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German Pages 100 [104] Year 1975
U ntersuchungen zur deutschen Lit era t urge schick te Band IJ
Jochen Schmidt
Ohne Eigenschaften Eine Erläuterung zu Musils Grundbegriff
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1975
ISBN 3-484-10229-2 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1975 Alle Rechte vorbehalten. Printed in Germany Satz und Druck: Bücherdruck Wenzlaff, Kempten
Inhaltsverzeichnis
ERSTER TEIL >GRIGIA< : D E R W E G IN DIE E I G E N S C H A F T S L O S I G K E I T
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I. Einleitung: Die Novelle >Grigia< im Zyklus >Drei Frauen< · ·
ι
II. Textanalyse
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1. Lösung aus der Wirklichkeit
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1.1 Die innere Prädisposition 1.2 Soziologische, ökonomische und kulturelle Bedingungen für den Abbau des eigensdiaftlichen Daseins 1.3 Peripetie: Krise und endgültiger Übergang zum Unwirklichen
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2. Das Gegenbild zum Weg des Einzelnen: der ausweglose Zustand der Gesellschaft 3. Die Auflösung der Person als Vollendung der Eigenschaftslosigkeit
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III. Das Verhältnis der Erzählung zum >Mann ohne Eigenschaften
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ZWEITER TEIL H I S T O R I S C H E B E S T I M M U N G DER E I G E N S C H A F T S L O S I G K E I T
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I. Herkunft und Definition des Begriffs >ohne Eigenschaften · ·
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II. Der zeitgenössische Kontext I I I . Vergleich mit K a f k a s Beschreibung eines Kampfes
GrigiaGrigia< im Zyklus >Drei Frauen< Jede der drei Frauen in Musils Novellenzyklus verkörpert für den Mann eine bestimmte Möglichkeit, aus dem Bruchstückhaften seines Daseins zum vollendenden Ganzen zu gelangen. Grigia wirkt als bloßes Medium. Sie fördert in entscheidender Weise Homos schon bestehende innere Tendenz vom bürgerlich festgefahrenen und im Hegeischen Sinne »positiv« gewordenen Dasein zu einem Zustand der grenzenlosen Freiheit und Harmonie. Die Portugiesin und Tonka bringen eine neue Substanz in das Leben des Mannes: die Südländerin ergänzt den einseitigen Tatmenschen des Nordens, sie verhält sich zu ihm so komplementär wie der milde Zauber ihres meernahen Landes zu der rauhen Gebirgsheimat, in die sie der Herr von Ketten holt; Tonka erweitert die einseitig wissenschaftliche Existenz ihres Freundes um die Dimension des EinfachNatürlichen, sie ist die nicht mehr ableitbare Synthese, der »Gesang« in der prosaischen Welt seiner Analysen. Diesem inneren, systematischen Zusammenhang der Erzählungen gegenüber fällt die Diskontinuität der äußeren Umstände auf. Wichtig ist vor allem die zeitliche Divergenz. Homo gehört ebenso wie der Held in >Tonka< der Zivilisation des zwanzigsten Jahrhunderts an, der Herr von Ketten dagegen dem mittelalterlichen Rittertum. Gleichbleibende psychische Relationen erscheinen also in entschiedener Kontrapunktik zu geschichtlich bedingten Wandlungen des Verhältnisses von Mann und Frau. Die Sequenz von >Portugiesin< und >Tonka< läßt gerade durch die Betonung unveränderlicher Grundstrukturen charakteristische Änderungen der Oberflächenschicht hervortreten. Die Gleidiheit des Verhältnisses zwisdien dem einseitig in seinem Tätigkeitsbereich aufgehenden Mann und der ihn aus dieser Einseitigkeit lösenden Frau madit aufgrund ι
der vollständigen Verschiedenheit aller äußeren Daten zunächst das Archetypische evident. Was als Differenz bleibt, ist die meßbare Spanne zwischen Einst und Jetzt: das Moderne kommt auf der Folie vergangener Zeiten exakt zum Vorschein. Der Herr von Ketten verkörpert nach dem mittelalterlichen Schema des >Iwein< idealtypisch den ritterlichen Mann der Tat, der in der Spannung äventiure-minne steht und über eine Zerreißprobe zur Synthese finden muß. Dagegen ist die TonkaErzählung bei gleichbleibender Konstellation und entsprechendem innerem Vorgang insofern modern, als sie nicht mehr den epischen Helden kennt, von dem es Taten zu berichten gibt: an die Stelle des Tatbereichs ist das Feld der Wissenschaft getreten. Folgerichtig steht am Ende von >Tonka< nicht wie in der Portugiesin« eine reale neue Lebensform, nicht eine Verwirklichung der Harmonie, sondern nur ein neues Bewußtsein, das der Dimension des Harmonischen »inne« geworden ist. Erst unter diesem Gesichtspunkt des Bewußtseins erklärt sich die Komposition des >Drei FrauenDrei FrauenGrigia< »in an archaic, pre-Christian past« (168) an und folgert daraus eine genaue zeitliche Reihenfolge: Archaische Urzeit (>GrigiaDie Portugiesin«) - Moderne (>TonkaDrei Frauen< werden nur durch Seitenzahlen nachgewiesen, nach der Ausgabe: Robert Musil, Sämtliche Erzählungen, 1968. Nachweise aus dem >Mann ohne Eigenschaften« erhalten den Zusatz » M o E « zur Seitenzahl. G W II bedeutet >Robert Musil, Gesammelte Werke«, Bd. II, 1 9 5 5 ; G W I I I >Robert Musil, Gesammelte Werke«, Bd. III, 1 9 5 7 .
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bewußten ausgehenden und in tödlichem Bewußtseinsschwund endenden Abenteuer Homos und dem im bloßen Bewußtsein sich auflösenden Erlebnis des Helden in >Tonka< handelt. Die Mitte zwischen diesen Extremen erscheint dem Erzähler als den Hauptmöglichkeiten der Moderne gleich weit entrückt: nämlich die im Zusammenspiel unbewußter und bewußter Kräfte schließlich harmonisch gerettete Lebenswirklichkeit. 2 Während der Herr von Ketten und die Portugiesin zu einer Vollendung der Liebe finden und leben, glücklich leben, führt Homos Weg in den Tod, und nur als Tod ist hier die Vollendung der Liebe, nur als vollständige Auflösung die höchste Form der Vereinigung möglich; und das Bewußtsein des Helden in >Tonka< gewinnt allein durch Tonkas Tod seine vollkommene Form. Die wesentliche Unterscheidung ist geschichtlich begründet. Sie gilt dem gestaltlos Abstrakten, immer Todverfallenen der modernen Lösungen im Verhältnis zur konkreten Lebenswirklichkeit und Lebensfähigkeit einer vergangenen Zeit. Auf dieses Abstrakte und die Abstraktion als eine zentrale Tendenz Musils wird näher einzugehen sein. Sie ist Korrelat der Sehnsucht nach einem Menschentum »ohne Eigenschaften«, d.h. ohne alle die Festlegungen des konkreten Lebens. Homo, der Held der >GrigiaMannes ohne Eigenschaften^
II. Textanalyse i. Lösung aus der
Wirklichkeit
Daß es nur Ansätze zur Deutung der Erzählung >Grigia< gibt, 3 ist offensichtlich die Folge ihrer Hermetik, für die Musils Sätze über die >Ver2
s
Dieses Zusammenspiel unbewußter und bewußter Kräfte bringt die Schlußpartie der >Portugiesin< mit der Ersteigung des Burgfelsens besonders deutlidi zum Ausdruck. E. Kaiser IE. Wilkins, Robert Musil, 1962, S. 1 0 8 - 1 1 6 , deuten >Grigia< als eine »Rüdekehr zum Ardiaisdien, zum Schreiben aus der »versenkten Phantasie des stillen Kindes« (S. 108). J. Hermand, Musils >GrigiaBergwerk zu Falun< weiterwirkt, entsteht der tragende Rahmen für die präzise und zielstrebige Stufung der Abschnitte. In traumhaft beschleunigter Progression »verwirklicht« sich auf notwendig paradoxe Weise die Utopie, die sich im facetten- und figurenreichen Flächengebilde des >Mannes zu geben, werden die einzelnen Motive immer wieder durch neue Bilder oder Gedankengänge verdrängt, so daß man selbst bei scheinbar durdierzählten Stellen ständig den Faden verliert« (i8of.) »Den Verlust der größeren Zusammenhänge« wolle der Erzähler durch »stilistische Eleganz im Detail« ausgleichen (181). Dementsprechend greift Hermand nur einige »Hauptmotive« heraus: »das Bergwerk, das Gold und das Weibliche an sidi« (176). - L. Kirdiberger, Musils Trilogy. A n Approach to >Drei Frauen«, Monatshefte Vol. L V , A p r i l - M a y , 1963, N o . 4, S. 167-182, sieht in den >Drei Frauen< eine nach dem Schema von Freuds >Motiv der Kästchenwahl< auszulegende Allegorie. - K . Tober, Robert Musils >GrigiaGrigiaDrei Frauen< und Bereinigungen«, 1973, unternimmt ihre Analyse lediglich unter dem Aspekt der Zeit- und Raumstruktur sowie unter dem der Erzählhaltung, beinahe ganz ohne Rücksicht auf Bedeutungszusammenhänge. * G W II, 809.
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ohne Eigenschaften aus dem ironisch distanzierenden Abtasten aller nur denkbaren zeitgenössischen Realitäten erschließt. Während Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, in einer enzyklopädischen Systematik die Welt der »Eigenschaften« skeptisch und erkennend durchschreiten muß, in einer Fülle von Begegnungen, fallen von Homo die Fixierungen des gewohnten Daseins — die »Eigenschaften« - in rascher Folge ab. Durch die Totalität der aufgebotenen Daseinsweisen dient der Roman einer großangelegten Erprobung der besonderen Daseinsweise des Mannes ohne Eigenschaften und damit dem Versuch, deren Richtigkeit nachzuweisen. In der Novelle fehlt dieser Zug zur systematisch objektivierten Erkenntnis. Sie stellt einen inneren Vorgang dar, dessen Wert und Wichtigkeit einzig aus ihm selbst einsichtig wird. Dies bedingt eine bis zum Äußersten gehende Darstellung der immanenten Logik dieses im wesentlichen unbewußten Prozesses und eine lineare Konsequenz. Schon der Held heißt so, wie kein wirklicher Held je heißen könnte und wie doch alle Helden heißen: Homo. Das bloß Faktische und Individuelle der Fabel ist damit von vornherein aufgehoben. 5 Ein geheimnisvolles alter ego lockt Homo zu seinem Abenteuer der Goldsuche hinaus, ein Mann mit unmöglichem und darum sofort deutungsforderndem Namen: Mozart Amadeo Hoffingott. Der Name Mozart deutet auf Musik, »Hoffingott« ist ein sprechender Name, und zwischen beiden vermittelt der Name »Amadeo«, der sowohl zu Mozart gehört als auch, im Wortsinn, die Liebe zu Gott meint.® Triebkraft für Homos Unter5
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In einem Brief an Franz Blei erklärt Musil, daß er in den >Vereinigungen< versucht habe, den ideologischen »Zusammenhang und das (Gattungs-) Schicksal eines Menschen, der seiner fähig ist«, zu zeigen: »Was dargestellt wird, kann man also sagen, ist nur: der Mensch, der solcher Motive fähig ist, nur dieser Durchstich durch solchen Menschen, nicht das Schicksal eines Individuums, sondern die charakterisierte Möglichkeit einer A r t . . . « (vgl. Karl Corino, Robert Musils »Vereinigungen«. Studien zu einer historischkritischen Ausgabe. Musil-Studien Bd. j , München-Salzburg 1974, S. 329). J . Hermand, S. 1 7 1 , glaubt trotz des Prototypisdien, das der N a m e H o m o »ahnen« lasse, den A n f a n g im übrigen noch »mit Stefan Zweig oder Schnitzler vergleichen« zu können: »Das Gesellschaftliche, das Wiener M i lieu, das Interesse am Psychologischen«. Das »Wiener Milieu« wird aber mit keinem einzigen Wort erwähnt, so wenig wie »das Gesellschaftliche« näher in Erscheinung tritt. Es kommt im Gegenteil auf die strikte Abstraktion von derlei Momenten an. Ähnlich E . Kaiser / E. Wilkins, Robert Musil, S. 109. Dagegen sieht J . H e r mand S. 1 7 1 in dem Namen Mozart Amadeo Hoffingott nur eine »spiele-
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nehmung ist, so darf man folgern, eine Sehnsucht, wie sie sidi nur mit dem Erlebnis harmonischer Musik oder der H o f f n u n g auf Gott umschreiben läßt - Sehnsucht nach höchster und absoluter »Vereinigung«. Die Deutung der N a m e n bereits zeigt, auf welches Zentrum hin alle Elemente der Dichtung zu beziehen sind. D e r Leser sieht sich in einen genau markierten Erwartungshorizont eingewiesen, aller Aussicht auf anekdotisch genießende Unterhaltung beraubt und auf die konzentrierte Darstellung eines gründlich reflektierten Erfahrungsprozesses gespannt. 7 A u s der Idee heraus ordnet sich das G e f ü g e der Dichtung. Dieses K o n struierte führt zu einer äußersten Beschränkung des Stoffs. Es herrscht der »Wille zur Eindimensionalität«. 8 Nicht das Psychologische einer persönlichen, individuellen Einheit dominiert, sondern das Eidos eines einzigen Grunderlebnisses, die »ideologische Einheit«. 9 Daraus ergeben sich zwei Gestaltungsprinzipien für die N o v e l l e : das Prinzip der kürzesten L i n i e 1 0 und das der kleinsten Schritte. 1 1 Denn jeder Erzählschritt ist ein Gedankenschritt. Die Wahrheit der Darstellung kann daher nur in der lückenlosen Kontinuität der dargestellten Vorgänge evident w e r den, wenn diese auch nicht mehr so mikroskopisch detailliert sind wie in
rische Variante«, die das Symbolische des Namens Homo »wieder leicht abschwächt«. Audi der Hinweis auf die biographische Tatsache, daß Musil einen Kriegskameraden »von Hoffingott« hatte, trägt zur Erklärung des Textes nicht bei, denn dieser transponiert die biographischen Daten, zu denen auch andere Kriegserinnerungen an Südtirol gehören (vgl. G W I I , 1 7 1 f., G W I I I , 657-662), in den Bedeutungszusammenhang der Novelle. Mit Musils Worten: »Dichtung gibt Sinnbilder. Sie ist Sinngebung. Sie ist Ausdeutung des Lebens. Die Realität ist f ü r sie Material« (GW II, 810). 7 M.-L. Roth, Robert Musil, S. 468fr., Anm. 1 1 , teilt eine theoretische A b handlung Musils >Über Novellen< mit, in der es heißt: » . . . Nicht die äußeren Dimensionen, sondern die inneren machen den Roman zum Roman, die Novelle zur Novelle, indem der erste ein Menschenschicksal als ganzes betrachtet u. darstellt in der einfachsten epischen Synthese, die Novelle aber aus einer vorausgesetzten Gesamtheit des gegebenen Tatsächlichen eine bezeichnende Einzelheit, einen wesentlichen Konflikt, eine merkwürdige Katastrophe mit durchdachter Willkür herausgreift u. a u s f o r m t . . . Der R o man sagt aus u. alles, die Novelle deutet an u. schränkt ein, sie stellt eine Existenz auf die ausgeschärfte Schneide einer äußeren Situation, man möchte sie als episches Sinngedicht, als erzähltes Epigramm ansprechen . . . « 8 Brief an Franz Blei über die >VereinigungenVereinigungen G W II, 207. 11 G W II, 8 1 1 .
