Für eine sinnige Rechtschreibung: Eine Aufforderung zur Besinnung ohne Gesichtsverlust [Reprint 2015 ed.] 9783110939842, 9783484730472

What can be salvaged, how and why? In this book on the Great Spelling Reform Debate raging in Germany at present, Jean-M

249 32 4MB

German Pages 154 [160] Year 1997

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Table of contents :
»Halbzeit«
I. Zu spät?
Vergleichendes zur Orthographie
Lob der wohltemperierten Majuskel
Zu einer vorläufigen Endredaktion
II. Zwischenspiel
Mannheim, im Frühjahr 1996
Paris, im Sommer 1996
III. Zu früh?
Am Ende der Zeile hören Spass und Spaß auf
»Wortgruppe« oder »Zusammensetzung«
Laxe und *relaxe Varianten
Wann wird es dem Satz ans Komma gehen?
Von der recht und sinnig schreibenden Subsidiarität
Vom gleichen Verfasser
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Für eine sinnige Rechtschreibung: Eine Aufforderung zur Besinnung ohne Gesichtsverlust [Reprint 2015 ed.]
 9783110939842, 9783484730472

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Jean-Marie Zemb Für eine sinnige Rechtschreibung

De>r/Cropfi

... Die Struma Die Stroma ist definiert als eine Vergrößerung der Schilddrüse jeder Art, im engeren Sinne als gutartiger, nicht toxischer (d.h. nicht zur Hyperthyreose fühlender) Kröpf. Der Kröpf ist die häufig ste endokrine Erkrankung der Erde. In Endemiegebieten (mehr als ca. 10 % der Bevölkerung sind Kropfträger) war die Struma wegen des häufig gleichzeitigen Kretinismus (Kleinwuchs, Schwachsinnigkeit) ein soziales Problem. Durch eine sorgfältige perinatale Screeninguntersuchung auf Hypothyreose einerseits und durch eine mittlerweile weitläufig durchgeführte Jodsalzprophylaxe andererseits ist die Häufigkeit des Kretinismus deutlich rückläufig. Dasselbe gilt fur die Strumahäufigkeit.

Die Struma maligna Das Schilddrtisenkarzinom ist eine seltene Tumorerkrankung. Jeder zweite Tumor Frauen erkranken zwei- bis dreimal häufiger als Männer - ist aber zum Zeitpunkt der klinischen Diagnose bereits inoperabel. Die praktisch-klinischen Probleme liegen in den Schwierigkeiten der Friiherfassung und der Beurteilung des biologischen Verhaltens. Diese Tumoren können eine sehr unterschiedliche Malignität haben. J e nach histologischem Typus betragen die Überlebenszeiten wenige Wochen oder Monate (anaplastische Verlausformen) oder mehrere Jahrzehnte (gut differenzierte Formen, praktisch keine Einschränkung der Lebensaussichten).

Jean-Marie Zemb

Für eine sinnige Rechtschreibung Eine Aufforderung zur Besinnung ohne Gesichtsverlust

Max Niemeyer Verlag 1997

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufname Zemb, Jean-Marie: Für eine sinnige Rechtschreibung : eine Aufforderung zur Besinnung ohne Gesichtsverlust / Jean-Marie Zemb. - Tübingen : Niemeyer, 1997 ISBN 3-484-73047-1 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co.KG, Tübingen 1997 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Antje Michael Druck: Guide -Druck GmbH, Tübingen Einband: Industriebuchbinderei Hugo Nadele, Nehren

Inhalt

»Halbzeit« I.

Zu spät? Vergleichendes zur Orthographie Lob der wohltemperierten Majuskel Zu einer vorläufigen Endredaktion

II. Zwischenspiel Mannheim, im Frühjahr 1996 Paris, im Sommer 1996

1 5 8 43 52 83 85 99

III. Zu früh? Am Ende der Zeile hören Spass und Spaß auf »Wortgruppe« oder »Zusammensetzung« Laxe und *relaxe Varianten Wann wird es dem Satz ans Komma gehen?

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Von der recht und sinnig schreibenden Subsidiarität

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Vom gleichen Verfasser

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»Halbzeit«

Am 1. Juli 1996 wurde in Wien eine Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung unterschrieben. Am 1. August 1998 sollte sie wirksam werden. Für ihre »Umsetzung« in Amts- und Schulstuben waren sieben Jahre veranschlagt worden. Am 1. August 1998 sollte ein neuer Fahrplan in Kraft treten. Einige »vorauseilende« Bahnhofsvorsteher befanden, daß der festgeschriebene (oder: fest geschriebene?) Fahrplan mitnichten bedeute, daß der Zug nicht schon früher abfahren könne. Fehlstart? Verschiedene Wagen bzw. Wägen des gleichen Zuges fahren seit dem 1. Juli 1996 zu verschiedenen Zeiten, streckenweise auf den gleichen G(e)leisen und mitunter in verschiedenen Richtungen. Den ratlosen Fahrgästen teilt das Verkehrministerium mit, Anzweiflungen kämen immer zu spät und Entgleisungen immer zu früh. Beides seien so wie so bzw. sowieso nur »Aufgeregtheiten« von verschreckten oder verschlafenen Unzuständigen. Daß Polemik unsachlich sei, trifft nicht immer und überall zu, denn sie kann dissuasiv wirken, nicht nur im Tierreich, wo sie offene Kämpfe eher erspart als vorbereitet. Wenn aber eine Partei nicht nur ihre Mannschaft, sondern auch den Schiedsrichter und die Linienrichter stellt, wird auf den Rängen bald mitgepfiffen werden. Wie soll - wie kann - es nun weitergehen bzw. weiter gehen, zumal der schwelende Konflikt zwischen Legalität und Legitimität zur Jahrtausendwende kein ethologisches und kein ethisches »Gebiet« mehr verschont? Nur Machiavellisten können glauben, am 31. Juli 2005 werde der Herausforderer ausgezählt. Und nur Utopisten können darauf 1

