgleich der politischen Lager führen würde, sondern – ganz im Gegenteil – eine Vertiefung der gesellschaftlichen Spaltung bewirkte. Offenbar ist in Spanien eine kritische Auf­arbeitung der Geschichte nur um den Preis verschärfter politischer Kon­ frontationen und einer Art Lagerbildung zu haben. Diese Erkenntnis bestätigt nachträglich die politische Klugheit des viel geschmähten „Schweige­pakts“ der Transition, denn eine derart polarisierende gesellschaftliche Debatte, wie sie Spanien Anfang des 21. Jahrhunderts zum Thema Vergangen­heitsaufarbeitung geführt hat, hätte die erst im Entstehen begriffene Demokratie in den Jahren unmittelbar nach 1975 kaum verkraften können. Bis Ende 2013 konnten 2 382 Massengräber ausfindig gemacht werden; allerdings wurden bisher nicht einmal 400 davon (mit menschlichen Überresten von 6 000 Erschossenen) geöffnet, für mehr standen – so die Argumentation des PP – wegen der schweren Finanzkrise keine weiteren staatlichen Mittel zur Verfügung. Insgesamt wurden von Regierungsseite bisher 25 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, 20 Millionen davon während der Regierungszeit des Sozialisten José Luis Rodríguez Zapatero. Seit 2012 kürzte die konservative Regierung die Subventionen auf null herunter. Überschattet wurden die positiven Effekte des Erinnerungsgesetzes von der Affäre um den prominenten Untersuchungsrichter am Nationalen Gerichtshof Baltasar Garzón, der auf Antrag mehrerer Erinnerungsgruppen ein strafrechtliches Untersuchungsverfahren eröffnete, um das Schicksal von rund 114 000 „verschwundenen“ Repressionsopfern der Jahre 1936 bis 1951 aufzuklären. Garzón argumentierte, dass die von den Opfern des Franquismus vorgetragenen Fälle nicht unter das Amnestiegesetz fielen, da dieses Gesetz nur „Taten mit politischen Absichten“ amnestierte, während er Verbrechen gegen die Menschlichkeit untersuche, die nicht verjähren. Dabei stützte sich Garzón auf die Rechtsprechung internationaler Gerichtshöfe (wie den Sondergerichtshof für Sierra Leone oder den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte). General Franco und 34 weitere hochrangige Regimevertreter fanden sich posthum auf der Anklagebank eines spanischen Gerichts wieder. Schon im November 2008 kam die Strafkammer der Audiencia Nacional jedoch zu dem Schluss, dass Garzón für die strafrechtliche Verfolgung der Verbrechen der Franco-Diktatur aus formalen Gründen nicht zuständig sei, weshalb dieser das Verfahren

33 Einen guten Überblick über die (fehlenden) Vergangenheitspolitiken seit der Transition bis heute liefert Javier Rodrigo, La Guerra Civil: „Memoria“, „Olvido“, „Recuperación“ e Instrumentalización. In: Hispania Nova. Revista de Historia Contemporánea, 6/2006 (http://hispanianova.rediris.es/6/dossier/6d025.pdf).

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an die zuständigen Provinzgerichte delegierte, wo es in der Regel allerdings nicht weiter verfolgt wurde. Der Höhepunkt der Affäre folgte im Frühjahr 2010, als der übergeordnete Oberste Gerichtshof mehrere gegen Garzón gerichtete Straf­anzeigen zur Weiterbehandlung annahm. In zwei der Klageschriften wurden dem Untersuchungsrichter unter Verweis auf das Amnestiegesetz von 1977 Kompetenzüberschreitung und Rechtsbeugung vorgeworfen. Der Beschluss der Justizaufsichtsbehörde, Garzón angesichts der bevorstehenden Eröffnung eines Strafverfahrens vor dem Obersten Gerichtshof im Mai 2010 vom Dienst zu suspendieren, wurde dann zum Auslöser einer zivilgesellschaftlichen Mobilisierung, die deutlich über das bis dahin in der Erin­ nerungsbewegung repräsentierte Milieu hinausging. Schon im April 2010 hatte sich die öffentliche Empörung in Form einer landesweiten Protestdemonstration unter dem Motto „Gegen die Straflosigkeit“ Bahn gebrochen, die auch auf die Unterstützung durch namhafte Kunstschaffende zählen konnte. Wie mehrere Umfragen belegen, hat die gesellschaftliche Akzeptanz der Anliegen der Erinnerungsbewegung in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Sechs Jahre nach Inkraftsetzung des „Memoria-Histórica-Gesetzes“ ist die vergangenheitspolitische Bilanz aus Sicht der Bürgerinitiativen jedoch alles andere als befriedigend, zumal die Arbeit der Initiativen von Behördenschikanen, politischen Erschwernissen und mangelnder Richterkooperation sehr behindert wurde und wird.34 Im Spätherbst 2013 kam erneut Bewegung in die juristische Aufarbeitung der franquistischen Verbrechen. Nachdem es in Spanien so gut wie ausgeschlossen war, die franquistischen Verbrechen juristisch zu ahnden, wandten sich Angehörige von Folteropfern an die argentinische Justiz mit dem Antrag, ein Strafverfahren zu eröffnen. Auf das daraufhin von der argentinischen Richterin María Servini de Cubría eingeleitete Verfahren gegen vier franquistische Folterer reagierte die spanische Regierung mit der schriftlichen und wahrheitswidrigen Behauptung, in Spanien seien „zahlreiche Gerichtsverfahren“ wegen der franquistischen Verbrechen am Laufen; damit wollte sie ihre fehlende Unterstützung der argentinischen Justizbehörden rechtfertigen. Im Übrigen bezogen sich alle staatlichen Stellen immer wieder auf das Amnestiegesetz von 1977. Die von der argentinischen Richterin angeordnete Festnahme der Folterer fand nicht statt, Spanien verweigerte jegliche Zusammenarbeit. Madrid hat bisher auch nicht die Konvention über Nicht-Verjährbarkeit von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit unterzeichnet. Die Frage der juristischen Aufarbeitung der franquistischen Verbrechen beschäftigte im Herbst 2013 auch die Vereinten Nationen. Eine UNO-Arbeits­ gruppe, die sich mit dem „Zwangsverschwindenlassen“ befasste, bereiste

34 Zum Stand der gegenwärtigen erinnerungspolitischen Bewegung in Spanien vgl. Silke Hüneke, Überwindung des Schweigens. Verdrängte Geschichte, politische Repression und kollektives Trauma als Gegenstand der Arbeit der erinnerungspolitischen Bewegung im spanischen Staat, Diss. phil. FU Berlin 2013 (http://www.diss.fu-berlin.de/diss /receive/FUDISS_thesis_000000095137).

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Spanien, sprach mit Hinterbliebenen und Vertretern aus Politik, Kirche und Gesellschaft und schrieb der Madrider Regierung zahlreiche Aufträge in ihr Pflichtenheft:35 Die Exekutive müsse „ihre Verantwortung übernehmen“; sie solle „einen nationalen Suchplan nach den Verschwundenen“ aufstellen; das Amnestiegesetz von 1977 müsse aufgehoben und die Verantwortlichen „für das Zwangsver­schwindenlassen“ von über 114 000 Personen, die Untersuchungs­ richter Garzón namentlich ausfindig gemacht hatte, müssten in Spanien vor Gericht gestellt werden. Die Kommissionsmitglieder kritisierten, dass es keine gerichtliche Untersuchung zu diesen Fällen – geschweige denn eine Verurteilung – gebe und dass sich die zuständigen Richter nicht – wie vorgeschrieben – bei den Massengräbern einfanden, wenn menschliche Überreste gefunden wurden und ausreichend Indizien für einen gewaltsamen Tod vorhanden waren. Spanien solle die in anderen Ländern – etwa in Argentinien – aufgenommenen Strafprozesse „mit allen juristischen Mitteln“ unterstützen und die Prinzipien der universellen Justiz anwenden. Nachdrücklich verwiesen die UNO- Experten darauf, dass die Suche nach den Leichen willkürlich Erschossener nicht „Aufgabe der Familienangehörigen sein könne, sondern Pflicht des Staats sei“. Die Opfer müssten institutionell und finanziell vom Staat nachhaltiger unterstützt werden – und das sehr schnell. Die UNO-Delegierten beklagten die Ungleich­behandlung der Opfer, je nachdem, welche Partei in einer bestimmten Auto­nomen Gemeinschaft gerade regierte – ein deutlicher Hinweis auf die restriktive Politik des konservativen PP, der auch – angeblich wegen der Krise – keine weiteren Finanzmittel zur Durchführung des „Gesetzes der historischen Erinnerung“ zur Verfügung stellt. Auf die Frage, was mit dem umstrittenen „Tal der Gefallenen“ geschehen soll, lautete die eindeutige Antwort: Der Leichnam Francos sei von dort zu entfernen, und das ganze Ensemble solle ein Erinnerungsort für alle Spanier werden. Diese Ergebnisse teilte die Kommission dem wenige Tage später am Sitz der UNO in Genf tagenden „Komitee gegen das Zwangsverschwindenlassen“ mit. Das Komitee übernahm die Empfehlungen und leitete diese an die spanische Regierung weiter. Die Madrider Exekutive lehnte die Zuständigkeit des UNO Komitees ab, da in Spanien die „Internationale Konvention zum Schutze aller Personen gegen Zwangsverschwindenlassen“ erst im Jahr 2010 in Kraft getreten sei. Dieses Argument wiederum wurde von der UNO nicht akzeptiert; vielmehr wiederholte sie kategorisch ihre Forderung, dass es Pflicht des Staats sei, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die Suche nach den Verschwundenen – auch den geraubten Kinder – zu unterstützen. Die spanische Regierung jedoch stellt sich taub; bisher hat sie auf die UNO-Forderungen nicht reagiert. In zwei Jahren werden die Vereinten Nationen überprüfen, inwieweit Spanien den Auflagen nachgekommen ist.36

35 Vgl. Natalia Junquera, Naciones Unidas reclama a España juicios por las víctimas del franquismo. In: El País vom 1.10.2013, S. 18. 36 Vgl. Natalia Junquera, La ONU insta a jueces y Gobierno a buscar a los desaparecidos del franquismo. In: El País vom 16.11.2013, S. 13.

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Schlussbetrachtung und Ausblick Geht es um die moralische und juristische Aufarbeitung von vergangenem staatlichem Unrechtshandeln, um Fragen der Wiedergutmachung, Entschädigung und Entschuldigung bildet Spanien gewissermaßen einen Sonderfall. Seit dem Ende des Bürgerkriegs ist inzwischen ein Dreivierteljahrhundert vergangen, und immer noch weigert sich die mit absoluter Mehrheit in Madrid regierende konservative Partei, an der Aufarbeitung der Vergangenheit mitzuwirken. Vielmehr behindert sie diese nach Kräften. Trotzdem ist die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Krieg und Diktatur in Spanien – ebenso wie in vielen anderen europäischen Ländern – zu einem Signum der vergangenen zwei Jahrzehnte geworden. Und ungeachtet der jeweiligen Tiefe sowie der unterschiedlichen Ebenen der Aufarbeitung – moralisch, politisch, justiziell – ist es heute weitgehend unstrittig, dass von dieser überwiegend positive Impulse für die demokratische Konsolidierung eines Gemeinwesens zu erwarten sind. Denn die Aufarbeitung der Vergangenheit – so die Annahme – schafft Vertrauen: Vertrauen in die Mitmenschen, soweit es gelingt, Opfer und Täter in ausreichendem Maße miteinzubeziehen; Vertrauen aber auch in die Institutionen des Rechtsstaats, der sich je nach Ursprung und Legitimität vor allem gegenüber den jeweiligen Opfern vergangener Gewalt bewähren muss. Zwar ist der empirische Nachweis eines gesellschaftlichen Vertrauensgewinns aus dieser Aufarbeitung und Auseinandersetzung nicht leicht zu führen, da der Vertrauensbegriff an sich schwer zu operationalisieren ist. Zumindest aber der negative Zusammenhang, d.h. die nachteiligen Folgen beschwiegener Vergangenheit für das demokratische Zusammenleben, ist von Politikwissenschaftlern für verschiedene Länder längst auch empirisch belegt worden. Die spanische Erfahrung mit ihrer harten innenpolitischen und innergesellschaftlichen Konfrontation erweist sich dabei – vor dem Erfahrungshintergrund anderer europäischer Länder37 – als Besonderheit, die in einer rund 35-jährigen Nachkriegsgeschichte perpetuiert und erst durch die Transition überwunden wurde. Zwar findet sich am Anfang der neuen spanischen Demokratie ein Grundkonsens der damaligen politischen Lager, aber Kriegs- und Diktatur­ bewältigung zählen in Spanien bis heute nicht zu den Selbstverständlichkeiten politischer Kultur. Zuerst bestand – wie ausgeführt – in Fragen des Beschwei­ gens der konfliktiven Vergangenheit ein überparteilicher Konsens. Inzwischen verweigert sich der Vergangenheitsarbeit – offensichtlich aus wahltaktischen

37 Bisher gibt es nur wenige komparative Studien zu den Vergangenheitspolitiken in Europa. Vgl. für die südeuropäischen Demokratien den sehr aufschlussreichen Sammelband António Costa Pinto/Leonardo Morlino (Hg.), Dealing with the Legacy of Authoritarianism. The „Politics of the Past“ in Southern European Democracies, London 2013.

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und parteipolitischen Gründen – nur noch das konservative Lager. Die neue Popularität des Erinnerns, der sich nach langem Zögern auch die Linksparteien angeschlossen haben, hat paradoxerweise jedoch die Aussichten auf einen Erinnerungskonsens, auf eine einmütige Verurteilung der jüngeren, von Krieg und Diktatur geprägten Vergangenheit eher erschwert. Schwer zu beantworten bleibt die Frage, ob – und wenn ja, welche – Auswirkungen das jahrelange Beschweigen der Vergangenheit auf die Qualität der spanischen Demokratie hatte. Neben weitverbreiteter politischer Kor­ruption und dem autoritären Gebaren von Politikern und Parteien beklagen Politik- und Sozialwissenschaftler regelmäßig den niedrigen Grad politischer Partizipation und (zivil-)gesellschaftlicher Organisation. Seit jener „Ent­täuschung“, dem „desencanto“ großer, politisch besonders aktiver Teile der Bevölkerung nach Abschluss des demokratischen Übergangs, zeichnet sich die Zivilgesellschaft in Spanien allgemein durch einen im westeuropäischen Maßstab niedrigen Organisations- und Mobilisierungsgrad aus.38 Weitere Schatten auf die Verwurzelung der spanischen Demokratie werfen außerdem die Unzufriedenheit beachtlicher Teile der Bevölkerung mit der Arbeit der verschiedenen demokratischen Regierungen und der Funktionsweise des Systems überhaupt sowie das geringe gesellschaftliche Ansehen der politischen Institutionen (Parlament, politische Parteien, Regierung). Im Gegensatz zu diesen Ergebnissen erfreute und erfreut sich die Demokratie einer hohen Zustimmung, ebenso wie die Verfassung von 1978. Allerdings hat im Mehrheitsempfinden die Art des demokratischen Übergangs, die ja das Ausblenden der Vergangenheit einst bewusst begründet hatte, in den letzten Jahren immer weniger vorbehaltlose Zustimmung erfahren. War in den ersten Jahrzehnten nach Francos Tod die Ausklammerung der im Krieg und in der Nachkriegszeit begangenen Verbrechen um der Stabilität der entstehenden Demokratie willen noch weitgehend akzeptiert worden, so änderte sich diese Haltung rund ein Vierteljahrhundert nach dem Tod des Diktators. Seither wird immer deutlicher und von immer größeren Bevölkerungskreisen eine rückhaltlose Aufklärung der franquistischen Verbrechen gefordert. Allerdings sieht es so aus, als ob sich in Spanien die verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Lager noch lange unversöhnlich gegenüberstehen und in der wichtigen Frage der Vergangenheitsaufarbeitung nicht miteinander kooperieren werden.

38 Vgl. Walther L. Bernecker, Die verspätete Entfaltung der Zivilgesellschaft in Spanien im Zuge der Demokratisierung. In: Günther Ammon/Michael Hartmeier (Hg.), Zivil­ gesellschaft und Staat in Europa, Baden- Baden 2001, S. 64–91.

Die Opfer der Salazar-Diktatur. Der Umgang mit Opfern und Tätern im demokratischen Portugal António Costa Pinto und Filipa Raimundo*

Einleitung Bei der juristischen und gesellschaftlichen Aufarbeitung von Unrecht und Verbrechen einer Diktatur (transition justice) lassen sich während der Übergangsperioden zwei Haupttypen unterscheiden: Ansätze, die in erster Linie täterorientiert sind, und solche, die in erster Linie opferorientiert sind. Erstere beinhalten sowohl strafrechtliche als auch nicht-strafrechtliche Verfahren, um diejenigen, welche Verbrechen begangen oder der Diktatur zugearbeitet haben, zu bestrafen bzw. von der Bestrafung auszunehmen. Dazu gehören Strafverfahren, Überprüfungen, Zwangsexil oder Amnestien. Letztere beinhalten diverse mögliche Maßnahmen, von Ausgleichszahlungen bis zu Bitten um Entschuldigung, was darauf abzielt, Schuld anzuerkennen, die Erinnerung zu bewahren und denen, die während der Diktatur Verfolgung und Folter erlitten haben, einen finanziellen Ausgleich zu gewähren.1 Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung lassen sich in Portugal zwei wesentliche Phasen im Prozess der Vergangenheitsbewältigung identifizieren. Die erste Phase erstreckte sich über zwei Jahre, von 1974 bis 1976, und war in der Hauptsache durch täterorientierte Maßnahmen gekennzeichnet, um diejenigen zu bestrafen, die Verbrechen begangen und der Diktatur zugearbeitet hatten. Dieser Prozess beinhaltete Militärstrafverfahren (gegen die Angehörigen der politischen Polizei),2 Überprüfungen (bezüglich angeblicher

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Übersetzt aus dem Englischen von Mirko Wittwar. Vgl. Alexandra Barahona de Brito/Carmen González-Enriquez/Paloma Aguilar (Hg.), Politics of Memory, Oxford 2001; Brian G. Grodsky, The Costs of Justice. How Leaders Respond to Previous Rights Abuses, Notre Dame 2010; Jon Elster, Closing the Books: Transitional Justice in Historical Perspective, Cambridge 2004; Kathryn Sikkink, The Justice Cascade: How Human Rights Prosecutions are Changing World Politics, New York 2011. Vgl. Filipa Raimundo, The Double Face of Heroes. Transitional justice and the political police (PIDE/DGS) in Portugal’s democratization (1974–76), Dissertation am Institute of Social Sciences, Lissabon 2007.

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­ ollaboration)3 sowie die Verhängung von Zwangsexil (gegenüber der ehemaK ligen politischen Elite). Die zweite Phase begann im Jahre 1976 und war hauptsächlich durch gelegentliche Initiativen zur Schuldanerkennung und Bewahrung der Erinnerung (Initiativen zur Feststellung der Wahrheit und der Erinnerung) gekennzeichnet sowie durch Ausgleichsmaßnahmen für die Opfer der Diktatur (durch Pensionszahlungen und symbolische Ehrungen). Der erste Abschnitt wird sich im Wesentlichen mit der zweiten Phase des juristischen Prozesses in der Übergangsphase beschäftigen, als die große Mehrheit der Maßnahmen über Ausgleichszahlungen und Schuldanerkennung gegenüber den Opfern der Rechts-Diktatur diskutiert und verabschiedet wurde. Der nächste Abschnitt liefert eine kurze Darstellung von Portugals Übergang zur Demokratie, indem er einen Überblick über einige der täterorientierten Maßnahmen bietet, die verabschiedet wurden, bevor die Justiz der Übergangsperiode sich dann im Wesentlichen den Opfern zuwandte. Der dann folgende Abschnitt konzentriert sich auf den Prozess der Wahrheitsfindung und Erinnerung. Anschließend beschäftigt sich der Beitrag mit sämtlichen bestehenden Mechanismen, mit deren Hilfe den Opfern des Regimes ein finanzieller Ausgleich gewährt bzw. ihnen Anerkennung ausgesprochen werden soll. Darüber hinaus wird der Wirkungsbereich dieser Mechanismen sowie die Zahl der jeweils von ihnen Profitierenden analysiert. Der Beitrag endet mit einer Bewertung der im Parlament vorgebrachten Gesetzesanträge (seit Konsolidierung der Demokratie), welche den Zweck hatten, denjenigen Anerkennung auszusprechen, denen gegenüber der Staat dies bis dahin nicht getan hatte. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage angesprochen, welche Opfergruppen in Portugal noch immer auf einen finanziellen Ausgleich bzw. eine Anerkennung warten.

Portugals Übergang zur Demokratie Portugal erlebte eine Rechts-Diktatur, die von 1926, dem Jahr, in dem ein Militärputsch die Erste Republik stürzte, bis zum 25. April 1974 dauerte, dem Tag, an dem sie durch einen erneuten Militärputsch ihrerseits gestürzt wurde. Während dieser langen Erfahrung mit einem autoritären Regierungssystem gab es tatsächlich zwei unterschiedliche politische Regime: Die Militärdiktatur (1926–1933), die dann von einem zivilen autoritären Regime unter Führung von António de Oliveira Salazar abgelöst wurde: ein konservativer, katholischer Politiker und Universitätsprofessor, der bis zu seiner Entmachtung im Jahre 1968 Portugal als Diktator führen sollte.4 Er wurde durch einen seiner Jünger

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Vgl. António Costa Pinto, Authoritarian Legacies, transitional justice and state crisis in Portugal’s democratization, Democratization, 13 (2006) 2, S. 173–204; ders., Political Purges and State Crisis in Portugal’s Transition to Democracy. In: Journal of Contemporary History, 43 (2008) 2, S. 305–332. Vgl. Filipe Ribeiro Meneses, Salazar: a political biography, New York 2009.

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ersetzt, den Rechtsprofessor Marcello Caetano. Nach einer kurzen Periode der „Liberalisierung“ wurden sowohl Caetano als auch das von ihm geführte Regime durch einen Militärputsch gestürzt, der Portugal auf den Weg der Demokratie brachte. Das Regime von António de Oliveira Salazar (1932–1968) und Marcello Caetano (1968–1974) wurde ohne Gewaltanwendung gestürzt – sehr zur Überraschung der diversen Oppositionskräfte, einschließlich der größten politischen Partei, der Portugiesischen Kommunistischen Partei (PCP – Partido Comunista Portugues), die im Jahre 1921 gegründet worden war und heimlich im Land operiert hatte. Auch manche Führer der Sozialistischen Partei (PS – Partido Socialista), gegründet im Jahre 1973, waren zur Zeit der Nelkenrevolution noch im Exil, nicht zu vergessen die beiden weiter rechts stehenden Parteien – die Sozialdemokratische Partei (PPD/PSD – Partido Popular Democrata/Partido Social Democrate) und das Sozialdemokratische Zentrum (CDS/PP – Centro Democrático e Social/Partido Popular), die zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal gegründet worden waren (sie entstanden jeweils im Mai und im Juli 1974). Der Putsch lag dementsprechend in der alleinigen Verantwortung der mittleren Ränge des Militärs sowie einiger weniger Generäle, welche die Bewegung der Streitkräfte (MFA – Movimento das Forcas Armadas) bildeten – später als Rat der Revolution (CR – Conselho da Revolução) institutionalisiert. Diese Gruppierung ergriff die ersten Maßnahmen zur Auflösung des bisherigen Regimes und zur Wiederherstellung der Grundrechte seiner Opfer. Am Tag des Putsches gab es 85 politische Gefangene in Caxias, 43 in Peniche sowie eine kleinere Anzahl in Oporto und Coimbra5 – alle Opfer der Geheimpolizei PIDE/DGS, der wichtigsten Unterdrückungseinrichtung des Regimes. Weiterhin gab es eine unbekannte Zahl von Exilanten, überwiegend in Frankreich und Belgien. Am 25. April 1974 erließ die Nationale Rettungsjunta (JSN – Junta de Salvação Nacional) ein Amnestiegesetz für alle politischen Straftaten, wodurch alle politischen Häftlinge freikamen, auch jene, denen Gewalttaten vorgeworfen wurde, wie zum Beispiel die Hinrichtung von Spitzeln der ­politischen Polizei.6 Zwei Tage später erlaubte die JSN die Rückkehr der politischen Exilanten (deren Rückkehr tatsächlich bereits begonnen hatte). Mario Soares – der zukünftige Führer der PS, welcher zum ersten Premierminister

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Es existierten drei Sondergefängnisse für politische Gefangene auf dem kontinentalen Territorium Portugals (Caxias, Peniche und Aljube) sowie eines, in dem die Haftbedingungen besonders drückend waren, auf der Kapverdeninsel Tarrafal, wohin das Regime in den 1930er-Jahren hauptsächlich Anarchosyndikalisten, Antifaschisten, Gewerkschaftler und Kommunisten schickte. Zur Darstellung der Geschichte politischer Inhaftierungen in Portugal muss noch viel wissenschaftliche Forschung geleistet werden; nichtsdestoweniger ist es wichtig zu betonen, dass die Anwendung extremer Gewalt oder das Konzentrationslager als Mittel zur Niederhaltung der Opposition kein typisches Kennzeichen des Salazar-Regimes darstellt. Decreto-lei n.° 173/74 vom 26.4.1974 (DR 98/74, Série I, 26/4/1974): Amnestie für politische Straftaten und entsprechende disziplinarische Vergehen.

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der ersten ­verfassungsmäßigen Regierung werden sollte – traf am 28. April ein, und Àlvaro Cunhal, der Generalsekretär der PCP, kehrte zwei Tage später aus dem Exil zurück.7 Von da an wurden über einen Zeitraum von zwei Jahren alle wichtigen Institutionen des Regimes aufgelöst und eine Reihe von Strafmaßnahmen gegen die Täter und Unterstützer der Diktatur beschlossen, sowohl von den Militär- als auch den Übergangsregierungen.8 Diese Periode war durch einen eindeutigen Bruch mit der Vergangenheit gekennzeichnet, hervorgerufen durch die Staatskrise und die politische Radikalisierung. Uneinigkeit über die Art der Entkolonialisierung unter den Militärs, die Umsetzung der Agrarreform, die Verstaatlichung großer Konzerne sowie die Unterstützung, welche viele Gruppierungen der Zivilgesellschaft genossen, führten zu dem, was dann folgte. Viele der zu jener Zeit eingeleiteten Maßnahmen beruhten auf einer „revolutionären Legitimation“ und standen damit außerhalb eines normalen und gesetzmäßigen Vorgehens. Die Form dieses Übergangs stellt sicherlich den wichtigsten Faktor hinter der schnellen Auflösung der autoritären Strukturen dar, der Kriminalisierung der politischen Polizei und der administrativen Justiz. Allerdings öffnete die Staatskrise auch ein wichtiges „Zeitfenster“ für die portugiesische Variante einer Übergangsjustiz, die gleichzeitig radikal, diffus und mit wenig Bezugnahme auf das Rechtssystem verlief. Unmittelbar nach dem Putsch wurden diejenigen Angehörigen des Militärs, welche dem autoritären Regime treu ergeben gewesen waren, zum ersten Ziel von Überprüfungsmaßnahmen. Die Säuberung der Streitkräfte war Bestandteil des politischen Programms der MFA, und der Prozess wurde ausgeweitet, um eine zunehmende Anzahl von Offizieren erfassen zu können. In den Monaten, die auf den Putsch von 1974 folgten, wurde die von der MFA geforderte Säuberung von speziellen Militärkommissionen durchgeführt. Als offizielles Kriterium für die Entfernung aus den Rängen wurde Inkompetenz angeführt, da es sich als unmöglich erwies, politische Kriterien wie „Kollaboration mit dem alten Regime“ anzuwenden, angesichts der Tatsache, dass das gesamte militärische Establishment während der Kolonialkriege mit dem Estado Novo unter Salazar und Caetano zusammengearbeitet hatte. Die Beamten waren vermutlich diejenigen, welche von diesem Prozess am meisten betroffen waren.9 Die Mindeststrafe war die Versetzung auf einen anderen Posten, während es sich bei der

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Es liegen keine Zahlen über die zurückkehrenden Exilanten vor. Die Tatsache, dass in den 1960er-Jahren politisches Exil häufig mit der großen Welle der Wirtschaftsauswanderung zusammenfiel, oft in dieselben Länder, macht diese Aufgabe noch schwieriger. Vgl. „Portugal“, Research Report, European Commission Directorate General of Jus­ tice, Freedom and Security (António Costa Pinto and Filipa Raimundo), 2010. Beitrag zu dem Abschlussbericht: Study on how the memory of crimes committed by totalitarian regimes is dealt with in the Member States. Leider liegen für die Mehrzahl der Fälle keine zuverlässigen Zahlen vor, und die vorhandenen Zahlen sind nicht immer kongruent.

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Höchststrafe um die sofortige Entlassung handelte. Alle ehemaligen Beamten der politischen Polizei sollten entlassen werden. Höchststrafen wurden an Hand von Kriterien ausgesprochen, die kurze Zeit später von der Regierung definiert wurden: Zugehörigkeit zur Regierungselite der Diktatur, PIDE-Kollaborateure, führende Mitglieder der Portugiesischen Jugend (MP – Mocidade Portuguesa), der Portugiesischen Legion (LP – Legiao Portuguesa) oder der Staatspartei sowie die Leiter der Zensurbehörde des Regimes. Das Gesetz bestimmte ebenso die Schaffung einer interministeriellen Säuberungs- und Neueinstufungskommission (CISR – Comissão Interministerial de Saneamento e Reclassificação) zur Durchführung dieser Aufgabe. Diese Kommission stand in direkter Verbindung zum Ministerrat und hatte den Auftrag, die Säuberungskommissionen der einzelnen Ministerien zu koordinieren. Bis zum Jahresende 1974 waren etwa 4 300 Beamte zum Gegenstand dieses Säuberungsprozesses geworden. Im Februar 1975 gaben offizielle Berichte hierzu an, dass schätzungsweise 12 000 Menschen entweder dauerhaft ihrer Posten enthoben oder zeitweilig suspendiert worden waren, während Schätzungen zu dem Ergebnis kommen, dass sich zwischen März und November 1975 die Zahl der Entlassungen und Suspendierungen deutlich erhöhte.10 Ein weiteres Kennzeichen des Veränderungsprozesses in Portugal stellten die sofortigen und beständigen Rufe nach einer Bestrafung der Beamten der politischen Polizei dar. Dementsprechend sahen sich die ehemaligen Beamten der politischen Polizei mit einer Reihe unterschiedlicher Strafmaßnahmen konfrontiert. Sie wurden mit sofortiger Wirkung aus der öffentlichen Verwaltung entlassen; sie verloren ihre politischen Rechte (sie konnten bei den ersten Wahlen weder wählen noch kandidieren); und nach beinahe zwei Jahren in Haft beschuldigte man sie, entsprechend der gesetzlichen Definition, der Mitgliedschaft in einer „terroristischen Organisation“. Im November 1975 wurde sogar ein „Revolutionärer Militärgerichtshof“ eingerichtet, der allerdings keine Urteile fällte, da er schnell durch reguläre Militärgerichte ersetzt wurde, vor denen sich Einzelpersonen zwischen 1976 und 1981 verantworten mussten.11 Im Verlaufe dieser ersten Phase kam es zu einem intensiven Prozess der ideologischen und politischen Delegitimierung der Diktatur, verbunden mit einer deutlich „antifaschistischen“ Rhetorik und der offiziellen Anerkennung der die Diktatur bekämpfenden Aktivisten. Straßen und andere öffentliche Plätze wurden nach bekannten Figuren der Opposition neu benannt – Republikaner, Kommunisten, Sozialisten gleichermaßen – während Salazars Name von allen öffentlichen Monumenten, Plätzen sowie der Brücke über den Tejo entfernt wurde. Letztere wurde kurzfristig in „Brücke des 25. April“ (Ponte 25 de Abril)

10 António Costa Pinto/Leonardo Morlino (Hg.), Dealing with the Legacy of Authoritarianism: the „Politics of the Past“ in Southern European Democracies, London 2011, S. 11. 11 Vgl. Filipa Raimundo, Partidos políticos e justiça transicional em Portugal: o caso da polícia política (1974–76). In: António Costa Pinto (Hg.), A sombra das Ditaduras. A Europa do Sul em Comparação, Lissabon 2013, S. 87–119.

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umbenannt. Die neuen demokratischen Institutionen verbanden sich ebenfalls mit dem Erbe der politischen Opposition gegen die Diktatur, wodurch sie die antidiktatorische Natur des neuen Regimes symbolisch verstärkten. Bis zum Jahre 1976, als die Übergangsperiode zum Ende kam, konzentrierten sich beinahe 90 Prozent der Wählerstimmen auf vier Parteien (die bis heute den Kern des Parteiensystems bilden): auf der Linken die PCP, eine orthodoxe Partei mit einer langen Geschichte geheimer Organisation unter der ehemaligen Diktatur, sowie die PS, die Erbin der republikanischen und sozialistischen Elemente der Opposition gegen Salazar; im Bereich Mitte-Rechts sowie auf der Rechten die PSD und die CDS.12 Trotz gelegentlicher Herausforderungen haben diese Parteien insgesamt für eine stabile Struktur der portugiesischen Demokratie gesorgt. Die einzige Neuerung stellte ab den 1990er-Jahren die Konsolidierung des Linken Blocks (BE – Bloco de Esquerda) dar, einer freiheitlich linksorientierten Partei, welche die Wähler sowohl der PS als auch der PCP anspricht, die aber merkwürdigerweise im Prozess des Opferausgleichs und der Anerkennung der Opfer nur eine unwesentliche Rolle gespielt hat.

Wahrheitsfindung und Erinnerungskultur nach 1976 In Portugal ist die Zahl der Museen und Ausstellungen, die dem Thema Unterdrückung, Widerstand und Diktatur gewidmet sind, trotz einiger Gesetzesinitiativen, die nach dem Zusammenbruch des Regimes sowie bei einigen späteren Gelegenheiten ins Parlament eingebracht wurden, extrem gering. Alle Projekte in dieser Richtung, soweit sie in den ersten beiden Jahren des Übergangs begonnen wurden, wurden aufgrund mangelnden Interesses der Zivilgesellschaft, einschließlich der politischen Parteien wie der PS oder der PCP, oder aufgrund mangelnden Einsatzes seitens des Staats wieder eingestellt. Im Parlament stellten die 1970er-Jahre das Jahrzehnt dar, in dem man die Einrichtung und das Mandat einer Kommission diskutierte, welche das Ziel haben sollte, die Öffentlichkeit über die wahre Natur des Regimes aufzuklären; in den 1980er-Jahren waren der Standort der entsprechenden Archive und der Aktenzugang das brisante Thema; in den 1990er-Jahre kam es zur Eröffnung einer einmaligen Ausstellung über die Folter in Lissabon. In letzter Zeit gab es eine geringfügige Wiederbelebung des Interesses und eine entsprechende Mobilisierung der Zivilgesellschaft, was im Jahre 2008 zu einer Parlamentsresolution bezüglich der Bewahrung der Erinnerung an die Diktatur sowie der Einrichtung eines neuen Museums führte, das im Jahre 2014 eröffnet werden soll. Eine der ersten Initiativen zur Bewahrung der Erinnerung an diejenigen, welche die Diktatur bekämpft hatten, war die Errichtung des Museums „Republik und Widerstand“ (Museu República e Resistência). Das Gesetz 709-B/76 be12 Ursprünglich unter dem Namen Volksdemokratische Partei (PPD – Partido Popular Democrático).

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stimmte, dass dieses Museum im Peniche-Gefängnis entstehen sollte, und übertrug ihm eine umfassende Liste von Aufgaben: die Sammlung und Bewahrung aller vorhandenen Dokumente über den Kampf zur Errichtung der Republik im Jahre 1910, den antifaschistischen Kampf sowie die Revolutionsbewegung des 25. April 1974; die Erstellung eines historischen Berichts sowie die anschließende pädagogische Verbreitung einer jeden Episode im Kampf für die Freiheit und gegen die Unterdrückung; die Aufrechterhaltung des Kontakts zu ähnlichen Museen außerhalb Portugals sowie vergleichende Forschung zu ähnlichen Freiheitskämpfen; die Beteiligung an interaktiven Aktionen mit Besuchern, um Hilfe zum Verständnis und zur Interpretation der Bedeutung derartiger Kämpfe zu bieten; die Förderung zeitlich begrenzter Ausstellungen, Konferenzen und Seminare; sowie Zusammenarbeit bei der Vorbereitung offizieller Zeremonien und Gedenkveranstaltungen zu der Zeit zwischen 1910 und 1974.13 Sowohl der Direktor des Museums als auch die Mitglieder des Beirates sollten vom Premierminister nominiert werden; zur Zeit der Veröffentlichung des Gesetzes war das der Sozialist Mário Soares. Seltsamerweise und entgegen dem, was angesichts der ersten zwei Jahre eines eindeutigen Bruchs mit der Vergangenheit sowie der zahllosen Forderungen nach einer Bestrafung der Täter zu erwarten gewesen wäre, kam es im Gefolge der Einrichtung dieses Museums zu völliger Inaktivität. Von mancher Seite wird argumentiert, die politischen Bedingungen für die Durchführung eines derartigen Projekts seien nicht gegeben gewesen, da die politische Situation noch instabil und durch starke politische Spannungen gekennzeichnet gewesen sei. Wie dem auch sei, im Jahre 1985, nach beinahe zehn Jahren der Inaktivität, wurde das Museum mit einer weiteren Regierungseinrichtung ähnlicher Zielsetzung verschmolzen, der sogenannten Kommission für das Schwarzbuch Faschismus.14 Die Kommission für das Schwarzbuch Faschismus, gegründet im Jahre 1978, stellte die erste Regierungseinrichtung zur Erstellung eines Berichts über die während der Diktatur verübten Verbrechen dar.15 Diese Kommission entstand auf Ini­ tiative des damaligen Premierministers, des Sozialisten Mário Soares, nachdem sich seine Regierung, die erste verfassungsmäßige Regierung seit der Verabschiedung der neuen Verfassung, entschieden hatte, das Gewicht von einem eindeutigen Bruch mit der Vergangenheit auf eine Politik der Versöhnung zu verlegen. Die Kommission wurde eingerichtet, um den von dem autoritären Regime begangenen Missbrauch anzuprangern. Sie brachte bekannte Mitglieder der ehemaligen Opposition zusammen: Sozialisten, Kommunisten, Freimaurer, 13 Decreto-Lei n.° 709-A/76 vom 4.10.1976 (DR 233/76, Série I, 1° Suplemento, 4/10/1976): Einrichtung des „Freiheitsordens“ zur Auszeichnung und Ehrung derjenigen, welche der Demokratie und Freiheit besondere Dienste erwiesen haben. 14 Decreto-Lei n.° 210/85 vom 27.6.1985 (DR 145/85, Série I, 27/6/1985): Abschaffung, Zusammenlegung und Reorganisation von Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung. 15 Decreto-Lei n.° 110/78 vom 14.7.1978 (DR 120/78, Série I, 26/5/1978): Einrichtung der Kommission für das Schwarzbuch Faschismus beim Präsidenten des Ministerrates unter Leitung des Premierministers oder eines anderen von ihm ernannten Regierungsmitglieds.

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links-republikanische Intellektuelle und Politiker, die vom Premierminister aufgrund ihres „moralischen Charakters und ihrer beispielhaften politischen Vergangenheit“ nominiert wurden. Entsprechend der Präambel bestand die Aufgabe der Kommission darin, „die historische Wahrheit festzustellen und wiederherzustellen“ sowie „die historischen Ursachen, die zur Errichtung und zum Überleben des Regimes geführt hatten, zu ermitteln und öffentlich zu machen“.16 Der Kommission wurde Zugang zu allen Archiven der Diktatur für den Zeitraum zwischen 1926 und 1974 gewährt, mit Ausnahme der Archive über die „Organisation, Funktion und Disziplin der Streitkräfte“. Die Kommission war der Präsidentschaft des Ministerrats verantwortlich, und ihre Vorstandsmitglieder bekamen keinerlei Vergütung. Manche warfen ihnen Einseitigkeit vor, besonders da Historiker erst zu einem späteren Zeitpunkt beteiligt wurden; allerdings wurde der Großteil der die Archive des Regimes betreffenden Arbeit Intellektuellen und Politikern überlassen, die mit der ehemaligen Opposition verbunden waren. Im Jahre 1981, als die PSD die Regierung der PS ablöste, wurde ein neues Gesetz verabschiedet, welches festlegte, dass die Archive Salazars (1898–1970) und Caetanos (1906–1980) der Nationalbibliothek überstellt werden sollten und dass der Öffentlichkeit der Zugang zu einzelnen Akten erst 25 Jahre nach dem Tod des jeweiligen Diktators gewährt werden solle.17 Dieses neue Gesetz nährte Zweifel daran, ob der Kommission für das Schwarzbuch Faschismus die Veröffentlichung des Schwarzbuchs, das einen detaillierten historischen Bericht über die während der Diktatur begangenen Verbrechen enthalten sollte, überhaupt noch gestattet sein würde. Im Jahre 1982 wurde der Revolutionsrat aufgelöst, und die Archive wurden provisorisch der Verwaltung durch den Parlamentspräsidenten unterstellt. Die im September desselben Jahres verabschiedete Verfassung legte fest, dass jede Entscheidung über den dauerhaften Aufbewahrungsort der Archive sowie die Regeln über den Zugang der Öffentlichkeit einer Zweidrittelmehrheit des Parlaments bedürfe.18 Dies war ein wichtiges Kriterium, das zum Beispiel erklärt, warum die ersten Vorschläge zur Auflösung der beiden bestehenden Kommissionen (über die Abschaffung der politischen Polizei sowie über die Geschichte der Diktatur und die Erinnerung an sie) nicht angenommen wurden. Dieser Vorschlag wurde von der Regierung eingebracht – einer Koalition (einmalig in der Geschichte der portugiesischen Demokratie) aus den beiden großen Parteien PS und PSD. Doch stieß sie auf die Ablehnung der MDP/CDE, während sich die PCP der Stimme enthielt, sodass die notwendige Zweidrittelmehrheit nicht zustande kam.

16 Ebd. 17 Decreto-Lei n.° 77/81 vom 18.4.1981 (DR 90/81, Série I, 18/4/1981): Überstellung der „Salazar Archive“ und der „Marcelo Caetano Archive“ an die Nationalbibliothek. 18 Lei Constitucional n.° 1/82 vom 30.9.1982 (DR 227, Série I, 30/9/1982).

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Im Jahre 1985, unter derselben Koalitionsregierung, wurde ein neues Gesetz verabschiedet, welches das Recht der Kommission, mit ihren Ermittlungen zu den vom Regime verübten Verbrechen fortzufahren und ihren Abschlussbericht zu veröffentlichen, präzisierte und bestätigte.19 Die entsprechenden Berichte wurden tatsächlich Jahre später in 22 Bänden veröffentlicht, die in der Haupt­ sache eine Dokumentation darstellen, in der die Unterdrückung durch das Regime, die Behandlung der politischen Gefangenen, die Zensur sowie die Zusammenarbeit der Konzerne und der politischen Polizei angeprangert wurden.20 Die Kommission wurde im Jahre 1991 aufgelöst, in demselben Jahr wie auch die Kommission zur Abschaffung der politischen Polizei.21 Im selben Jahr gelang es auch nicht, die Zustimmung der Mitte-rechts-Regierung von Cavaco Silvas für ein neues Projekt zu gewinnen, durch das die Kommission für das Schwarzbuch Faschismus in ein Museum des Widerstands umgewandelt werden sollte. Anstatt eines Museums wurden zwei andere Projekte in Gang gesetzt: das Bücherei-Museum der Republik und des Widerstands – dieses Mal auf Initiative des Lissabonner Stadtrats anstatt der Regierung oder des Parlaments – sowie die Mário-Soares-Stiftung, eingerichtet vom ehemaligen Präsidenten der Repu­blik. Heutzutage unterhalten beide jeweils ein wichtiges Archiv und organisieren gelegentlich Konferenzen zu Themen im Zusammenhang mit der Diktatur und der Übergangsperiode. Die bislang vermutlich wichtigste Initiative fand im November 1999 statt. Es handelt sich um die Eröffnung einer offiziellen Ausstellung über das 20. Jahrhundert in Portugal, gesponsert von der Präsidentschaft und vom Parlament, um das 25-jährige Bestehen der portugiesischen Demokratie zu feiern. Sie richtete sich an ein großes Publikum sowie an Studenten. Die Ausstellung zeigte Beispiele für die Folterkammern der politischen Polizei und enthielt Korridore, an deren Wänden Fotos von politischen Gefangenen hingen, gleichzeitig wurden die Angehörigen der Opposition und der pro-demokratischen Presse geehrt. Ebenso gab es einen bewusst dunkel gehaltenen Korridor, welcher dem Kolonialkrieg gewidmet war und der in eine hell erleuchtete Fläche mündete, welche den Sturz der Diktatur feierte. Während die auf nationaler Ebene eingeleiteten Maßnahmen im Wesentlichen auf die Initiative der PS zurückgingen, wurde auf lokaler Ebene die Mehrzahl der Aktivitäten von Kommunen unter Führung der PCP durchgeführt. Dies gilt zum Beispiel für die Gemeinden Almada und Beja. Solche Formen der

19 Decreto-Lei n.° 33/85 vom 31.1.1985 (DR 26/85, Série I, 31/1/1985; Gesetzesdekret 33/85 vom 31.1.1985 [Amtsblatt 26/85, Serie I, 31.1.1985] regelt den Zugang der Kommission für das Schwarzbuch Faschismus zu Archiven und Dokumenten). 20 Comissão do Livro Negro sobre o Regime Fascista, Presos Políticos no Regime Fascista, 1931–1945, 3 Bände, Lissabon 1981–1984. 21 Decreto-Lei n.° 22/91 vom 11.1.1991 (DR 9/91, Série I-A, 11/1/1991): Auflösung der Kommission für das Schwarzbuch Faschismus und Widerruf der Gesetze 110/78 und 33/85 vom 26.5. bzw. 31.1. sowie Absatz a), Art. 2, Gesetz 210/85 vom 27.7.1991.

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Erinnerung, entweder als öffentliche Feiern oder als Denkmäler, sind seit der Übergangsphase ständig präsent. Dasselbe gilt für Straßen, die nach berühmten Kämpfern der Opposition (um-)benannt wurden – Republikaner, Kommunisten und Sozialisten gleichermaßen –, jedoch hauptsächlich in Städten oder Gemeinden, in denen die kommunistische Partei an der Macht ist. Im Verlauf der letzten vier Jahre haben zwei Organisationen der Zivilgesellschaft, die Bewegung „Löscht die Erinnerung nicht aus“ (NAM – Não Apaguem a Memória) sowie die Union des Portugiesischen Antifaschistischen Widerstands (URAP – União de Resistentes Antifascistas Portugueses), ihre Aktivitäten zur Bewahrung der Erinnerung an die Diktatur verstärkt. Dies zeigt sich an Aktionen wie zum Beispiel Petitionen für die Schaffung eines nationalen Ortes der Bewahrung und Verbreitung der Erinnerung an die Verbrechen des „Neuen Staates“, an der Sammlung von Unterschriften gegen die Einrichtung eines Museums namens Oliveira Salazar in der Heimatstadt des Diktators, Santa Comba Dão, an Protesten gegen die Umwandlung des ehemaligen Hauptquartiers des Plenums des Gerichtshofs in ein Hotel usw. Allerdings lässt sich nicht sagen, dass diese Bestrebungen auf besonderes Interesse der Medien und der Öffentlichkeit gestoßen wären. Die erfolgreichste Initiative war die Petition für die Bewahrung der Erinnerung. Diese Petition wurde am 26. Juli 2007 beim Parlament eingereicht und forderte ursprünglich „die Errichtung nationaler Stätten der Bewahrung der kollektiven Erinnerung an die vom sogenannten Neuen Staat verübten Verbrechen und den Widerstand; die Verurteilung der Umwandlung des ehemaligen Hauptquartiers der politischen Polizei in Lissabon in privates Wohneigentum sowie die Ermutigung aller Bürger und Organisation, die kollektive Erinnerung an den Kampf für Freiheit und Demokratie in Portugal auf Dauer zu bewahren“.22 Bei dieser Initiative lassen sich zwei hauptsächliche Anliegen unterscheiden: die Symbole des Widerstands und die Symbole des Demokratisierungsprozesses. Erstere beziehen sich auf diejenigen Stätten, welche die Opfer des autoritären Regimes repräsentieren (in der Regel die politischen Gefangenen); letztere beziehen sich auf diejenigen Stätten, welche den Demokratisierungsprozess repräsentieren. Am 6. Juni 2008 stimmte das Parlament einstimmig für die Resolution, um das Wissen über den Widerstand gegen die Diktatur unter den zukünftigen Generationen zu verbreiten. Im Gefolge der Annahme dieser Resolution kam es zur Unterzeichnung diverser Partnerschaftsabkommen und anderer Vereinbarungen, einschließlich der Einrichtung eines neuen Museums, dem „Museum des Widerstands und der Freiheit“, das in Kürze in Lissabon im ehemaligen Aljube-Gefängnis eingeweiht werden wird, wo mehrere bekannte Angehörige der Opposition inhaftiert waren.23 22 Petition 151/X/1, Comissão dos Assuntos Constitucionais, Direitos, Liberdade e Garantias, Assembleia da Republica (angenommen am 6.9.2006). 23 Resolução da Assembleia da República n.° 24/2008 (DR 122 Série I, 26/6/2008): Verbreitung des Wissens über den Kampf für Freiheit und Demokratie sowie den Widerstand gegen die Diktatur unter den zukünftigen Generationen.

Portugal

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Opferverbände Entsprechend der überwältigenden öffentlichen Mobilisierung in anderen Bereichen des Demokratisierungsprozesses24 entstand ebenso eine Reihe von Organisationen mit dem Zweck, den Opfern der Diktatur Unterstützung und Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Allerdings hatten die meisten dieser Organisationen ein sehr spezifisches Ziel – die Freilassung der politischen Gefangenen – und überstanden dementsprechend die Periode des Übergangs nicht (siehe Tabelle 1). Von den in der Tabelle 1 aufgelisteten Organisationen wurden nur zwei in jüngerer Zeit gegründet. Die meisten kamen aus dem Umfeld bestehender Parteien der extremen Linken, die sich ebenso in den ersten Jahren nach der Übergangsperiode wieder auflösten. Die Liste enthält Organisationen von Opfern und ihren Angehörigen, Zivilisten wie Militärs. Der Grund, warum sich Angehörige des Militärs ebenfalls als Opfer sahen, war die interne politische Spaltung der Streitkräfte. Im Verlaufe der zwei Jahre der Übergangsperiode gehörten unterschiedliche Fraktionen vorübergehend zu den Gewinnern und Verlierern.

Kategorisierung der Opfer der Diktatur in der portugiesischen Gesetzgebung25 Seit dem Jahre 1976 haben aufeinanderfolgende Regierungen Gesetzgebungen zur Anerkennung und Entschädigung bestimmter Kategorien von Opfern der Diktatur verabschiedet. Basierend auf der gegenwärtigen Gesetzgebung lassen sich drei hauptsächliche Kategorien von Opfern feststellen. Die erste Kategorie bezieht sich auf „diejenigen, die für Freiheit und Demokratie kämpften“. Dies ist die wichtigste Kategorie, da sie sowohl finanzielle als auch symbolische Entschädigung beinhaltet, allerdings handelt es sich auch um

24 Die Allianz zwischen den Streitkräften und den sozialen Bewegungen stellt einen entscheidenden Aspekt der Übergangsperiode dar. Während dieser ersten zwei Jahre durchlebte Portugal eine Staatskrise, verursacht durch das Fehlen „organisierter Sanktionen“ zur Kontrolle der Massen – welche in die Zuständigkeit der im Mai 1974 aufgelösten Interventionspolizei gefallen wäre –, was ungesetzliche Kollektivaktionen ermöglichte. Besonders dramatisch war dies im sogenannten Heißen Sommer des Jahres 1975, als starke politische Basisorganisationen, dominiert von der extremen Linken und der PCP, die auch über Einfluss bei den Streitkräften verfügten, versuchten, eine „revolutionäre“ Legalität herzustellen, die sich gegen die „gewählte und demokratische“ Legitimität richtete, die aus den Wahlen hervorgegangen war. Vgl. Diego Palacios Cerezales, O poder caíu na rua. Crise de Estado e Acções Colectivas na Revolução Portuguesa 1974–75, Lissabon 2003, S. 62–64. 25 Es entstanden noch weitere Wiedergutmachungseinrichtungen im Zusammenhang dieser Periode der Geschichte, die sich allerdings nicht auf die „Opfer der Diktatur“ beziehen. Dies gilt für die Wiedergutmachung für Portugiesen, die im Zuge der Kolonial­ kriege in Afrika inhaftiert waren (Gesetz 34/98).

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Tabelle 1: Opfer-Organisationen in Portugal

Name der Organisation

Jahr der Jahr der Gründung Auflösung

Zugehörigkeit

Hilfskomitee für Politische Gefangene (Comissão de Socorro aos Presos Políticos)

1969

1974

Vereinigung der Familien der Inhaftierten Antifaschisten ­(Associação das Famílias dos ­Anti-Fascistas Presos)

1975

?

Linksgruppierung

Komitee der Volksunterstützung des Revolutionären Kampfes der Politischen Gefangenen in Faschistischen Gefängnissen (CAP – ­Comité de Apoio Popular às Lutas Revolucionárias dos Presos ­Políticos nas Cadeias Fascistas)

1970

?

Verbindung zur MRPP (Maoisten)

Kommission der Angehörigen und Freunde Antifaschistischer Politischer Gefangener (­CFAPPA – ­Comissão dos Familiares e ­Amigos de Presos Anti-Fascistas)

1975?

?

Linksgruppierung

Kommission für die sofortige Freilassung Inhaftierter Antifaschisten (Comissão para a Libertação Imediata dos Anti-Fascistas Presos)

1974

1975

Linksgruppierung

Vereinigung ehemaliger Politischer Gefangener in Portugal ­(AEPPA – Associação de Ex-­ Presos Políticos Portugueses)

1974

Verbindung zur PCP und der demokra­ tischen Opposition

?

Zugehörigkeit zur UDP (União Democrática Popular), einer marxistisch-­ leninistischen Partei

Vereinigung der Angehörigen verhafteter Revolutionärer Militär­ angehöriger (CFMRP – Associa­ ção de Familiares dos Militares Revolucionários Presos)

1975

?

Linksgruppierung (Verwandte der am 25. November verhafteten Militär­ angehörigen)

Komitee zur Unterstützung des Kampfs der verhafteten und entlassenen Militärangehörigen (Comité de Apoio à Luta dos Militares ­Anti-Fascistas Presos e Expulsos)

1975

?

Linksgruppierung

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Portugal

Portugiesische Antifaschistische Widerstandsunion (URAP – União de Resistentes Antifascistas Portugueses)

Wischt die Erinnerung nicht aus (NAM – Não Apaguem a Memória!)

1976

2005



Linksgruppierung; obwohl sie nicht öffentlich dazu stand, so ist doch bekannt, dass diese Gruppe Verbindung zur Kommunistischen Partei hatte



Linksgruppierung; beansprucht, aus Vertretern diverser Richtungen zu bestehen, einschließlich Sozialisten, ehemaligen Kommunisten und Angehörigen des Linksblocks

Quelle: eigene Forschung

die am wenigsten spezifische. Wie im Folgenden noch dargelegt werden wird, ist diese Kategorie derart weit gefasst, dass sie in einigen Fällen zu umstrittenen Situationen führte, denn sie erlaubt die Zuerkennung von Pensionen und die Ehrung von Personen mit wenig oder gar keinem Bezug zu irgendeiner Art von Widerstand oder Kampf im genannten Sinne. Die Verordnung zur Ehrung dieser Opfer beinhaltet noch ein drittes Element: „republikanische und demokratische Ideale der Freiheit und sozialen Gerechtigkeit“. In dieser Weise verbindet die Gesetzgebung den Kampf der Opposition mit republikanischen Idealen. Eine zweite Kategorie der bestehenden Gesetzgebung bezieht sich auf diejenigen „die im Untergrund oder im Gefängnis waren“. Verglichen mit der ersten, schränkt diese Kategorie den Bereich möglicher Nutznießer ein, da jeweils nachgewiesen werden muss, dass man tatsächlich unter dem Regime eine Zeitlang im Untergrund oder aus politischen Gründen in Haft war. Dieser Nachweis ist häufig mit praktischen und bürokratischen Problemen verbunden, was dazu führt, dass die Zahl der Nutznießer geringer ist als die tatsächliche Zahl der direkten oder indirekten Opfer. Beide Entschädigungskategorien wurden unter unterschiedlichen sozialistischen Regierungen eingerichtet, in denen Mário Soares eine entscheidende Rolle spielte. Schließlich kennt die bestehende Gesetzgebung noch eine dritte Kategorie: „diejenigen, die am Aufstand des 18. Januar 1934 teilnahmen“. Dabei handelte es sich um eine Revolte von Teilen der Arbeiterklasse unter Führung der

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­ ommunisten sowie einzelner Personen aus dem Bereich der AnarchosyndiK kalisten gegen die „Faschistisierung“ der von Salazars neuem korporativen System initiierten Gewerkschaftsbewegung. Diese Opfer gehörten auch zu den ersten, welche in das vom Regime eingerichtete und unter dem Namen Tarrafal bekannte Konzentrationslager in Kap Verde kamen. Hierbei handelt es sich um das einzige Programm dieser Art, das ursprünglich unter der Mitte-rechts-Regierung vorgeschlagen und angenommen wurde. Interessanterweise lässt sich feststellen, dass bis heute das einzige dieser drei Programme, in dessen Zusammenhang der Staat ausdrücklich das Wort „Opfer“ verwendet, das zweite ist, welches sich auf diejenigen bezieht, die im Untergrund oder im Gefängnis waren. In allen anderen Fällen lautet der in den entsprechenden Rechtsdokumenten verwendete Begriff „portugiesische Bürger“. Im Folgenden jeweils genauer zu den Charakteristika dieser Programme sowie zu den Umständen, unter denen sie verabschiedet wurden. Kategorie 1: Diejenigen, die für Freiheit und Demokratie kämpften Seit dem Jahre 1976 haben aufeinanderfolgende Präsidenten der Republik sowohl der Opposition gegen den Diktator Salazar als auch einzelnen Persönlichkeiten, die sich in verschiedener Weise ausgezeichnet haben, mit der Verleihung des „Freiheitsordens“ öffentliche Anerkennung für ihre „demokratischen Verdienste“ ausgesprochen.26 Dieser Orden wurde im Jahre 1976 eingeführt und ist der „jüngste“ in der Klasse von Orden, welche die neue Demokratie schuf.27 Zu dieser Zeit kam man zu der Erkenntnis, dass keiner der bestehenden Orden die Rolle derjenigen „Portugiesen oder ausländischen Bürger“ würdigte, die „sich durch ihre Liebe zur Freiheit und Hingabe an die Sache der Menschenrechte und sozialen Gerechtigkeit, insbesondere im Zusammenhang mit der Verteidigung republikanischer und demokratischer Ideale“ ausgezeichnet hatten. In diesem Sinne soll der Orden diejenigen ehren, die für die portugiesische Demokratie gekämpft haben, indem er ihr republikanisches Erbe betont, und diejenigen, welche vor 1910 die Monarchie stürzten, mit denjenigen, welche zwischen 1926 und 1974 gegen die Rechts-Diktatur kämpften, gleichsetzt.

26 Decreto-Lei n.° 709-A/76 vom 4.10.1976 (DR 233/76, Série I, 1° Suplemento, 4/10/1976): Einrichtung des „Freiheitsordens“ zur Auszeichnung und Ehrung derjenigen, welche der Demokratie und Freiheit besondere Dienste erwiesen haben. 27 Bis zum Jahre 1976 ehrten entsprechend DL 44721 (24.11.1962) die diversen bestehenden Orden „besondere Verdienste bei der Ausübung von Pflichten oder Amtsgeschäften im Zusammenhang mit Handlungen staatlicher Einrichtungen oder der Kommandierung im Einsatz befindlicher Truppen“, „außerordentliche Akte der Selbstlosigkeit und des Opfers für das Vaterland oder die Menschheit“ oder „Handlungen im kolonisatorischen Geist, zur Verbesserung der politischen oder wirtschaftlichen Situation in Portugals überseeischen Territorien“.

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Nur der Präsident oder ein Mitglied der Regierung haben das Recht, Vorschläge zu unterbreiten, wer mit diesem Orden ausgezeichnet werden soll. Im Laufe der Jahre hat der Orden einiges von seiner ursprünglichen Bedeutung eingebüßt, wenn man die große Zahl derjenigen bedenkt, denen er verliehen worden ist, besonders in den letzten zehn Jahren. Abgesehen von symbolischer Anerkennung waren diese „Opfer“ auch die ersten, die eine finanzielle Entschädigung erhielten. Ironischerweise handelte es sich bei den ersten rechtlich wirksamen Regularien zur finanziellen Entschädigung der Opfer der Salazar-Caetano-Diktatur um eine Gesetzgebung, die ursprünglich im Anschluss an den Militärputsch des 28. Mai 1926 verabschiedet worden war.28 Eine Verordnung zur finanziellen Entschädigung der Opfer des autoritären Regimes wurde zum ersten Mal im Jahre 1977 eingerichtet, drei Jahre nach dem Beginn des Übergangs zur Demokratie. Nachdem man sich in den ersten zwei Jahren des eindeutigen Bruchs mit der Vergangenheit überwiegend auf die Täter und Kollaborateure des alten Regimes konzentriert hatte, entschied die erste verfassungsgemäße Regierung unter Führung einer der wichtigsten Figuren des antifaschistischen Widerstands, Mário Soares, dass nun die „außerordentlichen Handlungen zur Verteidigung der Freiheit und der Demokratie“ gewürdigt werden sollten. Das Gesetz 171/77, verabschiedet am 30. April 1977, legte für diesen Personenkreis eine Pensionszahlung fest, um den Opfern beziehungsweise den Angehörigen der Opfer der Diktatur „Anerkennung und Dankbarkeit“ auszudrücken und zu verhindern, dass dieses Thema in Vergessenheit geriet. Wie vom Gesetz festgelegt, konnte die Initiative zur Gewährung einer Pension vom Premierminister, von den Mitgliedern des Revolutionsrates, von der Regierung, den Parlamentsabgeordneten, der Lokalverwaltung oder von anderen öffentlichen Institutionen ausgehen. Diese Pensionen waren mit einem besonderen Titel verbunden.29 Nach der Auflösung des Revolutionsrates im Jahre 1982 wurden einige Änderungen verabschiedet, um die Zuerkennung von Pensionszahlungen zu regeln30, deren wichtigste im Jahre 2003 beschlossen wurde. 28 Im Jahre 1929, im Zuge der Errichtung des Neuen Staats, wurde eine Pension eingerichtet, um Bürgern einen Ausgleich für „außerordentliche und wichtige Dienste für das Land“ zu gewähren. Aufgrund dieser Gesetzgebung kam es zur Einrichtung von „Blutpensionen [de preço de sangue] für die Familien derer, die zur Verteidigung des Landes oder zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ihre Leben verloren“ (Decreto-Lei n.° 17 335, DR 211, Série I, 13/9/1929). Später, im Jahre 1966, wurde dieses Gesetz geändert, hauptsächlich um den Militärangehörigen und ihren Angehörigen einen Ausgleich zu gewähren, die in den Kolonialkriegen kämpften (Gesetz 47 084 vom 9.7.1966). Dies wurde die Basis für alle seitdem geschaffenen Pensionen ähnlicher Art, die denjenigen gewährt wurde, die für Freiheit und Demokratie kämpften. 29 Decreto-Lei n.° 171/77 vom 30.4.1977 (DR 100/77, Série I, 30/4/1977): Einrichtung einer Pension für portugiesische Bürger, die sich durch ihre Verdienste bei der Verteidigung von Freiheit und Demokratie ausgezeichnet haben. 30 Decreto-Lei n.° 404/82 vom 24.9.1982 (DR 222/82, Série I, 24/9/1982) und Decreto-Lei n.° 466/99 vom 6.9.1999 (DR 259/99, Série I, 6/11/1999): Blutpension und Pension für wichtige Dienste an der Nation.

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Die derzeitig geltende Gesetzgebung beruht auf der von der Mitte-rechts-Regierung unter Premierminister José Manuel Durao Barroso im Jahre 2003 verabschiedeten Regelung. Barroso war ein ehemaliges Mitglied der linksextremen Opposition gegen die Diktatur und führte zu dieser Zeit die PSD.31 Diese Gesetzesänderung fügte zu den bereits bestehenden Anforderungen hinzu, dass die Gewährung einer Pension vom Generalstaatsanwalt bestätigt werden musste. Sie weitete auch die Liste potentieller Nutznießer aus, falls der eigentlich vorgesehene Empfänger verstorben war. Die Gewährung dieser Pension war hin und wieder umstritten, besonders in folgenden Fällen, in denen die Pension gewährt wurde: a) Deserteure, d. h. Angehörige der Streitkräfte, die gegen das Regime opponierten und, anstatt in den Kolonialkriegen zu kämpfen, aus dem Land flüchteten; b) Personen, die für Terrorakte verantwortlich waren; c) ehemalige Polizeibeamte. Kategorie 2: Diejenigen, die im Untergrund oder im Gefängnis waren Im Jahre 1997 verabschiedete eine sozialistische Regierung unter Führung von Premierminister António Guterres ein Gesetz zur finanziellen Entschädigung der Opposition gegen Salazar, welches dem Zweck der sozialen Absicherung dienen sollte und die im Untergrund oder Haft verbrachte Zeit auf die Altersrente anrechnete.32 Dieser Gesetzesvorschlag kam von der PS selbst. Um sich für diese besondere Rente zu qualifizieren, mussten die Antragsteller Nachweise über die im In- oder Ausland verbrachte Zeit erbringen, „während der sie Opfer einer politischen Verfolgung waren, die ihre normalen beruflichen Tätigkeiten einschränkte und aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer politischen Gruppierung beziehungsweise ihrer Teilnahme an politischen Aktivitäten zur Förderung der Demokratie ihre Teilnahme an der Gemeinschaft verhindert hatte“. Dies bezog sich auf den Zeitraum zwischen dem 28. Mai 1926 und dem 25. April 1974. Kategorie 3: Diejenigen, die am Aufstand des 18. Januar 1934 teilnahmen Der finanzielle Ausgleich für diese besondere Gruppe war das Ergebnis eines Gesetzesvorstoßes der PCP. Der Vorschlag fand die einstimmige Unterstützung

31 Decreto-Lei n.° 189/2003 vom 22.8.2003 (DR 193, Série I-A, 22/8/2003): Rechtliche Regelung der Pensionen für außerordentliche Taten bei der Verteidigung von Freiheit und Demokratie. 32 Lei n.° 20/97 vom 19.6.1997 Junho (DR I, Série A, n. 139, 19/6/1997). Anrechnung der aus politischen Gründen in der Illegalität oder in Haft verbrachten Zeit auf die Berechnung von Alters- und Arbeitsunfähigkeitsrenten.

Portugal

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des Parlaments, woraus man einen breiten Konsens ableiten könnte.33 Während der Debatte verwehrte sich allerdings die CDS gegen den Vorwurf der PCP, sie sei ein Bestandteil der alten Elite. Sie distanzierte sich vielmehr von der „anti­ demokratischen und inhumanen“ Art rechter Politik, die nicht von ihr, sondern von „anderen“ vertreten worden sei. Obwohl es bereits zuvor gelegentliche Vorwürfe gegen einzelne Abgeordnete gegeben hatte, stellte doch ein derartiger Versuch, die CDS (oder andere Parteien) mit der ehemaligen Elite in Verbindung zu bringen, einen seltenen Fall in Portugal dar. Das Gesetz 26/89 erkennt die Teilnahme an diesem Aufstand als einen „relevanten Dienst an der Demokratie“ an.34 Im Verlaufe der Debatte erklärte die PCP, dass acht Opfer noch lebten (im Jahre 1989), diese zwischen 73 und 83 Jahre alt und insgesamt beinahe 70 Jahre in Haft gewesen seien. Da man ihre Anträge im Rahmen der bestehenden Programme für eine finanzielle Entschädigung zurückgewiesen hatte, d. h. im Rahmen der Pensionen für diejenigen, welche für Freiheit und Demokratie gekämpft hatten (siehe Kategorie 1), brachte die PCP ihre Forderungen nach Entschädigung vor das Parlament und hatte damit Erfolg.

Formen der Anerkennung und Arten finanzieller Entschädigung Kategorie 1: Diejenigen, die für Freiheit und Demokratie kämpften Der Präsident sowie jeder Minister können die Entscheidung treffen, eine Person oder Institution auf nationaler oder internationaler Ebene, zu Lebenszeit oder posthum zu ehren. Es gibt fünf verschiedene Titel sowie einen weiteren ausschließlich für Staatsoberhäupter. Die Auszeichnung wird jährlich verliehen, zumeist am 25. April anlässlich der Feierlichkeiten zur Erinnerung an den Machtwechsel, die in jedem Jahr (von wenigen Ausnahmen abgesehen) im Parlament stattfinden. In den ersten zwei Jahrzehnten nach der Einrichtung der Pension hatten diejenigen Personen, die für Freiheit und Demokratie gekämpft hatten beziehungsweise ihre Angehörigen, sofern sie gegenwärtig oder in der Vergangenheit wirtschaftlich von ihnen abhängig waren oder sind, ein Anrecht auf entweder eine lebenslange Pension (dies galt für das Opfer selbst oder für seinen verwitweten Ehepartner, falls dieser älter als 40 Jahre war) oder auf eine besondere ­Pension (dies galt für Nachkommen, bis diese alt genug waren, um ­wirtschaftlich

33 Eines der Parlamentsmitglieder der PS war selbst ein direktes Opfer der vom Regime nach dem 18.1.1934 eingeleiteten Unterdrückungsmaßnahmen. Auch die PSD erhob den Anspruch, dass etliche ihrer Abgeordneten zum einen oder anderen Zeitpunkt gegen das Regime gekämpft hätten. 34 Decreto-Lei n.° 26/89 vom 22.8.1989 (DR 192/89, Série I, 22/8/1989): Lebenslange Unterstützung für diejenigen, die am Aufstand des 18.1.1934 teilgenommen haben.

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­ nabhängig zu werden, es sei denn, etwas anderes wurde festgestellt und nachu gewiesen). Die Pension dürfte nicht mehr als 70 Prozent des von der verstorbenen Person bzw. Opfer verdienten Einkommens betragen.35 Im Jahre 2003 wurde der Kreis der Bezugsempfänger ausgeweitet. Im Falle einer rechtsgültigen Trennung bzw. Scheidung kann die Pension auch dem ehemaligen Ehepartner gewährt werden (sofern diese bereits einen gültigen Anspruch auf Ehegattenunterhalt besitzen und nicht erneut geheiratet haben). Falls es keine Ehepartner oder unmittelbaren Nachkommen gibt, kann die Pension auch jemandem gewährt werden, welcher die verstorbene Person aufgezogen hat (auch ohne Blutsverwandtschaft), oder auch Geschwistern (sofern sie jünger als 18 bzw. 21 Jahre alt oder dauerhaft arbeitsunfähig sind). Die Bedingung der wirtschaftlichen Abhängigkeit gilt nicht für Nachkommen, die jünger als 18 bzw. 21 Jahre (im Falle eines nachgewiesenen Studiums) alt sind, für Personen, die die verstorbene Person aufgezogen haben oder für andere Verwandte in aufsteigender Linie, welche die Pension beanspruchen. Während der Kreis der Anspruchsberechtigten erweitert wurde, ist die ausgezahlte Summe geringer geworden, da sie auf 50 Prozent des früheren Einkommens festgelegt wurde. Kategorie 2: Diejenigen, die im Untergrund oder in Haft waren Der Antrag wird von einer Kommission geprüft, die aus drei Vertretern des Innen-, Justiz- und Finanzministeriums besteht. Die in Haft oder im Untergrund verbrachte Zeit wird auf Altersrente, Arbeitsunfähigkeitsrente oder Hinterbliebenenrente angerechnet. Die Zahlung kann von Angehörigen beansprucht werden, falls das Opfer verstorben ist und bereits einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente hatte. Im Falle einer zustimmenden Entscheidung werden die lokalen Sicherheitsbehörden zur Auszahlung angewiesen. Die Ministerien der Justiz und des Inneren sowie Privatfirmen können konsultiert werden, um die nötigen Nachweise zu erbringen. Kategorie 3: Diejenigen, die am Aufstand des 18. Januar 1934 teilnahmen Die finanzielle Entschädigung für diese Opfer beruht auf einem einzigen Dokument. Diese Opfer haben ein Anrecht auf eine lebenslange Pension entsprechend dem Mindestlohn. Der Rechtsanspruch ist ähnlich dem für Kategorie 1 beschriebenen.

35 Decreto-Lei n.° 43/78 vom 11.3.1978 (DR 59/78, Série I, 11/3/1978): Reformulierung der Artikel 1 und 2 des Gesetzes 171/77 vom 30.4. (Pensionen für portugiesische Bürger für außerordentliche Taten bei der Verteidigung von Freiheit und Demokratie).

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Opferorientierte Übergangsjustiz in Portugal in Zahlen Seit der Einrichtung des Freiheitsordens im Jahre 1977 ist dieser an insgesamt 473 Personen und Institutionen verliehen worden, davon an 43 im Ausland (Abbildung 1). Präsident Eanes war ein Angehöriger der Streitkräfte, Soares und Sampaio waren Führer der PS, der gegenwärtig amtierende Präsident ist Vorsitzender der PSD. Die Zahlen zeigen, dass Mário Soares, obwohl er am meisten zur Anerkennung der Opfer der Diktatur beigetragen hat, in seiner zehnjährigen Amtszeit als Präsident der Republik weniger Ehrungen als sein Vorgänger und Nachfolger vorgenommen hat.

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Abb. 1: Anzahl der Personen und Institutionen auf nationaler und internationaler Ebene, welchen der Präsident den Freiheitsorden verliehen hat (bis 2013); Quelle: http://www.ordens.presidencia.pt; 26.11.2013

Bezüglich der finanziellen Entschädigung für diese Opfer gibt die Abbildung 2 die Anzahl der Empfänger seit Einrichtung der Pension an. Die Zahlen zeigen, dass der Personenkreis, der in den Genuss dieser Pension kam, recht begrenzt ist; 30 Jahre nach dem Machtwechsel profitieren nur noch 100 Personen von dieser Maßnahme. Die Tabelle zeigt auch, dass unmittelbar nach der Einführung der Opferpension kein großer Ansturm einsetzte.

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ϭϰϬ ϭϮϬ ϭϬϬ ϴϬ ϲϬ ϰϬ ϮϬ Ϭ

Abb. 2: Anzahl der Bezieher finanzieller Ausgleichsleistungen (bis 2006); Quelle: Filipa Raimundo, Post-Transitional Justice? Spain, Poland and Portugal in comparative perspective, Dissertationsschrift, European University Institute, Florenz 2012 (für die Jahre 1988 bis 2004 liegen keine nach einzelnen Jahren aufgeschlüsselten Zahlen vor).

Interessanterweise erwies sich das, was ursprünglich als eine sehr eng gefasste Gesetzgebung aussah und von der zu erwarten war, dass nur eine eher geringe Anzahl der Opfer davon profitieren würde, tatsächlich als die effektivste Maßnahme, jedenfalls was die Zahl der Nutznießer betrifft. Tabelle 2 gibt die Anzahl der Antragsteller und tatsächlichen Bezieher von Pensionen an, die seit 1997 als Ausgleich für die im Untergrund oder in Haft verbrachte Zeit gezahlt werden. Obwohl diese Pension erst 20 Jahre nach der Pension für Kategorie 1 eingerichtet wurde, hat sie entsprechend den uns vorliegenden Zahlen dennoch mehr als sechsmal so viele Personen erreicht als die finanzielle Ausgleichsmaßnahme für die Kämpfer „für Freiheit und Demokratie“. Entsprechend der folgenden Tabelle waren beinahe 70 Prozent der Anträge erfolgreich, was auch der landläufigen Ansicht widerspricht, nach der die zu erfüllenden Bedingungen sowie die Bürokratie es sehr erschwert hätten, mithilfe dieser Maßnahme einen finanziellen Ausgleich zu erhalten.

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Tabelle 2: Anzahl der Antragsteller und Bezieher von Leistungen entsprechend dem Gesetz 20/97 (1997–2009) Zahl der Anträge Zahl der Leistungsbezieher

1329 908

Quelle: Diese Zahlen wurden den Autoren von Caixa Geral de Aposentações zur Verfügung gestellt.

Forderungen nach Ausgleichsmaßnahmen im Parlament Wie bereits dargelegt, hatten die meisten der zivilgesellschaftlichen Organisationen, die in der Zeit unmittelbar nach dem Putsch vom 25. April 1974 entstanden, ein hauptsächliches Ziel: die sofortige Freilassung der politischen Gefangenen, Zivilisten wie Militärangehörige. Auch wenn nur sehr wenige von ihnen tatsächlich irgendeine Art von Wiedergutmachung oder Anerkennung verlangten, und trotz des Umstandes, dass im Anschluss an die erste Phase der Übergangszeit, in den Jahren 1976 und 1977, nur wenige Maßnahmen zur Wiedergutmachung und Anerkennung getroffen wurden, haben doch über die Jahre hinweg die wichtigen politischen Parteien Gesetzesinitiativen mit der Forderung nach Wiedergutmachung für die Opfer eingebracht. Wie in Tabelle 3 gezeigt wird, zählen zu den parlamentarischen Initiativen zwischen 1982 – dem Jahr, in dem die portugiesische Demokratie sich nach allgemeiner Ansicht endgültig konsolidierte – und heute Vorschläge zur Wiedergutmachung nicht nur für Opfer des Regimes, sondern auch für die Opfer der Kolonialkriege (1961–1974) sowie des Machtwechsels selbst. Tatsächlich gehören die Opfer des Machtwechsels einer eigenen Kategorie an, die vom Staat bei mehr als nur einer Gelegenheit anerkannt worden ist. Sie galten als Opfer der in den ersten beiden Jahren begangenen „Exzesse“, nämlich der Enteignungen im Zusammenhang mit der Verstaatlichung von Besitztümern und der von der PCP durchgeführten Agrarreform.

Gesetz

Projekt nach ­Gesetz 319/II

Projekt nach ­Gesetz 389/V

Projeckt nach ­Gesetz 561/V

Projekt nach ­Gesetz 400/VI

Projekt nach ­Gesetz 401/VI

Projekt nach Resolution 146/VI

Projekt nach ­Gesetz 182/VII

Projekt nach ­Gesetz 394/VII

Projekt nach ­Gesetz 441/VII

Projekt nach ­Gesetz 449/VII

Zeit

März 1982

April 1989

Okt. 1990

April 1994

April 1994

März 1995

Juni 1996

Juli 1997

Dez. 1997

Jan. 1998

PSD CDS/PP

Pensionen für in den Überseeterritorien geborene portugiesische Bürger, die an der Seite der portugiesischen Streitkräfte gekämpft haben

CDS/PP

PS

PCP

PCP

PS

CDS/PP

PCP

PSD, PS, CDS, PCP,

Abgelehnt 29. Januar 1998

Einstimmig angenommen Gesetz 34/1998

Ausgelaufen 24. Oktober 1999

Angenommen [Abs: PSD, CDS/ PP], Gesetz 20/1997

Zurückgewiesen 30. März 1995

Ausgelaufen 26. Oktober 1995

Ausgelaufen 26. Oktober 1995

_

Als Gesetz einstimmig angenommen; Gesetz 26/1989

Zurückgewiesen von PSD, CDS 21. Mai 1982

EingeErgebnis (Plenarsitzung) bracht von:

Kompensation für ehemalige politische Gefangene im Zusammenhang mit den Kriegen in Afrika

Pensionszahlungen für während der Diktatur im Untergrund oder in Haft verbrachte Zeit

Pensionszahlungen für während der Diktatur im Untergrund oder in Haft verbrachte Zeit

Ausgleichszahlungen für von der Agrarrefom während der Übergangsphase Betroffene

Kommission Schwarzbuch Faschismus

Pensionszahlungen für in Haft verbrachte Zeit während der Diktatur

Ausgleichzahlungen für Betroffen von Verstaatlichungen während der Übergansphase

Lebenslange Pensionen für die Opfer des 18. Januar 1934

Amnestie für während der Übergangsphase begangene politische Straftaten

Inhalt

Tabelle 3: Gesetzesinitiativen zur Wiedergutmachung für Opfer seit 1982

102 António Costa Pinto / Filipa Raimundo

Ausgleichzahlungen für vom Dekolonisierungsprozess Betroffene Ausgleichszahlungen für ehemalige politische Gefangene im Zusammenhang mit den Kriegen in Afrika

Projekt nach ­Gesetz 52/VIII

Projekt nach Resolution 24/VIII

Projekt nach Gesetz (99/VIII)

Projekt nach ­Gesetz 250/VIII

Projekt nach Resolution 83/VIII

Projekt nach Resolution 84/VIII

Projekt nach Gesetz 412/VIII

Projekt nach Gesetz (442/VIII)

Projekt entspr. Parlamentsent­ scheid(46/VIII)

Dez. 1999

Jan. 2000

Feb. 2000

Juni 2000

Nov. 2000

Nov. 2000

März 2001

Mai 2001

Juni 2001

CDS/PP

CDS/PP

PSD

CDS/PP

Zum Gedenken und zur Anerkennung derjenigen, die an den Ereignissen des 25. November 1975 teilnahmen

Ausgleichszahlungen für von der Agrarreform während der Übergangsphase Betroffene

CDS/PP

CDS/PP

CDS/PP

CDS/PP

PSD

Ausgleichszahlungen für ehemalige politische Gefangene im Zusammenhang mit den Kriegen in Afrika

Zur Anerkennung derjenigen, die an den Ereignissen des 25. November 1975 teilnahmen

CDS/PP

Pensionszahlungen für ehemalige Kombattanten in gefährlichen Gebieten

Pensionszahlungen für nach 1974 aus ehemaligen BE Kolonien zurückgekehrte portugiesische Bürger

Ausgleichszahlungen für vom Dekolonisierungsprozess Betroffene

Ausgleichszahlungen für ehemalige Beamte in den Überseeterritorien

Projekt nach ­Gesetz 665/VII

April 1999

Hilfe für die Opfer posttraumatischer Belastungssyndrome

Projekt nach ­Gesetz 554/VII

Juli 1998

Ausgelaufen 12. Oktober 2001

Abgelehnt 25. Oktober 2001

Ausgelaufen 4. April 2002

Ausgelaufen 4. April 2002

Ausgelaufen 4. April 2002

Ausgelaufen 4. April 2002

Einstimmig angenommen Gesetz 9/2002

Ausgelaufen 4. April 2002

Abgelehnt 26. Januar 2001

Ausgelaufen 24. Oktober 1999

Einstimmig angenommen Gesetz 46/1999

Portugal

103

Projekt nach Gesetz (186/IX)

Projekt nach Gesetz (317/IX)

Projekt nach Gesetz (107/IX)

Projekt nach Resolution (173/X)

Projekt nach Resolution (330/X)

Projekt nach Resolution (360/X)

Projekt nach ­Gesetz (220/X)

Projekt nach Resolution (527/X)

Projekt nach Resolution (548/X)

Dez. 2002

Juni 2003

Jan. 2004

Jan. 2007

Mai 2008

Juli 2008

Sep. 2008

Juli 2009

Juli 2009

CDS/PP

CDS/PP

Gov

CDS/PP

PS

PCP

Reg.