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den >VereinigungenDrei FrauenVereinigungen< nachträglich formulierten, aber erst in den >Drei Frauen< voll verwirklichten Gestaltungsprinzipien kommt nun das parabolische Element stärker zum Tragen. Beinahe jede gedankliche Einheit wird zu einer eigenen Situation von intensiver Bildlichkeit. 12 Gegenüber den komplizierten, in einer Fülle von Vergleichen sich eher zerfasernden als verdichtenden Perioden der B e r einigungen zeichnet sich der >Drei FrauenVollendung der Liebe< — wie Claudine in der Novelle dieses Titels. Und wie Claudine, die schon ihrem Namen nach in sich selbst Verschlossene, sich immer weiter öffnet und löst, und wie der Herr von Ketten in der >Portugiesin< die Ketten abschüttelt, so muß auch Homo sich öffnen bei den »Aufschließungsarbeiten« (223), zu denen Mozart Amadeo Hoffingott ihn, den Geologen, ins Gebirge lockt. 12
Dieses Parabolische ist schon Musils Programm für die >VereinigungenVereinigungen< ,S. 3 3 1 : » . . . Vielleicht möchte ich unterstreichen, daß manches, was Sie erwähnen, zum Teil an dem Charakter Novelle liegt. Das Parabolische ist nicht kommentatorisch, sondern zentral und eigentlich . . . das Bild ist nicht Ornament, sondern Bedeutungsträger . . . eine Wendung tatsächlich mehr des Gegenstandes als des Gefühls vom Gegenstande im Beschauer, - im Gegensatz zu seiner üblichen Verwendung. Das Bildliche hat hier mehr Begriffliches in sich, als normal ist, mehr von der Rolle der direkten Beschreibung des äußeren und inneren Geschehens. Darum ist das Bild kaum mehr Bild, sondern eigentlicher und wesentlicher Ausdruck . . . «
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Vgl. auch E. von Büren, Z u r Bedeutung der Psychologie im Werk Robert Musils, 1970, S.62.
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Musil gestaltet Homos Abenteuer im exakten Gegensinn zum deutschen Bildungsroman. Es kommt nicht zur organischen Förderung einer keimhaft vorgegebenen Anlage, indem das Ich sich mit Welterfahrungen anreichert bis zum Optimum der Synthese von Subjekt und Objekt, sondern umgekehrt: alle schon bestehenden Einzelzusammenhänge zwischen Ich und Welt lösen sich auf. Die Umkehrung des idealistischen Bildungsschemas führt, obwohl selbst audi wieder von idealistischen Voraussetzungen ausgehend, zu einem kontinuierlichen Abbau alles dessen, was im herkömmlichen Verständnis den Wert der menschlichen Existenz ausmacht und um dessen Aufbau sich das neunzehnte Jahrhundert bemüht hatte. Musils Held wächst nicht in Ordnungen hinein, sondern er entwächst ihnen als dem Unmaßgeblichen; er schafft keine Bindungen, sondern befreit sich aus ihnen wie aus Fesseln. Solche Umkehrung des traditionellen Bildungsganges entspringt der Umwertung der bisher gültigen Werte, der Ideale, Grundsätze, Moralen. Und hinter dieser Umwertung und Umkehrung erhebt sich notwendig ein neuer Werthorizont, das Α priori anderer, rational nicht mehr auflösbarer Setzungen, auf die das Ende der Novelle stößt. Grigia, die Frau, wird für Homo zum entscheidenden Instrument der »Selbstauflösung«.14 Sie ist bloßer Katalysator. 15 Zu ihr gehört die in jedem einzelnen Zug als katalytisch charakterisierte Welt ihres Gebirgstales. Der Erzähler erzeugt den dramatisch intensivierenden Duktus in dieser nur durch symbolische Formen zu leistenden Darstellung, indem er die katalytisdie Substanz der Grigia-Welt fortlaufend und in strikter Entsprechung zu Homos Entwicklung potenziert-bis im letzten Drittel der Novelle endlich Grigia selbst hervortritt, als vollkommenste Ausprägung solchen Wesens. Insofern verweist alles, was vor Grigia zur Erscheinung gelangt, auf sie voraus. Bevor Homos eigentliches Abenteuer beginnt, wird seine Prädisposition deutlich. Obwohl er sich nicht entschließen kann, mit seiner Frau zu reisen, weil es ihm vorkommt, »als würde er dadurch zu lange von sich getrennt, von seinen Büchern, Plänen und seinem Leben« (223), reist 14 15
Dies ist der zentrale Begriff der Exposition (S. 223). Audi im >Mann ohne Eigenschaften werden die Frauen unter ähnlichem Aspekt gesehen ( M o E 489): »...offensichtlich gleichgültig war es auch, welche Frau da saß; ein Körper, der, in ein schon vorhandenes geistiges Kraftfeld eingesetzt, bestimmte Vorgänge in Gang brachte!«
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er auf den geheimnisvollen Appell des Herrn Mozart Amadeo HofFingott dann doch ab aus »seinem Leben«. Homos Abreise entspricht dem »Urlaub vom Leben«, den der Mann ohne Eigenschaften nimmt. Es ist ein Urlaub vom bürgerlich festgefahrenen Leben aus Sorge um ein innerlich voll zu motivierendes, wahrhaft erfülltes Dasein, das noch im Unbekannten liegt - Nietzsches »große Loslösung«. 1 ® Und obwohl der Bürger Homo einen »heftigen Widerwillen gegen Bade- und Gebirgsorte« (223) empfindet, reist er gerade ins Gebirge ab. Die Weite des Meeres und die Höhe der Berge sind für Musil die Dimension des Abenteuers: Räume der Selbsterprobung und des Hinausstoßens ins Unbekannte. 17 Mozart Amadeo Hoffingott, der dies über Homo vermag, als unbewußt drängendes tieferes Ich, wird nicht nur durch seinen Namen erklärt, sondern auch durch die auffallende Feststellung, daß er ein Mann von Homos eigenem Alter ist und daß er zur gleichen Stunde, in der Homo stirbt, die Goldsuche im Gebirge abbrechen läßt. Vor allem aber durch die Bemerkung, Homo habe ihn »vor einigen Jahren auf einer Reise kennengelernt und während weniger Tage zum Freund gehabt« (223). Auf einer Reise: d.h. in einer kurzen Zeit des Fernseins von seinen täglichen Gewohnheiten ist Homo also sdion früher einmal seinem tieferen Ich begegnet, und dieses Ich ruft ihn nun. In einem derartigen »Signal« als dem typisch novellistisch erregenden Moment gipfeln die Expositionen aller Erzählungen Musils, und immer wieder deutet das Signal, wie hier, auf ein Durchbrechen des tieferliegenden Unbewußten durch einen Riß der brüchig gewordenen Wirklichkeit, auf das Erwachen einer Erinnerung aus einer Zeit, in der das Dasein nicht festgelegt und erstarrt war. All diese Momente sind charakteristisch für die expressionistische Erzählkunst. In ähnlicher Weise gestaltet K a f k a in der Beschreibung eines Kampfes< und anderen frühen Werken das alter ego als die plötzlich aufbrediende tiefere Möglichkeit im Menschen: als eine Möglichkeit, die irritiert und verwandelt, indem sie aus dem gewohnten Bereich des 16
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Vgl. die im Jahre 1886 entstandene Vorrede zur Neuausgabe der Schrift >Mensdilidies, Allzumenschliches< (Nietzsdie, Werke, Kritische Gesamtausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 4. Abt., 2. Bd., Berlin 1967, S. 7 - 1 6 ) . Vgl. M o E 1 4 1 0 : »Das Meer im Sommer und das Hochgebirge im Herbst sind die zwei schweren Prüfungen der Seele.«
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bürgerlichen Daseins hinaustreibt. Und ebenso symbolisiert die Reise und die Reisebereitschaft die Tendenz zur Lösung aus den bestehenden Ordnungen. Nicht zufällig ist Gregor Samsa in der >Verwandlung< bei aller Geschäftstätigkeit doch ein »Reisender«; und das schwarze Kleid, das der Wächter trägt, der Josef K . zu Beginn des >Prozesses< verhaftet, ist »ähnlich den Reiseanzügen«, 18 ja, der an seiner bürgerlichen Position noch haftende K . bemängelt bezeichnenderweise, daß der Abgesandte des Gerichts nicht eine legitimierende »Uniform«, sondern einen »Reiseanzug« trägt. 19 Das Signal endlich, in dem sich die Provokation zeichenhaft konkretisiert, ist meistens bis zur Kraßheit intensiv: expressionistisch. Zwar erinnert Hoffingotts briefliche Aufforderung eher an konventionelles Erzählen, aber der Name des Absenders Mozart Amadeo Hoffingott ist in seiner monströsen Irrealität selbst ein solch rücksichtslos entschiedenes Signal. Musils Erzählung >Die Amsel< bietet das Signal in der typisch expressionistischen, schockierenden Weise: mitten in der Nadit singt ein Tagvogel, die Amsel, nach der die Novelle benannt ist. Ihr Lied weckt den Helden aus dem Schlaf und heißt ihn seine bürgerliche Existenz aufgeben. 20 Dies ist das erstaunlich genaue Gegenstück zu Kafkas >Jäger GracchusVon der Abgeschiedenheit einen Passus, der nicht in Bubers Anthologie (vgl. S. 56) enthalten ist: » . . . >Audi in Christus war ein äußerer und ein innerer Mensdi, und alles, was er in Bezug auf äußere Dinge tat, tat er vom äußeren Mensdien aus, und stand dabei der innere Mensch in unbeweglicher Abgeschiedenheit< sagt Eckehart.« In der am meisten verbreiteten und seit 1903 durch Jahrzehnte gängigen zeitgenössischen Übersetzung lautet der entsprechende Passus: »Auch in Christus nun war ein äußerer und ein innerer Mensch und ebenso in unserer lieben Frau, und alles was sie in Bezug auf äußere Dinge äußerten, das taten sie von dem äußeren Menschen aus, und stand dabei der innere Mensdi in unbeweglicher Abgeschiedenheit.« (Meister Eckeharts Schriften und Predigten. Aus dem Mittelhochdeutschen übersetzt und herausgegeben von Herman Büttner. i.Band, 12.-14. Tausend, Jena 1923, S. 63). Trotz der Kürzungen sind die Übereinstimmungen in der Wortwahl und besonders in der ungewöhnlichen Syntax der Sdilußpartie so auffallend, daß man mit großer Wahrscheinlichkeit die Benutzung dieser Übersetzung durch Musil erschließen kann. Allerdings hat audi Büttner den Charakter des fixierten Begriffes >Eigensdiaft< verwischt, indem er mhd. »eigenschaft« bald mit »Eigenschaft«, bald aber auch mit »Bestimmtheit«, »Willkür« usw. wiedergibt. Bei Musil läßt sich der Begriff der »Eigenschaften« im prägnanten Sinn des späteren Werks schon um das Jahr 1907 nachweisen. Vgl. dazu E. Albertsen-K. Corino, >Grauauges nebligster Herbst< von Robert Musil, in: studi germanici (nuova Serie), Anno V , n. 2, giugno 1967.