vertrauen, daß, wie in der Wissenschaft üblich, am Ende die gute Sache gewinnt. Die Orthographie ist nämlich eine Sache der komplexen Praxis, der Gewöhnung und der Ökonomie, der Umsicht und der Erfahrung, und gerade nicht der simplen Anwendung purer Theorie. Daß etliche Lexikographen mehrere Regeln verschieden ausgelegt haben, hätte eigentlich längst zur Suspension führen sollen. Bekanntlich verlangte kein amtliches Moratorium eine neue Redaktion der amtlichen Regelung. Warum nicht? Das Geständnis, daß es den authentischen neuen Regeln an Eindeutigkeit fehlte, impliziert an und für sich, daß die ganze Sache trotz jahrelanger Arbeit einiger weniger Experten nicht unterschriftsreif war. Der Artikel III der wortkargen Wiener Absichtserklärung spricht von eventuell erforderlichen Anpassungen des Regelwerkes. Vorschläge dazu sammelt dieser kleine Band, der sich aber nicht als neutral, indifferent, erhaben und weise gibt, sondern Stellung bezieht. Je nachdem man die Anwendungsfälle oder die Anwendungstypen zählt, wird man dem Verfasser anrechnen - wahrscheinlicher: vorwerfen - , daß er diese Reform zum größten oder zum kleinsten Teil akzeptiert. Wird die alte oder die neue Trägheit dieser oder jener Schreibweise den Vorzug sichern? Wird das nächste Jahrhundert für die gleiche Bedeutung »festhalten« oder »fest halten« schreiben? Wird das nächste Jahrtausend aus dem Fünftele, »Quentchen«, ein Mengele, »Quäntchen« machen? Kommen mit den lesemüden auch denkfaule Zeiten? Verdrängen bald andere »Aufgeregtheiten« den orthographischen Kulturkampf? Dass solche unbeantwortbare Fragen hier nicht gestellt werden, hat weniger mit Vorsicht als mit Erfahrung zu tun, denn gegen Gewohnheiten, sogar gegen diskutable, läßt sich so leicht nichts angewöhnen, erst recht nicht, wenn es selber diskutabel ist. Ein antiker Aquädukt versorgte die reiche nordafrikanische Hafenstadt Oran mit kühlem, gesundem Bergwasser. Verwüstungen und Erdbeben unterbrachen die spärlich gewordene Wasserzufuhr. Ohne die in dieser geologisch sehr labilen Bucht des westlichen Mittelmeers drohenden, wenn nicht unvermeidlichen Folgelasten zu bedenken, wurde amtlich beschlossen, artesische Brunnen anzulegen. Die Bohrungen ließen ungeheure Mengen Salzwasser in das Grundwasser einfließen. Fortan 2

konnten die Oraner nur noch brackiges, kaum genießbares Grundwasser ziehen, gewöhnten sich aber mit der Zeit an dessen Geschmack. Als endlich nach einigen Generationen das Leitungsnetz der Großstadt an einen modernen, leistungsfähigen Aquädukt angeschlossen werden konnte, mußte zum Kaffee, und nicht nur zum türkischen, nicht etwa, wie in Wien, ein Glas Wasser gereicht werden, sondern die Salzdose. Wie die meisten Fabeln ist auch diese eine wahre Geschichte, und ihre Moral keine naive. Warum sollte der Verfasser verschweigen, daß er weder die alte noch die neue Rechtschreibung für vollkommen hält, für nicht mehr perfektibel? Einstweilen kann jeder aufrichtige Freund und Helfer der deutschen Sprache in Europa nur bedauern, daß es in deutschsprachigen Landen zu binären Glaubenskämpfen und elektoralistischen Parolen gekommen ist. Erschwerend kommt hinzu, daß nach langem und längeren, lautem und lauteren Aneinandervorbeireden jedes Einlenken einem Gesichtsverlust gleichkäme. Neue Besen, neue Besen? Seids gewesen! Hätten nun die Betroffenen und die Interessenten den Ablauf der Galgenfrist bzw. der »Übergangszeit« abwarten sollen, um fundierte Bedenken anzumelden, die eine neue Dresdner Erklärung, vielleicht sogar mit höflichem Bedauern, als »zu spät« abgelehnt hätte? So hofft denn der Verfasser nur auf eine kleine Pause, wenn er ein paar ältere und ein paar neuere Argumente vorbringt, sozusagen zur Halbzeit zwischen dem Juli 96 und dem August 98.

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I. Zu spät?