PS

PCP

PSD

Ausgelaufen 14. Oktober 2009

Einstimmig angenommen AR Resolution 75/2009

Angenommen (VA: PSD, CDS/ PP, BE), Lei 3/2009

Ausgelaufen 14. Oktober 2009

Einstimmig angenommen Resolution 24/2008

Ausgelaufen 14. Oktober 2009

Einstimmig angenommen Gesetz 21/2004

Abgelehnt von PSD, CDS/PP [Abs: PCP], 24. März 2004

Abgelehnt von PSD, CDS/PP [Abs: PS], 24. April 2004

Ausgelaufen 12. Oktober 2001

Quelle: Filipa Raimundo, Post-Transitional Justice? Spain, Poland and Portugal in comparative perspective, ­ Dissertationsschrift, European University Institute, Florenz, 2012.

Anerkennung derjenigen, die an den Ereignissen des 25. November 1975 teilnahmen

Zurückführung der Leichen von Militärangehörigen, die im Kolonialkrieg getötet wurden

Ausgleichszahlungen für ehemalige ­Kombattanten

Ausgleichszahlungen für ehemalige ­Kombattanten

Anerkennung und Gedenken an den ­antifaschistischen Kampf

Anerkennung des antifaschistischen Kampfes in Portugal

Ausgleichszahlungen für ehemalige ­Kombattanten

Ausgleichszahlungen für ehemalige ­Kombattanten

Ausgleichszahlungen für ehemalige ­Kombattanten

Projekt entspr. Par- Ausgleichszahlungen für ehemalige politische lamentsentscheid Gefangene im Zusammenhang mit den Kriegen (47/VIII) in Afrika

Juni 2001

104 António Costa Pinto / Filipa Raimundo

Portugal

105

Schlussfolgerungen Der Übergang zur Demokratie in Portugal in den Jahren 1974 bis 1976 eliminierte den größeren Teil des institutionellen Erbes der Diktatur. Nicht nur wurden die wichtigsten politischen Institutionen der Salazaristen aufgelöst, sondern auch die „autoritären Enklaven“, die etliche der Veränderungen während der 1970er- und 1980er-Jahre überlebt hatten, wurden anschließend in einem komplexen Prozess beseitigt oder zumindest gelähmt. Die repressivsten ­Institutionen, wie die Geheimpolizei PIDE oder die Portugiesische Legion, wurden sofort aufgelöst, und erstere sogar strafrechtlich verfolgt. Doch die politischen Spaltungen, die sich im Verlaufe der revolutionären Übergangsphase ergaben – etliche Analysten charakterisieren das Jahr 1975 als den „kritischen Moment der Revolution“ –, überdeckten alles in einem solchen Ausmaß, dass man bei der Konsolidierung der Demokratie in Portugal weit mehr mit dem Erbe der Übergangsphase beschäftigt war als mit dem ehemaligen autoritären Regime. Was die „Vergangenheitspolitik“ betrifft, stellt die Konsolidierung der Demokratie in Portugal eher die Institutionalisierung eines Diskurses und eine sich auf die Ursprünge der portugiesischen Demokratie beziehende Praxis dar, als das Ergebnis einer erfolgreichen Bewältigung des Erbes von Autoritarismus und Revolution. Mit der Konsolidierung der Demokratie wurde die strafrechtliche Dimension der portugiesischen Übergangsjustiz schnell aufgegeben. Ihr folgte die Reintegrations- und Amnestiepolitik der späten 1990er-Jahre, und erst in dieser späten Phase wurde die Wiedergutmachung für die Opfer ein Thema der Politik. Wiedergutmachung für die Opfer ist in der Hauptsache das Ergebnis von Initiativen seitens der großen Mitte-links-Partei. Dies liegt teilweise daran, dass die PS die einzige an der Regierung beteiligte Partei des linken Spektrums ist; während die Rechte bei mehr als nur einer Gelegenheit Koalitionen gebildet hat, hat die PS immer allein regiert. Dies macht die PS beim vorliegenden Thema sehr stark zum Protagonisten. Wenn man berücksichtigt, welcher Art die Organisationen waren, die opferorientierte Maßnahmen der portugiesischen Übergangsjustiz forderten, so lässt sich sagen, dass die Wiedergutmachung für die Opfer erfolgreicher war als der Erinnerungsprozess. Während es nach unserer Kenntnis keine noch schwebenden Verfahren zur Wiedergutmachung gibt (mit Ausnahme, wie bereits erwähnt, der Opfer des Machtwechsels), fordern die wenigen existierenden Organisationen der Zivilgesellschaft nach wie vor einen substantielleren Zugang zur Wahrheitsfindung und mehr Anstrengungen des gesellschaftlichen Gedenkens.

Griechenland – ein Sonderfall Heinz A. Richter

Die andere politische Kultur Befasst man sich mit den Diktaturen im Europa des 20. Jahrhunderts und der Frage, wie ihre Folgen bewältigt wurden, so lassen sich unterschiedliche Typen und Verlaufsmuster feststellen. Es handelte sich um ideologisch geprägte faschistische und kommunistische Diktaturen oder um reine Militärdiktaturen. Bei den faschistischen geht es primär um die Diktaturen von Hitler in Deutschland und von Mussolini in Italien. Ihre Aufarbeitung begann in Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, und ihre Bewältigung wurde zumindest dort mehr oder weniger erfolgreich durchgeführt. Da Italien rechtzeitig die Seiten wechselte, die Diktatur selbst beseitigte und zur Demokratie zurückkehrte, fand eine Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit bezüglich der Beteiligung am Zweiten Weltkrieg praktisch bis heute nicht statt. Die in den 1930er-Jahren als faschistisch eingestuften Diktaturen von Franco in Spanien und Salazar in Portugal wandelten sich rechtzeitig, warfen ihren ideologischen Ballast über Bord und wurden – meiner Meinung nach – zu „normalen“ Diktaturen. Ihre Bewältigung geschah durch die Einführung der Demokratie. Eine Aufarbeitung der faschistischen Phase fand ebenfalls kaum statt. Bei den linken Diktaturen handelt es sich um die kommunistischen Diktaturen des sogenannten Ostblocks, die 1989 zusammenbrachen. Die betroffenen Staaten waren Russland, die Ukraine, Weißrussland, die DDR, Polen, die ČSSR, die baltischen Staaten und die Staaten des Balkans mit Ausnahme Griechenlands. Auch die Aufarbeitung ihrer kommunistischen Vergangenheit ist kurz nach dem Zusammenbruch von 1989 in Gang gekommen und hat äußerst unterschiedliche Fortschritte erzielt. Einige Länder blieben diktatorisch, andere wie zum Beispiel Russland sind anscheinend auf dem Weg in eine neue Autokratie. Wieder andere haben sich demokratisiert und sind sogar Mitglieder der EU geworden. Bei der Diskussion über die Bewältigung der Vergangenheit wurde im Falle von Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Jugoslawien übersehen, dass in diesen Staaten nach 1945 kommunistische Diktaturen die vorangegangenen rechten Diktaturen ablösten und den Blick auf die diktatorische Entwicklung von rechts zuvor verstellten. Eine irgendwie geartete Bewältigung jener Zeit fand in diesen Staaten nicht statt. Und in Westeuropa wurden diese Diktaturen als ­traditionelle

108

Heinz A. Richter

Königsdiktaturen interpretiert. Diese Interpretation galt auch für Griechenland, obwohl dort aufgrund der vorhandenen Informationen die Verhältnisse eigentlich klarer hätten sein können. Aber alle Interpreten der griechischen Metaxas-Diktatur projizierten westeuropäische Vorstellungen auf Griechenland und die übrigen erwähnten Balkanstaaten und begriffen nicht, dass es dort eine andere politische Kultur gab, die stark genug war, die west- und osteuropäisch geprägten Ideologien des Faschismus und des Kommunismus zu modifizieren. Es handelt sich dabei um den Klientelismus. Der Klientelismus Griechenlands unterscheidet sich grundsätzlich vom westeuropäischen. Der westeuropäische beschränkt sich auf eine bestimmte Klientel einer bestimmten Partei; der griechische Klientelismus hingegen umfasst die gesamte Gesellschaft mit allen ihren Aspekten. Die Parteien sind Klientelverbände mit einem Patron an der Spitze und haben mit ihren europäischen Gegenstücken nur den Namen „Partei“ gemeinsam. Die Basis des politischen Systems sind die „Rousfetia“, Gefälligkeiten der unterschiedlichsten Art, die alle eins gemeinsam haben, dass sie durch veruntreute staatliche Gelder finanziert werden.1 Die Entwicklung in Griechenland unterscheidet sich also grundlegend und in jeder Hinsicht von jener in Westeuropa.

Das Regime vom 4. August 1936 Der griechische König Georg II. war 1935 durch ein äußerst zweifelhaftes Plebiszit wieder auf den Thron zurückgekommen und hatte feierlich geschworen, die Verfassung des Landes zu achten. Als sich 1936 nach tatsächlich demokratischen Wahlen eine parlamentarische Pattsituation ergab und die von den Kommunisten kontrollierte Volksfront mit etwas über fünf Prozent der Stimmen zum Zünglein an der Waage bei der Regierungsbildung wurde, glaubte ­Georg  II., oder gab es zumindest vor, in Griechenland stehe die kommunistische Machtübernahme bevor, und unterzeichnete am 4. August 1936 jene Dekrete, die die Demokratie abschafften und General Metaxas zum Diktator ernannten. Dies war ein glatter Verfassungsbruch durch den König, den ihm sein Volk nie verzieh. Als am 4. August 1936 Metaxas und König Georg II. in Griechenland eine Co-Diktatur errichteten, wurde diese von Hitler und Mussolini als faschistisch eingestuft, schließlich waren in Griechenland alle typisch faschistischen Merkmale vorhanden: Metaxas war der Führer; es gab einen Führerkult; man grüßte mit erhobenem rechtem Arm; es gab eine uniformierte Staatsjugend wie die HJ; 1

Vgl. Heinz A. Richter, Athener Klientelismus. Die politische Kultur Griechenlands und die Wurzel der Schuldenkrise. In: Lettre International, 96 (Frühjahr 2012), S. 25–27; ders., Zur politischen Kultur Griechenlands. In: Die Politische Meinung, 57 (März 2012) H. 508, S. 51–58; ders., Zwischen Tradition und Moderne: Die Politische Kultur Griechenlands. In: Peter Reichel (Hg.), Politische Kultur in Westeuropa, Bürger und Staaten in der Europäischen Gemeinschaft, Bonn 1984, S. 145–166.

Griechenland

109

die sogenannten Arbeitsbataillone entsprachen dem Reichsarbeitsdienst; es gab eine Geheimpolizei, die von der Gestapo geschult wurde; politische Gegner landeten in KZs auf bestimmten Inseln. Die Aufmärsche und Paraden des Regimes waren natürlich nicht so pompös wie die der Vorbilder, denn der griechische Faschismus war eine Art Arme-Leute-Version des westeuropäischen Faschismus. Es gab nur ein Merkmal, in dem sich das Regime von seinen Vorbildern unterschied: Es gab keine faschistische Massenpartei.2 Dies veranlasste den bekannten britischen Griechenlandkenner Christopher Montague Woodhouse, den faschistischen Charakter des Regimes zu verneinen.3 Ähnliches geschah in den 1970er-Jahren bei der großen Faschismusdebatte in Deutschland. Sowohl Ernst Nolte als auch Reinhard Kühnl waren der Meinung, dass das griechische Regime nicht faschistisch gewesen sei, sondern es sich um eine traditionelle Diktatur gehandelt habe.4 Doch diese Behauptungen gehen an der Realität vorbei; es waren Projektionen von westeuropäischen Vorstellungen auf Griechenland, die auf das dortige klientelistische System nicht passten. Metaxas selbst erklärt in seinem Tagebuch den Grund, weshalb er keine Partei gründete: Das ganze Volk sei die Partei gewesen.5 Als Metaxas die Macht übernahm, zerschlug er alle alten Klientelparteien und richtete deren Anhänger auf sich aus. Von nun an war Metaxas der Führer und das Volk die klientelistische Gefolgschaft. Eine faschistische Partei wäre systemfremd gewesen. Das klientelistische System erwies sich so stark, dass es den Faschismus zur Anpassung zwang. Das griechische System darf daher als Klientelfaschismus bezeichnet werden. Die Zerschlagung der alten Klientelnetze hatte eine ungewollte Nachwirkung. Sie legte das Fundament für den Volkswiderstand unter der Okkupation. Denn als Griechenland besetzt wurde und das Regime zerbrach, zerfiel das auf Metaxas ausgerichtete Netz in seine Bestandteile. Die führerlosen Sub-Netze konnten nun zu großen Teilen von der beginnenden Résistance in ihr neues Netz integriert werden. Außenpolitisch steuerte das Regime einen opportunistischen Schaukelkurs. Georg II. vertrat einen Kurs der Rückversicherung bei Großbritannien, Metaxas setzte auf ideologische Freundschaft zu Berlin und Rom und träumte von 2

3 4 5

Heinz A. Richter, Griechenland zwischen Revolution und Konterrevolution 1936–1946, Frankfurt a. M. 1973, S. 54–67; ders., Griechenland im 20. Jahrhundert, Band 1: Megali Idea – Republik – Diktatur, Köln 1990, S. 198–205; Spyros Linardatos, I tetarti Avgoustou, Athen 1966, passim. C. M. Woodhouse, Apple of Discord. A Survey of Recent Greek Politics in Their International Setting, London 1948, S. 16. Ernst Nolte, Die faschistischen Bewegungen, München 1966. S. 64, 192 ff.; Reinhard Kühnl, Formen bürgerlicher Herrschaft. Liberalismus – Faschismus, Hamburg 1971, S. 84, 158. Ioannis Metaxas, To prosopiko tou Imerologio, Athen 1960, S. 553: „Griechenland erhielt am 4. August eine antikommunistische Herrschaft, eine antiparlamentarische Herrschaft, eine totalitäre Herrschaft, eine Herrschaft auf der Basis der Bauern und Arbeiter und folglich eine antiplutokratische Herrschaft. Sicher hatte es keine besondere Herrschaftspartei, aber das ganze Volk war die Partei, außer den unverbesserlichen Kommunisten und den reaktionären Anhängern der Alten Parteien.“

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Heinz A. Richter

internationaler faschistischer Solidarität. Entsprechend bitter war seine Enttäuschung, als das faschistische Italien am 28. Oktober 1940 über das faschistische Griechenland herfiel. Metaxas betrachtete Mussolinis Überfall auf Griechenland im Oktober 1940 als Verrat an der reinen Lehre. Bekanntlich scheiterte Mussolinis Angriff auf Griechenland, und die Griechen trieben die Angreifer weit in das damals italienisch besetzte Albanien zurück. Hitler, der zu diesem Zeitpunkt das Unternehmen Barbarossa vorbereitete, befürchtete eine Intervention Großbritanniens in Griechenland, die für seine Pläne in doppelter Hinsicht hätte gefährlich werden können: Erstens hätten die Briten die Ölfelder von Ploieşti bombardieren und zweitens eine Balkanfront wie im Ersten Weltkrieg eröffnen können. Um diese Flankenbedrohung zu beseitigen, okkupierte die Wehrmacht im April 1941 Jugoslawien und Griechenland.6 In den folgenden drei Jahren bis zum Oktober 1944 erlebte Griechenland dasselbe Schicksal wie alle besetzten Länder Europas. Es gab Kollaborationsregierungen, die immer mehr zu Werkzeugen der Besatzer wurden. Es entfaltete sich eine breite Widerstandsbewegung, die allerdings in verschiedene politische Richtungen gespalten war, die sich gegenseitig bekämpften. Ferner gab es eine Exilregierung unter Georg II. in Kairo bzw. London, die sich langsam von der Realität im besetzten Griechenland entfremdete.

Okkupation, Widerstand und Kollaboration Durch die Besetzung zerbrachen die alten klientelistischen Strukturen, da ihnen das Lebenselixier, der ungehinderte Zugriff auf staatliche Gelder, fehlte. Da die Bevölkerung keine Gefälligkeiten (Rousfetia) von dieser Seite mehr erwarten konnte, wandte sie sich von den alten politischen Kräften ab und den neuen zu. Die neuen Kräfte umfassten alle progressiven politischen Gruppierungen von den Linksliberalen bis zu den Kommunisten in der Form der Widerstandsbewegung EAM (Ethniko Apeleftherotiko Metopo – Nationale Befreiungsfront). Die Kommunisten spielten zwar eine wichtige Rolle, aber sie kontrollierten die Massenbewegung weit weniger als später vermutet wurde. Tatsächlich entwickelten die Kommunisten Vorstellungen, die man später als Eurokommunismus bezeichnete. Da diese Kräfte mangels Masse keine Rousfetia verteilen konnten, entstand aus der Résistance heraus, gewissermaßen von den Graswurzeln her, ein neues griechisches Staatswesen.7 6 7

Zum griechisch-italienischen und griechisch-deutschen Krieg vgl. Heinz A. Richter, Griechenland im Zweiten Weltkrieg. August 1939–Juni 1941, 2. Auflage Ruhpolding 2011. Vgl. Heinz Richter, Die griechische kommunistische Partei (KKE) 1944–1947: Von der Massenpartei zur Kaderpartei. In: Dietrich Staritz/Hermann Weber (Hg.), Einheitsfront Einheitspartei. Kommunisten und Sozialdemokraten in Ost- und Westeuropa 1944–1948, Köln 1989, S. 453–468; ders., Die Entwicklung der griechischen Linken 1918–1996. In: Patrick Moreau (Hg.), Der Kommunismus in Westeuropa: Niedergang oder Mutation?, Landsberg 1998, S. 131–166.

Griechenland

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Die Entstehung der Widerstandsbewegungen wurden durch zwei Faktoren begünstigt: Erstens durch die Hungersnot des Winters 1941/42,8 der die Menschen zur Rebellion trieb, und zweitens durch einen katastrophalen psychologischen Fehler Hitlers. Er überließ die Besatzung Griechenlands den von den Griechen in Albanien geschlagenen Italienern und den als Erbfeinde der Griechen betrachteten Bulgaren.9 Die in dieser Zeit entstehenden Widerstandsgruppen hatten alle eines gemeinsam: Sie waren republikanisch ausgerichtet; royalistischen Widerstand gab es nicht. Dies galt für die anfänglich linksliberal gesinnte EDES (Ethnikos Dimokratikos Ellinikos Syndesmos – Nationale Republikanische Griechische Liga) ebenso wie für die eher links orientierte EAM. Beide forderten, dass nach Kriegsende ein Plebiszit über die Staatsform abgehalten werden und der König nicht zuvor nach Griechenland zurückkehren solle.10 Die EAM verfolgte folgende Ziele: Zunächst die Befreiung des Landes von den faschistischen Besatzern; für die Nachkriegszeit strebte man außenpolitisch nach nationaler Unabhängigkeit, d. h. man wollte das alte klientelistische Abhängigkeitsverhältnis zu Großbritannien beenden und durch eine Partnerschaft auf gleicher Höhe ersetzen. Innenpolitisch wollte man eine demokratische, sozial gerechtere Republik mit modernen Strukturen, d. h. man wollte sich europäisieren und das Kernübel Griechenlands, den Klientelismus, beseitigen. Eine kommunistische Machtübernahme stand nachweislich nicht zur Debatte.11 Der Wunsch nach der Schaffung einer Nachkriegsrepublik rührte daher, dass sich der König durch seine Teilnahme an der Diktatur Metaxas zutiefst ­kompromittiert hatte, weshalb die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung die Restauration der Monarchie ablehnte. Ohne eine Einmischung von außen wäre der griechische Nachkriegsstaat eine Republik mit ausgeprägten sozialen Zügen geworden.

 8 Zur Hungersnot vgl. William N. Medlicott, The Economic Blockade, II, London 1959, S. 254; Bengt Helger (Hg.), Ravitaillement de la Grèce pendant l’occupation 1941–1944 et pendant les premiers cinq mois après la liberation. Rapport final de la Commission de Gestion pour le Secours en Grèce sous les auspices du Comité Internationale de la Croix Rouge, Athen 1949, S. 618–619; zur internationalen Hilfsaktion vgl. Conrad Roediger, Die internationale Hilfsaktion für die Bevölkerung Griechenlands im Zweiten Weltkrieg. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 11 (1963), S. 49–71. Die immer wieder bis in die jüngste Zeit zu hörende Behauptung, dass während dieser Hungersnot 300 000 Bürger Attikas gestorben seien, ist falsch. Tatsächlich kamen – schlimm genug – 30 000 Menschen ums Leben. Die übertriebene Zahl stammt aus einer Propagandasendung der BBC aus dem Jahr 1942.  9 Vgl. Mark Mazower, Greece and the New Europe 1941–1944. In: Philipp Carabott (Hg.), Greece and Europe in the Modern Period, London 1995, S. 85. 10 Zur Resistance vgl. Hagen Fleischer, Im Kreuzschatten der Mächte. Griechenland 1941–1944, Frankfurt a. M. 1986, passim; Mark Mazower, Inside Hitler’s Greece. The Experience of Occupation 1941–44, New Haven 1993, passim; Richter, Revolution und Konterrevolution, S. 397 ff.; Woodhouse, Apple of Discord, passim. 11 Vgl. Richter, Revolution, passim. Zuletzt äußerte sich dazu sehr überzeugend der ehemalige Generalsekretär der KKE esoterikou Grigoris Farakos, O ELAS kai i Exousia, Athen 2000, passim.

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Heinz A. Richter

Vorbereitung der bewaffneten britische Intervention In London interessierte man sich für die politischen Ansichten der griechischen Résistance zunächst überhaupt nicht. Für Winston Churchill war es genug, dass sie die Besatzungsmächte angriff und dadurch Truppen band. Zum ersten Mal wurde Churchill im April 1943 durch den Chef der britischen Militärmission bei den griechischen Partisanen, Brigadier Myers, gewarnt: Sollte Georg II. vor einem Plebiszit zurückkehren, werde es zum Bürgerkrieg kommen. London solle daher eine Erklärung abgeben, dass die britische Regierung nicht beabsichtige, den König mit Gewalt zu restaurieren.12 Doch Churchill konnte sich nicht vorstellen, dass eine griechische Nachkriegsrepublik außenpolitisch einen pro-britischen Kurs steuern würde, und wollte daher die Monarchie, koste es was es wolle, restaurieren. Er glaubte fest daran, dass man den griechischen König im Rahmen einer alliierten Balkanlandung nach Griechenland zurückbringen könne. Außerdem waren für Churchill die Führer der Resistance „miserable banditti“ oder „communist troublemakers“, die man im Zweifelsfall durch eine Schau von Stärke zur Räson bringen könne.13 Im März 1943 garantierte er Georg II. die Rückkehr. „Es sei britische Politik, dass der König auf jeden Fall zurückkehre, dass kein Plebiszit stattfinde und dass in Griechenland eine ,strong administration‘ errichtet werde.“ So der Tagebucheintrag des griechischen Vizepremiers Kanellopoulos.14 Zwar wurde im August 1943 auf der Konferenz von Quebec die Balkanlandung infrage gestellt, dennoch gab Churchill den Plan nicht auf, Georg II. mithilfe von britischen Truppen zurückzubringen.15 Der italienische Seitenwechsel im September 1943 ließ einerseits eine Landung immer unwahrscheinlicher werden und führte andererseits zu einer Zunahme der militärischen Stärke der Résistance. Als Churchill im Sommer 1943 im Zusammenhang mit der sogenannten Kairoer Mission der Widerstandsgruppen erkannte, dass eine Restauration ohne Gewaltanwendung nicht durchzuführen war, entschied er, den König unter Anwendung von Gewalt zurückzubringen, und erteilte erste entsprechende Befehle. „Should the Germans evacuate Greece we must certainly be able to send 5 000 British troops with armoured cars and Bren gun carriers into Athens. [...] The troops need not be organised to contend with more than rioting.“16 Dies war die Entscheidung für die bewaffnete Intervention in Griechenland nach dem Abzug der Deutschen. Von diesem Kurs wich Churchill auch nicht ab, als ihm Alternativen gezeigt

12 13 14 15 16

Richter, Revolution, S. 284. Winston Churchill, The Second World War, Band X, London 1964, S. 195. Richter, Revolution, S. 216. Ebd., S. 188. Churchill, The Second World War, Band X, S. 189.

Griechenland

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wurden. Zur Rechtfertigung diente der Mythos von der drohenden kommunistischen Machtübernahme. Churchill hielt von nun an stur an seinem Restaurationskurs fest. Er wollte nicht begreifen, dass die griechische Widerstandsbewegung, d.h. die EAM, eine breite Volksbewegung war. In seinen Augen war Georg II. der einzige Garant für einen englandfreundlichen Kurs der griechischen Politik. Die Vorstellung, dass auch eine griechische Republik eine pro-britische Politik betreiben könnte, passte nicht in sein Denken. Dadurch musste es nach der Befreiung Griechenlands zum Konflikt kommen. Als es im Frühjahr 1944 in den griechischen Exilstreitkräften in Nahost im Zusammenhang mit der Errichtung der Partisanenregierung (Politiki Epitropie Ethniki Apeleftherosis/PEEA – Politisches Komitee der Nationalen Befreiung) in den griechischen Bergen zu republikanischen Sympathiekundgebungen kam, definierte er diese zu einer kommunistischen Meuterei um, ließ sie gewaltsam unterdrücken und von allen Linken und Republikanern säubern. Von nun an waren die griechischen Streitkräfte stramm royalistisch und antikommunistisch eingestellt.17 Im Zusammenhang mit der Konferenz im Libanon, wo Vertreter der griechischen Widerstandsbewegung und der Exilregierung über die Bildung einer Regierung der Nationalen Einheit verhandelten, gelang es Churchill über den britischen Botschafter Rex Leeper, mit Georgios Papandreou einen Ministerpräsidenten einzusetzen, der bereit war, mit den Briten in jeder Hinsicht zu kollaborieren und die Ziele der britischen Politik durchzusetzen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Sowjetunion nicht um die Vorgänge in Griechenland gekümmert. Doch die Errichtung der PEEA und die Niederschlagung der „Meuterei“ provozierte eine kritische Stellungnahme der sowjetischen Nachrichtenagentur Tass, die von allen sowjetischen Zeitungen gedruckt wurde. Darin wurden die griechische Exilregierung in der Meutereifrage und damit implizit die Briten massiv kritisiert. Churchill protestierte am 16. April in einer Botschaft an Außenminister Molotow: „I am sure you would not allow such things to go on in the Soviet armies or among forces which you might control. I therefore hope that Tass may be told to leave off this agitation.“18 In seiner Antwort vom 22. April bat Molotow um genauere Informationen über die Vorgänge in Griechenland, brachte dann Rumänien ins Spiel und bat um britische Unterstützung der sowjetischen Position bei den seit Mitte März 1944 laufenden geheimen Waffenstillstandsverhandlungen.19 Es wurde klar, dass Molotow ein Junktim zwischen Griechenland und Rumänien herstellen wollte. In einem weiteren Schreiben Molotows von Ende April 1944 wurde der sowjetische Außenminister noch deutlicher: Die Briten kontrollierten die griechische Entwicklung „in the most direct manner“, und die Sowjets würden

17 Zu der „Meuterei“ vgl. Richter, Revolution, S. 392–416. 18 Elizabeth Barker, Greece in the Framework of Anglo-Soviet Relations 1941–1947. In: Marion Sarafis (Hg.), Greece: From Resistance to Civil War, London 1980, S. 22. 19 Vgl. Churchill, The Second World War, Band XI, S. 64.

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sich daher heraushalten, wobei sich Molotow darüber beklagte, dass die Briten in Rumänien ein doppeltes Spiel betrieben.20 Da abzusehen war, dass bei der Wiederaufnahme des sowjetischen Vormarsches Rumänien und Bulgarien in sowjetische Hände fallen und Griechenland bedroht sein würde, sah Churchill Handlungsbedarf. Außenminister Anthony Eden wurde beauftragt, die kontroversen Themen mit den Sowjets zu diskutieren. Am 5. Mai kam es zu einem Gespräch zwischen Eden und dem sowjetischen Botschafter in London, Fedor Gusew. Eden schlug vor, „that the Soviet Union ,should take the lead in our joint efforts to get Romania out of the war‘“, und in Bezug auf Griechenland bat er um sowjetische Hilfe. Rumänien liege in sowjetischen „sphere of command“, Griechenland in der britischen.21 Trotz der vorsichtigen Wortwahl war klar, dass hier über Nachkriegseinflusssphären verhandelt wurde. Die Russen erklärten sich mit dem britischen Vorschlag einverstanden, wollten aber wissen, ob die Amerikaner informiert seien. Und genau hier gab es ein Problem. Präsident Roosevelt und vor allem der amerikanische Außenminister Cordell Hull waren – primär aus ökonomischen Gründen – seit dem amerikanischen Kriegseintritt gegen Einflusssphären eingestellt. Den Sowjets und Briten war dies nur zu gut bekannt, denn diese Haltung hatte die erste Runde sowjetisch-britischer Verhandlungen über die Gestaltung Nachkriegseuropas im Dezember 1941 fehlschlagen lassen.22 Bei jenen Verhandlungen hatte Stalin Eden seine Vorstellungen von den Einflusssphären vorgelegt. Er nannte Gebiete, die im Hitler-Stalin-Pakt 1939 der Sowjetunion zugeschlagen worden waren, inklusive Finnland und Rumänien. Die Briten sollten sich demzufolge im Gegenzug Marinebasen in Boulogne, Dünkirchen, in Belgien und Holland, ja sogar in Norwegen und Dänemark aneignen. Stalin kam noch auf weitere Länder zu sprechen und schlug schließlich die Unterzeichnung eines Geheimprotokolls vor. Griechenland wurde zwar nicht expressis verbis erwähnt, aber es war klar, dass es in die britische Einflusssphäre fallen würde.23 Die langjährige BBC-Kommentatorin Elizabeth Barker kommentierte die Verhandlungen: „These exchanges show that at least in talking to Eden, Stalin was entirely pragmatic, non-ideological, un-Marxist or one might even say pre-Marxist, talking in terms of buying off potential allies, bribing potential allies, and dividing up the expected spoils of victory.“24 Eden war zwar von diesen Ausführungen sehr angetan, musste aber passen, da die Amerikaner, die seit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour, seit Anfang Dezember 1941 im Krieg waren, Einflusssphären prinzipiell ablehnten und durch den Lend-Lease Act auch in

20 21 22 23 24

Barker, Greece, S. 22. Churchill, The Second World War, XI, S. 64 f.; Barker, Greece, S. 22 f. Vgl. Barker, Greece, S. 16. Ebd., S. 16. Ebd.

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der Lage gewesen wären, ihre Vorstellungen durchzusetzen. Dennoch wurde im Rahmen des britisch-sowjetischen Bündnisvertrags vom Frühjahr 1942 der Sowjetunion die Beibehaltung des sowjetisch-rumänischen Grenzverlaufs von 1940 (also nach dem Wiener Schiedsspruch) zugestanden.25 Angesichts der amerikanischen Haltung war also nun im Jahre 1944 extreme Vorsicht geboten. Eden instruierte den britischen Botschafter in Washington, Viscount Halifax, die Amerikaner zu informieren: „Stressing that the British had ,no desire to carve up the Balkans into spheres of influence‘ the proposal was just ,a useful device for preventing a divergence of policy‘ in the area.“26 Er solle den temporären Charakter einer solchen Vereinbarung betonen. Außenminister Hull reagierte ablehnend. Es folgte ein lebhafter Notenaustausch zwischen Washington und London,27 in dem die Briten immer wieder darauf verwiesen, dass die Abmachung nur drei Monate Gültigkeit haben sollte. Hull lehnte die britischen Vorschläge ab, war aber Anfang Juni 1944 nicht in Washington anwesend, und Roosevelt ließ sich von Churchills drängenden Bitten erweichen. Am 12. Juni stimmte er dem Drei-Monate-Abkommen zu. Er betonte jedoch, dass Churchill darauf achten solle, dass daraus keine Nachkriegsinteressensphären entstünden.28 Churchill bedankte sich und kündigte an, dass er die Sowjets informieren werde. Auch als nach Hulls Rückkehr das State Department zunächst wieder zur alten Linie zurückkehrte, verstand es Churchill, sich schließlich durchzusetzen und Roosevelt stimmte erneut dem Drei-Monats-Abkommen zu. Die Sowjets auf der anderen Seite spielten auf Zeit, denn ihre Armeen rückten auf die rumänische Grenze zu und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie Rumänien besetzen würden. Nach weiteren diplomatischen Demarchen betrachteten die Sowjets und die Briten ab Mitte Juli das Drei-Monate-Abkommen als in Kraft befindlich.29 Am 23. August putschte König Michael von Rumänien gegen den faschistischen Staatsführer Antonescu und beendete den Krieg gegen die Sowjetunion. Dies hinderte die Rote Armee nicht daran, das Land zu besetzen. Am 2. September wechselte Bulgarien die Seiten, dennoch erklärte die Sowjetunion Bulgarien den Krieg und besetzte Mitte September Sofia. Die Besetzung von ­Jugoslawien und Ungarn war nur noch eine Frage der Zeit. Eden sah, dass das Drei-Monate-Abkommen ablief, die Sowjets den Nutzen davon gehabt hatten und Großbritannien aber nichts davon profitierte. Doch die Sowjets hielten sich an die Abmachung und unterstützten sogar die Briten: Ende Juli 1944 entsandten sie eine Militärmission zur Führung der

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Ebd., S. 17. Ebd., S. 25. Vgl. Richter, Revolution, S. 462. Ebd. Ebd., S. 464.

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EAM/ELAS (Ethinikos Laikos Apeleftherotikos Stratos – Nationale Volksbefreiungsarmee), die diese veranlasste, auf Kooperationskurs zu gehen und in die Regierung der Nationalen Einheit einzutreten. Damit war die friedliche Rückkehr der Exilregierung nach Griechenland gesichert. Am 21. September informierte London die Sowjets, dass binnen kurzer Zeit britische Truppen in Griechenland landen würden. Man erinnerte die Sowjets an das spezielle britische Interesse in Griechenland und verlieh der Hoffnung Ausdruck, dass sie keine Truppen nach Griechenland verlegen würden. Zwei Tage später bestätigte der stelltvertretende sowjetische Außenminister Wyschinski, dass die Sowjetunion das Drei-Monate-Abkommen als in Kraft befindlich betrachte und man nicht die Absicht habe, Streitkräfte nach Griechenland zu senden.30 Eden und Churchill sahen, dass die Sowjets bereit waren, sich an temporäre Einflusssphären zu halten. Warum sollte man dies nicht auf die Nachkriegszeit übertragen können, und zwar ohne zeitliche Begrenzung? Der südafrikanische Premierminister Ian Smuts unterstützte diesen Kurs wärmstens. Am 26. September betonte er in einem Telegramm an Churchill die Bedeutung Griechenlands für das Empire. Die für die Nachkriegszeit geplante Errichtung der UNO sei zwar ganz schön, aber wichtiger sei es, dass das Empire gestärkt aus dem Krieg hervorgehe.31 Inzwischen hatte Churchill auch die militärischen Vorbereitungen abgeschlossen. Am 29. August ordnete er an: „It is most desirable to strike out of the blue without any preliminary crisis.“32 Nach dem deutschen Abzug sollten 1 500 Fallschirmjäger Athen und den Flughafen sowie den Hafen von Piräus besetzen. Ihnen sollten 10 000 Mann reguläre Truppen mit Panzern, Artillerie und gepanzerten Fahrzeugen folgen: „The operation must be regarded as one of reinforced diplomacy and policy rather than an actual campaign, and that it is to be confined to Athens.“33 Da sich der Abzug der Wehrmacht aus Griechenland und Jugoslawien hinzog, gewann Churchill Zeit für die diplomatische Absicherung seiner Pläne. Er sah, dass Stalin dabei war, sich eine Interessensphäre aufzubauen und war entschlossen, dasselbe zu tun, auch wenn er Roosevelt dabei hintergehen musste.34 Die Chance kam Anfang Oktober 1944. Churchill hatte im September ein Treffen der Großen Drei in Moskau vorgeschlagen. Roosevelt hatte zugestimmt, konnte aber den Termin dann doch nicht wahrnehmen, weil er mitten im Wahlkampf für seine vierte Amtsperiode war. US-Botschafter Averell Harriman sollte ihn vertreten. Churchill stimmte zu, in der Annahme, Roosevelt habe bestimmt nichts gegen ein „private tête-à-tête between me and Uncle Joe

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Vgl. Barker, Greece, S. 27. Churchill, The Second World War, Band XI, S. 187. Ebd., S. 251. Ebd., S. 98. Vgl. Barker, Greece, S. 27.

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or Anthony and Molotov“. Solche Treffen seien fruchtbar, und er werde ihn über alles informieren.35 Schon am ersten Abend in Moskau, am 9. Oktober 1944, kam es nach dem Dinner zu vieren (Stalin, Molotow, Eden, Churchill) zum Abschluss jenes berüchtigten Prozent-Abkommens, durch das der Balkan dauerhaft in Einflusssphären aufgeteilt wurde.36 Da Churchill Ärger mit den Amerikanern befürchtete, beschloss er, das Abkommen absolut geheim zu halten und die Amerikaner nur sehr vage zu informieren.37 Andererseits sollte das Abkommen auf Dauer gelten.38 Die Bedeutung des Prozent-Abkommens für den Balkan ist klar: Rumänien und Bulgarien würden zur sowjetischen Einflusssphäre gehören, Jugoslawien neutralisiert werden und Griechenland in der britischen Einflusssphäre liegen. Stalin gab Churchill freie Hand in Griechenland und erwartete Gleiches in seinem Bereich. Churchill musste jetzt nur noch die EAM/ELAS unterwerfen, um den Status quo ante, d. h. das alte klientelistische Abhängigkeitsverhältnis, wieder einzurichten.

Die Dekemvriana oder die britische Intervention im Dezember 1944 Auf Veranlassung der Sowjets war die Linke Anfang September in die Regierung Papandreou eingetreten. Die PEEA wurde aufgelöst und im sogenannten Caserta-Abkommen unterstellte sich die ELAS Ende September dem Oberbefehl des britischen Kommandeurs der Interventionstruppen, Ronald Scobie. Um nicht noch im letzten Moment das bisher Erreichte zu gefährden, wurde Georg II. von britischer Seite klargemacht, dass er vorläufig außer Landes zu bleiben habe.39 Doch aus Churchills Ausführungen anlässlich seines Treffens mit Ministerpräsident Papandreou ging hervor, dass er nach wie vor fest entschlossen war, die Monarchie zu restaurieren, und die vorgeschlagene Regentschaft ablehnte.40 Die Rückkehr der griechischen Exilregierung ging friedlich über die Bühne, denn die Résistance war in die Regierung eingetreten und zeigte sich völlig ­kooperativ. Wenn die Linke tatsächlich gewollt hätte, hätte sie die Rückkehr der Exilregierung leicht verhindern können, denn sie kontrollierte zum Zeitpunkt der Befreiung etwa 90 Prozent des griechischen Staatsgebiets. In den nächsten Wochen sah es danach aus, als ob der Übergang in die Nachkriegszeit friedlich verlaufen werde. Doch Churchill meinte, dass man für die Handlungsfreiheit

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Churchill, The Second World War, Band XI, S. 194. Ebd., XI, S. 201. Vgl. Barker, Greece, S. 28. Vgl. Heinz Richter, British Intervention in Greece: From Varkiza to Civil War, February 1945–August 1946, London 1986, S. VIII. 39 Richter, Revolution, S. 495. 40 Ebd., S. 497.

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in Griechenland den Sowjets einen hohen Preis gezahlt habe, daher solle man auch vor Truppeneinsatz nicht zurückschrecken. „I fully expect a clash with EAM, and we must not shrink from it, provided the ground is well chosen.“41 Trotz aller Scharfmacherei gab es ein Problem: Die Linke war kooperativ und kompromissbereit und keinesfalls auf eine Konfrontation aus. Es gab nur einen einzigen Konfliktpunkt: die Frage der Demobilisierung der Partisanenverbände und der Aufbau einer neuen Armee. Die Linke war bereit, ihre Kräfte zu demobilisieren, gleichzeitig aber entschlossen, die neue Armee nicht zu einer Parteiarmee der Rechten werden zu lassen, und verlangte daher eine allgemeine Demobilisierung, also auch der Exilstreitkräfte, und einen völligen Neuaufbau. Ende November fand man nach langen Verhandlungen einen tragfähigen Kompromiss, der aber von Papandreou auf Anweisung Churchills sofort wieder unterlaufen wurde. Aus Protest traten am 1. Dezember die EAM-Minister zurück. Damit nahm das Verhängnis seinen Lauf.42 Am 3. Dezember 1944 schoss die griechische Polizei eine nachgewiesen unbewaffnete EAM-Demonstration auf dem Syntagmaplatz zusammen. Dies geschah vor den Augen und den Kameras der Vertreter der Weltpresse.43 Sogar die konservative Londoner „Times“ bezeichnete das Massaker als eine faschistische Aktion.44 Am 4. Dezember 1944 kam es zu einem Generalstreik und zu einer Trauerdemonstration für die am Vortag Getöteten. Papandreou wusch seine Hände zwar in Unschuld, war aber angesichts der Proteste bereit, seinen Platz zu räumen und das Amt des Ministerpräsidenten an den Führer der Liberalen Themistoklis Sofoulis abzugeben.45 Es bestand also nochmals die Chance, die Krise friedlich beizulegen, doch da mischte sich Churchill ein. In Erinnerung an Arthur Balfours berüchtigtes „Don’t hesitate to shoot-“Telegramm angesichts eines irischen Aufstandes in den 1880er-Jahren formulierte er seine Anweisungen. Er verbot den Regierungswechsel und befahl dem britischen Kommandeur in Athen: „Do not however hesitate to act as if you were in a conquered city where a local rebellion is in progress. [...] We have to hold and dominate Athens. It should be a great thing for you to succeed in this without bloodshed if possible, but also with bloodshed if necessary.“46 Dies waren einsame Entschlüsse, die nicht einmal vom britischen Kabinett abgesegnet waren. In den nächsten Tagen griff die ELAS Athener Polizeistationen an, vermied jedoch zunächst die direkte Konfrontation mit den Briten. Doch diese mischten sich zunehmend militärisch in die innergriechische Auseinandersetzung ein. Nach dem 12. Dezember 1944 nahm die Auseinandersetzung einen doppelten

41 Churchill, The Second World War, Band XI, S. 254 42 Vgl. Heinz Richter, The Battle of Athens and the Rôle of the British. In: Marion Sarafis (Hg.), Greece: From Resistance to Civil War, Nottingham 1980, S. 78–90. 43 Vgl. Dimitri Kessel, Ellada tou ’44, Athen 1994. 44 Zit. nach Michael Foot, Aneuran Bevan. A Biography, Band I, London 1962, S. 478. 45 Vgl. Richter, Revolution, S. 521. 46 Churchill, The Second Word War, Band XI, S. 256.

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Charakter an: Es war einerseits ein Bürgerkrieg zwischen der griechischen Rechten und Linken und andererseits ein Krieg zwischen den Briten und der Athener Reserve-ELAS, bei dem sogar die britische Luftwaffe zum Einsatz kam.47 Die bewaffnete Intervention führte zu massiver Kritik im Unterhaus. Man erinnerte sich sehr gut an Churchills Interventionspolitik nach dem Ersten Weltkrieg und lehnte den eingeschlagenen Kurs ab.48 Von den 680 Abgeordneten stimmten nur 297 für Churchills Politik, 30 stimmten dagegen, mehr als die Hälfte der Parlamentarier enthielten sich der Stimme.49 In Washington empörte sich Roosevelt über das britische Vorgehen und empfahl die Errichtung einer Regentschaft. Nur aus Moskau war kein Wort der Kritik zu hören; Stalin hielt sich an das Prozent-Abkommen. Churchill seinerseits sprach in seinen Telegrammen an Stalin zu jener Zeit nicht von einem kommunistischen, sondern von einem trotzkistischen Aufstand, was Stalin die Neutralität erleichterte. Bis Weihnachten 1944 nahm der innerbritische und internationale Druck auf Churchill so zu, dass er sich gezwungen sah, sich nach Athen zu begeben und nach einer politischen Lösung zu suchen.50 Um die bürgerliche Welt Griechenlands wieder hinter sich zu scharen, akzeptierte Churchill eine Regentschaft bis zu einem Plebiszit. Die Kämpfe jedoch gingen trotz der Verhandlungen weiter und wurden zum Krieg der Briten gegen die Widerstandsbewegung, zum Krieg im Krieg; erst am 11. Januar kam es zu einem Waffenstillstand, dem Anfang Februar 1945 der Friedensvertrag von Varkiza folgte.

Die Konterrevolution und der Bürgerkrieg Dieser Friedensvertrag, der zwischen den Bürgerkriegsgegnern und den Briten abgeschlossen wurde, war ein fairer Kompromiss. Wäre er seinem Wortlaut und seinem Geist nach eingehalten worden, hätte er den inneren Frieden Griechenlands und eine Aussöhnung herbeiführen können. Stattdessen ging in den nächsten zwölf Monaten eine konterrevolutionäre Welle unvorstellbaren Ausmaßes über Griechenland hinweg, welche die Machtverhältnisse völlig umkehrte. Griechenland wurde zum einzigen Land Europas, in dem Kollaborateure straffrei ausgingen, wenn sie nicht gar belohnt wurden, und in dem die Mitgliedschaft in der linksgerichteten Résistance als Verbrechen betrachtet und entsprechend verfolgt wurde.51 Als der britische Botschafter intervenieren wollte, stoppte ihn

47 Vgl. Heinz Richter, Die Royal Air Force und die Dekemvriana. In: Thetis, 3 (1996), S. 231–242. 48 Vgl. Alex P. Schmid, Churchills privater Krieg, Intervention und Konterrevolution im Russischen Bürgerkrieg, 1918–1920, Zürich 1974. 49 House of Commons Debates, Vol. 406, col. 1010. 50 Vgl. Richter, Revolution, S. 548 ff. 51 „During 1945 membership of the resistance movement had become to be regarded as apolitical crime and collaboration with the Germans against Communism a political virtue.“ Woodhouse, Apple of Discord, S. 256.

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Churchill. Anfang 1946 gewann ein britischer Unterhausabgeordneter den Eindruck, dass Griechenland auf dem besten Weg sei, ein faschistischer Staat zu werden.52 All dies geschah mit Billigung britischer Stellen. Der britische Botschafter Leeper fungierte als „high commissioner“ im britischen „protectorate“ Griechenland, beide Begriffe wörtlich aus den Akten des Foreign Office jener Zeit.53 Botschafter Leeper wechselte die griechischen Ministerpräsidenten nach Gutdünken aus. Als ihm im Frühjahr 1945 wegen der unglaublichen Übergriffe der Rechten gegen die Linken Bedenken kamen, wies ihn Churchill zurecht: Kommunismus sei ein größeres Übel als Kollaboration mit den Nazis.54 Churchills Intervention in Griechenland war einer der Gründe, warum er in den Unterhauswahlen im Sommer 1945 nicht wieder gewählt wurde. Die britischen Wähler befürchteten weitere interventionistische Abenteuer Churchills. Aber auch nach dem Regierungswechsel zur Labour Party änderte sich nichts. Außenminister Bevins Griechenlandpolitik unterschied sich nicht von der Churchills: Sein Antikommunismus war eher noch stärker. Die griechische Rechte interpretierte dies als Zustimmung zu ihrem Repressionskurs und intensivierte ihre Maßnahmen. Die Ereignisse im Dezember 1944 waren vielschichtig. Sie waren einerseits ein Bürgerkrieg zwischen Rechts und Links, bei dem es um die Erneuerung des griechischen Staatswesens von den Wurzeln her oder um die Restauration des alten Klientelismus ging. Zum anderen waren sie eine britische Intervention, um in Griechenland den Status quo ante wiederherzustellen. Zum Dritten können die Dekemvriana als die erste heiße Runde im langsam eskalierenden Kalten Krieg interpretiert werden: ein paradigmatischer Fall mit Vorbildfunktion für die spätere Vorgehensweise Stalins in Osteuropa. Während in Westeuropa 1945 mit dem Sieg über Hitler-Deutschland die faschistischen Diktaturen verschwanden oder sich wie in Spanien und Portugal später umwandelten, kehrte in Griechenland der Faschismus zurück. Ende 1945 hatten sich die Machtverhältnisse völlig umgekehrt: Die Anhänger der Metaxas-Diktatur und Kollaborateure befanden sich an der Macht, und die ­Linke wurde unterdrückt oder befand sich im Gefängnis. Man darf zu Recht von einem Bürgerkrieg der Rechten gegen die Linke sprechen, bei dem die Briten wegschauten. Anfang 1946 begann sich die verfolgte Linke zur Wehr zusetzen. Es fing jener Eskalationsprozess von Gewalt und Gegengewalt an, der zum Ausbruch des

52 Leslie J. Solley, Greece. The Facts, London 1946, S. 14 f. 53 Der Begriff „Hochkommissar“ findet sich in folgendem Dokument: „Discussions on Greece at the British Embassy, Athens 15th February 1945“ (PRO, F.O. 371/48 257/3/19); die Bezeichnung „Proktektorat“ stammt aus „Relations between HMG and the Greek Government. Minutes“ (PRO, F.O. 371/48 256/R4385/4/19). 54 Churchill an Sir Orme Sargent vom 22.4.1945 (PREM, Serial no. 382/5 0 F.O. 371/48 267R7423/4/19).

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Bürgerkriegs im Sommer 1946 führte.55 Als im Frühjahr 1946 eine Delegation der griechischen KP (KKE) Moskau besuchte und Stalin um Rat fragte, empfahl dieser den griechischen Genossen, sich an den bevorstehenden Wahlen zu beteiligen und sich in das politische System zu integrieren.56 Mit anderen Worten hieß dies: Stalin hielt sich nach wie vor an das Prozent-Abkommen; Griechenland gehörte zur britischen Einflusssphäre. Dies zeigte sich bei seinem Verhalten während des Bürgerkriegs; er rührte keinen Finger, um die griechischen Kommunisten zu unterstützen, denn er wollte auf keinen Fall in einen heißen Krieg mit den Westmächten hineingezogen werden.57 Unterstützung für die griechischen Kommunisten kam nur von Tito, der ebenfalls aufgrund des Prozent-Abkommens einen eigenständigen Kurs steuern konnte. Aus den Wahlen im März 1946 ging die griechische Rechte durch den Wahlboykott der Linken und Liberalen als Siegerin hervor. Im September 1946 wurde durch ein recht zweifelhaftes Plebiszit die Monarchie restauriert. Griechenland war offensichtlich wieder zum britischen Klientelstaat geworden. Doch im Winter 1946 wurden den Briten die finanziellen Mittel zur Unterstützung der griechischen Regierung im nun eskalierenden Bürgerkrieg knapp, und sie baten die Amerikaner um Hilfe. Diese waren bereit, sich zu engagieren, und im Rahmen der Truman-Doktrin wurde 1947 der Wachwechsel vollzogen. Dan Diner spricht in diesem Zusammenhang von einer „translatio imperii“.58 Die Amerikaner übernahmen die traditionelle Rolle der Briten, die Russen vom Mittelmeer fernzuhalten. Der Bürgerkrieg in Griechenland wurde für die USA eine Art Stellvertreterkrieg im beginnenden Kalten Krieg. Stalin hingegen forderte die griechischen Kommunisten mehrfach auf, sich in das bestehende System zu integrieren und die Kämpfe einzustellen. Im Gegensatz zu den Briten, die im Dezember 1944 selbst in Griechenland interveniert hatten, ließen die Amerikaner kämpfen. Sie rüsteten die griechische Armee aus und trainierten sie. Nur gelegentlich griffen sie selbst in die Kämpfe ein, um neue Waffensysteme zu erproben.59 Auch nach dem Ende des Bürgerkriegs zogen sich die Amerikaner nicht aus Griechenland zurück. Sie behielten das Land weiterhin unter ihrer Kontrolle, doch im Gegensatz zu den Briten, die den König als Kontrollorgan benutzt hatten, setzten die ­Amerikaner auf die Armeeführung und den Geheimdienst. Die griechische Armee (ähnlich wie auch die türkische) entwickelte sich zu einer Art Prätorianergarde der USA, wie dies der ehemalige Direktor der ELIAMEP (Griechische Stiftung für Sicherheit

55 Vgl. Heinz A. Richter, Griechenland 1940–1950. Die Zeit der Bürgerkriege, Mainz 2012. 56 Vgl. Mitsos Partsalidis, Dipli apokatastasi tis ethnikis antistasis, Athen 1978, S. 198. 57 Ebd., S. 199. 58 Dan Diner, Das Jahrhundert verstehen, München 1999, S. 278. 59 Vgl. Lawrence Wittner, American Intervention in Greece, 1943–1949, New York 1987.

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und Außenpolitik) Theodoros Kouloumbis vor Jahren nannte,60 die das Land auf einem pro-amerikanischen Kurs hielt. Die Armee wurde nach dem Ende des Bürgerkriegs stramm antikommunistisch ausgerichtet, und die Weltsicht der höheren und mittleren Offiziersränge blieb vom Faschismus der Metaxas-Zeit geprägt. Nach dem Bürgerkrieg gab es in Griechenland eine kurze liberale Phase, aber im Gefolge des Koreakriegs (1950–1953) intervenierten die Amerikaner und sorgten durch eine Änderung des Wahlrechts dafür, dass die Rechte dauerhaft wieder an die Macht kam. Das aus diesen Wahlen hervorgehende Regime war weder unter Alexandros Papagos noch unter Konstantinos Karamanlis eine Demokratie. Es war ein Polizeistaat, und wo dieser nicht durchgreifen konnte, sorgte das während des Bürgerkriegs entstandene sogenannte Parakratos dafür, dass unbequeme Politiker und Oppositionelle ermordet wurden. Das Regime, das stark diktatorische Züge hatte, währte bis 1963.61 1963 hatten die Griechen genug von der autoritären Herrschaft der Rechten, und es folgte ein 18 Monate währendes demokratisches Tauwetter unter Georgios Papandreou, das allerdings zu einem innenpolitischen Chaos führte und in der Militärdiktatur von 1967 bis 1974 mündete. Dieses Regime war eine reine Militärdiktatur ohne jegliche Ideologie, obwohl die führenden Obristen unter Metaxas Kadetten gewesen waren. Die oft zu hörende Behauptung, dass die Amerikaner bzw. die CIA hinter dem Putsch gesteckt hätten, ist nachweislich falsch. Der Klientelismus erwies sich erneut stärker als das Regime, nur dass die Klientel nun die Militärs waren. Die Katastrophe von 1974 in Zypern62 und der EU-Beitritt 1981 beendeten für Griechenland das traditionelle Klientelverhältnis zu seiner Schutzmacht. Von außen gesteuerte Interventionen waren von nun an auch durch die innere Demokratisierung ausgeschlossen. Die Implosion des Sowjetstaats 1991 beendete den Kalten Krieg. Doch das nach dem Sturz der Militärdiktatur entstandene System verstand sich zwar als demokratisch, war aber von einer echten Demokratisierung weit entfernt, denn die politische Kultur war weiterhin von einem alle politischen und gesellschaftlichen sowie wirtschaftlichen Strukturen umfassenden Klientelismus geprägt. Am Ende dieser Entwicklung stand die gegenwärtige existenzielle Krise, die dazu führen kann, dass sich Griechenland zu einem failed state entwickelt.

60 Theodore A. Couloumbis, Foreign Interference in Greek Politics. An Historical Perspective, New York 1976, S. 142. 61 Zur Entwicklung vgl. Heinz A. Richter, Griechenland 1950–1974. Zwischen Demokratie und Diktatur, Mainz 2013. 62 Zur Entwicklung in Zypern in jenen Jahren Heinz A. Richter, Geschichte der Insel Zypern, Band IV: 1965–1977, Mainz 2009.

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Fazit Eine kritische Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit fand nicht statt. Bis vor wenigen Jahren galt die eherne Regel, dass alles, was weniger als 50 Jahre zurückliegt, Tagespolitik sei, von der sich die historische Wissenschaft fernhalten müsse. Entsprechend existierte auch keine historische Disziplin „Zeitgeschichte“. Da es keine unabhängige Zeitgeschichtsforschung gab, blieb die Interpretation der Vergangenheit den Politikern und den Journalisten überlassen. Als ich Anfang der 1970er-Jahre über die Zeit der Besatzung promovierte, war diese Arbeit die erste wissenschaftliche Darstellung dieser Periode.63 Die Übersetzung dieses Buchs ins Griechische brach gewissermaßen das Tabu.64 Erst danach wagte es die griechische historische Wissenschaft, sich den Ereignissen im Zweiten Weltkrieg zuzuwenden. Die Zeit des Bürgerkriegs und die Jahre der Militärdiktatur von 1967 bis 1974 sind bis heute mit einem Tabu belegt. Die griechische Ausgabe meines unlängst zu diesem Thema veröffentlichten Buches wird wohl wieder eine Art Türöffnerfunktion haben. Die Entwicklung nach 1974 ist erneut Tagespolitik. Eine wie auch immer geartete Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit fand nicht statt. Eine Wiedergutmachung für die Opfer der Metaxas-Diktatur, des Widerstands im Zweiten Weltkrieg, der Bürgerkriegszeit oder der Militärdiktatur war ausgeschlossen, schließlich waren die Opfer in den Augen der Regierenden Kommunisten. Für die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die 1980er-Jahre – mit Ausnahme der Herrschaft von G. Papandreou 1963/64 – regierende Rechte war eine wie auch immer geartete Entschädigung daher ausgeschlossen. Hinzu kam, dass die meisten all jener, die Ansprüche auf Entschädigung hätten erheben können, im Exil in Osteuropa lebten oder sich als Arbeitsmigranten nach Westeuropa abgesetzt hatten. Die einzige Partei, die sich für die Forderungen dieser Menschen hätte einsetzen können, war die KKE, und diese war bis 1974 verboten. Erst als dieses Verbot nach dem Sturz der Diktatur aufgehoben wurde und die Kommunisten – nun in zwei Parteien gespalten – ihre Stimme erheben konnten, durften die Exilanten wieder nach Griechenland zurückkehren. Das Einzige, was unter dem Begriff innergriechische „Entschädigung“ einzuordnen wäre, ist die Rente, die die Veteranen der ELAS durch die PASOK-Regierung in den 1980er-Jahren erhielten. Ihre Größe war gering und diente primär dem Stimmenkauf der PASOK (Panellinio Sosialistiko Kinima – Panhellenische Sozialistische Bewegung). Die in letzter Zeit immer wieder zu hörende Forderung nach deutschen Reparationszahlungen für die im Zweiten Weltkrieg angerichteten Schäden in geradezu astronomischer Höhe sind völlig unbegründet, denn Deutschland zahlte 63 Richter, Revolution. 64 Heinz A. Richter, Δύo επαvαστάσεις και αvτεπαvαστάσεις στηv Eλλάδα 1936–1946 (Griechenland zwischen Revolution und Konterrevolution 1936–1946), 2 Bände, Athen 1977.

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in den 1950er-Jahren nachweislich in drei Tranchen 435 Millionen DM. Von der dritten und letzten Tranche in Höhe von 115 Millionen DM verschwanden etwa drei Viertel in dunklen Kanälen, d. h. in den Taschen der Politiker.65 Die Forderung nach Reparationen wird von der Oligarchie aus innenpolitischen Gründen erhoben, um die Wut und die Aggressionen der griechischen Bürger über die von der Troika verordneten Sparmaßnahmen nach außen zu lenken. Man sieht sich in Griechenland gern als Opfer finsterer Mächte. Vom Weltkriegsende bis zu der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise waren in den Augen der Griechen die USA an allen Übeln schuld, die das Land trafen. Seit der Krise trägt die Bundesrepublik die Verantwortung an jeglichem Ungemach, das die Griechen trifft. Deutschland wird verdächtigt, ein „Viertes Reich“ errichten und die EU beherrschen zu wollen. Da die eigene Vergangenheit kaum aufgearbeitet, geschweige denn bewältigt wurde, fällt es immer noch schwer, eigene Fehler und eigene Schuld zu erkennen. Und die regierende bislang steuerfreie Oligarchie hat daran kein Interesse, denn sie könnte zu Kasse gebeten werden.

65 Heinz A. Richter, Sühnung von Kriegsverbrechen, Reparationsforderungen und der Fall Merten. In: Thetis, 20 (2013), S. 440–464.

III. Kommunistische Diktaturen

Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer der SED-Diktatur Clemens Vollnhals Die zeithistorische Aufarbeitung der SED-Diktatur setzte bereits in den frühen 1990er-Jahren mit sehr großer Intensität ein, sodass die Geschichte der DDR heute als eine, „wenn nicht der am dichtesten und gründlichsten erforschten Regionen der Weltgeschichte nach 1945“ gelten kann.1 Parallel dazu verlief eine intensive gesellschaftliche Auseinandersetzung, die sich nicht zuletzt im Ergebnis zweier Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages niederschlug und 1998 zur Gründung der bundesunmittelbaren „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ führte. Auch entstand sehr früh eine breite Palette von größeren und kleineren Gedenkstätten.2 In diesem Kontext ist auch der geradezu revolutionäre Akt der sofortigen Öffnung der Akten der Staatssicherheit zu nennen, die seit 1991 von der „Behörde des Bundesbeauftragen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“ (Gauck-Behörde) verwaltet werden. Bis zum Jahresende 2012 machten fast drei Millionen Bürger von ihrem Recht auf Einsicht in die eigene Akte Gebrauch.3 Was die Breite und Tiefe der historischen Aufarbeitung anbetrifft, kann man gewiss von einer imponierenden Erfolgsbilanz sprechen, auch wenn es im gesellschaftlichen Diskurs über den Charakter des DDR-Staats an nostalgischen Tönen nicht fehlt und besonders im privat-familiären Geschichtsbewusstsein immer noch erhebliche Defizite zu verzeichnen sind.4 Weniger eindeutig fällt jedoch das Urteil aus, wenn man mit Vertretern der Opferverbände der SED-Diktatur spricht. Hier stehen weniger die Erfolge der historischen und gesellschaftlichen Aufarbeitung, sondern die Defizite und

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So Thomas Lindenberger, Ist die DDR ausgeforscht? Phasen, Trends und ein optimistischer Ausblick. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 24–26 (2014), S. 27–32, hier 27. Einen Überblick gibt das Internetportal „Orte der Repression in SBZ und DDR“ (http:// www.orte-der-repression.de); zahlreiche weitere Anstrengungen und Initiativen dokumentiert der Bericht der Bundesregierung zum Stand der Aufarbeitung der SED-Diktatur (BT-Drs. 17/12115 vom 16.1.2013). Elfter Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik für die Jahre 2011 und 2012, Berlin 2013, S. 46. Vgl. z. B. Monika Deutz-Schroeder/Rita Quasten/Klaus Schröder/Dagmar Schulze Heuling, Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen, Frankfurt a. M. 2012.

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­ ersäumnisse bei der Entschädigung der Opfer der SED-Diktatur im MittelV punkt – und in der Tat sind solche Klagen nicht nur interessengeleitet.

Das Häftlingshilfegesetz der (alten) Bundesrepublik Nicht zuletzt als Reaktion auf den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 und des Eintreffens zahlreicher ehemaliger Waldheim-Häftlinge in der Bundesrepublik im Frühjahr 1954 verabschiedete der Deutsche Bundestag im Juli 1955 das „Gesetz über Hilfsmaßnahmen für Personen, die aus politischen Gründen in den Gebieten außerhalb der Bundesrepublik Deutschland in Gewahrsam genommen wurden“, das sogenannte Häftlingshilfegesetz (HHG). Es begründete ursprünglich jedoch keinen Rechtsanspruch, sondern gewährte nur „Beihilfen an würdige und ehemalige politische Häftlinge“. Die Leistungen orientierten sich am „Gesetz über die Entschädigung ehemaliger deutscher Kriegsgefangener“ und sahen für jeden Monat des Freiheitsentzugs eine einmalige Zahlung von 30 DM vor, die ab dem 25. Monat auf 60 DM erhöht werden konnte.5 In der Folgezeit erfuhr das Gesetz zahlreiche Novellierungen, die zu einem Rechtsanspruch sowie einer Ausweitung der anspruchsberechtigten Personengruppen und Hilfeleistungen führten. Mit dem 4. HHG-Änderungsgesetz wurde 1969 eine zunächst mit 10 Millionen DM ausgestattete Stiftung zur Unterstützung sozial bedürftiger ehemaliger politischer Häftlinge aus der SBZ/DDR gegründet. Schon im ersten Nachkriegsjahrzehnt zeichnete sich ein Grundsatzkonflikt ab, der die gesamte Debatte einer gerechten Rehabilitierung und angemessenen Entschädigung für die Opfer der SED-Diktatur bis heute durchzieht. So forderten die Häftlingsverbände, insbesondere die bereits 1950 gegründete und mitgliederstärkste „Vereinigung der Opfer des Stalinismus“ (VOS), und die SPD-Opposition nach der Verabschiedung des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG), das 1956 die Ansprüche der NS-Opfer regelte, analoge Entschädigungsleistungen für die rund 34 000 Personen, die damals als politische Häftlinge nach dem HHG anerkannt waren.6 Die Bundesregierung unter Konrad Adenauer lehnte dies jedoch mit der Begründung ab: „Die Bundesrepublik als Nachfolgestaat des Deutschen Reichs

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BGBl. 1955, Teil I, S. 498 ff. Vgl. auch Christian Widmaier, Häftlingshilfegesetz, DDR-Rehabilitierungsgesetz, SED-Unrechtsbereinigungsgesetze: Rehabilitierung und Wiedergutmachung von SBZ/DDR-Unrecht?, Frankfurt a. M. 1999, S. 78 ff. (künftig zit. als Rehabilitierung); Helge Heidemeyer, Flucht und Zuwanderung aus der SBZ/ DDR 1945/1949–1961. Die Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik Deutschland bis zum Bau der Berliner Mauer, Düsseldorf 1994, S. 244–261. Widmaier, Rehabilitierung, S. 83. Zu den Häftlingsverbänden in Westdeutschland vor 1989 vgl. Jörg Siegmund, Opfer ohne Lobby? Ziele, Strukturen und Arbeitsweise der Verbände der Opfer des DDR-Unrechts, 2. Auflage Berlin 2003, S. 49 ff. In der VOS organisierten sich vor allem die Internierten der sowjetischen Speziallager und von sowjetischen Militärgerichten verurteilte Personen.

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trägt zwar keine Schuld an dem, was unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft an Rechtswidrigkeiten und Verbrechen geschehen ist, sie hat sich aber vor dem deutschen Volk und der Weltöffentlichkeit verpflichtet, für diese Taten die Haftung zu übernehmen und deshalb in einem besonderen Gesetz die Opfer zu entschädigen. [...] Eine solche Haftung kann die Bundesrepublik gegenüber den Unrechtsstaaten der Gewalthaber in der SBZ nicht übernehmen; das ist ihr weder juristisch noch moralisch zuzumuten. Um der politischen Klarheit willen müssen deshalb die beiden Fragen getrennt bleiben und auch in der gesetzlichen Regelung der Entschädigungen und Hilfen auseinandergehalten werden.“7 Aufgabe des Häftlingshilfegesetzes war es im Sinne sozialstaatlicher Unterstützung, wie die Bundesregierung 1959 ausdrücklich erklärte, „eine im Rahmen des Möglichen und Vertretbaren liegende Überbrückungs- und Starthilfe zu geben, ohne einer abschließenden Regelung aller mit den erlittenen Schäden und Verlusten zusammenhängenden Fragen durch den gesamtdeutschen Gesetzgeber vorzugreifen. [...] Die endgültige Wertung der vom Sowjetsystem verhängten Haft ist dem gesamtdeutschen Gesetzgeber vorbehalten.“8 Diesen Rechtsstandpunkt, dass es keine Staatshaftung der Bundesrepublik für das in der SBZ/DDR von sowjetischen und ostdeutschen Behörden verübte Unrecht gebe und der Gesetzgeber deshalb einen weiten Gestaltungsspielraum habe, sollte das Bundesverfassungsgericht nach 1990 in fortlaufender Rechtsprechung bestätigen.9

Dimensionen des Staatsunrechts Umso größer waren die Erwartungen bei den Opfern, als die SED-Diktatur – mit deren Existenz man sich im Laufe der Zeit in der Bundesrepublik nolens volens abgefunden hatte – in der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 unerwartet zusammenbrach. Die Opfer und Geschädigten lassen sich, wenn man nur die zahlenmäßig größten Gruppen herausgreift, drei Kategorien zuordnen:

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Schriftlicher Bericht des Ausschusses für gesamtdeutsche und Berliner Fragen (4. Ausschuss) über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes über Hilfsmaßnahmen für Personen, die aus politischen Gründen in Gebieten außerhalb der Bundesrepublik Deutschland und Berlins (West) in Gewahrsam genommen wurden, vom 12.4.1960 (BT-Drs. 3/1855), S. 2. So 1959 die Begründung beim Entwurf für ein Zweites Änderungs- und Ergänzungsgesetz zum HHG (BT-Drs. 3/1111), S. 4 f. So beispielsweise im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 23.4.1991 (BVerfGE 84, S. 90, 126 ff.). Vgl. auch Wilhelm Tappert, Die Wiedergutmachung von Staatsunrecht der SBZ/DDR durch die Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung, Berlin 1995, S. 83 ff.

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1. Die politischen Häftlinge Hierzu zählen mindestens rund 122 000 Personen, die von der sowjetischen Besatzungsmacht nach 1945 ohne Gerichtsprozess in den sogenannten Spezial­ lagern interniert wurden; die letzten wurden erst 1950 freigelassen oder in der Justizfarce der Waldheimer Prozesse verurteilt.10 Ferner verurteilten die Sowjetischen Militärtribunale (SMT) bis 1955 auf dem Gebiet der SBZ/DDR rund 35 000 Personen zu meist langjährigen Haftstrafen oder Zwangsarbeit in der Sowjetunion. Auch bei dieser Gruppe handelte es sich keineswegs nur um NS-belastete Personen, sondern vielfach um vermeintliche oder tatsächliche Gegner der SED-Diktatur.11 Die Zahl der Häftlinge, die in der DDR bis 1989 aus politischen Gründen von ostdeutschen Gerichten zu Freiheitsstrafen verurteilt wurden, gab das Bundesjustizministerium nach Auswertung der Kriminalstatistik und der zentralen Haftkartei mit rund 279 000 Personen an: 172 800 Verurteilungen im Kernbereich politischer Strafjustiz, 68 750 politisch motivierte Verurteilungen wegen Straftaten gegen die Volkswirtschaft und 37 400 sonstige Verurteilungen mit politischem Hintergrund.12 2. Vermögensrechtlich geschädigte Personengruppen Neben den politischen Häftlingen, die hier im Mittelpunkt stehen sollen, gab es Zehntausende von Personen, die nach 1989 den Ausgleich schwerwiegender Vermögensschäden einforderten. Erinnert sei nur an die umfangreichen Enteignungen, die bereits in der sowjetischen Besatzungszeit mit der Verstaatlichung des Banken- und Industriesektors sowie der Bodenreform einsetzten, und von der SED später mit der Kollektivierung der Landwirtschaft, der Verstaatlichung kleinerer Betriebe oder der Einziehung des Vermögens der sogenannten Republikflüchtlinge fortgesetzt wurden. Die Maßnahmen der sowjetischen Besatzungsmacht sollten jedoch nach 1989/90 – auch nach dem Willen der Bundesregierung – nicht mehr rückgängig gemacht werden und wurden deshalb nicht in die Restitution aufgenommen. Eine andere Personengruppe stellten die Zwangsausgesiedelten dar, die aufgrund vermuteter politischer Unzuverlässigkeit 1952 und 1961 ihren Wohnsitz und ihr Eigentum im Grenzgebiet der DDR zur Bundesrepublik aufgeben mussten.

10 Vgl. Sergej Mironenko/Lutz Niethammer/Alexander von Plato (Hg.) mit Volkhard Knigge und Günter Morsch, Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945–1950, 2 Bände, Berlin 1998; Wolfgang Eisert, Die Waldheimer Prozesse. Der stalinistische Terror 1950, München 1993. 11 Vgl. Andreas Hilger/Mike Schmeitzner/Ute Schmidt (Hg.), Sowjetische Militärtribunale, Band 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955, Köln 2003. 12 Tappert, Wiedergutmachung, S. 42 f.

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3. Geschädigte beruflicher Diskriminierung Eine weitere große, wenngleich diffuse Opfergruppe stellten die Personen dar, die aus politischen Gründen beruflich diskriminiert wurden: von Berufsverboten über verhinderte Karrieren bis zur schulischen Diskriminierung der Kinder. Nach einer repräsentativen Erhebung, die 1992 im Auftrag des Bundesjustizministeriums zur Vorbereitung des Beruflichen Rehabilitierungsgesetzes durchgeführt wurde, sind ca. 225 000 Personen aus politischen Gründen an einer bestimmten Ausbildung oder in der Berufsausübung gehindert worden.13 Diese Angabe umfasst allerdings nur jene Betroffenen, die 1992 noch schwere Auswirkungen aufgrund der politischen Verfolgung geltend machten. Die tatsächliche Zahl dürfte, wenn man die Verfolgung in der sowjetischen Besatzungszeit und die Zahl der politischen Flüchtlinge bis 1961 hinzunimmt, um ein Vielfaches höher liegen. Die ganz unterschiedlichen Gruppen der Opfer und Geschädigten, deren Aufzählung sich noch erheblich erweitern ließe14 – von den Todesopfern an der innerdeutschen Grenze bis den Geschädigten des DDR-Sportdopings –, weisen jeweils ein sehr spezifisches und in sich differenziertes Profil aus: je nachdem, ob sie bewusst politischen Widerstand leisteten oder eher passiv aufgrund ihres sozialen Status oder vermuteten politischen Gesinnung zum Opfer politisch motivierter Verfolgungsmaßnahmen wurden, oder ob sie während der sowjetischen Besatzungszeit, in der stalinistischen Ära der SED-Diktatur oder erst später verfolgt wurden. Kennzeichnend für die Organisation der Opferverbände in der alten Bundesrepublik ist die strikte Trennung zwischen politischen Häftlingen und den vermögensrechtlich Geschädigten, die sich in eigenen Interessenverbänden zusammenschlossen: So vertrat das „Heimatverdrängte Landvolk e.V.“ mit zeitweise bis zu 5 000 Mitgliedern die Interessen der Land- und Forstwirte, die zwischen 1945 und 1989 enteignet bzw. zwangskollektiviert wurden. Daneben bestand die „Interessengemeinschaft der in der Zone enteigneten Betriebe e.V.“, die sich vor 1989 vor allem für entsprechende Regelungen beim Lastenausgleich einsetzte.15 Diese grundsätzliche Trennung der Opfergruppen setzte sich nach dem Sturz der SED-Diktatur fort.

Das Rehabilitierungsgesetz der DDR-Volkskammer In der DDR stand die Frage der Rehabilitierung und Entschädigung ab November 1989 auf der Tagesordnung, wobei sich die ersten Ausarbeitungen des Justizministeriums der DDR auf die Aufhebung politischer Verurteilungen durch 13 Vgl. Tappert, Wiedergutmachung, S. 161, und BT-Drs. 12/4994 vom 19.5.1993, S. 20. 14 Vgl. die Übersicht bei Ansgar Borbe, Die Zahl der Opfer des SED-Regimes, Erfurt 2010. 15 Vgl. Siegmund, Opfer, S. 53.

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DDR-Gerichte beschränkten und eine Entschädigung nur im Falle einer sozialen Notlage vorsahen. Diese Konzeption wurde vom Ministerrat am 14. Januar 1990 bestätigt. Erst nach den ersten freien Wahlen und der Konstituierung der Regierung de Maizière wurden in den 4. Entwurf des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes vom 30. Mai auch die Internierten und SMT-Verurteilten einbezogen sowie erstmals auch Möglichkeiten zur verwaltungsrechtlichen (Zwangsausgesiedelte) und beruflichen Rehabilitierung vorgesehen. Die Einbeziehung der Opfer der sowjetischen Besatzungsmacht wurde allerdings auf Beschluss des Ministerrats vom 4. Juli 1990 – und wohl auch aufgrund einer diplomatischen Intervention der Sowjetunion – wieder rückgängig gemacht.16 Offensichtlich sollten die übergeordneten Verhandlungen mit der Sowjetunion hinsichtlich der deutschen Einheit und dem Abzug der sowjetischen Truppen nicht gestört werden. Diese Entscheidung des Ministerrats stieß in der Volkskammer und bei den Betroffenen, die sich seit Januar 1990 in der VOS und dem neugegründeten „Bund der stalinistisch Verfolgten“ (BSV) organisierten, auf heftige Kritik. Der Rechtsausschuss der Volkskammer beschloss deshalb am 23. August, die Opfer der sowjetischen Besatzungsmacht wieder in das Gesetz aufzunehmen, das die Volkskammer dann unter großem Zeitdruck am 6. September 1990 mit nur einer Gegenstimme und fünf Enthaltungen verabschiedete.17 Beibehalten wurde die in der Debatte ebenfalls stark kritisierte Koppelung der sozialen Ausgleichsmaßnahmen an das westdeutsche HHG, um das umfassende Rehabilitierungsgesetz von strafrechtlichem, verwaltungsrechtlichem und beruflichem Unrecht (RehaG) noch in den Nachverhandlungen zum bereits am 31. August geschlossenen Einigungsvertrag unterzubringen. Die Übernahme des Rehabilitierungsgesetzes scheiterte jedoch am mangelnden Nachdruck der ostdeutschen Regierung sowie vor allem an finanziellen Bedenken der westdeutschen Seite. Wolfgang Schäuble, der damals als Innenminister die Verhandlungen führte, schrieb dazu später: „Die Vorstellungen über das, was notwendig, und über das, was auch im Rahmen finanzieller Prioritäten verantwortbar war, gingen in beiden Teilen Deutschlands zu weit auseinander. In der Volkskammer handelte es sich allein um die möglichst weitgehende Wiedergutmachung von Unrecht, und wir im Westen wollten darauf achten, dass die finanzielle Handlungsfähigkeit des Gesamtstaats auch zur Lösung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme im künftigen Beitrittsgebiet nicht gänzlich ausgehöhlt wurde. Bei dieser Interessenlage schien mir zwingend, dass man die Lösung des Problems erst in einem gesamtdeutschen Parlament finden konnte, in dem alle Beteiligten Verantwortung sowohl für die Wiedergutmachung von Unrecht als auch für die finanzielle Handlungsfähigkeit des gemeinsamen Staats zu tragen hatten.“18 16 Vgl. Widmaier, Rehabilitierung, S. 124 ff. 17 GBl. der DDR 1990, Teil I, S. 1 459 ff. Zur Debatte in der Volkskammer vgl. Widmaier, Rehabilitierung, S. 133–143. 18 Wolfgang Schäuble, Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte. Hg. von Dirk Kock und Klaus Wirtgen, Stuttgart 1993, S. 197 f.