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Gefangenschaft im Oberflächlich-Irdischen, kurz: das im Verhältnis zur Gottheit Uneigentliche. Bevor Eckehart die revolutionäre Tragweite seiner Formel darlegt, baut er Zug um Zug die Definition auf. Die Ablehnung der Werkheiligkeit ist eine wesentliche Voraussetzung der unio mystica: 7 »dirre mensche, der mit gote vereinet ist, der stet ouch lidig unde fri in allen sinen werken unde würket sie von minne und äne warumbe . . . « »Ledig- und Freisein«· wird zur stereotypen Begleit- und Erläuterungsformel des Begriffes »äne eigenschaft«. Selbst wer seine Werke bewußt im Hinblick auf die Gottheit tut, statt sie nur »von minne und äne warumbe«, also aus vollkommen zweckfreier Innerlichkeit zu vollbringen, ist zur unio mystica nicht fähig, weil er damit die Gottheit auf irdische Weise veräußerlicht und folglich verfehlt. Er handelt noch »mit eigenschaft, mit zit unde mit zal, mit vor unde mit nach« 8 . Dagegen ist der Gottinnige »äne vor und äne nach und äne hindernisse aller der werke und aller der bilde, diu er ie verstuont, lidig unde fri«.9 Nicht nur sein Handeln (»werke«), sondern audi seine Vorstellungen (»bilde«), vita activa und vita contemplativa, müssen vollkommen frei sein, um die Vereinigung mit der Gottheit nicht zu hindern. Der Begriff des »Hindernisses« erscheint mit dem der »Eigenschaft« geradezu im Hendiadyoin (»hindernüsse und eigenschaft«10) oder wird ihm erläuternd gleichgesetzt, wenn es vom Tempel der Seele heißt: 11 »Swenne dirre tempel alsus lidig wirt von allen hindernüssen (daz ist eigenschaft und unbekantheit 1 2 )...« Eckeharts nicht nur in diesem Zusammenhang zentrale Predigt zu Luc. X,38 —Intravit Jesus in quoddam castellum et mulier quaedam excepit illum etc. - legt den Bibeltext in gewohnter Weise »mystice« aus: das Weib, das Jesus empfängt, ist eine Metapher der Seele, welche die Gottheit aufnimmt. Da die Seele, dieser Deutung aus der Bibel zufolge, rein und frei vom Irdischen und damit dem Göttlichen offen ist, wird sie, bei 7
8 β 10 11
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Die Zitate sind nicht der jetzt maßgebenden historisch-kritischen Ausgabe von J . Quint, sondern der zeitgenössischen Ausgabe von F. Pfeiffer entnommen: Meister Eckhart, hg. v. F.Pfeiffer, Stuttgart, 4. Aufl. 1 9 2 4 (Deutsche Mystiker des 14. Jahrhunderts, Bd. II), S. 34, Z . 3 7 - 3 9 . Pfeiffer, S. 35, Z . z i f . Pfeiffer, S . 3 i , Z . 3 o f . Pfeiffer, S. 3 J , Z . 3 4 f . Pfeiffer, S . 3 5 , Z - 3 9 f . »unbekantheit« ist am besten durch den Terminus »Entfremdung« wiederzugeben, trotz der modernen Problemdebatte.
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einer R ü c k ü b e r s e t z u n g in den gewissermaßen metaphorischen B e r e i d i des E v a n g e l i u m s , nidit b l o ß als F r a u , sondern als J u n g f r a u bezeichnet. I m Z u g e der gleichnishaften D a r l e g u n g k o m m t es erstmalig z u einer aus entschiedener Antithese a u f g e b a u t e n D e f i n i t i o n des bisher nur s p o radisch eingesetzten Begriffes »ane eigenschaft« : 1 3 Ν ύ merkent daz underscheit, 14 daz wil idi iu bewisen. Were ich also vernünftic, daz alliu bilde vernünfteclidie in mir stüenden, diu alle menschen ie enpfangen h i n t unde diu in gote selber sint, were ich des ane eigenschaft, daz ich enkeinez mit eigenschaft hete begriffen in tuonne noch in läzenne, mit vor noch mit nach, mer: daz ich in diesem gegenwürtigen ηύ vri unde ledic stüende nach deme liebesten willen gotes unde den ze tuonne ane underläz, in der wärheit so were ich juncvrowe ane hindernisse aller bilde als ge werlich, als ich was dö ich niht enwas. I n eigentümlicher N ä h e z u V o r s t e l l u n g e n Musils - neben >Grigia< ist v o r a l l e m >Die V o l l e n d u n g der Liebe< z u nennen - interpretiert der n u n f o l gende T e i l der P r e d i g t die E h e als eine in äußerlichen F o r m e n erstarrte »eigenschaftliche« A r t der Liebe. Ihr stellt E c k e h a r t die v o l l k o m m e n e , ungebundene Liebe »ane eigenschaft« gegenüber, die er der » j u n c v r o u w e , diu ein w i p ist«, 1 5 z u e r k e n n t . D i e s ist die Gelegenheit z u stärkster H ä u f u n g , d . h . einprägsamer A n w e n d u n g des n u n m e h r schon definierten Begriffes »eigenschaft«: 1 6 £lidie liute die bringent des jares lützel m l denne eine fruht. Aber ander £lidie liute die meine ich ηύ ze disem male: alle die mit eigenschaft gebunden sint an gebete, an vastenne, an wachenne und aller hande üzerlicher üebunge unde kestigunge. Ein iegelichiu eigenschaft eines Werkes, daz die vriheit benimet, in diseme gegenwärtigen nü gote ze wartenne unde dem alleine ze volgenne in dem liehte, mit dem er didi anwisende were ze tuonde unde ze läzende in eime ieglichen nü fri unde niuwe, als obe dü anders niht enhabest noch enwellest noch enkünnest: ein iegltchiu eigenschaft oder fürgesetzet were, daz dir dise friheit benimet alle zit niuwe, daz heize ich nü ein jar, wan din sele bringet dekeine fruht, si enhabe daz were getan, daz dü mit eigenschaft besezzen hast, nodi dü engetriuwest gote noch dir selber,
13 Pfeiffer, S. 42, Z. 30 - S. 43, Z. 2. 1 4 Im Sinne der scholastischen distinetio ist »underscheit« als »Definition« zu verstehen (J. Quint, Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate, München o.J., S. 159, Z. IJ, übersetzt dagegen »underscheit« mit »Unterweisung«), is Pfeiffer, S.44, Z . 9 . i® Pfeiffer, S. 43, Z. 29 - S. 44, Ζ. 11.
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dü enhabest din were vollebräht, daz dü mit eigenschafl begriffen hast, anders so enhäst dü dekeinen vriden. Dar umbe sö enbringest dfi ouch enkeine fruht, du enhabest din were getan. D a z setze idi für ein jär, unde diu fruht ist noch denne kleine, w a n si « ζ eigenschafl gegangen ist nach dem werke, unde niht von vriheit. D a z heize ich Midie liute, wan sie an eigenschafl gebunden stänt. Dise bringent lützel frühte unde diu selbe ist nodidenne kleine vor gote, als ich gesprochen hän. Ein junevrouwe, diu ein w i p ist, vri und ungebunden äne eigenschafl, diu ist gote und ir selber alle zit gelich nahe. D i u bringet vil frühte unde die sint gröz, minre noch me denne got selber ist.
Ihren Höhepunkt erreicht die Predigt mit einer Ablehnung der orthodoxen Vorstellung von der Personhaftigkeit Gottes. Die dargelegte Eigenschaftslosigkeit des tiefsten Inneren begründet diese Ablehnung, die dem Mystiker den Ruf eines Häretikers, ein kirchliches Inquisitionsverfahren und schließlich die Verurteilung durch eine päpstliche Bulle eintrug. In der Uberleitung und Einleitung zum Skandalon des Gipfelstücks beschwört er den mystischen Grund, ein eigenschaftsloses Etwas, das »von allen namen fri unde von allen formen bloz« 17 ist und besonders mit dem Wort »einvaltig« umschrieben wird. Es leuchtet sofort ein, daß dem »Einfaltigen« die »Dreifaltigkeit« nicht entspricht. Dem Innersten kann die traditionelle und orthodoxe Gottesvorstellung nicht adäquat sein: also ist diese falsch, und wer sich auf sie festgelegt hat, dem ist die unio mystica verwehrt. Im Bilde ausgedrückt, das allein schon den Primat des Subjektiven deutlich macht: der (nur in der falschen, veräußerlichten Vorstellung vorhandene) Gott mit bestimmten Namen und in verschiedenen Personen kann keinen Eingang finden in die Seele, und will er ihn finden, so muß er dieses verfälschende, weil veräußerlichende Beiwerk ablegen:18 Mit guoter warheit! und also werlidie als daz got lebet, got selber luoget da niemer in einen ougenblic unde geluogete nodi nie dar in, als er sidi habende ist nach wise und üf eigenschafl siner personen. D i z ist guot ze merkenne, wan diz einig ein ist sunder wise und sunder eigenschafl. U n d dar umbe, sol got iemer dar in geluogen, ez muoz in kosten alle sin gütliche namen unde sin personlich eigenschafl: daz muoz er allez hie vor läzen, sol er iemer mS dar in geluogen. sunder als er ist einvaltig ein, eine alle wise und eigenschafl: da enist er vater nodi sun noch heiliger geist in disem sinne, und ist doch ein waz, daz enist noch diz noch daz.
» Pfeiffer, S. 46, Z. i o f .
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Pfeiffer, S. 46, 2 . 3 0 - 3 9 . 51
Der ganze Duktus der Predigt orientiert sieb am Begriff der Eigenschaftslosigkeit: auf die einleitende Definition folgt eine eindringlich häufende Anwendung im Mittelteil und als Absdiluß eine überraschende Vertiefung, die zu revolutionären Konsequenzen drängt. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Meister Eckeharts Lehre von der Eigenschaftslosigkeit zuerst den Menschen ohne Eigenschaften als höchste Form des Menschseins und dann, als allein wahre, weil wesentlich bleibende Gottheit, den Gott ohne Eigenschaften fordert. Mensch und Gott kommen überein in der unio mystica, die bei Musil »der andere Zustand« heißt. Mit der substantiellen, durch den Begriff der Eigenschaftslosigkeit erläuterten Gleichheit ist schon jenes Problem der bloßen Selbstbegegnung gegeben, 19 einer faktischen Identität, in der alles versinkt und die alles Sprechen zur infiniten Tautologie macht — die Grundstruktur des Musilschen Denkens. Die Geschichte des Begriffes »Eigenschaft« 20 läßt erkennen, daß Musil nicht bloß einen zentralen Gedanken Meister Eckeharts in dessen wörtlicher Formulierung übernommen hat. Eckehart selbst steht in einer großen und aufschlußreichen Tradition. Deren Ausgangspunkt ist das mönchische Gelübde der >paupertasproprietas< - verbietet. Dieser Begriff des Eigentums erfährt in der Mystik eine fortschreitende Verinnerlichung, die mit Bernhard von Clairvaux beginnt und von Meister Eckehart vollendet wird. Bernhard von Clairvaux bezeichnet als erster mit >proprietas< nicht nur das gelübdewidrige konkrete Eigenbesitztum, sondern die Haltung des Besitzens selbst. 21 >Proprietas< erhält dadurch den Charakter eines moralischen Abstractums. Im 1 3 . Jahrhundert umfaßt der Begriff >proprietas< schon alles, was der Mensch ohne Gottesbezug denkt und empfindet:
aus der inne-
ren Bezogenheit auf einen persönlichen Besitz ist die Bezogenheit auf die eigene Person überhaupt geworden. In dieser radikalisierten, verallgemeinerten und daher zugleich noch einmal abstrakteren Bedeutung wäre >proprietas< etwa mit >Selbstbezogenheit< wiederzugeben. Gegen sie richten die Mystiker insgesamt, vor allem aber Meister Eckehart ihre
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Vgl. hierzu R. v. Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs, S. 143 f., und U. Karthaus, Der andere Zustand, 1965, S. 1 5 4 t · Vgl. zum Folgenden: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Bd. 2, Darmstadt 1972, S. 334ft. Bernhard von Clairvaux, In consuet. Cluniacens. 3.
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Kritik. Es geht nun nicht mehr um das Aufgeben des äußeren Besitzes, sondern um die asketische Reduktion der Idihaftigkeit im Denken und Fühlen. In der Konsequenz solcher Reduktion steht zunächst die Korrektur der natura recurva in seipsa, die Befreiung, Lösung und Öffnung der in sich abgeschlossenen, weil selbstbefangenen Existenz, im Äußersten aber die physische und psychische Auslöschung des Individuums, wie sie Musil im Schluß der >Grigiaproprietas'-Begn{fs. Nicht zuletzt hat er >proprietas< ins Deutsche übertragen. Er wählte das Wort >EigenschaftTheologia deutsch< gebraucht wird 22 und noch in den mystischen Strömungen des Pietismus fortlebt. Adelungs Wörterbuch berichtet im Jahre 1793 s.v. >EigenschaftEigenschaft< im Titel seines großen Romans bezeichnet den vorläufigen Endpunkt und zugleich einen Höhepunkt dieser BegrifFsgeschichte. Der esoterische und mystisch-religiöse Terminus >ohne Eigenschaften als wesentlicher Bestandteil eines Romantitels ist ein Markstein moderner Säkularisierung; umgekehrt zeugt er von der bis zum Äußersten getriebenen Vergeistigung und Verinnerlichung einer literarischen Gattung, deren Ursprünge in ganz entgegengesetzter Richtung liegen.
