Jugend ohne Sinn?: Eine Spurensuche zu Sinnfragen der jungen Generation 1945–1949 [1 ed.] 9783737015080, 9783847115083


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German Pages [431] Year 2022

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Jugend ohne Sinn?: Eine Spurensuche zu Sinnfragen der jungen Generation 1945–1949 [1 ed.]
 9783737015080, 9783847115083

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Jugendbewegung und Jugendkulturen Jahrbuch

herausgegeben von Meike Sophia Baader, Karl Braun, Wolfgang Braungart, Eckart Conze, Carola Dietze, Gudrun Fiedler, Alfons Kenkmann, Michael Philipp, Dirk Schumann, Detlef Siegfried für die »Stiftung Jugendburg Ludwigstein und Archiv der deutschen Jugendbewegung«

Jahrbuch 17 | 2022

Wolfgang Braungart / Gabriele Guerra / Justus H. Ulbricht (Hg.)

Jugend ohne Sinn? Eine Spurensuche zu Sinnfragen der jungen Generation 1945–1949

Mit 22 Abbildungen

V&R unipress

Finanziert durch das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Redaktion: Susanne Rappe-Weber Umschlagabbildung: Antje Köhler unter Verwendung einer Grafik von Hans Orlowski: Ein Mensch hört eines Engels Ruf (1947) Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2365-9106 ISBN 978-3-7370-1508-0

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Wolfgang Braungart »Jugend ohne Sinn«? Einführende Bemerkungen zur Archivtagung 2021. Am Leitfaden dreier Gedichte Bertolt Brechts von 1949 . . . . . . . . . .

15

Grundlegendes Hartmann Tyrell Skeptische Generation – Jugend und Jugendsoziologie nach 1945. Soziologische Anmerkungen mit Bezug auf Helmut Schelsky . . . . . . .

27

Justus H. Ulbricht »…und was machen wir nun, wir Mörder aller Mörder«. Sinnsuche und Krisengefühle nach dem letzten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

Fallstudien Gloria Colombo Sinnsuche im Spiegel der Gruppenbücher im Archiv der deutschen Jugendbewegung. Literaturzitate zwischen 1945 und 1949 . . . . . . . . .

55

Viktor Fichtenau Ministerialbeamter Heinrich Hassinger und seine Vorstellung von der »Volksgemeinschaft« als Sinn der Jugenderziehung in der Weimarer Republik und der Zeit nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Nils Rottschäfer Jugend und Sinnstiftung in Paul Schempps frühen Nachkriegstexten . . .

87

6

Inhalt

Matthias Buschmeier Moralisch verletzt – ideologisch geheilt. Zur Funktion des späten Heimkehrerromans für die DDR: Dieter Nolls »Die Abenteuer des Werner Holt« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Saskia Fischer »Vom Flugzeug aus sehn: die Haut der Welt…«. Staunen, Schuld und Sinnfragen in der Lyrik Inge Müllers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Viola Kohlberger »Irgendwo muß ein Halt sein in dieser haltlosen Welt.« Halt und Sinn finden in der katholischen Jugend im Bistum Augsburg . . . . . . . . . . 151 Rainer Kolk »Der gottverdammte Jahrgang«. Jugendliche in literarischen Texten nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Gabriele Guerra Welchen Sinn und welche Jugend? Deutschland im Jahre Null mit den Augen Roberto Rossellinis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 David Brehm »Ich nahm nur das auf, was mir gemäß war« – Rilke-Bruchstücke als Nachkriegsliteratur nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Kay Schweigmann-Greve Sinn- und Wertvorstellungen junger Mitglieder des Jugendverbandes »Die Falken-Sozialistische Jugendbewegung Deutschlands« in den Jahren 1945– 1949 in Gruppenchroniken und Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Marja Kersten / Susanne Rappe-Weber / Lucia Thiede Ausstellung: »Den Kommenden einen Weg aus den Ruinen zeigen …«. Kinder- und Jugendzeitschriften der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . 231

Weitere Beiträge Steffen Theilemann Zur Annäherung von Freideutscher Jugend und katholischer Jugendbewegung zwischen 1920 und 1922 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

Inhalt

7

Hannah Behling Bewerbungen um einen Platz in der »neuen Gemeinschaft«. Eine sozialstrukturelle Analyse der Interessent*innen an der völkischen Siedlung »Vogelhof« um 1920 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

Werkstatt Lucia Thiede Werkstattbericht zum Dissertationsprojekt »Ästhetik der Jugendbewegung zwischen 1945 und 1949« . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Marja Kersten Werkstattbericht zum Dissertationsprojekt »Literatur und Literaturrezeption in Zeitschriften der deutschen Jugendbewegung von 1945 bis 1949« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Jens Elberfeld Zwischen strenger Enthaltsamkeit und jugendlicher Erotik. Zum Platz der bürgerlichen Jugendbewegung in der Geschichte adoleszenter Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Susanna Kunze »Lest von jüdischen Helden, Jungens, und grabt unseren Bar Kochba aus!« Erziehung und Identitätsbildung im Jüdischen Wanderbund Blau-Weiß (1912–1926) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

Zukunftswerkstatt Sandra Funck / Michael Kubacki Woran forscht die junge Wissenschaft zur Jugendbewegung? . . . . . . . 311 Sylvia Wehren Historische Kinder- und Jugendtagebücher im Archiv der deutschen Jugendbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Franziska Meier / Simon Nussbruch »Singewettstreite« im Bild – Abbildungen einer kontinuierlichen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Johann Nicolai »Völkische« Jugendbewegungen und Personenkult um den Religionswissenschaftler Jakob Wilhelm Hauer (1920–1945) . . . . . . . . 341

8

Inhalt

Felix Linzner / Felix Ruppert (Alt-)»Kommunarde« und »Unternehmer-Bohemien«: Neue Zugänge zu Hans Koch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Lieven Wölk Zugänge zur Historisierungs- und Selbsthistorisierungsgeschichte ehemals Jugendbewegter – »Historiker« Walter Laqueur und »Zeitzeuge« Gustav Wyneken im Gespräch (1960) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Eric Angermann Peter Dudek und Michael Kühnen – ein Briefwechsel. Neonazistische Egodokumente als damalige und heutige Forschungsgrundlage . . . . . . 361 Laura Haßler Junge Deutsche Stimmen. Die Schülerzeitungen der Jungen Nationaldemokraten (JN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

Rezensionen Li Gerhalter: Tagebücher als Quellen. Forschungsfelder und Sammlungen seit 1800, Göttingen 2021 (Susanne Rappe-Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Birgit Lulay: Eugenik und Sozialismus. Biowissenschaftliche Diskurse in den sozialistischen Bewegungen Deutschlands und Großbritanniens um 1900, Stuttgart 2021 (Karl Braun) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Anna-Sophie Laug: Oskar Schwindrazheim (1865–1962). Ein Künstler, Pädagoge und Kunstschriftsteller zwischen Tradition und Reform, Göttingen 2017 (Gudrun Fiedler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Peter Dudek: Rebellen gegen den Krieg – Sucher nach Gemeinschaft. Der jugendbewegte »Berliner Kreis« im Kontext des ersten Weltkrieges, Bad Heilbrunn 2021 (Sylvia Wehren) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Meike G. Werner (Hg.): Ein Gipfel für Morgen. Kontroversen 1917/18 um die Neuordnung Deutschlands auf Burg Lauenstein, Göttingen 2021 (Karl Braun) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391

Inhalt

9

Adriane Feustel: Alice Salomon (1872–1948). Sozialreformerin und Frauenrechtlerin, Würzburg 2020 (Katharina Lenski) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Helmut Donat und Rostocker Friedensbündnis (Hg.): Hans Paasche – Ein Leben für die Zukunft, Bremen 2022 (Reinhold Lütgemeier-Davin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401

Rückblicke Susanne Rappe-Weber Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für das Jahr 2021 . . . . . . 409 Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2021 sowie Nachträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Wissenschaftliche Archivbenutzung 2021

. . . . . . . . . . . . . . . . . . 421

Anhang Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425

Vorwort

Mit dem folgenden, für die Drucklegung kaum veränderten Text haben wir zur Archivtagung 2021 eingeladen, die sich ganz bewusst auf den Zeitraum 1945– 1949 konzentrierte, nicht nur weil sich die Forschungssituation für die folgenden 1950er Jahre schon ungleich besser darstellt, sondern auch weil die Gründung der beiden »Deutschländer« neue politische Rahmenbedingungen schuf, die neue, veränderte, wohl auch politischere Fragestellungen, etwa zur Schulpolitik oder Bildungsfragen in institutionellen Zusammenhängen, verlangen würden. Allmählich setzt sich in der geschichtswissenschaftlichen Forschung die Einsicht durch, dass die ersten, frühen Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg für die Konstitution der beiden Deutschländer entscheidende Bedeutung hatten und deshalb noch viel eingehender untersucht werden müssten, als es bislang geschehen ist. »Sinnfragen« – ganz bewusst benutzen wir diesen vagen Begriff – wurden von der Jugendkultur-Forschung bislang aber eher nur gestreift; von weltanschaulichen und auch religiösen (Neu-?) Orientierungen war kaum die Rede, ebenso wenig von den Herausforderungen, die sie sich dabei gerade für die junge Generation stellten. Dies ist war die Ausgangshypothese für die Jahrestagung 2021. Man sollte freilich meinen, dass es gerade in diesen frühen Nachkriegsjahren einen großen Bedarf an Sinn und Trost, auch an Religion und »Religioidem«, gegeben habe, also an »religiösen Halbprodukten«, wie Georg Simmel selbst seine begriffliche Neuprägung übersetzt hat. Aber war es tatsächlich so? Zu fragen wäre also, welche Suchbewegungen entstanden und wie genau sie in der jungen Generation und der Jugendbewegung verliefen, wie sie sich regional und lokal spezifizierten oder wie womöglich wieder übergreifende Kommunikationsprozesse initiiert wurden. Gerade die junge Generation hatte sich doch – in der berühmt gewordenen Formel von Georg Lukács – mit einer nie dagewesenen »transzendentalen Obdachlosigkeit« auseinanderzusetzen. Wenn sie das denn wirklich tat! Wie ging sie mit der Schuldfrage um? Griff sie dabei auf das zurück, was sich in Literatur, Philosophie, Theologie längst »bewährt« hatte? Erinnerte sie sich wieder auch an die Institutionen der Religion, und versuchte sie, dort

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Vorwort

einen Platz zu finden? In welcher Weise formierte sich kirchlich-konfessionelle Jugendarbeit; und suchten Jugendliche dort ihr Selbstverständnis und ihre Selbstverortung? Oder schloss die Jugend auch an Artikulationsformen nichtinstitutionalisierter Sinn-Suche an? Erfand sie neue? Konnten die Vergemeinschaftungsprozesse der historischen Jugendbewegung mit ihrer Semantik allein noch für die Bedürfnisse nach weltanschaulicher Zugehörigkeit einen Raum bieten? Oder suchte sie neue Semantiken? Und welche Medien und Praktiken, Performanzen und Rituale boten sich an? Gab es grundlegende Unterschiede in den jugendbewegten Praktiken zwischen den Westzonen und der SBZ? Wären die drei Westzonen selbst in diesen Hinsichten noch einmal zu unterscheiden? Vermuten könnte man, dass gerade Kunst und Literatur, Architektur und Natur dazu dienten, neue sinn-volle, womöglich spirituelle Erfahrungen zu machen: War das so? Und in welcher Weise und in welchem Rahmen? Nahm Jugend den Charakter eines Sondermilieus an, um sich abzugrenzen von denen, die die Katastrophe zu verantworten hatten? Ob »Jugend« überhaupt ein tragfähiger Begriff für den Neuanfang im Trümmerdeutschland dieser frühen Jahre war, wäre aber erst noch zu diskutieren; Seitenblicke nach Italien und Österreich könnten zudem hilfreich sein. Bei der Lektüre des Jahrbuchs wird schnell deutlich, dass es stark »literaturlastig« ausgefallen ist. Das erklärt sich sicher auch daraus, dass zwei der Herausgeber, Gabriele Guerra und Wolfgang Braungart, selbst Literaturwissenschaftler sind und sich deshalb vom Einladungstext vielleicht vor allem Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler angesprochen fühlten. Darüber hinaus aber scheint die Literatur eine besonders geeignete geschichtliche Quelle, wenn es um die Artikulation und Reflexion von Sinnfragen geht. Denn Literatur ist – neben Kunst und Religion – wohl das wichtigste und differenzierteste Medium, das wir Menschen haben, wenn es um unsere SelbstArtikulation und Selbst-Reflexion geht. Durch die Literatur, aber auch durch den Film und die Fotografie entstehen Vorstellungen und, im Wortsinne, Bilder einer Epoche. Jugend und Jugendbewegung nach 1945 – und überhaupt – haben ihre eigene Medien-Geschichte. Eine kleine, durch Marja Kersten, Susanne RappeWeber und Lucia Thiede erarbeitete Ausstellung zu »Jugendzeitschriften nach 1945«, die in den Räumen des Archivs zu sehen war, konnte dies sehr anschaulich ins Bewusstsein rufen. Bei der Tagung zeigten wir außerdem den Film Roberto Rossellinis »Deutschland im Jahre Null (1947)«, in den Gabriele Guerra einführte. Die Diskussionen während der gesamten Tagung machten deutlich, welche grundlegende Bedeutung der Soziologe Helmut Schelsky für die Modellierung und Konzeptualisierung der Epoche hatte. Wir beginnen die Reihe der Aufsätze dieses Jahrbuchs deshalb mit den Überlegungen Hartmann Tyrells. Das vorliegende Jahrbuch dokumentiert also die Beiträge zur Archivtagung auf Burg Ludwigstein vom 22. bis 24. Oktober 2021. Die Tagung wurde geleitet

Vorwort

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von Wolfgang Braungart (Universität Bielefeld), Gabriele Guerra (Università La Sapienza, Rom) und Justus H. Ulbricht (Dresden). Dieser Teil des Jahrbuchs wird ergänzt durch Beiträge von Kay Schweigmann-Greve und David Brehm. Wie gewohnt, gibt es weitere Aufsätze, Werkstattberichte und Rezensionen. Allen Beiträgerinnen und Beiträgern danken wir herzlich. Und besonders danken wir der Leiterin des Archivs der deutschen Jugendbewegung, Frau Dr. Susanne Rappe-Weber, und ihrem Team für die sorgfältige und umsichtige Organisation der Tagung und die ebenso sorgfältige redaktionelle Betreuung dieses Jahrbuchs. Für die Herausgeber: Wolfgang Braungart, Bielefeld, im Frühjahr 2022

Wolfgang Braungart

»Jugend ohne Sinn«? Einführende Bemerkungen zur Archivtagung 2021. Am Leitfaden dreier Gedichte Bertolt Brechts von 19491

»Jugend ohne Sinn«? Jugendbewegungsforschung muss sich auch als Teil historischer Jugendforschung verstehen und in sie einordnen.2 Deshalb sollte es bei der Archivtagung 2021 nicht in erster Linie um Jugendbewegung nach 1945 gehen, sondern allgemeiner um das, was Jugend nach 1945 sein wollte, was Jugend war, was Jugend in neuer (oder alter) Weise sich selbst zuschrieb und was ihr zugeschrieben wurde. Um das, was sie in diesen, in jeder Hinsicht so herausfordernden Jahren ins Werk setzen wollte, wie sie sich selbst dabei verstand und wie sie sich zu diesen unmittelbaren Nachkriegsjahren stellte. In einigen Beiträgen dieses Jahrbuchs wird aber auch auf die historische Jugendbewegung eingegangen (Colombo, Kohlberger, Schweigmann-Greve). Meine folgende, einführende Skizze wirft vor allem Fragen auf und deutet einige Aufgaben an; mehr nicht. »Jugend ohne Sinn«: Damit spiele ich auf Ödön von Horvaths Roman »Jugend ohne Gott« von 1937 an, der ein Jahr später veröffentlicht und von den Nationalsozialisten umgehend als »schädlich und unerwünscht« erklärt wurde. Dennoch war er sehr erfolgreich. Rasch wurde er in verschiedene Sprachen übersetzt. Horvath selbst musste ins französische Exil gehen.3 Aber diese religiöse Perspektive, »Jugend ohne Gott«, wäre von vornherein zu eng; sie kann der historischen Situation nach 1945 nicht gerecht werden. Damit soll freilich nun auch nicht gesagt sein, dass die Frage nach der Religion und dem Religiösen in der historischen Jugendbewegung nicht höchst sinnvoll wäre. Sie bildete deshalb schon den thematischen Schwerpunkt des 20. Jahrbuchs des Archivs der deut1 Nur unwesentlich veränderter und um Nachweise erweiterter Text meiner Einführung in die Fragestellungen der Archivtagung 2021, Burg Ludwigstein. Susanne Rappe-Weber und Justus H. Ulbricht danke ich für hilfreiche kritische Hinweise. 2 Neben anderen hat Ulrich Herrmann darauf hingewiesen. 3 Vgl. meine Interpretationsskizze: Gut gemeint. Horvath, »Jugend ohne Gott«, 1938, in: KlausMichael Bogdal, Clemens Kammler (Hg.): (K)ein Kanon. 30 Schulklassiker neu gelesen, München 2000, S. 26–31.

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Wolfgang Braungart

schen Jugendbewegung (2005), dort allerdings konzentriert auf die Zeit vor 1945.4 Dieses Jahrbuch basiert auf einer Archiv-Tagung, an der Justus Ulbricht schon beteiligt war. Soweit ich sehe, betrat sie mit ihrer Fragestellung weitgehend Neuland in der historischen Jugendforschung. »Sinn«, der Leitbegriff der Archivtagung 2021, hat eine komplexe Semantik. Soziologisch, um nur wenige Referenznamen zu nennen: Niklas Luhmann, Alfred Schütz, Max Weber. Komplex aber auch in philosophischer, theologischer, hermeneutischer, lebensweltlicher, sozialer und lebenspraktischer Hinsicht. Jedenfalls darf der Begriff nicht auf eine religiös-metaphysische Dimension reduziert werden. Wohl aber ist gerade diese Dimension mit der Barbarei des nationalsozialistischen Regimes und den Verwüstungen des Krieges, die 1945 im wahrsten Sinne des Wortes nicht übersehbar sind, für die junge Generation (wer immer das genau sein soll, das wird der vorliegende Band auch genauer zu bestimmen versuchen) besonders herausgefordert. Das sollte der Titel, den wir ursprünglich für die Tagung gewählt hatten (»Transzendental obdachlose Jugend?«), andeuten. Sein Bezug auf Georg Lukács’ Formel von der »transzendentalen Obdachlosigkeit« der Moderne, die Lukács in seiner »Theorie des Romans« (1916) geprägt und die sich seitdem verselbständigt hat, ist offensichtlich; die Doppelbödigkeit, die Lukács mit seiner Verwendung des Attributs »transzendental« jedoch gar nicht im Blick hatte, ist es jedoch auch. Kants Transzendentalphilosophie untersucht bekanntlich die »Bedingungen der Möglichkeit« von Erkennen, Handeln und Urteilen. Für unseren Zeitraum 1945–1949 soll es, etwas kantianisierend gesprochen, um die Bedingungen der Möglichkeit von Leben und Handeln in diesen herausfordernden Jahren gehen und besonders für die gerne so genannte junge Generation. Insofern kann Kants Verständnis von »transzendental« zur Inspiration werden; Lukács aber ebenfalls, weil man sich unbedingt fragen muss, ob für die junge Generation nach 1945 das Bewusstsein oder Gefühl einer »metaphysischen Obdachlosigkeit« zu den Bedingungen der Möglichkeit von Leben, Überleben, Handeln gehörte. »Jugend ohne Sinn« ist eine schillernde Formulierung. Sie schließt auch, das darf man nicht vergessen, die Frage ein: Welchen Sinn hat es nach 1945, Jugend zu sein? Welche Perspektiven werden ihr von der Gesellschaft, die sich neu formieren muss, zugeschrieben? Was wird ihr zugetraut und zugemutet? Ja, hat es unter diesen geschichtlichen Bedingungen überhaupt »Sinn«, Jugend zu sein?

4 Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2002–2003, Schwalbach/ Ts. 2005.

»Jugend ohne Sinn«? Einführende Bemerkungen zur Archivtagung 2021

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Brecht: »An meine Landsleute«. Sinn-Fragen und ästhetischer Sinn 1949 schreibt Bertolt Brecht dieses berühmt gewordene Gedicht, das er Wilhelm Pieck, dem ersten Staatspräsidenten der DDR, am 2. November zu dessen Amtsantritt schickt:5 An meine Landsleute Ihr, die ihr überlebtet in gestorbenen Städten Habt doch nun endlich mit euch selbst Erbarmen! Zieht nun in neue Kriege nicht, ihr Armen Als ob die alten nicht gelanget hätten: Ich bitte euch – habet mit euch selbst Erbarmen! Ihr Männer – greift zur Kelle – nicht zum Messer: Ihr säßet unter Dächern schließlich jetzt Hättet ihr auf das Messer nicht gesetzt Und unter Dächern sitzt es sich doch besser. Ich bitte euch – greift zur Kelle – nicht zum Messer! Ihr Kinder – daß sie euch mit Krieg verschonen Müßt ihr um Einsicht eure Eltern bitten. Sagt laut, ihr wollt nicht in Ruinen wohnen Und nicht das leiden – was sie selber litten: Ihr Kinder – daß sie euch mit Krieg verschonen! Ihr Mütter – da es euch anheimgegeben Den Krieg zu dulden oder nicht zu dulden Ich bitte euch – lasset eure Kinder leben! Daß sie euch die Geburt und nicht den Tod dann schulden: Ihr Mütter – lasset eure Kinder leben!6

Das Gedicht kann hier nicht ausführlich interpretiert werden. Hervorgehoben seien nur einige Aspekte, die sich auf das beziehen lassen, was Gegenstand der Archivtagung war: Beim Titel handelt es sich wohl um eine Anspielung, und vielleicht ist er zudem nicht ganz ohne Ironie. Wilhelm Pieck pflegte seine Ansprachen so zu eröffnen. »Landsleute« heißt es, nicht Bürgerinnen und Bürger oder etwas Ähnliches. Ein altertümelnder Ton ist gesetzt, den die Imperative (»habet«, »lasset«) und die Anklänge an Bibelsprache vielleicht noch verstärken (»Ihr

5 Bertolt Brecht: Gedichte 5. Gedichte und Gedichtfragmente 1940–1956 (= Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, Bd. 15; künftig zit. BFA Bd.), Frankfurt a. M. 1993, hier S. 439 (Kommentar). 6 BFA 15, Gedichte 5, S. 205f.

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Wolfgang Braungart

Männer«).7 Rhetorisches, adressatenorientiertes Sprechen wird angekündigt – für ein Gedicht! Also Ansprache, Botschaft, zumal im Zeithorizont, Offiziöses und auch Großformatiges. Daran mangelte es nach 1945 jedoch nicht gerade. Literarischer Großmeister in dieser Gattung war Thomas Mann, der sich schon in Rundfunkansprachen aus dem Exil 1940–1945 entsprechend zu Wort gemeldet hat. »Deutsche Hörer!« war der Titel dieser Rundfunk-Reihe. Schon 1930 gab es von Thomas Mann einen »Appell an die Vernunft« in einer »Deutschen Ansprache« vor der Reichstagswahl. Wie weit aber trug dieser polit-pädagogische, pathetisch hochgestimmte Ton bei der Jugend? Was weiß man darüber? Wie reagierte sie darauf, dass »die Alten« schon gleich wieder schlauer sein wollten? Brecht nimmt die Appell-Erwartung, die mit diesem Titel verbunden ist, auf und bricht sie sogleich. Angesprochen sind die in den »gestorbenen Städten«. Und es hilft nichts, auch das sollten wir uns wirklich vorstellen, wenn wir die Herausforderungen, die insbesondere das erste Nachkriegsjahrzehnt für die Überlebenden bedeuten musste, begreifen wollen: Wie es in diesen zerstörten Städten tatsächlich aussah; in Berlin, Dresden, Köln, Kassel, Frankfurt am Main, Hamburg, Würzburg, und auch in Bielefeld. Der Historiker Jörn Rüsen, der in der neueren Geschichtswissenschaft besonders energisch und aspektreich die Frage der historischen Sinnbildung aufgeworfen hat, hat ebenfalls immer wieder darauf hingewiesen, dass das zum historisch angemessenen Verstehen auch gehöre, sich vorstellen zu wollen, wie es, mit Rankes berühmter Formel, »eigentlich gewesen ist«, obwohl uns allen natürlich klar ist, dass es unsere (Re-)Konstruktionen sind.8 Aber verlangen das Elend und das Leiden in und an der Geschichte nicht danach, unser Vorstellungsvermögen wirklich anzustrengen? Haben sie nicht ein Recht darauf ? Ist es nicht unsere Pflicht, sie nicht zu bloßen geschichtlichen (Re-)Konstruktionen zu relativieren? Wir müssen uns schon vorstellen wollen, wie diese Welt war, in der sich junge Menschen nun zurechtzufinden hatten, was sie gesehen, gehört und erlebt haben, auch welche sinnlichen, d. h. ›aisthetischen‹ Erfahrungen sie gemacht haben (gr. Aisthesis: Sinneswahrnehmung, Empfindung). Also auf welche Erfahrungen sie sich einzustellen hatten, welche Erwartungen sie vielleicht noch aus ihren individuellen Geschichten mitbrachten und von woher sie kamen. Wir brauchen auch in geschichtswissenschaftlicher Hinsicht »Sinnenbewußtsein«.9 Sinn-Fragen sind deshalb auch Ästhetik-Fragen, nicht nur die »großen fremden Gedanken«, die man nach 1945 vielleicht nicht mehr so leicht bei sich »bergen« kann. 7 Etwa: »Ihr Männer von Galiläa, was stehet ihr und sehet gen Himmel?« Apg 1,11. Ein großes Thema: Brecht und die Bibel. 8 Vgl. etwa Jörn Rüsen: Zerbrechende Zeit. Über den Sinn der Geschichte, Köln u. a. 2001. 9 Um den Problemhorizont anzudeuten, nur zwei Hinweise: Rudolf zur Lippe: Sinnenbewußtsein. Grundlegung einer anthropologischen Ästhetik, Reinbek bei Hamburg 1987; Robert Jütte: Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace, München 2000.

»Jugend ohne Sinn«? Einführende Bemerkungen zur Archivtagung 2021

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Ich spiele hier an auf Rilkes »Duineser Elegien«, 1912–1922. Rilke war ein wichtiger literarischer Sinnstifter für diese Zeit nach 1945! Ohne umfassende ästhetische Kontextualisierungen ist auch die historische Jugendbewegung in der Vielfalt ihrer Artikulationsformen nicht angemessen zu verstehen. Auch das zu verdeutlichen, war eine der herausragenden Leistungen der großen Lebensreform-Ausstellung 2001 auf der Mathildenhöhe in Kassel.10 Sinnerfahrungen und sinnliche, also ästhetische Erfahrungen hängen aufs Engste miteinander zusammen.11 Das war eine der leitenden Thesen für die Tagung. Sinn hat etwas nicht einfach, Sinn erfährt man an etwas. Sinn ist nicht, jedenfalls nicht zuerst, eine Frage der Reflexion, sondern der Erfahrung. Wer zum Beispiel nach dem Krieg an tradierte Werte anknüpft (etwa in der katholischen oder der sozialistischen Jugend), dem muss sein Leben unter den Lebensbedingungen der frühen Nachkriegszeit deshalb noch lange nicht sinnvoll vorkommen. Er hat vielleicht nur bessere Chancen, dass es so ist. In den Debatten um Erinnerungskultur ist das Nach-Erleben und Sich-Vergegenwärtigen der NS-Zeit und der Shoah eine der heikelsten und schwierigsten Herausforderungen. Und doch sind die Auschwitz-Fahrten »sinnvoll«. Die bloß reflektierende Aneignung genügt nicht, die ritualisierte, punktuelle Erschütterung aber auch nicht.12 Der Ästhetik-Begriff, den ich vorschlage und der meines Erachtens unbedingt erforderlich ist, hat also nicht viel mit dem populären Verständnis »ästhetisch/Ästhetik« im Sinne von »schön« oder »nicht-schön« zu tun, sondern mit sinnlicher Erfahrung (so wie das populäre Verständnis von »romantisch« fast gar nichts mit der historischen Romantik zu tun hat). Man kann diese Unterscheidung sogar der Fachwelt gegenüber nicht oft genug betonen.

10 Dokumentiert in: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. Hg. von Kai Buchholz, Rita Latocha, Hilde Peckmann und Klaus Wolbert, zwei Bde., Darmstadt 2001. – Kritisch reflektiert und differenziert die mit dieser Ausstellung und Publikation einhergehende Ausweitung des Konzeptes »Lebensreform« von Bernd WedemeyerKolwe: Aufbruch: Die Lebensreform in Deutschland, Darmstadt 2027; ders.: Forschungsgegenstände und Forschungsgenerationen – Die Forschungsgeschichte der Lebensreformbewegung als Reflexionsproblem. Verläufe, Interpretationen, Selbstbilder, in: Meike S. Baader, Alfons Kenkmann (Hg.), Jugend im Kalten Krieg. Zwischen Vereinnahmung, Interessenvertretung und Eigensinn (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 16|2020/21), Göttingen 2021, S. 26–52. 11 Vgl. Rüsen: Zeit (Anm. 8), S. 107ff.: »Sichtbarkeit der Geschichte«. 12 Vgl. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, 2021, Nr. 68, H. 3: Erinnerungskultur und Deutschunterricht, hg. von Sascha Feuchert und Christian Plien.

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Wolfgang Braungart

Sich Geschichte vorstellen Ich stelle mir also nun diese Geschichte vor: Ich bin 20 Jahre früher, 1936 geboren, habe vier Geschwister, der ältere Bruder wurde noch zum Volksturm eingezogen; eine Panzerfaust, die neben ihm einschlug, hat er nicht überlebt. Ich aber bin davongekommen. Vom Vater wissen wir nichts, seit mehr als eineinhalb Jahren haben wir nichts mehr von ihm gehört. Jetzt, 1946, hat uns meine Mutter mehr am Hals, als dass wir sie haben, als Mutter nämlich. Gegen ihre Verzweiflung können wir uns kaum wehren. Sie weiß nicht, wie sie uns durchbringen soll. Auf dem Bauernhof, von dem sie kommt, will sie mit ihrem sinnlosen Kindersegen niemand haben. Noch mehr unnütze Esser, das hat gerade noch gefehlt. Ich erzähle diese Geschichte jetzt nicht weiter. Stellen Sie sich diesen Jungen im zerbombten Stuttgart vor, von seiner Schule ist nichts übrig. Undsoweiter. 1943 erscheint Jean Paul Sartres »Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie«, eines der einflussreichsten philosophischen Werke der Nachkriegszeit. Schon 1951 wurde es ins Deutsche übersetzt, von Justus Streller, vorher aber bereits auszugsweise zitiert. Die Spuren existenzialistischen Denkens in der Jugend(-bewegung) und in den poetologischen, literaturpolitischen und philosophischen Debatten der Nachkriegszeit muss man auch im Auge behalten. Sartres Kerngedanke ist ein radikaler Metaphysikverzicht. Hinter dem, was sich dem intentionalen Bewusstsein zeigt, ist nichts; es steht nicht für, es referiert nicht auf eine es übersteigende andere Sphäre. Sartres »Nichts« hat eine eigenartig paradoxe Evidenz in den Jahren nach 1945. Anders und noch einmal gesagt: Sinn-voll ist das, was sich zeigt, was man spürt, riecht und schmeckt. Oder noch einmal anders: Sinn-los ist, was sich jetzt, nach 1945, so unübersehbar und so unentrinnbar zeigt. Denn was zeigt sich diesem Jungen, den ich mir vorzustellen versuche? Welche nicht nur diskursiven, sondern auch präsentativen, protosymbolischen, sich zeigenden und erlebbaren Sinnerfahrungen kann er machen, sich erhoffen, suchen? Was wird ihm in dem, was sich ihm zeigt und was er erfährt, verweigert?13 Unter der Perspektive Jugend, die uns bei dieser Archivtagung beschäftigt hat, kommen die ersten Nachkriegsjahre Deutschlands auf eine eigene Weise in den Blick. Diese Perspektive geschichtswissenschaftlich konsequent einzunehmen, scheint mir ein Desiderat und führt zu anderen Aufmerksamkeiten, als z. B. allgemeiner nach der »Formierung der Nachkriegsgesellschaft« zu fragen. Und vielleicht brauchen wir gerade jetzt die Literatur, das Fiktionale mehr, als es die 13 Theoretischer Hintergrund meiner Überlegungen sind, was ich hier nicht weiter ausführen kann, die philosophischen Entwürfe Ernst Cassirers und, mehr noch, Susanne K. Langers. Vgl. zu diesem Ansatz auch Verf.: Ästhetik der Politik, Ästhetik des Politischen. Ein Versuch in Thesen, Göttingen 2012.

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geschichtswissenschaftliche Zunft für angeraten halten mag. Nicht um aus den literarischen Geschichten zu lernen (denn was eigentlich?), sondern um das Imaginieren zu üben: Wie es gewesen sein könnte. Kirsten Boie, die bedeutende Autorin von Kinder- und Jugendliteratur, hat mit ihrem jüngst erschienenen Jugend-Roman »Heul doch nicht, du lebst ja noch« eine solche Imaginationsübung gewagt. Drei 14-Jährige in der Hamburger Nachkriegswüste, an der Schwelle zur Pubertät, und die Schuld-Frage wird nicht ausgeblendet.14 Wenn wir nach der Jugend ohne Sinn fragen, wird das nötig sein. Nach 1945: Jahre waren das, die zwar nicht gerade eine terra incognita historischer Jugendforschung sind. Aber für unsere Frage nach einem Zusammenhang von Jugend und erfahrbarem und erlebbarem Sinn in der Nachkriegsgesellschaft und -kultur ist, das darf man wohl sagen, noch sehr viel zu tun. In dem an sich sehr lesenswerten Buch Harald Jähners von 2019 »Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945–1955« spielen Kunst, Literatur, Religion, die Diskurse, die sich bevorzugt mit Sinn-Fragen und Sinn-Erfahrungen befassen, eine ganz untergeordnete Rolle. Das gilt erst recht unter dieser Perspektive Jugend. In welche Sinn-Fragen wird die Jugend hineingestoßen durch das, was sie schlichtweg gesehen und erlebt hat und weiterhin sieht und erlebt? Noch 1947 hielten, einer Umfrage zufolge, 52 % der deutschen Bevölkerung den Nationalsozialismus für eine im Prinzip »gute Idee«; 70 % der Lehrerschaft waren einmal NSDAP-Mitglieder. Welche Lehrer waren das wohl für »die Jugend«? Im Herbst 1945 nahmen die Schulen ihren Betrieb wieder auf, im August 1946 erfolgte eine allgemeine Jugendamnestie.15 Hat ihr das wirklich gutgetan? Wie stand es dennoch mit Schuldgefühlen, die Kirsten Boie ihren Protagonisten nicht absprechen will, und daraus vielleicht resultierender Selbstreflexion bei der Jugend? Wann setzte sie ein? Wo und wie schlägt sich das nieder? Lässt man sie durch diese Amnestie mit ihrer Schuld allein?

Aus Kindern wird Jugend: Brechts Gedichte »Ja, wenn die Kinder Kinder blieben« und »Jugend« Das vierte Gedicht der sechs Kurzgedichte »Die Jugend und das Dritte Reich« gehört zur Sammlung der »Svendborger Gedichte« und entstand aus Brechts eigenen Erfahrungen heraus 1937. Es ist zwar nicht deshalb schon ein allzu bedeutendes Gedicht, nur weil es von Brecht ist. Aber zu sagen hat es dennoch etwas. Es lautet:

14 Kirsten Boie: Heul doch nicht, du lebst ja noch, Hamburg 2022. 15 Die Angaben nach Peter Adamski: Die Nachkriegszeit in Deutschland 1945–1949, Stuttgart 2012, S. 59 und 62f.

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Ja, wenn die Kinder Kinder blieben, dann Könnte man ihnen immer Märchen erzählen Da sie aber älter werden Kann man es nicht.16

Nein, das kann man jetzt nicht mehr, »Märchen erzählen«. Die Kinder sind nicht Kinder geblieben. Die Besinnung und Berufung auf das Gute, Wahre, Schöne, auf das, was sich eben nicht bewährt hat: Steht sie der Jugend noch, wieder, überhaupt zur Verfügung?17 Was kann sie vielleicht sogar spirituell für sich belegen? In der Lakonie des Gedichtes, die das Banale streift, und besonders im lakonischen Schlussvers wird die geschichtliche Ernüchterung zum Formprinzip. Das harte Stakkato vier einsilbiger Wörter ist selbst ein Statement. Aus dem poetischen Irrealis des Märchens, hier ein wenig verführerisch instrumentiert zum Beispiel durch Alliterationen und schmeichlerische Assonanzen (»die Kinder Kinder blieben, dann / Könnte man ihnen immer Märchen erzählen«), ist das Gedicht nun im Indikativ der geschichtlichen Realität angekommen (könnte/ kann). Ich muss nun noch einmal kurz zu dem eingangs zitierten Gedicht Brechts zurückkehren: Die Form ist viel kunstvoller, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Die jeweils fünf Verse umfassende Strophe folgt keiner festen, eingeführten Strophenform und erscheint durch die Wiederholungsstrukturen dennoch sehr festgefügt. Es sind fünfhebige Jamben, die sehr beweglich gehandhabt werden, manchmal eher unregelmäßig, sogar an das Süddeutsche, Mündliche grenzend (»gelanget hätten«), also auch sprachlich mit dem arbeitend, was man so hat oder mitbringt. Wie in den ersten Nachkriegsjahren überhaupt. Auch die poetische Form wird zur symbolischen Form: So ist es eben nach 1945 unweigerlich. Und der Blankvers, der Vers der Literatur um 1800. Goethe verwendet ihn in der »Iphigenie«, Lessing im »Nathan«. Nur einmal weicht Brecht vom fünfhebigen Vers ab: im vorletzten Vers, einem Senar, einem sechshebigen jambischen Vers: »Daß sie euch die Geburt und nicht den Tod dann schulden«. Das hätte er leicht anders machen können; etwa so: »Daß sie euch die Geburt, nicht Tod dann schulden.« Er wollte es offensichtlich nicht. Er wollte die Störung des ruhigen Gleichmaßes. In welche Welt sollen diese »Kinder« hineingeboren sein? Die Reime variieren; aber immer wiederholt der letzte Vers einen ganzen Vers oder einen Teil eines vorausgegangenen Verses. Seit seinen lyrischen Anfängen liebt Brecht das litaneihafte, ritualisierte poetische Sprechen. »Wer möchte leben ohne den Trost«

16 BFA 12, Gedichte 2, S. 71. 17 Zu dieser Utopie vgl. Gerhard Kurz: Das Wahre, Schöne, Gute. Aufstieg, Fall und Fortbestehen einer Trias, Paderborn 2012, s. hier bes. die beiden Schlusskapitel.

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der Form,18 überhaupt und gerade jetzt? Aber welche Form, welche Formen, literarisch und darüber hinaus, sind jetzt nicht korrumpiert? Mit Brechts Vers aus »An die Nachgeborenen«, das ebenfalls zu den »Svendborger Gedichten« gehört: »Das arglose Wort ist töricht«,19 auch in Hinsicht der Form; es kann gar kein argloses Wort mehr geben. Brechts Gedicht vollzieht, es praktiziert aber natürlich dennoch Form; nur nicht »arglos«. An welche Formpraktiken kann man anschließen? Wie wichtig diese Frage für die Literatur der Nachkriegszeit ist, hat Saskia Fischer in einer großen Studie gezeigt.20 Wie wichtig auch die Frage der Form, der Formvollzüge ist, braucht man für die Jugendbewegung und bei einer Tagung auf Burg Ludwigstein nicht eigens zu betonen. An welche Formpraktiken kann die Jugendbewegung anschließen? Was macht sie in diesen Jahren, die doch eigentlich auch Jahre formaler Ratlosigkeit sein müssten? Und welcher »Trost« konnte von denen ausgehen, die sich als innere Emigranten sahen, innerhalb und außerhalb der Jugendbewegung, und schnell wieder publizieren konnten? Die Kontroverse zwischen Thomas Mann und der sog. Inneren Emigration ist ein eigenes, selbst grundlegendes Thema, weil sich an ihr zeigt, wie schwierig und wie notwendig zugleich die zögerlich einsetzende Selbstreflexion der Epoche war. Was taten die, die früh ins Exil gingen? Wie wurden sie nachher wahrgenommen? Was taten die, die blieben? Wie bewertet man individuelles Verhalten, wenn es nicht erwiesenermaßen schuldhaft war? Solche Fragen konnten bei der Tagung freilich nur gestreift werden. »Ich bitte euch«: Brecht zitiert sich selbst mit seiner Mitleidsballade von der »Kindsmörderin Marie Farrar«, 1922, die einen auch heute noch nicht unberührt lassen kann: »Doch ihr, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen / Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen.«21 Man kann die Anspielung in »An meine Landsleute« so verstehen: Die Überlebenden in den gestorbenen Städten sollen sich nicht in Selbstzerknirschung, Selbstanklage, Schuldsuche aufreiben, sondern aufbauen, konstruktiv werden, aus den Trümmern und »Ruinen« heraus. Ob Brecht damals schon Johannes R. Bechers und Hanns Eislers Hymne »Auferstanden aus Ruinen« aus dem Herbst 1949 gekannt hat, weiß ich nicht. Man könnte sein Gedicht durchaus als eine Art Gegenrede zu Becher/Eisler lesen. Den Appell-Charakter teilt es mit ihrer Hymne; das Vaterländische fehlt aber völlig. Gab es das bei der Jugend und so früh schon wieder: eine Sehnsucht nach va18 Angespielt ist auf das berühmte Gedicht Günter Eichs »Ende eines Sommers« von 1954/55 (»Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume!«), das auch auf Brechts »An die Nachgeborenen« antwortet. 19 BFA 12, Gedichte 2, S. 85. 20 Saskia Fischer: Ritual und Ritualität im Drama nach 1945. Brecht, Frisch, Dürrenmatt, Sachs, Weiss, Hochhuth, Handke, Paderborn 2019. 21 BFA 11, Gedichte 1, S. 44.

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terländischer Zugehörigkeit und vaterländischen Perspektiven? Oder auf was richteten sich soziale Zugehörigkeitssehnsüchte dann, wenn sie denn überhaupt schon wieder artikuliert wurden? Wie wurden sie reflektiert, begründet, vollzogen? Zugehörigkeit ist etwas, jetzt, nach 1945, ganz besonders, was man wollen, suchen, vielleicht sogar erkämpfen muss.22 Soziale Zugehörigkeit und das Bedürfnis nach Vergemeinschaftung: Wem müsste man in Corona-Zeiten erklären, welche Bedeutung gerade das für die Jugend hat; aber nicht nur für sie. Ebenfalls 1949 schreibt Brecht das Gedicht Jugend Und ich saß mit ihnen in den eingefallenen Häusern Und ich hörte sie reden und sagen: nun ist’s genug doch Nun ist’s endlich genug mit köpfezerbrechendem Lernen. Taten her! Und schnell! Alles verändernd gewaltsam! Die, vertrauend, Falsches gelernt, sie hörten mit Mißtraun Richtiges nun, denn keiner verstand, Gehörtes zu prüfen. Aber das Knurren der Mägen verschlang doch viel vom Gerede.23

Ist es so: Erst kommt das Fressen, dann kommen die Sinnfragen und die differenziertere Reflexion? Die, die »Taten« fordern, desavouieren sich selbst, weil sie die Reflexion mit einem solchen Wortungetüm belegen: »köpfezerbrechend« – das in einem Gedicht! Und die, die sich einmal der Ideologie ergeben hatten, können jetzt nur mit »Mißtraun« reagieren, was eigentlich richtig ist (»Taten her!«) und doch nicht. Um diese Forderung nicht gleich wieder zur verhängnisvollen Ideologie werden zu lassen, müsste sie kritisch geprüft werden. Das aber hat »keiner« gelernt. Das Gedicht schürzt einen dialektischen Knoten, den aufzulösen es erst einmal materielle Bedingungen bräuchte: genug zu essen, Stillung der elementarsten Lebensbedürfnisse. Ohne die Befriedigung dieser Not bleibt alles nur »Gerede« und gibt es keine wirkliche Freiheit, die eigene Gegenwart nun auch auf Zukunft hin zu denken. Wie spannt sich Jugend nach 1945 zwischen Lebensnot und Sinn-Entwurf ? Über die großen Sinn-Fragen aber, die sich Menschen stellen, seit sie begonnen haben, ihre Existenz zu reflektieren, habe ich bis hierher noch gar nicht gesprochen: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Was sind wir Menschen: in der Geschichte, in unserem Verhältnis zueinander, in der Liebe, vor der Gottheit? »Jugend ohne Sinn?« – diese Frage, wir sehen es, umfasst sehr viel mehr.

22 Vgl. Johanna Pfaff-Czarnecka: Zugehörigkeit in der mobilen Welt. Politiken der Verortung, Göttingen 2012. 23 BFA 15, Gedichte 5, S. 214.

Grundlegendes

Hartmann Tyrell

Skeptische Generation – Jugend und Jugendsoziologie nach 1945. Soziologische Anmerkungen mit Bezug auf Helmut Schelsky*

Vorweg eine Entschuldigung: Das, was ich zu sagen habe, ist etwas ziemlich improvisiert Zusammengebrachtes; zudem ist es von reichlich soziologischprosaischer Art. Denn »Jugendsoziologie nach 1945« heißt im Weiteren mit Helmut Schelsky nur »skeptische Generation«,1 von dem dieser wirkungsmächtige Terminus stammt – auch wenn es jugendsoziologisch und jugendkundlich in der Nachkriegszeit natürlich nicht nur Schelsky gab. Ich halte mich auf unsere spezielle Thematik hin bewusst an ihn und manövriere mich damit nicht absichtslos in die Situation, hier als eine Art Neinsager aufzutreten. Und als solcher tue ich wohl gut daran, zunächst einmal um einen kleinen Vorschuss von Wohlwollen und Nachsicht zu bitten. Hinzukommt dafür: Ich bin in mehrfacher Hinsicht nicht vom Fach: kein Historiker, Jugendforscher oder gar Literaturwissenschaftler. – Um Sie für meine Sache wenigstens halbwegs zu gewinnen, bitte ich erst einmal, mir vier persönlich getönte Vorbemerkungen zu gestatten. Zum Ersten: Was ich bezüglich dieser Tagung zunächst gar nicht bedacht habe, ist eine Bibliotheks- und Sammelgeschichte. Mein im Jahr 2017 verstorbener * Vorbemerkung des Bearbeiters Wolfgang Braungart: Der nachstehend dokumentierte Vortrag wurde in freier Form auf der Archivtagung auf Burg Ludwigstein im Oktober 2021 gehalten. Mit ihm wurde die Tagung eröffnet; viele Diskussionsbeiträge bezogen sich später auf ihn. Deshalb haben wir uns entschieden, den Vortrag in nur leicht bearbeiteter Form doch in das Jahrbuch aufzunehmen, obwohl Hartmann Tyrell sich selbst aus gesundheitlichen Gründen und Gründen der Arbeitsüberlastung nicht in der Lage sah, ihn selbst druckfertig zu machen. Die Diktion des mündlichen und auch sehr persönlichen Vortrags wurde weitgehend beibehalten; sie fördert die Zugänglichkeit und mag an die lebhaften Diskussionen, die geführt worden sind, erinnern und zugleich als Würdigung eines großen Max Weber-Kenners und die wissenschaftliche Diskussion prägenden Religionssoziologen verstanden werden. Hartmann Tyrells Beitrag macht deutlich, dass die Diskussion eigentlich erst eröffnet ist und nach sozialen, milieuspezifischen, kulturellen und vielleicht sogar regionalen Differenzierungen dringend verlangt. 1 Helmut Schelsky: Die skeptische Generation: Eine Soziologie der deutschen Jugend (Sonderausgabe), Düsseldorf u. a. 1963; Nachweise aus diesem Buch, weil häufiger zitiert, künftig direkt im Text. Weitere Schelsky-Zitate aus anderen Publikationen werden in Fußnoten nachgewiesen.

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Bruder Albrecht Tyrell war ein enthemmter Sammler von vielem, vor allem aber von Büchern. Mir oblag es nach seinem Tode, den verwaisten Bücherschatz unter die Leute bzw. an die richtigen Adressen zu bringen. Die Zeiten sind für dergleichen bekanntlich nicht die besten, und die Mühsal war groß. Zu einem meiner schönsten Erfolge aber hat mir Wolfgang Braungart verholfen. Eine beträchtliche Abteilung innerhalb der brüderlichen Sammlung war die Literatur der unmittelbaren Nachkriegszeit; die Kartons waren mit »1945–49« beschriftet. Beim Kollegen Braungart stieß ich hierfür nicht nur auf Enthusiasmus, sondern auch auf energische Anstrengungen, diese Sammlung für seine Fakultät in die Bielefelder Universitätsbibliothek zu übernehmen. Das gelang, und ich sage noch einmal Dank dafür. Was ich gelernt habe, war, dass die Literatur und Kultur der unmittelbaren Nachkriegsjahre ein vernachlässigtes Forschungsfeld zu sein scheint, und auf eben diesem noch zu bestellenden Feld befinden wir uns hier und jetzt – im schönen Witzenhausen. Zum Zweiten: Meine Berührung mit dem vernachlässigten Forschungsfeld ist eher biographischer Art: Ich bin Jahrgang 1943, in Westfalen aufgewachsen, ein bisschen »nach-jugendbewegt« im katholischen ND (Bund Neudeutschland). Viel wichtiger ist aber: Mein Ohr gehörte dem Radio, dem damaligen NWDR, Hamburg war dabei und vor allem von dort aus das Hörspiel. Darunter auch: Wolfgang Borcherts »Draußen vor der Tür« von 1947, jetzt auch als Hörbuch zu haben und mir für die Vorbereitung dieser Tagung unumgänglich. Ich will jetzt nur Ernst Schnabel, seinerzeit Chefdramaturg des NWDR, aus einem kurzen Vorwort, das der Aufführung des Hörspiels vorangestellt ist, zitieren. Er spricht im Blick auf Wolfgang Borchert von der Jugend der heute 25-Jährigen, die um ihre Jugend gebracht worden sei. »Anderthalb Jahre lang ist diese Jugend angerufen worden, und sie hat geschwiegen.« Bei dieser Figur von Bedrängt-Werden und hartnäckigem Schweigen hält sich Schnabel länger auf, um dann am Ende im Blick auf Wolfgang Borchert zu sagen: »Hier spricht nun einer.« Ich verweise darauf nicht nur, weil man in dieser kurzen Vorrede durchaus schon Anklänge von »skeptischer Generation« hören kann, sondern vor allem, weil wir auf die Erwartung, diese Jugend müsse doch von sich her das Wort ergreifen, zurückkommen werden. Zum Dritten und damit noch einmal zurück zum Kollegen Braungart: Was mich (als Religionssoziologen) mit ihm verbindet, ist ein spezielles Jahrhundertwende-Interesse: um 1900. Dafür verweise ich nur auf einen Aufsatz, der mir jüngst von seiner Seite zugegangen ist; der Titel: »Georg Heym: Versuch einer neuen Religion (1909)«.2 »Um 1900« aber, das zielt für Braungart und auch für

2 Wolfgang Braungart: Georg Heym: Versuch einer neuen Religion (1909). Mit einem Blick auf Hölderlin (Über Religion, Ältestes Systemprogramm), in: literatur für leser. Georg Heyms

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mich vor allem auf eine Zeit semantischer Neuerung, auf die Durchsetzung nämlich und den Kommunikationserfolg eines bis ins späte 19. Jahrhundert ungebräuchlichen Begriffsfeldes, in dessen Zentrum ein Sinnbegriff besonderer Art getreten ist: Sinn nun im Sinne von Sinn des Lebens, Sinn des Daseins, der Welt, der Geschichte, aber dann auch des Leidens, des Todes u. a. Fragt man nach den Urhebern dieses neuen Sinn-Begriffs, so zählt Leo Tolstoi, viel übersetzt, zu den bedeutendsten; auf deutscher Seite darf man u. a. Nietzsche nennen.3 Man kann guten Gewissens auch vom metaphysischen Sinn sprechen: als Befriedigungsform dessen, was bei Schopenhauer das »metaphysische Bedürfnis« heißt und was später und abgemagert dann auch Sinnsuche heißen kann. Auf die Sinn-Semantik hin ist mir zunächst zweierlei wichtig: Einerseits, dass sie jenseits der christlich-theologischen Sprache, ohne Wurzelgrund in dieser, ins Intellektuellengespräch gefunden hat. Und andererseits, dass sie darin assoziiert ist mit einer Reihe affiner ›Neuformeln‹, wie Hermann Lübbe sagt. Denken Sie an einen Begriff wie Weltanschauung (die Religionen einschließend),4 an den der Werte, den der Ersatzreligion usw. Sogar den Begriff des Religioiden hat man – hat Georg Simmel – seinerzeit ins Gespräch gebracht.5 Und ebenfalls von Simmel stammt eine Formel, die deutliches Licht wirft auf die Genese und Motivierung der dem späten 19. Jahrhundert entstammenden Sinn-Semantik. Eine Passage, die von dem »abschließenden Sinn des Lebens« spricht, den das Christentum im Okzident über anderthalb Jahrtausend dem von ihm inhaltlich erfüllten Denken geboten habe, führt Simmel zu den postchristlichen Bewusstseinslagen seiner Zeit – und auf »das leere Sehnen nach einem definitiven Zweck des ganzen Daseins«,6 das er hier als gefühlten Mangel registriert. Die aufklärende Formel, die den Gedanken beschließt, steckt in der Rede vom »Bedürfnis«, das »seine Erfüllung überlebt« habe, jene Erfüllung ( ja: Vollbefriedigung) eben, die das Christentum so lange gewährleistet hatte.

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nachgelassene Prosa und Schriften, 2021, Nr. 18 (3), S. 225–237 [https://pub.uni-bielefeld.de/re cord/2956526, 03. 05. 2022]. Ein Spaltprodukt der Ausdifferenzierung der modernen Wissenschaft; vgl. die Schlussbemerkung von Adolf von Harnacks »Das Wesen des Christentums« (1900): »Meine Herren, die Religion, nämlich die Gottes- und Nächstenliebe, ist es, die dem Leben einen Sinn giebt; die Wissenschaft vermag das nicht«; Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums, Gütersloh 1999, S. 188f. Der Germanist Horst Thomé hat daraus den Begriff der »Weltanschauungsliteratur« entwickelt und ihn wirkungsvoll in die Forschung zur kulturkritischen Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts eingebracht. Simmel hat mit diesem Begriff die »religiösen Halbprodukte« bezeichnet, ihn aber schnell wieder verworfen. Heute kommen jedoch gerade diese »religiösen Halbprodukte« verstärkt in die Aufmerksamkeit von Religionswissenschaft, Religionssoziologie und Kulturwissenschaft: Sport, Mode, Konsum, Unterhaltungsindustrie. Georg Simmel: Gesamtausgabe in 24 Bänden, hg. von Otthein Rammstedt, Bd. 6: Philosophie des Geldes, Frankfurt a. M. 21999, S. 491.

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Es bleibt anzufügen: Der metaphysische Sinn ist negierbar, Sinnlosigkeit ist seine Kehrseite, und das Dasein ohne Sinn weiß sich mit ganz besonderem Pathos zu artikulieren. Damit sind wir ganz in der Nähe von Georg Lukács und seiner berühmten Formel von der »transzendentalen Obdachlosigkeit«. Es ist im Übrigen die erste Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts, es sind die Jahre nach 1918/19 (und weiter), die in der »aufgewühlten deutschen Gesellschaft« (Schelsky, 58) mit ihren intellektuellen Radikalisierungen dem Geltendmachen des Sinnlosen besonderen Auftrieb gegeben haben. Ich gebe nur zwei Exempel aus den Jahren 1924 und 1925: zunächst Rudolf Bultmanns antihistoristische Sentenz, »dass die Geschichte sich totgelaufen hat, dass ihre Sinnlosigkeit offenbar geworden ist«. Und weiter mit Paul Tillich abermals ein Theologe: »Unsere ganze Zeit ringt mit der Verzweiflung des Sinnverlustes wie die vorreformatorische Zeit mit der Verzweiflung der Schuld«.7 Damit zum Vierten und zur Prosa, nämlich zu einem soziologisch-diagnostischen Bucherfolg der 1950er Jahre, zu Helmut Schelskys »Die skeptische Generation«, aus dem bereits zitiert wurde; zuerst 1957 erschienen, dann mehrfach wiederaufgelegt. Hier geht es um ein empiriegestütztes jugendsoziologisches Werk, das den Blick auf die Jugend des unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnts richtet, auf die 14- bis 25-Jährigen der Zeit von 1945–1955. In Klammern nur und des Persönlichen wegen: Helmut Schelsky war zu Anfang der 1970er Jahre in Münster mein Doktorvater; er war zu der Zeit schon oder auch: noch in Bielefeld. – Schelsky hat als Soziologe seine eigene Nachkriegszeit gern unter die Formel vom »Realitätsdrall« gebracht, der ihn bestimmt habe. Seine wichtigste Aufsatzsammlung trug den Titel »Auf der Suche nach Wirklichkeit«. Das klingt nach eigener Geistesverwandtschaft mit der skeptischen Generation und führt zugleich an meine Rolle als Neinsager heran. Denn hier ist es, bis auf einen Punkt, nun so, dass tendenziell alle die Fragen, die in der Einladung für unsere Tagung aufgeworfen wurden und uns aufgegeben sind,8 in Schelskys Buch von 1957 mehr oder minder direkt berührt und angesprochen sind. Die Antwort aber, die Sie bei Schelsky finden, ist durchweg eine, die verneint. In dieser Sicht ist die »skeptische Generation« – als Generation – wenig berührt vom metaphysischen Bedürfnis oder vom Dürsten nach Sinn; obdachlos schon, aber nicht »transzendental«. Wenn man so, auf Max Webers berühmt geworden Formel anspielend, sagen darf: Schelsky hält sie nicht nur für religiös, sondern auch für religioid unmusikalisch. Um solche Gegenrede soll’s im Weiteren in der Hauptsache gehen. – Hier wäre nun eigentlich noch ein Wort zur seinerzeitigen empirischen Sozialfor7 Vgl. Rudolf Bultmann: Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung, in: ders.: Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze. Erster Band, Tübingen 1966, S. 7; Paul Tillich: Dogmatik. Marburger Vorlesung von 1925, hg. von W. Schüßler, Düsseldorf 1986, S. 204. Oder auch: Theodor Lessing: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, München 1919. 8 Vgl. den Verweis auf den Einladungstext Vorwort von W. Braungart.

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schung, zur Materialgrundlage von Schelskys einer Jugendgeneration gewidmeten Jugendsoziologie geboten, was uns jedoch zu weit in das Fachwissenschaftliche der Soziologie führen würde. Ein Zwischenschritt ist nun noch nötig. Schelskys Jugendstudie ist von makrosoziologischem Anspruch. Die soziale Situation der Nachkriegsjugend wird beschrieben auf der Ebene der »epochalen Sozialstruktur«. Was den so verstandenen gesellschaftlichen Rahmen anging, so sprach man damals vor allem von der Industriegesellschaft. Eigene empirische Studien zur »Arbeitslosigkeit und Berufsnot der Jugend« (1952) waren für Schelsky der Ausgangspunkt der Forschung. Das Buch über die »skeptische Generation« will nun allerdings nicht nur (in generalisierender Absicht) eine Studie über die Jugend in der Industriegesellschaft sein. Denn das Buch enthält auch ein längeres Kapitel, das zeitgeschichtlich angelegt ist und im Blick und Rückblick auf die erste Jahrhunderthälfte ein Nacheinander von drei Generationsgestalten der Jugend beschreibt: der »Generation der Jugendbewegung«, der »der politischen Jugend«, schließlich »die skeptische Generation«. So sehr also die Vorgabe des epochalindustriegesellschaftlichen Rahmens strukturgebend trägt, so sehr ist das Buch von der »skeptischen Generation«, zugleich ( ja vorrangig) eine zeitdiagnostische Studie. Ihr geht es spezifisch um die Jugend der unmittelbaren westdeutschen Nachkriegszeit und der Gegenwart der 1950er Jahre. Und als solche sind wir bei dieser Tagung an ihr interessiert. Dass die von Schelsky vorgenommene Periodisierung der Jugendgeschichte in der ersten Jahrhunderthälfte eigenwillig war, war ihm deutlich vor Augen. Noch den heutigen Leser irritiert: Die Dreiteilung zieht die Weimarer Jahre und die NSZeit (HJ-Staatsjugend) unter dasselbe Dach einer von politischen Großorganisationen bestimmten Generationsgestalt. Auf dieses Organisationsargument hin macht das Jahr 1933 keinen grundlegenden Unterschied mehr (Schelsky, 60). Mir steht in der Sache ein Urteil nicht zu. Was uns – auf unsere Sinnprobleme bezogen – aber stärker interessieren muss, sind die Jugendbewegung einerseits und die skeptische Generation andererseits, wobei es indes auch einen Blick auf das Kriegsende 1918 und die unmittelbare Folgezeit zu werfen gilt. Damit nun zu unseren Sinnfragen und zu dem, was Schelskys Buch dazu zu sagen hat. Zunächst zur Jugendbewegung – um 1900! Dass man diese als von Sinnsuche affiziert charakterisieren kann, das scheint mir unbestritten. Ich brauche da nur hinzuweisen auf den Sammelband »Stefan George und die Jugendbewegung«, der 2018 erschienen ist. Wolfgang Braungart hat ihn herausgegeben, und das Archiv der deutschen Jugendbewegung war daran ja nicht unbeteiligt. Auch von Schelskys Seite stoßen wir an diesem Punkt auf keine Gegenrede. Hier also kein »Nein«. Schelskys knapp gehaltenes Portrait der Jugendbewegung stellt einerseits deren Freiheitsforderungen heraus und betont andererseits (als kulturbedeutsame Schöpfung) die Heraufführung einer ju-

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gendspezifischen Eigenwelt in der Sozialgestalt von Gruppen und Bünden. Erlauben Sie mir zu der Ideen- und Vorstellungswelt, die sich damit verband, ein längeres Zitat: »So fand auch die Jugendbewegung die innere Wahrheit und Sicherheit ihrer Vorstellungswelt des Volkstümlichen und Volkhaften, der Naturliebe und des einfachen, klaren Lebens auf Fahrt, in ihren Gemeinschaften usw. in der ethischen Allgemeinschaft dieser Ideale; so vielfältig die besonderen Ziele waren, denen die einzelnen Gruppen und Bünde nachstrebten, einig waren sie in den Gegenständen ihres Protestes und in diesen allgemeinen Anschauungen einer sittlichen Idealität der Person und Lebensführung. Daher gab es auch kein soziales oder politisches Programm der Jugendbewegung, keine Lehre, die in Argument und Tatsache auf die moderne Welt einging und sie deutend und verändernd durchrang. Das hätte von jener hohen Idealität und dem persönlichen Schwung abgeführt, den sie vermittelte, in eben jene Konkretheit des Praktischen der Lebensgeschäfte, des Allerweltalltags hinein, gegen die man ja gerade protestierte. So wurde Nietzsche der Philosoph der Jugendbewegung und nicht Marx, Stefan George ihr Dichter und nicht Hauptmann. Gewiß gehörte die Sorge um die ›Zuwendung des Volkes‹ zu den Grundimpulsen dieser Generation und Bewegung, aber wo man sich um diese soziale Zukunft Gedanken machte, da kam man nirgends über allgemeine ethische Forderungen hinaus, da blieb alles Konkrete in der Unsicherheit des Problematisierens« (Schelsky, 55).

Ich komme sodann auf die zwei Nachkriegszeiten zu sprechen, auf die nach 1918/ 19 und die nach 1945 im Vergleich: im Vergleich nämlich, wie er der nach 1945 älteren Generation im Sinn war. Diese mochte der Jugend der Nachkriegsgegenwart zugetan sein und mochte es, pädagogisch angerührt, umso mehr sein vor dem Hintergrund ihrer eigenen Jugendbewegtheit in früherer Zeit. Schelsky (96ff.) geht es nun um das Jugendleitbild dieser Älteren und ihre Vorstellungen des Jugendgemäßen, an welchen unvermeidlich die eigene Vergangenheit mitschwingt. Vor allem geht es ihm um die Erwartungen, die sich hier bilden und sich auf die Jüngeren richten. Erwartungen aber, auch wenn wohlmeinend getönt, erzeugen nicht so selten Enttäuschungen, und von solchen war im Blick auf die Jugend, die schweigt, eingangs schon die Rede.9 Hier wechsle ich wieder über in den Originalton Schelskys: »In diesem Sinne wird etwa die ›Organisationsmüdigkeit‹ der gegenwärtigen Jugend beklagt – was, wie wir sehen werden, nur bedingt zutrifft –, vor allem aber ihre ›Gemeinschaftsunlust‹, ihr Mangel an ›Idealismus‹, ihre soziale ›Lethargie‹ usw. Am eindrucksvollsten hat vielleicht Eduard Spranger dieser Enttäuschung über die gegenwärtige Jugendgeneration Ausdruck gegeben: ›Verlust der Heimat, Verlust des einheitlichen Vaterlandes, Zerreißung der Familien, Bedrohung der persönlichen Freiheit

9 Zur »Verschlossenheit« der Jugend gerade im Verhältnis zu den Eltern, bezogen auf Aussprachen in der Richtung des Persönlichen wie aufs Weltanschauliche hin siehe Schelsky: Generation (Anm. 1), S. 130ff.

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und der Unabhängigkeit des eigenen Staates, eine von Fiktionen getragene Wirtschaftslage, weitest getriebener Unfug mit völlig unproduktiven Dingen wie Meetings, Scheinkongressen – es sind nur herausgegriffene Stichworte, aber in ihrer Gesamtheit zielen sie auf den Zustand einer Welt, von der ich mir nicht vorstellen kann, daß ich ihn in jungen Jahren ertragen hätte, ohne in die äußerste Aufwallung zu geraten; meinetwegen, verbunden mit ebenso großer Ratlosigkeit. Aber wenn die Ratlosigkeit und das Leiden nicht produktiv machen, wenn auf diese Herausforderung die leidenschaftliche Antwort ausbleibt (Toynbee), in welcher Sprache soll dann das Schicksal noch zu uns reden? Kurz: ich vermisse eine Jugendideologie, die von den öffentlichen Angelegenheiten herausgepreßt wäre und zu ihnen Position bezöge‹« (Schelsky, 97).10

Schelskys Kritik an Spranger dann: Er verwechsle 1919 und 1945 (97f.). Die Parallelisierung sei irreführend (97f.). Schelsky mobilisiert mit Blick auf den, wie er sagt, »inneren sozialen Energiehaushalt der Gesellschaft, der Familien und der einzelnen« starke Gründe für die Aussage, dass die kollektive Lage Deutschlands nach 1945 gegenüber der von 1918/19 eine grundlegend verschiedene war. Dafür stützt er sich ausdrücklich auf seine Familienstudie von 1953. Seine Leitthese ist bekannt: Als 1945 alle gesellschaftlichen Institutionen zerbrachen, blieb nur die Familie elementar funktionsfähig; alle machten sich auf, die ihre zu finden. Auch der Heimkehrer Beckmann in Borcherts Drama/Hörspiel »Draußen vor der Tür« tut das; zweimal vergeblich. In der Familienstudie Schelskys findet sich aber auch ein jugendsoziologischer Befund, der im Buch von der »Skeptischen Generation« wieder aufgenommen wird und hier nicht unterschlagen werden soll. Deshalb noch einmal Originalton Schelsky, wobei es um die Voraussage und den Widerruf eines amerikanischen Soziologen geht: »Howard Becker hat in seinem offensichtlich noch im Kriege verfaßten Buch ›German Youth: Bond or Free‹ zwei große soziale Unruheherde in der deutschen Jugend nach dem Kriege vorausgesagt; einmal erwartete er eine fanatische nationalsozialistische Untergrundbewegung eines jugendlichen ›Werwolfs‹, zum anderen rechnete er mit einer sehr starken Verwahrlosung, Kriminalität und einem Vagabundieren und Bandentum der Jugend […], d. h. er sah in den Nachwirkungen des Krieges bei der Jugend eine der wesentlichen Gefährdungen für die Restabilisierung einer sozialen Ordnung in Deutschland. Daß diese Voraussagen sich nicht bewahrheiteten und darin wichtige soziale Faktoren übersehen waren, konnte Becker als Universitätsoffizier der amerikanischen Besatzungsmacht während seines längeren Aufenthaltes in Deutschland selbst feststellen und hat es auf dem ersten deutschen Soziologentag nach diesem Kriege auch öffentlich ausgesprochen: ›Nein, der Grad des jugendlichen Fanatismus war stark überschätzt worden – von mir wie von anderen… Gewiß, die Auseinanderreißung von Familien, die große Zahl von Waisen und die Hunderte von bedauernswürdigen Kindern der Ausgewiesenen und Flüchtlinge haben… eine mitunter untragbare Last auf10 Schelsky bezieht sich auf: Eduard Spranger: Kulturfragen der Gegenwart, Heidelberg 1953, S. 78.

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erlegt. Und doch ist diese Last mit überraschendem Erfolg getragen worden… Der relative Erfolg ist in hohem Maße der Stabilität des deutschen Familienlebens zuzuschreiben und, wo die Familien auseinandergerissen wurden, der Dauerhaftigkeit von Familienandenken und -traditionen. Auch hier hat sich die Prophetie als ein gewagtes Unternehmen für einen einfachen Sterblichen erwiesen.‹ Er sei zu der Überzeugung gekommen, ›daß große Teile sowohl der älteren als auch der jüngeren Generation Deutschlands geistig und sozial gesund geblieben sind oder diese Gesundheit rasch zurückerlangen können. Ferner glaube ich, daß dieser glückliche Stand der Dinge auf das Überleben deutscher Familientraditionen, mögen manche von ihnen auch ›eng‹ und ›veraltet‹ erscheinen, zurückzuführen ist. Hätten sie nicht bestanden, so wären meine düsteren Voraussagen über jugendliche Fanatiker, wilde Kinder und jugendliche Verbrecher in Erfüllung gegangen‹« (Schelsky, 113).11

Damit nun konkreter noch zum Einladungstext zu dieser Tagung.12 Dort heißt es: »Die ›junge Generation‹ hatte sich mit einer nie dagewesenen ›transzendentalen Obdachlosigkeit‹ auseinanderzusetzen. Wenn Sie das denn wirklich tat!« Die These von der »skeptischen Generation« besagt explizit: Sie tat es nicht! Dafür muss man wissen: Das Buch hat als ein soziologisches »die Masse der Jugendlichen« im Blick. Was da interessiert, das ist »der junge Arbeiter und Angestellte, und nicht der Oberschüler und Student«, und als verhaltensprägend treten eher die Erstgenannten auf. Schelsky kann die Jugend, die er meint, paradoxiebewusst als »erwachsene Jugend« bezeichnen, anpassungswillig an die durch die Industriegesellschaft vorgegebenen sozialen und materiellen Konditionen (Schelsky, 74ff.); ihre Orientierung zielt auf das Erreichen der beruflichen Existenz, die Bewältigung praktischer Notlagen und in Richtung Wiederaufstieg bzw. Aufstieg. Andere Charakteristika heißen Privatisierung, Organisationsmüdigkeit, Entpolitisiserung, Ohne-uns-Haltung usw.! Eine lesende Generation, die zugreift auf das Bewährte »in Literatur, Philosophie, Theologie«, kann man hier nicht erwarten. Die »Schuldfrage« als moralisch-politisches Problem, bezieht diese Jugend in materieller Not schwerlich auf sich; für sie ist der Krieg vorbei; dass Friede herrscht, fällt schon nicht mehr auf; die wirtschaftlichen Abläufe und der Arbeitsalltag normalisieren sich. In Schelskys Buch liegt die Schuld als Thema für die Jugend selbst fern. In »Draußen vor der Tür« (1947) dagegen ist der Krieg noch nah, das Feldgrau noch am Leib und die Schuldfrage, mit »Verantwortung« überschrieben, noch akut. Aber natürlich muss man jetzt den Fortgang dieser Tagung abwarten und kann nur gespannt sein auf das, was die unbekannte

11 Schelsky bezieht sich auf: Howard Becker, Jugendpflege und Jugendbewegung einst und heute, in: Verhandlungen des 9. Deutschen Soziologentages, Tübingen 1949, S. 47ff; vgl. auch Helmut Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart. Darstellung und Deutung einer empirisch-soziologischen Tatbestandsaufnahme, Dortmund 1953, S. 86f. 12 Er wird im Vorwort zitiert.

