Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Eine Flugschrift 9783899654219


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Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Eine Flugschrift
 9783899654219

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mark fisher kapitalistischer realismus ohne alternative?

Mark Fisher (1968-2017) war Schriftsteller, Blogger und Dozent für Musikkultur, Medien und Kommunikation an der University of East London. Er publizierte u.a. in frieze, The Guardian, Sight& Sound, Film Quarterly und The Wire.

Mark Fisher

Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? Eine Flugschrift Mit einem Nachwort zur deutschen Ausgabe Aus dem Englischen von Christian Werthschulte, Peter Scheiffele und Johannes Springer

VSA: Verlag Hamburg

www.vsa-verlag.de

© VSA: Verlag 2013, St. Georgs Kirchhof 6, 20099 Hamburg Unveränderter Nachdruck 2020 Alle Rechte vorbehalten © 2009 Mark Fisher | Die englische Originalausgabe erschien bei Zero Books, einem Imprint von John Hunt Publishing Ltd., The Bothy, Deershot Lodge, Park Lane, Ropley, Hants, SO24 OBE, UK © Nachwort 2013 Mark Fisher Titelfoto: dpa Druck- und Buchbindearbeiten: CPI books GmbH Leck ISBN 978-3-89965-421-9

Inhalt

1. Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus ................................................... 7 2. Stell dir vor, es gibt eine Demo und jeder geht hin! .............. 20 3. Der Kapitalismus und das Reale ............................................. 24 4. Reflexive Ohnmacht, Immobilisierung und liberaler Kommunismus ................................................... 30 5. »Du darfst dich niemals an etwas hängen« – 6. Oktober 1979 ........................................................................ 41 6. Alles Stehende und Ständische verdampft und wird zu PR: Marktstalinismus und bürokratische Anti-Produktion .............................................. 49 7. Kapitalistischer Realismus als Traumarbeit und Gedächtnisstörung ............................................................. 65 8. »Es gibt keine Zentralstelle« .................................................... 74 9. Die marxistische Supernanny ................................................... 84 Nachwort zur deutschen Ausgabe: Unerledigt im Kapitalistischen Realismus .................................. 96 Literatur ....................................................................................... 113

1. Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus In einer Schlüsselszene von Alfonso Cuaróns Film Children of Men (2006) besucht der von Clive Owen gespielte Charakter Theo einen Freund in der Battersea Power Station,1 die in naher Zukunft eine Kombination von Regierungsgebäude und privater Kunstsammlung sein wird. Kulturschätze wie Michelangelos David, Picassos Guernica und das aufblasbare Schwein von Pink Floyd werden in diesem Gebäude, das selbst schon ein renoviertes, denkmalgeschütztes Kunstwerk ist, aufbewahrt. Uns Zuschauern bietet sich in dieser Szene ein einmaliger Einblick in das Leben der Elite von Children of Men, die sich hier verschanzt hat, um den Folgen einer Katastrophe zu entgehen, die eine Massensterilität verursacht hat: Seit über einer Generation sind keine Kinder mehr geboren worden. Theo stellt eine Frage: »In hundert Jahren wird kein Schwein mehr da sein, um sich das hier anzusehen. Wieso machst du weiter?« Zukünftige Generationen stellen nicht länger ein Alibi für das Anhäufen von Kunst dar, weil es keine zukünftigen Generationen mehr geben wird. Sein Gegenüber gibt ihm eine süffisante Antwort voll nihilistischem Hedonismus: »Weißt du, wieso, Theo? Weil ich einfach nicht darüber nachdenke.« Children of Men zeigt uns eine für den Spätkapitalismus spezifische Dystopie. Sie bedient sich nicht des bereits bekannten totalitaristischen Szenarios, das in dystopischen Filmen für gewöhnlich entfaltet wird (z.B. in James McTeigues V wie Vendetta aus dem Jahr 2005). In P.D. James’ Buch, auf dem der Film basiert, ist die Demokratie abgeschafft worden und das Land wird von einem selbst ernannten »Wächter« regiert. Klugerweise vernachlässigt der Film diesen Aspekt, weshalb die Situation auf uns Zuschauer so wirkt, als Die »Battersea Power Station« ist ein ehemaliges Kohlekraftwerk am südlichen Themseufer in London. Es ist denkmalgeschützt und ist u.a. auf dem Cover von Pink Floyds Album »Animals« abgebildet. Das Kraftwerk wurde 1983 vom Netz genommen, seitdem wird es nicht mehr genutzt. Mehrere Entwürfe, die Battersea Power Station als Wohn- oder Ausstellungsraum zu nutzen, sind bis heute nicht verwirklicht. (Anm.d.Ü.) 1

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wären die omnipräsenten autoritären Maßnahmen innerhalb einer politischen Struktur eingeführt worden, die zumindest nominell demokratisch geblieben ist. Der »Krieg gegen den Terror« hat uns auf eine solche Entwicklung vorbereitet: Die Normalisierung einer Krise produziert eine Situation, in der es unvorstellbar geworden ist, dass Notfallmaßnahmen wieder aufgehoben werden könnten. Wann sollte das auch sein – wenn der Krieg vorbei ist? Wenn man Children of Men sieht, erinnert man sich zwangsläufig an einen Fredric Jameson und Slavoj Žižek zugeschriebenen Satz: »Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus.« Dieser Slogan fasst treffend zusammen, was ich unter »kapitalistischem Realismus« verstehe: das weitverbreitete Gefühl, dass der Kapitalismus nicht nur das einzig gültige politische und ökonomische System darstellt, sondern dass es mittlerweile fast unmöglich geworden ist, sich eine kohärente Alternative dazu überhaupt vorzustellen. Früher waren dystopische Filme und Romane eine Art Fingerübung in diesem Vorstellungsvermögen. Die Katastrophen, die sie ausgemalt haben, waren ein erzählerischer Prätext für die Herausbildung einer anderen Form des Zusammenlebens. Nicht so Children of Men. Der Film entwirft eine Welt, die eher wie eine Zuspitzung oder Verschlimmerung von unserer wirkt als wie eine Alternative zu dieser. In beiden, der Welt des Films ebenso wie in unserer, sind ein Ultra-Autoritarismus und das Kapital keinesfalls inkompatibel: Café-Ketten existieren parallel zu Gefangenenlagern. In Children of Men ist der öffentliche Raum aufgegeben worden und wurde liegen gebliebenem Müll und herumstreunenden Tieren überlassen. Eine besonders erinnerungswürdige Szene spielt in einer verlassenen Schule, durch die ein Reh läuft. Anhänger des Neoliberalismus, die kapitalistischen Realisten par excellence, haben die Zerstörung öffentlicher Räume immer gefeiert. Aber im Gegensatz zu ihren offiziell geäußerten Wünschen ist der Staat in Children of Men nicht einfach verschwunden, sondern wurde lediglich auf seine Grundfunktionen aus Militär und Polizei zurechtgestutzt. (Ich bezeichne diese Wünsche als »offiziell geäußert«, weil der Neoliberalismus hinterrücks auf den Staat zurückgegriffen hat, 8

während er ihn ideologisch missbilligte. Dies wurde auf spektakuläre Art und Weise während der Bankenkrise 2008 klar, als der Staat auf Einladung neoliberaler Ideologen herbeieilte, um das Bankensystem zu stützen.) Die Katastrophe in Children of Men erwartet uns nicht in der Zukunft, noch liegt sie bereits hinter uns. Stattdessen durchlebt man sie einfach. Es gibt keinen exakten Augenblick des Desasters, die Welt endet nicht mit einem Knall, sondern döst vor sich hin, franst aus, und fällt Stück für Stück auseinander. Niemand weiß, was die Katastrophe verursacht hat. Ihre Ursachen liegen weit in der Vergangenheit, sie sind so vollkommen von der Gegenwart entkoppelt, dass sie wie die Launen eines bösartigen Wesens wirken: ein negatives Wunder, ein Fluch, den keine Buße lindern kann. Eine solche Zerstörung kann nur durch ein Eingreifen gelindert werden, das man ebenso wenig vorhersehen kann, wie der Beginn der Katastrophe zu prognostizieren war. Es ist sinnlos geworden zu handeln, nur unsinnige Hoffnung ergibt noch Sinn. Aberglaube und Religion, die liebsten Zufluchtsorte der Hilflosen, befinden sich in voller Blüte. Aber was ist mit der Katastrophe selber? Es ist klar, dass das Motiv der Sterilität metaphorisch verstanden werden muss, als Verschiebung hin zu einer anderen Form von Ängsten. Diese sollten als kulturelle Ängste verstanden werden: Der Film stellt die Frage, wie lange eine Kultur ohne etwas Neues überleben kann. Was passiert, wenn die Jugend nicht mehr in der Lage ist, Überraschendes zu produzieren? Children of Men legt nahe, dass das Ende bereits gekommen ist, dass es durchaus der Fall sein könnte, dass die Zukunft nur mehr Wiederholungen und um sich selbst kreisende Permutationen bieten wird. Könnte es wirklich möglich sein, dass es keine Brüche mit dem Alten, keine »Schocks des Neuen« mehr geben wird? Solche Ängste resultieren in einer bipolaren Schwingung: Die »schwache messianische« Hoffnung, dass es immer etwas Neues geben wird, schlägt in die missmutige Überzeugung um, dass niemals etwas Neues geschehen wird. Der Fokus verschiebt sich vom »Next Big Thing« zum letzten großen Ding und der Frage, wie viel Zeit seitdem vergangen ist und wie groß es denn in der Rückschau eigentlich war. 9

Im Hintergrund von Children of Men zeichnen sich die Ideen von T.S. Eliot ab. Nicht umsonst hat der Film das Sterilitäts-Motiv aus Das wüste Land entlehnt. »Shantih, Shantih, Shantih« – der Epigraf, der den Film beendet – hat mehr mit Eliots Fragmenten gemeinsam als mit dem Frieden der Upanishaden. Vielleicht werden dabei die Sorgen eines anderen Eliots sichtbar – des Eliots, der »Tradition and the Individual Talent« (1919) geschrieben hat, das in Children of Men verschlüsselt nachwirkt. Schon vor Harold Bloom hat Eliot in diesem Essay die gegenseitige Abhängigkeit zwischen dem Kanonischen und dem Neuen beschrieben. Das Neue definiert sich in Abgrenzung zum bereits Etablierten, gleichzeitig muss sich das bereits Etablierte als Reaktion auf das Neue rekonfigurieren. Eliots Argumentation war, dass wir keine Vergangenheit mehr besitzen werden, wenn die Zukunft erschöpft ist. Die Tradition ist bedeutungslos, wenn sie nicht länger herausgefordert und modifiziert wird. Eine Kultur, die nur erhalten wird, ist keine Kultur. Das Schicksal von Picassos Guernica im Film ist dafür ein gutes Beispiel. Einst war es ein Aufschrei aus Kummer und Wut über faschistische Verbrechen, jetzt ist es Wanddekoration. Wie die Battersea Power Station, wo es im Film hängt, wird dem Bild nur ein ikonischer Status zugesprochen, wenn es von jeglichem Kontext oder von jeglicher Funktion befreit ist. Kein Kunstwerk kann seine Kraft erhalten, wenn es nicht immer wieder mit neuen Augen betrachtet wird. Wir brauchen nicht auf die nahe Zukunft aus Children of Men zu warten, um die Transformation unserer Kultur in Museumsstücke zu beobachten. Die Macht des »kapitalistischen Realismus« leitet sich teilweise von der Art und Weise ab, wie der Kapitalismus alle vorhergehende Geschichte subsumiert und konsumiert. Das ist einer der Effekte seines »Äquivalenzsystems«, das allen kulturellen Objekten, egal ob es sich um religiöse Ikonen, Pornografie oder einer Ausgabe von Das Kapital handelt, einen monetären Wert zuweist. Wenn man durch das British Museum wandert und sieht, wie dort Gegenstände aus ihren Lebenswelten gerissen und gehortet werden, so als wären sie an Bord eines »Predator«-Raumschiffs, bekommt man ein sehr mächtiges Bild davon, wie dieser Prozess funktioniert. Mit der Umwandlung von Praktiken und Ri10

tualen in rein ästhetische Objekte werden die Weltanschauungen vergangener Kulturen objektiv ironisiert und in Artefakte transformiert. Kapitalistischer Realismus ist daher nicht nur ein bestimmter Typ Realismus, er ähnelt eher einem Realismus an sich. Marx und Engels selbst haben das schon im Manifest der Kommunistischen Partei angemerkt: »[Das Kapital] hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.« (Marx/Engels 1972: 464f.) Der Kapitalismus bleibt übrig, wenn die Rituale oder elaborierten Symbolwelten aller anderen Glaubenssysteme kollabiert sind und nur noch der Zuschauer-Konsument durch die Ruinen und Relikte wandert. Aber dieser Wandel vom Glauben zur Ästhetik, vom Engagement zur Zuschauerschaft, wird im Allgemeinen als einer der Vorzüge des kapitalistischen Realismus beschrieben. Dadurch, dass er von sich behauptet, dass er – wie es Alain Badiou ausdrückt – »uns von den ›tödlichen Abstraktionen‹, die durch die ›Ideologien der Vergangenheit‹ inspiriert sind, erlöst habe« (Badiou/Cox/Whalen 2001), präsentiert sich der kapitalistische Realismus als ein Schild, der uns vor den Gefahren schützt, die bereits dem Glauben an sich innewohnen. Eine ironisch-distanzierte Haltung, die typisch für den postmodernen Kapitalismus ist, soll uns gegen die Verführungen des Fanatismus immunisieren. Unsere Erwartungen herunterzuschrauben, so erzählt man uns, sei ein kleiner Preis dafür, dass wir vor Terror und Totalitarismus sicher sind. »Wir leben in einem Widerspruch«, meint Badiou: »ein brutaler Stand der Dinge, im höchsten Maße ungleich – in dem jegliche Form von Existenz nur auf der Basis von Geld bewertet wird – wird uns als ein Ideal präsentiert. Um ihren eigenen Konservatismus zu rechtfertigen, können die Partisanen 11

der etablierten Ordnung diesen Zustand nicht wirklich als ›ideal‹ oder ›wunderbar‹ beschreiben. Stattdessen haben sie beschlossen, einfach alle anderen Zustände ›schrecklich‹ zu nennen. Sicherlich leben wir nicht unter den Bedingungen des vollkommen Guten, so sagen sie. Aber wir müssten glücklich sein, dass wir nicht unter den Bedingungen des Bösen leben. Unsere Demokratie ist nicht perfekt. Aber sie ist besser als die blutigen Diktaturen. Der Kapitalismus mag ungerecht sein. Aber er ist nicht kriminell wie der Stalinismus. Wir lassen Millionen Afrikaner an AIDS sterben, aber wir geben wenigstens keine nationalistischen Deklarationen von uns, wie es Milošević tut. Wir töten Irakis per Flugzeug, aber wir schlitzen niemandem mit einer Machete die Kehle auf, wie es in Ruanda der Fall war.« (ebd.) Der »Realismus«, der hier beschrieben wird, funktioniert analog zu der gedämpften Perspektive eines Depressiven, der glaubt, dass jeder positive Zustand und jegliche Hoffnung gefährliche Illusionen sind. In ihrer Darstellung, die zweifelsohne die beeindruckendste seit der von Marx ist, beschreiben Gilles Deleuze und Felix Guattari den Kapitalismus als eine dunkle Potenzialität, die alle vorangegangenen sozialen Systeme heimgesucht hat. Das Kapital, so ihre Argumentation, ist »die Sache, der Namenlose«,2 eine Abscheulichkeit, die primitive und feudale Gesellschaften schon heraufkommen sahen, aber daran »gehindert wurde einzutreten« (Deleuze/Guattari 1977: 195). Als er dann endlich eintritt, bringt der Kapitalismus eine enorme Entweihung der Kultur mit sich. Er ist ein System, das nicht länger durch ein transzendentes Gesetz geregelt wird. Im Gegenteil, er zerstört all diese Regeln, nur um sie auf einer ad-hoc-Basis wieder einzusetzen. Die Grenzen des Kapitalismus sind nicht per Anordnung fixiert, sondern werden pragmatisch und improvisatorisch definiert (und redefiniert). So erinnert der Kapitalismus ein wenig an das »Ding« aus dem gleichnamigen Film von John Carpenter: eine monströse, unendlich formbare Entität, die fähig ist, alles zu absorbieren und zu verdauen, mit dem »Der Namenlose« bezieht sich auf Samuel Becketts Roman Der Namenlose von 1953. (Anm.d.Ü.) 2

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sie in Kontakt kommt. Das Kapital, so Deleuze und Guattari, ist ein »kunterbuntes Gemälde« (ebd.: 45) von allem, was jemals war; ein merkwürdiger Hybrid aus dem Ultra-Modernen und dem Archaischen. Seitdem Deleuze und Guattari die beiden Bände von Kapitalismus und Schizophrenie geschrieben haben, scheinen sich die deterritorialisierenden Impulse des Kapitalismus auf den Finanzsektor beschränkt zu haben, wohingegen die Kultur von den Kräften der Reterritorialisierung beherrscht wird. Diese Malaise, das Gefühl, dass es nichts Neues gibt, ist selbst nicht neu. Wir befinden uns am notorischen »Ende der Geschichte«, das Francis Fukuyama nach dem Fall der Berliner Mauer verkündet hat. Fukuyamas These, dass die Geschichte mit dem liberalen Kapitalismus auf ihrem Höhepunkt angelangt sei (Fukuyama 1992), mag auf breiter Front verspottet worden sein, aber auf der Ebene des kulturell Unbewussten ist sie weitestgehend akzeptiert und sogar übernommen worden. Man sollte nicht vergessen, dass Fukuyamas Idee, dass die Geschichte einen »finalen Strand« (J.G. Ballard) erreicht hat, nicht nur triumphalistisch war. Fukuyama warnte, dass seine »strahlende Stadt«3 heimgesucht werden würde, aber er hatte dabei den Geist Nietzsches und nicht den von Marx im Sinn. In einigen von Nietzsches hellsichtigsten Passagen beschreibt er die »Übersättigung einer Zeit in Historie«: »[D]urch dieses Uebermaass geräth eine Zeit in die gefährliche Stimmung der Ironie über sich selbst«, schrieb Nietzsche in Unzeitgemäße Betrachtungen, »und aus ihr in die noch gefährlichere des Cynismus« (Nietzsche 1988: 279), in der »kosmopolitische Anfühlerei« (ebd.: 410), eine distanzierte Zuschauerhaltung, das Engagement und das Involviertsein ersetzen. Dies sind die Existenzbedingungen von Nietzsches »letztem Menschen«, der alles schon gesehen hat, aber von jenem Exzess der (Selbst-)Wahrnehmung dekadent geschwächt ist. Fukuyamas Position verhält sich in gewisser Weise spiegelbildlich zu Fredric Jamesons These, wonach der Postmodernismus die »kulturelle Logik des Spätkapitalismus« (Jameson 1986) darstellt. Eine Anspielung auf »La Ville radieuse« des französischen Architekten Le Corbusier. In diesem Essay entwirft er die Vision einer Gesellschaft, in der der Staat für die Verwaltung der Ökonomie nicht länger notwendig ist. (Anm.d.Ü.) 3

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Jameson verstand das Scheitern von Zukunftsentwürfen als konstitutiv für eine postmoderne Kultur, die – wie er fast schon prophetisch bemerkte – durch Pastiche4 und Revivals dominiert werden würde. Wenn man sich vor Augen führt, dass Jameson überzeugende Argumente für den Zusammenhang zwischen postmoderner Kultur und gewissen Tendenzen im konsumentengetriebenen Kapitalismus (bzw. Postfordismus) nennt, könnte man fast auf die Idee kommen, dass das Konzept des kapitalistischen Realismus überflüssig sein könnte. In gewisser Weise stimmt das sogar. Was ich als »kapitalistischer Realismus« bezeichne, kann man durchaus als ein Teil dessen beschreiben, was Jameson »Postmodernismus« nennt. Aber trotz Jamesons heroischer Begriffsarbeit bleibt der Begriff des »Postmodernismus« umkämpft, seine Bedeutung ist fluktuierend, vielschichtig und insofern zwar sachgerecht, aber nicht sonderlich hilfreich. Wichtiger als dies scheint mir aber zu sein, dass sich einige der von Jameson beschriebenen und analysierten Prozesse heute verschärft haben und dermaßen chronisch geworden sind, dass sie sich dadurch verändert haben. Letztlich gibt es drei Gründe, warum ich den Begriff »kapitalistischer Realismus« dem des »Postmodernismus« vorziehe. Als Jameson seine These in den 1980er Jahren zum ersten Mal vorstellte, existierten politische Systeme und Ideen, die zumindest dem Namen nach noch Alternativen zum Kapitalismus darstellten. Heute haben wir es aber mit einem tieferen, weitaus umfassenderen Gefühl der Erschöpfung, der politischen und kulturellen Sterilität zu tun. In den 1980er Jahren existierte der »realexistierende Sozialismus« noch, wenngleich er sich bereits in den letzten Zügen befand. In Großbritannien traten die Bruchlinien des Klassenantagonismus durch ein Ereignis wie den Bergarbeiterstreik in den Jahren 1984-85 offen zutage. Die Niederlage der Bergarbeiter war ein entscheidender Moment in der Entwicklung des kapitalistischen Realismus und zwar ebenso was ihre symbolische Dimension als auch was ihre praktischen Auswirkungen betrifft. Die Schließung der Als »Pastiche« bezeichnet man die Imitation eines Stils, ohne diesen in irgendeiner Form zu modifizieren (Anm.d.Ü.) 4

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Gruben wurde damit begründet, dass es nicht »ökonomisch realistisch« sei, diese weiter zu betreiben. So wurden die Bergarbeiter zu den Darstellern einer proletarischen Romanze auserkoren, die dem Untergang geweiht war. Die 1980er Jahre waren die Zeit, in der für den kapitalistischen Realismus gekämpft wurde. Er etablierte sich, als Margaret Thatchers Doktrin »Es gibt keine Alternative« – prägnanter kann man den kapitalistischen Realismus nicht auf den Punkt bringen – zu einer brutalen, sich selbst erfüllenden Prophezeiung wurde. Zweitens steht der Begriff des »Postmodernismus« in einem Bezug zum Modernismus. Jameson beginnt seine Arbeiten über den Postmodernismus mit einer Untersuchung der Idee, die u.a. auch von Theodor W. Adorno geteilt wird: Schon alleine wegen seiner formalen Innovationen besitzt der Modernismus ein revolutionäres Potenzial. Aber was passierte, war, dass modernistische Motive in die Populärkultur integriert wurden. So tauchten plötzlich surrealistische Techniken in der Werbung auf. Zur gleichen Zeit, als bestimmte Formen des Modernismus absorbiert und kommodifiziert wurden, wurde das Credo des Modernismus – sein angeblicher Glaube an einen Elitarismus, sein monologisches, von oben kommendes Modell von Kultur – scharf kritisiert und im Namen von »Differenz«, »Diversität« und »Vielfalt« verworfen. Der kapitalistische Realismus inszeniert diese Konfrontation mit dem Modernismus nicht länger. Im Gegenteil, er nimmt das Verschwinden des Modernismus als gegeben hin: Der Modernismus wird zu etwas, was periodisch wiederkehren kann – aber nur als fossilierter, rein ästhetischer Stil, niemals als Ideal der Lebensführung. Zum dritten gibt es eine Generation, die den Fall der Berliner Mauer nicht mehr miterlebt hat. In den 1960er und 1970er Jahren musste sich der Kapitalismus dem Problem stellen, wie man Energien von außerhalb einfangen und absorbieren konnte. Mittlerweile steht er vor dem gegenteiligen Problem: Nachdem er alle Externalitäten erfolgreich absorbiert hat, stellt sich die Frage: Wie soll er ohne ein Außen, das er kolonisieren und sich aneignen kann, weiter funktionieren? Für die meisten Menschen in Europa und Nordamerika, die jünger als 20 Jahre sind, ist der Mangel an Alternativen zum Kapitalismus nicht länger ein Thema. Der Kapitalismus be15

stimmt nahtlos den Horizont des Denkbaren. Jameson hat in diversen Horrorszenarien beschrieben, wie der Kapitalismus in unser Unbewusstes eindringt. Heute wird die Tatsache, dass er die Träume der Bevölkerung kolonisiert hat, als so selbstverständlich angesehen, dass dies kaum noch eines weiteren Kommentars wert ist. Es wäre gefährlich und irreführend, sich vorzustellen, dass die Vergangenheit quasi ein Zustand vor dem Sündenfall und damit voller politischer Potenziale gewesen ist. Von daher sollte man sich den Stellenwert der Kommodifizierung in der Produktion von Kultur im 20. Jahrhundert in Erinnerung rufen. Aber der alte Konflikt zwischen Zweckentfremdung (détournement) und Vereinnahmung (récupération)5, zwischen Subversion und Inkorporierung, scheint sich erledigt zu haben. Heute haben wir es weniger mit der Inkorporierung, der Einverleibung von Dingen, die angeblich mal subversiv gewesen sind, zu tun, als vielmehr mit ihrer Präinkorporierung: dem präventiven Formatieren und Gestalten von Begehren, Ansprüchen und Hoffnungen durch eine kapitalistische Kultur. Man muss sich nur die Etablierung von gesetzten »alternativen« oder »unabhängigen« kulturellen Zonen anschauen, in denen unaufhörlich alte Gesten der Rebellion oder der Kontroverse so durchgespielt werden, als würde dies zum ersten Mal geschehen. Begriffe wie »alternativ« und »unabhängig« bezeichnen nichts, was außerhalb eines Mainstreams passiert. De facto sind sie die dominanten Stile innerhalb des Mainstreams. Niemand verkörperte diesen totalen Stillstand stärker als Kurt Cobain und Nirvana. In seiner hundsmiserablen Trägheit und ziellosen Wut verlieh Cobain der Mutlosigkeit einer Generation eine ermattete Stimme, die nach der Geschichte gekommen ist und von der jede Bewegung antizipiert, registriert, ge- und verkauft wird, bevor sie überhaupt stattgefunden hat. Cobain wusste, dass er nur ein weiterer Teil des Spektakels ist, dass nichts besser auf MTV funktioniert als ein Protest gegen MTV, Als détournement bezeichnet man eine künstlerische Praxis, bei der ein Kunstwerk ein Original in einer Weise variiert, die der Intention oder Aussage des Originals entgegensteht. Dies geschieht in der Regel zu politischen Zwecken, z.B. in »Spoof Ads«, bei denen die Logos und Werbeplakate bekannter Marken verfremdet werden. (Anm.d.Ü.) 5

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dass jede seiner Bewegungen ein im Voraus festgelegtes Klischee ist und dass selbst das Bewusst-Werden dieses Zusammenhangs ein weiteres Klischee darstellt. Der Cobain paralysierende Stillstand ist genau derselbe, den Jameson beschreibt: Wie die postmoderne Kultur im Allgemeinen fand sich Cobain in einer »Welt, in der stilistische Innovation nicht mehr möglich ist« wieder, »in der man nichts mehr tun kann als alte Stile zu imitieren, durch die Masken und mit den Stimmen der Stile in einem imaginären Museum zu sprechen« (Jameson 1998: 7). Hier bedeutet sogar der Erfolg, dass man gescheitert ist, weil er nichts anderes darstellt als neues Futter, mit dem sich das System ernährt. Aber die starke existenzielle Angst von Nirvana und Cobain gehören zu einer älteren Zeit; auf sie folgte ein Pastiche-Rock, der zwar die musikalischen Formen der Vergangenheit reproduzierte, aber nicht ihre innere Unruhe. Cobains Tod bestätigte nur die Niederlage und die Einverleibung der utopischen und prometheischen Ambitionen von Rock. Als er starb, stand Rock bereits im Schatten von HipHop, dessen globaler Erfolg genau die oben schon erwähnte Präinkorporation durch das Kapital vorwegnahm. Für einen Großteil der HipHopKünstler war jegliche »naive« Hoffnung, dass eine Jugendkultur irgendeine Änderung herbeiführen könnte, schon durch die nüchterne Umarmung einer brutalen, reduktionistischen Version von »Realität« ersetzt worden. »Im HipHop«, schrieb Simon Reynolds 1996 in einem Essay für The Wire, »hat ›real‹ zwei Bedeutungen. Zuerst steht es für authentische, kompromisslose Musik, die sich dem Ausverkauf an die Musikindustrie und einer Abmilderung ihrer Botschaft verweigert. ›Real‹ bedeutet aber auch, dass die Musik eine Realität reflektiert, die sich durch die spätkapitalistische, ökonomische Instabilität, institutionellen Rassismus, verstärkte Überwachung und Schikanierung von Jugendlichen durch die Polizei konstituiert. ›Real‹ bedeutet aber auch einen Tod des Sozialen: es bedeutet, dass Firmen auf steigende Gewinne nicht mit höheren Löhnen oder verbesserten Sozialleistungen reagieren, sondern mit Stellenabbau (dem Entlassen der Kernbelegschaft um einen flottierenden Pool von in Teilzeit oder ›frei‹ beschäftigten Ar17

beitern ohne Sozialleistungen oder Jobsicherheit hervorzubringen)« (Reynolds 1996). Letztlich war es so, dass HipHop gerade durch die Performance der ersten Version von »real« – das »Kompromisslose« – nahtlos in die zweite Version, die »Realität« des ökonomisch instabilen Spätkapitalismus, eingepasst werden konnte. Hier hat sich seine Authentizität als hochgradig vermarktbar erwiesen. Gangster-Rap reflektiert also nicht einfach nur bereits vorher existierende soziale Bedingungen, wie viele seiner Fürsprecher meinen, noch verursacht es diese Bedingungen, wie seine Kritiker argumentieren. Stattdessen ist es eher so, dass der Kreislauf, durch den HipHop und das soziale Feld im Spätkapitalismus einander verstärken, eines der Mittel ist, mit denen sich der kapitalistische Realismus in eine Art anti-mythischer Mythos verwandelt. Die Affinität zwischen HipHop und Gangsterfilmen wie Scarface, Der Pate, Reservoir Dogs, Goodfellas und Pulp Fiction begründet sich in der gemeinsamen Behauptung, dass sie die Welt von sentimentalen Illusionen befreit haben und zeigen, »wie sie wirklich ist«: ein Hobbes’scher Krieg aller gegen alle, ein System immerwährender Ausbeutung und allgemeiner Kriminalität. Im HipHop, schreibt Reynolds, »bedeutet ›get real‹, einem Naturzustand ins Auge zu sehen, in dem die Maxime ›Fressen oder Gefressen werden‹ gilt, wo man entweder ein Gewinner oder ein Verlierer ist und in der die meisten zu den Verlierern gehören.« (ebd.) Die gleiche »Neo-Noir«-Weltsicht findet man in den Comics von Frank Miller und den Romanen von James Ellroy, in denen eine Art Machismo der Entmythologisierung vorherrscht. Beide Autoren posieren als unnachgiebige Beobachter, die sich weigern, die Welt schöner zu reden, damit sie in die angeblich simplen ethischen Binaritäten des Superhelden-Comic und des traditionellen Krimis passt. Ihr »Realismus« wird durch ihre Fixierung auf das offensichtlich Korrupte eher unterstrichen anstatt untergraben – selbst wenn das übertriebene Insistieren auf Grausamkeiten, Verrat und Brutalität bei beiden Autoren schnell wie eine Pantomime wirkt. »In seiner Pechschwärze«, schreibt Mike Davis 1992 über Ellroy, »gibt es kein Licht mehr, das Schatten werfen könnte und das Böse wird zu einer forensischen Banalität. Das Ergebnis entspricht doch 18

sehr der wirklichen moralischen Struktur der Reagan-Bush-Ära: einer Übersättigung mit Korruption, die keine Empörung oder auch nur Interesse mehr weckt.« (Davis 2006: 66) Aber diese Desensibilisierung besitzt im kapitalistischen Realismus eine Funktion: Davis vermutete, dass der »L.A.-Noir in der Postmoderne (…) die Entstehung des homo reaganus« (ebd.) geradezu unterstützt haben könnte.