II. Der zeitgenössische Kontext Es kommt viel darauf an, Musils Hinwendung zur Mystik und besonders zu Meister Eckehart nicht als das ahistorische Verhalten eines Sonderlings zu verstehen, der in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts eine kuriose Sympathie für geistige Strömungen des vierzehnten Jahrhunderts entwickelt und sie in wesentlichen Elementen 22
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Vgl. A . Nicklas, Die Terminologie des Mystikers Heinrich Seuse. Phil. Diss. Königsberg 1 9 1 4 , S . 4 6 ; Theologia deutsch, hg. v. F.Pfeiffer, 3 . A u f l . 1 8 7 5 , 12, 2 1 6 . J . C . Adelung, Versudi eines vollständigen gramm.-krit. Wörterbuchs der hochdeutschen Mundart, 2. Auflage 1 7 9 3 , s · v · »Eigenschaft^
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adaptiert. Sein Interesse für die M y s t i k 2 4 entspricht einem um 1 9 0 0 aufkommenden und bis in die dreißiger Jahre andauernden allgemeinen Interesse, das sich aus der Zeit erklären und ihren Haupttendenzen zuordnen läßt. Mystische Schriften und Literatur über das Mystische waren Mode, bis hin zu der W o g e fernöstlichen Schrifttums dieser A r t um 1 9 2 0 . 2 5 Im Zentrum der Beschäftigung mit der Mystik aber stand Meister Eckehart, dessen Werke durch die popularisierende, aus »geistiger Assimilation« entstandene Ubersetzung H e r m a n Büttners ( 1 9 0 3 f r . ) zum modernen Bestseller wurden. A u f l a g e folgte auf A u f l a g e bis hin zu einer Volksausgabe in den dreißiger Jahren. 2 6 Die W i r k u n g der Büttnerschen Eckehart-Obersetzung und -Stilisierung zeigte sich in einer Flut v o n Lobschriften. » E c k e h a r t . . . wurde zum Helden zahlreicher historischer, biographischer und weltanschaulicher Romane . . . Im Fahrwasser dieser auf Büttner zurückzuführenden Interpretationen kam es zur raschen A u f n a h m e pseudo-Eckehartischer Ideen in philosophischen Zirkeln und zur Bildung von neumystischen Massenbewegungen.« 2 7 Musils offene Hinweise auf die Mystiker und namentlich auf Meister Eckehart im
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Vgl. hierzu R . v. Heydebrand, Zum Thema Sprache und Mystik in Robert Musils Roman >Der Mann ohne Eigenschaften^ Z f d P h 82, 1963, S. 249f.; W. Bausinger, Studien zu einer historisch-kritischen Ausgabe von Robert Musils Roman >Der Mann ohne Eigenschaften 1964, S. 450-460; R . v . H e y debrand, Die Reflexionen Ulrichs, S - 9 j f . , S. 1 0 6 - 1 1 1 , S. 125, S. 169; M.-L. Roth, Robert Musil, S. 176t., S. 200L, S. 2 0 j f . , S. 237, S. 322f., S. 4 2 1 . Vgl. die in Anm. 24 angegebene Literatur. Die Konzentration des allgemeinen Interesses auf die Mystik mag darüber hinaus folgende Titelübersicht aus den 20er Jahren zeigen, die sich nur auf das Wichtigste beschränkt. Sie weist das J a h r 1926 als Kulminationspunkt aus: Ch. Janentzky, Mystik und Rationalismus, 1922 (die Musilsche Antithese!); J.Bernhart, Die philosophische Mystik des Mittelalters, 1 9 2 3 ; J . Grabmann, Die Kulturwerte der deutschen Mystik des Mittelalters, 1 9 2 3 ; E.Lehmann, Mystik in Heidentum und Christentum, 3 . A u f l . 1 9 2 3 ; E.L.Schellenberg, Die deutsche M y stik, 2.Aufl. 1924; L . N a u m a n n , Deutsche Mystik, 1 9 2 5 ; Van der Leeuw, Mystik, 1 9 2 5 ; H . Bornkamm, Mystik, Spiritualismus und die Anfänge des Pietismus im Luthertum, 1926; G. Müller, Zur Bestimmung des Begriffs altdeutsche MystikMann ohne Eigenschaften sind also nicht als gelehrte Zutat, sondern historisch als aktualitätsfördernde Elemente zu verstehen. Schon der zeitgenössischen Kritik ist die mystische Grundtendenz bewußt gewesen. Josef Quint beginnt seinen 1928 erschienenen, bedeutenden Aufsatz über die >Sprache Meister Eckeharts als Ausdruck seiner mystischen Geisteswelt< 28 mit der Feststellung, daß eine »immer stärker werdende Welle mystischer und pseudomystisdier Regungen im geistigen Leben« zu beobachten sei. Musil selbst notiert in einem um 1920 zu datierenden Tagebuch: »Mystiker zeichnen... Denn Rationalität und Mystik, das sind die Pole der Zeit. - Mystiker l e s e n . . ,« 29 Hermann Broch kritisiert in einem Brief aus der Entstehungszeit der »Schlafwandler< und des >Mannes ohne Eigenschaften die »Wendung zum Mystischen«, die sich in der modernen Philosophie immer häufiger finde, vor allem bei Heidegger, und geht weiter auf das »sterile Zurückgreifen ins Mystische« ein, wie es sich am deutlichsten bei den russischen Philosophen der Vorkriegsepoche zeige. 30 Gleichzeitig mit dem - wie noch zu sehen sein wird, mystisch fundierten - Durchbruch der Expressionisten zum Abstrakten hatte schon Husserl in seinen »Ideen zu einer reinen Phänomenologie< ( 1 9 1 3 ) ein mystisches Programm der reinen Innerlichkeit entworfen: die menologische Reduktion«·
»phäno-
:31
Unseren erfassenden und theoretisch forschenden Blick richten wir auf das
reine Bewußtsein in seinem absoluten Eigensein. Also das ist es, was als das gesuchte »phänomenologische Residuum< übrigbleibt, übrig, obwohl wir die ganze Welt mit allen Dingen, Lebewesen, Menschen, uns selbst Inbegriffen, »ausgeschaltet oder besser eingeklammert haben. Wir haben eigentlich nichts verloren, aber das gesamte absolute Sein gewonnen, das, recht verstanden, alle weltlidien Transzendenzen . . . in sich »konstituierte
Husserl, mit dessen Philosophie sich Musil intensiv beschäftigte, wie unveröffentlichte Exzerpte des Nachlasses beweisen, 32 hat diese auf das 2
2 » In: D V j S 6, 1 9 2 8 , 8 . 1 7 1 . » GWIL237. An Daniel Brody, 27. Juli 1930, in: Hermann Broch, Gesammelte Werke, Briefe, 1957, S. 27L (Nr. 22). 31 E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch, hg. v. W. Biemel, 19JO (Husserliana Bd. III), S. 1 i8f. 32 Husserl-Exzerpte befinden sich schon im Notizheft 24 (1902-1904). Sie sind im Musil-Nachlaß allerdings nur nodi als Fotokopie einer Maschinenabschrift Frises vorhanden. 30
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»reine Bewußtsein« gerichtete »Phänomenologie«, deren reduktionistisdier Ansatz audi im Schicksal Homos greifbar ist, später weiterentwikkelt. In den 1929 entstandenen >Cartesianiscfaen Meditationen< nennt er sie eine »intuitiv-apriorische Wissenschaft«,83 die dem »Eidos ego« gelte. Dieses »Eidos ego« ist überempirisch gedacht, im Sinne der platonischen Idee: als die Fülle aller Ich-Möglidikeiten, von denen das bestehende Ich nur eine vereinzelte und insofern unzureichende Ausgabe ist. Auf der Ebene subjektiven Erkennens entspricht dem Eidos ego ein »intuitives und apodiktisches Allgemeinheitsbewußtsein«.34 Es handelt sich also um eine auf Totalität orientierte, idealistische und zugleich mystische Konzeption, die ganz vom Ich ausgeht und eine extreme Verinnerlichung intendiert, die dann wieder die Auflösung jeden konkreten Ichs zur Folge hat. Mit einem bezeichnenden Augustinus-Zitat schließt Husserl seine Schrift: 3 5 »Noli for as ire: in te redt, in interiore homine habitat Veritas.«
Es kann an dieser Stelle nur darauf hingewiesen werden, wie sehr Husserls vom »Eidos ego« bestimmte Reduktion und Negation der Wirklichkeit zugunsten eines universalen Möglichkeitsdenkens dem >Mann ohne Eigenschaften entspricht. Zur eidetischen Universalität des Ichs gehört audi die von Husserl in diesem Zusammenhang reflektierte Gefahr des Solipsismus, der bloßen Selbsterfahrung in der Fremderfahrung,30 die er »Reduktion der transzendentalen Erfahrung auf die Eigenheitssphäre« nennt.37 Die aus soldier Reduktion entwickelte Lehre einer »analogischen Apperzeption« 38 des alter ego durch das ego hat ihre Gestaltung gefunden in der Begegnung Ulrichs mit seiner Schwester Agathe, die ihm schon beim ersten Zusammentreffen so auffällig »analog« erscheint. Schon der Titel und das Vorwort eines Buches, das Musil selbst besessen und intensiv studiert hat, verrät einige wesentliche Ursachen der zeitgenössischen Offenheit für Mystisches: die von Martin Buber im Jahr 1909, also an der Schwelle des Expressionismus herausgegebene und dann noch in vielen Auflagen verbreitete Textsammlung Ekstatische Konfessionen^39 Buber begründet das Fehlen von Predigten und 33
E.Husserl, Cartesianische Meditationen, hg. v. S. Strasser, 1950, S. IOJ. A . a . O . , S. 105. 85 A . a . O . , S. 1 8 3 . 3 3« A . a . O . , S . i 2 i f f . 37 A . a . O . , S. 124. « A . a . O . , S. 138. 39 M. Buber, Ekstatische Konfessionen, Jena 1909. Z u Musils Exzerpten unter dem Titel >Grenzerlebnisse< vgl. W . Bausinger, S. 4 5 0 - 4 6 0 , ferner R . v . Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs, S. 22of., Anm. 4.
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Traktaten in dieser Sammlung mystischer Texte mit dem Hinweis, es solle nichts Lehrhaftes darin erscheinen, sondern nur das unmittelbar Erlebte: das unter dem Eindruck der mystisdien Ekstase selbst Aufgezeichnete. Die Wendung zur Ekstase entspricht dem expressionistischen Kult extremer Reizzustände, 40 und es bedarf keiner weiteren Erörterung, daß der Drang zur Konfession, zu >Sdirei und BekenntnisBlauen Reiter< die »mystischinnerlidie Konstruktion« des Weltbildes »das große Problem der heutigen Generation«. 43 Kandinsky stellt in seiner Schrift >Uber das Geistige in der KunstZur Psychologie der Engel·, die im Jahre 1918 in den >Neuen Blättern für Kunst und Dichtung< erschien.4* Sie gibt ein vollendetes Programm mystischer Entropie: 46 40
V g l . hierzu Felix Emmels zeitgenössisches Werk >Das ekstatische Theater« (1924); zur Musik L. Sabanejews Besprechung >Prometheus v o n Skrjabin«, in: Der blaue Reiter, hg. v . W . Kandinsky u. F . M a r c . Dokumentarische Neuausgabe von K . L a n k h e i t , S. 107fr. (S. 107: » . . . d i e Kunstidee als ein gewisser mystischer Vorgang, der zum Erreichen eines ekstatischen Erlebnisses dient - der Ekstase, dem Sehen in höheren Plänen der N a t u r . . . Die mystisd)-religiöse Kunst, die dem Ausdruck der sämtlichen geheimen Fähigkeiten des Menschen, dem Erreichen der Ekstase d i e n t . . . « ) .
V g l . Schrei und Bekenntnis. Expressionistisches Theater. H g . u. eingeleitet von K . Otten, 1959. « Vgl. M.-L. Roth, Robert Musil, S. 316ff., S. 494L 4 3 Der blaue Reiter. Herausgeber: Kandinsky, Franz Marc, 1912. Dokumentarische Neuausgabe von K . Lankheit, 1965, S. 23. 44 Das Buch, das sidi auch in Musils Bibliothek befand, erschien im Dezember 1911, datiert 1912. Vgl. jetzt die 9. A u f l a g e , mit einer Einführung von M a x Bill, Bern 1970. W. Haftmann weist wiederholt auf den mystischen C h a rakter von Kandinskys Abstraktionen hin (W. Haftmann, Malerei im 20. Jahrhundert, 4. A u f l . 196$, S. 176, 179, 181). 4 5 Jetzt wieder abgedruckt bei Paul Pörtner, Literaturrevolution 1910-192J, Bd. I, i960, S. 94-104. 4 β P. Pörtner, Literaturrevolution I, S. 94. 41
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Der Mensch ist ein aus aller Angel der innersten Absolutität gerenkter >EngelBesserung< der Welt etwas ausrichten. - Dem Menschen fehlt zum Engel nichts als das innerste Nichts des Außens - das Nichts, erlebt als das Nidits aller Untersdiiedenheit, das persönliche Zusammen aller Welt.