Zunächst werden hier Auszüge aus diversen Untersuchungen und Überlegungen zur Rechtschreibung versammelt, die zum Teil vor einundzwanzig Jahren veröffentlicht wurden, als es den famosen »internationalen Arbeitskreis« gar noch nicht gab, der im Anschluss an die 1. Wiener Gespräche für »Vereinfachung und Verständlichkeit« der Rechtschreibregeln sorgen sollte. Nach den Wiesbadener Empfehlungen, die mit einer strategisch als radikal verstandenen, aber taktisch als gemäßigt getarnten »kleinschreibung der hauptwörter« das Deutsche modernisieren bzw. internationalisieren wollten, schien die deutsche Majuskel akut bedroht. Sie geriet jedenfalls in den Vordergrund, ja in die Schußlinie. Längst vergessene Schlachten? Irgendwann wird ein Historiker die neueren Reformkonzepte mit den älteren vergleichen und feststellen, dass die jetzige Neuregelung, die u.a. insgesamt mehr Majuskeln vorschreibt, nur eine Minimalreform ist, über die zu streiten es sich wirklich nicht lohnen würde, wenn sie nicht so unverhältnismäßig teuer zu stehen (?) käme. Vergleichen lassen sich Großschreibregeln nicht nur diachronisch, von Jahrhundert zu Jahrhundert, sondern auch synchronisch, von Sprache zu Sprache. Vor einem Vierteljahrhundert nahm der Autor den Auftrag an, in verbriefter eigener Verantwortung das Deutsche mit dem Französischen zu vergleichen. Dass es mit einem Katalog von punktuellen sogenannten Kontrasten nicht getan wäre, war ihm von vornherein klar, da in der deutschen Schultradition immer noch grammatischer »Alamodismus« herrschte: im 17. und im 18. Jahrhundert hatten die französischen Grammatiker an ihrer Sprache Kategorien entwickelt, die in der damaligen politisch korrekten Konzeption als »universal« zu 5

gelten hatten, und demnach auch im Deutschen die Stellung der sogenannten Elementardaten des Satzes, nämlich Subjekt und Verb, zu bestimmen hatten. Aus diesem Grunde kommt noch heute dem Vergleich des Deutschen mit dem Französischen nicht nur eine historische Bedeutung zu. Ob das Werkzeug dem Handwerk dienlich ist, ob die Organe ihre Funktion auch erfüllen können, gehört somit auf die Tagesordnung der aktuellen Fragestunden. Eine adäquate Theorie des Deutschen steht noch aus, und mit ihr die Ausleuchtung der Graphematik. Ein ironischer Rezensent könnte nun meinen, dass der Autor seinen persönlichen Rhythmus für die allein zum Ziel führende Gangart (Methode) hält, und sich nur darüber aufregt, dass eine Kommission diese Arbeit zwar nach ihm aufgenommen, aber vor ihm abgeschlossen hat. Im Ersten Teil dieser zwei Sprachen zweisprachig vergleichenden Grammatik wurden als Elemente eines »Systems« nicht nur die Lexeme (Wörter), Morpheme (Formen) und Taxeme (Stellungen) untersucht, sondern auch die Grapheme (Schriftbilder), die nicht nur als Aufzeichnungen von Phonemen und Prosodemen verstanden wurden. Der Graphematik wurde deshalb eine eigene Abhandlung (S.728-869) gewidmet. Diese Art der Betrachtung war zwar ein Novum, brachte dem Autor aber nur wenig Ungemach, da seine Vorsicht ihn die französischen Phänomene auf deutsch und die deutschen auf französisch hatte beschreiben lassen. Diese Methode der Darstellung sollte einerseits dem Leser die textuelle Entflechtung beider Domänen erleichtern und andererseits sowohl dem Leser als dem Verfasser die verkehrende Parteiischkeit des Spiegelbildlichen möglichst ersparen. Es genügt natürlich nicht, die Sprache zu wechseln, um sich Objektivität zu sichern. Die gewählte Da*rstellungsmethode - der Kontrast zwischen »Objektsprache« und »Metasprache« - hatte offenbar auch den Nachteil des Kryptischen, bedenkt man, daß die jüngsten Diskussionen über ein Aggiornamento der Orthographie etliche gewichtige Argumente vermissen lassen bzw. ignorieren - in der einen oder in der anderen Bedeutung dieses Verbs. Vermutlich forderten deshalb mehrere Kenner den Verfasser auf, diese zugleich nachdenkliche und praxisbezogene Abhandlung nun auf deutsch zu veröffentlichen. Daß er dabei so frei vorgeht, wie er es in der 6