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2. Stell dir vor, es gibt eine Demo und jeder geht hin! Im Fall von Gangster Rap und den Romanen von James Ellroy nimmt der kapitalistische Realismus die Form einer Überidentifikation mit dem Kapital in seiner erbarmungslosesten und räuberischsten Form an – aber das muss nicht immer so sein. Der kapitalistische Realismus muss einen bestimmten Antikapitalismus nicht im Vorhinein ausschließen. Schließlich ist – worauf Žižek provokanterweise hingewiesen hat – innerhalb des Kapitalismus ein gewisser Antikapitalismus durchaus verbreitet. In Hollywood-Filmen kommt es immer wieder vor, dass der Schurke in Gestalt einer »bösen Firma« auftritt. Aber dieser gestische Antikapitalismus bestärkt den kapitalistischen Realismus eher, als dass er ihn unterminiert. Wall-E von Disney/Pixar ist dafür ein gutes Beispiel. Der Film zeigt eine Erde, die so ausgeplündert ist, dass Menschen nicht mehr länger auf ihr leben können. Uns Zuschauern wird schnell deutlich gemacht, dass der Konsumentenkapitalismus in Gestalt der »großen Firma« Buy’n’Large für diese Verwüstung verantwortlich ist. In ihrem außerirdischem Exil werden die Menschen als infantil und übergewichtig dargestellt. Sie lassen sich in großen, motorisierten Sesseln herumfahren und schlürfen ein niemals zur Neige gehendes Beruhigungsmittel aus Plastikbechern. Wir werden in dem Film mit einer Vision von Kontrolle und Kommunikation konfrontiert, die direkt aus den Schriften von Jean Baudrillard stammen könnte, in der Unterwerfung nicht mehr länger die Form der Unterordnung unter ein extrinsisches Spektakel annimmt, sondern uns auffordert, zu partizipieren und zu interagieren. Es scheint, als wären die Kinozuschauer selbst der Gegenstand dieser Satire. Das hat einige politisch rechts stehende Kritiker dazu veranlasst, sich angewidert von dem Film abzuwenden und Disney/Pixar zu beschuldigen, ihr eigenes Publikum anzugreifen. Aber diese Art von Ironie unterfüttert den kapitalistischen Realismus eher, als das sie ihn angreift. Ein Film wie Wall-E ist exemplarisch für das, was Robert Pfaller (2000) »Interpassivität« genannt hat: Der Film performt den Antikapitalismus für uns und gestattet uns, ungestraft weiter zu konsumieren. Die Rolle kapitalistischer Ideologie ist nicht, 20

dass sie wie Propaganda explizit eine Richtung vorgibt, sondern dass sie verbirgt, dass die Wirkungsweise des Kapitals nicht von einem subjektiv angenommenen Glauben abhängt. Es ist unmöglich, sich Stalinismus oder Faschismus ohne Propaganda vorzustellen – aber der Kapitalismus kann sehr gut, sogar weitaus besser, einfach immer weitermachen, ohne dass jemand für ihn Partei ergreift. An dieser Stelle bleibt Žižeks Rat unbezahlbar. »Wenn im herkömmlichen Konzept der Ideologie die Illusion im Wissen beherbergt ist«, so sein Argument, »dann muss unsere heutige Gesellschaft postideologisch erscheinen: Die vorherrschende Ideologie ist der Zynismus; die Menschen glauben nicht länger an eine ideologische Wahrheit, sie nehmen ideologische Thesen nicht länger ernst. Die fundamentale Ebene der Ideologie ist jedoch nicht die der Illusion, die einen wahren Zustand der Welt vor uns verbirgt, sondern die einer unbewussten Fantasie, die unsere soziale Realität selbst strukturiert. Und auf dieser Ebene sind wir selbstverständlich weit davon entfernt, eine postideologische Gesellschaft zu sein. Zynische Distanz ist nur eine Art (…), uns gegenüber der strukturellen Macht einer ideologischen Fantasie blind zu machen: Selbst wenn wir die Dinge nicht ernst nehmen, selbst wenn wir eine ironische Distanz einnehmen, tun wir diese Dinge immer noch.« (Žižek 1989: 33) Die kapitalistische Ideologie besteht Žižek zufolge genau darin, dass wir den Glauben – im Sinne unserer eigenen subjektiven Einstellungen – überbewerten und zwar auf Kosten der Glaubenssätze, die wir nach außen tragen und in unserem Verhalten externalisieren. Solange wir nur (in unserem Herzen) daran glauben, dass der Kapitalismus schlecht ist, haben wir die Freiheit, am kapitalistischen Tausch weiterhin teilzunehmen. Nach Žižek ist der Kapitalismus auf diese Struktur der Verleugnung generell angewiesen – wir sind in der Lage, Geld in unseren Handlungen zu fetischisieren, weil wir in unserem Kopf bereits eine ironische Distanz dazu entwickelt haben. Der Konzern-Antikapitalismus wäre nicht weiter von Bedeutung, wenn man ihn von einer authentischen antikapitalistischen Bewegung unterscheiden könnte. Aber: Selbst bevor ihre Wucht durch die Anschläge des 11. September auf das World Trade Center 21

abgewürgt wurde, wirkte die globalisierungskritische, anti-kapitalistische Bewegung so, als hätte sie sich bereits in einem zu großen Maße dem kapitalistischen Realismus ergeben. Weil sie unfähig war, ein kohärentes, alternatives polit-ökonomisches Modell auszuarbeiten, kam der Verdacht auf, dass ihr eigentliches Ziel nicht die Abschaffung des Kapitalismus sei, sondern nur die Bekämpfung seiner schlimmsten Exzesse. Und weil ihre Aktivitäten eher die Form des Organisierens von Demonstrationen als die Form der politischen Organisation annahm, verfestigte sich der Eindruck, dass die wesentliche Aufgabe der globalisierungskritischen und antikapitalistischen Bewegung darin bestehen würde, eine Reihe von hysterischen Forderungen zu stellen, deren Einlösung sie selbst nicht erwartete. Proteste jeder Art haben eine Art karnevalistisches Hintergrundgeräusch zum kapitalistischen Realismus gebildet und die antikapitalistischen Proteste haben eher zu viel als zu wenig mit durchkommerzialisierten Ereignissen wie den weltweiten Live 8Konzerten von 2005 gemeinsam, die die hoffnungslos übertriebene Forderung aufstellten, Politiker sollten die Armut per Dekret verschwinden lassen. Live 8 war eine merkwürdige Form des Protests; ein Protest, mit dem jeder einverstanden sein konnte: Wer bitte findet denn Armut wirklich gut? Live 8 war aber keinesfalls lediglich eine »verminderte« Form des Protests. Im Gegenteil, durch Live 8 wurde seine Logik in ihrer ungefiltertsten Form enthüllt. In den 1960er Jahren postulierte der Protest einen böswilligen Vater, den Vorboten eines Realitätsprinzips, das (angeblich) grausam sei und willkürlich das »Recht« auf totalen Genuss einschränke. Dieser Vater hat unbegrenzten Zugriff auf Ressourcen, die er aber selbstsüchtig – und ohne Sinn und Verstand – hortet. Aber es ist nicht der Kapitalismus, sondern der Protest dagegen, der von dieser Vaterfigur abhängig ist. Einer der Erfolge der momentan herrschenden Elite ist, dass es ihr gelungen ist, die Identifikation mit dem hortenden Vater zu vermeiden, obwohl die »Realität«, die sie der Jugend aufbürdet, substanziell härter ist als die Verhältnisse, gegen die sie selbst in den 1960er Jahren protestierte. Und selbstverständlich war es diese globale Elite selbst – in Form von Entertainern wie Richard Curtis oder Bono –, die Live 8 organisiert hat. 22

Um eine richtige politische Agenda zu haben, müssen wir zuerst akzeptieren, dass wir auf der Ebene des Begehrens in die erbarmungslose Tretmühle des Kapitals eingebunden sind. Was in der Erniedrigung des Bösen und der Ignoranz gegenüber den phantasmatischen »anderen« verleugnet wird, ist unsere eigene Komplizenschaft in den weltweiten Netzwerken der Unterdrückung. Wir sollten im Hinterkopf behalten, dass der Kapitalismus sowohl eine hyperabstrakte, unpersönliche Struktur ist als auch auf unsere Kooperation angewiesen ist. Die barbarischste Beschreibung des Kapitalismus ist auch seine präziseste. Das Kapital ist ein abstrakter Parasit, ein unersättlicher Vampir, der Zombies hervorbringt. Aber das Fleisch, das es in tote Arbeit verwandelt, ist unseres und die Zombies, die es produziert, sind wir. In einem gewissen Sinne ist die politische Elite tatsächlich unsere Diener; aber ihre miserable Dienstleistung besteht darin, uns von unserer Libido reinzuwaschen und vollkommen gehorsam unsere verleugneten Verlangen für uns darzustellen, so als ob diese nichts mit uns zu tun hätten. Diese ideologische Erpressung existiert bereits seit den Original Live Aid-Konzerten 1985. Diese insistierten darauf, dass »mitfühlende Individuen« eine Hungersnot unmittelbar beenden könnten, ohne dass eine politische Lösung oder eine systematische Neuorganisation der globalen Wirtschaft nötig wäre. Es war geboten, sofort zu handeln, so die Botschaft. Die Politik sollte im Namen einer ethischen Unmittelbarkeit suspendiert werden. Bonos Marke »Product Red« wollte sogar den philanthropischen Mittelsmann abschaffen. »Philanthropie ist wie Hippiemusik, so Händchen halten«, verkündete Bono. »Red ist eher wie Punkrock oder HipHop, es soll sich wie harter Kommerz anfühlen.« (Weber 2006) Der Punkt war eben nicht, eine Alternative zum Kapitalismus anzubieten – im Gegenteil: Was »Product Red« zu »Punkrock« oder »HipHop« machte, war die Akzeptanz des Kapitalismus als dem einzig wahren Spiel. Ziel war lediglich die Garantie, dass die Erlöse bestimmter Transaktionen einem guten Zweck zugutekamen. An dieser Stelle wird die Fantasie sichtbar, dass der westliche Konsumismus nicht notwendigerweise systemische, globale Ungleichheit impliziere, sondern sie verringern könne. Alles, was wir tun müssen, ist die richtigen Produkte kaufen. 23

3. Der Kapitalismus und das Reale Der Begriff »kapitalistischer Realismus« ist nicht meine eigene Wortschöpfung. Schon in den 1960er Jahren wurde er von einer Gruppe deutscher Pop Art-Künstler verwendet, und 1984 benutzte ihn Michael Schudson in seinem Buch Advertising. The Uneasy Persuasion. Beide wollten damit parodistisch auf den Sozialistischen Realismus anspielen. Ich verwende den Begriff jedoch in einer weiter reichenden, sogar entgrenzten Bedeutung. In meinem Verständnis kann man mit dem Begriff »kapitalistischer Realismus« nicht die quasi-propagandistische Art und Weise beschreiben, in der z.B. Werbung funktioniert. Kapitalistischer Realismus ist eher eine Art alles durchdringender Atmosphäre, die nicht nur die Produktion von Kultur bestimmt, sondern auch die Regulation von Arbeit und Bildung. Er wirkt eher wie eine unsichtbare Barriere, die unser Denken und Handeln einschränkt. Wenn aber der kapitalistische Realismus wie aus einem Guss wirkt, und wenn momentane Formen des Widerstands so hoffnungs- und kraftlos sind, von welcher Position kann er dann effektiv infrage gestellt werden? Den Kapitalismus moralisch zu kritisieren, zu betonen, auf wie vielen verschiedenen Wegen er zum allgemeinen Leid beiträgt, bestärkt den kapitalistischen Realismus nur. Armut, Hungersnöte und Krieg können so als unvermeidbarer Teil der Realität präsentiert werden, während die Hoffnung, dass diese Leiden jemals aus der Welt geschafft werden könnten, leicht als naiver Utopismus dargestellt werden kann. Der kapitalistische Realismus ist nur dann bedroht, wenn man aufzeigen kann, dass er auf irgendeine Art inkonsistent oder haltlos ist – falls sein augenscheinlicher Realismus eben keiner ist. Es ist überflüssig zu betonen, dass das, was im Sozialen Feld als »realistisch« – also zu einem bestimmten Zeitpunkt als »möglich« betrachtet wird – durch eine Reihe politischer Festsetzungen definiert wird. Eine ideologische Position kann niemals wirklich erfolgreich sein, bis sie naturalisiert ist, und sie kann niemals naturalisiert sein, wenn man sie als Werturteil anstatt als Tatsache begreift. Dementsprechend ist im Neoliberalismus auch versucht worden, 24

»Wert« als ethische Kategorie zu eliminieren. In den letzten 30 Jahren wurde so erfolgreich eine »Ontologie des Unternehmens« installiert. In dieser ist es schlicht offensichtlich, dass alle Bereiche der Gesellschaft inklusive der Gesundheitsvorsorge und des Bildungssystems wie ein Unternehmen geführt werden sollten. Wie eine Reihe von radikalen Theoretikern, angefangen von Bertolt Brecht über Michel Foucault bis hin zu Alain Badiou, betont hat, muss eine emanzipatorische Politik immer den Anschein einer »natürlichen Ordnung« zerstören und das als notwendig und unausweichlich dargestellte als reine Kontingenz aufdecken. Ebenso muss sie das als erreichbar sichtbar machen, was zuvor als unmöglich erschien. Man sollte sich vor Augen führen, dass das im Moment realistisch erscheinende selbst einmal für »unmöglich« gehalten wurde: Die zahlreichen seit den 1980er Jahren durchgeführten Privatisierungen wären ein Jahrzehnt zuvor undenkbar gewesen; und die gegenwärtige polit-ökonomische Situation, in der Gewerkschaften den Kampf vorübergehend eingestellt haben und Energieversorgung und Eisenbahn privatisiert sind, wäre 1975 kaum vorstellbar gewesen. Und umgekehrt wird das, was einst als möglich erschien, heute als unrealistisch betrachtet. »Alle Tage sieht man«, schreibt Alain Badiou mit bitterem Unterton, »daß ›Modernisierung‹ der Name einer strikten und servilen Definition des Möglichen ist. Die ›Reformen‹ gehen unweigerlich dahin, unmöglich zu machen, was (für die große Zahl) bis dahin praktikabel war, und lukrativ, was es (für die herrschende Oligarchie) bis dahin nicht war.« (Badiou 2008: 55) An diesem Punkt erscheint es mir sinnvoll, eine weitere grundlegende theoretische Unterscheidung aus der Lacan’schen Psychoanalyse einzuführen, die durch Slavoj Žižek eine zeitgenössische Bedeutung erlangt hat: die Unterscheidung zwischen der Realität und dem »Realen«. Wie Alenka Zupančič erläutert, sollten wir sehr misstrauisch sein, wenn sich uns eine bestimmte Realität als »natürlich« präsentiert, da schon die Psychoanalyse von einem Realitätsprinzip spricht. »Das Realitätsprinzip«, so Zupančič, »ist nicht auf natürliche Art und Weise damit verbunden, wie die Dinge nunmal sind. (…) Das Realitätsprinzip ist selbst schon 25

ideologisch vermittelt. Man könnte sogar behaupten, dass es die höchste Form der Ideologie ist, eine Ideologie, die sich selbst als empirische Tatsache oder als (biologische, ökonomische… ) Notwendigkeit präsentiert, bei der wir dazu tendieren, sie als nicht-ideologisch wahrzunehmen. Genau an dieser Stelle sollten wir am wachsamsten gegenüber der Funktionsweise von Ideologie sein.« (Zupančič 2003: 77) Für Lacan muss jegliche Realität das Reale unterdrücken und durch genau dieses Unterdrücken konstituiert sie sich erst. Das Reale ist ein nicht repräsentierbares X, eine traumatische Leere, die nur in den Brüchen und Inkonsistenzen der offenkundigen Realität entdeckt werden kann. Dementsprechend sollte eine Strategie gegen den kapitalistischen Realismus sein, dass man die Formen des Realen anruft, die der Realität, die der Kapitalismus uns gegenüber präsentiert, zugrunde liegen. Die Umweltkatastrophe ist eine solche Form des Realen. Sicher, in gewisser Hinsicht könnte es so aussehen, als ob grüne Thematiken weit davon entfernt sind, eine nicht repräsentierbare Leere für den Kapitalismus darzustellen. Der Klimawandel und das drohende Ende von natürlichen Ressourcen werden nicht verschwiegen, sondern sind fester Bestandteil von Werbung und Marketing. Dieser Umgang mit der Umweltkatastrophe illustriert bestens die Fantasiestruktur, von der der kapitalistische Realismus abhängig ist: die Idee, dass Ressourcen unendlich sind und die Erde selbst nur eine Hülle ist, die das Kapital an einem bestimmten Zeitpunkt wie eine benutzte Haut einfach abstreifen kann. Letztlich zeigt uns Wall-E eine Variante dieser Fantasie – die Idee, dass eine unendliche Ausdehnung des Kapitals möglich ist, dass sich das Kapital ohne Arbeit ausbreiten kann. Auf dem Raumschiff Axiom wird alle Arbeit von Robotern erledigt. Das Verbrennen der Ressourcen der Erde ist nur ein zeitweiliger Unfall und nach einer angemessenen Erholungsphase kann das Kapital den Planeten terraformieren und erneut kolonisieren. Die Umweltkatastrophe kommt in der spätkapitalistischen Kultur nur als ein Simulakrum vor, ihre realen Implikationen sind zu traumatisch, um vom System assimiliert zu werden. Die Bedeutung der ökologischen Kritik gründet sich im Folgendem: Sie legt nahe, dass der Kapitalismus – weit entfernt 26

davon, das einzig realisierbare polit-ökonomische System zu sein – in der Lage ist, die gesamte menschliche Umwelt zu zerstören. Die Beziehung zwischen Kapitalismus und ökologischer Katastrophe ist weder zufällig noch das Produkt eines Unfalls: Das Bedürfnis des Kapitals nach einer »konstanten Ausdehnung des Marktes«, sein »Wachstumsfetisch«, bedeutet, dass seine Prinzipien unvereinbar mit jeglichem Begriff von Nachhaltigkeit sind. Aber grüne Thematiken sind bereits ein umkämpftes Feld, ein Schauplatz politischer Kämpfe. Im Weiteren möchte ich zwei Aporien des kapitalistischen Realismus vorstellen, die noch nicht im gleichen Maße politisiert sind: Die erste ist die psychische Gesundheit. Sie ist paradigmatisch für die Funktionsweise des kapitalistischen Realismus. Dieser besteht darauf, psychische Gesundheit so zu behandeln als wäre sie eine Tatsache wie das Wetter (andererseits ist das Wetter auch nicht länger ein natürlicher Fakt, sondern ein polit-ökonomischer Effekt). In den 1960er und 1970er Jahren trafen in der Auseinandersetzung mit extremen Geisteszuständen wie Schizophrenie radikale Theorie und Politik aufeinander (R.D. Laing, Michel Foucault, Gilles Deleuze, Felix Guattari etc.). Argumentiert wurde, dass z.B. der Wahnsinn keine natürliche, sondern eine politische Kategorie ist. Heute wäre es aber notwendig, viel gewöhnlichere und alltäglichere psychische Störungen zu politisieren – gerade weil sie so alltäglich und gewöhnlich sind. In seinem Buch The Selfish Capitalist (2008) hat Oliver James festgestellt, dass der Anstieg psychischer Krankheiten mit dem Siegeszug der neoliberalen Ausgestaltung des Kapitalismus in Ländern wie den USA, Großbritannien und Australien korreliert. Daran anschließend denke ich, dass es notwendig ist, die wachsende Problematik von Stress (und Verzweiflung) in kapitalistischen Gesellschaften neu zu begreifen. Anstatt diese so zu behandeln, als sei das einzelne Individuum dafür verantwortlich, sich selbst um seine psychologische Notlage zu kümmern, anstatt also die weitreichende Privatisierung von Stress, die in den letzten 30 Jahren stattgefunden hat, zu akzeptieren, müssen wir eine andere Frage stellen: Wie konnte es zur Normalität werden, dass so viele Menschen, und insbesondere so viele junge Menschen, als psychisch krank ange27

sehen werden? Die »Pest der psychischen Krankheiten« in kapitalistischen Gesellschaften weist darauf hin, dass der Kapitalismus eben nicht die einzige funktionierende Gesellschaftsordnung ist, sondern dass er inhärent dysfunktional ist und die Kosten für die Illusion seiner Funktionsfähigkeit sehr hoch sind. Das andere Phänomen, das ich genauer betrachten möchte, ist das der Bürokratie. Um den Sozialismus zu delegitimieren, haben neoliberale Ideologen häufig kein gutes Haar an seiner Top-DownBürokratie gelassen. Diese habe in der Planwirtschaft zu institutionellem Stillstand und Ineffizienz geführt. Mit dem Triumph des Neoliberalismus hätte die Bürokratie eigentlich überflüssig werden sollen – ein Relikt aus einer unbeweinten, stalinistischen Vergangenheit. Aber dies widerspricht der Erfahrung der meisten im Neoliberalismus lebenden und arbeitenden Menschen, für die Bürokratie sehr wohl ein Teil ihres Alltags ist. Anstatt zu verschwinden, hat die Bürokratie ihre Form geändert, und diese neue, dezentralisierte Form hat ihr Wuchern ermöglicht. Die Hartnäckigkeit von Bürokratie im Spätkapitalismus bedeutet nicht, dass der Kapitalismus nicht funktioniert, sondern nur, dass er anders funktioniert, als es uns vom kapitalistischen Realismus präsentiert wird. Ich habe mich teils dafür entschieden, über psychische Probleme und Bürokratie zu schreiben, weil diese mit einem Feld zu tun haben, das besonders stark durch die Imperative des kapitalistischen Realismus dominiert wird: das Bildungswesen. Während eines Großteils des letzten Jahrzehnts arbeitete ich als Lehrkraft in einer Fachoberschule, in den nächsten Abschnitten werde ich mich ausgiebig auf meine Erfahrungen aus dieser Zeit beziehen. In Großbritannien wurden Fachoberschulen lange Zeit von Schülern aus der Arbeiterklasse besucht, weil diese eine Alternative zu den stärker formalisierten öffentlichen Bildungsinstitutionen darstellte. Seit den frühen 1990er Jahren werden die Fachoberschulen nicht mehr durch die lokalen Schulbehörden kontrolliert. Infolgedessen waren sie verstärkt dem Druck des Marktes und den von der Regierung festgelegten Zielvorgaben ausgesetzt. Sie waren die Avantgarde von Veränderungen, die schließlich innerhalb des restlichen Erziehungssystems und des öffentlichen Diensts durchge28

führt wurden – quasi eine Art neoliberales Laboratorium für das gesamte Bildungswesen. Insofern sind die Fachoberschulen der perfekte Ort, um mit einer Analyse der Effekte des kapitalistischen Realismus zu beginnen.

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4. Reflexive Ohnmacht, Immobilisierung und liberaler Kommunismus Im Vergleich mit ihren Vorgängern in den 1960er und 1970er Jahren wirken britische Studierende heute politisch sehr unengagiert. Während französische Studierende immer noch auf der Straße gegen den Neoliberalismus protestieren, scheinen sich die britischen Studierenden, deren Situation unvergleichlich schlechter ist, ihrem Schicksal ergeben zu haben. Der Grund dafür ist nicht, dass sie apathischer oder zynischer sind, sondern es liegt an ihrem Gefühl reflexiver Ohnmacht. Sie wissen, dass ihre Situation nicht besonders rosig ist, aber ihnen ist ebenso klar, sie können nichts dagegen tun. Aber dieses »Wissen«, diese Reflexivität ist nicht die passive Beobachtung einer bereits bestehenden Sachlage, sondern eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Unter britischen Jugendlichen verdichtet sich die reflexive Ohnmacht zu einer Art stillschweigenden Weltsicht, die ihre Entsprechung in weitverbreiteten pathologischen Störungen findet. Viele der Teenager, mit denen ich zu tun hatte, litten unter psychischen Problemen oder Lernschwierigkeiten; Depressionen waren endemisch. Depressionen sind die Krankheit, die der National Health Service (NHS) mittlerweile am häufigsten behandeln muss und sie treten zunehmend in einem immer jüngeren Alter auf. Eine erstaunliche Anzahl junger Menschen leidet unter einer Form von Leseund Rechtschreibschwäche. Es wirkt kaum übertrieben, wenn man sagt, dass das Teenagerdasein im spätkapitalistischen Großbritannien kurz davor steht, selbst als Krankheit klassifiziert zu werden. Durch diese Form der Pathologisierung wird jede Möglichkeit der Politisierung dieses Zustands bereits im Ansatz verhindert. Man behandelt psychische Krankheiten, als würden sie lediglich durch ein chemisches Ungleichgewicht im neuronalen System des Individuums und/oder durch ihren familiären Hintergrund verursacht. So werden psychische Probleme privatisiert und jegliche Frage nach einer gesellschaftlichen, systemischen Ursache ausgeschlossen. Viele der Schüler im Teenageralter, mit denen ich zu tun hatte, befanden sich in einem Zustand, den ich als »depressive Hedo30

nie« beschreiben würde. Eine Depression zeichnet sich normalerweise durch Anhedonie (gr. »Unlust« Anm.d.Ü.) aus. Aber der von mir beschriebene Zustand ist weniger durch eine Genussunfähigkeit, gekennzeichnet als durch eine Unfähigkeit, irgend etwas anderes außer dem eigenen Genießen zu verfolgen. Es existiert zwar eine vage Ahnung, dass »irgendetwas fehlt« – aber kein Verständnis dafür, dass dieser mysteriöse, verfehlende Genuss nur jenseits des Lustprinzips zugänglich sein könnte. Zu einem Großteil ist dies eine Folge der doppeldeutigen strukturellen Position dieser Schüler, die zwischen ihrer alten Rolle als Subjekte einer Disziplinarinstitution und ihrer neuen Rolle als Konsumenten einer Dienstleistung hin- und hergerissen werden. In seinem Essay »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften« unterscheidet Gilles Deleuze zwischen den von Michel Foucault beschriebenen Disziplinargesellschaften, die um die eingehegten Räume der Fabrik, der Schule und des Gefängnisses organisiert waren, und den neuen Kontrollgesellschaften, in denen alle Institutionen in eine Art weit verstreutes Unternehmen eingebettet sind. Zu Recht sieht Deleuze Franz Kafka als den Propheten einer sich verflüchtigenden, kybernetischen Form von Macht, die typisch für Kontrollgesellschaften ist. In Kafkas Roman Der Prozess kann der Angeklagte zwischen zwei Formen des Freispruchs wählen: Eine »wirkliche Freisprechung« ist nicht mehr möglich, falls es die jemals gab. »[Es] haben sich über alte Gerichtsfälle nur Legenden erhalten. Diese enthalten allerdings sogar in der Mehrzahl wirkliche Freisprechungen, man kann sie glauben, nachweisbar sind sie aber nicht.« (Kafka 1994: 162) Die beiden verbleibenden Optionen sind dann einerseits der »scheinbare Freispruch«, bei welchem der Angeklagte im Großen und Ganzen freigesprochen wird, aber später oder zu einem nicht weiter definierten Zeitpunkt erneut wegen der Punkte angeklagt werden kann. Oder andererseits der »unbegrenzte Aufschub« (Deleuze 1993: 257), in dem der Angeklagte sich in einen (erhoffter Maßen niemals enden wollenden) langwierigen Prozess der legalen Auseinandersetzung verwickelt, sodass das gefürchtete Schlussurteil vermutlich niemals ausgesprochen wird. Deleuze hat beobachtet, dass die von Kafka, aber auch von Foucault oder William S. Burroughs, skizzierten Kontrollgesell31

schaften über genau dieses endlose Aufschieben funktionieren: Bildung als lebenslanger Prozess, Aus- und Fortbildung während des gesamten Arbeitslebens, Arbeit, die man mit nach Hause nimmt, im Home Office arbeiten oder im Büro zu Hause sein. Eine Folge dieses »unendlichen« Modus der Macht ist, dass eine Überwachung durch Externe von einer inneren Form der Überwachung abgelöst wird. Kontrolle funktioniert nur, wenn man daran beteiligt ist. Aus diesem Grund hat Burroughs die Figur des »Kontrollsüchtigen« erschaffen, der süchtig danach ist, Kontrolle auszuüben, aber auch von der Kontrolle durchdrungen, ja sogar besessen, ist. Wer auch nur eine der von mir unterrichteten Fachoberschulklassen besucht, wird sofort begreifen, dass man sich in einem postdisziplinären Bezugssystem befindet. Foucault hat mühselig die Formen aufgelistet, in welchen die Disziplin durch das Aufzwingen rigider Körperhaltungen eingesetzt wurde. Während des Unterrichts an unserem College sieht man die Schüler jedoch auf ihren Tischen liegen, sich ununterbrochen unterhalten und Snacks (oder teilweise gleich eine ganze Mahlzeit) essen. Die alte disziplinarische Aufteilung der Zeit bricht zusammen. Das GefängnisRegime der Disziplin wird durch die Technologien der Kontrolle und ihrem System aus fortwährendem Konsum und kontinuierlicher Weiterentwicklung erodiert. Aufgrund seiner Finanzierung kann sich die Schule nicht erlauben, Schüler vom Unterricht auszuschließen, selbst wenn sie das wollte. Die einzelnen Schulen bekommen ihre finanziellen Zuweisungen nach Erfüllung bestimmter Zielvorgaben in punkto Leistung (Klausurergebnisse), Anwesenheit und Abbruchquote der Schüler zugeteilt. Diese Kombination aus Marktimperativen und bürokratisch definierten »Zielvorgaben« ist typisch für die »marktstalinistischen« Initiativen, die mittlerweile den öffentlichen Dienst regulieren. Die Abwesenheit eines effektiven Disziplinarsystems hat, gelinde gesagt, nicht zu einer erhöhten Selbstmotivation der Schüler geführt. Den Schülern ist bewusst, dass ihnen keine schwerwiegenden Sanktionen drohen, selbst dann nicht, wenn sie wochenlang dem Unterricht fernbleiben und/oder nicht mitarbeiten. Sie nutzen diese Freiheit nicht, indem sie Projekte außerhalb der Schule verfolgen, sondern sie verfallen in eine hedonistische (oder 32

unhedonistische) Trägheit: eine sanfte Narkose, eine komfortable Besinnungslosigkeit aus PlayStation, Nächten vor dem Fernseher und Marihuana. Wenn man diese Schüler auffordert, mehr als eine Seite zu lesen – und wir reden hier von Schülern, die das A-Level anstreben6 – protestieren sie und sagen, dass sie das nicht können. Am häufigsten bekommen Lehrer die Beschwerde zu hören, etwas sei langweilig. Aber die Schüler finden nicht so sehr den Inhalt des Geschriebenen langweilig, sondern den Akt des Lesens. Wir haben es hier nicht unbedingt mit altehrwürdigem Teenager-Stumpfsinn zu tun, sondern mit einem Missverhältnis zwischen einem post-lesekundigen »Neuen Fleisch«, dass »zu sehr vernetzt ist, um sich zu konzentrieren« und der einschließenden, konzentrierten Logik eines sich auflösenden Disziplinarsystems. Sich zu langweilen, bedeutet schlicht, nicht an die kommunikative, die Sinne stimulierende Matrix aus SMS, YouTube und Fast Food angeschlossen zu sein; es bedeutet die Verweigerung eines kurzen Moments des konstanten Flusses der zuckersüßen Befriedigung on-Demand. Manche Schüler wollen Nietzsche auf die gleiche Weise wie einen Hamburger serviert bekommen. Sie verstehen nicht – und die Logik des Konsums verstärkt dieses Missverständnis –, dass Nietzsche gerade aus seiner Unverdaulichkeit und seinen Hindernissen besteht. Ein Beispiel zur Illustrierung: Ich habe einen Schüler einmal aufgefordert, im Unterricht keine Kopfhörer mehr zu tragen. Er antwortete mir, dass es letztlich egal sei, ob er sie aufhat, weil er darauf eh keine Musik abspielen würde. Ein anderes Mal spielte er über seine Kopfhörer Musik in sehr geringer Lautstärke, ohne sie zu tragen. Als ich ihn bat, die Musik auszuschalten, antwortete er, dass selbst er sie nicht hören würde. Warum trug er Kopfhörer ohne Musik zu hören oder spielte Musik ohne Kopfhörer zu tragen? Weil ihm die Präsenz der Kopfhörer oder das Wissen, dass Musik läuft, ohne dass er sie hört, die Gewissheit gab, dass diese Matrix immer noch existiert, dass sie sich in seiner Reichweite befindet. Und nur um ein klassisches Beispiel des Delegierens von Das A-Level stellt im britischen Bildungssystem die Prüfung zur Zulassung an einer Hochschule dar. In der Regel wird diese etwa im Alter von 18 Jahren abgelegt. (Anm.d.Ü.) 6