Friedländer spricht daher von der »mystischen
Konfusion« (Einschmel-
zung) und von »persönlicher Anihilation«. 47 Diese letztere Wendung bezeichnet treffend Homos Endstation. Sein Tod kann nicht besser auf die Formel gebracht werden, als in den Worten: 4 8 »Er (der EngelMensch) kennt seinen Lebenslauf als polar, deswegen macht er seinen >Tod< zum absoluten Leben, zum Neutrum der P o l e . . . Media morte sumus in vita ist die Devise aller Engel«. Nur ist die »Strömung«, die Homo zu seinem Ende und zu seiner Vollendung fortzieht, nicht bewußtes Wollen, sondern - wie schon das Bild der »Strömung« sagt 4 9 unbewußte Wesensnotwendigkeit, die dann allerdings im Nachhinein erkannt und akzeptiert wird. Mit der expressionistischen Wendung zum Irrationalen verbindet sich die Abwehr aller Rationalisierungen: der Moralen, Dogmen und Systeme. Sie geschieht im Namen der neuen Innerlichkeit und Unmittelbarkeit und ist insofern als Vertrauen auf die Vollkommenheit des Gefühls zu bezeichnen. So soll nach dem Untergang der Väterwelt, der durch die Zerstörung einer überfälligen Wertewelt in Nietzsches >Götzendämmerung< signalisiert wurde und nun als >Menschheitsdämmerung< erscheint, der neue, jugendliche Mensch erstehn. Wie jeder Versuch einer Rückkehr zur reinen, nicht entfremdeten Natur und zur ersten Schöpfungsstunde ist dieser Entwurf utopisch. Dem vom Prinzip Hoffnung lebenden Zukunftsglauben der Expressionisten stellt sich der dezidierte, schärfer kalkulierte Utopismus im >Mann ohne Eigenschaften an die 47 48 48
P.Pörtner, Literaturrevolution I, S. 98. P.Pörtner, Literaturrevolution I, S. 95. Vgl. >GrigiaFührungSchlafwandlernMann ohne Eigenschaften«.55 Bei Brodi und Musil handelt es
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An Stelle einer Fülle von Einzelnadiweisen sei nur an folgende Kapitel aus dem MoE erinnert: >Das Ideal der drei Abhandlungen oder die Utopie des exakten Lebens< (i.Budi, Kap. 61), >Audi die Erde, namentlich aber Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus< (i.Buch, Kap.62), >Behauptung, daß auch das gewöhnliche Leben von utopischer Natur ist< (i.Budi, Kap. 84), >Die Utopie der induktiven Gesinnung oder des gegebenen sozialen Zustands (Studien)< (2.Buch, Kap. 128). Vgl. G.Müller, Die drei Utopien Ulrichs im >Mann ohne Eigenschaften«. Diss. Wien 1958. Zum Utopischen in Musils Denken vgl. besonders audi Α. Schöne, Zum Gebrauch des Konjunktivs, passim. Die zentrale Vorstellung vom Führer bei George bedarf keines Nachweises; für die auf die germanistische Wissenschaft und einen weiten Kreis von Gebildeten ausstrahlende Wirkung der George-Schule sei nur an M.Kommerells Werk mit dem symptomatischen Titel >Der Dichter als Führer« (1928) erinnert. R.Borchardt, Führung. Rede, öffentlich gehalten in Bremen am 2. Januar 1931. Vgl. dazu die zeitgenössische Kampfschrift gegen Borchardt als einen Verfechter der Diktatur: Fritz Brügel, >Führung und Verführung. Antwort an Rudolf Borchardt«, 1931. Vgl. Armin Möhler, Die konservative Revolution in Deutschland 1 9 1 8 - 1 9 3 2 , 2. Aufl. 1972, S. 320. Hugo von Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation (1927), in: H.v.Hofmannsthal, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Prosa IV, 1955, S.401. P.M.Lützeler, Hermann Broch, Ethik und Politik, 1973, hat S. i 3 3 f f . überzeugend herausgearbeitet, daß die Anrufungen des Führers am Schluß der >Schlafwandler< nicht als faschistische Velleität interpretiert werden können, wie dies in einigen neueren Forschungen geschehen ist, sondern im Gegenteil kritisch gemeint sind. Vgl. die Kapitel: >Ein geniales Reitpferd reift die Erkenntnis, ein Mann 59
sich allerdings nicht um blinden Geniekult, 58 sondern um eine trotz aller Faszination von Skepsis und entscheidenden Relativierungen bestimmte Problemstellung. Man wird also in der Festlegung auf die lebensentscheidende Konstante einer radikalen Innerlichkeit eine wichtige Gemeinsamkeit Musils vor allem mit dem Expressionismus, aber audi mit anderen literarischen Strömungen seiner Zeit sehen können. Das Interesse für die Mystik ist schon eine spezielle Ausprägung dieser Gemeinsamkeit. Daß der Nonkonformist Musil sich immer wieder kritisdi auch vom Expressionismus distanzierte, 57 bedeutet nicht mehr als seine Distanzierung von gewissen Formen der Romantik. Was ihn am landläufigen Expressionismus störte, war das Laute, Großsprecherische (die Gestalt des Dichters »Feuermaul« im >Mann ohne Eigenschaften steht dafür), der Hang zu voreiligen Synthesen und der Mangel an wirklicher Vertiefung, kurz: eine sich vielfach recht äußerlich gebärdende und intellektuell nicht verantwortete Innerlichkeit. Mit seinen Versuchen theoretischer Fundierung, die den skeptischen Ernst mit dem vorgegebenen gefühlshaften Erlebnis verbindet, steht Musil allein, als ein außerordentlicher Vertreter der »deutschen Innerlichkeit«. Im Rückgriff auf eine gefühlshafte Urgegebenheit, der wie einer gottgleichen Instanz unendliche Annäherungsversuche gelten, ist Musil in einem besonderen Sinne konservativ. Denn durch die Annahme einer derart ins Absolute gerückten menschlichen Urgegebenheit - die Mystiker sprechen vom »Grund« - wird der Wesenskern des Menschen als ewig und ungesdiichtlich definiert, als ein Sein ohne Zeit. Die sogenannte »konservative Revolution« macht die Zeitgenossenschaft Musils, seine historische Bestimmtheit wie seine individuelle Größe vollends deutlich. Audi bei den Autoren der »konservativen Revolution« war die Berufung auf die Mystik und besonders auf Meister Eckehart üblich. Sie
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ohne Eigenschaften zu sein< (i.Buch, Kap. 1 3 ) ; >Wandel unter Menschen< (z.Budi, Kap. 47, bes. S. 1098fr.); >Eine auf das Bedeutende gerichtete Gesinnung und beginnendes Gespräch darüber< (2. Buch, Kap. 48); >General von Stumm über die Genialität (2.Budi, Kap. 4 9 ) ; >Genialität als Frage< 2. Buch, Kap. jo). R . v. Heydebrand, Die Reflexionen Ulridis, behandelt S. 7 2 - 7 8 Musils kritische »Hoffnung auf das Genie« vor allem im Hinblick auf Nietzsches zwiespältige Aussagen über das Genie. Vgl. G W II, 207 und 2 2 1 ; M . - L . Roth, Robert Musil, 1 7 8 - 1 8 0 .
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gehörte zum gängigen Rüstzeug, und oft genug wurde Eckeharts Name zum Etikett einer völkischen Immanenzreligion, in deren Zentrum ein mystisch kompetentes Ich steht, das aber zugleich überindividuell definiert ist: als »Rassenseele«. Dies ist der Kern des umfangreichen Kapitels über Eckehart in Alfred Rosenbergs >Mythus des 20. JahrhundertsEntsinkung ins Weiselose. Seelengesdiichte eines modernen Mystikers< ( 1 9 3 2 ) und eine Nationalsozialistische Kulturphilosophie< ( 1 9 3 3 ) ein Budi mit dem Titel folgen: »Was der Deutschreligiöse von Meister Eckart wissen muß< ( 1 9 3 5 ) . Ein anderer völkischer Autor, Hermann Mandel, orientierte sein umfangreiches »deutschgläubiges« Schrifttum weitgehend an Meister Eckehart, z . B . sein Werk »Deutscher Gottglaube von der Deutschen Mystik bis zur Gegenwart. Drittes, selbständiges Heft einer Deutschtheologie als rassenpsychologisdier, geschichtlich-systematischer Grundlegung völkischer Religionslehre< (1936). Endlich sei erinnert an E . G . Kolbenheyers Eckehart-Roman »Das gottgelobte Herz. Roman aus der Zeit der deutschen MystikGrigiaBeschreibung eines KampfesBesdireibung eines KampfesBelustigungen< einer forcierten Manipulation der Wirklichkeit, ββ die damit auch schon negiert wird und rückwirkend den Ichzerfall beschleunigt. Denn das Ich kann seine Festigkeit nur im Rahmen einer festen, in ihrem Eigenwert anerkannten Wirklichkeit erhalten - wie umgekehrt die Wirklichkeit nur stabil bleibt, wenn das Ich seiner selbst auf »selbstverständliche« Weise sicher ist. Diese Interdependenz stellt für Kafka die zentrale Aporie dar, den »Beweis dessen, daß es unmöglich ist zu leben«.®7 Zwar könnte ein vollendetes Gleichgewicht in dieser Interdependenz das Dasein sichern, aber solche Möglichkeit ist bloß theoretisch. Praktisch ist immer das Ubergewicht entweder der einen oder der anderen Seite vorhanden. Dies zeigt sowohl das Verhältnis des »Ich« zu dem »Bekannten« in der Rahmenerzählung, als auch die Gegenüberstellung des »Dicken« und des »Beters«, wo der 62
Vgl. »Beschreibung eines Kampfes*, S. 1 4 : » . . . Idi hob die Beine übermüthig und ließ die Gelenke lustig knacken, idi rief über die Gasse einen N a men hin, als sei mir ein Freund um die Ecke entwischt, ich warf den Hut im Sprunge hoch und fieng ihn prahlerisch auf . . . « ; S. 3 6 : » . . . Idi schwankte und mußte das Standbild Karl des Vierten fest ansehn um meines Standpunktes sicher zu sein . . . « . ® 3 S. 30: » . . . J a , wenn er in die Laune käme . . . würde er midi auch totschlagen wie ein Straßenmörder . . . da war idi überzeugt, daß er {der Schutzmann) mich nicht retten würde, wenn mich mein Bekannter todtsdilagen wollte.« (Nodi deutlicher Fassung B, S. 3 1 : »Jetzt kam offenbar der Mord«). ® 4 S. 3 2 : »Ich mußte weglaufen . . . idi mußte nicht verzweifeln. - Als wir unter (dem) Bogen am Ende des Quais hervortraten, rannte idi mit erhobenen Armen in die Gasse; doch als ich gerade zu einer kleinen Thüre der Kirche kam, fiel ich . . . idi lag im Dunkel.« Weitere Stellen in Anmerkung 86, S. 68. 97 «5 Vgl. die in Anm. 64 zitierte Stelle. ®« V g l . S. 44ff. S. 44.
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Dicke das Übergewicht des Ichs und der »magere«®8 Beter das Übergewicht der Außenwelt verkörpert. Weder der eine noch der andere ist lebensfähig. Ihre gegenseitige Faszination ergibt sich nur aus der Tatsache, daß jeweils der eine Mangel an dem empfindet, wovon der andere ein Übermaß besitzt. Im Vergleich zu Musils Konzeption der Ich-Auflösung ist besonders die Geschichte des Dicken aufschlußreich. Der Dicke stellt die aufgeblähte und in götzenhafter Haltung sich gefallende Individualität dar: die negative Gestaltwerdung all dessen, was Goethe mit der Wendung Individuum est ineffabile bewunderte. Diese vergötzte Individualität (»Auf dieser Tragbahre saß in orientalischer Haltung ein ungeheuerlich dicker Mann« 69 ) ist vor allem durch verengende Rationalisierungen gekennzeichnet. »Sein Gesicht trug den einfältigen Ausdruck eines Menschen der nachdenkt.. .« 70 Durch Rationalisierungen hat das Dasein seine Offenheit verloren. Alle Impulse aus dem weiteren Lebenszusammenhang werden deshalb nur noch als Störung empfunden: »>Die Landschaft stört mich in meinem Denken< sagte er leise >sie läßt meine Überlegungen schwanken, wie Kettenbrücken bei zorniger Strömung. Sie ist schön und will deshalb betrachtet seinVollendung der Liebe< und vor allem an den Herrn von Ketten in der >PortugiesinGesprädi mit dem Beter< die Auflösung der Wirklichkeit, 81 den daraus resultierenden Zerfall der Sprache 8 2 und vor allem den Verfall der personalen Einheit 8 3 ins Zen80
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S. 62: « . . . Aber diese Rede wäre ihm (dem Berg) so gleichgültig . . . , wie meine frühere, wenn ich nidit mit geöffneten Augen redete. Sonst ist er nicht zufrieden.« »Und müssen wir nicht ihn uns freundlich erhalten, ihn, der eine so launische Vorliebe für den Brei unserer Gehirne hat. Er würde seinen gezackten Schatten auf midi niederschlagen, er würde stumm schrecklich kahle Wände mir vorschieben und meine Träger würden über die kleinen Steindien am Wege stolpern . . .« S. 106: » . . . als idi aus dem Hausthor mit kleinem Schritte trat, wurde ich von dem Himmel mit Mond und Sternen und großer Wölbung und von dem Ringplatz mit Rathhaus, Mariensäule und Kirche überfallen . . . >Was ist es doch, daß ihr thut, als wenn ihr wirklich wäret. Wollt ihr mich glauben machen, daß ich unwirklich bin, komisch auf dem grünen Pflaster stehend. Aber doch ist es schon lange her, daß du wirklich warst, du Himmel und du Ringplatz bist niemals wirklich gewesen . . . « S. 106: »Gott sei Dank, Mond, du bist nicht mehr Mond, aber vielleicht ist es nachlässig von mir daß ich dich Mondbenannter noch immer Mond nenne. Warum bist du nicht mehr so übermüthig, wenn ich dich nenne v e r gessene Papierlaterne in merkwürdiger Farbe«. Und warum ziehst du dich fast zurück, wenn ich dich >Mariensäule< nenne und ich erkenne deine drohende Haltung nidit mehr Mariensäule, wenn ich didi nenne >Mond, der gelbes Licht wirftThurm von Babel< genannt habt, denn ihr wußtet nicht oder wolltet nicht wissen, daß es eine Pappel war, schaukelt wieder namenlos und ihr müßt sie nennen >Noah, wie er betrunken warDie Vollendung der LiebeWie konnte das nur geschehn! In unserer Stadt. - Ein neues Haus. - Das ist heute schon das fünfte. - Bedenken sie dodi.< D a kann mir keiner antworten. - Oft fallen Menschen auf der Gasse und bleiben tot liegen . . . « ; S. 1 1 0 : »Nicht wahr, 68
Dekadenz im eigentlichsten Sinn, faßt ihn Musil als ein Leichtwerden, als Aufhebung der Wirklichkeit: mit dem in der Erzählung >Grigia< wichtigen Begriff des Spiels. 87
diese Straßen von Paris sind plötzlidi verzweigt; sie sind unruhig, nicht wahr? Es ist nicht immer alles in Ordnung, wie könnte das auch sein!; es geschieht einmal ein Unfall...«; S. 126: »Da wurde alles von Schnelligkeit ergriffen und fiel in die Ferne. Das Wasser des Flusses wurde an einem Absturz hinabgezogen, wollte sich zurückhalten, schwankte auch noch an der zerbröckelten Kante, aber dann fiel es in Klumpen und Raudi. - Der Dicke konnte nicht weiterreden, sondern er mußte sich drehn und in dem lauten raschen Wasserfall verschwinden . . . » 87 Vgl. S.25.