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Nachkriegsliteratur uns noch eröffnen wird. Mein Bruder wäre es wohl ganz besonders. Schelskys soziologische Beschreibung der Jugendgeneration 1945–1955 ist stark schichtungsorientiert; für eine interne Schichtung der (für sich genommenen) Generationspopulation selbst, nämlich für eine Unterscheidung von Generationselite und Generationsmasse sieht er im Fall der »skeptischen Generation« keine soziologische Handhabe (Schelsky, 82f.). Stattdessen stellt er homogenisierend einen »durchschnittlichen Verhaltenstyp« als charakteristisch in den Vordergrund. Nun geht Schelskys Buch aber auch auf die verschiedensten Statusgruppen unter den Jugendlichen gesondert ein. Von unseren Sinnfragen her liegt es dann nahe, unter diesen Gruppen Ausschau zu halten nach solchen, die sich als Kandidaten für metaphysische Anfälligkeit oder Neigung anbieten könnten. Im Kontext des Erziehungssystems wären dies, wenn man seinen stratifikatorischen Vorurteilen trauen will, dann wohl weniger die Berufsschüler als die Oberschüler und Hochschüler (234ff., 241ff.). Für die beiden letztgenannten Gruppen stellt der Autor heraus: Der Besuch von Schule wie Hochschule wird von den Jugendlichen durchweg wie »eine Form von Berufstätigkeit« aufgefasst: hin zur Berufstätigkeit! In einer ungesicherten Sozialwelt dominieren »Berufs- und Funktionsbezogenheit«; und praktische Arbeit neben Schule und Studium wird gesucht, auch als Erwerbsquelle usw.! Und gerade die Universität wird als schizoide Einrichtung beschrieben, die sich selbst als Bildungsanstalt beschreibt und darstellt, von den Studierenden aber »als eine berufliche Ausbildungsinstitution« besucht und in Anspruch genommen wird (242). Falsches Bewusstsein möchte man fast sagen! Und kein Klima für eine Jugend, die sich Sinnfragen hingibt, die an ihrem Sinn leidet! Speziell unter gesellschaftsstrukturellen und makrosoziologischen Gesichtspunkten – auf Strukturwirksamkeit hin – nimmt der hintere Teil des Buches den Faden noch einmal auf, stellt die »bürgerliche Jugend« neben die »Arbeiterjugend« und »Landjugend« und kommt neuerlich auch auf die »akademische Jugend« zu sprechen. Hier bereitet sich die spätere These von der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« vor. Die These lautet hier: »deutliche Tendenz zur Abnahme der schichtenspezifischen Unterschiede und damit zur sozialen Gleichförmigkeit und Nivellierung der jugendlichen Verhaltensweisen« (Schelsky, 305). Damit ist das auch die Nachwachsenden erreichende Weiterleben anderslautender sozialer Selbstdeutungen und das Festhalten an weitergepflegten sozialen Prestige- und Distinktionsbedürfnissen nicht bestritten, allerdings tendenziell zum »Meinungsphänomen« erklärt. Man könnte in solchen Dissonanzen die Quelle für identitätsbezogene Sinnfragen und Obdachlosigkeitsempfindungen sehen. Und was die akademische Jugend und ihre Gesellung und Geselligkeit angeht, so macht sich Schelsky die Rede von den »geistigen Min-

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derheiten« im Universitätsleben (329f.) zu eigen, die auch in ihrem Verhalten soziale Minderheiten sind. Damit (und gerade des Minderheitsakzents wegen) hätte man wohl eine Adresse für Sinnfragenzugänglichkeit. Interessant ist hier in einem weiteren Zusammenhang Schelskys Urteil in Sachen Existentialismus (378): »Von dem, was die geistige Mode am Existentialismus war, ist die westdeutsche Jugend im Vergleich mit der aller anderen westlichen Länder vielleicht am wenigsten berührt worden.« Damit schließlich zur Religion, die auf dem Flyer zur Tagung ja deutlich angesprochen ist! Hier bietet Schelsky kirchgangsbezogene Daten im Konfessionsvergleich, die die jugendlichen Altersklassen im Blick haben (Schelsky, 373ff.), und äußert fragetechnische Bedenken zu Umfragen, denen es um Religiosität, ums Subjektive geht. Hier nimmt er das eher qualitativ gewonnene Urteil auf, das ein prominenter Vertreter der evangelischen Jugendarbeit anbietet: »Der junge Mensch von heute ist dem Religiösen gegenüber erstaunlich offen.« Keine Spuren mehr u. a. von »nordisch-weltanschaulicher antichristlicher Aggressivität«! Diese Offenheit ist nun das Problem, dem sich Schelsky mit Rückgriff auf Wilhelm Roesslers »Jugend im Erziehungsfeld« (1957) stellt. Hier findet er Gründe, die Offenheit im Sinne einer skeptisch-vorsichtig-pragmatischen Zugänglichkeit für Religiöses zu begreifen; zugleich aber konstatiert er bei Roessler einen Verlustbefund. Ich zitiere Roessler nach Schelsky: »In der Art scheinen mir die Äußerungen, die W. Roessler aus seinen Untersuchungen über die religiösen Stellungnahmen Jugendlicher berichtet, sehr aufschlußreich; in ihnen »enthüllt sich eine eigenartige Problemlage: Einerseits wird die Sprache der religiösen Unterweisung nicht mehr voll verstanden, zum anderen aber soll aus dem religiösen Raum Antwort auf bestimmte Lebensfragen und eine eindeutige ›Anweisung‹ zum rechten Leben erfolgen. Es fehlt allerdings völlig das, was man früher mit ›Ringen und Suchen‹ bezeichnete. Es wird eher von diesem Teil der Jugend ein Verhältnis erstrebt und gesucht, wie es uns im altbürgerlichen Lebensraum entgegentrat: der religiöse Bereich als ein fest abgegrenzter Raum mit einem verpflichtenden Ethos« (Schelsky, S. 376).

Ringen und Suchen! Damit sind wir in unmittelbarer Nähe der »Sinn-Suche«! Aber es ist abhandengekommen! Der Reim jedoch, den Schelsky sich darauf macht und mit dem er das Abhanden-Gekommene auf das Konto seiner Leitthese bucht, scheint mir dann doch etwas grobschlächtig geraten. Ich zitiere erneut: »Die konkretistisch realistische Lebenseinstellung führt dazu, sich unnötige und innerlich aufwendige Problematiken vom Leibe zu halten; die introvertierte Sublimierung des ›Ringens und Suchens‹ ist sicherlich nicht der geistige Weg der Weltbewältigung, den diese Generation geht. Wie man im Studium die Anweisungen sucht, um beruflich etwas leisten und sich durchsetzen zu können, so sucht man auch die konkrete An-

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weisung im Religiösen, um mit den persönlichen Lebensfragen fertigwerden zu können.« (Schelsky, S. 376f.)

Hier hat es den Anschein, dass noch für den Autor der Kontakt zur Sinn-Semantik verloren gegangen ist: Man hält sie sich vom Leibe.

Justus H. Ulbricht

»…und was machen wir nun, wir Mörder aller Mörder«. Sinnsuche und Krisengefühle nach dem letzten Weltkrieg »Man sollte freilich meinen, dass es gerade in diesen Jahren einen großen Bedarf an Sinn und Trost […] gegeben hat…« »Eines Tages werden einige waghalsige Seiltänzer versuchen, über den Abgrund zu kommen, neue Taue zu knüpfen, vielleicht eine stabile Brücke zu errichten, auf der die jungen Deutschen in das gemeinsame europäische Lager kommen können.« Alfred Andersch1

Das erste Eingangszitat entstammt der Ankündigung der letzten Archivtagung Ende Oktober 2021 auf Burg Ludwigstein, auf die die wichtigsten Beiträge dieses Buches zurückgehen. Wir befragten damals die Sinnsuche und Krisengefühle der sogenannten »jungen Generation«2 nach dem Zweiten Weltkrieg, die jene jedoch unmittelbar nach Kriegsende mit nicht wenigen Erwachsenen teilte.3 Die jüngsten Ereignisse unserer Tage »inmitten Europas«4, also der zwischen Russland und der Ukraine von Wladimir Putin vom Zaun gebrochene Krieg, 1 Alfred Andersch: Das junge Europa formt sein Gesicht, in: Der Ruf, Heft 4, 15. August 1946. – Der Seiltänzer ist ein Denkbild Nietzsches, eine Art Übergangsfigur zwischen Mensch und Übermensch und stammt aus dem »Zarathustra«. Für den Menschen selbst verwendet Nietzsche im »Zarathustra« das Bild, der Mensch sei ein Seil zwischen Tier und Übermensch, »ein Seil über einem Abgrunde«. 2 Generationszuschreibungen sind bekanntlich sehr kompliziert, stellen oftmals eher Selbstzuschreibungen als soziologisch exakte Fremdbeschreibungen dar. Das gilt auch für die »junge Generation« nach 1945, zu der die wirklichen Jugendlichen ebenso gehörten wie diejenigen Intellektuellen und Schriftsteller, sie sich etwa in der Zeitschrift »Der Ruf« und später in der legendären »Gruppe 47« versammelten. Als Stimme der »jungen Generation« und Autor der sog. »Trümmerliteratur« galt Wolfgang Borchert (1921–1947), also ein Mitzwanziger. 3 Vgl. zum Kriegsende den lesenswerten Katalog einer Marbacher Sonderausstellung im Deutschen Literarturarchiv: »Als der Krieg zu Ende war«. Literarisch-politische Publizistik 1945–1950, Stuttgart 1973. 4 Das ist nur ein, »von Krieg und Kriegsgeschrei« induziertes Gefühl, denn mit der Mitte ist das so eine Sache. Neuere Berechnungen (1989) verorteten den geographischen Mittelpunkt Europas in der Nähe eines litauischen Dorfes nördlich von Vilnius. Um 1900 lag der Mittelpunkt unseres Kontinents plötzlich in der Nähe der Dresdner Frauenkirche. Seit dem 16. Jahrhundert existierte »die Mitte« mal in Polen oder der Slowakei, mal in Tschechien oder in Belarus. Andere nennen Ungarn und Estland. – Generell gilt eine frühere Idee des Verfassers; vgl. Justus H. Ulbricht: Wer die Mitte sucht, muss über die Ränder sprechen. Skeptische Fragen nach dem Kern europäischer Identität, in: Kathrin Pöge-Alder, Christel Köhle-Hezinger (Hg.): Europas Mitte – Mitte Europas. Europa als kulturelle Konstruktion, Jena 2008, S. 76–97.

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lassen die Frage nach Sinn, die Sehnsucht nach Trost, nach den Formen von Trauerarbeit und Verarbeitung des Schrecklichen sowie die Existenz von Krisengefühlen, von Ratlosigkeit und Angst, direkt an uns zurückgehen. Bereits 2002 wies der Osteuropahistoriker Karl Schlögel darauf hin, dass die Mitte Europas ostwärts liege und berichtete in einem Kapitel seines Buches von Erfahrungen im Umfeld des 11. September 2001: »Die Farbe des Blutes und die Wiederkehr des Kriegers«.5 – Willkommen in der Gegenwart des Jahres 2022. Mein Blick auf die zweite deutsche Nachkriegszeit ist auch in anderer Hinsicht von bestimmten Erfahrungen unserer Jetztzeit eingefärbt. Ich habe in den letzten zehn Jahren immer wieder öffentlich und laut darüber nachgedacht, was eigentlich in unserer wiedervereinigten, jedoch hoch fragmentierten deutschen Gegenwartsgesellschaft los ist.6 Den Anstoß zu dieser Frage gab gottseidank kein Kriegserlebnis – wie es für die Alterskohorten nach 1945 der Fall war – sondern die Erfahrung massiver innerer Abgrenzungen, ja Verfeindungen von Milieus und politischen Überzeugungsgemeinschaften, die spätestens seit der sogenannten »Flüchtlingskrise« mit Händen zu greifen sind. Derartige Spannungen buchstabieren sich im Osten unserer Republik noch einmal anders und schärfer. Offensichtlich überlagern sich im Leben, vor allem aber im Lebensgefühl einer wachsenden Zahl unserer Zeitgenossen die Erfahrungen des Systemwechsels von 1989, die der Transformation der 1990er und frühen 2000er Jahre sowie aktuelle Verunsicherungen (Stichworte: »Migration«, »Klimakrise«, »globaler Kapitalismus«). Und das führt dann bei Vielen zur Kumulation von Vertrautheitsverlusten, Statusängsten und der Sorge um die persönliche Zukunft. Offensichtlich stößt die »offene Gesellschaft« an »Grenzen«, seien es ökonomische, politische, soziale, emotionale und affektive.7 Die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Vertrautheit und Verortung wächst ebenso wie die »Furcht vor der Freiheit«.8 Zahlreiche Wortmeldungen erscheinen seit dem Zeitenwandel 1989 zu Themen wie »Heimat«,9 »Nation« oder gar »Vaterland«. Dass darüber hinaus bestimmte 5 Vgl. Karl Schlögel: Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang. München, Wien 2002, S. 212– 224. 6 Vgl. demnächst Justus H. Ulbricht: Zur Lage der Nation oder: Was ist los in unserer Demokratie?, in: ders. (Hg.): Auf Spurensuche. Demokratiegeschichte in Dresden, Dresden 2022, S. 116–123. 7 Siehe Wolfgang Engler: Die offene Gesellschaft und ihre Grenzen. Berlin 2021. Stimmungsbilder aus dem wiedervereinigten Deutschland liefern u. a.: Peter Maxwill: Die Reise zum Riss. Berichte aus einem gespalteten Land, Berlin 2019; Daniela Dahn: Der Schnee von Gestern ist die Sintflut von Heute. Die Einheit – eine Abrechnung, Hamburg 2019 (5. Aufl. 2020). 8 Vgl. das 1941 im Exil erschienene, erste Werk des später berühmten Psychoanalytikers und Sozialphilosophen Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit [Originaltitel: Escape from Freedom], München 252021 [zuerst New York 1941]. 9 In der existierenden Fülle waren folgende Publikationen für mich besonders anregend: Eberhard Rathgeb: Am Anfang war Heimat. Auf den Spuren eines deutschen Gefühls, München 2016; Edoardo Costadura, Klaus Ries (Hg.): Heimat, gestern und heute. Interdisziplinäre

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erinnerungskulturelle Deutungskämpfe der letzten – mindestens – zwanzig Jahre zeitgleich und manchmal auch parallel zur alten Frage »Was ist des Deutschen Vaterland?« ablaufen, ist alles andere als zufällig. Lassen wir die Masse der Publikationen zur Kritik des Nationalismus, zu Populismus,10 Rassismus und Fremdenfeindlichkeit einmal weg, so fallen andere Wortmeldungen ins Auge: »Abschied von der Nation?« lautet einer der Titel;11 »Deutschland denken. Beiträge für eine reflektierte Republik« ein anderer.12 Aleida Assmann schrieb »Die Wiedererfindung der Nation«.13 »Typisch deutsch. Wie deutsch sind die Deutschen« fragt ein Autor;14 der nächste skizziert den »Patriotismus 2.0. Gemeinwohl und Bürgersinn in der Bundesrepublik Deutschland«.15 »Das Deutschlandgefühl. Eine Heimatkunde«16 lautet eine weitere Wortmeldung, der ein anderer Autor mit dem Titel »Leitkultur und Parallelgesellschaft. Argumente wider einen deutschen Mythos«17 produktiv widerspricht. Die Frage, »was unsere Gesellschaft zusammenhält« wird bei den einen mit der Trias »Verfassung – Patriotismus – Leitkultur« beantwortet.18 Andere ermuntern

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Perspektiven, Bielefeld 2016; dies., Christiane Wiesenfeldt (Hg.): Heimat Global. Modelle und Medien der Heimatkonstruktion, Bielefeld 2019; Kristina Kara, Firat Kara (Hg.): Haymat. Türkisch-deutsche Ansichten, Frankfurt a. M. 2019; Joachim Klose, Ralph Lindner, Manfred Seifert (Hg.): Heimat heute. Reflexionen und Perspektiven, Dresden 2012; Wilhelm Schmid: Heimat finden. Vom Leben in einer ungewissen Welt, Frankfurt a. M. 2021. Nach wie vor anregend ist Jan-Werner Müller: Was ist Populismus. Ein Essay, Berlin 2016; gute Orientierung bietet der Wikipedia-Artikel »Populismus« [https://de.wikipedia.org/wiki/ Populismus, 04. 04. 2022]. Helmut Zander: Abschied von der Nation? Historische Anregungen für die Aufräumarbeiten im Nationalstaat, Münster 2006. Undine Ruge, Daniel Morat (Hg.): Deutschland denken. Beiträge für die reflektierte Republik. Wiesbaden 2005. Aleida Assmann: Die Wiedererfindung der Nation. Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen, München 2020. Hermann Bausinger: Typisch deutsch. Wie deutsch sind die Deutschen? München 2000. Dass dieser Titel kurz nach der Wiedervereinigung erschienen ist, dürfte kein Zufall sein. Vgl. auch Friedrich Dieckmann: Was ist deutsch? Eine Nationalerkundung, Frankfurt a. M. 2003; HansDieter Gelfert: Was ist deutsch? Wie die Deutschen wurden, was sie sind, München 2005. Dieter Borchmeyer: Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst, Berlin 2017. – Ironisch-analytische Wortmeldungen sind Matthias Matussek. Wir Deutschen. Warum uns die anderen gern haben können, Frankfurt a. M. 2007; Nicol Ljubic´: Schluss mit der Deutschenfeindlichkeit, Hamburg 2012. Volker Kronenberg: Patriotismus 2.0. Gemeinwohl und Bürgersinn in der Bundesrepublik Deutschland, München 2010; vgl. auch die ältere Publikation von dems. (Hg.): Patriotismus in Deutschland. Perspektiven einer weltoffenen Nation, Wiesbaden 2006 [2. Aufl.]. Reinhard Mohr: Das Deutschlandgefühl. Eine Heimatkunde, Reinbek b. Hamburg 2005. Jürgen Nowak: Leitkultur und Parallelgesellschaft. Argumente wider einen deutschen Mythos, Frankfurt a. M. 2006. Norbert Lammert (Hg.): Verfassung Patriotismus Leitkultur. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. Hamburg 2006; dazu skeptisch Jürgen Nowak: Leitkultur und Parallelgesellschaft. Argumente wieder einen deutschen Mythos, Frankfurt a. M. 2006.

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uns mit dem Titel »Zur Sache, Deutschland. Was die zerstrittene Republik wieder eint«;19 und ein Dritter ist »Zu Fuß durch ein nervöses Land« unterwegs und »Auf der Suche nach dem, was uns zusammenhält«.20 Ein weiteres kommt hinzu: Auch für unsere Zeit, genauer die letzten drei Jahrzehnte, trifft zu, was im Rückblick auf die Geschichte gesellschaftlicher Orientierungs- und Sinnsuche immer gilt: Es kommt darauf an, wie alt jemand ist (und welchem sozialen Milieu man angehört), wenn sich radikal sozioökonomische Umbrüche, gar Kriege und Katastrophen ereignen. Wir kennen unterdessen eine »Generation Mauer«, »Zonenkinder«, »Nachwende-Kinder«, eine »Wendejugend« und eine »Dritte Generation Ost« – deren Beziehung zu den Älteren sich je anders buchstabiert. – Und das Schweigen nach 1989 in vielen Familien zwischen Großeltern, Eltern, Kindern und Enkeln, erinnert bisweilen an eine vergleichbare Stille im Familiengespräch nach 1945.21

Und damals…? Die Zeit der Trümmerkinder »Sie wollen nach Deutschland zurück? Aber das gibt es doch gar nicht mehr.« [eine Erinnerung von Helmuth Plessner, 1959]

Die Ausführlichkeit der vorangegangenen Bemerkungen rechtfertigt sich nur dadurch, dass die heutigen Fragen nach »kultureller Identität«, »Nation«, »Vaterland«, nach Zugehörigkeit und Heimat alles andere als vollkommen neu sind. Nur die Antworten, die wir finden müssen, sind recht andere. Denn die Wirklichkeit der frühen Nachkriegszeit war selbstverständlich vollkommen anders als unsere spätmoderne »Nachwende«-Zeit.22 Damals trieb es diejenigen »zu Fuß« durch ein zerstörtes Land, die dem Horror der Bombenangriffe, des massen-

19 Jochen Bittner: Zur Sache, Deutschland. Was die zerstrittene Republik wieder eint, Hamburg 2019. 20 Jürgen Wiebecke: Zu Fuß durch ein nervöses Land. Auf der Suche nach dem, was uns zusammenhält, Köln 2016. 21 Ines Geipel: Generation Mauer, Stuttgart 2020; Jana Hensel: Zonenkinder, Reinbek 42004 (zuerst 2002). Dazu Tom Kraushaar (Hg.): Zonenkinder. Geschichte eines Phänomens, Reinbek 2004; Klaus Farin, Eberhard Seidel: Wendejugend, Berlin 1990; Johannes Michelmann. Nachwendekinder. Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen, Berlin 2019; Judith C. Enders, Mandy Schulze, Bianca Ely (Hg.): Wie war das für Euch? Die Dritte Generation Ost im Gespräch mit ihren Eltern, Berlin 2016. 22 Im Titel des Abschnitts steckt Mechtild Borrmann: Trümmerkinder. Roman, München 2018. Genauer gesagt handelt es sich um einen, in der unmittelbaren Nachkriegszeit spielenden Kriminalroman, in dem die Autorin (*1960) Details der eigenen Familiengeschichte verwendet.

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haften Sterbens,23 den Schrecken von Flucht und Vertreibung, dem Wissen um Völkermord und totalitäre Gewalt eben erst entronnen waren oder all dies hilflos erlebt hatten – sei es als Zuschauer, Opfer oder gar Täter. Ein paar Zahlen: Im Sommer 1945 lebten über 75 Millionen Menschen in den vier Besatzungszonen; die Hälfte an Orten fern ihrer eigenen Herkunftsheimat. Zehn Millionen deutsche Soldaten waren in Gefangenschaft geraten, davon kamen bald 750.000 nach Frankreich; dreieinhalb Millionen waren in der Sowjetunion und zum Teil in der SBZ interniert. Neun Millionen Städter lebten auf dem Land und hatten ihre Wohnorte auf der Flucht vor den Bomben verlassen. Zwischen acht und zehn Millionen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene irrten durchs Land, wurden hin und her verlegt – und versuchten ihrerseits mit Hilfe der Alliierten möglichst schnell nach Hause zu kommen. Die Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten zählten etwa 12,5 Millionen. Erzwungene Migration war also ein Massenschicksal nach dem Ende des Krieges und die Suche nach einer neuen Bleibe, gar einer neuen Heimat, ebenso. Einfach war das nicht, denn zahlreiche Ortschaften und Städte waren nicht mehr wieder zu erkennen, denn was die Bomben der alliierten Luftflotten bis Anfang 1945 schon zerstört und beschädigt hatten, litt weiter in den Monaten des sogenannten »Endkampfes« und veränderte sein Gesicht nach dem 8. Mai 1945 noch einmal. Letztlich waren in Kerndeutschland 45 % aller Wohnungen zerstört. Es wurde also eng in Städten und Dörfern – zudem die Masse der aus Mittel- und Osteuropa geflüchteten oder vertriebenen Deutschen die Probleme bei der Bewältigung des Alltags und einer in jeder Hinsicht schlechten Versorgungslage der Gesamtbevölkerung vermehrten. Zu diesen Flüchtlingen gehörten auch Mitglieder aus Bünden und Gruppen der Jugendbewegung bzw. der Staatsjugendgruppierungen in den »deutschen Ostgebieten« oder in den sogenannten »deutschen Sprachinseln« in Regionen Mittel- und Südosteuropas, in denen viele »Auslandsdeutsche« als Minderheit gelebt hatten. Diese Jugendlichen und jungen Erwachsenen erlebten eine mehrfache Entheimatung, geistig, geographisch, familiär und psychisch, die anderen Jugendlichen innerhalb der alten Grenzen erspart geblieben ist. Wer den Krieg überlebt hatte, wollte nun also »nach Haus« zurück; wer geflüchtet oder vertrieben war, suchte neue Heimat woanders. Doch das Deutsch23 Die Zahlen sind erschreckend: Allein im August 1944 verlor die Wehrmacht an Toten 350.000 Soldaten; im Januar – nach dem faktischen Zusammenbruch der Ostfront – starben im verlustreichsten Monat des gesamten Krieges noch einmal 450.000 (die USA verloren im gesamten Krieg 410.000 Mann). Zehntausende wurden verwundet; die Zahlen für Ziviltote kamen hinzu. Von den Opfern der bis zuletzt »arbeitenden« Todesmaschinerie der Lager und KZs einmal abgesehen. Vgl. das Kapitel »Der letzte Akt 1944/45« bei Sönke Neitzel: Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte, Berlin 2020, S. 182– 190.

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land, das man einst zu Krieg und Auslandseinsatz verlassen hatte oder in das man »heimgeholt« worden war, war nun untergegangen und besetzt. Die Notgemeinschaft auf gegenseitige Hilfe im Schützengraben, die Frontkameradschaft, zerbrach in der »Stunde Null«24 schnell, denn die Mehrheit der Soldaten oder der Jugendlichen des »letzten Aufgebots« wollten nach Krieg, »Endkampf« und Gefangenschaft einfach nur zurück in den Heimatort, zur eigenen Familie, ins heimische Milieu, in die alten Vereine – also in diejenigen sozialen Formationen, die sie einst für »Führer, Volk und Vaterland« verlassen hatten oder gezwungenermaßen verlassen mussten. Erst nach Kriegsende erfuhren viele »deutsche Krieger«,25 welche Aufgaben die Heimatfront zu stemmen gehabt und welches Elend der Krieg auch dort angerichtet hatte. Die Feldpostbriefe an die Front war davon ja zumeist, auf Druck der zivilen und militärischen Obrigkeiten, frei geblieben – ähnlich wortkarg waren die Hinweise der Soldaten auf das, dessen sie im Laufe der Kriegsjahre ansichtig geworden waren – und was sie selber getan hatten. Dies Schweigen der Männer hat Erich Kästner bereits 1929 – also etwa zehn Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs – in seiner »Fantasie von übermorgen« vorausgeahnt: »Und als der nächste Krieg begann da sagten die Frauen: Nein und schlossen Bruder, Sohn und Mann fest in der Wohnung ein. Dann zogen sie in jedem Land wohl vor des Hauptmanns Haus und hielten Stöcke in der Hand und holten die Kerls heraus. Sie legten jeden über’s Knie der diesen Krieg befahl: die Herren der Bank und Industrie, den Minister und General. Da brach so mancher Stock entzwei und manches Großmaul schwieg. In allen Ländern gab’s Geschrei, doch nirgends gab es Krieg. 24 Steffi Hohbuß: Mythos »Stunde Null«, in: Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.): Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2007, S. 42f; eine knappe, präzise Zusammenfassung unterschiedlicher Deutungsmuster im Umgang mit der eben erst verstrichenen NS-Vergangenheit bietet, auf dem damaligen Forschungsstand, Eike Wolgast: Vergangenheitsbewältigung in der unmittelbaren Nachkriegszeit, in: Ruperto Carola Nr. 3/1997 [https://www.uni -heidelberg.de/uni/presse/RuCa3_97/wolgast.htm, 04. 04. 2022]. 25 Vgl. Neitzel: Krieger (Anm. 23), zur Nachkriegszeit dort insbes. S. 160–190.

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Die Frauen gingen dann wieder nach Haus zu Bruder und Sohn und Mann und sagten ihnen: der Krieg sei aus. Die Männer starrten zum Fenster hinaus und sahen die Frauen nicht an…«

Die »an der Heimatfront« erzwungene Selbstständigkeit und überlebensnotwendige Kreativität von Kindern und Frauen traf auf Heimkehrer, die meinten, es würde so weiter gehen, wie es bei ihrem Abschied in den Krieg üblich gewesen war. Nicht wenige traumatisierte und gebrochene Männer trafen auf Familien, vor allem aber auf Frauen und Ehefrauen, die sich verändert hatten, selbstbewusster geworden waren und die Erfahrung besaßen, dass der Alltag auch ohne den Mann, den großen Sohn oder Bruder zu bewältigten war. Innerfamiliäre und generationelle Konfliktlagen waren also vorprogrammiert. Tausende »Frontschweine«, wie sie sich selber manchmal nannten, waren nun im doppelten Sinn entheimatet, zumal viele der ehemaligen Kameraden gefallen waren oder in den Wirren des Nachkriegs schnell aus den Augen gerieten. Die Kinder der Väter, die nicht mehr wiedergekommen waren, wuchsen ohne männliches Elternteil auf – was nicht nur die Söhne, sondern auch die Töchter auf besondere Weise betraf. Debattiert wurde lange Zeit jedoch nur die »vaterlose Gesellschaft« – ein von Paul Federn erstmals 1919 verwandter Terminus – und deren Auswirkungen auf die Sozialisation der Söhne.26 Schwer also wog die Tatsache, dass sich die emotionale Gemengelage in den Familien stark verändert hatte. Diese Nachkriegsfamilienund Generationsgeschichten wurden in Enttrümmerung und Wiederaufbau erst einmal einfach durchlebt (und überstanden), nicht jedoch reflektiert oder gar innerfamiliär bearbeitet. Dazu kam es manchmal erst Jahrzehnte später, wobei die Fragen der Kinder und Enkel oft auf das Schweigen der Eltern und Großeltern trafen. – Dies hier zu entfalten oder gar zu analysieren würde zu weit führen, aber derartige Familiengeschichten gehören in den Kontext von Sinnsuche, Krisengefühlen und Generationserfahrungen nach 1945.27 26 Vgl. die weiterhin anregende Studie von Jürgen Reulecke: Vaterlose Söhne in einer »vaterlosen Gesellschaft«, in: Hermann Schulze, Hartmut Radebold, ders.: Söhne ohne Väter. Erfahrungen der Kriegsgeneration. Berlin 2004 (als Ausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2005), S. 144–159. 27 Vgl. die Publikationen einiger Autor_innen, die sich als Historiker_innen, Sozialpsycholog_innen oder Journalist_innen diesen innerfamiliären Nachkriegsgeschichten genähert haben: Hilke Lorenz: Kriegskinder. Das Schicksal einer Generation, München 2003; Sabine Bode: Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen, 13Stuttgart 2014 [zuerst 2004]; dies.: Nachkriegskinder. Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter, 11 Stuttgart 2018 [zuerst 2011]; dies.: Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation, Stuttgart 172015 [zuerst 2009]. Allein die Auflagenzahlen von Bodes Büchern verweisen auf den großen Nachhol- und Gesprächsbedarf von Familienmitgliedern verschiedener Alterskohorten.

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Vieles davon wurde in der Literatur der jungen Bundesrepublik bearbeitet. In weit geringerem Maße war dies jedoch in der SBZ/DDR möglich, die sich – nach den Sprachregelungen der realsozialistischen Gesellschaft – offiziell als das »bessere Deutschland« verstanden und die in dieser Lesart zu den »Siegern der Geschichte« gehörten. Über den Preis der Freiheit vom Nationalsozialismus und die Folgekosten neuer Unterdrückung laut nachzudenken, war Journalisten und Schriftstellern in der »Zone« (wie man im Westen despektierlich sagte) so gut wie nicht möglich.28 Eine andere Schwierigkeit kam in West wie Ost dazu: Wie war eine Sprache zu finden, die das eigentlich Unaussprechliche, Unsagbare, sprachlos Machende mitteil- und nachvollziehbar werden ließ? Eine Sprache zudem, die nicht der »Lingua Tertii Imperii« oder dem »Wörterbuch des Unmenschen« verhaftet blieb? Zur Sinnsuche kam also die basale Übung einer Suche nach verständlichem Ausdruck in einer anderen deutschen Sprache als der vor 1945 dazu. Wusste man doch – mit Victor Klemperer – »Wörter können sein, wie winzige Arsendosen. Sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.«29 Oder mit Dolf Sternberger gesprochen: »Wörter sind nicht unschuldig, können es nicht sein, sondern die Schuld der Sprecher wächst der Sprache selber zu, fleischt sich ihr gleichsam ein.«30 – Diese und andere publizistische Versuche, die deutsche Sprache nach deren propagandistischem Missbrauch durch den NS gewissermaßen neu zu erfinden, war in den Augen damaliger Schriftsteller und Künstler auch deshalb so wichtig, weil diese ihre Muttersprache auch als ihr Vaterland verstanden.31 Und

28 Hier ist nicht der Ort, über die literarischen Produktions- und Distributionsbedingungen in SBZ und DDR zu berichten. Wichtige Hinweise dazu finden sich bereits bei Horst A. Glaser (Hg.): Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995, Bern u. a. 1997; neuere An- und Einsichten bieten Ines Geipel, Joachim Walther: Gesperrte Ablage. Unterdrückte Literaturgeschichte in Ostdeutschland 1945–1989, Düsseldorf 2015. Vgl. dort für unseren Zeitraum das Kapitel »Die Stunde Neuschuld«, S. 38–104. 29 Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen, Stuttgart 2007 [23. Auflage; diese jüngste folgt der 3. Aufl. des Jahres 1957; erschienen ist das Buch erstmals 1947 im Berliner AufbauVerlag], S. 26. 30 Siehe Dolf Sternberger, Gerhard Storz, Wilhelm Emanuel Süskind: Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Neue erweiterte Ausgabe mit Zeugnissen des Streites über die Sprachkritik, Hamburg u. a. 1968, S. 12 [Zitat aus der Vorbemerkung zur Ausgabe des Jahres 1967; erstmals erschienen ist das Buch 1957 in Hamburg, inklusive einer »Vorbemerkung 1945« Sternbergers aus dem Jahre 1945]. – Sternberger und dessen Mitautoren wurden nach 1945 Zeugen der Tatsache, dass die Sprache des NS im Alltagssprachgebrauch zahlreicher ihrer Zeitgenossen das politische Ende des Nationalsozialismus problemlos überlebt hatte. 31 Vgl. die Anthologie: Vaterland, Muttersprache. Deutsche Schriftsteller und ihr Staat seit 1945. Offene Briefe, Reden, Aufsätze, Gedichte, Manifeste, Polemiken. Zusammengestellt von Klaus Wagenbach, Winfried Stephan, Michael Krüger und Susanne Schüssler. Mit einem Vorwort von Peter Rühmkorf, Berlin 2004 [erstmals 1979].

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um »Deutschland und die Deutschen«,32 um das »deutsche Vaterland« ging es den Kultur- und Deutungseliten nach 1945 weiterhin – nicht nur der »jungen Generation«, die ihr Lebensgefühl der Unbehaustheit (in Sprache, Land und Heimatort) kongenial ausgedrückt fand in Wolfgang Borcherts Drama »Draußen vor der Tür«.

Neue Aufgaben: »Schuldfrage« und »Vergangenheitsbewältigung« Die deutschen Soldaten, die an der Front gewesen waren oder zum »letzten Aufgebot« gehörten, hatten im Einsatz wahrhaftig viel Elend gesehen und in anderen Ländern angerichtet, zog sich doch die Spur der Wehrmacht durch ganz Europa, die der SS und der Einsatzgruppen ebenfalls. Davon wussten die, die nach Hause zurückkehrten – wenn Sie nicht selbst in neuen Gefangenen- und »Spezial«-Lagern saßen. Eine Reaktion darauf war das »kommunikative Beschweigen«33 dieser Wirklichkeit, das umso leichter fiel als man mit der Nahrungsbeschaffung, der Enttrümmerung, dem Wiederaufbau und der Rückkehr in einen halbwegs »normalen« Alltag wahrlich alle Hände – auch Kinderhände – voll zu tun hatte. In den ersten Nachkriegsmonaten wurde eine »humanitäre Katastrophe« (wie man das heutzutage nennt) sichtbar, die die deutsche Gesellschaft danach umso mehr zu verdrängen trachtete, aber letztlich doch nicht verdrängen konnte. Die alliierten Truppen hatten während ihres Vormarsches hunderte Zwangsarbeitslager sowie Konzentrationslager und KZ-Außenlager befreit.34 Deren be32 Weltberühmt wurde die gleichnamige Rede von Thomas Mann, die dieser – noch exilierte – Schriftsteller sozusagen als Repräsentant eines anderen (konservativen, bildungsbürgerlichen) Deutschlands am 29. Mai 1945 in der Forschungsbibliothek der Library of Congress in englischer Sprache gehalten hat. Sie erschien auf Deutsch im Oktober 1945 in der Zeitschrift »Die neue Rundschau«. Nun auch nachzulesen in Thomas Mann: Deutschland und die Deutschen, in: ders.: An die gesittete Welt. Politische Schriften und Reden im Exil [Frankfurter Ausgabe. Gesammelte Werke in Einzelbänden, hg. v. Peter de Mendelssohn], Frankfurt a. M. 1986, S. 701–723. 33 Eine Denkfigur Hermann Lübbes; vgl. ders.: Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewusstsein, in: Historische Zeitschrift, 1983, Nr. 236, S. 579–599, hier S. 594; ders.: Vom Parteigenossen zum Bundesbürger. Über beschwiegene und historisierte Vergangenheit, München 2007, S. 32. Siehe dazu die präzise Skizze und Kritik der Idee des »kommunikativen Beschweigens« von Helmut König: Politik und Gedächtnis, Weilerswist 2008, S. 522–531. 34 Dabei gehörte es zur eher spontanen »Entnazifizierungs-« oder »Reeducation«-Praxis der Alliierten, die deutschen Nachbarn und Anwohner befreiter Lager zu zwingen, sich deren grauenhafte Realität anzuschauen. Schnell berühmt wurde die, von der US-Armee befohlene, Besichtigung des KZ Buchenwald durch etwa 1000 Einwohner der »Klassikerstadt« Weimar am 16. April 1945. – Wo Lager in der Nähe deutscher Ortschaften und Städte fehlten, wurden schnell improvisierte Foto-Ausstellungen gezeigt; der US-Dokumentarfilm »Die Todesmühlen« kam bereits im Winter 1945/46 in die deutschen Kinos.

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freite Häftlinge zogen nun zu Zehntausenden durchs Land – waren sie vorher unsichtbar bzw. wurden sie vorher verschwiegen und übersehen, so waren sie nun mehr nicht mehr zu übersehen und zu verschweigen – sie trugen in Kleidung, Körper und Ernährungszustand mit sich, was ihnen zuvor angetan worden war. Die Besatzungsmächte sorgten dafür, dass das »was im deutschen Namen« (wie man später sagte) aber faktisch von Deutschen, den Menschen anderer Nationen angetan worden war, dass diese Gräueltaten nun nicht mehr übersehen werden konnten. Tausende Deutsche mussten aufgelassene Gefangenen- und Arbeitslager besichtigen; die alliierten Medien sandten die Bilder aus KZs und Lagern um die ganze Welt und illustrierten damit, was die besiegten Deutschen als »Schande« betitelten, als »Schuld«35 – von der man zugleich nicht wusste, ob man das überhaupt würde wiedergutmachen können. – Andere, zumeist ehemalige überzeugte Nationalsozialisten und deren Sympathisanten, begannen bereits ab 1946 vom »Schuldkult« zu sprechen und erfanden damit eine Abwehr- und Deckerzählung,36 die in den letzten Jahren im Umfeld der AfD fröhliche Urständ gefeiert hat.37 Doch es gab einen weiteren Weg, der Frage nach »Schuld« oder »Verantwortung« zu entkommen: Vor dem Hintergrund der Niederlage, des alliierten Triumphs über Deutschland und der Trauer um Millionen Tote wirkte sinnstiftend, dass aus den Besiegten an der Front zwar nicht mehr »Helden« in der Heimat werden konnten – wie oftmals nach 1918. Die überlebenden Kriegsteilnehmer 35 Berühmt wurde das 1945 konzipierte, im Folgejahr erstmals veröffentlichte Buch von Karl Jaspers: Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschlands, Heidelberg u. a. 1946 (TB-Neuausgabe München u. a. 1974/1996). Die dort von ihm eingeführte Differenzierung in »kriminelle Schuld«, »politische Schuld«, »moralische Schuld« und »metaphysische Schuld« ging in den öffentlichen Debatten oftmals verloren. Im »Historikerstreit« und der »Goldhagen-Debatte« flammte die Diskussion um das Verhalten »der Deutschen« im Nationalsozialismus und unmittelbar danach wieder auf. Vgl. dazu Julius H. Schoeps (Hg.): Ein Volk von Mördern? Die Dokumentation zur Goldhagen-Kontroverse um die Rolle der Deutschen im Holocaust, Hamburg 1996 (3. Aufl.); Wolfgang Wippermann: Wessen Schuld? Vom Historikerstreit zur Goldhagen-Kontroverse, Berlin 1997. – Die Rede heutiger Rechtskonservativer und Rechtsradikaler vom »Schuldkult« lebt weiterhin von der Verwischung des Unterschieds zwischen »Schuld« und »Verantwortung«. Vgl. in aller Kürze Lenard Suermann: Schuld-Kult, in: Bente Gießelmann, Robin Heun, Benjamin Kerst, ders., Fabian Virchow (Hg.): Handwörterbuch rechtsextremer Kampfbegriffe, Schwalbach/Taunus 2015, S. 269–281. 36 Vgl. Norbert Frei: Von deutscher Erfindungskraft. Oder: Die Kollektivschuldthese in der Nachkriegszeit. In: ders.: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2005, S. 145–155. Die Funktion der individuellen wie kollektiven Schuldabwehr durch die Idee von der Kollektivschuld beschreibt auch der Artikel »Kollektivschuldthese«, in: Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« (Anm. 24), S. 45–49. 37 Vgl. die gute Zusammenstellung zum Begriff der »Kollektivschuld« und dem Umgang mit diesem Deutungsmuster durch Juristen, Forscher des NS, den Zeitgenossen nach 1945 sowie am »rechten Rand« unserer Gesellschaft bei WIKIPEDIA [https://de.wikipedia.org/wiki/Kol lektivschuld, 04. 04. 2022]. Siehe dort auch den Artikel »Schuldkult« [https://de.wikipedia.org /wiki/Schuldkult, 04. 04. 2022].

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wurden nur von Einzelnen und zudem in eher rechts stehenden Milieus weiterhin »Helden« genannt. Wichtiger aber war, dass als sinnstiftendes Moment und exkulpierendes Narrativ die Rede von den Deutschen als »Volk der Opfer« begann die Runde zu machen.38 Dieses Opfernarrativ machte aus Soldaten, aus Tätern und Mitläufern unterschiedslos Opfer, die man dann zu den Toten des Bombenkriegs und der Vertreibungen addieren konnte. Rein rechnerisch betrachtet kam man mit dieser besonderen Form der Mathematik auf Opferzahlen, die die der getöteten KZ-Insassen, Zwangsarbeiter und anderweitig zu Tode gekommener überstieg. Andererseits aber verdrängten Viele, dass sie ganz real wirklich Opfer waren – sei es als Ausgebombte, Vertriebene, Hungernde, Vergewaltigte, Misshandelte und zu Unrecht Eingesperrte. Zwar thematisierte die Nachkriegspublizistik und -Literatur diese faktische Opfererfahrung vieler Deutscher, doch ins kollektive Bewusstsein kam das erst Jahrzehnte später in der Reaktion auf die Novelle von Günther Grass »Im Krebsgang«. Ein weiterer Nachklang so mancher Nachkriegsdebatten war die empörte Reaktion auf Daniel Goldhagens Diktum über die Deutschen als »Tätervolk«.39 Nicht wenige Nachkriegs-Deutsche empfanden als Auftrag der Toten an Lebenden vor allem die Aufgabe, einen neuen deutschen, demokratischen Staat zu errichten oder eine später so genannte »Deutsche Demokratische Republik« als das offiziell »bessere Deutschland«. »Aus eurem Opfertod wächst unsere sozialistische Tat« heißt es auf Weimars Buchenwald-Platz – ein Satz, der aus wirklichen, sinnlosen und gewaltsam zu Tode gebrachten Menschen gewissermaßen die Grundsteine des realsozialistischen Staates macht, also ex post Sinn stiftet für etwas, was sich aus ethisch-moralphilosophischen Gründen jedem denkbaren Sinn doch eigentlich entzieht. Letztlich aber konnte man der »Schuldfrage« (Karl Jaspers) in letzter Konsequenz nicht ausweichen – und gerade Angehörige der jüngeren Generation stellten sich dieser schmerzhaften Frage in besonderer Weise. Wir sind und bleiben vermutlich noch längere Zeit die Erben dieser Frage. – Ein Großteil der jüngsten, der aktuellen deutschen Erinnerungs- und Geschichtspolitik hat sich an der »Schuld« abgearbeitet, wobei es im Laufe von Jahrzehnten gelungen ist, diesen Begriff durch den sinnvolleren und angemessenen der »Verantwortung« zu ersetzen. 38 Vgl. Lothar Kettenacker (Hg.): Ein Volk von Opfern? Die neue Debatte um den Bombenkrieg 1940–1945, Berlin 2003; Ulrike Jureit, Christian Schneider: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart 2010. Siehe auch die einzelnen Artikel zu »Schuldund Unschulddebatten«, in: Fischer, Lorenz: Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« (Anm. 24), S. 44–62.; s. nun auch Samuel Salzborn: Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern, Leipzig 2020. 39 Vgl. Daniel Jonah Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Aus dem Amerikanischen von Klaus Kochmann, München 2000; vgl. dazu Schoeps: Volk (Anm. 35).

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Noch ein letzter Gedanke sei erlaubt im Blick auf die Archiv- und Erinnerungsburg einer sozialen Bewegung, die sich von Anfang an als Kulturbewegung verstanden hat. Beschädigt durch die Untaten im und für den Nationalsozialismus war sofort nach dessen Untergang nicht nur das »Ansehen Deutschlands in der Welt« (wie es hieß), um dass sich sodann Publizisten, Politiker und Intellektuelle sorgten, sondern bleibend beschädigt war eine Imagination, die seit dem 18. Jahrhundert unter Deutschen höchste Dignität genossen hatte: die Idee der »deutschen Kulturnation«. Besaß diese im 18. Jahrhundert noch die Funktion einer ideellen Klammer des föderalen, regionalisierten, in verschiedenen Herrschaftsbereichen geteilten Deutschlands, so fanden im 19. Jahrhundert »Staatsnation« und »Kulturnation« allmählich zusammen – bisweilen auch zum politischen und moralischen Schaden letzterer. Speziell die Beziehung von Literatur und Politik ist immer wieder auch als »deutsches Verhängnis« gedeutet und bezeichnet worden – wie noch 2013 von Günther Rüther – der hinter das Verhängnis allerdings ein Fragezeichen setzte.40 Doch ohne Zweifel ist das nachhaltigste, verstörendste und bislang erschütterndste Dementi der »deutschen Kulturnation« das, was von 1933 bis 1945 geschehen war und sein ganzes Gesicht erst in der »Wolfszeit«41 der Nachkriegsjahre offenbart hatte.42 Damals wie heute meinen manche, dass es eine Aufgabe deutscher Intellektueller sei, nicht einverstanden zu sein, mit dem was herrscht – wie etwa Navid Kermani in seiner »patriotischen Rede« mit dem Titel »Vergesst Deutschland« zum Lessing-Jahr 2012.43 Er erinnerte uns auch daran, dass eine Antwort auf die deutsche Kulturund Politikgeschichte im »Zeitalter der Extreme« sein könnte, statt emphatischer Deutscher ein ebenso emphatischer Weltbürger und Europäer zu sein. Eben dies aber versuchten unmittelbar nach 1945 gerade Angehörige der sogenannten »jungen Generation«, von denen einige noch als Kindersoldaten und Kanonenfutter, also als »letztes Aufgebot« des NS, gedient hatten. Wie dem auch sei: Den Begriff »Europa« unmittelbar nach 1945 mit Leben zu erfüllen, für die Aussöhnung und Annäherung der ehemaligen Kriegsgegner zu streiten und den Opfern des Zivilisationsbruchs nachträglich Entschuldigungen und Entschädigungen zukommen zu lassen, war wesentlicher Teil der sinnsuchenden und sinnfindenden Praxis nach 1945. Das »Nie wieder« war jedoch schneller formuliert als das »Wie weiter« – und diese Frage ist bekanntlich keine von nur Gestern. 40 Günther Rüther: Literatur und Politik. Ein deutsches Verhängnis? Göttingen 2013. 41 Harald Jähner: Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1845–1955, Berlin 2019 [3. Aufl. 2019]. 42 Vgl. auch Peter Süß (Hg.): 1945. Befreiung und Zusammenbruch. Erinnerungen aus sechs Jahrzehnten, München 2005. 43 Navid Kermani: Vergesst Deutschland! Eine patriotische Rede. Zur Eröffnung der Hamburger Lessing-Tage 2012, Berlin 2012 (5. Aufl. 2016).

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Von Vorvorgestern aber stammt das Zitat in der Überschrift meines Beitrags. Das Zitat ist Teil von Nietzsches Idee vom »Tod Gottes« und der Rolle von uns modernen Menschen als dessen Mördern – ein Urteil, das bei Nietzsche ein »Narr« spricht. Doch ist der »Tod Gottes«, der für nach wie vor gläubige Christen ohnehin nicht gilt, nicht das letzte Wort über unsere Kultur und deren Leistungen. Dies zumal, als Nietzsches Diktum selten zu Ende zitiert wird. Denn der Narr fragt zuletzt: »Und was machen wir nun, wir Mörder aller Mörder?«44 Diejenigen, die nach 1945 nach dem Sinn des vergangenen Geschehens fragten, überlegten, ob Gott in Auschwitz war oder nur von oben zuschaute. »Wo ist Gott, wo ist er?« fragte jemand hinter mir… Auf ein Zeichen des Lagerchefs kippten die Stühle um. Die beiden Erwachsenen lebten nicht mehr. Aber der dritte Strick hing nicht leblos, der leichte Knabe lebte noch. Mehr als eine halbe Stunde hing er so und kämpfte vor unseren Augen zwischen Leben und Sterben seinen Todeskampf. Hinter mir hörte ich denselben Mann fragen: »Wo ist Gott?« Und ich hörte eine Stimme in mir antworten: »Wo er ist? Dort hängt er, am Galgen…«45

Andere sinnierten darüber, wie eine gottverlassene Welt weiter existieren könne ohne die Gnade eines allmächtigen Gottes. Und wieder andere übten ein, was es bedeuten könne, als Mensch dem Mitmenschen gnädig zu sein. Ich denke, wir üben immer noch – haben aber den Vorteil, nicht in einer zerrütteten Nachkriegsgesellschaft leben zu müssen. Das letzte, die Jugend, den notwendigen Neubeginn und die eben vergangene Geschichte gleichermaßen verklärende Wort aber gehört dem Dichter Ernst Wiechert, der unmittelbar nach Ende des Krieges seine »Rede an die deutsche Jugend« gehalten hat: »In diesen zwölf Jahren war fast ein ganzes Volk bis auf den Grund seiner Seele verdorben und vergiftet. In diesen zwölf Jahren war aus den Herzen einer ganzen Jugend gerissen worden, was jede Jugend mit dem Schimmer einer neuen Morgenröte umglänzt: das Unbedingte des Strebens nach einer besseren, gerechteren und edleren Welt, die fromme Ehrfurcht vor den Altären der Menschlichkeit, das Ritterliche der Haltung gegen Schwache, Leidende und Besiegte. In diesen zwölf Jahren hatte man einem Volk das Eigenste und Kostbarste genommen, das es zu allen Zeiten besaß: seine Jugend und mit ihr die Gewähr aller Zukunft.«46

44 Vgl. Aphorismus 125 »Der tolle Mensch«, in: Friedrich Nietzsche: Die Fröhliche Wissenschaft, in: ders.: Kritische Studienausgabe [der Werke], hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 3, S. 343–651; Aphorismus 124, S. 480–482. 45 Elie Wiesel: Die Nacht, Freiburg u. a. 1996, S. 93f. [erstmals Paris 1958]. 46 Ernst Wiechert: Rede an die deutsche Jugend 1945, München o. J. [1945]. Kurz darauf veröffentlicht unter dem Titel: Rede an die deutsche Jugend 1945, gehalten am 11. November 1945 im Münchner Schauspielhaus, hrsg. u. mit einem Nachwort von Rudolf SchneiderSchelde.

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Erinnert sei daran, dass Wiechert schon einmal direkt zur Jugend gesprochen hatte, und zwar am 6. Juli 1933 in München, als er über das Thema »Der Dichter und die Jugend« laut nachgedacht hatte.47 Damals meinte er: »Ich weiß, meine Freunde, daß kein Dichter in die Unsterblichkeit seines Volkes eingehen wird, dessen Stimme nicht von der Jugend gehört wird, und dessen Flamme nicht in den Herzen der Jugend brennt. Ich weiß, daß die Besten unter ihnen nicht geworden wären, was sie sind, wenn die Flamme Hölderlins und Nietzsches und Stefan Georges in ihnen erstorben wären.«

Der Dichter selbst hatte 1924 mit seinem, vor »ausgeprägt antichristlichen, blutrünstig-völkischen Gedankengut«48 strotzendem Roman »Der Totenwolf« eine andere Flamme in so manchem Jugendherzen entfacht. Ob es ihm gelungen ist, politisch unterdessen ins christlich-abendländische gewandelt, mit seinem Erlebnisbericht aus dem Konzentrationslager Buchenwald, »Der Totenwald«49 die Flamme eines europäischen, humanistischen, anti-nationalsozialistischen Feuers zu entfachen, wäre im Gespräch mit dieser und über diese (Nachkriegs-) Jugend zu klären.50 Wobei offensichtlich nicht wenige Erwachsene immer wieder von der Jugend den Sinn erwarteten, den sie selber suchten. Dazu reden die meisten oft über die »junge Generation« statt mit ihr.51 – So wird dann aus der Sinnsuche der einen die Sinnstiftung für andere.

47 Ernst Wiechert: Der Dichter und die Jugend, o. O. [München] o. J. [1933]. 48 So die Einschätzung im Wikipedia-Artikel über Wiechert, [https://de.wikipedia.org/wiki/Ern st_Wiechert, 04. 04. 2022]. 49 Ernst Wiechert: Der Totenwald. Ein Bericht, Zürich 1946. 50 Einer der intellektuellen Hausheiligen der katholischen Jugendbewegung, Romano Guardini, hat sich unmittelbar nach 1945 auf seine Art an einem humanistischen Appell an die Jugend versucht. Vgl. ders.: Die Waage des Daseins. Rede zum Gedächtnis von Sophie und Hans Scholl, Christoph Probst, Alexander Schmorell, Willi Graf und Prof. Dr. Huber, gehalten am 4. November 1945, Tübingen u. a. 1946. 51 Auch einige andere Reden über (die Köpfe) der Jugend (hinweg) machen skeptisch. Vgl. etwa Lenin (W. J. Uljanow): An die Jugend. Reden und Aufsätze (Bibliothek des jungen Leninisten, Band 1). Wien: Verlag der Jugendinternationale 1925; Georgi Dimitroff: An die Jugend, Berlin: Verlag Neues Leben 1955; Wilhelm Pieck: An die Jugend. Ausgewählte Reden und Aufsätze. Eingeleitet mit zwei Arbeiten von Erich Honecker, Berlin: Verlag Neues Leben 1980 [2. überarb. u. ergänzte Aufl.]. – Auch der erste deutsche Bundespräsident wandte sich gerne der jungen Generation zu; vgl. Theodor Heuß: Reden an die Jugend, hg. v. Hans Bott, Tübingen 1956.

Fallstudien

Gloria Colombo

Sinnsuche im Spiegel der Gruppenbücher im Archiv der deutschen Jugendbewegung. Literaturzitate zwischen 1945 und 1949

Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich in Deutschland ein Kult der Jugend, der eng verbunden war mit dem Glauben an die Gestaltbarkeit der Zukunft durch Gruppenaktionen. Ein ähnlicher Kult hatte sich bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entfaltet.1 Die zugrundeliegende Idee von Gemeinschaft war aber eine andere: In der Nachkriegszeit bildeten (bzw. reorganisierten) sich die Jugendorganisationen nicht mehr in Abgrenzung zur zeitgenössischen Gesellschaft, sondern als konstruktiver Bestandteil von ihr, in der Absicht, ihren Beitrag zur Wiedergeburt des Landes zu leisten.2 Dieser Vorsatz findet besonders deutlichen Ausdruck in einer Nummer des Blattes »Jungenleben. Zeitschrift des Bundes Deutscher Pfadfinder« aus dem Jahr 1954: »Wer nicht bereit ist, sich in jungen Jahren in eine Gemeinschaft einzubauen, sich ihren Beschlüssen in aller Freiheit zu beugen, ist unfähig, innerhalb des Bundes am Aufbau unseres Deutschlands mitzuarbeiten«.3 1 Die Gemeinschaftsidee, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte, wird in einem 1929 verfassten Brief der österreichischen Gildenschaft klar dargestellt: »Das tiefste Erlebnis der Jugendbewegung ist ohne Zweifel das der Gemeinschaft. Das Leben vom Ich zum Du und das Erfülltsein, ja das Trunkensein im Wir. Wir: Jugend. Wir: Volk«; vgl. Hans-Ulrich Thamer: Bünde und Kreise. Jugendbewegte Gemeinschaftsformen von der Weimarer Republik bis in die frühe Bundesrepublik, in: Wolfgang Braungart (Hg.): Stefan George und die Jugendbewegung, Stuttgart 2018, S. 57–68, hier S. 58; vgl. auch ebd., S. 62. 2 »Wir bejahen die technisch-industrielle Zivilisation, aber wir wollen uns in ihr einen Raum personaler Freiheit bewahren und nicht dem anonymen Kollektiv hörig werden«, vgl. Georgspfadfinder in Deutschland, Düsseldorf, Oktober 1959, S. 34; zit. n. Karl Seidelmann: Die Pfadfinder in der deutschen Jugendgeschichte, Hannover u. a. 1977, 3 Bde., Bd. 1, S. 125. Die Gemeinschaftsidee, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts verbreitet hatte, war hingegen einer Ideologie entsprungen, die der Mentalität des kapitalistischen wilhelminischen Zeitalters entgegen stand. In dieser Hinsicht war sie Indikator einer ersten, tiefen Krise der Moderne; vgl. Thamer: Bünde (Anm. 1), S. 57. 3 Jungenleben 1954: Bericht über das Bundeslager 1954, zit. n. Axel Hübner, Rolf Klatta, Herbert Swoboda: Straßen sind wie Flüsse zu überqueren. Ein Lesebuch zur Geschichte des Bundes Deutscher Pfadfinder (BDP), Frankfurt a. M. 1981, S. 80. Das Pfadfinderversprechen lautete: »Ich verspreche auf meine Ehre, Gott und meinem Vaterland zu dienen«; vgl. Eckart Conze: »Pädagogisierung« als Liberalisierung. Der Bund Deutscher Pfadfinder (BDP) im gesell-

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Die erwähnte Pfadfinderbewegung stellt – zusammen mit dem wiedergegründeten Wandervogel und der bündischen Freischar – eine der Hauptrichtungen bündischer Jugend dar, die in den frühen Nachkriegsjahren in Deutschland tätig waren.4 Das deutsche Pfadfindertum konnte sich nach dem Krieg relativ einfach wieder durchsetzen, denn es verfügte über den Vorteil, besser als die anderen Jugendorganisationen mit der Lizenzierungspolitik der Besatzungsmächte zu harmonieren: Amerika, Großbritannien und Frankreich kannten die Pfadfinderbewegung bereits von zu Hause. Die erste Ausgabe des Pfadfinder-Informations- und Diskussionsforums »Briefe an die Führerschaft« berichtet, dass sich die deutschen Bünde »einer Synthese aus der Pfadfinder-Erziehung nach dem Gedankengut seines Gründers – Lord Robert Baden-Powell of Gilwell – und den […] Erfahrungen der deutschen Jugendbewegung«5 bedienten. Diese Feststellung ist umso bedeutungsvoller, wenn man bedenkt, dass die führenden Gestalten der deutschen Pfadfinderbewegung teilweise aus dem Wandervogel und aus der Deutschen Freischar kamen.6 Aus der Untersuchung des deutschen Pfadfindertums in den frühen Nachkriegsjahren lässt sich also sowohl das enge Verhältnis der deutschen Jugend zu internationalen Jugendorganisationen, als auch ein erheblicher Teil des Erbes der deutschen Jugendbewegung auflichten.7

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schaftlichen Wandel der Nachkriegszeit (1945–1970), in: Eckart Conze, Matthias D. Witte (Hg.): Pfadfinden. Eine globale Erziehungs- und Bildungsidee aus interdisziplinärer Sicht, Heidelberg 2012, S. 67–81, hier S. 72. Vgl. Hans-Ulrich Thamer: »Tradition und Erbe«. Wiederbegründungen und Verwandlungen jugendbündischer Denk- und Lebensformen in der westdeutschen Trümmergesellschaft, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, Themenschwerpunkt: Die Wiederbelebung jugendbündischer Kulturen in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, NF 1/2004, Nr. 1, S. 14–32, hier S. 24; Arno Klönne: »Restgeschichte« und »neue Romantik«. Ein Gespräch über Bündische Jugend in der Nachkriegszeit, in: FranzWerner Kersting (Hg.): Jugend vor einer Welt von Trümmern. Erfahrungen und Verhältnisse der Jugend zwischen Hitler- und Nachkriegsdeutschland, München 1998, S. 87–106, hier S. 92f. Kajus Roller: Ein Schritt weiter, in: Briefe an die Führerschaft, Dez. 1955, Nr. 1, S. 1–3, hier S. 2. Die »Briefe an die Führerschaft« waren ein in den 1950er und 1960er Jahren aktives Informationsund Diskussionsforum für die Gruppenführer, dessen Protokolle ungefähr zweimonatlich erschienen. In der Urkunde des Bundes Deutscher Pfadfinder, beschlossen 1952 auf Burg Ludwigstein, heißt es: »Der Bund formt nach Grundsätzen der Weltpfadfinderbewegung und den Erkenntnissen aus dem Geiste der deutschen Jugendbewegung deutsches Pfadfindertum und gibt damit seinen Beitrag zu der Bruderschaft aller Pfadfinder«; Johann Moyzes: Die Wiederbelebung der Pfadfinderbewegung nach 1945 im Rahmen des Bundes Deutscher Pfadfinder (BDP). Eine Auswertung zeitgenössischer Quellen, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung NF 1/2004, S. 115–144, hier S. 141. Vgl. Molly Böhmer: Entstehung und Wesen des Bundes, in: Jungenleben, 1954, Nr. 5, S. 39–40, hier S. 40. Die Sekundärliteratur über die Pfadfinderbewegung ist alles andere als umfangreich – wie Eckart Conze und Matthias D. Witte bereits klargestellt haben (Eckart Conze, Matthias D. Witte: Pfadfinden. Interdisziplinäre Betrachtungen eines Erziehungs- und Bildungskonzepts, in: Conze,

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Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Suche nach Sinn und Idealen der deutschen Jugend in der unmittelbaren Nachkriegszeit und analysiert dafür die im Archiv der deutschen Jugendbewegung verwahrten Pfadfinder-Gruppenbücher mit besonderem Augenmerk auf die darin enthaltenen literarischen Zitate. Die Literatur stellte für die deutschen Pfadfinder ein bekräftigendes Ausdrucksmittel ihrer Vorstellungen dar: Durch die Stimme der Dichter gewannen ihre Gedanken an Ansehen und durch den Rhythmus der Verse waren sie leichter zu merken; außerdem kam die Kürze der Lieder und Gedichte den Erwartungen der meisten Pfadfinder entgegen, denn »die Jungen mögen auch nie gerne lange Vorträge hören«8 – so ein Gruppenleiter der Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg im Jahr 1948. Die Literatur wurde aber vor allem als Rettungsanker angesehen, denn sie wirkte als Sinnhorizont und Bezugspunkt zu einer Zeit, als es für Ideale kaum Platz zu geben schien.

Die deutsche Pfadfinderbewegung zwischen 1945 und 1949 Der erste Nachkriegspfadfinderstamm wurde im Spätherbst 1945 in Bayern gegründet. Von dort ausgehend entstanden dann Pfadfinderstämme in allen westlichen Besatzungszonen.9 Aus dem Zusammenschluss unterschiedlicher Verbände ergab sich am 9. Mai 1949 in Bad Homburg der Bund Deutscher Pfadfinder (BDP). 1952 setzte dieser auf Burg Ludwigstein seine Bundesverfas-

Witte: Pfadfinden (Anm. 3), S. 11–22, hier S. 12. Karl Seidelmanns Studie »Die Pfadfinder in der deutschen Jugendgeschichte« steht immer noch eher isoliert da (vgl. Anm. 2). Der 100. Jahrestag der Gründung der deutschen Pfadfinder hat ohne Zweifel zu einer Intensivierung der Studien zum Thema geführt: 2009 widmete das Archiv der deutschen Jugendbewegung der Geschichte der Pfadfinderbewegung eine Tagung und einen Jahrbuchband; Jürgen Reulecke, Hannes Moyzes (Hg.): Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung. Themenschwerpunkt: Hundert Jahre Pfadfinden in Deutschland, 2009, NF 6. Im März 2010 veranstalteten Eckart Conze und Matthias D. Witte die Tagung »100 Jahre Pfadfinderpädagogik: Geschichte – Gegenwart – Zukunft«, aus der 2012 der Band »Pfadfinden. Eine globale Erziehungs- und Bildungsidee aus interdisziplinärer Sicht« (vgl. Anm. 3) entstand. Dennoch stellen diese Werke – zusammen mit Hans E. Gerrs »Einführung in die Pfadfinderpädagogik« (Hans E. Gerr: Einführung in die Pfadfinderpädagogik. Ein Handbuch für Leiterinnen und Leiter, München 2009) – fast eine Ausnahme in der Sekundärliteratur über die Geschichte und Pädagogik der Pfadfinder dar, denn die meisten Studien beschränken sich auf einzelne Gruppen, Bünde und Verbände (vgl. Conze, Witte: Pfadfinden (Anm. 3), S. 13). 8 AdJb, A 233 Nr. 801: Der neue Pfad: Akela spricht zu den Leitwölfen und Wölflingen, zusammengestellt von Kurt Garke, 1948, S. 68. 9 Vgl. Christina Hunger: Interkonfessionelle Pfadfindergruppen in der Besatzungszeit – die amerikanische Zone und Berlin, in: Jugendforschung (Anm. 4), S. 145–170, hier S. 148, 150, 154.