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Genießen (Interpassivität) zu geben: Läuft die Musik, auch wenn der Schüler sie selbst nicht hört, so genießt zumindest der mp3Player an seiner Stelle die Musik. Die Nutzung von Kopfhörern ist an dieser Stelle prototypisch – Pop wird nicht als etwas erlebt, das einen Einfluss auf den öffentlichen Raum haben könnte, sondern als Rückzug in eine private »OedIpod«-Konsumentenglückseligkeit, ein Einmauern gegen das Soziale. Die Folge des ständigen Verbundenseins mit der Unterhaltungsmatrix ist eine reizbare, aufgewühlte Interpassivität, eine Unfähigkeit, sich zu konzentrieren oder sich auf etwas zu fokussieren. Die Unfähigkeit der Schüler, ihren momentanen Mangel an Fokussierung mit ihrem zukünftigen Scheitern zu verbinden, die Zeit in einen kohärenten Narrativ zu synthetisieren, ist symptomatisch für etwas, das mehr ist als nur Entmutigung. Es erinnert auf fast schon unheimliche Weise an Fredric Jamesons Analyse in »Die kulturelle Logik des Spätkapitalismus«. Jameson beobachtete, dass Lacans Theorie der Schizophrenie ein »suggestives ästhetisches Modell« bietet, mit dem man das Fragmentieren der Subjektivität vor dem Hintergrund eines aufkommenden Unterhaltungsindustriekomplexes verstehen kann. »Mit dem Zerreißen der Signifikantenkette«, so Jameson, »wird der Schizophrene also auf die Erfahrung einer reinen Materialität der Signifikanten eingeschränkt, anders gesagt: auf eine Serie nicht zusammenhängender Gegenwartsmomente im zeitlichen Ablauf.« (Jameson 1986: 71) Jameson schrieb dies in den 1980er Jahren, also der Zeit, in der die meisten meiner Schüler gerade geboren waren. Wir werden in den Klassenzimmern im Moment mit einer Generation konfrontiert, die in diese ahistorische, anti-mnemonische Kurzzeitkultur geboren wurde – eine Generation, der die Zeit immer schon in digitale Mikroscheibchen geschnitten erschienen ist. Falls die bestimmenden Figuren der Disziplin der Arbeiter und der Gefangene waren, dann ist die dominante Figur der Kontrolle der Schuldner bzw. der Süchtige. Das Cyberspace-Kapital funktioniert indem es seine Nutzer süchtig macht. William Gibson hat dies erkannt, als er in Neuromancer beschrieb, wie ausgelaugt sich Case und die anderen Cyberspace-Cowboys fühlen – als ob Insekten unter ihrer Haut krabbeln, wenn sie nicht mehr an die Ma34

trix angeschlossen sind. (Die Amphetaminsucht von Case ist lediglich ein Substitut für die Sucht nach einer weitaus abstrakteren Geschwindigkeit). Falls man also so etwas wie eine hyperaktive Aufmerksamkeitsstörung als Pathologie beschreiben will, dann ist es eine Pathologie des Spätkapitalismus – eine Folge des Ausschlusses von den Unterhaltungs-Kontroll-Schaltkreisen einer hypermediatisierten Konsumkultur. Gleichzeitig ist das, was man als Dys-lexie7 bezeichnet, in vielen Fällen eher eine Post-lexie. Teenager verarbeiten die hohe Bilddichte der Daten des Kapitals sehr effektiv, ohne überhaupt lesen zu müssen. Das Erkennen von Slogans genügt, um über die Informationsebene aus Zeitschriften, Mobiltelefonen und dem Internet zu navigieren. »Noch nie war die Schrift Sache des Kapitalismus. Dieser ist von Grund auf Analphabet« (Deleuze/Guattari 1977: 308), argumentieren Deleuze und Guattari im Anti-Ödipus. »Die Sprache der Elektrik läuft weder über die Stimme noch über die Schrift; gleichermaßen auf beide verzichtet die Informatik.«(ebd.: 310) Das ist auch der Grund, warum so viele erfolgreiche Geschäftsleute dyslexisch sind (aber ist ihre post-lexikalische Effizienz eine Ursache oder ein Effekt ihres Erfolgs?). Lehrer stehen im Moment unter einem nicht länger hinnehmbaren Druck, zwischen der post-lesefähigen Subjektivität der spätkapitalistischen Konsumenten und den Ansprüchen eines Disziplinarregimes (z.B. Prüfungen abzunehmen) zu vermitteln. Dies ist nur ein Beispiel dafür, dass das Bildungswesen weit davon entfernt ist, in irgendeinem Elfenbeinturm gemütlich fernab von der »echten Welt« zu existieren, sondern sich als der Maschinenraum einer Reproduktion sozialer Realität erweist und direkt mit den Inkonsistenzen des kapitalistischen Feldes konfrontiert wird. Lehrer sind zwischen der Rolle eines Moderatoren-Unterhalters und der einer Disziplinar-Autorität gefangen. Sie wollen ihren Schülern dabei helfen, die Prüfungen zu bestehen. Diese wollen, dass Lehrer Autoritätsfiguren sind, die ihnen sagen, was sie tun sollen. Lehrer, die von ihren Schülern als Autoritätsfiguren angerufen werden, Im Englischen ist es gebräuchlich, den Ausdruck »Dyslexie« für eine normale Lese- und Rechtschreibschwäche zu verwenden. (Anm.d.Ü.) 7

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verschärfen das Problem der Langeweile. Denn ist nicht alles, was von einer Autoritätsfigur kommt, automatisch langweilig? Ironischerweise wird die Rolle des Disziplinierers genau zur gleichen Zeit nachgefragt, in der die disziplinarischen Strukturen in den Institutionen bröckeln. Während beide Elternteile in den Familien unter dem Druck des Kapitalismus arbeiten müssen, werden Lehrer verstärkt dazu genötigt, wie Ersatzeltern zu handeln, ihren Schüler die grundlegendsten Verhaltensformen beizubringen und seelsorgerische und emotionale Unterstützung bei Teenagern zu leisten, die in den meisten Fällen nur minimal sozialisiert sind. Es sollte betont werden, dass keiner meiner Schüler unter einem gesetzlichen Zwang gestanden hat, die Fachoberschule zu besuchen. Es stand ihnen frei, sie jederzeit wieder zu verlassen. Aber der Mangel an sinnvollen freien Stellen und die Ermunterung seitens der Regierung ließ den Schülern die Schule als die einfachere und sicherere Option erscheinen. Deleuze zufolge basieren Kontrollgesellschaften eher auf Schulden als auf Einhegung. Aber es existiert eine Form, in der das momentane Bildungssystem die Schüler sowohl verschuldet als auch einhegt. Bezahle dafür, ausgebeutet zu werden, verschulde dich, sodass du den gleichen McJob bekommst, den du hättest haben können, wenn du die Schule mit 16 verlassen hättest – das ist die Logik. Fredric Jameson hat beobachtet, dass »[d]er Zusammenbruch von Zeitlichkeit (…) mit einemmal die Gegenwart von all den Aktivitäten und Intentionen« freisetzt, »die sie festlegen und als praktischen Handlungsraum bestimmbar machen würden« (Jameson 1986: 72). Aber eine Nostalgie für einen Kontext, in dem alte Praxisformen noch funktioniert haben, erscheint mir sinnlos. Aus diesem Grunde bilden die französischen Studierenden schlussendlich auch keine Alternative zur britischen reflexiven Ohnmacht. Es überrascht kaum, dass der neoliberale Economist die französische Opposition zum Kapitalismus verhöhnte. Doch der Spott gegenüber der französischen »Immobilisierung« traf einen gewissen Punkt. »Sicherlich hatten die Studierenden, die die aktuellen Proteste losgetreten haben, das Gefühl, dass sie die Ereignisse vom Mai 1968 nachspielen, als ihre Eltern auf Charles de Gaulle losgingen«, schrieb die Zeitschrift in einem Leitartikel am 30. März 2006: 36

»Sie haben ihre Slogans entliehen (›Unter dem Pflaster liegt der Strand‹) und ihre Symbole gekidnappt (die Sorbonne). In diesem Sinne wirkt die Revolte wie eine natürliche Fortsetzung der Aufstände in den Banlieues von 2005, die die Regierung dazu veranlassten, den Ausnahmezustand auszurufen. Damals war es die arbeitslose, migrantische Unterschicht, die sich gegen ein System auflehnte, dass sie systematisch ausschloss. Aber eines der auffälligsten Merkmale der aktuellen Protestbewegung ist, dass diesmal die rebellischen Kräfte auf der Seite des Konservatismus sind. Im Gegensatz zu den aufständischen Jugendlichen in den Banlieues, ist das Ziel der Studierenden und der für den öffentlichen Dienst zuständigen Gewerkschaften, den Wandel zu verhindern und Frankreich so zu lassen, wie es ist.« (The Economist 2006) Es ist bemerkenswert, wie die Praxis von vielen Immobilisierern eine Art Umkehr der Praxis einer anderen Gruppe ist, die sich ebenfalls zu den Erben der 68er zählt: die so genannten liberalen Kommunisten. Dazu zählen z.B. George Soros oder Bill Gates, die die räuberische Orientierung am Profit mit einer Rhetorik des ökologischen Bewusstseins und sozialer Verantwortung verbinden. Neben ihren sozialen Anliegen glauben diese liberalen Kommunisten an die Modernisierung der Arbeitsformen auf eine »smarte« Art und Weise. Žižek erläutert dies folgendermaßen: »Das Merkmal dieser neuen Realität im Neusprech der liberalen Kommunisten ist ›smart‹ zu sein – das bedeutet dynamisch und nomadisch und gegen zentralisierte Bürokratie zu sein; an Dialog und Zusammenarbeit zu glauben anstelle von zentralisierter Autorität; an Flexibilität anstelle von Routine; an Kultur und Wissen anstelle von industrieller Produktion; an spontane Bezugnahme aufeinander und Prozesse der Selbsterschaffung und Erneuerung eines Systems (Autopoiesis) anstelle von starren Hierarchien.« (Žižek 2006) Im Verbund vermitteln die Immobilisierer mit ihrem impliziten Eingeständnis, dass man gegen den Kapitalismus nur Widerstand leisten, ihn aber nicht überwinden kann, und die liberalen Kommunisten, die auf dem Ausgleich des amoralischen Exzesses des Kapitalismus durch Wohltätigkeit bestehen, eine Vorstellung von 37

der derzeitigen Beschränktheit politischer Möglichkeiten im kapitalistischen Realismus. Während die Immobilisierer die Form eines Protests à la 1968 beibehalten, den sie aber im Namen des Widerstands gegen den Wandel führen, umarmen die liberalen Kommunisten hingegen das Neue. Žižek hat Recht, dass der liberale Kommunismus weit davon entfernt ist, ein progressives Korrektiv zur offiziellen kapitalistischen Ideologie zu sein. Vielmehr bildet er die dominante Ideologie des zeitgenössischen Kapitalismus. »Flexibilität«, »Nomadismus« und »Spontaneität« sind die eigentlichen Kennzeichen des Managements in einer postfordistischen Kontrollgesellschaft. Aber das Problem ist, dass jede Opposition gegen Flexibilität und Dezentralisierung riskiert, kontraproduktiv zu sein, da Forderungen für mehr starre Strukturen und Zentralisierung wahrscheinlich nicht besonders mitreißend wirken würden. Auf jeden Fall sollte und kann sich die Linke nicht um den Widerstand gegen das »Neue« scharen. Das Kapital denkt sehr sorgfältig darüber nach, wie man die Macht der Arbeiter brechen kann. Aber es wurde noch lange nicht genug darüber nachgedacht, welche Taktiken gegen das Kapital unter den Bedingungen des Postfordismus funktionieren und welche neue Sprache gefunden werden muss, um mit diesen Bedingungen umzugehen. Es ist wichtig, die Aneignung des »Neuen« durch den Kapitalismus anzugreifen. Indes: Das »Neue« wiederzugewinnen kann nicht nur eine Frage der Adaption an die Bedingungen sein, mit denen wir konfrontiert sind. Das haben wir bereits zu gut getan und die »erfolgreiche Aneignung« ist die Management-Strategie par excellence. Den Neoliberalismus immer wieder mit dem Begriff der »Restauration« in Verbindung zu bringen, wie es Alain Badiou und David Harvey tun, ist ein wichtiges Korrektiv zur Versinnbildlichung des Kapitals mit der Idee des »Neuen«. Harvey und Badiou betrachten neoliberale Politik nicht als »neu«, sondern als die Rückkehr der Macht einer Klasse und ihrer Privilegien. »In Frankreich«, so Badiou, »bezieht sich der Begriff der »Restauration« auf den Zeitraum, in dem der König zurückkehrt, auf 1815, Napoleon und die Zeit nach der Revolution. In genau einer solchen Periode befinden wir uns. Heute betrachten wir den liberalen Kapitalismus und sein politisches Sys38

tem, den Parlamentarismus, als die einzig natürliche und akzeptable Lösung.« (Badiou/Cox/Whalen 2001) Nach Harvey begreift man den Neoliberalismus am besten als ein »politisches Projekt, das neue Voraussetzungen für die Kapitalakkumulation schaffen und die Macht der Wirtschaftseliten wiederherstellen soll« (Harvey 2007: 27ff.). Er zeigt, dass in einer Ära, die für gewöhnlich als »post-politisch« beschrieben wird, der Klassenkampf trotz allem weitergeführt wird – wenn auch nur von einer Seite: den Reichen. »Nach der Umsetzung neoliberaler Strategien gegen Ende der 1970erJahre«, so Harvey weiter, »ging der Anteil des reichsten Hundertstels der Einkommensbezüger in den USA steil in die Höhe und erreichte kurz vor der Jahrhundertwende mit 15 Prozent fast wieder das Niveau der Vorkriegszeit. Das einkommensstärkste Tausendstel steigerte seinen Anteil am Gesamteinkommen zwischen 1978 und 1999 von zwei auf über sechs Prozent, während sich von 1970 bis 2000 die Relation zwischen den Medianeinkommen von Lohnarbeitern und von Unternehmenschefs von etwas über 1:30 auf nahezu 1:500 erhöhte. (…) Diese Entwicklung blieb nicht auf die USA beschränkt. In Großbritannien konnte das oberste Hundertstel der Einkommensbezieher seinen Anteil am Nationaleinkommen seit 1982 von 6,5 auf 13 Prozent verdoppeln.« (ebd.: 26f.) Harvey zufolge waren die Neoliberalen leninistischer als die Leninisten, indem sie Think-Tanks als intellektuelle Vorhut zur Schaffung eines ideologischen Klimas nutzten, in dem der kapitalistische Realismus aufblühen konnte. Das Modell der »Immobilisierung« – welches auf die Forderung, das fordistische Disziplinarregime beizubehalten, hinausläuft – kann in Großbritannien und den anderen Ländern, in denen der Neoliberalismus fest in der Gesellschaft verankert ist, nicht funktionieren. Der Fordismus ist im Vereinigten Königreich zweifellos kollabiert und mit ihm die Kampffelder, um die herum die alten Formen von Politik organisiert waren. Am Ende seines Essays über die Kontrollgesellschaften fragt sich Deleuze, welche neuen Formen eine Politik gegen die Kontrolle annehmen könnte: »Eine der wichtigsten Fragen dürfte die Untauglichkeit der Gewerkschaften betreffen: In ihrer ganzen Geschichte waren sie 39

gebunden an den Kampf in den Einschließungsmilieus oder gegen die Disziplinierungen. Können sie sich der neuen Situation anpassen oder machen sie neuen Widerstandsformen gegen die Kontrollgesellschaften Platz? Lassen sich schon Ansätze dieser künftigen Formen sehen, die in der Lage wären, die Freuden des Marketings anzugreifen? Viele junge Leute verlangen seltsamerweise, ›motiviert‹ zu werden, sie verlangen nach neuen Ausbildungs-Workshops und nach permanenter Weiterbildung; an ihnen ist es zu entdecken, wozu man sie einsetzt, wie ihre Vorgänger nicht ohne Mühe die Zweckbestimmung der Disziplinierungen entdeckt haben.« (Deleuze 1993: 262) Wir brauchen also einen Weg, der aus der Binarität von Motivation und Demotivation hinausweist, sodass ein Nicht-Identifizieren mit dem Kontrollregime nicht zwangsläufig in der Form einer entmutigten Apathie enden muss. Eine Strategie könnte sein, das politische Kampffeld zu verändern, weg vom traditionellen Fokus der Gewerkschaften auf den Lohn, hin zu spezifischen Formen der Unzufriedenheit im Postfordismus. Aber bevor wir diesen Gedanken weiterverfolgen, sollten wir genauer analysieren, wie denn der Postfordismus genau beschaffen ist.

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5. »Du darfst dich niemals an etwas hängen« – 6. Oktober 1979 »Irgendwer hat mir mal gesagt«, sagt der Gangster-Boss Neil McCauley in Michael Manns Film Heat von 1995, »Du darfst dich niemals an etwas hängen, was du nicht problemlos in 30 Sekunden wieder vergessen kannst, wenn du merkst, dass dir der Boden zu heiß wird.« Einer der einfachsten Wege zum Verständnis der Unterschiede zwischen Fordismus und Postfordismus ist es, Manns Film mit den zwischen 1970 und 1991 entstandenen Gangster-Filmen von Francis Ford Coppola und Martin Scorsese zu vergleichen. In Heat werden die Rechnungen nicht von Familien mit Verbindung zur Alten Welt beglichen, sondern von entwurzelten Crews in einem Los Angeles voller poliertem Chrom und austauschbaren Designerküchen, merkmalslosen Highways und bis die Nacht geöffneten Imbissen. Lokale Färbung, Essensgerüche und die kulturellen Idiolekte, ohne die Der Pate oder Goodfellas nicht funktioniert hätten, wurden übermalt und renoviert. Das Los Angeles von Heat ist eine Welt ohne Wahrzeichen, von »Brands« geprägt und zersiedelt, in dem einzigartige Landschaften durch den sich endlos wiederholenden Anblick von replizierten Ketten ersetzt wurden. Die Geister des Alten Europa, die auf Scorseses und Coppolas Straßen ihr Unwesen getrieben haben, sind verschwunden; sie wurden mit den lange zurückreichenden Fehden, dem bösen Blut und den flammenden Blutrachen irgendwo unter multinationalen Café-Ketten begraben. Man lernt eine Menge über die Welt von Heat, wenn man sich den Namen »Neil McCauley« anschaut. Es ist ein anonymer Name, der Name für einen gefälschten Pass, ein Name, der jeglicher Geschichte beraubt ist (obwohl in ihm ironischerweise der Name des britischen Historikers Lord McCaulay widerhallt). Zum Vergleich: »Corleone«, der Name des Paten, ist auch der Name eines italienischen Dorfs. McCauley ist vermutlich die Rolle, in der Robert De Niro seiner eigenen Persönlichkeit am nächsten kommt: eine Tarnung, ein Chiffre, ohne Tiefe, eisig professionell und auf die reine Vorbereitung, Recherche und Methode (»Ich tue, was ich am besten kann«) reduziert. McCauley ist kein 41

Mafia-Boss, kein aufgeblasener Häuptling, der an der Spitze einer barocken Hierarchie thront, von Codes geregelt, die so pathetisch und mysteriös wie diejenigen der katholischen Kirche sind und mit dem Blut tausender Fehden niedergeschrieben wurden. Seine Crew besteht aus Profis, anpackenden Unternehmer-Spekulanten, aus Technikern des Verbrechens, deren Credo das genaue Gegenteil der familiären Loyalität der Cosa Nostra ist. Die Familienbande lässt sich unter diesen Voraussetzungen nicht aufrechterhalten, wie McCauley zu Pacinos Charakter, dem manischen Polizeibeamten Vincent Hanna, sagt: »Es ist doch so: Wenn Sie sich an mich hängen und Sie sich bewegen müssen, wenn ich mich bewege – bei so’ner Art von Leben funktioniert keine Ehe.« Hanna ist McCauleys Schatten, dazu gezwungen, die gleiche Unwirklichkeit wie er und seine ständige Beweglichkeit anzunehmen. Wie bei anderen Gruppen von Shareholdern wird auch McCauleys Crew von der Aussicht auf zukünftige Gewinne angetrieben, alle anderen Verbindlichkeiten sind optional und mit ziemlicher Sicherheit eine Gefahr. Ihre Zusammenarbeit ist zeitlich begrenzt, pragmatisch und beiläufig – sie wissen, dass sie nur Teile einer austauschbaren Maschine sind, keine Garantien existieren und nichts von Bestand ist. Im Vergleich dazu wirken die Goodfellas wie sesshaft gewordene Sentimentalisten, die in sterbenden Communities und dem Untergang geweihten Gegenden verwurzelt sind. Der von McCauley befürwortete Ethos ist der gleiche, den Richard Sennett in Der flexible Mensch (1998) beschreibt – einer der wichtigsten Studien über die affektiven Veränderungen, die mit der postfordistischen Reorganisation der Arbeit eingesetzt haben. Der diese Veränderungen auf den Punkt bringende Slogan lautet »Nichts Langfristiges«. Während die Arbeiter zuvor bestimmte Skills erlernt haben und dann innerhalb einer rigiden Hierarchie auf den Aufstieg hoffen konnten, verlangt man nun von ihnen, dass sie sich in regelmäßigen Abständen umschulen, während sie sich von Institution zu Institution und von Rolle zu Rolle hangeln. Da die Organisation von Arbeit dezentralisiert ist und laterale Netzwerke pyramidale Hierarchien ersetzen, wird auf Flexibilität besonders viel Wert gelegt. Es klingt wie ein Echo der Worte von McCauley, mit dem 42

dieser Hanna verspottet (»Bei so’ner Art von Leben funktioniert keine Ehe«), wenn Sennett den unerträglichen Stress hervorhebt, der durch die permanent instabilen Lebensbedingungen auf den Familien lastet. Die Werte, von denen das Familienleben abhängt – Verpflichtung, Vertrauen, Hingabe – sind jene, die im neuen Kapitalismus als obsolet erachtet werden. Aber in dem Moment, in dem eine bestimmte Form von »Öffentlichkeit« angegriffen wird und die einst vom »Gouvernanten-Staat« bereitgestellten Sicherheitsnetze abgebaut werden, wird die Familie ein immer wichtigerer Ort des Rückzugs von den Belastungen einer durch konstante Instabilität charakterisierten Welt. Die Situation der Familie im Postfordismus ist genau so widersprüchlich, wie es sich der traditionelle Marxismus vorgestellt hat. Der Kapitalismus benötigt die Familie als eine zentrale Instanz der Reproduktion und Sorge von Arbeitskraft und als Balsam für die Seele, die durch die anarchischen sozio-ökonomischen Bedingungen verletzt wird, selbst dann noch, wenn er sie aushöhlt. Er verweigert den Eltern die nötige Zeit mit ihren Kindern und bürdet Paaren einen unerträglichen Stress auf, weil sie gegenseitig zur einzigen Quelle für affektiven Trost werden. Laut dem marxistischen Ökonomen Christian Marazzi8 kann man den Wechsel vom Fordismus zum Post-Fordismus genau datieren. Am 6. Oktober 1979 erhöhte die US-Notenbank ihren Zinssatz um 20 Punkte und bereitete so den Weg für die »Angebotsökonomie«, die die »ökonomische Realität« konstituiert, in die wir heute eingebunden sind. Der Anstieg des Zinssatzes dämmte nicht nur die Inflation ein, sondern machte auch eine neue Form der Organisation von Produktion und Distribution möglich. Die »Strenge« des fordistischen Fließbandes wurde von einer neuen »Flexibilität« abgelöst – ein Wort, das heute noch unangenehme Erinnerungen bei jedem Arbeiter wecken wird. Diese Flexibilität war durch eine Deregulierung von Kapital und Arbeit definiert, in der die Belegschaft prekarisiert (eine konstant steigende AnFisher bezieht sich hier auf den Vortrag »Finance, Attention and Affect«, den Marazzi im Juni 2005 am Londoner Goldsmiths College gehalten hat. Eine ausführliche Darstellung des Übergangs vom Fordismus zum Postfordismus findet sich in Marazzis Buch Verbranntes Geld (2011). (Anm.d.Ü.) 8

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zahl von Arbeitern wird nur noch zeitweise eingestellt) und outgesourct wird. Wie Sennett begreift auch Marazzi, dass die neuen Arbeitsbedingungen eine verstärkte Kybernetisierung des Arbeitsplatzes sowohl nötig gemacht haben, als auch, dass sie aus dieser Kybernetisierung hervorgegangen sind. Die fordistische Fabrik war auf krude Art und Weise in Hand- und Kopfarbeit aufgeteilt und die unterschiedlichen Arten dieser Arbeit wurden durch die Bauweise der Fabrik physisch voneinander getrennt. Weil sie in einer lärmintensiven Umgebung arbeiteten und von Managern und Aufsehern kontrolliert wurden, hatten die Arbeiter nur in ihren Pausen, auf der Toilette oder am Ende eines Arbeitstags Zugriff auf die Sprache, oder wenn sie die Arbeit sabotierten – denn Kommunikation störte die Produktion. Aber im Postfordismus, in dem das Fließband zu einem »Informationsfluss« geworden ist, arbeiten die Menschen, indem sie kommunizieren. Oder wie uns Norbert Wiener gelehrt hat: Kommunikation und Kontrolle bedingen einander. Leben und Arbeit werden untrennbar. Das Kapital verfolgt dich in deinen Träumen. Die Zeit hört auf, linear zu erscheinen, sie wird chaotisch und in punktförmige Arbeitsteilungen aufgebrochen. Unsere zentralen Nervensysteme werden ebenso restrukturiert wie Produktion und Distribution. Um in einer »just-in-time«-Produktion gut zu funktionieren, muss man die Fähigkeit entwickeln, auf unvorhergesehene Ereignisse zu reagieren, man muss lernen, unter Bedingungen der totalen Instabilität oder »Prekarität«, wie der hässliche Neologismus dafür lautet, zu leben. Perioden der Lohnarbeit wechseln sich mit Perioden der Arbeitslosigkeit ab. Typischerweise findet man sich in einer Abfolge kurzzeitiger Beschäftigungsverhältnisse wieder, ohne dass es möglich wird, für die Zukunft planen zu können. Sowohl Marazzi als auch Sennett betonen, dass die Auflösung stabiler Arbeitsmuster zum Teil durch das Begehren der Arbeiter selbst entstanden ist. Sie waren es, die zu Recht den Wunsch hatten, nicht 40 Jahre lang in der gleichen Fabrik zu arbeiten. In vielerlei Hinsicht hat sich die Linke nie davon erholt, dass das Kapital sie bei der Mobilisierung und der Verwandlung des Begeh44

rens, sich von der fordistischen Routine zu emanzipieren, ausgetrickst hat. Besonders in Großbritannien fanden die traditionellen Repräsentanten der Arbeiterklasse – Gewerkschafts- und Arbeiterführer – den Fordismus fast schon zu kongenial; die Stabilität seines Antagonismus garantierte ihnen eine feste Rolle. Aber dies bedeutete, dass es für die Fürsprecher des postfordistischen Kapitals leicht war, sich als Gegner des Status quo darzustellen und sich als diejenigen zu präsentieren, die sich mutig den trägen Organisationen der Arbeiterklasse entgegenstellen. Gegen jene also, die sich »sinnloserweise« in unproduktive ideologische Kämpfe verstricken, die zwar den Zwecken von Politikern und Gewerkschaftsführern dienen, aber nichts dazu beitragen, die Hoffnungen der von ihnen angeblich vertretenen Klasse zu erfüllen. Dieser Antagonismus ist jetzt nicht länger im Kräftemessen zweier Klassen lokalisiert, sondern intern, in der Psychologie der Arbeiter. Die Arbeiter haben zwar ein Interesse am alten Klassenkonflikt, als Teilhaber eines Pensionsfonds sind sie indes daran interessiert, den Ertrag seiner Aktien-Investitionen zu maximieren. Ein identifizierbarer äußerer Feind existiert nicht länger. Die Folge ist Marazzi zufolge, dass der postfordistische Arbeiter wie die Figur des Juden aus dem Alten Testament erscheint, nachdem er das »Haus der Sklaverei« verlassen hat: Er ist von einer alten Fessel befreit, die er nicht wiederhaben will, aber auch verlassen, in der Wüste gestrandet und verwirrt über den weiteren Verlauf des Wegs. Der innerhalb von Individuen ausgetragene psychologische Konflikt kann nur Opfer zur Folge haben. Marazzi hat die Verbindung zwischen einem Anstieg bipolarer Störungen und dem Postfordismus untersucht. Falls, wie Deleuze und Guattari behaupten, die Schizophrenie die äußere Grenze des Kapitalismus markiert, dann sind bipolare Störungen die zum Innenraum des Kapitalismus passenden Geisteskrankeiten. Mit seinem unaufhörlichen Boom-Bust-Zyklus ist der Kapitalismus auf fundamentale und irreduzible Weise bipolar; er schwankt periodisch zwischen einer überdrehten Manie (die irrationale Übertreibung eines »Denkens in Blasen«) und dem depressiven Runterkommen (Der Ausdruck »Wirtschaftliche Depression« ist selbstverständlich nicht zufällig 45

entstanden.). In einem Ausmaß wie in keiner anderen Gesellschaftsordnung ernährt und reproduziert der Kapitalismus die Stimmungen der Bevölkerung. Ohne Delirium und Zuversicht kann das Kapital nicht funktionieren. Es hat den Anschein, dass die »unsichtbare Seuche« der psychiatrischen und affektiven Störungen, die sich seit etwa 1750 (also dem Anbruch des Industriekapitalismus) klammheimlich ausbreitet (Torrey/Miller 2001), eine neue Dringlichkeitsstufe erreicht hat. An dieser Stelle kommen die Arbeiten von Oliver James ins Spiel. In The Selfish Capitalist weist James auf den signifikanten Anstieg der »psychischen Störungen« während der letzten 25 Jahre hin. »Nach allen wichtigen Kriterien«, schreibt James »haben sich psychische Störungen im Vergleich von im Jahr 1946 geborenen Menschen (und im Jahr 1982 36 Jahre alt waren) und den im Jahr 1970 Geborenen (die im Jahr 2000 30 Jahre alt waren) verdoppelt. Zum Beispiel gaben 1982 16% der 36 Jahre alten Frauen an, dass sie ›Probleme mit den Nerven hätten und sich niedergeschlagen, deprimiert oder traurig fühlen‹, wohingegen im Jahr 2000 29% der 30-Jährigen das gesagt haben (Bei Männern beträgt der Anteil 8% im Jahr 1982 und 13% im Jahr 2000).« (James 2008: 169) Eine andere von James zitierte britische Studie vergleicht das Niveau der psychischen Krankheitsziffern (wozu Neurosen, Phobien und Depressionen gehören) in Stichproben von 1977 und 1985. »Während 1977 nur 22% der Stichproben angaben, unter einer psychischen Krankheit zu leiden, war der Anteil im Jahr 1986 bereits auf fast ein Drittel der Bevölkerung (31%) angestiegen.« Dieser Anteil ist in Ländern höher, die das eingeführt haben, was James als »selbstsüchtigen Kapitalismus« bezeichnet, als in anderen kapitalistischen Ländern. Er vermutet, dass selbstsüchtige (d.h. neoliberalisierte) kapitalistische Politikformen und ihre Kultur dafür verantwortlich sind. James weist besonders darauf hin, wie der »selbstsüchtige Kapitalismus sowohl Sehnsüchte als auch die Erwartung, dass sie sich erfüllen werden, angefacht hat. (…) In der unternehmerischen Fantasiegesellschaft wird die Illusion genährt, dass jeder wie Alan Sugar oder Bill Gates sein 46

kann, unter völliger Nichtberücksichtigung der Tatsache, dass die Wahrscheinlichkeit, dass dies geschieht, seit den 1970er Jahren verschwindend gering geworden ist. Zum Beispiel war es für eine 1958 geborene Person leichter, den sozialen Aufstieg durch Bildung zu schaffen als für eine 1970 geborene Person. Die für das Wohlbefinden giftigsten Toxine des selbstsüchtigen Kapitalismus sind die systematische Befürwortung der Idee, dass materieller Wohlstand der Schlüssel zur Erfüllung ist, dass nur die Reichen Gewinner sind und dass der Weg nach oben allen offensteht, die gewillt sind, nur hart genug dafür zu arbeiten und zwar unabhängig von ihrem familiären, ethnischen oder sozialen Hintergrund – falls du keinen Erfolg hast, ist dafür nur eine Person verantwortlich.« (ebd.: 149f.) James Vermutungen über Aspiration, Erwartungen und Fantasien bestätigen meine eigenen Beobachtungen über das, was ich bei britischen Jugendlichen »depressive Hedonie« genannt habe. Es ist im Kontext steigender Zahlen für Geisteserkrankungen bezeichnend, dass sich New Labour zu Beginn ihrer dritten Amtsperiode der Idee verschrieben hatte, einer geringeren Anzahl von Menschen Invaliditätsgeld zu zahlen. Dies implizierte, dass viele, wenn nicht sogar die meisten Antragsteller in Wirklichkeit Faulpelze sind. Im Gegensatz dazu scheint es mir nicht unvernünftig anzunehmen, dass die meisten Invaliditätsgeld in Anspruch nehmenden Menschen – und das sind weit über zwei Millionen – Opfer des Kapitals sind. Ein signifikanter Anteil der Antragsteller sind Menschen, die psychisch geschädigt sind, weil kapitalistischrealistisch darauf insistiert wurde, dass Industrien wie der Bergbau nicht mehr länger ökonomisch tragfähig sind. Selbst wenn man es in der rohen Sprache der Ökonomie ausdrückt, wirken Argumente über die »Rentabilität« nicht besonders überzeugend, wenn man einmal die von Berufsunfähigkeit und andere Sozialleistungen verursachten Kosten mit in Betracht zieht. Viele von ihnen sind einfach unter den beängstigend instabilen Bedingungen des Post-Fordismus zusammengebrochen. Die momentan herrschende Ontologie verneint die Möglichkeit, dass psychische Krankheiten sozial verursacht sein könnten. Die Chemo-Biologisierung von Geisteserkrankungen entspricht ihrer 47

depolitisierenden Wirkung. Psychische Krankheiten in erster Linie als individuelles, chemisch-biologisches Problem zu betrachten, birgt enorme Vorteile für den Kapitalismus. Erstens verstärkt es die kapitalistische Tendenz zur atomistischen Individualisierung (Man ist krank, weil die Hirnchemie nicht mehr stimmt). Zweitens bedient dies einen sehr lukrativen Markt, auf dem multinationale Pharmakonzerne ihre Medikamente feilbieten können (Wir können dich mithilfe unserer SSRIs9 kurieren). Es ist selbstverständlich, dass alle Geisteserkrankungen neurologisch nachweisbar sind, aber das sagt nichts über ihre Ursachen aus. Es ist z.B. richtig, dass eine Depression durch ein niedriges Level an Serotonin ausgedrückt wird, aber man muss dennoch erklären, warum bestimmte Menschen ein niedriges Serontonin-Level besitzen. Dafür benötigt man aber eine soziale und eine politische Erklärung; und es ist eine dringende Aufgabe der Linken, psychische Krankheiten zu repolitisieren, wenn sie den kapitalistischen Realismus infrage stellen will. Es ist nicht besonders gewagt, Parallelen zwischen dem steigenden Aufkommen von psychischen Krankheiten und neuen Arten, die Leistung von Arbeitern zu messen, zu sehen. Wir werden jetzt einen genaueren Blick auf diese »Neo-Bürokratie« werfen.