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DRITTER TEIL
Abstraktion als Korrelat der Eigenschaftslosigkeit
I. Eigenschaftslosigkeit als anthropologische Begründung der abstrakten Kunst Musils entschiedene Sympathie mit der Moderne gilt dem Abstrakten. Abstraktion ist eine Folge des Wirklichkeitszerfalls. Denn Wirklichkeitszerfall führt durch Auflösung aller individuellen Gestalt in die Abstraktion. Abstraktion ist aber auch die letzte Konsequenz des radikalen Anspruchs auf die Geltung des Inneren, Konsequenz der großen mystischen Loslösung von der äußeren Erscheinungswelt. Mystische Wendung und Abstraktion gehören also wesentlich zusammen. Abstrakte Kunst ist die formale Entsprechung zu dem Programm eines Mannes ohne Eigenschaften. Insofern vollendet Musil mit der breit entfalteten Gedankensubstanz seines Hauptwerkes die sonst nur in wenigen Ansätzen faßbare theoretische Füllung und innere Begründung der abstrakten Kunst. Wieder läßt ein Blick auf Kafka die gemeinsame zeitgenössische Grundposition, aber auch Musils eigene Physiognomie erkennen. Kafka sieht im Zerfallen der Wirklichkeit sowohl eine Abnahme an »Muth und Gesundheit«1 als auch die Auferstehung einer schlimm verwirrenden Welt von Phantasmagorien - einer Welt von Alpträumen. Denn die Vernichtung bestehender Wirklichkeit öffnet den Horizont neuer Möglichkeit, und wo prinzipiell alle Wirklichkeit untergeht, ereignet sich der beunruhigende Uberfall alles nur Möglichen - auch des scheinbar Unmöglichsten. Dies gilt für die extensive Dimension der Wirklichkeit ebenso wie für die intensive. Obwohl es von Bedeutung ist, daß bestimmte Bereiche der Wirklichkeit vor anderen dem Zerfall ausgesetzt sind (vor allem der zivilisatorische Bereich), wiegt die Frage nach der 1
Beschreibung eines Kampfes, S. 106. 7°
Intensität des Wirklichkeitszerfalls schwerer. Denn es gibt eine ganze Skala von Graden. Sie reicht vom kaum wahrnehmbaren Verschwimmen der Konturen über die entschiedene Deformation bis zur vollständigen Abstraktion. K a f k a wählt mit besonderer Vorliebe Deformationen. Gewohntes und Heimisches wird auf überraschende Weise unheimlich. Auch für Musil gebiert der Zerfall der Wirklichkeit tausend neue Möglichkeiten. Aber diese Möglichkeiten sind nidit Angstträume, sondern Freiheitsträume. Deren Rettung erfordert allerdings, daß der Möglichkeitsmodus grundsätzlich aufrechterhalten bleibt. In keinem Augenblick darf aus der durch Wirklichkeitszerfall entstandenen Möglichkeitsfülle eine bestimmte neue Realität entspringen. Damit ist das Stadium eines nur idealen Alles und Nichts erreicht, das keine Konkretion duldet: das Stadium einer radikal abstrakten und »absoluten« Kunst. N u r die vollkommene Abstraktheit garantiert die geforderte unendliche Offenheit. Aus vielen Stellen in Musils Werk geht hervor, daß er sich der Ubereinstimmung seines Gedankenprogramms der Eigenschaftslosigkeit mit dem Phänomen der abstrakten Kunst bewußt war und sich von dieser Ubereinstimmung aus, bei aller sonstigen Betonung seiner Sonderstellung, dezidiert geschichtlich verstand. E r wendet sich deshalb immer wieder den Abstraktionstendenzen im modernen Leben zu. Aus deren Beobachtung gewinnt er die Fundierung eines Lebensgefühls, als dessen angemessener Ausdruck dann abstrakte Kunst und eigensdiaftsloser Mensch erscheinen können. Also nicht nur von innen her, aus dem mystischen Erleben, obwohl dieses sich als stärkster und primärer Antrieb aufdrängt, sondern auch aus der allgemeinen Form des modernen Lebens begründet er sein Gesamtkonzept. Schon erörtert wurde die Herleitung aus der Form des modernen Wirtschaftslebens und aus der besonderen kulturellen Lage Österreichs, die mit ihrer buntgemischten Vielfalt wiederum nur ein »besonders deutlicher Fall der modernen Welt« (MoE 1577) ist, denn diese führt zu einer zunehmenden Vermengung des früher räumlich und zeitlich Getrennten. 8 Eine andere wesentliche Begründung ergibt sich aus der modernen großstädtischen Zivilisation. Wo die Wirklichkeit am kompliziertesten und dynamischsten ist, dort verliert sie am ehesten ihren geschlossenen Umriß. K a f k a geht in der »Beschreibung eines Kampfes< von derselben Vor2 Vgl. S. i8ff.
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aussetzung aus. Der im folgenden zitierte Text zeigt auffallende Parallelen zum Beginn des >Mannes ohne Eigenschaften Nicht wahr, diese Straßen von Paris sind plötzlich verzweigt; sie sind unruhig, nicht wahr? Es ist nicht immer alles in Ordnung, wie könnte das auch sein!; es geschieht einmal ein Unfall, Leute sammeln sich, aus den Nebenstraßen kommend mit dem großstädtischen Schritt, der das Pflaster nur wenig berührt; alle sind zwar in Neugierde, aber auch in Furcht vor Enttäuschung; sie athmen schnell und strecken ihre kleinen Köpfe vor. Wenn sie aber einander berühren, so verbeugen sie sich tief und bitten um Verzeihung: >Es thut mir sehr leid - es gesdiah ohne Absicht - das Gedränge ist groß, verzeihen sie, ich bitte - es war sehr ungeschickt von mir idi gebe das zu. Mein Name ist - mein Name ist Jerome Farodie, Gewürzkrämer bin ich in der rue de Cabotin - gestatten sie, daß ich sie für morgen zum Mittagessen einlade - audi meine Frau würde so große Freude haben.< So reden sie, während doch die Gasse betäubt ist und der Raudi der Sdiornsteine zwischen die Häuser fällt. So ist es dodi. Und wäre es möglich, daß da einmal auf einem belebten Boulevard eines vornehmen Viertels zwei Wagen halten. Diener öffnen ernst die Thüren. Acht edle sibirische Wolfshunde tänzeln hinunter und jagen bellend über die Fahrbahn in Sprüngen. Und da sagt man, daß es verkleidete, junge Pariser Stutzer sind.
Die Stadt, Zentrum aller modernen Wirklichkeit, erscheint in diesem Text zunächst als Labyrinth, wie die Gesamtwirklichkeit im späteren Werk Kafkas: »diese Straßen von Paris sind plötzlich verzweigt«. Dann heißen sie »unruhig«. Mit der Unübersichtlichkeit und Unruhe beginnt die Desorientierung des Menschen, der einer sich »plötzlich« desintegrierenden Wirklichkeit gegenübersteht. In ihr ist, wie es in weiterer Steigerung heißt, offensichtlich »nicht immer alles in Ordnung«. Der »Unfall« endlich wird zum Epizentrum des Bebens, das die Welt aus den Fugen geraten läßt. Er symbolisiert den Durchbruch des Chaos in einer nur scheinbar geordneten Wirklichkeit. Zu dieser Wirklichkeit gehören nicht zuletzt die modernen großstädtischen Menschen. Sie sind durch einen alles mobilisierenden Lebensstil bis zur Haltlosigkeit instabil geworden. Darauf deutet ihr »großstädtischer Schritt, der das Pflaster nur wenig berührt«. Was vermögen solche Menschen in der ordnungsfordernden Konfrontation mit dem »Unfall« zu leisten? Sie stehn ihm hilflos gegenüber, reden nicht einmal von ihm, sondern von dem belanglosen Geschehen am Rande, und mit leeren, zur Phrase erstarrten Redensarten: 3
»Beschreibung eines KampfesMann ohne Eigenschaften audi einen Unfall. Und audi er stellt dar, wie die Leute diesem aus der Ordnung gesprungenen Stüdt Wirklichkeit, das für die im Roman allgemein in Unordnung geratene Welt vor 1914 steht, mit Scheinrationalisierungen begegnen, um es sich wenigstens vom Leibe zu halten. So heißt es von der Dame, deren Begleiter den Unfall aus dem zu langen Bremsweg eines Autos »erklären« zu können glaubt (MoE 11): »es genügte ihr, daß damit dieser gräßliche Vorfall in irgend eine Ordnung zu bringen war und zu einem technischen Problem wurde, das sie nicht mehr unmittelbar anging«. Man orientiert sich an der sozialen »Einrichtung« des eintreffenden Rettungswagens, an den Männern in »Uniform«, die sich um das Opfer des Unfalls bemühen, am sauberen und »regelmäßigen« Aussehen des Rettungswagens - und schließlich an der Unfallstatistik. Alles trägt dazu bei, aus dem Unfall das Gegenteil eines Unfalls zu machen: »ein gesetzliches und ordnungsgemäßes Ereignis«. Soweit geht die Gemeinsamkeit mit Kafka. Der Unterschied aber ist, daß der Unfall bei Musil nicht zum Signal für angsterregendes Chaos wird. Musil stellt keinen Zerfallsprozeß, keine Stufen der Dekadenz dar. Ihm ist die Wirklichkeit α limine eine unerhebliche Scheinwirklichkeit, die in der Gegenwart ihren Scheincharakter nur deutlicher enthüllt. Die ersten beiden Abschnitte des Einleitungskapitels entwerfen dieses für den >Mann ohne Eigenschaften zentrale Verhältnis zur Wirklichkeit mit programmatischer Entschiedenheit. Nur exakte Daten — barometrische Werte und andere meteorologische Messungen - kennzeichnen den »schönen Augusttag des Jahres 1913«, den Beginn der Handlungszeit. Das ironisch desillusionierende, antiromantische Verfahren, das an die Stelle der besonderen augenblicklichen Stimmung Abstraktionen setzt, wiederholt sich bei der Ortsangabe. Statt eines wiedererkennbaren Wiener Lokalkolorits bietet der Dichter ein Bild, das ganz dem Programm des abstrakten Expressionismus entspricht. Ludwig Rubiner hatte im Jahre 1917 in seiner Schrift >Der Mensch in der MitteVereinigungen< darin rühmend hervorgehoben wurden, Formulierungen für dieses Programm gefunden, die auf Musils Text vollkommen zutreffen: »Der gute Dichter dichtet nicht von den Fabriken, den Telefunkenstationen, den Automobilen {offensichtlich eine Absage an Marinettis Futuristisches 74
Manifest), sondern von den Kraftlinien, die aus diesen Dingen im Räume umherlaufen.« 5 Otto Flake erhebt im Vorwort zu seinem 1919 erschienenen Roman >Die Stadt des Hirns< solche Abstraktion vor allem anderen zum Grundsatz der Darstellung:® »Bei einem Roman der um den Roman zu retten darauf ausgeht die Form des Romans zu sprengen ist es erlaubt ein Vorwort voranzustellen. - Bildende Kunst läuft mit vollen Segeln von den behaglich bewohnten Küsten des Realismus Impressionismus durdi die glückliche Ausfahrt des Expressionismus auf die unbefleckte Insel des ABSTRAKTEN die sich vielleicht zu einem neuen Kontinent weiten wird, Lyrik quillt aus geöffneter Tiefe des SIMULTANEN, Benn Ehrenstein Sternheim formten die Novelle des UNBÜRGERLICHEN - der Roman ist nicht über den Expressionismus hinausgelangt. - Der neue Roman wird möglidi sein durdi Vereinigung von Abstraktion Simultanität Unbürgerlichkeit. Es fallen fort konkrete Erzählungen Ordnung des Nacheinander bürgerliche Probleme erobertes Mädchen Scheidungsgeschichte Schilderung des Milieus Landschaftsbesdireibung Sentiment.« Was bei Flake Vorwort ist, das hat Musil im 1. Kapitel seines Romans programmatisch gestaltet. Sdion die Kapitelüberschrift >Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgehe meint die strikte Abstraktion von dem, was Flake »Milieu Landschaftsbesdireibung Sentiment« usw. nennt, eine Absage an die »bürgerliche« Erzählweise. Musil gibt nur Rubiners »Kraftlinien« und beschreibt Wien als »Stadt des Hirns« (MoE 9): Autos schössen aus schmalen, tiefen Straßen in die Seiditigkeit heller Plätze. Fußgängerdunkelheit bildete wolkige Schnüre. W o kräftigere Striche der Geschwindigkeit quer durch ihre lockere Eile fuhren, verdickten sie sidi, rieselten nachher rascher und hatten nach wenigen Schwingungen wieder ihren gleidimäßigen Puls. Hunderte Töne waren zu einem drahtigen G e räusch ineinander verwunden, aus dem einzelne Spitzen vorstanden, längs dessen schneidige Kanten liefen und sidi wieder einebneten, von dem klare Töne absplitterten und verflogen . . .