Theorie wie in der Praxis immer schon für angemessen hielt, möge ihm nicht als lapsus calami angelastet werden. Probleme, Hypothesen und Pläne gab es zwar schon damals, aber noch keinen Auftrag, eine Vorlage zu einem zugleich kulturhoheitlichen und internationalen Beschluß zu entwerfen bzw. abschließend zu redigieren. Auch spielten anfallende Kosten kaum eine Rolle. Inzwischen werden Soll und Haben auf neue Weise auf »Struktur« und »Konjunktur« umverteilt. Die ökonomischen Belange werden die neue Recht- und Unrechtschreibung möglicherweise für 30, 60, 90 Jahre einfach festschreiben. Für die Rechtschreibung also eine Rechtsetzung? Oder, laut Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, eine Rechtssetzung? Unter den zwölftausend Wörtern, welche das an das Regelwerk angehängte Verzeichnis bringt, und von denen bei den allermeisten auch der Kauzigste keinen Grund zum Zweifeln findet, etwa >GabelgaffenGarbeGardeGeburtGefiederGefildeGehaltGerichtGeruchGesangGesetzGeselleGipfelgleichenglittGoldgrauGrenzeGrottegutmütigRadioRaketeRapperaschRauschReberenneRenteRostRückenRummelRundfunk< u.v.a.m., steht weder Rechtsetzung noch Rechtssetzung. »Achtung - Minen« ? Oder bringen Varianten Ruhe ins Haus: Rechtsetzung wie Rechtschreibung und Rechtssetzung wie Rechtsschriftl Offensichtlich ist auch das neue Werk noch nicht vollendet. Länger durfte der Verfasser sich jedoch nicht der Pflicht entziehen, das, was er vor einem Vierteljahrhundert über die Schreibung des Deutschen denken zu dürfen meinte, auch auf deutsch auszudrücken und somit auch den deutschsprachigen Lesern vorzulegen. Ceterum censeo: die deutsche Version dieses Textes ist eine zwar zusammenfassende und freie, aber zumindest in einem Sinne authentische Übertragung der ungeraden Seiten des angegebenen Kapitels, da der Übersetzer als Verfasser wissen mußte, warum er etliche Grapheme als relativ eigenständige Semanteme behandeln zu müssen gedacht hatte. Inzwischen erfreuen sich die Satzzeichen in manchen Grammatiken zumindest im Aufbau des Nachschlagewerks einer eingehenderen Behandlung, obgleich ihrer in der Morphosemantik nur selten und am Rande gedacht zu werden scheint. 7

Vergleichendes zur Orthographie Den zünftigen Sprachwissenschaftler wird es vielleicht wundern, dass hier der Graphematik eine eigene Abhandlung gewidmet wird, traktiert doch die Linguistik die Orthographie mit Vorliebe als mißglückte oder fossilisierte Lautschrift, wenn nicht als Mittel der sozialen »Exklusion« und der kulturellen »Repression«, da wer die Regeln der Rechtschreibung verletzt, weil er sie nicht kennt, sich in der Gesellschaft lächerlich macht. Geteilt werden hier aber weder die psycho- und soziolinguistische Konzeption eines Knigge der Rechtschreibung noch die Vorstellung einer liberalen, d.h. ungefähren und daher laufend revisionsbedürftigen eineindeutigen Zuordnung von Phonemen und Graphemen, als würde die Perzeption den kürzeren Weg vom Auge bis zum Hirn zugunsten eines Umwegs über das Ohr aufgeben. Orthographisches sei gewachsen, erfährt man oft, als ob Systematisches nicht auch heranwachse, und zwar durch ein ökonomisches Verwachsen. Es ist deshalb unerlässlich, ins Detail zu gehen: Majuskel, Bindestrich, Komma u.v.a.m. Voreiligen Umregelungen scheint indessen oft der Blick für die Zusammenhänge zwischen solchen Details zu fehlen. Die Folgelasten der Innovationen werden leicht übersehen. Insgesamt scheint es auf etlichen Gebieten leichter, die Regeln der Rechtschreibung zu erlernen, als sie gewinnbringend zu reformieren. Der Wandel der Aussprache allein dürfte nicht ausschlaggebend sein, ist er doch regional verschieden. Wäre der kulturelle Verlust einer radikalen Umgewöhnung des Auges zu verschmerzen, wenn eine Neuregelung keine eigenen Vorteile brächte, insbesondere die Schreibung der sinnstiftenden Prosodeme. Wenn, statt die Beziehung von Syntax und Semantik besser auszudrükken, eine Reform nur einige vorläufige Schwierigkeiten aus dem Schulweg räumen wollte, wäre sie schlecht beraten: nicht nur der Computer müßte verzweifeln, wenn bei jedem französischen /ver/ bzw. /vèr/ zu eruieren wäre, was eigentlich gemeint ist: vert, verts, vers, ver, verre oder verres (>grün< in der Einzahl; >grün< in der Mehrzahl; >nach< oder >Würmer< in der Mehrzahl; >WurmGlasGläsersoll der Gehaltene nicht weglaufen könnensoll der Haltende nicht lockerlassenarm< : >Armband< : >Bandbitte< : >Bittesog< : >SogAr< : >AarDole< : >Dohleist< : >ißtLerche< : >LärcheTriller< : >ThrillermehrMeer Groß Wörtern FleckErdkaninchenFeldkaninchen< verwandelt: lapin de garenne. Den Spott und den Schaden erntete der Minister. Wer kennt ein einmaligeres Wahlversprechen? 13

Regularitäten bleiben dennoch apperzeptionsfreundlicher, vorausgesetzt, das Ganze trage einen Sinn, wie die folgenden vier Zeilen (?) illustrieren, bei denen das Auge es zunehmend leichter hat, die Zeichenkombination aufzunehmen und »im Auge« bzw. im Kurzgedächtnis zu behalten: äaä Hiriobci Dttr dbuo mhDn erese rneesehef rehcer etor resuäH eid nebah froD meseid ni Dino rote Becher darf die Hächer siden häue in diesem Dorf haben die Häuser rote Dächer