SSRIs (Selective Serotonin Reuptake Inhibitor, dt. selektiver SerotoninWiederaufnahmehemmer) sind die am häufigsten verschriebenen Antidepressiva. Sie verhindern die Wiederaufnahme von Serotonin in der Präsynapse und sorgen dadurch für ein höheres Level an anderen Stellen im Gehirn. (Anm.d.Ü.) 9

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6. Alles Stehende und Ständische verdampft und wird zu PR: Marktstalinismus und bürokratische Anti-Produktion Mike Judges sträflich ignorierter Film Alles Routine (1999) ist eine ebenso pointierte Schilderung der Arbeitswelt in den 1990er Jahren und Nullerjahren wie es Paul Schraders Blue Collar – Kampf am Fließband für die Arbeitsbeziehungen in den 1970er Jahren gewesen ist. Aber anstelle der Konfrontation zwischen Gewerkschaftsfunktionären und dem Management in einer Fabrik zeigt Judges Film eine Firma, die durch eine administrativ verordnete »Anti-Produktion« verknöchert: Die Arbeiter erhalten verschiedene Memos von unterschiedlichen Managern, die alle exakt das Gleiche sagen. Selbstverständlich behandelt das Memo eine bürokratische Praxis: Es soll bewirken, dass eine neue Vorschrift zur Verwendung von »Abdeckblättern« für Berichte auch eingehalten wird. Im Einklang mit dem Ethos, »smart zu sein«, ist der Führungsstil in Alles Routine eine Mischung auf kurzärmeliger Informalität und einem stillen Autoritarismus. Judge zeigt, dass derselbe Managerialismus wie im Büro in den Café-Ketten vorherrscht, in denen sich die Büroarbeiter von der Arbeit entspannen. Die Kellner müssen dort ihre Uniformen mit »fünfzehn Flair-Buttons« (Buttons oder andere persönliche Dinge) schmücken, um ihre »Individualität und Kreativität« auszudrücken: ein passendes Bild dafür, wie »Kreativität« und »Selbstverwirklichung« der Arbeit in Kontrollgesellschaften zu eigen geworden ist. Hier wird sowohl Affektivität als auch Produktivität von den ArbeiterInnen verlangt, wie es u.a. Paolo Virno oder Yann Moulier Boutang beschrieben haben. Gleichzeitig verrät uns die krude Art, wie diese affektive Zusatzleistung zähl- und messbar gemacht werden soll, eine Menge über diese neuen Arbeitsbedingungen. Aber die Szene mit den individuellen »Flair-Buttons« verweist zugleich auf ein anderes Phänomen: Hinter den offiziellen Standards existieren versteckte Erwartungen. Joanna, eine Kellnerin, trägt genau fünfzehn dieser Buttons, aber es wird ihr schnell deutlich gemacht, dass fünfzehn in Wirklichkeit zu wenig sind, auch wenn sie offiziell ausreichen mögen. Der Geschäftsführer Stan fragt Joanna 49

sogar, ob sie als die Sorte Mensch erscheinen möchte, die nur das »absolute Minimum« tut. »Wissen Sie was, Stan, wenn sie von mir verlangen, dass ich 37 Flair-Buttons anstecke«, beschwert sie sich, »warum setzen Sie dann das Minimum nicht auf 37 hoch?« »Nun«, antwortet ihr der Geschäftsführer, »Ich glaube, Sie haben gesagt, dass Sie sich mehr einbringen wollen.« Genug zu tun, ist nicht länger ausreichend. Dieses Syndrom wird vielen Arbeitnehmern bekannt vorkommen – eine »befriedigende« Bewertung in einer Evaluation ist nicht länger »befriedigend«. In vielen Bildungsinstitutionen wird ein Lehrer nach einem Unterrichtsbesuch, der mit »befriedigend« bewertet wurde, zur Weiterbildung aufgefordert, bevor er dann ein weiteres Mal besucht wird. Auf den ersten Blick mag es mysteriös wirken, dass sich bürokratische Maßnahmen unter neoliberalen Regierungen intensiviert haben, die sich zunächst anti-bürokratisch und anti-stalinistisch geben. Aber neue Formen der Bürokratie – »Ziele und Zielvorgaben«, Ergebnisse, »Leitlinien« – wucherten weiter, selbst als die neoliberale Rhetorik über das Ende einer zentralisierten Kontrolle nach dem Top-Down-Prinzip eine neue Vormachtstellung für sich beanspruchte. Es scheint, als wäre die Bürokratie eine Art Rückkehr des Verdrängten, die ironischerweise im Herzen eines Systems wieder auftritt, das eigentlich dazu angetreten ist, sie zu zerstören. Aber das Wiederauferstehen der Bürokratie im Neoliberalismus ist kein Atavismus oder bloß eine Anomalie. Es existiert kein Widerspruch zwischen dem »Smart-Sein« und einem Anstieg von Verwaltung und Regulierung: Sie sind die zwei Gesichter ein und derselben Arbeit in Kontrollgesellschaften. Richard Sennett hat argumentiert, dass das Abflachen von Hierarchien zu einer verstärkten Überwachung der Arbeiter geführt hat: »Unter anderem wird zugunsten der neuen Organisationsform der Arbeit behauptet, sie dezentralisiere die Macht«, schreibt er, »das heißt, sie gebe den Menschen auf den niederigeren Ebenen von Unternehmen mehr Kontrolle über ihr eigenes Handeln. In Bezug auf die Methoden, mit denen die alten bürokratischen Dinosaurier zerschlagen wurden, ist dieser Anspruch gewiß unrichtig. Die neuen Informationssysteme liefern der Führungsetage in Wirk50

lichkeit ein umfassendes Bild, so daß der einzelne wenig Möglichkeiten hat, sich innerhalb des Netzwerks zu verstecken.« (Sennett 1998: 69) Aber die Informationstechnologie hat nicht nur Managern mehr Zugriff auf Daten gegeben, sie hat auch mehr Daten generiert. Viele dieser »Informationen« stammen von den Arbeitern selbst. Massimo De Angelis und David Harvie beschreiben einige der bürokratischen Vorgaben, die ein Universitätsdozent befolgen muss, um ein Modul für ein Bachelorprogramm an einer britischen Universität zu erstellen. »Für jedes Modul«, schreiben De Angelis und Harvie, »muss der ›Module Leader‹ (ML, d.h. der Dozent) verschiedene Formulare ausfüllen, u.a. eine ›Modulspezifizierung‹ (zu Beginn des Moduls), die die ›Ziele und Zielvorgaben‹ des Moduls auflistet, ILOs10, Modi und Methoden der Lernkontrolle sowie ein ›Module Review‹-Formular (am Ende des Moduls), in dem der ML seine eigene Bewertung der Stärken und Schwächen des Moduls vornimmt sowie Änderungsvorschläge für das nächste akademische Jahr formuliert; eine Zusammenfassung des Studierendenfeedbacks; den Notendurchschnitt sowie die Notenverteilung.« (De Angelis/Harvie 2006) Dies ist jedoch nur der Anfang. Um ein vollständiges Programm zu beantragen, müssen Dozenten eine »Programmspezifizierung« vorbereiten sowie »jährliche Programmberichte« produzieren, die die »Performance« der Studierenden mit Rückgriff auf »Fortschritts-« und »Abbruchraten«, dem Ort und der Verteilung der Noten bewerten. Sämtliche Noten der Studierenden werden in Anlehnung an eine Beispielmatrix gegeben. Diese Auto-Überwachung wird durch Bewertungsprozeduren, die von externen Behörden durchgeführt werden, ergänzt. Die Benotung der Studierenden wird von so genannten externen Prüfern überwacht, die die Einhaltung von Standards im gesamten Universitätssystem garantieren sollen. Dozenten müssen von ihren Kollegen beobachtet werden, während ganze Institute sich regelmäßigen, drei bis vier Tage andauernden Inspektionen durch die Quality Assurance Agency for Higher Education ILO: Intended Learning Outcomes, dt. Intendierte Lernergebnisse, sind von der Lehrkraft formulierte Ziele für den Lernprozess. (Anm.d.Ü.) 10

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(QAA) unterziehen müssen. Falls die Dozenten »forschungsaktiv« sind, müssen sie alle vier oder fünf Jahre ihre »vier besten Publikationen« einreichen, um sie von einem Komitee im Rahmen des Research Assessment Exercise (das 2008 durch das ebenfalls umstrittene Research Excellence Framework ersetzt wurde) bewerten zu lassen. De Angelis und Harvie betonen, dass es sich bei ihrer Darstellung lediglich um eine sehr grobe Skizze eines Teils der bürokratischen Aufgaben handelt, die Akademiker erledigen müssen und die allesamt finanzielle Konsequenzen für die betroffene Institution haben können. Dieses Arsenal an bürokratischen Prozeduren beschränkt sich nicht nur auf Universitäten und den Bildungssektor. Andere Teile des Öffentlichen Dienstes, z.B. der National Health Service oder die Polizei, sind von ähnlichen bürokratischen Auswüchsen gekennzeichnet. Teilweise ist dies eine Folge des Widerstands gegen eine diesen Prozessen und Dienstleistungen inhärente Vermarktlichung. (Die angebliche Vermarktlichung von Bildung beruht beispielsweise auf einer wirren und unausgereiften Analogie: Sind die Studierenden die Konsumenten der Dienstleistung oder ihr Produkt?) Der ideale Markt sollte einst den »reibungslosen« Tausch bringen, in dem das Begehren der Konsumenten direkt, ohne den Eingriff oder die Mediation durch regulierende Institutionen, befriedigt wird. Aber der Antrieb, die schon von ihrem Wesen her nicht quantifizierbare »Performance« von Arbeitern und Formen der Arbeit zu messen, erfordert zwangsläufig zusätzliche Ebenen von Management und Bürokratie. Wir haben es hier nicht mit einem direkten Vergleich der Arbeitsleistung oder der Ergebnisse von Arbeitnehmern zu tun, sondern mit der im »Audit«, im Prüfungswesen generierten Repräsentation dieser »Performance« oder dieses Outputs. Hier kommt es zu einem unvermeidlichen Kurzschluss und die Arbeit richtet sich auf das Generieren und das Beschönigen dieser Repräsentationen anstatt auf die offiziellen Ziele der Arbeit selbst. Eine anthropologische Studie der Kommunalverwaltungen in Großbritannien argumentiert, dass »mehr Mühe darauf verwendet wird sicherzustellen, dass die Dienstleistungen einer Kommune in der richtigen Weise repräsentiert werden, als auf die Verbesserung der Dienstleistungen selbst« (Berglund 2008: 326). 52

Diese Umkehr von Prioritäten ist eines der Kennzeichen eines Systems, das man ohne Übertreibung als »Marktstalinismus« bezeichnen kann. Der Spätkapitalismus übernimmt vom Stalinismus genau diese Aufwertung des Symbols von Leistung, anstatt die Leistung selbst aufzuwerten. Marshall Berman illustriert dies anhand eines Bauprojekts von Stalin, dem Weißmeer-Ostsee-Kanal in der Zeit zwischen 1931 und 1933: »Stalin schien so besessen davon zu sein, ein im höchsten Maße sichtbares Symbol für die Entwicklung der UdSSR zu erschaffen, dass er das Projekt dermaßen vorantrieb und verdichtete, dass er damit in vielerlei Hinsicht die Entwicklung des Projekts verzögerte. So wurde den Arbeitern und Ingenieuren nie die Zeit, das Geld oder das Equipment zugestanden, das notwendig gewesen wäre, um einen Kanal zu bauen, der ausreichend tief und sicher gewesen wäre, um die für das 20. Jahrhundert typischen Frachten zu transportieren. Folgerichtig spielte der Kanal keine signifikante Rolle im sowjetischen Handel oder der sowjetischen Industrie. Er konnte lediglich von Touristenschiffen befahren werden, die in den 1930er Jahren im Überfluss mit sowjetischen und ausländischen gehorsam die ruhmreiche Arbeit preisenden Schriftstellern bestückt wurden. Der Kanal war ein Triumph in Sachen öffentlicher Aufmerksamkeit; aber falls nur halb soviel Sorgfalt in die eigentliche Arbeit geflossen wäre wie in seine Öffentlichkeitskampagne, hätte das Projekt weit weniger Opfer gefordert und tatsächlich einiges zur Entwicklung beigetragen – es wäre eine wahre Tragödie gewesen anstatt einer brutalen Farce, in der echte Menschen durch Pseudo-Ereignisse ihr Leben lassen mussten.« (Berman 1982: 76f.) Mit einem befremdlichen Drang zur Wiederholung zeigte die scheinbar antistalinistische New Labour-Regierung die gleiche Tendenz, als sie Politikinitiativen startete, deren Effekte wie PR lediglich öffentlichkeitswirksam werden mussten. Die berüchtigten »Zielvorgaben«, die New Labour mit großem Enthusiasmus verpflichtend einführte, sind ein solcher Fall. In einem Prozess, der sich als eiserne Regel überall dort wiederholt, wo diese Vorgaben eingeführt werden, werden sie schnell zu einer Form, die Arbeitsleistung als »Performance« zu messen und ein Selbstzweck zu werden. 53

Ängste über sinkende Standards in Schulprüfungen sind ein regelmäßiger Bestandteil der Sommerlochberichterstattung in Großbritannien. Aber falls unsere Schüler tatsächlich weniger Fähigkeiten besitzen und unwissender als früher sein sollten, so ist das weniger eine Folge dessen, dass die Prüfungsqualität per se gesunken ist, sondern dass der Unterricht fast ausschließlich auf das Bestehen von Prüfungen ausgerichtet ist. Ein engstirniger »Prüfungsdrill« hat eine weitergehende Beschäftigung mit einem Fach ersetzt. Dies ähnelt der Art und Weise, in der einige Krankenhäuser viele Standardoperationen anstelle von wenigen ernsten oder dringenden Operationen durchführen, da dies ihnen erlaubt, die Zielvorgaben, nach denen sie bewertet werden (Anzahl der Operationen, Erfolgsrate, Reduzierung der Wartezeit), leichter zu erfüllen. Es wäre ein Fehler, diesen Marktstalinismus als eine Abweichung vom »wahren Geist« des Kapitalismus zu sehen. Im Gegenteil, es erscheint mir sinnvoller zu sagen, dass eine essenzielle Dimension des Stalinismus durch seine Verknüpfung mit dem Sozialismus zurückgehalten wurde und nur in einer spätkapitalistischen Kultur auftreten kann, in der Bilder und Images eine gewisse Autonomie erlangt haben. Die Art und Weise, wie z.B. der Wert an Aktienbörsen ermittelt wird, hat weniger damit zu tun, was eine Firma »wirklich macht«, sondern eher mit der Wahrnehmung und dem Glauben an ihre (zukünftige) »Performance«. Im Kapitalismus verdampft also »alles Stehende und Ständische« und wird zu PR; der Spätkapitalismus ist mindestens ebenso durch diese allgegenwärtige Tendenz zur PR-Produktion gekennzeichnet wie dadurch, dass er in allen sozialen Feldern Marktmechanismen einführen möchte. An dieser Stelle kommt Žižeks Fortführung von Lacans Konzept des »großen Anderen« ins Spiel. Der große Andere ist eine kollektive Fiktion, die symbolische Struktur, die in jedem sozialen Feld vorausgesetzt ist. Es ist unmöglich, dem großen Anderen an sich zu begegnen, stattdessen werden wir immer mit seinen Platzhaltern konfrontiert. Diese Repräsentanten sind nicht immer nur politische Führer. Beim oben angeführten Weißmeer-Ostsee-Kanal war nicht Stalin selbst der Repräsentant des großen Anderen, sondern die das Projekt anpreisenden sowjetischen und ausländischen 54

Schriftsteller. Eine wichtige Dimension des großen Anderen ist, dass er nicht alles weiß. Diese konstitutive Ignoranz macht das Funktionieren erst möglich. Tatsächlich könnte man den großen Anderen als den Konsumenten von PR und Propaganda definieren: Es ist die virtuelle Figur, die notwendig ist, um überhaupt an etwas glauben zu können, selbst wenn kein Individuum mehr dazu fähig ist. Um ein Beispiel von Žižek zu benutzen: Wer wusste denn nicht, dass der realexistierende Sozialismus schäbig und korrupt war? Nicht etwa die Bevölkerung, denen die Mängel allzu bewusst waren. Und es waren auch nicht die Funktionäre, die ja gar nicht anders konnten, als von den Mängeln zu wissen. Nein, es war lediglich der große Andere. Allein er wurde als jemand gesehen, der nicht über die Alltagsrealität des realexistierenden Sozialismus Bescheid wusste – und er durfte es auch nicht. Die Unterscheidung zwischen dem, was der große Andere weiß, also einer offiziellen Wahrheit, und dem, was allgemein bekannt ist und tagtäglich erfahren wird, ist weit davon entfernt, »lediglich« formell zu sein; es ist die Kluft zwischen diesen beiden Ebenen, die dafür sorgt, dass die »gewöhnliche« soziale Realität funktioniert. Das eine Gesellschaftsordnung zusammenhaltende immaterielle Gefüge fällt in dem Moment auseinander, in dem die Illusion, der große Andere wisse nicht Bescheid, nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Aus diesem Grunde war Chruschtschows Rede von 1956, in der er die Versäumnisse und Verfehlungen der UdSSR »zugab«, ein solch einschneidender Moment. Es war ja nicht so, dass irgendjemand in der Partei nicht über die Grausamkeiten und die Korruption Bescheid gewusst hätte, die in ihrem Auftrag durchgeführt wurden, aber Chruschtschow Rede machte es unmöglich, weiter zu glauben, dass der große Andere nicht davon gewusst habe. Soviel zum realexistierenden Sozialismus, nun zum realexistierenden Kapitalismus. Eine Möglichkeit, den »Realismus« des kapitalistischen Realismus zu verstehen, ist die Behauptung, er habe den Glauben an den großen Anderen aufgegeben. »Postmodernismus« ist der Begriff für den Komplex an Krisen, den der schrumpfende Glaube in den großen Anderen losgetreten hat. So wie es Jean-François Lyotards Formulierung zur Verfasstheit der Postmoderne – »die Skepsis gegenüber den Metaerzählungen« (Lyo55

tard 1986: 14) – suggeriert. Jameson würde selbstverständlich argumentieren, dass die »Skepsis gegenüber den Metaerzählungen« ein Ausdruck der »kulturellen Logik des Spätkapitalismus« ist, eine Folge des Wandels hin zum postfordistischen Modus der Kapitalakkumulation. Nick Land liefert eine der euphorischsten Darstellungen der »postmodernen Kernschmelze von Ökonomie und Kultur«. (Land 2003) In Lands Arbeiten eliminiert eine kybernetisch verbesserte, unsichtbare Hand nach und nach die zentralisierte Staatsmacht. Seine Texte aus den 1990er Jahren haben Kybernetik, Komplexitätstheorie, Cyberpunk-Romane und Neoliberalismus zusammengebracht, um daraus die Vision einer verhängnisvollen, weltumfassenden künstlichen Intelligenz zu konstruieren: ein unermessliches, geschmeidiges, endlos spaltbares System, das den menschlichen Willen obsolet macht. In »Meltdown«, seinem Manifest für ein nichtlineares, dezentriertes Kapital, beschwört Land eine »massiv ausgebreitete, in einer Matrix vernetzte Tendenz, die darauf ausgerichtet ist, Befehlssteuerungsprogramme im ROM auszuschalten, die makro- und mikro-gouvernementale Instanzen aufrechterhalten und sich global gesehen im menschlichen Sicherheitssystem konzentrieren« (Land 2003). Land zeigt den Kapitalismus als das zerbrechende Reale, in dem (virale, digitale) Signale in sich selbsterhaltenden Netzwerken zirkulieren, die das Symbolische umgehen und daher nicht den großen Anderen als Gewährsperson benötigen. Dies entspricht Deleuzes und Guattaris Kapital als die »Sache, der Namenlose«, aber hier besitzt es nicht die Kräfte der Reterritorialisierung und der AntiProduktion, die Deleuze und Guattari als konstitutiv für den Kapitalismus betrachteten. Eines der Probleme von Lands Position hat sie aber zugleich auch interessant gemacht. Er behauptet nämlich die Existenz eines »reinen« Kapitalismus, eines Kapitalismus, der lediglich durch extrinsische Elemente zurückgehalten und blockiert wird, niemals aber durch innere. Lands Logik zufolge sind diese Elemente Atavismen, die in naher Zukunft vom Kapital verzehrt und verdaut werden. Aber man kann den Kapitalismus nicht auf diese Weise »bereinigen«; denn entledigt man sich der Kräfte der Antiproduktion, verabschiedet sich der Kapitalismus mit ihnen. Auch gibt es keine Tendenz der allmählichen Entblößung des 56

Kapitalismus, keine graduelle Demaskierung des Kapitals, wie es »wirklich« ist: habgierig, gleichgültig, unmenschlich. Im Gegenteil, die essenzielle Rolle der »immateriellen Transformationen«, die durch PR, Branding und Werbung im Kapitalismus erzeugt werden, legt nahe, dass die Habgier des Kapitalismus auf verschiedenen Formen der Verkleidung beruht, um überhaupt funktionieren zu können. Der realexistierende Kapitalismus ist von der gleichen Spaltung durchzogen, die den realexistierenden Sozialismus ausgezeichnet hat: Auf der einen Seite existiert eine offizielle Kultur, in der Unternehmen als sozial verantwortlich und mitfühlend dargestellt werden, auf der anderen Seite existiert ein breites Bewusstsein darüber, dass Firmen in Wirklichkeit korrupt, skrupellos etc. sind. Anders ausgedrückt, die kapitalistische Postmoderne ist nicht ganz so skeptisch, wie es den Anschein hat. Der Juwelier Gerald Ratner durfte dies bekanntermaßen am eigenen Leib erfahren. Ratner versuchte, das Symbolische zu umgehen und »die Dinge beim Namen zu nennen«, als er den billigen Schmuck, den seine Ladenkette verkaufte, in einer Rede als »Scheiße« bezeichnete. Die Konsequenzen der Tatsache, dass Ratner dieses Urteil offiziell machte, folgten unmittelbar und waren schwerwiegend: Der Wert seiner Firma sank um 500 Millionen Pfund und er verlor seinen Job. Den meisten Kunden dürfte klar gewesen sein, dass Ratners Schmuck von zweifelhafter Qualität war, aber der große Andere wusste es nicht. Sobald er davon hörte, kollabierte die Firma. Der herkömmliche Postmodernismus ist mit der »Krise der symbolischen Effizienz« in einer weitaus weniger intensiven Weise umgegangen als Nick Land: mit metafiktionalen Ängsten über die Funktion des Autors und TV-Programmen und Filmen, die den Mechanismus ihrer eigenen Produktion offenlegen und auf reflexive Art und Weise Diskussionen über ihren eigenen Status als Ware einarbeiten. Aber die Entmystifizierungsgesten des Postmodernismus erzeugen keine Differenziertheit, sondern eher eine gewisse Naivität, eine Überzeugung, dass es in der Vergangenheit tatsächlich Leute gegeben habe, die wirklich an das Symbolische glaubten. Selbstverständlich wurde die »symbolische Effizienz« dadurch erreicht, dass eine klare Unterscheidung zwischen der materiell-empirischen Kausalität und einer anderen zum Sym57

bolischen gehörenden immateriellen Kausalität aufrechterhalten wurde. Žižek nennt das Beispiel eines Richters: »Ich weiß ganz genau, dass die Dinge so sind, wie ich sie sehe: Dieser Richter ist ein korrupter Schwächling, aber nichtsdestotrotz behandle ich ihn mit Respekt, weil er die Zeichen eines Richters trägt und wenn er spricht, das Gesetz durch ihn spricht.« (Žižek 2004: 815) Aber im Postmodernismus »greift die zynische Reduktion auf die Realität zu kurz: wenn ein Richter spricht, dann ist in gewisser Weise mehr Wahrheit in seinen Worten (die Worte der Institution des Gesetzes) als in der direkten Realität der Person des Richters. Falls man sich auf das, was man sieht beschränkt, verfehlt man den entscheidenden Punkt. Lacan zielt mit seinem Begriff des ›les non-dupes errent‹ (›die Nicht-Blöden irren‹) auf genau diesen Punkt: diejenigen, die sich nicht von dieser symbolischen Täuschung/Fiktion einnehmen lassen, diejenigen, die nur ihren Augen trauen, sind auch diejenigen, die sich am meisten irren. Ein Zyniker, der nur glaubt, ›was er mit eigenen Augen sieht‹, verkennt die Effizienz der symbolischen Funktion und wie sie unsere Erfahrung der Realität strukturiert.« (ebd.: 814) Ein Großteil der Arbeiten von Baudrillard sind ein Kommentar zum gleichen Effekt: die Art und Weise, in welcher die Abschaffung des Symbolischen nicht zu einer direkten Begegnung mit dem Realen führt, sondern zu einer Form des Ausblutens des Realen (vgl. Baudrillard 1976). Für Baudrillard stellten Phänomene wie »Fly on the wall«-Dokumentarfilme oder politische Meinungsumfragen – die beide den Anspruch haben, die Realität auf eine unvermittelte Weise darzustellen – immer ein unauflösbares Dilemma dar. Beeinflusst die Anwesenheit von Kameras das Verhalten der Gefilmten? Wird die Veröffentlichung von Umfrageergebnissen das zukünftige Verhalten von Wählern beeinflussen? Diese Fragen lassen sich nicht endgültig beantworten und deshalb ist die »Realität« immer schwer fassbar: Im gleichen Moment, in dem man glaubte, man könnte die nackte Realität fassen, transformiert sie sich in das, was Baudrillard mit dem häufig missverstandenen Neologismus »Hyperrealität« bezeichnet. In den erfolgreichsten Reality-TV-Programmen klingen Baudrillards Festschreibungen auf unheimliche 58