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Zeitgleich mit der Verkündung des RehaG im ostdeutschen Gesetzblatt wurde am 18. September 1990 jedoch auch die Zusatzvereinbarung zum Einigungsvertrag abgeschlossen, die nur die Fortgeltung der entsprechenden Artikel zur strafrechtlichen Rehabilitierung umfasste. Die Bestimmungen zur verwaltungsrechtlichen und beruflichen Rehabilitierung sowie die Einbeziehung der Opfer von Verfolgungsmaßnahmen der sowjetischen Besatzungsmacht wurden hingegen nicht in die Gesetzgebung des vereinten Deutschland übernommen.19 Ein ähnliches Schicksal drohte auch dem von der Volkskammer am 24. August 1990 beschlossenen Gesetz zur Öffnung der Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit, das den Opfern persönliche Akteneinsicht zusprach und dessen Fortgeltung ebenfalls nicht im Einigungsvertrag vereinbart worden war. Hier führte erst ein massiver Protest der Bürgerrechtler zum Nachgeben der Bundesregierung Kohl, welche die Hinterlassenschaft dieses monströsen Überwachungsapparats am liebsten vernichtet oder unter dauerhaften Verschluss genommen hätte.20 Neben dem gestutzten RehaG der Volkskammer galten im Beitrittsgebiet, so die damals übliche Amtsbezeichnung, nun auch die bescheidenen Sozialleistungen nach dem westdeutschen HHG, die auch ohne gerichtliche Rehabilitierung beantragt werden konnten, aber eine besondere Prüfung voraussetzten. Für politische Häftlinge gab es 80 DM pro Haftmonat, vom dritten Gewahrsamsjahr an 210 und vom fünften 270 DM. Der Höchstbetrag war dabei auf 20 250 DM begrenzt.21 An diesen Sätzen übten die Opferverbände seit langem Kritik, da sie die Gleichstellung mit der Haftentschädigung für Opfer eines westdeutschen Fehlurteils von monatlich 600 DM erreichen wollten. Daneben gab es die als Versprechen wahrgenommene Absichtserklärung in Artikel 17 des Einigungsvertrags, „dass unverzüglich eine gesetzliche Grundlage dafür geschaffen wird, dass alle Personen rehabilitiert werden können, die Opfer einer politisch motivierten Strafverfolgungsmaßnahme oder sonst einer rechtsstaats- und verfassungswidrigen gerichtlichen Entscheidung geworden sind. Die Rehabilitierung dieser Opfer des SED-Unrechts-Regimes ist mit einer angemessenen Entschädigung zu verbinden.“22 Zu diesem Zeitpunkt hatten sich in den neuen Ländern bereits zahlreiche Opferverbände konstituiert. Neben dem „Bund der Stalinistisch Verfolgten“, dem zeitweise 6 000 Mitglieder angehörten, und der westdeutschen VOS, die neue Landesverbände gründete, bildeten sich eine Vielzahl lokaler und regionaler Interessenverbände der ehemaligen Insassen der Spezial- und Zwangslager 19 Zusatzvereinbarung zum Einigungsvertrag vom 18.9.1990. In: BGBl. 1990, Teil II, S. 1239 ff. Vgl. Widmaier, Rehabilitierung, S. 148 ff. Neu aufgenommen wurden hingegen die Opfer politisch bedingter Zwangseinweisung in eine psychiatrische Anstalt, was in der Praxis jedoch kaum eine Rolle spielte. 20 Vgl. Silke Schumann, Vernichten oder Offenlegen? Zur Entstehung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. Eine Dokumentation der öffentlichen Debatte 1990/91, Berlin 1995. 21 Zur damaligen Gesetzeslage vgl. Hannes Kaschkat/Harry Schlip, Zur Entschädigung der Opfer des SED-Unrechtsregimes. Rehabilitierungsgesetz, Kassation und Häftlingshilfegesetz. In: Deutschland Archiv, 24 (1991), S. 238–246. 22 BGBl. 1990, Teil II, S. 885 ff.

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sowie der Haftanstalten für politische Häftlinge der DDR. Andere Opfergruppen organisierten sich im „Bund der Zwangsausgesiedelten“ und in kleineren Vereinigungen zur Rückgabe enteigneten Vermögens. Als Dachverband für politisch Verfolgte konstituierte sich 1991 die „Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft“ (UOKG).23 Der großen Vielfalt von rund 50 Verbänden stand (und steht) jedoch ein sehr geringer Organisationsgrad gegenüber, selbst von den politischen Häftlingen traten weniger als 10 000 Personen einem Verband bei. In dem BSV und der VOS organisierten sich vor allem Internierte und SMT-Verurteilte, in erheblich geringerem Umfang politische Häftlinge aus späteren Jahrzehnten. Aufgrund dieser Mitglieder- und Altersstruktur klagte deshalb bereits 1991 der Bundesvorsitzende der VOS: „Unsere Leute sterben weg, das ist das größte Problem.“24 Hinzu kamen inhaltliche Differenzen sowie persönliche Konflikte zwischen den politisch Verfolgten in den alten und neuen Bundesländern, was zu einer starken Zersplitterung führte und den Aufbau einer schlagkräftigen Lobby erschwerte. Im Mittelpunkt einer erregten öffentlichen Debatte standen zudem Anfang der 1990er-Jahre nicht die Opfer, sondern die Staatssicherheit und die ungeklärten Eigentumsverhältnisse in den neuen Bundesländern. Das 1. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz 1992: strafrechtliche Rehabilitierung Einen ersten Antrag der SPD-Opposition im Bundestag zur Ausweitung der Rehabilitierungsgesetzgebung25 lehnte die Regierungsmehrheit von CDU/CSU und FDP am 25. Oktober 1990 ab. Ebenso verhallten die Forderungen der Opferverbände, die auf dem 1. Bautzen-Forum im November desselben Jahres eine rasche Umsetzung des Artikels 17 Einigungsvertrags gefordert hatten. Auch nach der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl am 2. Dezember 1990, die der Regierungskoalition unter Helmut Kohl einen fulminanten Wahlsieg bescherte, rührte sich zunächst wenig. Die Opferverbände forderten denn auch auf dem 2. Bautzen-Forum im April 1991 unverzügliche Maßnahmen: „Wegen des hohen Alters und des schlechten Gesundheitszustandes vieler Betroffener ist keine Zeit mehr zu verlieren. Dabei sind die Opfer der kommunistischen Willkür und ihre Hinterbliebenen den NS-Opfern nach rechtsstaatlichen Grundsätzen gleichzustellen. Die Entschädigungskosten sind den derzeitigen Lebenshaltungskosten anzupassen.“26 23 24 25 26

Vgl. Siegmund, Opfer, S. 60 ff., 152 ff. (Auflistung der Verbände). Zit. nach Der Spiegel vom 3.6.1991, Ein zweites Mal betrogen, S. 53. BT-Drs. 11/8251 vom 24.10.1990. Die Bautzner Erklärung unterzeichneten das Bautzen-Komitee, der Bund der Stalinistisch Verfolgten, der Verband der Opfer des Stalinismus und der Sozialdemokratische Arbeitskreis ehemaliger politischer Häftlinge der SBZ/DDR. Text in: Widmaier, Rehabilitierung, S. 185. Vgl. auch Gerechtigkeit den Opfern der kommunistischen Diktatur. II. Bautzen-­ Forum vom 25. bis 28. April 1991. In: Deutschland Archiv, 24 (1991), S. 757–761.

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Gleichzeitig stauten sich bei der Justiz, die in den neuen Bundesländern noch im Aufbau begriffen war, die Anträge auf strafrechtliche Rehabilitierung. Denn im Zuge der Kassation waren vom Obersten Gericht der DDR bzw. der Generalstaatsanwaltschaft bis zum Beitritt zur Bundesrepublik nur 51 Kassationsverfahren zugelassen und lediglich acht abgeschlossen worden. Insgesamt wurden nach Angaben der Bundesregierung rund 50 Urteile aufgehoben, die vor allem prominente SED-Dissidenten betrafen.27 Bis Ende März 1991 lagen bei den Gerichten und Staatsanwaltschaften jedoch insgesamt 36 246 Anträge vor: Berlin 3 208, Brandenburg 5 431, Mecklenburg-Vorpommern 4 098, Sachsen 10 630, Sachsen-Anhalt 6 555 und Thüringen 6 295. Erledigt waren zu diesem Zeitpunkt von den zuständigen Rehabilitierungssenaten bei den ehemaligen DDR-Bezirksgerichten jedoch nur 1 490 Verfahren,28 während die Bundesregierung mit insgesamt rund 100 000 Neuanträgen rechnete. Gleichzeitig wurden im Zuge der Aufhebung strafgerichtlicher Entscheidungen bis Ende März 1991 887 Ermittlungsverfahren gegen DDR-Richter, Staatsanwälte und Bedienstete des Strafvollzugs eingeleitet.29 Insgesamt führte die bundesdeutsche Justiz zur Aufarbeitung des Staatsunrechts der DDR Ermittlungsverfahren gegen rund 100 000 Personen durch, die jedoch zumeist im Sande verlaufen sollten.30 Nach einer ersten großen Debatte im 12. Deutschen Bundestag, in der die SPD-Fraktion erneut die Ausweitung der Gesetzgebung auf die verwaltungsrechtliche und berufliche Rehabilitierung sowie eine Erhöhung der monatlichen Haftentschädigung auf 600 DM gefordert hatte,31 legte das Bundesjustizministerium am 23. Juli 1991 einen Referentenentwurf für das 1. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz vor, das jedoch ausschließlich die strafrechtliche Rehabilitierung

27 So u. a. gegen Walter Janka und drei Mitverurteilte am 5.1.1990, Wolfgang Harich und zwei Mitverurteilte am 30.3.1990, Ernst Loest und vier Mitverurteilte am 24.4.1990, Rudolf Bahro am 15.6.1990. Vgl. Widmaier, Rehabilitierung, S. 94. 28 Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion der SPD vom 14.8.1991 (BT-Drs. 12/1055, S. 7–9). Die Zahlendifferenz von 30 Fällen in der Summation der Länderangaben wird im Bericht nicht erläutert. 29 Ebd., S. 17. Dort auch Statistik nach Bundesländern. 30 Die Verjährungsfristen wurden 1993 und 1997 zweimal verlängert und liefen am 3.10.2000 endgültig aus. Zur Anklage kam es gegen 1 737 Personen, wovon 753 rechtskräftig verurteilt wurden. 580 Verurteilte erhielten eine Freiheitsstrafe. Lediglich 30 der wegen den Gewalttaten an der innerdeutschen Grenze Verurteilten, sieben Angehörige der Justiz und zwei Mitarbeiter der Staatssicherheit mussten ihre Strafe wenigstens teilweise verbüßen. Angaben nach Klaus Marxen/Petra Schäfter/Gerhard Werle, Die Strafverfolgung von DDR-Unrecht. Fakten und Zahlen, Berlin 2007, S. 43. Zur strafrechtlichen Aufarbeitung vgl. auch Klaus Marxen/Gerhard Werle, Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht. Eine Bilanz, Berlin 1999; Christoph Schaefgen, Die Ahndung von Partei- und Staatskriminalität der DDR seit dem Beginn der 90er Jahre – eine Bilanz. In: UOKG e.V. (Hg.), Der Stand der juristischen Aufarbeitung des DDR-Unrechts, Berlin 2010, S. 5–18; Lena Gürtler, Vergangenheit im Spiegel der Justiz. Eine exemplarische Dokumentation der strafrechtlichen Aufarbeitung von DDR-Unrecht in Mecklenburg-Vorpommern, Bremen 2010. 31 Vgl. Widmaier, Rehabilitierung, S. 188 ff. BT Sten. Berichte, 12. WP, 25. Sitzung vom 14.5.1991, S. 1783–1790.

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neu regeln und somit die bisher fortgeltenden Bestimmungen des Volkskammergesetzes ablösen sollte. Der Entwurf, den das Bundeskabinett am 14. August verabschiedete, sah die Einbeziehung der Opfer der sowjetischen Besatzungsmacht in die einmalige Haftentschädigung von 300 DM pro Monat vor. Politische Häftlinge, die bis zum 9. November 1989 in der DDR verblieben waren, sollten zusätzlich 150 DM pro Monat erhalten. Weitere 150 DM sollten Mindestrentenbezieher, Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose und Invaliden im Falle besonderer Bedürftigkeit bei der Häftlingsstiftung beantragen können. Ebenfalls 150 DM waren für Ehegatten, Eltern und Kindern vorgesehen, die selbst unter der Haft des Betroffenen mitgelitten hatten. Insgesamt rechnete man mit 80 000 Neuanträgen (ohne nichtanspruchsberechtigte Hinterbliebene), wobei die Bundesregierung von einer durchschnittlichen Haftzeit von zwei Jahren, d. h. von 7 200 DM pro Antragsteller, ausging, sowie mit 80 000 Altfällen nach dem HHG, in denen bisher erhaltene Leistungen auf die Haftentschädigung angerechnet werden sollten. Die Gesamtkosten bezifferte der Entwurf auf rund 1,55 Milliarden DM, weshalb die Auszahlung, gestaffelt nach sozialer Dringlichkeit, über mehrere Jahre verteilt werden sollte.32 Bei den Opferverbänden stieß der Gesetzesentwurf auf harsche Kritik. So hieß es in einer gemeinsamen Erklärung: Man halte die öffentliche Anhörung in Halle für eine „Farce“, für eine „Alibiveranstaltung“. „Die ehemaligen politischen Häftlinge halten es für unerträglich, dass der Entwurf keine Anerkennungsmerkmale für den Kampf der politischen Häftlinge für Freiheit und Demokratie enthält, dass der Entwurf die Hinterbliebenen unserer hingerichteten und verstorbenen Kameraden von Entschädigungsleistungen ausschließt, dass der Entwurf keine Entschädigungsrente für die älteren politischen Häftlinge vorsieht, während der Bundestag den von der SED willkürlich zu ‚Opfern des Faschismus‘ deklarierten ‚bewährten‘ Kommunisten, die oftmals zu unseren Verfolgern und Peinigern gehörten, bis zu 1 400 DM monatliche Zusatzrente gewährt, dass der Entwurf im Vergleich zu anderen Entschädigungsleistungen den niedrigsten aller nur denkbaren Haftentschädigungssätze vorsieht und dazu noch mit einem unerträglichen finanziellen Trick die ehemaligen politischen Häftlinge in zwei Klassen aufzuspalten versucht. […] Wir appellieren an die Bundestagsabgeordneten, diesem Entwurf nicht zuzustimmen, sondern mit Vertretern der ehemaligen politischen Häftlinge gemeinsam einen tragfähigen Entwurf zu erarbeiten.“33 32 Vgl. Widmaier, Rehabilitierung, S. 200 ff. Detaillierte Angaben zur Kostenschätzung und Haftdauer finden sich in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion der SPD vom 14.8.1991 (BT-Drs. 12/1055), S. 13 f. Danach betrug die durchschnittliche Haftzeit bei den nach dem HHG anerkannten politischen Häftlingen bis 1961 sieben Jahre, in den Jahren 1962–1968 drei Jahre und 1969–1989 zwei Jahre. 33 Der am 19.3.1992 verlesene „Protest von Halle“ war von folgenden Verbänden unterzeichnet: VOS, UOKG, BSV, Bautzen-Komitee, Arbeitskreis Internierungslager Mühlberg, Interessengemeinschaft Buchenwald 1945–1950, Kurt-Schumacher-Kreis Berlin,

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Im Parlament hatten bereits Abgeordnete des Bündnis 90/Die Grünen und der SPD bei der 1. Lesung am 5. Dezember 1991 den Entwurf scharf kritisiert.34 Der geharnischte Protest der Opferverbände schien auch das Regierungslager zu beeindrucken. So stellte Bundeskanzler Kohl nach einem Besuch der StasiHaft­anstalt Bautzen II Nachbesserungen bei der Entschädigungsregelung in Aussicht.35 Ebenso plädierten 47 Abgeordnete der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, vornehmlich aus den neuen Bundesländern, für eine monatliche Haftentschädigung von 600 DM, was der SPD-Forderung entsprach, während Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Antrag 900 DM forderten. Bei der entscheidenden Abstimmung am 17. Juni 1992 siegte jedoch die Fraktionsdisziplin, sodass alle weitergehenden Änderungsanträge der Opposition abgelehnt wurden. Das 1. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, das nahezu identisch mit dem Regierungsentwurf ist, wurde mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Opposition verabschiedet.36 Symptomatisch für die ohnmächtige Empörung der Opferverbände war ein gemeinsames Flugblatt der VOS und der UOKG mit dem Titel „Entlarvt“. Es bezeichnete das Gesetz als ein „Schand-Gesetz“ und führte die Namen aller Abgeordneten auf, die gegen den SPD-Antrag einer Erhöhung der Haftentschädigung für alle politischen Häftlinge gestimmt hatten. „Verantwortlich für alles ist der Bundeskanzler, welcher nach außen Betroffenheit vortäuscht, tatsächlich jedoch die Opfer missbraucht.“ Mit diesen Abgeordneten könne es „keine gemeinsamen Gespräche oder Veranstaltungen in der Öffentlichkeit mit den Opfern mehr geben“.37 Tatsächlich hatten die Opferverbände trotz einer intensiven, wenngleich schlecht koordinierten Lobbytätigkeit, keine ihrer zentralen Forderungen durchsetzen können. Der ständige Verweis des Regierungslagers auf die angespannte Haushaltslage und die enormen finanziellen Ausgaben für die deutsche Einheit brüskierte die politischen Häftlinge, die sich als „Opfer der waigelschen Finanzpolitik“ fühlten.38 Daran vermochte auch die vom

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Arbeitskreis ehemaliger politischer Häftlinge Berlin, Allianz der Opfervereine Kommunistischen Terrors Berlin, Helsinki-Gruppe, Interessengemeinschaft Internierungslager Ketschendorf, Arbeitskreis politisch Verfolgter der DDR, Frauenkreis der ehemaligen Hoheneckerinnen, Sozialdemokratischer Arbeitskreis ehemaliger politischer Häftlinge, Vereinigung der Verfolgten des Stalinistischen Terrors in Deutschland, Vereinigung politischer Häftlinge des Sowjetsystems, Arbeitsgemeinschaft ehemaliger politischer Häftlinge. Text in: Widmaier, Rehabilitierung, S. 218 f. Zur Kritik der Opferverbände vgl. auch Siegmund, Opfer, S. 118 ff. Vgl. BT Sten. Berichte, 12. WP, 64. Sitzung vom 5.12.1991, S. 5368–5391. Zu den erheblich weitergehenden Vorstellungen von Bündnis 90/Die Grünen vgl. BT-Drs. 12/1439 vom 31.10.1991 und 12/1713 vom 4.12.1991; Jürgen Roth/Günter Saathoff, Alternativvorschläge zur Rehabilitierung und Entschädigung von DDR-Unrecht. In: Deutschland Archiv, 25 (1992), S. 405–408. Vgl. Tagesspiegel vom 22.2.1991, Höhere Entschädigung für Ex-DDR-Häftlinge möglich. Vgl. BT Sten. Berichte, 12. WP, 97. Sitzung vom 17.6.1992, S. 7996–8022. Zum parlamentarischen Beratungsgang vgl. Widmaier, Rehabilitierung, S. 204–240. Flugblatt, o. D. Zit. nach Widmaier, Rehabilitierung, S. 240. So eine Stellungnahme in der öffentlichen Anhörung in Halle am 19.3.1993. Zit. nach Siegmund, Opfer, S. 125. Theo Waigel war von 1989 bis 1998 Bundesfinanzminister.

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­ eutschen Bundestag am 17. Juni 1992 abgegebene „Ehrenerklärung für die D Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft“ nichts zu ändern, zumal dieser symbolische Akt in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde.39 Im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat, dem die Anträge mehrerer Bundesländer vorlagen, einigte man sich schließlich, dass der Bund 65 Prozent der Kosten (Regierungsentwurf: 50 Prozent) übernehmen sollte, und erhöhte als Zugeständnis an die neuen Länder den Entschädigungssatz für Häftlinge, die in der DDR verblieben waren, auf 550 DM40 – was die von den Opferverbänden abgelehnte Ungleichbehandlung nur noch verstärkte. Der wesentliche Inhalte des 1. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, das am 4. November 1992 in Kraft trat, ist das in Artikel 1 formulierte „Gesetz über die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern rechtsstaatswidriger Strafverfolgungsmaßnahmen im Beitrittsgebiet“ (StrRehaG), dessen Bestimmungen hier nicht im Einzelnen referiert werden können.41 Zuständig für die Durchführung waren (und sind) die Rehabilitierungssenate bei den Landgerichten in den ehemaligen DDR-Bezirkshauptstädten, wobei jede Kammer zu zwei Drittel aus westdeutschen Juristen bestehen musste. Zeitweise waren über 100 Richter ausschließlich mit der Überprüfung früherer Urteile der SBZ/DDR-Justiz beschäftigt, wobei es sich um einen reinen Verwaltungsakt ohne Anhörung des Antragsstellers handelte. Erst nach der gerichtlichen Rehabilitierung konnten (und können) die Betroffenen dann einen Antrag auf Haftentschädigung oder andere soziale Ausgleichsmaßnahmen bei den zuständigen Behörden stellen, sodass sie – vielfach ältere Personen – mehrfach bei unterschiedlichen Ämtern vorstellig werden mussten. Nicht vom Gesetz erfasst sind hingegen, aufgrund völkerrechtlicher Bedenken der Bundesregierung, die Urteile der sowjetischen Militärtribunale, für deren Aufhebung auf Antrag die Militärstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation in Moskau zuständig ist.42 Allerdings wurde den SMT-Verurteilten auch ohne förmliche Rehabilitierung die Haftentschädigung zuerkannt. 39 Text in: BT-Drs. 12/2820 vom 16.6.1992, S. 4; Widmaier, Rehabilitierung, S. 232. Hierin hieß es u. a.: „Der Deutsche Bundestag würdigt das schwere Schicksal der Opfer und ihrer Angehörigen, denen durch die kommunistische Gewaltherrschaft Unrecht zugefügt wurde. [...] Der Deutsche Bundestag verneigt sich vor allen Opfern kommunistischer Unrechtsmaßnahmen. Er bezeugt all jenen tiefen Respekt und Dank, die durch ihr persönliches Opfer dazu beigetragen haben, nach über 40 Jahren das geteilte Deutschland in Freiheit wieder zu einen.“ 40 Vgl. Widmaier, Rehabilitierung, S. 238 ff. 41 1. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz vom 29.10.1992. In: BGBl. 1992, Teil I, S. 1814 ff. Zu den Regelungen im Einzelnen vgl. Tappert, Wiedergutmachung, S. 85–144; Michael Bruns/Michael Schröder/Wilhelm Tappert, StrRehaG. Kommentar zum Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz, Heidelberg 1993; Hans-Hermann Lochen/Christian Meyer-Seitz, Leitfaden zur strafrechtlichen Rehabilitierung und Entschädigung, Herne 1994; Jürgen Herzler (Hg.), Rehabilitierung (StrRehaG/VwRehaG/BerRehaG). Potsdamer Kommentar, Stuttgart 1997, S. 1–174. 42 Vgl. Leonid Kopalin, Die Rechtsgrundlagen der Rehabilitierung widerrechtlich repressierter deutscher Staatsangehöriger. In: Sowjetische Militärtribunale, Band 1: Die Verurteilung deutscher Kriegsgefangener 1941–1953. Hg. von Andreas Hilger, Ute Schmidt und Günther Wagenlehner, Köln 2001, S. 353–384.

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Bis zum 31. Mai 1994 gingen fast 140 000 Anträge auf strafrechtliche Rehabilitierung ein, von denen zu diesem Zeitpunkt bereits über 120 000 erledigt waren. In fast 90 Prozent aller Fälle kam es dabei zu einer vollständigen oder teilweisen Aufhebung des Urteils.43 Ein Jahr später waren bei den Gerichten noch 10 590 Anträge anhängig. Bis Juni 1995 wurden nach Angaben der Bundesregierung insgesamt 540 Millionen DM für Haftentschädigung und Unterstützungsleistungen nach dem StrRehaG und HHG ausgezahlt44 – also erheblich weniger als die zuvor geschätzten Kosten von 1,55 Milliarden DM. Das 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz 1994: verwaltungsrechtliche und ­berufliche Rehabilitierung Bereits während der parlamentarischen Beratungen zum 1. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz lag seit Sommer 1992 ein Referentenentwurf für ein zweites Gesetz vor, das den Umgang mit Verwaltungsunrecht und beruflicher Diskriminierung regeln sollte. In das Gesetzgebungsverfahren gelangte der Entwurf jedoch erst im Februar 1993, als die Bundesregierung ihn dem Bundesrat zur Stellungnahme übersandte.45 Die Grundintention benannte der Entwurf ganz unverblümt: „Um die knappen personellen und materiellen Ressourcen möglichst optimal einzusetzen, sollen nur gravierende Unrechtsfälle einbezogen werden; das sind bis heute spürbar fortwirkende erhebliche Beeinträchtigungen aufgrund elementarer rechtsstaatswidriger Verwaltungsentscheidungen bzw. politischer Verfolgungsmaßnahmen. Ein voller Schadensersatz kann dabei nicht in Betracht kommen. Vielmehr sollen Ausgleichsleistungen unter sozialen Aspekten gewährt werden, mit denen die heute noch fortwirkenden Folgen von Unrechtsmaßnahmen gemildert werden.“46 Tragender Grundsatz des Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes (VwRehaG) ist der im Einigungsvertrag festgelegte Fortbestand verwaltungsrechtlicher Entscheidungen der ehemaligen DDR. Die Aufhebung einer hoheitlichen Maßnahme, die zu einer gesundheitlichen Schädigung, einem Eingriff in Vermögenswerte oder einer beruflichen Benachteiligung geführt hat, kommt deshalb nur in Betracht, „soweit sie mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaates schlechthin unvereinbar ist und ihre Folgen noch unmittelbar schwer und unzumutbar fortwirken“. Artikel 2 führt dazu aus: „Mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaates schlechthin unvereinbar sind Maßnahmen, die in schwerwiegender Weise gegen die Prinzipien der Gerechtigkeit, der Rechtssicherheit oder der Verhältnismäßigkeit verstoßen haben und die der politischen Verfolgung 43 Vgl. Tappert, Wiedergutmachung, S. 118. 44 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Grünen vom 12.9.1995 (BTDrs. 13/2318), S. 3. 45 BR-Drs. 92/93 vom 12.2.1993. Zum Entwurf und parlamentarischen Beratungsgang vgl. Widmaier, Rehabilitierung, S. 241–294. 46 Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Bereinigung von SED-Unrecht (BR-Drs. 92/93), S. 2.

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gedient oder Willkürakte im Einzelfall dargestellt haben.“ Zu beachten sind hierbei die sehr restriktiven Formulierungen, die sich nur auf Verwaltungshandeln von ganz erheblicher Unrechtsqualität beziehen, und die Koppelung des geschehenen Unrechts mit bis in die Gegenwart reichenden schwerwiegenden Folgen als Voraussetzung einer Rehabilitierung. Explizit ausgeschlossen waren Entscheidungen in Steuersachen und die entschädigungslosen Enteignungen während der sowjetischen Besatzungszeit. Alle Anträge waren deshalb von den Gerichten im Einzelfall zu prüfen. Lediglich die Zwangsaussiedlungen von 1952 und 196147 erklärte der Entwurf pauschal als mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaats für schlechthin unvereinbar. Nach erfolgreicher Rehabilitierung sollten Folgeansprüche auf Beschädigtenbzw. Hinterbliebenenversorgung nach den Bestimmungen des Bundesversorgungsgesetzes, Eingriffe in Vermögenswerte nach dem Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen und Schäden im beruflichen Fortkommen nach dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz (BerRehaG) geregelt werden, das den zweiten Teil des 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes ausmachte. Kernstück des letztgenannten Gesetzes ist im Wesentlichen der Ausgleich von verfolgungsbedingten Nachteilen in der Rentenversicherung. Weiterhin waren Möglichkeiten zur bevorzugt geförderten Fortbildung und Umschulung sowie Ausgleichsleistungen in sozialen Härtefällen in Höhe von 150 DM monatlich vorgesehen. Bei Vorlage des Gesetzesentwurfs ging die Bundesregierung von rund 30 000 Anträgen wegen Verwaltungsunrechts (darunter 12 500 Zwangsausgesiedelte) und rund 225 000 Anträgen wegen beruflicher Diskriminierung (davon 65 000 aus den alten Bundesländern) aus. Den größten Kostenfaktor stellte dabei der Ausgleich von Nachteilen in der gesetzlichen Rentenversicherung dar. So rechnete man für das Jahr 1995 bei rund 70 000 Anspruchsberechtigten im Rentenalter mit Kosten in Höhe von 170 Millionen DM, für 1996 mit 251 Millionen und für 1997 mit 343 Millionen DM. Ab 1998 wurden die jährlichen Rentenleistungen auf 142 Millionen DM geschätzt. Diese Ausgaben wurden auf die gesetzlichen Versicherungsträger abgewälzt – ein mehrfach angewandter Finanzierungstrick, der den Bundeshaushalt, aber auch Beamte und Selbstständige nicht mit den Kosten der deutschen Einheit belastete. Bei der Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung rechnete man mit 8 000 Berechtigten und Gesamtkosten von 135 Millionen DM, für die Gewährung sozialer Ausgleichsmaßnahmen an rund 7 000 Anspruchsberechtigte mit jährlichen Kosten von 12 Millionen DM.48 Diese Maßnahmen sollten nach dem Entwurf zu 85 Prozent von den Ländern getragen werden. Bei den Opferverbänden und der parlamentarischen Opposition stieß der stark von finanziellen Erwägungen geprägte Regierungsentwurf – wie zu erwar-

47 Vgl. Inge Bennewitz, Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer von Zwangsaussiedlungen. In: Deutschland Archiv, 27 (1994), S. 461–470. 48 Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Bereinigung von SED-Unrecht (BR-Drs. 92/93), S. 5; Widmaier, Rehabilitierung, S. 262 f.

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ten war – auf heftige Kritik: „Eine Fülle von Unzumutbarkeiten für die Opfer.“49 Mit Blick auf den gesamten Entwurf wurde von den Verbänden bei der öffentlichen Anhörung in Rostock am 29. September 1993 erneut beanstandet, dass sein Anwendungsbereich auf das Gebiet der DDR beschränkt sei und somit politisch Verfolgte und Zivildeportierte jenseits von Oder und Neiße keine Entschädigungsleistungen in Anspruch nehmen könnten. Unzumutbar sei ferner die Regelung, dass die gesamte Last der Beweisführung bei den Antragstellern liege, sowie die Ausklammerung von Entscheidungen der Arbeitsgerichte. Heftige Kritik erfuhr die insgesamt restriktive Ausformulierung des Gesetzes, die eine Rehabilitierung nur in solchen Fällen ermöglichte, in denen die Folgen des Unrechts noch schwer in die Gegenwart nachwirkten. Die Verbände forderten deshalb auch die Möglichkeit einer moralischen Rehabilitierung ohne Entschädigungsanspruch. Ebenso traten sie bei Sozialfällen für eine Erhöhung der Ausgleichsleistungen auf 250 bis 500 DM monatlich ein.50 Im Bundestag griffen diese Forderungen vor allem Bündnis 90/Die Grünen auf, wobei allerdings die weitreichenden Änderungsvorschläge angesichts der Entschlossenheit des Regierungslagers keine reale Erfolgsaussicht hatten.51 Die unterschiedlichen Positionen kamen in der entscheidenden Bundestagsdebatte am 11. März 1994 nochmals zum Ausdruck. Für die Regierungskoalition betonte Bertold Reinartz (CDU) vor allem das moralische Dilemma: „Die Fülle der ermittelten Rechtsverstöße und die Vielfalt der Willkürakte bedingen, dass nicht alle Rechtsverstöße auf dem Gebiet der ehemaligen DDR in das 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz einbezogen werden konnten. 40 Jahre DDR-Unrechtssystem lassen sich nicht einfach rückabwickeln. Individuell erlittenes Unrecht auszugleichen ist schlechterdings kaum möglich, auch wenn der Rechtsstaat die Aufgabe hat, das dort zu leisten, wo er es vermag. Aus diesem Dilemma wird man sich auch mit noch so schönen Reden nicht herausreden können.“ Für die Opposition, so Hans-Joachim Hacker (SPD), war hingegen klar: „Die Opfer bekommen zu wenig; ihre Kritik an der Engherzigkeit dieser Bundesregierung der vollmundigen Versprechungen ist berechtigt.“52 Ungeachtet aller Vorbehalte wurde das Gesetz jedoch parteiübergreifend mit nur zwei Gegenstimmen angenommen. Im Vermittlungsverfahren erreichten die Bundesländer zudem, dass der Bund für 60 Prozent der Kosten aufkam, sodass das 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz am 1. Juli 1994 in Kraft treten

49 Jürgen Roth/Günter Saathoff/Jutta vom Stein, Kritik am Entwurf der Bundesregierung für ein 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz. In: Deutschland Archiv, 26 (1993), S. 603– 607, hier 603. Vgl. auch Hannes Kaschkat, Die Haftung für DDR-Unrecht und der Entwurf des 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz. In: ebd., S. 598–603. 50 Vgl. Siegmund, Opfer, S. 126 ff.; Widmaier, Rehabilitierung, S. 275 ff. 51 Vgl. BT-Drs. 12/1713 vom 4.12.1991 und 12/5219 vom 22.6.1993. Die SPD schaltete sich in diese Debatte erst spät ein. Vgl. BT-Drs. 12/7049 vom 10.3.1994 und 12/7050 vom 10.3.1994. 52 BT Sten. Berichte, 12. WP, 217. Sitzung vom 11.3.1994, S. 18799–18818, hier 18800.

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konnte.53 Die Antragsfrist für eine Rehabilitierung war mit Jahresende 1995 jedoch äußerst knapp bemessen, sodass sie in der Folgezeit mehrfach verlängert werden musste. Für die Opfer der SED-Diktatur sind vor allem zwei Verbesserungen gegenüber dem Regierungsentwurf relevant: Zum einen wurde die strenge Beweislast für die Antragsteller gemildert, zum anderen wurden auch jene Personen, die aus politischen Gründen nicht zum Abitur zugelassen worden waren, in die Förderung nach dem BerRehaG aufgenommen (jedoch ohne Ausgleich der Rentennachteile). Diese kleinen Verbesserungen können jedoch nicht über den insgesamt restriktiven Grundcharakter der Regelungen hinwegtäuschen. „Die Bedeutung des VwRehaG für die meisten Opfer liegt deshalb nicht in der Rehabilitierung und Entschädigung für erlittenes Verwaltungsunrecht, sondern im genauen Gegenteil: Derjenige, der im VwRehaG keine Berücksichtigung gefunden hat, hat nun ‚Klarheit‘, dass er weder eine moralische Rehabilitierung noch Wiedergutmachungsleistungen zu erwarten hat.“54 Anlass für Kritik bot auch der schleppende Vollzug. So gingen bis zum 31. Juli 1995 bei den Rehabilitierungsbehörden 9 054 Anträge (darunter 1 889 wegen Zwangsaussiedlungen) nach dem VwRehaG ein, wovon lediglich 368 positiv entschieden und 406 abgelehnt waren, während die übrigen Anträge noch ihrer Bearbeitung harrten. Weiterhin lagen 21 176 Anträge (darunter 591 verfolgter Schüler) nach dem BerRehaG vor, hiervon waren 1 338 positiv entschieden und 141 abgelehnt.55 Auch wurden die Möglichkeiten zur beruflichen Fortbildung und Umschulung sowie die Ausgleichsleistungen in sozialen Härtefällen, wie die Bundesregierung einräumte, „nur in äußerst geringem Maße in Anspruch genommen“.56 Bis Ende 1995 wurden insgesamt 660 Millionen DM, davon 625 Millionen DM für Haftentschädigung und Unterstützungsleistungen nach dem 1. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, ausgezahlt. Für Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz betrugen die Aufwendungen bis Ende 1995 rund 84 Millionen DM (nur Bundesanteil). In der mittelfristigen Finanzplanung setzte der Bund für die Haushaltsjahre bis 2000 jährliche Kosten von insgesamt 165 Millionen DM an.57 Nicht enthalten in den Angaben der Bundesregierung sind

53 BGBl. 1994, Teil I, S. 1311 ff. Vgl. zu den Bestimmungen im Einzelnen Tappert, Wiedergutmachung, S. 144–249; Klaus Wimmer, VwRehaG. Kommentar zum Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz, Berlin 1995; Herzler (Hg.), Rehabilitierung, S. 175–278. 54 So Tappert, Wiedergutmachung, S. 176. 55 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 12.9.1995 (BT-Drs. 13/2318), S. 6, 10, 12. Vgl. auch Tina Kwiatkowski-Celofiga, Verfolgte Schüler. Ursachen und Folgen von Diskriminierung im Schulwesen der DDR, Göttingen 2014. Dort auch statistische Auswertungen auf Basis sächsischer Rehabilitierungsverfahren. 56 Ebd., S. 11. 57 Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage des Abgeordneten Hartmut Büttner (BTDrs. 13/5772 vom 11.10.1996), S. 8 ff. Bei den Aufwendungen nach dem Bundesversorgungsgesetz trägt der Bund 65 % bei Leistungen nach dem StrRehaG, 60 % nach dem VwRehaG sowie 100 % nach dem HHG.

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die beträchtlichen Ausgaben für den Rentenausgleich, die die gesetzlichen Versicherungsträger zu erbringen hatten. Mit den beiden SED-Unrechtsbereinigungsgesetzen war nach Auffassung der Bundesregierung die Verpflichtung aus dem Einigungsvertrag eingelöst und die Thematik abschließend geregelt. Die Opferverbände, die soviel Hoffnung in die antikommunistische Rhetorik und den Eifer der CDU/CSU im Aufarbeitungsdiskurs der SED-Diktatur gesetzt hatten, sahen sich hingegen weithin im Stich gelassen. Denn die Bundesregierung ließ sich „bei den Regelungen mehr von finanziellen Interessen leiten, als sich an der Frage der Angemessenheit der Leistungen zu orientieren“.58 Diesem Urteil kann man nur zustimmen. So führten die letztendlich geringen Ausgleichsleistungen dazu, wie schon eine erste Bilanz 1994 hervorhob, „dass die Betroffenen weiterhin im Abseits der Gesellschaft leben, die ihnen vielmehr Dank und Anerkennung zu schulden hätte. Sie bleiben auch in der bundesdeutschen Gesellschaft vielfach dort, wo sie der DDR-Staat hingestellt hat.“59 Und eine juristische Untersuchung schloss 1995 mit den Worten: Die Betroffenen haben „den Eindruck, Rehabilitierung und Entschädigung bedeute für die Bundesrepublik Deutschland eine lästige Pflicht, der man sich mit möglichst geringem Aufwand zu entziehen suche“.60 In der Folgezeit engagierten sich besonders die SPD und Bündnis 90/Die Grünen für weitere Verbesserungen: Erhöhung der Kapitalentschädigung auf 600 DM pro Haftmonat für alle politischen Häftlinge, Vererbbarkeit der Kapitalentschädigung an unmittelbar mitbetroffene nächste Angehörige, pauschale Entschädigung für Hinterbliebene von Hingerichteten und Todesopfern an der innerdeutschen Grenze, Einführung einer moralischen Rehabilitierung von Verwaltungsunrecht, verbesserte Anerkennung gesundheitlicher Haftschäden, volle Einbeziehung der Zivildeportieren jenseits von Oder und Neiße in das HHG, Erhöhung der Kapitalausstattung der Häftlingsstiftung. Die Grünen forderten zudem eine Erhöhung der Haftentschädigung auf 900 DM und die Einbeziehung der Opfer von Zersetzungsmaßnahmen der Staatssicherheit.61 All diese Forderungen, die offensichtliche Defizite der bisherigen Gesetzgebung beseitigen sollten, scheiterten jedoch an der kompromisslosen Haltung der Bundesregierung, die zu keinen substanziellen Änderungen bereit war. Bei der entscheidenden Abstimmung im Bundestag am 15. Mai 1997 wurden sämtliche Änderungsanträge der Opposition abgelehnt, sodass die Chance einer grundsätzlichen Novellierung vertan war.62

58 Widmaier, Rehabilitierung, S. 308. 59 Jürgen Roth/Günter Saathoff/Jutta vom Stein, Das Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz. Angemessener Schadensausgleich für DDR-Unrecht oder nur preisgünstige „Entsorgung“? In: Deutschland Archiv, 27 (1994), S. 449–456, hier 456. 60 Tappert, Wiedergutmachung, S. 286. 61 Vgl. Widmaier, Rehabilitierung, S. 320 ff.; BT-Drs. 13/3038 vom 21.11.1995 und 13/4162 vom 19.3.1996. 62 Vgl. BT Sten. Berichte, 13. WP, 175. Sitzung vom 15.5.1997, S. 15803–15815. Das in dieser Sitzung verabschiedete „Gesetz zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher

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Neue Initiativen während der rot-grünen Bundesregierung Nach dem Wahlsieg Gerhard Schröders und der Bildung der rot-grünen Koalition 1998 verkehrten sich die Fronten. Auf Initiative der Regierungsfraktionen wurden im „Zweiten Gesetz zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR“,63 das der Bundestag am 17. Dezember 1999 verabschiedete, die Haftentschädigung für alle politischen Häftlinge auf 600 DM angehoben und der rentenrechtliche Nachteilsausgleich verbessert. Ferner konnte die Häftlingsstiftung nunmehr Leistungen an Hinterbliebene von Hingerichteten und an Verschleppte aus den Oder-Neiße-Gebieten ohne Bedürftigkeitsprüfung auszahlen. Dafür wurden der Stiftung jährlich 1,2 Millionen DM zusätzlich zur Verfügung gestellt.64 Hingegen lehnte die Regierungsmehrheit einen Antrag der FDP hinsichtlich der Einführung einer Opferpension ab. Im Juni 2000 brachte dann eine Abgeordnetengruppe um Günter Nooke (CDU) den „Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Bereinigung von SED-Unrecht“ ein, der auch von der späteren Bundeskanzlerin Angela Merkel unterzeichnet war. Der Entwurf forderte eine „Ehrenpension“ für die Opfer politischer Verfolgung in Höhe von 1 000 DM monatlich, die unabhängig von anderen Einkünften gezahlt werden sollte. Zur Begründung hieß es: „Diese Ehrenpension zeigt symbolhaft den besonderen Wert, den unsere Gesellschaft den Menschen beimisst, die sich gegen die Diktatur der SED gewehrt und unter Einsatz ihres Lebens und um den Preis erheblicher sozialer Nachteile für Freiheit und Demokratie eingesetzt haben.“ In ihren Genuss sollten alle Personen kommen, die mehr als ein Jahr in Haft saßen oder gegen die „staatliche oder staatlich gelenkte Maßnahmen“ durchgeführt wurden, die mehr als zwei Jahre betrugen. Die letztere Formulierung zielte u. a. auf die „Bearbeitung“ in einem Operativen Vorgang (OV) oder einer Operativen Personenkontrolle (OPK) der Staatssicherheit, sie umfasste aber auch die verfolgungsbedingte Unterbrechung der Ausbildung. Opfern, die zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung jünger als 55 Jahre gewesen waren, sollte die Ehrenpension befristet auf zehn Jahre gezahlt werden. Mit diesem Vorstoß sollten die Opfer eine großzügige Kompensation erhalten, nachdem das Bundesverfassungsgericht im April 1999 die Kürzung der Rentenansprüche aus den Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der DDR, von denen die Systemträger der Diktatur profitiert hatten, für verfassungswidrig erklärt hatte. Deshalb ließen sich die „bisherigen fiskalpolitisch motivierten Überlegungen, die einer solchen angemessenen Würdigung bislang entgegengestanden haben, [...] nicht länger aufrechterhalten“. Die Kosten für Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR“ enthielt nur geringfügige Verbesserungen einzelner Vorschriften und verlängerte die Antragsfristen für die Rehabilitierung auf das Jahresende 1999 (BGBl. 1997, Teil I, S. 1609 ff.). 63 BGBl. 1999, Teil I, S. 2662 ff. 64 Vgl. BT-Drs. 14/1165 vom 16.6.1999; BT Sten. Berichte, 14. WP, 45. Sitzung vom 17.6.1999, S. 3701–3723, und 74. Sitzung vom 26.11.1999, S. 6834–6843.

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die Ehrenpension schätzte der Entwurf auf jährlich 1,5 Milliarden DM sowie auf einmalige Kosten von 800 Millionen DM für die Erhöhung der Kapitalentschädigung auf 1000 DM pro Haftmonat.65 In der Bundestagsdebatte am 18. Mai 2001 mussten sich die Antragssteller allerdings nicht zu Unrecht vorhalten lassen: „Sie hätten es doch während Ihrer Regierungszeit in der Hand gehabt, eine Ehrenrente in Höhe von 1 000 DM für jeden Betroffenen zu beschließen. Warum haben Sie es nicht gemacht?“66 Ebenso wurden sie daran erinnert, dass die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag gegen die frühere SPD-Forderung einer Erhöhung der Haftentschädigung auf 600 DM gestimmt hatte. Neben finanziellen Erwägungen führte die rot-grüne Regierungskoalition auch das Argument an, dass eine Ehrenpension als Pauschalentschädigung mit dem konzeptionellen Ansatz der Rehabilitierungsgesetze mit ihren sozialen Ausgleichsleistungen nicht vereinbar sei und auch NS-Opfer im Westen keine Verfolgtenrente erhielten. Dies sei ein Instrument aus DDR-Zeiten, weshalb der häufig vorgebrachte Bezug auf die VVN-Rente der DDR67 hinfällig sei. Unterstützung fand der Nooke-Entwurf bei der FDP und der PDS, während ihn die Regierungskoalition mit ihrer Mehrheit ablehnte. Zwei Jahre später, im Mai 2003, brachte eine Abgeordnetengruppe der CDU/CSU um Arnold Vaatz den Entwurf in modifizierter Form neu ein. Er sah eine Staffelung der Opferpension, je nach Verfolgungsdauer, von 150 bis 500 Euro monatlich und die Erhöhung der Haftentschädigung auf 500 Euro vor. Die jährliche Belastung der öffentliche Haushalte wurde bei diesem Entwurf mit etwa 180 Millionen Euro für die Opferpension sowie mit 409 Millionen Euro für die Nachzahlung der erhöhten Haftentschädigung angegeben.68 Ferner gab es einen Entwurf der FDP-Fraktion für ein drittes SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, der erheblich enger definiert war. Es sah eine Opferrente nur für politische Häftlinge im Rentenalter in Höhe von 500 Euro vor und ging ohne Kostenschätzung von ca. 85 000 Antragsberechtigten aus.69 Beide Entwürfe wurden jedoch – wie zu erwarten war – von der bei der Bundestagswahl 2002 erneut bestätigten rot-grünen Regierungskoalition im Bundestag am 29. Januar 2004 abgelehnt. So erklärte der SPD-Sozialexperte Peter Dreßen: Eine Opferpension als zusätzliche Pauschalentschädigung für die SED-Opfer sei ausgeschlossen, da dies zu einer „Bevorzugung dieser Opfergruppe gegenüber den NS-­Verfolgten

65 BT-Drs. 14/3665 vom 27.6.2000. 66 So Barbara Wittig (SPD). Vgl. BT Sten. Berichte, 14. WP, 171. Sitzung vom 18.5.2001, S. 16761–16770, hier 16763. 67 Die in der DDR eingeführte Ehrenpension für Verfolgte des Naziregimes wurde nach der Wiedervereinigung beibehalten und beträgt 1400 DM monatlich. Vgl. Entschädigungsrentengesetz vom 22.4.1992 (BGBl. 1992, Teil I, S. 906 ff.). 68 BT-Drs. 15/932 vom 6.5.2003. Für die einkommensunabhängige Rente waren von einem Jahr Haft bis zu zwei Jahren monatlich 150 Euro, von zwei bis fünf Jahren Haft 300 Euro, von fünf bis neuen Jahren 400 Euro und bei mehr als neun Jahren Haft 500 Euro vorgesehen. 69 BT-Drs. 15/1235 vom 25.6.2003.

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führen und im Sinne der Gleichbehandlung sachlich nicht zu rechtfertigen“ sei.70 Tatsächlich erhielten NS-Verfolgte keine Renten, sondern nur Entschädigungsleistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz, dessen Bestimmungen jedoch wesentlich großzügiger waren.71 Vor den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen brachte der Freistaat Sachsen im Mai 2004 den Vaatz-Entwurf nochmals im Bundesrat ein, jedoch mit der Modifikation, dass die gestaffelte Opferrente nur noch politischen Häftlingen zugutekommen sollte. Die jährliche Anfangsbelastung wurde diesmal mit 71 Millionen Euro angegeben.72 Diese Initiative, der sich Sachsen-Anhalt und Thüringen anschlossen, stieß jedoch im Bundesrat auch auf den Widerstand der CDU- bzw. CSU-regierten Länder Baden-Württemberg und Bayern.

Das 3. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz 2007: Opferrente Die Forderung einer Opferrente fand sich auch im CDU-Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2005 und wurde in den Koalitionsvertrag mit der SPD aufgenommen: „Wir wollen die Situation der Opfer der SED-Diktatur mit geeigneten Maßnahmen verbessern. In Frage kommen hierfür u. a. die Aufstockung der Mittel für die Häftlingsstiftung, die Einführung einer Opferpension oder die Errichtung eines effektiven Verfahrens zur Anerkennung verfolgungsbedingter Gesundheitsschäden.“73 An diese Ankündigung knüpften die Opferverbände große Erwartungen, wobei man innerhalb der CDU/CSU vor allem an den bereits bekannten Vorschlag einer nach Verfolgungsdauer gestaffelten Rente zwischen 150 und 500 Euro monatlich dachte. Es sollte allerdings noch bis Januar 2007 dauern, bis sich die Fraktionen der Großen Koalition unter Angela Merkel auf Eckpunkte für ein 3. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz einigen konnten. In der Begründung hieß es: „Mit dem Ende der SED-Diktatur hat das vereinte Deutschland sich der Aufgabe gestellt, 40 Jahre Unrecht, Verfolgung und Behördenwillkür aufzuarbeiten und den Opfern des SED-Regimes späte Genugtuung zu geben, ihren Einsatz für Demokratie und Freiheit zu würdigen und erlittenes Unrecht zu entschädigen.“74 Da die „bisherigen Regelungen angesichts der Schwere der erlittenen Verfolgungsmaßnahmen insbesondere aus Sicht der SED-Opfer nicht befriedigend“ seien, soll-

70 Vgl. BT Sten. Berichte, 15. WP, 88. Sitzung vom 29.1.2004, S. 7786–7796, hier 7790. 71 Vgl. Ulricke Guckes, Opferentschädigung nach zweierlei Maß? Eine vergleichende Untersuchung der gesetzlichen Grundlagen der Entschädigung für das Unrecht der NS-Diktatur und der SED-Diktatur, Berlin 2008. 72 BR-Drs. 425/04 vom 25.5.2004. 73 Gemeinsam für Deutschland. Mit Mut und Menschlichkeit. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 11.11.2005, S. 94. 74 Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD, Unterstützung für Opfer der SED-Diktatur – Eckpunkte für ein 3. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz vom 31.1.2007 (BT-Drs. 16/4167), S. 1.

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ten deshalb die Mittel der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge von 1,7 auf 3 Millionen Euro jährlich erhöht und auch ein gesicherter Leistungsbezug für die zivildeportierten Frauen aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße geschaffen werden. Ferner sollten die Antragsfristen nach dem Strafrechtlichen, dem Verwaltungsrechtlichen und dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz bis zum Jahresende 2011 verlängert werden. Im Mittelpunkt stand allerdings die Einführung einer Opferrente in Höhe von 250 Euro monatlich für alle politischen Häftlinge (einschließlich der Inhaftierten der sowjetischen Speziallager und SMT-Verurteilten), deren Freiheitsentzug mindestens sechs Monate betragen hatte. Allerdings war diese Rente an die regelmäßige Überprüfung der wirtschaftlichen Bedürftigkeit der Betroffenen gekoppelt, deren Einkommen nicht mehr als 1 035 Euro (bei Verheirateten 1380 Euro) betragen durfte. Zur Begründung hieß es: „In Hinblick darauf, dass die Rehabilitierungsgesetze Leistungen in Form von Haftentschädigung, rentenrechtlichem Nachteilsausgleich und Unterstützungsleistungen vorsehen, ist als Kriterium für eine zusätzliche monatliche Leistung auf die wirtschaftliche Bedürftigkeit der Betroffenen abzustellen.“75 Die Kosten schätzte der wenig später eingebrachte Gesetzesentwurf auf jährlich 48 Millionen Euro für rund 16 000 Anspruchsberechtige unter geschätzten 80 000 noch lebenden ehemaligen Häftlingen.76 Bei den Opferverbänden rief dies einen Sturm der Empörung hervor. Diese Regelung, so ein offener Brief des UOKG-Vorstandes an Bundeskanzlerin Merkel, verdiene nicht das „Wort ‚Opferrente‘“. „Eher denn schon ist es eine Almosenzahlung für Opfer kommunistischer Gewalt, die – aus welchen Gründen auch immer – in Armut leben. Und nur am Rande sei in diesem Zusammenhang die Großzügigkeit erwähnt, die in unserem Staat oft denjenigen zuteil wird, unter deren Gewalt wir leiden mussten.“77 Die Enttäuschung war umso größer, da die CDU, als sie noch in der Opposition war, viel weitreichendere Entschädigungen nicht nur für Häftlinge, sondern für alle politisch Verfolgten in Aussicht gestellt hatte. Auch in der Öffentlichkeit wurde der Regierungsentwurf äußerst kritisch kommentiert. So schrieb die „Zeit“: „Es ist aber eine Rente, die viel zu spät kommt, viel zu knapp ausfällt und nur wenigen Betroffenen zustünde. Die

75 Ebd., S. 3. Das Einkommen sollte dabei nach § 82 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch ermittelt werden. 76 BT-Drs. 16/4842 vom 27.3.2007. An weiteren Kosten nannte der Regierungsentwurf 7 Millionen Euro aufgrund der Verlängerung der Antragsfrist bei der strafrechtlichen Rehabilitierung sowie jährlich 100 000 Euro bei der beruflichen Rehabilitierung. 77 Offener Brief des UOKG-Vorstandes an die Bundeskanzlerin. Pressemitteilung vom 29.1.2007 (http://www.uokg.de/Text/akt061ehrenpension.htm; 30.4.2013). Weitere Stimmen bei Jens Planer-Friedrich, Opferpension als Sozialhilfe. Wie der Versuch einer materiellen Würdigung der SED-Verfolgten misslingt. In: Horch und Guck, 57/2007, S. 67–69; Achim Beyer, Eine schier unendliche Geschichte. Die Bemühungen um ein 3. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz und eine „Opferrente“ für Verfolgte der SED-Diktatur. In: Deutschland Archiv, 39 (2006), S. 590–595; ders., Von der versprochenen „Ehrenpension“ zur Almosen-Regelung. Zur aktuellen Diskussion um ein 3. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz. In: Deutschland Archiv, 40 (2007), S. 202–205.

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Clemens Vollnhals

Opfer fühlen sich verhöhnt, zu Almosenempfänger herabgewürdigt.“ Der „demonstrative Geiz“ empöre die Opfer und stehe in auffälligem Kontrast zu den 4,1 Milliarde Euro, die die Bundesrepublik allein im Jahr 2006 für die Zusatzrenten der Systemträger der SED-Diktatur ausgegeben habe. Für das persönliche Fortkommen der Opfer wäre es besser gewesen, sich anzupassen. „Dann hätten sie Karriere gemacht. Dann bekämen sie vielleicht Dienstbeschädigtenrenten, wie sie der Bundestag früheren Stasi-Mitarbeitern zugebilligt hat.“78 Im Bundestag setzten sich insbesondere Bündnis90/Die Grünen für eine Erhöhung der Opferrente auf 511 Euro (1 000 DM) ohne Bedürftigkeitsprüfung ein, die auch kurzfristig Inhaftierten und den Opfern von „Zersetzungsmaßnahmen“ der Staatssicherheit zustehen sollte. Zudem sei eine gesetzliche Vermutung von verfolgungsbedingten Gesundheitsschäden bei einer Haft von mehr als einem Jahr notwendig. Es sei unabdingbar, für die ehemals Verfolgten eine „angemessene materielle und symbolische Anerkennung zu schaffen. Dieser politische Anspruch muss am Verfolgungsschicksaal der Betroffenen ansetzen und nicht ausschließlich an ihrer aktuellen wirtschaftlichen Situation. Die Betroffenen empfinden diese Praxis der Bittstellerei als Demütigung.“79 Weitere Anträge mit ähnlicher Zielrichtung brachten die FDP und Die Linke ein.80 Nach einer öffentlichen Anhörung der Opferverbände am 7. Mai und im Laufe der parlamentarischen Beratungen kam der Regierungsentwurf mit zwei wesentlichen Abänderungen zur Abstimmung. Zum einen legte die vom Rechtsausschuss des Bundestages empfohlene Fassung fest, dass das Einkommen des Ehegatten bzw. Lebenspartners nicht in die Ermittlung der Einkommensgrenzen einbezogen werden sollte; zum anderen sollten Rentenleistungen unberücksichtigt bleiben. Auch wurde die ursprünglich vorgesehene halbjährliche Überprüfung der Bedürftigkeit gestrichen, so dass die Betroffenen ihre wirtschaftliche Situation nur noch beim Erstantrag nachweisen mussten. Aufgrund dieser Änderungen erhöhte sich der Empfängerkreis, wie Koalitionsabgeordnete in der Debatte ausführten, von 16 000 auf über 40 000 Personen bei geschätzten Kosten von jährlich 100 Millionen Euro, wobei der Bund 65 Prozent der Lasten zu tragen hatte. Das oft auch als 3. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz bezeichnete Gesetz wurde am 13. Juni 2007 gegen die Stimmen der FDP, der Grünen und der Mehrheit der Linken angenommen.81 Gut 17 Jahre nach der Wiedervereinigung war damit eine zentrale Forderung der Opferverbände im Ansatz erfüllt, wenngleich das Gesetz hinter den Erwartungen zurückblieb. „Zudem fehlen“, wie die UOKG beklagte, „bestimm-

78 Evelyn Finger, Versäumte Gerechtigkeit. In: Die Zeit vom 24.5.2007 (http://www.zeit. de/2007/22/Opferrente). 79 BT-Drs. 16/4404 vom 28.2.2007, S. 3. 80 BT-Drs. 16/4409 vom 28.2.2007 und 16/4846 vom 27.3.2007. 81 BT Sten. Berichte, 16. WP, 102. Sitzung vom 13.6.2007, S. 10457–10469. Offizieller Titel: Drittes Gesetz zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR. In: BGBl. 2007, Teil I, S. 2119 ff.

Deutschland nach 1989

149

te Opfergruppen gänzlich (z. B. verfolgte Schüler, Zwangsausgesiedelte, Zersetzungsopfer).“82 Ein akzeptabler Mittelweg hätte der im Bundestag abgelehnte Änderungsantrag der FDP-Fraktion sein können. Er sah eine Ehrenpension für alle Haftopfer in Höhe von 100 Euro vor, die bei Bedürftigkeit um weitere 150 Euro aufgestockt werden sollte.83 Dieser konzeptionelle Ansatz hätte den Widerstand gegen die SED-Diktatur gewürdigt und wäre von den Opfern nicht als bloße Sozialhilfe wahrgenommen worden. Immer wieder gab es auch Kritik an der Terminologie: „Den vorwiegend von der Politik benutzten diffusen Begriff ‚Opfer‘ haben wir so nie akzeptiert; wir verstanden und verstehen uns als Widerstandskämpfer gegen die SED-Diktatur.“84 Diesen Einwand erhoben vor allem politische Häftlinge, die nach 1945 den bürgerlichen Parteien oder der SPD angehört oder nahegestanden hatten und wegen ihres demokratischen Engagements gegen die Diktatur oft zu drakonischen Zuchthausstrafen verurteilt worden waren. Hinsichtlich der sozialen Lage ergab eine umfangreiche repräsentative Untersuchung 2007: „38 Prozent der SED-Opfer in Thüringen erzielen im Vergleich zur Bevölkerung ihrer Altersgruppe ein unterdurchschnittliches Haushaltseinkommen. 10 Prozent leben in Armut (mit einem Nettoeinkommen unter 500 Euro) und nur 20 Prozent der SED-Opfer zählen zu den Normal- oder Besserverdienenden (ab 2 000 Euro). Diese bescheidenen materiellen Verhältnisse lassen sich mit dem Schicksal der Betroffenen und Opfer erklären: Sie gerieten biografisch sehr früh in die Fänge des SED-Apparates. […] Wenn sie in der DDR blieben, wartete eine Arbeiterlaufbahn auf sie, oft in randständigen Tätigkeiten oder schlecht bezahlten Nischen des Erwerbssystems. […] Zur bescheidenen materiellen Gesamtsituation kommt noch ein als signifikant schlechter einzuschätzender Gesundheitszustand der Betroffenen hinzu.“85 Bemerkenswert ist zudem der Befund, „dass vornehmlich Arbeiter zum Ziel des staatlichen Repressionsapparates wurden, und dass in der Phase des Spätsozialismus dieses Tendenz unter den jüngeren Generationen sogar noch zunahm“.86 Über den Vollzug des 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes gibt eine Statistik des Bundesamtes für Justiz mit Stand vom 30. Juni 2007 Auskunft: Von 28 949 endgültig erteilten Bescheiden nach dem VwRehaG waren 10 017 positiv und 18 932 negativ. Dies entspricht einer Anerkennungsquote von 34,7 Prozent, bei den Zwangsausgesiedelten betrug die Quote allerdings 81,5 Prozent. Nach dem BerRehaG wurden bis zu diesem Zeitpunkt insgesamt 84 602 ­Bescheide erteilt, davon waren 61 282 positiv (Anerkennungsquote 72,7 Prozent). Gerade bei 82 83 84 85

http://www.stasiopfer.de/content/view/16/52. BT-Drs. 16/5597 vom 12.5.2007. Beyer, Von der versprochenen „Ehrenpension“ zur Almosen-Regelung, S. 204. Zur sozialen Lage der Opfer des SED-Regimes in Thüringen. Forschungsbericht im Auftrag des Thüringer Ministeriums für Soziales, Familie und Gesundheit, Jena 2008, S. 11 f. Vgl. auch Sibylle Plogstedt, Knastmauke. Das Schicksal von politischen Häftlingen der DDR nach der deutschen Wiedervereinigung, Gießen 2010. 86 Ebd., S. 80.

150

Clemens Vollnhals

der verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung sind allerdings beträchtliche Differenzen zwischen den Bundesländern festzustellen. So lag die Rehabilitierungsquote in Brandenburg mit 17,7 Prozent (Zwangsaussiedlungen: 37,5 Prozent) am niedrigsten und in Thüringen mit 57,8 Prozent (Zwangsaussiedlungen: 84,0 Prozent) am höchsten.87 Eine weitere Verbesserung erbrachte das „4. Gesetz zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR“,88 das auf eine Initiative der Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen und Thüringen im Bundesrat zurückgeht und vom Bundestag am 7. Oktober 2010 einstimmig verabschiedet wurde. Es führte einen Kinderfreibetrag für Familien ein und rechnete das Kindergeld sowie die betriebliche Altersvorsorge nicht mehr auf das Einkommen an. Zudem haben nun auch Personen, die aus politischen Gründen in Spezialkinderheimen oder Jugendwerkhöfen untergebracht waren, Anspruch auf die Opferrente, während Schwerkriminelle (ab drei Jahren Haft) davon ausgeschlossen wurden. Nicht zuletzt wurden alle Antragsfristen auf den 31. Dezember 2019 verlängert.

Statistische Bilanz Zum Jahresende 2011 bezogen nach Angaben der Bundesregierung 47 434 Personen die „besondere Zuwendung für Haftopfer“, so der bürokratische Terminus für die Opferrente in Höhe von 250 Euro monatlich.89 Die Aufschlüsselung nach neuen und alten Bundesländern ist in Tabelle 1 dargestellt. Seit dem Inkrafttreten des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes am 4. November 1992 haben Bund und Länder bis einschließlich 2011 rund 1,2 Milliarde Euro für die Zahlung von einmaliger Haftentschädigung und Opferrente aufgebracht. Nimmt man die Leistungen nach dem Verwaltungsrechtlichen und dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz hinzu, so waren es insgesamt 1,4 Milliarde E., die Bund und Länder im Laufe von 18 Jahren aufgebracht haben. Mit anderen Worten: Im Mittel schlug die Entschädigung der SED-Opfer mit jährlich 77,7 Millionen Euro zu Buche. Hierin sind allerdings nicht die Kosten für den finanziellen Ausgleich verfolgungsbedingter Rentennachteile enthalten, da diese Lasten dem gesetzlichen Rentenversicherungsträger aufgebürdet wurden (vgl. Tab. 2). Seit dem Inkrafttreten des 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes am 1. Juli 1994 wurden bis Jahresende 2011 10 400 Anträge nach dem VwRehaG und 67 398 Anträge nach dem BerRehaG positiv ent-

87 Zur sozialen Lage der Opfer des SED-Regimes in Thüringen, S. 34, 21. 88 BGBl. 2010, Teil I, S. 1744 ff. Vgl. BR-Drs. 65/10 vom 5.2.2010 (Gesetzesantrag); BT Sten. Berichte, 17. WP, 65. Sitzung vom 7.10.2010, S. 6879–6887. 89 Bericht der Bundesregierung zum Stand der Aufarbeitung der SED-Diktatur (BT-Drs. 17/12115 vom 16.1.2013), S. 32.

151

Deutschland nach 1989

Tabelle 1: Besondere Zuwendung für Haftopfer (2007–30.6.2010)90 Anträge

Zuwendungs-­ empfänger

Zuwendungsquote (in Prozent)

9 177

5 771

62,9

10 718

7 504

70,0

5 708

3 907

68,4

13 216

8 561

64,8

Sachsen-Anhalt

8 420

5 656

67,2

Thüringen

8 172

5 587

68,4

alte Länder

14 506

9 631

66,4

gesamt

69 917

46 617

66,7

Land Brandenburg Berlin MecklenburgVorpommern Sachsen

schieden.91 Die Zahl der Ablehnungen gab die Bundesregierung in ihrer stolzen Leistungsbilanz zur Aufarbeitung der SED-Diktatur allerdings nicht bekannt. Einen detaillierteren Einblick gibt die Statistik in Tabelle 3. Auffällig ist hierbei, wie stark die Anerkennungsquote zwischen den neuen Bundesländern differiert. Sie liegt in Mecklenburg-Vorpommern und in Brandenburg rund 20 Prozent niedriger als in Thüringen, was auf erhebliche Unterschiede in der Rehabilitierungspraxis schließen lässt. Besonders niedrig liegt die Anerkennungsquote bei Anträgen wegen Verwaltungsunrecht. Hier wurden in Brandenburg bis zum Jahresende 2011 von 4 918 Anträgen lediglich 557 positiv beschieden und 2 699 abgelehnt. Unter dem Punkt „sonstige Erledigungen“ verzeichnet die brandenburgische Statistik 1 483 Anträge, noch unbearbeitet waren 179.92

90 Angaben nach Jörg Siegmund, Brandenburgs Umgang mit ehemals politisch Verfolgten und Benachteiligten im Vergleich mit anderen neuen Ländern. Gutachten für die Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von Folgen der SED-Diktatur und des Übergang in einen demokratischen Rechtsstaat im Land Brandenburg, 2011, S. 27. 91 Bericht der Bundesregierung zum Stand der Aufarbeitung der SED-Diktatur (BT Drs. 17/12115 vom 16.1.2013), S. 32. Eine detaillierte Aufschlüsselung der Entscheidungen bei Anträgen nach dem BerRehaG für die Jahre 1995 bis 2012 findet sich in der Bundestags-Drucksache 17/12304, S. 56. 92 Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage Nr. 16 der Fraktion der CDU vom 18.4.2012 (Landtag Brandenburg Drs. 5/5136), S. 13. Von 15 956 Anträgen nach dem BerRehaG waren zum Jahresende 2011 8 007 positiv entschieden und 3 800 abgelehnt; weiterhin gab es 3 138 sonstige Erledigungen und 1 021 offene Anträge.

125,53

5 605 6 804 9 123 10 985 12 220 13 284 14 081 14 917 15 449 15 998 16 499 16 606 16 909

2000

2001

2002*

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

140,79

140,88

142,30

145,81

145,16

146,59

149,34

151,39

154,10

156,20

177,50

99,68

93 Auskunft der Deutschen Rentenversicherung Bund an den Verfasser vom 9.7.2013. Quelle: Statistik der Deutschen Rentenversicherung, verschiedene Jahrgänge.

* Unterschiedsbetrag korrigiert.

104,85

5 120

1999

81,86

4 098

1998

Unterschiedsbetrag (in Euro monatlich)

insgesamt (Anzahl)

Rentenbestand am 31.12. des Jahres

28,567

28,073

28,174

27,992

26,911

26,240

25,234

24,133

22,597

20,590

19,432

10,249

7,052

6,124

4,025

Rentenausgaben (Gesamtbetrag in Mio. Euro/Jahr)

Tabelle 2: Renten mit Rentenerhöhung nach dem 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz wegen beruflicher Rehabilitierung (1998–2012)93

152 Clemens Vollnhals

23 788

160 988

Thüringen*

gesamt

154 110

24 681

21 272

51 667

16 712

20 614

19 164

Erledigungen

76 176

16 212

11 600

23 274

7 119

9 576

8 395

Anerkennungen

45 633

3 706

4 966

21 578

4 768

4 329

6 286

davon Ablehnungen

32 302

4 763

4 706

6 815

4 826

6 709

4 483

sonstige Erledigungen

95,7

103,8

96,3

92,7

97,3

94,7

93,8

Erledigungsquote (in Prozent)

49,4

65,7

54,5

45,0

42,6

46,5

43,8

Anerkennungsquote (in Prozent)

94 Angaben nach Siegmund, Brandenburgs Umgang, S. 24.

* In Thüringen können mehrere Bescheide je Antrag ergehen, daher übersteigt die Anzahl der Erledigungen die Anzahl der Anträge. Hieraus resultiert die – statistisch inhaltsleere – Erledigungsquote von über 100 Prozent.

22 079

55 745

17 177

SachsenAnhalt

Sachsen

MecklenburgVorpommern

21 776

20 423

Brandenburg

Berlin

Anträge

Land

Tabelle 3: Verwaltungsrechtliche und berufliche Rehabilitierungsverfahren (gemeinsam; 1994–31.5.2010)94

Deutschland nach 1989

153

154

Clemens Vollnhals

Leistungen der gesetzlichen Versicherungsträger für den Ausgleich von Rentennachteilen gemäß dem 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz erhielten im Jahr 2011 16 606 Personen, wobei der zusätzliche Betrag durchschnittlich 140 Euro im Monat betrug. Bei den Versicherungsträgern summierten sich diese Ausgaben auf rund 28 Millionen Euro. Eine detaillierte Aufschlüsselung für die Jahre 1998 bis 2012 gibt die nachfolgende Statistik.

Resümee Resümierend lässt sich festhalten, dass die strafrechtliche Rehabilitierung relativ zügig und zumeist zur Zufriedenheit der Opfer verlaufen ist.95 Das gilt mit Abstrichen auch für die berufliche Rehabilitierung, in deren Mittelpunkt der Ausgleich von verfolgungsbedingten Rentennachteilen steht. Mängel in der Gesetzgebung und im Vollzug gab (und gibt) es vor allem bei der verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung. Probleme bereitet bis heute die Anerkennung verfolgungsbedingter Gesundheitsschäden, insbesondere von posttraumatischen Belastungsstörungen, unter denen viele Opfer leiden.96 So wurden beispielsweise bis 2009 in Thüringen von 993 Anträgen nach dem Bundesversorgungsgesetz 220 positiv beschieden, in Mecklenburg-Vorpommern von 825 jedoch nur 90.97 Der Jahresbericht 2009 des Berliner Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen führt hierzu aus: „Noch immer klagt ein Großteil der Betroffenen über teils unsensible Befragungen bei der ärztlichen Begutachtung. […] Die Kriterien, nach denen über die Anträge entschieden wird, sind für die Antragsteller undurchsichtig und ihnen auch nur schwer zu vermitteln.“98 Mehr als verständlich sind die Klagen der Opfer und ihrer Verbände über die oft sehr hartherzigen Entscheidungen des Gesetzgebers, der vor allem die finanziellen Belastungen im Blick hatte und trotz vollmundiger Rhetorik die berechtigten Anliegen der Opfer nur zögerlich und unzureichend erfüllte. Schon die Verabschiedung der ersten beiden SED-Unrechtsbereinigungsgesetze, die einen

95 In der Thüringer Untersuchung äußerten sich 2007 zwei Drittel der Befragten mit dem Prozess der strafrechtlichen Rehabilitierung zufrieden bis sehr zufrieden; bei den Folgeleistungen (Entschädigung und Unterstützungsleistungen) waren es weniger als die Hälfte. Vgl. Zur sozialen Lage der Opfer des SED-Regimes in Thüringen, S. 112 f. 96 Vgl. neben Plogstedt, Knastmauke, S. 319–384; Harald J. Freyberger/Jörg Frommer/ Andreas Maercker/Regina Steil, Gesundheitliche Folgen politischer Haft in der DDR. Expertengutachten, Dresden 2003; Stefan Trobisch-Lütge, Das späte Gift. Folgen politischer Traumatisierung in der DDR und ihre Behandlung, Gießen 2004; Ruth Ebbinghaus, Die Begutachtung psychisch reaktiver Traumafolgen nach politischer Verfolgung in der ehemaligen SBZ/DDR, Erfurt 2008. 97 Angaben nach Sonja Steffen (SPD) in der Bundestagsdebatte vom 7.10.2010 (BT Sten. Berichte, 17. WP, 65. Sitzung vom 7.10.2010, S. 6881). 98 16. Tätigkeitsbericht des Berliner Landesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit der ehemaligen DDR. Jahresbericht 2009, Berlin 2010, S. 9.

Deutschland nach 1989

155

Auftrag des Einigungsvertrags von 1990 darstellten, ließ mehrere Jahre auf sich warten. Noch wesentlich länger sollte es dauern, bis im Jahr 2007 bedürftige politische Häftlinge eine monatliche Zusatzrente von maximal 250 Euro bekamen, die zum Jahresanfang 2015 erstmals um 20 Prozent erhöht werden soll.99 Was der Zeitfaktor für die zumeist im Rentenalter stehenden Opfer der SED-Diktatur bedeutet, illustriert auf makabre Weise eine sächsische Statistik. Danach hatten bis zum 24. August 2012 14 270 Personen die Opferrente beantragt, von denen aber 1 135 während der Bearbeitungsdauer verstorben sind.100 Zwischen der pathosvollen Sonntagsrhetorik aller Parteien zum 17. Juni 1953, dass der mutige Einsatz für Freiheit und Demokratie gewürdigt werden müsse, und dem bürokratischen Vollzug vor Ort liegen Welten, sodass sich die Opfer der SED-Diktatur auch in der Bundesrepublik häufig ungerecht behandelt, nicht selten ein zweites Mal betrogen fühlen. So forderte im März 2013 der Vorsitzende der UOKG, des Dachverbandes der Opferverbände: „Die vielen Baustellen in der Opferentschädigung müssen endlich angepackt werden! Es darf nicht sein, dass nach wie vor unzählige Opfer aus der Gesetzgebung heraus­fallen. Es darf nicht sein, dass die Opfer langjährigen, zermürbenden Anerkennungsverfahren ausgesetzt sind, nach deren Ende sie häufig kränker als zuvor sind.“101 Es ist vor allem die Diskrepanz zwischen den hohen Zusatzrenten für Systemträger der SED-Diktatur und der erst spät eingeführten Opferrente, die das Gerechtigkeitsgefühl massiv verletzt. Genugtuung hätte den Opfern nur ein entschiedeneres Handeln der Bundesregierung in den frühen 1990er-Jahren verschaffen können.

 99 Focus-Online vom 16.6.2014, SED-Opferrente steigt um 20 Prozent – Erstmals seit 2007. 100 OAZ-Online vom 28.8.2012, SED-Opferrente für knapp 10 000 Sachsen – 30 Millionen Euro jährlich ausgezahlt. Bewilligt wurden 9 935 Anträge, in rund 1 700 Fällen wurde der Antrag wegen dem Überschreiten der Einkommensgrenzen, dem Vorliegen bestimmter Vorstrafen oder einer Stasi-Mitarbeit abgelehnt, in rund weiteren 1 700 Fällen war ein anderes Bundesland für den Antrag zuständig. 101 Presseerklärung Rainer Wagners vom 22.3.2013 (http://www.uokg.de/cms/attachments/UOKG-PM zur Bundestagsdebatte ueber SED-Aufarbeitung.pdf; 5.5.2013).

Vergangenheitsaufarbeitung in Tschechien Karel Vodička

Der Kommunismus in der Tschechoslowakei Die Zeit der kommunistischen Diktatur ist mit der Existenz der Tschechoslowakischen Republik verbunden, die am 31. Dezember 1992 aufhörte zu existieren. Entsprechend gilt es, hinsichtlich der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit zu differenzieren zwischen Maßnahmen, welche noch von der ehemaligen Tschechoslowakei (der ČSSR1 bzw. ab 1990 der ČSFR2) eingeleitet wurden, und solchen, die in der selbstständigen Tschechischen Repu­blik nach dem 1. Januar 1993 getroffen worden sind. Die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei genoss nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – im Unterschied zur Situation in vielen ihrer Nachbarstaaten – die Zustimmung weiter Teile der Bevölkerung. Das traumatische Erlebnis von München 1938, als die westlichen Mächte Frankreich und Großbritannien die Tschechoslowakei bei ihren Verhandlungen mit Hitler-Deutschland im Stich ließen (so zumindest empfanden es die Tschechen) und der Abtretung der sudetendeutschen Gebiete zustimmten, hatte das Vertrauen der Menschen in die westlichen Demokratien nachhaltig untergraben. Nach der erzwungenen Abtretung der sudetendeutschen Gebiete folgten 1939 der Einmarsch der Wehrmacht und die anschließende Okkupation Böhmens und Mährens durch HitlerDeutschland. Die Tschechen sahen sich in ihrer nationalen Existenz gefährdet. Die böhmischen Länder ebenso wie die Slowakei wurden dann zu Ende des Zweiten Weltkriegs 1944/1945 von der Roten Armee befreit. Die Befreiung durch die sowjetische Armee sowie der Umstand, dass diese danach wieder das Land verlassen hatte, waren wesentliche Faktoren, welche sowohl die Ostbindung der Tschechoslowakei als auch die Unterstützung der Kommunistischen Partei in der Bevölkerung ganz substanziell verstärkt hatten.

1 2

Československá Socialistická Republika (Tschechoslowakische Sozialistische Republik), offizielle Bezeichnung von 1960 bis 1990. Česká a Slovenská Federativní Republika (Tschechische und Slowakische Föderative Republik), offizielle Bezeichnung von 1990 bis 1992. Die Slowakei erklärte ihre Souveränität am 17.7.1992, am 1.1.1993 wurde die Trennung von Tschechien staatsrechtlich vollzogen. Vgl. Rüdiger Kipke/Karel Vodička, Abschied von der Tschechoslowakei. Ursachen und Folgen der tschechisch-slowakischen Trennung, Köln 1993.

158

Karel Vodička

Bei den weitgehend regulären Parlamentswahlen des Jahres 1946 avancierte die Kommunistische Partei mit 38 Prozent der Wählerstimmen zur stärksten Kraft. In den böhmischen Ländern gewannen die Kommunisten sogar 40 Prozent der Wählerstimmen, in der Slowakei waren es erheblich weniger. Nach ihrer Machtübernahme im Jahre 1948 und der Einverleibung der Sozialdemokratischen Partei hatte die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei rund 2,6 Millionen Mitglieder; sie wurde zu einer Massenpartei. Auch nach den späteren Säuberungen bewahrte die KP grundsätzlich ihren Massencharakter, sie umfasste stets rund 1,5 Millionen Mitglieder, was einem Anteil von ca. 10 Prozent an der Gesamtbevölkerung der Tschechoslowakei entsprach.

Klassifikation der kommunistischen Verbrechen Zu Unrecht verurteilte Personen Unmittelbar nach der Machtübernahme durch die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei im Februar 1948 wandte das kommunistische Regime alle Mittel zur endgültigen Befestigung seines Machtmonopols an. Alle grundlegenden Menschenrechte, insbesondere die politischen Rechte, wurden in eklatanter Weise verletzt. Tausende von Personen wurden bei fingierten Gerichtsprozessen systematisch ihrer persönlichen Freiheit beraubt – Frauen und Männer, deren einziges Vergehen in ihrer politischen und/oder religiösen Überzeugung bzw. Zugehörigkeit bestanden hatte. Die Gerichtsprozesse wurden von der Staatssicherheit gemäß den Anweisungen der Spitzenfunktionäre der Kommunistischen Partei organisiert. In den Verhören wurden Folter sowie grobe physische und psychische Gewalt angewandt. Viele der Verhafteten bekannten sich angesichts solcher Verhörmethoden auch zu schwerwiegenden Straftaten wie Hochverrat, Spionage oder Sabotage; Straftaten, die sie tatsächlich nie verübt hatten. Die Gefängnisstrafe wurde in unmenschlichen Verhältnissen durchgeführt, den Gefangenen wurde Sklavenarbeit abverlangt und ihre menschliche Würde schwerwiegend verletzt. Viele der Verurteilten, so sie den zwangsweisen Aufenthalt in der Vollzugsanstalt überhaupt überlebt hatten, lebten nach der Entlassung aus dem Gefängnis bis an ihr Lebensende am Rande der Gesellschaft. Häufig starben sie nur kurze Zeit später an den Folgen ihrer Haft.3 In den Archivunterlagen des Politbüros der Kommunistischen Partei wird die Zahl der Verurteilten wegen „staatsfeindlicher Straftätigkeit“ allein für die Jahre 1948 bis 1952 mit fast 27 000 angegeben.4 In den 1950er-Jahren, als die Maschinerie des totalitären Staats am aggressivsten war, wurden diese Opfer

3 4

Miroslav Lehký, Klasifikace zločinů spáchaných v letech 1948–1989 a jejich stíhání po roce 1990, S. 275 f. (http://www.ustrcr.cz/data/pdf/publikace/sborniky/crime/ miroslav-­lehky.pdf; zuletzt 15.5.2013). Ebd., S. 275.