Durchaus vergleichbare Erfahrungen sind natürlich mit Zeilen zu machen, die in einer dem Leser unbekannten Fremdsprache etwas bedeuten. Reformer, die sich mit dieser »außenpolitischen« Perspektive der Rechtschreibung nicht beschäftigen wollen, werden leicht kontraproduktiv legiferieren, sei es, daß sie die Schreibung des Deutschen der Schreibung anderer Sprachen »angleichen« wollen, sei es, daß sie »eindeutschend« Leihgut zu Erbgut erklären wollen. In beiden Fällen verkennen sie die Eigenart der deutschen Sprache, die in der friedlichen und produktiven Koexistenz zweier Systeme besteht, deren Bestandteile verschieden ausgesprochen werden und nun plötzlich, amtlich, ... und wohl vergeblich gleich geschrieben bzw. gleichgeschrieben werden soll(t)en. Sobald das Auge nicht mehr für ein Ersatzorgan gehalten wird, für eine bloße Vermittlerin zwischen Gehör und Gehirn, gewinnen auch, sozusagen a posteriori, die Prosodeme an Interesse bzw. an Bedeutung. Auch die mündliche Kommunikation läßt sich nur allmählich entschlüsseln, was mitunter zu voreiligen Interpretationen führt, mitunter auch zu gar nichts, weil einem eben der Faden gerissen ist. Die graphematischen Formen erlauben offenbar - und nicht nur bei Immanuel Kant und Marcel Proust - größere Spannweiten. Diese Langatmigkeit ist indessen ziemlich erstaunlich, da die üblich gewordene Interpunktion vom modellierenden und nuancierenden Prosodem recht wenig behält. Für die Knappheit der »Satzzeichen«, die sich eher als beschwingende Diskretion denn als stockende Bedürftigkeit versteht, plädieren vor allem zwei gewichtige, aber dabei sehr vage Argumente: die vom 14

Kontext mitgelieferte Redundanz und das vom Leser erwartete Mitdenken, das immer schon auch ein Vorausdenken sein solle. Wer möchte bestreiten, dass jeder Text sich an das Gespann eines Blinden und eines Lahmen wendet? Würde sich aber jeder Text vor allem auf seinen Kontext stützen, würde die Hermeneutik sich bald in einen Kreis verlieren, denn jeder Kontext ist zunächst selber ein Text. Der Lahme der Fabel darf doch nicht selber blind sein, und der Blinde - jeder Leser hat den Satz wohl längst zu Ende gedacht - kann in dieser »Methode« nicht auch noch lahm sein. Vielleicht lockert ein anderer Vergleich die Opposition zwischen Sichtbarem und Hörbarem. Die deutsche Tastatur, oben links mit QWER beginnend, ist weder für das Auge noch für das Ohr eingerichtet, sondern für die Hand, und natürlich weitgehend an der Einzelsprache orientiert, wie der Vergleich mit der französischen Folge AZER zeigt. Erfinder von Kurzschriften streben im Hinblick auf die Arbeit der Simultanübersetzung Systeme an, die von Einzelsprachen unabhängig sind. Künftige Programmierer werden wahrscheinlich für Transkriptionen plädieren, die zur maschinellen Aufzeichnung von Gehörtem nur wenig semantische Analyse simulieren müssen. Vermutlich sind die Siebziger Jahre noch nicht reif für eine haltbare nähere Bestimmung von optimalen Verhältnissen. Dem Komparatisten führen die verschiedenen Regeln der Silbentrennung im Detail vor, wie schwer sich Artikulation und Etymologie vereint wahren lassen. Das größte Hindernis auf diesem Weg scheint allerdings nicht die Sache - die Sprache selber zu sein, sondern eine unzutreffende Vorstellung derselben, insbesondere eine so obsolet wie resolut alamodistische Grammatik und eine abwegige Konzeption der systematischen Integration. Ordnet man die Elemente des letzten Satzes des vorigen Abschnittes nach Herkunft und Lautbild, gewinnt man kein falsches Bild vom Verhältnis beider distinkten, aber nicht verschlossenen Subsysteme im Gesamtsystem. Der Schlüssel zur Schatzkammer des Deutschen liegt wohl darin, dass beide Subsysteme die gleiche Anlage teilen: in beiden geht das Bestimmende dem Bestimmten voran. Daß diese Isonomie der Formation die Autonomie der Formanten nicht bedroht, sondern schützt, ist für den Komparatisten nicht unbedingt voraussehbar, hilft ihm aber, das Rätsel der französischen Emp15