Wo Stunde und Ort derart ihre Besonderheit verlieren und sidi im 5
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>Der Mensch in der MitteEin heißer Strahl und erkaltete Wände< demonstriert. Der Titel ist eine Metapher, die dem ursprünglichen, unverfestigten Gefühlsleben eine zum Gehäuse erstarrte Wirklichkeit entgegensetzt. Ulrich nimmt seine Umgebung plötzlich nicht mehr in den gewohnten Formen wahr, sondern, in auffallender Analogie zur Stadtbeschreibung des Anfangs, als ein inkonsistentes System von »Olinien, Kreuzlinien, Geraden« (MoE 128), also abstrakt, denn: »ein Firnis war abgefallen, eine Suggestion hatte sidi gelöst, ein Zug von Gewohnheit, Erwartung und Spannung war abgerissen...«. Doch bedeutet der Wirklichkeitszerfall bis zum Abstrakten hin keineswegs eine Läuterung zum Wesentlichen. Das Abstrakte ist nur ein ausgebrannter Rest von Wirklichkeit - »weder Natur noch innere Notwendigkeit« (MoE 128), wie es in exakt zitierender Wendung gegen Kandinskys Hauptargument zur Begründung der abstrakten Kunst heißt: Die - hier nicht mathematisch aufgefaßte - Abstraktion reduziert weder die äußere »Natur« zur gültigen Formel, noch gibt sie die Essenz des »Inneren«. Sie verliert zwar ihre ehemals scheinhafte Aufdringlichkeit. Insofern ist Abstraktion ein Fortschritt im Sinne des Programms der Eigenschaflslosigkeit. Aber das hergestellte Abstrakte - und dies gilt analog für die Eigenschaftslosigkeit bietet sowenig wie der Abstraktionsprozeß eine neue Substanz. Es ist nur die Negation des alten Scheinwerts. Hier liegt das entscheidende Problem. Prinzipiell wäre auf die Abstraktion dieselbe Frage anzuwenden, die der »normalen« Realität gilt: » - ist es denn die wirkliche Wirklichkeit, oder zeigt sich von der noch nicht mehr als ein Hauch, der ungreifbar auf der dargebotenen Wirklichkeit ruht?!« (MoE 129). Aus dieser Frage erhellt mehr als sonst aus dem scheinbar so wissenschaftlichen 77
Habitus des Musil-Textes die irrationale Prämisse einer hinter und über der Wirklichkeit stehenden Idealität: einer »wirklichen Wirklichkeit«. Die platonische Idee als ein ins Unendliche hinausgerückter perspektivischer Endpunkt der Objektsphäre hat ihr Äquivalent in der Subjektsphäre: das Genie, den ebenso ungreifbar weit zurüdkverlegten Fluchtpunkt der Innerlichkeit. Mit gutem Grund nimmt deshalb die Erörterung des Genieproblems einen wichtigen Platz im >Mann ohne Eigenschaften ein. Genialität ist nichts anderes als eine ins Subjektive transponierte Idealität. Ihr negatives Vorstadium ist die Eigenschaftslosigkeit - so wie das Pendant im negativen Vorfeld der objektiven Idealität die Abstraktion ist. Nirgends gelangt Musil über die Negation hinaus. Ulrichs Reflexionen machen die Faszination des nur aus mystischer Erfahrung visierbaren Zieles und zugleich die Aporie deutlich. Darum fällt der Roman immer wieder in die seit Nietzsche gängigen Negationen des Bestehenden zurück (MoE 129): »Es sind die fertigen Einteilungen und Formen des Lebens, was sich dem Mißtrauen so spürbar macht, das Seinesgleichen, dieses von Geschlechtern schon Vorgebildete, die fertige Sprache nicht nur der Zunge, sondern auch der Empfindungen und Gefühle.« Auf dem Höhepunkt solchen Mißtrauens und Unbehagens heißt es von Ulrich (MoE 130): »In diesem Augenblick wünsdite er sich, ein Mann ohne Eigenschaften zu sein.« Zusammenfassend lassen sich Eigenschaftslosigkeit und Abstraktion nur als vorläufige Ziele bestimmen: als notwendige Medien allerdings zu der Vollkommenheit, die jenseits der Worte und des Wollens liegt. Daß beides, Eigenschaftslosigkeit und Abstraktion, nidit nur im Leben einzelner Sonderlinge Ereignis werden kann - Ulrich ist noch ein dezidierter Einzelgänger - , dies zu erweisen, ist ein Hauptziel des Romans. Nur so vermag er seine Relevanz zu behaupten. Wie Kakanien ein exemplarischer Fall der modernen Welt, so sollte Ulrich der Prototyp des modernen Menschen sein. Musil gibt die Relevanzbestimmung, indem er ein allgemeines Abstraktwerden aus der modernen Großstadtzivilisation begründet. Indirekt ist diese Begründung in einem sehr weitreichenden Sinne, nämlich als Grundlegung des ganzen Romans, schon in dem erörterten Anfangskapitel des >Mannes ohne Eigenschaften enthalten. Später wird sie expressis verbis aus dem Gegensatz von Land und Stadt gewonnen (MoE 649): »Am Land kommen die Götter noch zu den Menschen, dachte er, man ist jemand und erlebt etwas, aber in der
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Stadt, wo es tausendmal so viel Erlebnisse gibt, ist man nidit mehr imstande, sie in Beziehung zu sich zu bringen: und so beginnt ja wohl das berüchtigte Abstraktwerden des Lebens.* Wie in Kafkas »Beschreibung eines Kampfes< also geht der Wirklichkeits- und Identitätszerfall von der Großstadt als der beherrschenden Form modernen gesellschaftlichen Lebens aus, aber nicht als Zerstörung oder bloße Deformation, sondern als Lockerung ohnehin fragwürdiger Bindungen. Die Zuordnung des Landes zu den »Göttern« als den geschichtlich größten Ausprägungen individuellen Lebens weist auf eine unwiderrufliche Vergangenheit: das moderne Abstraktwerden des Lebens ist ein in der Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens selbst angelegter, historisch notwendiger Prozeß. Während der Erzähler die Bedeutung der Eigenschaftslosigkeit als einer Hauptstation auf dem Wege zum mystischen Ganzheitserlebnis immer von neuem bestimmt, findet die Funktion des Abstrakten nur selten ihre Erörterung. Ganz allgemein bedeutet die Abstraktion, daß sich die individuellen Grenzen der Wirklichkeit auflösen. Daraus ergibt sich eine dreifache Konsequenz. Zunächst verlieren die Einzelheiten im Verhältnis zueinander jedwede Scheidung. Sie bilden eine All-Einheit. Wegen einer ähnlich einheitsstiftenden Funktion, wie sie Musil der Abstraktion zuschreibt, haben die Romantiker die Nacht verherrlicht. Für den Antiromantiker ist es die Nacht, in der alle Katzen grau sind, sinnfälliger Obskurantismus und erschlichene Versöhnung. Musils Wertung aber ist positiv, seinem bei allen antiromantischen Verwahrungen doch romantischen Grundzug gemäß: »die Einzelheiten besitzen nicht mehr ihren Egoismus, durch den sie unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, sondern sie sind geschwisterlich und im wörtlichen Sinn >innig< untereinander verbunden« (MoE 762). Ferner besteht nun keine Trennungslinie mehr zwischen der entindividualisierten Objektsphäre und dem wahrnehmenden und selbst schon eigenschaftslosen Subjekt (MoE762): »...irgendwie geht alles grenzenlos in didi über«. Damit ist der mystische, der »andere« Zustand erreicht, in dem Außen und Innen ineinander Übergehn und die Begriffe Subjekt und Objekt, von denen jeder nur in der Entgegensetzung zum anderen existiert, wesenlos werden.8 8
Vgl. M o E 7 6 5 : » . . . dieses wunderbare Gefühl der Entgrenzung und Gren-
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Vor allem führt die Auflösung der individuellen Grenzen, die zum Wesen des Abstrakten gehört, näher zum Idealbereich des Absoluten. Dieser Gedankengang entwickelt sich nidit scharf begrifflich, aber Ulrich macht ihn durch eine Stufenfolge von Beispielen im Gespräch mit Agathe anschaulich. Die Stufenfolge geht in einer seit der Antike gängigen Unterscheidung der species et gradus abstractionis von geringeren Formen der Abstraktion zu den allerentschiedensten über. Das Gespräch (MoE n j 2 i T . ) wiederholt nicht nur besonders deutlich die audi in anderen Unterhaltungen Ulrichs mit Agathe zu beobachtende Gestaltung des Sokratischen Dialogs, wo der Gesprächspartner des Sokrates dessen ausführliche Darlegungen lediglich durch kurze Fragen und Einwürfe unterbricht und gliedert: es übernimmt auch, in einem wichtigen Teil, Grundzüge der platonischen Ideenlehre. Zunächst erzählt Ulrich eine Geschichte, die beinahe wörtlich übereinstimmend in >Grigia< erscheint und dort eine Schlüsselfunktion bei der Charakterisierung der »spielerischen« Bergfrauen erhält: die Geschichte von dem Betrüger, der bei einer Bauernfrau die Stelle des verschollenen Ehemanns einnimmt. Der Betrüger hat den Verschollenen gekannt und von ihm alle Einzelheiten erfragt, »den Kosenamen des Weibs und der Kuh und die Namen und Gewohnheiten der Nachbarn« (MoE 1154), so daß er sowohl den Ehemann nachahmen als auch dessen Lebensbereich usurpieren kann. Es gelingt ihm, die Frau, deren Erinnerung ohnehin nicht deutlich ist, zu täuschen. Entscheidend für die nur im >Mann ohne Eigenschaften gegebene Deutung dieser Anekdote — in >Grigia< bleibt alles implizit, dem abbreviaturenhaften Stil der Novelle entsprechend - ist der Begriff der Ähnlichkeit.
Durch ungefähre Ähn-
lichkeit im Aussehen und Betragen erreicht der Betrüger sein Ziel. Er »spielt« nur die »Rolle« des Ehemannes.® Die Deutung kommt durch eine Wendung ins Grundsätzliche zustande (MoE 1154): »Man liebt immer bloß die Stellvertreter der Richtigen.« Der Mensch gleicht also einem Farbenblinden: »was er zu sehen vermag, vertritt ihm das, was er nicht sehen kann« - und so »ergeht es uns allen eigentlich mit der
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zenlosigkeit des Ä u ß e r e n wie des Inneren, das der Liebe und der M y s t i k gemeinsam ist.« V g l . M o E 1 1 J 4 : » . . . sie hat ihren M a n n wieder haben wollen, und vielleicht überhaupt nur einen Mann, und so ist der Fremde in seiner Rolle immer fester geworden . . . « 80
Wirklichkeit«. Damit ist wieder die Prämisse einer »wirklichen Wirklichkeit« ins Spiel gebracht, eines unsichtbaren »Richtigen« hinter dem Sichtbaren (Nietzsches »Hinterwelt«), dem dieses höchstens mehr oder weniger »ähnlich« sein kann, kurz: die platonische Idee, im Verhältnis zu der alle Wirklichkeit, auch alle menschliche Realität, prinzipiell nur unzulängliches Abbild ist. Und wenn wir lieben, das bedeutet die Geschichte des »stellvertretenden« Ehemannes, so lieben wir durch die bloß ähnliche und stellvertretende Wirklichkeit hindurch auf das »Richtige«, auf die unendliche Idee hin. Folglich - die für Musil wesentlidie Konsequenz - ist es unwichtig, welche stellvertretende Wirklidikeit als Medium unserer Liebe fungiert. Denn im Verhältnis zur unendlichen Idee, zum unsichtbaren »Richtigen« erscheinen alle Durchgangsstationen ungefähr gleich belanglos. Daß Homo dieser Belanglosigkeit aus der Gesdiichte des Betrügers inne wird, ist der unausgesprochene Grund, warum ihn die Erzählung so »ungemein besdiäftigt«. Sie korrespondiert seiner »Auflösung«, die vor allem eine Lösung von der vordergründig »wirklichen« Liebe zu seiner Frau zugunsten einer idealen, mystischen »Vollendung der Liebe« ist. Auf der nächsten Stufe seiner Argumentation geht Ulrich von der oberflächlichen und vorgetäuschten Ähnlichkeit des Betrügers mit dem verschollenen Ehemann 10 zu einem »Bildsein ohne Ähnlichkeit« (MoE 1 1 y 5) über. »Bildsein« bedeutet »Abbild«, Mimesis im Verhältnis zum »Urbild«, und wenn es »ohne Ähnlichkeit« gedacht wird, so nur als Abstraktion von der sinnenhaft erscheinenden Wirklichkeit. »In diesem Sinn kann eine mathematische Formel das Bild eines Naturvorganges sein . . . im Grunde läßt sich alles, was Entsprechung, Vertretbarkeit zu einem Zweck, Gleichwertigkeit und Vertauschbarkeit oder Gleichheit in Hinsicht auf etwas, oder Ununtersdieidbarkeit, oder Angemessenheit aneinander nach irgendeinem Maß heißt, audi als ein Abbildungsverhältnis auffassen. Eine Abbildung ist also ungefähr ein Verhältnis der völligen Entsprechung in Ansehung irgendeines solchen Verhältnisses . . . « (MoE 1 1 5 j). Diese abschließend ironisch im Schulphilosophendeutsch formulierte Theorie einer vollkommen abstrakten Mimesis oder besser: Entsprechung wird durch einen Einwurf Agathes in den zeitgenössischen Kontext der abstrakten Kunst gesetzt: »Durch all das könn10 M o E 1 1 5 4 : »Er hatte einen Bart, wie und w o ihn der andere gehabt hätte.« 81
test du einmal einen der neuen Maler in Begeisterung versetzen . . . « (MoE 11 j $). Dem Begriff der Abstraktion, wie ihn Musil hier entwikkelt, liegt zwar nicht mehr ein Ähnlidikeitsverhältnis der sinnlichen Erscheinung, aber doch noch ein durch irgendeine besondere Beziehung bedingtes Entsprechungs- oder Angemessenheitsverhältnis zugrunde. Naturphänomen und Abstraktion kommen immer noch in einem spezifischen tertium comparationis überein, 11 das ein Wesensverhältnis ausdrückt. Wie schon Musils Hinweis auf die mathematische Formel als Bild eines Naturvorgangs sagt, handelt es sich um Abstraktion im strengen aristotelischen Sinn: in der >Physik< verwendet Aristoteles erstmals den Terminus >Aphairesis< (>abstractioMannes ohne Eigenschaften bringt an Stelle der in der literarischen Tradition üblichen Beschreibung von Zeit und Ort der Handlung nur die schon erörterte Mitteilung meteorologischer Meßdaten und oszillographisch erfaßter Vorgänge des Stadtverkehrs. Und statt zu einer Vorstellung der handelnden Personen kommt es nur zur flüchtigen Erwähnung gleichgültiger Passanten, deren Anonymität durch ein bloß hypothetisches Manöver der Namengebung nur um so deutlicher ins Bewußtsein tritt. Diese abstrahierende Aufhebung, weldie die Unwesentlichkeit alles Faktischen und Individuellen behauptet,13 erscheint auch am Anfang einer Reihe von Erzählungen. >TonkaDrei FrauenTonka< birgt, dient der Aufhebung und Entwirklichung. Es eröffnet die Dimension des Abstrakten. Denn romantische Ubersteigerung bedeutet sowohl fiebrige Forcierung des normalen Wirklichkeitsbezugs, weshalb die einzelnen und bestimmten Realitäten eine unerhörte Intensität und Leuchtkraft gewinnen (Endliches im Widerschein des Unendlichen), als auch ein Zerfallen des Wirklichkeitsbezugs (Endliches im auflösenden Sog des Unendlichen), wodurch alles Reale schon wieder irreal, zum »Märchen« wird, wie umgekehrt auch das Irreale und Märchenhafte Wirklichkeit zu werden scheint. Führt der Anfang von >Tonka< nicht Abstrakta statt der gewohnten Realitäten, sondern die Begründung solcher Abstrakta vor: Entwirklichungsprozesse, die sich im Bewußtsein vollzogen haben und in der Erinnerung an Realitäten manifest werden, so setzt der Beginn der Erzählung >Grigia< nur abstrakte Signale. Schon daß der Held Homo heißt, ist ein solches abstraktes Signal. An die Stelle des einem einzigen unverwechselbar zugehörenden Namens tritt die zum Scheinnamen verflüchtigte Gattungsbezeichnung - ein im Expressionismus vielfach übliches Verfahren. In der >Amsel< geht Musil noch weiter. Die Helden dieser Erzählung heißen Α eins und Α zwei, in einer Abstraktion, die sich schon auf dem Niveau mathematischer Operationen bewegt. Der entpersönlichende, alles Individuelle und Konkrete auflösende Namensersatz erscheint als abstraktes Signal für den zur Eigenschaftslosigkeit prädisponierten Innenbereich. Zur Kennzeichnung der äußeren Wirklichkeit verwendet der Erzähler das verflüchtigende Neutrum »das« schon in dem Satz, der auf die kurze allgemeine Einleitung folgt und also den Eindruck des Ano" Vgl. S. 29S.