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der kommunistischen Repression meist zu hohen Freiheitsstrafen – zwischen 15 Jahren und lebenslänglich – sowie zum Verlust ihres persönlichen Eigentums und zur Aberkennung ihrer bürgerlichen und politischen Rechte verurteilt. Im gleichen Zeitraum wurden aus politischen Gründen insgesamt 248 Personen hingerichtet, unter ihnen auch eine Frau.5 In den 1960er-Jahren wurde das kommunistische Regime zunehmend liberaler, es kam kaum noch zur strafrechtlichen Verfolgung politisch unbequemer Personen. Dies sollte sich jedoch mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts im August 1968 und der Wiederetablierung eines orthodox-kommunistischen Regimes schlagartig ändern. Zwar verhängte die infolge des Einmarsches neuerlich etablierte kommunistische Diktatur Freiheitsstrafen zurückhaltender als noch in der stalinistischen Ära, gänzlich verzichten konnte sie auf dieses Repressionsinstrument indes nie. Während der gesamten sogenannten Normalisierungsperiode 1969 bis 1989 stieg die Zahl der zu Unrecht Verurteilten wieder an. Mehr als 110 000 Personen wurden so zwischen 1969 und 1989 wegen diverser „Straftaten gegen die Republik“ zu Unrecht verurteilt.6 Diese für die posttotalitäre Periode unglaublich hohe Anzahl betraf in ihrer großen Mehrheit – mehr als 105 000 – allerdings die Verurteilungen nach § 109 des tschechoslowakischen Strafgesetzes, für die „Straftat der Republikflucht“.7 Die betroffenen „Straftäter“ wurden – zu ihrem Glück – in der Regel in Abwesenheit verurteilt. Sie beantragten politisches Asyl: am häufigsten in der Bundesrepublik Deutschland, in der Schweiz und in den USA. Das Vermögen, das die Republikflüchtlinge in ihrer Heimat zurückließen, fiel jedoch dem Staat zu: Es wurde im Einklang mit den Urteilen der Strafgerichte wegen „Republikflucht“ beschlagnahmt.8 Insgesamt wurden in der Tschechoslowakei aus politischen Gründen zwischen 1948 und 1989 mehr als 257 000 Personen zu Unrecht verurteilt. Zählt man noch die Zahl derjenigen hinzu, die von Militärtribunalen abgeurteilt wurden, so ergibt sich eine Gesamtzahl von über 267 000 zu Unrecht Verurteilten. Rund 110 000 traf das Urteil „Republikflucht“, die restlichen 157 000 verteilen sich auf andere politisch begründete „Straftaten“.9 Politische Morde Die tschechoslowakische Staatssicherheit organisierte politische Morde von Personen, die für das Regime unbequem waren, sowohl in der Tschechoslowakei als auch im Ausland. Dabei beschränkte sie sich mitnichten nur auf die 5 6 7 8 9

Ebd., S. 275. Jaroslav Cuhra, Die Rehabilitierung der Opfer und Gegner des Kommunismus in der Tschechoslowakei. In: Horch und Guck, 39/2002, S. 30–34, hier 31. Gesetz Nr. 140/1961 vom 29.11.1961, Strafgesetz, § 109 Trestný čin opuštění republiky. Vgl. ebd.; Lehký, Klasifikace, S. 279. Cuhra, Rehabilitierung, S. 32; Lehký, Klasifikace, S. 275 f.

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­ 950er-Jahre. Noch in den 1970er- und 1980er-Jahren wurden vier Geistliche 1 unter bis heute ungeklärten Umständen getötet. Die offiziellen Polizeiermittlungen aus der damaligen Zeit qualifizierten die Fälle als Selbstmord.10 Noch 1988, mithin kurz vor der „Samtenen Revolution“, erlag der deutschstämmige tschechische Dissident Pavel Wonka im Gefängnis den Folterungen seiner Peiniger. Seine „Schuld“: Er hatte sich bei den Parlamentswahlen 1986, als aus der Sowjetunion bereits der Ruf nach Glasnost und Perestroika erklang, als unabhängiger Kandidat zur Wahl gestellt. Sein letzter Brief, überaus traurig und dramatisch, liegt dem Verfasser dieses Aufsatzes vor. Umerziehungslager Eine weitere Form des kommunistischen Terrors stellten die Arbeitslager dar. In den unmenschlichen Lebensbedingungen der Arbeitslager und Uranbergwerken kamen mindestens 4 500 Personen ums Leben.11 Eine genaue Gesamtzahl der Opfer in den Straflagern ist nicht bekannt. Die Obergrenze der Todesopfer wird auf ca. 8 000 Personen geschätzt. Schließlich muss in diesem Zusammenhang auch die Gewaltanwendung gegen weibliche Insassen in den Gefängnissen und Arbeitslagern erwähnt werden sowie die Schicksale von deren ungeborener Kinder nebst der – wenn diese zur Welt kamen sind – absolut unzureichenden Vorsorge und Betreuung von Neugeborenen. Liquidation der privaten Landwirtschaft Eine weitere Facette des kommunistischen Unrechtsregimes bildete die gewaltsame Liquidation der privaten Landwirtschaft. Im Zeitraum von 1951 bis 1955 verlief die sogenannte „Aktion K“ (in Ableitung des Worts kulaci – Kulaken, also Großbauern), welche de facto die gewaltsame Liquidierung einer ganzen gesellschaftlichen Gruppe, nämlich der privaten Bauern, darstellte. Aufgrund der bisher ausgewerteten Archivunterlagen betraf diese Aktion, die eine umfassende Enteignung, die Verhaftung und Verurteilung zahlreicher Personen sowie die anschließende, oftmals gewaltsame Vertreibung auch der Angehörigen umfasste, mehr als 2 000 Familien. In den Dokumenten des KPTsch-Politbüros werden sogar 3 000 Familien erwähnt. Deportiert wurden auch schwangere Frauen, Kinder und Alte. Gerade für viele ältere Menschen bedeutete dies oftmals den Tod, erholten sie sich doch von den Strapazen der Deportation nicht mehr. Einigen Familien wurden sogar die Kinder weggenommen und in Kinderheime eingewiesen; der Zugang zu einer angemessenen Bildung wurde diesen

10 Lehký, Klasifikace, S. 275. 11 Ebd.

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Kindern, die als Kinder von Klassenfeinden eingestuft wurden, später verwehrt. Die ­Liquidierung der privaten Bauernschaft wurde unter Mitwirkung der Staatssicherheit durch die örtlichen Verwaltungsorgane in den Dörfern und in den Bezirken durchgeführt; die Leitung oblag den Ministerien der Staatssicherheit und des Innern, alles gemäß den Anweisungen der kommunistischen Parteiführung.12 Grenztote Zu den gravierendsten Verbrechen der kommunistischen Diktatur gehört die Tötung von mehr als 300 Personen entlang der Staatsgrenze durch tschecho­ slowakische Grenzsoldaten in den Jahren 1948 bis 1989.13 Davon wurden 145 Frauen und Männer erschossen, 96 durch Stromschläge getötet, 11 ertranken, 16 verübten aus Angst vor ihrer Festnahme Selbstmord.14 Zu den Opfern zählen nicht nur tschechoslowakische Staatsbürger, sondern auch Staatsangehörige der mittel- und osteuropäischen Staaten, die versucht hatten, über die Tschecho­ slowakei in den Westen zu flüchten. Nicht zuletzt gefährdete der Schusswaffen­ einsatz an der Grenze auch die Gesundheit und das Leben bundesdeutscher und österreichischer Staatsangehöriger – einige der Grenztoten waren Bürger der westlichen Anrainerstaaten. Dies stellte eine Verletzung internationalen Rechts dar.15 Doch gab es auch aufseiten der Grenzwache zahlreiche getötete Personen. So kamen zwischen 1948 und 1989 mindestens 584 Grenzsoldaten ums Leben.16 Davon begingen 185 Selbstmord, 243 starben infolge verschiedener Unfälle und Zwischenfälle, 39 aufgrund von Schussverletzungen.17 Damit war die Zahl der getöteten Grenzsoldaten fast dreimal so groß wie die Zahl der von der Grenzwache Getöteten selbst, also jener, die bei dem Versuch, die Grenze zu überqueren, erschossen worden waren. Die hohe Zahl der begangenen Selbstmorde von Grenzsoldaten legt nahe, dass der Dienst an der Grenze, welcher ständig den potenziellen Einsatz der Schusswaffe gegen Unschuldige beinhaltete, von vielen Soldaten nur mit äußerstem Unwillen – zwangsweise – ausgeübt wurde.

12 Lehký, Klasifikace, S. 276. 13 Úřad dokumentace a vyšetřování zločinů komunismu, Oběti komunistického režimu (http://www.policie.cz/clanek/obeti-komunistickeho-rezimu.aspx; zuletzt 17.6.2013). 14 Martin Pulec, Die Bewachung der tschechoslowakischen Westgrenze zwischen 1945 und 1989. In: Pavel Žáček/Bernd Faulenbach/Ulrich Mählert (Hg.) Die Tschechoslowakei 1945/48 bis 1989, Leipzig 2008, S. 131–152, hier 146. 15 Lehký, Klasifikace, S. 277. 16 Vgl. Úřad dokumentace a vyšetřování zločinů komunismu, ebd. 17 Ebd.

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Opferverbände – Konföderation der politischen Häftlinge Die Konföderation der politischen Häftlinge der Tschechischen Republik (Konfederace politických vězňů České republiky) ist die einzige Organisation, die die ehemaligen politischen Häftlinge des kommunistischen Regimes vereinigt und organisiert. Die Konföderation besteht im Allgemeinen aus Bürgern Tschechiens, die nach 1948 dem kommunistischen Terror ausgesetzt waren, wozu insbesondere Hinrichtungen, Folter, langjährige Gefängnisstrafen und Konfiskationen von Eigentum, aber auch gesellschaftliche und soziale Diskriminierung gehören. Außerdem können solche Personen Mitglieder der Konföderation werden, die aus nachweislich politischen Gründen die Tschechoslowakei verlassen mussten und politisches Asyl in einem anderen Land beantragten. Darüber hinaus sind in der Konföderation Menschen tätig, die sich im Ausland bewiesenermaßen im Kampf gegen das kommunistische Regime engagiert haben. Mitglieder sind schließlich auch diejenigen, die durch sogenannte Volksgerichte für vorgebliche Straftaten aus dem wirtschaftlichen oder landwirtschaftlichen Bereich verhaftet und verurteilt worden sind und die dann gemäß dem Gesetz 119/1990 rehabilitiert wurden. Von den ursprünglich 450 000 Betroffenen leben heute nur noch etwa 8 000.18 Die Konföderation der politischen Häftlinge setzte sich nach der Friedlichen Revolution 1989 mit Nachdruck für ein Verbot der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei bzw. deren späterer Nachfolgerin, der Kommunistischen Partei Böhmens und Mährens, ein. Diese Initiativen verfehlten indessen ihr Ziel. Ein anderes Vorhaben wurde dagegen von Erfolg gekrönt: Gleichzeitig zu ihren Verbotsbemühungen setzte sich die Konföderation nämlich auch für die Verabschiedung eines neuen Gesetzes zur Rehabilitierung der Opfer ein – und dies sollte mit dem Gesetz 119/1990 auch gelingen. Das Gesetz 119/1990 vergrößerte den Kreis der rehabilitierten Personen erheblich; insgesamt war es gelungen, in relativ kurzer Zeit rund 275 000 zu Unrecht Verurteilte zu rehabilitieren.19 Die Konföderation der politischen Häftlinge setzt sich nach wie vor nachhaltig dafür ein, dass der Opfer der kommunistischen Gewalt entsprechend gedacht wird und dass die jungen Menschen sich mit den historischen Tatsachen, mit der kommunistischen Gewaltanwendung und deren Opfern auseinandersetzen können, damit diese Ereignisse nicht in Vergessenheit geraten. Als organisierte Gruppe stellt die Konföderation der politischen Häftlinge heute in der Tschechischen Republik keine alternative politische Kraft dar. In der Spitzenpolitik hat sich nur ein geringer Teil von ihnen durchgesetzt – in der Mehrzahl ehemalige Häftlinge aus der Zeit nach dem August 1968. Dabei handelt es sich jedoch keineswegs um jene gezielte Diskriminierung, über die sich die politischen Gefangenen der 1950er-Jahre Anfang der 1990er-Jahre be-

18 Konfederace politických vězňů (http://www.kpv-cr.cz/?pid=116; zuletzt 21.5.2013). 19 Cuhra, Rehabilitierung, S. 32; Lehký, Klasifikace, S. 278.

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schwert haben. Vielmehr lag das Durchschnittsalter der in der Konföderation vereinigten 15 000 Mitglieder (von ca. 150 000 bis 1968 Verurteilten) schon Mitte der 1990er-Jahre bei rund 70 Jahren. Die Konföderation, geschwächt von internen Streitigkeiten – mehrere Gruppen haben sich zwischenzeitlich abgespalten –, engagiert sich heute nur noch in Fragen, die sie grundsätzlich betreffen. An erster Stelle ist es die wiederholt aufgestellte, eher auf moralische Verurteilung abzielende Forderung nach Bestrafung konkreter Schuldiger für die Justizmorde und weitere Verbrechen. Ansonsten beschränkt sich ihre Tätigkeit auf das Erinnern an das Leid der Opfer und deren Gedenken sowie auf die Warnung der Öffentlichkeit vor dem weiterhin bestehenden kommunistischen Einfluss.20

Juristische Rehabilitierung der Opfer Die Ära des Kommunismus wird von der tschechischen Bevölkerung im Rückblick als eine nationale Katastrophe empfunden, als ein zivilisatorischer Regress. Die Tschechoslowakei, die vor dem Zweiten Weltkrieg zu den weltweit führenden Industrienationen gehört hatte, hat ihre früheren Modernisierungsvorteile weitgehend eingebüßt. Der allgemein vorherrschende Konsens in der Bevölkerung nach der Friedlichen Revolution in der Verurteilung des kommunistischen Regimes ermöglichte eine relativ zügige und systematische Aufarbeitung der Diktatur. Das Gesetz Nr. 82/1968 über gerichtliche Rehabilitierung Das erste Rehabilitierungsgesetz wurde bereits im Jahre 1968 von der damals noch einheitlichen Tschechoslowakei zur Zeit des „Prager Frühlings“ verabschiedet. Im Juni 1968 hatte das damalige Parlament, die Tschechoslowakische Nationalversammlung, dem „Gesetz Nr. 82/1968 über gerichtliche ­Rehabilitierung“21 zugestimmt, welches die gerichtliche Überprüfung der politischen Strafrechtsurteile ermöglichen und den zu Unrecht Verurteilten eine gesellschaftliche Rehabilitierung und angemessene materielle Entschädigung gewähren sollte. In der nun angebrochenen liberaleren Zeit des „Prager Frühlings“, als das Thema der politischen Unterdrückung und der Rechtsbeugung in der stalinistischen Ära immer stärkeren Eingang in die Publizistik und politische Literatur fand, war sich die reformorientierte Führung der Kommunistischen Partei bewusst, dass das Vertrauen der Öffentlichkeit in die nun angestrebte ­Reformpolitik, für welche die Bürger ebenfalls enorme Sympathien zeigten, auch mit der Lösung

20 Konfederace politických vězňů, zločiny komunismu (http://www.kpv-cr.cz/?pid=125; zuletzt 21.5.2013). 21 Zákon 82/1968 Sb. o soudní rehabilitaci.

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eben dieser Frage verbunden war. Zwar enthielt das Gesetz über gerichtliche Rehabilitierung eine Reihe von Kompromissformulierungen, welche die kommunistische Einparteienherrschaft mit dem nunmehr propagierten „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ verbinden sollten. Gemessen an den prekären Verhältnissen in den sonstigen kommunistischen Diktaturen der damaligen Zeit handelte es sich jedoch um einen mutigen Schritt nach vorn. Das „Gesetz Nr. 82/1968 über gerichtliche Rehabilitierung“ sollte mithilfe der dazu eingerichteten Rehabilitierungssenate der Gerichte realisiert werden. Der jeweilige Geschädigte konnte bei den Gerichten einen Antrag auf Überprüfung seines Falles stellen. Obwohl das Gesetz noch vor dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts verabschiedet wurde, wurde es praktisch erst danach angewandt. Daraus ergab sich ein einschneidendes Problem: Das sich nun etablierende kommunistisch-orthodoxe prosowjetische „Normalisierungsregime“, welches paradoxerweise durch den ehemaligen politischen Häftling Gustáv Husák in der Funktion des KP-Parteichefs repräsentiert wurde, behandelte dieses Gesetz mit äußerster Missgunst. Bereits im Juni 1970 wurde das Gesetz „novelliert“, das heißt im Wesentlichen annulliert. Obwohl de jure die Möglichkeit einer Wiedergutmachung auch weiterhin bestand, wurde sie de facto nur noch von einigen wenigen Einzelpersonen erreicht; eine ganze Reihe von Rehabilitierungen aus dem vormaligen Zeitraum wurde hingegen wieder aufgehoben. Die Gesamtzahl der in vollem Umfang Rehabilitierten lag danach bei etwa 1 500 Personen.22 Das Gesetz Nr. 119/1990 über die gerichtliche Rehabilitierung Ein neuer Anlauf zur Rehabilitierung der zu Unrecht Verurteilten fand unmittelbar nach der „Samtenen Revolution“ 1989 in der Tschechoslowakei statt. Bereits fünf Monate nach dem Umbruch, im April 1990, verabschiedete die Föderalversammlung der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik das „Gesetz Nr. 119/1990 über die gerichtliche Rehabilitierung“.23 Das Brisante an diesem Legislativakt war, dass das Gesetz verabschiedet wurde, noch bevor die ersten freien Parlamentswahlen stattgefunden hatten, zu einer Zeit also, als in der Föderalversammlung noch die Abgeordneten der Kommunistischen Partei über eine überwältigende Mehrheit verfügten. Es waren dieselben KP-Abgeordneten, die noch vor der Revolution von der Kommunistischen Partei in der Föderalversammlung eingesetzt worden waren. Und es war im Wesentlichen dasselbe Abgeordnetenhaus, das nur ein Jahr zuvor im

22 Cuhra, Rehabilitierung, S. 31. 23 Gesetz Nr. 119/1990 vom 23.4.1990 über die gerichtliche Rehabilitierung, i. d. F. 47/1991, 633/1992, 198/1993.

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Schnellverfahren ein Notstandsgesetz24 verabschiedet hatte, nach welchem im Frühjahr 1989 die Demonstranten gegen das kommunistische Regime und die Aktivisten der unabhängigen Initiativen, die damals wie Pilze aus dem Boden schossen, in gerichtlichen Schnellverfahren verurteilt werden konnten. Und das von der personellen Besetzung selbe Parlament verabschiedete nun – kaum ein Jahr später – das „Gesetz Nr. 119/1990 über die gerichtliche Rehabilitierung“ der Opfer der kommunistischen Diktatur.25 Die kommunistischen Abgeordneten waren es allerdings gewöhnt, die ihnen vorgelegten Gesetze einfach zu billigen – ohne weiter darüber nachzudenken. Ein tschechisches Sprichwort besagt: „Zvyk je železná košile.“ Also in etwa: „Die Gewohnheit ist ein eisernes Hemd.“ Das beobachtete Stimmverhalten der kommunistischen Abgeordneten liefert ein anschauliches Beispiel dafür, welchen Typus Parlamentarier der anhaltende Drill der Einparteienmaschinerie hervorbrachte: ohne eigenen Willen, dafür parteigehorsam bis zum Letzten. Das Tempo, mit dem nach der Friedlichen Revolution von 1989 das erwähnte Rehabilitierungsgesetz Nr. 119/1990 vorbereitet und angenommen wurde, spiegelte indessen vor allem die neue Stimmung in der Gesellschaft wider und stellte eine Anerkennung der Leiden von Zehntausenden von Opfern kommunistischer Gewaltherrschaft dar. Laut § 1 war es der Zweck des Rehabilitierungsgesetzes, die Gerichtsurteile für diejenigen Taten aufzuheben, die – konträr zu den Grundprinzipien einer demokratischen Gesellschaft – im Kommunismus als Straftaten bezeichnet worden waren. Das Gesetz sollte eine schnelle Überprüfung der fraglichen Gerichtsfälle ermöglichen und den zu Unrecht verurteilten Personen eine gesellschaftliche Wiedergutmachung nebst angemessener materieller Entschädigung gewähren. Das Gesetz erwies sich als hoch wirksam. Es hob en bloc – also ohne gerichtliche Einzelprüfung – und mit Wirkung ex tunc all diejenigen Gerichtsurteile auf, die in der Zeit der Unfreiheit von 1948 bis 1989 für bestimmte Straftaten verhängt worden waren. Es handelte sich um die im Gesetz Nr. 119/1990 explizit aufgezählten politisch konstruierten „Straftaten“, die durch mehrere Strafgesetze aus der kommunistischen Zeit26 eingeführt worden waren, darunter „Straftaten“ wie Hochverrat, staatsfeindliche Vereinigung, Verleumdung der Republik, Republikflucht, Spionage, Sabotage und ähnliches. Die zuständigen Strafgerichte waren verpflichtet, alle diese sogenannten Straftaten ex officio aufzuheben. Die Rehabilitierten konnten nach dem Erhalt des ­Rehabilitierungsurteils, das

24 Gesetzliche Maßnahme des Präsidiums der Föderalversammlung der ČSSR vom 14.2.1989, mit der die Bestimmungen des Strafgesetzes und des Ordnungswidrigkeits­ gesetzes, die gegen die Oppositionellen angewandt wurden, erweitert und verschärft worden waren. 25 Stenoprotokol z 23. dubna 1990, Společná česko-slovenská digitální parlamentní kni­ hovna (http://www.psp.cz/eknih/1986fs/slsn/stenprot/027schuz/s027049.htm; zuletzt 13.4.2013). 26 Gesetz Nr. 231/1948, 86/1950, 140/1961, 150/1969, 99/1969.

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ihnen automatisch zugeschickt wurde, eine materielle ­Entschädigung beantragen. Die Entschädigungsleistungen waren verschiedener Art und umfassten alle möglichen Schäden,27 das Verfahren selbst war gebührenfrei.28 Die Rehabilitierung der zu Unrecht Verurteilten ohne juristische Einzelprüfung war ein sehr effektives Verfahren. Binnen zweier Jahre wurden bis Ende 1992 fast 260 000 Personen rehabilitiert, die in der historischen Periode der Unfreiheit 1948 bis 1989 zu Unrecht verurteilt worden waren. Die meisten der Rehabilitierten, etwa 110 000, waren zuvor von der kommunistischen Strafjustiz wegen „Republikflucht“ verurteilt worden. Weitere etwa 157 000 Rehabilitierte hatten sich andere „Straftaten“ zu Schulden kommen lassen.29 So wurde viel Unrecht wiedergutgemacht. Zugleich lieferten die statistischen Ergebnisse den Historikern auch höchst aussagekräftige Daten über das Ausmaß und die Ausrichtung der kommunistischen Repressionen.

Wiedergutmachung und Entschädigung Gesetz Nr. 198/1993 über die Rechtswidrigkeit des kommunistischen Regimes und über den Widerstand dagegen Bereits ein halbes Jahr nach der Verselbstständigung der Tschechischen Republik, im Sommer 1993, wurde das „Gesetz Nr. 198/1993 über die Rechtswidrigkeit des kommunistischen Regimes und über den Widerstand dagegen“ verabschiedet. Wie in der Präambel zutreffend festgestellt wird, tragen die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei, ihre Führung und ihre Mitglieder die Verantwortung für die Zerstörung überkommener Werte der europäischen Zivilisation, für die systematische Aushöhlung der Menschenrechte und Freiheiten, für den moralischen und wirtschaftlichen Verfall, der mit Justizverbrechen und Terror gegen Andersdenkende einherging, für die Ablösung einer funktionierenden Marktwirtschaft durch die Kommandowirtschaft, für die Außerkraftsetzung der überkommenen Grundsätze des Eigentumsrechts, für den Missbrauch der staatlich organisierten Erziehung, Bildung, Wissenschaft und Kultur zu politischen und ideologischen Zwecken sowie für die rücksichtslose Zerstörung der Natur.30 Die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei war gemäß dem Gesetz Nr. 198/1993 eine verbrecherische und verabscheuungswürdige Organisation, deren Tätigkeit auf die Unterdrückung der Menschenrechte und des demokrati-

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Gesetz Nr. 119/1990, § 23. Ebd., § 28. Angaben nach Cuhra, Rehabilitierung, S. 32; Lehký, Klasifikace, S. 288. Präambel des Gesetzes Nr. 198/1993 über die Rechtswidrigkeit des kommunistischen Regimes und über den Widerstand dagegen.

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schen Systems abzielte.31 Der Widerstand der Bürger gegen dieses Regime war somit legitim, moralisch begründet und gerecht.32 Jeder, der vom kommunistischen Regime zu Unrecht geschädigt oder verfolgt wurde, verdient demzufolge Anteilnahme und moralische Genugtuung.33 Die Regierung wurde durch das Gesetz ermächtigt, bestimmte Härten sozialer, gesundheitlicher und finanzieller Art gegenüber Gegnern des kommunistischen Regimes sowie Personen, die von dem Regime verfolgt wurden, auf dem Verordnungswege wiedergutzumachen.34 Zur Durchführung dieser Bestimmungen verabschiedete die Regierung in der Folgezeit eine Reihe von Durchführungsvorschriften, nach solchen Personen einmalige bzw. monatliche Rentenzuschläge gewährt werden konnten, die durch das kommunistische Regime geschädigt worden waren.35 Rückgabe von Privateigentum Die Eigentumsrestitutionen waren stets allerdings umstritten und schufen oft neue Gerechtigkeitslücken, die in der Folgezeit wieder mühsam korrigiert werden mussten. In der Tschechischen Republik wurde eine Reihe von Restitutions­ gesetzen erlassen, die die Wiedergutmachung kommunistischen Unrechts regelten. Die Rückgabe des Privateigentums wurde im Wesentlichen durch drei Rechtsnormen geregelt – durch das Gesetz Nr. 403/1990 zur Linderung einiger Eigentumsungerechtigkeiten (für den Zeitraum nach 1955), durch das Gesetz Nr. 87/1991 über außergerichtliche Rehabilitierung (Restitution des nichtlandwirtschaftlichen Vermögens) und das Gesetz Nr. 229/1991 über die Regelung des Besitzes von Grundstücken und sonstigen landwirtschaftlichen Flächen. Wurden Enteignungen in der Zeit der Unfreiheit, zwischen dem 25. Februar 1948 und dem 1. Januar 1990 vorgenommen, bestand für tschechoslowakische Staatsangehörige mit dauerhaftem Wohnsitz in der ČSFR bis zum 30. September 1991 die Möglichkeit, nach dem Gesetz über die außergerichtliche Rehabilitierung Nr. 87/1991, in der Fassung der späteren Vorschriften, die Rückgabe von enteignetem Besitz zu verlangen, sofern es nichtlandwirtschaftliche Flächen betraf. Für die landwirtschaftlichen Flächen sah das Gesetz Nr. 229/1991 die Möglichkeit vor, bis zum 31. Januar 1993 Restitutionsanträge zu stellen. Später wurde die Frist bis zum 1. Mai 1995 verlängert. Nach einem entsprechenden Urteil des Verfassungsgerichts wurde auch den im Ausland lebenden ­Staatsangehörigen Tschechiens ein Anspruch auf Eigentumsrückgabe eingeräumt. Gegen eine Antragsablehnung konnte bis zum 1. November 1995 geklagt werden. Bei Immobilien wurde im Falle einer faktischen oder ­juristischen

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Gesetz Nr. 198/1993, § 2. Ebd., § 3. Ebd., § 4. Ebd., § 8. Gesetze Nr. 198/1993, 51/1994, 165/1997, 102/2002.

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Unmöglichkeit der Rückgabe ein Anspruch auf finanzielle Entschädigung gewährt. Durch die Entscheidung vom 8. Juli 1998 (in der Gesetzessammlung Nr. 153/1998) des tschechischen Verfassungsgerichts wurde die Frist für die Antragstellung zur Gewährung einer finanziellen Entschädigung bis zum 8. Juli 1999 verlängert. Rückgabe des Kircheneigentums Mit den Stimmen der bürgerlichen Koalition – und gegen den erbitterten Widerstand der linken Opposition – hat das Prager Abgeordnetenhaus am 8. November 2012 das „Gesetz Nr. 428/2012 über den Vermögensausgleich mit den Kirchen und religiösen Gesellschaften“ verabschiedet.36 Damit wies das tschechische Unterhaus das suspensive Veto der zweiten Kammer des Parlaments, des von den Sozialdemokraten majorisierten Senats, zurück. Die Kirchen und Religionsgemeinschaften Tschechiens sollen dem Gesetz zufolge früheres, von den Kommunisten geraubtes Eigentum, vor allem Boden und Immobilien im Wert von etwa 75 Milliarden Kronen (rund 3 Milliarden Euro), direkt zurück­ erhalten. Geplant ist überdies eine finanzielle Entschädigung für nicht mehr restituierbare Immobilien und Grundstücke im Wert von 59 Milliarden Kronen (2,3 Milliarden Euro). Die Entschädigungssumme soll über einen Zeitraum von 30 Jahren ausgezahlt werden. Im Gegenzug will sich der Staat schrittweise aus der bisherigen Finanzierung der Kirchen zurückziehen. Derzeit bezahlt er unter anderem die Gehälter der Priester. Der Ausgleich mit den Kirchen ist ohne die Oppositionsparteien, besser gesagt gegen den erbitterten Widerstand der Opposition, ausgehandelt worden. Alle Oppositionsparteien (die Sozialdemokraten, die Partei „Öffentliche Angelegenheiten“ und die Kommunistische Partei) legten gegen das Gesetz eine Verfassungsklage beim Verfassungsgericht der Tschechischen Republik ein. Begründung: juristische Fehler, Unklarheiten und Unverhältnismäßigkeit der Entschädigung. Das Verfassungsgericht lehnte die Klagen jedoch am 3. Juni 2013 ab. Tschechien war das letzte postkommunistische Land in Mittel- und Osteuropa, das bis zum Jahre 2013 – nicht zuletzt aufgrund der anhängigen Verfassungsklage – keine gesetzliche Basis für den Ausgleich zwischen Staat und Kirche gefunden hatte. Von dem nun verabschiedeten Gesetz Nr. 428/2012 profitieren indes nicht nur die Kirchen, sondern auch Tausende Städte und Gemeinden. Mit der Regelung wird endlich binnen nächster Zeit klargestellt werden, welche Grundstücke der Kirche gehören und welche den Gemeinden. Die bisher bestehende diesbezügliche Rechtsunsicherheit behinderte häufig notwendige Investitionen in den Gemeinden, insbesondere den Bau von Häusern.

36 Zákon č. 428/2012 Sb., o majetkovém vyrovnání s církvemi a náboženskými společnostmi.

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Zugang zu Akten der Staatssicherheit (Státní bezpečnost, StB.) Im Jahre 1996 wurde den in der früheren kommunistischen Ära bespitzelten Bürgerinnen und Bürgern der Zugang zu ihren Stasi-Akten ermöglicht. Im Jahre 2002 ging das Innenministerium sogar noch einen Schritt weiter: Es veröffentlichte Verzeichnisse aller rund 75 000 inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit und beendete damit den Zustand von willkürlich zirkulierenden unseriösen Verzeichnissen, die seit 1992 im Umlauf waren. Ferner genießt jeder Bürger einen nahezu uneingeschränkten Zugang zu den Akten der Staatssicherheit; die Einsicht kann im Archiv der Sicherheitskräfte (Ústav pro studium totalitních režimů – Archiv bezpečnostních složek) in Prag beantragt werden. Das gilt auch für den Fall, dass man sich über andere Personen informieren will. Die Spitzelberichte werden unkommentiert der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, die Beurteilung des Wahrheitsgehaltes der Akten bleibt dem jeweiligen Leser überlassen. Nachdem interessierte Personen fremde Akten ins Internet gestellt hatten, um gezielt persönliche Rivalitäten auszufechten, erhoben einige bekannte Historiker und ehemalige Dissidenten im November 2005 Proteste gegen solch öffentlich gemachte Denunziationen. Präsident Václav Havel sprach von einer bizarren „Reality Show“. Schließlich hatten bis zum Jahre 2006 mehr als 750 Klagen von Bürgern, die sich nach ihren Behauptungen zu Unrecht in den Verzeichnissen als Mitarbeiter der Staatssicherheit wiederfanden, vor Gerichten Erfolg.37 Ein gewisses Kuriosum der tschechischen Aktenpolitik liegt in dem Umstand, dass nicht die Namen der hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit, sondern nur die ihrer Opfer und Zuträger im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit standen und stehen. Die gesetzlichen Archivbestimmungen qualifizieren nämlich die Angaben über die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit als Personalangaben und nicht als Archivmaterialien. Damit sind die Daten der professionellen Mitarbeiter der Staatssicherheit vor der Öffentlichkeit geschützt; ihre Akten dürfen nur mit ihrem Einverständnis eingesehen werden. Anerkennung der Widerstandskämpfer gegen das kommunistische Regime In der Rechtsordnung der Tschechischen Republik werden nicht nur die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft anerkannt und entschädigt, sondern es werden auch diejenigen geachtet und entsprechend honoriert, die sich aktiv gegen die Diktatur gewandt haben – ausdrücklich auch dann, wenn sie selbst nicht zu Opfern geworden sind. Dies regelt der bislang letzte legislative Akt zur Wiedergutmachung des vom kommunistischen Regime verschuldeten Unrechts: das „Gesetz Nr. 262/2011 über die Teilnehmer am Kampf und Widerstand gegen 37 Vgl. Jan Pauer, Die Aufarbeitung der Diktaturen in Tschechien und der Slowakei. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 42 (2006), S. 25–32, hier 31.

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das kommunistische Regime“.38 Das erst im Jahre 2011 verabschiedete Gesetz wird gemäß seiner Präambel von dem Willen getragen, angemessene Ehre und Dankbarkeit denjenigen Frauen und Männern zu erweisen, die in der Zeit der kommunistischen totalitären Macht unter dem Einsatz ihres eigenen Lebens, ihrer persönlichen Freiheit und ihres Eigentums die Werte der Freiheit und der Demokratie aktiv verteidigt haben. In § 3 des Gesetzes Nr. 262/2011 werden der Kampf und der Widerstand im Sinne des Gesetzes näher definiert. Darunter fällt insbesondere ein bewaffneter oder vergleichbarer Kampf, der gegen das kommunistische Regime in der Tschechoslowakei geführt wurde, ferner die Durchführung von Sabotageakten, die Zusammenarbeit mit ausländischen Nachrichtendiensten eines demokratischen Staats und die Überschreitung der Staatsgrenzen zum Zweck des Widerstandes gegen den Kommunismus. Zum antikommunistischen Widerstand wird ebenfalls das Verfassen von Petitionen oder öffentlichen Erklärungen gezählt, die sich gegen das kommunistische Regime richteten. Gleiches gilt auch für die Organisation von öffentlichen Veranstaltungen mit ähnlicher politischer Ausrichtung; ferner die politische, publizistische oder eine vergleichbare antikommunistische Tätigkeit, die sich direkt oder indirekt für die Wiederherstellung der Freiheit und Demokratie einsetzte. Berücksichtigt wird schließlich auch die politische, publizistische oder eine ähnlich gelagerte, nachweislich antikommunistische Tätigkeit im Ausland.39 Diejenigen Personen, die gemäß dem Gesetz Nr. 262/2011 als Widerstandskämpfer anerkannt werden, bekommen diesen Status mittels eines Zertifikats amtlich bestätigt. Die dergestalt anerkannten Widerstandskämpfer, deren Rente aus der tschechischen Rentenversicherung gezahlt wird, haben einen Anspruch darauf, dass ihre Rente entsprechend dem Gesetz angehoben wird.40 Die jeweiligen Rentenzuschläge sind für verschiedene Gruppen der Rentenbezieher unterschiedlich. Außerdem erhalten die amtlich anerkannten Widerstandskämpfer eine einmalige, steuerfreie Zuwendung in Höhe von 100 000 Kronen.41 Dieser Betrag von 100 000 Kronen (umgerechnet ca. 4 000 Euro) entspricht in Tschechien etwa zehn monatlichen Durchschnittsrenten. Falls der anerkannte Widerstandskämpfer inzwischen verstorben ist, erhalten dessen Nachkommen oder andere enge Verwandte eine einmalige Geldzuwendung in Höhe von 50 000 Kronen.42

38 Gesetz Nr. 262/2011: „Zákon 262/2011 Sb. ze dne 20. července 2011 o účastnících odboje a odporu proti komunismu.“ 39 Gesetz Nr. 262/2011, § 3. 40 Ebd., § 8. 41 Ebd., § 6. 42 Ebd.

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Zusammenfassung Die Aufarbeitung der kommunistischen Diktaturzeit findet seit der „Samtenen Revolution“ von 1989 auf verschiedenen Ebenen statt, auf der rechtlichen, politischen, moralischen und historischen Ebene. Jede genannte Ebene hat ihr eigenes zeitliches, psychologisches oder sonstiges Spezifikum. In der Tschecho­ slowakei und später auch in der Tschechischen Republik wurden unmittelbar nach der Implosion des kommunistischen Regimes im November 1989 diverse Aufarbeitungsinitiativen auf allen genannten Ebenen unternommen. Deren Qualität und Tiefe fielen allerdings höchst unterschiedlich aus. Die Pathologien der sozialen Anpassung im Alltag der über mehrere Generationen andauernden Diktatur, bei denen es nicht primär um Opfer-Täter-Konstellationen gegangen ist, sind oft weitgehend ausgeblendet worden. Beanstandet werden kann zum Beispiel der Umgang mit den Akten der Staatssicherheit, der die hauptamt­ lichen Mitarbeiter der Staatssicherheit im Schatten beließ und stattdessen die bisweilen zu ihrer Tätigkeit genötigten Zuträger ins Rampenlicht der Öffentlichkeit stellte.43 Insgesamt kann indessen die tschechische Vergangenheitsaufarbeitung als weitgehend gelungen erachtet werden. Der breite Konsens in der Bevölkerung nach der Friedlichen Revolution von 1989 bei der scharfen Verurteilung der kommunistischen Diktatur, die weitverbreitete Überzeugung, dass die Ära des Kommunismus eine nationale Katastrophe und ein zivilisatorischer Rückschritt waren, ermöglichten eine vergleichsweise zügige und systematische Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur. Zugleich war diese Problematik immer ein hochbrisantes politisches Thema. Die rechtsorientierte Demokratische Bürgerpartei (Občanská demokratická strana, ODS) instrumentalisierte systematisch den – zum Teil primitiven – Antikommunismus als ihre wichtigste Legitimation, indem sie die um die Macht konkurrierenden Sozialdemokraten als „die Linken“, also als Helfershelfer der Kommunisten, abstempelte. Mit der Zeit wurde dieser vereinfachende Antikommunismus als Instrument zur Machtgewinnung allerdings immer weniger wirksam,44 bei den Parlamentswahlen 2013 wählten die ODS nur noch knapp acht Prozent der Bürger.45 Dieser Beitrag widmete sich insbesondere der rechtlichen Ebene, dem Rehabilitierungsrecht im gesellschaftlichen Kontext. Die Rehabilitierungsgesetze, die bis zum Jahre 2013 (zunächst in der Tschechoslowakei, ab 1993 in Tschechien) verabschiedet worden waren, stellen weitgehend sicher, dass all diejenigen Personen rehabilitiert werden können, die Opfer einer politisch motivierten Strafverfolgungsmaßnahme oder einer sonstigen rechtsstaats- und verfassungswidrigen Entscheidung würden. Darüber hinaus haben die Betroffenen durch die 43 Vgl. Pauer, Aufarbeitung der Diktaturen, S. 32. 44 Vgl. Karel Vodička, Tschechien. In: Günther Heydemann/Karel Vodička (Hg.), Vom Ostblock zur EU. Systemtransformationen 1990–2012 im Vergleich, Göttingen 2013, S. 165–192, hier 183. 45 http://volby.idnes.cz/; 1.11.2013.

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Rehabilitierungsgesetzgebung auch die Möglichkeit erhalten, sich von der noch teilweise bestehenden persönlichen Diffamierung zu befreien. Der Gesetzgeber hat die Rehabilitierungsgesetze mit angemessenen Entschädigungsregelungen verbunden. Die Rehabilitierungsgesetze stellen damit einen wichtigen Baustein bei der rechtsstaatlichen Aufarbeitung des von der kommunistischen Diktatur begangenen Unrechts dar. Als eine lobenswerte – und im europäischen Vergleich einzigartige – Leistung der tschechischen Vergangenheitsaufarbeitung kann die Tatsache erachtet werden, dass gemäß der tschechischen Rechtsordnung nicht nur die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft anerkannt und entschädigt, sondern gemäß dem „Gesetz Nr. 262/2011 über die Teilnehmer am Kampf und Widerstand gegen das kommunistische Regime“ auch diejenigen Frauen und Männer geachtet und belohnt werden, die sich aktiv gegen die Diktatur gewandt haben, und zwar explizit auch dann, wenn sie selbst nicht zu deren Opfern geworden sind, sich jedoch Verdienste durch ihren Kampf gegen die kommunistische Diktatur erworben haben.

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Polen – Transitional Justice Policy nach der Friedlichen Revolution 1989 Tytus Jaskułowski

Einleitung Eine Analyse des staatlichen und nicht staatlichen Umgangs nach 1989 mit den Opfern der totalitären Regime in Polen ist – unabhängig davon, ob es sich um die Aufarbeitungs- und Wiedergutmachungsmaßnahmen für die Zeit des Zweiten Weltkriegs oder der nachfolgenden kommunistischen Diktatur handelt – nichts anderes als eine Paradoxanalyse. Sie ist umso schwieriger, je besser man die Zeitgeschichte Polens kennt. Dieses Paradox, von dem hier die Rede ist, fällt sofort auf, selbst bei einem nur oberflächlichen Blick in die polnische Vergangenheit, aber auch in die Gegenwart. In der Tat ist und bleibt die Geschichte Polens eine Opfergeschichte. In der Historiografie, Literatur und Mentalität sowie in der allgemeinen öffentlichen polnischen Wahrnehmung wurde das Land, und zwar seit dem Ende der ersten Adelsrepublik, immer als ein Opfer gesehen und dargestellt.1 Ohne Zweifel wurden in den nachfolgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten sowohl der polnische Staat als Institution als auch seine Gesellschaft missbraucht, gequält oder vernichtet. Die Teilungsperioden des 18. und 19. Jahrhunderts, die Politik der Teilungsmächte, etwa die Russifizierung, der Kulturkampf2 oder die Besatzungszeit der polnischen Gebiete während des Zweiten Weltkriegs, sind Beweis genug. Eine logische Folge dessen war für die Bevölkerung ein seit dem 19. Jahrhundert wachsender Opfermythos, verknüpft mit der unsterblichen und religiös bedingten Hoffnung, irgendwann eine gerechte Belohnung für das erfahrene Leid zu erhalten, und zwar nicht nur in Form eines unabhängigen, wiederbelebten Staats. Die Pflege dieses Mythos3 war in der Zeit der Volksrepublik Polen deutlich zu sehen: als eines der wichtigsten Erfolgsmerkmale der oppositio­ nellen Bewegung. Nicht der Täter, also die Sowjetunion, Nazideutschland, die kommunistische Partei oder der Sicherheitsdienst, stand im Mittelpunkt dieses 1 2 3

Vgl. Magdalena Grochowska, Ćwiczenia z niemożliwego, Warszawa 2012, S. 74. Vgl. Włodzimierz Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 14. Vgl. Bernd Rill (Hg.), Vergangenheitsbewältigung im Osten – Russland, Polen, Rumä­ nien, München 2008, S. 23.

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Mythos, sondern die Opfer. Die Arbeiter in Posen und Danzig fühlten sich als Opfer, als sie im Juni 1956 bzw. im Dezember 1970 ihren Protest begannen. Die Warschauer Studenten im März 1968 kämpften nicht direkt für sich selbst, sondern für ihre aus politischen Gründen exmatrikulierten Kollegen, also die Opfer. Eine der wichtigsten der 21 Forderungen der streikenden Werftarbeiter, die im August 1980 die freien Gewerkschaften gegründet haben, war die Genehmigung, ein Denkmal zu Ehren der während des Massakers vom Dezember 1970 gefallenen Kameraden zu errichten. Ein einige Jahre zuvor entstandenes Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) war nicht nur eine oppositionelle Organisation, aus der die spätere Solidarność-Spitze hervorging, sondern vor allem eine Aktivistengruppe, die konkrete juristische und finan­zielle Unterstützung für die seit 1976 verfolgten Arbeiter von Radom und ihre Angehörigen organisiert und gewährleistet hat. Man könnte also behaupten, dass die politische Wende des Jahres 1989 zwangsläufig dazu führen musste, die Vergangenheit einer durchaus gewaltsamen politischen Auseinandersetzung in Polen seit 1945 aufzuarbeiten, und zwar mit dem Ziel, in einer gespaltenen Gesellschaft den Übergang zu Sicherheit und Frieden zu fördern.4 Dieses Ziel ist der Kern der Theorie der sogenannten Transitional Justice. Alle Elemente dieser Theorie entsprechen außerdem den allgemeinen Gerechtigkeitsgefühlen gegenüber Opfern jeglicher Art. Demzufolge sollte offiziell festgestellt werden, dass Unrecht geschehen ist, es sollte eine offizielle Entschuldigung erfolgen, und es sollte die öffentliche Untersuchung und Verfolgung dieses Unrechts gefördert werden, was mit einer angemessenen Wiedergutmachung gleichzusetzen wäre. Wie ist es vor diesem Hintergrund zu erklären, dass in dem für die Zukunft Polens wichtigsten Dokument, nämlich im Abschlussprotokoll der Gespräche am Runden Tisch im März 1989, kein einziges Mal das Wort „Opfer“ und nur ein einziges Mal die Bezeichnung „Geschädigte“ (poszkodowani) benutzt wurde, und zwar nur bei der Formulierung der Erwartung, dass diejenigen, die aus politischen Gründen ihre Arbeitsstellen verloren hatten, wieder eingestellt werden sollten?5 Eine Erklärung dafür ist das bereits erwähnte Paradox. Opfersein und Opfermythos haben nichts mit den konkreten juristischen und politischen Aspekten ihrer Aufarbeitung zu tun. Mehr noch: Alle Faktoren, die dazu geführt haben, dass man überhaupt von Opfern sprach und der Opfermythos entstanden ist, haben gleichzeitig nach 1989 dazu beigetragen, dass eine Aufarbeitung und Wiedergutmachung fast unmöglich geworden scheint. Je schwerer ein Unrecht festzustellen ist, desto geringer ist die Wiedergutmachung und desto schlechter ist die Betreuung der Betroffenen. Polen, ein Vorläufer des Freiheitskampfs und der demokratischen Erneuerung nach 1945 und 1989, konnte

4 5

Vgl. Hendryk Zihang, Der institutionalisierte Umgang mit den Akten der Staatssicherheitsdienste der kommunistischen Regime der DDR und der Volksrepublik Polen, Chemnitz 2010, S. 17. Vgl. Krzysztof Dubiński, Okrągły Stół, Warszawa 1999, S. 551.

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also paradoxerweise seinen eigenen Opfern nicht adäquat helfen, obwohl ihre Zahl alles andere als unbedeutend ist.6 Insgesamt ist von 400 000 Gefangenen und über 10 000 Ermordeten in der Ära des Stalinismus auszugehen. Weitere 20 000 starben nach dem Krieg in verschiedenen sowjetischen Lagern. Jede politische Krise brachte weitere Todesopfer. Die bereits erwähnten Ereignisse in Posen 70, die Straßenkämpfe in Danzig im Dezember 1970 weitere 40 Opfer. Genauso viele Todesopfer waren direkt nach der Ausrufung des Kriegsrechts im Dezember 1981 zu beklagen, wobei noch 15 000 verhaftete und internierte Dissidenten berücksichtigt werden müssen. Wenn man dazu noch die indirekt betroffenen Familienmitglieder der Opfer addiert sowie diejenigen, deren Leid juristisch schwer nachzuweisen ist, könnte man sogar von einer Million Opfern sprechen. Um die Gründe für die Diskrepanz zwischen dieser Quantität des Leids und dem ohne Zweifel unbefriedigenden Umgang mit den Opfern zu verstehen, muss die gesellschaftliche und soziopolitische Lage Volkspolens, also die Zeit von 1944 bis 1989, analysiert werden. Erst auf dieser Grundlage können die Hauptelemente des Umgangs mit den Opfern nach der Friedlichen Revolution erörtert werden. Es handelte sich dabei um die strafrechtliche Verfolgung der Täter, die Wiedergutmachung des Unrechts, die Abschaffung der Privilegien der Täter, die gesellschaftliche, aber auch die staatliche Form der Täterverurteilung sowie last, but not least die öffentliche Wahrnehmung der Opfer und die Art und Weise, wie an sie erinnert wird. In dieser Hinsicht ist es möglich, die These aufzustellen, dass nur eines, und zwar das letztgenannte Element, im Sinne der Transitional Justice Theory verwirklicht worden ist. Die restlichen Punkte sind nach wie vor nicht, kaum oder nur teilweise realisiert worden.

Der Umgang mit den Opfern in der Volksrepublik Polen als Belastung für die Aufarbeitung nach 1989 Ohne Zweifel war der Zeitraum, in dem die Volksrepublik Polen existierte, eine Periode voller dramatischer Ereignisse und der beispiellosen Missachtung der Menschenrechte. Doch nicht nur die Opfer dieser Zeit und der Politik der kommunistischen Staatspartei, sondern vor allem die Veränderungen im gesellschaftlichen Handeln und Denken beeinflussten den späteren Umgang mit den Opfern. Ihr Mythos als Quelle der sozialen und oppositionellen Stärke ist nach 1944 unverändert geblieben.7 Gleichzeitig resultierte daraus allerdings auch einer der wichtigsten sozialen Schwächen, nicht nur in Bezug auf die Opfer.

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Vgl. Łukasz Kamiński/Krzysztof Persak (Hg.), A handbook of the communist security apparatus in East Central Europe 1944–1989, Warsaw 2005, S. 271. Vgl. Klaus Ziemer, Aufarbeitung und politische Kultur in Polen. In: Volker Gerhardt (Hg.), Politisches Denken. Jahrbuch 2009, Berlin 2009, S. 111.

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Als Erstes ist zu erwähnen, dass die Art und Weise, wie sich ein Opfer in einer schwierigen Situation zu verhalten hat, in der polnischen Wahrnehmung eine romantische Tradition widerspiegelt. Sie besagt, dass es unwürdig ist/ wäre, irgendwelche Ansprüche auf Entschädigung zu erheben. Das geht aus den Berichten der sichtbar schockierten westdeutschen Diplomaten, die in den 1960er- und 1970er-Jahren in ersten Gesprächen über Entschädigungen für KZ-Häftlinge verhandeln wollten, mehrfach hervor.8 Außerdem wurden in der Volksrepublik Polen staatliche Leistungen für Kriegsveteranen von vielen Betroffenen abgelehnt. Sicherlich spielte dabei auch die Gefahr, als Mitglied der vom kommunistischen Staat von 1945 bis 1956 extrem verfolgten bürgerlichen oder nicht kommunistischen Widerstandsbewegung entdeckt zu werden, eine wichtige Rolle. Der staatliche Terror führte von 1944 bis 1950 zwar zu Widerstand und Bürgerkrieg und die Zahl der Opfer war demzufolge recht hoch (was wiederum viele bürgerliche Hilfsmaßnahmen, unterstützt von der katholischen Kirche, zur Folge hatte). Aber einen Opferstatus zu verlangen, diesbezügliches gemeinschaftliches Engagement zu fördern, vom Staat konkrete und außersymbolische Leistungen zu fordern, kam nicht infrage, auch weil dieser Staat in den Opferkreisen im Grunde genommen als eine fremde Organisation wahrgenommen wurde. Jegliches Engagement in dieser Richtung, das ohnehin meist aus politischen Gründen entstand, etwa beim bereits erwähnten Komitee zur Verteidigung der Arbeiter oder allgemein gesagt bei der Entstehung der Solidarność-Gewerkschaften, wurde brutal verfolgt. Dies führte nicht nur zu einer allgemeinen sozialen Passivität, sondern mehr noch zu der Feststellung, dass lediglich eine atomisierte, anspruchsfreie und opferbezogene Hilfstätigkeit für Opfer machbar und, gesellschaftlich gesehen, konform wäre. Diese Verhaltenslogik, sicherlich mit einem gewissen Hochmut unterlegt, wurde von der Solidarność nahestehenden Soziologen wie Prof. Jadwiga Staniszkis beobachtet und kritisiert.9 Sie verwies beispielsweise darauf, dass diese Logik ein Gegenbeispiel der protestantischen Weltanschauung darstellt, nämlich eine Verkörperung der katholischen Ethik, laut der man als Opfer auf einen Schlag eben nicht mit einem Gegenschlag antworten soll. In der angelsächsischen Welt hingegen hätte man nicht auf die Errichtung eines großen Denkmals gewartet, sondern man hätte es selbst gebaut. Zwar waren Elemente dieses Denkens innerhalb der polnischen Gesellschaft präsent. Zu erwähnen sind dabei die Dokumentationsarbeiten des Warschauer Karta-Zentrums über Opfer von Repressalien oder die diversen Aktionen, um nach unbekannten Gräbern von aus politischen Gründen ermordeten Bürgern zu suchen.10 Nicht immer aber

 8 Vgl. Paul Frank, Entschlüsselte Botschaft. Ein Diplomat macht Inventur, München 1985, S. 319.  9 Jadwiga Staniszkis, Życie umysłowe i uczuciowe, Warszawa 2010, S. 164. 10 Vgl. Małgorzata Szejnert, Śród żywych duchów, Kraków 2012, S. 18; Tytus Jaskułowski (Hg.), Anna Walentynowicz. Solidarność. Eine persönliche Geschichte, Göttingen 2012, S. 137.

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stießen jene Aktivitäten auf das Verständnis der Familienangehörigen. Nach wie vor handelte es sich um individuelle Aktionen von geringem Umfang.11 War die Bereitschaft, sich nur wegen einer romantischen Tradition in der Volksrepublik Polen öffentlich klar als Opfer zu definieren, an die Opfer zu erinnern oder als Opfer Ansprüche gegenüber dem Staat zu stellen, so schwach ausgeprägt? Sicherlich spielte Angst vor weiterer Verfolgung eine gewisse Rolle. Die Zahl der Demonstranten, die insbesondere in den 1980er-Jahren an den Demonstrationen der Opposition teilgenommen hatten, war zwar immens. Aber sie protestierten hauptsächlich aktiv gegen die Machthaber und lediglich aus Anlässen, zu deren Entstehung die Opfer beigetragen haben. Es muss jedoch gesagt werden, dass es neben der erwähnten Forderung der Danziger Streikenden vom August 1980 nach einem Denkmal noch 20 weitere Forderungen gab, die völlig anderer Natur waren. Sie hatten mit der Opferproblematik im Grunde genommen nichts zu tun. Besagte Passivität im Opferdiskurs hatte auch andere Gründe. Nicht alle Elemente des Opferdaseins romantischer Art schienen „sauber“ zu sein. Zwar was die Zeit des Zweiten Weltkriegs in dieser Hinsicht neutral. Keine Kollaboration mit den deutschen Besatzern, eine klare Trennung zwischen Freund und Feind, eine wirksame Untergrundbewegung, die sich einig war, einzelne Verräter und Kollaborateure juristisch zu verfolgen und notfalls auch hinzurichten. All das ergänzte letztlich die öffentliche Wahrnehmung, z. B. der Opfer des Warschauer Aufstands 1944 und deren Tapferkeit. Und in der Tat war diese Wahrnehmung wichtig für die Entstehung der politischen Opposition in Polen. Welchen Platz aber nahm in dieser Wahrnehmung das alles andere als saubere polnisch-ukrainische Verhältnis ein, das sogar noch nach dem Jahr 2 000 extreme Kontroversen hervorrief und bis heute hervorruft, und zwar wegen der ukrainischen Opfer,12 – von den polnisch-jüdischen ganz zu schweigen? Eine große Empörung löste in diesem Zusammenhang 1996 eine These von Prof. Hanna Świda-Ziemba aus. Nach ihrer Einschätzung kooperierte in der Zeit des Stalinismus ein Drittel der Gesellschaft mit den Machthabern.13 Wer also war Opfer und wer Täter? Einige Jahrzehnte später, d. h. 1980, war ein Drittel der oppositionellen Solidarność gleichzeitig Parteimitglied. Wie viele von ihnen waren Täter und wie viele Opfer?14 Aus vielerlei Hinsicht war es deshalb einfacher und bequemer, nicht zu oft über die eigenen Opfer zu sprechen, was dementsprechend ein Eckpfeiler der staatlichen Propaganda war. Grundsätzlich wurde beispielsweise nie öffentlich über das Massaker von Katyń gesprochen, ebenso wenig wie über die Opfer der Deportationen oder der polnisch-ukrainischen Kämpfe. 11 Vgl. Jacek Kleyff, Rozmowa, Wołowiec 2012, S. 46. 12 Z.B. Paweł Smoleński, Pochówek dla Rezuna, Wołowiec 2001, S. 119. 13 Zit. nach Dokumentation der Konferenz „Umgang mit der Vergangenheit in Deutschland und Polen. Aufdecken oder zudecken?“ In: Transodra, 16 (1997), S. 32. 14 Klaus Bachmann, Vergeltung, Strafe Amnestie. Eine vergleichende Studie zu Kollaboration und ihrer Aufarbeitung in Belgien, Polen und den Niederlanden, Frankfurt a. M. 2011, S. 240.

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Die bereits erwähnten Zahlen sollen auch eine andere Tatsache verdeutlichen, nämlich die, dass der Opferbegriff durch alle Akteure der politischen Auseinandersetzung bis 1989 missbraucht wurde (und bedauerlicherweise auch nach der Friedlichen Revolution). Dies musste den Umgang mit den Opfern nach 1989 zwangsläufig entscheidend beeinflussen. Alle Ansprüche, Probleme sowie die Stellung der Opfer wurden aus dem Blickwinkel des politischen, wenngleich rationalen und auch für die Opfer in vielen Punkten positiven Interesses dieser Akteure betrachtet und entsprechend behandelt. Standardbeispiel sind die Gespräche am Runden Tisch, als der damalige Innenminister mit jenen verhandelte, die durch seine Mitarbeiter, oftmals sehr grausam, verfolgt wurden. Die Gespräche zwischen Opfern und Tätern endeten deshalb unausweichlich mit umstrittenen Kompromissen. Da der Geheimdienst de facto gleichberechtigter Gesprächspartner war, hatte er Zeit, belastende Beweise, etwa Aktenbestände, zu vernichten, eine faktische Strafimmunität zu erlangen und letztendlich die juristische Aufarbeitung beinahe unmöglich zu machen. Aber ohne die Verhandlungen am Runden Tisch wäre die juristische Aufarbeitung bzw. die Wiedergutmachung noch schwerer vorstellbar gewesen. Interessanterweise wehrten sich gegen den Täter-Opfer-Dialog nicht in erster Linie diejenigen, die als Opfer die meisten Kräfte für einen Kampf zur Verfügung gehabt hätten, also die jungen Aktivisten Jahrgang 1960 und später, die aufgrund der Machtverteilung am Runden Tisch keine Chance bekommen hatten, an der realen Macht zu partizipieren. Ein potenzieller Opferstatus war für sie ein zu schwaches Argument im Vergleich zu den neuen Möglichkeiten der bereits eingeführten Marktwirtschaft, um sich für die Opfer zu engagieren. Sie wollten endlich gut leben, ihre Chancen nutzen und nichts mehr mit der Politik zu tun haben.15 Um den Opferstatus wurde vor allem seitens der ältesten Generation gekämpft. Und dieser Generation wurde dabei am meisten geholfen. Wegen ihres Alters haben sie als Erste die alten Akten des Sicherheitsdienstes zur Einsicht bekommen, ihre Strafprozesse wurden am schnellsten durchgeführt, und sie erhielten die meisten materiellen Entschädigungen. Dies alles wurde aber nicht im Namen der Gerechtigkeit getan, sondern eher aus einem zynischen Kalkül heraus: Der finanzielle Aufwand für die Ansprüche dieser Gruppe war minimal, aus politischer Sicht waren Ereignisse wie etwa Denkmaleinweihungen immer attraktiv, und ihre Loyalität als Wähler war ein nicht zu verachtender Aspekt. Somit war die Kommunismus-Aufarbeitung in Polen nach 1989 in Bezug auf die Opfer von der Tagesagenda und der innenpolitischen Lage geprägt.

15 Vgl. Agata Bielik-Robson, Żyj i pozwól żyć, Warszawa 2012, S. 100.

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Symbolische Verurteilung und Unrechtsfeststellung Es schien einerseits selbstverständlich zu sein, dass direkt nach dem Erfolg der politischen Wende symbolisch festgestellt und unmissverständlich bekannt gegeben werden musste, dass es in Polen Opfer gab, ihnen Unrecht getan und Leid zugefügt worden war. Die diesbezüglichen Erwartungen waren immens. Man hoffte auch auf symbolische Zeichen aus anderen politischen Bereichen. Hervorzuheben wären dabei die feierliche Rückgabe der Machtinsignien an den frei gewählten Staats­präsidenten seitens der nach 1945 nicht anerkannten polnischen Exilregierung in London oder der Sturz des Dzierżyński-Denkmals in Warschau Anfang November 1989. Nicht alle wussten, dass der 16-Jährige, der dieses Denkmal in Warschau 1982 mit Farbe beschmutzt hatte, festgenommen und einige Tage später seine Leiche aufgefunden wurde. Auch eine Schmiererei am Fundament des bereits zerstörten Dzierżyński-Denkmals im Dezember 1989: „Ich komme gleich wieder“, versuchte man totzuschweigen. Diese bittere Ironie verkörperte das, was man erwartet hatte, und das, was nie passierte. Alle der ab 1989 registrierten opferbezogenen politischen Gesten hatten das Ziel, auch aus innenpolitischem Kalkül die Opfer zu ehren bzw. das geschehene Unrecht festzustellen und zu beurteilen. Dabei sind drei unterschiedliche Gesten zu unterscheiden: Die erste kann als rein politisch definiert werden. Der erste nicht kommunistische Ministerpräsident, Tadeusz Mazowiecki, formulierte in seinem Exposé im August 198916 den bis heute umstrittenen Satz, dass „er unter die Vergangenheit einen dicken Strich“ ziehen werde. Im Mittelpunkt seiner Rede stand zwar die Absicht, eine Gesellschaft der nationalen Versöhnung aufzubauen, und zwar ohne die großen Gruppen der ehemaligen Parteimitglieder, Mitläufer usw., die sich nicht mit der Solidarność identifiziert hatten, auszuschließen. Er hatte nie die Absicht, die Opfer nicht ehren zu wollen.17 Die öffentliche Wahrnehmung dieser Rede war jedoch aus völlig verständlichen Gründen eine andere und besagte, dass es sich dabei um Straffreiheit für die Täter handele.18 Ebenso umstritten wirkte die Rede von Aleksander Kwaśniewski. Der spätere Staatspräsident entschuldigte sich 1993 aus taktischen Gründen als Spitzenkandidat des Wahlsiegers, nämlich des Bundes der demokratischen Linken, für das Leid und das Unrecht, das den Menschen in der Zeit der Volksrepublik zugefügt wurde.19 Die zweite Geste war eine Antwort auf die Wahrnehmung der ersten. Sie kann als politisch radikal bezeichnet werden. Ihre Befürworter brauchten nicht

16 Tadeusz Mazowiecki, Rok 1989 i lata następne, Warszawa 2012, S. 403. 17 Vgl. Olivia Jazwinski, Unrechtsaufarbeitung nach einem Regimewechsel, Baden-Baden 2007, S. 126. 18 Vgl. Katrin Hammerstein (Hg.), Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit, Göttingen 2009, S. 89. 19 Kwaśniewski: Przepraszam – nic się nie stało. In: Rzeczpospolita vom 22.11.1993.

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festzustellen, dass es Opfer gegeben hatte. Sie wollten nur so persönlich wie möglich zeigen, wer die Täter waren, und sie öffentlich verurteilen. Als Beispiele sind hier der Lustrationsbeschluss von 1992 und die sogenannte Wildsteinliste von 2005 zu nennen. Der Beschluss, später als verfassungswidrig aufgehoben, sah vor, alle Informationen über ehemalige inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit, die öffentliche Ämter bekleideten, offenzulegen.20 Die Liste hingegen war eine Personendatenbank, erstellt in der polnischen BStU-Behörde, in der ohne klare Trennung die Namen der IM und der hauptamtlichen Mitarbeiter aller Geheimdienste, aber auch ihrer Opfer aufgeführt waren.21 Die politischen Folgen der Veröffentlichung waren erheblich, da sie zum Sturz von zwei Regierungen beitrugen. Sie führten aber auch zu einer Stigmatisierung vieler unschuldiger Menschen. Beides beschleunigte die juristische Aufarbeitung, also die dritte Form der Unrechtsfeststellung. Sie ist zwar die deutlichste und klarste, da sie vor allem in den Gesetzestexten steht. Eine Ausnahme bildet die vom Gesetz bestimmte einzige umstrittene Stigmatisierungsform, nämlich die sogenannte Durchleuchtung (Lustracja). Bereits im Kombattantengesetz von 1991 ist von der Pflicht die Rede, die Opfer zu ehren und ihnen zu helfen, was bis heute die Aufgabe eines speziellen Amts ist. Der Name dieses Gesetzes täuscht jedoch, da dieses Amt sich nicht nur mit den Kriegsveteranen, sondern auch mit den Opfern der Massaker von 1956 und 1970 beschäftigt.22 Im Jahr 1998 wurde am Rande der Diskussion über die Rechtskontinuität der Volksrepublik Polen in der zweiten Parlamentskammer die Anerkennung der Opfer erneut festgehalten, und zwar durch einen außerordentlichen Beschluss.23 Auch 2009, als ein neues Gesetz noch einmal pauschal die Opferhilfe bestimmte, wurde am Rande wiederum die allgemeine Anerkennung der Opfer, auch für die Zeit von 1970 bis 1989, betont.24 All das war jedoch keine klare Verurteilung der Täter. Sie erfolgte erst mit dem Gesetz über das Institut für Nationales Gedenken (IPN) von 1998 und dem sogenannten Durchleuchtungsgesetz von 2006.25 Beide Gesetze wurden in den Legislaturperioden verabschiedet, in denen die mit der Solidarność verbundenen Parteien im Parlament über eine Mehrheit verfügten und sich so gegen die Stimmen/Opposition der Linken durchsetzen konnten. Gemäß diesen Beschlüssen waren die kommunistischen Verbrechen zu verfolgen, gleichzeitig

20 Vgl. Andrzej Romanowski, Rozkosze Lustracji, Kraków 2007, S. 2. 21 Vgl. Jan Woleński, Lustracja jako zwierciadło, Kraków 2007, S. 46. 22 Gesetz vom 24.1.1991 über die Kriegsteilnehmer und über die Opfer von Kriegs- und Nachkriegsrepressionen (Dz. U. 1991, Nr. 17, Pos. 75). 23 Beschluss des Senats der Republik Polen vom 16.4.1998 über die Rechtskontinuität zwischen der Zweiten und der Dritten Republik Polen (Dz. U. 1997, Nr. 78, Pos. 483). 24 Gesetz vom 7.5.2009 über Entschädigung für die Familien, deren Mitglieder Opfer der freiheitlichen Massenproteste 1956–1989 geworden sind (Dz. U. 2009, Nr. 91, Pos. 741). 25 Gesetz vom 18.10.2006 über Bekanntgabe von Informationen, entnommen aus den Akten der staatlichen Sicherheitsorgane 1944–1990 sowie über Inhalt dieser Akten (Dz. U. 2007, Nr. 63, Pos. 425).

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sollten die Opfer geehrt und an ihr Leid erinnert werden. Es wurde auch der Begriff des kommunistischen Funktionsträgers definiert, der durch eine Offenbarungspflicht stigmatisiert wurde, was auch die inoffiziellen Geheimdienstmitarbeiter umfasste. Viele Ämter in der Staatsverwaltung sind für sie per Gesetz nicht zugänglich, etwa Leitungsposten in den Geheimdiensten. Für die Opfer wurde außerdem eine Sonderstellung geschaffen, und zwar ein „Geschädigtenstatus“. Diesen Status erhält jeder, über den die Geheimpolizei Informationen gesammelt hatte. Das IPN erstellt eine entsprechende Bescheinigung, die dann eine Grundlage für Entschädigungsansprüche sein kann. Bis 2005 war sie mit dem Recht verbunden, die Akten der Sicherheitsbehörden einzusehen. Gleichzeitig sind seit 2006 Angaben über die Täter und Opfer öffentlich zugänglich, ca. 11 000 Einträge, und zwar in Form von Onlinebeständen. Die Opfer bzw. ihre Erben müssen jedoch einer solchen Veröffentlichung zustimmen, und laut den IPN-Jahresberichten war nur die Hälfte der Befragten damit einverstanden, entsprechende Angaben über sich bekannt zu machen. Die Opfer dürfen auch diesbezügliche IPN-Bestände sperren lassen. Wie sah der Alltag der Unrechtsfeststellung oder der öffentlichen Stigmatisierung ab 1992 aus? Eine passende Antwort lautet: eher bescheiden. Es entstand erstens eine neue und unvermeidbare Opferkategorie, nämlich die der unschuldig Stigmatisierten, also jener Personen, die zu Unrecht einer inoffiziellen Mitarbeit verdächtigt wurden. Neben den extrem politisierten Fällen – etwa dem des Staatspräsidenten Lech Wałęsa, der mit breiter Unterstützung, aber auch heftiger Gegnerschaft rechnen konnte – war es für die meisten sehr schwierig, ihre Unschuld juristisch zu beweisen. Allerdings gewannen die meisten, die auf der 1992 vom Innenminister Macierewicz erstellten Liste standen, vor Gericht. Denn die inoffizielle Mitarbeit als solche ist nicht strafbar, sondern lediglich eine im Rahmen eines Gerichtsverfahrens nachgewiesene Leugnung dieser Mitarbeit. Weiterhin wurde der „Geschädigtenstatus“ aufgehoben, sodass jedem Bürger nunmehr der Aktenzugang offensteht. In den für den Staat kritischen Bereichen, etwa in den Geheimdiensten oder im Justizwesen, haben nur sehr wenige Mitarbeiter aufgrund ihrer belasteten Vergangenheit ihre Stelle verloren.26 Die Gründe dafür sind bekannt. Man konnte ohne Ersatzkräfte nicht von einem Tag auf den anderen die meisten Richter und Staatsanwälte entlassen. Man kann es den Geheimdienstlern auch nicht übel nehmen, dass sie die neuen Machthaber davon überzeugen konnten, dass sie nach wie vor gebraucht würden, obwohl die Spionageabwehr in der Volksrepublik auch die Opposition verfolgt hatte. Allerdings wollten von den 24 000 hauptamtlichen Mitarbeitern der polnischen Staatssicherheit nur 14 000 von sich aus im Innenministerium verbleiben. Die anderen wurden zwar arbeitslos, blieben aber auch von der öffentlichen Stigmatisierung verschont.27 Ein Berufsverbot etwa für ehemalige 26 Vgl. Antoni Dudek, Reglamentowana rewolucja. Rozkład dyktatury komunistycznej w Polsce 1988–1990, Kraków 2005, S. 475. 27 Vgl. Ryszard Terlecki, Miecz i tarcza komunizmu. Historia aparatu bezpieczeństwa w Polsce 1944–1990, Kraków 2009, S. 343.

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Parteimitglieder (in Polen als Dekommunisierung bezeichnet) gab es ebenfalls nicht, was weitere Schritte, die aus Opfersicht relevant gewesen wären, wie etwa die Strafverfolgung durchaus beeinflusste. Zwei Beispiele sind hier zu erwähnen. Es ist allgemein bekannt, dass die Opfer der totalitären Regime Polens im Mittelpunkt des politischen Konzeptes der Kaczyński-Brüder standen. Gleichwohl gelangte im Jahr 2005 ein neuer Staatssekretär in das von Anhängern der Brüder geleitete Justizministeriums. Dieser Staatssekretär hatte – was beide Brüder wussten – 1980 einen Haftbefehl als Staatsanwalt für eine Person ausgestellt, und zwar nur wegen der Äußerung, die Volksrepublik Polen sei kein souveräner Staat.28 Diese Person war niemand anderes als Bronisław Komorowski, der heutige Staatspräsident Polens. Ebenso brisant war eine Gerichtsentscheidung im Jahr 2012. Als Folge des Kriegsrechts 1981 wurden aufgrund des sogenannten Überprüfungsverfahrens die als „politisch unsicher“ eingestuften Journalisten entlassen oder zur Emigration gezwungen. Einer von ihnen versuchte 30 Jahre später auf dem Klageweg eine Entschädigung zu bekommen. Das Gericht stellte jedoch fest, dass es sich dabei nicht um eine Menschenrechtsverletzung, sondern lediglich um Mobbing gehandelt habe.29

Strafrechtliche Verfolgung der Täter Die unzureichende Anerkennung der Opfer war mit einem aus jeder Sicht ungenügenden Tempo der strafrechtlichen Verfolgung der Täter verbunden. Dabei sind die juristischen Instrumente, um entsprechende Ermittlungsmaßnahmen einzuleiten, durchaus vorhanden. Die politisch bedingten Straftaten aus der Zeit der Volksrepublik Polen wurden als „kommunistische Verbrechen“ definiert, die laut Gesetz nicht verjähren. Neben der allgemeinen Staatsanwaltschaft, die gegen Täter ermitteln darf, bekam das IPN bereits 1998 auch eine staatsanwaltliche und bis heute existierende Ermittlungsabteilung mit eigenen Staatsanwälten. Im Jahr 2011 waren dort 108 Staatsanwälte tätig. Im ersten halbfreien Parlament 1989 wurde außerdem ein Sonderausschuss mit dem Ziel gegründet, die 122 ungeklärten Todesfälle aus der Zeit der Volksrepublik zu untersuchen. Zwei Jahre später stellte der Ausschuss fest, dass in 88 der genannten Fälle eine staatsanwaltschaftliche Ermittlung nötig sei. Es wurden dann auch 100 hauptamtliche Mitarbeiter des Innenministeriums namentlich genannt, die

28 Vgl. Zachowali się niegodnie. Mimo to awansowali. Serwis TVN24 vom 14.2.2012 (http:// www.tvn24.pl/wiadomosci-z-kraju,3/zachowali-sie-niegodnie-mimo-to-awansowali, 200482.html). 29 Vgl. Tak to się robi w III RP. Prokurator uznał, że członkowie komisji weryfikacyjnych z okresu stanu wojennego dopuścili się jedynie mobbingu. Serwis wpolityce.pl vom 7.6.2012 (http://wpolityce.pl/artykuly/30048-tak-to-sie-robi-w-iii-rp-prokurator-uznal-ze-czlonkowie-komisji-weryfikacyjnych-z-okresu-stanu-wojennego-dopuscili-sie-jedynie-mobbingu).

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in 19 Fällen als strafverdächtige Täter gelten konnten. Der Abschlussbericht dieses Ausschusses, erst 2005 veröffentlicht,30 beinhaltet allerdings alle Probleme, die mit der Strafverfolgung der Täter verbunden waren, d. h. sehr lange Verhandlungen und verhältnismäßig milde Urteile. Dabei sollten zwei allgemeine Aspekte hervorgehoben werden. Erstens brachte die politische Wende in Polen das Dilemma mit sich, welche Verbrechen zuerst verfolgt werden sollten. Man entschied sich, zuerst die Zeit des Zweiten Weltkriegs und die unmittelbare Nachkriegsperiode aufzuarbeiten, was angesichts der relativ beschränkten Kapazitäten des bereits reformierten Justizwesens und der schlechten Beweislage nur ziemlich bescheidene Erfolge zeitigen sollte und konnte. Was die Periode der Jahre 1945 bis 1956 anbelangt, wurden jährlich etwa 1000 Ermittlungsverfahren eingeleitet. 800 von ihnen bezogen sich auf die IPN-Aktenbestände. Die durchschnittliche Wartezeit auf Akteneinsicht betrug 1999 zwischen drei und 18 Monaten, was die Hauptverhandlungen entsprechend verzögerte. Insgesamt wurden von 1989 bis 1999 lediglich 28 Personen verurteilt,31 meistens wegen Folter. Die typische Strafe für Direkttäter, auch für Personen im hohen Alter, betrug zwischen zwei bis acht Jahren Gefängnis ohne Bewährung.32 Zehn Jahre später warteten noch über 5000 Ermittlungen, die sich nur auf die NS-Zeit beziehen, auf ihren Abschluss. Die Zahl der laufenden Verfahren pro Jahr ist unverändert geblieben und liegt bei ca. 1100. Im Jahr 2011, für das die letzten verfügbaren Angaben vorliegen, handelte es sich um über 600 Ermittlungsverfahren wegen kommunistischer Verbrechen und ca. 400 Naziverbrechen. Angeklagt wurden pro Jahr 15 Personen; gleichzeitig wurden 870 Verfahren eingestellt, da die Täter entweder nicht festgestellt werden konnten oder verstorben sind.33 Zweitens haben die Angeklagten im Rechtsstaat viele Möglichkeiten, sich zu wehren, was im Widerspruch zum allgemeinen Gerechtigkeitsgefühl steht und insbesondere für innenpolitische Wahlzwecke missbraucht wurde. Erst im Januar 2012 wurde der Innenminister Czesław Kiszczak beispielsweise wegen seiner Rolle bei der Einführung des Kriegsrechts verurteilt: zwei Jahre auf Bewährung. Der damalige Staatschef, General Wojciech Jaruzelski, wurde aus gesundheitlichen Gründen für prozessunfähig erklärt.34 Er sollte sich wegen zweier kommunistischer Verbrechen verantworten, nämlich dem Massaker vom Dezember 1970 in Danzig sowie der Einführung des Kriegsrechts 1981. Im Januar 2013, nach 17 Jahren, konnten die Verhandlungen über das Massaker

30 Marek Lasota, O raporcie sejmowej komisji poświęconym samodzielnej grupie „D“ w MSW. In: Biuletyn IPN, 24 (2003) 1, S. 27. 31 Paweł Kuglarz (red.), Od totalitaryzmu do demokracji. Pomiędzy „grubą kreską“ a dekomunizacją – doświadczenia Polski i Niemiec, Kraków 2001, S. 150. 32 Dagmar Unverhau (Hg.), Lustration, Aktenöffnung, demokratischer Umbruch in Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn, Münster 1999, S. 43. 33 Informacja o działalności Instytutu Pamięci Narodowej – Komisji Ścigania Zbrodni Przeciwko Narodowi Polskiemu, Warszawa 2012, S. 144. 34 Jaruzelski wciąż chory. Procesy zawieszone. In: Newsweek Polska vom 29.6.2012.

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von 1970 ­abgeschlossen werden. Die Verurteilung von einigen Mitgliedern der Sondereinheiten, die im Dezember 1981 im Bergwerk „Wujek“ neun Kumpel erschossen hatten, wurde nach 28 Jahren abgeschlossen. 14 Personen erhielten Gefängnisstrafen von zweieinhalb bis elf Jahren. In den meisten Fällen waren die Angeklagten chronisch krank, und die Verteidiger wurden ständig gewechselt, um die Verhandlungen maximal zu verzögern – und zwar mit sichtbarem Erfolg. Dieses schwarz-weiße Bild des schwachen Justizwesens und der gewieften Anwälte, obwohl in den meisten Fällen zutreffend, wäre ohne eine wichtige Anmerkung nicht vollständig. Bereits im Mai 1989 wurde in Polen ein Amnestiegesetz verabschiedet,35 das eine breit gefächerte Straffreiheit für politisch motivierte Taten vorsah. Zwar wurden die Massaker oder Morde dadurch nicht straffrei, allerdings belastete das Gesetz viele Verfahren. Einige Mitarbeiter des Innenministeriums konnten sich beispielsweise ziemlich sicher fühlen, weil der bereits erwähnte Bericht des Parlamentsausschusses 1991 als geheim eingestuft wurde, und zwar zum Schutz der Angeklagtenrechte. Im Jahr 2010 urteilte das Oberste Gericht, dass einige kommunistische Verbrecher nicht weiter verfolgt würden, und zwar wegen Verjährung,36 was allerdings für die allgemeine Gerichtsbarkeit nicht bindend ist. Unvermeidbare Folge war die Tatsache, dass in der Gesellschaft ein Bedürfnis nach deutlich schnelleren und schärferen Verfahren spürbar wurde, was einige Parteien, insbesondere nach 2005, nutzten, um ihre Wählerschaft zu vergrößern.