findlichkeit für - nein, gegen! - die Neologismen zu lösen. Die übernommenen griechisch-lateinischen Komplexe und die ihnen nachgebildeten >gelehrten< bzw. >künstlichen< Termini sind, wie die deutschen, zentripetal, während die Gesamtanlage des Französischen zentrifugal ist, d.h. das Bestimmte vor seine Bestimmung setzt. Die Einbürgerung von zentripetalen Griippchen in einen zentrifugalen Verein stellt zum Teil ganz andere Fragen als die Einbürgerung von zentripetalen Kompositionen und Derivationen in ein zum Teil eigensinnig entwickeltes, aber prinzipiell zentripetales System. Gleiches erlaubt Differenz. Leider dürfte der aufflackernde Reformeifer die Geduld nicht aufbringen, die mitnichten paradoxe einheitliche »Semantik« der doppelten »Graphematik« zu ergründen. Seit den Stuttgarter (1955) und den Wiesbadener (1959) Empfehlungen droht weniger Trägheit von Konventionen als Voreiligkeit von Gleichschaltungen. Die Gewohnheit ist ein zwiespältiger Bundesgenosse: manchmal hilfreich, manchmal fatal. Wenn ein französischer Reformer etwa vorschlüge, etwas nicht mehr zu schreiben, was zwar gedacht, aber nicht ausgesprochen wird, oder bei einer liaison den Wortanfang zu modifizieren, statt homme einfach (?) *om und statt les hommes einfach (?) *lé-zom zu schreiben, würde er bis über die Landesgrenzen hinaus geradezu ein homerisches Lachen ernten. Aber auch auf diesem Gebiet wäre es mit einem trivialen Zugeständnis an die Gewohnheit nicht getan. Die Lächerlichkeit dieser Vorschläge erübrigt eine Beweisführung für die Annahme, daß dieses *lé-zom, wenn es denn leichter zu schreiben wäre (??), auch leichter zu lesen wäre bzw. werden würde. Nicht nur die Physiologie der Wahrnehmung, sondern die Neurologie des Gedächtnisses gehört wesentlich zur - natürlich »funktional« zu verstehenden - Graphematik. Wie seltsam verwickelt, ja verhext, diese Dinge sind, zeigt sich an der vor dem Aufkommen des Proportionaldrucks verbreiteten Abneigung gegen den an und für sich funktionstüchtigen Flatterdruck. Vor der gleichmachenden Schreibmaschine wurde nämlich längst proportional gedruckt und ... geschrieben. Das komplexe Verhältnis zwischen Sinn und Form, zwischen den phonematisch-prosodematischen und den graphematischen Gestalten einerseits und der kompakten Information der verschlungenen Bedeu16

tungen andererseits - im humanen wie im maschinellen Automat - ist ein Gegenstand nicht nur der angewandten Wissenschaft. So müßten unbedingt die Vielschichtigkeit und die Verschränkung der Probleme beachtet werden, wenn so entscheidende Zeichen wie Großschreibung und Zusammenschreibung neu geregelt werden sollen. Jede Reform preist sich selber gern als »gemäßigt«. Im Zuge ihrer Kampagne machte so die captatio benevolentiae aus einer »radikalen Kleinschreibung« eine »gemäßigte Kleinschreibung« und aus dieser alsdann eine »gemäßigte Großschreibung«, Synonyme, ohne neue Argumente. Daß der Computer wie das Kind ein Diktat ohne Majuskeln leichter schreibt, ist unbestritten. Daß ihn eine solche Abstinenz im umgekehrten Verhältnis am Lesen und Verarbeiten stört, wird nicht sonderlich erwähnt. Desgleichen wird nicht erwähnt, daß dem Anderssprachigen zunächst die Zeit und bald auch die Lust vergehen würde, herauszufinden, ob kleingeschriebene Wortpaare gleicher Archilexeme und ähnlicher Morpheme nun als Verb-Substantiv- oder als Adjektiv-SubstantivSequenz zu verstehen wären, bzw., um es ganz drastisch auszudrücken, waren. Umständliches, indirektes Kalkulieren müßte bei solchem Graphemschwund das direkte Lesen ablösen, allerdings ohne dafür das bedächtigere Wahrnehmen zu begünstigen. Unter dem Strich also ein großer außenpolitischer Verlust, zunächst in Europa. Zu den guten Eigenschaften eines graphematischen Systems gehört nämlich die Wahrung der Transparenz, bis hin zu verschliffenen Herkunftsangaben. Auch hier dürfte jedoch >Augenmaß< gelten. Wenn die Lautung sich zu weit weg- bzw. fortentwickelt, muß die Schreibung nachziehen, denn, obgleich sie sich weder im Deutschen noch im Französischen an elementarer Eineindeutigkeit orientiert - ein Buchstabe für einen Laut und umgekehrt - und, von Sprache zu Sprache verschieden, etliche Schriftzeichen eher als Moleküle fungieren (ng im Deutschen, wie in gelingen, gn im Französischen, wie in ligne, eh in beiden Schriftsprachen, aber verschieden, wie in ich und ach, in chorale und chocolat), ist die Orthographie nicht als unmittelbare Bildlichkeit, sondern als umständlich entwickelte Lautschrift zu verstehen. Dies gilt sogar - paläontologisch - für das französische Schriftzeichen für > Vogel·, das sämtliche Selbstlaute um einen einzigen Mitlaut schart: oiseau. 17