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sung auf.10 Der interkonfessionelle Bund Deutscher Pfadfinder stand für den säkularisierten, bürgerlich-liberalen Ursprung der Pfadfinderbewegung: Seine Moral war zwar mit den christlichen Idealen verknüpft, der Bund mochte jedoch nicht als deren Exponent gelten. Im Oktober 1949 verband sich der Bund Deutscher Pfadfinder mit den anderen zwei Säulen des deutschen Pfadfindertums, d. h. mit der katholischen Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg (DPSG) und mit der protestantischen Christlichen Pfadfinderschaft Deutschlands (CPD), denen das religiöse Glaubensfundament als primärer Bestandteil der Gruppenkonstitution galt. Daraus entstand der Ring Deutscher Pfadfinderbünde. In diesem Kontext ist die Deutsche Pfadfinderschaft St. Georg besonders betrachtenswert, denn hier entstanden die meisten Gruppenbücher, die zwischen 1945 und 1949 in Deutschland verfasst wurden. Das erklärt sich dadurch, dass sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit der größte Pfadfinderverband Deutschlands war, nicht zuletzt, weil sie sich ausdrücklich in der Tradition Baden-Powells sah.11 Die Deutsche Pfadfinderschaft St. Georg wurde am 7. Oktober 1929 in Altenburg als katholischer Verband für Jungen gegründet. Erst in den 1970er Jahren wurden auch Mädchen offiziell aufgenommen.12 Der Blickwinkel der Pfadfinderinnen muss an dieser Stelle also leider unberücksichtigt bleiben. Im Februar 1938 wurde die Deutsche Pfadfinderschaft St. Georg zugunsten der staatlichen Jugendorganisationen verboten, erst 1946 konnte sie ihre Arbeit wieder aufnehmen.13 Das Haus Altenburg blieb ihr Mittelpunkt. Der Bund wuchs 1947/48 auf über 20.000 Pfadfinder an, bis 1959 auf 66.000.14 Tragende Säulen seines Denkens blieben Gott, Vaterlandsliebe und Natur15 – wie die Gruppenbücher der Zeit mit ihren zahlreichen literarischen Zitaten ausführlich belegen. 10 Die Bundesverfassung wurde u. a. mit der Absicht abgefasst, sich etwas stärker an die internationale Boy-Scout-Bewegung anzulehnen, als es die Bünde vor 1933 getan hatten. Zu diesem Zweck nahm der Bund Deutscher Pfadfinder an der Internationalen Pfadfinderkonferenz vom 21. August 1950 teil; Seidelmann: Pfadfinder (Anm. 2), S. 100. 11 Vgl. Der neue Pfad, zusammengestellt von Kurt Garke, 1945 (AdJb, A 233 Nr. 802), o. S.; Der neue Pfad. Aufzeichnungen in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Lazarett: Karlsruhe, 1945–1946 (AdJb, A 233 Nr. 906), o. S. 12 Vgl. DPSG (Hg.): Ordnung, Satzung, Geschichte des Verbandes, Neuss-Holzheim 152001 [1987], S. 104f. 13 Der Bund nannte sich zuerst »Gemeinschaft Sankt Georg« und ab Mai 1948 wieder »Deutsche Pfadfinderschaft Sankt Georg«. Schutzpatron der Gemeinschaft blieb – wie schon der Name sagt – der christliche Märtyrer St. Georg. 14 1949 wurde die innere Struktur der Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg umgebaut und dreiteilig gegliedert. Vorher gab es Wölflinge (10 bis 14 Jahre) und Pfadfinder (14 bis 18 Jahre), ab 1949 Wölflinge (8 bis 11 Jahre), Jungpfadfinder (12 bis 14 Jahre) und Pfadfinder (14 bis 17 Jahre). Vgl. Der neue Pfad 1948 (Anm. 8), S. 45. 15 »[…] Wir sind treu Gott, der Kirche und dem Vaterlande. Wir sind hilfsbereit. Wir sind Freund aller Menschen und Bruder aller Pfadfinder. Wir sind höflich und ritterlich. Wir leben naturverbunden. Wir sind sparsam und einfach. Wir sind rein in Gedanken, Worten und

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Die Pfadfinder-Gruppenbücher In den frühen Nachkriegsjahren wurden Literaturzitate fast ausschließlich in Tagebüchern angeführt, d. h. in Schreibheften, die die Gruppenereignisse aus der Perspektive eines Gruppenführers oder eines Gruppenmitglieds wiedergaben.16 Persönliche Einsichten oder Überlegungen waren dennoch eine Rarität, denn die Tagebücher enthielten nur chronikartige, für die gesamte Gruppe verfasste Ereignisberichte. Es handelte sich sowohl um deutsche Gedichte, Erzählungen und Dramen, die die Jungen aus eigener Initiative abschrieben, als auch um die Transkription deutscher Literaturtexte, die die Gruppenleiter*innen bei Abenden im Nest, Fahrten in die Natur, Sonnwendfeiern oder Fahnenweihen zur Unterhaltung, aber vor allem zur Erziehung und Ermutigung der Jungen vorlasen.17 Werke fremdsprachiger Autoren waren damals in den Gruppenbüchern kaum zu finden. Das Archiv der deutschen Jugendbewegung bewahrt mehrere Tagebücher auf, die zwischen 1945 und 1949 verfasst wurden. Besonders reich an literarischen Zitaten sind drei Nummern des Tagebuchs »Der neue Pfad« der Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg. Es handelt sich um ein Heft, das 1945–1946 in einem Lazarett in Karlsruhe handgeschrieben wurde, und um zwei Hefte, die Kurt Garke 1945 und 1948 im hessischen Hainbachtal auf der Maschine schrieb.18 Dass alle drei Tagebücher aus der amerikanischen Besatzungszone stammen, ist kein

Werken«; Ralf Zöller: Deutsche Pfadfinderschaft St. Georg im Bistum Aachen. Gestern, Heute, Morgen. Geschichte 1929–1987, o. O. 1988 (AdJb, A 233 Nr. 924), S. 8; vgl. auch Der neue Pfad 1945–1946 (Anm. 11), o. S. 16 Die zwischen 1945 und 1949 verfassten Pfadfinder-Gruppenbücher, die im Archiv der deutschen Jugendbewegung vorhanden sind, lassen sich in zwei Haupttypen unterteilen, und zwar in Tage- und Fahrtenbücher. Letztere sind Schreibhefte, die Berichte über Gruppenunternehmungen – meistens kleinere Fahrten in die Umgebung – enthalten. Zu den Gruppenbüchern gehören auch Fotoalben, handgeschriebene Liederbücher und die sogenannten Nestbücher, d. h. Schreibhefte, die Beschreibungen der regelmäßigen Treffen der Gruppe, der sogenannten Nestabende, aber auch Dankschreiben und Grußworte von Gästen enthalten; vgl. Susanne Rappe-Weber: Freundschaft und Exklusion. Zur Bedeutung des gemeinsamen Lebens im Spiegel der »Gruppenbücher« von »Wandervogel« und Bündischer Jugend, in: Braungart: Jugendbewegung (Anm. 1), Stuttgart 2018, S. 111–123, hier S. 112ff. 17 Susanne Rappe-Weber hat ausführlich dargelegt, dass die Jugendgruppen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Literatur und Leseerfahrungen in unterschiedlicher Weise nutzten. Manchmal war es der Lehrer, der bei Abenden im Nest oder bestimmten Feiern den Jungen Geschichten vorlas. In anderen Fällen wurde eine eigenständige Auseinandersetzung mit literarischen Texten gefördert. In wieder anderen Fällen wurde die Literatur individuell rezipiert, um dann gegebenenfalls in Gruppengesprächen thematisiert zu werden; RappeWeber: Freundschaft (Anm. 16), S. 114, 119, 122f. 18 Vgl. Der neue Pfad 1948 (Anm. 8), 91.

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Zufall.19 Die Amerikaner waren mit der Vorgeschichte der deutschen Pfadfindergruppen weniger vertraut als die anderen Besatzungsmächte (oder wenigstens taten sie so, als wären sie damit weniger vertraut, denn sie betrachteten die Gründung deutscher Pfadfindergruppen bereits ab 1945 als Teil ihrer Reeducation-Maßnahmen20): Den Briten und Franzosen war sehr gut bekannt, dass viele Pfadfindergruppen nach 1933 in der Hitlerjugend aufgegangen waren und dass viele Pfadfinderleiter Führungsfunktionen in der Hitlerjugend übernommen hatten. In der sowjetischen Besatzungszone wurde das Pfadfindertum sogar »als verfaultes Gedankengut mit westlicher Zweckorientierung und als Wiederauflage der Hitlerjugend«21 strikt abgelehnt. Das Tagebuch »Der neue Pfad« 1945–1946 wurde sogar in amerikanischer Kriegsgefangenschaft verfasst.22 In einer ähnlichen Situation entstand die »Sippenchronik der Falken«, das Heft einer Sippe der Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg, die sich im Kriegsgefangenenlager in Fort Devens (USA) zusammengefunden hatte. In der Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg entstand auch das Reisetagebuch »Unser Pfad«, das 1948 in Nordenham (Niedersachsen), also in der britischamerikanischen Besatzungszone, handgeschrieben wurde. Wie »Der neue Pfad« verweist auch dieser Titel auf den rechten Weg für das Leben, den die Jungen einschlagen sollten, um sich über den Schmutz und Staub des Alltags zu erheben und die Höhen der Berge Gottes zu erreichen.23 Zu erwähnen sind schließlich einige vollständige Dramen, die kurz nach Kriegsende verfasst bzw. abgeschrieben wurden, wie beispielsweise das anonyme »Heimatliche Krippenspiel« 19 Nach 1945 konnte die Pfadfinderbewegung vorerst nur zonenweise geführt werden, da eine Gesamtorganisation von den Besatzungsbehörden noch verboten wurde. Nur in der amerikanischen Zone durfte sich der Bund sehr bald »Christliche Pfadfinderschaft« nennen, in der britischen und in der französischen Zone waren die Worte »Pfadfinder, Führer, Pfadfinderschaft« zunächst verboten; Seidelmann: Pfadfinder (Anm. 2), S. 117f. 20 Conze: »Pädagogisierung« (Anm. 3), S. 69; Seidelmann: Pfadfinder (Anm. 2), S. 98. »Höchstwahrscheinlich dachte man nur an eine Boy-Scout-Organisation nach dem BadenPowell-Muster«, so Christina Hunger; Hunger: Pfadfindergruppen (Anm. 9), S. 148. 21 Seidelmann: Pfadfinder (Anm. 2), S. 98. Die Nachkriegsbünde waren tatsächlich teilweise ein Erbe der HJ-Kultur; Karl-Heinz Füssl: Die Umerziehung der Deutschen. Jugend und Schule unter den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs 1945–1955, Paderborn 1994, S. 85; Thamer: »Tradition« (Anm. 4), S. 14–32, hier S. 18. Die konfessionellen Bünde waren unter diesem Aspekt weniger benachteiligt; vgl. Thomas Großbölting: Wiederbelebung – Formveränderung – Tradierungsbruch: bündisch-konfessionelle Jugendkulturen nach 1945, in: Historische Jugendforschung (Anm. 4), S. 65–79, hier S. 65, 69; Hunger: Pfadfindergruppen (Anm. 9), S. 145f. 22 Schon bald nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges kam es in alliierten Kriegsgefangenenlagern zum Wiederaufbau der Pfadfinderschaft. Will von der Way etwa, seit Mai 1945 Chef der innerdeutschen Leitung des Kriegsgefangenenlagers 1101 bei Saint-Malo, baute für die jugendlichen Gefangenen des Lagers eine Schule und einen Pfadfinderstamm auf; Zöller: Pfadfinderschaft (Anm. 15), S. 4. 23 Vgl. Unser Pfad. Deutsche Pfadfinderschaft St. Georg im Bund der Deutschen Katholischen Jugend. Stamm Nordenham, 1948 (AdJb, A 233 Nr. 788), o. S.

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in drei Aufzügen (1945) oder Willi Krauses »Tarcisius – Ein religiöses Spiel in 4 Aufzügen«. Letzteres findet sich in den Unterlagen eines Stamms der Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg in Hamm in Nordrhein-Westfalen, damals in der britischen Besatzungszone. Unklar bleibt hingegen, welcher Pfadfindergesellschaft das »Krippenspiel« gehörte. Sicher ist nur, dass es in einem religiösen Umfeld entstand, da es die Figur Christi mit Nachdruck lobpreist.

Internationaler Ansatz des deutschen Pfadfindertums Jedes der oben zitierten Tagebücher beginnt mit der Klarstellung des internationalen Ansatzes der deutschen Pfadfinderbewegung. »Der neue Pfad« 1945 eröffnet beispielsweise mit der Wiedergabe einer Behauptung Baden-Powells, nach der die Pfadfinderbewegung ein völkerübergreifendes Wohlwollen fördere und somit einen Schritt zum dauerhaften Frieden darstelle.24 Die Bedeutung des Friedens unter den Völkern wird auch im »Neuen Pfad« 1948 unterstrichen, und zwar durch das Zitat eines Söldnerliedes von Walter Gättke, einem der bekanntesten Liedermacher der deutschen Jugendbewegung. In Gättkes Lied warnt eine Gruppe alter Söldner die Jungen vor dem Krieg: Wir alten Söldner sind müde und matt und haben schon lange das Kriegspielen satt. […] Jungvolk, gib acht! Jungvolk, gib acht! Daß man dich nicht zu Landsknechten macht.25

Der »Neue Pfad« 1945–1946 hebt die Friedensthematik noch stärker hervor: Die Pfadfinder, die sich in amerikanischer Kriegsgefangenschaft befanden, waren auf das demokratische Bildungsprogramm der verbündeten Mächte noch enger angewiesen.26 Der Tagebuchverfasser schreibt, Missgunst und Feindseligkeiten könnten nur durch »gegenseitige Achtung der Nationen untereinander«27 verhindert werden, und die Entwicklung »einer besseren, gerechten und edleren Welt«28 benötige die Arbeit der gesamten Pfadfinderbewegung.29

24 Der neue Pfad 1945 (Anm. 11), o. S. 25 Der neue Pfad 1948 (Anm. 8), S. 3. Nennenswert sind auch einige Verse von Ferdinand Freiligraths Gedicht »Der Kampf« (»Lern du zu dieser Frist, / Dass Wunden heilen besser / Als Wunden schlagen ist!«, ebd., S. 169) und von Konrad Ferdinand Meyers Gedicht »Friede auf Erde« (»Und ein königlich Geschlecht / Wird erblühn mit starken Söhnen, / Dessen helle Tuben dröhnen: / Friede, Friede auf der Erde!«, ebd., S. 162f.). 26 Vgl. Moyzes: Wiederbelebung (Anm. 5), S. 119. 27 Der neue Pfad 1945–1946 (Anm. 11), o. S. 28 Ebd., o. S.

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Streben nach einer neuen Welt Die Idee »einer besseren, gerechten und edleren Welt« kommt in den Gruppenbüchern immer wieder vor. Emblematisch ist in dieser Hinsicht das Werk des Universaldichters Johann Wolfgang Goethe, dessen Vers »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut« (aus dem Gedicht »Das Göttliche«) im Tagebuch »Der neue Pfad« 1945–1946 als Leitsatz der Weltpfadfinderbewegung bezeichnet wird.30 Im selben Heft werden auch einige Verse aus Goethes Drama »Des Epimenides Erwachen« (1815) zitiert, offenkundig in der Absicht, die Jungen zu trösten, die nach den Schrecken des Krieges die Schwierigkeiten der Kriegsgefangenschaft erleben mussten: Komm, wir wollen Dir versprechen Rettung aus dem tiefsten Schmerz Säulen, Pfeiler kann man brechen, Aber nicht ein freies Herz.31

Goethe taucht auch im Tagebuch »Der neue Pfad« 1945 mehrmals auf. Besonders relevant ist die Wiedergabe einer Stelle aus dem autobiographischen Bericht »Kampagne in Frankreich«. Der Dichter erzählt, er habe nach der Kanonade von Valmy (1792) im Kreis einiger Offiziere den Ausspruch getan: »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabeigewesen«.32 Im Tagebuch »Der neue Pfad« 1948 wird Goethes Name sogar zitiert, um die Äußerungen anderer hervorzuheben. Ihm wird beispielsweise eine Stelle aus der »Rede über Friedrich den Großen« des Schweizer Staatsmannes und Geschichtsschreibers Johannes von Müller zugeschrieben (Goethe hatte die von

29 In diesem Fall bezieht sich der Tagebuchverfasser nicht nur auf Baden-Powell, sondern auch auf John Gordon Hargrave – den sogenannten »Weißen Fuchs« (White Fox), der in den 1910er Jahren als möglicher Nachfolger Baden-Powells an der Spitze der britischen Pfadfinder betrachtet wurde (ebd., o. S.). 30 »›Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!‹ Ein einfacher Satz –, aber eine große Forderung, wenn sie als Leitsatz einer Weltjugendbewegung vorangestellt wird« (ebd., o. S.). 31 Ebd., o. S. 32 Der neue Pfad 1945 (Anm. 11), S. 13; vgl. Karl Otto Conrady: Goethe. Leben und Werk, Zürich 1994, S. 565. Im »Neuen Pfad« 1945 werden auch vier Verse aus den »Zahmen Xenien« 5 zitiert, die das Johannisfeuer und damit die Sonnenwende – einen der bedeutendsten Festtage der Pfadfinder – preisen: »Johannisfeuer sei unverwehrt, / Die Freude nie verloren! / Besen werden immer stumpf gekehrt, / und Jungens immer geboren«; Der neue Pfad 1945 (Anm. 11), S. 111.

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Müller am 29. Januar 1807 in Berlin gehaltene Rede lediglich aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt33): Niemals darf ein Mensch, ein Volk wähnen das Ende sei gekommen, Güterverlust läßt sich ersetzen; über andern Verlust tröstet die Zeit; nur ein Übel ist unheilbar: wenn ein Volk sich selbst aufgibt.34

Diese Zeilen – hier willkürlich in Versform wiedergegeben und durch den Titel »Der Glaube an das Volk« eingeführt35 – sind auf der ersten Tagebuchseite zu lesen. Ihnen folgen einige Verse aus Friedrich Schillers Drama »Die Jungfrau von Orleans« (1801) – auch diese mit dem Ziel, das Vertrauen der Jungen in die Zukunft zu fördern: Es liebt die Welt, das Strahlende zu schwärzen und das Erhabene in den Staub zu ziehn. Doch fürchte nichts; es gibt noch edle Herzen, die für das Hohe, Herrliche erglühn.36

Kein Volk darf wähnen, das Ende sei gekommen, solange ihm Menschen angehören, die für das Herrliche erglühen. Dass Schillers »edle Herzen« im Rahmen des Tagebuchs als junge Herzen zu verstehen sind, wird durch die Wiedergabe von Walter Dehmels Gedicht »An die Jungen« auf dem Vorsatzblatt des Heftes klargestellt: […] Ihr Jungen sollt der Welt den Frieden bringen, Ihr seid die Bannerträger einer neuen Zeit. Das Werk, das wir erstrebt, soll euch gelingen: Der wahre Völkerbund im Geist der Menschlichkeit!37

Der von Dehmel lobgepriesene Geist der Menschlichkeit stand im Gegensatz zu allen »engherzige[n] nationalpatriotische[n] Bindungen«,38 – so der Tagebuchverfasser – aber nicht zur Vaterlandsliebe.

33 Vgl. Johannes von Müllers Rede über Friedrich den Großen am 29. Januar 1807. Deutsch von Johann Wolfgang Goethe, in: Goethes Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand, Stuttgart u. a. 1827–1842, 60 Bde., Bd. 49 (1833), S. 187–203, hier S. 203. 34 Der neue Pfad 1948 (Anm. 8), S. 1a. 35 Der Originaltitel der Rede lautet »De la gloire de Frédéric«. 36 Der neue Pfad 1948 (Anm. 8), S. 1a. 37 Ebd., o. S. Als Bestätigung dessen wirkt auch das Zitat einiger Verse des deutschen Dichters Gustav Schüler, in denen die Jungen aufgefordert werden, »mit heilger Leidenschaft / Am neuen Menschheitsleben« (ebd., S. 170) zu arbeiten. 38 Ebd., S. 152.

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Die Vaterlandsliebe Damit Deutschland wieder blühen und zur Wiederherstellung der Weltharmonie beitragen konnte, war es nötig, die Vaterlandsliebe in die Tat umzusetzen. Diese Überzeugung wird in den Gruppenbüchern, die in den Kriegsgefangenenlagern verfasst wurden, besonders deutlich klargestellt. Der anonyme Verfasser der »Sippenchronik der Falken« appelliert demzufolge: Deutscher Junge! Du stehst am Rande einer neuen Zeit. Du bist die Hoffnung deines Volkes. Als Garant der Zukunft stehst Du da. Sei Dir Deiner Aufgabe bewusst. Allzeit bereit sei Deine Losung. Du darfst den Kampf nicht scheuen. Als Vorbild musst Du leuchtend schreiten hinweg über Lüge und Hass vergangener Zeit. Das Lilienbanner hast Du übernommen von denen, die vor Dir waren. Halte es stolz und siegesbewusst in Deiner reinen Hand. Lass Dir das Ideal nicht rauben. Mit Wahrheit, Liebe und Gerechtigkeit führst Du Dein Volk zu neuem Leben.39

Die deutschen Jungen standen also vor der Aufgabe, ihr Volk von den Lügen und vom Hass der vergangenen Jahre zu befreien und es zu neuem Leben zu führen.40 Letztendlich konnten sie auf ein altes und glorreiches Kulturerbe zählen – wie die Akela, die Gruppenleiterin der Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg aus der Nähe von Eichberg, eingehend erklärt.41 Mit einer allgemeinen Anspielung auf Wilhelm Raabe – dessen Tagebücher, Erzählungen und Romane mehrere realistische Reiseeindrücke vom Harz enthalten42 – bietet die Akela den Wölflingen eine eingehende Darstellung der drei bekanntesten deutschen Berggipfel, d. h. des Brockens, der Wartburg und des Kyffhäusers. Die Jungen sollen »aus der dumpfen Luft, aus den schweren Nebeln, welche über der Gegenwart hängen«43 zu diesen aufblicken. Mit den drei ge39 Sippenchronik der Falken (AdJb, A 233 Nr. 905), o. S. 40 Der Verweis auf das Lilienbanner zeigt, dass die hier beschriebenen Garanten der Zukunft Deutschlands als Mitglieder der Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg zu verstehen sind. 41 Mit dem Namen »Akela« bezeichnete man ab Mitte 1947 eine weibliche Leiterin, die mindestens 21–25 Jahre alt sein musste; vgl. Zöller: Pfadfinderschaft (Anm. 15), S. 10. 42 Vgl. Kurt Hoffmeister: Mit Wilhelm Raabe im Harz. Begleitet von ausgewählten Texten und Zeichnungen des Dichters, Braunschweig 2007. 43 Der neue Pfad 1948 (Anm. 8), S. 171.

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nannten Gipfeln sind emblematische Momente und Figuren der deutschen Kultur verbunden: Der alte Brocken erinnert an Wotan, den Hauptgott der nordischen Mythologie, und an Goethes Faust, die Hauptfigur der deutschen Literaturgeschichte; die Wartburg an Martin Luther, auf den die Akela mit einer Umarbeitung des zweiten Verses des Kirchenliedes »«Ein feste Burg ist unser Gott (»die gute Wehr und Waffen unseres Volkes«44) anspielt; der Kyffhäuser an Kaiser Friedrich I., genannt Barbarossa: Der Sage nach schläft der Kaiser in einer Höhle des Kyffhäuserberges und wird eines Tages erwachen, um das deutsche Reich zu neuer Herrlichkeit zu führen. Sich dieses geistigen Erbgutes bewusst, soll der junge Pfadfinder stolz und fest auf deutschem Boden stehen, wie Heinrich Ruppels Gedicht »Steh fest!« fordert: Steh fest! Steh fest auf deutscher Erde, und hebe frei dein Haupt! Was du von Deutschland glaubtest, sei fernerhin geglaubt! Was du für Deutschland schafftest, sei fernerhin geschafft; zersplittere und vergeude – auch nicht ein Quentlein Kraft! Wie du die Heimat liebtest In Reichtum, Glück und Glanz, So lieb’ in tiefster Seele, Sie nun im Trauerkranz! Und nichtig sei dir alles, was jetzt nicht Deutschland heisst! Deutschland braucht deine Fäuste, dein Herz und deinen Geist!45

Um den eigentlichen Sinn dieses Zitats im Rahmen des Tagebuchs »Der neue Pfad« 1948 verstehen zu können, muss man bedenken, dass Ruppels Gedicht einer langen Äußerung des Verfassers Kurt Garke folgt, in der es um die Bedeutung einer »weltweiten Lebensform« geht: […] wir wissen, dass eine weltweite Lebensform wertvoller ist, weil sie dem Frieden dient. Wir lieben und achten alle Menschen, – unsere Umwelt ist heute so klein geworden. […] Wir haben den Glauben noch nicht verloren, an unser Volk und an die

44 Ebd. 45 Ebd., S. 153.

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Welt. Wir reissen alle Schranken nieder, die uns hindern, in einer freien und friedlichen Welt zu leben!46

Im Patriotismus der Pfadfinder-Gruppenbücher lassen sich keine Anzeichen für einen chauvinistischen Nationalismus finden: Die Wiedergeburt des deutschen Volkes wird einfach als conditio sine qua non der Entstehung eines Völkerbundes im Geist der Menschlichkeit abgebildet (um Dehmels Worte noch einmal zu zitieren).

Der Wille Voraussetzung für die Geburt des erwähnten Völkerbundes ist der Wille. In »Unser Pfad« und noch mehr in »Der neue Pfad 1945« wird der Wille als gewaltige Triebkraft im Leben des Einzelnen wie im Schicksal ganzer Völker dargestellt. »Was unmöglich erscheint, kann ein starker Wille zuwege bringen, was verloren scheint, kann er retten, was unerschütterlich scheint, kann er über Nacht stürzen«,47 schreibt Kurt Garke. Durch den Willen kann man jedoch sowohl Kraft für die besten Fähigkeiten und Anlagen als auch Stärke für unlautere Ziele und Wünsche gewinnen. »Wir haben in der zurückliegenden Epoche genügend Beispiele, wie ein starker Wille, wenn er finsteren und unheilvollen Kräften dienstbar gemacht wird, mit hinreissender Gewalt ebensoviel zerstören kann, wie er anderwärts Gutes geschaffen hat«,48 fügt Garke hinzu. Genauere Anspielungen auf die jüngste Vergangenheit Deutschlands wären hier überflüssig. Der Autor präzisiert nur, dass sich die Jungen vor dem unedlen Willen der Ichsucht und des Ehrgeizes hüten sollten.49

Die Natur Eine große Rolle in der Willensorientierung spielt die Vertrautheit mit der Naturwelt. Durch Sport, Wanderungen, Jagd und Lager wird nicht nur der Körper gesund erhalten, sondern auch der Blick für alles Schöne geweitet und dazu ein strenges Pflichtbewusstsein aufgebaut, so dass die Jungen eine harmonische Lebensführung entwickeln und von innen heraus ihren Beitrag zur Erneuerung des deutschen Volkes entrichten können.50 46 47 48 49 50

Ebd., S. 152. Der neue Pfad 1945 (Anm. 11), S. 158; vgl. auch Unser Pfad (Anm. 23), o. S. (08. 08. 1948). Der neue Pfad 1945 (Anm. 11), S. 158. Ebd. Ebd., S. 99; Der neue Pfad 1945–1946 (Anm. 11), o. S.

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In den Tagebüchern »Der neue Pfad« 1945 und »Der neue Pfad« 1945–1946 wird der erhebliche Beitrag der Natur zur Entwicklung des Menschen durch eine Aussage des Paracelsus besonders betont: »Der Große ist der, der die Natur und die Wunder weiß, lernt und erfährt«.51 Die Natur stellt auch die »Grundlage zur Erhaltung des deutschen Volkes«52 und der »deutsche[n] Wiedergeburt«53 dar, denn sie lehrt die Jungen das Prinzip des »Stirb und werde!«,54 das nur dem Weisen zugänglich ist – wie Goethe im Gedicht »Selige Sehnsucht« (»West-Östlicher Divan«) behauptet.55 Die Gruppenbücher enthalten zahlreiche literarische Texte, die die Natur zum Thema haben. Manchmal handelt es sich um Verse, die eine bestimmte deutsche Landschaft lobpreisen. Das ist der Fall in Hoffmann von Fallerslebens Gedicht »Dort oben auf der Alpe da ist meine Welt«, das im »Neuen Pfad« 1948 neben zwei Fotos von einer Gruppenfahrt »beim Lois’l, auf der Duftelalm«56 zitiert wird. In Hoffmann von Fallerslebens Versen beruft sich das lyrische Ich auf die Alpen, wo all sein Leben, all sein Glück liegt, wo die Kräuter duften, die Quellen murmeln und die Glöcklein lustig und hell klingen.57 In anderen Fällen ist es die Schönheit der Natur im Ganzen, die beschrieben wird. Beachtenswert ist vor allem die Wiedergabe einiger Verse aus dem 5. Akt von Goethes »Faust II«, die der Gruppenleiter Karl 1948 bei einer Fahrt durch das Hainbachtal vortrug.58 Karl zitierte die Worte des Türmers Lynkeus, der mit seinen »glücklichen Augen« in allem, was er sieht, Schönheit und Zier wahrnehmen kann: Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt, dem Turme geschworen, gefällt mir die Welt. Ich blick’ in die Ferne, ich seh in der Näh, den Mond und die Sterne, den Wald und das Reh. So seh’ ich in allen die ewige Zier, und Wie mirs gefallen, gefall ich auch mir. Ihr glücklichen Augen, was je ihr gesehn, es sei wie es wolle, es war doch so schön!59 51 Der neue Pfad 1945 (Anm. 11), S. 99; Der neue Pfad 1945–1946 (Anm. 11), o. S. In beiden Fällen werden Paracelsus’ Worte unmittelbar nach der Darlegung der Hauptziele der Pfadfinderbewegung – insbesondere ihrer Anstrengungen um eine bessere, gerechte und edlere Welt – zitiert. 52 Der neue Pfad 1945–1946 (Anm. 11), o. S. 53 Ebd. 54 Ebd. 55 Johann Wolfgang Goethe: Selige Sehnsucht, in: Goethes Werke (Anm. 33), Bd. 5 (1827), S. 26. 56 Der neue Pfad 1948 (Anm. 8), S. 130. 57 Ebd. 58 Ebd., S. 91. 59 Ebd., S. 89.

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In wieder anderen Fällen dient die Natur als Spiegelbild von Gottes Erhabenheit.

Gott Durch seine Epiphanie in der Natur knüpft Gott alle Fäden, die zerrissen sind, wieder zusammen und zeigt somit den Menschen den Weg zur persönlichen und allgemeinen Ruhe. Diese Idee wurde in der deutschen Pfadfinderbewegung der späten 1940er Jahre nicht nur durch das Zitieren einzelner Verse (z. B. aus Schillers »Wilhelm Tell«60) und Gedichte (z. B. Friedrich Hebbels »Die Weihe vor der Nacht«,61 Christian Morgensterns »Sieh nicht, was andere tun«,62 Ida von Reinsberg-Düringsfelds »Frühlingsmahnung«,63 Wilhelm Hensels »Wohnt in Bergwalds Säulenhallen«64), sondern auch durch die Abfassung bzw. Wiedergabe ganzer Dramen und Erzählungen verbreitet. Ein Beispiel dafür ist das bereits genannte Drama »Ein heimatliches Krippenspiel in drei Aufzügen« (1945). Die Handlung spielt in der Weihnachtsnacht. Nach langem Suchen finden Josef und Maria Unterkunft bei einem Blinden namens Joachim. Mit der Geburt Jesu erlangt Joachim die Sehkraft wieder, und einem Pilger gelingt es endlich, die Körper- und Seelenruhe zu finden. Das Stück endet mit dem Lob des Lichts, das »aus dieser Nacht […] in alle Zeiten«65 wächst und »von Ewigkeit zu Ewigkeit«66 dauern wird. Im Dezember 1945 musste dieses Licht den jungen Lesern als symbolisches Zeichen der bevorstehenden Wiedergeburt erscheinen. Gott steht im Mittelpunkt auch von Willi Krauses Drama »Tarcisius – Ein religiöses Spiel in 4 Aufzügen«. Das Stück beschreibt die Erlebnisse des jungen Sklaven Tarcisius zur Zeit des Kaisers Diokletian in Rom. Tarcisius möchte die Christen, die zum Tode in der Arena verurteilt wurden, ein letztes Mal die Kommunion empfangen lassen. Er wird aber von drei Römern umgebracht, als er die Hostien zur Arena bringen will. Das Drama endet mit einer allgemeinen Aufforderung an die Jugend – also auch an die deutsche Jugend der Nachkriegszeit – »über Trümmer und Verzweiflung Christus zu tragen«.67 Dass sich dieses Drama in den Unterlagen der Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg wiederfindet, ist nicht nur wegen seines Inhalts, sondern auch wegen seines Autors interessant, denn Willi Krause wurde 1934 von Joseph Goebbels 60 61 62 63 64 65 66 67

Der neue Pfad 1948 (Anm. 8), S. 70. Ebd., S. 160f. Ebd., S. 91. Ebd., S. 52. Ebd., S. 90. Ein heimatliches Krippenspiel in drei Aufzügen (AdJb, A 233 Nr. 802), S. 10. Ebd. Willi Krause: Tarcisius. Ein religiöses Spiel in 4 Aufzügen (AdJb, A 233 Nr. 802), S. 10.

Sinnsuche im Spiegel der Gruppenbücher im AdJb

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zum Reichsfilmdramaturg ernannt. Das zeigt, wie schwierig der Umgang mit dem Erbe des Nationalsozialismus für die deutsche Jugend der frühen Nachkriegsjahre war. Umso mehr, als es sich um keinen Einzelfall handelt.

Schlussbemerkungen Im Tagebuch »Der neue Pfad« 1948 wird das Volkslied »Uns ward das Los gegeben« des Liederkomponisten Werner Gneist zitiert. Gneists Lied kündigt eine neue Zeit an, deren Wurzeln im deutschen Volk »tief versenkt«68 sind und deren Herrlichkeit eines Tages der gesamten Welt sichtbar sein wird. Kurt Garke berichtet, die Wölflinge hätten das Lied vom Gruppenleiter Karl erhalten, es auswendig gelernt und mit frischen Knabenstimmen um das Feuer herum gesungen. Vielleicht war Kurt Garke unbekannt, dass Gneists Verse in vielen Liederbüchern des Dritten Reichs veröffentlicht worden waren. Vielleicht aber auch nicht. Denn der Tagebuchverfasser zitiert auch einige Verse von Hermann Claudius, einem der 88 deutschen Schriftsteller, die im Oktober 1933 das Gelöbnis treuester Gefolgschaft für Adolf Hitler unterzeichnet hatten: Wann wir schreiten Seit’ an Seit’ und die alten Lieder singen, und die Wälder widerklingen, fühlen wir es muß gelingen: Mit uns zieht die neue Zeit.69

Was Kurt Garke über Hermann Claudius’ Verhältnis zum Nationalsozialismus eigentlich wusste, bleibt eine offene Frage. Fest steht aber, dass die Berufung auf Musik und Natur den Inhalt dieses Gedichtes jeder politischen Interpretation entzieht und ihm eine universelle Dimension verleiht. Hinter der Entscheidung, die erwähnten Werke Krauses, Gneists und Claudius’ wiederzugeben, verbirgt sich das Dilemma einer gesamten Generation: War das deutsche Wertesystem, in der die Jugend der späten 1940er Jahre aufgewachsen war, völlig abzulehnen, oder gab es noch etwas darin, woran man sich klammern konnte? Die Haltung der Pfadfinder in dieser Frage scheint klar und deutlich zu sein: Der Nationalsozialismus war »nur« die Missdeutung einer hundertjährigen glorreichen Kultur. Eine Missdeutung, die derartig unheimlich war, dass man sich sogar weigerte, ihren Namen auszusprechen bzw. zu schreiben. In den frühen Nachkriegsjahren lehnten die Pfadfinder in ihren Gruppenbüchern jede explizite Auseinandersetzung mit der Schuldfrage ab, denn diese wäre sowohl mit dem Bedürfnis nach Sinn und Trost als auch mit dem Wunsch 68 Der neue Pfad 1948 (Anm. 8), S. 101. 69 Ebd., S. 155.

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nach einem neuen Leben unvereinbar gewesen: Die Zahl der Gruppenleiter und der Eltern, die mehr oder weniger direkt zum nationalsozialistischen Reich beigetragen hatten, war nicht gering. Was aber noch wichtiger ist: In den Gruppenbüchern gab es überhaupt keinen Platz für Fragen. Die hier betrachteten Tagebücher enthalten fast ausschließlich vorgefertigte Thesen, die die Jungen einfach aufzunehmen hatten: Ziel der Pfadfinder war es, den ursprünglichen, eigentlichen Sinn der Begriffe, die das »Dritte Reich« verfälscht hatte, wiederzugewinnen und von Missverständnissen zu befreien. Auch die chronikartige Form der Ereignisberichte zeigt, dass subjektive Ansichten und Interpretationen eher unerwünscht waren: Der Gesichtspunkt des Individuums war dem der Gruppe prinzipiell unterworfen. Der Blick war auf das Wir gerichtet, denn nur durch die Vereinigung aller Kräfte konnte Deutschland wieder auf die Beine kommen.70 Die in den Gruppenbüchern zitierten Literaturtexte spiegeln diese Grundeinstellung wider. Es handelt sich meistens um Werke vom Anfang des 20. Jahrhunderts, aus dem Biedermeier und dem Realismus, die die Schönheit der deutschen Landschaft und deren Sitten lobpreisen, oder um Werke der deutschen Klassik, die universelle Thematiken, wie Gott, Natur, Vaterlandsliebe und Mensch von einem allgemeinen, ahistorischen Gesichtspunkt aus behandeln. Sogar die Figur Gottes wird in den Pfadfinder-Gruppenbüchern der Zeit nicht so sehr durch Gebete oder Zitate aus den Heiligen Schriften, als eher durch deutsche Literaturtexte dargestellt. Eine derartig vermehrte Aufmerksamkeit für die literarische Welt war letzten Endes nichts Neues für das deutsche Volk in schwierigen Zeiten. Das Jahr 1848 ist emblematisch in dieser Hinsicht: Als die Niederschlagung der Revolutionserhebungen zum Scheitern der politischen Vereinigung führte, beriefen sich die Deutschen auf den Begriff der »Kulturnation« und prägten den Ausdruck »Deutsche Klassik«, um deren Höhepunkt zu bezeichnen – einen Höhepunkt, den sie in den literarischen Werken der Goethezeit erkannten. Genauso wie in der Mitte des 19. Jahrhunderts griff die deutsche Jugend – also auch das Pfadfindertum – nach dem Zweiten Weltkrieg auf die deutsche Kultur und deutsche Literatur zurück, um einen Sinn im Leben des Einzelnen ebenso wie im Leben der gesamten Nation wiederzufinden.

70 Dass die Jungen das Wohlergehen des Staates für wichtiger als das eigene Glück halten sollten, war bereits seit der Gründung des Zweiten Reichs eine weit verbreitete Idee in Deutschland; vgl. Horst Joachim Frank: Dichtung, Sprache, Menschenbildung. Geschichte des Deutschunterrichts von den Anfängen bis 1945, München 1976, 2 Bde., Bd. 2, S. 565.

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Ministerialbeamter Heinrich Hassinger und seine Vorstellung von der »Volksgemeinschaft« als Sinn der Jugenderziehung in der Weimarer Republik und der Zeit nach 1945

Einleitung Das Jahr 1945 markiert zweifelsohne einen bedeutenden historischen Wendepunkt für die deutsche Geschichte.1 Die sogenannte »Stunde Null« wurde zwar nicht von allen Deutschen gleichermaßen empfunden – für die einen bedeutete sie die Befreiung vom Nationalsozialismus, für die anderen war der 8. Mai 1945 ein Tag der Niederlage. Dennoch war der Untergang des »Dritten Reiches« für alle Deutschen eine wichtige Zäsur in ihrem Leben.2 Die alliierten Militärregierungen übernahmen zunächst die Regierungsgewalt in Deutschland, und der Wiederaufbau konnte nur unter ihrer strengen Aufsicht geschehen. Gleichwohl blieb die Zukunft eines deutschen Staatswesens in den ersten Nachkriegsmonaten sehr ungewiss. Wie sollte es nun weitergehen? Diese Frage stellten sich nicht nur die von den Alliierten rekrutierten Weimarer Politiker, denen sie den staatlichen Wiederaufbau anvertrauten, sondern auch die Jugendlichen. Sie waren mit dem Nationalsozialismus groß geworden und waren zur Teilnahme in der HitlerJugend oder im Bund Deutscher Mädel verpflichtet worden, wo sie im Sinne des Nationalsozialismus indoktriniert worden waren. Wie sollte es nun weitergehen, nachdem die nationalsozialistische Propaganda diskreditiert worden war? Diese Frage betraf die Jugendlichen existentiell, schließlich war die Zukunft angesichts der alliierten Besatzung völlig ungewiss. Die Ende Oktober 2021 auf der Jugendburg Ludwigstein durchgeführte Tagung versuchte, den Antworten der Jugend auf die Richtungslosigkeit nachzugehen. Die Suche nach Antworten auf die »Sinnfragen« beschäftigte auch die nach 1945 auf Landesebene wiedererrichteten Kultusministerien. Sie mussten unter der Aufsicht der Alliierten das Schulwesen, die Universitäten und andere Hochschulen, die staatliche Kunstpflege 1 Vgl. Günter Benser: 1945 – eine historische Zäsur, in: Rainer Holze, Marga Voigt (Hg.): 1945 – Eine »Stunde Null« in den Köpfen? Zur geistigen Situation in Deutschland nach der Befreiung vom Faschismus, Buskow 2016, S. 29–46. 2 Vgl. Hans Braun, Uta Gerhardt, Everhard Holtmann (Hg.): Die lange Stunde Null. Gelenkter sozialer Wandel in Westdeutschland nach 1945, Baden-Baden 2007.

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sowie die Jugend- und Erwachsenenbildung strukturell und institutionell wiederaufbauen. Mit einem Neuaufbau der zerstörten Gebäude und der Einstellung der Lehrerschaft war es allerdings nicht getan, denn das gesamte Schulwesen musste reformiert und demokratisiert werden.3 Dabei griffen die Beamten weitgehend auf die ihnen bereits vertrauten Konzepte und Ideen der Weimarer Republik zurück, zumal der Großteil der nach 1945 in leitende Positionen aufgerückten Beamtenschaft bereits vor 1933 im Staatsdienst tätig gewesen war. Im »Kultministerium« von Württemberg-Baden4 leitete Heinrich Hassinger das Referat für Jugenderziehung, zeitgenössisch »Jugendpflege« genannt. In dieser Funktion war er bis auf das Schulwesen für alle Fragen der Jugendpflege und -fürsorge verantwortlich. Hassinger schien auch deshalb für dieses Amt qualifiziert, weil er neben seinem Lehrerberuf während der Weimarer Republik zahlreiche programmatische Schriften zur Jugend- und Volksbildung publiziert hatte. Zudem war er zeit seines Lebens eng mit der Jugendwanderbewegung sowie dem Jugendherbergswerk verbunden, denen er infolge beider Weltkriege eine außergewöhnliche staats- und volkspolitische Bedeutung für die weltanschauliche Jugenderziehung beimaß.5 Die Publikationen Hassingers, die als Quellen für diesen Text hauptsächlich herangezogen wurden, beinhalten neben praktischen Ansätzen der Jugend- und Erwachsenenbildung vor allem den pädagogischen und staatspolitischen Anspruch, durch die Jugenderziehung sowohl Heimatverbundenheit als auch das positive Volksgefühl innerhalb der Jugend zu fördern, um so schließlich zur Verwirklichung der »Volksgemeinschaft« beizutragen. Mit seinen Schriften wollte er kurzum »nicht nur der körperlichen, sondern auch der staatspolitischen Gesundung des Volkes […] dienen«.6 Das »Volk« bzw. die »Volksgemeinschaft« waren für Hassinger infolge beider Weltkriege zentrale Bezugswerte im Hinblick auf die Jugenderziehung, um so eine »ruhige und gleichmäßige Entwicklung«7 des deutschen Staatslebens infolge der gesellschaftlichen Kriegsauswirkungen zu fördern. Zur Wahrung einer kritischen Distanz zu Hassingers Vorstellung des 3 Vgl. Kurt Ludwig Joos: Schwieriger Aufbau. Gymnasium und Schulorganisation des deutschen Südwestens in den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 2012; Hugo Menze: Die Kultusminister und Bildungspolitik in Baden-Württemberg 1945–2005, UbstadtWeiher 2008. 4 Die offizielle Bezeichnung der Behörde wurde erst im August 1954 in Kultusministerium umgewandelt. 5 Vgl. Reichsverband für Deutsche Jugendherbergen (Hg.): Von Weg und Wesen, von Wollen und Wirken der Jugendherbergen und des Jugendwanderns. Eine Sammlung Aufsätze von Schulrat Heinrich Hassinger, Hilchenbach 1930; Heinrich Hassinger: Die Jugendherbergen im Neuaufbau Deutschlands, Stuttgart 1946. 6 Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJb) Bestand A 201 Nr. 524, »Staatspolitische Bedeutung des Jugendherbergswerkes«. 7 Ebd.

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»Volkes«, die im Folgenden noch zu problematisieren sein wird, werden sowohl der Begriff »Volk« sowie die aus ihm resultierenden Komposita wie beispielsweise »Volksgemeinschaft«, die Hassinger vor 1933 und nach 1945 trotz der Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten weiterhin verwendete, konsequent in Anführungszeichen gesetzt. Hassingers weitgehend unreflektierte Verwendung dieser Begriffe nach 1945 verdeutlicht, dass das Konzept der »Volksgemeinschaft« keineswegs nationalsozialistischen Ursprungs gewesen und deshalb nicht von vornherein diskreditiert war, sondern der politischen Ideenwelt des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts entstammt und deshalb staatspolitisch reaktiviert werden konnte.8

Der »Brückenbauer« Heinrich Hassinger9 Hassinger wurde am 12. April 1888 im rheinhessischen Schornsheim (heute in Rheinland-Pfalz) als Sohn eines evangelischen Landwirts geboren und wuchs in einfachen Verhältnissen auf, die sowohl seine Persönlichkeit als auch sein Wirken als Jugendpädagoge maßgeblich prägten.10 Nach dem Besuch der Volksschule und einer Präparandenanstalt ließ er sich zum Volksschullehrer ausbilden und trat 1908 nach der ersten Dienstprüfung in den hessischen Schuldienst ein. Im Oktober 1910 legte er die Definitorialprüfung ab. Nach einigen Ortswechseln wurde er schließlich 1913 nach Darmstadt versetzt,11 wo er am 21. Juni 1913 Elisabetha Schneider heiratete. Ihre gemeinsame Tochter Liselotte kam am 20. September 1917 auf die Welt; sie war ebenfalls, dem Vorbild ihres Vaters folgend, im Pfadfinder- und Jugendherbergswesen aktiv.12 In Darmstadt war Hassinger neben seinem Lehrerberuf vielfältig in der Jugend- und Erwachse8 Vgl. Detlef Schmiechen-Ackermann: »Volksgemeinschaft«!? Vom Streit um Begriffe und Konzepte zur Erweiterung der Forschungsperspektive, in: Detlef Schmiechen-Ackermann u. a. (Hg.): Der Ort der »Volksgemeinschaft« in der Deutschen Gesellschaftsgeschichte, Boston 2018, S. 9–26; Michael Wildt: Die Ungleichheit des Volkes. »Volksgemeinschaft« in der politischen Kommunikation der Weimarer Republik, in: Frank Bajohr, Michael Wildt (Hg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 22012, S. 24–40. 9 Vgl. Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HStAS) P 42 Nr. 334, »Kurzer Abriss meiner Tätigkeit im Dienste der Schule, Jugendpflege und Volksbildung«, 20. 06. 1945. 10 Vgl. »Es stellt sich vor: Ministerialrat Heinrich Hassinger«, in: Kultus und Unterricht. Amtsblatt des Kultministeriums Baden-Württemberg Nr. 1 vom Januar 1953 (Jg. 2). Nichtamtlicher Teil, S. 1. 11 Genauer zu Hassingers Laufbahn vgl. seinen Personalbogen vom 30. 03. 1947 in: HStAS P 42 Bü 334. 12 Vgl. HStAS P 42 Bü 187: Liselotte Bildstein-Hassinger (Apel-Hassinger); Bund deutscher Pfadfinderinnen Nord-Württemberg (1947–1952); HStAS P 42 Bü 242: Schriftverkehr von Liselotte Apel geb. Bildstein-Hassinger, zum Bund deutscher Pfadfinderinnen (1966).

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nenbildung tätig. So konnte er weitreichende Netzwerke zu anderen Reformpädagogen seiner Zeit knüpfen.13 Die gesellschaftlichen Auswirkungen des Ersten Weltkrieges führten Hassinger zu Überlegungen, wie die Volks- und Jugendbildung auszurichten sei. Er formulierte dies in einer Denkschrift, die deutschlandweit rezipiert wurde und die bei der vom Sozialdemokraten Carl Ulrich geleiteten Koalitionsregierung auf Zustimmung traf. Hassinger wurde schließlich im Dezember 1918 aus dem Schuldienst beurlaubt und mit der praktischen Umsetzung seiner Überlegungen betraut. Anfang März 1919 wurde durch einen Erlass des hessischen Landesamtes für das Bildungswesen die »Zentralstelle für Volksbildung und Jugendpflege« unter der Leitung Hassingers gegründet.14 Hassinger setzte sich die Pflege des »überkommenen und werdenden Kulturgutes, die Weckung und Stärkung von Heimat- und Volksgefühl, die Sorge um sittliche und körperliche Gesundung und Gesunderhaltung unserer Jugend«15 zur Aufgabe, um so die infolge des Ersten Weltkrieges anhaltenden politischen und gesellschaftlichen Spannungen zu überwinden.16 Die Zentralstelle verstand sich als eine überparteiliche Organisation mit der Aufgabe, die Volks- und Jugendbildung in Hessen zu koordinieren sowie die Volkshochschulen, das Jugendherbergswesen, die Kulturfilmbewegung und die Wanderbühnen zu fördern, um nur einige Tätigkeitsfelder zu nennen. Vor allem sollte die Zentralstelle, ihrem Namen entsprechend, die bislang private, kirchliche oder vereinsrechtliche Jugendarbeit und Volksbildung bündeln und koordinieren. Weil die gesamte Überlieferung des hessischen Kultusministeriums 1944 zerstört wurde, lässt sich die Arbeit der Zentralstelle allerdings kaum bewerten. Anhand der Eigenpublikationen kann man jedoch sagen, dass über die theoretisch-publizistische Erörterung der Volk- und Jugendbildung sowie die rege Öffentlichkeitsarbeit hinaus ihre wichtigsten Verdienste in der Förderung der lokalen Volksbildung und Jugendpflege wie beispielsweise der Einrichtung von Büchereien lagen. Im Zuge der Kabinettsumbildung im Frühjahr 1928 wurde die Zentralstelle schließlich aufgelöst, und Hassinger wurde in das Kultusministerium versetzt, wo er das Referat für Volksbildung und Jugendpflege leitete. Seine Arbeit im 13 Vgl. HStAS P 42 Bü 334, Kurzer Abriss meiner Tätigkeit im Dienste der Schule, Jugendpflege und Volksbildung, Juli 1945. 14 Vgl. Ernst Dieter Nees: Die Hessische Zentralstelle für Volksbildung und Jugendpflege und ihre Verbindungen zu Giessen, in: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins Gießen, 1988, 73. Jg., S. 207–230. 15 Vgl. Heinrich Hassinger: Zehn Jahre amtliche Volksbildungs- und Jugendpflegearbeit in Hessen. Versuch einer Darstellung der seit Bestehen von der Zentralstelle zur Förderung der Volksbildung und Jugendpflege in Hessen geleisteten Arbeit nebst Gedanken und Anregungen, Darmstadt 1928, S. 6. 16 Vgl. Detlev Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 152018.

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Ministerium wurde vom großen menschlichen Elend und der enormen Arbeitslosigkeit infolge der Weltwirtschaftskrise überschattet. Über die regionalen Ausschüsse für Jugendpflege und Volksbildung versuchte er, positiv auf die Situation der Erwerbslosen einzuwirken. Energisch plädierte er für eine Intensivierung der Bildungsarbeit an jugendlichen und erwachsenen Fürsorgeempfängern in Hessen. Obgleich die Arbeitslosenfürsorge die finanzielle Verelendung wenigstens in einem geringen Maße abfederte, wollte Hassinger vor allem den »geistigen Hunger« der Erwerbslosen stillen,17 um so dem Nihilismus innerhalb der arbeitslosen Jugend entgegenzuwirken.18 Die Quellenlage erlaubt allerdings kein verlässliches Urteil darüber, inwieweit Hassingers Forderungen Erfolg hatten; die Auswirkungen dürften jedoch aufgrund der ministeriellen Sparpolitik überschaubar gewesen sein. Unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde Hassinger aus dem Staatsdienst suspendiert. Die Entlassung auf der Grundlage des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 folgte schließlich im September 1933 nach seiner Einstufung als »politisch unzuverlässig«. Eine neue Beschäftigung fand Hassinger bei der Deutschen Bauparkasse in Darmstadt, wo er unter anderem für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich war. 1937 wurde er nach Stuttgart versetzt, wo er schließlich aufgrund des enormen Lehrermangels Anfang Mai 1943 erneut im Schuldienst notdienstverpflichtet wurde. Das Ende des Zweiten Weltkriegs stellte abermals eine Zäsur in Hassingers Leben dar. Auf Initiative von Theodor Bäuerle wurde er Ende Juni 1945 als Leiter der allgemeinen Schulabteilung sowie Referent für die Erwachsenenbildung und Jugendpflege in der Kultusverwaltung von WürttembergBaden eingestellt. Bäuerle war während der Weimarer Republik maßgeblich am Aufbau der Erwachsenenbildung in Württemberg beteiligt, und nach 1945 wurde er Ministerialdirektor im Kultministerium von Württemberg-Baden.19 Hassinger gelang bald die Ausweitung seiner Befugnisse, und sein Referat wurde zu einer eigenständigen Abteilung für Jugendpflege und Erwachsenenbildung ausgebaut. Sein Engagement für den staatlichen Wiederaufbau wurde nach seiner Pensionierung im Jahr 1953 mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. Zeit seines Lebens war er zudem eng mit dem Jugendherbergswerk verbunden. Zwischen 1926 und 1933 war er erster Vorsitzender des DJH-Gaues Südhessen in Darmstadt und zwischen 1946 und 1954 Vorsitzender des DJH-Landesverbands Nordwürttemberg in Stuttgart. Von 1949 bis 1953 war er zudem Vorsitzender des DJHHauptverbandes, der seinen Sitz im nordrhein-westfälischen Detmold hat. 17 Vgl. Hessisches Staatsarchiv Darmstadt (HStAD) G 15 Friedrich Nr. M 104, Ausschnitte aus der Bildungsarbeit an den Erwerbslosen im Volksstaat Hessen, 01. 04. 1931. 18 Vgl. HStAD G 15 Friedrich Nr. M 104, »Zum Schluß eine Bitte!«. 19 Vgl. Dieter Schmitt: Theodor Bäuerle (1882–1956). Engagement für Bildung in schwierigen Zeiten (Schriftenreihe zur Bosch-Geschichte 3), Stuttgart 2005.

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Hassinger verstarb am 19. März 1967 in Stuttgart und wurde seinem Wunsch entsprechend in aller Stille auf dem Pragfriedhof beigesetzt.

Hassingers Erziehungsprogrammatik während der Weimarer Republik Das Ende des Ersten Weltkrieges markiert eine bedeutende politische sowie gesellschaftliche Zäsur in Deutschland. Anstelle des Kaiserreichs trat nunmehr eine in weiten Teilen der Gesellschaft lediglich tolerierte Demokratie, und auch die Weimarer Verfassung war für viele aus Angst vor einem kommunistischen Umsturz lediglich ein temporärer Kompromiss.20 Die Abdankung des Kaisers und der Bundesfürsten bedeutete für viele zugleich den Verlust von zentralen Identifikationsfiguren, die die Weimarer Republik nicht ersetzen konnte. Stattdessen ereilte die Republik das Schicksal einer Krisendemokratie: Die Hyperinflation der 1920er Jahre, die enormen Reparationskosten, die das Erstarken der rechten und rechtsextremen Parteien begünstigten, die Putschversuche von Kapp und Hitler, schließlich die Wirtschaftskrise sowie die daraus resultierende Staatskrise entzweiten die deutsche Gesellschaft nachhaltig. Die Diffamierung des Reichstages als »Quasselbude« durch die Nationalsozialisten war symptomatisch für die vor allem in (rechts-)konservativen Kreisen herrschende Ablehnung des Parteiensystems. Doch auch Hassinger, der parteipolitisch im linksliberalen Umfeld zu verorten ist,21 sah in den Parteien einen entscheidenden Katalysator für die politische Destabilisierung Deutschlands: »Und als 1918 die alten Symbole fielen, da fanden wir den gemeinsamen Weg zur Volkswerdung nicht mehr, wir zerfielen in Parteien, wir zerrieben uns, und so tasten wir noch heute unsicher […] fernab dem Ziel, ein Volk zu sein«.22 Dass man die politischen Gegensätze im Reichstag und in den Landtagen sehr aggressiv austrug und es auf den Straßen zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen den paramilitärischen Parteiverbänden kam, waren für ihn Symptome, wie verroht der gesellschaftliche Dialog geworden war: »Betrachten wir doch die Verwilderung der politischen Sitten, die Verrohung des politischen Kampfes, wo jeder Andersdenkende ein Schuft und Verräter ist«.23 Hassingers Erziehungsprogrammatik zielte deshalb 20 Vgl. Peukert: Republik (Anm. 16), S. 46. 21 Seit 1918 gehörte Hassinger der linksliberalen DDP an. 22 Heinrich Hassinger: Sinn und Aufgabe der Volksbildung, in: Flugschrift der Zentralstelle zur Förderung der Volksbildung und Jugendpflege im Volkstaate Hessen, 1927, Nr. 2: Sinn und Aufgabe der Volksbildung, Darmstadt 1927, S. 6. 23 Heinrich Hassinger: Vom Wesen der Begriffe Volk und Jugend, in: Flugschrift der Zentralstelle zur Förderung der Volksbildung und Jugendpflege im Volksstaate Hessen. Volk und Jugend, Darmstadt 1927, S. 11–15, S. 13. eingesehen in: AdJb, B-610/032.

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darauf ab, die parteipolitischen Gegensätze dadurch aufzulösen, dass man die Jugenderziehung dezidiert auf die »Volksgemeinschaft« hin ausrichtet. Deshalb betonte er, »daß unsere Volksbildungs- und Jugendpflegearbeit […] grundlegend sein muß für die Wiedergesundung von Volk und Staat«.24 Hassingers Vorstellung von der »Volksgemeinschaft« war allerdings im Gegensatz zum nationalsozialistischen Pendant nicht rassistisch konnotiert.25 Sie war zudem als eine Inklusionsgemeinschaft aller deutschen »Stämme« angelegt.26 Seine Weimarer Schriften klären allerdings nicht eindeutig, ob beispielsweise auch die Juden sowie die Sinti und Roma in diese »Volksgemeinschaft« integriert werden sollten. Das »Volk« definierte Hassinger nicht ausschließlich geographisch, sondern vor allem kulturell und historisch. Er subsummierte darunter »alle ohne Unterschied von Vermögen, Stand, Beruf und Stellung, ohne Unterschied von Konfession, Weltanschauung, Wissen und Geltung«.27 Das deutsche »Volk« sei nämlich die »geschichtliche und kulturelle Gesamtheit aller Deutschen«.28 Damit befand sich Hassinger durchaus in geistiger Nachbarschaft zum nationalistischen und völkischen Denken des Kaiserreichs und der Weimarer Republik29 sowie zur Bündischen Jugend, die nach dem Ersten Weltkrieg ebenfalls ein Bekenntnis zum »Volk« abgelegt hatte.30 Er artikulierte allerdings weder Ausgrenzungsforderungen noch radikalnationalistische Expansionsvorstellungen, und er entwarf auch keine Feindbilder, obwohl er bei der Definition seiner Vorstellung des »Volkes« die biologistischen Deutungsmuster durchaus heranzog: »[N]icht das Blut allein, nicht Rasse macht’s, so wichtig sie sind«.31 Die Vorstellung unterschiedlicher »Rassen« akzentuierte Hassinger auch nach dem Zweiten Weltkrieg. Jedoch betonte er nun angesichts des von den Nationalso-

24 Heinrich Hassinger: Die Volksbildung und Jugendpflege in ihrer Bedeutung für Deutschlands Wiederaufbau und die Schaffung einer wahren Volksgemeinschaft, in: Heinrich Hassinger (Hg.): Flugschrift der Zentralstelle zur Förderung der Volksbildung und Jugendpflege im Volksstaate Hessen über Fragen praktischer Volksbildungs- und Jugendpflegearbeit nebst einem Preisausschreiben, Darmstadt 1925, S. 4–10, S. 5. 25 Vgl. zum Begriff der »Volksgemeinschaft« Schmiechen-Ackermann: Volksgemeinschaft (Anm. 8). 26 Auch die Weimarer Reichsverfassung von 1919 betonte in der Präambel die Bedeutung der deutschen »Stämme« für die Republik: »Das deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich zu erneuern und zu festigen, […] hat sich diese Verfassung gegeben«. Vgl. Reichsgesetzblatt, 1919, Nr. 152, S. 1383–1418, hier S. 1383. 27 Hassinger: Wesen (Anm. 3), S. 11. 28 Ebd. 29 Vgl. Peter Walkenhorst: Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914, Göttingen 2014; Uwe Puschner: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001. 30 Vgl. Rüdiger Ahrens: Bündische Jugend. Eine neue Geschichte 1918–1933, Göttingen 2015, S. 72–77. 31 Hassinger: Sinn (Anm. 22), S. 5.

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zialisten begangenen Zivilisationsbruches die Versöhnung zwischen den einzelnen »Rassen«. Die Jugenderziehung war für Hassinger schließlich das zentrale Instrument für die Verwirklichung der »Volksgemeinschaft«: »Wenn ein Volk sich erneuern soll, so muß diese Erneuerung von der Jugend kommen«.32 Sie sollte wie oben bereits angedeutet auch der politischen Versöhnung in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg dienen: »Was hat es für einen Sinn, über die Zerrissenheit des deutschen Volkes zu klagen und zugleich die Volksbildungs- und Jugendpflegearbeit, dieses mächtige Werkzeug zur Schweißung dieser Risse, gering zu schätzen?«33 Eine zentrale Bedeutung für die Jugenderziehung hatten für Hassinger unverkennbar die Jugendwanderbewegung sowie das Jugendherbergswesen.34 In seiner Funktion als Leiter der Zentralstelle sowie später im Kultusministerium förderte er deshalb den Ausbau der Jugendherbergen. Zwischen 1926 und 1933 war er zudem erster Vorsitzender des DJH-Gaues Südhessen in Darmstadt. Während der Weimarer Jahre lag Deutschland bei der Zahl der Übernachtungen in den Jugendherbergen weit vor seinen europäischen Nachbarn. 1933 gab es in Deutschland 2100 Jugendherbergen mit ungefähr 4.300.000 Übernachtungen im Jahr, gefolgt vom Sudentenland mit lediglich 238 Jugendherbergen sowie nur 59.000 Übernachtungen im Jahr.35 Im Hinblick auf die Verwirklichung der »Volksgemeinschaft« maß Hassinger dem Jugendherbergswerk eine außerordentliche staatspolitische Funktion zu: »Es wäre also die Frage, ob die Jugendherberge irgendwie einen Einfluß auf die Gesinnung der dort verkehrenden jungen Menschen hat, der in seiner Auswirkung dem staatlichen Leben des Volkes zugute kommt. Und das scheint mir außer Zweifel. Was könnte für einen Staat notwendiger sein als die Einsicht aller seiner Bürger, daß nicht eine Schicht, ein beruf, eine Interessengruppe allein Träger dieses Staates sein kann? […] Staatspolitisch gesprochen, wäre es also ein Gebot der Staatsklugheit, alle Gelegenheiten und Möglichkeiten zu fördern, die die Bürger der verschiedensten Anschauungen und Einstellungen zwanglos zusammenführen können, damit sie sich vielleicht auch einmal als Menschen kennen und dadurch zuletzt auch verstehen und trotz gegenteiliger Ansichten achten lernen. […] so darf doch das Jugendherbergswerk in diesem Punkte das Verdienst für sich beanspruchen, nicht nur der körperlichen, sondern auch der staatspolitischen Gesundung des Volkes zu dienen.«36

32 AdJb Best. A 201 Nr. 524, »Volkserneuerung und Jugendherberge«, 1931. 33 Hassinger: Volksbildung (Anm. 24), S. 6. 34 Vgl. Eva Kraus: Das Deutsche Jugendherbergswerk 1909–1933. Programm – Personen – Gleichschaltung, Berlin 2013; Jürgen Reulecke, Barbara Stambolis (Hg.): 100 Jahre Jugendherbergen 1909–2009. Anfänge – Wandlungen – Rück- und Ausblicke, Essen 2009. 35 Vgl. AdJb Best. A 201 Nr. 483, Bestandsaufnahme über die Jugendherbergen im europäischen Vergleich, Februar 1933. 36 AdJb Best. A 201 Nr. 524, »Staatspolitische Bedeutung des Jugendherbergswerkes«.

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Trotz der Industrialisierung in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts waren die meisten Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts nach wie vor überwiegend ortsgebunden. Ausgedehnte Reisen innerhalb Deutschlands oder in das Ausland konnten sich zumeist nur wohlhabende Bürger leisten. Angesichts der Urbanisierung setzte die Jugendbewegung deshalb mit der Hinwendung zur Natur sowie der Betonung der (Volks-)Gemeinschaft einen deutlichen Akzent gegen die Individualisierung und Modernisierung der Gesellschaft.37 Auf der Wanderschaft und in den Jugendherbergen sollten die Jugendlichen durch Volkslieder, Volksstücke, Volkstänze sowie weitere Formen der Geselligkeit für das Volkstümliche sensibilisiert werden.38 Das hatte für Hassinger letztlich eine herausragend »volkspolitische« Bedeutung und war kein Selbstzweck: »Sie werden heimisch werden, und sie werden verstehen lernen, was es heißt, ein Volk sein, was es heißt, zu diesem Volk zu gehören«.39 Die Jugendherbergen waren für Hassinger deshalb Orte, an denen sich die »Volksgemeinschaft« verwirklichte.

»Volksgemeinschaft« als staatspolitisches Ziel der Jugenderziehung nach 1945 Die politischen und gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg unterschieden sich grundlegend von der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Deutschland war nunmehr von den Alliierten besetzt, die nur von wenigen als Befreier wahrgenommen wurden. Die nationalsozialistische Staatsideologie, in deren Sinne die Jugend zwölf Jahre lang erzogen worden war, wurde plötzlich diskreditiert. An der »Heimatfront« hatte sie die Bombardierungen miterlebt, viele Väter waren entweder an der Front umgekommen oder gerieten in Kriegsgefangenschaft, aus der sie mitunter erst Jahre später zurückkamen – wenn überhaupt. Die letzten Kampfhandlungen spielten sich zudem im Inneren Deutschlands ab. Sowohl die männlichen als auch die weiblichen Jugendlichen wurden teilweise im »Endkampf« gegen die heranrückenden Alliierten eingesetzt, nachdem der neue Reichsjugendführer Arthur Axmann 1943 den »Kriegseinsatz der deutschen Jugend« verkündet hatte. Die meisten Kindersol-

37 Vgl. Rüdiger Ahrens: Bündische Jugend. Eine neue Geschichte 1918–1933, Göttingen 2015; Reinhard Barth: Jugend in Bewegung. Die Revolte von Jung gegen Alt in Deutschland im 20. Jahrhundert, Berlin 2006; Walter Laqueur: Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie, Köln 1978. 38 Vgl. Antje Harms: Von linksradikal bis deutschnational. Jugendbewegung zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, Frankfurt a. M. u. a. 2021. 39 AdJb Best. A 201 Nr. 524, Die volkspolitische Bedeutung des Jugendherbergswerkes.

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daten waren als sogenannte »Flakhelfer« eingesetzt worden.40 Schließlich wurden die ohnehin kaum vorhandenen Lebensmittel rationiert und nur gegen Lebensmittelkarten ausgegeben. Angesichts dieser materiellen Not befürchtete Hassinger abermals, dass die Jugendlichen in einen enormen Nihilismus abrutschen könnten, wenn sie nicht von der Väter- und Müttergeneration zu neuen Sinnerkenntnissen angeleitet würden. Aus dem Stuttgarter Kultministerium schaltete er sich erneut publizistisch in die Debatte um die Entnazifizierung sowie die inhaltliche Ausrichtung der Jugendpflege ein. Neben der Frage nach der materiellen Jugendfürsorge hatte für ihn die Jugendpflege nach 1945 im Kontext der Demokratisierung, Entnazifizierung und der »Sinnsuche« eine herausragende Bedeutung. Er übernahm zwar sein Konzept der »Volksgemeinschaft« aus den Weimarer Jahren, aber jetzt betonte er zudem die Rechtsstaatlichkeit sowie die Demokratie als Grundpfeiler einer friedlichen Entwicklung Deutschlands: »Die uns anvertraute Jugend soll erzogen werden zur Liebe zu Volk und Heimat, zu sittlicher und politischer Verantwortlichkeit, zu beruflicher und sozialer Bewährung und zu freiheitlicher demokratischer Gesinnung«.41 Doch der nationalsozialistische Terror zwang auch Hassinger zur Reflexion seines Verständnisses von »Volk« und »Volksgemeinschaft«, in deren Namen der nationalsozialistische Staat zwölf Jahre lang Menschheitsverbrechen verübt hatte. Die »Volksgemeinschaft« wurde nicht mehr als alleiniges Hauptziel der Jugendbildung definiert, obwohl sie ein zentrales Element in Hassingers Weltbild und Erziehungsprogrammatik blieb. Sie wurde stattdessen in die Erziehung zur Verantwortung gegenüber anderen Menschen und anderen »Völkern« der Erde in der Vorstellung einer Weltgemeinschaft eingebettet: »Die mit solchen Eigenschaften ausgestatteten Menschen werden dann auf der Höhe ihrer Reife auch in der Lage sein, ohne einseitige Übersteigerung ihres Volksbewußtseins sich einer die ganze Welt umfassenden Bruderschaft freier Menschen zugehörig zu fühlen«.42 Gleichwohl blieb die »Volksgemeinschaft« als Sinnkonzept der Jugendarbeit sowie der Lebensgestaltung bestehen: »Diese Volksgemeinschaft […] muß erreicht werden und auch von der gesamten Jugend und den Jugendleitern als Ziel erkannt werden, wenn nicht unser Volk an geistiger Anarchie vollkommen zugrunde gehen soll«.43 Angesichts der vom nationalsozialistischen Staat verübten Menschheitsverbrechen an den europäischen Juden ist es allerdings befremdlich, dass Hassinger in seinen zahlreichen Schriften nur vereinzelt auf die Shoah sowie die deutsche Verantwortung nach 1945 eingeht, obwohl er bereits 1948 als evangelischer 40 Vgl. beispielsweise Ludger Tewes: Jugend im Krieg. Von Luftwaffenhelfern und Soldaten 1939–1945. Essen 1989. 41 AdJb Best. P 1 Nr. 1351, »Im Dienste der Kommenden«, S. 25. 42 Ebd., S. 27. 43 AdJb Best. P 1 Nr. 1351, »Unser Weg«, S. 5.

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Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Stuttgart gewählt wurde. In seiner Broschüre »Jugendpflege und Volksbildung44 widmete er der Beziehung zwischen »Christen und Juden« lediglich ein Kapitel auf knapp eineinhalb Seiten. Er betonte, dass »[n]ach wie vor […] die größten Vorurteile zwischen Menschen verschiedener Rasse«45 bestünden. Von deutscher »Schuld« oder Verantwortung sprach Hassinger jedoch nicht ausdrücklich, sondern betonte lediglich, dass »[a]llein um jener schauervollen Tat willen [Hassinger meint hier nur die sogenannte Reichspogromnacht, V.F.] […] wir Deutsche allen Grund [haben], uns zu schämen«.46 Die Betonung der Scham für die nationalsozialistischen Verbrechen implizierte allerdings keineswegs die Übernahme der Verantwortung oder der »Schuld« für diese Verbrechen. Vielmehr sah Hassinger darin ein pädagogisches Mittel, um die Deutschen gegen »Intoleranz, Haß und Feindseligkeit«47 zu erziehen, damit sie »[n]ie wieder solches Unheil mitansehen«48 müssen. Hassinger versetzte die Deutschen so in die Rolle der passiven Zuschauer, denen die Einsicht gefehlt hätte, »daß der Mensch anderer Rasse nicht schlechter, nicht weniger wertvoll, sondern eben auch ein Mensch ist«.49 Die Akzentuierung der »Opfergemeinschaft« war ein zentrales Bedürfnis »einer zerrissenen Nachkriegsgesellschaft, die eine gemeinsame Grundlage suchte, auf der man mit früheren Verbrechen umgehen konnte und auf der sich unterschiedliche politische Traditionen in einer demokratischen Kultur integrieren ließen«,50 so Neil Gregor zum gesellschaftlichen Schweigen über die nationalsozialistischen Verbrechen nach 1945. Hassinger lehnte schließlich auch die Forderungen nach Restitutionen ab, weil dies »zum Teil unverdiente Härten für diejenigen [bringt], die ehemals jüdischen Besitz rechtmäßig erworben haben«.51 Er verkannte jedoch die politische Realität der nationalsozialistischen Arisierung, die eben nur scheinbar rechtlich legal war.52 Durch einen gewaltigen äußeren Druck sowie die zunehmenden antisemitischen Maßnahmen wurden die Jüdinnen und Juden dazu gezwungen, ihren Besitz zu einem niedrigen Preis zu verkaufen, was wiederum für den Käufer einen enor44 Vgl. Heinrich Hassinger: Jugendpflege und Volksbildung. Ein Werk für Frieden und Freiheit, Stuttgart 1949. 45 Hassinger: Jugendpflege (Anm. 44), S. 28. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 29. 50 Neil Gregor: Das Schweigen nach 1945 und die Spuren der »Volksgemeinschaft«: Zu den Grenzen eines Forschungskonzepts, in: Dietmar Reeken, Malte Thießen (Hg.): »Volksgemeinschaft« als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort, Paderborn u. a. 2013, S. 341–352, S. 343. 51 Hassinger: Jugendpflege (Anm. 44), S. 29. 52 Vgl. Peter Hayes, Irmtrud Wojak (Hg.): »Arisierung« im Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft, Raub und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 2000.