Strafrechtliche Rehabilitierung und Entschädigung Da die Kapazitäten des Justizwesens und die allgemeinen Prozeduren viel Zeit und Mittel in Anspruch nehmen, konnte man davon ausgehen, dass zumindest die strafrechtliche Rehabilitierung ziemlich schnell durchgeführt werden würde. Dies ist jedoch nur teilweise geschehen. Denn je mehr finanzielle und politische Verantwortung des Staats in dieser Hinsicht zu erwarten war, desto größer wurde der Widerstand der Politik, vor allem wenn es darum ging, eine angemessene Entschädigung zu gewährleisten. Am schnellsten wurde die Frage der strafrechtlichen Rehabilitierung geregelt. Das entsprechende Gesetz von Februar 1991 erklärte alle politisch motivierten Urteile und Beschlüsse für nichtig. Es handelte sich dabei um jeden Beschluss in einer Sache, die mit dem Kampf um ein freies Polen verbunden war.37

35 Gesetz vom 29.5.1989 über das Vergeben und Vergessen einiger Verbrechen und Ordnungswidrigkeiten (Dz. U. 1989, Nr. 34, Pos. 179). 36 Beschluss des Obersten Gerichts vom 20.12.2007, Signatur I KZP 37/07. 37 Gesetz vom 23.2.1991 über die Feststellung der Nichtigkeit von Entscheidungen gegen die aufgrund der Tätigkeit für die Unabhängigkeit Polens verurteilten Personen (Dz. U. 1991, Nr. 34, Pos. 149).

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Ob das der Fall war, musste ein Gericht entscheiden. Diese Entscheidung war mit einem Freispruch gleichzusetzen. Pro Jahr wurden bis 1998 ca. 200 solcher Fälle bekannt gegeben.38 Da die unabhängigen Zentren von ca. 300 000 Opfern sprechen, ist der Rehabilitierungsgrad trotzdem immer noch nicht zufriedenstellend. Wichtig war, dass dieses Gesetz nur in einem Fall heftig kritisiert wurde, nämlich in dem von Oberst Ryszard Kukliński, der wegen Spionage für die USA zum Tode verurteilt wurde. Das Urteil wurde 1995 aufgehoben, er selbst wurde 1997 vollständig rehabilitiert. Das rief in der Gesellschaft unterschiedliche Reaktionen hervor, bei den Streitkräften verständlicherweise sehr negative. Ebenso umstritten waren die Regeln für die Entschädigung. Im sogenannten Kombattantengesetz von 1991 endete die Anerkennungszeit für eventuelle Wiedergutmachungsansprüche im Dezember 1970. Außerdem mussten z. B. gesundheitliche Beeinträchtigungen mindestens sieben Tage dauern. Erst 2009 wurde die Periode ab 1970 bis zur Wende ins Gesetz integriert und pauschal eine Entschädigung in Höhe von ca. 13 000 Euro zugesagt. Bis 2009 betrug die durchschnittliche einmalige Entschädigungssumme ca. 750 Euro. In sehr bekannten Verfolgungsfällen wurde 2013 sogar eine Entschädigung in Höhe von 50 000 Euro gezahlt.39 Für die Entscheidung über den Opferstatus in Form eines administrativen Beschlusses ist das bereits erwähnte Kombattantenamt zuständig, das mit dem Gesetz von 1991 gegründet wurde. Darunter fallen ca. 540 000 Personen. Je nach Alter und Gesundheitszustand bekommen sie freie Medikamente, Rentenzuschüsse, Invalidenrenten, eine Befreiung von der GEZ-Gebühr etc. Ehemalige Insassen von Arbeitslagern bekommen beispielsweise monatlich 50 Euro mehr Rente, allgemein erhalten Kombattanten ca. 75 Euro mehr. Die Opfer dürfen auch früher pensioniert werden. Ferner kann der Ministerpräsident auch eine sofortige Rente anordnen, nicht nur für Kombattanten. Solche Fälle, etwa aus dem Jahr 1998 von durchaus namhaften Dissidenten, die wegen ständiger Festnahmen nicht lange beitragspflichtig arbeiten konnten, haben allerdings eine Welle der Empörung ausgelöst. Hier lautete der Vorwurf, der Dissidentenstatus dürfe kein legitimes Mittel für eine bevorzugte Pensionierung sein. Nicht nur Sonderpensionen wurden kritisiert. Bis heute ist eines der wichtigsten Probleme aus Sicht der Opfer und ihrer Angehörigen nicht gelöst, die Rückgabe des Eigentums. Nach der Wende konnten nur die katholische Kirche und die Gewerkschaft Solidarność ihr Eigentum zurückerlangen, und zwar aufgrund eines Gesetzes von 1990. Erst 2005 wurde per Gesetz die Frage des

38 Dieter Bingen, Die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Polen. In: Bericht des BIOst, 27/1997, S. 14. 39 Sąd: 240 tys. zł. dla Romaszewskiego za dwa lata więzienia. Serwis onet.pl vom 16.1.2013 (http://wiadomosci.onet.pl/kraj/sad-240-tys-zl-dla-romaszewskiego-za-dwa-latawiez,1,5391695,wiadomosc.html).

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sogenannten Ostvermögens geklärt. Laut Vertrag mit der Sowjetunion sollten zwar alle zwangsvertriebenen Polen, die 1939 in den Ostgebieten Polens gewohnt hatten, welche nach 1944 Teil der Sowjetunion geworden sind, von der volkspolnischen Regierung entschädigt werden. Das war verständlicherweise nicht der Fall. Wegen des politischen Drucks und der Lobbyarbeit der ca. 80 000 Personen umfassenden Gruppe der Erben und Eigentümer beschloss das Parlament, lediglich eine Entschädigung in Höhe von 20 Prozent des Werts des verlorenen Eigentums zu zahlen. Die anderen Eigentümer haben nach wie vor keine Entschädigung bekommen, und zwar aus einem einfachen Grund: Der Staat kann sich dies finanziell nicht leisten. Die Erben müssten also den mühsamen Rechtsweg beschreiten, was sie jedoch nicht tun, da er zu teuer ist. Der Versuch einer allgemeinen Entschädigung per Gesetz wurde 1999 durch den Staatspräsidenten abgelehnt, zumal viele Menschen, die in den privaten Häusern anderer Eigentümer wohnen, damit ihre Wohnungen verloren hätten.40 Da aber Ansprüche auf Entschädigungen laut einem Urteil des Obersten Gerichts aus dem Jahr 2011 nicht verjähren, begann die Regierung Tusk, ein Entschädigungsgesetz zu konzipieren, das an die optional vorhandenen finanziellen Mittel gekoppelt ist. Einige Städte beabsichtigen, dieses Problem selbst zu lösen, indem sie die Entschädigungen aus der kommunalen Kasse zahlen. Die dazu notwendigen Mittel sollen durch den Verkauf von kommunalen Anleihen beschafft werden. Dieses Problem muss allerdings noch gelöst werden, vor allem weil die polnischen Opfer die einzigen in Osteuropa sind, die keine klare, per Gesetz geregelte Lösung zugesprochen bekommen haben.

An- und Aberkennung von Privilegien Die Entschädigung der Opfer ist zwangsläufig mit einer anderen Frage verbunden: Ob und inwieweit die Privilegien der Täter aberkannt werden, vor allem die wichtigsten, also die Rentenbezüge. Dem muss noch eine andere Frage hinzugefügt werden, nämlich die nach den Opferverbänden. Grundsätzlich ist das Kombattantenamt für deren Rechte und Unterstützung zuständig. Doch in Eigentumsangelegenheiten kann es nicht als Beratungsstelle fungieren. Nur dort, wo es um viel Geld geht, etwa bei den Vereinen der Osteigentümer, ist eine gut organisierte Vereinsarbeit sichtbar. Ebenso bemerkenswert aus historischer und sozialpolitischer Sicht ist die Arbeit der Vereine, die das Ziel haben, die kommunistische Repressionsgeschichte zu dokumentieren. Das Karta-Zentrum in Warschau machte selbst erstellte Opferverzeichnisse mit

40 Vgl. Tina de Vries, Der rechtliche Umgang mit der Vergangenheit in der Republik Polen. In: Herbert Küpper/Friedrich-Christian Schroeder (Hg.), Die rechtliche Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit in Osteuropa, Frankfurt a. M. 2010, S. 132.

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fast einer Million Einträgen zugänglich,41 die dann als Grundlage für die Anerkennung des Opferstatus gelten. Eine ähnliche Rolle spielen Opfervereine innerhalb der Solidarność-Gewerkschaft, deren Einfluss allerdings gering ist. Ganz anders funktionieren dagegen die starken Organisationen der ehemaligen Geheimdienstler,42 die im März 2009 gegen das soeben verabschiedete „Entspitzelungsgesetz“ protestierten. Es sah vor, die Berechnungsgrundlage für Pensionen und Renten hauptamtlicher Mitarbeiter des Innenministeriums herabzusetzen. 18 000 Personen sollten pro Monat im Durchschnitt 100 Euro weniger bekommen. Bereits im November 2009 klagten 15 000 der betroffenen Geheimdienstler gegen diese Vorschläge. Zwar wurden die meisten Beschwerden abgelehnt, trotzdem konnten die Kombattantenverbände keine ähnlichen Aktionen durchführen, um ihre Interessen zu verteidigen, obwohl einige über 160 000 Mitglieder haben. Die jährlich ca. 200 Beschlüsse des Staatspräsidenten, Kombattanten und Opfer mit Verdienstkreuzen auszuzeichnen, verschwinden in einer Flut gut organisierter PR-Arbeit der ehemaligen Geheimdienstler, die ihr vergangenes Leben als spannende und interessante Arbeit darzustellen versuchen, ohne diesbezügliche politische und moralische Dilemmata tiefer erörtern zu wollen. In der Öffentlichkeit kommt es zu einer spürbaren Wahrnehmungsänderung des Opferseins in der Volksrepublik Polen.43 Zwar werden nach wie vor die wichtigsten zeitgeschichtlichen Ereignisse entsprechend gefeiert. Das Allgemeinwissen über die Opfer lässt jedoch kontinuierlich nach, was allerdings kein rein polnisches Phänomen der nationalen Vergangenheitsaufarbeitung ist.

41 Krzysztof Ruchniewicz/Stefan Troebst (Hg.), Diktaturbewältigung und nationale Selbstvergewisserung. Geschichtskulturen in Polen und Spanien im Vergleich, Wrocław 2004, S. 75. 42 Vgl. Kuglarz, Od totalitaryzmu do demokracji, S. 151. 43 Życie po lustracji. In: Newsweek Polska vom 21.1.2007.

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Der Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit in der heutigen ungarischen Erinnerungskultur Krisztián Ungváry In Staaten mit doppelter Diktaturerfahrung wird der Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit oft mit dem Umgang mit der rechtsradikalen Vergangenheit verglichen. Solche Vergleiche können durchaus produktiv sein, denn beide Systeme bezogen sich sehr stark aufeinander und legitimierten sich durch die Negation des anderen. Vergleiche sind daher umso notwendiger, weil nicht nur die Diktaturen, sondern auch ihre Erinnerungskulturen miteinander bis aufs Engste verknüpft sind. Die offene kommunistische Diktatur dauerte 41 Jahre lang, und auch wenn man lediglich von einigen Tausend Todesopfern ausgeht,1 waren doch sehr viele Familien durch Bespitzelung, Zwangsabgaben und Verfolgung betroffen.2 Die Diktatur der Pfeilkreuzler dauerte dagegen nur fünf Monate, kostetet jedoch Zehntausende Todesopfer, und die Kollaboration mit den deutschen Besatzern, die schon vor der Machtübernahme der Pfeilkreuzler reibungslos funktionierte, bewirkte eine arbeitsteilige Ausplünderung und Deportation von 437 000 Ungarn jüdischer Abstammung. Betrachtet man die Menschenverluste, steht also, grob verglichen, eine relativ „milde“ Diktatur, die lange andauerte, einer schrecklichen kurzen gegenüber. Die Verwüstungen und Schäden in der Gesellschaft sind jedoch in beiden Fällen kaum abschätzbar. Aufgrund eines solchen Resultats scheinen die Täter in den Reihen der kommunistischen Partei moralisch gesehen kaum besser als irgendwelche NS-Täter. Die demokratische Machtübernahme 1989 erfolgte friedlich, wodurch es jedoch zu einer nicht unbeträchtlichen, bis heute währenden Elitenkontinuität kam. Wenn in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 in vielen Bereichen eine personelle Kontinuität von Funktionsträgern des NS-Regimes feststellbar war, dann gilt dies für die Kontinuität der kommunistischen Elite in Ungarn in

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Ca. 300 politische Todesurteile erfolgten während der Rákosi-Zeit, 2 500 Tote während der Revolution 1956 und 300 politische Hinrichtungen in der Kádár-Diktatur. Vgl. Ignác Romsics, Magyarország története a XX. században, Budapest 1999, S. 343, 394, 404. Allein zwischen 1950 und 1953 wurden 390 000 Personen verurteilt, davon kamen 44 000 in ein Lager. Nach 1956 wurden 22 000 Personen verurteilt, 13 000 interniert und Zehntausende aus ihren Stellen entfernt. Über 1,5 Millionen Menschen wurden in den Karteien der Staatssicherheit aufgrund von Spitzelmeldungen geführt. So die Angaben bei Romsics, Magyarország története, S. 343.

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einem noch viel größerem Maße. Verantwortliche Personen des kommunistischen Unrechtsstaats sind auch heute maßgebliche Akteure der ungarischen Politik und Gesellschaft. Dieses Phänomen ist parteiübergreifend: Imre Pozsgay, einer der Autoren der neuen, seit 2011 gültigen Verfassung Ungarns war vor 1989 Mitglied des Politbüros und des ZK und zwischen 1976 und 1982 mehrfach Minister für Kultur und Bildung.3 Andererseits gab es seit 1989 Bestrebungen, die Verantwortung der kommunistischen Machthaber für Verbrechen gegenüber dem ungarischen Volk zu thematisieren. Es formierten sich verschiedene Opferverbände.4 Ihre gesellschaftliche Verankerung und ihr politisches Gewicht blieben jedoch minimal. Die Verbrechen der kommunistischen Diktatur (offiziell: Diktatur des Proletariats) begannen schon im Jahr 1945, als Ungarn formal noch eine Demokratie war. Die politische Polizei stand jedoch zu 100 Prozent im Dienste der kommunistischen Partei, und schon die ersten Kriegsverbrecherprozesse waren durch Rechtsbrüche und politische Instrumentalisierung gekennzeichnet. Nur in einem Punkt – in der Frage der Vertreibung der Ungarndeutschen – herrschte ein breiter Konsens, weshalb die Vertreibungen auch nicht einfach als ein „kommunistisches“ Verbrechen bezeichnet werden können. Das gilt im Übrigen auch für die Tschechoslowakei, wo diese Maßnahme ebenfalls parteiübergreifend unterstützt worden war. Breite Bevölkerungsschichten befürworteten einen ethnisch reinen Staat bzw. fanden es richtig, aufgrund von Abstammung Vermögen anderer zu enteignen. Die Vertreibung der Ungarndeutschen wurde aber aus mehreren Gründen nicht mit derselben Radikalität durchgeführt wie in Polen, Jugoslawien oder in der Tschechoslowakei.5 Im Gegensatz zu diesen Ländern gab es in Ungarn keine interethnischen Konflikte zwischen Ungarndeutschen und Madjaren, was die Brutalität dieses Verbrechens wesentlich abschwächte. Die ungarische Regierung musste zudem rasch feststellen, dass die Vertreibung kontraproduktiv war, weil sich die Slowakei – mit dem Argument, freie Plätze gäbe es genug – gerade auf die ungarischen Maßnahmen berief, um Madjaren aus der Slowakei vertreiben zu dürfen. Die Erinnerung an die Vertreibung ging aus diesen Gründen eigene Wege. Einige Patenschaften zwischen alten und neuen Heimatdörfern gab es schon in den 1970er-Jahren. Nach der Wende sind in allen Dörfern, aus denen Ungarndeutsche vertrieben worden sind, Denkmäler oder Gedenkstätten eingeweiht

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Fidesz pflegt sogar einen besonderen Kult um die Person Pozsgay. Ein Gesprächsband mit ihm ist in dem Fidesz-nahen Verlag Kairosz im Jahre 2011 unter dem Titel „Der ehrenamtliche Staatspräsident“ erschienen. Die Bedeutendsten sind: SZÓRAKÉSZ (Landesverband der in der Sowjetunion inhaftierten Personen), Politikai Foglyok Országos Szövetsége (POFOSZ – Landesverband der politischen Häftlinge), Recski Szövetség (Verband der Recsker; in Recsk existierte zwischen 1950–1953 das schlimmste Lager Ungarns). Vgl. Ágnes Tóth, Migrationen in Ungarn 1945–1948. Vertreibung der Ungarndeutschen, Binnenwanderungen und slowakisch-ungarischer Bevölkerungsaustausch, München 2001.

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worden. Seit 1990 gehört es zur Gepflogenheit aller Regierungen, sich für die Vertreibung der Ungarndeutschen zu entschuldigen. Allerdings sind diese nicht wirklich ernst gemeint, denn die meisten Politiker sagen im selben Atemzug, dass die Vertreibung durch die Beschlüsse der Vier Mächte in Potsdam aufgebürdet worden sei. Diese Interpretation ist seit 2013 auch gesetzlich verankert.6

Wiedergutmachungsgesetze 1991 bis 1997 als Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit Die Wiedergutmachungsgesetze zielten darauf, Vermögensverluste auszugleichen7 und erlittenes Unrecht zu kompensieren.8 Diese Gesetze sind in mehreren Etappen zwischen 1991 und 1997 erlassen worden. Die letzten Eingaben konnten im Jahr 2006 gestellt werden. Die Gesetze bezogen sich auf die Zeit von 1939 [!] bis 1990 und sahen vor, sowohl die Opfer der Judenverfolgung, politische Verfolgung durch ungarische Regierungsstellen9 bzw. ungarische und deutsche Nationalsozialisten als auch die Verfolgungen des kommunistischen Unrechtsstaats zu kompensieren. Zuerst standen die Verfolgungen des kommunistischen Unrechtsstaats im Vordergrund, aber schon ab 1992 wurde ein politischer Konsens darüber geschaffen, dass aus Sicht der Entschädigungspolitik kein Unterschied zwischen den Opfern der NS- und der kommunistischen Verfolgung gemacht werden sollte. Diese Sichtweise war eher praktisch begründet und allgemein akzeptiert. Die entzogenen Vermögen wurden allerdings nur bis zu festgelegten Maxi­ malsummen kompensiert, wobei die Entschädigung nicht in Bargeld erfolgte, sondern in Form von Entschädigungsgutscheinen, die während der Privatisierungen eine Rolle spielten und auch an der Börse gehandelt werden konnten. Freiheitsentzug, erlittene Folter und Lebensverlust konnten ebenso Grundlage für Wiedergutmachung sein; berechtigt waren nicht nur die Betroffenen selbst, sondern im Falle ihres Ablebens bzw. Tötung auch ihre Hinterbliebenen.

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Parlamentarischer Beschluss vom 10.12.2012 über den Gedenktag der Vertreibung der Ungarndeutschen. Dass in Wahrheit in Potsdam gerade wegen der Bitte der ungarischen Regierung die Vertreibung der Ungarndeutschen erlaubt worden war, wird verschwiegen. http://www.kimisz.gov.hu/data/cms1845/1991_evi_XXV_torveny.pdf, http://www. complex.hu/kzldat/t9200024.htm/t9200024.htm http://www.1000ev.hu/index.php?a=3¶m=8885, http://www.1000ev.hu/index. php?a=3¶m=9448 Ein wesentlicher Teil der Verfolgungsmaßnahmen in Ungarn wurde nicht durch die ungarischen Nationalsozialisten vollzogen. Sie entstanden vielmehr in einem einerseits gelenkten Mehrparteiensystem, in dem Nationalsozialisten andererseits auch verfolgt wurden. Die sogenannten Judengesetze zwischen 1938 und 1943 resultierten aus dem politischen Willen der Regierungspartei und der Opposition, ohne maßgebliche Hilfe der ungarischen Nationalsozialisten. Nur die Partei der Sozialdemokraten und die Legitimisten waren dagegen, die Partei der Kleinlandwirte und die Nationale Bauernpartei nahmen eine unterschiedliche Position ein, und die sogenannten christlichen Parteien unterstützten

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Prozesse gegen die Täter Der andere Teil der Aufarbeitung der Verbrechen des kommunistischen Unrechtsstaats hätte in der Strafverfolgung der Täter bestehen können. Zsolt Zétényi, ein Politiker der Kleinlandwirtepartei (damals Koalitionspartei der Regierung) reichte im Jahre 1991 selbstständig einen Gesetzentwurf ein, der die Verjährung der aus politischen Gründen zwischen 1944 bis 1990 nicht verfolgten Verbrechen wie Mord, Totschlag, Landesverrat neu regeln und wieder strafbar machen sollte. Dahinter stand die Tatsache, dass in willkürlichen Erschießungsaktionen der kommunistischen Machthaber im Jahre 1956 mindestens 300 Personen ermordet worden sind. Das Gesetz wurde im Parlament zwar angenommen, Staatspräsident Árpád Göncz unterschrieb es jedoch nicht, sondern reichte es zur Normenkontrolle ein, und das Verfassungsgericht erklärte es für verfassungswidrig. Diese Entscheidung war nicht zwangsläufig, denn sehr ähnliche Gesetze sind sowohl in Deutschland als auch in Tschechien angenommen worden. Zétényi reichte im Jahre 1992 einen neuen Gesetzentwurf ein, der die Verjährungsfrage regeln sollte. Das Ganze wiederholte sich: Das Gesetz wurde als Gesetz 1993/XC im Parlament angenommen, der Staatspräsident schickte es zur Normenkontrolle, und das Verfassungsgericht erklärte das Gesetz als verfassungswidrig. Die Regierung reichte parallel dazu ein Gesetz ein, das nur die Fälle, die während der Revolution und ihrer Niederschlagung erfolgten, betreffen sollte. Dieses Gesetz ist im Jahre 1993 angenommen worden. Die Mehrheit der Opposition hielt sich von der Abstimmung fern. Der Staatspräsident schickte das Gesetz wieder zur Normenkontrolle, das Verfassungsgericht entschied, dass der erste Paragraf des Gesetzes verfassungswidrig sei, für den zweiten Paragraf schrieb es konkrete Veränderungen vor. Daraufhin wurde der erste Paragraf gestrichen und das Gesetz ansonsten unverändert angenommen. Der Staatspräsident musste zwar wissen, dass damit nur ein Teil der Vorgaben des Verfassungsgerichts erfüllt wurde, unterschrieb jedoch das Gesetz, das damit rechtskräftig wurde. Auf seiner Grundlage sind nun im Jahre 1994 verschiedene Prozesse in Gang gesetzt worden. Strategisch klug positioniert, meldeten sich die Gegner des Gesetzes erst nach den ersten Urteilen zu Wort. Der Oberste Prokurist und der Präsident des Obersten Landesgericht wandten sich an den Verfassungsgerichtshof, um das Gesetz zu annullieren, weil die früher vom Verfassungsgericht festgelegten Vorgaben nicht erfüllt worden seien. Der Verfassungsgericht annullierte daraufhin auch dieses Gesetz, hielt jedoch fest, dass eine Bestrafung aufgrund der Genfer Konvention im Jahre 1949 diese Fälle auch ohne weitere

diese Gesetze ­vollständig. In die Kollaborationsregierung nach der deutschen Besetzung des Landes nach dem 19.3.1944 waren die ungarische Pfeilkreuzler nicht vertreten. Sie kamen erst nach dem 15.10.1944 an die Macht. Deshalb ist es irreführend, in Ungarn über „NS-Verfolgte“ zu sprechen, wenn es um die politischen Opfer dieser Zeit geht. Exakter wäre die Bezeichnung „Verfolgte des Staats“.

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Gesetze möglich mache. Das Landesgericht entschied, dass die Ereignisse der Revolution nicht unter die Genfer Konvention fallen. Nach einem Protest eines Opferverbandes im Jahre 1999 wurde diese – an und für sich sehr peinliche – Entscheidung zurückgezogen. Zu dieser Zeit lebten aber kaum noch Täter, die hätten bestraft werden können. Die Urteile sprechen für sich: Oberst József Dudás, der im Jahre 1956 in Mosonmagyaróvár Feuerbefehl auf eine friedlich demonstrierende Menge gab, was mindestens 50 Tote und 200 Verwundete zur Folge hatte, bekam wegen Verbrechen an der Menschheit durch Mord an mehreren Personen drei Jahre Gefängnis, die Strafe wurde jedoch wegen einer Amnestieverordnung als „nicht durchführbar“ außer Kraft gesetzt. Die Untergebenen von Dudás bekamen noch mildere Strafen. Diese Minimalstrafen – Mindeststrafe bei Mord liegt bei fünf Jahren – entstanden dadurch, dass nach Auffassung des Gerichts die Täter unter „Bedrohungsängsten“ durch die Menge litten. Da Dudás im Jahre 2001 starb, konnte der Oberste Landesgericht den Fall nicht weiterverfolgen. Bis 2003 gab es insgesamt acht Prozesse wegen Massenerschießungen. In zwei Fällen sind die Täter zu 5 und 2,5 Jahren Zuchthaus verurteilt worden, der Strafvollzug ist jedoch wegen der Amnestieverordnung oder wegen „Undurchführbarkeit“ ausgesetzt worden. Damit erwiesen sich alle Versuche der Justiz letztlich als Farce. Die juristische Aufarbeitung war in den ersten Jahrzehnten von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil es unmöglich war, diejenigen zu verfolgen, die mehr oder weniger freiwillig die Macht übergeben hatten und sich anschließend auch in die Dienste der neuen Parteien stellten. Über die Nichtbestrafung der früheren Machthaber bestand auch bei den Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition im Jahr 1989 Konsens. Dieser Konsens ist gut verständlich, denn der absolut evolutionäre Charakter des Systemwechsels in Ungarn war im Ostblock ohne Beispiel. Nach zwei Jahrzehnten ist dieser Konsens scheinbar aufgekündigt worden. Im Jahr 2011 wurde ein neues Gesetz im Parlament angenommen, die sogenannte Lex Biszku. Béla Biszku war zwischen 1957 und 1961 als Innenminister verantwortlich für alle Prozesse, die wegen der Revolution durchgeführt worden sind. Auch später bekleidete er hohe Staats- und Parteiämter. Zurzeit ist er der letzte lebende ZK-Sekretär bzw. Innenminister, der für die Todesurteile der Diktatur große Verantwortung trägt. Das Gesetz ist praktisch die Neuauflage des Gesetzes von Zétényi-Takács. Dieses Mal ist es auch ohne Einwände vom Parlament und vom Verfassunggerichtshof angenommen worden. Das Gesetz deklariert die Nichtverjährung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit.10 Am 13. Mai 2015 wurde Biszku in erster Instanz zu fünf Jahren und sechs Monaten wegen Kriegsverbrechen, Missbrauch von Munition und offener Leugnung von kommunistischen Verbrechen verurteilt. Wer jedoch annahm, dass dieses Mal mit den Verantwortlichen des kommunistischen Unrechtsstaats hart ­abgerechnet 10 http://www.parlament.hu/irom39/04714/04714.pdf

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werden würde, irrte sich gewaltig. Wie bereits erwähnte, ist ein früheres ZK-Mitglied Vater der neuen Verfassung, darüber hinaus sind frühere Parteisekretäre bis zum Ministerposten aufgestiegen und Offiziere der kommunistischen Sicherheitsdienste genießen das volle Vertrauen der Fidesz-Regierung, welche die „Geschichtsaufarbeitung“ nur gegen seine politischen Feinde nutzt.

Symbolische Orte Die Erinnerungskulturen an Krieg und Diktaturen sind in jedem Land eng mit symbolischen Gedenkorten verknüpft. Diese bedeuten ein Stück der kollektiven Erinnerung, die als „Erinnerungsorte“ auch eine hervorgehobene politische Bedeutung besitzen. Der Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit kann anhand zweier solcher in ihrer Funktion sehr verschiedener Erinnerungsorte aufgezeigt werden. Der dritte Erinnerungsort, der Statuenpark, muss hier besonders erwähnt werden. Er war bei seiner Gründung im Jahre 1991 noch umstritten,11 aber bald als bekannte Sehenswürdigkeit etabliert. Hier sind alle Statuen, die bis 1989 als Mahn- und Erinnerungsdenkmäler die Stadt „geschmückt“ hatten, zusammengetragen worden. Die riesigen Skulpturen der Revolutionäre erzeugen in der ansonsten leeren Fläche eine besondere, ironische Wirkung. Möglicherweise deshalb protestierten bei seiner Gründung manche Personen des öffentlichen Lebens vor 1989 dagegen und bemängelten, dass diese Lösung eine „Ghettoisierung“ der Erinnerung bedeute. Seit 1991 ist dieser Erinnerungsort unumstritten, im Unterschied zu den folgenden. Das Haus des Terrors: Missbrauch des Totalitarismuskonzepts Die Partei Fidesz (Bund der Jungdemokraten) war ursprünglich eine linksliberale politische Formation. Parteichef Viktor Orbán formierte daraus nach 1994 eine „konservative“ Partei, weil er auf dem rechten Spektrum größere politische Möglichkeiten sah. Fidesz schaffte es unter dem Motto „Lager und Fahne sind eins“ bis 2010 als einzige rechte Partei, im Parlament vertreten zu sein. Die Politik von Fidesz versprach zudem eine symbolische Wende und damit auch eine Neudeutung der ungarischen Geschichte. Das verlangte sowohl symbolische Gesten, wie die pompöse Überführung der Stephanskrone auf einem Donauschiff von Gran nach Budapest ins Parlament, als auch konkrete Maßnahmen, wie die Gründung von kulturellen Einrichtungen, einerseits in den Medien, andererseits in Form von neu gestifteten Forschungseinrichtungen und

11 Ein Teil der Kritiker fand die Installation unwürdig und wollte am liebsten die Statuen an ihren Plätzen belassen, andere plädierten dagegen für ihre Vernichtung.

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Dokumentationsstätten.12 Was aus der Sicht des Rechtsstaats noch problematischer ist, ist ihre regierungsparteitreue Führung und die Durchsetzung der Alleinherrschaft dieser Institutionen auf ihren Sachgebieten. Ein Höhepunkt dieser Maßnahmen war die Gründung des „Haus des Terrors“ im Jahr 2001. Diese Institution beherbergt die erste ungarische Geschichtsausstellung, bei der man das Gefühl hat, als wollte man Hannah Arendts Totalitarismustheorie verwirklichen, denn schon am Eingang wird die Vergleichbarkeit hervorgehoben: Hier stehen nämlich die beiden totalitären Symbole (Hakenkreuz und roter Stern) nebeneinander. Das Haus an der Andrássy-Straße 60 war geradezu prädestiniert für ein solches Museum, denn hier hatten bis 1945 die ungarischen Nazis, die Pfeilkreuzler, ihre Parteizentrale; danach war hier die kommunistische politische Polizei, später der Staatssicherheitsdienst zu Hause. Die Adresse dieses Hauses war in Ungarn jedem als Schreckensbegriff wohlbekannt, denn die Folterungen, die sich zwischen seinen Mauern abspielten, waren im ganzen Land verbreitetes Gesprächsthema. Das Haus war derart kompromittiert, dass es deshalb bereits nach 1951 als Polizeisitz aufgegeben wurde. Nach der Wende zog eine Bank in das Gebäude ein, und außer einer bescheidenen Tafel erinnerte bis 1998 nichts an die unsagbaren Verbrechen, die dort begangen worden sind. Die Fidesz-Regierung scheute keine Kosten, um hier das imposanteste Museum der letzten 23 Jahre zu erstellen. Die Kosten beliefen sich auf über 160 Millionen Euro. Im Innenhof des Museums ist ein T-54 Panzer installiert, bei der Besichtigung sieht man je eine Fotoinstallation: die „Wand der Täter“ und die „Wand der Opfer“. In den drei Stockwerken sind großzügig ausgestattete Räume errichtet worden, die je einen Ausschnitt ausgewählter Aspekte der beiden Diktaturen, der pfeilkreuzlerischen und der kommunistischen, behandeln. Die Politiker der Sozialisten und der liberalen SZDSZ (Szabad Demokraták Szövetsége – Bund Freier Demokraten) kritisierten von Anfang an die Idee einer Dokumentationsstätte in diesem Haus. Außenminister László Kovács forderte, anstatt eines „Terrorhauses“ sollte man ein „Haus der Erinnerung und Versöhnung“ an einem anderen Ort errichten. Diesbezüglich sind einige grundsätzliche Überlegungen angebracht. Versöhnung setzt angemessene Anerkennung der Schuld voraus. So ein Bekenntnis legte in Ungarn vor der Öffentlichkeit nur ein einziger Geheimdienst-Offizier ab.13 Dagegen publizierte der frühere ideologische

12 Neben dem „Haus des Terrors“ gründete Fidesz zwischen 1998 und 2002 das „Institut für das XX. Jahrhundert“, das „Institut für das XXI. Jahrhundert“ und das „Hamvas Béla Kulturforschungsinstitut“. Diese Institutionen haben aber keine festen Angestellten außer einem Direktor und vergeben lediglich Stipendien. Sie verlegen auch keine Periodika und sind in der wissenschaftlichen Community kaum präsent. Die ersten zwei Institutionen werden von Mária Schmidt geleitet. 13 Vladimir Farkas, Oberstleutnant der ÁVH publizierte nach 1988 eine Autobiografie mit dem Titel: Nincs mentség. AZ ÁVH alezredese voltam (Es gibt keine mildernden Umstände. Ich war Oberstleutnant der ÁVH), Budapest 1990.

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Sekretär des Politbüros, János Berecz, seine Autobiografie mit dem bezeichnenden Titel „Vállalom“, was auf Deutsch bedeutet, dass er sich für nichts zu schämen habe (seine Bücher erfreuen sich dabei großer Popularität). Katalin Szili, ­stellvertretende Präsidentin der MSZP (Magyar Szocialista Párt – Ungarische Sozialistische Partei), sagte anlässlich einer Pressekonferenz, dass die „Sozialisten um Entschuldigung bitten, unabhängig davon, ob die Verbrechen von uns begangen worden sind oder nicht. Wir bitten die ungarische Nation, die Verbrechen der Vergangenheit zu verzeihen, sowie auch wir denjenigen verzeihen, die gegen uns gesündigt haben.“14 Die Absurdität dieses Satzes wird deutlich, wenn wir uns vorstellen, dass Erich Honecker sich mit der Geste entschuldigen würde, dass auch er bereit sei, denjenigen zu verzeihen, die gegen die DDR „gesündigt“ hätten. Im „Haus des Terrors“ ist der Geschichte des Holocaust bewusst weniger Platz gewidmet worden. Diese Entscheidung hätte auch gut begründet werden können, denn es wäre an und für sich legitim, für dieses Thema ein separates Museum zu schaffen. In den Diskussionen um das Haus wurde seitens der Regierung betont, dass für die Geschichte des Holocausts ein besonderes Museum errichtet werde. Auch dafür wurden erhebliche Mittel bereitgestellt. Die jüdische Gemeinde war damit zufrieden und bot für diesen Zweck eine abseits gelegene und baufällige Synagoge an. Die Repräsentation in einer Synagoge eröffnete jedoch sehr ungünstige Interpretationsmodelle, wie etwa „die Geschichte des Holocausts sei eine Sache der Juden“, also eine Art Entsorgung der nationalen Geschichte. Ein anderes Problem ergibt sich dadurch, dass die Opfer postum nivelliert wurden, da beispielsweise an das assimilierte Judentum, dessen bekannteste Vertreter sich in ihrer Mehrheit sogar taufen ließen und mit dem jüdischen Glauben nicht in Verbindung gebracht werden wollten, nun in einer Synagoge erinnert würde. In der Planung dieses Konzepts hatte man fatalerweise übersehen, dass der antisemitischen Deutung, die Juden unabhängig von ihrem Eigenbekenntnis als rassische Gruppe zu definieren, die Botschaft eines solchen Museums sehr ähnlich ist. Der Streit um einen nationalen Gedenk­ort für den Holocaust in Ungarn dauert daher noch an. Der erste Ausstellungsraum im „Haus des Terrors“ hat das Thema „doppelte Besetzung“. Die Ausstellung will zwar bewusst nicht den Weg zum Holocaust darstellen, geht in der Verkürzung jedoch haarsträubende Kompromisse ein. Man kann die Sache nicht mit den folgenden Sätzen erledigen: „An der Spitze Ungarns stand bis zur Nazi-Okkupation 1944 eine legitime Regierung und ein legitimes Parlament, es waren Oppositionsparteien tätig, deren Abgeordnete im Parlament saßen. Trotz der Einschränkungen wegen des Kriegs kam die Pressefreiheit zur Geltung. Die ungarischen Bürger lebten besser und freier als ihre

14 Zit. nach Mária Schmidt, A terror háza múzum első éve. In: Magyarország politikai évkönyve 2003, Band I, S. 330, 338. Anschließend forderte Frau Szili, einen eindeutigen Schlussstrich unter die kommunistische Vergangenheit zu ziehen.

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Nachbarn. Nach dem 19. März bekam das Land eine Kostprobe davon, was passiert wäre, wenn die Nazis gewonnen hätten.“15 Dem Besucher wird suggeriert, dass für die späteren Ereignisse nur eine kleine Gruppe weniger Leute verantwortlich gemacht werden kann, obwohl es in der Wirklichkeit gerade umgekehrt war. In Ungarn sind ab 1938 vom Parlament zahlreiche antisemitische Gesetze angenommen worden, die in ihrer Judendefinition sogar noch radikaler ausfielen als die Nürnberger Rassengesetze. Fast alle Parteien stimmten ­diesen Gesetzen zu, die meisten Redner verlangten ­sogar ­noch radikalere Lösungen. Von deutschem Druck konnte dabei keine Rede sein. Die Regierungsparteien ­unterschieden sich vor 1944 in ihrer Judenfeindlichkeit kaum von den Pfeilkreuzlern. Deshalb ist die obige Information völlig ­irreführend. Der nächste Raum stellt die Welt des Gulags vor. Im Gegensatz zu der Ausstellung über die NS-Verbrechen, wo nur die ungarischen Totenzahlen genannt werden, begreift sich die Ausstellung hier globaler und zählt die Opfer aller Nationen auf. Anstatt exakter Angaben wird hier jedoch einfach eine Zahl von „mehreren 10 Millionen Toten“ angegeben, obwohl man zwischen 1939 und 1945 von insgesamt 1 370 000 Opfern, die den Tod im Gulag fanden, ausgeht. Zudem gab es vor 1939 jährlich bis zu 100 000 Todesopfer. Die stalinistische Diktatur ermordete mehrere 10 Millionen, deren Mehrheit aber nicht im Gulag starb. Da die Wahrheit schlimm genug ist, ist es völlig überflüssig, die Sünden des sowjetischen Systems so ungenau darzustellen. Im Raum, in dem das „Umerziehen“ präsentiert wird, versagt die symbolische Darstellung am deutlichsten. Auf einem sich drehenden Podium sind zwei mit dem Rücken aufgestellte Figuren zu sehen, die die Uniform der Pfeilkreuzler und der kommunistischen politischen Polizei tragen. Um die Kontinuität zu zeigen, hört man das Schließen von Kleiderschränken, auf einem Bildschirm werden auch sich umziehende Schatten gezeigt. Tatsache ist aber, dass sich 1945 kein einziger Pfeilkreuzler die Uniform der politischen Polizei anzog, weshalb die Präsentation nichts anderes als eine Geschichtsfälschung ist. Hätten die Aussteller die Gemeinsamkeiten zwischen beiden totalitären Parteien zeigen wollen, dann hätten sie auf die Kontinuitäten in der Parteianhängerschaft verweisen müssen. Richtiger wäre es etwa gewesen, auf dem drehenden Podium zwei Parteibücher zu zeigen. Das Konzept der Aussteller, das Problem der Kontinuität anhand der Mitglieder der politischen Polizei zeigen zu wollen, hängt damit zusammen, dass man vor der Thematisierung der nationalen Verantwortung ausweichen wollte. Über die Mitglieder der politischen Polizei ist nämlich allein ein Satz zu lesen: „Eine Organisation aus linksradikalen Elementen, Kriminellen und ehemaligen Pfeilkreuzler-Henkersknechten.“ In Wirklichkeit gab es in der Führung der politischen Polizei, also unter den Personen, deren Bilder die ausgehängte

15 Text wie auch die weiteren Texte zitiert aus der Installation im Museum.

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Porträtsammlung zeigt, keinen einzigen Pfeilkreuzler-Henkersknecht und auch keinen ­gewöhnlichen Kriminellen. Viele Mitglieder waren tatsächlich überzeugte Kommunisten, also „linksradikale Elemente“. Bei vielen könnte aber auch die Motivation zum Eintritt in die Polizei eine Rolle gespielt haben, in dieser Funktion mit den rassistischen Tätern bewusst abzurechnen und nicht zuletzt somit für alle Zeiten die Wiederkehr des Nazismus zu verhindern. Unter den ersten Mitgliedern der politischen Polizei waren nämlich viele Juden, die die Diktatur zuerst als jüdische Arbeitsdienstler, also als Opfer kennenlernten, und nur wenige von ihnen kamen aus der sowjetischen Emigration. Diese Tatsachen werden in der Ausstellung auffallend verheimlicht. Die Gründe dieser Verheimlichung sind klar: Die Ausstellung will über die Kommunisten nur kompromittierendes Material darstellen, um hinsichtlich des sowjetisierten Parteistaats nichts über das tatsächliche Verhalten der ungarischen Bevölkerung sagen zu müssen – genau so, wie hinsichtlich der vorigen Judenverfolgung und Pfeilkreuzler-Herrschaft. Auch Antifaschismus hat deshalb im Museum keinen Platz. Demgegenüber hätte eine differenzierte Darstellung selbst dem antikommunistischen Ausstellungskonzept gutgetan, hätte man erwähnt, dass beispielsweise die politische Polizei auch gegenüber Juden, insbesondere den Zionisten, brutal auftrat. Unter den ersten Opfern der Kommunisten befanden sich zudem gerade die jüdischen Mitglieder der kommunistischen, jedoch nicht moskautreuen Weisshaus- und Demény-Fraktionen. Im nächsten Raum, der sich mit dem antikommunistischen Widerstand befasst, steht folgender Text zu lesen: „Mehrere Zehntausende meldeten sich zur Organisation eines bewaffneten Widerstands [...]. Die Namen von vielen sind unbekannt. Von anderen erzählt man immer noch kommunistische Lügen, obwohl sie richtige Helden sind.“ Es ist schwer, diese Sätze anders auszulegen, als dass damit einseitig alle antikommunistischen Bewegungen, somit auch die rechtsradikalen und rassistischen, als heldenhaft beschrieben und verherrlicht werden sollen, was bedeutet, dass die Motive des Antikommunismus also nicht hinterfragt werden. Man hätte dagegen darstellen müssen, dass ein (wesentlicher) Teil des antikommunistischen Widerstands nicht durch demokratische Gesinnung geprägt war. Außerdem gab es nach 1945 kaum Ungarn, die einen bewaffneten Widerstand gegenüber dem sowjetisierten Parteistaat wagten. Diejenigen jedoch, die sich vor 1945 aus eigener Initiative für den Militärdienst gegen die vordringende Rote Armee gemeldet hatten, waren Freiwillige der aus Ungarn bestehenden Waffen-SS-Division „Hunyadi László“ bzw. des bewaffneten Parteidienstes der ungarischen Pfeilkreuzler. Im Licht dieser Tatsachen von „richtigen Helden“ zu sprechen ist unheimlich. Die Darstellung des kommunistischen Arbeitsdienstes zeigt, wohin ein unreflektierter Vergleich führt. Der Begleittext informiert den Besucher, dass „sie nach der gut funktionierenden nationalsozialistischen Methode statt der militärischen Ausbildung einer ‚Sonderbehandlung‘ unterzogen wurden“. Dies ist irreführend. In den 1950er-Jahren war das Ziel des Arbeitsdienstes nicht

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die Einrichtung von „mobilen Hinrichtungsplätzen“,16 sondern die maximale Ausnutzung der Arbeitskraft der Regimegegner. In einem Kriegsfall wäre der Arbeitsdienst möglicherweise logistisch zur physischen Vernichtung der „feindlichen“ Elemente genutzt worden, die als solche bereits erfasst waren, – da es jedoch nicht dazu kam, ist es verfälschend, den kommunistischen Arbeitsdienst als genuine Massenmordorganisation darzustellen. Die undifferenzierte Präsentation von Einzelschicksalen führt zu einer Verwechslung von Tätern und Opfern. Dies fällt besonders im rekonstruierten ­Folterkeller auf. Neben keinem der Porträts in den Zellen steht, was genau der dargestellten Person vorgeworfen wurde und warum er/sie zum Opfer des Terrors wurde. Pars pro Toto soll hier Zoltán Bilkei-Papp genannt werden. Er wird als Opfer dargestellt, obwohl er im Jahre 1944 bewaffnetes Mitglied der Pfeilkreuzler-Brachialtruppe war. 1945 verbreitete er antisemitische Flugblätter mit dem Titel „Judenwelt in Ungarn“, was die Aussteller anscheinend als antikommunistische „Heldentat“ werten. Dafür wurde er zum Tode verurteilt, später aber zu einer lebenslänglichen Haftstrafe begnadigt. Drei Jahre später hat die Polizei als Ergebnis nachträglicher Untersuchungen die Tätigkeiten von Bilkei-Papp im Jahr 1944 neu ermittelt. In einem weiteren Strafverfahren wurde er noch einmal zum Tode verurteilt und schließlich hingerichtet. Bilkei-Papp wurde tatsächlich im Jahre 1944 einmal straffällig, als er nachweislich Mord und Beihilfe zum Mord als bewaffneter Pfeilkreuzler beging, und einmal im Jahre 1945 als notorischer Antisemit. Trotzdem steht sein Name an der „Wand der Opfer“. Die Verschleierung der Rolle von Tätern und Opfern zeigt sich exemplarisch am Fall von György Donáth. Die Ausstellung verrät über ihn bloß, dass er im Prozess gegen die „Ungarische Gemeinschaft“ zum Tode verurteilt wurde. Der Prozess war zwar ein Schauprozess, hatte jedoch einen rationalen Kern. Die „Ungarische Gemeinschaft“ war eine im Jahr 1925 gegründete geheime Organisation, die keine Juden oder Deutsche als Mitglieder aufnahm und versuchte, durch ihre „echt“ ungarischen Mitglieder die Staatsverwaltung zu unterwandern. Aufgrund ihrer national-rassistischen Haltung vertrat sie auch einen deutschfeindlichen Standpunkt, und während der deutschen Besetzung im Jahr 1944 leisteten einige Mitglieder Widerstand. Donáth und die „Ungarische Gemeinschaft“ planten nach 1945 keine gewaltsame Machtübernahme, wie es ihnen vorgeworfen wurde, aber sie verbreiteten rassistische und antisemitische Broschüren und Rundschreiben. Donáth selbst war zwischen 1938 und 1944 Parlamentsabgeordneter und der Budapester Direktor der damaligen ständigen

16 Auch vor 1945 gab es für Juden Arbeitsdienst in einer verschärften Form. Dieser wurde nach 1945 von manchen generell als Maßnahme zur physischen Vernichtung angesehen, und es entstand die Legende von den „mobilen Richtplätzen“. Diese hat einen rationalen Kern, denn in manchen Einheiten sind die meisten jüdischen Arbeitsdienstler umgekommen. Betrachtet man jedoch die Verlustzahlen der ganzen Institution des jüdischen Militär-Arbeitsdienstes, dann kommt man zum Ergebnis, dass diese unter den Verlusten der regulären Soldaten geblieben sind.

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Regierungspartei „Partei des Ungarischen Lebens“; er stimmte für die Einführung der Judengesetze und war in hoher Position verantwortlich für die Ausarbeitung der Parteipropaganda. Er bekam jedoch nicht deshalb den Strang, sondern weil die kommunistische Partei in der Übergangsperiode zwischen 1945 und 1947 ihre Gegner mit einem Schauprozess einschüchtern wollte. Die Opfer, bei denen auch das Täterschicksal hätte erörtert werden sollen, gehören ausschließlich der antikommunistischen Seite an. Es weist auf die aktuellen politischen Erwägungen der Aussteller hin, dass sie zwar wagten, umstrittene Personen der antikommunistischen Seite als Opfer darzustellen, jedoch dasselbe Maß bei Antifaschisten nicht anwendeten. Überhaupt kommen die Opfer des Parteistaats unter jenen, die sich als Anhänger der kommunistischen Idee bekannten, gar nicht zum Vorschein, obwohl sie wegen der vielen parteiinternen Schauprozesse sehr zahlreich gewesen waren. Tagespolitische Aspekte der Erinnerungspolitik werden deutlich, analysiert man die Eröffnungsreden und Kommentare, um ein Bild von der momentan gültigen Erinnerungsversion zu bekommen. Ministerpräsident Viktor Orbán erklärte in seiner Eröffnungsrede, dass die Diktaturen in Ungarn immer nur mithilfe von außen an die Macht kommen konnten.17 Das war jedoch 1919 im Falle der Räterepublik nicht wahr. Und im Fall der Sztójay-Regierung (1944), die noch vor den Pfeilkreuzlern die Regierungstätigkeit in Form einer Alleinherrschaft während der deutschen Besetzung übernahm, besaß diese Herrschaft starke Unterstützung in der Bevölkerung, insbesondere im Beamtentum. Davon zeugt die sehr schnelle und reibungslose Deportation von beinahe einer halben Millionen Juden durch die ortsansässigen Behörden. Der letzte Satz des Ausstellungskatalogs weist auf die völlige Begriffsverwirrung hin: „Das ehemalige Haus der Terrors zeigt uns, dass die Opfer für die Freiheit nicht unnötig waren. Im Kampf gegen die zwei tödlichen politischen Systeme siegten schließlich die Freiheit und Unabhängigkeit.“ Dieser Satz ist typisch, aber falsch. Die Leiden derjenigen, die 1944/45 an der Donau erschossen, die im stalinistischen KZ Recsk getötet, die für ihr restliches Leben zum Krüppel gemacht wurden, könnten nur dann als Opfer im obigen Sinn bezeichnet werden, wenn sie eine Wahl gehabt hätten. Sie mussten jedoch nicht deshalb leiden, weil sie für die „Freiheit und Unabhängigkeit“ aktiv gekämpft hatten, sondern weil sie als Juden oder „Bourgeois“ geboren wurden. Laut Zitat sei es notwendig gewesen, dass sie starben, um zu „Freiheit und Unabhängigkeit“ zu gelangen? Hätte das Museum zielbewusst die Totalitarismusthese vertreten, wäre es nicht zu solchen Fehlgriffen gekommen. So entstand aber eine sterilisierte und politisch gut nutzbare Ausstellung, an deren Ende das „Gute“, das identisch mit dem heutigen „Wir“ ist, das „Böse“, also die „Fremden“, besiegt. Diese Sichtweise entstammt aus einer, im Westen hoffentlich bereits veralteten, opferperspektivistischen Version der nationalen Identität. 17 Vgl. Krisztián Ungváry, A pártmúzeum. In: Magyarország politikai évkönyve, Band I, 2003, S. 354.

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Der Zentralfriedhof Die Opfer aller wichtigen politischen Prozesse zwischen 1945 und 1962 sind im Zentralfriedhof in zwei verschiedenen, bis 1989 geheim gehaltenen Parzellen bestattet worden. In die Parzelle 298 kamen diejenigen, die zwischen 1945 und 1956 von den sogenannten Volksgerichten wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit hingerichtet worden sind, aber auch solche, die Opfer von Schauprozessen wurden. Die Urteile der Volksgerichte und die Prozessführung waren dabei von Anfang an umstritten: Da die politische Polizei oft Foltermethoden einsetzte und die Rechtsprechung auch politischen Erwartungen folgte, sind selbst die Urteile gegen tatsächliche Verbrecher pro­ blematisch. Pfeilkreuzler, Kriegsverbrecher, Demokraten und Sozialisten ruhen hier zusammen. In der daneben liegenden Parzelle 301 sind sowohl Opfer von Schauprozessen vor 1956 als auch nach 1956 hingerichtete Revolutionäre bestattet worden. Aber auch einige Kriminelle fanden hier ihren Platz. Bis 1989 waren beide Parzellen verwahrlost, die Identifizierung der Bestatteten unmöglich. Diejenigen, die hier trauern wollten, sind von der Geheimpolizei sofort von dem Gelände entfernt worden. Die erste größere Demonstration für die Rehabilitierung von Imre Nagy und seiner Kameraden fand am 30. Jahrestag ihrer Hinrichtung, am 16. Juni 1988, statt. Die Aktion war auch das erste sichtbare Zeichen für die Stärke der Opposition. Diese Demonstration wurde von der Polizei in der Stadt gewaltsam aufgelöst, im Zentralfriedhof jedoch nicht mehr gestört. Die Frage nach der Rehabilitierung des Kommunisten Imre Nagy und seinen Kameraden bekam während der Jahre 1988/89 eine Schlüsselfunktion. Die Person von Nagy wurde zu einem Kristallisationspunkt der kollektiven Erinnerung und Identität. Obwohl Nagy selbst die Revolution nur zögerlich begleitet und erst am 4. November 1956, also am letzten Tag, die totale Konfrontation mit der Sowjetunion auf sich genommen hatte, wurde er durch seinen Schauprozess zur Symbolfigur für die ganze Revolution und damit auch zur Symbolfigur für Freiheit und Unabhängigkeit. Seine Person stand auch für die Negation des gesamten Kádár-Systems. Die Wiederbestattungsfeierlichkeiten am 16. Juni 1989 zogen Hunderttausende auf den Heldenplatz, wo die Särge der Hingerichteten zur öffentlichen Ehrung aufgestellt waren, weitere Hunderttausende gingen am selben Tag am Nachmittag zu der Wiederbestattung in der Parzelle. Mit diesem feierlichen Akt wurde indirekt auch das sozialistische System beerdigt. János Kádár, der Verantwortliche für die Hinrichtung, verstarb am 6. Juli 1989, geistig verstört, während das Oberste Landesgericht die vollständige Rehabilitierung der Nagy-­ Regierung verkündete. In wenigen Wochen verlor die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (USAP) mehrere Hunderttausend Mitglieder. Die Lenkung der politischen Transformation glitt nun restlos aus der Hand der Staatspartei.

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Nach der Wende wurde das Gebiet zur Gedenkstätte erklärt. Im Jahre 1992 ist in der daneben liegenden Parzelle 300 die von György Jovánovics entworfene, moderne, zentrale Gedenkstätte für die Opfer von 1956 eingeweiht worden. Das Gelände erwies sich bald als ein Schlachtfeld der kulturellen Interpretationen. Die alternative Gruppe „Inconnu“ setzte bereits im Jahre 1989 in der Parzelle 298 eine Menge sogenannter Kopjafa (Holzbalken im Stil des prächristianisierten Bestattungsbrauchs der Madjaren) ein. Als Reaktion auf die Modernität der drei Jahre später eingeweihten Gedenkstätte entstand anschließend ein stilisierter Eingang eines madjarischen Bauernhofs mit der Inschrift: „Wanderer, der du hier ankommst, du kannst dieses Tor nur mit ungarischer Seele überschreiten.“ Dahinter stehen drei Marmortafeln mit den Namen der hier Bestatteten mit der Inschrift: „Sie fanden den Märtyrertod für das Vaterland.“ Bei diesen Sätzen lohnt es sich, ein bisschen zu verweilen. Diese Idee konnte nur aus einer Ansicht entstehen, welche die Bestatteten als Opfer einer speziellen, gegen Madjaren gerichteten Verfolgung definiert. Nach dieser Auffassung ist das „Gute“ mit „Madjarisch“ identisch, und nach dieser Auffassung waren die Täter logischerweise keine Madjaren. Dass die Täter (Richter, Polizisten, Offiziere, Politiker etc.) sich alle als Madjaren definierten, störte die Installateure nicht, denn offensichtlich nutzten sie ein anderes Kriterium als das eigene Bekenntnis zur Nation. Dieser Gedankengang ist in der ungarischen Politik nicht ohne Tradition. Die ungenügende Assimilation bzw. „nichtmadjarische“ Abstammung wurde spätestens seit der Räterepublik 1919 zu einem der meistverwendeten politischen Vorwürfe. Die ethnizistische Logik in dieser Zeit war so stark, dass sogar die meisten Antifaschisten davon betroffen waren: Ein Teil von ihnen verwendete dieselben Vorwürfe18 gegenüber der ungarndeutschen Bevölkerung wie die Antisemiten gegen die Juden und plädierte dafür, die Deutschen als eine ethnische Gefahr anzusehen. Nach 1945 wurden zudem Stimmen laut, welche die Unschuld des Madjarentums betonten und alle Schuld der „fünften Kolonne“, genauer gesagt der ungarndeutschen Bevölkerung, zuschoben. Während der Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher wurde auch immer das Argument laut, dass die Angeklagten, die meistens aus den Reihen der Generalität kamen, wegen ihrer ungarndeutschen Abstammung eine besondere Neigung zum Faschismus gehabt hätten. Andererseits wurden während dieser Prozesse die Ereignisse des Holocausts nur partiell untersucht. Ziel der Volksgerichte war es nachzuweisen, dass die ungarische Verwaltung und Bevölkerung nur eine untergeordnete Rolle bei der Deportation und Ausplünderung der ungarischen Juden gespielt und die deutschen Organe die Hauptlast der Verantwortung getragen hätten. Adolf Eichmann hatte jedoch nur ca. 40 deutsche Beamte für Koordinierungsaufgaben aufzubieten, da die durchführenden Täter aus der ungarischen Verwaltung kamen. Deshalb

18 „Ungenügend verwurzelt“, „auf Alleinherrschaft strebend“, „im Dienste fremder Inte­ ressen stehend“, „geschäftsgierig“, „fremd“, „antimadjarisch“ etc.

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musste man weitere Sündenböcke in Gestalt der „schwäbischen Beamten“ und „SS-Angehörigen“ bzw. der „faschistisch-ungarischen Gendarmen“ finden. Nach 1945 wurden viele Menschen vor Gericht gestellt, an 189 wurde das Todesurteil vollstreckt.19 Nach 1956 fielen wieder Hunderte verschiedenen ­Massenerschießungen zum Opfer, die Zahl der zum Tode verurteilten und hingerichteten Personen beträgt um die 300. Stellvertretend für all diese Opfer steht der Zentralfriedhof, denn bis 2006 existierte in der Hauptstadt keine zentrale Gedenkstätte für die Opfer des Kommunismus und auch keine Gedenkstätte für 1956. Für den Zentralfriedhof spricht auch, dass fast alle der genannten Opfer hier bestattet worden sind.20 Durch die sehr dichte Symbolik, die Vorgeschichte der Parzellen und durch die kollektive Erinnerung des Jahres 1989, als Hunderttausende das Gelände aufsuchten, verfügen die Parzellen im Zentralfriedhof über eine Ausstrahlungs- und Kristallisationswirkung, die keine andere Gedenkstätte in Ungarn besitzt. Die nationale Gedenkstätte war seit 2002 wiederholt Schauplatz politischer Protestaktionen. Die Tatsache, dass in der Parzelle 298 sowohl unschuldige Opfer als auch Massenverbrecher ruhen (bzw. dass selbst manche Massenverbrecher nicht für ihre Taten, sondern für erfundene Delikte hingerichtet worden sind), war aber über 15 Jahre lang nicht thematisiert worden. Bis heute werden alle Staatsgäste am 23. Oktober in die Parzelle 301 geführt, und nichtsahnend legen sie auch in der Parzelle 298 einen Kranz nieder. Erst im Jahre 2006 wurden Stimmen laut, dass die Mitehrung von Massenmördern an der Gedenkstätte nicht in Ordnung sei, was jedoch keine weiteren Folgen hatte. Im Jahre 2007 wurde die Presse darauf aufmerksam, dass eine kleine Gruppe Neonazis am Hinrichtungstag des „Pfeilkreuzler-Nationsführers“ Szálasi an seinem vermuteten Grabstein in der Parzelle 298 eine Trauerfeier organisierte. Obwohl es nicht nachgewiesen werden konnte, dass auch Szálasi hier unter einem Pseudonamen bestattet worden war, löste einen Skandal aus.

19 Die letzten Kriegsverbrecherprozesse der Kádár-Zeit wurden Mitte der 1970er-Jahre durchgeführt. Die Strafe traf nicht nur die Täter, sondern auch ihre Familien bis auf die Kinder, die auch noch in den 1970er-Jahren nicht studieren durften. Insgesamt sind wegen angeblicher oder tatsächlicher NS- oder Kriegsverbrechen über 100 000 Personen bestraft worden. Weitere ca. 55 000 Personen erhielten Strafen wegen der Teilnahme an der Revolution 1956. Zwischen 1948 und 1956 wurden um die 500 000 Personen wegen verschiedener Delikten verurteilt; zwischen 1962 und 1988 wurden im Schnitt jährlich etwa 800 Personen wegen politischer Delikte verurteilt. Zu den Opferzahlen siehe Krisztián Ungváry/Gábor Tabajdi, Ungarn. In: Jens Gieseke/Lukas Kaminski/­ Krzyszof Persak (Hg.), Handbuch der kommunistischen Geheimdienste in Osteuropa 1944–1991, Göttingen 2008, S. 481–554. 20 Seit 2006 gibt es sogar zwei Gedenkstätten für die ungarische Revolution 1956: die moderne Version der sozialistischen Regierung in Pest auf dem Heldenplatz und eine, aus Regierungsgeldern erbaut, jedoch die Wünsche der Opferverbände weitgehend berücksichtigende, sehr traditionell erarbeitete in Buda. Keine dieser Gedenkstätten hat eine ähnliche Funktion annehmen können wie der Zentralfriedhof.

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Die „Kommission für nationale Gedenkstätten und Pietätsangelegenheiten“21 ließ die Inschriften beider Parzellen untersuchen und gab weitere Empfehlungen. Nach der Untersuchung waren ca. 30 bis 40 Prozent der in den Parzellen bestatteten Kriegsverbrecher oder Kriminelle. Die Kommission ließ im Mai 2007 die drei Marmortafeln entfernen und empfahl, dass die zukünftige zentrale Betafelung keine Namen der Opfer enthalten sollte (diese sind auf den einzelnen Grabstätten vermerkt). Für die neue Betafelung sind aber seitdem keine Pläne bekannt geworden. Eine „Säuberung“ der Parzelle von den problematischen Gestalten wäre aus mehreren Gründen kaum auszuführen. Die Hinterbliebenen würden einen solchen Versuch als Schändung abweisen. Neben den Verbrechern existiert eine Gruppe, wo eine Mischung aus wirklicher und erfundener Schuld festzustellen ist. Andere Opfer sind dagegen völlig unschuldig. Die Situation wird dadurch erschwert, dass in der Parzelle eine Gruppe fehlt: die Kommunisten, die von ihren eigenen Genossen während der stalinistischen Schauprozesse umgebracht worden sind. Sie wurden noch im Jahre 1956 exhumiert und knapp drei Wochen vor der Revolution feierlich in der Parzelle für die Märtyrer der Arbeiterbewegung wieder bestattet.22 So gibt es für die rechte Seite auch keinen Grund, Kritik an den Insassen der Parzelle 298 bzw. 301 zu üben. Die Möglichkeit, die Komplexität der Geschehnisse mit neuen Texten darzustellen, stellt offensichtlich für die politischen Entscheidungsträger bis heute eine Herausforderung dar.

Die neue Fidesz-Legislaturperiode und ihre Neugründungen Seit 2010 ist in Ungarn vieles umgestaltet worden. Die Geschichtswissenschaft bedeutet keine Ausnahme. Neben den bereits bestehenden diesbezüglichen Fidesz-Einrichtungen kamen weitere hinzu: „Veritas-Institut für Geschichtsforschung“, „Molnár Tamás Institut“,23 „Institut für die Erforschung des Systemwechsels“, „Komitee der Nationalen Erinnerung“, „Nationalstrategisches Forschungsinstitut“. Insgesamt sind für diese Institutionen über zwei Milliarden Forint im Budget 2014 vorgesehen. Diese Institutionen haben viele Gemeinsamkeiten. Die Historikerzunft ist in keinem Fall zur Beratung herangezogen worden, die Stiftungsräte der Neugründungen (soweit überhaupt bekannt) bestehen ausschließlich aus Fidesz-Propagandisten. Die Forschungsthemen dieser Institutionen behandelten früher andere Einrichtungen, die jedoch entweder 21 Die Kommission ist nach Regierungsverordnung im Jahre 1999 aufgestellt worden. Sie funktioniert als beratendes und teils als vollziehendes Organ der Regierung. 22 Der Trauerzeremonie für den im Jahre 1949 erhängten László Rajk und seine Mitangeklagten fand am 6.10.1956 statt; sie wurde zu einer Massendemonstration und einem Vorläufer der Revolution. Andere kommunistische Opfer der Schauprozesse sind auch in den folgenden Jahren noch stillschweigend exhumiert und in der neuen Parzelle bestattet worden. 23 Tamás Molnár (1921–2010), katholischer konservativer Philosoph, Historiker, Politologe.

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aufgelöst24 oder stark reduziert worden sind.25 Keine der genannten Einrichtungen hat bis 2015 wissenschaftlich Nennenswertes publiziert. Das „Institut für die Erforschung des Systemwechsels“ wird von einem Günstling des Ministerpräsidenten Orbán, Zoltán Bíró, geleitet. Bíró war nach 1971 ein Ministerialbürokrat des sozialistischen Systems und enger Freund von Imre Pozsgay. Im Jahre 1987 wurde er provisorischer Vorsitzender des ­Ungarischen Demokratischen Forums. Er wurde aber abgewählt, u. a. weil er nicht in Opposition gegen die Ungarische Sozialistische Arbeiter- und Bauernpartei gehen wollte, sondern sich als Juniorpartner der „national“ gesinnten Kommunisten verstand, die nach seiner Eigendefinition einen dauernden Kampf gegen die „Liberal-Kommunisten“26 geführt hatten. Diese Meinung vertritt er auch heute. Bíró zufolge ist die politische Systemtransformation eine von dunklen Kräften künstlich herbeigeführte Verknechtung der ungarischen Nation. Das im September 2013 gegründete „Veritas-Institut für Geschichtsforschung“, das direkt dem Ministerpräsidialamt unterstellt ist (!), beschäftigt sich laut Regierungsverordnung mit der „Förderung des nationalen Zusammenhalts“ und mit der „würdigen Darstellung der ungarischen Traditionen“. Das Institut habe „fachpolitische Untersuchungen über die erfolgreichen, modellhaften Regierungsbestrebungen der letzten 150 Jahre“ zu publizieren. Wie das mit der Unabhängigkeit der Geschichtswissenschaft vereinbar ist, bleibt im Dunkeln. Es muss hervorgehoben werden, dass eine ähnliche Konstruktion, also die Unterstellung einer wissenschaftlichen Institution unter das jeweilige Regierungsorgan, sowohl historisch als auch geografisch seinesgleichen sucht. Selbst im Parteistaat war das Institut für Parteigeschichte nicht der Regierung direkt unterstellt, und so eine Gliederung ist nicht einmal in Weißrussland oder in Kasachstan zu finden. Man soll sich aber nicht wundern: Schon der Name „Veritas“ zeigt, dass die Macher dieser Institution davon ausgegangen sind, dass es möglich ist, ein einziges historisches Narrativ als allgemein verbindliche Wahrheit verkaufen zu können. Welches Geschichtsbild durch diese Institutionen transformiert werden soll, kann aufgrund vieler Indizien vermutet werden. Die „Akademie der Ungarischen Künste“27 (Magyar Művészeti Akadémia – MMA) ­veranstaltete im 24 Das „Institut für die Erforschung für die 1956er Revolution“, das eigentlich als Institut für Zeitgeschichte tätig war, ist im Jahr 2011 ohne Begründung aufgelöst worden. 25 Dem Institut für Politikgeschichte wurden sein Archiv weggenommen, die staatliche Unterstützung vollkommen gestrichen und seine Räumlichkeiten entzogen. Dem Institut für Geschichtswissenschaften an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften sind mehrere Planstellen gestrichen worden. 26 „Liberal-Kommunist“ als Begriff gibt es nicht. Bíró versteht darunter offensichtlich Personen mit einem jüdischen Hintergrund. 27 Die Akademie der Ungarischen Künste (MMA) ist im Jahr 1992 als privater Verein von sich als „rechtskonservativ“ bekennenden Personen gegründet worden (diese Art Konservatismus hat im Grunde allerdings nichts mit einem Konservativismus im westlichen Ausland zu tun). Ihre Leitung liegt ausschließlich in den Händen von Fidesz-Anhängern. Die Träger der freien Künste waren jedoch staatlicherseits seit 1992 von der Akademie

August 2013 eine Konferenz über die verbotenen und vergessenen ungarischen Autoren während der sozialistischen Diktatur. Es war kein geringerer als Katalin Mezey, Leiter der literarischen Abteilung der MMA, der die These aufstellte, dass die literarischen Erfolge der in Deutschland wohl bekannten Autoren Péter Nádas und Péter Esterházy Produkt einer „geheimen Abmachung“ der Staatssicherheit mit diesen Autoren seien. Laut dieser Verschwörungstheorie „konnte sich die eine – postmoderne – Gruppe frei entfalten, wogegen die andere (dem ‚wahren Inhalt‘ eher verpflichtete) – die auch politisch unbequem war – an die Peripherie abgedrängt wurde“. Das Programm von Gyoergy Aczél (Leiter der Kulturpolitik der USAP) aus dem Jahr 1970 sei somit vollzogen worden: Anstatt eine Literatur, die Ästhetik mit Ethik verbindet, sich mit den Anliegen der Gesellschaft beschäftigt, kam die farb- und geruchlose, aber gut übersetzbare Textliteratur. All das sei „mit Universitätslehrstühlen und durch Soros-Spenden28 aus den Vereinigten Staaten belohnt worden, um den Prozess fast irreversibel zu machen“.29 Das Ziel, den Prozess der Liberalisierung [sic!] unter Kontrolle zu halten, sei durch diese Methode vollständig erreicht worden – summiert der bekannte Kolumnist der Fidesz-Tageszeitung „Magyar Nemzet“.30 Für Außenstehende mögen diese infamen Unterstellungen als Hirngespinst von Verrückten erscheinen. Esterházy und Nádas waren bis 1990 überhaupt nicht geförderte Autoren, im Gegensatz zu vielen Mitgliedern der MMA, die auch im Parteistaat hohe Auszeichnungen bekommen hatten. Das Ziel dieser Verleumdungskampagne besteht darin, die Grenze zwischen Kollaboration und Widerstand zu verwischen bzw. die früheren – sich nach den westlichen Demokratien orientierenden, ihre Existenz riskierenden, öffentlich auftretenden – Oppositionellen als Handlanger der Diktatur darzustellen. Diese Wahnideen verfolgen mehrere Ziele: Einmal dienen sie primär der Tagespolitik, weil bekannterweise sowohl Esterházy als auch Nádas keine Anhänger des „Systems der nationalen Zusammenarbeit“ sind. Das Fehlen der internationalen Anerkennung für diejenigen Autoren, die Anhänger dieses Systems sind, bekommt dadurch eine Erklärung. „Verständlicherweise“ können nur jene Opfer der früheren Unterdrückung nun auf Wiedergutmachung hof-

der Wissenschaften in der Széchenyi-Kunstakademie (SZIMA) organisiert (ähnlich wie die Akademie der Künste in Deutschland). 2011 wurden die Rechte der MMA in der Verfassung verankert, die Organisation vertritt damit allein die freien Künste. Ihre Mitglieder beziehen auch hohe monatliche Apanagen. 28 Der Verfasser meint damit offensichtlich die György Soros-Stipendien. Hätte er jedoch recherchiert, dann wäre ihm aufgefallen, dass weder Nádas noch Esterházy Soros-Stipendien erhielten, im Gegensatz zu Viktor Orbán und seinen Genossen, die alle in den Genuss dieser Stipendien kamen. 29 János Csontos, Eltilva és elfelejtve. A tokaji írótábor a cnzúráról és a rendszereken átívelő aczéli háttéralkukról. In: Magyar Nemzet vom 19.8.2013. 30 Ebd.

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fen, die der Nation treu ergeben sind. Der neue „nationale Kanon“, der durch die MMA und die neu geschaffenen Institutionen vertreten wird, schafft so eine Geschichtsschreibung, in der heutige politische Konflikte bis 1945 rückwirkend eine historische Erklärung finden sollen.

Zusammenfassung Die Erinnerungskultur in Ungarn besteht aus gegenseitiger Aufrechnung der Verbrechen der ungarischen Faschisten mit denen der Kommunisten. Erkennbar wird dies besonders an Gedenktagen, die zu öffentlichen Ritualen geworden sind. Der „Tag der Befreiung“ Budapests am 13. Februar 194531 durch die Sowjets ist beispielsweise ein Anlass für die Sozialisten, an die „rechte Gefahr“ zu erinnern. Für die Rechtsradikalen ist dasselbe Datum der „Tag der Treue“, d. h. der Treue zu Hitler-Deutschand. Der Fidesz-nahe Fernsehsender Echo-TV feierte im Jahr 2013 dieses Datum als einen heldenhaften Tag. Für die Regierung steht dem 13. Februar 1945 der 25. Februar 1947 gegenüber, der Tag der Opfer des Kommunismus.32 Ein weiterer Baustein der nationalen Erinnerungskultur besteht in der Suche nach einem gültigen Narrativ und dem alleinigen Anspruch auf das nationale Erbe, um sie für die eigenen Ziele zu verwenden. Nach 1945 und insbesondere nach 1956 legitimierte sich die kommunistische Partei (auch) damit, dass sie die wahre Negation des Faschismus und die Erbin der Räterevolution von 1919 sei. Nach 1989 stellten die Postsozialisten und die linksliberalen Kräfte ein ähnliches Legitimierungskonstrukt auf, in dem sie sich selbst als Negation des Bösen darstellten. In diesen Legitimierungsmustern findet die wirkliche Erinnerung an die Opfer des Kommunismus nur schwer einen Platz. Erfreulicherweise wird jedoch im Bezug auf die Erinnerung an die NS-Verbrechen gerade in jüngster Zeit auch die Verantwortung der ungarischen Täter betont, wogegen vor der Wende das Gewicht auf die Verantwortung NS-Deutschlands gelegt und eine ungarische Mittäterschaft verneint wurde. Die Fidesz-nahen Kräfte führen jedoch die Geschichtsinterpretation des Parteistaats weiter, indem sie die Verantwortung von außerhalb Ungarns stehenden Kräften betonen: Die Täter seien meistens von außen gekommen, die Entwicklung seit 1945 habe keine ungarischen Wurzeln, Faschismus und Kommunismus seien beide von außen dirigierte geistige Strömungen.

31 Am 13.2.1945 eroberte die Rote Armee auch die letzten Häuser von Budapest. Vgl. Krisztián Ungváry, Die Schlacht um Budapest. Stalingrad an der Donau, München 1999. 32 Am 25.2.1947 wurde Béla Kovács, Generalsekretär der Kleinlandwirtepartei, von sowjetischen Sicherheitsorganen rechtswidrig verhaftet und ohne Urteil in die Sowjetunion verschleppt. Kovács kam erst 1956 frei und verstarb drei Jahre später an den erlittenen Gesundheitsschäden.

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Die hier genannten Probleme resultieren aus einer veralteten Auffassung der nationalen Geschichte, die einseitig nur zur Identifizierung dienen soll. Selbstkritische Ansichten sind dabei Störfaktoren, dadurch entsteht der Mythos einer unschuldigen Nation, und alle negativen Erscheinungen werden auf äußere Einflüsse zurückgeführt. Neben dem Mythos von der nationalen Unschuld existieren jedoch noch weitere. Dazu gehört die scharfe Trennung des Kádár-Regimes von der Rákosi-Zeit, als ob beide Perioden fast nichts Gemeinsames hätten. Der Konstruktcharakter dieses Mythos wird jedoch bereits durch die Tatsache entlarvt, dass schon Kádár selbst unter Rákosi Innenminister war und in dieser Funktion mehrere Schauprozesse durchführen ließ. Der zweite Mythos besteht aus der Mystifizierung der Arbeit des Staatssicherheitsdienstes, die „guten Glaubens“ gewesen seien und „nur für ihr Vaterland gekämpft“ hätten; entsprechende Statements gaben sowohl Politiker der Fidesz als auch Politiker der Sozialisten ab. Die Erinnerungskultur und ihre Rituale werden in der ungarischen Politik noch stark instrumentalisiert und missbraucht. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Praxis anderer Länder findet kaum statt, wenn überhaupt, dann kann nur Deutschland genannt werden, dessen Geschichtsaufarbeitung in Ungarn rezipiert wird. Leider bezieht sich aber diese Rezeption überwiegend auf den Umgang mit der NS-Zeit und nicht auf die Aufarbeitung der SED-Diktatur. Kein Wunder, denn die Täter dieser Periode bekleiden auch heute noch politische Ämter.

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Opfer und Opferverbände in Lettland – erneut Opfer einer doppelten Deutung der Geschichte? Claudia Matthes

Politische Entwicklung und Erinnerungspolitik Lettland war im 20. Jahrhundert Opfer zweier Diktaturen durch drei Übergriffe auf sein Staatsgebiet innerhalb von vier Jahren. Gemäß der Vereinbarungen des Molotow-Ribbentrop-Pakts, dem geheimen Zusatzprotokoll des Nichtangriffsbzw. Hitler-Stalin-Pakts vom 23. August 1939, in dem beide Herrscher die zwischen „ihren“ Territorien liegenden Staaten unter sich aufteilten, marschierte am 17. Juni 1940 die Rote Armee in den drei baltischen Staaten ein.1 Die lettische Bevölkerung erlitt in der Folge ein immenses Ausmaß an Willkür und Gewalt. Bis Juni 1941 wurden 20 000 Personen, mehrheitlich Angehörige der „Intelligenz“, aus politischen Gründen verhaftet und in der Nacht des 14. Juni 1941 15 424 Menschen aus ihren Häusern geholt und nach Sibirien deportiert.2 Nur wenige Tage später marschierte die deutsche Wehrmacht auf ihrem Russland-Feldzug in Lettland ein, Riga fiel am 29. Juni. Die baltischen Länder und Weißrussland wurden zum „Reichskommissariat Ostland“ zusammengefasst und sollten zunächst vor allem wirtschaftlich ausgebeutet werden, um die Fortsetzung des Kriegs gegen die Sowjetunion zu sichern.3 Deportationen der lettischen Bevölkerung fanden anfangs nicht mehr statt, auch die Eigentumsverhältnisse wurden weitgehend wiederhergestellt, dafür wurden nun insbesondere jüdische Letten Opfer von Gewalt. Der Brand der Rigaer Synagoge am 4. Juli 1941 markierte den Beginn des Holocaust in Lettland. Ende Juli wurden Ghettos

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Zur Vorgeschichte der Aufteilung dieser Region zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion vgl. Georg von Rauch, Geschichte der baltischen Staaten, 3. Auflage München 1990, S. 180–214; Erwin Oberländer (Hg.), Hitler-Stalin-Pakt 1939. Das Ende Ostmitteleuropas?, Frankfurt a. M. 1989. Da die sowjetischen Truppen und Behörden nach ihrem Rückzug vor den Deutschen Dokumenten-Material zurückließen, das später an das Internationale Rote Kreuz gelangte, sind die Namen fast aller verhafteten und deportierten Personen bekannt. Vgl. Egil Levits, Lettland unter der Sowjetherrschaft und auf dem Weg zur Unabhängigkeit. In: Boris Meissner (Hg.), Die baltischen Nationen: Estland, Lettland, Litauen, Köln 1991, S. 144–145, S. 212, Anm. 43; Alexander Schmidt, Geschichte des Baltikums. Von den alten Göttern bis zur Gegenwart, München 1993, S. 310. Vgl. Schmidt, Geschichte des Baltikums, S. 313–317.