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nymen und Abstrakten verstärken soll: »Homo besaß einen kranken kleinen Sohn; das zog durdi ein Jahr, ohne besser zu werden und ohne gefährlich zu s e i n . . . « Noch auffallender ist die Absicht des Abstrahierens in der Darstellung der Expeditionsbasis: » . . . T a g s ü b e r sah man auf Weinberg und Wald. Das hatte den Winter rot, gelb und grün überstanden...« (224). Daß ein vages »das« so sinnenhafte Eindrücke wie Weinberg und Wald resümiert, ist weder im normalen Sprachgebrauch möglidi noch grammatikalisch richtig. Gerade dies beweist die Entschiedenheit der Abstraktion: ein rücksichtsloses Beiseiteschieben des bloß »Wirklichen« - eine Gebärde der Abwertung. Sie ist nicht zufällig eingefügt in einen Kontext, der ein umfassendes Beispiel abstrakter Gestaltungstendenzen gibt (224): In den Straßen war eine Luft, aus Sdinee und Süden gemischt. Es war Mitte Mai. Abends waren sie von großen Bogenlampen erhellt, die an quergespannten Seilen so hoch hingen, daß die Straßen darunter
wie
Schluchten von dunklem Blau lagen, auf deren finstrem Grund man dahingehen mußte, während sich oben im Weltraum weiß zischende Sonnen drehten. Tagsüber sah man auf Weinberg und Wäld. Das hatte den Winter rot, gelb und grün überstanden; weil die Bäume das Laub nicht abwarfen, war Welk und N e u durcheinandergefloditen wie in Friedhofskränzen, und kleine rote, blaue und rosa Villen staken, sehr sichtbar noch, wie versdiieden gestellte Würfel darin, ein ihnen unbekanntes, eigentümliches Formgesetz empfindungslos vor aller Welt darstellend. Oben aber war der W a l d dunkel und der Berg hieß Selvot.
Im ganzen erinnert dieser Text an die verfremdende Intensität der Landschaftsvisionen Kandinskys, deren Formen nicht mehr Mimesis äußerer Wirklichkeit sind, sondern mit radikaler Konsequenz den Gesetzen einer inneren Logik folgen. Solche innere Logik fordert hier Chiffren des Paradoxen, des sich aus Gegensätzen herstellenden Übergangs: den äußeren Raum als Präfiguration eines inneren Prozesses. Insofern ist der erscheinende Raum nicht von einer konkreten Vielgestaltigkeit, sondern die mehrfache Illustration einer einzigen abstrakten Formel. Und der Erzähler versucht gar nicht, den Schein von beobachteter tatsächlicher Realität zu erzeugen, sondern er vereitelt ihn. Das zeigt die Vorstellung von dem dunklen Blau der Straßenschluchten, über dem sich die Bogenlampen wie weiß zischende Sonnen drehen. Denn »Straßenschluchten« erinnern eher an N e w Y o r k als an ein abgelegenes Gebirgsstädtchen. Daß die Lampen sich wie weiß zischende
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»Sonnen« van Goghs 15 im »Weltraum« drehen, erscheint bereits vollkommen unwirklich: begrenzte Wirklichkeit wird aufgesprengt zu nicht mehr faßbarer kosmischer Weite. Dieser entgrenzenden Auflösung des Wirklichen entspricht die Dynamisierung des Statischen in der Vorstellung der sich »drehenden« Sonnen. Wenn es im Text weiterhin nicht heißt, daß welkes und neues Laub, sondern bloß, daß »Welk« und »Neu« wie in Friedhofskränzen durcheinandergeflochten war, so deshalb, weil es nicht auf die sinnfällige Erscheinung ankommt, sondern auf den Gegensatz, der durch die erscheinungverdrängende Abstraktion entschiedener zur Geltung gelangt. Schließlich dienen die Farbworte, die in dem zitierten Textstück wie in der ganzen Erzählung nach expressionistischer Manier auffallend häufig vorkommen, nicht der genaueren optischen Bestimmung der Außenwelt. Sie gewinnen ein Eigenleben als abstrakte Chiffren. Musil geht aber noch weiter als etwa Trakl und andere Expressionisten, die auch die autonome Farbe kennen: er fixiert nicht auf eine bestimmte Farbe jeweils eine Bedeutung, sondern verfährt summarisch. Alle Farben zusammen, d.h. aber nicht mehr bloß die Farben, sondern die Farbigkeit schlechthin erhält eine einzige Bedeutung. Dieses radikale Verfahren, das den Farben sogar noch ihre Individualität nimmt, führt in einen Grenzbereich, in dem Abstraktion zur Selbstverneinung der Kunst wird, wie schon der Gedanke an eine Anwendung des gleichen Prinzips in der Malerei zeigt. Daß allen Farben zusammen tatsächlich nur eine einzige Bedeutung zukommt, lehrt ein Überblick über die Erzählung. Das Leitmotiv bunter Farben symbolisiert durchgehend die Oberfläche der »wirklichen« Welt: der Welt des Tages, des Auges und des Bewußtseins. Sie ist einer Unterwelt des Märchenhaften entgegengesetzt, der sich das Nächtliche, Unbewußte. und Tiefinnerliche zuordnet. Erst aus diesem weiteren Zusammenhang erschließt sich der engere Kontext. »Oben aber war der Wald dunkel und der Berg hieß Selvot«: das »aber« setzt dem Bunten das Dunkle im eben erläuterten Sinn entgegen. Daß mit diesem Dunklen der an die Gralsburg Munsalvaesche (Munsalvatsche) erinnernde Berg »Selvot« verbunden ist, bringt die Vorstellung einer erlösenden Vollendung ins Spiel: also ist der dem Dunklen entgegengesetzte Bereich 15
Zu Musils intensivem Studium van Goghs und zu seinem Plan, einen Artikel über den Maler zu schreiben vgl. M.-L. Roth, Robert Musil, S. 322f. 89
bunter Farben der noch unerlöste. Und wenn die roten, blauen und rosa Villen »sehr sichtbar noch« erscheinen, so ist ihr Verschwinden hinter den Bäumen während des Sommers ein chiffrenhaftes Gleidinis der Auflösung des Wirklichen und Eigenschaftlichen im Zuge der naturhaft notwendigen Entwicklung, in die Homo hineingeraten ist. Deren Phasen dedien sich nach einer bis auf den >Werther< zurückreichenden Erzähltradition ebenfalls mit einzelnen Jahreszeiten: auf die frühlingshafte »Schneeschmelze« der beginnenden Auflösung folgt der vollendende »Sommer«. Was für die Farben gilt, trifft auch für die Formen als das zweite konstitutive Element der augenscheinlichen Wirklichkeit zu. Deshalb erhalten die »Villen« - die Wahl einer gehäusehaften Wirklichkeit ist bezeichnend - noch in besonders betonter Weise formale Eigenschaften zugeschrieben. Und ebenso wie die Funktion der Farben ist diejenige der Formen abstrakt, d.h. sie figurieren als Träger von Bedeutungen, die in keiner Relation mehr zu ihrem gegenstands- und wirklichkeitsbezogenen Ausdruckswert stehen. Ja, ein soldier Ausdruckswert wird selbst schon grundsätzlich negiert, wenn es in kubistischer Reduktion heißt, daß die Villen »wie verschieden gestellte Würfel . . . ein ihnen unbekanntes, eigentümliches Formgesetz empfindungslos vor aller Welt darstellend« in der Landschaft »staken«. Das künstlidie »Stekken« weist auf das Gewaltsame der individuell behaupteten Positionen im großen Lebenszusammenhang, die Wendung »vor aller Welt darstellend« auf das Schauspielerhafte jedweden formalästhetischen Anspruchs als des Gipfels individueller Ausbildung von Eigenschaften. Daß das Formgesetz aber den Darstellern selbst »unbekannt« ist und »empfindungslos« von ihnen zur Schau getragen wird, zeugt von der leeren Äußerlichkeit solchen Histrionentums: vom Mangel an geistiger Begründung (»ihnen unbekannt«) und zugleich von mangelnder Fundierung in der Gefühlssphäre (»empfindungslos«). Das »Formgesetz« gleicht einer eitlen Behauptung und einer bloßen Fassade. Die Form als die Umrißlinie der Wirklichkeit erfährt demnach wie diese selbst eine grundsätzliche Abwertung. Damit ist aber auch die mimetische Kunst in Frage gestellt und das eigene, zur Abstraktion tendierende Verfahren interpretiert und gerechtfertigt. Daß dem analysierten Textstüdi große prinzipielle Bedeutung im Zusammenhang der Erzählung zukommt, zeigt eine spätere Wiederauf90
nähme. Der Abschnitt, der im Bilde von Tiergemeinschaften Archetypen menschlicher Gesellschaft vorführt, beschreibt audi das Verhalten einer Pferdekoppel ( 2 3 1 ) : . . . sie standen dann in Gruppen auf der Wiese oder legten sidi nieder, aber sie gruppierten sidi immer irgendwie scheinbar regellos in die Tiefe, so daß es nach einem geheim verabredeten ästhetischen Gesetz genau so aus-
sah wie die Erinnerung an die kleinen grünen, blauen und rosa Häuser unter dem Selvot. Wenn sie aber oben waren und die Nacht über in irgendeinem Bergkessel angebunden standen, zu je dreien oder vieren an einem umgelegten Baum, und man war um drei Uhr im Mondlicht aufgebrochen und kam jetzt um halb fünf des Morgens vorbei, dann sdiauten sidi alle nach dem um, der vorbeiging, und man fühlte in dem wesenlosen Frühmorgenlicht sich als einen Gedanken in einem sehr langsamen Denken.
Deutlich unterscheidet sich dieser gesellschaftliche Archetyp von dem im Bild der Hündemeute und der Rinderherde entworfenen. 1 6 Es handelt sich nicht um eine in sich selbst zerfallene Beutegesellschaft oder um eine vom religiösen Wahn zusammengehaltene Gemeinschaft, sondern um die - dem edlen Tier entsprechende - aristokratische Kaste, die zur formvollen ästhetischen Repräsentation neigt. Darum auch kann es heißen, daß die Gruppierung der Pferde »nach einem geheim verabredeten ästhetischen Gesetz genau so aussah wie die Erinnerung 1 7 an die kleinen grünen, blauen und rosa Häuser unter dem Selvot«. Die Verabredung in dem »geheim verabredeten
ästhetischen Gesetz« ist indessen bloße
Konvention. Sie birgt keine lebendige Substanz. Das deutet schon die Erscheinung im »wesenlosen Frühmorgenlicht« an. Eine nähere Bestimmung ergibt sich auch aus der Feststellung, daß die Pferde zu je dreien oder vieren »an einem umgelegten Baum« angebunden standen: damit ist auf die konventionelle Bindung an das längst Dahingefallene, nicht mehr Lebendige angespielt. Vor allem aber zeigt sich dieSubstanzlosigkeit dieser gesellschaftlichen Gruppe an der Art, wie sie sich zur Außenwelt verhält. Sie ist extrovertiert ( » . . . d a n n sdiauten sich alle nach dem um, der vorbeiging«) im Gegensatz zur introvertierten, weil nur auf Ewiges ausgerichteten »Gemeinde« (von der Rinderherde heißt es in deutlicher Antithese: »sie blickten den Vorübergehenden nicht an, noch ihm nach, sondern hielten das Antlitz unbewegt dem erwarteten 18 17
Vgl. S. 3$f. »Erinnerung« meint die schon zur Sinndeutung fortgeschrittene Wahrnehmung.
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Licht entgegen . . . « ) , und in dieser Extrovertiertheit doch bis zur Stupidität unfähig, den bloßen äußeren Anblick des Andersartigen in Wahrnehmung zu verwandeln. Darauf weist die ironisch abschließende Bemerkung: » . . . man fühlte . . . sich als einen Gedanken in einem sehr langsamen Denken«. Das Problem der Form wird hier an einer zur Konvention erstarrten Gesellschaft vorgeführt. Die Kritik an dieser Gesellschaft ist eine Sonderart der grundsätzlichen Kritik an allen festgelegten Formen. Als bloße Negation allerdings, wie sie der Abschnitt über die verschiedenen Formen zeitgenössischer Gesellschaft vorführt, mündet diese Kritik in - nicht ausgesprochene - .anarchistische Konsequenzen. Anarchie wäre die exakte gesellschaftliche Entsprechung der im geistig-ästhetischen Bereich als Form- und Wirklichkeitsauflösung proklamierten Abstraktion. Das mystische Deduktionszentrum einer idealen Vereinigung, einer >VoIlendung der Liebe< setzt diese Anarchie als Stufe zum »Tausendjährigen Reich« voraus - so heißt im >Mann ohne Eigenschaften die herrschafts-, grenzen- und deshalb auch zeitlose Harmonie in Anlehnung an alte Vorstellungen. 18 Ist diese Deutung der Abstraktion als Strukturanalogie zur Anarchie richtig, dann wird nicht nur der historische Zusammenhang, die Gleichzeitigkeit von politischem Anarchismus und künstlerischer Abstraktion in den Jahren vor 1 9 1 4 einsichtig, sondern auch der Kampf der modernen Diktaturen als extrem dogmatischer Ordnungsgebilde gegen die anarchistisch-abstrakte, gegen die unkontrollierbar »moderne« Kunst.
18
Vgl. MoE 1144. 92
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