Weise nach, wenn in diesen Elemente von »Fly on the Wall«-Dokus mit Meinungsumfragen fusioniert werden. Letztlich gibt es zwei Ebenen von »Realität« in diesen Shows: das nicht geskriptete Verhalten der Teilnehmer aus dem »wirklichen Leben« auf dem Bildschirm und die unvorhersehbaren Reaktionen des Publikums vor dem Bildschirm, die wiederum das Verhalten der Teilnehmer auf dem Bildschirm beeinflussen. Aber Reality TV wird ständig von Fragen nach dem Stellenwert von Fiktion und Illusion heimgesucht: Spielen die Teilnehmer nur, unterdrücken sie bestimmte Aspekte ihrer Persönlichkeit, um auf uns, das Publikum, attraktiver zu wirken? Und wurden die Stimmen der Zuschauer richtig ausgezählt, oder gibt es irgendeine Manipulation? Der Slogan von Big Brother – »You decide!« – fasst den Modus von Kontrolle durch Feedback, der Baudrillard zufolge die alte zentralisierte Form der Macht ersetzt, perfekt zusammen. Wir selbst besetzen den leeren Thron der Macht, wenn wir unsere Reaktion per Telefon oder Mausklick mitteilen. Der Big Brother des Fernsehens hat Orwells Big Brother ersetzt. Wir, das Publikum, sind nicht mehr länger einer von außen auf uns wirkenden Macht ausgesetzt, sondern in einen Kreislauf der Kontrolle integriert, der unsere Begehren und Vorlieben als alleinigen Auftraggeber kennt. Bekommen wir aber diese Begehren und Vorlieben zurückgespiegelt, sind es nicht mehr unsere, sondern die Begehren des großen Anderen. Selbstverständlich beschränken sich diese Kreisläufe nicht nur auf das Fernsehen: Kybernetische Feedbacksysteme (Fokusgruppen, demografische Umfragen) sind mittlerweile für alle »Dienstleistungen« integral, inklusive des Bildungswesens und der Regierungsbehörden. Dies bringt uns zum Thema der postfordistischen Bürokratie zurück. Es existiert ein enges Verhältnis zwischen der Bürokratie – dem Diskurs des Offiziellen – und dem großen Anderen. Zwei von Žižeks eigenen Beispielen zeigen gut, wie der große Andere funktioniert: ein niedrigrangiger Beamter, der nicht über eine Beförderung informiert wurde, sagt: »Tut mir leid, ich bin nicht anständig über diese neue Maßnahme informiert worden, deshalb kann ich Ihnen nicht helfen…« (Žižek 1997); eine Frau, die glaubte, dass sie wegen ihrer Hausnummer ständig Pech hat, konnte nicht dadurch geheilt werden, dass sie einfach eine andere Nummer an 59

ihr Haus malt, weil »es richtig gemacht werden muss, von der entsprechenden Behörde…« (Žižek 1997) Wir alle kennen die bürokratische Libido und die Freude, die gewisse Amtsträger aus ihrer Position einer verleugneten Verantwortlichkeit ziehen (»Das ist nicht meine Schuld, tut mir leid, aber so sind die Regeln«). Die Frustration mit Bürokraten kommt häufig daher, dass sie selber keine Entscheidungen fällen können. Stattdessen dürfen sie lediglich auf Entscheidungen hinweisen, die immer schon (vom großen Anderen) gefällt wurden. Kafka war der bedeutendste Autor der Bürokratie, weil er gesehen hat, dass diese Struktur der Verleugnung der Bürokratie inhärent ist. Die Suche nach der letzten Autorität, die endlich K.s offiziellen Status klären würde, kann niemals enden, weil man dem großen Anderen nicht an sich begegnen kann: Es gibt nur Funktionäre, mehr oder weniger feindlich gesinnt, die damit beschäftigt sind, zu interpretieren, was denn die Intentionen des großen Anderen sein könnten. Und diese Interpretationen, diese Verschiebungen von Verantwortlichkeiten, sind das, woraus sich der große Andere als Ganzes zusammensetzt. Falls Kafka ein wichtiger Kommentator des Totalitarismus ist, dann weil er eine Dimension des Totalitarismus freigelegt hat, die man nicht mit dem Modell eines despotischen Kommandos verstehen kann. Kafkas fegefeuerähnliche Vision eines bürokratischen Labyrinths ohne Endpunkt harmoniert mit Žižeks Behauptung, dass das Sowjetsystem ein »Reich der Zeichen« (Žižek 2007) war, in dem sogar die Nomenklatur selbst – inklusive Stalin und Molotov – damit beschäftigt war, eine komplexe Reihe sozialer, semiotischer Zeichen zu interpretieren. Niemand wusste, was nötig war; stattdessen konnten Individuen immer nur erahnen, was bestimmte Gesten oder Direktiven bedeuten. Im Spätkapitalismus intensiviert sich diese Ambiguität, da es keine Möglichkeit, nicht einmal eine theoretische, gibt, an eine letztgültige Autorität zu appellieren, die einem die definitive, offizielle Version mitteilen kann. Zur Illustration dieses Syndroms erneut ein Beispiel aus der Erwachsenenbildung: Bei einem Treffen zwischen Gewerkschaftsfunktionären, den Schulleitern von Fachoberschulen und Abgeordneten des Unterhauses geriet der Learning und Skills Council (LSC), die Quasi60

Nichtregierungsorganisation (QUANGO)11 im Zentrum des Labyrinths der Finanzierung von Erwachsenenbildung, ins Fadenkreuz der Kritik. Weder die Lehrer, noch die Schulleiter, noch die Abgeordneten konnten herausfinden, wie bestimmte Direktiven entstanden waren, weil diese kein Bestandteil der offiziellen Regierungspolitik waren. Die Antwort bestand darin, dass der LSC diese Anweisungen des Bildungsministeriums (Department for Education and Skills) interpretiert hatte. Diese Interpretationen nahmen dann das für Bürokratien typische merkwürdige Eigenleben an. Einerseits flottieren bürokratische Vorgänge frei und unabhängig von jeglicher externer Kontrollinstanz, aber diese Autonomie bedeutet auch, dass sie unerbitterlich gegen jede Form der Infragestellung und Veränderung verteidigt werden. Das Wuchern des Prüfungswesens im Postfordismus deutet an, dass das Gerede vom Verschwinden des großen Anderen übertrieben war. Das Prüfungswesen kann vielleicht am besten als eine Fusion von PR und Bürokratie verstanden werden, weil die Daten der Bürokratie normalerweise eine PR-Funktion erfüllen sollen: Im Fall des Bildungswesens sollen Prüfungsergebnisse oder Forschungsratings das Prestige der jeweiligen Institution steigern (oder senken). Für die Lehrer ist dabei frustrierend, dass sie den Eindruck haben, dass ihre Arbeit in zunehmendem Maße darauf ausgerichtet ist, den großen Anderen zu beeindrucken, der diese »Daten« sammelt und konsumiert. »Daten« steht in Anführungszeichen, weil ein Großteil der so genannten Informationen außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Prüfungsstabs kaum etwas bedeuten, geschweige denn verwendbar sind, oder wie es Eeva Berglund ausdrückt: »Die Informationen, die die Sachverständigenprüfung generiert, haben Konsequenzen, obwohl sie ohne lokale Detailinformationen auskommen. Sie sind so abstrakt, dass sie entweder als irreführend oder sinnlos gelten können – außer natürlich für die ästhetischen Kriterien des Prüfungswesens selbst.« (Berglund 2008: 326) Als QUANGO (»Quasi-autonome Nichtregierungsorganisation«) bezeichnet man eine Organisation, die Aufgaben übernimmt, für die vorher offizielle Staatsbehörden zuständig waren. (Anm.d.Ü.) 11

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Die neue Bürokratie nimmt nicht die Form einer spezifischen, begrenzten Funktion an, die von bestimmten Arbeitern durchgeführt wird, sondern durchdringt alle Bereiche der Arbeit, mit dem Resultat, dass die Arbeiter – wie von Kafka prophezeit – ihre eigenen Prüfer werden und gezwungen sind, ihre eigene »Performance« zu bewerten. Nehmen wir nur das »Neue System«, dass das OFSTED (Office for Standards in Education)12 benutzt, um Fachoberschulen zu inspizieren. Unter dem alten System würde jede Schule ca. alle vier Jahre »gründlich« inspiziert werden, d.h. es gäbe mehrere Unterrichtsbesuche und eine große Anzahl von Inspektoren würde eingesetzt werden. Unter dem neuen »verbesserten« System muss eine Schule nur eine »leichte« Inspektion durchlaufen, sofern sie beweisen kann, dass ihre internen Bewertungssysteme effektiv sind. Aber der Nachteil dieser »leichten« Inspektion ist offensichtlich, Überwachung und Beobachtung sind vom OFSTED an die Schule und letztlich an die Lehrkräfte selbst outgesourct worden und dadurch zu einem permanenten Merkmal der Schulstruktur und der Psychologie der individuellen Lehrer geworden. Der Unterschied zwischen dem alten System der »gründlichen« Inspektion und dem neuen System der »leichten« korrespondiert präzise mit Kafkas Unterscheidung zwischen vollständigem Freispruch und endlosem Aufschub, den ich in Kapitel 4 skizziert habe. Mit dem vollständigen Freispruch kann man die Richter in der Vorinstanz solange um ein Gesuch bitten, bis sie eine unverbindliche Begnadigung ausstellen. Danach ist man solange vor dem Gericht sicher, bis der Fall erneut eröffnet wird. Beim unendlichen Aufschub verbleibt der Fall auf der niedrigsten Ebene des Gerichts, aber um dem Preis, dass die eigenen Ängste niemals enden. (Die Änderungen in den OFSTED-Inspektionen spiegeln sich in den Änderungen vom Research Assessment Exercise zum Research Excellence Framework in den Universitäten wider: Eine periodische Bewertung OFSTED (Office for Standards in Education, Children’s Services and Skills) ist eine Behörde, die Schulen, Kindergärten und andere Institutionen des Erziehungswesens untersucht. OFSTED wird am meisten mit Schulinspektionen in Verbindung gebracht, ist aber auch von britischen Parlamentsmitgliedern für seine Unübersichtlichkeit kritisiert worden. (Anm.d.Ü.) 12

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wird von einer permanenten und allgegenwärtigen Bewertung abgelöst, die nichts anderes tun kann, als die gleichen, ständig andauernden Ängste zu produzieren). Es ist auf keinen Fall so, dass die »leichte« Inspektion in irgendeinem Aspekt für die Beschäftigten günstiger ist als die »gründliche«. Die Inspektoren befinden sich für die gleiche Zeit in der Schule wie zuvor. Es gibt zwar weniger Inspektionen, aber das trägt nicht zur Verringerung des Stresses bei den einzelnen Inspektionen bei. Denn dieser hat eher mit der bürokratischen Bilanzkosmetik in Erwartung einer möglichen und weniger mit der tatsächlichen Inspektion zu tun. Die Inspektion korrespondiert also mit Michel Foucaults Darstellung des eigentlichen Wesens von Überwachung in seinem Buch Überwachen und Strafen (1976). Foucault beobachtet bekanntermaßen, dass eine Besetzung des Ortes, von dem aus überwacht wird, nicht notwendig ist. Die Unkenntnis darüber, ob man überwacht wird oder nicht, produziert eine Verinnerlichung des Überwachungsapparats. Man handelt ständig so, als ob man in Kürze beobachtet werden könnte. Aber bei Schul- oder Universitätsinspektionen wird man nicht in erster Linie für seine Fähigkeit als Lehrer benotet, sondern für seinen Eifer als Bürokrat. Es gibt noch andere bizarre Effekte. Da OFSTED mittlerweile auch das Selbstbewertungssystem von Fachoberschulen überwacht, existiert ein impliziter Anreiz für die Schule, sich selbst und ihren Unterricht schlechter zu bewerten, als sie es eigentlich verdient hätten. Das Resultat ist eine Art postmoderne, kapitalistische Version der maoistischen Selbstkritik. Bei dieser waren die Arbeiter gezwungen, an einer ständigen symbolischen Selbstverneinung teilzunehmen. Als uns einmal unser direkter Vorgesetzter die Vorzüge des neuen, »leichten« Inspektionssystems erörtern wollte, sagte er uns, dass es ein Problem mit unseren Klassenbüchern gäbe, weil diese nicht selbstkritisch genug seien. Aber wir sollten uns keine Sorgen machen, betonte er, jede Selbstkritik sei rein symbolisch und würde keine Folgen nach sich ziehen – fast so, als ob die routinemäßige »Performance« der Selbstgeißelung als Teil einer rein formellen Übung der zynisch bürokratischen Anpassung weniger demoralisierend wäre. Im postfordistischen Klassenzimmer spiegelt 63

sich die reflexive Impotenz der Schüler in der reflexiven Impotenz der Lehrer wieder. De Angelis und Harvie stellen fest, dass »die Praktiken und Anforderungen der Standardisierung und Überwachung offensichtlich eine große Arbeitsbelastung für Akademiker bedeuteten und nur wenige glücklich darüber sind. Es gab eine Vielzahl von Reaktionen. Manager haben regelmäßig vorgeschlagen, dass es keine Alternative gibt (There is no alternative – TINA) und dass wir lediglich ›smarter, nicht härter arbeiten‹ sollten. Dieser verführerische Slogan, der eingeführt wurde, um den Widerstand der Belegschaft gegenüber weiteren Veränderungen zu brechen, die nach ihrer (unserer) Erfahrung vernichtende Konsequenzen für die Arbeitsbedingungen hatten, versucht das Bedürfnis nach ›Wandel‹ (Restrukturierung und Innovation) im Angesicht des finanziellen Drucks auf das Budget und dem Ansteigen von ›Wettbewerbsfähigkeit‹ mit dem Widerstand der Belegschaft gegen die Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen und der akademischen und pädagogischen ›Sinnlosigkeit‹ der ›Veränderungen‹ zu verbinden.« (De Angelis/ Harvie 2006) Die Beschwörung des Gedankens, dass »es keine Alternative gibt« und die Empfehlung, »smarter, nicht härter« zu arbeiten, zeigt, wie der kapitalistische Realismus den Umgangston für Arbeitskämpfe im Postfordismus setzt. Das Regime der Inspektionen zu beenden, scheint unmöglicher als der Sklaverei zu entkommen, wie ein Dozent einmal sarkastisch anmerkte. Ein solcher Fatalismus kann nur bekämpft werden, wenn ein neues (kollektives) politisches Subjekt entsteht.

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7. Kapitalistischer Realismus als Traumarbeit und Gedächtnisstörung »Realistisch bleiben« – irgendwann einmal mag dies bedeutet haben, dass man sich mit der festen und unbeweglichen Realität abzufinden hatte. Im kapitalistischen Realismus ist man jedoch einer Realität unterworfen, die unbegrenzt formbar ist und sich selbst in jedem Moment rekonfigurieren kann. Wir sind mit etwas konfrontiert, das Fredric Jameson in seinem Essay »The Antinomies of Postmodernity« eine »vollkommen austauschbare Gegenwart, in der sowohl einzelne Räume als auch einzelne Psychen nach Belieben neuerschaffen werden können« (Jameson 1998a: 57), nennt. Die Realität präsentiert sich hier analog zur Vielzahl an Optionen, die eine digitale Datei bereithält. Keine Entscheidung ist endgültig, Revisionen sind jederzeit möglich, und alle längst vergangenen Momente sind jederzeit wieder abrufbar. Der im letzten Kapitel erwähnte Manager auf der mittleren Führungsebene hat die Anpassung an diese »austauschbare« Realität zu einer Kunstform gemacht. An einem Tag verbreitete er aus vollster Überzeugung eine Geschichte über unsere Schule und ihre Zukunft: was die Inspektionen vermutlich implizieren werden, was die höhere Führungsebene denken würde. Dann, buchstäblich am nächsten Tag, erzählt er eine Geschichte, die dem am Vortag Erzählten vollkommen widersprach. Er widerrief seine vorherige Darstellung nicht; es wirkte eher, als ob er sich nur vage daran erinnert, jemals eine andere Geschichte erzählt zu haben. Vermutlich bezeichnet man so etwas als »gutes Management«. Vielleicht ist es auch die einzige Möglichkeit, inmitten der ständigen Instabilität des Kapitalismus einigermaßen gesund zu bleiben. Auf der Oberfläche ist dieser Manager von der mittleren Führungsebene ein Musterbeispiel für eine strahlende mentale Ausgeglichenheit, seine ganze Erscheinung versprüht die Aura des kumpelhaften Lebemanns. Diesen Frohsinn kann man nur aufrechterhalten, wenn man über keinerlei kritisches Reflexionsvermögen verfügt und wie dieser Manager fähig ist, mit jeder Direktive der bürokratischen Autorität zynisch konform zu gehen. Selbstverständlich ist Zynismus bei diesem Kon65

form-Gehen entscheidend. Um sein Selbstbild als »1968er« zu bewahren, durfte er »nicht wirklich« an den Prüfprozess glauben, den er so beflissen forciert hat. Diese Verleugnung hängt davon ab, ob man zwischen einer inneren, subjektiven Einstellung und dem äußeren Verhalten unterscheidet. Nach seiner inneren Einstellung ist der Manager gegenüber dem von ihm zu überwachenden bürokratischen Prozedere feindlich eingestellt, er verachtet es sogar. Aber in seinem äußeren Verhalten geht er damit konform. Gerade weil Arbeitskräfte nicht ihre volle Subjektivität in diese Überprüfungsprozesse des »Audit« investieren, sind sie fähig, weiterhin eine sinnlose und demoralisierende Arbeit auszuüben. Die Fähigkeit des oben erwähnten Managers, nahtlos von einer Realität in eine andere zu wechseln, erinnert mich an Ursula K. LeGuins Die Geißel des Himmels. LeGuins Roman erzählt die Geschichte von George Orr, dessen Träume wortwörtlich wahr werden. Wie es der altehrwürdigen Form von Märchen entspricht, werden seine erfüllten Wünsche jedoch schnell traumatisch und katastrophal. Als Orr zum Beispiel von seinem Therapeuten Dr. Haber davon überzeugt wird, dass das Problem der Überbevölkerung gelöst ist, findet er sich in einer Welt wieder, in der Milliarden von Menschen von einer Pest ausgelöscht wurden – einer Pest, die, wie Jameson in seiner Diskussion des Romans anmerkt, »ein zuvor unbekanntes Ereignis war, das schnell seinen Ort im chronologischen Gedächtnis der jüngsten Vergangenheit gefunden hat« (Jameson 2005: 78). Einen Großteil seiner Anziehungskraft zieht der Roman aus der Darstellung dieser retroaktiven Konfabulationen, deren Funktionsweisen uns gleichzeitig bekannt und fremd erscheinen, weil wir sie jede Nacht, wenn wir träumen, selbst erleben. Wie ist es möglich, dass wir aufeinander aufbauenden oder sogar inhaltsgleichen Geschichten glauben, die sich aber dennoch so offensichtlich widersprechen? Von Immanuel Kant, Friedrich Nietzsche und aus der Psychoanalyse wissen wir, dass unsere Wachzustände ebenso wie unsere Traumzustände oder unsere Erfahrungen lediglich von solchen narrativen Prüfverfahren abhängig sind. Wenn das Reale unerträglich wird, muss jegliche von uns konstruierte Realität ein Gewebe aus Inkonsistenzen darstellen. Die Ideen von Kant, Nietzsche 66

und Freud unterscheiden sich von dem ermüdenden Klischee »Das Leben ist nur ein Traum« jedoch dadurch, dass sie das uns umgebende Palaver als konsensual beschreiben. Die Vorstellung, wonach die Welt unserer Erfahrung eine solipsistische Täuschung ist, die aus dem Inneren unseres Bewusstseins projiziert wird, tröstet uns eher, als dass sie uns verstört. Denn sie geht mit unseren infantilen Fantasien der Omnipotenz konform. Der Gedanke, dass unser so genanntes Innenleben seine Existenz einem fiktionalisierten Konsens verdankt, wird dagegen immer etwas Unheimliches an sich haben. Diese zusätzliche Ebene der Unheimlichkeit wird in Die Geißel des Himmels veranschaulicht, wenn LeGuin Orrs realitätsverändernde Träume von Dritten bezeugen lässt: dem Therapeuten Dr. Haber, der Orrs Fähigkeiten kontrollieren und manipulieren möchte, und der Anwältin Heather Lelache. Aber wie fühlt es sich an, wenn man das Wahrwerden eines Traums von jemand anderem durchlebt? »Haber konnte nicht weitersprechen. Sein Mund war wie ausgetrocknet. Der Wechsel kam, die Veränderung. Er spürte es ganz genau. Die Frau spürte es ebenfalls. Er fühlte ihr Entsetzen. Ihre Hand umkrampfte den Messinganhänger der Halskette wie einen Talisman. Ihr Blick war starr nach draußen gerichtet. (...) Wie würde sie es aufnehmen? Verstand sie, worum es ging? Was würde sie tun? Behielt sie wie er die Erinnerung an beide Realitäten, die alte und die neue?« (LeGuin 1974: 69) Wird sie »verrückt«? Nein, kein bisschen: Einige Augenblicke lang verspürt sie einen verstörten Fluchtreflex, danach akzeptiert Heather Lelache die »neue« Welt als die »wahre« Welt und ignoriert die sichtbare Nahtstelle. Diese Strategie – das Inkommensurable und das Sinnlose ohne weitere Fragen zu akzeptieren – war schon immer die exemplarische Technik, um vernünftig zu bleiben. Aber im Spätkapitalismus, diesem »kunterbunten Gemälde« von allem je Existierenden, in dem soziale Fiktionen beinahe in der gleichen Geschwindigkeit erträumt und verworfen wie Waren produziert und verschrottet werden, kommt ihr eine besondere Rolle zu. Unter den Bedingungen ontologischer Prekarität wird das Vergessen zu einer adaptiven Strategie. Nehmen wir als Beispiel Gor67

don Brown, dessen zweckdienliche Neuerfindung seiner politischen Identität den Versuch einer Herbeiführung eines kollektiven Vergessens beinhaltete. In einem Artikel in International Socialism erinnert sich John Newsinger, wie »Brown der gesamten Konferenz der Confederation of British Industry erzählte, dass in seinen Adern das ›Blut eines Geschäftsmannes‹ flösse. Seine Mutter sei eine Firmenchefin gewesen und ›ich wurde in einer Atmosphäre erzogen, in der ich genau Bescheid wusste, worauf es im Geschäftsleben ankommt‹. Er sei einer von ihnen, ja, er wäre es immer schon gewesen. Das einzige Problem war, dass es nicht stimmte. Seine Mutter bekannte danach, dass sie sich niemals als ›eine Geschäftsfrau‹ bezeichnen würde: sie hätte lediglich ein paar ›kleinere Verwaltungsaufgaben‹ für ein ›kleines Familienunternehmen‹ übernommen und den Job drei Jahre bevor der kleine Gordon geboren wurde, aufgegeben. Es gab immer wieder Labour-Politiker, die versucht haben, eine Arbeiterklassen-Herkunft für sich zu reklamieren, aber Brown ist der erste, der sich eine kapitalistische Familie erfand.« (Newsinger 2007) Newsinger vergleicht Brown mit seinem Rivalen und Vorgänger Tony Blair – ein komplett anderer Fall. Während Blair, der das seltsame Spektakel eines postmodernen Messianismus aufführte, niemals irgendwelche Überzeugungen hatte, die er widerrufen hätte müssen, war Browns Weg vom presbyterianischen Sozialisten zum New Labour-Alphamännchen ein langer, beschwerlicher und schmerzhafter Prozess aus Zurückweisungen und Leugnungen. »Während es Blair keine großen Schwierigkeiten machte, den Neoliberalismus zu umarmen, weil er keine vorherigen Überzeugungen über Bord werfen musste«, so Newsinger, »musste sich Brown bewusst entscheiden, die Seiten zu wechseln. Diese Anstrengung hat vermutlich seiner Persönlichkeit geschadet.« (ebd.) Blair war durch seine Natur und Neigungen zum »letzten Mensch« geworden; Brown wurde dies durch schiere Willenskraft – zum Zwerg am Ende der Geschichte. Blair war der Mann ohne aufrechten Gang, der Außenseiter, den die Partei zur Machterlangung benötigte, sein Gesicht – hysterisch wie der Joker – war glatt wie das eines Vertreters. Browns 68

unglaubwürdige Selbsterfindung ist genau das, was die Partei selbst durchlaufen musste; seine Grimasse des falschen Lächelns war das objektive Korrelat des wahren Zustands der Labour Party, nachdem sie vollständig vor dem kapitalistischen Realismus kapituliert hatte: ohne Kern und Rückgrat. Ihr Innerstes war durch ein Simulakrum ersetzt, einst voller Glanz, aber jetzt die Attraktivität von zehn Jahre alter Computertechnik ausstrahlend. Angesichts von Realitäten und Identitäten, die wie Software geupgraded werden, ist es wenig überraschend, dass wie in den Bourne-Filmen, Memento oder Vergiß mein nicht Gedächtnisstörungen in den Mittelpunkt kultureller Angstzustände rücken. In den Bourne-Filmen geht Jason Bournes Abenteuerreise zur Wiedererlangung seiner Identität mit der kontinuierlichen Flucht vor einem festgelegten Selbst einher. »Versuche, mich zu verstehen«, sagt Bourne in Robert Ludlums Romanvorlage, »Ich muss bestimmte Dinge wissen, um eine Entscheidung treffen zu können … aber vielleicht nicht alles. Ich muss zu mir selbst sagen können, dass das, was einmal war, nicht länger ist, und die Möglichkeit besteht, dass es niemals war, weil ich keine Erinnerung daran besitze. Woran ein Mensch sich nicht erinnern kann, das existiert auch nicht für ihn.« (Ludlum 2002: 190) In den Filmen selbst wird Bournes transnationales Nomadentum durch einen übertrieben schnellen Schnitt abgebildet, der als eine Art Anti-Gedächtnis funktioniert und die Zuschauer in eine schwindelerregende »kontinuierliche Gegenwart« wirft, die Jameson als charakteristisch für eine postmoderne Zeitvorstellung erachtet. Der komplexe Plot von Ludlums Romanen wird zu einer Serie aus vergänglichen Ereignis-Chiffren und Versatzstücken einer Handlung, die sich kaum zu einer nachvollziehbaren Erzählung zusammenfügen. Seiner persönlichen Geschichte beraubt, fehlt es Bourne an einem narrativen Gedächtnis. Er behält lediglich, was man als formelles Gedächtnis bezeichnen könnte: die Erinnerung an Techniken, Praktiken, Handlungen, die in einer Reihe von physischen Reflexen und Ticks im Wortsinne verkörpert sind. Hier erinnert Bournes beschädigtes Gedächtnis an den postmodernen Nostalgiemodus, wie ihn Jameson beschreibt, in dem zeitgenössische, ja selbst futuristische Referenzpunkte auf der Ebene 69

des Inhalts verschleiern, wie sehr die Form etablierten oder antiquierten Modellen verhaftet bleibt. Auf der einen Seite entsteht so eine Kultur, die nur die Gegenwart und das Unmittelbare bevorzugt – die Auslöschung der Langfristigkeit dehnt sich zeitlich sowohl vor- als auch rückwärts aus (zum Beispiel ziehen Medienberichte für ca. eine Woche alle Aufmerksamkeit auf sich und sind danach sofort vergessen). Auf der anderen Seite ist diese Kultur schon fast exzessiv nostalgisch, der Retrospektion ergeben und unfähig zur Generierung irgendeiner Art von echter Neuartigkeit. Wahrscheinlich ist Jamesons Identifikation und Analyse dieser zeitlichen Antinomie sein wichtigster Beitrag zum Verständnis einer postmodernen und postfordistischen Kultur. »Das Paradox, von dem aus wir weiterdenken sollten,« schreibt er in »The Antimonies of Postmodernity«, »ist die Äquivalenz zwischen einer beispiellosen Veränderungsdynamik auf allen Ebenen des sozialen Lebens sowie einer beispiellosen Standardisierung – von Gefühlen ebenso wie von Konsumgütern, von Sprache und von Bauwerken –, die mit einer solchen Wandlungsfähigkeit eigentlich inkompatibel sein sollte. (…) Aber dann dämmert es uns, dass keine Gesellschaft jemals so standardisiert war, wie es diese ist, und dass der Strom von menschlicher, sozialer und historischer Zeitlichkeit noch niemals so homogen war. (…) Was wir deshalb zu spüren beginnen – und was als eine tiefe, grundlegendere Verfasstheit der Postmoderne, zumindest in ihrer zeitlichen Dimension in Erscheinung tritt – ist, dass dort, wo sich fortan nun alles dem unaufhörlichen Wandel der Mode und der medialen Bilderwelt unterordnet, sich nichts mehr jemals ändern kann.« (Jameson 1998a: 57ff.) Zweifelsohne ist dies nur ein weiteres Beispiel für den Kampf zwischen den Kräften der De- und der Reterritorialisierung, den Deleuze und Guatarri als konstitutiv für den Kapitalismus als solchen betrachten. Es würde mich nicht überraschen, wenn eine umfassende soziale und ökonomische Instabilität in einer Sehnsucht nach schon bekannten kulturellen Formen münden würde, zu denen wir auf die gleiche Art zurückkehren, wie Bourne zu seinen 70

Grundreflexen. Die das Korrelat zu dieser Situation darstellende Gedächtnisstörung ist die Krankheit, die Leonard in Memento (2000) befällt: eine theoretisch reine, anterograde Amnesie. Bei dieser Gedächtnisstörung bleiben Erinnerungen an Ereignisse aus der Zeit vor dem Auftreten der Störung intakt, aber die Betroffenen sind unfähig, neue Erinnerungen ins Langzeitgedächtnis zu übertragen. Das Neue erscheint so nur als feindlich, als flüchtig, als nicht navigierbar und der Betroffene zieht sich in die Sicherheit des Alten zurück. Die Unfähigkeit, neue Erinnerungen zu erzeugen – eine treffende Formulierung für die postmoderne Ausweglosigkeit… Wenn die Gedächtnisstörung eine überzeugende Analogie für die Glitches im kapitalistischen Realismus darstellt, so ist die Traumarbeit das Modell für sein reibungsloses Funktionieren. Wenn wir träumen, vergessen wir, aber gleichzeitig vergessen wir dies sofort wieder. Weil die Lücken und Leerstellen in unseren Träumen wegretuschiert werden, beunruhigen und quälen sie uns nicht. Die Traumarbeit produziert eine geschwätzige Konsistenz, die Anomalien und Widersprüche überdeckt. Genau diesen Aspekt betont Wendy Brown: Sie argumentiert, dass die Traumarbeit das beste Modell darstellt, um zeitgenössische Formen der Macht zu verstehen. In ihrem Essay »American Nightmare: Neoconservatism, Neoliberalism and De-democratization«, zerpflückt Brown die Allianz aus Neokonservatismus und Neoliberalismus, die bis 2008 die US-amerikanische Version des kapitalistischen Realismus darstellte. Brown zeigt, dass der Neoliberalismus und der Neokonservatismus von Prämissen ausgehen, die nicht nur inkonsistent, sondern sogar widersprüchlich sind. »Wie«, fragt sie, »hängt eine Rationalität, die sowohl auf der Ebene der Ziele als auch auf der Ebene der Mittel ausdrücklich unmoralisch ist (Neoliberalismus), mit einer Rationalität zusammen, die ausdrücklich moralisch und regulativ ist (Neokonservatismus)? Wie verträgt sich ein politisches Projekt, das die Welt von Bedeutung entleert, das das Leben herabsetzt und entwurzelt und offen das Begehren ausbeutet, mit einem, das darauf konzentriert ist, Bedeutungen zu fixieren und zu bestärken, das bestimmte Lebensstile kon71

servieren möchte und das unser Begehren reguliert? Wie vereint oder widerspricht sich eine Unterstützung einer Regierungsform, die sich am Modell der Firma und dem normativen Gesellschaftsprinzip des Eigeninteresses orientiert, mit der Unterstützung einer Regierungsform, die sich wiederum am Modell der kirchlichen Autorität und dem normativen Gesellschaftsprinzip der Selbstaufopferung und langfristiger kindlicher Ehrerbietung orientiert – genau das Sozialgewebe, das von einem ungezügelten Kapitalismus zerfetzt wird?« (Brown 2006: 692) Aber Inkohärenzen auf der Ebene, die Brown als »politische Rationalität« bezeichnet, verhindern keine Symbiose auf der Ebene politischer Subjektivität. Und auch wenn sie von sehr unterschiedlichen Leitvorstellungen ausgehen, so Brown, arbeiten der Neoliberalismus und der Neokonservatismus zusammen, um die Öffentlichkeit und die Demokratie zu unterminieren. Dabei produzieren sie einen regierten Bürger, der nicht in politischen Prozessen, sondern in Produkten nach Lösungen sucht. Brown argumentiert, dass »das wählende Subjekt und das regierte Subjekt weit davon entfernt sind, Gegensätze zu sein (…) Die Intellektuellen der Frankfurter Schule haben wie schon Platon vor ihnen die offene Inkompatibilität zwischen der individuellen Wahl und dem politischen Beherrschtsein theoretisiert und demokratische Subjekte beschrieben, die sich genau deshalb für politische Tyrannei und Autoritarismus anfällig zeigen, weil sie in einem Feld aus freier Wahl und Bedürfnisbefriedigung, das sie mit Freiheit verwechseln, vollständig aufgehen.« (ebd.: 705) Wenn wir Browns Argumentation ein wenig weiterdenken, könnten wir die These aufstellen, dass die bizarre Synthese aus Neokonservatismus und Neoliberalismus durch ein gemeinsames Objekt des Ekels zusammengehalten wurde: den so genannten GouvernantenStaat und den von ihm Abhängigen. Auch wenn er eine anti-stalinistische Rhetorik an den Tag legt, ist der Neoliberalismus in der Praxis nicht per se feindlich gegenüber dem Staat eingestellt gewesen – wie die Rettungsschirme für die Banken im Jahr 2008 bewiesen haben –, sondern lediglich gegenüber einer bestimmten Nutzung der Staatsfinanzen. Der starke Staat des Neokonservatismus 72

beschränkte sich auf die militärischen und polizeilichen Funktionen des Staatswesens und definierte sich in Abgrenzung zu einem Wohlfahrtsstaat, der angeblich die individuelle moralische Verantwortung unterminieren würde.