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in Riga und in anderen Orten Lettlands wie Liepāja und Daugavpils eingerichtet, und in mehreren Aktionen wurden seine Bewohner entweder sofort getötet oder in eines der neun Konzentrationslager gebracht.4 Die sowjetische Armee eroberte das Territorium 1944 von den Deutschen zurück und gliederte Lettland am 20. Juli desselben Jahres in das Staatsgebiet der Sowjetunion ein. Fünf Jahre später, am 25. März 1949, deportierten die sowjetischen Behörden erneut Menschen, insbesondere lettische Bauern, nach Sibirien und verfolgten im Land selbst eine umfassende Sowjetisierung. Diese Politik beinhaltete das Verbot der lettischen Sprache, die Bespitzelung der Bevölkerung, insbesondere der Schriftsteller und Künstler, sowie die Sozialisierung von Eigentum und den kompletten Umbau des (Land-)Wirtschaftssystems. Damit ging ein forcierter Zuzug russischer Militärangehöriger, Verwaltungsbeamter und Fabrikarbeiter und in der Folge eine drastische Veränderung der demografischen Struktur des Landes einher. Während 1935 noch 75,7 Prozent der 1 950 000 Einwohner lettischer Nationalität waren, waren dies 1995 nur noch 52  Prozent, bei 2 666 000 Einwohnern. Insgesamt sank durch Flucht, Emigration, Deportation und in Folge des Kriegs die Zahl der in Lettland lebenden Letten in erheblichem Maße, während russischsprachige Personen in noch höherem Ausmaß zuwanderten und ihr Anteil an der Bevölkerung von etwa 6 Prozent auf 34 Prozent anstieg.5 Im August 1991 schließlich erreichte die Ende der 1980er-Jahre erstarkte lettische Unabhängigkeitsbewegung im Zuge der Systemwechsel in Mittel- und Osteuropa und der politischen Veränderungen in Russland ihr Ziel. Lettland wurde endgültig unabhängig von der Sowjetunion, erlangte seine Eigenstaatlichkeit zurück und hielt 1993 erste freie Parlamentswahlen ab.6 Der Wandel der politischen Rahmenbedingungen ermöglichte der in Lettland lebenden Bevölkerung erstmals, sich öffentlich mit der Vergangenheit auseinandersetzen, die Opfer beider Diktaturen als solche anzuerkennen und eine Form des Umgangs mit ihnen zu diskutieren. Die Anfänge einer eigenständigen historischen Auseinandersetzung datieren schon etwas früher, in das Jahr 1988, als die Lockerung der sowjetischen Zensur den wissenschaftlichen Austausch mit dem Ausland erleichterte.7 Dieses Bemühen vieler verschiedener Akteure in Lettland wird jedoch erstens überschattet von einer gewissen Konkurrenz der 4 5

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Vgl. ebd., S. 319–321. Vgl. Eva-Clarita Onken, Revisionismus schon vor der Geschichte. Aktuelle Kontroversen in Lettland um die Judenvernichtung und die lettische Kollaboration während der nationalsozialistischen Besatzung, Köln 1998, S. 36–37; Levits, Lettland unter der Sowjetherrschaft, S. 145–152; Norbert Götz/Gottfried Hanne/Eva-Clarita Onken, Ethno­ politik. In: Heike Graf/Manfred Kerner (Hg.), Handbuch Baltikum heute, Berlin 1998, S. 299–334, hier S. 306. Zu den politischen Ereignissen während des Kampfs um die Wiedererlangung der Unabhängigkeit vgl. ebd., S. 153–209; Claudia-Yvette Matthes, Die Herausbildung des Parteiensystems in Lettland seit Beginn der Perestroika. In: Berichte der Berliner Interuniversitären Arbeitsgruppe Baltische Staaten, Freie Universität Berlin, Berlin 1996. Vgl. Onken, Revisionismus schon vor der Geschichte, S. 18.

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Opfer beider Diktaturen sowie zweitens von der als „Ethnopolitik“ bezeichneten Auseinandersetzung um das nationale Selbstverständnis Lettlands, die sich im Hinblick auf den Status der russischen Minderheit, die Staatsbürgerschaftsund Sprachenpolitik äußert. Wie virulent die Debatte um die Interpretation der Geschichte weiterhin ist, zeigt sich zum Beispiel darin, dass noch 2011 eine Koalition zwischen lettischen Parteien und Saskaņas Centrs (Harmonie Zentrum, SC), einer Partei, die sich für die russischsprachige8 Bevölkerung einsetzt und stärkste Fraktion im Parlament wurde, nicht zustande kam, trotz einiger Kompromisse in den Koalitionsverhandlungen.9 Die Aufarbeitung der Diktaturen in Lettland ist zum einen geprägt von politischer Exklusion, insbesondere praktiziert durch die sogenannte Lustration, die in Lettland etwas später einsetzte als in den anderen beiden baltischen Staaten,10 sowie die strafrechtliche Verfolgung der Täter. Wer zu den Tätern gehört, ist nicht allein wegen des mitunter schwierigen Nachweises individueller Schuld umstritten, auch die Tatsache, dass viele Täter deutscher, russischer oder anderer Nationalität sind, erschwert die Strafverfolgung. Lettische Sonderkommandos haben im Zweiten Weltkrieg nachweislich Kriegsverbrechen begangen, ferner gehen Experten von ca. 1 000 Kollaborateuren mit den NS-Besatzern in der Zivilbevölkerung aus. Die ethnische Zugehörigkeit offizieller und inoffi­zieller Mitarbeiter des KGB und damit die Anzahl der Letten und Russen, die direkt oder indirekt an Unterdrückung und Verfolgung beteiligt waren, ist unklar. Nollendorfs und Zalite nennen die Zahl von 24 000 KGB-Agenten für die Zeit von 1953 bis 1991, von denen 1991 noch ca. 4 500 aktiv waren, 570 von ihnen waren in Bespitzelungen involviert, plus ca. 2 220 Informanten und weitere inoffizielle Mitarbeiter. Dies entspricht einem Verhältnis von einem Agenten auf 520 Einwohner.11  8 Die russischsprachige Bevölkerung in Lettland setzte sich 2004 vorwiegend aus Russen (28,8 %) sowie Ukrainern (2,6 %) und Weißrussen (3,9 %) zusammen. Da alle drei Bevölkerungsgruppen in der Öffentlichkeit mehrheitlich Russisch sprechen, werden sie unter dem Begriff „russischsprachig“ zusammengefasst. Daraus ist jedoch nicht ab­ zuleiten, dass sie auch eine gemeinsame Identität haben. Vgl. Nils Miužnieks, Russians in Latvia – History, Current Status and Prospects 2004 (http://www.mfa.gov.lv/en/ copenhagen/news/latvian-news/template/?pg=8017; 4.3.2014).  9 Vgl. Juris Rozenvalds, Ethnos und Demos. Die Parlamentswahlen in Lettland 2011. In: Osteuropa, 61 (2011) 11, S. 43–55, hier 53–55. 10 Estland verabschiedete schon 1995 ein Lustrations-, später ein Loyalitätsgesetz und setzte insgesamt mehr auf freiwillige Geständnisse. In Litauen gab es anfänglich keine gesetzliche Grundlage, sodass viele Personen der KGB-Mitarbeit verdächtigt wurden. Seit 1999 gibt es ein sehr umfassendes Lustrationsgesetz. Vgl. Ieva Zake, Politicians versus Intellectuals in the Lustration Debates in Transitional Latvia. In: Journal of Communist Studies and Transition Politics, 26 (2012) 3, S. 389–412, S. 393; Vello Pettai, Lustration in den baltischen Staaten. Aktive Vergangenheitsbewältigung seit 1991. In: Mich`ele Knodt/Sigita Urdze (Hg.), Die politischen Systeme der baltischen Staaten. Eine Einführung, Wiesbaden 2012, S. 97–115, hier 97. 11 Valters Nollendorfs, The KGB-Files in Lativa: The Skeleton and Its Ghosts. In: Südosteuropa Mitteilungen, (2011) 05/06, S. 89–93, hier 90. Denunziation war nicht sehr aus­­geprägt. Vgl. Vieda Skultans, Arguing with the KGB Archives. Archival and Narrative ­Memory in Post-Soviet Latvia. In: Ethnos: Journal of Anthropology, 66 (2010) 3, S. 320–343, hier 327, 334.

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Zum anderen fokussiert die Erinnerungspolitik auf Gedenkstätten, Denkmäler, Museen und andere Einrichtungen, wozu auch die lettische Historikerkommission zu rechnen ist. Deren Mitglieder sammeln und interpretieren Dokumente aus der Zeit der Diktatur und wollen mit öffentlichen Debatten zur Wahrheitsfindung beitragen. Allerdings diskutieren beteiligte Politiker, Wissenschaftler, die Opferverbände und die lettische Gesellschaft sehr kontrovers über diese Aktivitäten. Eine zivilrechtliche Anerkennung der Opfer erfolgte, die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für sie ist jedoch recht gering und insbesondere der Umfang der materiellen Entschädigung weiterhin Gegenstand von Kontroversen. Neben (exil-)lettischen Künstlern, Journalisten, Historikern und Politikern beeinflussen auch externe Akteure wie der Europarat, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sowie die Europäische Union die Ausgestaltung der Erinnerungspolitik und den Umgang mit den Opfern.12

Opferverbände Die Frage, wer in Lettland als Opfer anzusehen ist, hängt nicht allein davon ab, wie erlittenes Unrecht in seinen verschiedenen Ausprägungen gesellschaftlich und juristisch bewertet wird. Wegen der Erfahrung zweier Diktaturen, die aus ideologischen Gründen unterschiedliche Personenkreise kollektiv verfolgten, gibt es mindestens zwei Opfergruppen: lettische Juden und andere Personen, die vom NS-Regime, sowie Letten und andere, die aufgrund sowjetrussischer Propaganda verfolgt wurden. Die Schwierigkeit, eindeutig zu entscheiden, wer als Opfer gezählt werden kann, hängt weiterhin damit zusammen, dass es aufgrund der Ablösung der einen Diktatur durch die andere auch Personen gibt, die mit dem jeweils neuen Regime kollaboriert haben. Manche Letten, die sich als Opfer der sowjetischen Besatzer verstehen, werden insbesondere von jüdischen Opfern als (Mit-)Täter wahrgenommen, wie z.B. die Angehörigen des Pērkonkrusts (Donnerkreuzler)13, die sich an der Erschießung lettischer Juden beteiligten, ebenso wie manche Angehörige der lettischen SS-Waffenlegion.

12 Die Kopenhagener Kriterien von 1997, in denen die EU die Beitrittskandidaten verpflichtet, nicht nur marktwirtschaftliche Strukturen, sondern auch Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte einzuführen und zu wahren, wurden später ergänzt um die Forderung nach Maßnahmen zur Vergangenheitsbewältigung. Vgl. außerdem Eva Jas­ kova/Jack P. Moran, Justice or Politics? Criminal, Civil and Political Adjudication in the Newly Independent Baltic States. In: Journal of Communist Studies and Transition Politics, 22 (2006) 4, S. 485–506. 13 Die Organisation Pērkonkrusts wurde 1933 in Lettland gegründet, nachdem ihre Vorläuferorganisation verboten wurde, und hatte eine explizit national-chauvinistische Ideologie, die vom deutschen Nationalsozialismus und dem italienischen Faschismus beeinflusst war. Pērkonkrusts fungierte, obwohl ab 1934 erneut verboten, als Sammelbecken lettischer Antisemiten. Vgl. Onken, Revisionismus schon vor der Geschichte, S. 58–59; Schmidt, Geschichte des Baltikums, S. 322.

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Nicht nur in der lettischen Gesellschaft, sondern auch zwischen lettischen und internationalen Historikern wurde die Frage, inwiefern Opfer auch Täter waren, insbesondere in den 1990er-Jahren noch sehr zaghaft aufgegriffen. Im Zuge des Nation-Building-Prozesses nach der Unabhängigkeit diskutierten sie sehr kontrovers, inwieweit Letten antijüdische Aktivitäten – vor, während oder nach der deutschen Besetzung – auf eigene Initiative hin organisiert haben. Manche Forscher meinen, die Judenverfolgung habe schon vor dem Einmarsch der Deutschen eingesetzt und dass der vom ehemaligen Staatspräsidenten Kārlis Ulmanis geschürte lettische Nationalismus sowie die nationalsozialistische Propaganda, welche Kommunisten und Juden gleichsetzte, die Beteiligung von Letten an Erschießungskommandos erklärt. Andere wiederum betonen, diese Beteiligung sei nur durch Zwang möglich gewesen bzw. dass die SS antijüdische Ausschreitungen organisiert und Letten zugeschrieben hätte.14 Da es hier insbesondere darum geht, den Umgang mit den Opfern in Lettland herauszuarbeiten, muss nicht im Detail geklärt werden, in welchem Ausmaß und mit welchem Grad an Eigeninitiative Letten als Handlanger der nationalsozialistischen Besatzer agierten und somit zu Tätern wurden. Festzuhalten ist, dass es zum einen vor dem Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion noch keinen Führerbefehl zur systematischen Vernichtung jüdischen Lebens in Mittel- und Osteuropa gegeben hat, woraus folgt, dass lettische Aktivitäten gegen Juden noch nicht auf Anweisung erfolgt sein können. Zum anderen hat es kein „Interregnum“, d. h. eine Phase zwischen dem Abzug der Roten Armee und dem Einmarsch der Wehrmacht, in Lettland gegeben, währenddessen Letten gezielt und auf eigene Entscheidung hin Erschießungen von Juden vorgenommen hätten. Diese These muss als sowjetischer Geschichtsmythos eingeordnet werden, welcher der Diffamierung der lettischen Bevölkerung diente.15 Es sind allerdings spontane judenfeindliche Ausschreitungen vorgekommen. Ebenso hat insbesondere das Kommando Arājs, mithilfe der Pērkonkrusts sowie der lettischen Selbstschutztruppen, den Aizsargi, die deutschen Besatzer bei Erschießungen von Juden unterstützt. Inwiefern diese auf Befehl oder eigene Initiative hin erfolgten, ist Gegenstand von Kontroversen. Der Historiker Andrew (Andrievs) Ezergailis nennt Antikommunismus, Patriotismus, Karrierestreben oder schlicht Habgier als Motive für die Beteiligung an diesen Erschießungskommandos. Nachgewiesen ist zumindest, dass allein das Kommando Arājs 15 000 Menschen tötete.16

14 Vgl. Schmidt, Geschichte des Baltikums, S. 318. 15 Zur ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand sowie den Kontroversen zwischen lettischen Historikern, die sich insbesondere in dem Streit zwischen dem exillettischen Historiker Andrew (Andrievs) Ezergailis und dem früheren Direktor des jüdischen Museums in Lettland, Margers Vestermanis, um die Frage rankt, in welchem Ausmaß und mit welcher Intention es eine lettische Beteiligung am Holocaust gegeben hat, vgl. Onken, Revisionismus schon vor der Geschichte, S. 63–82 sowie Katrin Reichelt, Lettland unter deutscher Besatzung 1941–44. Der lettische Anteil am Holocaust, Berlin 2011. 16 Vgl. Onken, Revisionismus schon vor der Geschichte, S. 74; Nollendorfs berichtet von 26 000 Opfern des Kommando Arājs. Viktors Arājs war ein ehemaliger Leutnant der

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Aufgrund dieser partiell unklaren Faktenlage, aber auch der grundsätzlich selektiven Wahrnehmung und Interpretation der Geschichte, die zum Teil durch die ab Ende der 1990er-Jahre arbeitende Historikerkommission korrigiert werden konnte, die aber manche Akteure weiterhin unterschiedlich deutet, bleibt die Frage, wer Opfer und wer Täter war, noch immer ein Streitpunkt. So findet sich in der gesellschaftlichen Debatte immer wieder die These von der jüdischen (Mit-)Schuld an den sowjetischen Deportation17 oder der pauschale Vorwurf eines kollektiven lettischen Antisemitismus, der nach 1990 wieder hoffähig geworden sei und der sich z. B. in den zweifelhaften öffentlichen Ehrungen für die Veteranen der lettischen SS-Divisionen manifestiere.18 Für die Opfer bedeuten diese widersprüchlichen Sichtweisen, verbunden mit unreflektierten Schuldzuweisungen oder Abwehrhaltungen, dass sich daraus eine gewisse Konkurrenz der Opfergruppen und mitunter auch ein unterschiedlicher Umgang mit ihnen ableitet.19 Insgesamt schätzen Historiker die Opfer der NS-Diktatur in Lettland in den Jahren 1941 bis 1944 auf mindestens 127 000 Personen, wovon etwa 90 000 Per­sonen jüdischen Glaubens waren. Das sind ca. 6,5 Prozent der damaligen Gesamtbevölkerung Lettlands. Die Angaben zur Anzahl der nach Riga transportierten nicht lettischen Juden variieren sehr stark, manche Quellen sprechen von 20 000, andere von 200 000 Menschen.20 Die Opferzahlen des sowjetischen Übergriffs 1941 und später ab 1944 lassen sich eindeutiger ausweisen. Im ersten „Jahr des Terrors“ deportierten die

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l­ettischen Polizei, der ein dem deutschen Sicherheitsdienst unterstelltes Sonderkommando der lettischen Hilfspolizei gebildet hatte, Erschießungen vornahm und sich an Pogromen gegen Juden, Roma, Behinderte und Kommunisten beteiligte. Vgl. Valters Nollendorfs, Lettland unter der Herrschaft der Sowjetunion und des nationalsozialistischen Deutschland 1940–1991, Riga 2010, S. 55. So vertreten einige Rechtspopulisten in Lettland die These, dass viele Juden aufgrund ihrer Mitarbeit im sowjetischen Repressionsapparat Mitschuld tragen an den Gräueltaten der sowjetischen Geheimpolizei, der Tscheka. Diese Darstellung fand sich Anfang der 1990er-Jahre in manchen Geschichtsbüchern. Auch wenn einige lettische Juden angesichts der Verbrechen der Deutschen in Polen mit Hoffnung auf den Einmarsch der Roten Armee blickten, haben sie sich nachweislich nicht an den Deportationen beteiligt, und es waren kaum Juden in relevanten Positionen der Kommunistischen Partei oder der Tscheka zu finden. Vgl. Onken, Revisionismus schon vor der Geschichte, S. 66 f., sowie Nollendorfs, Lettland unter der Herrschaft, S. 40. Vgl. Clemens Heni, Riga and Remembering. In: Journal for the Study of Antisemitism, 2 (2010), S. 157–162. Zur Debatte zwischen lettischen Historikern, die sich seit 1988 erst zaghaft, dann intensiver der Periode der deutschen Besatzung und der lettischen Kollaboration widmen, sowie überhaupt zur Historiografie der lettischen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zum Forschungsstand bis Mitte der 1990er-Jahre vgl. Onken, Revisionismus schon vor der Geschichte, S 25–32; Andrew Ezergailis, The Holocaust in Latvia: 1941–1944. The missing center, Riga 1996; die Symposien der lettischen Historikerkommission unter: http://www.president.lv/pk/content/?cat_id=2766; 5.3.2014. Vgl. Onken, Revisionismus schon vor der Geschichte, S. 74, Anm. 284; Levits, Lettland unter der Sowjetherrschaft, S. 146.

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sowjetischen Einheiten ca. 33 500, davon am 14. Juni allein 15 424 Personen. 1 488 weitere Personen wurden bereits in Lettland getötet. Unter diesen Opfern befinden sich auch lettische Juden, die aus politischen Gründen verfolgt wurden.21 Bei der zweiten Deportationswelle am 25. März 1949 wurden ca. 43 000 Personen, insbesondere Bauern, in Zwangslager nach Sibirien gebracht, um die Kollektivierung der Landwirtschaft durchzusetzen. Die letzten Partisanengruppen, die Waldbrüder, – 1946 waren in Lettland etwa 20 000 Personen im Widerstand aktiv – wurden 1953/54 liquidiert.22 Weitere Opfer der sowjetischen Diktatur sind schwieriger zu beziffern. Wie viele Personen in den Gefängnissen des KGB (bzw. NKVD) zu Tode kamen, Opfer der sowjetischen Repression in Form von Verhören, Bespitzelungen in Betrieben oder in Universitäten wurden, lässt sich nur schätzen bzw. anhand verschiedener Befunde zusammentragen. Der erste Sekretär des Zentralkomitees der KP Lettlands gestand im Juni 1953 ein, dass zwischen 1945 und 1953 etwa 119 000 Personen deportiert wurden. Darunter sind neben den rund 43 000 Personen, welche 1949 deportiert wurden, auch spätere Opfer des Stalinismus. Der Geheimdienst in Lettland legte Schätzungen zufolge bis 1990 insgesamt ca. 80 000 Akten an. Hinzu kommen mindestens die 25 000 Menschen, die 1940/41 deportiert oder verfolgt wurden, sowie diejenigen, die ins Exil gelangten oder im Land blieben und aus verschiedenen politischen Gründen Beschränkungen und Schikanen hinnehmen mussten. Addiert man diese Zahlen, kommen Experten auf etwa 150 000 Opfer bis Ende der Stalinzeit 1953 (das entspricht 7,5 Prozent der Bevölkerung Lettlands) und bis 1990 auf insgesamt rund 200 000 Personen.23 Sofern die Deportierten die Arbeitslager in Sibirien überlebten, konnten sie nach Stalins Tod in ihre Heimat zurückkehren. Sie blieben jedoch gesellschaftlich stigmatisiert und politischen Repressionen ausgesetzt. So war diesen Rückkehrern z. B. das Studium bestimmter Fächer wie Jura untersagt oder ihnen blieben bestimmte Posten im Staatsdienst (Marine, diplomatischer Dienst) verwehrt.24 Die Union der politisch Verfolgten Lettlands (Latvijas Politiski represēto apvienība, LPRA) gibt sogar 300 000 Personen als Opfer der sowjetischen Diktatur an, gerechnet bis 1990.25

21 Vgl. ebd., S. 144; Schmidt, Geschichte des Baltikums, S. 312; Levin 1988, zit. in Onken, Revisionismus schon vor der Geschichte, S. 67. 22 Vgl. Juris Rozenvalds, Baltische Staaten und ihre Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Mich`ele Knodt/Sigita Urdze (Hg.), Die politischen Systeme der baltischen Staaten, Wiesbaden 2012, S. 55–74, hier 57–60; Levits, Lettland unter der Sowjetherrschaft, S. 146; Schmidt, Geschichte des Baltikums, S. 332. 23 Vgl. Levits, Lettland unter der Sowjetherrschaft, S. 146; Nollendorfs, The KGB-Files in Latvia, S. 90. 24 Vgl. Claire Bigg, Latvia: Still Haunted by Soviet Past. In: Radio Free Europe, Radio Liberty, vom 16.8.2006. 25 Vgl. Pēteris Simsons, Bericht von der Delegation aus Lettland. In: Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft, VII Kongress der Internationalen Assozia­ tion ehemaliger politischer Gefangener und Opfer des Kommunismus, Bonn 1999, S. 58.

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Die LPRA ist der größte Opferverband in Lettland. Sie gründete sich am 14. Oktober 1988 in Riga, ein Jahr später landesweit und hat eignen Angaben zufolge ca. 8 000 Mitglieder in 55 regionalen und lokalen Untergruppen. Die LPRA ist eingebunden in die Internationale Assoziation ehemaliger Gefangener und Opfer des Kommunismus. In den ersten Jahren finanzierte sie sich allein durch bescheidene Mitgliedsbeiträge, inzwischen stellen Zuschüsse aus dem lettischen Staatshaushalt die Hauptfinanzquelle dar. Die Zuwendungen betrugen 2010 11600 Lats (16 300 Euro). Neben den Geldsorgen für die Aufrechterhaltung der Organisation, steht die LPRA vor dem Dilemma, dass ihre Mitglieder sehr alt sind und demzufolge immer weniger werden. Die Zeit, die bleibt, um den Opfern über Restitution und andere Leistungen Unterstützung zu bieten, wird demnach immer kürzer. Die LPRA schätzte Anfang der 1990er die Anzahl der noch lebenden Opfer auf etwa 45 000, Ende der 1990er waren es nur noch 30 000 Personen. Das Hauptanliegen der LPRA ist daher, die Rehabilitierung der Opfer zügig abzuschließen. Obwohl in der gesellschaftlichen Debatte die sowjetische Diktatur eine große Rolle spielt, wünschen sich die Opfer und ihr Verband staatlicherseits mehr Unterstützung.26 Ihr Vorsitzender Gunārs Resnais, der im März 1949 selbst mit seiner Mutter nach Sibirien deportiert wurde, war von 1993 bis 1995 Abgeordneter im lettischen Parlament für die national-konservative Partei Bauernunion (Latviešu Zemnieku Savienība, LZS). Diese Position nutzt er nach eigenen Aussagen dafür, um Lobbyarbeit für die Anliegen der Opfer zu betreiben, aber auch um mit allen politischen Parteien im Gespräch zu bleiben.27 Zwei weitere soziale Organisationen bemühen sich um die Opfer der sowjetischen Diktatur: Zum einen gibt es seit 2005 die Gesellschaft der Unterdrückten in Riga (Rīgas Politiski represēto biedrība), die radikaler ist in ihren Forderungen, ein nationalistischeres Geschichtsbild verkörpert und mit der LPRA häufig im Streit liegt, der insbesondere zwischen den beiden Vorsitzenden, Gunārs Resnais und Jānis Lapiņš, ausgetragen wird.28 Zum anderen gründete die Regisseurin Dzintra Geka die Stiftung „Sibirische Kinder“. Über diese Kinder drehte Geka, selbst Tochter eines Deportierten, 2001 einen gleichnamigen Dokumentarfilm, der inzwischen auch in einer Buchfassung erschienen ist. Die Stiftung bemüht sich mit diversen Aktivitäten um die künstlerische Auseinandersetzung mit den Deportationen und deren Folgen für die Opfer sowie um Kontakt und Hilfe für die noch in Sibirien lebenden Deportierten, sie unterstützt sie materiell sowie bei dem Wunsch, nach Lettland zurückzukehren. In dieser Organisation engagieren sich viele jüngere Abkömmlinge von Exilletten. In den Disput zwischen LPRA und der Gesellschaft der Unterdrückten schalten sie sich kaum ein.29 26 Vgl. Mārtiņš Kaprāns/Olga Procevska/Andris Saulītis/Laura Uzule, Padomju deportaciju pieminešana Latvija. Atminu politika un publiska telpa, Riga 2012, S. 100–101. 27 Vgl. ebd., S. 102; Bigg, Latvia: Still Haunted by Soviet Past. 28 Vgl. Kaprāns et al., Padomju, S. 104; http://www.okupacijasupuri.lv/. 29 Für diesen Film führte Geka Interviews mit denjenigen Personen, die 1946 und 1947 zu den mehr als 1 000 Kindern gehörten, die aus Sibirien nach Lettland zurückkehren konnten. Manche von ihnen wurden später ein zweites Mal deportiert. Heute leben

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Die jüdischen Opfer der Nazi-Diktatur werden vom Jüdischen Rat in Lettland (Latvijas Ebreju draudžu un kopiena padome) vertreten, der ebenfalls Mitglied in europäischen und internationalen Netzwerken ist. Er wurde 1988 wieder gegründet, erst als Kulturverein, ab 1992 erneut als Gemeinde, nachdem er in der Sowjetunion verboten war. Etwa 1 000 Juden haben in Lettland den Holocaust überlebt; heute hat die jüdische Gemeinde nach eigenen Angaben 8 000 Mitglieder. Auch sie setzt sich vor allem für die Entschädigung der Opfer ein. Die jüdische Gemeinde wendet sich in der öffentlichen Debatte gegen die Gleichstellung beider Diktaturen und engagiert sich in praktischer Hinsicht insbesondere um die Restitution des Gemeindeeigentums. Die Geschäftsführerin der Rigaer jüdischen Gemeinde, Gita Umanovska, bemüht sich dabei um die öffentliche Vermittlung der Interessen der jüdischen Opfer.30

Debatten um die Erinnerungspolitik Die Verbände beider Opfergruppen schalten sich in Debatten um die Erinnerungspolitik ein und versuchen diese in Richtung ihrer Anliegen zu lenken, sind dabei jedoch nur mäßig erfolgreich. Die zentralen Akteure sind erstens das Parlament, das grundlegende Gesetze zum Thema verabschiedet und z.B. schon 1990 die Leugnung des Holocaust unter Strafe stellte, sowie einzelne Politiker und Parteien, die bestimmte Geschichtsbilder transportieren. Mäßigend haben sich der ehemalige Staatspräsident Lettlands Guntis Ulmanis (Amtszeit 1993–1999), aber vor allem die aus einer kanadischen, (exil-)lettischen Familie stammende zweite Staatspräsidentin Vaira Vīķe-Freiberga (1999–2007) in die Debatte um die Erinnerungspolitik eingebracht. Letztere hat immer wieder die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in Lettland unterstützt, um die Schicksale der zwei Opfergruppen gleichermaßen zu erforschen und ihrer zu gedenken. Andere Politiker aus dem national-konservativen Lager betonen das Leid der lettischen Deportierten und grenzen sich vor allem Richtung Russland bzw. der russischsprachigen Bevölkerung in Lettland ab. Deren politische Repräsentanten wiederum wenden sich ebenso gegen die Gleichsetzung der sowjetischen mit der Nazi-Diktatur wie die Vertreter der jüdischen Gemeinde, wobei diese genau wie lettisch-nationale Politiker den Überfall der Sowjetunion klar als Okkupation bezeichnen. Zweitens sind Künstler, Wissenschaftler, insbesondere Historiker, und Teile der Presse involviert. Alle Gruppen beschäftigt immer wieder der Umgang mit den Geheimdienstakten, der in Lettland noch immer nicht endgültig geklärt ist, sowie mit verschiedenen Jahrestagen, die in ihrer Symbolik jeweils stark politisiert werden. noch etwa 400 dieser Betroffenen in Lettland und Sibirien. Vgl. http://sibirijasberni.lv/; Kaprāns et al., Padomju, S. 104 f. 30 Vgl. Anita Kugler, Stofffetzen mit Nummern. In: die Tageszeitung vom 5.5.1996; Udo Bongartz, Lettland: Gita Umanovska und der Stolz einer lettischen Patriotin auf ihre jüdische Identität. In: Lettische Presseschau vom 23.3.2013; http://www.jews.lv/en.

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Der Disput um die Öffnung der Geheimdienstakten und die Lustration 1991 übernahm die lettische Regierung die Archive des KGB und setzte eine Kommission ein, die diese Dokumente untersuchen sollte. Im Prozess der Erfassung dieser Akten gelangten ca. 5 000 Karteikarten mit Namen von mutmaßlichen oder tatsächlichen Informanten, die in großen Säcken steckten, an die im März 1992 gegründete Kommission für die Untersuchung der Verbrechen des totalitären Regimes (Totalitāro režīmu noziegumu izmeklēšana komisija). Während sich die normalen KGB-Akten im lettischen Staatsarchiv befinden und seit 1997 öffentlich zugänglich sind, wurden die sogenannten Tscheka-Säcke31 in einem Raum verschlossen, zu dem nur der Kommissionsvorsitzende Dainis Vanags einen Schlüssel erhielt.32 Die Bedeutung der Karteikarten in diesen Säcken ist unklar: Entweder sie enthalten die Namen von Leuten, die für den Geheimdienst angeworben werden sollten, oder sie sind gänzlich unwichtig und wurden deshalb vom abziehenden KGB zurückgelassen. Da sie keine Unterschriften aufweisen, kann ihre Echtheit nicht geprüft werden, ebenso ist unklar, wie vollständig sie sind. Hochrangige KGB-Mitarbeiter können darauf nicht verzeichnet sein, weil es nicht üblich war, über sie Karteikarten anzulegen. Aufgrund ihrer unklaren Relevanz sollte das ebenfalls 1992 eingerichtete Forschungszentrum für die Dokumentation der Folgen des Totalitarismus (Totalitārisma seku dokumentēšanas centrs, TSDS) sowohl die operativen KGB-Akten als auch die Tscheka-Säcke erfassen und wissenschaftlich analysieren.33 Obwohl die Tscheka-Säcke der Allgemeinheit verschlossen blieben, haben sich immer wieder Personen heimlich Zugang zu den Karteikarten verschafft, um brisante Karten zu vernichten oder um diese zu entwenden. Es sind mehrfach Namen von vermeintlichen KGB-Mitarbeitern an die Öffentlichkeit gelangt. Bei den Parlamentswahlen 1993 sickerten Namen durch, die angeblich auf den Karteikarten standen. Trotz einer erforderlichen eidesstattlichen Versicherung, niemals mit dem Geheimdienst kollaboriert zu haben, identifizierte der Leiter des TSDS nach der Wahl die Namen von fünf Parlamentariern aus verschiedenen Parteien auf den Karten in den Tscheka-Säcken, darunter der damalige

31 Da die Karteikarten in Leinensäcken gefunden wurden, erhielten die Funde in Anspielung auf die 1917 gegründete Vorgängerorganisation des KGB, die Tscheka (die Allrussische Außerordentliche Kommission, Wserossijskaja Tschreswytschainaja Komissija, Tscheka oder lettisch Čeka), den Namen Tscheka-Säcke. Der Ausdruck „die Tscheka-­ Säcke öffnen oder nicht“ wurde zu einem Synonym für das Dilemma der Lustrations­ bemühungen in Lettland. Vgl. Pettai, Lustration in den baltischen Staaten, S. 101; Nollen­ dorfs, Lettland unter der Herrschaft, S. 41. 32 Vgl. Zake, Politicians versus Intellectuals, S. 397; Inga Švarca, Transitional Justice Mecha­ nisms applied by Latvia in its Transition from Communist Regime. In: Hitotsubashi Journal of Law and Politics, 40 (2012) 2, S. 59–85, hier 79; Skultans, Arguing with the KGB Archives, S. 323. 33 Vgl. Zake, Politicians versus Intellectuals, S. 397; Pettai, Lustration in den baltischen Staaten, S. 109. Seit 1995 ist das Dokumentationszentrum dem lettischen Verfassungsschutz unterstellt, zuvor war es eine Behörde des Justizministeriums.

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Außenminister Georgs Andrejevs.34 Nach langer Diskussion in einem eigens eingerichteten parlamentarischen Untersuchungsausschuss wurde die Immunität der Abgeordneten aufgehoben und ihre Mandate 1994 suspendiert. Vier Fälle kamen vor Gericht, nur einer, Edvīns Inkēns, wurde freigesprochen. Bei Aivars Kreituss, Roberts Milbergs und Andrejs Siliņš bestätigte das Gericht die Echtheit der Dokumente. Da jedoch nicht zweifelsfrei bewiesen werden konnte, dass die Beschuldigten bewusst mit dem KGB kooperiert hatten, setzte die Saeima, das lettische Parlament, die Mandate später wieder in Kraft.35 Nach diesen Vorkommnissen erlangte das Thema Lustration, also die Durchleuchtung von Abgeordneten und anderen Personen mit politischen Mandaten und Ämtern sowie von im öffentlichen Dienst tätigen Personen, eine größere öffentliche und politische Aufmerksamkeit. 1994 erließ das Parlament ein Gesetz zum Erhalt und zur Nutzung der Dokumente der früheren Staatssicherheitskomitees und zur Klärung der Kollaboration einzelner Personen mit dem KGB. Für ein zentrales Lustrationsgesetz setzte sich zwar keine der Regierungen ein, dafür gab es jedoch bis zu 14 verschiedene Einzelmaßnahmen, wie z.B. Berufsverbote. So ist es früheren Agenten (Mitarbeitern) – Informanten des KGB betrifft diese Regelung nicht, sie müssen ihre Tätigkeit allerdings offenlegen – des sowjetischen sowie des nationalsozialistischen Regimes gesetzlich verboten, öffentliche Ämter zu bekleiden, in Behörden tätig zu sein, in denen Waffen getragen werden, in der Landesverteidigung, beim Zoll, der Polizei, der Staatsanwaltschaft sowie der Justiz generell, im öffentlichen Rechnungswesen und im Auswärtigen Dienst zu arbeiten, ebenso wenig bei der Eisenbahn, den Finanzbehörden, als Rechtsanwalt oder Notar. Personen, die sich um entsprechende Ämter und Positionen bewerben, müssen ihre Vergangenheit durchleuchten lassen.36 Forderungen nach einem umfassenden Lustrationsgesetz erhoben Politiker immer wieder, so auch 1999 der damalige Premierminister Andris Šķēle oder 2002 die Partei Latvijas Nacionālas Neatkarības Kustība (Lettische Nationale Unabhängigkeitsbewegung, LNNK). Diese Vorstöße scheiterten stets am fehlenden Konsens über die Ausrichtung des Lustrationsgesetzes.37 2004 sah ein

34 Vgl. Pettai, Lustration in den baltischen Staaten, S. 98. 35 Vgl. ebd., S. 110. 36 Über das Thema Berufsverbot gab es immer wieder Debatten, weil anhand der Aktenlage nicht immer eindeutig entschieden werden konnte, ob die Ausübung eines Berufs jemandem zu Recht verwehrt wurde. Die LNNK stritt dafür, diese Regel noch weitere zehn Jahre beizubehalten, während Saskaņas Centrs (Harmonie Zentrum, SC) meinte, diese würde nur politisch instrumentalisiert. Die Ausschlussregel für bestimmte Berufe sollte zunächst 2004 auslaufen, wurde nach Diskussionen im Parlament aber letztlich beibehalten. Vgl. Zake, Politicians versus Intellectuals, S. 395; Pettai, Lustration in den baltischen Staaten, S. 111; Nollendorfs, The KGB-Files in Latvia, S. 93. 37 Der Entwurf sah vor, dass Mitarbeiter und Informanten des KGB innerhalb einer sechsmonatigen Frist ihre Taten zugeben sollten. Im Gegenzug würde ihre Identität geheim gehalten, sie konnten ihren Job behalten, aber nicht für öffentliche Ämter kandidieren. Danach sollte eine Kommission innerhalb des Amts für Verfassungsschutz alle nicht gemeldeten, aber verdächtigen Personen überprüfen. Diejenigen, die erkannt wurden,

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neuer Entwurf die Öffnung der Tscheka-Säcke und die Verlängerung der Berufsbeschränkungen für weitere zehn Jahre vor. Die öffentliche Debatte war sehr kritisch. Präsidentin Vīķe-Freiberga verweigerte die Unterschrift und verwies den Gesetzentwurf zurück ans Parlament. Nach erneuter intensiver Diskussion verabschiedete das Parlament den Entwurf im Juni 2006. Dieses Mal fand die Staatspräsidentin eine formale Begründung, um das Gesetz abzulehnen.38 Inzwischen haben nach Art. 11 des „Gesetzes zur Aufbewahrung und Nutzung der Dokumente des KGB und der Erfassung der Kooperation mit dem KGB“ Vertreter staatlicher Sicherheitsbehörden Zugang erhalten, um diese Karteikarten zu untersuchen. Individuen können auf Antrag Einsicht nehmen, wenn sich bestätigt hat, dass über sie Dokumente angelegt wurden. Es kann auch beantragt werden, dass gegen Personen, deren Namen in der Kartei gefunden werden, ein strafrechtliches Verfahren angestrengt wird. Dies war zunächst für zehn Jahre möglich, 2004 wurde diese Bestimmung noch einmal für weitere zehn Jahre verlängert.39 Die Parteien Jaunais Laiks (Neue Zeit, JL) und Saskaņas Centrs (Harmonie Zentrum, SC) sind ebenso deutlich gegen Aktenöffnung und Lustration wie die Intellektuellen in Lettland, sodass manche Beobachter meinen, sie täten dies aus Furcht darüber, dass womöglich auch ihre Kollaboration zur Sprache kommen könnte. Die Journalisten der Zeitung „Diena“ kritisierten die Aktenöffnung am vehementesten, weil es nicht möglich sei, diese gerecht vorzunehmen, und sie daher keinen Beitrag zur Wiederherstellung des sozialen Friedens leisten würde. Auch die Redakteure der zweitgrößten Tageszeitung „Neatkarīgā Rīta Avīze“ fürchteten, dass die Lustration nur der politischen Erpressung dienen würde. Die Kirche forderte eine gesamtgesellschaftliche Debatte über den Umgang mit Kollaboration und eine Wahrheitskommission, bei der freiwillig Schuld zugegeben werden sollte, was aber keine politische Zustimmung fand.40 Der Leiter der TSDC wandte sich ebenfalls gegen die Aktenöffnung, da die kommunistische Herrschaft in Lettland, insbesondere deren gewalttätige Phasen, weiterhin genauer erforscht werden sollten. Seine Stimme trug mit dazu bei, dass die Mehrheit der Parteien die entsprechenden Gesetzesentwürfe ablehnte. Staats­ präsidentin Vīķe-Freiberga kritisierte das Gesetz zur Aktenöffnung mit denselben Argumenten: Ein Prozess der Vergangenheitsbewältigung könne nicht von Politkern ersonnen werden; zudem müsse er so ablaufen, dass eine „Reinigung“ ohne es zugegeben zu haben, sollten ihre Namen im amtlichen Gesetzblatt Latvijas Vēstnesis veröffentlicht sehen und ihren Arbeitsplatz verlieren. Die Partei Tautas partija (Volkspartei, TP) sprach sich dafür, Latvijas Ceļš (Lettlands Weg, LC) und Par cilvēka tiesībām vienotā Latvijā (Für Menschenrechte im Vereinten Lettland, PCTVL) dagegen aus. TP sowie die Partei Zaļo un Zemnieku savienība (Union der Bauern und Grünen, ZZS) waren dann dafür, die Archive zu öffnen und die Öffentlichkeit urteilen zu lassen. Vgl. ebd., S. 108; Zake, Politicians versus Intellectuals, S. 400. 38 Manche Journalisten vermuteten, dass der Entwurf mit Absicht diese Fehler enthielt, um so einen Ausweg aus der verfahrenen Debatte zu finden. Vgl. ebd., S. 401. 39 Vgl. Pettai, Lustration in den baltischen Staaten, S. 111. 40 Vgl. Zake, Politicians versus Intellectuals, S. 201.

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der Gesellschaft erfolgen könne, ohne persönliche Verletzungen und unberechtigte Anschuldigungen. Daher sollen nur Experten und Wissenschaftler, nicht aber die breite Öffentlichkeit Zugang zu den Akten haben.41 Dass die Frage der Aktenöffnung bislang nicht endgültig geregelt wurde, liegt auch daran, dass es andere Mechanismen gibt. So schließen die restriktive Vergabe der Staatsbürgerschaft sowie die Berufsverbote bereits einige womöglich belastete Personenkreise von der Übernahme hochrangiger Posten aus und machen Regelungen zur systematischen „Durchleuchtung“ daher nicht erforderlich. Die inoffiziellen Gedenktage 16. März und 9. Mai Die offiziellen Gedenktage für die Opfer der Diktatur, der 25. März und der 14. Juni, sind gesellschaftlich weitgehend akzeptiert und verlaufen ohne öffentlichen Aufruhr, auch wenn die Opferverbände sie zum Anlass nehmen, ihre Anliegen gegenüber der Politik in Erinnerung zu rufen. Zwei weitere, inoffizielle Gedenktage hingegen lösen in Lettland und auch international immer wieder starke Kontroversen aus: Dies betrifft zum einen den 16. März, welchen die Veteranen der beiden lettischen Waffen-SS-Divisionen für Gedenkmärsche in Riga nutzen, sowie den 9. Mai, an dem die russischsprachige Bevölkerung in Lettland das Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs und der „Befreiung“ durch die Rote Armee begeht. Jedes Jahr seit der Unabhängigkeit marschieren die Veteranen der 15. und der 19. Division der lettischen Waffen-SS am 16. März durch die Rigaer Innenstadt, um ihrer gefallenen Mitkämpfer zu gedenken. Ein Gottesdienst im Dom sowie Gedenkreden auf dem Brüder-Friedhof (Brāļu kapi) machen aus diesem Ereignis stets mehr als ein privates Treffen ehemaliger Soldaten. Die Legionäre selbst sehen sich als Freiheitskämpfer, die ihr Heimatland gegen die sowjetischen Truppen zu verteidigen suchten. Diese Opferrolle wird ihnen aber nicht von allen Letten, insbesondere nicht den jüdischen Opfern und den Veteranen der Roten Armee, zugestanden. Sie betrachten die Mitglieder der Waffen-SS mindestens als Sympathisanten der Nationalsozialisten. 1998, zur 55. Jahrestagung nicht der Gründung der lettischen Legion, wie mitunter fälschlicherweise berichtet wurde, sondern dem Jubiläum des einzigen Tags, an dem beide Divisionen gemeinsam gegen die Rote Armee kämpften, kam es erstmals zu einer intensiveren öffentlichen Auseinandersetzung über die Rolle der lettischen Waffen-SS und diesen Teil lettischer Geschichte. Der Marsch im März 1998 unterschied sich von denen in den Vorjahren insofern, als der Oberbefehlshaber der

41 Zake vertritt die These, dass die Intellektuellen auch deswegen so vehement gegen eine Aktenöffnung waren, weil sie früher stärker als die neue Politikergeneration in die Propaganda des sowjetischen Systems eingebunden waren und somit zu dessen Legitimation beigetragen haben. Die Politiker hingegen hätten ihre Akten bereits zuvor überprüfen lassen müssen. Vgl. ebd., S. 405–407.

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lettischen Streitkräfte, Juris Dalbiņš, in Uniform mitlief und der Veranstaltung somit einen semi-offiziellen Charakter gab. Auch erklärte das lettische Parlament 1998 den 16. März zum Gedenktag. Dies wurde in der internationalen, insbesondere der russischen, Presse sehr kritisch kommentiert. Der Jüdische Rat und das Simon-Wiesenthal-Zentrum in Riga wandten sich ebenfalls explizit gegen eine öffentliche Würdigung der Veteranen. Dalbiņš musste später aufgrund seiner Beteiligung an dem Gedenkmarsch zurücktreten. Die Entscheidung für den Gedenktag nahm das Parlament ein Jahr später zurück. Die Kritik der Holocaust-Opfer entzündete sich außerdem daran, dass der deutsche Staat den Veteranen der Legionen Renten zahlte, wofür es aus deutscher Sicht eine gesetzliche Verpflichtung gibt, die jüdischen Opfer in Lettland zu dem Zeitpunkt allerdings keine Renten erhielten.42 Über die Aktivitäten der Waffen-SS gibt es auch zwischen Historikern nach wie vor Uneinigkeit. So argumentieren manche, dass der Großteil der Erschießungen von lettischen Juden bereits vor der Gründung der Waffen-SS in Lettland 1943 stattgefunden habe, ihre Mitglieder sehr jung gewesen – viele waren gerade um die 18 Jahre alt – und zwangsweise rekrutiert worden seien. Sie sehen die Legionäre eher in einer Opferrolle. Allerdings wurden diejenigen Letten, die in Sonderkommandos Dienst taten und sehr wohl an Erschießungen beteiligt waren, später auch Mitglied der Waffen-SS. Außerdem betonen Forscher sowie manche Politiker,43 dass diejenigen Mitglieder der lettischen Waffen-SS, die in Kriegsgefangenschaft geraten waren, 1950 vom US-Kommissar für Vertriebene, Harry N. Rosenfield, für entnazifiziert erklärt wurden, weil ihre Handlungen nicht mit den Angehörigen der deutschen Waffen-SS vergleichbar gewesen seien und sie deshalb nicht als Feinde der USA gelten. Auch das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal beurteilte zwangsweise rekrutierte Personen in SS-Organisationen nicht als Kriegsverbrecher. Die negative Perzeption durch die Sowjetunion, in der die Mitglieder der Legion kollektiv als Faschisten bezeichnet werden, trägt wiederum dazu bei, sie in den Augen nationalistisch gesinnter Letten aufzuwerten.44 Inzwischen hat die lettische und internationale Forschung herausgearbeitet, dass die Rolle der Legionen differenziert zu beurteilen ist: Die beiden Divisio42 Nollendorfs, Lettland unter der Herrschaft, S. 64; Bjarke W. Bøtcher, The Debate on the Latvian SS Volunteer Legion. In: Baltic Defence Review, 3/2000, S. 103–114, hier 109. Später weitete die Bundesrepublik ihre Entschädigungszahlungen für Opfer des NS-Regimes auch auf die osteuropäischen Länder aus. Vgl. http://www.auswaertiges-amt.de/ DE/Aussenpolitik/InternatRecht/Entschaedigung_node.html; 3.3.2014. 43 Vgl. Andris Bērziņš, An Answer to those who compare President of Latvia Andris Bērziņš’ Views About the Latvian Legion to Attitudes Toward Committers of War Crimes vom 4.3.2012 (http://www.president.lv/pk/content/?art_id=19234; 5.3.2014). 44 Inesis Feldmanis/Kārlis Kangeris, The Volunteer SS-Legion in Latvia, (http://www.mfa. gov.lv/en/policy/history/legion/; 10.2.2014); Onken, Revisionismus vor der Geschichte, S. 77–80; Bøtcher, The debate on the Latvian SS, S. 109; Udo Bongartz, 16. März: Lettlands spalterischer Gedenktag. In: Lettische Presseschau vom 18.3.2011 (http:// www.­lettische-presseschau.de/kultur/5-kulturnachschlag/424–16-maerz-lettlands-­ spalterischer-gedenktag; 10.2.2014).

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nen hatten zusammen etwa 150 000 Legionäre, von denen nur ca. 15 Prozent freiwillig beigetreten sind; ob dies aus Überzeugung für die nationalistische Ideologie oder aus der Hoffnung heraus geschah, Lettland gegen ein erneutes Übergreifen der Sowjetunion zu verteidigen, ist von Fall zu Fall verschieden. Unter ihnen befanden sich Rekruten, denen Zwangsarbeit in Deutschland angedroht worden war, sofern sie sich nicht „freiwillig“ meldeten. Aufgrund der Haager Konvention, an die sich die deutschen Nationalsozialisten offenbar gebunden fühlten, war die Zwangsrekrutierung fremder Soldaten verboten. Die lettischen Divisionen wurden nicht im Inneren eingesetzt, sondern kämpften mit der Wehrmacht gegen die Rote Armee.45 In der öffentlichen Debatte geht es jedoch nicht um ein differenziertes Bild der Geschichte, sondern „Okkupanten“ (gemeint ist die russischsprachige Bevölkerung, unabhängig davon, ob sie vor 1940 schon in Lettland lebte oder erst danach ins Land kam) stehen „Faschisten“ (die ehemaligen Legionäre sowie alle Personen, die ihrer gedenken) feindselig gegenüber.46 Der Vorschlag der lettischen Staatspräsidentin Vīķe-Freiberga, den 11. November, den Tag zum Gedenken aller lettischen Gefallenen, gemeinsam zu begehen, stieß bei den Veteranen auf Protest.47 Bei aller Differenzierung hinsichtlich der Motive und Aktivitäten derjenigen, die Teil der beiden Divisionen waren, entzündet sich die Kritik an diesen Gedenkmärschen auch daran, dass nationalistische Gruppierungen wie z.B. Visu Latvijai (Alles für Lettland)48 mitlaufen, ihre Fahnen schwenken und ein sehr einseitiges Geschichtsbild vermitteln. Der Rigaer Stadtrat, der von Parteien dominiert ist, die sich für die Belange der russischsprachigen Bevölkerung einsetzen, wollte 2011 den Aufmarsch verbieten, woraufhin die Legionäre Klage erhoben und unter Polizeischutz doch marschieren durften. Auch die Legionäre selbst reflektieren wenig über Fragen der Kollaboration und das Schicksal der jüdischen Letten.49 Gleichermaßen kontrovers wird über die Feiern zum 9. Mai diskutiert, an denen die russischsprachige Bevölkerung Lettlands des Endes des Zweiten Weltkriegs gedenkt. Dieser Tag war bis zum 21. August 1991, an dem Lettland endgültig international als unabhängig anerkannt wurde, offizieller Feiertag in 45 Vgl. Valters Nollendorfs, Achse der Erinnerung. Krieg und Okkupation in lettischen Denkmälern. In: Osteuropa, 58 (2008) 6, S. 267–283, hier 277; Katja Wezel, „Okkupanten“ oder „Befreier“. Geteilte Erinnerung und getrennte Geschichtsbilder in Lettland. In: Osteuropa, 58 (2008) 6, S. 147–158, hier 151; Bongartz, 16. März. 46 Vgl. Wezel, „Okkupanten“ oder „Befreier“, S. 157. 47 Vgl. Melanie Arndt/Veronika Gerber, Befreiung? Unerhört! Der 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs – Baltische Wahrnehmungen und Reaktionen. In: Zeitgeschichte-online, Thema: Die russische Erinnerung an den „Großen Vaterländischen“ Krieg, Mai 2005 (http://www.zeitgeschichte-online.de/zol/_rainbow/documents/pdf/ russerinn/arndt_gerber.pdf). 48 Visu Latvijai! gründete sich 2000 als nationalistische Jugendbewegung und 2006 als Partei. 2010 schloss sie sich für ein Wahlbündnis mit der Partei Tēvzemei un Brīvībai/ LNNK (Vaterland und Freiheit/LNNK) zusammen, 2011 entstand daraus eine Partei. 49 Vgl. Bongartz, 16. März: Lettlands spalterischer Gedenktag.

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der lettischen Sowjetrepublik. Weil für Lettland dieser Tag die zweite Annexion durch die Sowjetunion symbolisiert, steht er für die meisten Letten allerdings für den Beginn erneuter Unterdrückung. Seit mehreren Jahren, erstmals am 9. Mai 2008, begehen viele russischsprachige Einwohner Lettlands diesen Tag wie ein Volksfest. 50 000 Menschen strömten zum sowjetischen Kriegerdenkmal im Zentrum von Riga, wo, von den drei Parteien Harmonie Zentrum, Par cilveka tiesibam vienota Latvija (Für Menschenrechte in einem vereinten Lettland, PCTVL) sowie der Sozialistischen Partei Lettlands organisiert und finanziert, ein großes Fest stattfand.50 Auch wenn zunehmend mehr Russischsprachige inzwischen die lettische Staatsbürgerschaft angenommen haben, zeigt sich bei diesen Festen, an denen mittlerweile vor allem junge Leute teilnehmen, die den Zweiten Weltkrieg selbst gar nicht erlebt haben, wie zerrissen die lettische Gesellschaft hinsichtlich Identitäten und Geschichtsbildern nach wie vor ist. Der 9. Mai wird zum Ventil, um Gefühlen von Marginalisierung Ausdruck zu verleihen.51

Juristische Rehabilitierung der Opfer politischer Verfolgung Eine der ersten Aktivitäten der lettischen Regierung nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit bestand darin, Personen, die aus politischen Gründen ins Gefängnis gekommen, Opfer von Fehlurteilen oder deportiert worden waren, öffentlich zu rehabilitieren.52 Außerdem wurden die strafrechtlichen Grundlagen für die Verfolgung der Täter geschaffen sowie die Verwendung von Symbolen beider Diktaturen untersagt. Dazu wurden 1991 KGB und KP zu verfassungswidrigen Organisationen erklärt und verboten.53 Ebenso gilt seitdem das Zeigen kommunistischer und nationalsozialistischer Symbole bei Paraden und politischen Kundgebungen als verfassungswidrig und wird mit Geldbußen geahndet. 2013 verbot das Parlament auch das Zeigen sowjetischer und nationalsozialistischer Symbole bei öffentlichen Feiern und Gedenkveranstaltungen. Die größte Oppositionspartei im Parlament, Harmonie Zentrum, sprach sich gegen dieses 50 Vgl. Wezel, „Okkupanten“ oder „Befreier“, S. 148. 51 Vgl. ebd., S. 157. Als eine der Ursachen, warum die Integration der beiden Bevölkerungsgruppen noch immer hakt, nennt Nollendorfs die Vermittlung der Geschichte im Schulunterricht in Lettland, welche die Schüler eher zu lettischen Patrioten als zu kritischen Bürgern erziehen will. Vgl. Nollendorfs, Achse der Erinnerung, S. 283. Zur internationalen Dimension dieses Problems in den Beziehungen zwischen Russland und den baltischen Staaten, der Einladung an die drei baltischen Staatsoberhäupter, an den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Kriegsendes am 9. Mai 2005 in Moskau teilzunehmen, was nur die lettische Staatspräsidentin tat und wofür sie in Lettland viel Zuspruch erhielt. Vgl. Eva-Clarita Onken, The Baltic States and Moscow’s 9 May Commemoration: Analysing Memory Politics in Europe. In: Europe-Asia Studies, 59 (2007) 1, S. 23–46. 52 Vgl. Skultans, Arguing with the KGB Archives, S. 333. 53 Personen, die zum Stichtag 13.1.1991, an diesem Tag wollte das „Komitee für die nationale Rettung Lettlands“ die Macht in Lettland übernehmen, noch Mitglied dieser Organisation waren, verloren das passive Wahlrecht. Das Komitee wurde ebenfalls als verfassungswidrig erklärt. Vgl. Pettai, Lustration in den baltischen Staaten, S. 101.

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Verbot und damit die Gleichsetzung der jeweiligen Symbole und Regime aus. Hintergrund des Verbots waren die immer wiederkehrenden Auseinandersetzungen, auch in der internationalen Presse, um den 9. Mai und den 16. März.54 1992 richtete das Parlament einen Ausschuss zur Untersuchung der Verbrechen während des totalitären Regimes ein und unterstützte die Einrichtung einer speziellen Einheit der Staatsanwaltschaft, welche ebendiese Verbrechen verfolgen sollte. Am 6. April 1993 verabschiedete das Parlament eine umfassende Reform des Strafgesetzbuchs, die zum 28. April 1994 in Kraft trat und bestimmte, dass Personen, die sich nachweislich des Völkermords schuldig gemacht und Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen begangen hatten, unabhängig vom Zeitpunkt des Verbrechens verurteilt und bestraft werden können. 1999 wurde das Strafrecht erneut reformiert und das Strafmaß erhöht. In der Praxis bleibt der Nachweis der Rechtswidrigkeit jedoch eine große Hürde dafür, die Täter wirklich verurteilen zu können.55 Die politischen Institutionen betrieben weiterhin zügig die Suche nach den Schuldigen für die Deportationen von 1941 und 1949 und bemühten sich, deren Beteiligung an Kriegsverbrechen nachzuweisen. Diese Aktivitäten führten zur Festnahme und Verurteilung einiger Täter. Acht Mitarbeiter des NKVD wurden verhaftet und des Völkermords nach Art. 71 des Lettischen Strafgesetzbuchs angeklagt. Der prominenteste Täter war Alfons Noviks, Kommissar für interne Angelegenheiten und zwischen August 1940 und Juli 1941 Kommissar der Staatssicherheit in Lettland. Er wurde der Deportation von 60000 Menschen angeklagt und 1994 vor Gericht gestellt. Das Gericht verurteilte ihn 1995 zu lebenslanger Haft wegen der Beteiligung an Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Folter und Exekution politischer Gefangener. 1996 starb er im Gefängnis. Als weitere hochrangige Personen des NKVD wurden Mihails Farbtuhs, Nikolajs Tess und Nikolajs Larionovs wegen ihrer Beteiligung an den Deportationen von 1941 und 1949 verhaftet, angeklagt und verurteilt. Neben diesen bekannten Namen haben nur wenige Personen ihre Kooperation oder Mitarbeit beim KGB zugegeben bzw. konnten überhaupt juristisch belangt werden. Des Weiteren wurden Personen verhaftet und verurteilt, die während des Zweiten Weltkriegs Kriegsverbrechen begangen hatten. 1998 wurde Vassili Kononov angeklagt, weil er als Teil einer Partisaneneinheit, die der Roten Armee angehörte, neun Personen erschossen hatte, die wiederum angeblich mit den Deutschen kollaboriert hatten. Kononov wurde 2004 verurteilt und wandte sich später an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), seine Strafe wurde jedoch in zweiter Instanz bestätigt.56 54 Vgl. Norbert Beckmann-Dierkes/Krišjānis Bušs, Nationalsozialistische und sowjetische

Symbole in Lettland. In: KAS Länderbericht, Juli 2013. 55 Vgl. Švarca, Transitional Justice, S. 70 f. 56 Die erste Entscheidung im Fall Kononov endete mit 4:3 Stimmen für Kononov, die Berufungs­kammer hingegen stützte die Position des lettischen Staats mit einer Mehrheit von 14:3. Vgl. Carlos Closa Montero, Study on how the memory of crimes committed by totalitarian regimes in Europe is dealt with in the Member States, Institute of Public

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Das Bemühen, mithilfe juristischer Reformen die Täter strafrechtlich zu belangen und sie dadurch auch aus dem Staatsapparat verdrängen zu können, diente nicht allein dazu, die Täter zu bestrafen. Vielmehr sollte so auch den Opfern mehr Sicherheit gewährt werden. Da in den ersten Jahren der Unabhängigkeit viele frühere Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft, der Justiz überhaupt und des Geheimdienstes (Valsts drošības komiteja) im öffentlichen Dienst beschäftigt blieben, fühlten sich die Opfer vom neuen Justizapparat nicht ausreichend geschützt, und viele von ihnen trauten sich nicht, bei der Untersuchung von Verbrechen auszusagen.57 Neben Gefängnisstrafen bietet das Gesetz auch die Möglichkeit, früheren KGB-Mitarbeitern das aktive Wahlrecht zu entziehen. Dies betraf Personen, die nach dem 13. Januar 1991 noch Mitglied des KGB waren. Bis 2012 wurden 15 Personen identifiziert.58 Das Staatsbürgerschaftsrechts von 1994 mit seinem exklusiven Verständnis implizierte ebenfalls juristische Sanktionen, da Mitarbeiter des KGB und hochrangige KP-Funktionäre keine Staatsbürgerschaft erhielten und sie auch nicht beantragen konnten.59 Außerdem wurde ihr Aufenthaltsrecht beschränkt. In der Praxis regelte die lettische Regierung jedoch im Rahmen bilateraler Verträge mit Russland, wie u.a. den Vertrag zum Truppenabzug, den Status mancher dieser Personen und gewährte den ca. 22 300 Militärpensionären weiterhin den Aufenthalt in Lettland. Im Vergleich zu Staatsbürgern sind sie jedoch hinsichtlich Pensionen und anderen Sozialleistungen schlechter gestellt.60 Das Bemühen des lettischen Staats, mit der strafrechtlichen Verfolgung sowie der gesellschaftlichen Exklusion der Täter die juristische Rehabilitierung der Opfer voranzutreiben, sollte durch die Integration Lettlands in internationale Organisationen abgesichert werden. Dadurch können aber auch die Täter neben der nationalen zunehmend die internationale Ebene nutzen, wenn sie sich vom lettischen Staat ungerecht behandelt fühlen. 2003 gab es eine große öffentliche Debatte, als das Parlament darüber befinden musste, ob frühere KGB-Mitarbeiter und Mitglieder der KP sich für ein Mandat im Europaparla-

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Goods and Policy, Centre of Human and Social Sciences, Madrid 2010, S. 176, 203. Vgl. auch Nollendorfs, The KGB-Files in Latvia, S. 93; Švarca, Transitional Justice, S. 72 f. Mehr Erfolg vor dem EGMR hatten Kläger aus Lettland, denen die Wahl in öffentliche Ämter wegen ihrer KGB-Vergangenheit per Gesetz verwehrt worden war. Jānis Ādamsons, ein früherer Offizier der sowjetischen Grenzwache, der 2002 nicht bei den Parlamentswahlen antreten durfte, bekam dort Recht und wurde 2009 in den Rigaer Stadtrat gewählt. Auch andere Personen, die aus ähnlichen Gründen in Lettland kein politisches Amt bekleiden durften, klagten erfolgreich. Seit dem EU-Beitritt haben EU-Bürger kommunales Wahlrecht in Lettland, Nicht-Staatsbürger gelten aber nicht als EU-Bürger. Vgl. Švarca, Transitional Justice, S. 65. Vgl. Pettai, Lustration in den baltischen Staaten, S. 102. Zum Inhalt und zur Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes in Lettland vgl. Claudia-Yvette Matthes, Lettland. In: Günther Heydemann/Karel Vodička (Hg.), Vom Ostblock zur EU. Systemtransformationen 1990–2012 im Vergleich, Göttingen 2013, S. 47–75, hier 61–63. Vgl. Švarca, Transitional Justice, S. 76 f.

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ment bewerben dürfen. Obwohl eine Mehrheit der lettischen Politiker dagegen war, erlaubte das EU-Wahlrecht die Beteiligung dieser Personengruppe. Diese Regelung begünstigte u.a. Tatjana Ždanoka und Alfrēds Rubiks, die wegen ihrer Beteiligung am Putschversuch 1991 ab 1998 nicht mehr bei Wahlen zum lettischen Parlament kandidieren durften. Ždanoka verklagte Lettland daraufhin vor dem EGMR, verlor ihren Fall jedoch. Für die Wahlen zum Europaparlament 2004 hingegen wurden sie und Rubiks zugelassen und auch gewählt.61

Wiedergutmachung und Entschädigung Erste Maßnahmen zur Restitution von Opfern gab es schon 1988. Am 2. November 1988 erließ das lettische Parlament das Gesetz über die unberechtigte Deportation von Bürgern der lettischen SSR im Jahr 1949. Im Zuge des Kampfs um die Unabhängigkeit und danach folgten am 3. August 1990 das Gesetz über den Status von Personen, die Opfer von Repressionen waren, und am 12. April 1995 das Gesetz über den Status von Personen, die Opfer politischer Repression des kommunistischen und des Nazi-Regimes waren. In diesen gesetzlichen Grundlagen wurde definiert, wer als Opfer zu werten ist, nämlich Personen, die bis zum 21. August 1991 als Folge der Repression ihr Leben verloren, ins Gefängnis kamen oder aus Lettland deportiert wurden. Opfer indirekter Repression sind solche Personen, die entweder von ihrem Grund und Boden vertrieben wurden, höhere Steuern zu zahlen hatten, die enteignet wurden oder denen aus politischen Gründen der Zugang zum Studium oder bestimmten Berufen verwehrt worden war.62 Dazu können auch Personen gehören, die mit Nazi-Deutschland zusammengearbeitet hatten, sowie ihre Nachkommen; sie werden jedoch ausgeschlossen, wenn sie nachweislich an der Tötung von Juden in Lettland beteiligt waren.63 Seit 1996 können sich Personen, die im Widerstand waren, als Opfer anerkennen lassen und Entschädigungsleistungen beantragen.64 Wie diese Entschädigungen in materieller Hinsicht ausgestaltet werden sollten, definierten die Gesetze ebenfalls: Sie sehen ein Bündel an Maßnahmen zur Wiederherstellung bürgerlicher Rechte durch die öffentliche Anerkennung als Opfer sowie ökonomische und soziale Vergünstigungen vor. Konfisziertes Eigentum und Grundbesitz werden, wenn möglich, zurückgegeben, oder anerkannte Opfer erhalten pro Jahr der Inhaftierung in Lettland oder in Sibirien Gut­ scheine von der Regierung, welche sie als geldwerte Mittel zum Erwerb neuen

61 Vgl. ebd., S. 77; Zake, Politicians versus Intellectuals, S. 398; Nollendorfs, The KGBFiles in Latvia, S. 93. 62 Vgl. Closa Montero, Study on how the memory, S. 91; Švarca, Transitional Justice, S. 81 f. 63 Vgl. ebd., S. 82; Nollendorfs, The KGB-Files in Latvia, S. 93; Skultans, Arguing with the KGB Archives, S. 333. 64 Vgl. Simsons, Bericht von der Delegation, S. 58.

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Wohneigentums oder Grund und Bodens nutzen können.65 Anerkannte Opfer erhalten außerdem freien Zugang zum Gesundheitsdienst, müssen weniger Steuern zahlen, können kostenlos öffentliche Verkehrsmittel nutzen und bereits mit 55 Jahren in Rente gehen. Das TSDS prüft die Angaben der Antragsteller und befindet über die Restitution. Als Nachweis für eine politisch motivierte Verfolgung dienen zumeist die Akten des KGB. Die Zahl der Anträge stieg erst langsam, bis zum 1. Januar 1995 waren nur 12 300 Personen rehabilitiert, später schneller, sodass bis 2001 mit 40 000 Personen ca. 95 Prozent der Anträge stattgegeben wurde. Bis 2011 wurden weitere 60 000 Personen rehabilitiert.66 Die materielle Wirkung dieser Entschädigungsleistungen ist dennoch gering: Die Entschädigungen betragen in Abhängigkeit von der Haftdauer zwischen 700 und 1 000 Lats (ca. 990 bzw. 1 400 Euro) und pro Jahr Zwangsarbeit 280 Lats (390 Euro) pro Person.67 In monetärer Hinsicht haben sie eher symbolischen Charakter. Indem sie aber den Bruch mit Vergangenheit zum Ausdruck bringen, sollen sie das Zugehörigkeitsgefühl zur lettischen Nation auch bei Nicht-Opfern stärken. Die Opfergruppen selbst beklagen das geringe Engagement aller bisherigen Regierungen in dieser Frage und fordern mehr Unterstützung für ihre Organisationen. So war z.B. im Staatshaushalt für 2012 die Zahlung von 5 000 Lats (ca. 7 000 Euro) an die Lettische Nationale Partisanenvereinigung und 5 000 Lats an die Lettische Nationale Soldatenvereinigung festgelegt, während die Lettische Vereinigung der Opfer politischer Repressionen (LPRA) nur noch 3 400 Lats (ca. 4 900 Euro) erhielt.68 Die LPRA fordert von der lettischen Regierung auch, sie solle sich um Restitutionszahlungen durch Russland bemühen. Zu diesem Zweck richtete die lettische Regierung 2005 eine Kommission unter der Leitung von Edmunds Stankevics ein, um die menschlichen und finanziellen Kosten der 50-jährigen Okkupation zu errechnen. Dem Kommissionsleiter zufolge ginge es nicht allein um monetäre Kompensation oder eine Entschuldigung aus Russland, was er beides für unwahrscheinlich hielt, sondern um die Anerkennung des Leids durch die internationale Gemeinschaft sowie die Hoffnung auf eine Aussöhnung mit der russischsprachigen Bevölkerung in Lettland, wenn das Ausmaß der Verluste endgültig dokumentiert ist.69 Die Arbeit der Kommission verlief jedoch ohne Ergebnis und wurde eingestellt.70

65 Vgl. Švarca, Transitional Justice, S. 80–83; Skultans, Arguing with the KGB Archives, S. 333. 66 Vgl. Closa Montero, Study on how the memory, S. 90. 67 Vgl. Pēteris Simsons, Bericht zu Lettland. Protokoll des 12. Kongresses der InterAsso in Kiew, 20.5.2004, S. 5. 68 Latvijas Republikas Saeima: Saeima adopts the state budget for 2012 in the final reading vom 16.12.2011 (http://www.saeima.lv/en/about-saeima/work-of-the-saeima/speaker; 15.1.2014). 69 Vgl. Simsons, Bericht von der Delegation, S. 58; Biggs, Latvia: Still Haunted by Soviet Past. 70 Eine lettisch-russische Historikerkommission, die beim Besuch von Staatspräsident Valdis Zatlers in Moskau im Dezember 2012 vereinbart wurde, soll nun die Geschichte aufarbeiten. Vgl. The Baltic Times vom 5.1.2011.

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Während die Restitution der lettischen Opfer gesetzlich geregelt und trotz aller Unzulänglichkeiten, welche die Opferverbände monieren, gesellschaftlich akzeptiert ist, führte die Frage der Restitution der jüdischen Opfer, genauer der jüdischen Gemeinde, zu verschiedenen Zeitpunkten zu politischen Konflikten. Zwar gilt auch für sie das individuelle Prinzip der Rückgabe von Eigentum seit Schaffung der gesetzlichen Grundlagen im Oktober 1991, doch für die jüdische Gemeinde sieht die Lage anders aus. Sie war von den Nazis als Organisation ausgelöscht worden und konnte deshalb dem lettischen Staat gegenüber keine Forderungen zur Entschädigung stellen.71 2006 blockierte das lettische Parlament ein Gesetz, das die Restitution für verlorenes Eigentum der jüdischen Gemeinde im Umfang von 270 Grundstücken und Gebäuden im Wert von 55 Millionen US-Dollar vorsah. Es ging dabei um öffentliche Gebäude, in denen Schulen, Krankenhäuser, Kulturzentren etc. untergebracht waren. 2011 versuchte der US-amerikanische Sonderbeauftragte für Holocaust-Angelegenheiten, Douglas Davidson, mit der lettischen Regierung eine Entschädigung für die jüdische Gemeinde auszuhandeln, nachdem ein neuer Staatshaushalt verabschiedet worden war. Seine Kalkulation kam auf 42,8 Millionen Euro, doch die Verhandlungen führten zu keinem Ergebnis. Eine Entschädigung wies u.a. der Bürgermeister von Ventspils, Aivars Lembergs, polemisch mit dem Verweis zurück, dass dann alle Opfer, die des Faschismus und des Kommunismus, in gleicher Höhe entschädigt werden müssten. Auch die lettische Gesellschaft lehnte Umfragen zufolge zu 60 Prozent Entschädigungen an die jüdische Gemeinde ab.72 2013 kam es zu einem Eklat, als der damalige Justizminister Gaidis Berziņš (LNNK) erneute Restitutionsforderungen der jüdischen Gemeinde zurückwies. In der Folge musste er von seinem Amt zurücktreten. Sein Argument war, dass eine Restitution jüdischer Opfer diese über andere Opfer stellen würde. Staatspräsident Andris Berziņš hingegen sprach sich für Entschädigungen aus.73 Entschädigungszahlungen von internationalen Quellen, insbesondere aus Deutschland, kamen spät und für viele Opfer sogar zu spät.74 Neben der materiellen Restitution praktizieren verschiedene Gruppen verschiedene Formen der öffentlichen Erinnerung an die Opfer. Als erster symbolischer Akt der Wiedergutmachung fand ein kollektives Gedenken an die Opfer der Deportationen erstmals 1987 statt, als Mitglieder der ­Menschenrechts­gruppe

71 Vgl. The Baltic Times vom 26.1.2011. 72 Vgl. ebd.; The Baltic Times vom 27.6.2012. 73 Vgl. Cnaan Liphshiz, Latvian minister resigns in protest of Holocaust restitution plan. In: Jewish Telegraphic Agency vom 21.6.2012. 74 1998 zahlte die deutsche Regierung ca. eine Millionen Euro an die Regierungen der drei baltischen Staaten, um die Opfer der NS-Diktatur zu entschädigen. Vgl. Closa Montero, Study on how the memory, S. 130. Im Jahr 2000 einigten sich die deutsche Regierung und deutsche Unternehmen schließlich auf einen Fonds in Höhe von fünf Millionen Euro speziell für ehemalige Zwangsarbeiter. Vgl. Anja Hense, Limitation of Economic Damages as a ‘Humanitarian Gesture’: The German Foundation ‘Remembrance, Responsibility and the Future’. In: Journal of Contemporary History, 46 (2011), S. 407–424.

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„Helsinki 86“ am Freiheitsdenkmal in der Rigaer Innenstadt Blumen niederlegten. Während die Aktivisten zu dieser Zeit noch stark kritisiert wurden, gestatte die KP-Führung ein Jahr später bereits offiziell, an die Deportationen vom 25. März 1949 auf diese Weise öffentlich zu erinnern.75 Untersuchungen der Medienberichterstattung über diese und andere Aktionen sowie die Darstellung der Schicksale der Opfer zeigen, dass die öffentliche Erinnerung in der Zeit der „singenden Revolution“ 1988 bis 1991 sehr differenziert war. Es wurde kein Unterschied zwischen den Opfern gemacht, keine Gruppe wurde als die stärker betroffene oder leidende dargestellt. Seit Erlangung der Unabhängigkeit wird in den Medien weiterhin insgesamt mehr über Opfer als über Täter berichtet, dabei hat die Fokussierung auf Letten als Opfer des Terrors zugenommen.76 Symbolische Formen der Wiedergutmachung stellen auch die zahlreichen Gedenkstätten dar. 1992 wurde das Dokumentationszentrum für Folgen des Totalitarismus eingerichtet und 1993 das Okkupationsmuseum. Gemäß Art. 8 des Gesetzes über die Verfolgten der kommunistischen sowie der Nazi-Diktatur ist der Staat verpflichtet, für ein historisches Gedenken an die Opfer zu sorgen. Die Initiative für die Einrichtung des Museums kam jedoch von einem Exilletten, Pauls Lazda, und das Geld kommt nur zu einem Viertel aus dem Staatshaushalt, der Rest muss über Spenden akquiriert werden. Das Museum richtete 1996 eine Bildungsabteilung ein, die auf sehr differenzierte Art und Weise die Vergangenheit an die jüngere Generation vermittelt.77 Die Gedenkstätte Salaspils ist ein ehemaliges Konzentrationslager, und das Lettische Kriegsmuseum sowie ein KGB-Gefängnis sind weitere Orte, an denen Unrecht geschah und heute Erinnerungsarbeit geleistet wird. Das Museum für die Juden in Lettland wurde 1996 eröffnet. Sein Direktor, der Historiker Margers Vestermanis, selbst überlebender Häftling im Ghetto von Riga und als ehemaliger „Waldbruder“ auch aktiver Widerstandskämpfer, gründete schon 1990 das Jüdische Dokumentationszentrum in Riga. Dieses Museum erhielt außer einer einmaligen Unterstützung in Höhe von 2 500 Euro keine weitere Finanzierung durch den lettischen Staat, sondern Spenden von Privatpersonen aus Deutschland sowie den USA und der Memorial Foundation for Jewish Culture in New York sowie der Soros Foundation.78 Aufgrund der gegensätzlichen Diskurse zur Täter-Opfer-Frage, der unklaren Faktenlage, die erst mit Öffnung der Archive aufgearbeitet werden konnte, und auch auf Druck vonseiten der EU berief der damalige lettische Staatspräsident,

75 Mārtiņš Kaprāns/Olga Procevska/Laura Uzule, Persistence and Transformation of Cultural Trauma: Commemoration of Soviet Deportations in the Media of Post-Soviet Latvia (1987–2010). In: Catherine Barrette/Bridget Haylock/Danielle Mortimer (Hg.), Trauma Imprints: Performance, Art, Literature and Theoretical Practice, Oxford 2011, S. 245–252, hier 246. 76 Vgl. ebd., S. 249. 77 Aro Velmet, Occupied Identities: National Narratives in Baltic Museums of Occupations. In: Journal of Baltic Studies, 42 (2011) 2, S. 189–211. 78 Vgl. Kugler, Stoffetzen mit Nummern.

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Guntis Ulmanis, am 13. November 1998 eine Historikerkommission zur Untersuchung der beiden Diktaturen in Lettland ein. Zunächst waren nur lettische Historiker beteiligt, doch rasch wurden internationale Kollegen, die sich mit lettischer und/oder sowjetischer Geschichte befassen, dazu gebeten.79 Die Kommission wollte ursprünglich nur die Ereignisse bis 1956 in den Blick nehmen, erweiterte den Zeitraum aber schnell auf die gesamte Periode bis 1990/91. Die Diskussionen der beteiligten Historiker sowie die Ergebnisse aus allen Arbeitsgruppen wurden in mehreren Tagungen, Büchern und im Internet öffentlich gemacht und breit diskutiert. Die Kontroverse über das Ausmaß einer lettischen Mitschuld an der Judenvernichtung wurde hier ausgetragen, zwischen dem Exilletten Andrew (Andrievs) Ezergailis und dem Leiter des jüdischen Museums in Riga, Margers Vestermanis.80 Andere prominente Mitglieder waren Haralds Biezais (1995 verstorben), Heinrihs Strods, Aivars Stranga, Inesis Feldmanis und Valters Nollendorfs. Eine einstimmige Bewertung formulierte die Kommission in ihren Publikationen nicht, präsentierte aber sehr reflektiert viele Fakten und erfüllte ihr Ziel, einen offenen Diskurs über die Vergangenheit zu initiieren.81

Resümee Der Stand der gesetzlichen Aufarbeitung beider Diktaturen ist in Lettland inzwischen sehr weit fortgeschritten. In zahlreichen Gedenkstätten, Museen und Publikationen wird des erlittenen Unrechts gedacht, ebenso wird versucht, jüngere Einwohner Lettlands auf differenzierte Weise für das Thema zu sensibilisieren. Insbesondere die Arbeit des Okkupationsmuseums mit seinem zwar nationalen, aber in der Darstellung und in dem Bemühen um die pädagogische Vermittlung der Diktaturerfahrungen dennoch sehr reflektierten Ansatz, ist hierbei hervorzuheben. Den Geschichtsunterricht in den Schulen beurteilen manche Experten wie Nollendorfs als zu einseitig auf die lettische Opferrolle ausgerichtet. Die gesetzlichen Grundlagen zur Verfolgung der Täter sind im Vergleich jedoch als sehr umfassend zu bewerten. Die Hauptinstrumente zum Schutz der Opfer und zur Wiedergutmachung ihrer Leiden sind das Strafrecht, die Lustration bzw.

79 Vgl. Eva-Clarita Onken, The Politics of Finding Historical Truth: Reviewing Baltic History Commissions and Their Work. In: Journal of Baltic Studies, 38 (2007) 1, S. 109–116, hier 110. 80 Vgl. Jörg Hackmann, From National Victims to Transnational Bystanders? The Changing Commemoration of World War II in Central and Eastern Europe. In: Constellations, 16 (2009) 1, S. 167–181, hier S. 173; Onken, The Politics of Finding Historical Truth, S. 113.

81 Vgl. Lavinia Stan, Truth Commissions in Post-Communism: The Overlooked Solution? In: The Open Political Science Journal, 1/2009, S. 1–13. Valters Nollendorfs/Erwin Oberländer (Hg.), The Hidden and Forbidden History of Latvia under Soviet and Nazi Occupations: 1940–1991. Selected Research of the Commission of the Historians of Latvia, vol. 14, Riga 2005, S. 379 f.