Der kausale Vorrang eines längst verklungenen Lautbildes verführt mitunter naivere Pädagogen dazu, die Erlernung des Schreibens vor diejenige des Lesens zu stellen, als gelte es, phylogenetische Entwicklungen ontogenetisch gerafft durchzuspielen. Auch beim Fremdsprachenerwerb wird manchmal das Lesen sehr lange zurückgestellt: das erste Buch erst nach zwei Semestern! Von besonderen Begabungen abgesehen, dürften solche »Methoden« doch als abwegige Irrungen oder zumindest als verschwenderische Umwege betrachtet werden. Ein erfahrener Schwimmeister empfahl, dem Anfänger die Angst, den Kopf nicht über dem Wasser zu halten, dadurch zu nehmen, daß er ihm beibrachte, wie bequem sich unter Wasser schwimmt. Das läßt sich nun gewiß nicht einfach auf das Erlernen der Grapheme anwenden, aber es könnte gerade an der komplexen und zugleich kompakten Beschaffenheit des Systems liegen, daß seine nachahmende Aneignung nicht zuvorderst die Schrift vom Laut aus neu erfinden, sondern sich an der Schreibung orientieren müßte. Bei einer solchen didaktischen Kosten-Nutzen-Analyse wäre natürlich die einzelsprachliche Beschaffenheit des Laut-Schrift-Verhältnisses zu beachten. Sogar die Verschmelzungen haben nicht den gleichen Stellenwert in beiden Sprachen. Im französischen Wort für den Tag darauf, le lendemain, hört kein Franzose mehr die akzidentelle Verdoppelung des Artikels: le l'in-de-mane. Das komplexe >anhand< bzw. >an Hand< erinnert jeden Deutschen natürlich an die Hand, und es würde nur die Trägheit seiner Gewohnheit - allerdings inklusive der Entwöhnung - , aber nicht nachhaltig seinen Verstand stören, wenn er eines Tages nicht mehr >behende, sondern >behände< zu schreiben hätte, zumal er mit >Handstreich< recht flinke Assoziationen verbindet. In beiden hier miteinander verglichenen Systemen erbringen die Grapheme nicht die gleichen Leistungen. Während das Französische das morpho-syntaktische Gerüst mit Kongruenzen verschraubt, und damit textuelle Informationen bevorzugt, hält sich das Deutsche näher an der lautlichen Beschaffenheit der Elemente, und leidet möglicherweise darunter. Wenigstens könnten aus einer solchen Bestandsaufnahme Schlüsse über empfehlenswertere Meliorationen gewonnen werden. An Kuriositäten fehlt es dabei auch im Französischen nicht: so wird etwa verbreitet in dompteur das -p- ausgesprochen, das es nie gegeben 18

hat (domitor), und das irrigerweise für etymologisch gehalten wird, obwohl es in dieses Wort nur über die Analogie zu compteur (computare) geriet. Solche Anekdoten kennt jeder Philologe. Wieso setzt der Franzose ein ansonsten von ihm gar nicht geschätztes h- vor /uitre/ (> Austen), obgleich er für >Austernzucht< nicht *hostréiculture, sondern ostréiculture schreibt? Früher wurde im lateinischen Alphabet zwischen U und V kein Unterschied gemacht: >VlTRE< sowohl für >uitre< (>Austervitre< (Glasscheibe). Ein vorgeschaltetes H- brachte die Lösung: H VITRE vs. VITRE. Es blieb dann dabei: huître vs. vitre. Solche Einzelschicksale sind jedoch »untypisch«. Wenn die sogenannte Volksetymologie den Gesetzgeber zu Umregelungen beseelen sollte, würden ein paar Büsche die Waldwege verstecken. Insgesamt ist nur sehr behutsam an der deutschen Graphematik zu rütteln. Sonst könnten Organe wegoperiert werden, deren Funktion von Chirurgen aus Mangel an Einsicht bzw. aus Erfahrung - in Notfällen ersetzt diese jene - nicht erkannt worden war. Diese Metapher ist übrigens so unsachlich nicht, denn im Unterschied zum Patienten, der operiert werden soll, darf nicht nur eine engbegrenzte Zone freigelegt werden, wenn etwas geändert werden soll. Der Vergleich mit dem Geschäft des Feldschers bzw. Barbiers unterstellt nicht, daß in jedem Falle die Folgen unabsehbar seien und daß schon deswegen von jeder Reform abzusehen sei. Entscheidend ist allerdings, ob die Tragweite von Entscheidungen erkannt wird. Welche Irregularitäten sollte man gewinnbringend ausmerzen bzw. wie die Osterlämmer ausmärzen dürfen? Nicht nur die Majuskel und das Komma sind als komplexe Grapheme - beide übrigens hinsichtlich ihrer Funktion als Satzzeichen - zu werten. In unseren Sätzen gibt es nicht nur eine Atom- und eine Molekülebene, wie es der spöttische Unterschied zwischen (daß) der-Mann-im-Mond schläft und (daß) der-Mann im-Mond-schläft glauben lassen könnte. Es gibt eine große, offene Menge von Organisationsebenen. Jedenfalls mehr, als Fusionen, Bindestriche, Gedankenstriche und Klammern schnell genug dokumentieren könnten. - Wiederum ein Beispiel für viele:

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weildaseinmalgamichtsodummgewesen ist weil das ein Mal gar nicht so dumm gewesen ist weil das einmal garnicht sodumm-gewesen ist weil das einmal gar nicht so dumm gewesen ist