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men Gewinn bedeutete. »Gewiß ist seinerzeit auch viel Unrecht geschehen, aber dieses Unrecht kann nicht dadurch wieder gutgemacht werden, daß man neues Unrecht darauf türmt«, so Hassinger zu den Restitutionsforderungen. Der enorme Flüchtlingsstrom aus den Gebieten Ost- und Südosteuropas während und nach Ende des Zweiten Weltkrieges löste in Deutschland Debatten aus über die Integration und Entschädigung sowie die Volkszugehörigkeit der Geflüchteten in einer noch nie dagewesenen Dimension.53 Doch auch zur Flüchtlingsfrage äußerte sich Hassinger äußerst zurückhaltend, weil ihm offensichtlich die politische Sprengkraft dieser Thematik durchaus bewusst war. Für ihn stand es aber außer Frage, dass die Geflohenen zum »deutschen Volk« gehören, was den inklusiven Charakter seines Verständnisses der »Volksgemeinschaft« abermals verdeutlicht: »Und da liegt unsere Aufgabe, hier und heute: Menschliches Entgegenkommen, freundliches Verständnis und brüderliche Hilfsbereitschaft zu zeigen«.54 Sowohl von den Jugendlichen als auch allen in der Jugendarbeit tätigen Erwachsenen forderte Hassinger »die bereitwillige Aufnahme der Flüchtlingsjugend in die Kreise der bestehenden Jugendverbände«.55 Die gemeinsam veranstalteten Zeltlager nährten in ihm die Hoffnung, »daß wenigstens die Jugend die Straße zueinander findet, um die sich die ältere Generation noch vergeblich müht«.56 Problematisch bleibt schließlich das Frauenbild Hassingers. Während seine Darmstädter Schriften die Rolle der Frau nicht thematisieren, berührte er nach dem Zweiten Weltkrieg nur punktuell die gesellschaftliche Stellung der Frau: »Ich möchte hier noch ein eigenes Wort an die Frauen richten, denn allzu leicht vergessen wir, daß alles Werden menschlicher Kultur und Bildung nicht nur auf der sichtbaren Tätigkeit des Mannes beruht, sondern immer zugleich auch der stillen, verborgenen Fraulichkeit und Mütterlichkeit bedarf«.57 Die Frau sollte lediglich im Verborgenen, höchstens als die Helferin des Mannes wirken. Die Hauptaufgabe der Frau lag für ihn in der Familie, in der Versorgung der Kinder und der Unterstützung des Mannes. Deshalb bedauerte er auch jene Frauen, die infolge des Ersten Weltkrieges nicht heiraten und keine Familie gründen konnten, weil zahlreiche Männer im Krieg umgekommen waren. Bei der Entnazifizierung forderte Hassinger die Abkehr von der formalen Schuldvermutung aufgrund von Mitgliedschaften in nationalsozialistischen Organisationen. In Württemberg-Baden wurde die politische Säuberung auf Grundlage des Gesetzes Nr. 104 zur Befreiung von Nationalsozialismus und 53 Vgl. Wolfgang Benz (Hg.): Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen, Frankfurt a. M. 1996. 54 Hassinger: Jugendpflege (Anm. 41), S. 31. 55 Ebd. 56 Ebd. 57 Ebd., S. 36.

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Militarismus vom 5. März 1946 durchgeführt. Vergebung und Versöhnung als Dimensionen christlicher Glaubenslehre sollten seiner Meinung nach über dem Entnazifizierungsgesetz stehen. Obwohl man die Bestrafung der »echten« Nationalsozialisten forderte, wurde das Gros der Gesellschaft pauschal zum Opfer des Nationalsozialismus erklärt.58 »Es ist jetzt endlich Zeit, daß wir die trennenden Gräben, die unser Volk durchziehen und es oft geradezu in zwei feindliche Lager spalten, zuwerfen und zuschütten, daß wir uns endlich die Hände reichen und uns darauf besinnen, gemeinsam den Karren aus dem Dreck zu ziehen«,59 so Hassingers zentrale Forderung zur Entnazifizierung. Bewusst stellte er sich auch gegen jede Stigmatisierung sowie Ausgrenzung ehemaliger Parteigenossen sowie HJ-Führer. Er wollte stattdessen der Jugend eine Chance geben, sich mit der neuen demokratischen Staatsform zu versöhnen.60 Die Jugendamnestie vom August 1946 stellte schließlich die Jahrgänge nach 1919 unter Straffreiheit, sofern sich nur eine nominelle Parteimitgliedschaft in der NSDAP oder in einer anderen nationalsozialistischen Organisation nachweisen ließ. Das Kultministerium in Württemberg-Baden konnte die Jugendpflege dank des unermüdlichen Einsatzes Hassingers beträchtlich ausbauen. Dies geschah jedoch in enger Kooperation mit der Militärregierung sowie vor allem unter ihrer gründlichen Aufsicht.61 Neben einem zügigen Wiederaufbau der Volkshochschulen gelang es dem Ministerium auch, die zerstörten und geplünderten Volksbüchereien teilweise mit den Beständen der ehemaligen Gestapo, die diese während des Nationalsozialismus beschlagnahmt hatte, und der amerikanischen Militärregierung wieder aufzubauen. Der Wiederaufbau der Sportvereine sowie der Sportstätten ging ebenfalls zügig voran. Das Jugendwandern – die Herzensangelegenheit Hassingers – wurde dadurch gefördert, dass man neben der zügigen Wiedereröffnung der unzerstört gebliebenen Jugendherbergen sowie dem Wiederaufbau und Neubau zusätzlicher Häuser eine 50-prozentige Fahrpreisermäßigung für Jugendwanderfahrten erreichen konnte.62 Bereits an Ostern 1946 standen im Gebiet Nordwürttembergs insgesamt zwölf Jugendherbergen für Gäste offen.63 Gemeinsam mit der Stuttgarter Volkshochschule errichtete das Kultministerium eine Abendoberschule, an der Berufstätige die Reifeprüfung

58 Vgl. Thomas Kühne: Dämonisierung, Viktimisierung, Diversifizierung. Bilder von nationalsozialistischen Gewalttätern in Gesellschaft und Forschung seit 1945, in: Oliver von Wrochem (Hg.): Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie, Berlin 2016, S. 32–55. 59 Hassinger: Jugendpflege (Anm. 44), S. 22. 60 Vgl. HStAS EA 3/152 Bü 36, »Gebt der deutschen Jugend eine Chance«, 16. 01. 1947. 61 Vgl. Kultministerium Württemberg-Baden: 5 Jahre Kultministerium Württemberg-Baden. Ein Tätigkeitsbericht 1945–1950, Stuttgart 1951, S. 61–69. 62 Vgl. ebd., S. 65. 63 Vgl. ebd., S. 66.

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nachholen konnten.64 In enger Zusammenarbeit mit der amerikanischen Militärregierung wurde beispielsweise auch die Sport- und Jugendleiterschule in Ruit (Ostfildern) gegründet mit dem dezidierten Ziel, den Deutschen demokratische Werte beizubringen.65 Hier wurden die Jugendbetreuer*innen und Jugendleiter*innen pädagogisch auf ihre Arbeit mit den Jugendlichen in den Verbänden vorbereitet. Unter anderem wurde hier auch der Versehrtensport betrieben, durch den die Kriegsversehrten Anschluss an die Gesellschaft bekommen sollten. Diese Einrichtung hatte also einen enorm integrativen Charakter und förderte so die Wiedereingliederung ehemaliger geistig und körperlich traumatisierter Soldaten in die Gesellschaft. Erst in den 1960er Jahren entwickelte sich die Schule zu einer Sportausbildungsstätte.66 Nach dem Zweiten Weltkrieg erkannte Hassinger, dass sich die Jugend angesichts des nationalsozialistischen Terrors in einer enormen Vertrauenskrise gegenüber den staatlichen Institutionen befand. Diese sollten deshalb nun nach dem Grundsatz arbeiten, »die aus der Jugend selbst wachsenden Bestrebungen nicht zu gängeln, sondern sie als eigenständig anzuerkennen und ihnen lediglich unterstützend beizuspringen«.67 Unter Hassingers Vorsitz wurde deshalb im April 1946 der »Württembergische Landesjugendring« gegründet, in dem sich die zahlreichen konfessionellen, musischen, kulturellen, politischen und gewerkschaftlichen Jugendverbände zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen hatten. Diese Institution sollte die Interessen der einzelnen Jugendverbände gegenüber dem Staat sichern. Bis heute ist der Landesjugendring die wichtigste Interessenvertretung der Jugendverbände und Jugendringe in BadenWürttemberg. Als politisches Mitspracheorgan wurde zudem in Stuttgart ein Jugendparlament errichtet, welches sich für die Förderung der Jugendpolitik einsetzte. Das Jugendparlament forderte beispielsweise angesichts der Nachkriegsnot die Errichtung von Jugendwohnheimen, Erweiterung von Lehrwerkstätten, Einrichtung eines Jugendzentrums sowie mehr Heizmaterial für die Jugendheime. Eine demokratische und weltoffene Verwirklichung der »Volksgemeinschaft« sowie die aktive Teilnahme an politischen Entscheidungsprozessen sollte die kriegstraumatisierte Jugend vor der »geistigen Obdachlosigkeit« bewahren und sie so mit der demokratischen Staatsform versöhnen. Den Jugendlichen wurde zudem die Chance gegeben, in staatlich geförderten Jugendzeit64 Vgl. ebd., S. 62f. 65 Vgl. Harald Flößer: Sportschule Ruit: Institution mit bewegter Geschichte, 10. 01. 2020, verfügbar unter: https://www.esslinger-zeitung.de/inhalt.die-amerikaner-gruendeten-die-einri chtung-1948-als-bewusst-friedliche-institution-sportschule-ruit-institution-mit-bewegter-g eschichte.3a57578a-1c52-452c-94b3-b3c06cd51452.html [04. 01. 2022]. 66 Vgl. Jochen Bender: »Es geht uns um den Menschen«. Die Geschichte der Sport- und Jugendleiterschule Nellingen/Ruit, Neustadt an der Aisch 1995. 67 Kultministerium Württemberg-Baden: Tätigkeitsbericht (Anm. 61), S. 65.

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schriften sowohl die »typischen« Jugendfragen wie Mode, Kultur, Kino und Theater als auch die politischen Themen zu behandeln. Auch die Völkerverständigung wurde dadurch gefördert, dass ausländische Jugendliche – vor allem aus dem angelsächsischen Raum – nach Deutschland kamen und in den Jugendzeitschriften ausführlich über ihre Eindrücke berichteten. Die Verwirklichung der »Volksgemeinschaft« im inneren sowie eine friedliche Eingliederung Deutschlands in die Weltgemeinschaft bedingten sich in Hassingers Programmatik gegenseitig; das eine konnte in seinen Augen ohne das andere nicht funktionieren. Die historische Forschung hat das Konzept der Volksgemeinschaft bislang weitgehend nur für die Untersuchung der nationalsozialistischen Gesellschaftsgeschichte herangezogen.68 Hassingers Forderungen nach der Verwirklichung der »Volksgemeinschaft« nach 1945 verdeutlichen allerdings, dass dieses Konzept ebenso für ein besseres Verständnis der Nachkriegsgesellschaft herangezogen werden kann.69 Schließlich ist Hassingers Tätigkeit ein Beispiel dafür, dass die »Sinnfragen« nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur von den Jugendlichen selbst, sondern auch in deren Namen von den Erwachsenen gestellt wurden. Auf welche Weise dies geschah, verdeutlichen die übrigen Beiträge dieses Sammelbandes. Hassinger hingegen nahm sich als Vertreter der Elterngeneration der Jugendlichen aus der Verwaltung heraus an. Dabei griff er vor allem auf die jugendbewegten Praktiken aus der Vorkriegszeit zurück, die in seinen Augen nach wie vor einen übergeordneten Sinn hatten – der Verwirklichung einer friedlichen »Volksgemeinschaft«. Hassingers Verdienste liegen jedoch neben seinen programmatischen Ausführungen vor allem im (Wieder-) Aufbau und der Betreuung der Jugendherbergen und anderer Einrichtungen, in denen sich die Jugendlichen ohne staatspolitische Indoktrination wieder begegnen konnten. Hier konnten sie selbst nach Antworten auf die dringenden »Sinnfragen« suchen. Die Schriften Hassingers sind aus der soziologischen Perspektive auch deshalb interessant, weil er darin der Jugendarbeit einen übergeordneten Sinn zuschreibt.70 Die Jugendlichen sollen seiner Vorstellung zufolge in der erlebten Gemeinschaft selbst diesen höheren Sinn erkennen und ihre Lebensweise und das Handeln auf die Verwirklichung der friedlichen »Volksgemeinschaft« hin ausrichten. Inwieweit aber die Jugendlichen die Sinndeutung Hassingers weitertradierten oder in ihr Weltbild übernahmen, kann hier nicht ausgeführt werden und bedarf weiterführender Untersuchungen. Die Jugendlichen hatten zwar durchaus eine bestimmte Vorstellung von der »Volks68 Vgl. Michael Schneider: Kontroversen um die »Volksgemeinschaft«. Zu neueren Arbeiten über die Gesellschaft des »Dritten Reichs«, in: Archiv für Sozialgeschichte, 2020, Nr. 60, S. 381–434. 69 Vgl. Gregor: Schweigen (Anm. 50). 70 Vgl. Gregor Bongaerts: Sinn, in: Johannes Kopp, Anja Steinbach (Hg.): Grundbegriffe der Soziologie, Wiesbaden u. a. 122018, S. 401–403.

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gemeinschaft«, inwieweit diese allerdings durch die nationalsozialistische Indoktrination beeinflusst worden war, wird man nicht pauschal beantworten können. Ausgehend von den Schriften Hassingers wäre deshalb vor allem die Frage zielführend, ob und inwieweit die Jugendlichen seine Schriften rezipierten und davon ausgehend ihr Verständnis von der »Volksgemeinschaft« veränderten. Oder fanden sie nach 1945 in den Jugendverbänden einen gänzlich anderen Sinn für die zukünftige Jugendarbeit? Antworten auf diese Fragen könnte Hassingers Tochter Lieselotte Apel (geb. Bildstein-Hassinger) geben, die nach 1945 im Bund deutscher Pfadfinderinnen aktiv war.71

71 Vgl. Nachlass der Familie Hassinger, HStAS P 42.

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Jugend und Sinnstiftung in Paul Schempps frühen Nachkriegstexten

»Ich finde Mond und Stern bei Stern / Und suche nach dem Sinn / Und spüre nur noch ganz von fern, / Daß ich am Leben bin.«1 Das Stichwort Sinn ist gefallen: Hier artikuliert ein Ich seine verzweifelte menschliche Existenz als Entfremdung. Das Subjekt ist bei seiner Sinnsuche ganz auf sich allein gestellt, auch die Himmelskörper bieten keine Orientierung mehr. Zwar irgendwie noch »am Leben«, aber ganz sicher scheint sich dieses Ich seiner Identität nicht (mehr) zu sein. Diese Verse stammen aus dem Gedicht »Im Leben« von Karl Krolow. Interessant für die Sinnfrage nach 1945 ist dieses Gedicht deshalb (obschon bereits 1942 geschrieben), weil es den für die unmittelbare Nachkriegszeit von Zeitgenossen so vielfach konstatierten Sinnverlust in radikaler Konsequenz poetisch ausgestaltet. Orientierungslosigkeit, Fremdheit und Existenzangst durchziehen den gesamten Text: »Des Nachts fahr ich mit fremder Hand / Mir zögernd durchs Gesicht. / Und hab ich mich im Licht erkannt, / Im Dunkel bin ichs nicht.« Völlig fremd und unverständlich erscheinen dem lyrischen Sprecher Alltägliches und eigentlich Selbstverständliches (»Die Vase, rund, der Leuchter schmal. / Wie soll ich sie verstehen?«), ebenso wie Tiere und Pflanzen (Fasan, Pfau, Tulpe) oder »das stille Bild der Frau«. An Krolow zeigt sich eine Typik der ästhetischen Reflexion über eine transzendentale Obdachlosigkeit, die höchst aufschlussreich für die nach dem Zweiten Weltkrieg besonders virulenten Sinnfragen ist. Wer oder was kann denn jetzt Trost spenden, beim Verstehen helfen und: Welche Deutungsmuster stehen dem Einzelnen nun zur Verfügung? Die himmlischreligiöse Sphäre jedenfalls – so deutet das Gedicht an – ist dazu nicht in der Lage, so demütig sich das Ich zu Beginn des Gedichts auch zu geben scheint (»Ich weiß, dies Hemd und grobe Tuch / Sind mir nur ausgeliehn«). Zu weit entfernt sind die Himmelskörper, ein Sinn nur schemenhaft erkennbar, immer wieder scheint er sich zu entziehen; das vorherrschende Prinzip des Gedichts besteht im Entzug 1 Karl Krolow: Gedichte, Konstanz 1948, S. 5. Das Gedicht »Im Leben« eröffnet den Band. – Für kritische Lektüre und wertvolle Hinweise danke ich Saskia Fischer, Wolfgang Braungart und Justus H. Ulbricht.

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eines Sinns, den das eingeengte, beklagenswerte Ich zu erhaschen versucht – eine quälende Suche und eine große Herausforderung für die Deutungsarbeit des Subjekts.2 Krolows Gedicht scheint die in der Forschung verbreitete These zu bestätigen, dass die Nachkriegsliteratur sich durch einen pathetischen Duktus, einen Hang zum Existentiellen und zu einer gewissen Schwere der Themen auszeichne.3 Gewiss: Auch das Krolow’sche Ich klopft mögliche Sinnstiftungsinstanzen (Liebe, Natur, Religion) in der Zeit eines geschichtlichen Wandels auf ihre mögliche Brauchbarkeit hin ab. »Im Leben« ist ein Gedicht, das einer Grunderschütterung Ausdruck verleiht. Sinn ist prekär, scheint lediglich ein Reservoir für Fragmentarisches zu sein, tradierte Selbst- und Weltzuschreibungen werden fragwürdig: Das lässt sich an vielen Texten der unmittelbaren Nachkriegszeit beobachten. Und oft hängen die Sinnfragen nach 1945 mit Reflexionen über Jugend, über die junge Generation zusammen – Jugend als Erkenntnisperspektive, als Sinn-Erfahrung, als Träger gesellschaftlich akzeptierter Sinnstiftung. Sinn, so lässt sich mit Jörn Rüsens konziser Definition sagen, »ist die Fähigkeit des Menschen, seine äußere und innere Welt wahrzunehmen, zu verstehen und zu behandeln. […] ›Sinn‹ ist Vollzug und Resultat des menschlichen Geistes im Umgang mit der (äußeren und inneren) Welt.«4 Das meint auch: Die Frage nach den richtigen Prioritäten, ein In-Beziehung-Setzen zur geschichtlichen Situation, die Suche nach verbindlichen Werten, Maßstäben und Orientierungen.5 Welche Welt- und Daseinsorientierung kommt also in den frühen Nachkriegstexten zur Sprache?

2 Vgl. auch die Deutungen von Fausto Cercignani: Zwischen irdischem Nichts und machtlosem Himmel. Karl Krolows Gedichte 1948. Enttäuschung und Verwirrung, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 1986, N. F. 27, S. 197–217, und von Thomas Boyken: Das Gedicht als Wiedergänger. Versprachlichung und Ästhetisierung des Traumas in den frühen Gedichten Karl Krolows, in: Thomas Boyken, Nikolas Immer (Hg.): Texturen der Wunde. Konstellationen deutschsprachiger Nachkriegslyrik, Würzburg 2016, S. 145–163, besonders S. 154f. Ein weiteres Beispiel wäre Günter Eichs Gedicht »Inventur« (1947), das die Erschütterung von Sinngebungsinstanzen in einem schmuck- und illusionslosen Gestus poetisch artikuliert. 3 Vgl. Fabian Lampart: Nachkriegsmoderne. Transformationen der deutschsprachigen Lyrik 1945–1960, Berlin u. a. 2013. 4 Jörn Rüsen: Historische Sinnbildung. Grundlagen, Formen, Entwicklungen, Wiesbaden 2020, S. 7. 5 Vgl. Heinrich Döring, Franz-Xaver Kaufmann: Kontingenzerfahrung und Sinnfrage, in: Franz Böckle, Franz-Xaver Kaufmann, Karl Rahner (Hg.): Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft. Teilband 9, Freiburg i. Br. u. a. 1981, S. 5–67. Nach Hans Joas sind subjektive Evidenz und affektive Intensität die Voraussetzungen dafür, dass Gesellschaften ihre Sinn- und Wertstrukturen ändern. Vgl. Hans Joas: Die lange Nacht der Trauer. Erzählen als Weg aus der Gewalt (Hans-Kilian-Preis 2013), Gießen 2015, S. 33.

Jugend und Sinnstiftung in Paul Schempps frühen Nachkriegstexten

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Sinn, Sinnsuche und Jugend nach 1945 Die Ansprachen an die Jugend des Theologen Paul Schempp (1900–1959), die in der frühen Nachkriegszeit in kurzer Reihenfolge nacheinander erschienen sind,6 beteiligen sich an der heftigen Debatte über den Legitimationsbedarf eines neuen Gesellschaftsentwurfs, der durch die Krise der Wertvorstellungen und das singuläre Verbrechen der Shoah entstanden ist. Schempp ruft verschiedene Institutionen von Sinnreflexion auf. Bei ihm sind es v. a. Religion und Literatur, die der Jugend einen Ausweg aus der Sinnkrise ermöglichen können. Für Schempp hat die tiefgreifende Auseinandersetzung mit Jugend und der Jugendbewegung strukturelle Bedeutung in einer geschichtlichen Phase, die durch das Ende bisheriger kultureller Selbstverständlichkeiten, von einer gänzlich veränderten Bewusstseinslage und von neuen mentalen Herausforderungen – besonders für die Jugend – gekennzeichnet ist. Welche Kultur- und Traditionsbestände, die nicht desavouiert, korrumpiert oder kontaminiert sind, stehen der Jugend in den ersten Jahren nach 1945 zur Verfügung? Schempps Ansprachen geben Beispiele, an denen die im Folgenden näher untersuchte Verschränkung von Sinnsuche und Jugend ins Grundsätzliche überführt werden kann. Seine Reden und Broschüren sind der Versuch einer Antwort auf die ubiquitäre Sinn- und Orientierungskrise und ergänzen mit ihrer Thematisierung der jungen Generation, so meine These, den kulturellen Diskurs der Nachkriegszeit auf instruktive Weise. Sie wollen Orientierungshilfen für die Jugend in einer Zeit anbieten, die als diffus und kontingent wahrgenommen wird, und gehören in eine Reihe von Texten, die ihre philosophischen und soziologischen Positionsbestimmungen ganz wesentlich im Rückgriff auf Jugend entfalten. Schempps Argumentation, so werde ich zeigen, läuft auf eine religiöse Metanoia-Vorstellung hinaus: Ein wirklicher Neuanfang könne nur dann gelingen, wenn sich die Jugend reumütig auf das wahre Christentum rückbesinne. Die ersten Nachkriegsjahre werden von vielen Akteuren als Krise und große Herausforderung, als Phase eines grundlegenden Wandels wahrgenommen. Sowohl in materieller als auch in immaterieller, mentaler und ideeller Hinsicht waren die Kriegszerstörungen eminent.7 Das muss man sich stets vor Augen führen: Zu den konkreten Lebensumständen in den ersten Jahren nach 1945 6 Paul Schempp: Frei und verantwortlich. Ein Brief, Stuttgart 1946; ders.: Wer hilft der Jugend?, Stuttgart 1946 (der Text wurde im Dezember 1945 geschrieben, der Vortrag gehalten im Rahmen der Vortragsreihe »Besinnung«, veranstaltet vom Innenministerium für Württemberg und Baden); ders.: Der Volkserzieher. Gedanken zur Erziehungsreform, Ulm 1947. 7 Vgl. hierzu auch Jorg Echternkamp: Nach dem Krieg. Alltagsnot, Neuorientierung und die Last der Vergangenheit, Zürich 2003, S. 133ff.; Christoph Kleßmann: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955, 5. überarb. und erw. Aufl., Bonn 1991 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung 298), S. 37ff.

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gehörten Hunger, Wohnungsnot, der Mangel an Erwerbstätigkeit, die Zerstörung der Infrastruktur und die Unsicherheit über das Schicksal von Verwandten und Freunden. Schwierig und viel diskutiert ist bis heute Hans Egon Holthusens an kulturkritische Reflexionen der Moderne anknüpfende Schlagwort vom »unbehausten Menschen«.8 Im Christentum erkannte Holthusen die Möglichkeit, den Wertezerfall und die Bindungs- und Orientierungslosigkeit zu überwinden. Ähnlich hatte schon Schempp in seiner Schrift »Der Volkserzieher« (1947) argumentiert: »Man kann sehr skeptisch sein gegenüber der Möglichkeit der Aufstellung eines gemeinsamen Wertesystems angesichts der heutigen Wertezertrümmerung und Begriffsverwirrung.«9 Nach Schempp bedürfe »der wirkliche, konkrete Mensch, der bekannte und rätselhafte Mensch, dieses offene Geheimnis Mensch« einer »geistigen Sinngebung«.10 Diese und ähnliche Kurzformeln lassen sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit als Signum eines endgültigen Verlustes (transzendenter) Geborgenheit vielfach finden, so auch bei Nelly Sachs, Max Frisch, Martin Walser oder Friedrich Dürrenmatt. Sie werfen ein bezeichnendes Licht auf den Verlust der Geborgenheit, Daseinsangst und Geworfenheit des Nachkriegmenschen. Dieser sei nach Schempp der »vom Magen her bestimmte, der arme, der gefährdete, der haltlose, profane, an seinem Heroismus gescheiterte Mensch, eingeklemmt in der Mitte zwischen Rechtfertigung und Verfluchung seiner Existenz, zu energielos, um das eine oder das andere ganz zu wollen und zu tun, dieser seine Gestalt- und Gehaltlosigkeit ungewollt verratende oder umsonst verdeckende kleine, nicht ausgelassene, sondern gelassene, nicht unbändige, sondern zahme Mensch mit der Zähigkeit einer noch gesunden Natur ist der Typ des Menschen, dem wir heute in allen Schichten am häufigsten begegnen«.11

Deutlich wird an diesen Aussagen: Neben der physischen und materiellen Not nimmt Schempp ein Sinnvakuum wahr. Die jüngere kulturhistorisch, philosophisch und soziologisch ausgerichtete Forschung hat den ersten Nachkriegsjahren 1945 bis 1949 verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt. Wie vollzog sich die intellektuelle Selbstverständigung in der ersten Nachkriegsphase, für die ganz unterschiedliche Termini vorgeschlagen worden sind? Hans Ulrich Gumbrecht und Anselm Haverkamp haben die gesellschaftlichen Dynamiken in dieser Zeit des Ringens um eine geistig-moralische Neugestaltung als »Latenz« beschrieben.12 Bezieht man weitere Begriffsvorschläge – »Interregnum«, so schon die zeitgenössische Wendung von Hans 8 Hans Egon Holthusen: Der unbehauste Mensch. Motive und Probleme der modernen Literatur, München 1951. 9 Schempp: Volkserzieher (Anm. 6), S. 6. 10 Ebd., S. 8. 11 Ebd., S. 31f. 12 Anselm Haverkamp: Latenzzeit. Wissen im Nachkrieg, Berlin 2004; Hans Ulrich Gumbrecht: Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart, Berlin 2012.

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Werner Richter; Umbruch, »Liminalitätsphase«,13 Inkubationszeit, politischkulturelles Vakuum, »Wolfszeit«14 – in die Betrachtung ein, so wird evident, dass sich die frühe Nachkriegszeit als eine Verdichtungsphase von Ängsten, Hoffnungen, Utopien und Weltdeutungsherausforderungen darstellt.15 »Nie war die Zukunft in Deutschland so wenig vorhersehbar, nie das Chaos so allgegenwärtig wie im Frühjahr 1945«, schreibt Heinrich August Winkler in seinem Standardwerk »Der lange Weg nach Westen«. Die »›Zusammenbruchsgesellschaft‹ war eine Gesellschaft im Ausnahmezustand. Sie brachte keine neue Ordnung hervor, sondern die tiefe Sehnsucht, so rasch wie möglich zu irgendeiner Art von ›Normalität‹ zurückzukehren.«16 Vor allem mit Blick auf einen neuen, umfassenden Gesellschaftsentwurf trifft diese These Winklers zu. Angesichts der überall sicht- und spürbaren Zerstörung von Ordnungen führte die zeitgenössische Sinnsuche zu ganz unterschiedlichen Zielen: in die Vergangenheit scheinbar unverfänglicher, weiterhin gültiger Werte (Europa, das Abendland, Humanismus, die Religion) oder ins Utopische. »›Nach dem Krieg‹ – dies ist die Zeitrechnung«, so heißt es in Ingeborg Bachmanns Erzählung »Unter Mördern und Irren« über die Suche nach neuen Orientierungsmarken.17 Auf welche Sinnangebote und kulturellen Denkmuster kann man denn zurückgreifen, sich beziehen, an was sich klammern? Das muss stets konkret heißen: Auf welche Weise genau, mit welchem Ziel und mit welchen Konsequenzen ist wo angeknüpft worden. Und: Gibt es nach Shoah und Krieg überhaupt so etwas wie eine bruchlose Kontinuitätslinie oder bleibt die »Zäsur« stets nur eine »vernähte[]«, wie es Paul Celans Gedicht »Ars Poetica 62« deutlich macht?18 Häufig implizieren die zeitgenössischen Reflexionen über die ge-

13 Jürgen Reulecke: Wie soll es weitergehen? Zum westdeutschen Generationendiskurs nach 1945, in: Dan Diner, Gideon Reuveni, Yfaat Weiss (Hg.): Deutsche Zeiten. Geschichte und Lebenswelt. Festschrift für Moshe Zimmermann, Göttingen 2012, S. 274–287, hier S. 275. 14 Harald Jähner geht in seinem äußerst erfolgreichen und breitrezipierten Sachbuch »Wolfszeit« (Reinbek 2019) den sich wandelnden Mentalitäten und psychischen Herausforderungen jener Jahre nach. 15 Wichtige theoretische Schriften dieser Zeit wählen eine longue durée, großflächige Evolutionsgeschichten, um die geschichtliche Gegenwart reflektieren und deuten zu können, so etwa Horkheimer und Adorno in ihrer »Dialektik der Aufklärung«, Ernst Robert Curtius, Erich Auerbach und Hans Blumenberg. 16 Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Bd. II. Vom »Dritten Reich« bis zur Wiedervereinigung, München 2000, S. 121. Vgl. zur Mentalitätsgeschichte der frühen Nachkriegsjahre auch Frank Biess: Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik, Reinbek 2019, S. 41ff. 17 Ingeborg Bachmann: Werke 2, hg. von Christine Koschel, München 1978, S. 159. 18 Paul Celan: Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Mit den zugehörigen Radierungen von Gisèle Celan-Lestrange. Hg. und kommentiert von Barbara Wiedemann, Berlin 2018, S. 444.

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schichtliche Gegenwart die Vorstellung eines Neuanfangs und Nullpunkts.19 Auf ihn kommt auch Schempp explizit zu sprechen, unauflösbar verschränkt mit der Situation der Jugend in der unmittelbaren Nachkriegszeit: »Wir stehen heute an einem Neuanfang, und zwar an einem Anfang nahezu vom Nullpunkt geistiger Mündigkeit aus. Die Fremdherrschaft über Geist und Wort, der Ersatz von Bildung und Erziehung durch Züchtigung hat eine ungeheure Entpersönlichung zur Folge gehabt. […] Auch die Angehörigen der Kirchen sind als solche meist unmündig. […] Nur die Jugend kann nicht zu einer eigenen Vergangenheit zurück. Da ist es verständlich, daß viele Lehrer diese geistig heimatlos gewordene Jugend einladen und aufnehmen wollen in ihre eigene frühere Gedankenwelt, in die Hütten ihrer Weltanschauung von einst. Aber die Freiheit jener Vielfalt geistiger Haltung war nirgends so fest, so mündig, so verantwortlich, daß sie nicht der Despotie oder Verführung des im Paradeglanz marschierenden Geistes der braunen Bataillone erlegen wäre. Sollte sie jetzt auf einmal über den Trümmern zur Mündigkeit, zur Reife mannhaften Selbstbewußtseins erwacht sein?«

Schempps Ansprachen an die junge Generation, die nun genauer betrachtet werden sollen, verhandeln Jugend, die auch hier wie in so vielen Zuschreibungen Älterer in den ersten Jahren nach 1945 eigentümlich undifferenziert und diffus bleibt, mit unterschiedlichen Akzentsetzungen.20 Eine ganz ähnliche Strategie wählten Hans Werner Richter und Alfred Andersch, die sich ebenfalls (vor allem mit ihrer Zeitschrift »Der Ruf«) über generationelle Grenzen im kulturellen Feld nach 1945 zu positionieren versuchten: Die Jugend sei das Opfer der Alten.21

19 Die »historisch falsche« Rede von einem Nullpunkt, so Christoph Kleßmann, verweise »auf eine dominierende sozialpsychologische Befindlichkeit, nämlich die totale Hoffnungslosigkeit angesichts von Zerstörung, Niederlage und Perspektivlosigkeit, andererseits auf die eher bei politisch bewußten Minderheiten zu findende Hoffnung eines Neuanfangs.« Christoph Kleßmann: Stationen des öffentlichen und historiographischen Umgangs in Deutschland mit der Zäsur von 1945, in: Dietrich Papenfuß, Wolfgang Schieder (Hg.): Deutsche Umbrüche im 20. Jahrhundert, Köln 2000, S, 459–472, hier S. 460. 20 Vgl. grundsätzlich zum ›Generationen‹-Konzept Ohad Parnes, Ulrike Vedder, Stefan Willer: Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt a.M. 2008. 21 Stefan Willer spricht von einer »Strategie der Selbstentschuldung durch Selbstenterbung«. Stefan Willer: Erbfälle. Theorie und Praxis kultureller Übertragung in der Moderne, Paderborn 2014, S. 300. Vgl. auch Norman Ächtler: Generation in Kesseln. Das Soldatische Opfernarrativ im westdeutschen Kriegsroman 1945–1960, Göttingen 2013. Eine völlig andere Vorgehensweise wählte die Zeitschrift »Merkur«: Die Herausgeber betonten die Kontinuität zu den kulturellen Traditionen, vor allem zu denen der Zwischenkriegszeit.

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Die junge Generation bei Paul Schempp Die junge Generation bedürfe nach Schempp einer geistigen und kulturellen Neusortierung; die Jugendlichen befänden sich gewissermaßen in einer sinnlosen Situation. Typisch und repräsentativ für die Wandlungsphase der frühen Nachkriegszeit sind die Textsorten und Formen, die Schempp für seine Reflexionen über die Jugend wählt: Ansprache, kurze Broschüre, Aufruf, Appell – sie orientieren sich an den programmatischen Auseinandersetzungen der frühen Nachkriegszeit. Dass der Jugend- und Generations-Begriff in den Titeln zahlloser Nachkriegszeitschriften verwendet wurde, ist gewiss kein Zufall.22 »Schempps Zuschreibungen«, so resümiert Benjamin Möckel, »lassen sich als ein paradigmatisches Beispiel dafür lesen, in wie starkem Maße die zeitgenössischen Jugendjahrgänge in direkter Abgrenzung zu den Jahrgängen des Ersten Weltkriegs wahrgenommen und dabei vor allem durch die Abwesenheit bestimmter generationeller Merkmale charakterisiert wurden.«23 Schempp versucht die gegenwärtige Situation der Jugend approximierend zu taxieren und auszuloten, wer und was sie aus der geistigen Leere herausführen könnte. Schempp spricht zudem mit der Autorität und Glaubwürdigkeit desjenigen, der zur NS-Zeit im Widerstand war; ganz Ähnliches gilt für Ernst Wiechert.24 Ein kurzer biographischer Abriss sei gestattet: Schempp studierte Theologie am Evangelischen Stift in Tübingen, 1931 wurde er Stadtpfarrer in Waiblingen. Vor und nach der Konfirmation gehörte Schempp zu einer Gruppe pietistischer Pfadfinder. Sein Buch »Luthers Stellung zur Heiligen Schrift« erschien 1929, seit 1934 war er Mitherausgeber der Zeitschrift »Evangelische Theologie«, dem wichtigsten theologischen Organ der Bekennenden Kirche; sie wurde 1938 verboten. Von 1933 bis 1943 wirkte Schempp als Pfarrer in Iptingen, 1939 wurde er von seinem Amt abgesetzt. Auf Drängen der Gemeinde konnte Schempp jedoch das Pfarramt unabhängig von der landeskirchlichen Verwaltung weiter ausüben. 1943 legte er sein Pfarramt nieder und trat aus der Landeskirche aus.25 Schempp 22 Die »Urteile« über die Jugend in den frühen Nachkriegszeitschriften seien jedoch, wie Jürgen Reulecke zutreffend bemerkt, »Zuschreibungen von außen«: »Die der Jugend zugewiesenen Attribute wie ›schweigend‹, ›erschüttert‹, ›skeptisch‹, ›heimatlos‹, ›überangestrengt‹, ›ratlos‹, ›nihilistisch‹ und Ähnliches stammten« zumeist von Älteren. Reulecke: Generationendiskurs (Anm. 13), S. 277. 23 Benjamin Möckel: Erfahrungsbruch und Generationsbehauptung. Die Kriegsjugendgeneration in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften (Göttinger Studien zur Generationsforschung 16), Göttingen 2014, S. 277. 24 Über Ernst Wiecherts »Rede an die deutsche Jugend« (11. November 1945) und die »500. Rede an die deutsche Jugend. Eine Parodie, frei nach Ernst Wiechert« hat Meinolf Schumacher auf der Ludwigstein-Tagung eindringlich gesprochen. 25 Vgl. Ernst Bizer: Ein Kampf um die Kirche. Der »Fall Schempp« nach den Akten erzählt, Tübingen 1965. Siehe zur Biographie Schempps fürderhin Martin Widmann: Zum Gedenken an Paul Schempp (1900–1959), in: Evangelische Theologie, 1982, Nr. 42, S. 366–381.

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engagierte sich in der von Karl Barth und der Dialektischen Theologie beeinflussten Kirchlich-theologischen Sozietät, die sich kritisch gegenüber der kirchenrechtlichen und politischen Orientierung der Kirchenleitung positionierte.26 Schempp war eine der frühesten Stimmen, die sich differenziert mit der »Stuttgarter Schulderklärung« und der Stuttgarter Predigt des Landesbischofs Theophil Wurm vom 10. Juni 1945 (»Wort an die Gemeinde«) auseinandersetzten.27 In »Der Weg der Kirche« (1945) spricht Schempp von der »Gnade des Nullpunkts«, es geht ihm um den Neuanfang der Evangelischen Kirche in Deutschland: »Wie viel mehr hat die Kirche angesichts der Riesengröße ihrer Schuld in solch entscheidender Stunde von ihren Verdiensten zu schweigen. Aber sie hat so geredet, als ob sie nicht Kirche Jesu Christi, sondern Anwalt Deutschlands und zugleich Anwalt der christlichen Religion wäre.«28 Schempp fordert eine »Solidarität der Schuld« und eine Rückkehr zu Christus, die auf einem Weg der Buße erfolgen müsse. Die Kirche solle sich allein an der Schrift ausrichten (»Sine vi, sed verbo«). Wichtig für Schempps Denken war neben Luthers Theologie Karl Barths Zentrierung auf das Wort Gottes. Die »Weg der Kirche«-Schrift macht deutlich, wie sehr sich Schempp für die Evangelische Kirche einen Neubeginn nach einem ehrlichen, klaren und offenen Schuldeingeständnis aus der Kraft der Vergebung wünscht. Im Unterschied zur »Stuttgarter Schulderklärung« benennt Schempp explizit das Versagen der Kirche angesichts der Shoah.29 26 Vgl. Claudius Kienzle: Generationelle Erzählgemeinschaft evangelischer Pfarrer. Zur mentalitätsgeschichtlichen Wirkung des württembergischen Kirchenkampfs nach 1945, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte, 2014, Nr. 73, S. 271–304. 27 Die »Stuttgarter Schulderklärung«, die Erklärung des vorläufigen Rates der EKD an die Ökumene vom 18./19. Oktober 1945, war neben dem Hirtenwort des deutschen Episkopats vom 23. August 1945 die erste Verlautbarung der Amtskirchen nach Ende des Zweiten Weltkriegs auf nationaler Ebene. Vgl. Martin Honecker: Geschichtliche Schuld und kirchliches Bekenntnis. Die so genannte Stuttgarter Schulderklärung, in: Theologische Zeitschrift. 1986, Nr. 42, S. 132–158; Joachim Mehlhausen: Die Wahrnehmung von Schuld in der Geschichte. Ein Beitrag über frühe Stimmen in der Schulddiskussion nach 1945, in: Evangelische Theologie, 1994, Nr. 54, H. 3, S. 201–219. 28 Paul Schempp: Der Weg der Kirche (29. Mai 1945). Dokumentation über einen unerledigten Streit, hg. von der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste u. a., Berlin 1985, S. 17. 29 Vgl. hierzu auch Sören Widmann: Paul Schempp, in: Rainer Lächele, Jörg Thierfelder (Hg.): Wir konnten uns nicht entziehen. 30 Porträts zu Kirche und Nationalsozialismus in Württemberg, Stuttgart 1998, S. 351–377; Siegfried Hermle: Paul Schempp, in: Volker Henning Drecoll, Juliane Baur, Wolfgang Schöllkopf (Hg.): Stiftsköpfe, Tübingen 2012, S. 359–365. Vgl. zur Schuldreflexion auch die in Verbindung mit Schempp und Kurt Müller von Hermann Diem herausgegebene ›Denkschrift‹ »Kirche und Entnazifizierung«, Stuttgart 1946. Darin heißt es: »Welches Maß von furchtbaren Martern, von unsagbaren Leiden, welche Flut von Blut und Tränen, welche Berge von zerbrochenem Menschenglück, welche Abgründe von Verrohung und Entsittlichung, welche Schmach er [der Nationalsozialismus] dem deutschen Volke gebracht hat, können wir kaum ahnen. Schon die konkrete, lebendige Vorstellung eines kleinen Teils der bösen Werke, die aus dem Geist des Nationalsozialismus getan worden sind,

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Schempps Jugend-Reflexionen, vor allem in »Wer hilft der Jugend?« und in »Frei und verantwortlich«, offenbaren eine sensibilisierte Urteilskraft gegenüber der kulturellen und moralischen Situation Nachkriegsdeutschlands. Sie reihen sich ein in eine Reihe ganz ähnlicher Appelle, Hinwendungen und Aufrufe an die Jugend; Peter Paul Paquet, Heinrich Hassinger, Rudolf Gattermann, Jakob Kneip und Gustav Wyneken seien als Beispiele genannt.30 Auffallend an diesen Texten ist jedoch, dass die Jugend nicht selbst das Wort ergreift, sondern dass über sie als Bestandteil eines gesellschaftlichen Selbstverständigungs- und Selbstfindungsprozesses gesprochen wird, sie also Objekt psychologischer und sozialer Besorgnis, nicht Subjekt dieser Ansprachen zwischen Sorge und Fürsorge, Lob und Erwartung ist.31 Eng verknüpft mit diesen Jugend-Debatten ist das Bedürfnis nach der Gültigkeit gemeinschaftsstiftender Normen und Werte. In der Jugendgeneration des Zweiten Weltkriegs schien sich wie in einem Sinn-Brennglas die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen für den Neuanfang nach dem Ende des Nationalsozialismus zu spiegeln.32 »Was hat die heutige männliche deutsche Jugend noch Gemeinsames? Die Vereinsamung und die geistige Armut:«33 So lautet Schempps pessimistische Ausgangsprämisse. Er rückt damit die geistig-seelische Verfassung der Nachkriegsjugend in den Blick. Die Jugend sei, so ließe sich sagen, in einem kraftlosverzweifelten und trostlosen Zustand. Nicht viel anders klingt es in Wolfgang

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muß uns zu der Frage führen, wie das geschehen konnte in einem Volk, das zum allergrößten Teil auf Jesus Christus getauft, in der Lehre der Heiligen Schrift unterrichtet, von Gottes Wort überall angerufen, in den außergewöhnlichen Ereignissen des Lebens der Einzelnen und der Gesamtheit der Tröstung und Vermahnung der Kirchen teilhaftig geworden ist« (S. 11). In ihrem sprachlichen Duktus und in ihrer Argumentationsstruktur ähneln sich diese Texte. Im ersten Kapitel »Vom Sinn des ›Unsinns‹« in Paquets »Gespräche mit der Jugend« heißt es: »Es ist das gute Recht der Jugend, nach dem Sinn zu fragen. Den Alten mag es gar nicht mehr zum Bewußtsein kommen, daß nach dem Sinn gefragt werden soll. […] Das kann die Jugend nie und nimmer billigen. Sie muß nach dem Sinn fragen, auch nach dem Sinn dieses unsinnigsten aller Geschehen, auch nach dem Sinn des Krieges. […] Wer der Jugend die Antwort auf diese Frage nach dem Sinn ihrer verlorenen und verführten Jugendjahre geben kann, der hat die Zukunft.« Peter Paul Paquet: Gespräche mit der Jugend einer zerschlagenen Nation, Nürnberg 1947, S. 6, 8. Weitere Angaben: Heinrich Hassinger: Aufgaben der jungen Generation. Ein Aufruf an alle Besinnlichen, die bereit sind zur Tat, Stuttgart 1946; Rudolf Gattermann: Du und Hitler. An einen unbekannten jungen Freund, Lauf bei Nürnberg 1946; Jakob Kneip: Botschaft an die Jugend, Düsseldorf 1946; Gustav Wyneken: Jugend und Staat. Zwei Reden an die deutsche Jugend, Ulm 1951. Vgl. Lu Seegers: »Generationen«-Diskurse und Erinnerungsgemeinschaften in Deutschland nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, in: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 2004, N. F. 1, S. 395–412. Siehe hierzu auch Christoph Hilgert: Die unerhörte Generation. Jugend im westdeutschen und britischen Rundfunk, 1945–1963, Göttingen 2015, bes. S. 7f. Vgl. auch Hans-Gerd Winter (Hg.): »Uns selbst mussten wir misstrauen«. Die »junge Generation« in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, Hamburg u. a. 2002. Schempp: Jugend (Anm. 6), S. 3.

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Borcherts, dem wahrscheinlich paradigmatischen Autor der frühen Nachkriegszeit, existentiell eingefärbten Manifest »Generation ohne Abschied«: Ausgestoßen sei die Jugend, der jegliche Anerkennung verweigert wird, in eine Welt ohne Zukunft. Hochpathetisch schreibt Borchert: »Wir sind eine Generation ohne Heimkehr, denn wir haben nichts, zu dem wir heimkehren könnten, und wir haben keinen, bei dem unser Herz aufgehoben wäre – so sind wir eine Generation ohne Abschied geworden und ohne Heimkehr.«34 Sowohl Schempps als auch Borcherts Texte machen evident, dass die Debatten über Sinn, Zugehörigkeit und Neuanfang unmittelbar nach 1945 eine neue Dringlichkeit erfuhren, deutlich sichtbar ferner an Borcherts breit rezipiertem Heimkehrerdrama »Draußen vor der Tür«. Der das Kollektivgedächtnis prägende Beckmann ist derjenige, der sein Schicksal als »verhängnisvolles Geschick« erfährt, »das einem oder vielen oder einer ganzen Generation von außen bereitet wird. Nun, da die äußere Sicherheit des Lebens wiedergewonnen, das Dach über dem Kopf zur Selbstverständlichkeit geworden ist, werden ›Unbehaustheit‹, ›transzendentale Obdachlosigkeit‹, ›Geworfenheit‹ zu Metaphern der Existenz«, wie Wilfried Barner schreibt.35 Ebenso wie Borchert rückt Schempp die seelische Verwundung und Orientierungslosigkeit der aus dem Krieg zurückgekehrten und von der NS-Sozialisation geprägten Jugend in den Mittelpunkt. Die Jugend, die um ihre Jugend beraubt worden sei, wäre nun erneut das Opfer. In einem Brief vom 9. Januar 1947 konstatiert Schempp in einem resignativen und melancholischen Ton: »Ums Brot werden alle zu kämpfen haben, aber da pflegt die Selbstsucht mit Hilfe tönender Phrasen die Oberhand zu gewinnen, die Redlichen bleiben einsam, wenn nicht gar verbittert auf der Strecke, und den Schaden hat die Jugend, die blind hereinfällt oder sehend angewidert ist.«36 Wodurch zeichnet sich die zeitgenössische Jugend aus? Sie habe, so Schempp, »als Gesamtheit einen Verlust erlitten, dessen furchtbare Größe vielleicht noch zu wenig in unser Bewußtsein gerückt ist, […].«37 Und weiter heißt es in »Wer hilft der Jugend?«: […], diese Jugend hat ihre Jugend verloren. Man hat die Jugend systematisch aller Bindungen entbunden, um sie ausschließlich zum Werkzeug des Militarismus und einer dröhnend hohlen Weltanschauung zu machen. Wenn man von gewissen Teilen einer durch Achselstücke oder durch die Universitäten verdummten Jugend absieht, weiß zum Glück die Mehrheit der Jugend, daß sie einem Wahn zum Opfer gefallen ist, 34 Wolfgang Borchert: Generation ohne Abschied (1947), in: ders.: Das Gesamtwerk, hg. von Michael Töteberg, Reinbek 2007, S. 67–69, hier S. 67. 35 Wilfried Barner: Krieg und Nachkrieg: Erzählprosa im Westen, in: ders. (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. 2., erw. Aufl., München 2006, S. 31–76, hier S. 74. 36 Paul Schempp: Briefe, ausgewählt und hg. von Ernst Bizer, Tübingen 1966, S. 114. 37 Schempp: Jugend (Anm. 6), S. 3.

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aber was sie noch nicht weiß und wahrhaben will, ist eben ihre tatsächliche Vereinsamung und geistige Armut. Einen Rest gesunder Tradition, die langsam wieder zum Durchbruch kommt, und Ausnahmen erfreulich eigenständiger Charaktere zugegeben, aber im ganzen ist die Jugend ohne Substanz und Halt und hat außer Brot und Spielen keinen belebenden Inhalt, […].38

Schempp macht darauf aufmerksam, dass das Gros der zeitgenössischen deutschen Jugend in ihrem bisherigen Leben kein anderes politisches System als das des Nationalsozialismus erfahren hat. Was die ideologische und mentale ›Abwicklung‹ betrifft, stehen die Angehörigen dieser (von Schempp nicht näher bestimmten) Altersgruppe vor einer ganz besonderen Herausforderung. Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg habe die Jugend um ihre besten Jahre, ja um ihre Jugend selbst gebracht. Das, was man eigentlich mit Jugend in Verbindung bringt – Schwärmerei, Unbekümmertheit, Arglosigkeit, Befreiung, Kreativität, Selbsterziehung, Grenzen austesten und Selbsthilfe (als Ideale der Jugendbewegung) – all die der Jugend zugeschriebenen Attribute durften diese Jahrgänge gar nicht erleben; sie haben die eigentlich wichtigste Lebensphase unfreiwillig überspringen müssen. Zu gestalten ist nun, wie sich das Subjekt nach den katastrophalen geschichtlichen Ereignissen auf die Welt bezieht. »[A]bgestumpft und leidenschaftslos« sei die »heutige Jugend«, so Schempp weiter, »rauh [sic] und müde, sie ist nüchtern und realistisch. Sie hat gelernt, sich durchzuschlagen oder abzufinden, sie hat Appetit, auch geistigen Appetit, aber kein Urteilsvermögen, sie ist enttäuscht, aber nicht erschüttert, sie hat Wünsche, aber keine Sehnsüchte, sie ist noch ein Gemisch aus Masse und Einzelkämpfern, aber Masse ohne Führung und Einzelkämpfer ohne Ziele. Sie ist willig, aber zugleich skeptisch, nicht weil sie Neues sucht, sondern weil sie dem Neuen nicht traut.«

Das ist natürlich die Projektion eines Erwachsenen: Wie in so vielen Fremdzuschreibungen kurz nach 1945 erfolgt die Reflexion über Jugend hier nicht besonders differenziert. Bei Schempp fällt bereits das Stichwort von der »skeptischen Generation« (Schelsky, 1957), das für die weitere Diskussion über Jugend und Generation äußerst wichtig wird.39 Ganz unschuldig sei die Jugend an ihrer Situation jedoch nicht: »Ich will dir auch gestehen, daß ich die meisten von euch Jungen im Verdachte habe, daß ihr das Recht zu tiefer Leidenschaft in Freud und Leid, in Jauchzen, Hoffen und Verzagen, in Einsamkeit und Freundschaft allzu billig geopfert habt dem Schein des Mannestums in Dienst, Kommando und

38 Ebd., S. 3f. 39 Siehe zu Schelsky auch den Beitrag von Hartmann Tyrell in diesem Band sowie Franz-Werner Kersting: Helmut Schelskys »Skeptische Generation« von 1957. Zur Publikations- und Wirkungsgeschichte eines Standardwerkes, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 2002, Nr. 50, H. 3, S. 465–495.

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Gehorsam.«40 Die verlorene Jugend könne so einfach nicht wieder angeeignet werden, und sei es auch als Projektion oder Verheißung. Die junge Generation müsse sich nun angesichts von Gebrochenheit und Entfremdung den Zumutungen und Herausforderungen der Nachkriegszeit stellen, denn: »die Armut der Jugend liegt vorwiegend auf geistigem Gebiet.«41 Schempp macht unmissverständlich deutlich, dass diese Jugend nicht mehr jung sei: »Wenn man unter jung das Gährende [sic], Unverbrauchte, Überschwengliche [sic], Kraftvergeudende, Frische, Begeisterungsfähige, Widerspruchsvolle und Wandelbare versteht, dann ist diese Jugend nicht mehr jung.«42

Schempps Forderung nach einer neuen Jugendorganisation Jugend galt spätestens mit der Jugendbewegung der 1920er Jahre weit mehr als ein biologisches Durchgangsstadium von der Kindheit zum Erwachsenendasein – sie wurde zum Inbegriff von Dynamik, Zukunft, Innovation und Erneuerung. In anderer Terminologie bestimmen diese Aspekte bis heute die Diskussionen über Jugend, Jugendlichkeit und junge Generation.43 Besonders in der Popkultur seit den 1950er Jahren und ihrer Verpflichtung zum Jungsein, zum Nicht-altwerden-Dürfen, zum Aufmüpfig-Rebellischen, gegen die rückständig-piefigen Eltern hat sich noch einmal ein grundlegender Wandel vollzogen – erst jetzt kann man sagen, dass man nicht »werden [will], was mein Alter ist« (Ton Steine Scherben), kein guter Pfadfinder, ja gar nicht erst erwachsen werden möchte: »I don’t want my hair to fall out / I don’t wanna be filled with doubt / I don’t wanna be a good boy scout / I don’t wanna have to learn to count / I don’t wanna habe the biggest amount / I don’t wanna grow up«, wie Tom Waits eindringlich gesungen hat.44 In den frühen Nachkriegsjahren stellt sich die Situation jedoch völlig anders dar. Schempp spricht von »vorenthaltener Jugend«. Wie sollte man sich ihr gegenüber verhalten, in welchem Ton sie ansprechen? »Die Rollen sind ja heute geradezu vertauscht: während sonst Erfahrung und Reife entweder einer konservative Versteifung in das Gewordene und Gegebene oder einen Verzicht auf den Glauben an Besserung und Fortschritt mit sich bringen, die Jugend aber voll Protest gegen die Wirklichkeit sich die Kraft zutraut, Neues zu schaffen, ist heute die Jugend tatenloser und hoffnungsärmer als das reifere Mannesalter. Man sollte deshalb heute darauf verzichten, der Jugend zu predigen und Aufgaben zu stellen, und 40 41 42 43 44

Schempp: Brief (Anm. 6), S. 6. Schempp: Jugend (Anm. 6), S. 19. Ebd., S. 5. Vgl. Bodo Mrozek: Jugend Pop Kultur. Eine transnationale Geschichte, Berlin 2019. »I don’t wanna grow up« (auf dem Album »Bone Machine«, 1992).

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ihr Verantwortung für die Öffentlichkeit aufzuladen, der sie nicht gewachsen sein kann. Sie soll nicht umworben, sondern einfach zu sich selbst geführt werden; man muß ihr Zeit lassen zur Besinnung. Sie soll erst genesen und kann erst allmählich einsehen, wie tief ihr die Gewaltsamkeit des Dritten Reiches geschadet hat und welches Verbrechen an ihrem Menschentum begangen worden ist«.45

Besinnung und Selbstkritik geraten zu Stimulantia des Selbstdenkens. Schempps Einlassungen erinnern an Ernst Friedlaenders Reden »Deutsche Jugend«, 1947 gehalten. Friedlaender sah in der Gruppe der »Suchenden« das schöpferische Potential für einen geistig-moralischen Neuanfang in einem demokratischen Staat.46 Schempp fordert in diesem historisch so wichtigem Moment so etwas wie ein Moratorium: Man müsse sich zunächst (wieder) finden; das Bedürfnis nach Bestandsaufnahme und Neuorientierung sorgt auch bei ihm dafür, dass intensiv über Rolle und Aufgaben der Jugend reflektiert wird. Schempps Vorstellung einer Jugendgeneration, die alle »jugendlichen« Eigenschaften verloren habe, »stellte in vielen Diskursen der Nachkriegszeit ein populäres Interpretationsmuster dar«47. Es ist gerade die Umbruchskrise der Nachkriegsgesellschaft, die für einen Zwiespalt zwischen einer als belastend empfundenen Vergangenheit einerseits und einem großen (geistigen) Nachholbedürfnis andererseits sorgte. Auch Schempp zeichnet das Bild einer Jugend, die sich, aus ihren sozialen Bezügen herausgerissen, aufreibt zwischen dem Bedürfnis durchzukommen und dem Wunsch die Jugend nachzuholen.48 Für Schempp ist das »Problem der Jugend« die zentrale Herausforderung der Gegenwart; die Jugend sei »weder Selbstzweck noch Werkzeug«49. Wohl kaum wie in dieser tumultuarischen historischen Lage nach 1945 ist über ›Jugend‹ und ›junge Generation‹ als Teil des gesellschaftlichen Selbstverständigungsprozesses so intensiv nachgedacht worden. Die Jugend dürfe »auf gar keinen Fall sich selber überlassen« werden, fordert Schempp. Und weiter: »Es steht die Kultur Deutschlands und vielleicht Europas in Frage, wenn unsere Jugend dazu verurteilt wird, sich selber durchzuschlagen und dann sich von roher materialistischer 45 Schempp: Jugend (Anm. 6), S. 6f. 46 Ernst Friedlaender: Deutsche Jugend. Fünf Reden, Hamburg 1947. Nach Friedlaender sind die »Suchenden« diejenigen, die »weder auf Trümmern [trotzen] noch haben sie entzaubert jeder Idee abgeschworen, noch endlich sind sie genügsame Wanderer auf bekannten Pfaden« (S. 14). Jede seiner fünf Reden beendete Friedlaender mit dem Aufruf: »Ihr müßt alle zu Suchenden werden!« 47 Möckel: Erfahrungsbruch (Anm. 23), S. 279. 48 Vgl. grundsätzlich hierzu Alfons Kenkmann: Wilde Jugend. Lebenswelt großstädtischer Jugendlicher zwischen Weltwirtschaftskrise, Nationalsozialismus und Wahrungsreform (Düsseldorfer Schriften zur neueren Landesgeschichte und zur Geschichte NordrheinWestfalens 42), Essen 1996. – Die Reportagen und Reiseberichte der ersten Nachkriegsjahre (George Orwell, Stig Dagerman, Carl Zuckmayer, Hannah Arendt) greifen explizit die Jugendthematik als zentrales sozialpolitisches Problem der Gegenwart auf. 49 Schempp: Jugend (Anm. 6), S. 8.

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Selbstsucht oder von einer Vielfalt individueller und kollektiver Sonderinteressen leiten zu lassen. Das wäre der Zerfall der Kultur.«50 Abhilfe für dieses Problem, das natürlich auch die Älteren betrifft, könne eine neue »Organisierung der Jugend« schaffen, die der gesellschaftlichen »Zersplitterung« entgegenwirke. Keinesfalls dürfe es sich dabei um eine »Zwangsorganisation« handeln: »Das Wachstum einer Jugendorganisation muß ganz und gar in der Werbekraft ihres Eigenlebens liegen. Keine verlockenden Versprechungen, kein wenn auch noch so heimlicher Druck, aber auch keine weltanschaulichen Systeme sollen die Jugend binden und verbinden, sondern als Ziel einer solchen Organisation kann nur die Freiheit zur Selbstbildung genannt werden.«51 Pädagogisches »Formalprinzip« der von Schempp eingeforderten zeitgemäßen Jugendorganisation sei »nicht ›Pflegen‹, nicht Führen und nicht Sichselbstführenlassen, sondern Anleiten«52. Die zentralen Topoi – und Schempp bildet hierbei keine Ausnahme – in den Jugend-Reflexionen unmittelbar nach 1945 ähneln sich: Es lassen sich bestimmte zeittypische Bündel, Kategorien und interpretatorische Leitvorstellungen mit hoher Anschlussfähigkeit ausmachen: Neuorientierung, Freiheit zur Selbstbildung, Selbstbesinnung, Schuldhaftigkeit, Traditionsbezug und der emphatisch verstandene Mensch.53 Schempps Argumentation ist auf die Anschaulichkeit des Konkreten ausgerichtet: Die sich den Problemen und Nöten der jungen Generation annehmende und von ihm eingeforderte Jugendorganisation müsse sich »selbst begrenzen«, Träger könne nur der Staat sein, die Arbeit müsse ehrenamtlich erfolgen und von partikulären Interessen solle abgesehen, die »Spaltung zwischen Bürgertum und Arbeitertum« überwunden werden.54 Oberstes Ziel sei die »volle Freiheit zur Bildung«. Man gewinnt zuweilen den Eindruck, als wollte Schempp unmittelbar an die Praktiken und Rituale der Jugendbewegung der Vorkriegszeit anschließen, denn er kommt ebenso auf die Optionen zu sprechen, die zu einer »freien Selbstbildung« beitrügen: das »Erwandern der Natur«, die »Erfassung der Kunst«; später nennt er diese Betätigungsfelder »Kultursubstanzen«55. Wiederholt betont Schempp die grundlegende Bedeutung der Tradition als Überliefe50 51 52 53

Ebd., S. 7. Ebd., S. 7f. Ebd., S. 9. Vgl. Friedrich Kießling: Die undeutschen Deutschen. Eine ideengeschichtliche Archäologie der alten Bundesrepublik 1945–1972, Paderborn 2012; Alexander Gallus, Sebastian Liebold, Frank Schale (Hg.): Vermessungen einer Intellectual History der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2020; Leonhard Birnbacher: Arbeit an der Erfahrung. Zum deutschen Weg aus der kriegsgesellschaftlichen Moderne 1943–1949, Weilerswist 2020. 54 Schempp: Jugend (Anm. 6), S. 10–12. 55 Ebd., S. 17f. Ähnlich äußerte sich Schempp in einem Brief vom 25. März 1946, in dem es um ein Programm für Kulturabende für Jugendliche geht: Die Jugend solle »selber denken und fragen und urteilen«. Schempp: Briefe (Anm. 36), S. 94.

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rung eines kulturellen Wissens und Bildung als Teilhabe an dieser Tradition.56 Und so erscheint es nicht verwunderlich, dass die Schrift »Wer hilft der Jugend?« mit einem Hölderlin-Zitat endet: »Wir sollen die Jugend nicht mit verschleiertem Bankrott betrügen, sondern ihr ein ehrliches Testament machen und ihr zum Erbe einen neuen Anfang geben als Menschen, die aus Leid und Schuld zu Brüdern wurden und ihren Söhnen den schaffenden Geist der Bewahrung, Erhaltung und Neubildung des menschlichen Daseins nach Seele und Leib zur Verpflichtung machen, »bis« – um mit Hölderlin zu reden – »erwacht von ängstlichem Traum, die Seele dem Menschen aufgeht, jugendlich froh, und der Liebe segnender Odem wieder wie vormals oft, bei Hellas blühenden Kindern wohnt in neuer Zeit«.57

Der Schlusssatz stammt aus Hölderlins »Der Archipelagus«, seinem umfangreichsten Gedicht, bestehend aus 296 Versen, wohl um 1800 entstanden. Auch bei Hölderlin erfolgt eine Hinwendung zum Göttlichen, ein hoffnungsvoller Blick in die Zukunft, auch hier artikuliert ein Ich seine jugendliche Euphorie. HölderlinRekurse – zum Zwecke der Tröstung und Selbstvergewisserung – lassen sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit zahlreich finden; die Hymne »Andenken« wurde inflationär zitiert. Die Popularisierung und Instrumentalisierung Hölderlins im »Dritten Reich« greift etwa Günter Eich in seinem Gedicht »Latrine« auf – aber auch dieses auf sich selbst zurückgeworfene lyrische Ich hält sich bei aller Ironisierung an dem fest, was ihm verblieben ist: am kulturellen Erbe, dass er als immateriellen Besitz im Modus des Andenkens zu bewahren versucht. Literatur soll Lebenshilfe spenden, zur Sammlung und zur Besinnung beitragen, auf das Eigentliche im Leben hinlenken.

Jugendbewegung 1918 und 1945 In »Frei und verantwortlich. Ein Brief« (1946) kommt Schempp auf die Jugendbewegung nach 1918 zu sprechen und diagnostiziert dabei einen generation gap. Der Text ist als Brief an einen »jungen Freund« konzipiert. Bewusst und ausdrücklich wird der imaginierte Leser mitbedacht beim Schreiben. Schempp berücksichtigt den Informationsstand des Angeredeten, macht sich ihm inhaltlich und stilistisch verständlich. Das Interesse des imaginierten »Freundes« erwartend, seine Billigung wünschend, spricht dieser Brief nicht in auftrumpfender Gebärde, sondern durchaus selbstreflexiv gegenüber der eigenen Rolle und der Frage, wer eigentlich die Hegemonie über die Deutung der Gegenwart besitze und 56 »Wir wollen die Jugend zu Erben der noch lebendigen Wertbestände unserer Kultur in größtmöglichem Umfang machen.« Schempp: Jugend (Anm. 6), S. 20. 57 Ebd., S. 30.

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über die »symbolische Ordnung« (Bourdieu) entscheide: »Lieber junger Freund! Du bist empfindlich und es ärgert dich wohl heimlich, wenn man dich – belehren will. Es kommt dir vor, als ob du da in das behaglich warme Zimmer eines wohlgesonnten alten Herrn geraten seist, der aus dem schönen Schatze seiner Bildung dir, dem heimgekehrten Landsknecht rauher [sic] Kriegeszeiten, väterlichen Rat erteilt, […].«58 Schempp wählt den Gestus der offenen, ungeschönten Rede in einer Rhetorik der Schonungslosigkeit. Durch die Wahl der Form eines fiktiven Briefes lässt sich der Text nicht randscharf von anderen Textsorten unterscheiden; unterstützt auch dadurch, dass kurze Gedichte mit eher aphoristischem Charakter die jeweiligen Abschnitte einleiten, die gewohnte Gebrauchsprosa also zwischenzeitlich aufgegeben wird. Einige Jugendbewegungs-Gedichte seien als Beispiele genannt: »Jugendbewegung: / Voll Mut und Freiheit zu dem eignen Leben / War hilflos sie des Lebens Stürme preisgegeben«; »Jugendbewegung: / Bald vom Rausche der Freiheit erwacht / Wurden benommenen Sinns sie zur leichten Beute der Macht«; »Jugendbewegung: / Wer kann sich selber erkennen und vor sich selber bestehen, / Wo die Bilder des Trugs wie Wind und Wellen kommen und gehen?«59 Bei diesen kleinen Gedichten handelt es sich gewiss nicht um hohe Dichtkunst, sie bringen allerdings Schempps Gedanken in eine konzise Form, die Zuspitzung durchaus erlaubend. Ihre spezifischen Merkmale erhält die Jugend nach 1945 bei Schempp durch die negative Gegenüberstellung zu der eigenen emphatischen Generationserinnerung, die als eine Zeit des Aufbruchs und des Enthusiasmus konturiert wird; Benjamin Möckel spricht von einem »generation building ex negativo«60. Zunächst verweist Schempp auf die gemeinsamen Erfahrungszusammenhänge der beiden Weltkriegsgenerationen (»Wir kehrten einst auch als Besiegte heim vom letzten Krieg und kennen wohl den müden Schritt geschlagener Heere«), um dann gleich schroff die fundamentalen Unterschiede herauszustellen: »Jugendbewegung hieß man damals unseren Sturm und Drang, und selbst die Alten setzten manche Hoffnung auf die Gärung ihres jungen Weins. Wir haben manche Fahrt gewagt in Raum und Zeit. Nicht nur die Heimat und Natur beschwingten unser freies, allzufreies Herz. Noch kühner wagten wir uns in das Reich der großen Geister und wähnten selbstbewußt, sie hätten, verkannt und einsam bisher, nur gewartet auf unser Ohr und Herz, daß nun durch uns ihr Wort und Feuer glühe als ein Morgenrot der neuen, bessern Zeit. Vorbei! Mehr Fieber war in jenem Geist als Heil. Jedoch die Jugend

58 Schempp: Brief (Anm. 6), S. 5. 59 Ebd., S. 6, 9, 12. 60 Benjamin Möckel: »Warum schweigt die junge Generation?« Die Jugend des Zweiten Weltkriegs im Spannungsfeld ambivalenter Generationserwartungen, in: Kirsten Gerland, Benjamin Möckel, Daniel Ristau (Hg.): Generation und Erwartung. Konstruktionen zwischen Vergangenheit und Zukunft. Göttingen 2013, S. 158–177. Bekannte Beiträge zum Thema des Generationenbruchs nach 1945 stammen von Theodor Litt und Rudolf Spranger.