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8. »Es gibt keine Zentralstelle« Auch wenn sowohl Neoliberalismus als auch Neokonservatismus kein gutes Haar an ihr lassen, sucht die Idee des »GouvernantenStaats« den kapitalistischen Realismus ohne Unterlass heim. Das Gespenst des »Big Government« spielt eine essenzielle und libidinöse Rolle für den kapitalistischen Realismus. Seine Existenz ist notwendig, damit man ihm vorwerfen kann, dass es gerade nicht wie eine zentralistische Staatsmacht funktioniert. Diese Wut ähnelt der von Thomas Hardy, der angeblich auf Gott spuckte, weil er nicht existierte. »Immer wieder«, so James Meek in einem Artikel in der London Review of Books über die Privatisierung der Wasserversorgung in Großbritannien, »haben Tory- und Labour-Regierungen Folgendes feststellen müssen: Nach der Übertragung von öffentlichen Zuständigkeiten an Privatunternehmen und nachdem diese es dann »verbockt« haben, machten die Wähler die Regierung für die Privatisierung der Zuständigkeit verantwortlich anstatt die Privatunternehmen für ihren Missbrauch.« (Meek 2008) Meek hat Tewesbury, eine der 2007 von Überflutungen13 betroffenen Städte, ein Jahr nach der Katastrophe besucht. Vor Ort stellte er fest, dass die Verantwortung sowohl für die Überschwemmung als auch für das darauffolgende Scheitern von Hilfe- und Dienstleistungen bei privatisierten Wasserfirmen und privaten Baufirmen lag. »Allgemein gesprochen existiert in Tewkesbury«, so Meek, »mehr Wut über die Regierung, die Kommune und die Umweltbehörde, weil diese die Bauherren nicht gestoppt haben, als gegenüber den Baufirmen, weil diese dort gebaut haben oder gegenüber den Käufern dieser Häuser, weil sie dort ein Haus Im Sommer 2007 waren weite Teile der britischen Inseln von starken Überflutungen betroffen, die den größten Militäreinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg nach sich zogen. Der durchschnittliche Regenfall hatte sich verdoppelt, was u.a. durch einen sich nach Süden verschiebenden Golfstrom verursacht worden sein könnte. Die Labour-Regierung geriet für ihr Verhalten während der Überflutungen in die Kritik, da sie angeblich frühe Warnungen ignoriert hatte und die Zuständigkeiten auf vier verschiedene Ministerien verteilte, anstatt sie zu bündeln. (Anm.d.Ü.) 13

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gekauft haben. Wenn Versicherungen ihre Gebühren erhöhen, richtet sich die Wut gegen die Regierung, weil diese nicht genügend für Deiche etc. ausgibt, anstatt gegen die Versicherungsgesellschaften, weil diese ihre Gebühren erhöhen, oder gegen die Leute, die in einem Tal mit Überflutungsgefahr wohnen, aber für diese Gefahr keine zusätzlichen Gebühren zahlen wollen.« (ebd.) Dieses Syndrom wiederholte sich bei einer völlig anders gelagerten Katastrophe in einer weitaus größeren Dimension: der Bankenkrise vom Herbst 2008.14 Die Medien konzentrierten sich in ihrer Berichterstattung auf die Exzesse individueller Banker und den Umgang der Regierung mit der Krise, nicht aber auf die systematischen Ursachen derselben. Ich möchte New Labour nicht für ihren Anteil an solchen Desastern in Schutz nehmen, aber anzuerkennen ist, dass es einem Ablenkungsmanöver gleicht, wenn man sich bei der Ursachenklärung der Finanzkrise lediglich auf die Regierung oder amoralische Individuen konzentriert. Eine Regierung zum Sündenbock zu erklären, die gerade damit beschäftigt ist, den Schlamassel zu beheben, den ihre Geschäftspartner verbockt haben, zeugt von einer anhaltend feindseligen Gesinnung gegenüber dem Gouvernanten-Staat. Dies geht mit der Weigerung einher, die Konsequenzen der Aushebelung der Regierung im globalen Kapitalismus zu akzeptieren. Ein Zeichen wiederum, dass eine Akzeptanz auf der Ebene des politisch Unbewussten eventuell gar nicht möglich ist, dass es keine alles überblickenden Kontrolleure gibt, dass eigentlich das, was als herrschende Macht ausfindig gemacht werden kann, nebulöse, der Zurechenbarkeit entbundene, im Dienste von unternehmerischer Unverantwortlichkeit stehende Interessen sind. 2008 erreichte die von den USA ausgehende Kreditkrise endgültig das UK. Am 22. Februar wurde die Bank Northern Rock, die bereits im Herbst 2007 eine Finanzspritze von der Bank of England erhalten hatte, verstaatlicht, womit die Regierung £87 Milliarden Schulden übernahm. Im Oktober 2008 legte die Labour-Regierung ein erstes Rettungspaket in Höhe von £580 Milliarden auf. Mit diesem Geld wurden u.a. Anteile der Royal Bank of Scotland, HBOS und Lloyds TSB gekauft. Im Frühjahr 2009 legte die Regierung ein zweites Bankenrettungspaket in Höhe von £50 Milliarden auf. Im Herbst 2009 beschloss die Regierung die Einführung einer »Supersteuer«, um Bonuszahlungen an Bankangestellte zu begrenzen. (Anm.d.Ü.) 14

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Vielleicht ein Fall von Verleugnung als Fetisch: »Wir wissen ganz genau, dass die Regierung nicht die Zügel in der Hand hält, aber trotzdem…« Diese Verleugnung geschieht zum Teil, weil die Zentrumslosigkeit des globalen Kapitalismus unvorstellbar ist. Selbst wenn die Menschen als Konsumenten angerufen werden – und, worauf Wendy Brown und andere hingewiesen haben, die Regierung selbst als eine Art Ware oder Dienstleistung dargestellt wird – können die Menschen sich selbst nicht anders als in der Form von Bürgern (oder so als seien sie Bürger) denken. Wir können die Zentrumslosigkeit des globalen Kapitalismus nicht unmittelbarer erfahren als durch ein Telefonat mit einem Callcenter. Als Konsument im Spätkapitalismus existiert man verstärkt in zwei vollkommen unterschiedlichen Realitäten: in einer, in der eine Dienstleistung ohne mit der Wimper zu zucken erfüllt wird und einer komplett anderen, dem irren, kafkaesken Labyrinth der Callcenter, einer Welt ohne Gedächtnis, in der Ursache und Wirkung auf mysteriöse, unergründliche Art und Weise miteinander verbunden sind, in der es ein Wunder ist, falls überhaupt jemals etwas passiert, und in der man die Hoffnung verliert, jemals wieder auf die andere Seite zurückzufinden – dorthin, wo die Dinge reibungslos funktionieren. Was könnte besser als das Callcenter exemplifizieren, wie eine neoliberale Welt dem Anspruch ihrer eigenen PR nicht gerecht wird? Obwohl schlechte Erfahrungen mit Callcentern universell sind, können sie der Grundannahme eines effizienten Kapitalismus nichts anhaben – fast so, als wären die Probleme mit Callcentern nicht Folge des systematischen Vollzugs der Logik des Kapitals, die Organisationen dermaßen auf das Profitmachen fixiert, dass sie einem gar nichts mehr verkaufen können. Aus der Erfahrung des Callcenters lässt sich die politische Phänomenologie des Spätkapitalismus herausdestillieren: Langeweile und Frustration werden punktuell von fröhlicher PR durchbrochen, man wiederholt andauernd die immergleichen, trostlosen Einzelschritte gegenüber kaum ausgebildeten und schlecht informierten Mitarbeitern, und die sich aufstauende Wut muss ohnmächtig bleiben, weil sie kein legitimes Ziel finden kann, denn – wie dem Anrufer relativ schnell deutlich wird: Es gibt niemanden, 76

der etwas wüsste und auch niemanden, der etwas tun könnte, selbst wenn diese Person dazu fähig wäre. Wut wird so zu einer Frage des Dampfablassens – zu einer Form von Aggression im Vakuum, die sich gegen jemanden richtet, der ebenfalls ein Opfer des Systems ist, in dem es keine Möglichkeit der Gemeinschaftlichkeit gibt. Ebenso wie diese Wut auf kein angemessenes Ziel gerichtet werden kann, bleibt sie ohne Konsequenzen. In so einer Welt, in der das System als teilnahmslos, unpersönlich, ohne Zentrum, abstrakt und fragmentarisch erfahren wird, kommt man im Callcenter der aufgestauten Dummheit des Kapitals an sich am nächsten, ohne ihr direkt entgegenzutreten. Die Callcenter-Angst illustriert einmal mehr, warum man Kafka nicht gerecht wird, wenn man ihn lediglich als Schriftsteller des Totalitarismus begreift; eine dezentralisierte, marktstalinistische Bürokratie ist weitaus kafkaesker als eine mit einer Zentralgewalt. Führt man sich die trostlose Farce vor Augen, die K. mit den Telefonzweigstellen des Schlosses durchlebt, fällt es einem nicht schwer, dies als gruselige Prophezeiung der Callcenter-Erfahrung zu begreifen. »Es gibt keine bestimmte telephonische Verbindung mit dem Schloß, keine Zentralstelle, welche unsere Anrufe weiterleitet; wenn man von hier aus jemanden im Schloß anruft, läutet es dort bei allen Apparaten der untersten Abteilungen oder vielmehr, es würde bei allen läuten, wenn nicht, wie ich bestimmt weiß, bei fast allen dieses Läutwerk abgestellt wäre. Hie und da aber hat ein übermüdeter Beamter das Bedürfnis, sich ein wenig zu zerstreuen – besonders am Abend oder bei Nacht – und schaltet das Läutwerk ein, dann bekommen wir Antwort, allerdings eine Antwort, die nichts ist als Scherz. Es ist das ja auch sehr verständlich. Wer darf denn Anspruch erheben, wegen seiner privaten kleinen Sorgen mitten in die wichtigsten und immer rasend vor sich gehenden Arbeiten hineinzuläuten? Ich begreife auch nicht, wie selbst ein Fremder glauben kann, daß wenn er zum Beispiel Sordini anruft, es auch wirklich Sordini ist, der ihm antwortet.« (Kafka 1996: 91) Die Reaktion von K. nimmt die verwunderte Frustration eines Individuums im Labyrinth des Callcenters vorweg. Auch wenn viele Unterhaltungen mit Callcenter-Mitarbeitern auf dadaistische Weise 77

unsinnig wirken, können sie nicht als solche behandelt werden. Man kann sie nicht verwerfen, so als hätten sie keine Bedeutung. »So habe ich das allerdings nicht angesehen«, sagte K., »diese Einzelheiten konnte ich nicht wissen, viel Vertrauen aber hatte ich zu diesen telephonischen Gesprächen nicht und war mir immer dessen bewußt, daß nur das wirkliche Bedeutung hat, was man geradezu im Schloß erfährt oder erreicht.« »Nein«, sagte der Vorsteher, an einem Wort sich festhaltend, »wirkliche Bedeutung kommt diesen telephonischen Antworten durchaus zu, wie denn nicht? Wie sollte eine Auskunft, die ein Beamter aus dem Schloß gibt, bedeutungslos sein?« (ebd.: 92) Die herausragende Genialität von Kafka besteht darin, dass er die dem Kapital innewohnende negative Atheologie untersucht hat: Das Zentrum fehlt, aber wir können nicht anders als danach zu suchen oder es zu behaupten. Es ist nicht so, als gäbe es dort nichts – sondern was dort ist, ist nicht zur Verantwortungsübernahme fähig. Das gleiche Problem wird von Campbell Jones in einem Aufsatz namens »The Subject Supposed to Recycle« aus einem anderen Blickwinkel betrachtet. Er fragt, wer denn das Subjekt sei, das Recycling betreiben soll – und dadurch denaturalisiert Jones einen Imperativ, der sich als so selbstverständlich zu verstehen gibt, dass es fast schon sinnlos oder gar unethisch geworden ist, sich ihm zu widersetzen: Jeder soll recyceln. Niemand, abseits jeder politischen Couleur, darf sich dieser Aufforderung widersetzen. Die Forderung, dass wir alle recyceln, wird als ein prä- oder post-ideologischer Imperativ ausgedrückt – oder anders formuliert: Sie ist auf genau der Ebene angesiedelt, auf der Ideologie immer ihre Arbeit verrichtet. Aber das zum Recyceln angehaltene Subjekt, argumentiert Jones, setzt eine Struktur voraus, die nicht recyceln darf: Dadurch, dass man Recycling in die Verantwortlichkeit von »Jedermann« übergibt, gliedert diese Struktur ihre eigene Verantwortung an die Kunden aus und zieht sich selbst in die Unsichtbarkeit zurück (vgl. Jones 2010). Gerade jetzt, da der Appell an die ethische Verantwortung eines jeden Einzelnen so lautstark ist wie nie zuvor – Judith Butler nennt dieses Phänomen in Raster des Krieges »responsabilisation« (Butler 2010: 41), – ist es notwendig, dahinter eine Struktur in ihrer totalisierendsten Form zu vermuten. An78

statt zu behaupten, dass jede und jeder, d.h. jeder für sich, für den Klimawandel verantwortlich ist, wäre es besser zu sagen, dass niemand dafür verantwortlich ist und dass genau darin das Problem besteht. Der Grund für die Ökokatastrophe liegt in einer unpersönlichen Struktur, die, selbst wenn sie fähig ist, alle möglichen Effekte zu verursachen, eben kein Subjekt ist, das Verantwortung übernehmen könnte. Das dafür notwendige – kollektive – Subjekt existiert nicht. Aber wie alle anderen globalen Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, verlangt auch diese Krise nach seiner Konstruktion. Der Appell an eine ethische Unmittelbarkeit, der in der politischen Kultur Großbritanniens seit mindestens 1985 – als der sentimentale Konsens von Live Aid den Antagonismus des Bergarbeiterstreiks ersetzte – vorherrschend ist, schiebt das Erscheinen eines solchen Subjekts permanent auf. Mit ähnlichen Fragen beschäftigt sich ein Text von Armin Beverungen über Alan Pakulas Film Zeuge einer Verschwörung (1974). In diesem argumentiert er, dass der Film eine Art Diagramm darstellt, das erklärt, warum ein bestimmtes Modell von (Unternehmens-)Ethik nicht funktioniert. Das Problem ist, dass die von den meisten Ethiken vertretene Vorstellung individueller Verantwortung sehr wenig Einfluss auf das Verhalten des Kapitals oder bestimmter Firmen hat (vgl. Beverungen 2008). Zeuge einer Verschwörung ist in gewisser Weise ein Meta-Verschwörungsfilm: ein Film, der nicht nur von Verschwörungen handelt, sondern auch von der Unmöglichkeit, diese aufzudecken; oder – noch schlimmer – über die Art und Weise, in der eine bestimmte Form der Ermittlung die Verschwörungen, die sie eigentlich aufdecken will, am Leben erhält. Der von Warren Beatty gespielte Charakter wird des zu untersuchenden Verbrechens zu Unrecht beschuldigt und hinterher umgebracht: Damit ist er eliminiert und seine Ermittlung wird unterlaufen. Fredric Jameson hat in seinem Kommentar zum Film in The Geopolitical Aesthetic festgehalten, dass es genau seine Hartnäckigkeit und sein quasi-soziopathologischer Individualismus sind, wegen denen Beattys Charakter problemlos verleumdet werden kann. Der erschreckende Klimax von Zeuge einer Verschwörung – die Silhouette von Warren Beattys anonymem Attentäter erscheint vor 79

einem schmerzhaft weißen Hintergrund – spiegelt meiner Meinung nach die offene Tür am Ende eines vollkommen anderen Films wider: Peter Weirs Die Truman Show (1998). Aber während die Tür, die am Ende von Weirs Film am Horizont aufgeht und sich in einen schwarzen Raum hinein öffnet, mit dem Universum des totalen Determinismus, dem Nichts bricht – von dem auch eine existentialistische Freiheit abhängig ist –, öffnet sich in Zeuge einer Verschwörung die letzte Tür »zu einer Welt, die, soweit das Auge reicht, wie eine Verschwörung organisiert und kontrolliert wird (Jameson 1992: 60). In der anonymen Person, die an der Türschwelle mit einem Gewehr in der Hand steht, verdichtet sich das Sinnbild einer Verschwörung (oder der Verschwörung an sich), deren Aufklärung uns vorenthalten wird. Sie wird nie durch ein einzelnes böswilliges Individuum dargestellt. Auch wenn sie vermutlich Teil einer Firma ist, werden die Interessen und Motive der Verschwörung in diesem Film niemals artikuliert (vermutlich noch nicht mal von denen, die tatsächlich in sie involviert sind). Wer weiß schon, was die Parallax Corporation wirklich will? Sie befindet sich selbst in der Parallaxe zwischen Politik und Ökonomie. Ist sie eine kommerzielle Fassade für politische Interessen oder ist die gesamte Regierung eine Fassade für sie? Es ist nicht eindeutig, ob die Parallax Corporation überhaupt existiert – es ist auch nicht klar, ob es nicht ihr Ziel sein könnte vorzutäuschen, dass sie nicht existiert bzw. vorzutäuschen, dass sie existiert. Mit Sicherheit existieren Verschwörungen im Kapitalismus, aber das Problem ist, dass sie nur deswegen möglich sind, weil es eine Struktur gibt, die ihnen ein Funktionieren ermöglicht. Oder ist wirklich jemand der Ansicht, dass sich die Verhältnisse zum Besseren wenden würden, wenn wir die gesamte Klasse von Bankern und Managern durch andere (»bessere«) Menschen ersetzen? Demgegenüber lässt sich mit Sicherheit behaupten, dass das Übel in der Struktur steckt, und dass, solange die Struktur erhalten bleibt, sich auch die Übel reproduzieren werden. Die Stärke von Pakulas Film ist, dass er die schattenhafte, zentrumslose Unpersönlichkeit evoziert, die zu einer richtigen Verschwörung gehört. Wie Jameson feststellt, liegt das Besondere darin, dass Pakula die affektive Ton80

lage des Unternehmerischen so gut in Zeuge einer Verschwörung erfasst: »Für die Teilnehmer an der Verschwörung ist ›sich sorgen‹ eine Frage schmunzelnden Selbstvertrauens, und sie werden dabei nicht von persönlichen Gedanken, sondern von denen des Unternehmens beherrscht, einer Sorge um die Lebensfähigkeit ihres Netzwerks oder der Institution, eine entkörperlichte Ablenkung oder Unachtsamkeit, die den abwesenden Raum der kollektiven Organisation selbst besetzt und zwar ohne die ungeschickten Mutmaßungen, die die Lebenskräfte aus ihren Opfern saugen. Diese Menschen wissen Bescheid und sind daher fähig, ihre charakterliche Präsenz in eine intensive, aber selbstgefällige Aufmerksamkeit zu investieren, deren Gravitätszentrum woanders liegt: in eine versunkene Entschlossenheit, die zugleich eine Form von Desinteresse ist. Aber dieser sehr unterschiedliche Typ Sorge, der gleichermaßen entpersonalisiert ist, bringt seine eigenen, spezifischen Angstzustände mit sich, fast so als wäre er unbewusst und gemeinschaftlich, ohne Konsequenzen für die einzelnen Schurken.« (ebd.: 66) »… ohne Konsequenzen für die einzelnen Schurken …« Wie passend dieser Satz nach dem Tod von Jean Charles de Menezes15 und Ian Tomlinson16 sowie nach dem Bankenfiasko doch klingt. Jean Charles de Menezes wurde am 22. Juli 2005, zwei Wochen nach den islamistischen Terroranschlägen in London, Opfer eines Anti-Terroreinsatzes der London Metropolitan Police, die ihn in der U-Bahn Station Stockwell mit elf Schüssen gezielt tötete, weil sie vermutete, dass er ein Selbstmordattentäter sein könnte. Scotland Yard musste bereits am nächsten Tag zugeben, dass dies ein Irrtum gewesen ist, rechtfertigte den Einsatz aber damit, dass er eine dicke Winterjacke getragen habe und vor den Polizisten geflüchtet sei. Bilder aus den Überwachungskameras in der U-Bahn-Station konnten die Angaben der Polizei nicht bestätigen. In einem Zivilprozess wurde die Metropolitan Police zu einer Schadensersatzzahlung verurteilt, das Gericht hielt es jedoch für unmöglich, einzelnen Polizisten »eine individuelle Schuld« nachweisen zu können. (Anm.d.Ü.) 16 Ian Tomlinson starb am 1. April 2009 am Rande der Proteste gegen den G20-Gipfel in der Londoner City an einem Herzinfarkt. Einige Tage später veröffentlichte der Guardian ein Video, auf dem Tomlinson kurz vor seinem Tod von dem Polizisten Simon Harwood ohne Anlass attackiert wird und daraufhin zu Boden geht. Eine unabhängige Untersuchung befand im 15

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Jameson beschreibt in diesen Zeilen den entwürdigenden Schutzmantel der Unternehmensstruktur – die einen abstumpfen lässt, während sie den Manager schützt, aushöhlt und abwesend erscheinen lässt. Er stellt sicher, dass deren Aufmerksamkeit sich ständig verlagert und dass sie nicht zuhören können. Die Selbsttäuschung derjenigen, die mit großen Erwartungen eine Karriere im Management beginnen, besteht darin, dass sie als Individuen die Dinge ändern können, dass sie nicht wiederholen, was ihre Vorgesetzten getan haben, dass die Dinge diesmal anders sein werden. Aber beobachtet man jemanden, wie er ins Management aufsteigt, vergeht nicht viel Zeit, bis ihn die graue Versteinerung der Macht erfasst hat. An dieser Stelle wird die Struktur besonders erfahrbar – man kann praktisch dabei zusehen, wie Menschen von ihr eingenommen werden, man hört ihre abgestumpften und abstumpfenden Urteile durch sie sprechen. Aus diesem Grund ist es ein Fehler, dem Einzelnen hastig eine individuelle, ethische Verantwortung aufzubürden, die die Struktur des Unternehmens abzuwehren habe. Dies ist die Verführung des Ethischen, die, wie Žižek argumentiert hat, das kapitalistische System benutzt, um sich selbst noch im Kielwasser der Finanzkrise zu schützen (vgl. Žižek 2009). Die Schuld wird bei den angeblich pathologischen Individuen abgeladen, denjenigen, die »das System missbrauchen«, anstatt beim System selbst. Aber diese Abwälzungsstrategie ist in Wirklichkeit ein Procedere mit zwei Schritten – die Struktur wird an genau den Punkten (implizit oder explizit) beschworen werden, an denen die Möglichkeit bestünde, dass Individuen, die Teil der Struktur des Unternehmens sind, bestraft werden könnten. An diesem Punkt sind die Gründe des Missbrauchs oder der Gräuel auf einmal so dermaßen systemisch und so diffus, dass kein Individuum dafür verantwortlich gemacht werden kann. Genau dies ist bei der Hillsborough-Katastrophe17 passiert, Mai 2011, dass es sich bei Tomlinsons Tod um eine »unrechtmäßige Tötung« gehandelt habe, daraufhin wurde im Juni 2012 ein Verfahren gegen Simon Harwood wegen Totschlags eröffnet, das mit einem Freispruch endete. (Anm.d.Ü.) 17 Während eines Fußballspiels im Sheffielder Hillsborough Stadion am 15. April 1989 zwischen Liverpool und Nottingham öffneten Ordnungs-

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der Farce um Jean Charles De Menezes und in vielen anderen Fällen. Aber diese argumentative Sackgasse – es sind nur Individuen für Handlungen ethisch verantwortlich zu machen und dennoch sind die Ursachen dieser Missbräuche und Fehler Teil des Unternehmens und systematisch – ist nicht nur bloße Spiegelfechterei: Sie weist präzise auf das hin, was im Kapitalismus momentan fehlt. Welche wirkmächtigen Akteure sind dazu imstande, unpersönliche Strukturen zu regulieren und zu kontrollieren? Wie ist es möglich, die Struktur des Unternehmens zu bestrafen? Ja, Firmen können rein juristisch als Individuen betrachtet werden – aber das Problem ist, dass Firmen, wenngleich sie Rechtspersonen sind, keine individuellen menschlichen Wesen sind und jegliche Analogie zwischen der Bestrafung eines Individuums und der Bestrafung einer Firma zwangsläufig sein Ziel verfehlt. Und es ist ja nicht so, als wären Unternehmen die tief verborgenen Drahtzieher hinter allem. Auch sie werden vom Kapital – der ursächlichen Kraft, die keine Subjektform annimmt – zum Handeln gezwungen oder sind dessen Ausdrucksform.

kräfte ein Tor, wodurch zu viele Fans in den Block des FC Liverpool eingelassen wurden. Im Gedränge starben 96 Menschen, 766 Fans wurden verletzt. Die Aufarbeitung des Falls verlief schleppend. The Sun beschuldigte betrunkene Fans. Erst 2011 erhielt eine Untersuchungskommission nach einer erfolgreichen Petition Einblick in die offiziellen Akten und stellte fest, dass das Unglück allein auf Verfehlungen der Ordnungskräfte zurückzuführen ist. Premierminister David Cameron entschuldigte sich daraufhin im Parlament. Bis heute ist kein Polizist wegen des Vorfalls vor Gericht gestellt worden. (Anm.d.Ü.)

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9. Die marxistische Supernanny Nichts könnte deutlicher machen, was Žižek als das Scheitern der Vaterfunktion, als die Krise des väterlichen Über-Ichs im Spätkapitalismus bezeichnet, als eine Folge der Serie Supernanny. Die Sendung stellt nichts anderes dar als einen erbarmungslosen, wenngleich impliziten Angriff auf den permissiven Hedonismus der Postmoderne. Eigentlich ist die Supernanny ein Spinozist, da sie wie auch Spinoza davon ausgeht, dass sich Kinder in einem Zustand der Erniedrigung befinden. Sie sind unfähig, ihre eigenen Interessen zu erkennen und die Ursachen ihrer Handlungen oder ihre (für gewöhnlich schädlichen) Konsequenzen zu begreifen. Aber die Probleme, mit denen die Supernanny konfrontiert wird, werden nicht durch die Handlungen oder den Charakter der Kinder (von denen man erwarten kann, dass sie stumpfe Hedonisten sind) verursacht, sondern durch die Eltern. In den porträtierten Familien wird der Großteil der Probleme dadurch hervorgerufen, dass die Eltern dem Lustprinzip, dem Weg des geringsten Widerstands, folgen. Innerhalb eines Musters, das einem schnell bekannt vorkommt, streben die Eltern ein lockeres Leben an. Das führt dazu, dass sie sämtlichen Forderungen ihrer immer tyrannischer werdenden Kinder nachgeben. Ähnlich wie viele Lehrer oder andere Angestellte in dem Bereich, den man früher einmal »öffentlicher Dienst« nannte, muss die Supernanny die Sozialisationsprobleme lösen, die die Familien nicht länger alleine bewältigen können. Eine marxistische Supernanny würde dagegen den Fehler selbstverständlich nicht in den einzelnen Familien suchen, sondern auf die strukturellen Ursachen schauen, die immer ein und denselben wiederkehrenden Effekt produzieren. Das Problem besteht darin, dass der Spätkapitalismus sowohl darauf besteht als auch darauf angewiesen ist, das Begehren mit den Interessen gleichzusetzen – eine Gleichsetzung, die für gewöhnlich in der Kindererziehung verweigert wird. In einer Kultur, in der das »väterliche« Konzept der Pflicht unter den »mütterlichen« Imperativ des Genießens subsumiert wird, mag es so wirken, als ob Eltern 84

ihren Pflichten nicht nachkommen, wenn sie auch nur geringfügig das unumschränkte Recht ihrer Kinder auf Genuss einschränken. Teilweise rührt dies daher, dass immer häufiger beide Elternteile arbeiten müssen. Dadurch sehen Eltern das Kind nur selten. Es schleicht sich die Tendenz ein, dass sich Eltern verweigern, eine »unterdrückerische« Funktion einzunehmen, die dem Kind vorschreibt, was es zu tun hat. Die elterliche Verleugnung dieser Rolle wird auf der Ebene der kulturellen Produktion durch »Gatekeeper« verdoppelt. Diese weigern sich, ihrem Publikum irgendetwas anderes anzubieten als das, was es (angeblich) immer schon verlangt hat. Die konkrete Frage ist doch: Wenn die Rückkehr zu einem väterlichen Über-Ich – der strenge Vater zu Hause, die Reith’sche18 Hochmütigkeit im Rundfunk – weder möglich noch wünschenswert sind, wie gelangen wir über eine Kultur der monotonen, zum Untergang geweihten Konformität hinaus, die sich aus der Verweigerung speist, herauszufordern oder zu erziehen? Eine so umfassende Frage kann natürlich nicht in einem schmalen Bändchen wie diesem beantwortet werden; auf den nächsten Seiten werde ich nicht mehr als ein paar Ideen und Anregungen geben können. Kurz zusammengefasst, denke ich, dass Spinoza die besten Anknüpfungspunkte bereithält, um aufzuzeigen, wie ein »Paternalismus ohne Vaterfigur« aussehen könnte. In Verweilen beim Negativen (1993) argumentiert Slavoj Žižek bekanntermaßen, dass ein gewisser Spinozismus der Ideologie des Spätkapitalismus entspricht. Žižek ist der Ansicht, dass Spinozas Zurückweisung der De-Ontologisierung zugunsten einer auf dem Konzept der Gesundheit beruhenden Ethik die amoralische Affektherstellung des Spätkapitalismus beherbergt. Sein berühmtes Beispiel ist Spinozas Lesart des Mythos vom Sündenfall und der daran anschließenden Begründung des Rechts. In Spinozas LesJohn Reith war der erste Generaldirektor der BBC (1922–1938). In dieser Zeit formulierte er eine Reihe von Prinzipien, an denen sich ein öffentlicher Rundfunk orientieren sollte: eine gleichwertige Berücksichtigung aller Standpunkte, Redlichkeit, Universalität und dem Dienst an der Öffentlichkeit verpflichtet zu sein. Dies schloss ein, kommerzielle Überlegungen bei der Programmgestaltung abzulehnen und sich hier lediglich der Qualität der Sendung zu widmen. (Anm.d.Ü.) 18

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art verurteilt Gott Adam nicht, weil er die Tat des Apfelessens für grundsätzlich falsch hält, er rät ihm nur davon ab, weil dieser ihn sonst vergiften würde. Für Žižek versinnbildlicht dies das Ende der Vaterfunktion. Eine Handlung ist nicht deswegen verkehrt, weil Papa das sagt. Nein, Papa gibt nur zu verstehen, dass die Tat »falsch« sei, weil sie uns schaden würde. Žižek zufolge kommt es bei Spinoza zu einer zweifachen Verschiebung: Aus dem Recht, dem er sein Fundament entzieht, macht er einen Akt der sadistischen Spaltung (der grausame Schnitt der Kastration); und indem er die fundamentlose Setzung der Handlungsfähigkeit bestreitet, wird daraus ein Akt der reinen Willenskraft, in welchem das Subjekt die komplette Verantwortung übernimmt. In der Tat lassen sich bei Spinoza einige Hinweise finden, wie sich das affektbeladene Regime des Spätkapitalismus, dieser Videodrome-ähnliche Kontrollapparat, der von William S. Burroughs, Philip K. Dick und David Cronenberg beschrieben wurde und in dem sich das Handeln in einem phantasmagorischen Benebeltsein aus psychischen und physischen Drogen auflöst, analysieren ließe. Wie Burroughs zeigt Spinoza, dass die Sucht kein devianter Zustand ist, sondern der Normalzustand, in dem Menschen durch starre Bilder von sich und der Welt in reaktive und repetitive Verhaltensmuster gedrängt werden. Spinoza zeigt dagegen, wie Freiheit erst erreicht werden kann, wenn wir die wahren Ursachen unserer Handlungen begreifen, wenn wir die »trübsinnigen Leidenschaften« (Gilles Deleuze), die uns bedämmern und in Trance versetzen, hinter uns lassen können. Zweifelsohne artikuliert der Spätkapitalismus viele seiner Anrufungen über eine Aufforderung zu einer bestimmten Form des gesunden Lebens. Das Rauchverbot in der Öffentlichkeit oder die unbarmherzige Dämonisierung der Arbeiterklasse in Sendungen wie »You are what you eat«19, scheinen anzudeuten, dass wir bereits in der Gegenwart eines »Paternalismus ohne Vater« leben. So wird ja nicht behauptet, das Rauchen sei »falsch«, es hindert uns nur daran, ein langes und erfreuliches Leben zu führen. Aber dieses Modell »You are what you eat« ist eine Reality-TV-Show, die von 2004 bis 2007 auf dem britischen Sender Channel 4 lief. In dieser Show sollten die Teilnehmer über Schockeffekte, z.B. die Analyse ihres Stuhlgangs, zu einer Auseinandersetzung mit ihrer Ernährungsweise gezwungen werden. (Anm.d.Ü.) 19