Dem Hinweis auf die Lächerlichkeit des Ungewohnten gebührt größte Beachtung. Die Orthographie ist nämlich, von der Großschreibung der Substantive einmal abgesehen, kaum modeanfällig. Jede Modifikation irritiert dermaßen die Gemeinschaft, daß sogar wirkliche und schmerzlose Verbesserungen die Mehrheit gegen sich aufbrächte. Ob in solchen Fällen nach einem allmählichen Anschwellen diese Reaktion allmählich wieder nachließe, bleibt ungewiß. Bei »unsinnigen« Neuregelungen bzw. Verschlimmbesserungen dürfte aber die Sturmflut in eine Sintflut übergehen. Wird die Legitimität von Maßnahmen bezweifelt, bricht über kurz oder lang der Damm der Legalität ein. Die entsprechenden Halbzeiten sind indessen noch unbekannt. Wie werden dann die Advokaten der Volksetymologie auf des Volkes Stimme, auf eine Volksabstimmung reagieren? Im Namen des Volkes gegen das Volk? Einstweilen sieht es nicht danach aus, als würde schon morgen ein orthographischer »Kulturkampf« ausbrechen. Bei jedem Kulturkampf bleibt indessen ungewiß, ob er zu früh oder zu spät vom Zaun gebrochen ist. Satire zeugt bekanntlich nicht unbedingt von Humor. Eine in CInform (dieser bizarre Titel widerspricht allerdings der verulkenden These des Blattes) erschienene Lachnummer zeigt dennoch sehr »anschaulich«, wie wenig der Gewohnheitsesel zwischen gesunden und vergifteten Karotten zu unterscheiden vermag, was nicht bedeutet, daß die erwähnten fünf Schritte bzw. Sprünge einem Graphembuch eine willkommene und sachdienliche Kapiteleinteilung brächten: »uberflusiges ausgemerst« (Was Reformer planen): Erster Schritt: Wegfall der Großschreibung einer sofortigen einführung steht nichts im weg, zumal schon viele grafiker und werbeleute zur kleinschreibung übergegangen sind. zweiter schritt: Wegfall der dehnungen und schätfungen dise masname eliminirt schon die gröste felerursache in der grundschule, den sin oder unsin unserer konsonantenverdoplung hat onehin nimand kapirt. driter schrit: ν und ph ersetzt durch f , ζ durch s, sch durch s

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das alfabet wird um swei buchstaben redusiert, sreibmasinen und sesmasinen fereinfachen sich, wertfole arbeitskräfte könen der wirtsaft sugefiirt werden. firter sriL· q, c und ch ersest durch k, j und y durch i, ph durch f iest sind son seles bukstaben ausgesaltertn di sulseit kan sofert von neun auf sweu iare ferkiirst werden, anstat aksig prosent rektsreibunbterikt könen nüslikerefäker wifisik, kemi, reknen mer gepflegt werden. fünfter srit· wegfal fon ä, ö und ü seiken ales uberflusige ist iest ausgemerst, di ortografi wider slikt und einfak. naturlik benotigt es einige seit, bis diese fereinfakung uberai riktig ferdaut ist, fileikt sasungsweise ein bis swei iare, anslisetid durfte als nakstes sil di vereinfakung der nok swirigeren und unsinigeren gramatik anfisiert werden.

Wer dieses Quentchen Galgenwitz auch ausgeklügelt haben möge und dabei sogar darauf verzichtet hat, tz und pf als »verdoplung« vom verschollenen ζ und vom überlebenden /auszuweisen, eine rechtschaffende Kommission sollte ihn zum Beirat ernennen. Vielleicht gäbe er wegen regionaler »ferwurselung« keinen unparteiischen Schiedsrichter ab, aber als »kurasirter« Linienrichter wären er und seinesgleichen unverzichtbar. Ist aber nicht zu befürchten, daß Berufene ihn wie die Pest meiden werden? Sich aber dafür der Cholera verschreiben, auch wenn, weil schließlich Cholesterin und Cholesterol längst volksendemisch sind, auf die Impfung durch ein Initial-Zi- verzichtet wird? Bekanntlich ist dieses Rezept inzwischen zu einem abenteuerlichen Roman ausgewälzt worden, der vielleicht mehr beweist, als ein gewisser (?) Zé do Rock mit ihm beweisen wollte oder sollte, nämlich »vom winde verfeelt« (Ed. Dia, Berlin, 1995). Ja, das Alphabet! Wetten, daß dieses Wort auf der alphabetischen Liste der meisten kommenden Änderungswünsche als erstes stehen wird, obgleich es in der progressiven Läuterung erst dem >driten srit< zum Opfer fällt! Vielleicht wird man die Analphabeten ausnehmen, und dem >Alfabet< nur vorläufig, etwa bis zur mittleren Reife, die Zulassung aushändigen? Daß vielen Reformern das Alphabet, wenn die Sorge um rechtes Schreiben und richtiges Lesen diese Katachrese erlaubt, »ein Dorn im Auge« ist, hat neben vielen bewußten und bekannten Gründen vielleicht auch den ganz unbewußten und wenig reflektierten Grund, daß es in der ganzen Graphematik keine größere Kontingenz gibt. 21

Warum AB CD... statt etwa QWER..., AEIOUBCDFG..oder, mnemotechn i s c h , Β RÄHDMÖGFESTIW ALNOPÜK?

Gibt es auf der Welt eine Domäne, wo so weitreichende Rationalität mit einer so elementaren Irrationalität zurechtkommt bzw., in irgendeiner künftigen Vorlage, >zu (wessen?) Recht kommt