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das exklusive Staatsbürgerschaftsrecht sowie die Berufsverbote, die Restitution und die „Wahrheitssuche“ durch die Historikerkommission. Die Wirkung dieser Maßnahmen ist insofern positiv zu bewerten, zumal ein Dialog über die Vergangenheit stattfindet, der es ermöglicht, sich mit den verschiedenen Facetten der lettischen Geschichte differenziert zu befassen. Die materielle Restitution für die Opfer ist allerdings gering, und viele der sehr betagten Opfer leben weiterhin in Armut. Der Vorsitzende des Opferverbandes LPRA, Gunārs Resnais, ist zwar bei vielen öffentlichen Gedenkfeiern vertreten, seine Forderungen nach besserer materieller Entschädigung werden aber von der Politik nicht erhört. Hier zeigt sich ein Widerspruch: Obwohl die kommunistische Diktatur durch die gesellschaftlichen Konflikte zwischen Russen und Letten im Fokus der Politik steht, fällt die finanzielle Unterstützung für ihre Opfer eher schwach aus. Augenscheinlich überlagert der Disput um die Folgen der Diktatur, der über die Gesetze zur Staatsbürgerschaft und zur Staatssprache ausgetragen wird, die Belange der Opfer. Das exklusive Verständnis der Staatsbürgerschaft erschwert zudem die Versöhnung zwischen den Nachkommen der Täter und der Opfer. Die Anliegen der jüdischen Opfer erfahren durch den Druck ihrer internationalen Fürsprecher, vor allem der USA und Israel, mittlerweile mehr Aufmerksamkeit, diese zeigt jedoch bisweilen negative Auswirkungen, da sie innenpolitisch eine Abwehrhaltung auslöst und das lettisch-nationale Lager stärkt. Der Umgang mit den Opfern spiegelt sich daher in der anhaltenden Debatte über die Deutung der doppelten Diktaturerfahrung wider. Hilfreich für eine breit gefächerte Form der Aufarbeitung war das Engagement einiger lettischer Politiker, insbesondere der ehemaligen Staatspräsidentin Vīķe-Freiberga, der es gelang, die durchaus vorhandene unterschiedliche Wahrnehmung des Leids jüdischer Opfer und der Opfer der sowjetischen Okkupation zu mildern und beiden Opfergruppen gleichermaßen Anerkennung zukommen zu lassen. Lettische Historiker setzen sich inzwischen für eine differenzierte Interpretation der Geschichte ein. Das lange vorherrschende Bewusstsein der lettischen Mehrheit, ausschließlich Opfer zu sein und sich daher nicht mit dem Problem einer möglichen Verstrickung mit den Tätern befassen zu müssen, löste sich erst nach 2000 allmählich. Wie die weiterhin virulente Debatte über die Waffen-SS-Divisionen zeigt, hat noch keine Seite eine endgültige Deutungshoheit über diesen Teil der Geschichte erlangt. Diese Diskussion spiegelt zudem weitere Unterschiede in der Erinnerungs- und Geschichtspolitik in Lettland wider: Über Ausmaß und Form der Kollaboration mit Nazi-Deutschland wird inzwischen öffentlich diskutiert, eine Kollaboration mit den sowjetischen Besatzern hingegen ist (noch) nicht Gegenstand einer breiten gesellschaftlichen Auseinandersetzung.

Zwischen Mitgefühl und Gleichgültigkeit – die Rehabilitierung der Opfer sowjetischer Verfolgungen Elena Zhemkova* Die politischen Verfolgungen begannen bereits unter Lenin und setzten sich auch in der Zeit nach Stalin fort. Die letzten politischen Gefangenen wurden erst 1991 unter Gorbatschow entlassen. Die Politik der Gewalt war eine Komponente, die aus der sowjet-kommunistischen Ideologie nicht wegzudenken ist. In den ersten Jahrzehnten der Sowjetepoche (bis 1953) vollzog sich diese Gewaltpolitik in Form eines permanenten politischen Massenterrors. Jährlich fielen Zehn-, ja Hunderttausende den Verfolgungen zum Opfer. Nach Stalins Tod wurde der Terror selektiv. Die Zahl der aus politischen Gründen Inhaftierten betrug nunmehr nur noch einige Tausend oder sogar nur einige Hundert Menschen pro Jahr. Die Verhaftungen endeten erst 1987, als der Sowjetunion nur noch weniger als fünf Jahre verblieben. In der Zeit nach Stalin bis Mitte der 1960er-Jahre gingen neue politische Repressionen mit einem Prozess von Rehabilitierungen der Terroropfer der 1930er- und 1940er-Jahre einher. Danach endeten die Rehabilitierungen und wurden erst 1988 unter anderen ideologischen Rahmenbedingungen mit neuem Elan wieder aufgenommen.1

Die Grundzüge des politischen Terrors 1. Die schrecklichen Ausmaße des Terrors, der etliche Millionen Opfer forderte (genauer s. u.). 2. Die präzedenzlos lange Dauer des Terrors. Vier oder sogar fünf Generatio­ nen sowjetischer (russischer) Bürger wurden unmittelbare oder indirekte Opfer sowie Zeugen des Terrors.

* 1

Übersetzt aus dem Russischen von Vera Ammer. Grundlage für den vorliegenden Aufsatz sind vor allem die Forschungsergebnisse, öffentlichen Erklärungen und Gesetzesvorschläge der Gesellschaft Memorial. Die Autorin bedankt sich bei ihren Kollegen Arsenij Roginskij, Jan Raczyński, Sergej Krivenko, Vera Ammer, Irina Ščerbakova, Alena Kozlova und Irina Ostrovskaja für ihre Unterstützung.

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3. Die zentrale Lenkung des Terrors. Ausführende Institutionen waren die Sicherheitsorgane (WTSCHK/OGPU/NKWD/MGB/KGB), aber alle wesentlichen Terrorkampagnen (auch die späteren ideologischen Kampagnen, als statt Verhaftungen nur noch Berufsverbote erfolgten) wurden von dem höchsten Parteiorgan initiiert – dem Politbüro des ZK der WKP (B) bzw. der KPdSU – und standen unter seiner ständigen Kontrolle. 4. Die kategorialen Zielgruppen des Terrors. Die meisten Opfer des Massenterrors, auch jene, die individuell angeklagt wurden, wurden aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen, konfessionellen oder ethnischen Gruppe verfolgt. In abgeschwächter Form fand dies auch später noch statt. Man denke an den staatlichen Antisemitismus, die Verfolgungen Gläubiger oder das Auseinanderjagen der Klubs der Liedermacher. 5. Der eklatant unrechtmäßige (widerrechtliche) Charakter des Massenterrors: • falsche, erdachte Beschuldigungen; • brutaler Umgang mit den Verhafteten, einschließlich ausgeklügelter physischer Foltermethoden, um Geständnisse angeblicher Verbrechen zu erreichen; • die Verurteilung der überwiegenden Mehrheit der Verhafteten nicht durch Gerichte, sondern durch verfassungswidrige außergerichtliche Organe, die eigens für einzelne territoriale Kampagnen eingerichtet worden waren („Troj­kas“, „Kommissionen aus NKWD und Staatsanwalt“ u. a.); • das „vereinfachte Verfahren“, d. h. Untersuchungen durch Gerichtsoder außergerichtliche Organe, Urteile in Abwesenheit, Verfahren ohne Zeugen, ohne Beteiligung von Anwälten, im Falle einer Verurteilung ohne das Recht auf ein Gnadengesuch; • die totale Verletzung aller Rechte der Gefangenen in den Lagern und Arbeitssiedlungen, selbst derjenigen, die in der sowjetischen Gesetzgebung vorgesehen waren. 6. Die propagandistische Absicherung des staatlichen Terrors, seiner Notwendigkeit und moralischen Berechtigung. Im Laufe vieler Jahrzehnte hat sich im Bewusstsein der Bevölkerung der Gedanke an Feinde – äußere und innere – sowie den heroischen Kampf gegen diese Feinde, den Partei und Sicherheitsorgane führen, und die Pflicht jedes Sowjetmenschen, an diesem Kampf teilzunehmen, eingenistet. Die Aktivitäten dieser Feinde wurden für alle Misserfolge der Regierung verantwortlich gemacht, in erster Linie für den niedrigen Lebensstandard der Bevölkerung. Die Folgen des Terrors und der mit ihm einhergehenden Propaganda empfinden wir noch heute.

Die wesentlichen Wellen des politischen Terrors In den 70 Jahren der Sowjetherrschaft fielen Vertreter aller sozialen Schichten und Gruppen der Bevölkerung dem Terror zum Opfer. Verfolgt wurden nicht nur diejenigen, die zu den Machthabern in offener Opposition standen, son-

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dern auch jene, die lediglich „potenziell“ gefährlich waren – sogenannte klassenfremde oder sozial gefährliche Elemente, darunter Kinder und andere Familienmitglieder von „Volksfeinden“. Die Opfer politischer Repressionen waren die Blüte der Nation, ihre aktivsten, gebildetsten und talentiertesten Vertreter. Sofort nach der Machtergreifung der Bolschewiki 1917 setzte die Verfolgung von Vertretern aller oppositionellen politischen Parteien und Organisationen ein, von monarchistischen bis zu sozialistischen. In den folgenden Jahren wurden auch alle nichtpolitischen, unabhängigen, gesellschaftlichen Organisationen zerschlagen, einfach geschlossen oder verstaatlicht. Das war ein wichtiger Schritt bei der Sicherung der unkontrollierten Macht der Bolschewiki. Während des Bürgerkriegs (1917–1922/23) wurden unvollständigen Schätzungen zufolge über zwei Millionen Menschen2 unterschiedlichen Repressionsmaßnahmen unterworfen, einschließlich massenweiser Vergeltungsaktionen mit Geiselnahmen. Dies betraf vor allem Vertreter der ehemals herrschenden Klassen und der intellektuellen Elite des Landes. Die Welle der Massenrepressionen erfasste die russische Bauernschaft, die sich gegen die Politik der Bolschewiki auf dem Land zur Wehr setzte. Gegen den Widerstand der Bauern wurden reguläre Truppen eingesetzt. Der Terror richtete sich auch gegen die Kosaken. Die Politik der „Entkosakisierung“ führte zur physischen Vernichtung von Zehntausenden und zur Massenemigration. Auch die Kollektivierung der Landwirtschaft von Ende der 1920er- bis Anfang der 1930er-Jahre ging mit Massenrepressionen einher. Nach den niedrigsten Schätzungen wurden etwa eine Million landwirtschaftliche Güter „entkulakisiert“, davon waren sechs Millionen Bauern und deren Familien betroffen.3 Den politisch motivierten Verfolgungskampagnen war während der Sowjetherrschaft vor allem die Intelligenz ausgesetzt. Hunderttausende von Verfahren richteten sich gegen Vertreter aus Wissenschaft, Kultur, technischer Intelligenz und gegen staatliche Angestellte. Armee und Flotte waren ebenfalls von umfangreichen politischen Verfolgungen betroffen. Matrosen und Soldaten der Kronstädter Garnison wurden im Frühjahr 1921 Opfer brutaler Repressionen. Die „Säuberungen“ der Roten Armee begannen sofort nach Ende des Bürgerkriegs. Ende der 1920er- und Anfang der 1930er-Jahre geriet im Rahmen der eigens organisierten ­Operation „Frühling“ eine große Anzahl sogenannter „Militärspezialisten“4 ins ­Fadenkreuz der

2

3 4

Eine exakte Schätzung ist nicht möglich, weil nur bruchstückhafte statistische Angaben vorliegen und insbesondere Informationen über die Opfer außergerichtlicher ­Hinrichtungen im Roten oder Weißen Terror fehlen. Ungefähre Schätzungen bei Vadim V. Ėrlichman, Poterija narodonaselenija v XX veke. Spravočnik (Die Verluste der Bevölkerung im 20. Jahrhundert. Nachschlagewerk), Moskau 2004. Schätzung der Rehabilitierungskommission beim Präsidenten der Russischen Födera­ tion, 2000. Der Begriff kam in den ersten Jahren der Sowjetmacht in Gebrauch und bezeichnete einen Militärspezialisten aus der alten russischen Armee, der in die Dienste der Roten Armee getreten war.

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Repressalien. In den 1930er-Jahren und später wurden Zehntausende Militärangehörige grundlos der Spionage, Diversion und Schädlingstätigkeit bezichtigt. Diese Maßnahmen schwächten die sowjetischen Streitkräfte empfindlich und brachten die UdSSR im Zweiten Weltkrieg in eine äußerst schwierige Lage, sie waren eine indirekte Ursache für die großen Verluste des Landes. Die politischen Verfolgungen in der Armee dauerten auch während des Kriegs an und wurden nach seinem Ende fortgesetzt. Politisch verfolgt wurden ehemalige sowjetische Wehrpflichtige, die bei der Verteidigung des Vaterlandes in Kriegsgefangenschaft geraten oder eingekesselt (nach Kriegsende wurden 1,8 Millionen Menschen repatriiert) sowie Zivilpersonen, die gewaltsam zur Zwangsarbeit in von Nazideutschland besetzte Gebiete verschleppt worden waren (etwa 3,5 Millionen von ihnen kehrten nach Kriegsende in die UdSSR zurück). Viele dieser Personen wurden nach ihrer Überprüfung in „Filtrationslagern“ grundlos verurteilt. Man legte ihnen Staats-, Kriegs- oder andere Verbrechen zur Last, die sie während des Kriegs begangen haben sollten, und verschickte sie in „Strafbataillone“, verbannte sie aus ihren Wohnorten, deportierte sie in entlegene Verbannungsorte oder Sondersiedlungen oder unterwarf sie anderen rechtlichen Einschränkungen. Elf Völker der ehemaligen UdSSR wurden vollständig deportiert (Deutsche, Polen, Kalmücken, Karatschaier, Balkaren, Inguschen, Tschetschenen, Krimtataren, Koreaner, Griechen und Finnen). Weitere Dutzende Völker wurden teilweise deportiert. Diese Personen wurden während des Zweiten Weltkriegs und in den ersten Nachkriegsjahren auf Beschluss der höchsten Partei- und Staatsführung des Landes von ihren traditionellen Wohnorten verjagt und in entlegene, wenig bevölkerte und unwirtliche Gegenden der UdSSR verschickt. Die Gesamtzahl der aus nationalen Gründen Verfolgten beträgt annähernd drei Millionen.5 Auch Ausländer wurden politisch verfolgt. Das gilt insbesondere für viele Komintern-Mitarbeiter und politische Emigranten – Deutsche, Polen, Österreicher, Mongolen, Ungarn, Tschechen, Slowaken und viele andere. Nicht nur Erwachsene wurden während der Sowjetmacht verfolgt, sondern auch Kinder. Einzig deshalb, weil ihre Eltern Adelige, zaristische Offiziere, „Kulaken“, „Trotzkisten“, „Volksfeinde“ oder Dissidenten waren, wurden sie verschickt oder mit ihren Eltern gemeinsam deportiert. Wenn die Eltern verhaftet waren, brachte man sie in speziellen Kinderheimen unter und unterwarf sie anderen rechtlichen Beschränkungen. Die politischen Repressionen erfassten Vertreter aller Konfessionen. Ein schwerer Schlag wurde gegen die russisch-orthodoxe Kirche geführt. Über 200 000 orthodoxe Geistliche wurden Opfer dieser Politik. Muslime wurden ebenfalls grausam verfolgt. Seit Ende der 1930er-Jahre nahmen die Repressalien gegen Juden zu – den meisten Rabbinern und anderen Angestellten der Synagogen in Belarus, der Ukraine und Russland wurden die Bürgerrechte teilweise 5

Schätzung der Rehabilitierungskommission beim Präsidenten der Russischen Födera­ tion, 2000.

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entzogen.6 Es handelte sich hier um die Verfolgung kirchlicher Angestellter aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen, verurteilt wurden sie jedoch auf Grund gefälschter Anklagen wegen angeblicher krimineller Vergehen (Korruption, Amtsmissbrauch und dergleichen). Von den 1950er- bis in die 1980er-Jahre wurden Angehörige der Dissidentenbewegung und Andersdenkende strafrechtlich verfolgt, verbannt oder zur Zwangsbehandlung in geschlossene psychiatrische Sonderkliniken gesperrt. Ihnen wurden grundlos die Bürgerrechte entzogen, oder sie wurden aus der UdSSR ausgewiesen. Insgesamt zeigen die Informationen über die „politischen Verbrechen“ in der UdSSR, dass die politischen Repressionen unmittelbar von der politischen und ideologischen Konjunktur abhingen. Eine antisowjetische Motivation wurde in der Regel aus politischen Erwägungen und solchen der „revolutionären Zweckmäßigkeit“ unterstellt. Lediglich in Einzelfällen hatte eine Person tatsächlich aus den ihr zur Last gelegten „konterrevolutionären“ oder „antisowjetischen“ Motiven gehandelt. Die Verfolgten hatten zum Teil keinerlei derartige Handlungen begangen, sondern allenfalls eine von der Regierungsmeinung abweichende Auffassung geäußert. Die überwiegende Mehrheit war gar nicht regierungskritisch eingestellt und hatte keinerlei strafbare oder verdächtige Handlungen begangen. Diese Personen wurden sämtlich planmäßig und präventiv verfolgt.

Der Umfang des politischen Terrors7 Die langjährige Diskussion über den Umfang des Terrors basiert häufiger auf intuitiven Vorstellungen über den politischen Terror der Sowjetepoche als auf 6

7

Sie wurden sogenannte Lischenzy. Das war die inoffizielle Bezeichnung eines Bürgers der Unionsrepubliken bzw. der UdSSR, denen von 1918 bis 1936 nach den Bestimmungen der Verfassungen von 1918 und 1925 das Wahlrecht entzogen war. Nach den Ergebnissen der unionsweiten Volkszählung von 1926 lag die Bevölkerungszahl der UdSSR bei 147 027 915. 1040894 Personen im Land war das Stimmrecht entzogen (1,63 % aller Wahlberechtigten). 43,3 % von ihnen waren Händler und Zwischenhändler. Dann folgten mit 15,2  % die Geistlichen und Mönche, mit 13,8  % Personen, die von nicht erarbeitetem Einkommen lebten, mit 9  % ehemalige zaristische Offiziere und andere Ränge. Volljährige (über 18 Jahre) Familienmitglieder von Lischenzy hatten ebenfalls kein Stimmrecht. Sie machten 6,4  % aus. – 1926 hatten bereits 3 038 739 Personen (4,27 % der Wähler) kein Stimmrecht. Zu dieser Zeit ging die Zahl der Händler unter den Lischenzy auf 24,8 % und die der Geistlichen auf 8,3 % zurück, die Zahl der Familienmitglieder der Entrechteten stieg indessen auf 38,5 % an. Vgl. Vsesojuznaja prerepis‘ naselenija 1926 goda (Unionsweite Volkszählung 1926), Moskau 1928/29. Genauere Angaben über das Schicksal der Lischenzy bei S. A. Krasil’nikov: Na izlomach social’noj struktury: Marginaly v poslerevoljucionnom rossijskom obščestve (1917-konec 1930-ch gg.) (Auf den Ruinen der Sozialstruktur. Marginaliserte in der nachrevolutionären russischen Gesellschaft (1917 bis Ende der 1930er Jahre), Novosibirsk 1998. Hier stützt sich die Autorin auf Auszüge aus Berechnungen, die Arsenij Roginskij, Jan Raczyński und Oleg Gorlanov vorgenommen haben. Eine vollständige Veröffentlichung der statistischen Angaben über den sowjetischen Terror plant Memorial für 2015.

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Primärquellen. Hier werden die unterschiedlichsten Zahlen ins Spiel gebracht – von 2 bis 3 Millionen bis zu 40 bis 50 Millionen Opfern. Memorial hat eigene Recherchen zu den Opferzahlen vorgenommen. Den Berechnungen liegen Zahlen zugrunde, die aus offiziellen Berichten der Strafbehörden stammen. Eine Analyse der untersuchten Dokumente zeigt, dass man im Allgemeinen den in diesen Berichten genannten Zahlen vertrauen kann. Wenn man von den Formen der Repressionen und den Arten der Quellen ausgeht, auf die wir uns stützen, fallen die Berechnungen in zwei Teile: die Anzahl der „individuellen“ Repressionen und der Umfang administrativer Repressionen. Bei „individuellen“ Repressionen wurde so gut wie immer (und sei es nur auf dem Papier) das Procedere einer Ermittlung und eines (quasi-)gerichtlichen Verfahrens eingehalten. Für jeden Verhafteten wurde eine eigene Ermittlungsakte angelegt. Die Staatssicherheitsorgane erfassten diese Akten statistisch nach einem einheitlichen (sich allerdings ab und zu ändernden) Muster. Administrative Repressionen ohne individuelle Anklage kamen meist nach formalen Kriterien einer Gruppenzugehörigkeit (sozialer, nationaler, konfessioneller usw.) zur Anwendung. Die übliche Bestrafung waren hier die Konfiskation von Eigentum und die zwangsweise Verschickung „in entlegene Regionen“ des Landes, gewöhnlich in eigens geschaffene „Arbeitssiedlungen“. Die Statistiken befinden sich in ganz verschiedenen staatlichen Behörden. Sie wurden im Zusammenhang mit den jeweiligen Kampagnen geführt und sind erheblich unvollständiger und ungenauer als die Erfassung „individueller“ Repressionen. Personenbezogene Akten von Deportierten wurden nicht an ihrem ständigen Wohnsitz angelegt, sondern erst nach dem Eintreffen am Ort der Strafverbüßung. Für Personen, die auf dem Transport verstorben sind, gibt es überhaupt keine Akte.

1. Individuelle politische Repressionen Als Quelle für die Untersuchung „individueller“ Repressionen dienen die Berichte der WTSCHK-OGPU-NKWD-KGB-Organe. Sie wurden seit 1921 im Archiv des heutigen FSB in recht vollständigem Umfang aufbewahrt. Wir hatten die Möglichkeit, die Berichte für die Jahre 1921 bis 1953 auszuwerten. Um Anga­ben über die Verfolgungen von 1918 bis 1920 und 1954 bis 1958 zu erhalten, legen wir die Zahlen in den Arbeiten von Viktor Luneev zugrunde.8 Die ­Gesamtdaten für den Zeitraum 1959 bis 1986 ergeben sich aus dem Abgleich mehrerer Quellen.

8

Viktor V. Luneev, Političeskaja prestupnost (Politische Kriminalität). In: Gosudarstvo i pravo (Staat und Recht), 7 (1994), S. 107–127.

9

58 762 69 239

65 751 200 271 119 329 104 520 92 849

72 654 62 817 76 983

111 879

207 212

378 539

479 065

410 433

505 256

1918 1919

1920 1921 1922 1923 1924

1925 1926 1927

1928

1929

1930

1931

1932

1933

1949

1947

1946

1943–19469

1945

1944

1941 1942 1943

1936 1937 1938 1939 1940

1934 1935

Jahr

74 273

76 803

91 008

594 185

112 348

103 532

133 740 191 045 141 253

131 268 936 750 638 509 44 731 132 958

205 173 193 083

Verhaftungen

Insgesamt

1957 1958 1959–1987

1952 1953 1954 1955 1956

1950 1951

Jahr

In die Tabelle wurden Angaben aus den Berichten der Organe der militärischen Spionageabwehr SMERSCH („Tod den Spionen“) von 1943 bis 1946 aufgenommen.

Verhaftungen

Jahr

Tabelle 1: ­„Individuelle“ Verhaftungen durch Organe der WTSCHK-OGPU-NKWD-MGB-KGB

6 975 197

3 318 2 325 12 000

17 747 12 448 1 495 1 369 1 026

59 630 47 621

Verhaftungen

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Diese Zahlen sind zweifellos unvollständig. Wir sind sicher, dass die Opferzahlen für 1918 bis 1920 höher liegen als hier angegeben. Das Gleiche gilt für die Zeit von 1937 bis 1938 und 1941. Allerdings können wir keine genaueren dokumentarisch belegten Zahlen vorweisen. Insgesamt ist daraus ersichtlich, dass die Staatssicherheitsorgane in der gesamten Periode ihrer Tätigkeit etwa sieben Millionen Menschen verhaftet haben. Dabei können wir anhand der statistischen Angaben bestimmen, wie viele Personen in jedem Jahr und aufgrund welcher Beschuldigung inhaftiert wurden. Wenn man die Zahlen der Verhafteten unter diesem Gesichtspunkt untersucht, zeigt sich, dass die Sicherheitsorgane Menschen nicht nur aufgrund politischer Anschuldigungen verhafteten, sondern auch wegen Schmuggel, Spekulation, Diebstahl sozialistischen Eigentums, Amtsvergehen, Mord, Falschmünzerei usw. Um authentisch zu klären, ob in einem Einzelfall ein politisches Motiv vorlag, muss man die konkreten Akten studieren. In der Praxis ist das unmöglich. Wir haben es gezwungenermaßen nicht mit konkreten Akten zu tun, sondern mit Zahlen in Statistiken. Aus einer genaueren Untersuchung der Statistiken geht hervor, dass insgesamt mindestens 23 bis 25 Prozent der angeführten Fälle „unpolitische“ Verfahren waren. Somit ist nicht von 7 Millionen Opfern des sowjetischen politischen Terrors auszugehen, sondern von etwa 5,1 bis 5,3 Millionen. Allerdings ist auch diese Zahl ungenau. In Statistiken findet man nicht namentlich aufgeführte Personen, sondern „statistische Einheiten“. Ein und dieselbe Person kann mehrfach inhaftiert worden sein. So wurden in den ersten zwei Jahrzehnten der Sowjetmacht Mitglieder der vorrevolutionären politischen Parteien vier- bis fünfmal verhaftet. Das Gleiche gilt für Geistliche. Zahlreiche Bauern, die erstmals in der Zeit von 1930 bis 1933 inhaftiert wurden, kamen 1937 erneut in Haft. Etliche von denen, die nach zehnjähriger Strafverbüßung 1947 entlassen wurden, wurden bald darauf wiederum verhaftet usw. Genaue Zahlen können statistische Berichte daher nicht liefern. Vermutlich betrifft dies mindestens 300 000 bis 400 000 Personen. Damit liegt die Gesamtzahl der Personen, gegen die aus politischen Gründen individuelle Anklage erhoben wurde, offensichtlich bei 4,7 bis 5 Millionen Menschen. Nach unseren Berechnungen wurden von ihnen 1 bis 1,1 Millionen Menschen aufgrund von Gerichtsurteilen oder Urteilen außergerichtlicher Instanzen erschossen, die übrigen in Lager oder Kolonien verbracht und ein geringer Teil verbannt. Betrachten wir im Vorgriff diese Zahl vom Standpunkt der Rehabilitierungen, die in den 1950er-Jahren bis in die 2000er-Jahre ausgesprochen wurden. Natürlich wurden nicht alle dieser politisch Verfolgten rehabilitiert. Zunächst waren unter ihnen auch tatsächliche Verbrecher, etwa Naziverbrecher oder Mitglieder von NS-Strafkommandos. Jedoch steht außer Frage, dass die überwiegende Mehrheit dieser etwa fünf Millionen Menschen unschuldige Opfer des Regimes waren und dass jedes Verfahren gegen diese Personen von der Staatsanwaltschaft oder von Gerichten auf eine Rehabilitierung zu überprüfen und in jedem Fall die Entscheidung hinsichtlich einer Rehabilitierung ausführlich zu begründen ist.

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2. „Administrative“ politische Verfolgungen Administrative Repressionen wurden von ganz unterschiedlichen Organen beschlossen – von Parteiorganen, Organen der (örtlichen oder nationalen) Sowjets oder Staatsorganen. Aufgrund der Dokumente lassen sich die wesentlichen Repressionskampagnen (Wellen) mit einer annähernden, mehr oder weniger genauen Opferzahl für jede von ihnen angeben. Im Unterschied zu individuellen Verfolgungen sind alle Opfer dieser Repressionen (Deportationen) als politische Opfer zu betrachten: In fast allen staatlichen Beschlüssen zu jeder konkreten Kampagne wird ausdrücklich ein politisches Motiv genannt. Die größten Massendeportationen waren Verschickungen von Bauern während der „Kollektivierung“ (1930–1933), Deportationen „sozial gefährlicher“ Polen sowie von Bürgern Estlands, Lettlands, Litauens und Moldawiens nach der gewaltsamen Annexion Ostpolens, des Baltikums und Bessarabiens (1940/41), präventive Deportationen sowjetischer Deutscher und Finnen (1941/42) nach Beginn des sowjetisch-deutschen Kriegs, vollständige Deportationen (1943/44) „bestrafter Völker“ des Nordkaukasus und der Krim (Karatschaier, Kalmücken, Tschetschenen, Inguschen, Krimtataren und andere). Bei der Bestimmung der Deportiertenzahlen stützt sich Memorial auf zeitgenössische Forschungen, an denen die Organisation teilweise mitgewirkt hat.10 In der angeführten Tabelle 2 fehlen Angaben für eine ganze Reihe von Opfern administrativer Repressionen, weil hier keine genauen Zahlen vorliegen. Das gilt für Personen, die im Zuge der Kollektivierung „entkulakisiert“, aber nicht verbannt wurden (d. h. deren Häuser und Eigentum beschlagnahmt und die innerhalb ihrer Regionen umgesiedelt wurden), für ehemalige sowjetische Kriegsgefangene, die nach der „Filtration“ nach dem Krieg zwangsweise in „Arbeitsbataillone“ verbracht wurden, sowie für etliche andere, zahlenmäßig weniger bedeutende Ströme (Kosaken, die 1921 als „Kulaken“ aus den Gebieten Semiretschensk, Syr-Darja, Fergana und Samarkand aus der Region Turkestan vor allem in den europäischen Teil Russlands verbannt wurden, Deutsche, finnische Ingermanländer und andere „sozial gefährliche“ Elemente, die 1942 aus den Grenzregionen des Gebiets Leningrad sowie Krimtataren und Griechen, die 1948 aus den Regionen Krasnodar und Stawropol deportiert wurden und viele andere). Nicht mit gerechnet sind hier auch die Kinder, die in der Verbannung geboren wurden und mit ihren Eltern in der Sondersiedlung verblieben. Insgesamt wurden verschiedenen Schätzungen zufolge mindestens sechs (wahrscheinlich 6,3 bis 6,7) Millionen Menschen Opfer von Deportationen. Somit wurden in der UdSSR etwa 11 bis 11,5 Millionen Menschen politisch verfolgt. Für diesen Personenkreis müsste die Frage ihrer Rehabilitierung gelöst werden. 10 Pavel Poljan, Ne po svoej vole (Nicht aus freiem Willen), Moskau 2001; Nikolaj L. Pobol/Pavel M. Poljan (Hg.), Stalinskie deportacii (Stalins Deportationen): 1928-1953, Moskau 2005.

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Tabelle 2: Anzahl der Personen, die von administrativen Repressionen (meist Deportationen) betroffen waren Deportationskampagne

Jahr

Anzahl

Deportation von Kosaken aus dem Terekgebiet (Priteretsche)

1920

45 000

Säuberung der Westgrenzen: Finnen und Polen Verbannung von „Kulaken“

1930

18 000

1930

752 000

Verbannung von „Kulaken“

1931

1 275 000

Verbannung von „Kulaken“

1932

45 000

Verbannung von „Kulaken“

1933

268 000

Verbannung von „Kulaken“

1935

23 000

Verbannung von „Kulaken“ Säuberung der Westgrenzen (Polen und Deutsche)

1936

5 300

Säuberung der Südgrenzen: Kurden Säuberung der Ostgrenzen: vollständige Deportation der Koreaner und anderer Säuberung der Südgrenzen: Juden und Iraner Sowjetisierung und Säuberung der neuen Westgrenzen: ehemalige polnische und andere ausländische Bürger Sowjetisierung und Säuberung der nordwestlichen und südwestlichen Grenzen: Westukraine, westliches Belarus Sowjetisierung und Säuberung der nordwestlichen und südwestlichen Grenzen: Baltikum Sowjetisierung und Säuberung der nordwestlichen und südwestlichen Grenzen: Moldawien Präventive Deportationen von sowjetischen Deutschen und Finnen Präventive Deportationen von sowjetischen Deutschen und Finnen

1935/36

128 000

1937

4 000

1937

181 000

1938

6 000

1940

276 000

1941

51 000

1941

45 000

1941

30 000

1941

927 000

1942

9 000

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Deportation von Griechen, Rumänen und anderen von der Krim und aus dem Nordkaukasus Deportation der Karatschaier Deportation der Kalmücken

1942 August 1943— Frühjahr 1944 Dezember 1943–Juni 1944

5 000 75 000 97 000

Deportation der Tschetschenen und Inguschen

1944

484 000

Deportion der Balkarier

1944

42 000

1944–1947

115 000

1944

182 000

1944

42 000

1944

1 000

1944

93 000

1945

10 000

1944–1947

277 000

1948

49 000

Deportation von „Schmarotzern und Faulenzern“

1948

53 000

Deportation von Angehörigen des Widerstands und ihren Familien­ mitgliedern („Banditen und Helfershelfern unter den Kulaken“) aus Lettland

1949

42 000

Deportation der OUN-Mitglieder und ihrer Familienmitglieder Deportation der Krimtatarenvon der Krim nach Usbekistan Deportation verschiedener Völkervon der Krim nach Usbekistan (Griechen, Bulgaren, Armenier und andere) „Bestrafte Konfessionen“: Deportationen der „wahrhaft orthodoxen Christen“ Vollständige Deportationen der Turk-Mescheten sowie der Kurden, Chemschinen, Lasen und anderer aus Südgeorgien (November 1944) Deportation von Angehörigen „bestrafter Völker“ Deportation von internierten Mobilisierten aus Ostdeutschland, Rumänien, Ungarn, Jugoslawien, Bulgarien und der Tschechoslowakei Deportation von „Kulaken“ aus Litauen in die Region Krasnojarsk, das Gebiet Irkutsk und in die burjatische Mongolei

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Deportation von Angehörigen des Widerstands und ihren Familienmitgliedern („Banditen und ihren Helfershelfern unter den Kulaken“) aus Estland

1949

20 000

Deportation von Angehörigen des Widerstands und ihren Familienmitgliedern („Banditen und ihren Helfershelfern unter den Kulaken“) aus Litauen

1949

32 000

Deportation griechischer und ehemals griechischer Staatsangehöriger von der russischen Schwarzmeerküste und der Ukraine sowie aus Georgien und Aserbaidschan

1949

58 000

Deportation von „Banditen und ihren Helfershelfern unter den Kulaken“ aus Moldawien

1949

36 000

Deportation von Kulaken und von Personen, die des Banditentums bezichtigt wurden, und ihrer Angehörigen aus den Bezirken Pytalowsk, Petschora und Katschanow im Gebiet Pskow in die Region Chabarowsk

1950

1 400

Deportation ehemaliger Basmatschen aus Tadschikistan

1950

3 000

Deportation von Anhängern des polnischen Generals Anders und ihren Familienmitgliedern aus Litauen

1951

4 500

Deportation von Zeugen Jehovas aus Moldawien (Operation „Sever“)

1951

3 000

Deportation von „Kulaken“ aus dem Baltikum, Moldawien, der Westukraine und dem westlichen Belarus

1951

35 000

Deportation von „Kulaken“ aus dem westlichen Belarus

1952

6 000

Insgesamt

5 854 200

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Die juristische Rehabilitierung der Opfer Die Rehabilitierung der politischen Verfolgungsopfer setzte nach Stalins Tod im März 1953 ein und wurde de facto bis heute nicht abgeschlossen. Wir unterscheiden drei Etappen der Rehabilitierung. Die erste Etappe der Rehabilitierung: 1953 bis 1962 und 1962 bis 1983 Der Begriff „Rehabilitierung“ ging in den 1950er-Jahren in den allgemeinen Sprachgebrauch ein, als fast unmittelbar nach Stalins Tod (am 5. März 1953) erstmals zunächst selektive, danach immer umfangreichere Entlassungen politischer Häftlinge aus Gefängnissen, Lagern und Verbannungsorten vorgenommen wurden. Bald setzte auch ihre juristische Rehabilitierung ein, d. h. der Prozess der Revision ihrer Verfahren, die mit der Ausstellung einer „Rehabilitierungsbescheinigung“ endete. Dieses offizielle Dokument bestätigte die Unschuld der verfolgten Person. Die Rehabilitierung hing immer von den politischen Vorgaben der Parteiführung ab und stand unter ständiger Kontrolle des Politbüros. Ursprünglich war lediglich ein enger Kreis von Verwandten und nahen Bekannten von Mitgliedern des Politbüros betroffen. Die erste Person, die aus der Verbannung zurückkehrte, war Polina Schemtschuschina, die Frau des engsten Weggefährten Stalins Wjatscheslaw Molotow. Sie wurde unmittelbar nach Stalins Tod entlassen, im Mai 1953 rehabilitiert und noch vor der formalen juristischen Rehabilitierung auf Beschluss des ZK-Präsidiums der KPdSU am 21. März 1953 wieder in die Partei aufgenommen. Als einer der Ersten wurde am 7. Mai 1953 ebenfalls auf Beschluss des Präsidiums des ZK Michail Kaganowitsch, der Bruder eines anderen Weggefährten Stalins, Lew Kaganowitsch, rehabilitiert. Im selben Jahr folgten noch eine ganze Reihe weiterer Rehabilitierungen von Partei- und Staatsfunktionären. Umfassende Rehabilitierungen setzten 1954 ein. Im Mai 1954 wurde eine Sonderkommission (auf zentraler und regionaler Ebene) ins Leben gerufen, um die Verfahren gegen aktuell in Haft befindliche Personen zu untersuchen. Diese Kommission erhielt das Recht, Verurteilte vollständig zu rehabilitieren, zu begnadigen, Anklagen abzuändern usw. In knapp zwei Jahren untersuchten diese Kommissionen die Verfahren von über 337 000 Personen. Chruschtschows Rede auf dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 zu Stalins „Personenkult“ gab dem Rehabilitierungsprozess einen enormen Auftrieb. Im März 1956 wurden neue Kommissionen gebildet, diesmal unter der Ägide des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR. Im Laufe eines halben Jahres behandelten sie die Verfahren von fast 177 000 Personen, von denen sich 81 000 noch in Lagern befanden. Besonders viele Rehabilitierungen wurden in den Jahren 1956 bis 1960 ausgesprochen.

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Parallel zu dieser Arbeit der Kommissionen befassten sich auch Staatsanwaltschaft und Gerichte mit Rehabilitierungen. Die Staatsanwälte überprüften jedes Verfahren, das sie zur Revision angenommen hatten und forderten Auskünfte aus parallelen Verfahren und Archiven an (insbesondere aus dem Parteiarchiv, wenn es um Parteimitglieder ging). In vielen Fällen wurden Zeugen geladen (auch jene, die seinerzeit gegen die Verfolgten ausgesagt hatten, mitunter auch ehemalige Untersuchungsrichter). Darauf erstellten sie ein Gutachten, auf dessen Grundlage die Leiter der staatsanwaltlichen Organe das Verfahren bei einem Gerichtsorgan anfochten, das dann das Urteil annullierte (üblicherweise aufgrund des Fehlens eines Straftatbestands) und die Rehabilitierung verfügte. Für ehemalige Kommunisten war die „Rehabilitierung durch die Partei“, d. h. ihre Wiederaufnahme in die Partei, von besonderer Bedeutung. Für diese Rehabilitierung war das Parteikontrollkomitee beim ZK der KPdSU zuständig. Sie erfolgte auf Antrag ehemaliger Kommunisten, die juristisch bereits rehabilitiert waren. Von 1956 bis 1961 wurden etwa 31 000 Personen durch die Partei rehabilitiert. Gegen Ende 1961 gingen die Rehabilitierungen zurück. Die politischen Aufgaben der Rehabilitierungen, wie sie sich Chruschtschow gestellt hatte, waren weitgehend erfüllt: Man hatte dem Land und der Welt einen neuen Kurs der Regierung demonstriert, der (nach Chruschtschows Auffassung) entschieden mit der Repressionspolitik Stalins gebrochen hatte. Symbolischer Abschluss dieser Etappe war der Beschluss des KPdSU-Parteitags vom 30. Oktober 1961, Stalins Leichnam aus dem Mausoleum an die Kremlmauer umzubetten. Kennzeichnend für diese erste Etappe der Rehabilitierungen waren ihre Halbherzigkeit, ihr willkürlicher Charakter und ihre Orientierung an politischen Interessen der poststalinschen Führung. Das konnte auch gar nicht anders sein. Die Entlassung unschuldig Verurteilter aus den Lagern und die Wiederherstellung ihres Ansehens, auch der Umgekommenen, sollte nach Chruschtschows Absicht die Autorität der KPdSU bei der Bevölkerung stärken. Für den Terror seit den 1930er-Jahren wurde Stalin verantwortlich gemacht; er habe seinen eigenen „Personenkult“ geschaffen, die innerparteiliche Demokratie (die sogenannten Leninschen Normen des Parteilebens) vernichtet und das Land allein regiert, außerdem habe er allein die Sicherheitsorgane kontrolliert, die „der Parteikontrolle entglitten“ seien. Die Epoche der Repressionen erfasste in Chruschtschows Version relativ kleine Zeitabschnitte – die zweite Hälfte der 1930er-Jahre und in geringerem Maße einige der Nachkriegsjahre. Diese Kon­ struktion ermöglichte es, die Partei im Ganzen vor Kritik zu bewahren. Darüber hinaus wurde die Partei ausdrücklich zum Hauptopfer des Terrors erklärt, wenngleich das keineswegs der Fall war. Außerdem konnte Chruschtschow mit dem Kampf gegen den „Personenkult“ seine Position im Politbüro stärken. Er machte sich Molotows und Kaganowitschs aktive Mitwirkung am Terror zunutze, um sie von der Macht zu entfernen. Das war auch ein wichtiger Grund, um den Status der Staatssicherheitsorgane herabzusetzen (seit 1954 kein selbstständiges Ministerium mehr,

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sondern ein Komitee beim Ministerrat) und sie stärker durch die Partei zu kontrollieren. Aber dieselbe Konstruktion war auch für die Unzulänglichkeit des Rehabilitierungsprozesses verantwortlich. Die Rehabilitierung (Wiederherstellung des Ansehens, Restitution aller Rechte) betraf nur Verurteilte nach individuellen Anklagen, aber bei Weitem nicht alle. Die Rehabilitierung beschränkte sich zeitlich auf die Periode von den 1930er-Jahren (de facto ab Mitte des Jahrzehnts) bis zu Beginn der 1950er-Jahre, da das erklärte Ziel der Rehabilitierung die „Rückkehr zu den Leninschen Normen“ war und man bewusst davon ausging, dass es vor der Etablierung des Personenkults keine politischen Prozesse gegeben habe. Aus demselben Grund war die Rehabilitierung im Hinblick auf die Kategorien begrenzt – wesentliche Opferkategorien waren ausgeschlossen, sie galten nach wie vor als „Feinde“: Nicht nur die Mitglieder bürgerlicher Parteien, sondern auch Sozialisten (Sozialdemokraten, Sozialrevolutionäre), ein Großteil innerparteilicher Oppositioneller, in erheblichem Maße Geistliche, Bauern, die sich der Kollektivierung widersetzt hatten, und viele andere. In diesen Zeitraum wurden Rehabilitierungen ausschließlich auf Antrag vonseiten der Opfer oder ihrer Angehörigen ausgestellt. Wenn es sich nicht um ein Einzelverfahren, sondern einen Gruppenprozess handelte, wurden übrigens häufig auf Antrag eines Opfers oder seiner Angehörigen alle Opfer desselben Prozesses in einem Verfahren rehabilitiert. Für Deportierte, die ihre Strafe in Sondersiedlungen verbüßten (1953 waren dies über 2,5 Millionen Menschen), führte die Rehabilitierung zu ihrer Befreiung – manchmal mit dem Recht auf Rückkehr an ihre früheren Wohnorte, manchmal ohne dieses Recht. In den Erlassen, die ihre Freilassung verfügten, fand sich nicht immer ein Hinweis auf staatliches Verschulden. Bei verfolgten Völkern wurden die Repressionen etwa mit den kriegsbedingten Umständen begründet. De facto wurden sie nicht rehabilitiert, sondern begnadigt. Während individuell Verurteilte für beschlagnahmtes Eigentum wenigstens partiell entschädigt wurden, wurde für Deportierte, die ihre Häuser und sämtliches Eigentum verloren hatten, diese Frage gar nicht erst gestellt. Hier ein klares Beispiel für die Unzulänglichkeit und Halbherzigkeit des Rehabilitierungsprozesses: Seit 1939, nach zwei Jahren massenhaft verhängter Todesurteile, wurde den Verwandten von Personen, die auf Beschluss außergerichtlicher (mitunter auch gerichtlicher) Organe erschossen worden waren, mitgeteilt, ihre Angehörigen seien zu zehn Jahren Lagerhaft ohne Korrespondenzerlaubnis verurteilt worden. Nach zehn Jahren, als diese Personen Ende der 1940er-Jahre nicht aus den Lagern zurückkehrten, gingen erneute Anfragen ein. Damals wurde entschieden, in diesen Fällen die Auskunft zu erteilen, sie seien in den Lagern an Krankheiten verstorben. Dabei wurde den Anfragenden (mündlich) ein falsches Todesdatum mitgeteilt. Knapp zehn Jahre später, Mitte der 1950er-Jahre, zu Beginn der Rehabilitierungen, kam es zu einer neuen Welle von Anfragen. 1955 gab es dazu eine spezielle Anweisung des KGB (natürlich

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in Absprache mit dem ZK der KPdSU), den Angehörigen eine offizielle Bescheinigung über den Tod des Gefangenen im Lager mit falscher Datumsangabe und falscher Todesursache auszustellen, nämlich derjenigen, die bereits vorher mündlich mitgeteilt worden war. Von 1955 bis 1962 wurden 253 598 solcher falschen Bescheinigungen ausgestellt. Erst 1963 wurde es erlaubt, Bescheinigungen mit zutreffenden Daten zu erteilen, allerdings ohne in der entsprechenden Spalte als Todesursache „Erschießung“ anzugeben. Hier stand einfach ein Strich. Erst 1989 wurden die authentischen Todesdaten und -ursachen genannt. Grund für die Entscheidung von 1955 war die Auffassung des KGB, dass eine Mitteilung über die Erschießung „zum Nachteil des sowjetischen Staates verwendet werden kann“. Dies ist charakteristisch für den ganzen Prozess der chruschtschowschen Rehabilitierungen: Man hatte beschlossen, die Wahrheit zu sagen, gab sie aber nur in kleinen Dosen und gepaart mit einer Lüge bekannt. Vor vielen Aspekten der Repressionen verschloss man die Augen ganz. Die Angst, die Grundlagen der Macht zu gefährden, die Befürchtung, in der Bevölkerung könnten in Folge der Rehabilitierungen Zweifel an der Unfehlbarkeit von Partei und Sowjetstaat entstehen, bestimmte den gesamten Charakter und die Ausrichtung der Rehabilitierungen. Dies war der Grund für die gezielte Begrenzung der Rehabilitierungen, sowohl zeitlich als auch kategorial. Daher auch die Weigerung, die bekanntesten öffentlichen Prozesse zu revidieren, die die Grundlage für die jahrzehntelange Erziehung zum Hass gegen die Feinde der Sowjetunion abgaben – vom Prozess gegen die Sozialrevolutionäre 1922, dem Schachty-Prozess 1928 bis zu den großen Moskauer Prozessen von 1936 bis 1938 gegen Sinowjew, Kamenew, Bucharin u. a. Diese Musterverfahren gegen „Feinde“ waren nicht nur ins Bewusstsein, sondern auch ins Unterbewusstsein der Bevölkerung eingedrungen, sie zu revidieren schien zu riskant. Die Frage einer Revision der Kollektivierung oder des Roten Terrors wurde gar nicht erst aufgeworfen. Die stalinsche historische Konzeption der Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft, festgelegt in seinem „Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU (B)“, blieb unberührt. Es gab nicht nur innenpolitische Argumente dafür, im Zuge der Rehabilitierungen „nichts zu riskieren“. Bezeichnend war Chruschtschows Reaktion nach dem 22. Parteitag auf den Vorschlag, die gesammelten Unterlagen über Kirows Ermordung zu veröffentlichen: „Wenn wir alles veröffentlichen, untergraben wir in der weltweiten kommunistischen Bewegung das Vertrauen zu uns und zur Partei. Deshalb werden wir dies einstweilen nicht publizieren und nach 15 Jahren darauf zurückkommen.“ So die Erinnerungen von Olga Schatunowskaja, einer Kommunistin, die unter Stalin inhaftiert war, unter Chruschtschow freigelassen wurde und in einer der Rehabilitierungskommissionen mitgearbeitet hat.11

11 Grigorij Pomeranc, Sledstvie vedet katoržanka (Eine Katorga-Gefangene führt die Untersuchung), Moskau 2004, S. 151.

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Das wesentliche Ergebnis der Rehabilitierungen der Chruschtschow-Zeit war die Haftentlassung von Gefangenen und ein Impuls für das öffentliche Bewusstsein mit etlichen Folgen. Man kann indes kaum davon ausgehen, dass die Rehabilitierungen dem Regime eine neue Legitimität verschafft hätten, worauf Chruschtschow gehofft hatte. Ihre Halbherzigkeit lag zu offen zutage. 1964 wurde Chruschtschow gestürzt. In den folgenden 20 Jahren hatten die Rehabilitierungen nicht mehr den Elan und das Ausmaß wie unter Chruschtschow. Sie hörten zwar nicht völlig auf, sondern gingen „auf Antrag“ weiter, waren jedoch politisch nicht mehr von Bedeutung. Allmählich und vorsichtig änderte sich auch die Bewertung Stalins. Chruschtschow hatte zu ihm noch eine zwiespältige Haltung (einerseits war Stalin für ihn ein Revolutionär und Staatsführer, wenn auch mit Fehlern, andererseits war er derjenige, der die Repressio­ nen zu verantworten hatte). Unter Breschnew hörte man allmählich auf, von Stalins „Fehlern“ und den politischen Verfolgungen zu sprechen, und erwähnte ihn immer häufiger als Oberkommandierenden im Krieg und als denjenigen, dem das Verdienst für den „Großen Sieg“ zukam. Das Thema der Verfolgungen trat in den Hintergrund und wurde aus der offiziellen Sprache verbannt. Es blieb Gegenstand einer heftigen gesellschaftlichen Kontroverse (zum Teil legal, zum Teil unter Umgehung der Zensur) zwischen „Stalinisten“ und „Antistalinisten“, es war eines der wesentlichen Samisdat-Themen und der wichtigste Beweggrund für die Entstehung der Menschenrechtsbewegung in der UdSSR. Hinsichtlich eines quantitativen Ergebnisses der Rehabilitierungen dieser Periode verfügen wir über einige wenig zusammenhängende Zahlen. Am 3. Juni 1988 teilte KGB-Chef Tschebrikow in einem Schreiben an das ZK der KPdSU mit, dass „bis 1962 1 197 847 Personen rehabilitiert wurden. 1962–1983 waren es 157 055 Personen“.12 In ihrem Schreiben an das ZK vom 25. Dezember 1988 stützten sich Alexander Jakowlew und andere offenbar auf Angaben, die sie ebenfalls vom KGB erhalten hatten. Sie schreiben, dass „zum gegenwärtigen Zeitpunkt 1 354 902 Personen rehabilitiert wurden, darunter 1 182 825 Personen, die außergerichtlich verurteilt worden waren“.13 Demnach wurden im zweiten Halbjahr 1988 über 150 000 Personen rehabilitiert. Allerdings wurden nach anderen Quellen in diesem Zeitraum höchstens 20 000 Personen rehabilitiert.14 Aber die größten Zweifel rufen nicht die Zahlen von 1988

12 Reabilitacija: kak ėto bylo. Dokumenty Politbjuro CK KPSS, stenogrammy zasedanija Komissii Politbjuro CK KPSS po dopolnitel’nomu izučeniju materialov, svjazannych s repressijami, imevšimi mesto v period 30-40-ch i načala 50-ch gg. i drugie materialy (Rehabilitierung: Wie es war. Dokumente des Politbüros des ZK der KPdSU. Stenogramme der Sitzung der Kommission des Politbüros des ZK der KPdSU über eine zusätzliche Untersuchung der Unterlagen zu den Repressionen von den 1930- bis 1940er- bis Anfang der 1950er-Jahre und andere Unterlagen), Band 3, Moskau 2004, S. 77. 13 Ebd., S. 142. 14 Ebd., S. 197 f.

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hervor, sondern die früheren. Vielen Angaben zufolge liegt die Zahl der unter Chruschtschow Rehabilitierten nicht über 800 000. Leider verfügen wir über keine absolut zuverlässigen Dokumente dazu und müssen uns auf die Zahlenangaben von Tschebrikow und Jakowlew stützen, obwohl wir sie für überhöht halten. Aber selbst wenn unter Chruschtschow nur etwa 800 000 Personen rehabilitiert wurden, handelt es sich doch um eine recht erhebliche Zahl.

Die zweite Etappe der Rehabilitierungen: 1988 bis 1991 Die Epoche der Glasnost erzeugte in der Öffentlichkeit ziemlich schnell verbreitete Diskussionen zum Thema des Stalinismus und der Repressionen. Die Zeitungen waren von 1987 bis 1989 überfüllt mit publizistischen Artikeln und Erinnerungen an den Terror. 1987 bildete sich eine informelle Gruppe junger Aktivisten, die sich die Bezeichnung „Memorial“ gab und Unterschriften unter ein Schreiben an Gorbatschow sammelte, das zur Schaffung eines Gedenkkomplexes für die Opfer der Repressionen aufrief. In Kürze schlossen sich ähnliche Gruppen in vielen Regionen zusammen, es entstand eine unionsweite Bewegung und schließlich Ende 1988/Anfang 1989 die gesellschaftliche Organisation „Memorial“. An ihrer Gründung nahmen ehemalige politische Gefangene der Stalin-Zeit sowie Bürgerrechtler der Breschnew-Zeit teil, die teilweise ebenfalls im Lager gesessen hatten. Wenig später entstanden verschiedene Assoziationen, Vereine und Verbände ehemaliger Opfer. Appelle, die Rehabilitierungen wieder aufzunehmen, den noch Lebenden Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und das Gedenken an die Ermordeten wachzuhalten, wurden von der Regierung aufgegriffen, und sie unternahm energische Schritte, immer bemüht, die Initiative in der Hand zu behalten. Am 28. September 1987 richtete das Politbüro eine Sonderkommission „Zur ergänzenden Erforschung von Unterlagen über die Repressionen der 1930er-, 1940er- und Anfang der 1950er-Jahre“. Die Kommission bestätigte die generellen und die auf Parteiebene vorgenommenen Rehabilitierungen in etlichen Fällen, und sie bereitete den Politbüro-Beschluss vor: „über zusätzliche Maßnahmen, um die Rehabilitierungen der grundlos in den 1930er-, 1940er- und zu Beginn der 1950er-Jahre verfolgten Personen abzuschließen“. Der Beschluss wurde am 11. Juli 1988 angenommen. Er schrieb vor, dass Rehabilitierungen unabhängig davon vorzunehmen seien, ob ein Antrag oder eine Klage von Personen vorlägen, und darin lag zweifellos seine Stärke und Neuerung. Andererseits war offenkundig, dass das Politbüro bei der Absteckung des Zeitrahmens immer noch auf Chruschtschows Linie blieb – von Mitte der 1930er-Jahre bis zu Stalins Tod. Deshalb wurde ständig Kritik an der Regierung laut. Memorial erinnerte daran, dass es bereits vor Kirows Ermordung (im Dezember 1934) Repressionen gegeben hatte und dass sie mit Stalins Tod nicht endeten. Im Herbst 1988 übernahm Alexander Jakowlew, ein enger Weggefährte Gorbatschows, die Leitung der Kommission, und ihre Arbeit wurde noch intensiver. Sie untersuch-

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te die meisten der größten Verfahren der 1930er- bis 1950er-Jahre und machte die Ergebnisse öffentlich. Am 16. Januar 1989 verabschiedete der Oberste Sowjet der UdSSR einen Erlass, den die Kommission vorbereitet und das Politbüro bestätigt hatte. Diesem Erlass zufolge sollten alle Beschlüsse außergerichtlicher Organe (d. h. der Trojkas, Sonderausschüsse u. a.) annulliert werden und alle von diesen Organen Verurteilten als rehabilitiert gelten. Übrigens gab es hier auch Ausnahmen: Nicht einbezogen waren Vaterlandsverräter, Angehörige von NS-Strafkommandos während des Großen Vaterländischen Kriegs, „Mitglieder nationalistischer Banden und ihre Helfershelfer“, Fälscher von Ermittlungsakten u. a. Der Erlass lenkte die Aufmerksamkeit auch auf die soziale Unterstützung der Repressionsopfer und – zum ersten Mal! – auch auf die Bewahrung des Andenkens an sie. Er schrieb den örtlichen Sowjets vor, „in Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Organisationen bei der Errichtung von Denkmälern für die Opfer sowie bei der Erhaltung und Pflege ihrer Grabstätten Hilfe zu leisten“. Der Erlass gab dem Rehabilitierungsprozess einen enormen Auftrieb. In weniger als einem Jahr, bis Anfang 1990, wurden 838 630 Personen rehabilitiert und 21 333 Personen die Rehabilitierung verweigert.15 Die führende Rolle bei den Rehabilitierungen kam den Staatsanwälten zu, die nach Überprüfung der Akte (im Wesentlichen unter Mitwirkung von KGB- oder MWD-Mitarbeitern) selbst die Entscheidung über die Rehabilitierung fällten. Durch die Gerichtsorgane wurden auf Antrag der Staatsanwälte weniger als 30 000 Personen rehabilitiert. Nach diesem Erlass konnten die lokalen Behörden die Bemühungen und Vorschläge aus der Öffentlichkeit hinsichtlich der Bewahrung des Andenkens an die Opfer nicht mehr ignorieren. 1989/90 wurden mithilfe des KGB oder der Öffentlichkeit viele Massengräber von Erschossenen entdeckt (die Information darüber war während der gesamten Sowjetherrschaft sorgsam geheim gehalten worden). In vielen Städten oder an Grabstätten in nahegelegenen Vororten wurden Gedenkzeichen (Gedenktafeln oder Kreuze) aufgestellt, damals als Provisorien gedacht, die aber dann so erhalten blieben. Der Erlass, der viele Hoffnungen geweckt und in vielem auch gerechtfertigt hatte, stieß neben öffentlicher Unterstützung auch auf viel Kritik. Ehemalige Opfer waren unzufrieden damit, dass der Erlass im Hinblick auf ihre soziale Unterstützung nicht (oder unzureichend) befolgt wurde. Sie erwarteten von der Regierung eine Erhöhung ihrer Rente, die Rückgabe ihres in Folge der Repressionen verlorenen Wohnraums usw. Die russische Öffentlichkeit kritisierte vor allem die zeitliche Begrenzung der nach diesem Erlass vorgesehenen Rehabilitierungen. In der Ukraine und im Baltikum wurde von vielen bemängelt, dass die Protagonisten des nationalen Widerstands von der Rehabilitierung ausgeschlossen waren, die getreu der sowjetischen Tradition im Erlass als „Mitglieder nationalistischer Banden“ bezeichnet wurden. Indessen ist heute verständlich,

15 Ebd., S. 345.

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nachdem viele interne Parteidokumente bekannt geworden sind, dass Gorbat­ schow unter den damaligen politischen Umständen kaum mehr hätte tun können. Gorbatschows nächster Schritt war sein Erlass (formal der Erlass des Präsidenten der UdSSR) vom 13. August 1990 „Über die Restitution der Rechte der Opfer politischer Repressionen von den 1920er- bis 1950er-Jahren“, der jedoch mehr von deklamatorischer als von praktischer Bedeutung ist. Der Text bezieht sich auf die „Massenrepressionen, Willkür und Gesetzlosigkeit, die von der stalinschen Führung im Namen von Revolution, Partei und Volk durchgeführt wurden“. Im Vergleich zu früheren Rehabilitierungsschritten wird der Zeitraum nunmehr mit Mitte der 1920er-Jahre um zehn Jahre früher angesetzt. Die Inkonsequenz der Mitte der 1960er-Jahre endenden Rehabilitierungen wird ausdrücklich erwähnt. Erstmals wird in einem Staatsdokument dieser Ebene nicht nur an die Gerechtigkeit, sondern auch an das Recht appelliert. Die Repressionen seien „unvereinbar mit den Normen der Zivilisation“ und der Verfassung. Das sowjetische Volk sei der Freiheiten beraubt worden, „die in einer demokratischen Gesellschaft als natürlich und unveräußerlich“ gelten. Nicht nur von außergerichtlichen Organen, sondern auch von Gerichten seien die „elementaren Normen der Prozessführung“ mit Füßen getreten worden. Zu rehabilitieren seien im Sinne des Erlasses Bauern, die während der Kollektivierung deportiert wurden, sowie Geistliche und „aus religiösen Gründen verfolgte Bürger“. Die Repressionen der 1920er- bis 1950er-Jahre „aus politischen, sozialen, nationalen, religiösen und anderen Motiven“ seien „ungesetzlich, sie widersprechen den fundamentalen bürgerlichen sowie den sozialen und wirtschaftlichen Rechten“. Der Erlass sieht vor, „die Rechte dieser Repressionsopfer in vollem Umfang wiederherzustellen“. Insgesamt war der Erlass zweifellos ein Novum in der Aufklärung über die Repressionen auf höchster staatlicher Ebene. Leider war der praktische Aspekt des Erlasses (die Durchführungsbestimmungen) nicht ausgearbeitet, und er wurde (im Gegensatz zum Erlass vom 16. Januar 1989) nicht im eigentlichen Sinne umgesetzt. Generell verlief die Rehabilitierung bereits 1990 deutlich langsamer als 1989. Offensichtlich wirkte sich schon der allgemeine staatliche Zerfall aus. Genaue Angaben über die Zahl der 1990/91 Rehabilitierten besitzen wir nicht. Die Rehabilitierungskommission des Politbüros beendete ihre Existenz im Sommer 1990 mit der Erklärung, ihre Aufgabe sei erfüllt. Nach Aussage von Jakowlew lagen Anfang 1990 in den KGB-Archiven noch 752 000 Akten, die nicht überprüft worden waren. Wie sich später herausstellen sollte, war diese Zahl zu niedrig angesetzt. Die Gorbatschow-Zeit brachte einen wesentlichen Durchbruch in der Aufarbeitung der Vergangenheit, auch hinsichtlich der Rehabilitierungen. Einerseits war die Rehabilitierung immer noch zeitlich und kategorial zu eng angesetzt. Aber in beiderlei Hinsicht wurde der Umfang ständig erweitert. Der Rehabilitierungsprozess war ziemlich effizient. In den Jahren 1988 bis 1991 wurden ungefähr 1,5 Millionen Personen rehabilitiert. Neben den wichtigsten hier erwähnten Dokumenten gab es auf Unionsebene noch etliche andere, die sich mit den Repressionen befassten (insbesondere mit

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denen gegen die „bestraften Völker“). Dieses Thema kehrte in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit zurück. Bei den Rehabilitierungen und beim Gedenken an die Opfer kooperierte die Regierung ständig, mehr oder weniger gut, mit der Gesellschaft. Für unser Thema ist relevant, dass gerade auf der Grundlage von Gorbatschows Rehabilitierungserlassen und der Praxis, in gewissem Maße in der Auseinandersetzung mit ihnen, wesentliche Prinzipien für das russische Rehabilitierungsgesetz ausgearbeitet wurden, das die Grundlage für die Rehabilitierungen in Russland in den folgenden Jahren wurde.

Die dritte Etappe der Rehabilitierungen: 1992 bis heute. Das ­Rehabilitierungs­ gesetz der Russischen Föderation Das russische Gesetz über die Rehabilitierung der Opfer politischer Verfolgungen wurde im Februar 1990 unmittelbar nach den ersten freien Wahlen zum Obersten Sowjet der Russischen Föderation in Angriff genommen. Das Komitee für Menschenrechte bereitete das Gesetz vor, dem als Präsident Sergej Kowaljow, ein Bürgerrechtler und politischer Gefangener der 1970er-Jahre, vorstand. Als Leiter der Arbeitsgruppe und wesentlicher Verfasser fungierte der Abgeordnete Anatolij Kononow, später Richter am Verfassungsgericht der Russischen Föderation. Neben Abgeordneten und professionellen Juristen gehörten der Arbeitsgruppe auch die Vertreter von Memorial Arsenij Roginskij und Oleg Orlow an. Bereits in frühen Vorbereitungsstadien gab es etliche Schwierigkeiten. Im Wesentlichen sind hier drei Punkte zu nennen: • Erstens stieß die politische Präambel des Gesetzes auf den Widerstand vieler Abgeordneter. Darin hieß es, dass alle Opfer vom ersten Tag der Sowjetherrschaft (dem 7. November 1917) an bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zu rehabilitieren seien. 1990 existierte die UdSSR ja noch, und eine derartige Erwähnung des Gründungsdatums wurde als Anschlag auf die Legitimität der Sowjetmacht verstanden. Es ist bezeichnend, dass der zur gleichen Zeit im Obersten Sowjet der UdSSR eingebrachte Entwurf für ein unionsweites Rehabilitierungsgesetz den Zeitraum von 1920 bis 1959 vorsah. • Ein anderer Einwand war sozusagen ein juristischer. Der Staatssicherheitsdienst KGB kritisierte, das Parlament der (russischen) Republik sei nicht berechtigt, Personen zu rehabilitieren, die von Unionsorganen verurteilt worden seien, und das war ein erheblicher Teil der Verfolgten. Außerdem erklärte der KGB zynisch, der Zeitrahmen der Rehabilitierung müsse enger gefasst werden, denn nach seiner Auffassung habe es bereits seit 1960 keine Verstöße und Fälschungen bei Verhaftungen und Untersuchungen mehr gegeben. • Ein weiterer Einwand war, dass das Gesetz individuelle Rehabilitierungen vorsah. Unter den Abgeordneten befanden sich jedoch nicht wenige Vertreter „bestrafter Völker“. Diese verlangten, Bestimmungen in das Gesetz einzufügen, die die territoriale, kulturelle und politische Rehabilitierung gan-

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zer Völker behandelten. Aber es lag auf der Hand, dass die Rehabilitierung von Völkern Gegenstand eines eigenen Gesetzes sein musste. Die Punkte über die „bestraften Völker“ in das Gesetz aufzunehmen, hätte das Gesetz in eine Deklaration verwandelt und die allgemeine Konzeption einschneidend verändert. Aufgrund dieser und anderer Vorbehalte wurde das Gesetz, als es am 30. Oktober 1990 in den Obersten Sowjet eingebracht wurde, von der Tagesordnung abgesetzt und „zur Überarbeitung“ zurückgeschickt. Mit geringfügigen Änderungen wurde es erst ein Jahr später am 18. Oktober 1991 verabschiedet, in einer Atmosphäre, die von Angst auf Seiten der kommunistischen Abgeordneten und dem bevorstehenden unabwendbaren Zerfall der UdSSR bestimmt war. Die Präambel mit dem ursprünglich vorgesehenen Zeitrahmen, die den Terror als unvereinbar mit Recht und Gerechtigkeit verurteilte, blieb bestehen. Erklärtes Ziel des Gesetzes sollte nicht nur die Wiederherstellung der Bürgerrechte für die Verfolgten sein, sondern auch eine „Kompensation des moralischen und materiellen Schadens im Rahmen der derzeitigen Möglichkeiten“. Zum ersten Mal in der russischen Gesetzgebung werden in diesem Gesetz politische Repressionen definiert und der Begriff eines aufseiten des Staats bestehenden „politischen Motivs“ eingeführt. Der Kreis der zu Rehabilitierenden wird genau definiert. Erstmals werden die Opfer administrativer Verfolgungen angeführt: Personen, die administrativ verbannt, verschickt, in Sondersiedlungen deportiert wurden usw. Das sind sowohl deportierte Bauern als auch „bestrafte Völker“ und viele andere. Rehabilitiert werden sollten auch Personen, die aus politischen Gründen in psychiatrische Kliniken eingewiesen worden waren. Das Gesetz sieht eine automatische, d. h. ohne Überprüfung der Akte vorzunehmende Rehabilitierung für Personen vor, die für die Ausübung des Rechts auf Gewissens- und Meinungsfreiheit verurteilt worden waren. Das Gesetz enthält auch Ausnahmen. Auf den ersten Blick hätte man auch ohne solche auskommen können, die den Rehabilitierungsprozess merklich verlangsamten, zumal die meisten aus politischen Motiven Inhaftierten von außergerichtlichen Instanzen in Abwesenheit abgeurteilt worden waren. Scheinbar wäre es der leichteste und der richtige Weg gewesen, automatisch ausnahmslos alle Beschlüsse dieser widerrechtlichen Organe für ungültig zu erklären. Aber das ließ sich nicht machen. Denn dieselben Organe hatten auch eindeutige Verbrecher verurteilt, z. B. Kriegsverbrecher und Angehörige nationalsozialistischer Strafkommandos. Hätte das Gesetz alle außergerichtlichen Urteile annulliert, wären auch diese Strafkommandos automatisch rehabilitiert worden. Natürlich ist das nur ein kleiner Prozentsatz in der Gesamtzahl der Rehabilitierten, aber ihre Rehabilitierung wäre im russischen Verständnis unannehmbar. So wurde eine Liste von Ausnahmen zusammengestellt, ähnlich wie in den unionsweiten Normativakten, aber deutlich kürzer und konkreter. Ausschlaggebendes Kriterium für die Ausnahmen war, dass eine Person gewaltsame Handlungen begangen hatte, also Verbrechen, die in jedem beliebigen Land unter Strafe stehen.

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Das Gesetz beschreibt das Rehabilitierungsverfahren im Detail. Nicht nur Opfer oder ihre Verwandten können einen Rehabilitierungsantrag stellen, sondern auch jede beliebige interessierte Person oder gesellschaftliche Organisation. Die Akten individuell Verurteilter, die meist in Archiven der Staatssicherheit aufbewahrt sind, werden von Staatsanwälten geprüft, die selbst auch die Entscheidung über die Rehabilitierung oder ihre Ablehnung treffen. Revidiert werden ausnahmslos alle Verfahren, unabhängig davon, ob ein Antrag gestellt wurde. Die Akten über administrative Repressionen, die sich in MWD-Archiven befinden, werden von MWD-Mitarbeitern untersucht. Hier hat das Gesetz keine komplette Revision vorgesehen. Eine Rehabilitierung erfolgt nur auf Antrag, was ein wesentlicher Mangel des Gesetzes ist. Das Gesetz benennt ferner die Folgen der Rehabilitierung im Detail: Kompensationen, Vergünstigungen für Rehabilitierte, Fragen der Rückgabe des Eigentums. Gleich nach Verabschiedung des Gesetzes setzten Auseinandersetzungen um Verbesserungen ein. Am Anfang ging es dabei vor allem um eine Ausweitung des vom Gesetz für die Rehabilitierung vorgesehenen Personenkreises. Darauf bestanden vor allem die Opferverbände und ebenso die Gesellschaft Memorial. Nach jahrelangen Anstrengungen erreichte man schließlich, dass auch Kinder als Verfolgungsopfer anerkannt wurden, die sich gemeinsam mit ihren Eltern in Lagern, Verbannungsorten und Arbeitssiedlungen befunden hatten (früher hatte man sie nur als Geschädigte anerkannt), außerdem auch Kinder, die in Folge der Repressionen als Minderjährige einen oder beide Elternteile verloren hatten. Ergebnis dieser Verbesserungen (beide wurden nach Entscheidungen des Verfassungsgerichts von 1995 bzw. 2000 ins Gesetz aufgenommen) war die auf ersten Blick seltsam scheinende Tatsache, dass die Zahl der rehabilitierten Repressionsopfer, die in Russland lebten, Ende der 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre stark anstieg. Leider ließen sich keine weiteren wesentlichen Veränderungen im Gesetz mehr erreichen.

Die soziale Situation der Opfer Schon zu sowjetischer Zeit waren einige Maßnahmen nicht nur zur politischen, sondern auch zur sozialen Rehabilitierung der Opfer unternommen worden. Allerdings war die soziale Rehabilitierung im Vergleich mit der rechtlichen äußerst begrenzt. Die Rehabilitierten bekamen eine finanzielle Entschädigung in Höhe eines zweifachen Monatsgehalts zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung, sie wurden bei der Wohnungssuche bevorzugt, Erwerbsunfähige hatten das Recht auf eine Rente mit einer Anrechnung der Haftjahre als Arbeitszeit.16 Allerdings waren viele

16 Beschluss des Ministerrats der UdSSR Nr. 1655 vom 8. 9. 1955: „O trudovom staže, trudoustrojstve i pensionnom obespečenii graždan, neobosnovanno privlečennych k

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e­ infache Personen, die über keine Beziehungen verfügten und nicht vernetzt waren, über diese Möglichkeiten oft gar nicht informiert. Ehemalige „Volksfeinde“ wie auch ihre Familienmitglieder wurden selbst dann schikaniert, wenn das nicht von offizieller Seite stimuliert wurde. Insbesondere erhielten bei weitem nicht alle Rehabilitierte die Erlaubnis, an ihren früheren Wohnort zurückzukehren. Im Falle ihrer Rückkehr war keinerlei Restitution vorgesehen. Die Menschen bekamen weder ihren beschlagnahmten Wohnraum zurück noch konfisziertes Eigentum. Das einzige, was einige (keineswegs alle) der Zurückgekehrten erhielten, war die Möglichkeit, bei der Wohnungssuche begünstigt zu werden und in beschleunigtem Verfahren eine Wohnung zu bekommen, allerdings in der Regel eine wesentlich kleinere als vor der Verhaftung. Bei den administrativ Deportierten wurden bei der sozialen Rehabilitierung zwei Kategorien unterschieden. Den einen erlaubte man, an ihren früheren Wohnort zurückzukehren. Das war das Höchste, worauf sie hoffen konnten. Den anderen (z. B. den „Entkulakisierten“ oder den Krimtataren) wurde inoffiziell sogar dies verwehrt. De facto gab es zur Sowjetzeit in sozialer Hinsicht drei rehabilitierte Opfergruppen: 1. Administrativ Deportierte, die de facto nicht rehabilitiert, sondern begnadigt worden waren. 2. Die meisten gerichtlich oder quasigerichtlich Verurteilten und dann Rehabilitierten, die minimale finanzielle Kompensationen erhielten und äußerst begrenzte Möglichkeiten hatten, sich sozial an das neue Leben zu adaptieren. 3. Die vergleichsweise kleine Gruppe ehemaliger Partei- und Staatsfunktionäre und ihrer Verwandten, die nicht nur juristisch, sondern auch von der Partei rehabilitiert wurden, was vor allem bedeutete, dass sie nicht nur eine vergleichsweise günstige Wohnung, mitunter Datschen und andere Privilegien erhielten, sondern auch zu einer normalen Arbeit zurückkehren konnten. Insgesamt war die Integration der ehemaligen Opfer in das neue Leben sehr schwierig und mühsam. Mit einer Lagervergangenheit war es schwer, eine akzeptable Arbeit und Wohnraum zu finden. Diese Personen lebten häufig in einer angespannten und feindlichen Atmosphäre, denn die ehemaligen Gefangenen und ihre Familien trugen weiterhin ihren Makel als „Volksfeinde“. Ihr Leben blieb ungeregelt und unglücklich. Sie machten meist keine Karriere und konnten ihre verlorenen familiären und verwandtschaftlichen Kontakte nicht wiederherstellen. Viele, die ihre besten Lebensjahre in Haft verbracht hatten,

ugolovnoj otvetstvennosti i vposledstvii reabilitirovannych“ (Über die Lebensarbeitszeit, Arbeitsbeschaffung und Rentenversorgung von Bürgern, die grundlos strafrechtlich zur Verantwortung gezogen und später rehabilitiert wurden). In: Sbornik zakonodatel’nych i normativnych aktov o repressijach i reabilitacii žertv političeskich repressij (Sammlung von Gesetzes- und Normativakten über Repressionen und die Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen), Moskau 1993.

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gründeten überhaupt keine Familien, blieben kinderlos und ohne Unterstützung und lebten in äußerster Armut.17 Erst das Rehabilitierungsgesetz vom 18. Oktober 1991 legte ein System von Entschädigungszahlungen und Vergünstigungen für diese Personen fest: 1. Einmalige finanzielle Entschädigung für die Haftzeit oder den zwangsweisen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik; 2. Kompensation der ungesetzlichen Konfiskation des Eigentums; 3. erhöhte Rente; 4. Vergünstigungen in Naturalien (Übernahme der Mieten und Kosten für kommunale Dienstleistungen in Höhe von 50 Prozent, vorrangige Ausstattung mit Telefonanschluss und Erstattung der Anschlussgebühren, kostenlose Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel in ihrem Wohnort und der Umgebung sowie einmal im Jahr die Erstattung einer Fahrt innerhalb der Russischen Föderation, Herstellung und Reparaturen von Zahnprothesen, ermäßigte Kuraufenthalte). Allerdings brachten die vorgeschlagenen Maßnahmen, die auf den ersten Blick wie eine Unterstützung für die Opfer aussehen, in der Realität sehr wenig. Zur Zeit der Annahme des Gesetzes betrug die einmalige Kompensation „drei Viertel des gesetzlich festgelegten Mindestlohns für jeden Haftmonat“, und im Jahre 2000 wurde sie generell auf 75 Rubel festgelegt (weniger als zwei Euro). Das bedeutet, dass ein ehemaliger Häftling für zehn Jahre Haft in den Lagern von Kolyma eine einmalige Entschädigung von 220 Euro erhielt. Die Entschädigung für den Verlust von Wohnraum, ob nun eine Wohnung oder ein Haus, durfte 10 000 Rubel (250 Euro) nicht überschreiten. Anfang der 2000er-Jahre, als der russische Staat dank der steigenden Ölpreise reicher wurde und offenbar die Möglichkeit hatte, die Opfer angemessen zu unterstützen, beschloss die Regierung, die Sozialleistungen in Form von Geldzahlungen zu erbringen. Dabei wurde außer Acht gelassen, dass 1991 bei der Verabschiedung des Rehabilitierungsgesetzes den Opfern de facto keine Sonderleistungen gewährt wurden, sondern eine fortgesetzte Entschädigung in Form regelmäßiger Vergünstigungen. Die 2005 beschlossene Monetarisierung veränderte grundlegend die Voraussetzungen für eine soziale Sicherstellung der Opfer. Anstelle der Sozialleistungen erhalten die rehabilitierten Opfer nun monatliche Zahlungen, die jedoch nicht aus dem Bundeshaushalt, sondern aus den regionalen Haushalten der Föderationssubjekte finanziert werden. Dies führte aus zwei Gründen zu einer absurden Situation: 1. In jedem Föderationssubjekt wurden je nach Ausstattung des regionalen Budgets und der Einstellung der Parlamentsabgeordneten zur Rehabilitierung der Opfer unterschiedliche Summen für die monatlichen Zahlungen festgelegt. Infolgedessen bekommen Häftlinge mit dem gleichen Schicksal 17 Vgl. Nancy Adler, The GULAG survivor. Beyond the soviet system, London 2002.

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und dem gleichem Status, die in unterschiedlichen Regionen leben, auch finanzielle Unterstützung in unterschiedlicher Höhe. So beispielsweise in Tschuwaschien 2 456 Rubel (61,40 Euro) monatlich, in Nowosibirsk dagegen 156 Rubel (3,90 Euro).18 In der Regel liegen die monatlichen Zahlungen zwischen 400 und 800 Rubeln. 2. Viele Rehabilitierte sind aufgrund ihres Alters und der erlittenen Entbehrungen nach medizinischen Kriterien Invaliden. Nach 2005 wurden diese Personen vor die abwegige Entscheidung gestellt, ob sie rehabilitierte Verfolgungsopfer seien oder Invaliden. Letztere bekommen je nach Grad der Invalidität monatlich zwischen 1620 und 2830 Rubel (40,50-70,50 Euro) aus dem Bundeshaushalt. Generell ist das nicht schlecht und vor allem ein zuverlässiger monatlicher Zuschuss. Vom rechtlichen Standpunkt aus müssten die Invaliden, die Opfer politischer Verfolgungen waren, aus zwei Gründen soziale Unterstützung beziehen, zumal es dazu in Russland einen Präzedenzfall gibt – bei den Liquidatoren der Katastrophe von Tschernobyl wird ebenso verfahren. Dennoch erkennen die sozialen Dienste in Russland das Recht Rehabilitierter auf eine doppelte Unterstützung nicht an und verlangen de facto von ihnen, auf den Status als Rehabilitierte zu verzichten, wenn sie den eines Invaliden erhalten wollen. Die Memorial-Aktivistin Margarita Anisimowa sagte dazu: „Sie verlangen, dass ich sage, ich bin Invalide, und dass ich auf den Status des Opfers politischer Verfolgung verzichte. Niemals werde ich das tun, auch wenn Invaliden zehnmal mehr gezahlt wird. Den Status als Opfer aufzugeben hieße auf die Rehabilitierung meiner erschossenen Eltern zu verzichten.“

Notwendige Änderungen am Rehabilitierungsgesetz Folgende wesentlichen Änderungen müssten am Rehabilitierungsgesetz vorgenommen werden: 1. Der Personenkreis der zu Rehabilitierenden muss erweitert werden. 1990/91, als das Gesetz vorbereitet wurde, wurden manche Formen der Repressionen im Gesetz nicht ausdrücklich erwähnt. Das rief bei den Staatsanwälten, die für die Rehabilitierung zuständig waren, Zweifel hinsichtlich einzelner Opferkategorien hervor, die meist zu einer Ablehnung der Rehabilitierung führten. Das betraf etwa die „Lischenzy“19, also jene Bürger, denen von 1918-1936 das Wahlrecht entzogen war. Ihre Anzahl war hoch, es handelt sich um mindestens vier Millionen. Dazu gehörten vorrevolutionäre Beamte, Kaufleute, ehemalige Geistliche, kleine Handwerker und viele andere. Der Entzug des Wahlrechts in den ersten Jahrzehnten nach der Revolution hatte erhebliche 18 Aus dem Bericht der Rehabilitierungskommission beim Präsidenten von 2013. 19 Vgl. Anm. 6.