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eines gesunden Lebens hat seine Grenzen: Psychische Gesundheit und intellektuelle Entwicklung kommen darin z.B. kaum vor. Stattdessen werden wir mit einem reduktionistischen und lustbetonten Modell von Gesundheit konfrontiert, bei dem es nur darum geht, sich »gut zu fühlen und gut auszusehen«. Leuten vorzuschreiben, dass sie abnehmen sollen oder wie sie ihr Haus zu dekorieren haben, scheint allgemein akzeptiert zu sein, während jegliche Form kulturellen Fortschritts als unterdrückerisch und elitär abgetan wird. Diese Ablehnung einer angeblichen Unterdrückung und eines vermuteten Elitismus kann nicht daher rühren, dass jemand Drittes eventuell die eigenen Interessen besser einschätzen kann als man selbst. Schließlich sollte man doch auch bei Rauchern annehmen, dass sie entweder ihre eigenen Interessen nicht erkennen oder unfähig sind, im Einklang damit zu handeln. Nein, das Problem ist, dass nur bestimmte Formen des Selbstinteresses als relevant betrachtet werden, da sie Werte widerspiegeln, die im Allgemeinen als Konsens gelten können. Abnehmen, Renovieren und besser Aussehen sind Bestandteile des »konsentimentalen« Regimes. In einem exzellenten Interview beschreibt der Filmemacher Adam Curtis die Konturen dieses Regimes des Affektmanagements. »Das Fernsehen erzählt dir heute, wie du dich fühlen sollst. Es sagt dir aber nicht mehr, was du denken sollst. Von EastEnders bis zu Reality-TV-Shows wird man Teil der emotionalen Reise anderer Menschen. Und durch den Schnitt wird einem sanft die konsensuelle Form der eigenen Gefühle suggeriert. Ich bezeichne das als »Hugs and Kisses«. Den Ausdruck habe ich von Mark Ravenhill geklaut, der einen sehr guten Text darüber geschrieben hat, dass Fernsehen heute am ehesten ein System der Unterweisung ist – es erzählt dir, wer die guten und wer die bösen Gefühle besitzt. Und der Person mit den bösen Gefühlen wird am Ende durch einen ›Hugs and Kisses‹-Moment verziehen. Es ist ein System der emotionalen und keins der moralischen Orientierungshilfe.« (Orlowski 2007) Moral ist also durch Gefühle und Affekte ersetzt worden. In diesem »Reich des Selbst« fühlen »alle das gleiche«, ohne jemals die87

sen solipsistischen Zustand zu verlassen. »Die Menschen leiden daran« behauptet Curtis, »dass sie in sich selbst gefangen sind – in einer Welt des Individualismus sind alle in ihren eigenen Gefühlen, in ihren eigenen Vorstellungen gefangen. Unser Job als öffentlich-rechtliche Medienmacher besteht darin, die Leute außerhalb der Grenzen ihres eigenen Selbst zu führen und solange wir dem nicht nachkommen, wird unser Niedergang weitergehen. Die BBC sollte das endlich einsehen. Ich bin da idealistisch, aber wenn die BBC genau das tun könnte, nämlich die Leute über ihr Selbst hinausführen, wird sie sich auf eine konkurrenzlose Art neu erfinden. Die Konkurrenz ist besessen davon, die Menschen und ihr winziges Ego zu bedienen. Selbst Murdoch ist bei all seiner Macht in gewisser Weise von diesem Ego gefangen genommen: Sein Job besteht darin, das Ego der anderen zu füttern. Für die BBC wäre dies der nächste Schritt nach vorne. Damit meine ich nicht, dass wir zurück zu den 1950er Jahren gehen und den Menschen erzählen, wie sie sich anziehen sollen. Sondern ich meine, dass wir ihnen versprechen, dass wir sie ›von sich selbst befreien‹ können – die Menschen würden es lieben.« (ebd.) Curtis greift im gleichen Interview auch das Internet an, weil es seiner Meinung nach Gemeinschaften von Solipsisten kultiviert – interpassive Netzwerke aus Gleichgesinnten, die ihre eigenen Annahmen und Vorurteile verstärken, statt sie zu hinterfragen. Anstatt in einer umkämpften Öffentlichkeit mit anderen Meinungen konfrontiert zu werden, ziehen sich diese Gemeinschaften in ihre eigenen, geschlossenen Kreise zurück. Curtis behauptet, dass der Einfluss von Internet-Lobbys auf die alten Medien desaströse Auswirkungen hat. Nicht nur führe ihr vorauseilender Gehorsam dazu, dass die Medienklasse weiter die Anerkennung ihrer Rolle als Erzieher und Meinungsführer ablehnt. Dieser Einfluss führe auch dazu, dass populistische Strömungen auf der Rechten und der Linken Medienproduzenten zur Ausstrahlung eines nichtssagenden und mittelmäßigen Programms »zwängen«. Curtis’ Kritik hat eine gewisse Berechtigung, aber sie nimmt eine wichtige Dimension dessen, was im Netz passiert, nicht wahr. Im Gegensatz zu seiner Darstellung können Blogs durchaus neue 88

Netzwerke aufbauen, die keine Entsprechung in irgendeinem sozialen Feld außerhalb des Cyberspace haben. In dem Moment, in dem die alten Medien verstärkt zu PR werden und der Verbrauchertest den kritischen Essay ersetzt, bieten manche Nischen des Cyberspace Formen des Widerstands gegen eine »bedenkliche Komprimierung«. Diese hat die meisten anderen Orte schon soweit durchdrungen, dass es einen depressiv macht. Nichtsdestotrotz haben die interpassive Simulation von Partizipation in postmodernen Medien, der Netzwerk-Narzissmus von MySpace und Facebook im Großen und Ganzen nur »Content« hervorgebracht, der repetitiv, parasitär und konformistisch ist. Es mutet fast ironisch an: Die Weigerung der Medienschaffenden, paternalistisch zu sein, hat keine Kultur von unten hervorgebracht, die sich durch Vielfältigkeit auszeichnet, sondern eine, die immer infantiler wird. Im Gegensatz dazu behandeln paternalistische Kulturen ihr Publikum wie Erwachsene und nehmen an, dass sie mit kulturellen und intellektuell anspruchsvollen kulturellen Artefakten umgehen können. Der Grund, dass Zielgruppen- und kapitalistische Feedbacksysteme selbst dann versagen, wenn sie immens populäre Waren hervorbringen, ist, dass Menschen nicht wissen, was sie wollen. Das liegt nicht nur daran, dass ihr eigenes Begehren vor ihnen verborgen ist, anstatt präsent zu sein (auch wenn dies oftmals der Fall ist). Sondern auch daran, dass die mächtigste Form des Begehrens das Verlangen nach dem Merkwürdigen, dem Unerwarteten und Verrückten ist. Dies kann nur durch Künstler und Medienproduzenten befriedigt werden, die bereit sind, den Menschen etwas anderes zu bieten als das, was sie bereits kennen; von jenen also, die risikobereit sind. Die marxistische Supernanny wäre demnach also nicht nur jene, die Grenzen aufzeigt, die unsere Eigeninteressen wahrnimmt, wenn wir dazu selbst nicht imstande sind. Sie wäre auch bereit, das Risiko auf sich zu nehmen, auf das Merkwürdige und unseren Hunger danach zu setzen. Komischerweise ist dies in einer kapitalistischen »Risikogesellschaft« viel unwahrscheinlicher als in den vermeintlich unbeweglichen, zentralisierten Kulturen des »Post-War-Consensus«.20 Als »Post-War Consensus« bezeichnet man die Zeit von 1945–1979, in der die beiden großen britischen Parteien – die Konservativen und die Labour Party – gewisse grundlegende Politikziele teilten. Neben einer außen20

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Es waren die öffentlich-rechtlichen Sender BBC und Channel 4, die mich mit Sendungen wie »Dame, König, As, Spion«, Theaterstücken von Harold Pinter und Tarkowski-Specials überrascht und fröhlich gestimmt haben; es war dieselbe BBC, die die PopulärAvantgarde des BBC Radiophonic Workshop finanziert hat, der Soundexperimente in den Alltag eingeflochten hat. Innovationen wie diese sind heute undenkbar, weil Öffentlichkeit durch Konsumenten ersetzt wurde. Die Effekte einer permanenten strukturellen Instabilität, der »Absage an das Langfristige« stellen durchgängig Stagnation und Konservatismus und eben nicht Innovation dar. Dies ist kein Paradox. Wie Adam Curtis’ Bemerkungen deutlich gemacht haben, dominieren im Spätkapitalismus Affekte von Angst und Zynismus. Diese Emotionen inspirieren kein mutiges Denken oder gar unternehmerische Quantensprünge. Vielmehr erzeugen sie Konformität und den Kult der kleinen Unterschiede sowie die Herstellung von Produkten, die sich nach den bereits Erfolgreichen richten. Aber Filme wie Tarkowskis Solaris und Stalker – an denen seit Alien und Blade Runner von Hollywood Raubbau betrieben wird – wurden in der dem Untergang geweihten Sowjetunion unter Breschnew gedreht, sodass man die UdSSR als den kulturellen Entrepreneur von Hollywood bezeichnen kann. Es sollte mittlerweile deutlich geworden sein, dass eine gewisse Stabilität zur Erzeugung von Resonanzen gewährleistet sein muss. Von daher stellt sich die Frage, wie und durch welche Kräfte eine solche Stabilität hergestellt werden kann? Es ist mehr als angebracht, dass die Linke damit aufhört, ihre Ambitionen auf die Etablierung eines starken Staats zu richten. Aber »auf Distanz zum Staat gehen« bedeutet nicht, dass man den Staat aufgibt oder sich in den durch Affekte und Diversität beherrschten privaten Raum zurückzieht. Einen Raum, von dem Žižek vollkommen zu Recht behauptet, dass dieser das perfekte politischen Westorientierung betraf dies vor allem die Orientierung an einer keynesianistischen Politik der Vollbeschäftigung sowie die Etablierung eines weitreichenden Netzes an verstaatlichter Grundversorgung mit Energie, Wohnraum und öffentlichem Nahverkehr mit begleitenden wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen wie z.B. einer allgemeinen Krankenversicherung und dem Zugang zu öffentlicher Bildung. (Anm.d.Ü.)

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Gegenstück zum vom Neoliberalismus beherrschten Staat darstellt. Das beinhaltet selbstverständlich die Wiederbelebung der Idee des Allgemeinwillens und die Erneuerung und Modernisierung der Idee eines Öffentlichen Raumes, der nicht auf eine Anhäufung von interessengeleiteten Individuen reduzierbar ist. Der »methodologische Individualismus« in der kapitalistisch-realistischen Weltanschauung setzt die Philosophien von Max Stirner, Adam Smith oder Ferdinand von Hayek voraus. Denn hier wird Öffentlichkeit lediglich als »Gespenst«, als phantomhafte Abstraktion ohne Inhalt betrachtet. Real sind lediglich die Individuen (und ihre Familien). Die Symptome des Scheiterns dieses Weltbildes sind überall sichtbar – in einer desintegrierten Sphäre des Sozialen, in der es zur Banalität wird, wenn Jugendliche sich gegenseitig erschießen, und in der Krankenhäuser Brutstätten von aggressiven Erregern geworden sind. Es ist nötig, dass diese Effekte wieder an ihre eigentlichen Gründe zurückgebunden werden. Entgegen der postmodernen Skepsis gegenüber einer großen Erzählung müssen wir erneut deutlich machen, dass dies keine isolierten, kontingenten Probleme sind, sondern im Gegenteil, die Folgen einer einzelnen, systemischen Ursache: die des Kapitals. Wir müssen beginnen, Strategien gegen das sich ontologisch und geografisch allgegenwärtige Kapital zu entwickeln – und zwar so, als würden wir dies zum ersten Mal tun. Trotz des anfänglichen Anscheins (und der Hoffnung) wurde der kapitalistische Realismus durch die Kreditkrise des Jahres 2008 nicht unterwandert. Schnell stellten sich die Spekulationen, dass der Kapitalismus am Rande des Kollaps stehen würde, als unbegründet heraus. Es wurde bald deutlich, dass die Rettungsaktionen nicht das Ende des Kapitalismus, sondern eine Behauptung der kapitalistisch-realistischen Alternativlosigkeit bedeuteten. Den Crash des Bankensystems zuzulassen wurde als undenkbar angesehen, woraufhin ein massiver Fluss von öffentlichen Geldern in private Hände einsetzte. Und dennoch: 2008 kollabierten die Rahmenbedingungen, die seit den 1970er Jahren als ideologisches Schutzschild der kapitalistischen Akkumulation fungiert hatten. Nach den Bankenrettungen war der Neoliberalismus im eigentlichen Sinne des Wortes diskreditiert. Das bedeutet aber nicht, dass er über Nacht 91

verschwunden wäre. Im Gegenteil, seine Grundannahmen dominieren weiterhin die politische Ökonomie, aber sie tun dies nicht mehr als Teil eines ideologischen Projekts, das selbstbewusst Fahrt aufnimmt, sondern als träge, untote Defaults – als zombiehafte Grundannahmen, deren Versprechen nicht eingelöst werden wird. Wir können nun erkennen, dass der Neoliberalismus notwendigerweise kapitalistisch-realistisch war, der kapitalistische Realismus aber nicht zwingend neoliberal sein muss. Um sich selbst zu retten, könnte der Kapitalismus zu einem sozialdemokratischen Modell zurückkehren oder zu einem Autoritarismus wie in Children of Men. Ohne eine glaubwürdige und kohärente Alternative zum Kapitalismus wird das politisch-ökonomische Unbewusste weiterhin vom kapitalistischen Realismus beherrscht werden. Aber auch wenn mittlerweile klar ist, dass die Kreditkrise nicht von sich aus zum Ende des Kapitalismus führen wird, hat die Krise doch zur Aufweichung einer bestimmten Form von mentaler Blockade geführt. Wir befinden uns jetzt in einer politischen Landschaft, die voll ist mit dem, was Alex Williams »ideologische Trümmer« genannt hat. Wir sind wieder bei der Stunde Null angelangt, der Raum für das Entstehen eines neuen Antikapitalismus, der nicht unbedingt an die alte Sprache oder alte Traditionen gebunden ist, hat sich geöffnet. Eine der Sünden der Linken ist die endlose Wiederholung historischer Debatten, ihre Tendenz, immer wieder über den Aufstand von Kronstadt und die NEP21 zu streiten, anstatt eine Zukunft zu planen und zu organisieren, an die sie selbst glaubt. Das Scheitern vorheriger Formen anti-kapitalistischer politischer Organisationen sollte kein Grund zur Verzweiflung sein, aber was zurückgelassen werden sollte, ist die romantische Verbundenheit zu Der Aufstand von Kronstadt (1921) war eine Revolte der Matrosen der sowjetischen Kriegsmarine gegen die bolschewistische Partei. Mit dem Slogan »Alle Macht den Sowjets, keine der Partei« forderten sie eine stärkere Berücksichtigung der lokalen Sowjets, in denen ein Mandat nicht länger an eine Mitgliedschaft in der Partei gebunden sein sollte. Lenin und Trotzki entschlossen sich damals, die Rote Armee gegen die Matrosen einzusetzen, was zu einigen Tausend Toten führte. Die Niederschlagung des Kronstädter Aufstands markiert zugleich den Beginn der »Neuen Ökonomischen Politik« (NEP), die eine teilweise Liberalisierung der sowjetrussischen Wirtschaft in den Bereichen der Landwirtschaft und Industrie vorsah. (Anm.d.Ü.) 21

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einer Politik des Scheiterns, zur bequemen Position der eigenen unterlegenen Randständigkeit. Die Kreditkrise ist eine Chance – aber man muss sie als enorme und spekulative Herausforderung begreifen, als Funke für eine Erneuerung, die keine Rückkehr zum Alten ist. Alain Badiou hat entschlossen darauf bestanden, dass ein effektiver Anti-Kapitalismus nicht nur eine Reaktion auf, sondern eine Konkurrenz für das Kapital darstellen muss: Es wird keine Rückkehr in ein prä-kapitalistisches Territorium geben. Jede Form des Antikapitalismus muss die Globalisierung des Kapitals mit einem eigenen, authentischen Universalismus bekämpfen. Es ist dringend notwendig, dass eine genuin wiederbelebte Linke selbstbewusst das neue Terrain besetzt, das ich hier (sehr provisorisch) skizziert habe. Nichts ist von sich aus politisch, Politisierung benötigt politisch Handelnde, die das Selbstverständliche in etwas, das zur Debatte steht, transformieren. Falls der Neoliberalismus erfolgreich die Begehren der Arbeiterklasse nach 1968 inkorporiert hat, dann könnte eine neue Linke mit den Begehren beginnen, die der Neoliberalismus hervorgebracht hat, aber nicht befriedigen kann. Zum Beispiel könnte die Linke das angehen, was dem Neoliberalismus offensichtlich nicht gelungen ist: eine massive Reduktion von Bürokratie einzuleiten. Wir brauchen einen neuen Kampf um die Kontrolle über die Arbeitskraft, die Durchsetzung einer Arbeiterautonomie (im Gegensatz zur Kontrolle durch das Management), die mit der Ablehnung einer bestimmten Form von Arbeit (z.B. dem exzessiven Auditing, das ein zentraler Bestandteil postfordistischer Arbeit geworden ist) einhergeht. Dies ist ein Kampf, den wir gewinnen können, aber nur, wenn sich ein neues politisches Subjekt formiert. Die Frage, ob die alten Strukturen (z.B. die Gewerkschaften) diese neue politische Subjektivität hervorbringen können oder ob dies die Bildung einer neuen politischen Organisationen bedeutet, muss im Moment offen bleiben. Neue Formen des Arbeitskampfs müssen gegen den Managerialismus durchgesetzt werden. Um ein Beispiel zu nennen: Im Fall von Lehrern oder Universitätsdozenten sollten wir die Taktik des Streiks (oder eines Verbots zu arbeiten) aufgeben, da er nur den Schülern, Studierenden und Kollegen schadet. An der Fachoberschule, an der ich gearbeitet habe, wurden eintägige Streiks vom Management begrüßt, 93

weil es dadurch Gehälter einsparen konnte, während die Störung des Schulbetriebs offensichtlich vernachlässigbar war. Wir müssen uns von den Arbeitsformen zurückziehen, die lediglich vom Management als solche anerkannt werden: all die Mechanismen der Selbstüberwachung, die keinen Effekt auf den Unterricht haben, aber ohne die der Managerialismus nicht existieren könnte. Anstelle spektakulärer Gesten in (noblen) politischen Fragen wie dem Nahostkonflikt, wäre es notwendig, dass die Gewerkschaften im Bildungssektor die sich durch die Kreditkrise bietende Chance ergreifen und damit beginnen, den öffentlichen Sektor von der Ontologie des Unternehmertums zu befreien. Wenn selbst Firmen nicht mehr wie Firmen geführt werden können, warum sollte dann der öffentliche Sektor so funktionieren? Wir müssen die weitverbreiteten psychischen Krankheiten von medikamentös zu behandelnden Störungen in kraftvolle Antagonismen verwandeln. Affektive Störungen sind Formen gebannter Unzufriedenheit; diese Unzufriedenheit kann und muss nach außen kanalisiert und gegen ihre wahre Ursache gerichtet werden: das Kapital. Überdies ist die Verbreitung bestimmter psychischer Krankheiten ein gutes Argument für eine neue Enthaltsamkeit – ein Argument, das durch die wachsende Notwendigkeit, sich mit der Umweltproblematik auseinanderzusetzen noch verstärkt wird. Nichts widerspricht dem kapitalistischen Imperativ eines ständigen Wachstums so sehr wie die Idee einer Rationierung von Gütern und Ressourcen. Dabei wird immer deutlicher, dass die Selbstregulierungen durch Konsumenten und den Markt nicht von sich aus die Umweltkatastrophe abwenden werden können. Für eine neue Askese gibt es sowohl libidinöse als auch praktische Gründe. Falls Oliver James, Žižek und die Supernanny recht haben und es stimmt, dass ein uneingeschränkter Freibrief zu Elend und Entfremdung führt, würde eine Einschränkung des Begehrens diese Entwicklung vermutlich beschleunigen, anstatt sie abzutöten. Auf jeden Fall werden gewisse Rationierungen nötig werden. Die Frage ist jedoch, ob wir diese kollektiv verwalten oder ob sie uns durch ein autoritäres Regime aufoktroyiert werden, wenn es schon zu spät ist. Wie genau diese kollektive Verwaltung aussehen könnte, sollte eine of94

fene Frage bleiben, die nur im praktischen Experiment beantwortet werden kann. Wir müssen die lange, dunkle Nacht am Ende der Geschichte als große Chance begreifen. Die unterdrückerische Verbreitung des kapitalistischen Realismus bedeutet, dass sogar der kleinste Funke alternativer politischer oder ökonomischer Möglichkeiten eine überproportional starke Wirkung haben kann. Das kleinste Ereignis kann ein Loch in den grauen Vorhang limitierter Handlungsmöglichkeiten reißen, die bisher den Möglichkeitshorizont des kapitalistischen Realismus markieren. Aus einer Situation, in der nichts passieren kann, ist eine geworden, in der wieder alles möglich ist.

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Nachwort zur deutschen Ausgabe: Unerledigt im Kapitalistischen Realismus Als die Arbeit an diesem Buch im Windschatten der Finanzkrise 2008 in den letzten Zügen lag, habe ich häufig gescherzt, dass der Kapitalismus eher erledigt sein würde als mein Buch beendet. Aber schnell stellte sich heraus, dass die Krise weder das Ende des Kapitalismus noch des kapitalistischen Realismus bedeutete. Stattdessen hat sich der kapitalistische Realismus in vielerlei Hinsicht in den letzten Jahren intensiviert. Die von den meisten westlichen Regierungen durchgeführten Austeritätsprogramme hätten so nicht durchgesetzt werden können, wäre der Glaube an die Alternativlosigkeit zum neoliberalen Kapitalismus nicht so tief verankert. Die unterschiedlichen Kämpfe und Proteste seit der Finanzkrise signalisieren eine Unzufriedenheit mit dem seit 2008 in Panik geratenen Neoliberalismus. Doch bisher ist es den Protestierenden nicht gelungen, eine konkrete Alternative zum dominanten ökonomischen Modell zu propagieren. Im Zentrum des kapitalistischen Realismus steht das, was Franco Berardi als »Aushöhlung der gesellschaftlichen Vorstellungskraft« bezeichnet hat. In vielerlei Hinsicht ist genau dies das Problem: Nach 30 Jahren neoliberaler Herrschaft beginnen wir erst jetzt wieder, uns Alternativen zum Kapitalismus überhaupt vorzustellen. Auf jeden Fall hat der kapitalistische Realismus seit 2008 seine Form gewandelt. In Großbritannien korrespondiert dieser Wandel mit einer Verschiebung der Kräfteverhältnisse, die durch die Wahl der von der Konservativen Partei geführten Koalitionsregierung im Jahr 2010 ausgelöst wurde. Diese Wahl stellte zugleich das Ende von New Labour dar, der Partei, die wie keine zweite den kapitalistischen Realismus vor 2008 verkörperte. Der fundamentale Fehler von New Labour war, ihr politisches Projekt um die Vorstellung herum zu konzipieren, dass man sich lediglich an die »Realität« anzupassen habe, die der Kapitalismus bereits konstruiert hatte. Das düstere Resultat des gesamten Manövrierens während ihrer ein Jahrzehnt andauernden Regierungszeit war das melancholisch stimmende Bild, wie man die Macht innehaben kann, ohne die Hegemonie zu ver96

ändern. Die Thatcher-Anhänger besaßen während der 1980er Jahre genügend Selbstvertrauen, um eine schwindelerregende Wende in der politischen Mitte zu planen. Seitdem befindet sich Labour in der Defensive. 2010 wurde New Labour durch eine Regierung unter der Führung des Eton-Absolventen David Cameron abgelöst. Camerons Mantra »We’re all in this together.«22 hat den Tonfall für diesen neuen Modus des kapitalistischen Realismus vorgegeben. Vor den Rettungsaktionen für die Banken 2008 besaß der kapitalistische Realismus eine zugleich überschwängliche und tyrannische Form. Jene, die leugneten, dass der Neoliberalismus die bestmögliche Regierungsform darstellte, hatten ein Wahrnehmungsproblem: Sie hingen an einer Form klassenbasierter Politik, die durch eine Bewegung hin zu Meritokratie und Pluralismus obsolet geworden war. Nach 2008 lautete die Botschaft nicht länger, dass der neoliberale Kapitalismus Teil einer unaufhaltsamen historischen Zeitenwende sei, sondern dass jegliche Abweichung vom neoliberalen Kurs desaströse Folgen haben würde. Banken könne man nicht einfach Bankrott gehen lassen, da dies in einem katastrophalen gesellschaftlichen Kollaps enden würde. Aber Cameron reagierte lediglich auf eine bereits eingetretene Katastrophe: die fatale Unterminierung der Legitimität des Neoliberalismus. Nach der Finanzkrise schrieb Martin Wolf in der Financial Times, dass »die Grundannahmen, die drei Jahrzehnte lang die Regeln der Politik bestimmt haben, mit einem Mal so veraltet wie der revolutionäre Sozialismus wirken.« (Wolf 2009) Der Neoliberalismus, so das Argument von Gopal Balakrishnan, befände sich in einem »schäbigen Zustand« und seine »vorherigen Ansprüche, sowohl intellektuell überlegen als auch realistisch zu sein, werden nicht länger als zulässig betrachtet werden« (Balakrishnan 2009: 20). Der schwungvollen Kraft eines in die Zukunft weisenden Projekts einmal entledigt, geronn der Neoliberalismus zur zombifizierten Herrschaftsform. Aber wie jeder Zombie-Liebhaber weiß: Zombies sind viel schwerer zu tö»We’re all in this together« (dt. »Wir sitzen alle im selben Boot«) ist der Slogan, mit dem die regierenden Konservativen die Kürzungspolitik ihrer Regierung als sozial ausgeglichen präsentieren wollen. Der Slogan wurde zum ersten Mal auf dem Wahlparteitag 2009 verwendet. (Anm.d.Ü.) 22

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ten als lebende Personen. Naomi Kleins berühmter Analyse in Die Schock-Strategie (Klein 2007) zufolge war der Neoliberalismus so erfolgreich, weil er aus den traumatisch-sozialen Zerwürfnissen, die in gesellschaftlichen Krisensituationen entstehen, einen Vorteil ziehen konnte. Jetzt sah sich der Neoliberalismus mit seinem eigenen Schockmoment konfrontiert. Doch ohne eine Minute zu zögern, nutzten die Neoliberalen in einer atemberaubend perversen Dreistigkeit dieses spezielle Trauma, um mehr von den Maßnahmen zu verhängen, die die Krise erst möglich gemacht hatten: Einschränkung von Sozialleistungen, Privatisierung öffentlicher Einrichtungen, Steuererleichterungen für die Reichen. Obwohl sich die Situation gegenüber 2008 komplett geändert hat, stand immer noch der Appell an einen »Realismus« im Mittelpunkt. Nachdem sich Regierungen durch die Bankenrettungen massiv verschuldet hatten, sei es nun nicht mehr »realistisch«, weiterhin einen »aufgeblasenen« öffentlichen Sektor zu finanzieren. Es verschafft mir keine Genugtuung festzustellen, dass die Akzeptanz dieses grotesken Schachzugs der herrschenden Klasse meine in Kapitalistischer Realismus formulierte Analyse bestätigt. Es ist aber gleichfalls wichtig zu betonen, dass diese fatalistische Inkaufnahme nicht bedeutet, dass viele Menschen von der neoliberalen Rhetorik, mit der die Austeritätsmaßnahmen begründet wurden, überzeugt worden sind, ebensowenig wie sie vom Neoliberalismus vor 2008 überzeugt waren. Sowohl vor als auch nach 2008 waren die Menschen der festen Ansicht, dass der Neoliberalismus die dominante politische Kraft darstellt. Der »Realismus« des kapitalistischen Realismus beruht in erster Linie auf dieser Anerkennung – einer Anerkennung, die ähnlich der »reflexiven Ohnmacht«, die ich im Buch beschreibe, wie eine Art selbsterfüllender Prophezeiung funktioniert. Leider ist es immer noch der Fall, dass selbst fünf Jahre nach der Bankenkrise keine linke Organisation existiert, die dieser Bezeichnung würdig und die in der Position wäre, die Mega-Hegemonie des Zombie-Neoliberalismus zu attackieren. Noch immer befinden wir uns in einer Welt, in der die Arbeiter das Kapital fürchten und nicht andersherum. Die Gewerkschaften sind daran gescheitert, den von Deleuze in »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften« beschriebenen Herausforderungen 98

gerecht zu werden. Vor einigen Ausnahmen abgesehen, bleiben sie entweder antiquierten fordistischen Grundannahmen verhaftet oder zeigen sich dem kapitalistischen Realismus gegenüber als fügsam, indem sie sich ihren Mitgliedern gegenüber widerstandslos als »Dienstleister« verstehen. In anderen Worten: Die Kritik, die in den 1970er Jahren von den Post-Operaisten und anderen autonomen Gruppen an den Gewerkschaften geübt wurde, trifft noch immer zu. Diese verspotteten die Gewerkschaften als bürokratische Organisationen. Deren Rolle bestünde darin, den Kapitalismus zu stabilisieren, indem sie jegliche revolutionäre Aktion in einen Forderungskatalog transformieren, dem innerhalb des Kapitalismus begegnet werden kann. Aber autonomes Denken – dessen »horizontalistische« Angriffe gegen eine hierarchische politische Organisation innerhalb der Occupy-Bewegung und während der britischen Studentenproteste 2010 sehr einflussreich waren – ist bislang daran gescheitert, etwas hervorzubringen, das auch nur entfernt die Rolle übernehmen könnte, die die Gewerkschaften einst gespielt haben. Die Tatsache, dass der Arbeiterklasse ein Organ der Repräsentation fehlt, das ihre Interessen zumindest nominell vertritt, ist einer der Gründe, warum das Kapital in der Lage war, die bisherigen Austeritätsprogramme so leicht durchzudrücken. Die Unzufriedenheit mit den Finanzeliten mag massiv sein, aber die Abwesenheit eines solchen Organs, das diese politische Unzufriedenheit bündeln oder zumindest arrangieren könnte, führt dazu, dass diese nur allzu leicht ignoriert wird. Im Großbritannien wurde der kapitalistische Realismus in erster Linie von den Studierendenprotesten gegen die Kürzungen an britischen Universitäten, der Besetzung von Occupy London Stock Exchange sowie von den Riots im Jahr 2011 herausgefordert. Keinem dieser Aufstände gelang es, dem kapitalistischen Realismus einen ernsthaften Schaden zuzufügen, keiner von ihnen war zur Formulierung einer modernen linken Theorie in der Lage. Das bedeutet nicht, dass die Proteste und Aufstände unbedeutend waren: Zweifelsohne steckt viel Potenzial in ihnen, aber dieses Potenzial muss erst noch in Gänze verwirklicht werden. Eines der Probleme von Bewegungen, die sich um einen Affekt herum grup99

pieren, ist, dass Affekte kommen und gehen. Es besteht die Gefahr, dass politische Gruppen von einem Enthusiasmus mit sich gerissen werden, der schnell in Enttäuschung und Pessimismus umschlägt. Der Aufbau einer nachhaltigen Infrastruktur ist notwendig, die zur nüchternen Einschätzung von Misserfolgen von Revolten in der Lage ist – und ich rede hier nicht notwendigerweise von einer Partei nach leninistischem Vorbild. Eine Bewegung ohne Erinnerungsvermögen kann nicht hinzulernen. Einige Theoretiker zitieren gerne Samuel Becketts Aphorismus »Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern«, aber das Scheitern wird von der Linken zu häufig toleriert. Slavoj Žižek führt den Satz von Beckett zwar ebenso gerne wie andere Theoretiker an, aber er liegt richtig mit der Annahme, dass die Linke die »erhabene Schönheit von Aufständen, die zum Scheitern verurteilt sind« (Žižek 2011), aufgeben muss. Dies bedeutet aber auch, dass man die Politik des »Ereignisses«, für die sich Alain Badiou (der Žižek teilweise inspiriert hat) so stark macht, aufgeben sollte und wir uns stattdessen dem offensichtlich banaleren Alltagsgeschäft des Aufbaus einer Hegemonie im Parlament und in den Mainstreammedien widmen müssen. Ich betone diese beiden Orte deshalb, weil die Linke nach 1968 – und das betrifft auch meine eigene Analyse in Kapitalistischer Realismus – sie in zunehmendem Maße vernachlässigt hat. Alle, von Alt-Maoisten wie Alain Badiou bis hin zu jungen Neo-Anarchisten, sind der festen Überzeugung, dass Mainstream-Politik korrupt und wirkungslos ist. Aber wenn wir eines aus den Ereignissen – oder besser: aus dem Ausbleiben von Ereignissen – seit 2008 lernen können, dann dass eine politische Veränderung nicht ohne eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse im Parlament und den Mainstreammedien gelingt. Bewegung »von unten«, Aktionen auf der Straße, die Transformation des Alltagslebens – all diese Formen von Widerstand sind notwendig, um die Hegemonie zu verschieben, aber sie sind nicht ausreichend. Das plötzliche Aufwallen studentischer Militanz im Oktober 2010 hat einen neuen Enthusiasmus für die Chancen politischer Praxis entfacht. Nirgendwo wird dieser Enthusiasmus besser festgehalten als in Dan Hancox’ kleinem Buch Kettled Youth. Die 100