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war lebendig, sie fühlte Fieber und sie glaubte an Genesung. Sie tauchte tapfer unter in das Gebrodel wallender und zischender Gewässer, aber es ging ihr mehr ums Suchen als ums Finden, und Wege waren wichtiger als Ziel. Mein Freund, was damals Jugend hieß, ist heute eine fremde Welt. Und doch: es würden, mein’ ich, ein Plato, Hölderlin und Nietzsche nicht nur gelächelt haben über all die ungelenken, doch stürmisch echten Huldigungen dieser Jünger, die nach Meistern suchten und zugleich sich gegen alle Meisterung empörten.«

Schempp erwähnt mit den »Fahrten« die Praxis der Jugendbewegung, schließlich ihren spezifischen Habitus (intellektuelle Neugierde), ihre Vitalität und ihr Aufbruchsbewusstsein und ihre Experimentierfreude sowie die kollektive Mentalität. Er hebt die Jugendbewegung als einen sozialen Erfahrungsraum hervor, in dem – auch mit politischem Bewusstsein und dem Willen zur Umgestaltung – etwas Besonderes geschieht. Mit der Wendung »Sturm und Drang« spielt er auf die Vorstellung von Jugend als einer geistigen Kraft jenseits der Welt der Erwachsenen an, die mit einer besonderen Sendung zur gesellschaftlichen Erlösung beauftragt ist; gleichzeitig auch eine wirkmächtige literarische Tradition (Goethe, Schiller, Herder). Historisches Analogiedenken spielt in Generations-Modellen nach 1945 eine wichtige Rolle, so etwa bei Alfred Andersch.61 Die am Schluss des Zitats in ironischer Weise genannten Namen – Platon, Hölderlin und Nietzsche – fungieren als eine Art Assoziationsgenerator. Sie bezeugen einerseits die Wertschätzung kanonischer Autoren, mit denen man andererseits aber auch Auflehnung, jugendlichen Ungestüm sowie kulturelle und ästhetische Innovation verbindet. Die Rezeptionshaltung der Jugend des Ersten Weltkriegs ist wesentlich bestimmt durch Bewunderung und Anerkennung der Überlieferung als Ausdruck einer Wahrheit – man hat das Gefühl, in einer Kontinuität der kulturellen Ordnung zu leben, jedoch arbeitet man sich zugleich an diesen Klassikern ab (»sich gegen alle Meisterung empörten«) und beharrt auf seiner jugendlichen Autonomie. Für die zeitgenössische Jugend sei dies »eine fremde Welt«, es fehle schlechterdings ein jugendliches Bewusstsein, die Jugendgeneration des Zweiten Weltkriegs zeichne sich bei Schempp »gerade durch das Fehlen einer solchen jugendbewegten Grundhaltung aus«62. Die Nachkriegssituation gibt auch bei ihm den Impuls zur retrospektiven und sentimentalischen Umdeutung der eigenen jugendbewegten Zeit. Die Erfahrungshorizonte der beiden Weltkriegsgenerationen scheinen für Schempp nicht miteinander kompatibel zu sein; die Generationenbrüche zeugen von einem grundsätzlichen mentalitätsgeschichtlichen Wandel. Jedoch sei die erste Jugendbewegung gescheitert und in unterschiedliche Gruppen zersplittert. Kritisch statuiert Schempp: »Aus Jugendbewegung wurde 61 Vgl. hierzu Wilfried Barner: Wo bleibt die junge deutsche Literatur? Die Schriftstellerkongresse 1947 und 1948, in: Gunter Nickel (Hg.): Literarische und politische Deutschlandkonzepte 1938–1949 (Zuckmayer-Jahrbuch 7), Göttingen 2004, S. 385–406. 62 Möckel: Erfahrungsbruch (Anm. 23), S. 278.

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Jugendspaltung, aus Geist Zersetzung und aus dem kühn begonnenen Lauf ein Stolpern, Fallen und Erliegen. In Bünde, Gilden, Gruppen, Lager trennte sich die Jugend, die noch zählte, und gute Teile wurden eingesogen in die breiten Ströme der alten Kirchen, der Parteien und Vereine und des Sports.«63 Weiterhin gibt Schempp zu bedenken, dass es »wahrhaftig niemand wundern« könne, dass etwas mehr als ein Jahrzehnt genügt hat, um die Jugendbewegung im ganzen zu den Füßen Adolf Hitlers hinzuführen. Damals, mein lieber Freund, schon Jahre vor dem Griff nach aller Macht des Staates, geschah die große Täuschung, deren Folgen ihr Jungen wohl am meisten heute als Enttäuschung bitter schmerzhaft tragen müßt. Ehrlich und entschlossen hatte sich die Jugend aus sich selbst bewegen wollen, jetzt geriet sie in Bewegung auf Befehl.64

Damit ist ein großes Thema angesprochen: Ein moralischer Kollaps und die Vorstellung, bestimmte Teile der Jugendbewegung seien der Vereinnahmung durch die Hitler-Jugend wehrlos ausgesetzt gewesen oder hätten dieser sogar bewusst zugearbeitet.65 Schempp zeichnet das Bild einer apathischen, kriegsfixierten, verunsicherten, ent- und getäuschten und ihrer Utopien beraubten Jugend – ihre Sozialisation ist durch Drill, Zwang und Schikanen geprägt. Wie soll sie sich vom vermeintlich Heroischen lossagen können angesichts einer lähmenden Orientierungslosigkeit infolge einer Diskreditierung der zuvor ubiquitären nationalsozialistischen Ideologie?66 Die NS-Propaganda hatte insbesondere in der Endphase des Zweiten Weltkriegs an den Fanatismus der Jugend appelliert und diese als die ›wahre Elite‹ der Bewegung stilisiert.67 Welche Sinnangebote 63 Schempp: Brief (Anm. 6), S. 8. Rüdiger Ahrens schreibt: »Die Vorstellung von einer ›Zersplitterung‹ der bündischen Jugend in unterschiedlichste, scharf abgrenzbare Fraktionen, wie sie nach 1945 von bündischen Veteranen vertreten wurde, führt dagegen in die Irre.« Rüdiger Ahrens: »Privatleben ist Fahnenflucht«. Prägekräfte der bündischen Jugend (1918–1933), in: Barbara Stambolis (Hg.): Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche Einflussnahmen, Göttingen 2015, S. 145–168, hier S. 151. 64 Schempp: Brief (Anm. 6), S. 10. 65 Vgl. hierzu Arno Klönne: Jugend im Dritten Reich. Die Hitler-Jugend und ihre Gegner. 3., aktual. Aufl., Köln 2008; Rüdiger Ahrens: Bündische Jugend. Eine neue Geschichte 1918– 1933, Göttingen 2015, insb. S. 350–365; zur jugendlichen Verweigerung gegen das NS-Regime Sascha Lange: Meuten, Swings & Edelweißpiraten. Jugendkultur und Opposition im Nationalsozialismus, Mainz 2015. 66 Siehe in diesem Zusammenhang auch die »Vorbemerkung« von Hans Nicklisch und Walther G. Oschilewski zu der von ihnen herausgegebenen Anthologie »Der Phönix 1947. Ein Almanach für junge Menschen« (Berlin-Wannsee 1947): »Aber ebenso viele junge deutsche Menschen stehen ratlos auf den Trümmern einer zerborstenen Welt, die ihre Welt gewesen sein soll, in die sie hineingestellt wurden, ohne gefragt zu werden, und die eine falsche, verlogene, unfreie Welt gewesen ist, deren nihilistische Träger und Vollstrecker in formelhaftem Götzendienst und Massenwahn die menschlichen Gesetze und sozialen Ordnungen entheiligten und zerstörten« (S. 12). 67 Schelsky spricht von der »Staatsjugend des Dritten Reiches«. Helmut Schelsky: Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf u. a. 1957, S. 68. Siehe auch

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helfen also den Jugendlichen, von denen viele das Ende des Krieges als eine schmachvolle Niederlage empfunden haben, und wie können sie Teil eines ›geistigen Neuaufbaus‹ werden? Schempps Generationsgegenüberstellung macht deutlich, wie wichtig soziodemografische Momente für das Selbstverständnis der Jugend sind: Die NS-Sozialisation, Bombenkrieg, Trümmergesellschaft und – existentiell – die Kriegsteilnahme. Die Jugendbewegten vor dem Ersten Weltkrieg wurden »von den Hütern bürgerlicher Tradition als Feind der Ordnung und des Staates, als überkritisch und rebellisch gebrandmarkt«; Schempp vergleicht sie mit der Taube, »die Noah nach der Flut aus seiner Arche fliegen ließ, die keinen Boden fand und müde wiederkehrte«68. Generationen bilden Deutungsmuster und Interpretationskategorien, um katastrophische Geschichtsereignisse retrospektiv ordnen und deuten zu können.69 Wie soll unter diesen Bedingungen Zukunft gestaltet werden? Der mutlosen zeitgenössischen Jugend fehle schließlich »der Spiegel zur Selbsterkenntnis«.70 Dass »Selbsttäuschung nur Vorspiel« sei »für künftige Selbsterkenntnis«, verdient nach Schempp kritische Überlegungen. Gravierend wirke sich der Kulturbruch für die Jugendlichen aus, dennoch müsse ein in die Zukunft blickender junger Mensch die Erinnerungen abschütteln: Doch es ist nicht zu spät, daß ihr euch endlich Zeit nehmt zur Besinnung. Ihr wart gezwungen, auch das Schwere leicht zu nehmen, sonst wären euch die Lasten dieses Krieges zu schwer geworden. Doch jetzt, da ganz Europas Trümmer Europas Schicksal sind, jetzt, da nicht mehr euer Ehrgeiz aufgerufen ist und auch nicht mehr das Kommando euren Weg bestimmt, jetzt nehmt das schwer, was schwer ist, nämlich die Verantwortung.

In der selbstreflexiven und -kritischen Haltung sieht Schempp das konstitutive Potential zu moralischer und kultureller Umkehr. ›Besinnung‹, ›Trümmer‹ und ›Verantwortung‹: Das sind typische Leitvokabeln und Schlüsselbegriffe des frühen Nachkriegsdiskurses, häufig im Kontext kulturkritischer Bestandsaufnahmen der eigenen Zeit,71 ebenso wie ›Wandlung‹ und ›Erneuerung‹.72 Auch bei

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Karl Heinz Jahnke: Hitlers letztes Aufgebot. Deutsche Jugend im sechsten Kriegsjahr 1944/45, Essen 1993. Schempp: Brief (Anm. 6), S. 11. Vgl. Seegers: »Generationen«-Diskurse (Anm. 31); Norman Ächtler, Anna Heidrich, José Fernández Pérez, Mike Porath (Hg.): Generationalität Gesellschaft Geschichte. Schnittfelder in den deutschsprachigen Literatur- und Mediensystemen nach 1945. Festschrift für Carsten Gansel, Berlin 2021. Schempp: Brief (Anm. 6), S. 12. Siehe grundsätzlich hierzu Georg Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, München 2007. Das lässt sich an den literarisch-kulturellen Zeitschriften der frühen Nachkriegszeit besonders gut zeigen, vgl. Ingrid Laurien: Politisch-kulturelle Zeitschriften in den Westzonen 1945– 1949. Ein Beitrag zur politischen Kultur der Nachkriegszeit, Frankfurt a. M. 1991; Björn

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Schempp liegt die traditionelle Vorstellung zugrunde, dass die politische, soziale und kulturelle Zukunft der eigenen Gesellschaft maßgeblich vom Handeln der Heranwachsenden bestimmt sein würde. Hinzu trat nach dem Ende des NSRegimes eine hoffnungsvolle Erwartung, dass diese Jugend aufgrund ihrer leidvollen Erfahrungen die Fehler der vorherigen Generationen vermeide. Anklagen dürfe man die heutige Jugend nicht, so Schempp, aber doch »beklagen«: »Man hat die Jugend nicht gefragt und, was viel schlimmer ist, man hat sie nicht gewarnt, darum soll man sie auch heute verführte Jugend heißen und nicht Verantwortung von ihr begehren für eine Zeit, in der man eine rechte Antwort ihr versagt hat und zugleich ihr auch das Recht zur eigenen Antwort stets verwehrte.«73 Dass Schempp die Schuldfrage explizit anspricht: Dieser Punkt verdient besondere Beachtung. Verantwortung ist etwas, vor das sich alle Menschen der Nachkriegszeit gleichermaßen gestellt sehen: Du hörtest, Freund, ich klage euch nicht an, doch heißt das nicht, daß ihr euch schuldlos fühlen sollt. Die Welt klagt an und hat auch schon gerichtet. Wir werden lange, lange noch büßen müssen. Nun gilt es einmal darin tapfer sein, daß man verzichtet auf die Abwehr, daß jeder das ihm Zugeteilte trägt und daß wir alle fest entschlossen, gefaßt, bescheiden, still die Schuld abtragen, die wir alle in verschiedenem Anteil häuften.74

Telos der Überlegungen Schempps bildet eine religiöse Metanoia: Nur sie könne die Jugendlichen wirklich zu Neubesinnung und zur Befreiung aus der geistigen Lethargie verhelfen. Die historische Gegenwart wird in Bezug auf religiöses Heil gedeutet.

Bühner: Kulturkritik und Nachkriegszeit. Zur Funktionalisierung bildungsbürgerlicher Semantik in den politisch-kulturellen Zeitschriften 1945–1949, Heidelberg 2004. 73 Schempp: Brief (Anm. 6), S. 21. 74 Ebd., S. 22. Wobei es auch Schempp – wie so vielen Intellektuellen unmittelbar nach 1945 – eher um eine Verdrängung und Überwindung der Schuld denn um eine wirkliche Reflexion und Erörterung von Schuld und Verantwortung geht. Vgl. dazu auch den Beitrag von Saskia Fischer in diesem Band. Über die (vermeintlich) ausbleibende Schuldreflexion der Täter in der frühen Nachkriegszeit wurde beim Abschlussgespräch der Ludwigstein-Tagung intensiv diskutiert. Vgl. auch Carsten Dutt (Hg.): Die Schuldfrage. Untersuchungen zur geistigen Situation der Nachkriegszeit, Heidelberg 2010. Erhard Schütz schreibt: »Spätestens mit dem 8. Mai 1945 blieb den Deutschen nichts anderes übrig, als sich zur jüngsten Vergangenheit und deren Ende zu verhalten.« Erhard Schütz: Nach dem Entkommen, vor dem Ankommen. Eine Einführung, in: ders., Elena Agazzi (Hg.): Handbuch Nachkriegskultur. Literatur, Sachbuch und Film in Deutschland (1945–1962), Berlin u. a. 2013, S. 1–139, hier S. 77.

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Religiöse Metanoia »Geh’ nicht vorbei an deiner Kirche, die schon seit Jahrhunderten die Menschen ruft und sammelt und glauben heißt an den, der richtet!«, fordert Schempp.75 Seine Schrift »Frei und verantwortlich« gibt ein Beispiel für die zeitgenössischen Hoffnungen auf ein Wiedererstarken des Christentums.76 Die von Schempp angesprochene Jugend fungiert als Projektionsfläche für den Ruf nach religiöser und geistiger Erneuerung angesichts einer als negativ erlebten Gegenwart. Auch der Sprachduktus des Textes wechselt in einen erbaulichen, moralisierenden und predigthaften Ton. In Anspielung auf 1. Könige 3,7–9 appelliert Schempp an die Jugend: »Ich wollte dich nur wecken, nur ermahnen, zu dir selbst zu kommen, nur dich bitten, mit dem Herzen zu hören und nicht nur mit dem Ohr und dann den eignen Weg zu suchen und zu gehen. Den eignen Weg!«77 Gottes Güte könne man sich sicher sein, denn »[k]ein Abend, der dich freispricht von Versäumnis, Schuld und Irrtum, und kein Morgen, an dem nicht Gottes Güte neu dich ruft zu freiem Dienst.«78 Der Mensch ist zur Freiheit berufen, durch Christus ist er unterwegs zur Freiheit: »Wie kann der Schuldige zur Freiheit sich erheben? / Das Urteil ist gefällt, der Freispruch heißt: Uns ist vergeben!«79 Und wenig später: »Geschenkweis nur gewinnen wir das Leben / Und werden frei, umsonst es herzugeben.«80 Für Schempp wird die lutherische Position von der Freiheit des Christenmenschen zur Leitformel, auf die sich auch die Jugend besinnen müsse. Deutlich werden hier eine Orientierung an älteren Vorbildern und die Wiederaufnahme scheinbar nicht ›belasteter‹ religiöser Muster. Das Movens dieser Sehnsucht nach religiöser Erneuerung ist heilsgeschichtlicher Herkunft; Triebfeder des Besinnungsprogramms eine wirkliche Rückkehr zu einem ›wahren‹ Christentum. Ähnlich wie Reinhold Schneider hofft Schempp auf eine Umkehr durch Reue. Der »Christusglaube« avanciert bei Schempp zu einem Sinnangebot, der einzig einen Weg in eine friedliche Zukunft weist. Wichtig ist der temporale Aspekt, ein Pathos des Neuanfangs. Schempps Text erweist sich als Verhandlungsraum von religiösen Vorstellungen – in der fast pietistischen Rede von der 75 Schempp: Frei und verantwortlich (Anm. 6), S. 26. 76 Ähnlich argumentiert auch Friedrich Meinecke: »Die Orte, wo wir uns seelisch wieder anzusiedeln haben, sind uns gewiesen. Sie heißen Religion und Kultur des deutschen Geistes.« Friedrich Meinecke: Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1946, S. 164. Diese Tendenz zu einer Rechristianisisierung lässt sich auch an vielen Schriftsteller*innen der 1930er und 40er Jahre nachweisen, etwa bei Stefan Andres, Franz Werfel, Emil Barth, Theodor Haecker, Werner Bergengruen, Gertrud von Le Fort, Elisabeth Langgässer und Reinhold Schneider. 77 Schempp: Brief (Anm. 6), S. 44. 78 Ebd. 79 Ebd., S. 26. 80 Ebd., S. 31.

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Wandlung und der Reinigung liegt der Versuch, nach der Kontamination durch historische Katastrophenerfahrungen wieder an die gedanklichen Grundlagen des Christentums wiederanzuknüpfen. Auf Einsicht und auf Reue kommt es an; die neue Sicht auf die Welt kann der ›jungen Generation‹ nur dann gelingen, wenn sie aus wirklicher Selbstreflexion und Selbstverantwortung erfolge. Schempps Ausführungen sind Ausdruck einer Sehnsucht nach einem sicheren moralischen Halt; die christliche Ethik war in den frühen Nachkriegsjahren durchaus populär.81 Zu-sich-selbst-Finden, Heilung durch Lektüre und eine reformatorische Sensibilität: Das sind die entscheidenden Stichworte, um den biographischen Ballast abschütteln und eine moralische Handlungsorientierung wiedergewinnen zu können. All diese frühen Nachkriegstexte sind Versuche einer Antwort auf die Schlüsselfrage, die sich bei Konrad H. Jarausch formuliert findet: »Wie gelang es den Deutschen, aus der durch Vernichtungskrieg und Holocaust selbstverschuldeten physischen Zerstörung und moralischen Diskreditierung wieder herauszukommen?«82

81 Vgl. Antonius Liedhegener: Nachkriegszeit (1945–1960), in: Peter Dinzelbacher (Hg.): Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, Bd. 6, 1, Paderborn u. a. 2015, S. 135–173. Für den literarischen Diskurs siehe Christian Sieg: Die engagierte Literatur und die Religion. Politische Autorschaft im literarischen Feld zwischen 1945 und 1990 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 146), Berlin u. a. Boston 2017. 82 Konrad H. Jarausch: Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945–1995, München 2004, S. 9.

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Moralisch verletzt – ideologisch geheilt. Zur Funktion des späten Heimkehrerromans für die DDR: Dieter Nolls »Die Abenteuer des Werner Holt«

Die disruptiven Ereignisse und Erlebnisse des Zweiten Weltkrieges konfrontierten weite Teile der Bevölkerung Europas, Nordamerikas und des pazifischen Asiens mit der Frage, wie diese Erfahrungen in bisherige Sinnentwürfe zu integrieren seien. Eine naheliegende Antwort auf diese Frage war, die alten semantischen Ordnungen seien derart desavouiert, dass sie keine Ressource für den Wiederaufbau einer sinnentleerten Welt mehr anbieten könnten. Insbesondere der Literatur wurde und wird eine zentrale Rolle zugeschrieben, die »transzendentale Obdachlosigkeit«,1 die Enttäuschung über alle optimistischen und heroischen Geschichtsmodelle zu artikulieren. Der Heimkehrerroman ist vielleicht jene Gattung, in der Lukács’ Diagnose, dass »die Lebensimmanenz des Sinnes zum Problem geworden ist«2 am deutlichsten zutage tritt. Ob sie einen Beitrag leisten wollte, diese Sinnkrise auch zu überwinden, ob sie »ein Ausgraben des verschütteten Sinns«3 ist, danach frage ich in meiner Lektüre von Dieter Nolls DDR-Kriegs- und Heimkehrerroman »Die Abenteuer des Werner Holt«. Die beiden Bände, »Roman einer Jugend« und »Roman einer Heimkehr«, ein geplanter dritter Band ist nie erschienen, entstehen aus der Verarbeitung individueller Kriegserfahrungen des Autors, sind aber kein Produkt der unmittelbaren Nachkriegszeit. Sie müssen mit den Erscheinungsdaten 1960 und 1963 bereits als Versuch verstanden werden, eine spezifische Antwort auf die in diesem historischen Moment bereits zahlreich artikulierten Sinnprobleme aus Sicht der DDR zu formulieren. Die Romane suchen im sozialistischen Staat eine Heimat zu entwerfen, die es bei Lukács als »Himmelsrose des sinnfällig gewordenen Sinnes«4 nur im Jenseitigen einer verlorenen Welt gibt. Zunächst schlage ich allerdings vor, das Problem des Sinnverlusts mit einem in der Forschung zur deutschen Kriegs- und Heimkehrerliteratur bisher neuen 1 Georg Lukács: Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Berlin 1920, S. 23. 2 Ebd., S. 44. 3 Ebd., S. 47. 4 Ebd., S. 49.

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Vokabular zu beschreiben, um einem gängigen Deutungsnarrativ, das sich für Heimkehrerliteratur fest etabliert hat, ausweichen zu können.

Jenseits des Traumas Insbesondere für die Kriegs- und Heimkehrerliteratur ist der Begriff des Traumas bzw. der Traumatisierung allgegenwärtig und wird ubiquitär verwendet, um die Auswirkungen und psychischen Folgen der Kriegserlebnisse auf die jungen Soldaten zu beschreiben.5 Oft werden dabei auch Rückschlüsse von traumatischer Erfahrung auf literarische Schreibweisen gezogen bzw. in Analogie zueinander gesetzt.6 Der Topos von der Unerzählbarkeit des Traumas findet sich allerorten. Der »trauma plot« scheint längst zu einem unverzichtbaren Accessoire für Autoren wie Interpreten geworden zu sein, um Charaktere mit einer »backstory« zu versehen. »Trauma came to be accepted as a totalizing identity. […] Personality […] the pencil-rubbing of history.«7 Gerade das Trauma bzw. das posttraumatische Belastungssyndrom scheint aber weniger geeignet zu sein, die Erfahrung von Sinnverlust und geistiger Desorientierung zu beschreiben, die ein zentrales Merkmal in der literarischen Beschreibung der Nachkriegserfahrung des Zweiten Weltkrieges ist. Ich möchte daher einen in der deutschen Diskussion bisher kaum beachteten Begriff stark machen, der vor allem in den USA seit dem Vietnamkrieg, besonders aber seit den Irak- und Afghanistankriegen Konjunktur hat, um psychische und physische Verletzungen von Veteranen jenseits des »trauma plots« zu beschreiben: das Konzept der moral injury, das hier mit »moralischer Verletzung« übersetzt wird. Der Begriff scheint mir vor allem geeignet zu sein, die Erfahrung jugendlicher Kriegsheimkehrer, wie sie sich in der Nachkriegsliteratur artikuliert, präziser zu fassen. Ich werde dafür drei Argumentationsschritte machen. Zunächst soll der Begriff des Traumas bzw. der Traumatisierung nochmals kurz aufgegriffen werden, 5 So auch für die jüngste Generation deutscher Heimkehrerromane bei Monika Wolting: Der Heimkehrerroman der Gegenwart, in: Oxford German Studies, 2020, 49. Jg., Nr. 3, S. 305–327. 6 Vgl. die Kritik von Harald Weilnböck: ›Das Trauma muss dem Gedächtnis unverfügbar bleiben.‹ Trauma-Ontologie und anderer Miss-/Brauch von Traumakonzepten in geisteswissenschaftlichen Diskursen. In: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 2007, 16. Jg., S. 2–64. Ich gehe im Folgenden nicht auf die kritische Diskussion um das Trauma-Konzept in der Psychologie selbst ein. Vgl. dazu Alexandra Therese, Katrin Lehmacher: Trauma-Konzepte im historischen Wandel. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der Posttraumatic-Stress Disorder in Deutschland (1980–1991), Diss. Bonn 2013, S. 12–16. 7 Vgl. Parul Sehgal: The Case Against the Trauma Plot, in: The New Yorker, Ausgabe vom 3. und 10. Januar 2022, verfügbar unter: https://www.newyorker.com/magazine/2022/01/03/the-case -against-the-trauma-plot?utm_source=onsite-share&utm_medium=email&utm_campaign= onsite-share&utm_brand=the-new-yorker [3. 1. 2022].

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um zu zeigen, wofür dieses nützlich ist und wofür nicht, ohne dass hier nur in Ansätzen eine Geschichte der Entstehung des Traumakonzeptes geboten werden soll.8 Im Anschluss lege ich meine Fassung des Begriffs der »moralischen Verletzung« dar und diskutiere diese mit Blick auf die beiden Bände der »Abenteuer des Werner Holts«. Nolls Romanprojekt, so meine These, ist der Versuch, die moralischen Verletzungen des Werner Holt in der Form eines sozialistischen Bildungsromans zu heilen. Damit eignet sich der Begriff, um die im »trauma plot« durch die Darstellung individuellen Leids überblendete politische Dimension9 der Heimkehrerliteratur in der DDR zu erfassen. Sigmund Freud und Josef Breuer hatten in ihren »Studien zur Hysterie« von 1895 das Trauma als ein Erlebnis bestimmt, dass »die peinlichen Affekte des Schreckens, der Angst, der Scham, des psychischen Schmerzes hervorruft«. Dabei hänge es »begreiflicherweise von der Empfindlichkeit des betroffenen Menschen […] ab, ob das Erlebnis als Trauma zur Geltung kommt.«10 So wichtig bis heute Resilienzfaktoren für die Ausbildung oder Vermeidung posttraumatischer Belastungsstörungen sind, so stellte Freud damit eine Interpretationsfolie bereit, auf der belastete Soldaten als ›überempfindliche Schwächlinge‹ gedeutet werden konnten.11 Zudem belegt die Hysterie-Schrift das Trauma auch deutlich mit einer Gendercodierung: Das Trauma ist weiblich. Von hier war es nur ein kurzer Schritt, den traumatisierten Soldaten als »weibisch« zu diffamieren, was angesichts der zeitgenössischen Identifikation von Krieger und Mann einer Ehrabschneidung gleichkam. In den »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« (1917) bestimmte Freud mit Blick auf die unmittelbare Kriegserfahrung des Ersten Weltkrieges das traumatische Erleben dann aber neu, in dem er es in sein ökonomisches Modell des Seelenapparates einführte. Das Trauma sei ein Reizüberschuss, das Scheitern des psychischen Apparats einen »starken Reizzuwachs« bewältigen und bearbeiten zu können.12 In Freuds Modell erleidet der Mensch ein Trauma, sein ReizReaktions-Schema konzipiert das Trauma als äußerliches Ereignis, das den in8 Ich greife auf die gemeinsame Darstellung zurück, die ich zusammen mit Jessica Wunder zu einem anderen Aufsatzprojekt zurzeit erarbeite. Für eine kritische Geschichte der Entstehung der unterschiedlichen Traumatheorien siehe Ruth Leys: Trauma. A Genealogy, Chicago 2000. 9 So die Kritik von Parul Sehgal: Trauma Plot (Anm. 7). 10 Sigmund Freud: Studien über Hysterie. Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene, in: ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, hg. von Anna Freud u. a., Bd. 1: Werke aus den Jahren 1892–1899, London 1952, S. 75–98, hier: S. 84. 11 Der Traumatologe Clemens Hausmann hebt daher heute in Abgrenzung von Freud ergänzend hervor, die Traumatisierung trete auf als »direkte Folge eine[s] […] akuten […] oder […] fortgesetzten traumatischen Geschehens und nicht durch eine besondere Verletzbarkeit des Individuums.« Vgl. Clemens Hausmann: Einführung in die Psychotraumatologie, Wien 2006, S. 42f. 12 Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Neue Folge. 3. Teil: Neurosenlehre, in: Freud: Werke (Anm. 10), Bd. 11, London 1940, S. 247–482, hier: S. 284.

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nerpsychischen Verarbeitungsmechanismus überfordert und als dauerhafter Energieüberschuss in ihm verbleibt und wieder reaktiviert werden kann. Traumatische Intrusionen und Flashbacks sind daher zentrale Erfahrungen traumatisierter Menschen. Es ist wichtig zu erinnern, dass die Genese des Traumakonzeptes bei Freud eng mit der Diskussion der sogenannten Kriegsneurosen im Ersten Weltkrieg verbunden ist. Lähmungen der Gliedmaßen und psychische Zusammenbrüche wurden mit dem Terminus »Kriegsneurose« belegt, alternative Bezeichnungen waren »Kriegshysterie« und »Nervenschock«.13 Die Genese aus den Erfahrungen des Stellungskrieges ist von zentraler Bedeutung, denn in ihm fühlten sich die Soldaten oftmals einer übermächtigen Kriegsmaschinerie ausgeliefert und waren zur Passivität verdammt. In den Gräben erlitten die Soldaten ein von ihnen kaum zu beeinflussendes Schicksal. Insofern lag es nahe, die von Hermann Oppenheim bereits 1889 im Rahmen der Diagnostik nervöser Symptome nach psychisch belastenden Unfallerfahrungen aufgestellte Theorie der »traumatischen Neurose« im Ersten Weltkrieg zur Beschreibung der Kriegsneurose auszuweiten: Verantwortlich für ihre Entstehung waren danach mikroskopische Veränderungen im zentralen Nervensystem als körperliche Folge eines Traumas.14 Oppenheims somatisches Erklärungsmodell wurde von anderen namhaften Vertretern seiner Zunft wie Robert Eugen Gaupp oder Karl Bonhoeffer heftig kritisiert. Statt einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Kriegserleben und dem vermehrten Auftreten psychischer Leiden anzuerkennen, nahmen Oppenheims Gegner eine »unbewusste Flucht in die Krankheit« erblich vorbelasteter »Kriegshysteriker« an,15 die den Frontalltag nicht ertrugen, das sog. psychogene Erklärungsmodell. Die Beurteilung der Patienten folgte dabei den Kriegsinteressen des Staates. Ziel war es nicht, betroffenen Soldaten bestmöglich zu helfen, sondern sie rasch wieder »frontfähig« zu schreiben. Nach Kriegsende wurden dann Entschädigungsforderungen und Rentenansprüche tausender seelisch verwundeter Heimkehrer mit Rückgriff auf dieses Modell zurückgewiesen. Die Diagnose Kriegsneurose wurde so zum Politikum – und unterband ein echtes Forschungs- und Behandlungsinteresse an den Folgeschäden des Kriegseinsatzes. Ähnliches galt für den »Überwindungs- und Normalisierungsdiskurs«16 nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die gängige 13 Vgl. Philipp Rauh, Livia Prüll: Krank durch den Krieg? Der Umgang mit psychisch kranken Veteranen in Deutschland in der Zeit der Weltkriege, in: Portal Militärgeschichte.de, 2015, S. 1–36, verfügbar unter: http://www.portal-militaer geschichte.de/rauh_pruell_krank, S. 2ff. [29. 12. 2021]. 14 Svenja Goltermann: Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg, München 2011, S. 362. Vgl. auch Matthias M. Weber: Erschütterte Nerven. Hermann Oppenheims Konzept der traumatischen Neurose, in: Psychotherapie, 2010, 15. Jg., Nr. 2, S. 205–213. 15 Rauh, Prüll: Krieg (Anm. 13), S. 2. 16 Goltermann: Gesellschaft (Anm. 14), S. 362.

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Lehrmeinung der Psychiatrie, die Willensstärke der Heimkehrer könne dauerhafte psychische Auffälligkeiten abwenden,17 stützte das gesellschaftliche Bild »über die psychische Resistenzkraft eines ›normalen‹ Menschen, selbst im Krieg«;18 andernfalls läge eine anlagebedingte Störung oder Geisteskrankheit vor. Diese Grundannahme über die mentale Resilienz, die gesellschaftliche Vorbehalte gegenüber psychisch Kranken einschloss, ging einher mit Wiederaufbauforderungen an die Heimkehrer, die »Stärke und Leistungswillen, nicht Schwäche und Apathie«19 verlangten. Genau diese Position wird im ersten Band des Romans der Militarist Gilbert Wolzow zitieren: »Sogenannte traumatische Neurosen sind das, gibt es im Krieg häufig, ›Kriegsneurosen‹, das sind bloß abnorme Reaktionen, gab’s auch schon früher […]. Meistens ist es nur Simulation…Was denkst du, wie die das während des Weltkrieges in den Lazaretten des 16. Armeekorps gemacht haben? Da haben sie den Kriegsneurosen Gewaltexerzieren verordnet, dreimal täglich vier Stunden, du kannst dir nicht vorstellen, wie das geholfen hat! In acht Tagen waren schwere Fälle von Schüttlern und Verkrümmten wieder fronteinsatzfähig…«20

Unbestreitbar sind Soldaten traumatischen Erlebnissen ausgesetzt und leiden unter posttraumatischen Belastungen, die verantwortlich für die extrem hohe Suizidrate unter Veteranen bis heute sind.21 Zugleich aber verdeckt die Allgegenwärtigkeit des Begriffs eine Erfahrungsdimension von Soldaten und Heimkehrern, die sich – anders als das Trauma – auch von der zivilen Kriegsgesellschaft unterscheidet: Im Gegensatz zu anderen Trauma-Erleidenden handelt es sich bei Soldaten meist nicht allein um passive Opfer, sondern um aktiv am Geschehen Beteiligte.22 Sie sind Handelnde, auch wenn ihre Handlungen keineswegs autonom und selbstbestimmt sind, sondern vielfachen Fremdzwängen ausgesetzt sind. Mit Blick auf die literarische Artikulation der oft problematischen und scheiternden Integration von Heimkehrern in die zivile Welt scheint mir zentral, diese als selbstbewusste Agenten zu beschreiben, deren Handlungen und Nicht-Handlungen im Krieg affektive Register wie Schuld und Scham aktivieren. Ihre Erfahrungen sollten daher nicht, wie im Traumakonzept, vorschnell 17 18 19 20

Vgl. ebd., S. 358ff. Ebd., S. 363. Ebd., S. 368. Dieter Noll: Die Abenteuer des Werner Holt. Roman einer Jugend, Berlin 42020 [1960], S. 320. Der erste Band wird im Folgenden mit der Sigle ›I‹ und der Angabe der Seitenzahl im Text nachgewiesen. 21 George A. Bannon sieht dabei die zunehmend konturlos gewordene Diagnose Post Traumatic Stress Disorder (PTSD) als Teil des Problems. Vgl. George A. Bannon: The End of Trauma. How the New Science of Resilience is Changing How We Think about PTSD, New York 2021. 22 Patrick Bayen erkennt im PTSD-Konzept eine ethische Entlastung des Individuums, da die Ursache für seine Leiden als äußerliches Ereignis konzeptualisiert werde. Vgl. Patrick J. Bracken: Trauma. Culture, Meaning and Philosophy, London, Philadelphia 2002, S. 46.

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mit denen von Zivilisten synchronisiert werden.23 Denn erst aus dieser Trennung erklärt sich der fundamentale Erfahrungsbruch mit der zivilen Gesellschaft, die empfundene Unmöglichkeit der Reintegration, eine Entfremdungserfahrung, die das zwar erhaltene Leben nun als sinnentleert erscheinen lässt. Das Konzept des Traumas bietet nur wenig Spielraum, diese Sinndimension als existentielle wie gesellschaftliche Bedrohung zu beschreiben.

moral injury Der Begriff wurde in den 1990er Jahren vom Militärpsychiater Jonathan Shay in seinen Büchern »Achilles in Vietnam« (1994) und »Odysseus in America« (2002) in Ergänzung und Präzisierung des Traumakonzeptes geprägt. Nach Shay, gründet moral injury auf einem Gefühl von »betrayal of ›what’s right‹, in a highstakes situation by someone who holds power«,24 also dem gefühlten Verrat an den eigenen Werten und Moralvorstellungen durch eine Autoritätsperson (im klassischen militärischen Bedingungsverhältnis der Vorgesetzte eines ihm unterstellten Soldaten) – und dies in einem hochgradig lebensbedrohenden Kontext wie einer Kriegssituation. Vor allem seit Beginn der 2000er Jahre wurde der Begriff von Psychologen und Seelsorgern aufgegriffen und erweitert. In einem einflussreichen Aufsatz definieren eine Gruppe von US-Psychologen, -Medizinern und -Psychiatern moral injury als: »Perpetrating, failing to prevent, bearing witness to, or learning about acts that transgress deeply held moral beliefs and expectations. This may entail participating in or witnessing inhumane or cruel actions, failing to prevent the immoral acts of others, as well as engaging in subtle acts or experiencing reactions that, upon reflection, transgress a moral code. We also consider bearing witness to the aftermath of violence and human carnage to be potentially morally injurious.«25

Aus dieser Definition werden vier Grundannahmen deutlich, die dem Konzept zugrunde liegen: 1) Das Konzept behauptet ein kollektiv geteiltes Wertesystem, das summa summarum mit der westlichen Werteordnung übereinstimmt.

23 Bereits im Jahr 2000 sah Ruth Leys im Traumakonzept die Tendenz (und Gefahr), dass Soldaten, die Kriegsverbrechen begehen, die gleiche Diagnose mit ihren Opfern teilen. Vgl. Leys: Trauma (Anm. 8), S. 7. 24 Jonathan Shay: Odysseus in America: Combat Trauma and the Trials of Homecoming, New York 2002, S. 240. 25 Brett T. Litz u. a.: Moral Injury and Moral Repair in War Veterans: A Preliminary Model and Intervention Strategy, in: Clinical Psychology Review, 2009, 29. Jg., S. 698.

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2) Der Soldat verfügt über ein in den Grundzügen intaktes moralisches Gefühl, das das Subjekt in Relation zum kollektiven Wertesystem zu setzen in der Lage ist. 3) Sowohl die aktive Teilnahme des Individuums als auch die passive Beobachtung von Handlungen, die diesem Wertesystem entgegenlaufen, können moralische Verletzungen nach sich ziehen. 4) Kriegerische Auseinandersetzungen führen Soldaten in Situationen, in denen sie gegen ihre eigenen humanitären Wertevorstellungen, die sie aus ihrem zivilen Leben mit in den Krieg genommen haben, verstoßen müssen, um zu überleben oder um einen Befehl auszuführen. Die durch die Verletzung der geteilten Annahmen über Gut und Böse entstehende Dissonanz und die Unfähigkeit zur Integration des konfliktiven Ereignisses in bestehende Selbst- und Beziehungsschemata seien Schlüsselfaktoren für das Erleben wiederkehrender Intrusionen als langanhaltende psychologische Leiden. Das, was Kriegsheimkehrer verfolge, rühre von dem her, »what these veterans did, or did not do«,26 postuliert auch die Neurologin Thayanne DelimaTokarz. Solche Handlungen beschädigen das ethisch-moralische Selbstverständnis und damit das Bild vom eigenen Selbst insgesamt. »For a moment, at least, you become what you never wanted to be«,27 so beschreibt der Journalist Nan Levison den Moment der moralischen Verletzung. Genau in dieser Handlungsorientierung besteht denn auch ein entscheidender Unterschied zum Befund einer Traumatisierung, wenngleich die diagnostizierten Symptome sich ähneln.28 Schuld- und Schamgefühle als moralische Emotionen sind daher auch zentral im Erleben der Kriegsheimkehrer.29 Die Artikulation von Schuld zeugt dabei für jene moralische Instanz, die beschädigt wurde. Aus Sicht der zivilen Welt bestätigt der moralische verletzte Soldat damit gewissermaßen das moralische Wertesystem des Kollektivs. Der verletzte Heimkehrer ist für die Gemeinschaft Versicherung ihrer eigenen Moralität, in der sie ausblenden kann, dass der Soldat im Auftrag und für den Schutz eben dieser Gemeinschaft gekämpft hat.30 Insofern eine kollektive Schuld oder genauer, ein solcher Auftrag, 26 Thayanne Delima-Tokarz: The Psychiatric Ramifications of Moral Injury Among Veterans, in: The American Journal of Psychiatry Residents’ Journal, 2016, 11. Jg., Nr. 5, S. 10ff. 27 Nan Levinson: »Mad-Bad-Sad: What’s Really Happened to America’s Soldiers,« Huffington Post, 28. 6. 2012, verfügbar unter: www.huffingtonpost.com/nan-levinson/mad-bad-sad-wha ts-really-_b_1633856.html [29. 12. 2021]. 28 Litz u. a..: Injury (Anm. 25), S. 698ff. 29 So auch Jonathan Shay: Achilles in Vietnam. Combat Trauma and The Undoing of Character, New York 2003 [1994], S. 69–76. 30 Vgl. auch die Kritik von Susan Derwin: Moral Injury: Two Perspectives, in: Peter Leese, Jason Crouthamel (Hg.): Traumatic Memories of the Second World War and After, Basingstoke 2016, S. 50f.

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der notwendig Schuldverhältnisse erzeugt, auf den moralisch verletzten Soldaten und seine Schuldgefühle projiziert wird, kann die Gemeinschaft sich ihrer Verantwortung entledigen. Mittlerweile gilt für die psychiatrische Pathologisierung des Konzeptes der gleiche Vorbehalt, wie er auch für das Trauma in Anschlag gebracht wurde: »Politische Diskurse [werden] in medizinische überführt und gleichzeitig sozial brisante Konflikte in individuelle Probleme übersetzt.«31 Die Schuldvorstellung verbleibt auf beiden Seiten im Rahmen einer liberal-individualistischen Gewissensethik und trennt Zivilgesellschaft und Heimkehrer voneinander. Insofern moral injury in ganz wesentlichen Punkten an die Vorstellung von Soldaten in Armeen westlicher Demokratien gekoppelt ist, stellt sich die Frage, ob der Begriff überhaupt auf die Situation von Wehrmachtssoldaten im Zweiten Weltkrieg anwendbar ist.32 Ich möchte daher eine Grundannahme im Konzept kritisch beleuchten. Anstatt davon auszugehen, moralische Verletzungen könnten nur dann entstehen, wenn bestimmte, positiv besetzte moralische Vorstellungen verletzt werden, sollte das Gefühl von »betrayal«, das Shay in das Zentrum des Konzeptes gerückt hatte,33 wertneutral aufgefasst werden. Nicht welches, sondern dass ein bestimmtes Wertesystem zusammenbricht oder mit anderen in Konflikt gerät, ist entscheidend. Für den deutschen Fall: Die paramilitärische Ausbildung in der Hitlerjugend und die gesamtgesellschaftliche Indoktrination mit der Ideologie des Nationalsozialismus stellte für eine Generation von jungen Soldaten ein unverbrüchliches Wertesystem dar, in dem militärischer Gehorsam gegenüber Vorgesetzten und Autoritäten an oberster Stelle standen. Zugleich konnte auch der Nationalsozialismus nicht verhindern, dass Jugendliche mit humanistischen Werten noch in Berührung kamen oder Menschen begegneten, die einen solchen Humanismus verkörperten oder zumindest tradierten. Die Erfahrung des Krieges und der Niederlage musste ihr moralisches Gewissen auf eine doppelte Weise beschädigen. Denn der totale Vernichtungskrieg offenbarte, dass das kollektiv beschworene Wertesystem sich als unterlegen herausgestellt hatte. Junge Soldaten erlebten wie die Repräsentanten der Ordnung sich gänzlich anders verhielten, als ihnen selbst jahrelang eingetrichtert worden war. Zugleich wurden sie von diesen zu Handlungen motiviert, ange31 Franziska Lamott, Günter Lempa: Zwischen Klinik und Politik. Die Wiederentdeckung des Kriegstraumas in Deutschland, in: Psychotherapeut, 2009, 54. Jg., S. 290. 32 Damit verbunden ist dann die Auffassung, dass deren ideologische Indoktrination und die brutale Praxis der Kriegsführung derart brutalisiert und barbarisiert habe, dass von einem verletzten moralischen Gewissen nicht ausgegangen werden könne. So etwa: George L. Mosse: Fallen Soldiers. Reshaping the Memory of the World Wars, New York 1990 und Omer Bartov: The Eastern Front. 1941–45. German Troops and the Barbarisation of Warfare, Basingstoke 2001. Dies dürfte für Einzelne oder bestimmte Truppenteile sicher zutreffend sein, kann aber nicht generalisierend für alle Soldaten der Wehrmacht angenommen werden. 33 Vgl. Shay: Achilles (Anm. 29), S. 3–22.

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stoßen oder gezwungen, von denen sie wussten, dass diese außerhalb einer anderen, zivilen und humanen Werteordnung standen. Dieser doppelte Betrug musste zu einem fundamentalen Generationenbruch führen, in der sich die (männliche) Jugend ethisch-moralisch orientierungslos wiederfand.

»Die Abenteuer des Werner Holt« Nolls Protagonist Werner Holt widerfährt im Laufe des zweibändigen Romangeschehens genau eine solche Erfahrung. Der erste Teil erschien 1960 und ist damit ein ›später‹ Heimkehrerroman – im Vergleich zu etlichen Romanen, die bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit erschienen. In Romanen der DDR war das Thema in Texten von Walter Schulz, Günter de Bruyn, Fritz Selbmann oder Herbert Otto erst in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren mehrfach zentral behandelt worden.34 Nolls erster Band, der »Roman einer Jugend« wurde einer der erfolgreichsten Romane der DDR überhaupt. Eine Erklärung für den relativ späten Boom der DDR-Kriegs- und Heimkehrerliteratur ist die Forderung des IV. Deutschen Schriftstellerkongresses von 1956 nach einer »Darstellung des zweiten Weltkrieges von unserem, dem sozialistischen Standpunkt aus«,35 so Anna Seghers. Dieter Noll, linientreuer DDR-Autor und -Kulturfunktionär, einst selbst Flakhelfer und ab Ende 1944 Rekrut im Fronteinsatz, erzählt die Geschichte des 15-jährigen Werner Holt. Vor allem der erste Teil verwebt dabei dessen Adoleszenzgeschichte von Mutproben, Jungenstreichen und ersten sexuellen Erfahrungen mit der Erzählung einer Bildung zum Krieg. Schon in den ersten Rezensionen wird der Roman als Entwicklungsroman charakterisiert und vom Roman als »Werner Holt[s] Lehrjahre«36 gesprochen. Ich entwickle die Argumentation entlang der Figuren- und Handlungsführung, um Leser*innen, denen der Text unbekannt ist, den Nachvollzug zu erleichtern. Der Protagonist Werner Holt ist Teil einer Jungenclique unter der Führung Gilbert Wolzows, Sohn eines Obersts und Neffe eines Generals der 34 Es ist auffällig, dass es hierzu kaum neuere Forschungsbeiträge gibt, wohingegen der westdeutsche Kriegs- und Heimkehrerroman gut untersucht ist. Vgl. dazu etwa Norman Ächtler: Generation in Kesseln. Das Soldatische Opfernarrativ im westdeutschen Kriegsroman 1945– 1960, Göttingen 2013. 35 Anna Seghers sieht mit Nolls Roman diese Forderung, an die sie im Rahmen des V. Schriftstellerkongresses erinnert, als erfüllt an. Anna Seghers: Tiefe und Breite in der Literatur. Aus der Rede auf dem V. Deutschen Schriftstellerkongreß, in: Neues Deutschland, 26. 05. 1961, Nr. 143, S. 4. 36 Günter Ebert: Abenteuer, Krieg und Wahrheit, in: Neues Deutschland, 20. 11. 1960, Nr. 321, S. 10. Die DDR-Literaturwissenschaft sprach auch von einem »prototypischen Wandlungsroman«. Martina Langermann: Dieter Nolls ›Die Abenteuer des Werner Holt‹. I. Entstehung und wirkungsästhetische Aspekte des Romans, in: Weimarer Beiträge, 1989, 35. Jg., S. 1641.

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Wehrmacht. Die Jungen repräsentieren unterschiedliche Sozialisierungserfahrungen im NS. Sie alle sind ideologisch indoktriniert, haben dabei aber völlig verschiedene familiäre Hintergründe. Wolzow, der sich ganz mit der militaristischen Tradition der Männer seiner Familie identifiziert, ist selbst als Schüler schon äußerst gewaltbereit und bestimmt Freundschaft als Kameradschaft, die unbedingte Treue verlangt. Daneben findet sich Sepp Gomulka, Sohn eines Rechtsanwaltes, der, obwohl in der Partei, sich dem humanistischen Erbe verpflichtet fühlt. Gomulka wird eher liberal erzogen, und seine pubertierenden Auf- und Ablehnungsversuche gegenüber seinem Vater laufen meist ins Leere (I, S. 314f.). Später wird sich herausstellen, dass Gomulka von seinem Vater früh über den Charakter des NS-Systems aufgeklärt wurde und durch entsprechenden Sprachunterricht bereits auf die später erfolgende Desertation vorbereitet wurde (I, S. 323; I, S. 436f.). Nach dem Krieg treffen sich Holt und Gomulka, die im ersten Teil eine vertrauensvolle Freundschaft verbindet, nur noch einmal. Die Figur wird von Noll im zweiten Teil fallengelassen, vielleicht auch, weil die DDRKritik die Haltung der bürgerlich-oppositionellen Familie Gomulka als »im ganzen […] lasch und undeutlich«37 kritisiert hatte. Des Weiteren gehört zu der Gruppe Christian Vetter, der sich ganz der Führung Wolzows verschreibt und ihm bedingungslos folgt. Nach dem Krieg trifft er Holt wieder. Vetter ist nun gewinnmaximierender Schieber von Alkohol und Zigaretten und versucht Holt erfolglos in diese Sphäre des Halblegalen hinüberzuziehen. Vetter hat kein moralisches Gewissen, er ist ein Wendehals und bildet damit eine Gegenfigur zu Gomulka. Zur Adoleszenzgeschichte gehört als genretypisches Element auch die Ausbildung des Gewissens des Protagonisten. Dabei ist Holt zwischen den Figuren Wolzow und Gomulka positioniert. Werners Vater, früher Chemieprofessor in Hamburg, weigerte sich an der Herstellung von Zyklon-B mitzuwirken und wurde daher von den Nationalsozialisten seiner Professur enthoben. Werner erfährt die genaueren Umstände erst während eines späten Besuchs beim Vater. Dieser erzählt ihm von der systematischen Vernichtung von Menschen durch den NS-Staat (I, S. 191f.). Verdrängt er diese Wahrheit zunächst in jugendlicher Rebellion gegen den Vater, der die Familie verlassen hatte, so ist sie von nun an, doch ins Zentrum seines Gewissens gepflanzt, zumal die Worte des Vaters übereinstimmen mit den Aussagen der Geliebten Werners, Gertie, Mutter seines Stubenkameraden Ziesches, dass ihr Mann an der Selektion von Kindern in KZs in Polen beteiligt sei und »die Juden zu Hunderttausenden« (I, S. 183) umgebracht würden. 37 Ebert: Abenteuer (Anm. 36), S. 10. Der Lektor des Aufbau-Verlages Günter Schubert hatte noch bis unmittelbar vor Drucklegung Noll aufgefordert, die Figur Gomulka zu einer echten Gegenfigur zu Wolzow auszubauen. Vgl. Langermann: Abenteuer (Anm. 36), S. 1642f.

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Holts Mutter hingegen stammt aus einer reichen Fabrikantenfamilie. Nach der Relegation des Vaters aus dem Professorenamt gehen beide getrennte Wege. Es wird später wichtig, dass die Familie der Mutter nach dem Krieg Teil des kapitalistisch organisierten Wiederaufbaus in den westlichen Besatzungszonen wird und erfolglos versucht, Werner in diese Welt hinein zu sozialisieren. Die Offenbarung des Vaters führt bei Werner zu einer ersten massiven Erschütterung seines moralischen Weltbildes. Der Roman wechselt in die Innensicht der zitierten Gedankenrede, die immer wieder eingenommen wird, wenn der Roman Holts emotional-intellektuelle Verarbeitung von Erlebnissen und Erkenntnissen thematisiert. »Holt machte eine Handbewegung, die nichts als Hilflosigkeit ausdrückte, Hilflosigkeit und Angst. […] Wirft mir seine Wahrheit hin wie einem Hund den Knochen, dachte er, stößt mich hin und läßt mich liegen… […] Was will ich hier? dachte er, was trieb mich hierher und warum musste ich fragen? Fort! Wohin? Zu Gertie, dachte er. Er atmete auf. Bei ihr…ist Wärme, Geborgenheit und Trost…« (I, S. 192).

Wird die Geliebte Gertie zur Mutter-Imago, so erleben die Leser*innen einen zentralen Moment der moralischen Verletzung Holts, der Erschütterung des eigenen ethischen Handlungsrahmens, der Trost nur noch in den Armen der (falschen) Mutter zulässt. Später wird er ihre moralische Korruptheit erkennen müssen, da sie nicht bereit ist, den von ihr verachteten Mann und SS-Täter zu verlassen, weil sie um ihre Versorgung fürchtet (I, S. 247f.). Als Holt das erste Mal selbst Zeuge der Misshandlung von russischen Kriegsgefangenen durch die SS wird, handelt er nicht selbst, sondern nimmt Wolzow mit einem alten Eid beim Worte und lässt diesen einschreiten. Während bei Holt das Gewissen sich erstmals vorsichtig regt, so handelt Wolzow gänzlich aufgrund seiner kameradschaftlichen Verpflichtung gegenüber Werner (I, S. 241). Die ethische Indifferenz Wolzows bewirkt bei Holt (und Gomulka) eine langsame, aber fortschreitende Entfremdung von diesem. »Es ist alles dasselbe, dachte Holt in einem Gefühl des Grauens. Ob er einen Wachhund totschlägt, ob er sich prügelt oder Nahfeuer schießt…es ist alles dasselbe!« (I, S. 297). Wolzow radikalisiert sich im Laufe der Handlung, dessen Rahmen das fortschreitende Kriegsgeschehens bildet, immer weiter. Neben seine Begeisterung für Militärgeschichte und Kriegstaktik tritt nun nach der Lektüre von »Mein Kampf« eine Ideologisierung ein, die den Krieg als Kampf um Lebensraum rechtfertigt (I, S. 301). Angesichts grausamster Kriegsverbrechen der SS, deren Überreste die jungen Kameraden in einer Mühle entdecken, wird er zwar »aschfahl«, kommentiert aber anschließend zynisch: »Ich versteh die SS nicht! Wenn man so etwas macht, läßt man’s doch hinterher nicht offen rumliegen« (I, S. 369). In einem Gespräch mit Gomulka über solchen Fanatismus wird deutlich, wie sehr Werner, anders als Gomulka, von der Zerstörung seiner bisherigen ethi-

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schen Überzeugungen erschüttert ist. Als Kontrastfigur dient hier wieder Wolzow, der aus den Tagebüchern seines an der Ostfront gefallenen Vaters sowohl vom Kommissarbefehl als auch von Auschwitz weiß. Dieses Wissen ist aber nicht Anlass, seinen Militarismus zu überdenken. In aggressiver Verdrängung steigert er sich immer mehr in diesen hinein (I, S. 438). Holts Zweifel haben wiederum keine eigene moralischen Grundierung, der Fanatismus erscheint ihm immer noch attraktiv, weil er zumindest ein Sinnangebot macht und auch Gomulka warnt ihn: »›Das Nachdenken‹, sagte er mit ungewöhnlichem Ernst, ›das macht dich nicht fertig, nur das sinnlose Nachdenken! Suchen ist richtig, nur nicht sinnlos suchen‹« (I, S. 310). Bereits früh im ersten Teil wird Werner als Sinnsuchender vorgestellt, dem seine bisherige Erfahrungswelt aber keinen legitimen Orientierungsrahmen mehr bereitstellen kann. Holt entspricht dem Lukács’schen Romanhelden par excellence. Er ist ein Suchender, dessen »hoffnungslose[s] Verirrtsein[]« ihn und seine Freunde an die Grenze von »Verbrechen und Wahnsinn« führt, die »Objektivation der transzendentalen Heimatlosigkeit«38 sind. Für Holt gibt es angesichts der Konfrontation mit den Verbrechen eines Krieges, an dem er beteiligt ist, die neue Sinndimension, von der Gomulka spricht, nicht. »Aber da darf ich überhaupt nicht daran denken! Wie soll ich durchkommen, ohne Sicherheit, ohne Halt? Was ist denn überhaupt noch sicher auf dieser Welt?« (I, S. 310). Als sich die Wahrheiten über das NS-Regime in der Liebe zu dem Mädchen Gundel, deren Eltern im KZ als politische Gefangene ermordet worden sind (I, S. 317), gleichsam verkörpern, wird Holt endgültig klar, dass er für und an der Seite von Verbrechern und Mördern kämpft. Doch diese Einsicht streitet zugleich mit seinem Willen zu überleben. Eine Paradoxie, die sich in Romanen von und über Kriegsteilnehmer, wie etwa in Hans Werner Richters »Die Geschlagenen« (1949), immer wieder artikuliert. Als er und seine Freunde zum Einsatz nach Böhmen verlegt und Teil der Partisanenbekämpfung werden, rücken die Kriegsverbrechen der Wehrmacht und SS, nicht nur geographisch, immer näher. Als sich Holt der jungen Slowakin Milena erst freundlich nähert, er sie dann aber ohne ihre Zustimmung an sich zieht und von ihr mit hasserfüllter Geste zurückgestoßen wird, kann er sich kaum beherrschen: »Wut stieg in ihm auf. Er dachte eine Sekunde lang an Gewalt.« (I, S. 353) Sein inzwischen aber ausgebildetes Gewissen verhindert eine Vergewaltigung, muss aber auch erkennen, dass er nach der Verhaftung Milenas, diese bei einem Fluchtversuch erschossen hätte. »Wenn sie wegläuft, dann muss ich schießen, dann werde ich schießen. Sein Blick suchte einen Punkt zwischen den Schulterblättern.« (I, S. 355) Streiten die alte moralische Ordnung, in die er als Hitlerjunge und Soldat hineingewachsen ist und sein neu entwickeltes moralisches Bewusstsein, so führt 38 Lukács: Theorie (Anm. 1), S. 51.

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dieser Widerstreit zu einer gleich doppelten moralischen Verletzung: Er fühlt sich vom gnadenlosen Befehl seines Zugführers betrogen, weil dieser seinem soldatischen Ehrencodex zuwiderläuft und darüber hinaus spürt er die Verachtung vor sich selbst, weil er sein Leben über das der wehrlosen Gefangenen stellt. Diese moralische Verletzung zeigt sich psycho-physiologisch in starken Schamgefühlen. »In seinem Innern sagte eine Stimme: Etwas davon ist auch in dir! Die Scham schlug wie eine Welle in ihm hoch […]. Er versuchte dieses erstickende Gefühl der Scham loszuwerden. Er dachte: Die soll sich nicht so aufspielen! Schließlich bin ich ein Deutscher, und sie…Da wuchs das Schamgefühl ins Unerträgliche. Sein Gesicht brannte, wie vom Feuer versenkt«. (I, S. 353).

Es ist unter anderem diese Szene, die Holt nicht wieder loslassen wird.39 »Ich hätte sie erschossen, dachte er. Er war unfähig, damit fertig zu werden.« (I, S. 357) In einer langen Reflexion, in der er zentrale Erlebnisse sich erneut vor Augen ruft, muss er erkennen, dass beide moralischen Ordnungen in ihm keinen manichäischen Kampf zwischen Gut und Böse führen, sondern es ihn wie Deutschland in einen Strudel von »Elend, Zerstörung, Qual und Tod« (I, S. 377) gezogen hat, der von nun an Teil seines auf immer beschädigten Selbst sein wird. Von nun an lehnt er jede transzendente Deutung der Ereignisse ab. Er erkennt die »Heimatlosigkeit einer Tat in der menschlichen Ordnung der gesellschaftlichen Zusammenhänge und die Heimatlosigkeit [s]einer Seele in der seinsollenden Ordnung des übergeordneten Wertesystems.«40 Lukács bietet hier in der Tat eine frühe Definition von moral injury. Auf den Vorschlag einer Lazarettschwester zu beten, um Vergebung zu erhalten und seinem Leben so neuen Sinn zu stiften, kann Holt nur mit Ablehnung reagieren. Zugleich bleibt die Gottesvorstellung ein letzter Anker jeglicher Sinngebung: »Er schüttelte den Kopf. Schicksal, Vorsehung, Gott…Es regte sich in ihm wie Auflehnung: Ich will keinen Gott! Die Menschen müssen daran schuld sein, vielleicht weil sie unvollkommen sind oder wer weiß warum. Gott soll nicht schuld sein, sonst wär’s zum Verzweifeln!« (I, S. 381)41 Und so versucht er über die Lektüre von Hölderlin-Gedichten, sich sein Leben zu erklären, die ästhetische Form als »Auflösung einer Grunddissonanz des Daseins, eine Welt, in der das Widersinnige an seine richtige Stelle gerückt, als Träger, als notwendige Bedingung des Sinns erscheint«,42 zu begreifen. Nicht zum letzten Mal wird ein literarischer Text ihm zur Folie der eigenen Lebens39 Vgl. z. B. I, S. 377; I, S. 381; I, S. 385. 40 Vgl. Lukács: Theorie (Anm. 1), S. 51f. 41 Gomulka wird wenig später Gott ganz aus dem Spiel nehmen. Das einzig sichere, woran man sich halten könne, sei »die Mühle« (I, S. 387), also der Ort des im Roman grausamsten SSVerbrechens. 42 Lukács: Theorie (Anm. 1), S. 5

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deutung, hier Hölderlins melancholisches Gedicht »An die Natur«: »Daß der Jugend Träume sterben, dachte er, das erleb ich jetzt: Hoffnungen und Wünsche lösen sich auf, die Illusionen werden fortgerissen wie ein Vorhang hinter dem sich das Leben verbirgt. Was bleibt zurück? Das einsame, frierende Ich, dem es gegeben ist, auf keiner Stätte zu ruhen.« (I, S. 384)43 Die selbst zugeschriebene Schuld und die damit verbundene Scham ist noch der Versuch, der Sinnlosigkeit des eigenen Lebens im Negativen zu entgehen. Scham und Schuld sind die Zeichen der tiefen moralischen Wunde, die ihn vor den unschuldigen Opfern, für die die Figur Gundel steht, zum Paria werden lässt. »Werde ich ihr jemals wieder unter die Augen treten können? Ich darf ihr niemals eingestehen, daß ich geschossen hätte, damals auf dem Schulhof…Der Gedanke war wie eine Wunde, die nicht heilen will. Und wenn nun so ein Befehl tatsächlich…Dann…Es sprach in ihm: Wie willst du weiterleben, das Kainsmal an der Stirn?« (I, S. 385)

Heißt es in Hölderlins Natur-Gedicht »Todt ist nun die jugendliche Welt«,44 so scheint den ihrer Jugend Beraubten, die Welt ihrer Väter auch keine Perspektive bereit zu halten. Der heimgekehrte Werner wird im zweiten Teil als Folge dieser Verletzung seine Weltlosigkeit konstatieren: »›Was ich für die Welt gehalten habe‹, sagte er, ›das war Spuk und Illusion und liegt in Trümmern. Und was mich jetzt als Welt umgibt, das geht mich überhaupt nichts an.‹«45 Obwohl Werner nach der Rückkehr zu seinem Vater auf viel Verständnis trifft – Gundel liest, wie Holt auch, gar Remarques »Der Weg zurück«, um ihn besser zu verstehen – so kann er keinerlei Bindung weder an die Welt der Alten, die »hatten es eingebrockt« (II, S. 65), noch zur neuen Welt des wiederaufbauenden Sozialismus knüpfen. Holt ist nämlich im zweiten Teil umgeben von Figuren, die auf der richtigen Seite gestanden hatten und mit der Legitimation ihres Opferstatus nun einen neuen Staat aufbauen: sein Vater, Gundel, deren Verehrer Horst Schneidereit, der selbst politischer Gefangener gewesen war (II, S. 16) und dessen Eltern ermordet wurden sowie der Werksleiter Müller, Kollege seines Vaters und ebenfalls ehemaliger KZ-Insasse. In dieser Personenkonstellation wird der Gründungsmythos der DDR, wie er auch nahezu zeitgleich in Bruno Apitz »Nackt unter Wölfen« (1958) erzählt wird, auch bei Noll weitergetragen. Überhaupt werden im zweiten Teil die Jahre 45 und 46 in der sowjetischen Besatzungszone von Noll so dargestellt, als zeichne sich die Gründung eines sozialistischen

43 In diesen Formulierungen werden die Anleihen an Lukács offensichtlich. 44 Friedrich Hölderlin: An die Natur, in: ders.: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Bd. 2: Lieder und Hymnen. Hg. von D. E. Sattler und Wolfram Groddeck, Frankfurt a. M. 1978, S. 227–231, hier S. 230, Z. 50. 45 Dieter Noll: Die Abenteuer des Werner Holt. Roman einer Heimkehr, Berlin u. a. 1964, S. 13. Im Folgenden unter der Sigle ›II‹ und Angabe der Seitenzahl im Text zitiert.

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Staates bereits ab, eine Verzerrung der historischen Lage aus der Perspektive von 1960. Werner Holt kann, anders als sein Vater oder sein Rivale Schneidereit, dessen Spruch »Das machen wir alles selbst« als sozialistisches Mantra beständig wiederholt wird, nichts zum Aufbau beitragen: »ich kann nichts als schießen und morden« (II, S. 14). Anders als sie, hat er keinen Widerstand geleistet, obwohl er längst wusste, was geschah, sondern: »Dabeigestanden und zugesehn. Gewehr bei Fuß, und hab keinen Finger gerührt« (II, S. 70). Diese moralische Verletzung (»failing to prevent the immoral acts of others«) lähmt Werner nach seiner Rückkehr und verhindert, seine erfolgreiche Reintegration in die Zivilgesellschaft. Es ist zu betonen, dass es weder die verzweifelten Kämpfe im Panzerkrieg an der sich auflösenden Front im Osten, noch der Bombenkrieg mit Verschüttung sind, die der Roman als Erklärung für Holts Zustand anführt und für die eine Diagnose PTSD eine Erklärung bereitstellen könnte. Es ist der Verlust jeder Sinndimension, ausgelöst durch die moralische Verletzungen von betrayal und eigener Schuld, die »entscheidende Richtungslosigkeit des ganzen Lebens«,46 die von Noll dafür verantwortlich gemacht werden, dass Werner in passive Apathie verfällt, trinkt, sich prügelt und kurzzeitig mit seinem alten Kameraden Vetter gemeinsame Sache macht, der im zweiten Teil als kapitalistisch denkender und handelnder Schieber zum Symbol einer zutiefst asozialen Existenz des im Aufbau befindlichen antifaschistischen sozialistischen Staates wird. Aber nicht nur in diesen starken Kontrastierungen wird die Holt-Figur in ihrem Verlust sinnorientierender Stabilisierung gezeichnet. Mit Holts altem Batteriechef Gottesknecht, dem Werner im zweiten Teil im Schuldienst wiederbegegnet, führt Noll eine Figur ein, die für den einst verstrickten nun aber geläuterten Bildungsbürger steht, der seine Mitschuld an den verbrecherischen Jahren akzeptiert und seine Aufgabe darin sieht, die gebrochenen jugendlichen Heimkehrer wieder aufzurichten. Gottesknecht als Vertreter der alten Generation wird von Holt jedoch als moralische Instanz abgelehnt.47 Stattdessen verfällt er einem radikalen Nihilismus, der im Verlust jeder Sinnhaftigkeit eine Befreiung zu verspüren meint, denn wo weder transzendenter noch immanenter Sinn ist, da kann das Leben nicht sinnlos vertan werden, sondern nur noch hinter sich gebracht werden: »Das Leben war sinnlos. Die Toten lehrten es. […] Sie hatten sich ganz sinnlos gesorgt, sinnlos gefreut, sinnlos hatte die Leidenschaft ihr Blut

46 Lukács: Theorie (Anm. 1), S. 52. 47 Meinolf Schumacher hat in seinem wundervollen Vortrag auf der Tagung »Transzendental obdachlose Jugend?« im Oktober 2021 auf der Burg Ludwigstein die Popularität des Genres »Rede an die Jugend« nach 1945 aufgezeigt, derer sich die Jugend nur mit Spott entziehen konnte.

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erhitzt. […] Das galt es zu wissen, vorher, dann war das Dasein leicht. Geh durch dein Leben, was du beginnst, es ist sinnlos. […] Alles ist sinnlos.« (II, S. 87).

Auswege Die Stimmigkeit der Figur Holt in ihrer moralischen Verletzung, die gerade daraus resultiert, nicht ein gängiges psychologisches Erklärungsmuster für das Verhalten des Heimkehrers zu aktivieren,48 mag, neben dem als moralisch anstößig empfundenen meist sexuellen Verhältnis Holts zu Frauen, vor allem ein Grund dafür gewesen sein, warum der Roman auch innerhalb der DDR umstritten blieb. Die Darstellung der Kriegs- und Heimkehrererfahrung konnte in Widerspruch zur Intention einer Remilitarisierung der DDR-Gesellschaft im Kontext des Kalten Krieges geraten.49 Interessanterweise verweist keine der Rezensionen auf die offensichtliche Nähe der Figurenkonzeption zu Lukács’ Ausführungen der Figurenpsychologie in dessen »Theorie des Romans«. Ein Grund könnte darin bestehen, dass Lukács seit dem gescheiterten Budapester Aufstand von 1956 und dem Einspruch Walter Ulbrichts gegen eine Übersiedlung in die DDR, die der Cheflektor im Aufbau-Verlag, Walter Janka, mit betrieben hatte, zur persona non grata geworden war.50 Martina Langermann wies bereits 1989 nach Gesprächen mit dem Autor und der Einsicht in die Entstehungsdokumente des Romans darauf hin, wie stark seit der ersten Phase der Entstehung des Romans ab 1953 kulturpolitische Institutionen der DDR, vor allem über den betreuenden Lektor des Aufbau-Verlages Günter Schubert, Einfluss auf die Figurenkonzeption nahmen, also einer Zeit, in der Lukács im Verlag hohes Ansehen genoss.51 Noch 1959 bemängelte ein Gutachten des Verlags »das Fehlen proletarischer Figuren, die den Widerstand in der Wehrmacht verkörperten«.52 Wie gelingt es dem Protagonisten und dem Roman aus dieser Situation heraus zu finden? Noch bis zum Redaktionsschluss arbeitete Noll, wie Langermann 48 Diese Form der »strategischen Opazität« (Stephen Greenblatt) der Figur lies ihr Verhalten gerade den jüngeren Leser*innen unverständlich werden, wie die Berichte über Lesungen andeuten. 49 Vgl. Langermann: Abenteuer (Anm. 36), S. 1643. 50 Vgl. Antonia Opitz: Verspätete Wiedergutmachung. Gedanken zur Lukács-Rezeption in Ungarn und in der DDR zwischen 1945 und 1960, in: Marion Marquardt (Hg.): Kritische Fragen an die Tradition. Festschrift für Claus Träger zum 70. Geburtstag, Stuttgart 1997, S. 244–259. 51 Es ist daher auch verwunderlich, dass der Aufbau-Verlag dem ersten Teil des Romans bis heute kein Nachwort beistellt, das diese Textentstehungsgeschichte philologisch nachzeichnet, immerhin handelt es sich um einen der meist gelesenen Romane in der DDR überhaupt. Zu bedenken ist freilich auch, dass die »Theorie des Romans« sich deutlich von den späteren, stärker marxistisch orientierten Werken zur Ästhetik unterscheidet. 52 Langermann: Abenteuer (Anm. 36), S. 1643.