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Folgen im Alltagsleben – man wurde nicht zum Hochschulstudium zugelassen, an vielen Dienststellen nicht zur Arbeit angenommen usw. Im Gesetz sind nicht nur Verhaftete oder unmittelbare Opfer der administrativen Repressionen für die Rehabilitierung aufgeführt, sondern auch Personen, die „anderen Rechts- und Freiheitsbeschränkungen“ unterworfen waren. Die Staatsanwälte weigern sich jedoch, die „Lischenzy“ als Opfer anzuerkennen, und begründen dies damit, dass diese Kategorie im Gesetz nicht eigens aufgeführt sei. Praktisch ist niemand von den Lischenzy mehr am Leben, aber für viele ihrer Nachkommen ist die Tatsache der Rehabilitierung ihrer Angehörigen von Bedeutung. Für uns ist ihre Rehabilitierung nicht nur im Sinne der Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit wichtig, sondern auch als Bestätigung eines unerschütterlichen Rechtsprinzips. Es gibt noch einige weitere Kategorien von (weniger zahlreichen) Opfern, die im Gesetz ausdrücklich genannt werden müssten. 2. In das Gesetz ist eine Bestimmung aufzunehmen, die eine Rehabilitierung in jenen Fällen vorsieht, in denen die Straf- oder Ermittlungsakte verloren gegangen ist oder vernichtet wurde. Die bestehende Regelung verlangt, dass zur Überprüfung eine Akte vorliegen muss. In vielen Fällen ist diese Frage von prinzipieller Bedeutung. Denn gerade auf das Fehlen von Akten berufen sich die Staatsanwälte etwa bei ihrer Weigerung, polnische Bürger, die 1940 Opfer von Massenerschießungen wurden (u. a. in Katyn), zu rehabilitieren. Aber Akten zu den erschossenen Polen kann es naturgemäß nicht geben, denn diese Akten wurden gezielt Ende der 1950er-­ Jahre vernichtet, um die Spuren des Verbrechens zu tilgen. Dabei existieren viele andere Dokumente (abgesehen von den Ermittlungsakten), die es erlauben, die Getöteten namentlich zu benennen und zu beweisen, dass das „Verbrechen von Katyn“ auf Anweisung der höchsten sowjetischen Instanzen erfolgte. Diese Dokumente sind für die Rehabilitierung der Opfer heranzuziehen. 3. In dem Gesetzesartikel, der die Ausnahmen auflistet (d. h. verurteilte Personen, die nicht unter das Gesetz fallen), sind diejenigen aufgeführt, die „Verbrechen gegen die Rechtsprechung“ begangen haben. In der Präambel zu diesem Artikel steht der Hinweis, dass die Ablehnung einer Rehabilitierung sich auf Beweise stützen muss, die „in den Akten“ dieser Personen enthalten sind. Praktisch fallen in diese Kategorie nur Mitarbeiter der OGPU-NKWD-MGB-­ Organe. Viele von ihnen wurden tatsächlich verfolgt. In der sowjetischen Zeit wurden viele rehabilitiert, aber den fragwürdigsten Personen unter ihnen wurde die Rehabilitierung verweigert. Vor allem gilt dies für regionale leitende Funktionäre – Vorsitzende außergerichtlicher Organe („Trojkas“) 1937/38, Abteilungsleiter des zentralen OGPU-NKWD-Apparats, Ermittler in den großen Verfahren, die in der Chruschtschow-Zeit bekannt wurden. Das Rehabilitierungsgesetz von 1991 hat neue Praktiken geschaffen. Sehr häufig gab es in den Ermittlungsakten dieser Personen keinerlei Hinweise darauf, dass sie Verbrechen gegen die Rechtsprechung begangen hatten. Sie wurden aufgrund erfundener Beschuldigungen verurteilt – wegen ­Spionage

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oder einer Verschwörung gegen die Sowjetmacht. Dem Buchstaben des Gesetzes folgend, haben Staatsanwälte in den 1990er- und 2000er-Jahren diese Personen rehabilitiert, auch jene, denen früher – in den 1960er- bis 1980er-Jahren – die Rehabilitierung verweigert worden war. Auf diese Weise wurde etwa Dmitrij Dmitriew rehabilitiert, der für die Erschießung Tausender im Gebiet Swerdlowsk verantwortlich war, ferner Weniamin Agas, der Ermittler im Verfahren gegen Marschall Tuchatschewskij, bekannt für seine ständige Folterpraxis, oder Derenik Apresjan, der Leiter des „Großen Terrors“ 1937/38 in Usbekistan, und viele andere. Dieser Gesetzesartikel muss um den Hinweis ergänzt werden, dass in Fällen, die Mitarbeiter der Staatssicherheit, des Innenministeriums und der Justizorgane (Gericht und Staatsanwaltschaft) betreffen, nicht nur die Ermittlungsakten genau zu untersuchen sind, sondern dass zur Überprüfung ihrer Tätigkeit zusätzliche Archivunterlagen heranzuziehen sind. Bei der Rehabilitierung bedeutender Parteifunktionäre, die für ihre Mitwirkung am Terror bekannt sind, sind ebenfalls zusätzliche Archivunterlagen auszuwerten. 4. Die Gesetzesnorm zur Rehabilitierung von Opfern administrativer Repressionen muss geändert werden (das fällt in die Zuständigkeit der MWD-Organe). Anstelle einer Rehabilitierung auf Einzelantrag hat eine vollständige Revision der Fälle zu erfolgen. Andernfalls können Millionen Betroffener nicht rehabilitiert werden. 5. Im Gesetz wird die Bewahrung des Andenkens an die Opfer praktisch nicht behandelt. Es ist nur von der Erstellung von „Listen rehabilitierter Personen“ die Rede. Dabei wird nicht gesagt, wer sie wie erstellen und wer sie veröffentlichen soll. Aus den „Listen“ sind schon längst „Gedenkbücher“ geworden, die in den meisten Regionen auf Initiative verschiedener gesellschaftlicher und staatlicher Organisationen herausgegeben werden. Das geschieht ganz uneinheitlich, in vielen Regionen auch gar nicht. Die Aufgabe, Gedenkstätten für die Opfer zu schaffen, Massengräber aufzufinden und zu kennzeichnen, Denkmäler und Gedenkzeichen aufzustellen, ist im Gesetz nicht erwähnt. Man sollte ein eigenes Kapitel in das Gesetz aufnehmen, das dem Gedenken an die Opfer gewidmet ist. 6. Das russische Rehabilitierungsgesetz entspricht nicht ganz den analogen Gesetzen in den Nachbarstaaten, den ehemaligen Republiken in der UdSSR: Nicht nur einzelne Personen, sondern auch ganze Opferkategorien können nicht rehabilitiert werden, weil es in den Gesetzen Widersprüche und Lücken gibt. Um diese Probleme zu lösen, sind am russischen Gesetz geringfügige Korrekturen vorzunehmen. Außerdem müssten unter den an der Rehabilitierung interessierten Ländern besondere Vereinbarungen geschlossen werden. Wir können viele Beispiele von notwendigen Ergänzungen und Präzisierungen im Gesetz anführen. In den 20 Jahren, seitdem es in Kraft ist, sind seine Stärken und Schwächen offenbar geworden. Leider weisen die russischen Parlamentsabgeordneten alle Verbesserungsvorschläge penetrant ab, das Thema der Repressionen findet bei ihnen keinerlei Resonanz.

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Bilanz der Rehabilitierungen nach dem Gesetz vom 18. Oktober 1991 1992, unmittelbar nach Verabschiedung des Gesetzes, wurden landesweit in den Organen der Staatsanwaltschaft und des MWD spezielle Gruppen gebildet. Während der 1990er-Jahre waren sie aktiv im Einsatz, danach ebbte der Strom der zu Rehabilitierenden ab. Mitte der 2000er-Jahre wurden diese Gruppen aufgelöst, in einigen Regionen auch früher. Von 1992 bis 2010 wurden rehabilitiert: 800 000 bis 801 000 Personen von Organen der Staatsanwaltschaft (inklusive der Militärstaatsanwaltschaft); etwa 280 000 Kinder von Opfern. Sie wurden in Folge der Änderungen am Rehabilitierungsgesetz in den 2000er-Jahren von Organen der Staatsanwaltschaft als Opfer politischer Verfolgungen anerkannt; über 2 940 000 Personen, die von MWD-Organen als Opfer administrativer Repressionen rehabilitiert wurden. Heute gilt die Rehabilitierung hinsichtlich der Verfahren der Staatssicherheitsorgane („individuelle Anklagen“) in Russland als praktisch abgeschlossen. Viele sind damit nicht einverstanden. Nach Auffassung von Memorial müssten viele Verfahren neu aufgerollt werden, in denen eine Rehabilitierung abgelehnt wurde. Dies betrifft vor allem die Zeit des Bürgerkriegs und des Großen Vaterländischen Kriegs. Ebenso müssen die Rehabilitierungen von administrativ Verfolgten fortgesetzt werden, da sie bei Weitem nicht abgeschlossen sind. Um die Ergebnisse der Rehabilitierungen tatsächlich beurteilen zu können, reichen die Zahlen, die aus unterschiedlichen Anlässen immer wieder vom MWD, dem FSB und der Staatsanwaltschaft genannt werden, nicht aus. Diese Behörden müssen die ihnen vorliegenden personenbezogenen Daten der Rehabilitierten für eine einheitliche staatliche Datenbank zur Verfügung stellen. Damit dies geschieht, muss zunächst erreicht werden, dass die föderale Regierung die Erstellung einer solchen Datenbank auf die Tagesordnung setzt. Es gibt ein erfolgreiches Projekt einer solchen Datenbank in Russland: die staatliche Datenbank der Opfer des Großen Vaterländischen Kriegs. Eine staatliche Entscheidung, eine ebensolche Datenbank für Opfer politischer Verfolgungen zu schaffen, gibt es bisher nicht, obwohl diese Forderung in der Öffentlichkeit, auch von Memorial, schon lange erhoben wird. Im Idealfall sollte diese Datenbank nicht nur Angaben aus russischen Archiven, sondern auch aus denen der ehemaligen Sowjetrepubliken erfassen. In diesen Ländern (leider nicht in allen) finden ebenfalls schon seit vielen Jahren Rehabilitierungen statt. Aber wir kennen deren Ergebnisse nicht. Daher können wir die Frage, welcher Anteil der sowjetischen Repressionsopfer bis zum heutigen Tag rehabilitiert wurde, nicht beantworten. Nach den Angaben des Arbeitsministeriums der Russischen Föderation gibt es heute 839 743 Personen mit dem Opferstatus, wie ihn das Rehabilitierungsgesetz vorsieht. In den letzten zwei Jahren ging diese Zahl den gleichen offiziellen Angaben zufolge um 230 000 Personen zurück und wird weiter fallen.20 20 Aus dem Bericht der Rehabilitierungskommission beim Präsidenten von 2013.

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Bisher ist das Rehabilitierungsgesetz das einzige Gesetz, das der Vergangenheit gewidmet ist. Darin geht es um die Wiederherstellung der Rechte einer immensen Zahl von Personen, die durch den Staat zu leiden hatten und die heute in ihrer Mehrheit alt, einsam und krank sind. Dieser erste und wichtige Schritt auf dem Weg zu einer Beurteilung des Sowjetregimes ist allerdings der einzige geblieben. Da die Machthaber die Geschichte instrumentalisieren, gedenken sie, wenn es ihren Interessen entgegenkommt, mitunter der Opfer; im Allgemeinen ziehen sie es aber vor, über sie zu schweigen. Die Haltung von Staat und Öffentlichkeit gegenüber den Opfern liegt nach wie vor zwischen Mitgefühl und Gleichgültigkeit.

Wiedergutmachung und Entschädigung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Vergleichende Überlegungen Günther Heydemann

I. „Das Geheimnis der Freiheit ist der Mut!“ soll Perikles einmal, Thukydides zufolge, festgestellt haben. In der Tat – es braucht ein gehöriges Maß an Überzeugung, Zivilcourage und Standhaftigkeit, um sich in Diktaturen oder autoritären Herrschaftssystemen gegen den Diktator, gegen die Allmacht einer Partei, gegen die herrschende Clique, gegen die Polizei und den Sicherheitsapparat zu stellen. Zudem sind die Folgen für oppositionelles Verhalten in nichtdemokratischen Systemen meist unabsehbar. Oft kommen nur die wenigsten, die diesen Mut aufbringen, unbeschadet davon. Wer immer auch die Macht in solchen Systemen ausübt, lässt sich nicht gern kritisieren, sondern schlägt fast durchweg zurück, meist mit unverhältnismäßigen Mitteln. Deren Bandbreite ist groß und wird noch dazu mit staatlicher Gewalt legitimiert. Sie kann von der Rüge, Ächtung, Vorladung, Inhaftierung, Misshandlung, Folter bis zum beabsichtigten oder wenigstens billigend in Kauf genommenen Tod reichen. Aber auch die Verhinderung von Bildungs- und Aufstiegschancen, Berufsverbot, Eigentumsverlust oder Zwangsarbeit u. a. m. stellen Methoden dar, auf Kritik, Opposition und Widerstand seitens der Machthaber zu reagieren. Doch man braucht nicht einmal ein mutiger Mensch zu sein, um in das Räderwerk von Diktaturen oder autoritären Herrschaftssystemen zu kommen. Es genügt z. B. schon, denunziert zu werden – aus welchen Gründen auch immer. Auch wenn man nicht auffällt oder sich zurückhaltend verhält, es gibt genug politische, ideologische, religiöse, ethnische, rassistische und sexuelle Gründe, um als Volksschädling, Klassenfeind oder schlicht als Gegner eingestuft zu werden und in das Visier des jeweiligen Regimes zu geraten. Die übereinstimmende Erfahrung von Lagerhäftlingen ist die, dass es letztlich gleichgültig ist, aus welchen „Gründen“, mit welchem Urteil und mit welchem Strafmaß man in ein Lager gekommen ist. Entscheidend ist, dass man hineingekommen ist. Wer die unterschiedlichen Formen und Folgen solcher Repressalien erlebt und überlebt hat, ist meist psychisch traumatisiert und hat mit physischen Schäden oft bis zum Ende seines Lebens zu kämpfen. Angesichts solch ­potenzieller

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Konsequenzen scheint es daher klüger, sich wegzuducken und „das Maul zu halten“. Tatsächlich verhält sich die breite Mehrheit der Bevölkerung in ­Diktaturen und autoritären Herrschaftssystemen auch auf solche Weise. Und angesichts derart schwerwiegender und kaum abschätzbarer Folgen für das eigene Leben und das der Familie, Verwandten und Freunde ist das in menschlicher Hinsicht durchaus nachvollziehbar. Vor allem diejenigen, die nie in solchen Gewaltsystemen gelebt haben bzw. leben mussten, sollten sich mit vorschneller moralischer Kritik zurückhalten. Gleichwohl – ohne Mut gibt es keine Freiheit. So könnte man den Spruch von Perikles auch umdrehen. Zum Glück haben Millionen Menschen in den unterschiedlichsten nichtdemokratischen Herrschaftssystemen diesen Mut, diese Zivilcourage und Standhaftigkeit aufgebracht und tun es bis heute. Ihr Widerstand, in welcher Intensität und in welchen Formen auch immer, setzt(e) zumindest ein Zeichen gegen die Usurpierung der Macht und den Anspruch einer allumfassenden Ideologie. Natürlich stellt sich die Frage, ob sich Resistenz, Widerstand und Opposition auch lohnen? Wer dazu beigetragen hat, eine Diktatur zu Fall zu bringen, wie z. B. 1989/90 geschehen, und dadurch den Weg frei machte für Demokratie und Rechtsstaat, Meinungsfreiheit und Pluralismus, nicht zuletzt auch für seine Mitmenschen, dem muss zunächst einmal die moralische Anerkennung zuteil werden, demokratischen und rechtsstaatlichen Normen und Strukturen zum Durchbruch verholfen zu haben. Er/sie hat dadurch seinen/ihren Zeitgenossen einen unschätzbaren Dienst erwiesen. Ganz selbstverständlich müsste ihm/ihr allein dafür, aber auch für eventuell erlittene psychische und physische Schäden, eine angemessene finanzielle und materielle Entschädigung zuerkannt werden. Dass „Wiedergutmachung“ in diesem Zusammenhang allerdings zumeist einen Euphemismus darstellt, auf jeden Fall nur einen symbolischen Wert ausmacht, darf nicht übersehen werden. Denn erlittene Schädigungen, welcher Art auch immer, können auch durch noch so großzügige und umfassende staatliche „Leistungen“ niemals völlig restituiert werden. Gleichwohl, auch wenn man diese unabdingbare Prämisse im Auge behält, so ist doch einigermaßen ernüchternd, wenn nicht sogar deprimierend, wie gering finanzielle und materielle Entschädigungen oft ausfallen, nicht selten übrigens erst nach langem zeitlichem Verzug. Noch wichtiger ist den Betroffenen jedoch, insbesondere wenn sie zu Unrecht verurteilt wurden, zunächst den Makel einer angeblichen Straftat loszuwerden. Sie wollen auch den geringsten Anschein einer kriminellen Handlung vermeiden und fordern daher rasche justizielle Rehabilitierung. Oft müssen sie jedoch feststellen, dass eine Rehabilitierung spät erfolgt oder überhaupt nicht, obgleich der Nachweis offenkundigen justiziellen Missbrauchs bzw. Fehler in der damaligen Rechtsprechung klar zutage liegen.

Vergleichende Überlegungen

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II. Das entscheidende Problem, man könnte aber auch sagen Hindernis, Opfer zu rehabilitieren, zu entschädigen bzw. Wiedergutmachung in welcher Form auch immer zu leisten, stellt – und das gilt für alle hier behandelten Länder – die jeweils praktizierte Geschichts- und Erinnerungspolitik eines Staats dar. Die Schlüsselfrage ist, wie sich die jeweilige Staatsführung bzw. die politischen Eliten einer Nation, eines Volks zur eigenen Vergangenheit stellen, insbesondere zu deren „dunklen“ geschichtlichen Perioden. Ein aktuelles und zugleich krasses Beispiel der Negierung politischer und historischer Verantwortung stellt die Türkei dar. Die vor genau hundert Jahren durchgeführten Vertreibungen und Massaker an den Armeniern, die in der Tat zum ersten Völkermord im 20. Jahrhundert mit mehr als einer Million Opfer führten, wird von der gegenwärtigen türkischen Regierung ebenso geleugnet wie von allen ihren Vorgängern, obwohl es an diesem Menschheitsverbrechen nicht den geringsten Zweifel gibt. Deutlich wurde dies wieder unlängst, als Papst Franziskus darauf verwies, diesen Völkermord nicht zu verdrängen oder zu verschweigen. Analoges gilt für die Kritik der türkischen Regierung an Bundespräsident Joachim Gauck, der wenig später ebenfalls die Bezeichnung Völkermord verwendete. Die in politischer und diplomatischer Hinsicht völlig überzogene Reaktion Ankaras auf die Aussagen des Papstes und des Bundespräsidenten erwies jedoch gleichzeitig, dass aus hartnäckigem Verleugnen der eigenen Vergangenheit bis in die jüngste Gegenwart hinein ein ebenso tief greifender Imageverlust resultiert wie eine schwerwiegende Belastung der internationalen Beziehungen. Dass die Armenier bislang weder für ihre Opfer noch für deren Nachkommen irgendeine Entschädigung seitens der Türkei erhalten haben, ist eine ebenso ungerechte wie leidvolle Folge. Ein ähnlicher Fall ist Japan, das sich für unbezweifelbare Kriegsverbrechen in China und in Korea erst spät, nämlich erstmals 1995 und dann noch einmal zehn Jahre, später entschuldigt hat. Der jetzige Ministerpräsident Abe hat es bisher vermieden, eine Entschuldigung auszusprechen. Demgegenüber hat Kaiser Akihito am 70. Jahrestag der Kapitulation Japans in diesem Jahr mit „tiefer Reue“ des Kriegs und seiner Opfer gedacht. Nach wie vor fordern China und Korea jedoch eine Entschuldigung, zumal den chinesischen und koreanischen Opfern des damaligen imperialen Japan bis heute keinerlei Entschädigung zuteil geworden ist. Das gilt vor allem für koreanische Zwangsprostituierte in japanischen Militärbordellen während des Zweiten Weltkriegs. Nicht zuletzt aus geschichtspolitischen Gründen bleiben daher die Beziehungen zwischen den drei Ländern auch 70 Jahre nach Kriegsende gespannt. Ein Rückfall in bereits überwundene Sichtweisen und Deutungen der eigenen Geschichte nach 1991 ist gegenwärtig in Russland zu konstatieren. Dort ist Perm 36, das bisher einzige sowjetische Straflager, das in ein Museum umgewandelt worden ist, vor Kurzem vorübergehend geschlossen worden. Schlimmer noch, seit der Wiedereröffnung wird die Botschaft, die von dem ­ehemaligen Lager

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und der jetzigen Gedenkstätte ausgehen sollte, inzwischen wieder ins Gegenteil verkehrt. Pauschal wird in der neu konzipierten Ausstellung nun propagiert, dass die Häftlinge Kriminelle bzw. Feinde der Sowjetunion gewesen seien. Dass unschuldige Menschen zu Zehntausenden unter falschen Anschuldigungen in die Gulags kamen, wonach sie Spione gewesen seien oder ­Sabotage verübt hätten, findet keine Erwähnung mehr. Vielmehr sei die Zwangsarbeit, welche die Lagerinsassen zu leisten hatten, absolut gerechtfertigt gewesen. Mit dem durch sie produzierten Holz, das man im „Vaterländischen Krieg“ für Schützengräben und Unterstände verwendet habe, hätten auch die Häftlinge ihren Beitrag zum Sieg über den „Hitler-Faschismus“ geleistet. Auf einer ähnlichen Linie liegen Überlegungen der Moskauer Stadtverwaltung, das Denkmal des Tscheka-Gründers Felix Dserschinski (1877–1926), das bis 1991 vor der Lubjanka, dem Sitz des KGB, stand und von dort entfernt wurde, wieder an alter Stelle aufzurichten. Bekanntlich hatte Dserschinski nach Ausbruch der Oktoberrevolution 1917 den „Roten Terror“ maßgeblich inszeniert und durchgeführt, dem Hunderttausende zum Opfer fielen. Inzwischen hat die Moskauer Duma zugestimmt, dass Unterschriften für ein Referendum gesammelt werden dürfen, damit das Denkmal wieder an seinem früheren Platz aufgestellt werden kann. Beide Vorgänge belegen, dass sich im Russland Putins wieder eine Rückbesinnung auf die Sowjetunion und ihre Errungenschaften vollzieht; das geht einher mit einer Neubewertung Stalins, in deren Licht dem Generalissimus eine erheblich positivere Rolle als bisher zuerkannt wird. Die Vermutung liegt nahe, dass der Rückfall auf ein unkritisches Geschichtsbild für Opfer des Stalinismus und der späten Sowjetunion nicht unbedingt vorteilhaft sein dürfte, was ihre Ansprüche auf Entschädigung betrifft.

III. Es steht außer Zweifel, dass die entscheidende Voraussetzung für Rehabilitierungen und Entschädigungen in einer vorurteilslosen und selbstkritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte besteht. Wenn dies nur unzureichend oder überhaupt nicht geschieht, ist mit politisch-historischer, finanzieller oder materieller Anerkennung von Opfern und Geschädigten kaum zu rechnen. In den hier behandelten Ländern bildet Griechenland sozusagen den Beweis dafür. Hier ist es bislang zu keinen Wiedergutmachungsleistungen irgendwelcher Art gekommen, schon deshalb nicht, weil eine kritische Aufarbeitung der jüngeren und jüngsten Vergangenheit bis heute unterblieben ist. Entsprechend haben die Opfer der faschistoiden Metaxa-Diktatur, des Widerstands gegen die deutsche Besatzungsherrschaft, des griechischen Bürgerkriegs und der Jahre der Militärdiktatur zwischen 1967 und 1974 bis heute keinerlei Entschädigungen erhalten. Angesichts der gegenwärtigen tiefen Wirtschafts- und Finanzkrise

Vergleichende Überlegungen

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Griechenlands steht auch nicht zu erwarten, dass es in nächster Zeit zu entsprechenden Leistungen kommen wird. Auch Spanien hat sich unter den südeuropäischen Militärdiktaturen über Jahrzehnte hinweg äußerst schwergetan, des Bürgerkriegs von 1936 bis 1939 und seiner Folgen zu gedenken. Ohnehin konnte ein offizielles Erinnern an die über 100 000 Opfer und Geschädigten erst nach dem Tode des Diktators Franco im Jahre 1975 einsetzen. Voraussetzung dafür bildete der Prozess der sogenannten Transición, der die Rahmenbedingung für die langsame Ablösung des franquistischen Machtsystems und dessen gleichzeitige Demokratisierung bildete. Die entsprechende, historisch aber nur partiell zutreffende Matrix hierfür bestand bzw. besteht in der geschichtspolitischen Umdeutung des Bürgerkriegs als kollektives Unglück, für das beide Seiten Verantwortung tragen und das letztlich ebenfalls von beiden Seiten beschwiegen wird. Der innerspanische Kompromiss, der sich auch in der Verfassung von 1978 mit dem „Ende der zwei Spanien“ niederschlug, hat erstmals 1986, 50 Jahre nach Beginn des Bürgerkriegs, ein von ideologischen Vorgaben beider Seiten weitgehend ungehindertes Gedenken ermöglicht. Gleichwohl ist es erst 2007 nach langwierigen politischen und parlamentarischen Auseinandersetzungen zur Verabschiedung eines Gesetzes gekommen, in dem die begangenen Verbrechen während des Bürgerkriegs auch als solche bezeichnet werden. Ihre rückhaltlose Aufklärung steht jedoch bis heute aus, insbesondere die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der Franco-Diktatur. Inzwischen fordert sogar die UNO vom spanischen Staat Aufklärung über die Opfer von Massenerschießungen, das Schicksal von Entführten und Verschwundenen, einschließlich Zehntausender von geraubten Kindern. Für die Opfer und deren Nachkommen sind bis heute keine Entschädigungen gezahlt worden. Dass es auch anders geht, zeigt Portugal. Obwohl das Nachbarland Spaniens bereits von 1926 bis 1932 Militärdiktatur war, die von zwei autoritären Regimen abgelöst wurde, welche wiederum erst 1974 ihr Ende fanden, ist es dort zu einer wesentlich rascheren gesamtgesellschaftlichen Aufarbeitung seiner diktatorialen Vergangenheit gekommen. Nachdem ein Militärputsch im Jahre 1974 den Weg zur Demokratie geöffnet hatte, wurden binnen zweier Jahre Strafmaßnahmen gegen Täter und Unterstützer der vormaligen Diktaturen beschlossen, sodass bereits 1976 ein klarer Bruch mit der Vergangenheit vollzogen worden war. Flankiert von der Säuberung der Streitkräfte und der Entlassung zahlreicher belasteter Beamter zielte die erste demokratische Regierung unter Mario Soares nicht nur auf eine politische und ideologische Delegitimierung der vorherigen Diktaturen, sondern auch auf eine gesamtgesellschaftliche Versöhnung. Gleichwohl war der Aufarbeitungsprozess der diktatorialen Vergangenheit keineswegs einfach, sondern brauchte Zeit. Erst 1991 beendete eine von der Regierung eingesetzte Kommission die Arbeit an einer Zusammenstellung jener Verbrechen, die in den Jahren 1926 bis 1974 begangen worden waren. Die Untersuchungen wurden flankiert von verschiedenen Gesetzen zur Anerkennung und Entschädigung von Opfern. Letztere erhielten Staatsbürger, die während

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der Diktaturen für Freiheit und Demokratie gekämpft hatten; ebenso diejenigen, die inhaftiert oder im oppositionellen Untergrund gewesen waren; schließlich auch jene Portugiesen, die sich 1934 am Aufstand gegen die Errichtung einer Diktatur beteiligt hatten. Die drei südeuropäischen Länder Griechenland, Spanien und Portugal, die allesamt während längerer und kürzerer Perioden Militärdiktaturen gewesen sind, zeigen deutlich, wie unterschiedlich der jeweilige Prozess der nationalen Vergangenheitsbewältigung, trotz einer vergleichbaren Vorgeschichte, verlaufen kann, einschließlich der Anerkennung und Entschädigung von Opfern.

IV. Ein ähnliches Urteil kann über ehemalige Volksrepubliken gefällt werden, die ab 1989 Demokratien geworden sind. Nach wie vor ist nicht nur die sozialistische Vergangenheit nach 1945 umstritten, sondern auch die Vorgeschichte, meist schon nach 1918. Ganz besonders gilt dies für Polen, wo historisch noch weiter zurückgeblickt wird; schließlich gab es zwischen 1795 und 1918 nicht einmal einen eigenen Staat. Kein Wunder, dass die polnische Geschichte bis heute vornehmlich als Opfergeschichte betrachtet wird. Individuelles Opfer gewesen zu sein, deckt(e) sich somit mit der nationalen Geschichte. Doch waren und sind die Grenzen zwischen Täter und Opfer häufig keineswegs so eindeutig zu ziehen. Schätzungen zufolge hat ein Drittel der polnischen Bevölkerung in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Mitte der 1950er-Jahre mit den kommunistischen Machthabern kooperiert, und 1980, zur Hochzeit der oppositionellen Solidarność, war ein Drittel ihrer Mitglieder gleichzeitig Parteimitglied. Zudem fanden die für den Weg zur Demokratie entscheidenden Gespräche am Runden Tisch 1989 zwischen Vertretern der Solidarność und der Partei bzw. dem Geheimdienst statt, d. h. etwas pauschal formuliert, zwischen Opfern und Tätern. Die unabdingbar notwendigen Kompromisse, die dabei von beiden Seiten eingegangen wurden, mussten auf die juristische Ahndung von Verbrechen und die Wiedergutmachung rückwirken. In der Tat hat sich das demokratische Polen nach der Friedlichen Revolution schwer damit getan, zu klaren Bestimmungen und entsprechenden Regelungen zu kommen. Dies erfolgte erst mit dem Gesetz über das Institut des Nationalen Gedenkens (IPN) von 1998 und dem „Durchleuchtungsgesetz“ von 2006. Opfer erhielten einen „Geschädigtenstatus“, aus dem sie Entschädigungsansprüche ableiten konnten; zugleich wurde der Begriff des kommunistischen Funktionsträgers definiert. Entgegen dieser Definitionen erwies sich jedoch die praktische Durchführung als kompliziert und nicht selten widersprüchlich. Nicht wenige Mitarbeiter des Geheimdienstes oder im Justizwesen verblieben auf ihren Posten, da man auf ihr Wissen schlecht verzichten konnte. Ein Berufsverbot für ehemalige Parteimitglieder wurde nicht verhängt. Darüber hinaus wurde entschieden, zunächst Verbrechen während des Zweiten

Vergleichende Überlegungen

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Weltkriegs und der Nachkriegszeit zu untersuchen. Das brachte lange Wartezeiten für spätere Opfer, insbesondere der kommunistischen Zeit, mit sich. Zudem litt ihre Anerkennung an unverhältnismäßig langen Verfahren strafrechtlicher Verfolgung von Tätern. Auch ihre strafrechtliche Rehabilitierung ist nur z. T. einigermaßen rasch erfolgt. Immerhin wurden politisch bedingte Straftaten als „kommunistische Verbrechen“ definiert, die nicht verjähren. Bis heute bleibt indes die Rückgabe von Eigentum umstritten. So erhielten zwangsvertriebene Eigentümer aus den früheren polnischen Ostgebieten nur 20 Prozent des Werts ihres verlorenen Eigentums ersetzt, Eigentümer aus anderen Regionen Polens wurden überhaupt nicht entschädigt. Insgesamt ergibt sich, trotz erheblicher Anstrengungen der polnischen Demokratie, eine letztlich unbefriedigend bleibende Aufarbeitung der komplizierten Vergangenheit Polens im letzten Jahrhundert mit entsprechender justizieller Ahndung von Tätern und der Befriedigung von Entschädigungsansprüchen von Opfern. In Tschechien ist das Erbe der kommunistischen Herrschaft offensichtlich bislang am besten bewältigt worden. Die fast in der gesamten Bevölkerung vorherrschende Ablehnung und Verurteilung des Regimes, insbesondere nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968, führten nach der Revolution zu einer relativ raschen und umfassenden Aufarbeitung der in den Jahren 1948 bis 1989 begangenen Verbrechen. Ein Verband ehemaliger politischer Häftlinge setzte sich unmittelbar nach der Revolution und noch vor den ersten freien Parlamentswahlen für die zügige Rehabilitierung von zu Unrecht Verurteilten ein; bereits im April 1990 trat ein entsprechendes Gesetz in Kraft. Dadurch wurden all jene Gerichtsurteile aufgehoben, die in der Zeit kommunistischer Herrschaft aus politischen und ideologischen Gründen verhängt worden waren. Darin war auch die hohe Zahl von Emigranten eingeschlossen, die nach dem Einmarsch der Roten Armee 1968 das Land verlassen hatten. Nach ergangener Rehabilitierung konnten die Betroffenen eine Entschädigung beantragen. 1993 wurde ein weiteres Gesetz, nun bereits in der Tschechischen Republik, über die „Rechtswidrigkeit des kommunistischen Regimes und über den Widerstand dagegen“ verabschiedet. Ehemalige Gegner und Verfolgte des Regimes, die dadurch gesundheitliche Schäden, soziale Rückstellungen und finanzielle Einbußen hatten hinnehmen müssen, konnten Ansprüche auf Entschädigung und Wiedergutmachung geltend machen. Dieses Gesetz wurde 2011 ergänzt durch ein weiteres, das Entschädigungen auch jenen Gegnern des Regimes zubilligt, die nicht zu Opfern bzw. Geschädigten wurden. Unter den früheren sozialistischen Staaten ist dieses Gesetz sogar einzigartig. Lediglich der 1996 erlaubte Zugang zu den Akten der Staatssicherheit ist insofern unvollständig, als ehemalige hauptamtliche Mitarbeiter Schutz vor der Öffentlichkeit und der Veröffentlichung genießen; ihre Akten dürfen nur mit ihrem Einverständnis eingesehen werden. Dennoch ist der in der Tschechischen Republik erfolgte Aufarbeitungsprozess beachtlich; das gilt auch und nicht zuletzt für die umfassenden Entschädigungen.

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Einen Gegensatz zu Tschechien bildet Ungarn. In dem Land, das den Eisernen Vorhang als erstes unter den früheren Ostblockstaaten öffnete, ist seit dem Übergang zur Demokratie eine breite, öffentliche Debatte über seine Vergangenheit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, aber durch die jetzige Regierung Orbán zunehmend eingeschränkt worden. Stattdessen hat eine unübersehbare Instrumentalisierung seiner jüngeren und jüngsten Geschichte eingesetzt. Ein gewichtiger Grund hierfür ist die partielle Elitenkontinuität. Eine Reihe von Entscheidungsträgern in Politik, Staat und Gesellschaft des heutigen Ungarn war schon vor 1989 in wichtigen Positionen des kommunistischen Regimes. Vor allem unter der gegenwärtig regierenden Fidesz-Partei wird versucht, ein ganz bestimmtes Geschichtsbild zu vermitteln, das der eigenen politischen Legitimierung dienen soll. Kernelemente dieses historischen Narrativs bestehen einerseits in der gegenseitigen Aufrechnung der Verbrechen von ungarischen Faschisten mit denen während der Zeit des Sozialismus; andererseits, so die Interpretation, bestünde das Aufkommen des Faschismus und in seiner Folge des Kommunismus darin, dass beide von außen gekommen und in das Land importiert worden seien. Ungarn selbst und das ungarische Volk hätten daran praktisch keinen Anteil. Um dieses Geschichtsbild einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln, wurden seit der Revolution immer wieder entsprechende Institutionen bzw. Forschungsinstitute geschaffen, deren „wissenschaftliche“ Reputation allerdings äußerst fragwürdig ist. Angesichts der gegenwärtigen Dominanz und Propagierung dieses einseitigen Geschichtsbildes durch die z. Zt. regierende Fidesz-Partei kann eine kritische, pluralistische Debatte kaum aufkommen. Immerhin ist es zwischen 1991 und 1997 zu Wiedergutmachungsgesetzen gekommen. Diese zielten darauf, Vermögensverluste auszugleichen und erlittenes Unrecht zu kompensieren. Die letzten Eingaben konnten im Jahr 2006 gestellt werden. Die Gesetze bezogen sich auf die Zeit von 1939 bis 1990 und sollten sowohl die Opfer der Judenverfolgung, der politischen Verfolgung durch ungarische Regierungsstellen bzw. ungarische und deutsche Nationalsozialisten als auch die Verfolgungen durch den kommunistischen Unrechtsstaat entschädigen. Das Jahr 1939 als Stichdatum für die Kompensationszahlungen ist allerdings historisch inkorrekt, da die sogenannten Judengesetze bereits 1938 erlassen wurden und bis 1943 Bestand hatten. Zuerst standen allerdings die Verfolgungen des kommunistischen Unrechtsstaats im Vordergrund, aber schon ab 1992 wurde ein politischer Konsens darüber geschaffen, dass bei Entschädigungen zwischen den Opfern der NS- und der kommunistischen Verfolgung kein Unterschied gemacht werden sollte. Das entzogene Vermögen wurde allerdings nur bis zu festgelegten Maximalsummen restituiert, und die Kompensation erfolgte nicht in Bargeld, sondern in Entschädigungsgutscheinen, die während der Privatisierungen eine Wertzuschreibung erhielten und auch an der Börse gehandelt werden konnten. Freiheitsentzug, erlittene Folter und Tod begründeten ebenfalls den Anspruch auf Wiedergutmachung, wobei nicht nur die Betroffenen selbst, sondern im Falle ihres Ablebens auch ihre Hinterbliebenen entschädigungsberechtigt blieben.

Vergleichende Überlegungen

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Schon allein quantitativ sind in der früheren Sowjetunion die größten Opfer zu verzeichnen, zugleich hat es dort zeitlich am längsten Repressionen gegeben, faktisch seit der Oktoberrevolution 1917 bis nahezu unmittelbar vor dem Ende der UdSSR 1991 – fast ein Dreivierteljahrhundert. Der Massenterror wurde dabei permanent praktiziert, zwar in unterschiedlich intensiven Kampagnen, doch fielen ihm alle sozialen Schichten und Gruppen der Bevölkerung und sogar verschiedene Ethnien zum Opfer. Insgesamt ist von 4,7 bis 5 Millionen Menschen, die dadurch ihr Leben verloren, auszugehen. Von dieser Gesamtzahl wurden zwischen 1,0 und 1,1 Millionen erschossen, die Übrigen kamen in den Lagern des Gulags um. Hinzu kommen zwischen 6,3 und 6,7 Millionen Deportierter, deren Wohneigentum und Landbesitz eingezogen wurde. Somit unterlagen in den gut 70 Jahren der Existenz der Sowjetunion 11 bis 11,5 Millionen Menschen politischer Verfolgung. Die Rehabilitierung dieser millionenfachen Opfer und ihrer Angehörigen setzte mit dem Tod Stalins am 5. März 1953 ein und ist auch heute noch nicht abgeschlossen. Seit dem Ende der Stalinzeit können drei Etappen der Rehabilitierung unterschieden werden. In der ersten Phase zwischen 1953 und 1962 und 1962 bis 1983 wurden rund 800 000 Menschen rehabilitiert, wobei die entsprechenden Erlasse und Verfahren immer den Vorgaben und der Kontrolle der Parteiführung unterlagen. Zugleich war diese erste Phase von unsystematischem und selektivem Vorgehen geprägt und außerdem von der permanenten Befürchtung der KPdSU getragen, die Rehabilitierungen könnten das Vertrauensverhältnis der Bevölkerung zu Partei und Sowjetstaat unterminieren. Während es in der Breschnew-Zeit zu einem allmählichen Erliegen der Rehabilitierungen kam, initiierte das Reformprogramm Gorbatschows im Zeichen von Glasnost und Perestroika eine zweite Phase der Rehabilitierungen in den Jahren zwischen 1988 und 1991. Bis 1991 wurden nahezu 1,5 Millionen Sowjetbürger rehabilitiert und zum ersten Mal nicht nur die soziale Unterstützung der Repressionsopfer einbezogen, sondern auch das Andenken an sie. Die Rehabilitierungserlasse unter Gorbatschow legten die Grundlage für das Rehabilitierungsgesetz vom 18. Oktober 1991, das die dritte Phase der Rehabilitierungen bis heute einleitete. Erstmals wurden in diesem Gesetz nicht nur politische Repressionen als solche definiert, auch der Kreis der zu Rehabilitierenden wurde breiter gefasst; nunmehr wurden auch Menschen, die aus politischen Gründen in psychiatrische Kliniken eingewiesen worden waren, einbezogen, was auch für Kinder galt, die Opfer von Verfolgung wurden. Wenngleich das Gesetz Entschädigungszahlungen und Vergünstigungen für Opfer festlegte, blieben diese zumeist auf niedrigstem Niveau. Im Durchschnitt erhielt ein ehemaliger Häftling nach zehn Jahren Haft und Zwangsarbeit in einem Straflager rund 250 Euro Entschädigung. Abgesehen von dieser im Grunde Hohn sprechenden „Wiedergutmachung“, weist das Gesetz trotz weiterer Verbesserungen unübersehbare Lücken auf, zumal zum einen noch immer nicht alle Opfer der verschiedenen Repressionswellen erfasst sind, zum anderen die finanziellen und materiellen Entschädigungsleistungen nach wie vor weit hinter dem zugefügten Unrecht

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und dem jahrelang erlittenen Leid zurückbleiben. Inwieweit unter der Ägide Putins weitere Rehabilitierungsverfahren positiv abgeschlossen werden, bleibt abzuwarten; schließlich propagiert die gegenwärtige russische Regierung ein Geschichtsbild, in dem wieder ein wesentlich günstigeres Bild der sowjetischen Geschichte und Stalins gezeichnet wird. Auch der Versuch, das Wirken von „Memorial“ zu behindern, ja teilweise zu kriminalisieren, das verdienstvoll den Weg zu einer erheblich kritischeren (Selbst-)Reflexion der sowjetischen Geschichte gewiesen hat, weckt in den letzten Jahren immer mehr Zweifel. Auch im Falle der hier exemplarisch behandelten ehemaligen sozialistischen Staaten Polen, Tschechien, Ungarn und der Sowjetunion bzw. jetzigen russischen Föderation, die seit Beginn der 1990er-Jahre den Weg zur Demokratie beschritten haben, wobei inzwischen bei Russland wieder von einem autoritären Regime mit gelenkter Demokratie gesprochen werden muss, ergibt sich ein heterogenes Bild. Während in Tschechien die Wiedergutmachung nahezu beispielhaft durchgeführt wurde, ist sie in Ungarn zu früh beendet worden. In Polen, noch mehr aber in der russischen Föderation, ist der Rehabilitierungsprozess ebenfalls noch keineswegs abgeschlossen. Fraglich bleibt aber, ob er weitergeführt wird.

V. Kommen wir zum Abschluss auf die „Vergangenheitsbewältigung“ und Rehabilitierung von Opfern in jenen Staaten zurück, die nach Kriegsende 1945 bzw. 1949 zu Demokratien wurden: Italien, Österreich und die Bundesrepublik Deutschland. Bei Letzterer wird die Entwicklung in der SBZ/DDR einbezogen, da die Frage nach Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern, resultierend aus mehr als 40 Jahren SED-Herrschaft, bereits während der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 ein zentrales Thema der DDR-Oppositionellen war, aber erst in den Folgejahren nach der Wiedervereinigung sukzessive gelöst wurde. Im Geburtsland des Faschismus, in Italien, spiegelt sich ebenfalls die äußerst wechselhafte Geschichte der Apennin-Halbinsel im 20. Jahrhundert wider. Noch bevor die faschistische Bewegung überhaupt an die Macht gekommen war (28. Oktober 1922), hatten dessen frühe Anhänger bereits Opfer unter Angehörigen sozialistischer und kommunistischer Gewerkschaften und Organisationen sowie Teilen des Bürgertums hervorgerufen. Insgesamt sollten sich ab November 1922 bis zum 25. Juli 1943, dem Tag der Absetzung Mussolinis, rund 5 000 Personen wegen ihres politischen Widerstands in Haft befinden, dazu waren über 10 000 italienische Staatsangehörige in Verbannung geschickt worden. Nach dem Bündnis mit NS-Deutschland wurden mit den Rassegesetzen von 1938 die italienischen Juden diskriminiert und ab Ende 1941 auch in die Vernichtungslager deportiert. Durch die Besetzung Albaniens 1939 und den Kriegseintritt Italiens 1940 wurde die Zivilbevölkerung in Jugoslawien und Griechenland massiven Repressalien ausgesetzt; irgendwelche Entschädigungen sind jedoch bis heute

Vergleichende Überlegungen

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nicht geleistet worden. Nach dem Sturz Mussolinis und den Waffenstillstand vom 8. September 1943 änderten sich die Verhältnisse grundlegend, da Italien jetzt vom Verbündeten Deutschlands zu dessen Gegner wurde. Dies hatte die Besetzung Mittel- und Norditaliens durch deutsche Truppen zur Folge mit der parallelen Schaffung eines faschistischen Rumpfstaats (der Repubblica Sociale Fascista), der nun jedoch umso fanatischer und rücksichtsloser gegen Antifaschisten vorging. Dies führte zu einer komplizierten politischen und militärischen Gesamtlage. Zu den ersten Opfern wurden rund 20 000 italienische Soldaten, die sich den deutschen Besatzungstruppen nicht ergeben wollten. Über 600 000 Soldaten, die ihre Waffen niedergelegt hatten oder gefangen genommen worden waren, wurden als „Militärinternierte“ ins NS-Reich deportiert. Kaum besser als sowjetische und polnische Kriegsgefangene gestellt, leisteten sie oft unter schlimmsten Bedingungen Zwangsarbeit; dies kostete rund 50 000 italienischen Soldaten das Leben. Währenddessen tobte in Italien einerseits der Krieg zwischen den Alliierten und der Wehrmacht und Einheiten der Waffen-SS, andererseits der Partisanenkampf gegen die deutschen Besatzungstruppen und den faschistischen Satellitenstaat Mussolinis. Zu den circa 30 000 bis 40 000 Partisanen, die umkamen, müssen noch einmal etwa 10 000 Zivilpersonen hinzugerechnet werden, die im Zuge der NS-Besatzung und der faschistischen Kollaboration ihr Leben ließen. Noch in der Endphase des Kriegs schlossen sich bereits verschiedene Vereinigungen von Partisanen gegen den Faschismus und die NS-Okkupation im Verband ANPI (Nationale Vereinigung der italienischen Partisanen) zusammen. Deren wichtigste Repräsentanten bildeten meist auch die neue politische Elite des Landes, das nach Kriegsende im Zeichen des Antifaschismus als Staatsdoktrin stand. Ende 1947 kam es indes zum Bruch mit den die ANPI dominierenden Kommunisten, sodass zwei neue Organisationen ehemaliger Partisanen entstanden, die sich einerseits aus Christdemokraten und Parteilosen zusammensetzten, andererseits Sozialdemokraten, Republikaner, Liberale und Anarchisten umfassten. Bereits 1946 hatten ehemalige Militärinternierte eine eigene Interessenorganisation gegründet, die 1948 auch als Körperschaft eigenen Rechts anerkannt wurde. Doch anders als gegenüber den z. T. heroisierten Partisanen wurden den gut eine halbe Million umfassenden Militärinternierten erheblich weniger Wertschätzung in der italienischen Gesellschaft entgegengebracht, da sie als Vertreter eines geschlagenen Heeres galten. Ein weiterer Verband wurde von ehemaligen italienischen Deportierten gegründet, die aus den NS-Konzentrationslagern zurückgekehrt waren. Der bedeutendste italienische Opferverband, schon im Juli 1944 nach der Befreiung Roms gegründet, die ANFIM (Nationale Vereinigung der Familien der für die Freiheit des Vaterlandes Gefallenen), war eine politisch unabhängige Interessenorganisation, die durch eigene Geschäftsstellen in Italien weit verbreitet war und sich beträchtlichen politischen Einfluss erwarb. Neben weiteren, z. T. von Kommunisten geführten Organisationen, nicht zuletzt die ANPPIA (Nationale Vereinigung von politisch verfolgten Antifaschisten), ging aus der Union israelitischer Gemeinden in Italien der gleichnamige jüdische Opferverband nach 1945 hervor.

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Trotz dieser zahlreichen Vereinigungen kam es in den ersten Jahren der italienischen Republik nur zu wenigen gesetzlichen Maßnahmen zugunsten der Opfer des Faschismus. Grund dafür war, dass die ja von Anfang an politisch heterogen zusammengesetzte antifaschistische Front 1947 auseinanderbrach, als Kommunisten und Sozialisten aus der Regierung ausgeschlossen wurden. Der Umschlag des politischen Klimas wurde durch den darauffolgenden Wahlsieg der christdemokratischen Partei im April 1948 bestätigt. Aufgrund der Tatsache, dass insbesondere kommunistische Partisanen kurz vor Kriegsende und danach in der Zeit der „epurazione“ (Reinigung) eine ganze Serie von Hinrichtungen von Faschisten oder des Faschismus verdächtige Personen in Form von Schnellgerichten und Selbstjustiz ohne jegliche rechtsstaatliche Fundierung durchgeführt hatten, galten die ersten gesetzlichen Entschädigungsmaßnahmen der italienischen Republik (Gesetz vom 10. August 1950) nicht Partisanen, sondern zunächst Kriegsopfern, Soldaten und Zivilisten, Militärinternierten und anderen Personen, die durch damalige feindliche Einwirkung zu Schaden gekommen waren. Fünf Jahre später sah ein Gesetz mit der Bezeichnung „Versorgungsmaßnahmen für die wegen Antifaschismus oder aus rassischen Gründen politisch Verfolgten und ihre hinterbliebenen Familienangehörigen“ die Gewährung einer Rente vor, die in diese Opferkategorie fielen. Eine zentrale Forderung der Opferverbände, einschließlich der italienischen Regierung, stellte eine Wiedergutmachung durch Deutschland dar, hatte es doch die meisten italienischen Militär- und Zivilopfer während der nationalsozialistischen Besetzung in den Jahren 1943 bis 1945 gegeben. Nach Verhandlungen mit der Bundesrepublik – die DDR lehnte als „antifaschistischer Staat“ jegliche Entschädigungen ab – wurde am 2. Juni 1961 ein Abkommen über die Zahlung von 40 Millionen DM vereinbart. Drei Jahre später, am 9. Mai 1964, setzte Italien erstmals eine Kommission zur Festsetzung von Wiedergutmachungsansprüchen ein und erhielt insgesamt 330 000 Anträge zur Bearbeitung. Die Kommission beschränkte sich jedoch auf Opfer von Vernichtungslagern, insbesondere Juden sowie aus politischen Gründen Verfolgte; Militärinternierte entfielen dadurch zumeist. Nicht bedacht wurden sie auch von der im Jahr 2000 gegründeten Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EZV), die Entschädigungen vornehmlich an Zwangsarbeiter der NS-Diktatur auszahlte, obwohl viele italienische Militärinternierte Zwangsarbeit geleistet hatten. Immerhin vollzog sich im Lauf der Jahre aber ein Wandel in der Einschätzung von Militärinternierten in der italienischen Gesellschaft. Sie erhielten das Kriegsverdienstkreuz und wurden als Vorkämpfer der Freiheit Italiens geehrt; seit 2006 wurde den wenigen Überlebenden eine Ehrenmedaille verliehen. Insgesamt muss festgestellt werden, dass sich die Entschädigungsleistungen des italienischen Staats trotz zahlreicher vorhandener „pressure groups“ in Grenzen halten. Wie in Italien konnte sich auch in Österreich, im Unterschied zum besetzten Deutschland, mit der Zweiten Republik, vergleichsweise rasch eine Demokratie etablieren und eine weitgehend eigenständige Restitutions- und Entschädigungspolitik verfolgen, die in zwei Etappen ablief. Eine erste, allerdings aus

Vergleichende Überlegungen

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verschiedenen Gründen unzureichend bleibende Phase bis Anfang der 1960erJahre, in der zwar sieben „Rückstellungsgesetze“ (i. e. Restitutionsgesetze) erlassen wurden, deren Wirkung für Geschädigte allerdings begrenzt blieb, zumal die österreichische Gesetzgebung nur eine sogenannten Naturalrestitution von noch vorhandenem bzw. auffindbarem Vermögen vorsah. Gleichwohl konnten auch aus rassischen, nationalen und religiösen Gründen geschädigte NS-Opfer eine Rente erhalten, was zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht für Homosexuelle, aus „asozialen“ Gründen Verfolgte sowie Sinti und Roma galt. Ab Mitte der 1980er-Jahre, begleitet von inzwischen intensiven innerösterreichischen Debatten über die NS-Vergangenheit Österreichs, setzte eine wesentlich umfassendere Restitution ein, die schließlich im Jahre 2000 ihren Höhepunkt fand. Bis Mitte der 1980er-Jahre war die Anerkennung einer unbezweifelbaren Mitverantwortung von Österreichern und Österreicherinnen am Nationalsozialismus durch die sogenannte Opfertheorie blockiert worden, wonach Österreich durch den nationalsozialistischen Einmarsch und die darauf folgende Okkupation 1938 zum ersten Opfer der Aggressionspolitik Hitlers geworden sei; ein Status, der dem Land auch durch die Alliierten zugesprochen worden war. In der Tat hatte die Opfertheorie über Jahre hinweg den unausgesprochenen politischen und gesellschaftlichen Konsens eines verbreiteten Beschweigens der NS-Zeit in Österreich legitimiert, flankiert von der Konzentrierung auf den Wiederaufbau, das Patt-Verhältnis zwischen den beiden großen Parteien ÖVP und SPÖ und einem latenten Antisemitismus. Einen Dammbruch in dieser verbreiteten Haltung löste jedoch die „Waldheim-Affäre“ aus, die 1986 einsetzte. Bereits während des Wahlkampfs um das Amt des österreichischen Staatspräsidenten geriet der frühere Präsident der UN zunehmend ins Kreuzfeuer innerösterreichischer und internationaler Kritik wegen seines von ihm durchweg bestrittenen Mitwissens als Wehrmacht-Offizier an Massakern von jugoslawischen Zivilisten und der Deportierung von Kriegsgefangen und Juden. Die sich über Jahre erstreckende Diskussion über Waldheim hatte indes zur Folge, dass Bundeskanzler Franz Vranitzky in einer Regierungserklärung von 1991 erstmals eine österreichische Mitschuld an während der NS-Zeit verübten Verbrechen zugab. Diese offizielle politische Anerkennung historischer Mitverantwortung stellte einen Wendepunkt dar und führte vier Jahre später zur Gründung des „Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus“, womit eine einmalige Entschädigung an bis zu diesem Zeitpunkt unberücksichtigt gebliebene Opfer der NS-Diktatur ausgezahlt wurde. In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre kam es zu einer weiteren Ausweitung der österreichischen Wiedergutmachungspolitik. Wie in Deutschland (und der Schweiz) führten im Jahre 2000 der Druck jüdischer Verbände sowie amerikanische Sammelklagen zur Bereitstellung des „Fonds für Versöhnung, Frieden und Zusammenarbeit“, durch den Zwangsarbeiter entschädigt wurden. Aus dessen Restmitteln wurde ein Jahr später der „Zukunftsfonds der Republik Österreich“ eingerichtet, durch den erstmals auch NS-Opfer von Sinti und Roma bedacht wurden. Mit den „Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzen“ von 2001/02

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wurden ehemalige österreichische Wehrmachtsoldaten, die Kriegsgefangene geworden waren, mit einer monatlichen Entschädigung versehen. Ein nahezu gleichzeitig gegründeter „Vertriebenenfonds“ entschädigte jene Personen, die als Angehörige deutscher Minderheiten nach Kriegsende 1945 aus ihren außerösterreichischen Heimatregionen vertrieben worden waren. 2005, 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, hatte somit auch die zweite Republik Österreich einen umfassenden Beitrag zur Entschädigung von NS-Opfern geleistet. Vor dem Hintergrund der lange Jahre mit Schweigen übergangenen NS-Zeit und des Rassen- und Vernichtungskriegs wurden dennoch erste Grundlagen der westdeutschen Wiedergutmachung bereits in den Besatzungszonen und der frühen Bundesrepublik Deutschland gelegt, wobei die westlichen Besatzungsmächte entscheidende Vorgaben machten. Entsprechende Fürsorgemaßnahmen für überlebende NS-Opfer standen am Anfang; doch folgte relativ bald die Rückerstattung geraubten Eigentums. Zugleich wurde die individuelle Entschädigung von NS-Opfern vorbereitet. Allerdings entwickelte sich im besetzten und geteilten Deutschland bald eine unterschiedliche Wiedergutmachungspräferenz: Während jüdische NS-Opfer in Westdeutschland in den Mittelpunkt rückten, waren es Kommunisten, die in der SBZ/DDR als Opfer der NS-Diktatur Priorität und Privilegien genossen. Angesichts der Verstaatlichung von Grund und Boden in der DDR unterblieb zudem die Rückerstattung von Eigentum, das während der NS-Zeit geraubt worden war. In der 1965 erlassenen Verordnung einer Ehrenpension für „antifaschistische Kämpfer“ und Verfolgte der Hitler-Diktatur kam erneut die Präferenz für Erstere zum Ausdruck; sie erhielten eine höhere Pension als die NS-Opfer. Rückerstattungsansprüche, etwa von Immobilien und Firmen, zu denen bereits in der Besatzungszeit entsprechende alliierte Gesetze erlassen worden waren, wurden in der Bundesrepublik 1957 durch ein Bundesrückerstattungsgesetz ergänzt. Daneben erhielten rund eine Million NS-Opfer einmalige oder laufende Zahlungen durch das 1953 erlassene Bundesentschädigungsgesetz (BEG), das bis 1965 wiederholt novelliert wurde. Die juristische Rehabilitierung von politisch verfolgten NS-Opfern zog sich indes Jahrzehnte hin, obwohl der Alliierte Kontrollrat bereits im Oktober 1945 bestimmt hatte, dass nationalsozialistische Verurteilungen wegen politischer, rassischer oder religiöser Gründe aufgehoben werden mussten. Es bedurfte eines Generationswechsels unter den Juristen, um die lange Jahre aufrechterhaltene Unterscheidung „zwischen der scheinbaren Normalität einer geregelten Rechtsprechung zwischen 1933 und 1945 und juristischen Exzessen unter NS-Vorzeichen“ (C. Goschler) aufzuheben. Aber auch ein gesellschaftlicher Mentalitäts- und Wertewandel ab Ende der 1960er Jahre war notwendig, um zu Neubewertungen des NS-Regimes zu gelangen. Gleichwohl sollte es noch bis August 1998 dauern, bis der Deutsche Bundestag das NS-Aufhebungsgesetz beschloss, in dem durch eine Generalklausel Urteile der NS-Justiz, darunter des Volksgerichtshofs sowie von Standgerichten, aufgehoben wurden. Schließlich wurden 2002 und 2009 durch zwei Änderungsgesetze nationalsozialistische Verurteilungen aufgrund von Desertion

Vergleichende Überlegungen

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und Homosexualität aufgehoben. Von entscheidender, nicht zuletzt auch symbolischer Bedeutung wurde indes das Wiedergutmachungsabkommen zwischen der Bundesrepublik und der Jewish Claims Conference von 1952. Damit setzte nicht nur der Beginn einer allmählichen Versöhnung zwischen Deutschen und Juden ein, das in London geschlossene Abkommen wurde auch zum Ausgangspunkt für zwölf weitere Globalabkommen mit westeuropäischen Staaten. Erst durch die Friedliche Revolution von 1989/90 in der DDR wurde die getrennte Wiedergutmachungspolitik beider deutscher Staaten wieder zusammengeführt. Mit dem Häftlingshilfegesetz (HHG) von 1955 für Personen, die „aus politischen Gründen in den Gebieten außerhalb der Bundesrepublik Deutschland in Gewahrsam genommen wurden“ sowie der Entschädigung von Opfern der NS-Zeit durch das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) von 1956 standen aus der früheren Bundesrepublik zwei gesetzliche Instrumente zur Verfügung, Ansprüche von Opfern zu entschädigen. Das HHG beruhte allerdings auf dem rechtlichen Grundsatz, dass der Bonner Staat für das in der SBZ/DDR verübte Unrecht nicht haften könne, aber gleichwohl eine Überbrückungs- und Starthilfe gewähre, um ehemaligen Häftlingen bzw. Opfern die Integration zu erleichtern. Im Zuge der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 avancierte die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und die Bestrafung ihrer Täter rasch zu einer der Kernforderungen. Auch wenn die öffentliche Debatte um die Offenlegung der Stasi-Akten ab Frühjahr 1990 längere Zeit im Vordergrund stand, bis die DDR-Oppositionellen das Stasi-Unterlagengesetz (20. Dezember 1991) durchgesetzt hatten, so wurden Forderungen nach justizieller Rehabilitierung sowie Entschädigungen aufgrund von vermögensrechtlichen Verlusten und beruflicher Diskriminierung schon während des Zusammenbruchs des SED-Regimes erhoben. Dabei lassen sich drei Kategorien von Opfern und Geschädigten unterscheiden: Politische Häftlinge, vermögensrechtlich geschädigte und beruflich diskriminierte Personen. Die Betroffenen gingen jeweils in die Hunderttausende, wobei sich die Trennung der Interessenorganisationen von politischen Häftlingen und eigentums- und vermögensrechtlich Geschädigten auch nach 1989 fortsetzte. Die Annahme eines umfassenden Rehabilitierungsgesetzes (RehaG) trat jedoch erst am 6. September 1990 in Kraft. In die Zusatzvereinbarung des Einigungsvertrages vom 31. August 1990 wurde allerdings nur die strafrechtliche, nicht aber die verwaltungsrechtliche und berufliche Rehabilitierung aufgenommen; zudem galten in den neuen Bundesländern nur die Sozialleistungen gemäß HHG. Aufgrund dessen wurde zunehmend die Forderung erhoben, Opfer der SBZ/DDR und ihre Hinterbliebenen mit den rechtsstaatlichen Grundsätzen von NS-Opfern gleichzustellen. Zugleich erreichte die Justizbehörden eine Flut von Anträgen; insgesamt wurden von der Justiz zur Ahndung von DDR-Unrecht nahezu 100 000 Ermittlungsverfahren durchgeführt. Das am symbolträchtigen Datum des 17. Juni 1992 vom Bundestag beschlossene 1. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz (StrRehaG) wurde jedoch wegen komplizierter Verfahrensweisen und zu geringer Leistungen von allen Opferverbänden abgelehnt. Bis Ende Mai 1994 waren gleichwohl rund 140 000

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Anträge auf strafrechtliche Rehabilitierung eingegangen, wovon über 90 Prozent zu einer vollständigen oder zumindest teilweisen Aufhebung des in der DDR ergangenen Urteils gelangten und dadurch zu Zahlungen für Haftentschädigungen und Unterstützungsleistungen nach StrRehaG und HHG führten. Das 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, das am 1. Juli 1994 in Kraft trat, regelte Folgen des Verwaltungsunrechts in der DDR und berufliche Diskriminierungen sowie nach erfolgter Rehabilitierung den Ausgleich von verfolgungsbedingten Nachteilen in der Rentenversicherung, stieß jedoch wegen seines restriktiven Grundcharakters erneut auf starke Kritik. Weitere Verbesserungen wurden jedoch erst im Dezember 1999 erreicht, wodurch die Haftentschädigung für alle politischen Häftlinge während der DDR erhöht und der rentenrechtliche Nachteilsausgleich noch einmal verbessert wurde. Nach wie vor klaffte indes zwischen politischer Rhetorik und tatsächlichen Entschädigungsleistungen aus Sicht der Opfer eine zu große Lücke. Doch kam es erst am 13. Juni 2007 zum 3. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, das eine weitere Erhöhung der Opferrente festlegte und den Empfängerkreis von 16 000 auf 40 000 Personen ausweitete. Ende 2011 erhielten knapp 50 000 ehemalige DDR-Bürger eine monatliche Opferrente von 250 Euro. Mithin dauerte es gut 20 Jahre, bis im wieder vereinten Deutschland Gesetze und Bestimmungen zur Verfügung standen, wonach Opfer des SED-Staats für erlittenes Unrecht einigermaßen angemessen entschädigt wurden. Bis heute bleibt die Diskrepanz zwischen Beziehern von hohen Zusatzrenten für ehemalige Systemträger der DDR und die zu spät eingeführte Opferrente für deren Geschädigte ein politischer und nicht zuletzt moralischer Stein des Anstoßes.

VI. Wiedergutmachung ist kein Schadensersatz, kann es niemals sein. Wer durch eine Diktatur oder ein autoritäres Herrschaftssystem physisch und psychisch geschädigt worden ist, kann dafür nicht umfassend und vollständig entschädigt werden. Oft ein Leben lang von den Repressalien eines diktatorischen Regimes gezeichnet und traumatisiert, ist eine tatsächliche Restitution im eigentlichen Wortsinn nicht mehr möglich. Selbst wenn man nach dem Ende solcher Gewaltsysteme eine enteignete Immobilie wieder komplett zurückerhält, bleiben die Jahre, in denen man etwa ein Haus oder ein Grundstück hätte nutzen können, unwiederbringlich. Gleichwohl sind Wiedergutmachung und Entschädigung für Opfer von ausschlaggebender Bedeutung. Nicht nur, weil dadurch die oft dringend gebrauchte medizinische Versorgung gewährleistet oder die soziale Lage erleichtert werden kann. Noch wichtiger ist die Anerkennung von erlittenem Unrecht und erfahrenem Leid. Es ist vor allem der symbolische Wert, der in Entschädigungen und Wiedergutmachungsleistungen für Betroffene liegt. Ganz besonders kommt das darin zum Ausdruck, dass Opfer und Geschädigte, die zu Unrecht von einem undemokratischen Regime strafrechtlich verurteilt worden

Vergleichende Überlegungen

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sind, zuallererst von diesem „Makel“ befreit werden wollen, obwohl das damals ergangene Urteil meist nicht rechtsstaatlichen Kriterien entsprach. Rehabilitierung kommt für sie vor der Restitution. Doch den Anspruch auf Rehabilitierung, Wiedergutmachung und Entschädigung zu haben ist das Eine; das Andere ist, dies auch anerkannt zu bekommen. Wer die hier en détail beschriebene Entwicklung der Entschädigungspolitik in den einzelnen Ländern liest, gelangt eher zu einem skeptischen, wenn nicht sogar pessimistischen Urteil. Oft ist es ein langwieriger, für die Betroffenen quälend langsamer Prozess; manchmal so lange, dass nicht wenige sterben, bevor sie überhaupt irgendeine Wiedergutmachung erhalten haben. Alle möglichen Hindernisse stellen sich in den Weg: politische, gesellschaftliche, rechtliche, ökonomische, finanzielle, bürokratische, psychologisch-mentale u. a. m. Zudem gibt es nicht selten unterschiedliche Opfergruppen mit jeweils spezifischen Eigeninte­ ressen. Italien ist hierfür ein Beispiel: Der Partisan der Resistenza, der gegen den italienischen Faschismus und die NS-Okkupation gekämpft hat, erhebt zu Recht Anspruch auf Entschädigung für seine Teilnahme am Widerstand. Er hat wenig Interesse daran, ja ist vielleicht sogar dagegen, dass die Ansprüche ehemaliger italienischer Militärinternierter auf Wiedergutmachung, die in Gefangenschaft der NS-Diktatur gerieten und dort Zwangsarbeit verrichten mussten, befriedigt werden. Mehrere solcher Beispiele ließen sich nennen. Politische Konjunkturen, der Wandel gesellschaftlicher Mentalitäten, die personelle Zusammensetzung und der Geist der Justiz können sich jeweils einzeln oder zusammen als förderlich oder hemmend für die Anerkennung als Opfer von Gewaltherrschaft und daraus resultierender Ansprüche erweisen. Ohne den XX. Parteitag der KPdSU 1956 in der Sowjetunion, der die Entstalinisierung einleitete, wäre es nicht zur Anerkennung von Opfern des eigenen staatlichen Systems gekommen. Ohne den Mentalitätswandel der bundesdeutschen Gesellschaft wäre die viel zu späte Anerkennung von Sinti und Roma als Opfer des Nationalsozialismus nicht erfolgt. Ohne den Wandel gesellschaftlicher Normen und des Rechtsdenkens hätte es nicht die ebenfalls viel zu späte Anerkennung von Deserteuren und Homosexuellen als Verfolgte und Opfer des NS-Regimes gegeben. Erschwerend für Geschädigte kommt hinzu, dass sie in der Regel dem Staat auch nachweisen müssen, dass sie anspruchsberechtigt sind. Oft ist das den Betroffenen gar nicht mehr möglich, da sie z. B. während ihres Aufenthalts in verschiedenen Lagern ihre Identitätsnachweise verloren haben. Sie sind dann auf die Kulanz der jeweiligen staatlichen Stellen angewiesen. Bekannt ist z. B. der Fall eines deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion, der seine gesamten Papiere während der Gefangenschaft verloren hatte und sich nur noch durch den Entlausungsschein ausweisen konnte, den er bei seiner Heimkehr nach Deutschland in Frankfurt (Oder) erhalten hatte. Manche individuelle Einzelschicksale sind daher bis heute nicht gelöst, das gilt auch für Eigentumsansprüche. Erst jüngst hat der Fall Gurlitt noch einmal deutlich gemacht, dass der Raub von Kunstwerken und deren Rückgabe an die Nachkommen ehemaliger Besitzer noch immer weiterer Klärung bedarf; entsprechende Restitutionskommissionen sind jüngst gegründet worden.

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Letztlich gibt es kein Patentrezept für Wiedergutmachung. Dass sie rechtlich begründet und angemessen sein muss und zügig erteilt werden sollte, scheint selbstverständlich. Doch das ist zumeist nicht der Fall. Letztlich sind Rehabilitierung und Wiedergutmachung, in welcher Form auch immer, abhängig von der Geschichts- und Erinnerungspolitik eines Staats. Anerkennung können Opfer von Gewaltherrschaft erst dann finden, wenn sie grundsätzlich zu Recht als zu entschädigende Opfer anerkannt werden. Dazu braucht es aber ein (selbst-) kritisches Geschichtsbild und den Willen einer breiten Mehrheit in der Gesellschaft, sich auch zu den „dunklen“ Perioden der eigenen Geschichte zu bekennen. Fundament eines solch (selbst-)kritischen Geschichtsverständnisses kann nur die offene und öffentliche Debatte sein. Ihr Kern besteht in der freien Diskussion, in der die unterschiedlichsten Meinungen ungehindert vorgebracht werden können. Die politischen Strukturen und den normativen Rahmen dafür gibt es jedoch letztlich nur in Demokratien. Das ist allerdings kein Automatismus. Die Fälle Griechenland und Spanien zeigen dies eindeutig. Auch das wiedervereinte Deutschland, das durch die Friedliche Revolution von 1989/90 in der DDR gleichsam noch einmal eine zusätzliche Legitimierung des Wertes der Demokratie als Staatsform und Normative erhielt, weist keineswegs eine Erfolgsgeschichte seiner Wiedergutmachungspolitik auf. Dass es letztlich, wenn auch (zu) spät, zu einer angemessenen und umfassenden Entschädigung der Opfer von zwei Diktaturen gekommen ist, ist auf jahrelange, kontroverse Debatten in einer demokratischen Gesellschaft zurückzuführen, die es gelernt hat, unterschiedliche Standpunkte und Perspektiven als Normalfall zu akzeptieren.

IV. Anhang

Abkürzungsverzeichnis ANED ANEI

Associazione Nazionale Ex Deportati (Italienische Vereinigung ehemaliger Deportierter) Associazionhe Nazionale Ex Internati (Vereinigung ehemaliger Lagerinsassen)

ANFIM

Associazione Nazionale delle Famiglie die Martiri Caduti per la Libertà della Patria (Nationale Vereinigung der Familien der für die Freiheit des Vaterlandes gefallenen Märtyrer/Nationale Vereinigung der Familien der für die Freiheit des Vaterlandes Gefallenen)

ANPI

Associazione Nazionale Partigiani d’Italia (Nationale Vereinigung der Partisanen Italiens) Associazione Nazionale Perseguitati Politici Antifascisti (Nationale Vereinigung politisch verfolgter Antifaschisten) Associazione Nazionale Reduci dalla Prigionia dall’Internamento e dalla Prigionia e Loro Familiari (Italienische Vereinigung der Heimkehrer aus Gefangenschaft, Internierung und aus dem Befreiungskrieg und ihrer Angehörigen) Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica (Vereinigung zum Wiedererlangen des historischen Gedächtnisses) Államvédelmi Hatóság (politische Polizei in Ungarn) Arbeitsgemeinschaft ehemals verfolgter Sozialdemokraten Bloco de Esquerda (Linksblock) Bundesentschädigungsgesetz Berufliches Rehabilitierungsgesetz Bundesgesetzblatt Bund der stalinistisch Verfolgten Bund der Verfolgten des Naziregimes

ANPPIA ANRP

ARMH ÁVH AvS BE BEG BerRehaG BGBl BSV BVN CDS/PP

Centro Democràtico e Social – Partido Popular (Demokratisches und Soziales Zentrum – Volkspartei)

CDU CISR

Christlich Demokratische Union Comissão Interministerial de Saneamento e Reclassificação (Interministerielle Säuberungs- und Neueinstufungskommission) Comitato di Liberazione Nazionale (Nationales Befreiungskomitee) Conselho da Revolucao (Rat der Revolution) Deutsche Demokratische Republik Delegazione per l’Assistenza degli Emigranti Ebrei (Delega­ tion zur Unterstützung jüdischer Emigranten) Drucksache

CLN CR DDR DELASEM Drs

284 EAM EDES EGMR ELAS ELIAMEP EVZ FIAP FIAPP Fidesz FILDIR FIR FIVL FPÖ FSB HHG IMI IPN JL JSN KGB KKE KPD KPÖ KPTsch LC LNNK LP LPRA LZS MFA

Anhang

Ethnikó Apelevtherotikó Métopo (Nationale Befreiungsfront) Ethnikós Dimokratikos Ellinikós Syndesmos (Nationale Republikanische Griechische Liga) Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Ellinikós/Ethnikós Laikós Apelevtherotikós Stratós (Griechische Volksbefreiungsarmee) Hellenic Foundation for European and Foreign Policy Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ Federazione Italiana delle Associazioni Partigiane (Italienischer Bund der Partisanenverbände) Internationaler Bund ehemaliger politischer Gefangener Fiaral Demokraták Szövetsége (Bund der Jungdemokraten) Fédération Internationale Libre des Déportés et Internés de la Résistance (Freier Internationaler Bund der Deportierten und Internierten der Widerstandsbewegung) Internationaler Bund der Kämpfer in der Widerstandsbewegung, der ehemaligen Gefangenen und der Opfer des Faschismus Federazione Italiana Volontari della Libertà (Italienischer Bund der Vorkämpfer für die Freiheit) Freiheitliche Partei Österreichs Federal’naja služba bezopasnosti (Föderaler Sicherheitsdienst der Russischen Föderation) Häftlingshilfegesetz Italienische Militärinternierte Institut des Nationalen Gedenkens Jaunais Laiks (Neue Zeit) Junta de Salvacao Nacional (Nationale Rettungsjunta) Komitet gossudarstwennoi besopasnosti pri Sowjete Ministrow SSSR (Komitee für Staatssicherheit beim Ministerrat der UdSSR) Kommounistikó Kómma Elládas (Kommunistische Partei Griechenland) Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei Österreichs Kommunistische Partei Tschechien Latvijas Ceļš (Lettlands Weg) Latvijas Nacionālas Neatkarības Kustība (Lettische Nationale Unabhängigkeitsbewegung) Legiao Portuguesa (Portugiesische Legion) Latvijas Politiski Represēto Apvienība (Union der Politisch Verfolgten Lettlands) Latviešu Zemnieku Savienība (Bauernunion) Movimento das Forcas Armadas (Bewegung der Streitkräfte)

Abkürzungsverzeichnis

MGB MMA MP MSZP MWD NAM NKWD ODS ÖVP OGPU PASOK PCI PCP PCTVL PDS PEEA PIDE/DGS PP PPD/PSD PS PSOE RehaG RSFSR SBZ SC SED SMAD

285

Ministerstwo Gosudarstwennoi Besopanosti (Ministerium für Staatssicherheit) Magyar Művészeti Akadémia (Akademie der Ungarischen Künste) Mocidade Portuguesa (Portugiesische Jugend) Magyar Szocialista Munkáspárt (Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei) Ministerstwo Wnutrennich Del (Ministerium für innere Angelegenheiten) Nao Apaguem a Memòria („Löscht die Erinnerung nicht aus“) Narodny kommissariat wnutrennich del (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) Občanská demokratická strana (Demokratische Bürgerpartei) Österreichische Volkspartei Objedinjonnoje gossudarstwennoje polititscheskoje uprawlenije (Vereinigte staatliche politische Verwaltung) Panellinio Sosialistiko Kinima (Panhellinische Sozialistische Bewegung) Partito Comunista Italiano (Kommunistische Partei Italien) Partido Comunista Portugues (Kommunistische Partei Portugal) Par cilvēka tiesībām vienotā Latvijā (Für Menschenrechte im Vereinten Lettland) Partei des Demokratischen Sozialismus (Nachfolgepartei der SED) Politiki Epitropi Ethikis Apeleftherosis (Political Committee of National Liberation) Polícia Internacional e de Defesa do Estado/Direção-Geral de Segurança (Internationale Staatsschutz-Polizei/Generaldirektion für Sicherheit?) Partido Popular Partido Popular Democrata/Partido Social Democrate (Demokratische Volkspartei?/Sozialdemokratische Partei Portugal) Partido Socialista (Sozialistische Partei Portugal Partido Socialista Obrero Español (Spanische Sozialistische Arbeiterpartei Rehabilitierungsgesetz Rossijskaja sowetskaja federatiwnaja sozialistitscheskaja respublika (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) Sowjetische Besatzungszone Saskaņas Centrs (Harmonie Zentrum) Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sowjetische Militäradministration

286 SMERSCH SMT SPD SPÖ StrRehaG SZDSZ TP TSDS UCEI UCII UDI UOKG URAP USAP VOS VRP VVN VwRehaG WTSCHK ZRBG ZZS

Anhang

Smert Schpionam („Tod den Spionen“/Militärgeheimdienst der UdSSR) Sowjetisches Militärtribunal Sozialdemokratische Partei Deutschlands Sozialdemokratische Partei Österreichs Strafrechtliches Rehabilitierungsgesetz Szabad Demokraták Szövetsége (Bund Freier Demokraten) Tautas Partija (Volkspartei) Totalitārisma seku dokumentēšanas centrs (Forschungszen­ trum für die Dokumentation der Folgen des Totalitarismus) Union jüdischer Gemeinden in Italien Unione delle Comunità Israelitiche Italiane (Union der italienischen israelitischen Gemeinden) Unione Donne Italiane (Vereinigung italienischer Frauen) Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft Uniao de Resistentes Antifascistas Portuguese (Union des Portugiesischen Antifaschistischen Widerstands) Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei Vereinigung der Opfer des Stalinismus Volksrepublik Polen Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Verwaltungsrechtliches Rehabilitierungsgesetz Wserossijskaja Tschreswytschajnaja Komissija (All-Russische Außerordentliche Kommission) Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto Zaļo un Zemnieku Savienība (Union der Bauern und Grünen)

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Autorenverzeichnis Walther L. Bernecker, Dr. phil., Professor für Auslandswissenschaft an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Constantin Goschler, Dr. phil., Professor für Zeitgeschichte an der Ruhr-Universität Bonn. Günther Heydemann, Dr. phil., Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität Dresden und Professor für Neuere und Zeitgeschichte an der Universität Leipzig. Tytus Jaskułowski, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität Dresden. Stefan Karner, Dr. phil., Direktor des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung und Vorstand des Instituts für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte der Karl-Franzens-Universität Graz. Claudia Matthes, Dr. rer. pol., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin. António Costa Pinto, PhD, Research Professor am Institute of Social Sciences der Universität Lissabon und Professor of Politics and Contemporary European History am ISCTE-IUL, Lissabon. Filipa Raimundo, PhD, Postdoctoral Research Fellow am Institute of ­Social Sciences der Universität Lissabon und Guest Assistant Professor am ­ISCTE-IUL, Lissabon. Heinz A. Richter, Dr. phil., apl. Professor für südeuropäische Zeitgeschichte an der Universität Mannheim. Federico Scarano, Dr. phil., Professore aggregato für Geschichte der Internationalen Beziehungen an der Seconda Università degli Studi di Napoli. Krisztián Ungváry, ungarischer Zeithistoriker, Budapest.

Anhang

Karel Vodička, Dr. jur., ehem. wissenschaftlicher Mitarbeiter des Hannah-­ Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität Dresden. Clemens Vollnhals, Dr. phil., M. A., stellvertretender Direktor am Hannah-­ Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der Technischen Universität Dresden und Lehrbeauftragter für Zeitgeschichte. Elena Zhemkova, Executive Director der Organisation International Memorial, Moskau.