Studierendenbewegung wirkte auch deshalb so belebend, weil in ihr die unterhalb der Oberfläche der britischen Gesellschaft köchelnde Unzufriedenheit mit einem Mal und explosiv externalisiert wurde: Private Verzweiflung wurde in öffentlich ausgetragene Wut verwandelt. Der Ort dieses Wandels war der symbolisch aufgeladene Millbank Tower,23 der Ort, an dem New Labour entworfen wurde und der mittlerweile das Hauptquartier der Konservativen ist. Hancox bejubelte die eingeschlagenen Glasscheiben des Millbank Towers als »die erste Zerschlagung des kapitalistischen Realismus« (Hancox 2011). Aber so inspirierend die von Studierenden geführte Bewegung gegen die Kürzungen auch war, als sie ausbrach, gelang es ihr weder, ihre unmittelbaren Ziele – die Verhinderung eines Gesetzes, das die Studiengebühren verdreifacht hätte – zu erreichen, noch eine nachhaltige Infrastruktur für eine langfristige Bewegung aufzubauen. Stattdessen zerstreute sich die Bewegung, kurz nachdem das Studiengebührengesetz im Parlament verabschiedet worden war. Aber die Proteste machten zumindest einen politischen Antagonismus wieder sichtbar. Um es mit den Begriffen von Louis Althusser (1977) auszudrücken: Das Kapital war gezwungen, die nackte Gewalt der repressiven Staatsapparate einzusetzen, weil die ideologischen Staatsapparate nicht länger zuverlässig ihren Dienst verrichteten. Demonstranten wurden an kalten Wintertagen stundenlang von der Polizei eingekesselt, einige wurden für Kleinstdelikte mit Gefängnis bestraft. Am verstörendsten war, dass der Philosophiestudent Alfie Meadows so brutal zusammengeschlagen wurde, dass er sich einer Hirnoperation unterziehen musste. Aber mit einer grotesken, kafkaesken Ironie, wie sie für den kapitalistischen Realismus typisch ist, wurde er selbst vor Gericht gestellt. Die Parallelen zu Kafka wurden dadurch verstärkt, dass die Geschworenen in Meadows’ erstem Prozess sich nicht auf ein Urteil einigen konnten, ein zweiter Prozess wegen Verzögerungen nicht zustande Der Millbank Tower wurde 1963 für die Flugzeugfirma Vickers in der City of Westminster am Ufer der Themse gebaut. Von 1995–1997 befand sich dort die Wahlkampfzentrale von Tony Blairs Labour Party, seit 2006 nutzt die Konservative Partei einen Teil des Bürokomplexes als Parteizentrale. (Anm.d.Ü.) 23

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kam und die Anklage dennoch nicht fallengelassen wurde, sodass Meadows erst nach einem dritten Prozess im März 2013 endgültig freigesprochen wurde. Im Rückblick auf die Proteste am 9. Dezember 201024 (bei denen Alfie Meadows seine schrecklichen Verletzungen erlitt) hat der BBC-Wirtschaftsjournalist Paul Mason einen Blogeintrag namens »Dubstep Rebellion« geschrieben. Mason entdeckt an diesem Tag eine kurz aufblitzende, neue politische Kollektivität und zwar in dem Moment, als der »entscheidende Klinkenstecker« eines Soundsystems, auf dem »politischer« Reggae mit »›Weiter so!‹-Botschaft« lief, von einer »neuen Menschenmenge, dessen ältestes Mitglied vielleicht 17 Jahre alt war«, herausgezogen wurde, die den Reggae gegen etwas eintauschte, was Mason irrtümlich für Dubstep hielt (Mason 2010). Tatsächlich haben die Demonstranten hauptsächlich Grime und Dancehall gespielt, dazu noch Chart-Rap und R&B wie Rihanna und Nikki Minaj. Es ist bemerkenswert, dass in dieser Musik politische Inhalte vollkommen abwesend waren. Aber Grime, Dancehall und R&B haben einen Bezug zur Gegenwart, den ältere Formen politischer Musik nicht haben, und genau an dieser Stelle gerät man in ein Dilemma. Es wirkt fast so, als wären wir vor die Wahl gestellt zwischen einer mittlerweile ausgelutschten »politisch engagierten« Musik und einem inhaltslosen Sound der Gegenwart. Im Guardian wird regelmäßig über den Mangel an »Protest«-Musik lamentiert, aber für viele von uns war »Protest« seit jeher eine eher fade Vorstellung davon, was Musik bewirken könnte. Zudem ist Protestmusik nicht verschwunden: Beim Occupy-Camp außerhalb der St. Paul’s Cathedral herrschte kein Mangel an akustischen Gitarren. Woran es dagegen mangelt, Am 9. Dezember 2010, dem so genannten Day X3, versammelten sich mehrere tausend englische Studierende und Schüler in London, um gegen ein geplantes Gesetz der Regierungskoalition zu protestieren, mit dem sich die Studiengebühren an englischen Universitäten mehr als verdreifachen würden und das am gleichen Tag vom Unterhaus verabschiedet werden sollte. Der Demonstrationszug endete auf dem Platz vor dem britischen Parlament in Westminster, wo es zu Angriffen der Polizei auf die Demonstranten kam, die bei Temperaturen um den Gefrierpunkt mehrere Stunden lang von der Polizei eingekesselt wurden. (Anm.d.Ü.) 24

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ist eine Form politischer Musik, die genuin für das 21. Jahrhundert ist. Grime – zusammen mit Dubstep eines der wenigen Musikgenres, deren Form das 21. Jahrhundert widerspiegelt – ist letztlich das britische Äquivalent von HipHop geworden, bleibt aber in Kontrast zu HipHop immer mit seinem eigenen Scheitern verbunden. (Einige der interessanteren Mainstream-Rap-Alben der letzten Jahre wie Kanye Wests My Beautiful Dark Twisted Fantasy oder Drakes Take Care haben in der Zwischenzeit das Elend und die existenzielle Leere im Herzen des spätkapitalistischen Erfolgs in den Mittelpunkt gestellt.) Während es zwar einige GrimeTracks gibt, denen man in gewisser Weise eine politische Botschaft unterstellen könnte, liegt die politische Bedeutung von Grime zuerst in den Affekten – Wut, Frustration und Verbitterung –, denen er eine Stimme gibt. Die Stellung von Grime ist allegorisch für das Schicksal von Klassenzugehörigkeit. Genauso wie es einigen Menschen möglich ist, aus der Arbeiterklasse aufzusteigen, aber nicht mit ihr, so ist es möglich aus Grime aufzusteigen (wie z.B. Professor Green und Tinie Tempah mit ihren Crossover-Hits bewiesen haben), aber es ist bislang noch nicht möglich, als Grime-Künstler erfolgreich zu sein. Masons Blogeintrag, den er in seinem Buch Why it’s Kicking Off Everywhere (2012) nochmals aufgriff, sollte sich als weise Vorhersage herausstellen. Der wichtigste Ausdruck von Dissens in Großbritannien im Jahr 2011 – und gleichzeitig die stärkste Explosion von Wut der britischen Arbeiterklasse seit den Riots Anfang der 1980er Jahre – kam von einer Bevölkerungsgruppe, die Mason als »Banlieue-mäßige Jugendliche aus Gegenden wie Croydon und Preckham oder aus Sozialbausiedlungen wie Camden, Islington oder Hackney« beschreibt (Mason 2010). Ähnlich wie bei einigen der Riots in den 1980er Jahren war der unmittelbare Anlass für die Riots im Sommer 2011 der Tod eines Afro-Briten, Mark Duggan, der in Tottenham von der Polizei erschossen wurde. »Vor 25 Jahren hat die Polizei meine Großmutter in ihrem Haus in Tottenham ermordet und die ganze Gegend hat getobt, 25 Jahre später machen sie immer noch weiter mit ihrer abgefuckten Scheiße«, schrieb der aus Tottenham stammende MC Scorcher auf Twitter (Hancox 2011a). Scorchers Großmutter 103

war Cynthia Harris, deren Tod 1985 die »Broadwater Farm Riots«25 auslöste. Aber diese »Banlieue-mäßigen Jugendlichen« verschmolzen nicht zu einer machtvollen politischen Kollektivität. Stattdessen gelang es den Riotern, neoliberale Städte, von denen sie üblicherweise ausgeschlossen wurden, kurzzeitig in karnevaleske Räume zu verwandeln. Die Riots waren ein aufrichtig erhabenes Spektakel, das im gleichen Maße Enthusiasmus und Schrecken hervorrief. In Commonwealth schreiben Michael Hardt und Toni Negri über auf Empörung basierende »Beispiele selbstorganisierter Rebellion«, die »oftmals als Jacquerien bezeichnet« werden (Hardt/ Negri 2010: 250). Die Riots 2011 entsprechen der Beschreibung der Jacquerien von Hardt und Negri verblüffenderweise bis ins Detail. Aber es ist ebenso verblüffend, wie das, was Hardt und Negri die »Standardversion« der Jacquerien nennen, durch die Riots und ihr Nachspiel bestätigt wurde. »Ja, sicher, so die Standardversion, diese Menschen leiden und haben ein berechtigtes Anliegen, aber die Spontaneität ihrer Aktionen führt sie auf den falschen Pfad. Die Gewalt der Jacquerie schießt einerseits über das vernünftige Maß hinaus und zerstört die Objekte ihres Zorns scheinbar wahllos: Man denke an die Geschichte von weißen Kolonisten, die in Haiti von aufständischen Sklaven getötet wurden, oder an die Bilder des brennenden Detroit während der Unruhen im Sommer 1967. Andererseits lässt die Spontaneität der Jacquerie, geläufiger Ansicht Die Broadwater Farm Riots waren Unruhen im Nord-Londoner Stadtteil Tottenham am 6. Oktober 1985, die in der gleichnamigen Sozialbausiedlung ihren Ursprung hatten. Während einer Polizeirazzia am Tag zuvor wurde die Afro-Britin Cynthia Jarrett von einem Polizisten umgestoßen und verstarb daraufhin an einem Herzinfarkt. Am nächsten Tag kam es vor der Polizeistation in Tottenham zu einer Demonstration, die in Auseinandersetzungen mit der Polizei endete, in deren Verlauf der Polizist Keith Blakelock getötet wurde. Im Nachhall der Riots wurden drei Erwachsene wegen Mordes an Keith Blakelock trotz Mangels an Beweisen zu Gefängnisstrafen verurteilt, die 1991 widerrufen wurden, nachdem eine Untersuchung feststellte, dass die Vernehmungsprotokolle manipuliert worden waren. Der Tod von Cynthia Jarrett wurde von einem Gericht als Unfall bewertet, die am Tod beteiligten Polizisten wurden nicht angeklagt. (Anm.d.Ü.) 25

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zufolge, keine Organisationsstrukturen, keine legitime Institution, die als Alternative zur gestürzten Macht dienen kann, zurück. Die Jacquerie lodert blitzartig auf und ist dann vorbei.« (ebd.: 250) Aber Hardt und Negri stellen ebenfalls fest, dass »die ständige Wiederkehr dieser Jacquerien ganz grundlegend nicht nur die Repressionsmechanismen, sondern auch die Machtstrukturen an sich« determiniert (ebd.: 251). Die bedeutendste Hinterlassenschaft der Riots ist bisher jedoch erschreckenderweise nur eine Neuformierung des populistischen Autoritarismus. Im unmittelbaren Nachklang der Riots nutzte die faschistische und autoritäre Rechte die Unruhen als Vorwand, um einen Diskurs wieder zu entfachen, der eine Woche zuvor noch als vollkommen inakzeptabel gegolten hätte. In einer beispiellosen und – wie immer – inkohärenten Tirade machte der Fernsehhistoriker David Starkey in der BBCSendung Newsnight überraschenderweise eine »schwarze Kultur« (BBC 2011) für die Riots verantwortlich, wodurch er nicht nur die gesamte »schwarze«26 Kultur auf Musik reduzierte, sondern auch »schwarze« Musik wiederum auf eine nur oberflächlich verstandene Form von Gangster Rap. Wie viele der Ereignisse des Jahres 2011 sollte man auch Starkeys delirierende Tirade am ehesten als ein Symptom verstehen; in diesem Fall für die Panik und Ahnungslosigkeit der herrschenden Klasse. Starkey verwarf die Ansicht, dass die Riots politisch sein könnten, mit dem Argument, dass keine öffentlichen Gebäude angegriffen worden waren. Aber welche Bedeutung sollten öffentliche Gebäude auch für Jugendliche haben, die in eine ideologische Landschaft geboren wurden, in der jegliche Vorstellung von »öffentlich« durch andauernde ideologische Angriffe ausgelöscht wurde? Die Tatsache, dass die Rioter überwiegend Ladenketten angegriffen haben, wurde auf ihre Konsumhaltung zurückgeführt, so als wäre dieser »Konsumismus« Ausdruck einer scheiternden Moralvorstellung anstatt unausweichliche Konsequenz des Aufgehens in einer spätkapitalistischen Medienkultur. Der Ausdruck »schwarz« wird von Fisher im Sinne Stuart Halls als politischer, anti-rassistischer Sammelbegriff für die diversen Formen afrobritischer und afro-karibischer Kulturen gebraucht. (Anm.d.Ü.) 26

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Owen Jones betont in seinem Buch Prolls. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse (ein Buch, das viele der in Kapitalistischer Realismus beschriebenen Prozesse nachzeichnet), dass die Arbeit und nicht ein mittlerweile verloren gegangenes Moralempfinden einst die Quelle für die Disziplin der Arbeiterklasse darstellte (vgl. Jones 2012). Aber was geschieht mit Menschen, die weder einen Arbeitsplatz noch eine sinnerfüllte Zukunft zu erwarten haben? »Als die Punks am Wendepunkt von 1977 ›No Future‹ skandiert haben, erschien dies paradox und musste nicht weiter ernst genommen werden«, schreibt Franco Berardi in seinem aktuellen Buch After the Future. »In Wirklichkeit kündigte sich dadurch aber etwas sehr Wichtiges an: Die Wahrnehmung der Zukunft veränderte sich. (…) Moderne Menschen sind solche, die die Zeit als eine Domäne des Fortschritts hin zur Perfektion oder zumindest hin zu Verbesserung, Bereicherung oder moralischer Integrität nutzen. Seit dem Wendepunkt des letzten Jahrhunderts – den ich im Jahr 1977 ansiedeln würde – hat die Menschheit diese Illusion aufgegeben.« (Berardi 2011: 24f.) Musik ist weit davon entfernt, gegen dieses Versagen der Zukunft anzukämpfen, sondern bleibt im Gegenteil dieser trägen Form von Zeitlichkeit verhaftet. Kein Ereignis symbolisiert das Verhältnis von Mainstream-Pop und Politik besser als die Übertragung des U2Auftritts beim Glastonbury Festival 2011 durch die BBC. Bedeutend war aber nicht die Musik – die war, wie zu erwarten, dem Untergang geweiht, ohne Glamour, und nicht einmal dazu imstande, den totalitaristischen Prunk vergangener Tage aufzubieten –, sondern die Art und Weise, wie die Fernsehübertragung die Proteste von »Art Uncut« ignorierte. U2 wurden wie Würdenträger der chinesischen Regierung behandelt: Dissidenten, die das leere Ritual der Rock-Regenten stören könnten, sollten nicht toleriert werden. Wo einst selbst der angepassteste Rock etwas von den Spannungen und den Fieberkurven seiner Zeit mitbekam, besucht man heute Rockkonzerte, die vollkommen von der Gegenwart entkoppelt sind. Sowohl U2 als auch der andere Hauptact Beyoncé zeigten in ihren Sets politische Gesten. Aber es ging um Kämpfe der Vergangenheit, reduziert auf eine werbekundenfreundliche, ominöse »Hopey-Changey«-Gefühlsduselei, unter der sich eine tiefere, al106

les durchdringende Ahnung verbarg, dass sich nichts Wesentliches je ändern wird. Die Atmosphäre von Beyoncés Auftritt fing das Gefühl des Runterkommens perfekt ein. Es war dasselbe, das sich kurz nach Obamas Wahlsieg in den USA einstellte, als aus dem Optimismus von »Yes, we can« wie erwartet ein schnöder Kompromiss wurde. Aber wir sollten aus Obamas Scheitern nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass parlamentarische Politik reine Zeitverschwendung ist. Die Bedingungen für einen Wandel des politischen Mainstreams sind noch nicht soweit, aber es geht darum sicherzustellen, dass dies in naher Zukunft der Fall ist. Würden wir heute direkt in die parlamentarische Politik einlenken, würden wir nur enttäuscht und desillusioniert werden. Erst wenn wir im Verborgenen an Veränderungen arbeiten, die mittel- oder langfristig Effekte erzielen, könnte dies strategisch von Bedeutung sein. Aber selbst wenn der Mainstream von Pop und Politik derzeit in einer Blase existiert, vollkommen undurchdringlich für die Zeichen der Zeit, ist es nicht so, als ob die experimentellen Künstler und Musiker Formen entwickelt hätten, die die Gegenwart besser artikulieren könnten. Die politische Mobilisierung in der Kunstwelt, z.B. über Gruppen wie »Art against Cuts«, war beeindruckender als die politische Kunst selbst, die allzu häufig in einem Modus der kunstgläubigen Inkonsequenz und textueller und struktureller Ideenlosigkeit gefangen blieb. Der Übergang zwischen experimenteller und populärer Kultur, der frühere Kunstepochen gekennzeichnet hat, scheint verloren gegangen zu sein. Die Studierendenbewegung wollte nicht weniger als die Demontage der letzten Überreste der Infrastruktur verhindern, die diesen Übergang möglich gemacht hat; eine kostenfreie Universitätsausbildung war letztlich eine Möglichkeit, über die die britische Musikkultur indirekt finanziert wurde. Aber auch wenn diese Abkopplung schlecht für die Musik sein mag – politisch könnte sie positive Folgen haben. Falls Musik und Subkulturen nicht länger als effektive Mechanismen für eine kontrollierte Entsublimierung dienen, die politische Unzufriedenheit in Kultur verwandelt, die dann wiederum zu Unterhaltung werden kann und so den alles verschlingenden und als Ware ausscheidenden »Tungsten-Carbid-Magen« (Lyotard 1973: 31) des Kapitals füttert, kann Unzufriedenheit in 107

einer ungeschliffeneren Form sichtbar werden. Dies könnte der Grund sein, warum der Ultra-Reaktionär Jeremy Clarkson27 den Occupy-Besetzern von St. Pauls dazu riet, das Campen aufzugeben und stattdessen Protestlieder zu schreiben. Aber vielleicht ist auch unser Denken über den Zusammenhang von Pop und Politik falsch. Es ist ja nicht so, als würde die Musik hinter die Politik zurückfallen – die Politik selbst ist abwesend. Die Riots waren zwar politisch, aber sie waren es in einem negativen Sinne. Reaktionäre Kommentatoren versuchten, die Riots von jeglicher politischer Bedeutung zu entleeren, indem sie sie als einen »Ausbruch von Kriminalität« bezeichneten. Aber selbst wenn wir dies als absurd ansehen, können wir die Riots doch als symptomatisch betrachten: als Symptom für das Scheitern von Politik. Diesen Zustand des Symptomatischen zu beenden charakterisiert momentan politische Handlungsmacht. Und in einer Welt, in der professionelle Politiker wie reglose Schaufensterpuppen wirken, die unfähig sind, die verschiedenen bevorstehenden Katastrophen abzuwenden, könnte nichts dringlicher sein. Um aber nochmal auf Occupy zurückzukommen: Eins der größten Probleme der Occupy-Bewegung kristallisiert sich in McKenzie Warks Frage »Wie kann man eine Abstraktion besetzen?« (Wark 2012: 2) Während der Anblick von Menschen, die sich in einem gemeinsamen Raum versammeln, in gewisser Weise für kurze Zeit affektiv aufgeladen sein mag, wird dies nur wenig strategischen Wert haben, wenn dieser Raum nicht dringend notwendig für das Operieren des Kapitals ist. Wie Ewan Morrison in dem scharfsinnigen Essay »Occupying a Non-Place« für die Website Bella Caledonia argumentiert: »Occupy Wall Street trägt die Deklaration des eigeJeremy Clarkson ist ein britischer Kolumnist und Fernsehmoderator, der u.a. die Auto-Sendung Top Gear moderiert. Clarkson ist ein ausgesprochener Gegner staatlicher Eingriffe und hat sich während der Regierungszeit Tony Blairs öffentlich gegen dessen Jagd- und Rauchverbote ausgesprochen. Clarkson gilt als geschickter Lobbyist für die Autolobby, seine öffentliche Kritik an der Londoner Citymaut oder der Umweltorganisation Greenpeace führte dazu, dass ihn der Daily Mirror als »schillernden Helden der Political Incorrectness« bezeichnete, ein Image, das zu Clarksons Markenzeichen geworden ist. (Anm.d.Ü.) 27

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nen Scheiterns auf seinen Schultern und gibt sie weiter an die ganze Welt, weil Occupy Wall Street niemals die Wall Street besetzt hat. Occupy London verschlug es letztlich auf das Grundstück einer Kathedrale.« (Morrison 2012) Morrisons Lösung für dieses Dilemma ist dagegen eine, die in anti-kapitalistischen Kreisen wohlbekannt ist: »Wir müssen unser Geld bei lokalen Genossenschaftsbanken anlegen und in den Austausch mit Waren, Arbeitsplätzen und Menschen aus der näheren Umgebung investieren.« Aber dieser Trend hin zum Lokalismus ist reaktionär und kontraproduktiv. Es existiert zwar eine weitverbreitete Unzufriedenheit mit dem Kapitalismus, aber keine vergleichbare Dringlichkeit, sich dabei auf lokale Gemeinschaften zu beschränken. Greg Sharzers No Local: Why Small-Scale Alternatives Won’t Change the World (2012) ist eine präzise, vorsichtige Demontage des anti-kapitalistischen Lokalismus, aber die Nachteile dieses Lokalismus werden in brutaler Eleganz durch Jodi Deans zum Meme gewordenen Slogan »Goldman Sachs ist es egal, ob du Hühner züchtest!« zusammengefasst. Das Kapital ist nicht wortwörtlich global, aber es ist global genug, Arbeiter von unterschiedlichen Ecken des Planeten gegeneinander ausspielen zu können. Das Anti-Kapital muss demnach globalisiert genug sein, um die Interessen der Arbeiter zu koordinieren. Gleichzeitig müssen wir für mehr Autonomie und Kontrolle der Arbeiter über ihren unmittelbaren Arbeitsprozess werben – vielleicht nach dem Modell von Fabriken in Lateinamerika, die von ihrer Belegschaft verwaltet werden. Wie Fredric Jameson argumentiert hat, ist der Kapitalismus die am stärksten kollektivierte Gesellschaft der Geschichte, in dem Sinne, dass selbst die banalsten Objekte Resultat eines massiven Netzes gegenseitiger Abhängigkeiten sind (Jameson 2009: 437). Momentan ist dieses globale Netzwerk dumm und käuflich; aber anstatt es zugunsten einer wie auch immer gearteten Rückkehr zur Landwirtschaft aufzugeben, die nur auf der Basis einer Katastrophe möglich sein wird, sollten wir dieses erdumspannende Netzwerk in ein intelligentes System transformieren, das im Sinne der Interessen der Mehrheit handelt. Die kapitalistische Globalisierung würde dann die Vorbedingung für eine neue und nie dagewesene Form globaler Kollektivität sein – genau, wie es Marx vorhergesehen hat. 109

Ein Teil des Problems von Occupy war, dass nicht klar wurde, ob es sich um einen Prototyp von antikapitalistischen sozialen Beziehungen handelt oder bloß um einen Protest, der sich an die Herrschenden der momentanen Gesellschaftsordnung richtet. Sollte es sich um einen Prototyp handeln, so scheint Occupy nichts zu bieten, was auf libidinöser Ebene mit dem Kapital Schritt halten könnte. Oder haben diese bunt zusammengewürfelten Camps wirklich eine Welt entworfen, die wünschenswerter wäre als die unter der Herrschaft des Kapitals? Die Protestform hält indes nur eine tröstende Fantasie bereit, die die beängstigende Tatsache verschleiert, dass es niemanden gibt, der den Kapitalismus vollständig kontrolliert und die Forderungen der Protestierenden erfüllen könnte. Die neoliberalen Kritiker von Occupy haben darauf hingewiesen, dass die Bewegung im Negativen verharrt: Sie ist gegen den Kapitalismus, aber wofür ist sie? Auch wenn diese Art von ablehnender Kritik immer ein wenig billig wirkt, weist sie doch auf ein grundsätzliches Problem des Antikapitalismus hin. Falls es zu viel verlangt ist, dass Occupy mit einer funktionsfähigen Vision einer postkapitalistischen Gesellschaft aufwartet, ist es dennoch wichtig, niemals dieses Ziel aus den Augen zu verlieren. Letztlich mag die wichtigste Funktion von Occupy darin bestanden haben, einen Prozess der Regeneration der gesellschaftlichen Vorstellungskraft eingeleitet zu haben. Vor 2008 konnten wir uns keine Alternative zum Kapitalismus vorstellen. Aber Occupy hat uns gezeigt, dass wir uns zumindest wieder vorstellen können, uns diese Alternative vorzustellen. Um die politische Vorstellungskraft derart wiederaufzubauen, müssen wir die in vielen anti-kapitalistischen Bewegungen herrschende Fetischisierung eines anti-hierarchischen Horizontalismus überwinden. Die unkritische Propagierung »horizontaler« Herangehensweisen der politischen Organisation hat dazu geführt, dass die Linke nicht in der Lage ist, sich in einem erfolgreichen Kampf um die Hegemonie gegen die Kräfte des Kapitals zu engagieren. Alex Williams zufolge sollte linke Solidarität die Form einer »postfordistischen Plastizität« annehmen. Falls das Kapital durch eine gewisse Formbarkeit, die Fähigkeit, Allianzen zwischen heterogenen Gruppen zu konstruieren, gekennzeichnet ist, dann muss der Anti110

kapitalismus ähnlich plastisch sein. Plastizität bedeutet nicht, sich den »Forderungen des Kapitalismus« anzupassen, also die »Flexibilität« zu beweisen, die in praktisch jeder Stellenanzeige eingefordert wird. Stattdessen müssen wir schneller und vorausschauender als der Kapitalismus sein: »Diese neue Form der Solidarität muss zu einer gewissen Fluidität und einer schnellen Reaktion fähig und in der Lage sein, die Schwächen von Systemen und Strukturen opportunistisch und mit einer globalen Reichweite auszubeuten, die in allen entscheidenden Punkten die Geschwindigkeit und Fluidität der internationalen Finanzwirtschaft spiegelt. So sähe Solidarität als eine Form der Fluidität anstelle der steinernen Form der fordistischen Arbeitersolidarität aus. Sie ist fähig zu fließen und sich zu wandeln, aber sie kann auch eine Stellung halten und eine harte Form annehmen, wenn das notwendig ist. Die Form der Solidarität muss die neuen Protest- und Besetzungsbewegungen der letzten Jahre mit einschließen, denn selbst wenn diese bis jetzt größtenteils ineffektiv geblieben sind, so haben sie dennoch zu neuen und interessanten Zusammensetzungen von Interessengruppen geführt. Es mangelt jedoch an den notwendigen kybernetischen Koordinationssystemen, die diese disparaten und fragmentierten Gruppen befähigen, den Status einer gegenhegemonialen Macht zu erreichen, einer ›Klassen‹-Macht in der breitesten Bedeutung des Wortes, die in der Lage ist, ein effektives Gegengewicht zu den habgierigen, wenngleich diskreditierten Zentren des Neoliberalismus zu bilden.« (Williams 2010) Falls das Besetzen von Parks oder des Grundstücks einer Kathedrale nicht die Funktionsweise des transnationalen Kapitals stört, dann sollten wir die Knotenpunkte blockieren, auf die der virtuelle Kapitalismus immer noch angewiesen ist, zum Beispiel Flughäfen und Containerterminals. Aber es ist möglich und vielleicht auch notwendig, eine vollkommen andere Sichtweise auf diese Dinge zu entwickeln. Im Gegensatz zur antikapitalistischen Fokussierung auf Störungen und Unterbrechungen hat Alberto Toscano argumentiert, dass es besser sein könnte, sich zu fragen, »welche Aspekte des zeitgenössischen Kapitalismus man im Übergang zu einer kommunistischen Gesellschaft umfunktionieren könnte.« So 111

stellt sich die Frage, »wie ein System aus Hochgeschwindigkeitszügen nicht unbrauchbar, sondern in einer vollständig neu definierten Gebrauchsweise, die nicht durch die abstrakten Zwänge von Wert und Tausch vermittelt und dominiert wird, nutzbar gemacht werden könnte« (Toscano 2011). Für Toscanos Vorschlag spricht eine Reihe von Gründen. Sowohl libidinös als auch strategisch wird der Übergang in den Postkapitalismus die Entwicklung von Systemen erfordern, die so globalisiert, virtuell und abstrakt sind wie die des Kapitalismus selbst. Toscano zufolge wechselt man automatisch von einer antikapitalistischen zu einer prokommunistischen Grundhaltung, sobald man darüber nachdenkt, auf welchen Wegen das momentane System der Kommunikation, Distribution und Produktion vom Kapitalismus befreit werden könnte. Anstatt den Kapitalismus als ein System zu begreifen, das nur zu gut funktioniert, könnten wir es als das verstehen, was es ist: ein System, das routinemäßig daran scheitert, seine eigenen Versprechen einzulösen, das von Ineffizienzen durchsetzt ist und das Potenziale massenhaft vergeudet. Anstatt eine trübsinnige, reaktionäre Rückkehr zum Lokalen oder zum Vorkapitalistischen anzubieten, können wir den Kapitalismus als Barbarei betrachten, die den Übergang zum Kommunismus blockiert. Anstatt von den Menschen zu verlangen, die hochtechnisierte Moderne hinter sich zu lassen, sollten wir uns dafür einsetzen, dass der Postkapitalismus alles bieten wird, was die Menschen heute auch nutzen, z.B. Flughäfen, Supermärkte und Cafés – aber in neuen, verbesserten und bislang noch unvorstellbaren Formen.

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