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berichtet, eine »augenfällige und ideologisch eindeutige Metaphorik«53 in zentrale Stellen des Romans ein. Für den zweiten Teil aber musste Noll auch eine Lösung für die Figur Holt selbst finden, sollte das Romanprojekt als Wandlungsund Bildungsroman überzeugen. Psychologisch wenig stimmig, greift Noll auf das Formular von Konversionserlebnissen zurück,54 indem er im zweiten Teil ein Stotternheimer Bekehrungserlebnis mit einigen Reminiszenzen an Wilhelm Meisters Verwundung, den Fieberträumen, der schönen Amazone als Retterin und die daran anschließende Neuausrichtung seines Lebens inszeniert. Werner bricht, verfolgt von sowjetischen Wachen eines Truppenlagers, in das Eis eines Sees ein. »Todesangst packte ihn. Das Wasser drang unter die Kleider, aber eisiger war die Angst, die ihn lähmte.« (II, S. 117) In einem ekstatischen Fiebertraum nach seiner Rettung im Hospital kehren jene Bilder des Krieges aus der Tiefe seines Bewusstseins zurück, die Anlass seiner moralischen Verletzung waren. Es wiederholt sich die Szene aus dem ersten Teil mit einer Krankenschwester, die ihn zur religiösen Umkehr ermuntert (I, S. 380ff.): »Der Krieg und all die Heimsuchungen und die vielen Toten lehren uns, dass wir zu Gott zurückkehren müssen.« (II, 124) In Anspielung an Illos verzweifelten Versuch, den in Melancholie und Schicksalsglauben versunkenen Wallenstein in Schillers »Die Piccolomini« (II.6) zu neuem Handeln, zur Rückkehr ins wahre Leben zu bewegen, erkennt Holt in diesem Dèjà vu in einer blitzartigen Erkenntnis seine individuelle wie die geschichtliche Lage: »Auf einmal überschaute Holt, aus großer Distanz, sein bisheriges Leben: er hatte sich verirrt, er war den Irrweg nicht als einzelner gegangen, und er wußte: kein Gott trug daran Schuld. Denn eine, diese eine Wahrheit hatte sich für immer in ihn eingebrannt: nicht Vorsehung, Schicksal, Gottes Wille lenkte die Schritte des Menschen, nein der Mensch war des Menschen Schicksal, und die Macht der Vorsehung war die Macht des Menschen über den Menschen. […] eins wußte er jetzt wieder: nach dem Warum unaufhörlich zu forschen, endlich ganz von vorn anzufangen und zu suchen und zu fragen, wie es ihm einmal vage als Hoffnung und Möglichkeit des Überlebens und Weiterlebens vorgeschwebt war – das allein konnte seinem Leben in Zukunft Sinn und Richtung geben.« (II, S. 125)

Wie im »Wilhelm Meister« und meist im Bildungsroman folgt aber auch dieser Erkenntnis ein langes retardierendes Moment – Werner reist zu seiner Mutter und anschließend zu seiner ersten Jugendliebe Uta und erprobt dort zwei gänzlich entgegensetzte Lebensentwürfe: in Hamburg das juvenile Leben als Sproß einer reichen Industriellenfamilie und im Schwarzwald das frugale Leben als Einsiedler an der Seite Uta Barnims. Widert ihn dort die dekadente Lebens53 Ebd., S. 1645. 54 Vgl. Gesine Carl, Angelika Schaser: Anders werden? Konversionserzählungen vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, Bochum 2016.

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weise der Jungkapitalisten an, die ihre im Krieg antrainierte moralische Enthemmung bruchlos in das großbürgerliche Lustleben überführen (II, 159ff.) oder sich in die Pose des existentialistischen Dichters werfen, um entleerte Heideggerianische Phrasen nachzuplappern, so besteht Utas Sinnentwurf allein im Versuch, ihren Vater als Offizier ehrenhaft zu rehabilitieren, die Verantwortlichen seiner Exekution rechtlich zu belangen und ansonsten dem Leben, angeregt durch Tolstois »Bekenntnisse«, asketisch zu entsagen, um sich innerlich zu erneuern. Für Holt wird Entsagung keine Option darstellen, sein Leben mit einem Sinnentwurf zu versehen: »Es gab das Leben oder es gab die Illusion, und die Einöde war nicht das Leben, die Einöde war Illusion.« (II, S. 213) Uta selbst hat aus den biologischen Lehrbüchern von Werners Vater, sich einen naturwissenschaftlich-darwinistisch inspirierten Nihilismus zusammengebastelt, der jede Sinnfrage als transzendental bedeutungslos zurückweist. »Wir sind ganz sinnlos auf der Welt. Nur der Unwissende sieht in uns Menschen den Zweck der Natur. Wir sind nur eine der vielen Möglichkeiten des sich ewig wandelnden Seins, eine Episode in der Entwicklung des Lebendigen, das sich in uns seines Daseins bewußt wird, sind ohne Sinn zwischen Zufall und irdischem Zwang zum Menschen geworden.« (II, S. 215)

Werner aber kann diese Philosophie für sich nicht annehmen, er bleibt auf der Suche nach einem Sinnangebot für sein Leben: »ich suche etwas Bleibendes, vielleicht Liebe, vielleicht Wahrheit, ich weiß nicht, ich suche etwas wie den archimedischen Punkt.« (II, S. 214) Und Uta legt Werner eine Lebenswendung nahe, die sie für sich selbst ablehnt: »Sie sah Holt an. ›Jetzt sag noch einmal, das Leben dürfte nicht sinnlos sein. Jetzt ist es die Forderung, daß du deinem Leben bewußt einen Sinn, ein Ziel geben mögest. Such dir ein Ziel, lebe diesem Ziel, und versuche ein Mensch zu werden.‹« (II, S. 215) Auf die grundsätzlichste aller anthropologischen Fragen »Was ist das, ein Mensch?«, die Werner ihr entgegenhält, antwortet sie: »›Ein Mensch ist‹, sagte sie nachdenklich, ›wer bewußt einer Zielsetzung lebt und so der Sinnlosigkeit des Lebens einen Sinn nach menschlichem Maßstab abtrotzt, und nicht nur für sich selbst, nein, sondern mit einem Seitenblick, ein wenig Vorfreude auf das schönere, wahrhaftige Geschlecht der kommenden Jahrhunderte.‹« (II S. 215f.) Utas metaphysisch entleerter Pragmatismus bereitet für Holt nun den Boden, einen neuen, inhaltlich bestimmten Sinnentwurf annehmen zu können. Erneut ist es eine Leseszene im Roman und nicht die konkrete biographische Erfahrung, die Holt den letzten Schritt seines Bildungsganges, seine nunmehr geglückte Heimkehr ermöglicht. Sie bildet den Abschluss und Höhepunkt unterschiedlicher Lektüren, die Holt, wie bei Hölderlin, mal geholfen oder, wie bei Rilke, Benn, Heidegger und Remarque, ihn enttäuscht zurückgelassen hatten. Es

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ist die Lektüre des »Kommunistischen Manifests«, die ihm zu einem umstürzenden ästhetischen wie intellektuellen Erlebnis wird. »Die kalte, zornige Leidenschaft dieses Stils packte Holt und ließ ihn nicht wieder los. Die Gedanken des Buches stürzten ihn in eine Erregung, deren er in dieser Nacht nicht mehr Herr wurde. Jeder Satz traf ihn mit einer Wucht der Wahrheit, der man nach langer Suche unversehens begegnet. […] Das Licht brannte herunter. Holt ließ sich neue Kerzen geben und las und las. Er überflog den Text bis zum Ende, begann von vorn und las ein zweites Mal, nun langsam, sorgfältig prüfend, nachdenklich und grübelnd. Immer wieder gab es Passagen, die ihn in Aufregung, Leidenschaft, Begeisterung stürzten. […] Als er den Kerzenstummel löschte, begann draußen schon der Tag.« (II, S. 322)

Der Akt dieses rauschhaften Studiums eines für ihn poetisch wie intellektuell ergreifenden Textes gleicht einer Katharsis, die alle moralischen Verletzungen heilt, ihn nicht mehr in unwillkürlichen Intrusionen und Schamgefühlen untergehen lässt, sondern sein Leben wieder in eine einheitliche Sinnordnung stellt, jenen »archimedischen Punkt« (II, S. 214)55 verleiht, der Orientierung ermöglicht: »Erinnerungen und Gedanken stellten sich ein, und die Gedanken ließen sich ordnen, die Erinnerungen fügten sich mit den Gedanken wie Mosaiksteine zusammen, und Erfahrung, Erlebnis, alle bitter errungene Erkenntnis und die Fülle der unbeantworteten Fragen gingen in eins mit der Wahrheit und mit der lebendigen Welt, wie im Glanz des jungen Tages vor ihm lag.« (II, S. 323)

Mit der Lektüre des »Kommunistischen Manifestes« findet der Konversionsprozess seinen Abschluss und sein Ziel. Erlebnis, Erinnerung und Erkenntnis formen die zersplitterten Fragmente einer biographischen wie geschichtlichen Erfahrung wieder zur Einheit. In der Beschreibung des heilenden Effekts des Rezeptionsaktes, der die Wunde der moralischen Verletzung schließt und die von ihr ausgelöste Orientierungs- und Sinnkrise überwindet, findet auch die von der DDR-Kritik immer wieder geforderte abschließende Aufarbeitung des NS und der unmittelbaren Nachkriegserfahrung ihre Einlösung. So beschreibt Noll selbst die teleologische Ausrichtung des Romans in einem Interview in der vom FDJZentralrat herausgegebenen Zeitschrift »Junge Kunst«: »Das Thema, das ich mir stellte, lautete nicht, ein buntes, unverbindliches Mosaik der Zeit zu geben, sondern einen Entwicklungsprozeß nachzuzeichnen, der von einem historisch bestimmten Ausgangspunkt zu einem historisch – und durch meine Überzeugung – bestimmten Ziel verläuft.«56 Aus der Sicht DDR-marxistischer Ästhetik konnte und durfte in einem sozialistischen Staat die Sinnsuche und -krise, die sich in Literatur artikuliert, nicht unbeantwortet bleiben, weil individuelle 55 Lukács sprach vom »transzendentalen Orientierungspunkte«; ders.: Theorie (Anm. 1), S. 22. 56 Klaus Bellin: Gespräch mit Dieter Noll, in: Junge Kunst, 1961, 3. Jg., S. 30.

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Sinnfragen im geschichtsphilosophisch betrachteten Telos sich gesamtgesellschaftlich ›aufheben‹. Die Sinnfrage wird transformiert in die Aufgabe an das Individuum, für die »sozial relevanten Probleme[] des Lebens, Lösungen« zu suchen, »die die humane Lebensmöglichkeit sichern helfen und erweitern.«57

Schluss Welche Botschaft hält das Romanprojekt Nolls an die Jugend der DDR bereit? Das Buch erzählt von der Überwindung einer Zerrüttung, die tiefer nicht hätte sein können, die jeden Sinngebungsversuch zerstörte und ein transzendental obdachloses Subjekt zurückgelassen hatte in einer geteilten Welt konkurrierender Wertesysteme. Dieser Weg ist für Noll kein Weg, der allein durch Lebenserfahrung gewonnen wird, sondern, wie so oft im deutschen Bildungsroman, seine Wendungen durch Lektüreerfahrungen nimmt, die als einschneidende Bildungserlebnisse erfahren werden. Zugleich präsentiert der Roman es als Aufgabe des Subjektes, diesen Weg auch zu beschreiten, ihm obliegt die Verantwortung sich seinen Platz in der neuen Ordnung zu suchen, die alles bereithält. Damit ist aber auch ein äußerst problematisches Verhältnis der DDR zu ihren Heimkehrern bezeichnet. Entwirft sich die DDR als Gründergemeinschaft widerständiger und verfolgter Antifaschisten, die trotz grausamster Erlebnisse ungebrochen an der Verwirklichung der Zukunft arbeiten (Gundel, sein Vater, Müller, Schneidereit) und in der die ältere Generation wie Gottesknecht über das Erbe des deutschen Humanismus ihren Platz (wieder) einnehmen konnten, so verschiebt sich die Last der Reintegration einer Jugend aus dem Tätervolk auf das einzelne Individuum, das nicht nur mit den Folgen von Schuld und Scham ihrer moralischen Verletzungen umzugehen hat, sondern sich selbst neu aufrichten muss, weil der Staat qua Definition unschuldig ist, weil ihre Gründer und Träger weltgeschichtlich vor und nach dem Krieg auf der richtigen Seite gestanden haben. Moralisch verletzt kann in der DDR so auch nur der jugendliche verirrte, einst regimetreue Heimkehrer sein und seine Heilung braucht ein ideologisches Gegengift. Die Form des Bildungsromans ist die ästhetische Kehrseite der moralischen Forderung an die Heimkehrer, mit der der zweite Teil endet. So bildet der letzte Dialog zwischen Werner und seiner neuen Liebe Angelika gleichsam eine Synekdoche auf das Verhältnis von Heimkehrer und DDR-Staat: »›Wirst du zu mir halten, wirst du mir helfen?‹ ›Solange du kämpfst, solange du dich nicht fallen-

57 Michael Franz: Aneignungsfunktion und Sinnfrage. Überlegungen zu einem Ästhetik-Projekt, in: Weimarer Beiträge, 1989, 35. Jg., S. 51.

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läßt‹, erwiderte sie und sah ihm in die Augen und nickt ihm zu, ›solange du guten Willens bist‹« (II, S. 478). Die um 1960 relativ spät einsetzende Welle an Heimkehrerromanen in der DDR-Literatur deutet darauf hin, dass diese, anders als der Jugend-Diskurs in Westdeutschland und auch anders als die Heimkehrerromane des Ersten Weltkrieges, weniger die einst jugendlichen Heimkehrer selbst adressieren, die wie Noll mittlerweile 30 Jahre oder älter waren. Der Bildungsroman wendet sich an die Jugend der DDR der 1960er Jahre. Noll hat mehrfach und bevorzugt vor Studierenden und Schüler*innen in Jugendclubs gelesen. In den meist kurzen Berichten der DDR-Presse über diese Autorenabende wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die Schüler*innen und Student*innen die Romane als historisches Projekt gelesen haben, als Erzählung über eine vergangene Epoche, die mit ihrer neuen (sozialistischen) Lebenswirklichkeit nunmehr wenig zu tun habe.58 Der Heimkehrerroman erfüllt für die DDR eine wichtige Funktion im Umgang mit der Schuldfrage, zeigt er doch in seinem sozialistischen Telos an, dass diese Schuld in der historischen Überwältigung jener Gesellschaftsformation, die den Nationalsozialismus erst ermöglichte, als abgetragen gelten kann. Im Roman formuliert der Lehrer Gottesknecht dies in seiner Ansprache an die Schüler, allesamt Kriegsheimkehrer, die als poetologisches Programm des »Romans einer Heimkehr« verstanden werden kann: »Wir waren alle im gleichen Irrtum befangen. Wir tragen alle die gleiche Schuld. Lassen Sie uns die kommenden anderthalb Jahre versuchen, gemeinsam aus diesem Irrtum herauszufinden.« (II, S. 29) Und in einer kurzen Notiz in der Kulturbeilage des »Neuen Deutschland« unmittelbar nach Errichtung der Berliner Mauer vom 2. September 1961 formulierte Noll diese Form der Schuldtilgung als eigentliche Leistung der Heimkehrer, aus der sich nun ein weltgeschichtlicher Auftrag an die Jugend von heute ergebe: »Entscheidende Tage, wie wir sie heute erleben, beschwören eine unheilvolle Vergangenheit herauf in der große Teile der deutschen Jugend meiner Generation Gewalt, Betrug und demagogischer Verführung erlagen und bis zum furchtbaren Ende auf der falschen Seite, für eine falsche, verbrecherische Sache kämpften. Möge die heutige junge Generation die Chance erkennen, den Schandfleck, aus dem Buch der deutschen Geschichte zu tilgen, und möge sie den Völkern der Erde beweisen, daß deutsche Jugend mit einem Elan wie nie zuvor und in nüchterner Begeisterung willens ist, sich nun mit

58 So etwa im Bericht einer Lesung mit Hermann Kant vor Studierende im »Neuen Deutschland« vom 20. 11. 1963, Nr. 319, S. 5 oder im Bericht über ein Gespräch mit Jugendlichen im Anschluss an eine Lesung im »Neuen Deutschland« vom 15. 02. 1964, Nr. 64, S. 4.

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der Waffe des Volksarmisten auf der richtigen Seite in die weltweite Front der Kämpfer für die gerechte Sache des Sozialismus einzureihen.«59

Der Generationenbruch zwischen den einst jugendlichen Heimkehrern und der »neuen Jugend« wird damit zum Epochenbruch. Die Aufgabe der neuen Jugend ist, nie wieder auf der falschen Seite (der Mauer) der Geschichte zu stehen. Entlastet von aller historischen Schuld der deutschen Geschichte, geheilt von den durch Gewalt und Betrug (betrayal), geschlagenen moralischen Verletzungen des Krieges ist es nun an ihnen, Weltgeschichte zu schreiben. Von diesem Anspruch aus betrachtet, stellt sich wieder die entscheidende Frage jeden Bildungsromans nach dem wirklichen Erkenntnisfortschritt des Protagonisten wie der Rezeptionsgemeinschaft.

59 Dieter Noll: [Entscheidende Tage], in: Neues Deutschland, 02. 09. 1961, Beilage Nr. 35: Kunst und Literatur [o. S.].

Saskia Fischer

»Vom Flugzeug aus sehn: die Haut der Welt…«. Staunen, Schuld und Sinnfragen in der Lyrik Inge Müllers*

Hinführung: Inge wer? Inge Müller – dieser Name dürfte wohl den Wenigsten sofort ein Begriff sein. Und auch der Hinweis, es handele sich um die zweite Frau des Dramatikers Heiner Müller, sagt letztlich nichts über die Schriftstellerin und kritische Intellektuelle, die sie war. In der DDR der Nachkriegszeit verfasste sie erfolgreiche Kinderbücher, wurde Mitglied des Schriftstellerverbandes, sie schrieb Dramen und Hörspiele und gewann 1959 gemeinsam mit ihrem Mann für die Stücke »Der Lohndrücker« und »Die Korrektur« einen der renommiertesten Literaturpreise der DDR, den Heinrich-Mann-Preis der Deutschen Akademie der Künste. Heiner Müller jedoch hat die Bedeutung dieser gemeinsamen Autorschaft zeitlebens heruntergespielt, sogar abgestritten.1 Inge Müller hob dagegen in dem einzigen Interview, das sie der Zeitschrift »Der Bau« gab, die Gleichberechtigung in der Zusammenarbeit mit Heiner Müller hervor.2 Es ist in der Forschung immer noch * Für die anregende Diskussion und die vielen hilfreichen Bemerkungen zu meinem Vortrag danke ich allen Teilnehmerinnen und den Veranstaltern der Tagung, besonders Wolfgang Braungart, Matthias Buschmeier, Birte Giesler, Gabriele Guerra, Susanne Rappe-Weber, Meinolf Schumacher und Justus Ulbricht. Für die Korrektur meines Manuskripts bin ich Deborah Fallis sehr dankbar. Die Gespräche und der Austausch mit Nils Rottschäfer über Fragen der Schuld sowie seine, wie immer, sehr gründliche und kritische Durchsicht meines Beitrages haben mir geholfen, viele Überlegungen zu schärfen. Ganz herzlichen Dank! 1 Annett Gröscher: Du vor du hinter mir. Korrespondenzen zwischen den Arbeiten Inge und Heiner Müllers, in: Inge Müller: Irgendwo; noch einmal möchte ich sehn. Lyrik, Prosa, Tagebücher. Mit Beiträgen zu ihrem Werk, hg. v. Ines Geipel, Berlin 1996, S. 318–324, hier S. 319f. Vgl. dazu auch Ines Geipel: Nachwort. Vom Werden einer ungeschriebenen Sinfonie, in: ebd., S. 336–353 sowie Sonja Hilzinger: Nachwort, in: Inge Müller: Daß ich nicht ersticke am Leisesein. Gesammelte Texte, hg. v. Sonja Hilzinger, Berlin 2002, S. 614–630. 2 Zumindest lässt sich so Inge Müllers Abwehr des Vorurteils, sie arbeite Heiner Müller lediglich zu, deuten: »Über die schriftstellerische Zusammenarbeit, wie sie auch zwischen Heiner Müller und mir besteht, gibt es eigenartige Vorstellungen. Man nimmt bisweilen an, ich sähe das, was Heiner alleine geschrieben hat, nur noch einmal durch, um dies und das zu verbessern oder Geringfügiges zu verändern. Dafür betrachte es dann mein Mann als seine Kavalierspflicht, im

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eine offene Frage, wie weitreichend ihr Einfluss auf sein Schreiben (und umgekehrt) tatsächlich war, so wie überhaupt eine intensivere Beschäftigung mit ihrem Werk noch aussteht.3 Nach ihrem frühen Tod 1966 im Alter von nur 41 Jahren geriet Inge Müller weitgehend in Vergessenheit. Es waren erst die posthum 1976, 1985 und 1996 publizierten Gedichtbände,4 die ihr einige Aufmerksamkeit bescherten und die besonders von Lyrikerinnen und Autoren wie etwa Reinhard Jirgl, Katja LangeMüller oder Adolf Endler rezipiert wurden. Die Nobelpreisträgerin Herta Müller hat ihr eine Poetik-Vorlesung und einen Essay gewidmet.5 Mittlerweile finden sich zumindest ihre Liebesgedichte »Liebe 45« und »Liebe nach Auschwitz« in Unterrichtsmaterialien für die Oberstufe sowie in einem Reclam-Band zur Liebeslyrik.6 Eines ihrer bekanntesten Gedichte »Wenn ich schon sterben muß« hat Angelika Overath in der Frankfurter Anthologie der FAZ besprochen und so einem breiten Lesepublikum bekannt gemacht.7

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Titel auch meinen Namen erscheinen zu lassen.« Zit. nach Gröscher: Korrespondenzen (Anm. 1), S. 320. Damit will ich hier keinesfalls die bereits geleistete Forschung abtun. Im Gegenteil. Besonders die Studien und die akribischen Editionen von Ines Geipel und Sonja Hilzinger (s. zu beiden Anm. 1) haben eindringlich gezeigt, wie wichtig und zentral die Arbeiten Inge Müllers sind. Dennoch sind die Forschungsbeiträge zu Inge Müller bislang eher spärlich. Zu den neuesten Forschungen zählen etwa: Uwe Schütte: Verschüttete Texte. Zum Eigensinn der Prosa von Inge Müller, in: Wirkendes Wort, 2012, Nr. 62 H. 3., S. 435–446 oder: Anne-Rose Meyer: Die alte Scham ist falsche Scham. Zu Inge Müllers ›Liebe 45‹, ›Liebe nach Auschwitz‹ und ›Rendezvous 44‹, in: Hiltrud Gnüg (Hg.): Liebesgedichte der Gegenwart, Stuttgart 2003, S. 119–126. Vor allem fehlt eine Beschäftigung mit ihren Texten, die eine genaue Einordnung in die Nachkriegslyrik und Verbindungen zu den zentralen Diskursen der Nachkriegszeit herstellen und sie im literarischen Feld der Zeit umfassend einordnet. Überdies wurde ihre Literatur für Kinder bislang noch nicht editiert. So scheint etwa der Titel des Gedichts »Liebe 45« direkt auf die Verfilmung von Wolfgang Borcherts Drama »Draußen vor der Tür« durch Wolfgang Liebeneiner von 1949 anzuspielen, die den Titel »Liebe 47« trug. Solche Bezüge auf Texte, Filme und Diskurse ihrer Zeit, die sich vielfach in ihren Gedichten finden (so trägt etwa das Gedicht »Frau am Pranger« beinahe den identischen Titel wie die berühmte Erzählung »Die Frau am Pranger« von Brigitte Reimann), wurden bislang nur ansatzweise erschlossen. Inge Müller verortet sich mit ihren Texten direkt in der Literatur- und Kulturgeschichte ihrer Zeit, bezieht sich dezidiert auf bekannte Texte und / oder grenzt sich von ihnen ab. Vgl. Inge Müller: Poesiealbum. Auswahl: Bernd Jentsch, Berlin 1976; Inge Müller: Wenn ich schon sterben muß. Gedichte, hg. v. Richard Pietraß, Berlin, Weimar 1985; Inge Müller: Irgendwo; noch einmal möchte ich sehn. Lyrik. Prosa. Tagebücher. Mit Beiträgen zu ihrem Werk, hg. v. Ines Geipel, Berlin 1996 sowie zudem: Inge Müller: Daß ich nicht ersticke am Leisesein. Gesammelte Texte, hg. v. Sonja Hilzinger, Berlin 2002. Vereinzelte Gedichte sind in verschiedenen Anthologien und Zeitschriften wie »Sinn und Form« oder der »Frankfurter Anthologie« seit 1966 erschienen. Herta Müller: Die Nacht sie hat Pantoffeln an. Über Inge Müllers Gedichte, in: Müller: Leisesein (Anm. 1), S. 271–276; dies.: In der Falle (Bonner Poetik Vorlesung II), Göttingen 1996. Vgl. Meyer: Scham (Anm. 3). Vgl. Angelika Overath: Inge Müller »Wenn ich schon sterben muss«, in: Frankfurter Anthologie 2017, verfügbar unter: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/frankfurter-

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Es greift allerdings zu kurz, wie die Literaturwissenschaftlerin Sonja Hilzinger zurecht betont, den Ausschluss Inge Müllers aus dem Literaturkanon der DDR ausschließlich als Teil »männlicher Auslöschungsstrategie« zu verstehen.8 Dass für das Vergessen der Texte Inge Müllers vermutlich auch »geschlechterdifferente Wertungskriterien« verantwortlich waren und dass auch Heiner Müller selbst eine unrühmliche Rolle in diesem Zusammenhang gespielt hat, soll damit nicht in Abrede gestellt werden.9 Ihr Erfolg zu Lebzeiten und die Tatsache, dass sie sich als Frau im Literaturbetrieb der DDR durchsetzen konnte, widerspricht dieser einseitigen Deutung.10 Warum sie dennoch keine Aufnahme in den Literaturkanon der DDR fand und warum gerade die noch in den 1960er Jahren geplante Publikation ihrer Lyrik scheiterte, scheint vor allem auch darin begründet, dass Inge Müllers Gedichte, wie Ines Geipel herausstellt, nicht dafür geeignet waren die »Gestaltung des Systems« voranzutreiben: »Sie sprachen unbeirrt von anderem, von Uneinlösbarem, vom [E]inzelnen, vom Tödlichen des Mauerbaus, Verlusten und Unvergeßbarem.«11 Oder, wie Herta Müller es formuliert: »Für Gehorsam und Opportunität war Inge Müller nicht mehr zu gebrauchen.«12 Wenngleich sie SED-Mitglied war, standen ihre Texte, vor allem ihre Lyrik, quer zur Doktrin des Sozialistischen Realismus und jeglichem Fortschrittsoptimismus. In einer Zeit, in der die Propaganda der DDR die Schuld am Nationalsozialismus schon längst an den kapitalistischen Westen delegiert hatte, konnte sich Inge Müller nicht von der Vergangenheit lösen. Sie brachte in ihren Gedichten ihre Schuldgefühle und ihr anhaltendes Leiden an den Kriegserfahrungen zum Ausdruck. In dieser widerständigen Haltung, die sich jeglicher ideologischen Vereinnahmung entzieht, liegt ein besonderer Wert ihres Schreibens begründet. Inge Müller war letztlich eine eindringlich fragende oder, wie Angelika Overath betont, »suchende Stimme der Stunde Null«.13 Sie erinnerte an die Folgen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, glaubte sie nicht überwunden und stellte, wie Herta Müller prägnant zusammenfasst: »ohne Fingerzeig

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anthologie/frankfurter-anthologie-inge-mueller-wenn-ich-schon-sterben-muss-14955571. html [20. 10. 2021]. Hilzinger: Nachwort (Anm. 1), S. 629. Ebd. Vgl. ebd. Dies genauer zu erörtern wäre eine eigene Untersuchung wert. Inge Müllers Lyrik und ihr Vergessen bieten sich für Fragestellungen an, wie sie derzeit wieder verstärkt diskutiert werden: Die Aufmerksamkeit für die Produktionsbedingungen der Literatur, die Frage danach inwiefern ›Geschlecht‹ oder eben auch so vermeintlich überwunden geglaubte Kategorien wie ›Klasse‹ und ›Habitus‹ den ästhetischen Geschmack und Stil ebenso wie die Rezeption und das Nachleben der Texte bestimmen. Vgl. dazu die vielfach besprochenen Studien von Nicole Seifert: Frauenliteratur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt, Köln 2021 und Carolin Amlinger: Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit, Berlin 2021. Geipel: Nachwort (Anm. 1), S. 350. H. Müller: Nacht (Anm. 5), S. 276. Overath: Inge Müller (Anm. 7).

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moralische Maßstäbe vor Augen, die unter drastischem, politischem Druck, in Situationen der Lebensbedrohung, nicht aufgegeben worden sind.«14 Vor allem durch ihr Insistieren auf der Schuld, auch ihrer eigenen, und damit darauf, dass personelle, mentale und strukturelle Kontinuitäten die Nachkriegszeit weiterhin bestimmten, unterwanderte Inge Müller die Vorstellung von einer unbelasteten ›jungen Generation‹.15 Bei Inge Müller ist »die Jugend«, wie sie so vielfach in Zeitschriften der Nachkriegszeit adressiert wurde (vgl. u. a. den Beitrag von Nils Rottschäfer), nicht nur vom Krieg traumatisiert und zutiefst orientierungslos. Vielmehr wird diese ›Jugend‹ – gemeint sind die nicht-jüdischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen der Nachkriegszeit – von ihr als eine Generation begriffen, die maßgeblich geprägt wurde von und verstrickt war in das NS-System. Es ist daher eine Generation, die für Inge Müller in einen Schuldzusammenhang eingebettet ist.16 Wenn in dem Gedicht »33 war ich ein gläubiges Kind« der Vers fällt »nach 1945 war jeder ein Greis«17 und sich an anderer Stelle in ihrem Werk das lyrische Ich als Teil eines »Wir« und als »verlorne Generation« beschreibt, die indoktriniert, mit der »Lügenflasche aufgezogen« und »mit dem Brei der Heuchelei« gefüttert worden war, die selbst »Heil« geschrien und »Deutschland, Deutschland über alles« gesungen hatte,18 dann ist dies zugleich eine radikale Absage an die Idee einer unbescholtenen Generation junger Erwachsener, die als solche von einer moralisch gesicherten Position aus sprechen könne. Inge Müller benennt offen die systematische ideologische Verführung der Kinder und Jugendlichen im »Dritten Reich«. Entscheidend aber ist, dass sie die Generation junger, nicht-jüdischer Deutscher nach 1945 nicht einfach zum Opfer stilisiert, um sie als moralisch überlegen auszuzeichnen. In 14 H. Müller: Falle (Anm. 5), S. 6. 15 Vgl. zur breiten Verwendung des Generationen-Begriffs in der Literaturwissenschaft, die sehr informative und konzise Einleitung von: Gerhard Lauer: Einführung, in: ders. (Hg.): Literaturwissenschaftliche Beiträge zur Generationsforschung, Göttingen 2010, S. 7–21. Wichtig ist für die Verwendung des Begriffs der »jungen Generation« nach 1945, der sowohl Selbst- als auch Fremdzuschreibung der Intellektuellen und Schriftstellerinnen nach 1945 ist, dass er auch auf die enge Verbindung von Erfahrung und literarischem Ausdruck angelegt ist. 16 Ich spiele hier mit dem Begriff des Schuldzusammenhangs auf ein weites Schuldverständnis an, das das Schuldgefühl sowie verschiedene Dimensionen der Schuld und damit eine Vorstellung von Komplizenschaft miteinschließt. Dies ist keine Schuld im objektiven Sinne, sondern eher eine Form von Verantwortung und ›gefühlter Schuld‹, die auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation oder Gruppe basiert. Mir geht es hier nicht darum, die Stichhaltigkeit dieses Schuldverständnisses zu beweisen oder zu widerlegen. Ich beschreibe hier ausschließlich, wie sich der Begriff der Schuld m. E. bei Inge Müller verstehen lässt. Vgl. dazu meine Ausführungen weiter unten. 17 Inge Müller: 33 war ich ein gläubiges Kind, in: dies.: Daß ich nicht ersticke am Leisesein. Gesammelte Texte, hg. v. Sonja Hilzinger, Berlin 2002, S. 21. Alle in diesem Beitrag aufgeführten Gedichte von Inge Müller sind dieser Ausgabe entnommen. Die Angaben erfolgen daher im Folgenden als Kurztitel ohne erneute Angabe der Edition von Hilzinger. 18 Müller: Wir (Anm. 17), S. 132.

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dieser Hinsicht steht Inge Müller quer zu einem Selbstverständnis, das die vermeintlich »jungen« Autoren der BRD, man denke an Alfred Andersch oder Hans Werner Richter, vertraten, die anklagten, aber sich nicht selbst befragten.19 Von Inge Müllers Schreiben lässt sich durchaus ein Bogen zur HeimkehrerLiteratur wie der Wolfgang Borcherts schlagen. Wie dort werden in Inge Müllers Lyrik die Kriegstraumatisierungen betont. Auch sie zeichnet damit ein Bild der ›heimatlosen‹ Jugend, die kaum weiß, woran sie sich nach 1945 moralisch und kulturell noch halten kann, die sich schuldig fühlt und letztlich als »verlorne Generation«20 beschrieben werden muss.21 Doch Borcherts Kriegsheimkehrer Beckmann mag sich zwar schuldig fühlen für sein Handeln im Krieg. Das Stationendrama unterstreicht aber vor allem die Verzweiflung des jungen heimkehrenden Soldaten, der »[f]urchtbar verraten« wurde und der älteren Generation nun die »Verantwortung« wieder zurückzugeben versucht.22 Letztlich dient der geschundene Kriegsheimkehrer Beckmann als Entlastungsfigur, wie Axel Dunker in Anlehnung an Reinhard Baumgart betont hat.23 Inge Müllers Gedichte beschreiben zwar ebenfalls das Leid, die Ängste und die Verzweiflung der jungen Generation nach 1945. Anders als Borchert oder auch Andersch und Richter blickt ihre stark autobiographische Lyrik jedoch unverhohlen auf die eigene Verantwortung. Inge Müller zieht sich eben nicht auf ihre vermeintlich unbelastete »Jugend« zurück und zerbricht an dieser, vielleicht nur gefühlten Schuld und ihren traumatischen Erfahrungen. Sie nimmt sich 1966 das Leben. In der Forschung wird allerdings kritisch bemerkt, dass seit der Veröffentlichung ihrer Gedichte eine Rezeption eingesetzt habe, »die Inge Müller als tragisch Gescheiterte wahrnimmt«24 und ihre Lyrik vornehmlich »als existenziellen 19 Zur kritischen Aufarbeitung des Verdrängens eigener Schuldverstrickung der Gruppe 47 vgl. Nicole Weber: Kinder des Krieges, Gewissen der Nation. Moraldiskurse in der Literatur der Gruppe 47, Paderborn 2020. Darauf geht auch Nils Rottschäfer in seinem Beitrag in diesem Band ein und verweist in diesem Zusammenhang auf die Entschuldungsstrategien in der frühen Nachkriegszeit. Vgl. dazu Stefan Willer: Erbfälle. Theorie und Praxis kultureller Übertragung in der Moderne, Paderborn 2014. 20 Müller: Wir (Anm. 17), S. 132. 21 Zur Heimkehrer-Literatur vgl. Elena Agazzi, Erhard Schütz (Hg.): Heimkehr: Eine zentrale Kategorie der Nachkriegszeit. Geschichte, Literatur und Medien, Berlin 2010; Jonas Nesselhauf: Der ewige Albtraum. Zur Figur des Kriegsheimkehrers in der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Paderborn 2018. 22 Wolfgang Borchert: Draußen vor der Tür und andere Werke. Mit Kommentar und Nachw. hg. v. Axel Dunker, Stuttgart 2018. Die Wendung »furchtbar verraten« fällt u. a. S. 119 und S. 138, die Rückgabe der »Verantwortung« ereignet sich in der 3. Szene S. 44–65. 23 Problematisch ist vor allem, dass auch die Eltern von Beckmann, die in der zweiten Fassung von 1947 gar zu Widerständlern, die Jüdinnen und Juden aus Deutschland herausbringen wollten, stilisiert werden und sich später aus Verzweiflung umbringen, in eine Reihe mit den jüdischen Opfern gestellt werden und sich dann auch noch symbolisch mit Gas (!) das Leben nehmen. Vgl. dazu ebd. das Nachwort von Axel Dunker S. 339 und S. 343. 24 Hilzinger: Nachwort (Anm. 1), S. 629.

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Ausdruck lebensgeschichtlicher Not« begreift.25 In der Tat findet sich kaum ein Beitrag über Inge Müller, der ihre Lyrik nicht als Trauma-Literatur klassifiziert und mit den Worten Adolf Endlers versieht: »eine Poesie knapp vor dem Absturz…?«26 Dass Endler an seine griffige Formulierung ein Fragezeichen gesetzt hat, wird dabei oft verschwiegen, doch eben damit deutet sich ein Bewusstsein für einen anderen zentralen Aspekt ihrer Lyrik an. Nicht nur bezieht sich Inge Müller in ihren Gedichten zuweilen auch auf Ringelnatz und dessen ironischen Ton, vor allem gelingt es dem lyrischen Ich immer wieder, so meine These, in einer ausweglosen Situation über diese hinauszugehen – manchmal sogar wortwörtlich und im übertragenen Sinne durch das Vertrauen auf die Möglichkeiten der Literatur. Inge Müller hat ein lyrisches Werk hinterlassen, das einerseits vom erdrückenden Fortwirken der nationalsozialistischen Vergangenheit sowie der Todesangst, die viele ihrer Gedichte überschattet, gezeichnet ist. Andererseits aber beschreiben und bewundern ihre Gedichte auch die Größe und Schönheit der Natur und heben die kleinen, gelungenen Momente zwischenmenschlichen Glücks hervor. Ihre Lyrik entfaltet eine Poetik, die trotz der belastenden Kriegserfahrung, der psychischen und moralischen Versehrtheit die Sehnsucht nach einem gelingenden, versöhnlichen In-der-Welt-Sein (so möchte ich den Begriff des Sinns in diesem Beitrag sehr weit und allgemein fassen)27 offen artikuliert, ja darauf ausgerichtet ist.28 Es ist diese Bandbreite und Ambivalenz ihrer Lyrik, der ich im Folgenden weiter nachgehen werde. In Inge Müllers Gedichten äußert sich eine Stimme, die poetisch und moralisch schonungslos auf die frühe Nachkriegszeit schaut und zu ihren Zeitgenossen spricht, die zwischen Sinnverlust und Schuldbekenntnis changiert und dennoch einen staunenden Blick auf das Dasein, »die Haut der Welt«,29 nicht aufgibt.

25 Ebd., S. 630. 26 Adolf Endler: Fragt mich nicht wie. Zur Lyrik Inge Müllers, in: dies.: Irgendwo (Anm. 4), S. 289–296, hier S. 290. 27 Im weitesten Sinne beziehe ich mich hier auf Michael Hampe: Das vollkommene Leben. Vier Meditationen über das Glück, München 2009. 28 Dies lässt sich, wie ich bereits an anderer Stelle gezeigt habe, auch in Texten von ShoahÜberlebenden beobachten. Es scheint mir ungenau in diesen Fällen vorschnell von Beschönigung oder Verdrängung zu sprechen, sondern eher, wie ich es auch hier tue, von einem versöhnlichen ›In-der-Welt-Sein‹. Diese Haltung ist nicht gleichbedeutend damit, irgendetwas zu verzeihen oder gar die Shoah zu vergessen. Sie schließt also das Wissen um das Unverzeihbare und Abgründige immer mit ein: Saskia Fischer: »Just another Legend of the Forgiving Jew«? The Art of Coping with Wrongdoing and How Literature can Assist, in: Maria-Sibylla Lotter, Saskia Fischer (Hg.): Guilt, Forgiveness, and Moral Repair: A crosscultural Comparison, Cham 2022, S. 153–178. 29 Müller: Wenn ich schon sterben muß (Anm. 17), S. 49.

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Sinnverlust: »Ohne Gott.« Ich hab sie gesehen: Menschen. Ohne Gott. Ausgeliefert Und still. Sein werd ich nicht mehr. Es ist viel Wenn sie sich erinnern. Und keine Literatur.30

Dieses stilistisch und thematisch für Inge Müllers Lyrik typische Gedicht erscheint zunächst als eine offensive Absage an jeglichen Sinn. Der Blick auf die Menschen und damit auf die »Ausgelieferten« und »Gottlosen« wird hier in einfacher, nüchterner Sprache und der Verkürzung der poetischen Rede zum Stakkato eines Protokolls geradewegs als eine Miniatur des Sinnverlusts inszeniert. Dieser scheint so gravierend zu sein, dass er mit den Mitteln der Kunst schon nicht mehr zu erfassen ist: »Und keine Literatur.« (V. 7) Deutlich zeigt sich an diesem Gedicht Inge Müllers eine Nähe zur sogenannten Trümmer-oder Kahlschlagliteratur, die sich von der pathetischen, mystifizierenden und pompösen Ästhetik des »Dritten Reichs« durch eine betont zurückgenommene und sachliche Darstellungsweise abzugrenzen versuchte.31 Wie es Heinrich Böll im Sinn hatte, beschreibt auch Inge Müller die verzweifelten, existenziell herausgeforderten Menschen in ihrem Gedicht aus einer fast schon lakonischen Distanz.32 Doch hinter der vordergründigen Haltung der Negation und Abgeklärtheit verbirgt sich bei genauerer Betrachtung eine ästhetisch und semantisch dichte Auseinandersetzung mit der Frage, was nach 1945 kulturell noch Gültigkeit hat, möglicherweise sogar sinnhaft ist. Denn wer ist dieses lyrische Ich, das die Menschen in ihrem Ausgeliefertsein »ohne Gott« (V. 2) gesehen hat, wie es behauptet? Trotz der Absage an religiöse Transzendenz und Gottvertrauen werden zugleich die Bezüge zur Sprache und Ikonographie der Bibel schon mit dem ersten Vers deutlich ausgestellt und gerade nicht aufgegeben.33 »Siehe der Mensch«, ecce homo, heißt es im Johannes30 Müller: Ich hab sie gesehen: Menschen (Anm. 17), S. 237. 31 Inwiefern dies mehr eine Absichtserklärung war und wie stark auch die ›Kahlschlagliteratur‹ dem Pathos verhaftet blieb, hat Joachim Jacob gezeigt: Kahlschlag Pathos. Ein verdrängtes Phänomen in der frühen deutschen Nachkriegsliteratur; in: Günter Butzer, ders. (Hg.): Berührungen. Komparatistische Perspektiven auf die frühe deutsche Nachkriegsliteratur, München 2012, S. 243–261. 32 Vgl. dazu besonders Heinrich Bölls Essay von 1952 »Bekenntnis zur Trümmerliteratur«, in: ders.: Werke. Essayistische Schriften und Reden. Bd. 1: 1952–1963, hg. v. Bernd Balzer. Köln 1979, S. 31–34. 33 Vgl. zur Bedeutung des Gebets und des Psalms in der Lyrik der Moderne und der Nachkriegszeit u. a. Wolfgang Wiesmüller: Die Psalmen – Rezeption biblischer Lyrik in Gedichten,

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evangelium (Joh 19,5f.). Bei Inge Müller ist es das Ich, das diese Szenerie beschreibt, selbstbewusst das Gedicht eröffnet und eine überlegene, alles überblickende Sprecherposition einnimmt (»Ich hab sie gesehen«, V. 1). Es blickt auf »die Menschheit ohne Gott« von einer Höhe, wie sie sonst nur ein allwissender Erzähler, das ›Dichtergenie‹ oder eben Gott als alles überschauende Instanz einnehmen kann. Spricht hier die Lyrikerin, das Gedicht selbst oder sogar doch eine numinose Größe? Auch Nietzsche scheint hier anzuklingen. Die anfängliche Überlegenheit ist allerdings kaum zu halten, zumindest kündigt das Ich kurz darauf selbst an, bald »nicht mehr« zu »sein« (V. 4) und damit im Wissen um den drohenden Tod und den Verlust der subjektiven Stimme zu sprechen – ganz so wie auch in poetologischer Hinsicht das gesamte Gedicht im Widerspruch zum letzten Vers steht: »Und keine Literatur« (V. 7). In eigentümlicher Doppeldeutigkeit, auch bedingt durch das Enjambement, wird zudem mit den Versen »Es ist viel / Wenn sie sich erinnern« (V. 5f.) das Potential, aber auch die Last des Erinnerns betont. Es ist schon sehr viel, scheint das lyrische Ich zu sagen, wenn »sie«, die Menschen, »sich erinnern.« Es könnte aber auch bedeuten, dass es viel ist – vielleicht zu viel und kaum zu ertragen – »Wenn sie sich erinnern.« Beendet wird das Gedicht mit dem bereits erwähnten Vers, der jeglichen literarischen Ausdruck zu verneinen scheint. Er steht isoliert, abgesetzt durch das aufzählende »und«, und könnte zugleich durch die Konjunktion auch auf das vorher Gesagte direkt bezogen sein: »Und keine Literatur.« (V. 7) All dies, das Ausgeliefert-Sein, die Verzweiflung, die transzendentale Obdachlosigkeit,34 die das Gedicht beschreibt, übersteigt die Darstellungsmöglichkeiten der Literatur – so könnte der letzte Vers verstanden werden. Vielleicht aber besteht die Trostlosigkeit, die dem Gedicht innewohnt, vor allem darin, dass in dieser gänzlich gottverlassenen Situation auch noch keine Literatur mehr ist. Folgt man dieser Lesart, scheint das Gedicht als Gedicht selbst, das den Verlust der Kunst beklagt und dennoch ist, gerade in der Verneinung des Religiösen (»ohne Gott«) und der Literatur (»keine Literatur«) auf die Notwendigkeit des literarischen Ausdrucks zu bestehen und sich – zumindest formal – eben nicht aus der Tradition der Bibel zu lösen. Diese Aporien bleiben im Gedicht bestehen und erinnern an zwei bekannte und wichtige Gedichte der Nachkriegslyrik: an Paul Celans Psalm (»Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm / niemand in: Heinrich Schmidinger (Hg.): Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, Bd. 1: Formen und Motive, Mainz 1999, S. 158–204; Arnold Stadler: Das Buch der Psalmen und die deutschsprachige Lyrik des 20. Jahrhunderts. Zu den Psalmen im Werk Bertolt Brechts und Paul Celans, Köln, Wien 1989; Georg Langenhorst: Art. ›Gebet‹, in: Dieter Lamping, Sandra Poppe (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen, Stuttgart 2009, S. 287– 296. 34 In Anlehnung an das Thema dieses Jahrbuchs behalte ich die etwas ungenaue Formulierung von Georg Lukács bei.

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bespricht unsern Staub. / Niemand // Gelobt seist du, Niemand«)35 und – besonders durch den Aufzählungsgestus des letzten Verses – an Günter Eichs Inventur. Beide Gedichte versuchen eine Antwort auf die Frage zu geben, was nach 1945 ein angemessener ästhetischer Ausdruck sein könnte. Celan bezieht sich auf die jüdisch-christliche, Eichs Gedicht mit seinen Daktylen und Trochäen auf die humanistische Tradition. Bei Inge Müller aber existiert noch nicht mal mehr eine Bleistiftmine, die am Tag »die Verse schreibt, die nachts ich erdacht«,36 wie es bei Eich heißt. Und dennoch bleibt, auch wenn das lyrische Ich schon nicht mehr »sein« wird und »keine Literatur« auf das Erinnern folgt, da immer noch dieses Gedicht mit seiner im Wortsinn selbstbewussten lyrischen Stimme, die alles übersieht. Performativ und poetologisch selbstreflexiv führt Inge Müller mit diesem verknappten, nur aus sieben Versen bestehenden Gedicht die zentralen Themen der Nachkriegszeit und die ganze Paradoxie der Literatur nach 1945 vor: die Frage nach der Position des Menschen in der Welt angesichts des Zivilisationsbruchs, der Verlust des Religiösen und jeglicher Sinnhaftigkeit sowie die Möglichkeiten der Literatur, die darauf zu reagieren versucht und als ein (oft aussichtsloses) Schreiben gegen die Sprachlosigkeit begriffen wird.37 Inge Müllers Lyrik vollzieht fortwährend die bereits in diesem kurzen Gedicht inszenierte Such- und Schreibbewegung nach einer angemessenen Stimme nach 1945, d. h. nach einer Form, die all diese Problemlagen zu erfassen und auf sie zu reagieren vermag. Dabei entwickeln ihre Texte aus dem Eingeständnis der eigenen Schuldverstrickung eine Haltung zur Geschichte, die auf einen moralischen Neuanfang angelegt ist. Während sich viele in der frühen Nachkriegszeit in exkulpierende Beschreibungen der Vergangenheit als »schicksalhaft«, »katastrophal«, »apokalyptisch« oder als »Irrweg« flüchteten und nur wenige, wie Elena Agazzi betont hat, wirklich dazu bereit waren, das Thema der Schuld »umfassend aufzuarbeiten«, fällt Inge Müllers Umgang mit Schuld in ihren frühen Gedichten, die ungefähr ab 1951 entstanden, besonders ins Gewicht.38 Darauf gehe ich im Folgenden ein. 35 Paul Celan: Psalm, in: ders.: Gesammelte Werke in fünf Bänden, Bd. 1, Frankfurt a. M. 21992, S. 225. 36 Günter Eich: Inventur, in: ders.: Abgelegene Gehöfte. Schauer, Frankfurt a. M. 1948, S. 38–39. 37 Dies ist oft betont und untersucht worden. Ich nenne hier stellvertretend: Elena Agazzi, Erhard Schütz (Hg.): Handbuch Nachkriegskultur. Literatur, Sachbuch und Film in Deutschland (1945–1962). Berlin u. a. 2013. 38 Vgl. ebd., S. 285. Karl Jaspers bildet hier ebenfalls eine Ausnahme und auch die Texte von Frisch und Brecht, die beide jedoch nicht in Deutschland, sondern im Exil bzw. in der Schweiz waren. Vgl. dazu Saskia Fischer: Ritual und Ritualität im Drama nach 1945. Brecht, Sachs, Frisch, Dürrenmatt, Hochhuth, Handke, Paderborn 2019. Zu den Ausweich- und Entschuldigungsbestrebungen in Kunst, Kultur, Politik und der Kirche nach 1945 in Deutschland vgl. besonders: Heidrun Kämper: Kollektivschuld – Die diskursive Instrumentalisierung eines

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Schuld: Subjektivität und »sinnliche Moral« In ihren Gedichten, die der Lyriker Wulf Kirsten als »lyrische Autobiographie« charakterisiert hat,39 charakterisiert sich Inge Müller als »übriggeblieben, zufällig«.40 Am 8. Januar 1945 wurde sie, damals 20 Jahre alt, zur Wehrmacht einberufen und einer Kraftfahrtruppe der Luftwaffe bei Berlin zugewiesen. Im April, kurz vor Kriegsende kamen ihre Eltern bei einem Luftangriff ums Leben. Inge Müller grub sie selbst aus den Trümmern aus, konnte sie aber nur noch tot bergen. Als Wehrmachtshelferin erlebte sie den Kampf um Berlin im Nordosten der Stadt und war nach einem Bombenangriff drei Tage lang verschüttet.41 Es sind diese Erfahrungen, die Verwicklung ins Kriegsgeschehen und das damit verbundene Schuldgefühl, der Verlust der Eltern und die eigene Nahtoderfahrung, die immer wieder in ihrer Lyrik zum Tragen kommen. Ihre Gedichte »verbergen«, wie Herta Müller in ihrer Bonner Poetik-Vorlesung betont, »die Untrennbarkeit vom Leben ihrer Autorin nicht«,42 sondern widmen sich explizit den ganz konkreten, persönlichen Erfahrungen und Todesängsten. Dadurch aber gerät die »Chiffre 1945«, die in ihren Gedichten immer wieder auftaucht (z. B. »Liebe 45«, »Trümmer 45«), nicht zu einer extrinsischen historischen Zäsur, sondern Inge Müller setzt sie selbst in ihrer Lyrik, wie viele Autorinnen und Autoren nach dem Krieg und der Shoah.43 Ihre Gedichte sind in dem Wissen geschrieben, nicht mehr hinter diesen Einschnitt, den das »Dritte Reich« und das Kriegsende bedeutete, zurück zu können.44 Damit sind ihre Texte beides: subjektiver Ausdruck sowie Teil poetischer und poetologischer Selbstverständigung einer Autorin, die die Bedingungen und Möglichkeiten ihres Schreibens als eines nach Auschwitz reflektiert. In diesem Sinne sind ihre Gedichte einerseits, wie

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gesellschaftlichen Konstrukts, in: Carsten Dutt (Hg.): Die Schuldfrage. Untersuchungen zur geistigen Situation der Nachkriegszeit, Heidelberg 2010, S. 17–44. Ein solch kritischer Schulddiskurs, wie er sich in ihrer Lyrik bereits anzudeuten beginnt, setzte in Westdeutschland mit Rolf Hochhuths »Der Stellvertreter« (1961), den Frankfurter Auschwitz Prozessen (1963–1965) und der »Ermittlung« von Peter Weiss (1965) erst zu Beginn der 1960er Jahre ein. Vgl. dazu Mirjam Wenzel: Gericht und Gedächtnis: Der deutschsprachige Holocaust-Diskurs der sechziger Jahre. Göttingen 2009, Norbert Frei: Der Frankfurter Auschwitz-Prozeß und die deutsche Zeitgeschichtsforschung, in: Auschwitz: Geschichte, Rezeption und Wirkung; Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, hg. v. Fritz Bauer Institut, Frankfurt a. M. 1996, S. 123–138. Hilzinger: Nachwort (Anm. 1), S. 618. Müller: Heimweg 45 (Anm. 17), S. 28. Ich beziehe mich hier auf: Geipel: Nachwort (Anm. 1), S. 336–353 sowie Hilzinger: Nachwort (Anm. 1), S. 614–630. H. Müller: Falle (Anm. 5), S. 5. Fischer: Ritual (Anm. 38). Ebd.

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Herta Müller sagt, mehr als »bloße Literatur«,45 sie sind aber andererseits auch und vor allem Literatur und zeigen dies durch ihre genaue ästhetische Formung und Anspielungen auf die Tradition immer wieder selbst an, wie noch die kleinsten Miniaturen Inge Müllers unterstreichen: Trümmer 45 Da fand ich mich Und band mich in ein Tuch Ein Knochen für Mama Ein Knochen für Papa Einen ins Buch.46

Keine Verse der Hochkultur werden hier zitiert (Jamben, Daktylen oder Trochäen etc.), sondern es bleibt der einfache Kinderreim, der strukturgebend für das Gedicht ist. Inszeniert wird damit zugleich eine schauderhafte Umkehrung: Statt der Ermunterung des Kindes zu essen, auf den der Reim des Gedichts direkt anspielt (»ein Löffel für Mama, einer für Papa« usw.), und damit zu wachsen und sich zu entwickeln, gibt das Kind in diesem Gedicht seine Knochen und somit einen Teil seines Selbst an die Eltern zurück (»Ein Knochen für Mama / Ein Knochen für Papa«, V. 3f.). Es steht schon mit einem Fuß im Grab, so scheint es, und doch erzählt das Gedicht auch von der Anstrengung und dem Widerstand gegen diese Todesbedrohung. Gernot Böhme betont, dass das Gedicht vor allem ein »Sichsammeln«47 darstellt. Das lyrische Ich beschreibt den Versuch, sich selbst aufzulesen, zusammenzusetzen und für sich zu sorgen (»Und band mich in ein Tuch«, V. 2). Vielleicht ist es, wie der letzte Vers andeutet, neben der Selbstsorge besonders der poetische Ausdruck, wodurch ein Ausweg vor dem frühzeitigen Tod des Kindes eröffnet werden soll. Elegant rahmen das »Tuch« (V. 2), das als Hinweis auf die Textur des Gewebten im übertragenen Sinne bereits auf die Literatur anspielt, und das »Buch« (V. 5) sowohl semantisch als auch durch den Reim das Gedicht und stellen symbolisch und formal eine haltgebende Struktur her. Auf diese Weise leistet der ästhetische Ausdruck bereits das, was das lyrische Ich noch vor sich hat: ein »Sichsammeln«,48 wieder Zusammensetzen und damit Auflesen. Das Gedicht scheint auf diese Weise die trostgebende Dimension der Literatur in der ästhetisch erfahrbaren Ordnungsstruktur trotz der Todesgefahr, die unbenommen ist, direkt vorzuführen. Inge Müllers Gedichte bringen die Kriegstraumata der jungen Generation zur Darstellung, aber sie

45 H. Müller: Falle (Anm. 5), S. 5. 46 Müller: Trümmer 45 (Anm. 17), S. 9. 47 Gernot Böhme: Reime. Zu Inge Müllers Dichtung, in: dies.: Irgendwo (Anm. 4), S. 277–288, hier S. 281. 48 Ebd.

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gehen immer wieder – auch ästhetisch – über das Ausgeliefert-Sein an diese Erfahrung hinaus. An ihren Gedichten aber wird deutlich, dass das Problem der moral injury, wie es Matthias Buschmeier am Beispiel junger Soldaten in seinem Beitrag diskutiert, nicht nur Männer, sondern ebenso Frauen betraf.49 Inge Müller ist noch dazu eine der wenigen, die ihre Verwicklung ins Kriegsgeschehen auf eine moralisch selbstkritische Weise reflektierte – eine Haltung, die ansonsten kaum in der Nachkriegslyrik anzutreffen ist.50 Dabei bringen ihre Gedichte konsequent das Subjekt ins Spiel und richten den Blick auf zwischenmenschliche Beziehungen. Die Begriffe »Freund« und »Freundschaft« sind besonders wichtig in ihrer Lyrik.51 Immer wieder werden kleine, vertraute Gesten des Angenommen-Seins, des ganz unhinterfragten Vertrauens in Beziehungen (dazu unten mehr) dargestellt, die sehr an Brechts späte lyrische Miniaturen erinnern.52 Inge Müller schreibt viele Widmungsgedichte direkt an Freunde und Dichterkolleginnen und stellt den Einzelnen in ihnen ins Zentrum. So macht sie aus der Parole des Arbeiterund Bauern-Staats »einer für alle«, wie Herta Müller betont,53 in dem Gedicht »Für E.A.«: »Einer von allen. Ich vermiß dich sehr.«54 Es ist der eine, auf den es ankommt und der vermisst wird. Ihre Gedichte betonen häufig, wie »einer«, sie 49 Sonja Hilzinger hat darauf hingewiesen, dass die jungen Autorinnen, die zur gleichen Zeit wie Inge Müller schreiben – Brigitte Reimann, Irmtraud Morgner oder Christa Wolf – zwar nur wenige Jahre jünger, ihre Erfahrungen aber gänzlich anders waren: »Die Frauen des Jahrgangs 1925, dem Inge Müller angehörte, waren als Wehrmachtshelferinnen unmittelbar und unvorbereitet in das Kriegsgeschehen involviert. Trotz der wenigen Jahre, die Inge Müller etwa von Christa Wolf trennen, ist es nicht unberechtigt, von einem Generationsbruch zu sprechen«; Hilzinger: Nachwort (Anm. 1), S. 626. 50 Eine Ausnahme bilden die Texte von Holocaustüberlebenden. Das Phänomen des sogenannten survivor guilt von Überlebenden der Shoah ist hierfür ein eindringliches Beispiel. Es gehört zur erschreckenden Seite des Schulddiskurses nach 1945, dass es vornehmlich die Opfer waren, die – im Unterschied zu vielen Tätern und Mitläuferinnen – gerade nicht vorgaben, nicht anders hätten handeln zu können, sondern im Nachhinein dennoch von Schuldgefühlen erfasst wurden, obwohl sie als Verfolgte tatsächlich nicht anders hätten handeln können, ohne den sicheren Tod in Kauf zu nehmen. Vgl. dazu Eva-Maria Engelen: Art. »Schuld«, in: Christian Bermes, Ulrich Dierse (Hg.): Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Hamburg 2010, S. 291–311. 51 Hilzinger: Nachwort (Anm. 1), S. 626f. 52 Auch in den kurzen Epigrammen in Brechts im Exil entstandener »Kriegsfibel« finden sich einige solcher Gesten. Diese Interpretation der Lyrik Brechts, die betont, dass seine Gedichte eben nicht nur erzieherisch oder vom Verfremdungseffekt her bestimmt sind, hat mir vor allem das Studium bei Wolfgang Braungart und besonders seine eindringlichen Deutungen der kleinen Miniaturen und Haikus Brecht deutlich gemacht. Auf seine Deutungen beziehe ich mich hier. Einige seiner Überlegungen entfaltet Wolfgang Braungart in: Die Kunst der Zustimmung. Eine ästhetisch-theologische Hypothek der Moderne. Mit einem Kapitel zu Brechts später Lyrik, in: Martin Knechtges, Jörg Schenuit (Hg.): Verwandlung. Epiphanie II. Fuge (Journal für Religion & Moderne), Paderborn 2009, 65–100. 53 H. Müller: Nacht (Anm. 5), S. 273. 54 Müller: Für E. A. (Anm. 17), S. 280.

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selbst, das lyrische Ich, zwischen die Räder der Geschichte gerät. Doch die Menschen sind bei Inge Müller nicht immer, wie es im eingangs zitierten Gedicht heißt, Ausgelieferte. Die Aufmerksamkeit auf den »einen von allen«55 zeigt diesen nicht nur als gänzlich bedingt durch grausame Umstände und die verheerende, menschenverachtende nationalsozialistische Ideologie. Inge Müller begreift den »einen« in ihren Gedichten eben auch als eigenverantwortliches und damit als ein tendenziell schuldiges Subjekt: 33 war ich ein gläubiges Kind. Meine Eltern warn gut und fleißig Erwachsen wurd ich 39 Als der Krieg anfing. Gehört hatte ich jenes und dieses Gegen Hitler und dann für Stalin Sah: der tat was und der ließ es Als es ging auf ihn. Meine erste Liebe war als der Krieg anfing Und da ging er in den Krieg Ich weinte und war ein dummes Ding Im Verhältnis zur Nation sehr gering. Bevor er fiel kam er zu mir Ganz zerrissen vom Morden Ich wußt nichts beßres als: bleib doch hier Glücklich sind wir nicht geworden. 45 war jeder ein Greis Ich wollt nicht leben und nicht sterben Ich sah das Erbe ohne Erben Und der Einsatz war der Preis. Weil ich gehen mußte ging ich Suchte Grund Und ich dachte an die Bäume im Park Und an seinen zärtlichen Mund. Bomben und Kanonen Lehrten mich Geduld Und die Blutenden schonen Und nachdenken: was ist Schuld.56

Es war besonders Herta Müller, die in ihrer 1998 gehaltenen Bonner PoetikVorlesung die zentrale Bedeutung des Umgangs mit Schuld bei Inge Müller 55 Ebd. 56 Müller: Kind (Anm. 17), S. 21.

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hervorgehoben hat.57 Ihre Gedichte geben damit auch einen Eindruck in die Verstrickung der jungen Generation in das NS-Regime. Die Schuld, von der Inge Müller in ihrer Lyrik jedoch in erster Linie spricht, bezieht sich weniger auf eine Schuld im juristischen Sinne, auf ein begangenes Verbrechen oder auf ein objektiv fassbares Fehlverhalten. Vielmehr deuten Inge Müllers Gedichte auf das aus dem Schuldgefühl entstehende moralische Gewissen hin (»Und nachdenken: was ist Schuld«, V. 28). Sie verweisen somit auf den widersprüchlichen Zusammenhang, dass man sich, wenngleich nicht tatsächlich selbst schuldig, dennoch in einen Schuldkontext eingebettet fühlen kann. Aus diesem Gefühl heraus erringt Inge Müller ihre auf Humanität gründende, »sinnliche Moral«, wie Herta Müller es nennt.58 Der Begriff deutet bereits an, dass es weniger darum geht, ob Inge Müller objektiv betrachtet im Sinne moralischer und individueller Vorwerfbarkeit59 wirklich schuldig war.60 Was Herta Müller am Beispiel der Lyrikerin fasziniert, ist ihre kritische Selbstbefragung und konsequente Prüfung der eigenen Verantwortlichkeit, wodurch sie in exzeptioneller Weise auf sich nehme, »was eine ganze Kriegsgeneration nach 1945 wegsteckt.«61 Während nur wenige Deutsche in der frühen Nachkriegsphase bereit waren, das Thema der Schuld umfassend zu reflektieren,62 stellt sich Inge Müller ihren Schuldgefühlen.63 Es ist diese radikal aufrichtige und unbestechliche Haltung, die sich auf keine Entschuldigungsrhetorik zurückzieht, die ihre Lyrik auszeichnet. 57 Ich habe dies an anderer Stelle gezeigt: Saskia Fischer: Schuldverstrickung und Wiederholung – Herta Müllers Poetik und ihr Lagerroman Atemschaukel, in: dies., Mareike Gronich, Joanna Bednarska-Kociołek (Hg.): Lagerliteratur. Schreibweisen – Zeugnisse – Didaktik, Berlin u. a. 2021, S. 141–167. 58 H. Müller: Falle (Anm. 5), S. 52. In der empirischen Psychologie und Sozialpsychologie wird betont, dass die Neigung und Fähigkeit zu emotionaler Schuld den Leidenden psychologisch mit anderen verbindet, weshalb die Sozialpsychologie postuliert hat, dass Schuldgefühle ein grundlegendes soziales und emotionales Phänomen seien. Vgl. dazu u. a. Roy F. Baumeister, Arlene M. Stillwell, Todd F. Heatherton: Guilt: an interpersonal approach, in: Psychological Bulletin, 1994, Nr. 115, S. 243–267. Schuld und Schuldgefühle werden damit nicht als etwas Destruktives verstanden, sondern als Ausgangspunkt und Möglichkeit umfassender, kultureller Transformationsprozesse begriffen. Vgl. dazu weiter: Katharina von Kellenbach, Matthias Buschmeier (Hg.): Guilt. A Force of Cultural Transformation, Oxford 2022. 59 Zur Diskussion des Schuldbegriffs jenseits moralischer Vorwerfbarkeit vgl. Maria-Sibylla Lotter: Schuld ohne Vorwerfbarkeit. Warum der moralische Schuldbegriff auf viele Schuldphänomene nicht passt, in: Dirk Koppelberg, Hilge Landweer (Hg.): Recht und Emotionen, Freiburg i. Br. 2016, S. 136–161. 60 Über Inge Müller, die als Jugendliche in den letzten Wochen des Krieges als Luftwaffenhelferin eingezogen wurde, schreibt sie: »Von außen gesehen ist die Schuld der Inge Müller nicht real. Sie wurde als letztes Aufgebot des Krieges aufgestellt, als Kanonenfutter«; H. Müller: Falle (Anm. 5), S. 52. 61 Ebd. 62 Vgl. Kämper: Kollektivschuld (Anm. 38), S. 17–44; Agazzi, Schütz (Hg.): Handbuch Nachkriegskultur (Anm. 38), S. 281–290. 63 H. Müller: Falle (Anm. 5), S. 52f.

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Dennoch geht es dabei aber nicht nur um ein privates Schuldeingeständnis. Vielmehr vollzieht Inge Müller eine herausfordernde und differenzierte Auseinandersetzung mit Schuld, die gesellschafts- und erinnerungspolitisch in der DDR keine Entsprechung fand und eben deshalb eine besondere politische Sprengkraft besaß. Es ist das Schuldgefühl, das sich dem Vertrauen auf allzu einfache Narrative von der Überwindung der Schuld und ihrer Herabwürdigung zu einer Klassenfrage widersetzt. Es wäre von daher verfehlt Schuldgefühle prinzipiell in die Nähe des Pathologischen und Irrationalen zu rücken. Vielmehr sind es häufig – und auch im Fall von Inge Müller – die vermeintlich ungerechtfertigten Schuldgefühle, die das Interesse daran wecken, die Schuldverstrickung Einzelner sowie der gesamten Gesellschaft in vergangenes Unrecht verstehen zu wollen. So steckt gerade im quälenden Schuldgefühl auch wieder die Chance für ein verantwortungsvolles Miteinander. Es ist die Konzentration auf den Einzelnen, den »einen von allen«, wie es im Gedicht Inge Müllers heißt, wodurch die Literatur zum Ort des Widerspruchs gegen die vorschnelle Überwindung von Schuld wird. Aus dem Nachdenken »was ist Schuld« (V. 28) sowie aus dem Eingeständnis der eigenen möglichen Verfehlung gewinnen ihre Texte eine moralische Haltung, die grundlegend auf der Eigenverantwortung des Subjekts beharrt. So sehr die Gedichte von Inge Müller ungeschönt ihre Kriegstraumata und die quälenden Schuldgefühle benennen, so sehr überwinden sie doch im ästhetischen Vollzug das Ausgeliefertsein an sie – sei es durch die Ordnungserfahrung im ästhetischen Ausdruck selbst oder durch die Andeutung einer aus der Schuld resultierenden moralischen Einsicht, die einen kulturellen Neuanfang begründen könnte. Schon hier wird deutlich, dass Endlers Beschreibung »Poesie knapp vor dem Absturz«64 nur bedingt auf die Lyrik Inge Müllers zutrifft und von ihm daher zurecht als offene Frage formuliert wurde. Zum Abschluss möchte ich auf eine Dimension ihrer Gedichte hinweisen, die auch Heiner Müller anzudeuten scheint, wenn er die Lyrik seiner Frau als »tapfere« Gedichte beschreibt.65 Denn Inge Müllers Gedichte scheuen auch nach 1945 nicht davor zurück, ganz emphatisch die Schönheit der Natur und das Tröstliche in der Beziehung zum Nächsten zu bestaunen und jenseits aller Ironie zu rühmen, wie ich abschließend zeigen möchte.

64 Endler: Fragt mich nicht wie (Anm. 26), S. 290. 65 So die Bemerkung Heiner Müllers im knappen Vorwort der Ausgabe von Pietraß (Hg.): Wenn ich schon sterben muß (Anm. 4), S. 5.

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Staunen: »Vom Flugzeug aus sehn: die Haut der Welt« Wenn ich schon sterben muss Will ich noch einmal Mit euch durch den Wald gehn Und vorbei am See in Lehnitz oder Irgendwo; noch einmal möcht ich sehn: Himmel Berge Meer Arbeiter und Landstreicher Äcker und Großbauplätze Städte am Morgen und bei Nacht Den alten Chinesen, der das ABC lernt und das Schreiben An der Hand seines Enkels; Vom Flugzeug aus sehn: die Haut der Welt… Da werd ich viel zu glücklich sein Zum Sterben.66

Der Ton des Gedichts spielt mit dem Umgangssprachlichen. Die Verse erscheinen einfach und leicht zugänglich, und doch zielt das Gedicht ab auf die Tiefe menschlicher Existenz. Es beschreibt, so Angelika Overath, den Abschied vor dem eigenen Sterben, wenngleich es nicht um eine bestimmte Situation kurz vor dem Tod geht. Vielmehr wird im Gedicht »aus der grundlegenden Verfassung des Menschseins heraus«67 gesprochen: »Wenn ich schon sterben muß« (V. 1). Dabei ist entscheidend, dass das lyrische Ich die Gemeinschaft sucht und sich in direkter Ansprache an ein Gegenüber wendet: »Will ich noch einmal / mit Euch durch den Wald gehen« (V. 2f.). Diese elementare sprachliche Geste, im Moment größter Not ein Du oder Wir anzurufen, ist in der Kultur-, Religions- und Literaturgeschichte tief verwurzelt – man denke nur an den berühmten Psalm 130 des Alten Testaments: »Aus den Tiefen rufe ich zu dir, Herr«.68 Bei Inge Müller ist es zudem das Vertraute und Bekannte, das dem lyrischen Ich Sicherheit zu geben vermag. Denn der Wald »am See in Lehnitz« (V. 4) ist nicht irgendeiner, sondern der konkrete Ort, wo Inge Müller selbst lange gewohnt hat und wo sie zu schreiben begann.69 Diese persönliche Gegend schließt ein unbestimmtes, sehnsüchtiges »Irgendwo« (V. 5) mit ein, bevor dann geradezu universale Naturorte aufgerufen werden:70 »Himmel / Berge / Meer« (V. 6ff.). Angelika Overath hat gezeigt, wie genau das Gedicht gearbeitet ist, indem auch der zurückhaltende 66 67 68 69 70

Müller: Wenn ich schon sterben muß (Anm. 17), S. 49. Overath: Inge Müller (Anm. 7). Ich stütze mich hier auf die Übersetzung der Elberfelder Bibel. Vgl. Geipel: Nachwort (Anm. 1), S. 336–353. Auch dies betont Overath: Inge Müller (Anm. 7).

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Endreim »gehn« – »sehn« »den vertrauten, kleinen Gang am See mit einem Aufbruch in unbestimmte Landschaften« verbindet.71 Dabei wird eben die Intimität der eigenen mit einer übergreifenden, allgemein menschlichen Erfahrung verbunden: »Arbeiter und Landstreicher / Äcker und Großbauplätze / Städte am Morgen und bei Nacht« (V. 9ff.). Bis das lyrische Ich aus einem höchstmöglichen Überblick, aus dem »Flugzeug«, auf die »Haut der Welt« (V. 14) blickt, um von dort aus selbstbewusst dem Tod eine Absage zu erteilen: »Da werd ich viel zu glücklich sein / Zum Sterben« (V. 15f.). Es ist ein eigentümliches Bild, das mit der Formulierung von der »Haut der Welt« evoziert wird. Die Erde tritt dadurch geradezu vermenschlicht, aber vor allem als Organismus und somit mehr aus der naturwissenschaftlichen Distanz beschrieben in Erscheinung. Statt einer Seelenlandschaft, wie wir sie aus der Romantik kennen und zu der die Naturbeschreibungen etwa in der Lyrik Eichendorffs oder Goethes meist tendieren, zielt diese Darstellung der Natur wohl eher – zumindest beim flüchtigen Lesen – auf die äußere, fassbare Welt. Doch mit dem Begriff der »Haut« ist der Naturerfahrung durch die Augen des Subjekts zugleich eine verwundbare, zärtliche und eben menschlich gefühlvolle Seite eingeschrieben. Denn es ist die Haut, die uns anzeigt, ob wir innerlich erregt, verliebt oder geängstigt sind, die – im übertragenen Sinne – dünn oder dick sein und damit leicht oder schwer verletzt werden kann. Inmitten von Inge Müllers sprachlich so karger Lyrik erscheint damit die Wendung von der »Haut der Welt« beinahe wie eine vorsichtige Reminiszenz an die Natur- und Erlebnislyrik der Romantik. Dem entspricht, dass es eben nicht nur die Naturerfahrung ist, die hier das Abschiednehmen in weite Ferne rückt und das Subjekt glauben lässt, den Tod überwinden zu können, sondern es ist auch die kleine zwischenmenschliche Geste, die hier inmitten der gänzlich reduzierten Sprache besondere Aufmerksamkeit bekommt: der Chinese, der, obwohl schon alt, noch Lesen lernen will und dies »an der Hand seines Enkels« (V. 13). Wieder einmal wird bei Inge Müller auf die Bedeutung der Literatur angespielt, das Dasein zu intensivieren. Der Verweis auf das Lesenlernen des Chinesen, angeleitet durch seinen Enkel, gibt überdies im Unterschied zur eigenen Generation das Vertrauen in die nächst jüngere nicht gänzlich auf.72 An der Hand seines Enkels wagt der »alte Chinese« nicht nur in die Welt der Sprache, sondern damit wohl auch in eine ganz neue, fremde Kultur mit anderen Schriftzeichen und neuen Bedeutungen einzutauchen. Das lyrische Ich, die Schriftstellerin der »verlorne[n] Generation«,73 gibt 71 Overath: Inge Müller (Anm. 7). 72 Dies zeigt sich auch in ihren Texten für Kinder, die dort meist stark und selbstbewusst sind. Vgl. Hilzinger: Nachwort (Anm. 1), S. 614–630. 73 Müller: Wir (Anm. 17), S. 132.

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hier selbst mit diesem Bild den Glauben an die Hoffnung auf einen Neubeginn, initiiert durch ›die Jugend‹ nicht auf. Für das auf die Welt herabblickende Subjekt veranschaulicht diese Geste vielmehr neben der Schönheit der Natur ein versöhnliches, zuversichtliches In-der-Welt-Sein, ja sogar unmittelbare Freude am Leben, nimmt man den letzten Vers hinzu. Das Gedicht inszeniert eben nicht lediglich, wie es Angelika Overath gedeutet hat, den Abschied vom Leben, sondern vielmehr den sehnsüchtigen, wie ich es hier nennen möchte, staunenden Blick auf die Welt selbst. Der Aufbruch des Subjekts in den Wald und sein allmählicher Aufstieg in luftige Höhen hat in der Angst und im Wissen von der Endlichkeit des Seins seine Motivation. Doch das Gedicht verharrt gerade nicht beim Furchterregenden und dem Gedanken an den eigenen Untergang, sondern beim Schönen, das sich überall dort findet, wohin das lyrische Ich den Blick wendet: in der Natur, den kleinen vertrauensvollen Gesten, dem Leben auf dem Land und in der Stadt. Es ist das Sehen selbst, das hier zur Anschauung kommt und das sich an einer kaum enden wollenden Fülle (in der sprachlichen Kargheit) und der aisthetischen Erfahrung der Welt erfreut. In den Studien zur Kategorie des Staunens ist etwa von Wolfgang Braungart,74 Stefan Matuschek75 und später auch von Nicola Gess76 darauf hingewiesen worden, wie sehr das Staunen als ästhetische Wahrnehmungserfahrung es vermag, die Entzauberung der Welt aufzuhalten. Wer staunt, bewahrt sich eine Haltung des Nicht-Wissens, der Verwunderung, der Überraschung. Als Bewunderung steht das Staunen besonders der ästhetischen Kategorie des Erhabenen nahe, vor allem auch, da das Staunen ein reflexives Weltverhältnis einschließt,77 also von dem Wechselspiel »von sinnlicher Wahrnehmung und rationaler Einsicht geprägt ist«.78 Es ist erst die Wahrnehmung des Subjekts, in der die ergreifende Erfahrung zur Entfaltung kommt. Dies aber setzt – ganz wie beim Erhabenen – reflexive Distanz zum sinnlichen Erlebnis voraus. Die Struktur und Dramaturgie von Inge Müllers Gedicht wird geradezu von dieser zunehmenden Distanzierung bei gleichzeitig emotional gesteigerter Lebenslust bestimmt, indem das lyrische Ich – beinahe wie Ikarus – höher und höher steigt und am Schluss »vom Flugzeug aus« sehend »auf die Haut der Welt« blickt (V. 14). Tatsächlich erscheint es zunächst wie eine Hybris, wenn das lyri74 Wolfgang Braungart: »Zum Erstaunen bin ich da.« Zur Poetik des staunenden Wissens bei Barthold Heinrich Brockes, Johann Wolfgang von Goethe und Annette von Droste-Hülshoff, in: Neue Beiträge zur Germanistik. Internationale Ausgabe von »Doitsu Bungaku«. Zeitschrift der japanischen Gesellschaft für Germanistik, 2005, Nr. 4, H. 6, S. 12–37. 75 Stefan Matuschek: Über das Staunen. Eine ideengeschichtliche Analyse (Studien zur deutschen Literatur 116), Tübingen 1991. 76 Nicola Gess: Staunen. Eine Poetik(Kleine Schriften zur literarischen Ästhetik und Hermeneutik 11), Göttingen 2019. 77 Braungart: Erstaunen (Anm. 74), S. 14. 78 Gess: Staunen (Anm. 76), S. 15.

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sche Ich in dieser begeisterten Trunkenheit meint, den Tod – aus reinem Glück – überwinden zu können. Doch bei Inge Müller fliegt niemand in luftige Höhen bis zur Sonne, um sich selbst zu ermächtigen; hier steigt das lyrische Ich höher und höher – auch im übertragenen Sinne und damit kontemplativ – um die Größe und Schönheit des Daseins in seiner ganzen Weite bestaunen und sich ganz hingeben zu können. Es ist der staunende Blick des anschauenden Subjekts selbst, der in dieser intensiven Erfahrung von Faszination und Evidenz »die Kontinuität der Zeit« unterbricht, wie sich mit Bezug auf Braungart sagen lässt.79 Zugleich weiß das lyrische Ich, dass es dem Tod nicht entgehen kann, ja dass die Intensität der Erfahrung nur im Wissen um die eigene Sterblichkeit möglich ist. Anhand dieses zuletzt interpretierten Gedichts wird ein wichtiger Aspekt von Inge Müllers Lyrik eindringlich deutlich, der in der Forschung bislang weitgehend übersehen wurde. Ihre Gedichte sind häufig Ausdruck der Sehnsucht nach einem vertrauensvollen und in diesem Sinne lebensbejahenden oder versöhnlichen In-der-Welt-Sein im Angesicht des Todes, der Verzweiflung, der moralischen Verfehlung und traumatischen Erfahrung. Damit versucht ihre Lyrik eine Antwort auf die besonders nach 1945 drängende Frage zu geben, ob wir auch ohne die Dimension des Heiligen, »ohne Gott«, wie Inge Müller selbst sagt, imstande sein werden, ein sinnerfülltes Leben zu führen. Eine Möglichkeit, so legt es das zuletzt besprochenen Gedicht nahe, besteht vielleicht in einem ästhetischen, dem Staunen zugeneigten Weltverhältnis. Die Poetik Inge Müllers ist eine direkte Reaktion auf den Sinnverlust, von dem ihre Gedichte immer wieder sprechen. Sie sind im Bewusstsein verfasst selbst schuldig, in das NS-System verstrickt und von diesem indoktriniert gewesen zu sein. Ihr Schreiben lässt sich dabei als ein fortwährendes Streben charakterisieren, diesem Wissen nicht auszuweichen, aber doch dem drohenden Absturz, wie er auch in der Bildlichkeit des zuletzt besprochenen Gedichts immer mitschwingt, etwas Anderes entgegen zu stellen. Dabei wird dem furchtsamen und entmutigten Blick auf die Welt nicht nur im trotzigen Ton (»wenn ich schon sterben muß«) widersprochen. Das zuletzt genannte Gedicht ist auch insofern paradigmatisch für die andere Seite ihrer Lyrik, weil es selbst die Transgression von der Elegie in die lebensfreudige, hymnische Stimme mithilfe der gesamten Dramaturgie des Gedichts direkt vorzuführen versucht. Zumindest momenthaft ist – sofern man auf die Begeisterung des lyrischen Ichs vertraut – dann doch so etwas wie die Aussicht, um im Bild zu bleiben, auf ein »sinnhaftes« und »glückliches« Verhältnis zum Dasein möglich.

79 Braungart: Erstaunen (Anm. 74), S. 15.

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»Irgendwo muß ein Halt sein in dieser haltlosen Welt.« Halt und Sinn finden in der katholischen Jugend im Bistum Augsburg

»Brüder, Schwestern! Irgendwo muß ein Halt sein in dieser haltlosen Welt. Und der Halt müßt ihr sein, in Christus unserm Herrn. […] Das ist euer schönstes Werk u. euer heiligster Auftrag, daß ihr alle, die guten Willens sind, aus der verlorenen Jugend wieder gewinnt u. heimführt den Weg zu Christus«1 – Diesen Appell richtete Joseph Kumpfmüller, der Bischof von Augsburg, im Juli 1945 an die Jugendlichen seines Bistums. 8.000 dieser jungen Menschen waren anlässlich der Glaubensfeier der katholischen Jugend im Augsburger Ulrichsmünster versammelt, die Predigt des Bischofs bildete sicherlich einen der Höhepunkte des Tages. Kumpfmüller drückte sich klar aus: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sollten die katholischen Jugendlichen mit ganzer Kraft daran arbeiten, das Evangelium zu verbreiten und so eine Stütze für all diejenigen sein, die Jesus Christus nicht nachfolgten: »Mit dem Herzen müßt ihr die gewinnen. […] Bringt sie in die Gemeinschaft der Kirche! Errichtet das Kreuz auf den Trümmern eurer Stadt! Euer Augsburg muß wieder eine Stadt Gottes werden. Euer Land, das Schwabenland, soll wieder Land Gottes werden! Nicht der Bischof allein, und nicht der Priester allein können dies Werk erfüllen. Ihr seid es, katholische Männer u. Frauen, und erst recht ihr, katholische Jungmänner u. Jungfrauen!«2 Die Worte des Bischofs Joseph Kumpfmüller (1869–1949) beinhalteten einen expliziten Auftrag an die katholische Jugend: Sie sei es, die nun handeln müsse, um die »verlorenen« Jugendlichen zu retten und wieder auf den rechten Weg zu Christus zu führen. Kumpfmüller sprach zwar auch die Problematik an, dass »von jenen Irrlichtern geblendet […] beste getaufte Christusjugend in großer Zahl […] in die Irre gegangen«3 sei. Dabei wurde er in Bezug auf die »Irrlichter« aber nicht konkret und warnte vor ihnen: »Gestern kamen sie von jener Seite und morgen werden sie von einer anderen Seite kommen.«4 Doch es gebe einen 1 Archiv des Bistums Augsburg, BO 8552, Predigt zur Glaubensfeier katholischer Jugend, Augsburg 08. 07. 1945. 2 Ebd. 3 Ebd. 4 Ebd.

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richtigen Weg, fuhr der Bischof fort, nämlich einen Weg der Wahrheit und zwar in der Nachfolge Jesu Christi. Diese Nachfolge zu leben, war laut Kumpfmüller die einzige Möglichkeit für junge Menschen. Dabei sollten sie möglichst viele andere miteinbeziehen, damit das Bistum Augsburg wieder »ein Land Gottes« werde. Die Aufforderung, die Diözese für Gott zurückzuerobern, war für die damalige Zeit durchaus typisch – Kumpfmüller wandelte sie lediglich für sein zum Großteil auf dem schwäbischen Gebiet Bayerns liegendes Bistum ab.5 Interessant ist auch Kumpfmüllers Betonung der unbedingten Miteinbeziehung der nicht geweihten Katholik*innen in diese Aufgaben der Nachfolge und Evangelisierung. Fast wirkt es so, als würde er den Lai*innen tatsächliche Verantwortung dafür übertragen. Eine Predigt ist zunächst immer unidirektional angelegt, daher war es den Angesprochenen nicht möglich, auf die Worte des Bischofs zu antworten, sie abzulehnen oder zu verstärken. Wie definierten die jungen Menschen selbst ihre Rolle in der zerrütteten, unmittelbaren Nachkriegszeit? Wie verstanden sie ihren Sendungsauftrag als junge Katholik*innen, worin fanden sie Halt? Gut zwei Monate nach Ende des Zweiten Weltkriegs lagen nicht nur viele Städte in Trümmern, sondern auch die Leben vieler Menschen. Familien waren auseinandergerissen worden, viele Menschen waren gefallen, in Kriegsgefangenschaft oder vermisst. Der nationalsozialistische Staat, in dem die Kinder und Jugendlichen aufgewachsen und sozialisiert worden waren und schulische Bildung erfahren hatten, war besiegt. Diese Ausgangslage galt auch für die katholischen Jugendlichen im Bistum Augsburg. Von diesen war ein nicht unerheblicher Anteil aus unterschiedlicher Motivation heraus in der NS-Zeit der Hitlerjugend beziehungsweise dem Bund Deutscher Mädel beigetreten und zum Reichsarbeitsdienst oder zum Wehrdienst verpflichtet worden. Vieles, was vermeintlich Halt gegeben und Sinn gestiftet hatte, war nun nicht mehr gültig, konnte und durfte nicht mehr als Richtschnur dienen. Mit der katholischen Kirche gab es jedoch eine Institution, die während der NS-Zeit gerade vor Ort in den Pfarreien präsent geblieben war und auch nach Kriegsende großen Zulauf erfuhr und Halt versprach. Die katholische Jugendarbeit, oft gleichgesetzt mit dem Begriff der Jugendseelsorge, bot den Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine Struktur, um ihr Leben auszurichten. Diese war gerade auch in den Nachkriegsjahren streng hierarchisch aufgebaut und wies allen Beteiligten feste Rollen zu. 5 In Berlin wird der Diözesanjugendseelsorger Robert Lange als Vertreter des Berliner Erzbischofs bei seinem Grußwort an eine Versammlung des Bundes Neudeutschland im Frühjahr 1946 mit den Worten zitiert: »Erobert Euch Euer Berlin!«; Felix Raabe: Brücke zwischen Ost und West: 15 Jahre katholische Jugendarbeit in Berlin, in: Bernd Börger, Michael Kröselberg (Hg.): Die Kraft wuchs im Verborgenen: Katholische Jugend zwischen Elbe und Oder 1945– 1990, Düsseldorf 1993, 101–119, hier 103.

Halt und Sinn finden in der katholischen Jugend im Bistum Augsburg

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In diesem Beitrag soll es darum gehen, welchen Sinn Jugendliche und junge Erwachsene auf dem Gebiet des Bistums Augsburg in ihrer Zugehörigkeit zur katholischen Kirche und insbesondere in ihrer Betätigung in der organisierten katholischen Jugendarbeit fanden. Daneben ist zu fragen, ob sich die jungen Menschen in den ersten Nachkriegsjahren als handelnde Subjekte empfanden oder eher als empfangende Objekte der Jugendarbeit gesehen werden können. Wie war die katholische Jugendarbeit strukturell verfasst, wie sah das Engagement der jungen Menschen und der sie begleitenden oder leitenden Kleriker darin aus? Was versprachen sie sich von ihrem Einsatz für die katholische Kirche und welchen Platz beanspruchten sie? Welcher Platz und welche Rolle wurde ihnen durch die Amtskirche zugewiesen? Bedingt durch die Quellenlage kann die Perspektive der Kleriker besser in den Blick genommen werden als die der Jugendlichen. Der Großteil der überlieferten Quellen besteht aus offiziellen Schriftstücken, die von den hauptamtlichen Mitarbeitenden der verfassten Kirche angefertigt und im Archiv des Bistums aufbewahrt wurden. Persönliche Zeugnisse von Jugendlichen sind kaum überliefert, ihre Empfindungen, Bedürfnisse und Erwartungen können aber teilweise anhand der jugendverbandlichen Quellen rekonstruiert werden. Die Grundannahme der vorkonziliaren katholischen Kirche war, dass das Heil nur innerhalb der katholischen Kirche gefunden werden könne.6 Verbunden mit dem positiven Status, den die Institution der katholischen Kirche von den Siegermächten zunächst zugesprochen bekommen hatte, trug das nach Ende des Zweiten Weltkrieges dazu bei, dass katholische Jugendliche in großer Zahl die katholische Jugendseelsorge in ihren Pfarreien in Anspruch nahm. Welche Strukturen der Jugendseelsorge bestanden im Jahr 1945? Um die bestehenden Kontinuitäten berücksichtigen zu können, müssen zunächst die Jahre der NSZeit in den Blick genommen werden.

Katholische Jugendarbeit in der NS-Zeit Im Bistum Augsburg fand katholische Jugendarbeit, wie im gesamten deutschen Raum, bis in die NS-Zeit hinein hauptsächlich im Rahmen organisierter Verbände, Bünde oder Kongregationen statt. Diese Gruppierungen wurden durch Lai*innen geleitet und dabei immer von Klerikern, meist Ordenspriestern, geistlich begleitet. Berührungspunkte zu nicht-konfessionellen Organisationen gab es dabei kaum. 6 »Vorkonziliar« bezeichnet die Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil, das von 1962 bis 1965 in Rom abgehalten wurde und das eine Zeitenwende in der römisch-katholischen Kirche einläutete.

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Ab 1933 wurden nach und nach fast alle Organisationsformen verboten, die sich nicht der nationalsozialistischen Ideologie verschrieben hatten. In Augsburg war nach 1935 durch landesweite Restriktionen im Grunde keine überörtliche verbandliche Arbeit mehr möglich. Durch Artikel 31 des »Konkordats zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich« von 1933 waren jedoch diejenigen katholischen Bünde und Verbände geschützt, die »ausschliesslich religiösen, rein kulturellen und karitativen Zwecken dienen und als solche den kirchlichen Behörden unterstellt sind.«7 Dies bedeutete entweder das Ende oder den Gang in den Untergrund für die autonomen und von der Amtskirche unabhängigen Verbände. Die Jugendgruppen in den Pfarreien, die sich offiziell für Gottesdienste, Katechese oder Chorproben trafen und in Obhut des zuständigen Pfarrers standen, konnten steigende Mitgliedszahlen verzeichnen. Im Jahr 1936 wurde diese pfarrliche Anbindung, die auch einen Schutzraum für die katholischen Jugendlichen vor der Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten bieten konnte, in den »Richtlinien für die katholische Jugendseelsorge« fixiert. Sie wurden am 1. April 1936 von der Fuldaer Bischofskonferenz verabschiedet und behielten ihre Gültigkeit noch lange über das Ende des nationalsozialistischen Regimes hinaus. Mit der Inkraftsetzung dieser Richtlinien wurde die gesamte katholische Jugendarbeit neu ausgerichtet, sie gehörte nun in allen deutschen Bistümern zu einer der »wichtigsten Dienstobliegenheiten des Pfarrers und aller seiner Hilfsgeistlichen«.8 Die Richtlinien sahen dabei zwei mögliche Formen der kirchlichen Jugendarbeit vor: Zum einen eine allgemeine Pfarrjugendseelsorge mit dem Ziel, »möglichst alle Jugendlichen zum bewußten, frohen Leben mit der Kirche zu führen«9, und zum anderen jugendliche Lebensgemeinschaften mit dem Ziel der religiösen Vertiefung und der Vorbereitung auf besondere apostolische Aufgaben. Dabei sollten aber alle Aktivitäten auf den katechetischen, spirituellen und liturgischen Bereich beschränkt bleiben.10 Die Interessen der Jugendverbände und der Jugendlichen wurden dabei nicht berücksichtigt. Der Pädagoge Georg Pahlke spricht davon, dass die aktiven und engagierten jungen Erwachsenen ihr Verständnis von kirchlicher Jugendarbeit in den Richtlinien nicht wiederfinden konnten.11 Dennoch waren es eben diese jungen Menschen, die sich daraufhin 7 Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich, 1993, verfügbar unter: https://www.vatican.va/roman_curia/secretariat_state/archivio/documents/rc_seg-st_19330 720_santa-sede-germania_ge.html [10. 04. 2022]. 8 Richtlinien für die katholische Jugendseelsorge vom 01. 04. 1936, in: Ludwig Volk (Hg.): Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche Bd. 4, 1936–1939, Mainz 1981, S. 762. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 762ff. 11 Georg Pahlke: Trotz Verbot nicht tot. Katholische Jugend in ihrer Zeit 1933–1945, Paderborn 1995, S. 221f.

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nicht von ihren Gemeinden distanzierten, sondern die Jugendseelsorge in den Gemeinden »sogar überwiegend aktiv«12 mittrugen. Die Umsetzung der Richtlinien hatte in den Diözesen zu erfolgen. In Augsburg wurden sie am 24. April 1936 im Amtsblatt des Bistums veröffentlicht.13 Für die schnelle Umsetzung der Neustrukturierung war ausschlaggebend, dass auf bereits existierende Verbandsstrukturen zurückgegriffen werden konnte, ohne zunächst die Eigenständigkeit der einzelnen noch bestehenden Jugendverbände zu berühren.14 Alphons Satzger (1899–1978), seit 1935 als Diözesanpräses des Katholischen Jungmännerverbandes eingesetzt, übernahm nun zusätzlich das Amt des Diözesanjugendseelsorgers.15 Parallel dazu wurden in der gesamten Diözese Dekanatsjugendseelsorger ernannt,16 da sich die Dekanate als verwaltungsorganisatorische Zwischenebene zwischen den Pfarreien und der Diözese bewährt hatten.17 Für die meisten Jugendseelsorger war der ihnen nun neu zugeschriebene Bereich nicht fremd, da sie sie bereits als Präsides in den Verbänden tätig gewesen waren. Vor Ort fanden die jugendlichen Gruppenleitungen als sogenannte »Laienhelfer« und »Laienhelferinnen« ihren Platz in der neuen Struktur der kirchlichen Jugendseelsorge. Wie die Bezeichnung schon vermuten lässt, ging damit auch eine Verschiebung der Verantwortung für die Jugendarbeit von den Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf die von amtskirchlicher Seite eingesetzten Kleriker einher. Das »Jungführertum«, erst 1927 in den deutschen Bistümern etabliert, wurde nun wieder eingeschränkt. Die wichtigsten Aufgaben der priesterlichen Jugendseelsorge waren die Führung zum liturgischen und sakramentalen Leben, zu einem christlichen Ethos und zu einer christlichen Geisteshaltung.18 Die Jugendlichen selbst wurden von der Amtskirche in ihrer Leitungsverantwortung beschränkt und als Empfänger*innen der Katechese, Besucher*innen der Gottesdienste und Schüler*innen im Religionsunterricht gesehen, denen die Jugendseelsorge zuteilwurde, die sie aber nur zu kleinen Anteilen mitgestalten konnten. 12 Ebd., S. 223. 13 Josef Fuchs, Karl Hofmann, Hans Thieme: Christus! – nicht Hitler. Zeugnis und Widerstand von Katholiken in der Diözese Augsburg zur Zeit des Nationalsozialismus, St. Ottilien 1984, S. 33. 14 Pahlke: Verbot (Anm. 11), S. 237. 15 Ulrich Stoll: Bruno Harder (1908–1969), in: Manfred Weitlauff (Hg.): Lebensbilder aus dem Bistum Augsburg. Vom Mittelalter bis in die neueste Zeit (Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 39), Augsburg 2005, S. 631–642, hier S. 633f. 16 Stoll: Harder (Anm. 15), S. 634. 17 Pahlke: Verbot (Anm. 11), S. 236. 18 Anlage 5 zu Nr. 786/II: Referat Stohrs über Jugendseelsorge, Fulda 20. 08. 1942, in: Ludwig Volk (Hg.): Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche, Bd. 5, 1940–1942, Mainz 1983, S. 891f.

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Grundsätzliche Überlegungen zur Jugendseelsorge nach Kriegsende Der Nachfolger Alphons Satzgers als Diözesanjugendseelsorger war Bruno Harder (1908–1969), der dieses Amt 1939 inoffiziell und mit seiner Ernennung zum Domvikar im Februar 1943 offiziell vom Bischof übertragen bekam.19 In der Funktion des Diözesanjugendseelsorgers wandte er sich im Juni 1945 mit einem Schreiben zum ersten Mal nach Kriegsende an alle Dekanatsjugendseelsorger und formulierte »Grundsätzliche Erwägungen« zur kirchlichen Jugendseelsorge nach dem Ende des NS- Staats.20 Zunächst hielt er fest, dass die Richtung durch die bischöflichen Richtlinien von 1936 bereits vorgegeben sei und es nun »um die große Linie, um Einheit, um Zusammenschluß der Jugend der Kirche« gehe.21 In dem von Harder anvisierten Ziel war diese Kontinuität ebenfalls gegeben: »Unser Ziel ist eine möglichst große Zahl junger Christen für Christus u. sein Reich zu sammeln, ihnen in den Jugendseelsorgestunden die Frohbotschaft zu künden, sie in das liturgisch sakramentale Leben einzuführen.«22 Er stellte aber auch klar, dass »lebendige Jugendgemeinschaften«, in denen Lai*innen »nicht nur Objekt der Seelsorge in der Jugendseelsorge, sondern Träger ihrer Gemeinschaft u. ihrer Arbeiten, […] in der Führung nicht nur dienende Helfer, sondern verantwortliche Mitarbeiter« seien, für eine erfolgreiche Jugendseelsorge unerlässlich sein würden.23 Wie eine mögliche Jugendarbeit in den katholischen Verbänden und Bünden des Bistums aussehen sollte, konkretisierte er nicht. Die zitierten Zeilen klangen zwar nach einer Stärkung der Jugendlichen in den Jugendgruppen, und doch ist zu fragen, ob die Jugendlichen und jungen Erwachsenen bei der zukünftigen Gestaltung der Jugendarbeit tatsächlich Mitspracherecht eingeräumt bekamen. Das Schreiben Harders endete mit dem Verweis auf den anstehenden »Glaubenstag für die Jugend der Diözese«, an dem der Bischof von Augsburg die eingangs zitierte Predigt halten sollte. Die großen kirchlichen Feiern mit Gottesdienst, wie es der Glaubenstag war, waren keine Neuerfindungen der Nachkriegszeit. Schon in der NS-Zeit hatten sie erheblich an Zulauf gewonnen und den jungen Erwachsenen Gelegenheit geboten, sich auch nach dem Verbot der Jugendverbände weiterhin überregional zu treffen und zu vernetzen.24 Nach Kriegsende wurden diese etablierten Jugendfeiern weitergeführt, die religiöse Empfänglichkeit und Ansprechbarkeit der jungen Menschen war groß. Messbar war diese unter anderem an den Teilnah19 Stoll: Harder (Anm. 15), S. 636. 20 Archiv des Bistums Augsburg, GV 1497, Brief Bruno Harder [Diözesanjugendseelsorger] an Dekanatsjugendseelsorger im Bistum Augsburg am 04. 06. 1945. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Pahlke: Verbot (Anm. 11), S. 185.

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mezahlen bei Gemeinschaftsmessen, Jugendwallfahrten oder religiösen Jugendkundgebungen.25 Doch wie sollte die große Masse an jungen Katholik*innen organisiert werden?

Richtlinien für die kirchliche Jugendarbeit und das Diakonat der Jugend Auf Bundesebene trafen die deutschen Bischöfe bereits Anfang Juli 1945 mit dem Beschluss der »Richtlinien für die kirchliche Jugendarbeit« erste richtungsweisende Entscheidungen für die Zukunft der katholischen Jugendseelsorge. Diese beinhalteten Modifizierungen der bischöflichen Richtlinien von 1936, wonach an der inhaltlichen Arbeit und dem kirchenorganischen Prinzip, dem Aufbau nach Pfarreien, Dekanaten und Diözesen, der letzten Jahren angeknüpft werden und das »Diakonat der Jugend« ausgebaut werden sollte.26 Letzterer Begriff war vom Münchner Ludwig Wolker (1887–1955) bereits in seiner Zeit als Generalpräses des Katholischen Jungmännerverbandes geprägt worden. Damit wurde der aktive Einsatz der katholischen Jugendlichen für die Verbreitung des Evangeliums bezeichnet. Direkt nach Kriegsende wurde Wolker von den deutschen Bischöfen damit beauftragt, seine Arbeit als Jugendseelsorger wieder aufzunehmen und die Gesamtleitung der Bischöflichen Hauptstelle für die überdiözesanen Aufgaben der Jugendseelsorge in Altenberg bei Köln zu übernehmen.27 Er war einer der wichtigsten Jugendseelsorger der Nachkriegszeit und Wolkers Wort hatte sowohl bei den deutschen Bischöfen als auch in den einzelnen Diözesen Gewicht. Es kann davon ausgegangen werden, dass Wolker auch in Augsburg sehr geschätzt war und er dadurch Einfluss auf die Organisation und Inhalte der Jugendseelsorge in diesem Bistum nehmen konnte. Dafür spricht, dass er die letzten Kriegsjahre in einer Pfarrei am Ammersee im Bistum Augsburg verbracht, häufig Schulungen und Gottesdienste für Jugendliche in der Diözese gehalten und rege mit den führenden Augsburger Jugendseelsorgern korrespondiert hatte. Bezugnehmend auf die bischöflichen Richtlinien von Juli 1945 schrieb er im Anschluss daran einen Brief an alle Diözesan- und Dekanatsjugendseelsorger. Darin benannte er die Schritte für den Wiederaufbau der Jugendarbeit: »Nun ist der Anfang: Zu suchen und zu sehen, was im Land ist an jungem Leben und 25 Martin Schwab: Kirche leben und Gesellschaft gestalten. Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) in der Bundesrepublik Deutschland und der Diözese Würzburg 1947– 1989 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 51), Würzburg 1997, S. 9. 26 Ebd., S. 27. 27 Ebd., S. 29.

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Willen; was in der Kirche ist an Plan und Kraft in Gnaden; was im Staat ist an Einsicht und Aussicht. Doch davon ist noch nicht Zeit zu reden. Erst wollen wir sehen und hören und überlegen. […] Das erste war Augsburg, ein schöner Auftakt am Ulrichsfeste: Bekenntnistag der Jugend. Das Ulrichsmünster war gefüllt wie nie zuvor, über 8 000 Menschen. ›Endlich wieder frei.‹ Endlich wieder konnte ich der Jugend das Wort Gottes künden ›Unser Weg ist Christus!‹ Die Feier war prächtig. Ein Bild der Hoffnung […] Ob doch noch einmal neuer Glaubensgeist erwacht im Namen des Herrn!«28 Deutlich wird hier, neben der Bedeutung Augsburgs für Wolker, dass zunächst noch keine Entscheidungen getroffen werden sollten, sondern die Lage erst in Ruhe geprüft und bewertet werden sollte. Damit bezog sich Wolker vor allem auf bereits getroffene Richtungsentscheidungen einzelner Diözesen und Verbände, die seiner Meinung nach die »Einheit der Jugend« in Gefahr brachten, weshalb er diese Vorentscheidungen zu unterbinden versuchte.29 Das Bischöfliche Seelsorgeamt in Augsburg folgte allem Anschein nach dieser Devise. Erst im Februar 1946 gab es »Anweisungen für die katholische Jugendseelsorge und Jugendorganisation« heraus, in denen zunächst ein weiteres Mal auf die bischöflichen Richtlinien von 1936 Bezug genommen wurde. Die Anweisungen unterschieden zwischen der allgemeinen kirchlichen Jugendseelsorge, die sich an alle Getauften Jugendlichen in den Pfarreien richtete und der »Katholischen Jugend« als Körperschaft, die sich aus den aktiven Mitgliedern der »festumrissenen jugendlichen Lebensgemeinschaften auf dem Boden der Pfarrei«30 zusammensetzen sollte. Ausdrücklich wurde festgehalten, dass kein »selbstständiges Nebeneinander oder gar Gegeneinander verschiedener Verbände und Bünde«31 geben dürfe. Die Katholische Jugend müsse eine »organische, wohlgeordnete Einheit in Mannes- und Frauenjugend bilden«, mit dem Ziel der »Erfassung möglichst vieler junger Katholiken aus allen Ständen und Schichten nach den verschiedenen Wegen und Weisen in Gruppengemeinschaften aus dem Boden der Pfarrei.«32 Von Seiten des Bischöflichen Seelsorgeamts wurde damit der Versuch unternommen, einen Kompromiss zwischen dem Aufleben der Jugendverbände und der einheitlichen Organisation aller Jugendlichen zu finden. Gruppen durften beispielsweise »nach den Regeln der katholischen Pfadfinderschaft St.

28 Archiv des Bistums Augsburg, BO 8114, Brief Ludwig Wolkers an die Freunde, 25. 07. 1945. 29 Schwab: Kirche (Anm. 25), S. 32. 30 Archiv des Bistums Augsburg, BO 8551, Anweisungen für die katholische Jugendseelsorge und Jugendorganisation in der Diözese, 02. 02. 1946. 31 Ebd. 32 Ebd.

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Georg ihr Leben gestalten«,33 dies aber ausschließlich im Bereich ihrer Pfarrei und nicht darüber hinaus. Zudem wurde die Errichtung eines »Führerrings der katholischen Jugend des Bistums« in Aussicht gestellt, in den etwa sieben junge Erwachsene aus der Frauen- und Mannesjugend berufen werden sollten.34 Die aus Penzberg stammende Amalie Lommer (1920–2008) wurde zur ersten Diözesanjugendführerin ernannt, sie übte das Amt von 1946 bis 1957 aus und wurde für diese Aufgabe vom Bistum angestellt.35 An ihrer Seite war von 1946 bis 1956 der Augsburger Michael Schraudy (1915–1982) als hauptamtlicher Diözesanjugendführer eingesetzt. Zusammen mit dem Diözesanjugendseelsorger Bruno Harder bildeten sie über viele Jahre hinweg den Diözesanvorstand der Katholischen Jugend im Bistum Augsburg und prägten viele Generationen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

Lizenzierung der katholischen Jugend Am 6. Mai 1946 stellte der Augsburger Domkapitular Joseph Hörmann (1881– 1951) bei der amerikanischen Militärregierung für Schwaben einen Antrag auf Genehmigung der Organisation »Katholische Jugend« mit etwa 15.000 Mitgliedern. Interessant ist die anschließende Auflistung bei dem Vermerk »Früherer Name der Organisation«. Unter dieser Rubrik nannte Hörmann neun Gruppierungen, die er der Katholischen Jugend zurechnete, nämlich »Jungmännerverband, Gesellenverein, Marianische Kongregation, Kath. Pfadfinderschaft St. Georg, Neudeutschland, Quickborn, Jungfrauenverbände, Marianische weibliche Kongregation, Heliand«.36 Diese Gruppierungen sollten sich nach bischöflicher Auffassung zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht als eigenständige Verbände oder Bünde lizenzieren lassen. Als verantwortliche Leiter der Jugend wurden zwei Priester und zwei junge Männer genannt: Der Antragsteller Joseph Hörmann und Diözesanjugendseelsorger Bruno Harder sowie der Diözesanjugendführer Michael Schraudy und Toni Kaiser.37 Ob dieser Antrag mit den Vertreter*innen der genannten Verbände und Bünde abgesprochen war oder ob es im Nachgang positive oder negative Reaktionen aus den Reihen der Jugendverbände gab, ist aus den Quellen nicht ersichtlich, wohl aber das fortgesetzte Bemühen des Bi-

33 34 35 36

Ebd. Ebd. Archiv Haus Elias Seifriedsberg, Personal 1957–1965, Personalmappe Amalie Lommer. Archiv des Bistums Augsburg, BO 95, Brief Joseph Hörmann [Domkapitular, Bischöfliches Seelsorgeamt Augsburg] an Militärregierung für Schwaben, Augsburg 06. 05. 1946. 37 Ebd.

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schöflichen Jugendamtes, eine selbstständige Arbeit der von der Amtskirche unabhängigen Jugendverbände zu unterbinden. Nur wenige Monate nach dem Antrag auf Lizenzierung vermerkte Harder im Oktober 1946 in einem Bericht an den Augsburger Bischof Kumpfmüller, dass die Katholische Jugend bereits etwa 40.000 Mitglieder umfasse.38 Um die jungen Menschen in der Katholischen Jugend zu halten, müsse künftig nicht nur »eine Breitenarbeit«, sondern auch »eine Tiefenarbeit bei der Jugend«39 geleistet werden, durch Einkehrtage, Jungführer- und Jungführerinnenkurse, Gemeinschaftswochen und Exerzitien. Über die Inhalte der Schulungen könnte auf die Interessen und Fragestellungen der Jugendlichen geschossen werden, doch die Quellen lassen keine Rückschlüsse auf die thematische Ausrichtung der von Harder angesprochenen Schulungskurse zu. In den ersten Nachkriegsjahren wurden die Kurse im »Haus Wies« bei Steingaden abgehalten. Hauptverantwortlich war der ehemalige Diözesanjugendseelsorger Alphons Satzger,40 der neben der Wallfahrtskirche »Zum gegeißelten Heiland« ein Diözesanzentrum der katholischen Jugend mit Schulungs- und Exerzitienheim errichtete. Dort wurden von Sommer 1946 bis Herbst 1948 insgesamt 75 Schulungskurse mit einer durchschnittlichen Länge von vier bis fünf Tagen durchgeführt und 7053 jugendliche Teilnehmer*innen ausgebildet, wobei mehr als die Hälfte der Kurse für junge Frauen bestimmt waren.41

Gesetz der Führerschaft Am 8. Dezember 1946 gab sich die Gemeinschaft der ehrenamtlichen Dekanatsführer und Dekanatsführerinnen ein »Gesetz der Führerschaft«, das vom Bischöflichen Jugendseelsorgeamt als kleine Klappkarte verlegt wurde.42 Wer die Vorarbeiten dazu geleistet hat, ist nicht mehr festzustellen. Doch wird deutlich, dass die Dekanatsleitungen im Bistum Augsburg sich der bundesweiten Aus38 Archiv des Bistums Augsburg, BO 811, Brief Diözesanjugendseelsorger an Joseph Kumpfmüller [Bischof von Augsburg], Augsburg 11. 10. 1946. 39 Ebd. 40 Satzger war von 1936 bis zu seinem Landesverweis durch den NS-Staat 1939 Diözesanjugendseelsorger gewesen, anschließend als Wehrmachtspfarrer eingesetzt und im März 1946 zum verantwortlichen Wallfahrtsseelsorger an der Wieskirche ernannt worden. Hermann Mors: Alphons Satzger (1899–1978). Jugendseelsorger, Kriegspfarrer, Wallfahrtspriester in der Wies, Gründer und Erbauer der Katholischen Landvolkshochschule ›Dr. Georg Heim‹ Wies, Weißenhorn 1985. 41 Archiv des Bistums Augsburg, BO 8552, Statistischer Überblick über das Jugendhaus Wieskirche, Wies-Steingaden/Obby. dem Schulungs- und Exerzitienheim des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend Diözese Augsburg vom Sommer 1946 bis 31. Oktober 1948. 42 Archiv des Bistums Augsburg, BO 8549, Gesetz der Führerschaft, 08. 12. 1846.

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richtung der katholischen Jugend anschlossen. In ihrer Verlautbarung hielten sie fest: »1. Wir gestalten unser Jugendleben in christlicher Wahrhaftigkeit und Natürlichkeit. 2. Wir heiligen jeden Tag durch eine kurze Zeit der Stille vor dem Herrn. 3. Wir lesen oft in der Heiligen Schrift. 4. Wir feiern wenigstens einmal unter der Woche mit dem Priester das heilige Opfer für die Jugend. 5. Wir üben den Dienst der Liebe an jedem Bruder und an jeder Schwester in der Not. 6. Wir sorgen uns auch um den glaubensschwachen Bruder und um die glaubensschwache Schwester. 7. Wir setzen unsere Kraft und unser Leben ein für das Reich Gottes in Familie und Schule, in Nachbarschaft und Dorf, in Werkstatt und Büro, auf der Straße und im öffentlichen Leben, in Stadt und Land, auf daß Christus lebe in deutscher Jugend.«43

In den sieben Artikeln kommt das »Diakonat der Jugend« deutlich zum Vorschein, das auch die »Anweisungen für die katholische Jugendseelsorge und Jugendorganisation in der Diözese« von Februar 1946 bereits benannt hatten.44 Und es ging um die Vermittlung und Vertiefung religiösen Wissens und Lebens, um die Basis für eine personale Gottesbeziehung zu schaffen. Dies sollte beispielsweise durch die Förderung des Gebetslebens und der Stille, durch Bibelarbeit und die Gestaltung der Liturgie geschehen. Darauf aufbauend sollten junge Menschen befähigt werden, das »öffentliche Leben zu verchristlichen«45 und möglichst viele Jugendliche und junge Erwachsene für Jesus Christus, seine Botschaft und die katholische Kirche zu begeistern. Dieser missionarische Impuls stand ganz in der Tradition der »Katholischen Aktion«46 und übte in den ersten Nachkriegsjahren eine große Anziehungskraft auf junge Erwachsene aus.47 Wie dies in der Praxis aussehen konnte, zeigt der folgende Leserinnenbrief einer jungen Katholikin aus dem Bistum Augsburg, die von ihrem Erlebnis auf einer Faschingsfeier berichtet: »Auch wir hatten unseren Faschingsball und sind 43 Ebd. 44 Archiv des Bistums Augsburg, BO 8551, Anweisungen für die katholische Jugendseelsorge und Jugendorganisation in der Diözese, 02. 02. 1946. 45 Schwab: Kirche (Anm. 25), S. 48. 46 Die »Katholische Aktion« wurde 1922 von Papst Pius XI. initiiert. Sie sollte durch das gesellschaftlich-politische Handeln engagierter Katholik*innen der Verchristlichung der Gesellschaft und aller weltlichen Lebensbereiche dienen, konnte sich in Deutschland gegen das starke Verbandswesen nie richtig durchsetzen. Franz Xaver Bischof: Die Konzilien des abendländischen Mittelalters und der Neuzeit, in: ders., Thomas Bremer, Giancarlo Collet, Alfons Fürst (Hg.): Einführung in die Geschichte des Christentums, Freiburg 2012, S. 512–568, hier S. 551. 47 Matthias Schulze: Bund oder Schar – Verband oder Pfarrjugend? Katholische Jugendarbeit im Erzbistum Paderborn nach 1945 (Paderborner Studien zur Jugendarbeit 1), Paderborn 2001, S. 91ff.

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zum Tanzen gegangen. Jedesmal, wenn ich zum Tanzen ging, steckte ich bewußt das Silberkreuz an meinen Rock, nicht aus Propaganda, nein – es gab mir hier die Richtung und sagte all denen, die mit mir an diesem Abend beisammen waren, mit wem sie es zu tun hatten.«48 Die Verfasserin des Leserinnenbriefs unterstrich mit ihren Äußerungen den Inhalt des siebten Artikels des »Gesetzes der Führerschaft«. Das Silberkreuz war das Bundeszeichen des BDKJ, jedes Beitrag zahlende Mitglied bekam dieses Kreuz zusätzlich zu seinem Mitgliedsausweis.49 Die Jugendlichen folgten dem, was sie in ihren Jugendgruppen von ihren Leitungen vorgelebt und vermittelt bekamen. Die Menschen, mit denen sie außerhalb der Pfarreien und Verbände zu tun hatten, sollten durch sie erfahren, was es bedeutete in »christlicher Wahrhaftigkeit und Natürlichkeit« zu leben. Die Erfüllung der Gebets-, Diakonats- und Apostolatsdienste, zum Beispiel bei ihren »glaubensschwachen« Geschwistern war für die jungen Katholik*innen selbstverständlich, danach konnten sie ihr Leben ausrichten und gestalten. Dieser Lebensstil erlaubte nur wenige Freiheiten, denn schon die einmal nicht erfüllte Sonntagspflicht konnte als Sünde ausgelegt werden. Das ist eine mögliche Erklärung dafür, warum zumindest in den überlieferten kirchlichen Quellen fast ausschließlich von Menschen zu lesen ist, die sich vollständig diesem Lebensstil verschrieben hatten. Das System, in dem die jungen Katholik*innen lebten, ließ nicht zu, dass man von ihm abwich oder es hinterfragte. Interessant wäre es sicherlich, die persönlichen Zeugnisse derjenigen hinzuzuziehen, die aus den katholischen Jugendverbänden oder sogar aus der katholischen Kirche ausgetreten waren und vermutlich eine andere Perspektive auf die katholische Jugendverbandsarbeit und ihre Inhalte hatten. Kontakte zu verbandlich oder bündisch organisierten Jugendgruppen außerhalb der katholischen Kirche lassen sich für die Jugend im Bistum Augsburg kaum nachweisen. Der Augsburger Bischof Kumpfmüller verdeutlichte Sinn und Zweck des Diakonats der Jugend in einem Schreiben an die mit der Jugendseelsorge betrauten Priester im Februar 1947 und warb gleichsam für diese Art der Jugendarbeit. Dabei ging der Bischof auch auf die Sorgen der Seelsorger ein: »Ein anderer befürchtet, seine Kräfte zu sehr zu verzetteln und in die alte Vereinsmeierei zurückzufallen. Allerdings, die Gruppen werden geführt durch den Seelsorger. Aber […] sie haben auch Laienführung. Das gehört mit zum Wesen einer Gemeinschaft junger Christen […]. Laienführung ist schon notwendig aus rein äußerlichen Gründen, da doch der Seelsorger […] nicht jedes gemeinsame Tun der Gruppe führen und leiten kann. Das Jungführertum muß als Diakonat, d. h. 48 Archiv der Kommission für Zeitgeschichte, D.2.1.02, Rundbrief des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend im Bistum Augsburg 2, 1948. 49 Archiv des Bistums Augsburg, BO 95, Bundesordnung des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend 1948.

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als Dienst zur Hilfe des Seelsorgers gesehen werden. Es hat in der gegenwärtigen Priesternot erhöhte Bedeutung. Suchen Sie sich also geeignete junge Leute als Helfer aus, schicken sie diese in Schulungskurse und lassen sie sich von ihnen helfen.«50 Kumpfmüller verstand das Diakonat der Jugend primär als Unterstützung für die Seelsorger. Es ging ihm nicht darum, den Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine Möglichkeit der Mitgestaltung und Mitbestimmung zu geben, sondern darum seine Priester zu entlasten. Um in den Gruppen vor Ort Leitungsverantwortung übernehmen zu dürfen, musste man vom zuständigen Seelsorger dafür ausgewählt zu werden. Dabei sollten Kumpfmüller zufolge vor allem die aus der Kriegsgefangenschaft zurückkommenden jungen Männer in die Pflicht genommen werden: »Sagen wir den Heimgekehrten, was wir uns von ihnen für die Jugend des Dorfes erwarten, erinnern sie an ihr Versprechen, das sie einst […] gegeben haben.«51 Im weiteren Verlauf seines Briefes ging Kumpfmüller noch einmal auf die grundsätzliche Bedeutung der Jugendarbeit ein: »Gewiß, es geht hier um einen Teil der Jugendseelsorge, der besonders schwierig ist. Es ist aber von entscheidender Bedeutung für die Erhaltung einer Jugend der Kirche, ja eines Christentums in unserem deutschen Volke. […] Von allen Seiten wird die Jugend heute umworben. […] Falsche Propheten treten auf und weisen der Jugend einen Weg, der Weg von Christus und von der Kirche führt. […] Es gibt nur einen Weg für die deutsche Jugend: Christus. Ohne Christus keine Ordnung, ohne Christus keine Besserung, ohne Christus kein Aufstieg!«52 Viele Seelsorger erlebten die Jugendarbeit wohl als besonders herausfordernd, so dass der Bischof sie an die Gefahren für die Jugend erinnerte, die von »falschen Propheten« ausgingen und ausschließlich in der Hinwendung zur katholischen Kirche und zu Christus abgewendet werden könnten.

Das Jahr der Entscheidung und die Gründung des BDKJ auf bundesdeutscher Ebene Das Jahr 1947 wurde in der katholischen Jugendarbeit zum »Jahr der Entscheidung«:53 In mehreren Schritten gründete sich der »Bund der Deutschen Katholischen Jugend«, kurz BDKJ, auf Bundesebene – damit war die Organisations50 Dokumentationsstelle für kirchliche Jugendarbeit, NL Hastenteufel IV 21, Hirtenbrief des Bischofs von Augsburg, Augsburg 26. 02. 1947. 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Schwab: Kirche (Anm. 25), S. 33.

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struktur der katholischen Jugendarbeit fixiert. Dem vorausgegangen waren viele Absprachen und Diskussionen innerhalb der deutschen Bischöfe, mit den von ihnen eingesetzten Jugendseelsorgern und den priesterlichen Vertretern der Jugendverbände. Letztere hatten trotz des gegenteiligen Wunsches verschiedener Bischöfe ihre Arbeit mit großem Engagement wieder aufgenommen und waren nicht gewillt, ihre Selbstständigkeit aufzugeben. Mit dem BDKJ wurde letztlich ein Kompromiss zwischen der zentralen Organisation der Jugendseelsorge durch die Amtskirche und der eigenständigen Jugendarbeit in den Jugendverbänden geschaffen.54 In Zukunft sollte die katholische Jugend in einem »Stamm« organisiert sein, der in »Frauenjugend« und »Mannesjugend« unterteilt war und die Jugendlichen in den städtischen und ländlichen Pfarreien umfasste. Zusätzlich wurden die neugegründeten und wiedererstarkten Jugendverbände und -bünde als »Gliederungen« in den BDKJ aufgenommen und stellten bei seiner Gründung bundesweit etwa 10 % der Mitglieder.55 Die erste Bundesordnung des BDKJ trat 1948 in Kraft und betonte die ganzheitliche katholische Bildung junger Menschen und das Verständnis der Jugendgruppen als »Lebensgemeinschaft frohen Jugendlebens«, »Erziehungsgemeinschaft als Lebensschule«, »Notgemeinschaft zur Wende der Not« und »Tatgemeinschaft der tätigen Liebe und junger Aktion«. Darüber hinaus stellte sich der Bund in den Dienst der »Katholischen Aktion« und unterstrich die Mitarbeit an den »grossen allgemeinen Aufgaben für Recht und Leben der Jugend, an der Schaffung einer neuen sozialen Ordnung und am Frieden der Völker.«56 Die Bundesordnung legte außerdem die Organisationsstruktur des BDKJ von der Bundesebene bis zur Pfarrebene fest. Auf Bistumsebene wurde beispielsweise festgelegt, dass der Diözesanführung ein Diözesanjugendführer, eine Diözesanjugendführerin und Diözesanjugendseelsorger angehören sollten (§43). Die beiden ersteren sollten von den Mitgliedern der Diözesankonferenzen auf zwei Jahre gewählt werden (§46). Daneben stand der Diözesanführung ein sogenannter »Führerrat« zur Seite, der vierteljährlich tagen sollte und dem neben der Diözesanführung auch die Laienführer und Laienführerinnen der Gliederungen sowie deren geistliche Führer angehörten, außerdem Vertreter*innen der Dekanatsjugendführer, Dekanatsjugendführerinnen und Dekanatsjugendseelsorger sowie Fachreferent*innen (§45). Aufgaben dieses Führerrats waren die Beratung und Beschlussfassung über gemeinsame Richtlinien und Aktivitäten der Jugendarbeit in der Diözese, 54 Schulze: Bund (Anm. 47), S. 209ff. 55 Schwab: Kirche (Anm. 25), S. 34. 56 Archiv des Bistums Augsburg, BO 95, Bundesordnung des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend 1948.

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die Durchführung der diözesanen Aufgaben der »Katholischen Aktion« sowie der Aufgaben, die ihm durch die Bundesebene des BDKJ übertragen worden waren (§47).57 Die Umsetzung der neuen Organisationsform des BDKJ sowie die inhaltlichen Schwerpunktsetzung gestaltete sich von Bistum zu Bistum ein wenig anders, beispielsweise durch unterschiedliche personelle Kapazitäten, schwankendes bischöfliches Engagement und variierendes Entgegenkommen der Besatzungsmächte. Auch in der Sowjetischen Besatzungszone gab es katholische Jugendgruppen, der BDKJ konnte sich dort aber nicht etablieren.58 Eine Sonderform innerhalb des BDKJ entwickelte sich im Erzbistum Paderborn mit der bündisch orientierten Gemeinschaftsbildung »Schar«.59 Ein Vergleich der Jugendarbeit in den Bistümern ist nur oberflächlich möglich, da von 27 Bistümern bislang nur ein Drittel überhaupt bearbeitet wurde.60 Der Fokus lag dabei nie auf der Perspektive der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, sondern auf der organisationsgeschichtlichen Entwicklung der einzelnen Verbände. Eine gesamtdeutsche Studie zur historischen Entwicklung des BDKJ stellt ein großes Forschungsdesiderat dar.

Spirituelle Bildung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen Im Bistum Augsburg wurde die neue Bundesordnung des BDKJ bereits nach wenigen Monate umgesetzt. In der jährlichen Statistik des Bischöflichen Jugendseelsorgeamtes wurden zum 1. Januar 1949 neben 24.926 Mitgliedern des Stammes auch insgesamt 3.391 Mitglieder der Gliederungen erfasst, der Anteil der Mitglieder in den Gliederungen lag also etwas über dem Bundesdurchschnitt von 10 %.61 Die erste Arbeitstagung der Dekanatsführerschaft und der Führerschaft der Gliederungen im BDKJ Augsburg fand Anfang Januar 1949 im Benediktinerkloster St. Ottilien statt. Dort übergab Ludwig Wolker die erste Bundesordnung des BDKJ persönlich und in offiziellem Auftrag an die anwesenden Vertreter*innen der Dekanate und Gliederungen und referierte über Ziel und Aufgabe des BDKJ. 57 Ebd. 58 Arndt Macheledt: Zwischen Überwinterung und Protest – Katholische Jugend in der DDR, in: Meike Sophia Baader, Alfons Kenkmann (Hg.): Jugend im Kalten Krieg. Zwischen Vereinnahmung, Interessenvertretung und Eigensinn (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 16|2021), Göttingen 2021, S. 201–214. 59 Schulze: Bund (Anm. 47). 60 Es gibt Studien, Sammelbände oder Zeitzeugenberichte für folgende (Erz-)Bistümer: Aachen, Bamberg, Berlin, Mainz, München und Freising, Münster, Regensburg und Würzburg. 61 Archiv des Bistums Augsburg, BO 8551, Jahresstatistik der Diözese Augsburg zum 01. 01. 1949.

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Zu Wort kamen an den fünf Versammlungstagen sowohl Priester als auch junge Erwachsene aus den Leitungen des Stammes und der Gliederungen. So sprach die Diözesanjugendführerin Amalie Lommer über »Fragen der Frauenjugend«, der Diözesanjugendführer Michael Schraudy über »Fragen der Jungmannschaft« und der Diözesanjugendseelsorger Bruno Harder über das Verhältnis der beiden Geschlechter. In der »Aussprache zu Fragen des Bundes und der Gliederungen« kamen den Aufzeichnungen nach ausschließlich die jungen Leitungen der Gliederungen zu Wort, die von ihren Erfahrungen berichteten. Als Fazit wurde festgehalten: »Die Aussprache war getragen von einer großen Ehrlichkeit und Einmütigkeit in der klaren Erkenntnis des gemeinsamen Zieles: Es lebe Christus in deutscher Jugend!«62 Gemeinsam entwickelten die anwesenden Vertreter*innen fünf Ziele für ihre zukünftige Arbeit, welche in der im Anschluss herausgegebenen Zusammenfassung der Arbeitstagung prominent veröffentlicht wurden: »1. Für Jungenschaft und Mädchen monatlich zwei Glaubensstunden des Seelsorgers. 2. Für die Jungmannschaft und die Frauenjugend wenigstens einmal im Monat ein religiöser Vortrag. 3. Monatliche Hinführung der Jugendlichen zum Tisch des Herrn (Monatssonntag). 4. In der Pfarrei bezw. im Dekanat während des Jahres einmal ein Tag der Besinnung und Einkehr. 5. Die Teilnahme der Jugendlichen, in erster Linie der Führerschaft (Jungführer, Jungführerin, Senior, Burschenvereinsvorstand) an Exerzitien.«63

Unschwer zu erkennen ist der Fokus auf die spirituelle Bildung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Die Verantwortung dafür wurde zwischen Laienführern und Laienführerinnen und den Seelsorgern aufgeteilt: »Grundsatz der Führung im Bund ist das Zusammenwirken von Priesterführung und Laienführung. Für die religiös-erzieherische Aufgabe liegt die Führung wesentlich beim Priester unter Mitwirkung des Diakonats der Jugend. Für das Leben und die Aktion des Bundes liegt die Führung wesentlich beim Laienführer unter Mitwirkung und seelsorgerlicher Verantwortung des Priesters.«64 Die Teilnehmenden an der Jahrestagung beschlossen für die Ulrichsfestwoche, die jedes Jahr anlässlich der Feier des Bistumspatrons durchgeführt wurde, ein Treffen der gesamten diözesanen katholischen Jugend. Dabei ließen sie sich von drei Ideen leiten: Der Erfahrung der Gemeinschaft, der Vermittlung des heiligen Ulrich als »pater patriae« und der Repräsentation des BDKJ in der Öffentlichkeit,

62 Archiv des Bistums Augsburg, GV 847, Arbeitstagung der Dekanatsführerschaft und der Führerschaft der Gliederungen im Bund der Deutschen Katholischen Jugend der Diözese Augsburg vom 2. bis 8. Januar 1949. 63 Ebd. 64 Ebd.

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der man zeigen wollte, dass die Mitglieder des Bundes bereit seien, »sich einzusetzen zur Rettung des Christentums in unserem Volke«.65 Als Leitwort wählten sie für ihr Treffen am 3. Juli 1949 »Gott und die Heimat!« Insgesamt kamen an diesem Tag rund 20.000 junge Menschen nach Augsburg.66 Engelbert Schraudy (1918–2010), der Bruder des Diözesanjugendführers, bezeichnete das Diözesantreffen rückblickend als »Gott-Erfahrung«, die von vielen jungen Menschen geteilt und weitergeben wurde.67 Den Höhepunkt des Tages stellte die Pontifikalmesse im Hohen Dom dar. In der Predigt teilte Weihbischof Franz Xaver Eberle (1874–1951) den Jugendlichen seine Sicht auf die aktuelle Politik oder vielleicht auch auf die organisierte Jugendarbeit mit: »Wir brauchen Euch! Rings um uns ist Zerstörung und nur zögernd und zaghaft geht der Aufbau vor sich. Trümmer und Elend umgeben uns. Wir halten nicht viel von den Konferenzen und den Programmen und von den Rezepten der Erneuerung und der Umbildung und der Umerziehung, nichts von dem vielen Reden und Schreiben; uns gilt nur die Tat, die christliche Tat, die katholische Tat der Selbsterneuerung auf dem Unterbau der Gebote Gottes von Sinai und des ehrlichen, felsenfesten Glaubens.«68 Anschließend fuhr er mit empathischen Worten fort: »Da müßt Ihr ansetzen. In die Masse derer, die kalt sind, oder weder kalt noch warm, müßt Ihr jungen Menschen treten mit Eurem heißen Blut, mit Euren fühlsamen Händen, mit Eurem vorwärtsgerichteten Auge, mit Eurem kühnen Wort, mit Eurem festen Tritt, mit Eurer unüberwindlichen und unbesiegbaren katholischen Sicherheit. In der Gewißheit müßt Ihr die Welt aus dem Schlafe rütteln und ihr durch Wort und Beispiel sagen: Christus ist mein Gewinn, oder wie es an Eurem letzten Glaubenstage hieß: Christus gestern, heute und in alle Ewigkeit!«69 Ein großes und schier unerreichbares Vorhaben: Die katholische Jugend sollte der Predigt Eberles zufolge »die ganze Welt« aufrütteln. Es kann davon ausgegangen werden, dass Eberle durch seine Predigt die jugendlichen Teilnehmer*innen des Diözesantreffens nicht nur anspornen, sondern auch in der Nachfolge Jesu Christi bekräftigen wollte. Eberles Predigt kann auch als Bemühen verstanden werden, seinen Zuhörer*innen den benötigten Halt zu geben und ihnen für ihre Aktionen Mut zuzusprechen. Einen Halt, den die Jugendlichen so dringend benötigten in dieser Zeit, in der so vieles immer noch in Trümmern lag, der Aufbau nur mühsam voran ging und viele Wunden 65 Archiv der Kommission für Zeitgeschichte, D.2.1.02, Rundbrief Diözesanführung BDKJ Augsburg, Augsburg 24. 07. 1949. 66 Archiv des Bistums Augsburg, BO 8549, Heft zum Diözesan-Treffen in Augsburg, 1949. 67 Archiv Bischöfliches Jugendamt Augsburg, [Engelbert Schraudy:] Die Situation nach dem Krieg [19]46–[19]49 [ca. 1980]. 68 Archiv des Bistums Augsburg, BO 8549, Heft zum Diözesan-Treffen in Augsburg, 1949. 69 Ebd.

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noch nicht geheilt waren. Wer den nötigen Rückhalt durch seine Gruppe und den zuständigen Priester hatte, konnte in der katholischen Jugend nicht nur die seelsorgerlichen Angebote wahrnehmen, sondern im Stamm oder in einer Gliederung tatsächlich Verantwortung übernehmen und auf diese Weise anderen Jugendlichen selbst wieder ein Halt sein.

Rainer Kolk

»Der gottverdammte Jahrgang«. Jugendliche in literarischen Texten nach 1945

»Neue Gedanken breiten sich über Europa aus«, so Alfred Andersch im Leitartikel zum ersten Heft des »Der Ruf. Unabhängige Blätter für die junge Generation« im August 1946, bekannt als eines der Leitmedien der frühen Publizistik nach dem Ende des nationalsozialistischen Staats und zugleich wesentlicher Teil der Vorgeschichte der vom Mitherausgeber Hans Werner Richter initiierten »Gruppe 47«. Noch einmal Andersch: »Die Träger dieses europäischen Wiedererwachens sind zumeist junge, unbekannte Menschen.« Daran ist zunächst wenig überraschend. Dass »Jugend« adressiert wird, wenn es um die Abrechnung mit obsoleten sozialen und politischen Verhältnissen geht, lässt sich schon nach der Mitte des 18. Jahrhunderts und dann immer wieder lesen, wenn es – zumeist in historischen Umbruchsphasen – um das Subjekt der Zukunftsgestaltung geht. Andersch meint »diese junge deutsche Generation, die Männer und Frauen zwischen 18 und 35 Jahren, getrennt von den Älteren durch ihre Nicht-Verantwortlichkeit für Hitler, von den Jüngeren durch das Front- und Gefangenschaftserlebnis«.1 Andersch selbst ist zu dieser Zeit 32 Jahre alt, der Herausgeber Hans Werner Richter 38 wie auch der Beiträger Walter Kolbenhoff, dessen Roman ich noch anspreche. Konsequent betont Andersch deshalb die »Gemeinsamkeit der Haltung und des Erlebens«. Ich erläutere im Folgenden zunächst die angesprochene Traditionslinie und stelle dann literarische Texte vor, die in den Jahren nach 1945 jugendliche Protagonisten zeigen: zwischen 1932 und 1946, im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, in Kampfhandlungen des Weltkriegs und in der Umbruchssituation nach Kriegsende.

1 Alfred Andersch: Das junge Europa formt sein Gesicht, in: Der Ruf. Unabhängige Blätter für die junge Generation. Eine Auswahl. Vorwort von Hans Werner Richter, hg. u. eingel. v. Hans A. Neunzig, München 1976, S. 19–25, die Zitate S. 19, S. 24, das folgende S. 22.

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Zur Geschichte von »Jugend« Rousseaus »Emile« markiert 1762 eine neue Stufe des Redens über »Jugend« und gilt damit in Geschichten reformpädagogischen Denkens als Begründer dessen, was in westlichen Gesellschaften als Jugendphase in der Entwicklung von Menschen selbstverständlich geworden ist. Sein Protagonist wird nicht von den Eltern erzogen, denn sie gelten als Agenten gesellschaftlicher Mängel und Verfallserscheinungen. Ein Mentor soll es richten, der als Anwalt des Zöglings nicht gesellschaftliche Imperative durchsetzt, sondern Emils Reifung als einmaligen Prozess versteht, den es verständnisvoll zu begleiten gilt. »Vom Kinde aus« wird am Beginn des 20. Jahrhunderts die schwedische Reformpädagogin Ellen Key Erziehung begreifen – nicht von den Anforderungen der auf Gemeinsinn, sozialen Aufstieg oder wirtschaftlichen Erfolg ausgerichteten Institutionen einer bürgerlichen Gesellschaft aus. Es geht um die Eigenständigkeit der Jugendphase, die dann von prominenten Entwicklungspsychologen wie Erik Erikson nach der Mitte des 20. Jahrhunderts als Moratorium konzipiert wird und für die er Rücksicht auf Prozesse der Selbstfindung einfordert.2 Von besonderer Bedeutung für unseren Zusammenhang ist Rousseaus Verbindung eines Erziehungskonzepts mit ausgreifender Kulturkritik, die sich polemisch den Verderbnissen der Zeit stellt, dem Konkurrenzdenken, der Arbeitsteiligkeit, dem Materialismus, dem Verfall der Moral und der Entfremdung von der Natur, die doch zunehmend beherrscht wird – ein Motiv noch der »Dialektik der Aufklärung« Horkheimers und Adornos, die im Jahr nach Anderschs Leitartikel erscheint. Dieser Konnex findet sich in zahllosen Debatten über die Jugend, die in modernen Gesellschaften, die sich als dynamische, auf Zukunft ausgerichtete verstehen, unvermeidlich geführt werden müssen: über die Einbindung der kommenden Generationen, die Vermittlung kultureller Techniken, Wertvorstellungen, Traditions- und Wissensbestände, auch die Einschätzung der verschiedenen Lebensphasen des Menschen. Denn »Jugend« ist eine kulturelle Konstruktion, deren Rechte, Pflichten, Grenzen (zum Kind, zum Erwachsenen) nicht von Medizinern allein definiert werden. Oder von einer im 20. Jahrhundert von der Philosophie emanzipierten Erziehungswissenschaft und ihren professionalisierten Experten im zunehmend differenzierten Bildungssystem. Nicht zufällig rekurriert Andersch auf »Haltung« und »Erleben«: »Jugend«/»junge Generation« meint eine Lebensform, einen Habitus: auf Zukunft ausgerichtet, dynamisch, mit einer Präferenz für den Wandel und das Neue, mit der Absage an das Alte und die Alten, Chance und Risiko zugleich. Und diese 2 Vgl. als Übersicht bereits Rainer Kolk: Literatur und ›Jugend‹ um 1900. Eine Skizze, in: Wolfgang Braungart (Hg.): Stefan George und die Jugendbewegung, Stuttgart 2018, S. 11–26; dort auch mit Hinweisen auf weitere Forschungsliteratur.

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Ambivalenz eben, so meine These, macht den jugendlichen Lebenslauf auch für die Literatur interessant, gerade auch in seinen Gefährdungen; in den 1770er Jahren in den Texten des deutschen Sturm und Drang durch ständische Regulierungen, patriarchalische Konventionen und sexuelle Tabus. Goethes »Die Leiden des jungen Werthers« mündet in den Suizid des Titelhelden, der für die unbedingte Liebe keinen gesellschaftlichen Ort findet, geradezu ein Tabu für die Aufklärungspädagogik, die Kindheit und Jugend als möglichst schnell zu überwindende Stadien der Entwicklung zum nützlichen Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft ansieht. Diese Semantik des modernen Jugendkonzepts, insbesondere sein futurischer Zug, macht es attraktiv für kultur- und geschichtsphilosophische Entwürfe, wie sie in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts Konjunktur haben. Insbesondere bei den Autoren des »Jungen Deutschland«; Heinrich Heine ist der künstlerisch überragende Prominente unter den liberalen und frühsozialistischen Autoren der Zeit. Über die gegenwärtige »Krisis des Weltprozesses« befindet sein Freund Heinrich Laube: »So ist es denn gekommen, daß die jungen Tage in keine Gemeinschaft treten mit den alten, stumpf gewordenen Männern. Diese haben ihre Schritte nicht also beflügeln können, sie sind zurückgeblieben, und die Fülle von Begebenheiten und Gesetzen der letzten Jahre ruht lediglich auf den Schultern der historischen Jugend.«3 Beschleunigungserfahrungen, wie sie bereits um 1800 formuliert werden, sind hier mit der Leitunterscheidung alt/jung relationiert; Akzeleration wird dann in der Jugendpsychologie des 20. Jahrhunderts der Fachterminus für die Reifungsbeschleunigung des zweiten Lebensjahrzehnts, übrigens schon seit dem frühen 19. Jahrhundert beobachtet.4 Und die Gegenwartsdiagnose wird häufig auf den Begriff der Krise gebracht, der im 20. Jahrhundert dann in entwicklungspsychologischen Konzepten geradezu selbstverständlich ist: Das Jugendalter wird als eine Lebenszeit der Krise,5 der Unsicherheit, der Orientierungsprobleme verstanden, als Schwellenphase. Um 1900 erzeugt diese Konzeption eine literarische Konjunktur. Im Genre der Schulgeschichte wird vom Leiden überwiegend männlicher Jugendlicher in den Institutionen des Bildungssystems berichtet. Bis heute prominente Texte wie Frank Wedekinds »Frühlings Erwachen«, Thomas Manns »Buddenbrooks« oder Hermann Hesses »Unterm Rad« zeigen jugendliche Protagonisten im Konflikt mit unverständigen Eltern und unnachgiebigen Erziehern, die sich als Vertreter wilhelminischen Obrigkeitsdenkens verstehen. Das »Recht der Jugend auf eine 3 Die neue Kritik, in: Jost Hermand (Hg.): Das Junge Deutschland. Texte und Dokumente. Stuttgart 1974, S. 102–107, S. 106. Vgl. seinen Roman »Das junge Europa« (1833–37), der das Lebensgefühl des Fortgeschrittenen formuliert. 4 Vgl. Michael Mitterauer: Sozialgeschichte der Jugend, Frankfurt a. M. 1986, S. 10ff. 5 Vgl. Erik Erikson: Identity, Youth and Crisis, New York 1968.

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Jugend«, wie Theodor Heuss formulieren wird, ist nicht existent. Es verwundert nicht, dass die Rede über Jugend erneut Stichworte für kulturkritische Weiterungen liefert. Die an diesen Lebensläufen exemplifizierte Misere des Bildungssystems, so das Argument, verweist auf die Krise staatlicher Institutionen und ihrer Leitwerte insgesamt; krank werden die sensiblen Jugendlichen unausweichlich, weil ihnen deformierte Lebensverhältnisse zugemutet werden, die geschilderten Krisen der Individuen sind solche der abendländischen Kultur. Geradezu als schädliche Fehlentwicklung erscheinen solche reformpädagogisch grundierten Maximen in nationalsozialistischen Erziehungskonzeptionen, denen es nicht um die Einmaligkeit der individuellen Entwicklung zu tun ist, sondern um ihre Disziplinierung. Staatliche Bildungsinstitutionen und die Jugendorganisationen der NSDAP wollen einen soldatischen Habitus generieren, der sich dem völkischen Daseinskampf einfügen lässt, zumal den militärischen Verbänden, die ab 1939 zum Einsatz kommen. Der auch durch die Propagandaverfilmung bekannteste jugendliterarische Text der 1930er Jahre, Karl Aloys Schenzingers »Hitlerjunge Quex« (1932), entspricht dem, wenn seinem Protagonisten, dem Arbeitersohn Heini Völker, besonders die militärische Formierung der Hitler-Jugend mit ihren Aufmärschen, Sonnwendfeiern und paramilitärischen Geländespielen imponiert – im Gegensatz zu den Pöbeleien und sexuellen Ausschweifungen sozialdemokratisch-kommunistischer Jugendgruppen.6 Das von Reichsjugendführer Baldur von Schirach getextete Lied »Vorwärts, vorwärts«, bekannter unter der Verszeile »Uns’re Fahne flattert uns voran«, benennt im Film 1933 dann diese Bewegung als jugendliche Selbstdefinition. Das im Liedtext aufgerufene »Ziel« ist nicht inhaltlich definiert, sondern liegt in einer nicht näher bestimmten »Zukunft« und wird personalisiert: »Wir marschieren für Hitler /…/ Führer, wir gehören dir«.7 Entsprechend deutlich fällt im Text die Absage des Erzählers an Vorstellungen individueller Besonderheit aus. Konträr ist Heini Völker fasziniert von der Uniformität im HJ-Zeltlager: »Einer sah aus wie der andere.«8

6 Vgl. ausführlich Rainer Kolk: »Dieses junge siegreiche Deutschland.« Traditionen und Aspekte des nationalsozialistischen Jugendkonzepts, in: Der Deutschunterricht, 2003, H. 4, S. 27–36. 7 Der Liedtext wird zitiert nach: https://neustadt-und-nationalsozialismus.uni-mainz.de/glossa r/lied-vorw%C3%A4rts-vorw%C3%A4rts-1933; [12. 02. 2022]. 8 Karl Aloys Schenzinger: Der Hitlerjunge Quex, Berlin 1932, S. 264.

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»Junge Generation«? Jugend in literarischen Texten nach 1945 Auch wenn es die »Stunde Null« in der radikalen Form, die von der Formulierung nahelegt wird, im Literatursystem nie gegeben hat:9 Dass dort in der Umbruchssituation nach dem Ende des Weltkriegs über Jugendliche und das Verhältnis der Generationen kontrovers diskutiert wird, erscheint, auch im Blick auf das semantische Potenzial des modernen Jugend-Begriffs, geradezu selbstverständlich. Der Historiker Benjamin Möckel hat für den Zeitraum 1945 bis 1949 insgesamt 3174 Publikationen zur »Jugend« ermittelt und ihre zentrale Bedeutung in den publizistischen Debatten betont.10 Auch literarische Texte dieser Jahre sind beteiligt, wobei ihr erzählerischer Schwerpunkt nicht ausschließlich auf der Schilderung der Nachkriegssituation mit fragmentierten Familien, Wohnungs- und Nahrungsknappheit und fehlenden Ausbildungs- und Verdienstmöglichkeiten liegt, die publizistisch häufig thematisiert werden. Jugendliche Protagonisten werden literarisch in besonderem Maße im Rückblick auf Erfahrungen im nationalsozialistischen Staat und in der Endphase des Weltkriegs gezeigt, wie folgende Beispiele belegen sollen.

Jugendliche im nationalsozialistischen Krieg Einen herausragenden Text legt 1947 Walter Kolbenhoff vor: »Von unser(e)m Fleisch und Blut« erzählt von einem siebzehnjährigen Hitler-Jungen, der als »Werwolf«11 in den Ruinen einer deutschen Stadt im Rheinland seinem Kampfauftrag auch am Kriegsende noch folgt. Von der nationalsozialistischen Propaganda geschickt inszeniert, galten Werwolf-Gruppen in der deutschen Öffentlichkeit wie der alliierten Feindaufklärung als Speerspitze der fanatischen Endsiegmentalität;12 Erich Loest hat im Nachwort zur Neuausgabe seines Romans »Jungen die übrigblieben«, zuerst 1949 veröffentlicht, zugegeben, bewusst eigene Werwolf-Erfahrungen verschwiegen zu haben, um Gefängnis oder Schlimmerem zu entgehen.13 Kolbenhoffs Text schildert nur eine Nacht; der Einzelkämpfer tötet 9 Vgl. zum Literaturbetrieb Christian Adam: Der Traum vom Jahre Null. Autoren, Bestseller, Leser: Die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945, Berlin 2016, S. 71 zu Verlagen: »So wenig Zäsur war nie«. 10 Vgl. Benjamin Möckel: Erfahrungsbruch und Generationsbehauptung. Die ›Kriegsjugendgeneration‹ in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften, Göttingen 2014, S. 158. 11 Der Protagonist beschreibt sich als »Wolf«: »Ich bin ein reißender Wolf und ich töte, weil der Befehl lautet: Töte!«; Walter Kolbenhoff: Von unserem Fleisch und Blut. Roman. Mit einem Nachwort von Gerhard Hay, Frankfurt a. M. 1983, S. 20. 12 Vgl. Sven Keller: Volksgemeinschaft am Ende. Gesellschaft und Gewalt 1944/45, München 2013, S. 168ff. 13 Vgl. Erich Loest: Jungen die übrigblieben, München 2006, S. 376 im Nachwort.

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einen des Verrats bezichtigten Kameraden und einen alten Mann, der seinen Unterschlupf nicht als Versteck preisgeben will; jeweils eine Darstellung übrigens der situativen Radikalisierung von Gewalt, wie sie in den letzten zwei Jahrzehnten in den Fokus der Gewaltsoziologie gerückt sind.14 Andere Figuren zeigen sich, im Umfang erheblich knapper, in typischen Situationen der Nachkriegszeit, die uns auch literarisch immer wieder begegnen: der Heimkehrer, der auf die untreue Frau trifft; das verhärmte Ehepaar und das junge Liebespaar in Ruinen; desillusionierte Wehrmachtssoldaten und GIs, die ihre Heimat vermissen. Der zentrale Fokus auf dem fanatisierten Hitlerjungen wird, und das unterscheidet Kolbenhoffs Roman klar von thematisch benachbarten Texten, in langen Passagen innerer Monologe, Bewusstseinsfetzen mit Zitaten aus völkischer Kriegspropaganda und Rückblenden auf Kindheit und Schulzeit deutlich.15 Die psychische Disposition ist detailliert beschrieben: Indoktrination durch nationalsozialistische Parolen, Erfahrungen der Niederlage in Kindheit und früher Jugend, die in der Hitler-Jugend als Ersatzfamilie kompensiert werden können, schließlich die Ablehnung des Hitler-Verehrers durch die Eltern, die nur den widerwillig kämpfenden Bruder vermissen.16 »Ich bin frei, denn ich habe meine eigenen Gesetze!«17 und: »Ich bin hart geworden, hart wie Stahl«, so die Selbsteinschätzung des Protagonisten. Der Text bietet keinen versöhnlichen Ausblick, keinerlei Zukunftsperspektive. Vielmehr steigert sich in der Bedrohung durch feindliche Soldaten bei gleichzeitiger Zurückweisung durch die Mutter das Selbstverständnis des Jugendlichen in einer geradezu selbstmörderischen Form zum Bewusstsein, einer kleinen Elite wahrer Kämpfer anzugehören, »einer der Auserwählten«18 zu sein: »Ich darf überhaupt niemanden mehr sehen, ich muss sie auslöschen in mir, ausbrennen, nichts darf mich mehr an sie erinnern. Ich muß mich ganz lösen von allem«, so über Familie und frühere Freunde: »Hier bin ich, Herr Hauptmann, dachte er, hier stehe ich in der zerstörten, stinkenden Fabrik, verfügen Sie über mich, ich bin frei und werde alles tun, was man mir befiehlt. Ich habe keine Bindungen mehr, ich bin allein. Ich bin bereit, mich zu opfern. Kein’ schöneren Tod gibt’s in

14 Vgl. das Themenheft »Im Brennglas der Situation. Neue Ansätze in der Gewaltsoziologie« der Zeitschrift Mittelweg, 2019, Nr. 28/1–2. 15 Vgl. als Gesamtinterpretation und mit Hinweisen zu erzählerischen Verfahren und zur Rezeption Helmut Peitsch: Vom ›Realismus‹ eines Kriegsromans – ›unmittelbar‹, ›magisch‹ oder ›tendenziös‹? Walter Kolbenhoffs: »Von unserem Fleisch und Blut« (1947), in: Hans Wagener (Hg.): Von Böll bis Buchheim. Deutsche Kriegsprosa nach 1945, Amsterdam 1997, S. 63–90. 16 Vgl. Werner Brand: Der Schriftsteller als Anwalt der Armen und Unterdrückten. Zu Leben und Werk Walter Kolbenhoffs, Frankfurt a. M. u. a. 1991, S. 110–137. 17 Kolbenhoff: Fleisch (Anm. 11), S. 185, das folgende Zitat S. 162. 18 Ebd., S. 98.

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der Welt, als wie vorm Feind erschlagen – Ja!«19 Gegen die »Alten«20 radikalisieren sich Angst und Einsamkeit, der angesprochene Offizier ist längst gefallen, sein Ethos und sein Befehl bleiben gleichsam als innere Stimme gültig. Der Roman schließt: »Herr Hauptmann, ich werde Ihre Befehle ausführen ohne Rücksicht auf Verluste«.21 »Er hat dieses Buch als Neunzehnjähriger geschrieben«, so teilt der Rowohlt Verlag 1948 über einen Autor mit: »Was entstand, ist noch keine Literatur, es ist weder Roman noch Reportage. Aber es ist ein Dokument.«22 Anders als bei Kolbenhoff, der schon im Untertitel seines Textes, dann aber besonders durch die differenzierten Erzählverfahren bei aller Nüchternheit der Sprache auch einen ästhetischen Anspruch geltend macht, bleibt der für Dieter Meichsners »Versucht’s noch mal mit uns« sekundär, betont ist die Authentizität des Mitgeteilten.23 Erneut wird von einem siebzehnjährigen Hitlerjungen (»Peter«) berichtet, der im März 1945 als Angehöriger einer von SS-Leuten geführten WerwolfGruppe hinter der Ostfront an Sabotageunternehmen teilnimmt, allerdings nicht aus unbeirrbarem Glauben an den Endsieg: » Wir wollten hinaus, denn wir hatten Angst vor dem Ende, und wir wollten, es käme bald.«24 Der Untergrundkampf, der auch die Ermordung systemkritischer Zivilisten zur Abschreckung umfasst, bleibt, so registriert der Ich-Erzähler, nicht ohne Folgen: »Wir hatten uns an vieles gewöhnen müssen. Mein Herz hatte sich verhärtet, wir waren brutal geworden. Ich schauderte nicht mehr zurück beim Anblick hingemordeter Frauen oder eingeschlagener Schädel.«25 Nach der Entdeckung durch die Rote Armee schlägt sich der Ich-Erzähler zu den eigenen Truppen an der Oder durch und gelangt schließlich zu seiner Banndienststelle in Berlin zurück: »In den fünfhundertundvier Stunden war ich furchtbar alt geworden«,26 so sein Fazit: »Für 19 Ebd., S. 196f. Wohl kein korrektes Zitat; vgl. dagegen https://www.lieder.net/get_text.html?Te xtId=22840 als »Schlachtlied« von Wilhelm Göttling (Text) und Friedrich Silcher (Melodie), 1853 [12. 02. 2022]. Im Original heißt es: »Kein schönrer Tod ist in der Welt als wer vor’m Feind erschlagen…«. 20 Kolbenhoff: Fleisch (Anm. 11), S. 213: »Die Alten sind dumm, sie begreifen nichts.« 21 Ebd., S. 215. Dieser mitleidlose Fanatismus klingt auch kurz an in Bruno Hampels Kurzgeschichte »Eisenbahn fahren«, in der »der SS-Posten, ein aufgeschossener Siebzehnjähriger mit bartlosem Knabengesicht, von Zeit zu Zeit immer wieder« mit seiner Schaufel auf von ihm bewachte arbeitende »Russen« eindrischt. Vgl. Bruno Hampel: Früh um fünf im Treppenlicht. Erzählungen. Mit 20 Zeichnungen von Paul Rosié, Berlin 1950, 63–70, hier S. 66ff. 22 Dieter Meichsner: Versucht’s noch mal mit uns, Hamburg u. a. 1948, S. 207. 23 Authentizität als Schreibeffekt findet sich in vielen Texten mit jugendlichen Protagonisten, deren Lebenslauf nicht nur literarisch interessant, sondern darüber hinaus lebenspraktisch relevant sein kann; vgl. Christian Klein: Kultbücher. Theoretische Zugänge und exemplarische Analysen, Göttingen 2014, S. 46ff. 24 Meichsner: Versucht’s (Anm. 22), S. 20. 25 Ebd., S. 40. 26 Ebd., S. 88, das folgende Zitat S. 90.

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uns Junge war es jetzt aus.« Es beginnen erneut Vorbereitungen für WerwolfAktionen im Straßenkampf, von den Hitlerjungen selbst organisiert. Diese Gruppe mit ihren Freundschaftsbeziehungen ist primärer Bezugspunkt für den Protagonisten.27 In Ruheperioden finden sich Reflexionen: »Wir haben nicht mehr von Erinnerungen gesprochen, aber sie waren um uns. Das alte Leben war da, eine sorglose, freie Jugend, wie wir sie nie erlebt hatten, für ein paar Stunden war sie da.«28 Verdeckt werden sie durch illusionslose Diagnosen (»›Unsere Welt ist zusammengebrochen‹«.29) – bis nach Konfrontationen mit Parteibonzen, nur HJ-Bann-auf ihren eigenen Vorteil bedachten Zivilisten und feindlichen Soldaten das Kriegsende erreicht und Schulunterricht möglich wird: »Da dachte ich, ich gehörte wieder dazu und war endlich wieder ein Junge, nichts anderes mehr.«30

Sozialisation im nationalsozialistischen Staat Schenzingers »Hitlerjunge Quex« erhält 1948 sein Gegenstück: »Hitlerjunge Burscheidt. Die Tragödie einer Jugend unserer Tage« von Karl Grünberg, der bereits 1928 mit »Brennende Ruhr. Roman aus der Zeit des Kapp-Putsches und des Ruhraufstands« einen wichtigen Zeitroman vorgelegt hatte. Mit sarkastischen Untertönen, in denen die von großen Teilen der deutschen Bevölkerung begeistert nachgesprochenen Parolen Goebbels und Schirachs mit der historischen Entwicklung konfrontiert werden, führt Grünberg seine Titelfigur von der zunächst nur widerwillig, dann zunehmend enthusiastisch betriebenen Karriere in der Hitler-Jugend an die Ostfront, benennt, ähnlich Kolbenhoff, die psychischen Mechanismen der Anpassung und Selbstrechtfertigung,31 die auch das Novemberpogrom 1938 als notwendige Aktion akzeptieren.32 Aber auch die militärischen Auszeichnungen können schließlich die zunehmenden Zweifel am Sinn des Krieges und der von der Wehrmacht durchgesetzten Herrenmenschenmentalität nicht verdecken. Ihre Folgen werden außergewöhnlich klar benannt: »Massenerschießungen gefangener sowjetischer Offiziere, Kommissare und der Soldaten jüdischen und tartarischen Typs«, Lager sowjetischer Kriegs27 Vgl. Ursula Heukenkamp: Der Zweite Weltkrieg in der Prosa der Nachkriegsjahre (1945– 1960), in: dies. (Hg.): Deutsche Erinnerung. Berliner Beiträge zur Prosa der Nachkriegsjahre (1945–1960), Berlin 2000, S. 295–372, hier: S. 312f. 28 Meichsner: Versucht’s (Anm. 22), S. 119. 29 Ebd., S. 201. 30 Ebd., S. 204. 31 Vgl. Karl Grünberg: Hitlerjunge Burscheidt. Die Tragödie einer Jugend unserer Tage, Rudolstadt 1948, S. 46, wo »sein ihm bereits in Fleisch und Blut übergegangenes Vokabular« erwähnt ist. 32 Ebd., S. 41.

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gefangener, »wo die Menschen, vor Durst und Hunger wahnsinnig geworden, sich gegenseitig selber mit den Zähnen anfielen«.33 Die Fortsetzung des Kampfes wird von Burscheidt mit dem Schutz der deutschen Zivilbevölkerung vor der wahrscheinlichen Vergeltung begründet, ein häufiges Motiv in literarischen Texten und Autobiographien von Kriegsteilnehmern. Der Text schließt mit einer klar definierten Zukunftsperspektive: Konrad Burscheidt beteiligt sich nach kurzer Kriegsgefangenschaft am Wiederaufbau Berlins, erkennt das Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen, bekommt Kontakte zu Opfern des HitlerRegimes und wird sich als Lehrer für die Vermittlung von »Humanität« an die »völlig demoralisierte Jugend« einsetzen: »für den Wiedereintritt unseres Volkes in den Kreis der gesitteten Nationen«.34

Übergänge Solche Hoffnungen sind in Susanne Kerckhoffs »Die verlorenen Stürme«, 1947 vorgelegt, verabschiedet. Der Roman steht bedingt in der Tradition der Adoleszenzromane des frühen 20. Jahrhunderts und behandelt innerhalb eines breiteren Figurenspektrums eine sozialistische Schülergruppe in Berlin mit der siebzehnjährigen Margarete Kartens, im Text zumeist in der Kurzform Marete genannt. Sie ist die Tochter eines etablierten Schriftstellers, der sich über den politischen Tagesereignissen stehend sieht. Er »verdämmerte seine Phantasie in einem Traumreich«, kommentiert der Erzähler: »Wolfgang Kartens war ein Gefangener in seiner eigenen Schöpfung, die ihn übersehen ließ, was in der Schöpfung Gottes vor sich ging.«.35 Die Figur repräsentiert ein Bildungsbürgertum, das sich in der polarisierten Situation am Ende der Weimarer Republik politisch naiv zeigt. Kerckhoffs Roman bildet für den Zeitraum vom Herbst 1932 bis zum Frühjahr 1933 markante Positionen des politischen Spektrums ab, den Antisemitismus von Schülern und Lehrern, die Agitation völkischer Organisationen in den Schulen, von demokratischen Kräften hilflos geduldet,36 schließlich erste Maßnahmen zu deren ›Gleichschaltung‹, Ludendorff-Bewunderung des Hauspersonals, pöbelnde SA-Trupps in den Straßen; aber auch die Rivalitäten linker Gruppierungen37 und die Unterschätzung der eigenen Gefährdung im deutschen Judentum noch nach den Bücherverbrennungen.38 Die Diskussionen39

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Ebd., S. 78f. Ebd., S. 106f. Susanne Kerckhoff: Die verlorenen Stürme. Roman, Halle a. d. S. 1947, S. 6, S. 193. Ebd., S. 42. Vgl. ebd., S. 71ff. Vgl. ebd., S. 57, 201.

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unter den Unterprimanerinnen kann man gutgläubig oder naiv nennen, den von der Protagonistin vertretenen Freiheits-Begriff idealistisch.40 Aber diese Jugendlichen sind politisch orientiert, versuchen sich mit Aktionen wie Wandparolen in die Tagespolitik vor den Novemberwahlen 1932 einzubringen,41 beziehen begründet Position. Die Elterngeneration, Maretes Vater, auch Vater Waitz, sieht sich humanistischen Werten verpflichtet und verkennt die politische Situation fundamental. Jugendlicher Widerspruch wird durch Kontrolle und Zerstörung persönlicher Gegenstände, dann Unterbringung bei entfernten Verwandten eingedämmt, politische Debatte oder gar Aktivität findet nicht statt:42 »Mit der Kunst sollten sich junge Menschen beschäftigen – mit der Kunst!«43 Kerckhoff schreibt die Vorgeschichte zu den bislang erwähnten Texten, in denen zwar mehrfach, etwa bei Kolbenhoff und Grünberg, die Intensität der Sozialisation im nationalsozialistischen Staat thematisiert wird, nie aber die Genese dieser erzieherischen Zwangsmechanismen, die historischen Bedingungen für ihre Etablierung als institutionelle Rahmenstruktur. Kerckhoffs Zeitroman greift die bereits drei Jahrzehnte zuvor zentral im expressionistischen Drama artikulierte Figurenkonstellation des Generationskonflikts auf und demonstriert die politische Hilflosigkeit als eine der erzieherischen Praxis, deren Prinzipien ironischerweise in der eigenen Kunst wiederum vergessen sein sollen. Von einem Freund wird das erzieherische Verhalten des Schriftstellers kommentiert: »Du läßt sie nicht jung sein –«. Ironisch führt der Text das neue Schreibprojekt des Autors ein: einen Schülerroman »im Kerker der preußischen Erziehung«. Und da man ja kennen sollte, worüber man schreibt, wird zu Sprangers »Psychologie des Jugendalters« gegriffen.44 Der schließlich doch einsichtige Vater Kartens besteht auf einer ästhetischen Gesellschaftsanalyse, die sich soziologischen und politischen Kategorien ver39 Vgl. auch die Position des Musiklehrers Kanz S. 38ff, dagegen S. 200: »Denn was nun geschehen war, was täglich geschah, das hatte er ja nicht gewollt!« 40 Vgl. ebd., S. 84ff., S. 92, vgl. auch S. 75f. zur Vision einer befreiten Gesellschaft. In den Worten des Erzählers: Der Vater »sah Maretes feurigen Idealismus nicht, der sie zum Sozialismus getrieben hatte.« (S. 141) Der wiederum ist der Selbstreflexion durchaus förderlich, vgl. S. 146 zur weihnachtlichen Wohltätigkeit auf »bürgerliche Art«, an der sich Marete auf Vorschlag ihrer Tante beteiligt hatte: »Es war Lüge und Trug, wenn die Frauen auf der einen Seite für das System standen, das Arbeitslosigkeit gebar, und auf der anderen Seite schwebten sie wie gütige Engel um den Weihnachtsbaum.« Andererseits sind die Überlegungen, »Arbeiterin« zu werden nicht nur wegen der hohen Arbeitslosigkeit realitätsblind: »Dann gehöre ich wirklich zum Proletariat. Niemand darf mir dann sagen, daß ich nur aus Spielerei Sozialistin bin!« (S. 156). Dagegen die Einschätzung eines tatsächlichen Arbeiters: »Es ist eine andere Welt« (S. 169, vgl. S. 199). 41 Vgl. ebd., S. 100f. 42 Vgl. ebd., S. 110ff., S. 142. 43 Ebd., S. 125. 44 Ebd., S. 149f.

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weigert. Die von der Tochter erwähnte soziale Deklassierung der Arbeiterschaft wird einer »Welt« zugerechnet, die »wunderbar rund« sei und sich nicht theoretisch erfassen lasse: »Ihr nehmt ihr die Tiefe, den Zauber, die Tragik, die Religiosität.« Denn: »Auch bessere Lebensbedingungen machen nicht glücklich.«45 Der Roman schildert letzte Aktivitäten des Diskussionskreises »Die Brücke«, der Trägheit der etablierten Linksparteien soll entschiedener, nunmehr illegaler Widerstand entgegengesetzt werden, der allerdings schnell durch Verhaftungen beendet ist. Schulleitung, Lehrpersonal und viele Schülerinnen passen sich dem »Wandel der Dinge« an, der Kreis löst sich auf, Mitglieder gehen ins Exil.46 Der Text schließt mit Maretes Abrechnung mit einer vorgeblich ›unpolitischen‹ Haltung des Vaters, die sich auf die eigene Bildung in unzeitgemäßer Form beruft: »Uns Junge, die kämpfen wollten, habt ihr verspottet, habt uns verboten, unsere Zukunft selbst in die Hand zu nehmen! Das war ja wieder nicht fein genug, Wände zu beschmieren!«47 Bei einer Bücherverbrennung vor der Universität werden auch Bücher von Wolfgang Kartens verbrannt.48 Die zeitgenössischen Gefährdungen der Jugend sind das Thema des jüngsten Textes: »Der gottverdammte Jahrgang. Roman einer enterbten Jugend«, 1951 vorgelegt von Fred Denger, der bereits 1946 mit »Wir heißen Euch hoffen. Schauspiel um die heutige Jugend« eines der meistgespielten Heimkehrerdramen auf die Bühnen gebracht hatte.49 Dengers Roman spielt in Berlin nach dem Ende des Weltkriegs.50 In einem Friedhofsschuppen findet sich eine Gruppe Jugendlicher und junger Erwachsener zwischen 14 und 22 zusammen, der fünfjährige, verwaiste Willi findet bei ihnen zunächst Unterschlupf und kann schließlich seinem Vater übergeben werden. Zentrale Figur ist der zwanzigjährige Michael, mit dem EK I dekorierter Unteroffizier, in den letzten Kriegstagen desillusioniert 45 Ebd., S. 159f. Der Vater wertet die Trauer um den Heimatverlust der exilierten Jüdin, einer Schulfreundin seiner Tochter, deren Vater von SA-Männern niedergeknüppelt worden war, als Interesselosigkeit gegenüber neuen Eindrücken. Die Tochter allerdings vermag es nicht, nach Hitlers Wahl zum Reichskanzler »mit Hilfe klassischer Literatur ein Sinngefüge aus Lillys Sterben zu lesen«. Die Schulfreundin bringt sich als Reaktion auf die politische Konstellation um (S. 169). 46 Ebd., S. 180. 47 Ebd., S. 196f. 48 Ebd., S. 200. 49 Vgl. Ralf Trinks: Zwischen Anfang und Ende. Die Heimkehrerdramatik der ersten Nachkriegsjahre (1945–1949), Würzburg 2002, S. 122ff., S. 148ff. Das Drama weist eine vergleichbare Handlungsführung auf. Der Chef einer Jugendbande ist ein desillusionierter Soldat, der mit Verbrechen seine Verachtung für Staat und Gesetz ausdrücken will, schließlich aber durch Liebe zu einer Wandlung angeregt wird und die Konsequenzen seiner Taten tragen will. 50 Denger stellt dem Roman ein Epigraph voran: »Dieses Buch behandelt das Schicksal junger Menschen,/ Geboren aus der Inkonsequenz der Väter,/ Gelitten unter der Konsequenz ihres Handelns,/ Gekreuzigt durch unser aller Unzulänglichkeit.« Vgl. Fred Denger: Der gottverdammte Jahrgang. Roman einer enterbten Jugend, Hamburg 1951, S. 5.

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desertiert, um den sich die zufällig einander begegnenden, aus unterschiedlichen Gründen vereinsamten Menschen sammeln und die »Clique der Konsequenten« formieren: »Jeder ist sich selbst der Nächste! Das sei unsere gemeinsame Parole«.51 Durch kleinere Diebstähle, dann durch geplante Einbrüche werden Vorräte beschafft, die das tägliche Überleben in den Ruinen sichern. Die ungeschönte Beschreibung des Alltags zwischen Hunger und Krankheit, Schwarzmarktgeschäften, Gelegenheitsprostitution von Minderjährigen, Geschlechtskrankheiten und ungewollter Schwangerschaft, Polizeirazzien und Kneipenmilieu ist die eigentliche Stärke des Textes. Eine zweite die resolute Anklage gegen nationalsozialistische Mitläufer und ihre Phrasen, Wendehälse und Kriegsgewinnler wie den exemplarisch vorgeführten ehemaligen Blockwart Meyer, gegen oberflächliche Entnazifizierung und, grundsätzlicher, gegen die Etablierung des kapitalistischen Wirtschaftssystems, »damit wieder neue AG’s, neue GMBH’s, Trusts, Konzerne, Syndikate und Interessengemeinschaften entstehen können. Auf daß die Kanalarbeiter und die Schuttschipper ewig zu zwölft in der Laube wohnen – und lungenkranke Kinder haben. Und ewig die Dummen sind. Ob national oder liberal, ob christlich oder paneuropäisch – sie werden die Betrogenen sein, weil der Sozialismus sich mit den Meyers nicht verträgt. Und darum bleibt alles beim alten«.52 ›Jugend‹ im reformpädagogischen oder modernen jugendpsychologischen Verständnis findet für diese Jugendlichen nicht statt: »Du bist nicht richtig jung«, so formuliert es Michaels Freundin, die mit der Erinnerung an eine zweitägige Verschüttung kämpft. Seine Antwort: »Nein, du hast recht. Ich bin es nicht. Ich war auch nie richtig jung. Als ich jung war, gab es Krieg. Da wollte man rasch alt werden. KV. Und als es soweit war, nun, da war man schon alt, ehe man sich’s versah. Ich bin versehentlich alt, Karen.«53 Wunschträume von Ausstieg und Neuanfang, von »ihrer Siedlung mitten in den Wäldern«, schließen sich an.54 Kommentar des Erzählers: »Das sind die Pennbrüder des Jahrgangs 28. Die Kippensammler Jahrgang 27. Die Amateurhürchen Jahrgang 29 bis 31. Die 51 Ebd., S. 133, S. 113; die Gruppe versteht sich als »Familie«. 52 Ebd., S. 185; vgl. auch S. 279: »Gesellschaftsordnung?? Willst du das vielleicht Gesellschaftsordnung nennen, diesen Dreckstall?« Nicht auf strukturelle Gegebenheiten, sondern auf sozialpsychologische macht Bruno Hampel aufmerksam, der schlaglichtartig die selbstgefällige, eben hoffnungslose Vorurteilsstruktur ehrbarer Bürger beim Blick auf jugendliche Zigarettenschieber thematisiert; »Ja, es ist hoffnungslos«. In: Früh um fünf (Anm. 21), S. 123– 128. 53 Denger: Jahrgang (Anm. 50), S. 191. Vgl. S. 15 ein Motiv auch des Adoleszenzromans am Beginn des 20. Jahrhunderts, das künstlerische Interesse: »Früher wollte er Cello spielen lernen, nun kennt er den Unterschied nicht mehr zwischen einem Kontrabaß und einer Viola. Aber er kann eine ›12 cm‹ von einer ›12,5 cm‹ unterscheiden«. 54 Ebd., S. 288, vgl. S. 278 über den »kühnen Flug seiner Gedanken«: »Die Michael-Generation schuf die neue Welt. Der gottverdammte Jahrgang.«

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Ausgespuckten zwischen 15 und 25 Jahren. Das Treibholz des Großdeutschen Reiches. Das Strandgut des Aufbruchs der Nation.«55 Die »Clique« wird schließlich von der Polizei gestellt, ein Vierzehnjähriger bei der Aktion erschossen. Das letzte Kapitel des Romans ist dem Strafprozess gewidmet, genüsslich verfolgt von Herrn Meyer, ehedem Lieferant der Roste für die Öfen in Auschwitz, nunmehr erneut erfolgreicher Geschäftsmann und selbsternannter »Vorkämpfer für die demokratische Erneuerung Deutschlands«,56 der sich beim juristischen Vorgehen gegen »die Unmoral der heutigen Jugend« an die unterhaltsamen »Theaterverhandlungen« Roland Freislers erinnert, wie er formuliert. Der Verteidiger im Schlussplädoyer: »Der gottverdammte Jahrgang ist der wirkliche Bankrotteur! Unendliches Elend brachte Hitler in die Welt, sein größtes Verbrechen sind diese jungen Menschen. Sie sind die bedauernswertesten Opfer des ganzen Regimes, denn sie sind jung und taten nichts. Sie wurden nur geboren. […] Die Täter all dieser aufgezählten Vergehen sitzen nicht unter uns. Sie sitzen in Nürnberg […]. Die hier sitzen, sind ein Teil dieser Verbrechen! Wie kann man den Gemordeten schuldig sprechen? […] gebt Ihnen ein Ziel! Zeigt ihnen den Weg. Gebt ihnen eine Aufgabe. Und ändert für sie die Verhältnisse. […] Denn diese Jugend ist ohne Schuld!«57 Handwerklich wenig überzeugend erstreckt sich diese Figurenrede, eigentlich ein Manifest zur Jugendfürsorge, über mehr als zwei Druckseiten, dann tritt überraschend Michaels Freundin auf, die sich als Tochter des Vorsitzenden Richters entpuppt und den Vater unverantwortlichen Verhaltens gegenüber seiner Familie bezichtigt: »Doch der da, mein Vater und seinesgleichen sind schuldig!«58 Der Richter erhängt sich, nach der Unterbrechung des Prozesses werden Gefängnisstrafen nach geltendem Recht verhängt. Dengers Roman greift ausführlich die zeitgenössisch intensiv diskutierte und auch von der Figur des Richters so genannte »Verwahrlosung« der Jugend auf,59 ihre wirtschaftlichen Gründe in materiellem Elend und zerstörten Familien, oft begleitet von Befürchtungen zu politischen Prägungen. Mit der Schlusspassage greift der Text Argumentationen wie die eingangs zitierte der »Ruf«-Redaktion auf: Die »junge Generation« treffe keinerlei Verantwortung für die Verbrechen

55 Ebd., S. 137 vermutlich ein Zitat der Publikation »Aufbruch der Nation« des radikalen Nationalisten Franz Schauwecker, eines Erfolgsautors im nationalsozialistischen Staat. Für den Hinweis danke ich Justus H. Ulbricht. 56 Ebd., S. 295, das folgende Zitat S. 296. 57 Ebd., S. 308ff. 58 Ebd., S. 312. 59 Ebd., S. 310. Zu den zeitgenössischen Debatten vgl. Möckel: Erfahrungsbruch (Anm. 10), S. 158ff.

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der nationalsozialistischen Diktatur, vielmehr sei es gesellschaftliche Pflicht, der unbelasteten Jugend Zukunftsperspektiven zu eröffnen.60

›Jugend‹ in Texten nach 1945: übergreifende Aspekte Literarische Texte, die jugendliche, überwiegend männliche Figuren in den Mittelpunkt stellen, stehen zum Einen, seltener, in der Tradition des Zeit- oder Gesellschaftsromans, etwa bei Susanne Kerckhoff und Fred Denger, häufiger, zum Anderen, in der Tradition der Kriegsprosa seit dem Ersten Weltkrieg mit ihren »Polen«: Erich Maria Remarques »Im Westen nichts Neues«, 1928 publiziert, und Ernst Jüngers »In Stahlgewittern. Ein Kriegstagebuch«, 1920 erschienen. Während Remarque eindringlich das Leiden des einfachen Soldaten verdeutlicht, der für die imperialen Gelüste von Feldherren stirbt, verbindet Jünger seine Schilderungen aus den Materialschlachten der Westfront mit kulturphilosophischen Diagnosen vom Ende des bürgerlichen Zeitalters und seiner Psychologie, das vom Typus des heroischen, kalten Kämpfers abgelöst werde. Dem stehen die erwähnten Texte distanziert gegenüber, denen es, auch wo sie wie Kolbenhoffs »Von unserem Fleisch und Blut« vom Durchhaltefanatismus sprechen, um die Allgegenwart der Krise geht: in der Situation des militärisch hoffnungslosen »Endkampfs« an allen Fronten, des staatlichen Zusammenbruchs insgesamt wie der Ohnmacht des einzelnen Jugendlichen, ob ihn die Parolen der nationalsozialistischen Institutionen vorwärts treiben oder der Kampf ums Überleben. Die Situation im Nachkriegsdeutschland mit alltäglichem Hunger und Schwarzmarkt kann familiäre Rollensicherheiten und Orientierungsangebote, wie sie moderne pädagogische Konzepte als dem Jugendalter adäquat einfordern, nicht bereitstellen: Die fiktiven Lebensläufe koinzidieren in der Konfrontation mit Gewalt als zentralem Merkmal jugendlicher Lebenswelten; nur in Ausnahmefällen, so bei Karl Grünberg, zeichnen sich konkretere Perspektiven eines handfesten Aufbaus ab, emphatische Zukunftsvisionen jugend60 Möglicherweise auf den »Sozialismus« hin, den auch Andersch als nicht auf Parteipolitik reduzierbare Verständigungsformel einführt: »ein vom Menschen fordernder und an den Menschen glaubender Glaube, ein sozialistischer Humanismus.« Andersch, Europa (Anm. 1), S. 20. Ähnlich diffus auch Michael bei Denger: Jahrgang (Anm. 50), S. 132: »Ich denke mir, man müßte eine Revolution machen, damit sie merken, daß wir auch noch da sind, daß sie uns nicht vergessen und ihre Schuld nicht, die sie ausradieren wollen mit allen Federmessern und Radiergummis dieser Welt, um wieder weiß zu werden und fleckenlos. Drum geben sie uns die Schuld. Euch, weil ihr nur gehorsam wart, mir, weil ich jung bin und den Wimpel trug, der so herrlich knatterte, wenn der Wind ging. War doch ganz wurscht, was da drauf war. Ob Sonnenrad oder Kreuz oder Sichel oder sonstwas. Hast Du danach gefragt? Und nun sind wir schuld. Du und ich. Wir Jungen. Weil es eben so bequem ist. […] Ihr Freunde, wir wollen uns ein Reich bauen, in das keiner reinkommt.«

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licher Inspiration des Aufschwungs fehlen. Vielmehr sind die erwähnten literarischen Leidensszenarien deshalb so deprimierend, weil sie den scheinbar selbstverständlichen Konnex von Jugend und Zukunft aufkündigen und in einigen Fällen sogar von Autorinnen und Autoren vorgelegt werden, die selbst als jung gelten wie Hubalek, Kerckhoff und Meichsner. Die erwähnten Texte behandeln deutsche Geschichte zwischen 1930 und 1950 ganz überwiegend in einer Form, die den künstlerischen Anspruch gegenüber der Partizipation an gesellschaftlichen Selbstverständigungsdebatten zurückstellt. Die spezifische Leistung dieser literarischen Texte in den ersten Nachkriegsjahren sehe ich darin, dass sie an einer »Kriegsgeschichte von innen« mitschreiben, um eine Formulierung Ulrich Herrmanns aufzugreifen.61 Ihnen ist es um die Beschreibung der Demontage von Entwicklungsmöglichkeiten der Protagonisten zu tun, die Opfer ihnen letztlich unverständlicher historischer Ereignisse werden. Nicht deren analytische Beschreibung mit empirisch überprüfbaren Daten zu zivilen und militärischen Opfern, zu Truppenstärken und Frontverläufen ist in diesen Texten das Thema. Vielmehr erzählen sie fiktive »Erfahrungsgeschichten«62 der individuellen Konfrontation mit Todesangst und Tod, Verelendung, Desillusionierung, Zerstörung von Solidarität, Familie, Freundschaft. Nicht Individualisierung, ›Bildung‹, ›Reifung‹ werden thematisiert, sondern konträr Verfahren der Entindividualisierung:63 in der militärischen Ausbildung ebenso wie in Kampfsituationen des Weltkrieges oder unter den Lebensbedingungen der Nachkriegszeit. Allenfalls im Widerstand gegen das Regime kann sich, in den Texten Kerckhoffs und auch Heinz Reins, so etwas wie die Profilierung des Individuellen abzeichnen. Ein gemeinsames Element aller Texte ist die Darstellung von Gewalt, die von den Figuren nicht als Ausnahme und Abweichung erfahren wird, sondern als Normalität des Alltags, nicht nur an der Front, zumal wesentliche Abschnitte ihrer Lebensläufe in einer Gesellschaft geprägt wurden, die sich als militante, kämpfe-

61 Ulrich Herrmann: Für eine Kriegsgeschichte ›von innen‹, in: ders., Rolf-Dieter Müller (Hg.): Junge Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Kriegserfahrungen als Lebenserfahrungen, Weinheim u. a. 2010, S. 15–40, S. 15 u. ö., S. 23f. mit dem Hinweis auf literarische Texte als »Erlebnisgeschichten«: Jünger, A. Zweig, Remarque, Wiechert. 62 Vgl. die Ausrichtung von Thomas Kühne: Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 21, der die »Erfahrungsgeschichte der Kameradschaft« rekonstruiert: ihre Leitbilder und Mythen, ihre Visionen und Sehnsüchte, ihre Funktionen in Organisationen. Nicht zufällig werden wiederholt literarische Texte als Quellen zitiert: von Flex, Jünger, Remarque und anderen. 63 Vgl. zum militärischen Habitus Ulrich Herrmann: »Wir wurden zu Soldaten verarbeitet« – oder: Wie man Soldaten für Hitlers Krieg machte, in: Herrmann, Müller: Soldaten (Anm. 61), S. 41–62.

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rische definierte. Literarische Texte zeigen hier eine »Nahsicht«64 auf Situationen des Erleidens und Ausübens von Gewalt, eine »dichte Beschreibung«, um eine sprichwörtliche Formulierung Clifford Geertz’ aufzugreifen: keine soziologische Typik, sondern empathisch detaillierte Sichtweisen auf individuelle Emotionen und Sinneserfahrungen, wie sie vergleichbar in Feldpostbriefen vorliegen können, Quellen einer »Militärgeschichte ›von unten‹«, so der Militärhistoriker Wolfram Wette.65 ›Unten‹ befinden sich auch die Protagonisten der Texte: im fast aussichtslosen Widerstand gegen ein übermächtiges Gesellschaftssystem bei Kerckhoff; in Abwehrkämpfe gegen die erdrückende Überlegenheit alliierter Truppen verstrickt bei Kolbenhoff und Meichsner; im Überlebenskampf von Schwarzmarkt und Rotlichtmilieu bei Denger. Die zeitgenössische Debatte über Schuld und Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus wird eher undifferenziert behandelt, eindeutig ist das Votum der Texte auf ›Indoktrination‹ gerichtet – »eine Jugend war das Opfer«, so ein Romantitel bei Thilo Koch 1947 –, auf den »Verrat« der Erziehungsinstitutionen, die ihrer Verpflichtung gegenüber der heranwachsenden Generation nicht gerecht geworden und damit ihrer Legitimation weitgehend verlustig gegangen seien. Die »Skepsis« (Schelsky) gegenüber geschichts- und kulturphilosophischen Entwürfen ist den Protagonisten selbstverständlich; gleichzeitig steigt ihr Bedarf nach stabilen Sozialbeziehungen, die Primärgruppe, die bei Kerckhoff durch den aufkommenden Nationalsozialismus zerstört wird, ist für die Jugendlichen bei Denger zentral. Der futurische Aspekt der modernen Jugendsemantik wird von diesem Szenario der moralischen Katastrophe überlagert: Nur in Ansätzen geben die Texte die Sicht auf Neuaufbau frei, es überwiegt die Bestandsaufnahme in Gefährdungsszenarien.66 In dieser Perspektive partizipieren literarische Texte an den zeitgenössischen gesellschaftlichen Selbstverständigungsdebatten zur Jugend, die ihren Gegenstand nicht selten nur als Vorwand nehmen, um übergreifende Prozesse gesellschaftlichen und kulturellen Wandels zu thematisieren. Fiktive Lebensläufe erweisen sich erneut als geeignet, Probleme der Genese von Individualität und ihrer sozialen Konstitutionsbedingungen in der Moderne insgesamt zu reflektieren. Dabei sind »schwere Zeichen« eminent wichtig, wie sie der Erziehungswissenschaftler Werner Helsper im Blick auf gegenwärtige Jugendszenen genannt hat:

64 So Wolfgang Sofsky über sein methodisches Verfahren; Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager, Frankfurt a. M. 1993, S. 24. Auch hier findet sich der Rekurs auf literarische Texte (S. 25f.). 65 Wolfram Wette: Die Stimme des »kleinen Mannes«. Ausgewählte Feldpostbriefe deutscher Soldaten, in: ders., Gerd R. Ueberschär (Hg.): Stalingrad. Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht, Frankfurt a. M. 22012, S. 80–81, S. 81. 66 Vgl. allgemein zu publizistischen Debatten Möckel: Erfahrungsbruch (Anm. 10), S. 161ff.

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»Symbole der Allmacht, der Stärke und des Todes, des Grauens und des Bösen«.67 Die Thematik des Krieges, der Zerstörung, der Isolation, die in den Texten nach 1945 dominiert, fügt sich dem ein. »Jugend«, ohnehin ein prekäres Stadium menschlicher Entwicklung, ist nun, pointiert gesagt, nicht nur von ›innen‹, sondern auch von ›außen‹ bedroht, ihre riskante Seite wird im Krieg und in der frühen Nachkriegsgesellschaft besonders prägnant sichtbar. Die literarische Rede über »Jugend« kann als Semantik der ›Krise‹ bestimmt werden: Dem Reflexionsmodus der Kulturkritik in der Moderne vergleichbar,68 werden auch in literarischen Jugenddarstellungen seit dem 18. Jahrhundert Probleme des sozialen Wandels, der Modernisierung, der Bewältigung von Kontingenz zur Sprache gebracht. Während kulturkritische Texte allerdings in der Regel ihren Akzent auf makrohistorische Entwicklungen legen, »Krise der Kultur« ist ein geläufiges Schlagwort, wenden sich die von mir untersuchten Texte eher der mikrohistorischen Ebene zu: den Lebensläufen einzelner Protagonisten, ihren Orientierungsunsicherheiten und institutionellen Rahmungen (Familie, Generationenverhältnisse, Schule, Militär). Jugendliche Identität bildet sich in einem als Krise beschreibbaren Prozess. Ihr Ausmaß eskaliert nach 1945 drastisch. Literarische Texte verzeichnen die Folgen als Beschädigungen jugendlicher Lebensläufe, deren Entwicklungsmöglichkeiten gekappt sind.

67 Werner Helsper: Das »Echte«, das »Extreme« und die Symbolik des Bösen., in: Peter Kemper, Thomas Langhoff, Ulrich Sonnenschein (Hg.): »but I like it«. Jugendkultur und Popmusik, Stuttgart 1998, S. 244–259, S. 245. 68 Vgl. Georg Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J.J. Rousseau bis G. Anders, München 2007.

Gabriele Guerra

Welchen Sinn und welche Jugend? Deutschland im Jahre Null mit den Augen Roberto Rossellinis

Den Film »Deutschland im Jahre Null« hat der bekannte italienische Regisseur Roberto Rossellini (1906–1977) 1947 im zerbombten Berlin gedreht. Er gehört zu Rossellinis sogenannter Kriegstrilogie, zusammen mit zwei anderen, ebenfalls sehr bekannten Filmen: »Roma città aperta« (1945, »Rom, offene Stadt«) über die dramatische Lage der Hauptstadt Italiens unter der nationalsozialistischen Besetzung und über die tatsächliche Hinrichtung eines widerständigen Geistlichen, sowie »Paisà« (süditalienischer Dialekt für »paesano«: Landsmann, Freund) von 1946, der aus mehreren Episoden besteht und an verschiedenen Orten Italiens nach der Befreiung am Ende des Zweiten Weltkriegs spielt, was den (erfundenen) geschilderten Geschichten dennoch einen dokumentarischen Charakter verleihen. Rossellini ist einer der bedeutendsten Filmregisseure der italienischen Kinogeschichte, führender Vertreter jener typisch italienischen Filmströmung, die als Neorealismus bezeichnet wurde und die, insbesondere nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die Nachkriegsrealität filmisch darstellen wollte. In diesem Sinn bedeutete Realismus einen bestimmten, programmatischen Hang zum Dokumentarischen mit klarem politischen Hintergrund. Dieser Realismus hatte zum Ziel, die Diskrepanz zwischen Eliten- und Massenkultur in Italien aufzuheben. Und doch lässt sich »Deutschland im Jahre Null« gerade durch seine akzentuierte Erzählstruktur nicht so problemlos in diese begrifflichen Raster integrieren1. In der Tat: Der dritte Film der Trilogie Rossellinis schwankt zwischen Fiktion und dokumentarischer Realität. Er schildert eine frei erfundene Geschichte von Trauer, Ratlosigkeit und Ausweglosigkeit im Nachkriegsdeutschland, in der die Charaktere meist von nicht-professionellen Schauspielern dargestellt werden. 1 Vgl. Dominik Schrey: »Filmen, was vorher und was nachher kommt …«. Erinnerung in Roberto Rossellinis »Germania Anno Zero«, in: Andreas Böhn, Christine Mielke (Hg.): Die zerstörte Stadt. Mediale Repräsentationen urbaner Räume von Troja bis SimCity, Bielefeld 2007, S. 289–309.

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Die dokumentarische, deskriptive Intention des Filmes geht mit einer fiktiven Erzählstruktur einher und mündet in die zeitsemantische Grundstruktur des »Nullpunktes«. Mit anderen Worten, der Film lädt nicht nur dazu ein, sich der realen Lage Deutschlands nach 1945 bewusst zu werden, sondern auch dazu, sich nach einem Neuanfang zu sehnen, der aus der zerbombten Stadt heraus entstehen könnte. Rosselinis Neorealismus ist eminent urban; er sucht Wege aus der Destruktion in der Metropole, wo die Kriegszerstörungen massiv sind – er will aber eben auch Hoffnung auf Rekonstruktion wecken. Der erste, lange und sehr eindringliche Panoramaschwenk über das zerstörte Berlin wird im Film realisiert »mit einer Überblick verschaffenden langen Kamerafahrt. Es sind aber nicht die touristischen Wahrzeichen einer europäischen Metropole, die gezeigt werden, sondern die uniforme und fragmentierte Ruinenlandschaft, in der allein der Reichstag identifizierbar ist«.2 Es geht dabei erneut um die dokumentarische Absicht Rossellinis, dem italienischen Publikum die radikale Zerstörung Deutschlands durch den Krieg zu zeigen, die wiederum mit einer poetischen Intention gepaart ist: Dargestellt wird die Verfallsgeschichte eines Jungen, in der sich seine moralische, innere Verzweiflung mit der materiellen, äußeren Zerstörung Deutschlands verbinden. Jugendliche gelten bei Rossellini einerseits als Sinnbilder für einen Neubeginn; ihre symbolische Bedeutung schwankt in »Deutschland im Jahre Null« aber andererseits zwischen Resignation und Überlebenswillen. In einer Welt, in der es fast ausschließlich um das materielle Überleben geht3, können sie die Vergangenheit nicht einfach abschütteln. 1946 publizierte der schwedische Schriftsteller Stig Dagerman seine Berichte aus Nachkriegsdeutschland und schrieb, Deutschland wirke wie eine Landschaft, in der die Jugendlichen zu den Verlorensten dieses besiegten Landes zu zählen seien: »In Deutschland gibt es nicht nur eine einzige verlorene Generation, sondern gleich mehrere. Man kann sich darüber streiten, welche die verlorenste, aber nicht darüber, welche die bedauernswerteste ist. Sie, die ungefähr zwanzig sind, treiben sich in den deutschen Kleinstädten bis weit in die Abenddämmerung hinein auf den Bahnhöfen herum, ohne irgendwelche Züge etwas erwarten zu können. Man kann dort kleine, verzweifelte Raubversuche erleben, begangen von nervösen Jünglingen, die trotzig ihre Tolle werfen, wenn sie festgenommen werden, oder man kann mitansehen, wie sich betrunkene, blutjunge Mädchen 2 Silke Arnold-De Simine: Die Konstanz der Ruine. Zur Rezeption traditioneller ästhetischer Funktionen der Ruine in städtischer Baugeschichte und im Trümmerfilm nach 1945, in: Böhn, Mielke: Stadt (Anm. 1), S. 251–272, hier S. 264. 3 Vgl. dazu Götz Großklaus: »Deutschland als Ganzes versinkt 1945 nicht nur in Chaos und Anarchie, es sinkt herab auf einen quasi-vorzivilisatorischen Zustand. Die totale Verwüstung seiner Stadt-Landschaften zeigt das Antlitz des Unmenschlichen«; Götz Grossklaus: Das zerstörte Gesicht der Städte. »konkurrierende Gedächtnisse« im Nachkriegsdeutschland (West) 1945–1960, in: Böhn, Mielke: Stadt (Anm. 1), S. 101–124, hier S. 101.

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alliierten Soldaten an den Hals werfen oder wie sie mit betrunkenen Negern auf den Bänken der Wartesäle eher liegen als sitzen. Ein vergleichbares Schicksal hat keine Jugend erlebt, sagt ein bekannter deutscher Verleger in einem Buch für und über diese Jugend. Mit achtzehn hatte sie die Welt erobert und mit zweiundzwanzig alles wieder verloren.«4 Diese Worte spiegeln die Grundstimmung der Zeit wider: Das »unmoralische«5 Verhalten der Jugendlichen zieht den deutschen Seelenzustand geradezu hinunter in den Keller, wo die Ratten hausen. Von W.G. Sebald stammt ein schwarz-ironisches Bonmot: In seinem Buch »Luftkrieg und Literatur« betont er, »dass die Deutschen, die doch die vollständige Säuberung und Hygienisierung Europas sich vorgesetzt hatten, sich wehren mußten gegen die jetzt in ihnen aufkommende Angst, sie seien in Wahrheit selber das Rattenvolk.«6 Sebald implizierte damit auch, die Deutschen seien nun zerrissen zwischen starkem Überlebenswillen und Apathie7 (denken darf man dabei auch an Wolfgang Borcherts eindringliche Erzählung »Nachts schlafen die Ratten doch«). Diese psychologische Grundstimmung beherrscht auch den Film: Der Hauptcharakter ist der 12-jährige Edmund, der seine Tage damit verbringt, in der Stadt umherzuziehen. Der Junge versucht, etwas Geld zusammenzukratzen, um seine Familie zu unterstützen, die in Armut geraten ist. Durch die Zerstörungen des Krieges vertrieben, sind sie nun in einem Gebäude mit anderen Menschen untergebracht. Edmunds Vater liegt schwer herzkrank im Bett; die Mutter aber ist tot. Edmunds Schwester Eva kümmert sich um ihren kranken Vater. Um sich Zigaretten zu besorgen, geht Eva auch mit alliierten Soldaten aus. Ihr Bruder Karl-Heinz, ein ehemaliger Wehrmachtssoldat, der in Russland und in der Schlacht um Berlin gekämpft hat, verlässt das Haus nicht, weil er keine Papiere hat und befürchtet, deswegen in ein Konzentrationslager gehen zu müssen. Die Familie Eduard versinnbildlicht, wie unmöglich es für die Deutschen ist, sich von der nationalsozialistischen Ideologie und der dramatischen Kriegsvergangenheit wirklich zu lösen: Der Vater »bereut seine Fehler und seine Passivität während des Dritten Reichs. Erinnerung wird als Luxus dargestellt, den sich nur leisten kann, wer die Zeit dafür aufbringen kann, d. h. nur wer nicht schon damit

4 Stig Dagerman: Deutscher Herbst, Berlin 2021, S. 67. 5 Hannah Arendt hatte aber 1949 davor gewarnt, in dieser Lage zu direkt von Moralität zu sprechen: »Die tiefe moralische Verwirrung im heutigen Deutschland, die aus diesem von den Nazis fabrizierten Durcheinander von Wahrheit und Wirklichkeit hervorgegangen ist, läßt sich nicht mehr mit dem Begriff Unmoral fassen, und ihre Ursachen liegen tiefer als in bloßer Bösartigkeit«; dies.: Besuch in Deutschland, Berlin 1993, S. 46. 6 W. G. Sebald: Luftkrieg und Literatur, Frankfurt a. M. 1999, S. 41. 7 Ebd., S. 38. So auch in Harald Jähner: Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945–1955, Berlin 2020, der schon im Vorwort vom »Überlebenstrieb« und von »Schuldgefühlen« der Deutschen spricht.

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ausgelastet ist, für das eigene Überleben sorgen zu müssen.«8 Es entsteht somit das Gefühl einer nicht-vergangenen Vergangenheit: »Der Geist des ›Führers‹, die nationalsozialistische Ideologie, lebt als Phantom in der deutschen Gesellschaft weiter«.9 Diese nicht-vergangene Vergangenheit verkörpert der alte Schullehrer Edmunds, der ihn wiedertrifft und ihm helfen möchte (das wird nicht ohne ziemlich prononcierte pädophile Züge dargestellt). Er ist offenbar ein überzeugter Nationalsozialist geblieben, der durch seine sozialdarwinistischen Vorstellungen über die Rolle starker und schwacher Menschen in der Gesellschaft Edmund indirekt dazu anstiftet, Gift in den Tee seines kranken Vaters zu gießen und ihn damit zu töten. Offenbar lebt die deutsche Jugend unmittelbar nach dem Ende des Weltkrieges immer noch unter der geistigen Besatzung der Vätergeneration und übernimmt deren politisch-moralisches Vokabular: Sentimentalität und Härte, das Pathetische der politischen Gemeinschaft und das zugrundeliegende Heroische sind immer noch stark miteinander verflochten, was sehr gut dargestellt wird in der Figur Edmunds. Das ist offenbar der moralpolitische Hintergrund, der zu dieser dramatischen Mordtat führt. Edmund geht also zurück zu seinem Lehrer und erzählt ihm alles. Der jedoch faucht ihn so stark an, dass Edmund sich plötzlich seiner Mordtat bewusst wird. Er vagabundiert anschließend in der zerstörten Stadt, bis er ein zerbombtes Gebäude erreicht, das direkt seiner Wohnung gegenüber liegt. Edmund steigt nach oben und lässt sich in die Tiefe fallen. Der Film ist dem Gedenken an Rossellinis Sohn Romano gewidmet, der 1946 mit neun Jahren an einem Blinddarmdurchbruch verstorben war. Angeblich hat der Regisseur den kleinen Edmund Meschke als Darsteller für die Hauptrolle des Films aufgrund seiner großen Ähnlichkeit mit Rossellinis verstorbenem Sohn ausgesucht. Vielleicht wird von hier aus noch verständlicher, warum der Film tatsächlich symbolisch tiefer und düsterer im Ton als die vorherigen Filme der Kriegstrilogie wirkt. Eigentlich war der Selbstmord Edmunds im Drehbuch nicht vorgesehen; das tragische Ende wird deshalb häufig diesem Schicksalsschlag in Rossellinis Leben zugeschrieben10. Abgesehen aber von diesen biographischen oder sehr persönlichen Zügen, stellt der Film Rossellinis eine allgemeine Reflexion über die geistige Lage der deutschen Jugend nach 1945 dar, indem er deren »transzendentale Obdachlosigkeit« sehr genau in ihrer Ausweglosigkeit und Verzweiflung schildert und in einer komplexen Dialektik mit der Semantik des Neuanfangs verflechtet. Insbesondere die Schlussszene bringt die offenbar ausweglose Lage paradigmatisch 8 Schrey: Erinnerung (Anm. 1), S. 299. 9 Schrey: Erinnerung (Anm. 1), S. 300. 10 Ebd., S. 304.

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und höchst symbolträchtig eindrucksvoll in filmische Bilder. Edmund liegt tot am Boden; eine Passantin hat das Geräusch des fallenden Körpers gehört und eilt herbei. Sie kniet nun neben dem Leichnam, in einer Pose, die an Michelangelos »Pietà« erinnern muss. Auf diese Weise, so kann man folgern, gelingt es »Deutschland im Jahre Null« nicht nur, die Verzweiflung der Jugend um 1945 zu wirklich vor Augen zu stellen. Der Film lebt auch von einer verborgenen transzendentalen Ebene, die das Gezeigte gleichsam trägt. Darf man fragen, ob diese angespielte Transzendenz einen Ausweg aus der Resignation dieser Jugend heraus weist11?

11 In diesem Sinn stimme ich nicht überein mit der Argumentation von Arnold-De Simine, demnach »nicht nur […] das Kind bei Rossellini kein Hoffnungsträger für eine neue Kultur [ist], wie in Goethes Gedicht Der Wanderer, die Zukunft wird vielmehr ganz abgeschnitten, indem Edmund Selbstmord begeht und im Schlusstableau des Films als grotesk zerschmetterte Leiche in der Ruinen- und Trümmerlandschaft endet.« (Arnold-De Simine, Ruine (Anm. 2), S. 268).

David Brehm

»Ich nahm nur das auf, was mir gemäß war« – Rilke-Bruchstücke als Nachkriegsliteratur nach 1945

Der Dichter der Jugend Wer oder was die Jugend ist, was ihre drängendsten Fragen sind und was mögliche Antworten darauf: all das ist im kulturellen Diskurs der westdeutschen Nachkriegsjahre hochgradig umstritten.1 Bemerkenswert einig ist man sich allerdings darüber, bei wem die Jugend – auf dem Feld der Dichtung – mit besonderer Insistenz nach Antworten auf ihre Fragen sucht. »Man wird heute«, so ist etwa am 7. Juli 1949 in der »Süddeutschen Zeitung« zu lesen, »auf die Frage, wer der Dichter dieser Jugend ist, sehr oft dieselben Namen nennen hören: Rilke, manche nennen auch Ernst Jünger«.2 »Kein Dichter der Gegenwart steht«, glaubt man Alois Winklhofers 1948 erschienener Darstellung über die »Dichter der Zeit«, »so im Mittelpunkt des Interesses und der Verehrung wie Rilke.«3 Ja, »[w]enn heute in Deutschland das Wort ›der Dichter‹ fällt, so stellt sich« – Friedrich Sieburgs Wahrnehmung nach – »sogleich in der Vorstellung der Name Rilkes ein. Er beherrscht das ganze der Poesie vorbehaltene Feld«.4 Dass »Rilke« dabei gerade »von weiten Kreisen der Jugend geliebt, verehrt wird«5, dass »insbesondere […] die Jugend […] für Rilke […] empfänglich ist«6, dass »unsere

1 Zu Jugend und junger Generation als Kategorien »gesellschaftliche[r] Selbstthematisierung« vgl. Benjamin Möckel: Erfahrungsbruch und Generationsbehauptung. Die ›Kriegsjugendgeneration‹ in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften, Göttingen 2014, hier S. 161. 2 Rudolf K. Goldschmit-Jentner: Generation und Lebensstufe, in: Süddeutsche Zeitung, 07. 07. 1949, S. 5. 3 Alois Winklhofer: Dichter der Zeit. Gesicht und Seele. Bd. 1, Nürnberg u. a. 1948, S. 39. Über die »Gegenwärtigkeit« eines »Dichter[s]« entscheide, ob er »noch lebendig in unserer Zeit wirkt« (ebd., S. 7). 4 Friedrich Sieburg: Rilke und kein Ende, in: Die Gegenwart. Eine Halbmonatsschrift, 1949, Jg. 4, H. 5, S. 16–19, hier S. 17. 5 Werner Lenartz: Bildung ohne Studium?, in: Freie Volksbildung. Zeitschrift für die gesamte Erwachsenenbildung, 1947, Jg. 1, H. 7, S. 373–377, hier S. 376. 6 Agnes Geering: Rainer Maria Rilkes Sonette an Orpheus. Versuch einer Einführung, Frankfurt a. M. 1948, S. 26.

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Jugend vor allem Hölderlin und Rilke liest«7, dass »Kollegs über Rilke […] an den Universitäten Mode«8 sind, dass aber auch »viele unserer Schüler zu Rilke hin[drängen]«, sodass »die Auseinandersetzung mit Rilke und mit der Frage ›Rilke in der Schule‹« auch »keinem Deutschlehrer erspart«9 bleibt: solche Befunde gehören gleichsam zum diskursiven Grundrauschen der Nachkriegszeit. Woher rührt solche Popularität? Es ist – allem Anschein nach – ein alles andere als interesseloses Interesse, das sich in den Nachkriegsjahren an den Namen Rilke heftet. Vielmehr greift man auf »Rilke« immer wieder im Modus einer emphatischen Aktualisierung zu, die auf Erbauungs- und Sinnstiftungseffekte zielt. Man zieht Rilke als »Seelsorger«10 zu Rate, sucht bei ihm nach Hilfe und Rat, adressiert ihn als »Bruder im Leid«: »stünde er in der Mitte unser, die wir fragen, suchen und ringen um den Sinn dieser unbegreiflichen […] Zeit: was wäre sein Wort an sie und an uns?«11 Man fragt nach Rilkes »Vermächtnis für unsere Zeit«, nimmt seine Gedichte als »profane Gebete« in Anspruch, sucht darin nach »Sinn, auch für uns und unsere Nöte«.12 Man fühlt sich seinem »Werk«, »[w]enn der Dichter auch nicht mehr unter den Lebenden weilt, […] dennoch so nahe, als sei es uns jetzt erst in die Hände gelegt […] als eine unerschöpfliche Quelle des Trostes und der Hoffnung«.13 Man schreibt Rilkes »Worte[n] und Gedanken« die Funktion zu, »für viele Tausende« einer »schier unerträglich belasteten Generation Trost und Hoffnung, Glaube und Inbegriff der Sehnsucht nach einem besseren und tieferen Sinn unseres Daseins«14 zu sein. Man führt die »ungewöhnliche Breitenwirkung Rilkes, zumal auch in der Generation der Jungen« darauf zurück, dass seine »Dichtung« eine »hohe Heilwirkung« besitze: »Sie ist eine homöopathische Psychotherapie«.15 Und man adressiert die Dichter-Persona Rilke in dieser Weise keineswegs nur in außer7 Herman Nohl: Die geistige Lage des akademischen Nachwuchses, in: Die Sammlung, 1946/47, Jg. 2, H. 1, S. 1–6, hier S. 5. 8 Herman Nohl: Die geistige Lage im gegenwärtigen Deutschland, in: Die Sammlung, 1946/47, Jg. 2, H. 12, S. 601–606, hier S. 604. 9 Emmy Frey: Über Rilkes Gedichte mit Beziehung auf den Deutsch-Unterricht der Oberstufe, in: Der Deutschunterricht. Arbeitshefte zu seiner praktischen Gestaltung, 1948, Jg. 1, H. 2/3, S. 73–101, hier S. 73, Anm. d. Hrsg. 10 Jakob Amstutz: Die Seelsorge Rilkes, Bern 1948, S. 33 u. ö. 11 Marylou Solms: Seher und Mahner. Zum Gedächtnis Rainer Maria Rilkes, in: Die Besinnung. Eine Zweimonatsschrift, 1947, Jg. 2, H. 3/4, S. 136–139, hier S. 136. 12 Dieter Bassermann: Rilkes Vermächtnis für unsere Zeit, in: ders.: Rilkes Vermächtnis für unsere Zeit, Berlin u. a. 1946, S. 7–31, hier S. 7f. 13 Paul Zech: Rainer Maria Rilke, in: Deutsche Blätter für ein europäisches Deutschland / gegen ein deutsches Europa, 1945, Jg. 3, H. 28, S. 4–10, hier S. 4. 14 Egon A. Krauss: Um das Rilkesche Tintenfass, in: Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation, 15. 06. 1947, S. 13. 15 Wilhelm Pleyer: Über die Wirkungen Rilkes, in: Die Pforte. Monatsschrift für Kultur, 1949/50, Jg. 2, S. 694–700, hier S. 696f.

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und paraakademischen Rezeptionskontexten: Auch germanistische »Rilke-Interpretationen« schreiben sich immer wieder einen erbaulichen Zweck zu, so etwa den, »das Rätselhafte unserer Zeitsituation besonders denen bewältigen zu helfen, die, eben heimgekehrt, die Sinnfrage des menschlichen Existierens von Grund auf zu stellen genötigt sind«.16 Und noch dort, wo die »neue[ ] Welle der Rilke-Begeisterung […], die nun freilich in gewissen Kreisen schon zweifelhafte, ja vulgäre Formen anzunehmen beginnt«, als »sektiererischer Unfug« beargwöhnt wird, ist mit Blick auf Rilke von »Gnade« die Rede: Wo sie eintritt, »da ist der Sinn der Welt erschlossen, da ist die Welt geborgen und geheilt.«17 Es geht hier offenkundig ums Ganze: um »Gnade«, »Glaube«, ›Geborgenheit‹, »Hoffnung«, »Heil«, »Trost« – und immer wieder: um »Sinn«. Die Lektüre Rilkes, so murmeln es die Quellen, scheint nach 1945 von vielen für besonders geeignet gehalten worden zu sein, eigene Sinnfragen formuliert, eine allem Anschein nach heillose Gegenwart poetisch transzendiert, wenn nicht »geheilt« zu finden – und dabei »gerade unter den Jungen«, auch das ist ein immer wiederkehrender Befund, eine »weitgreifend[e]« »Wirkung«18 entfaltet zu haben. Auf der Spurensuche zu Sinnfragen der jungen Generation nach 1945 scheint Rilke somit eine Fährte zu sein, die zu verfolgen sich lohnen könnte. Ich möchte dazu einige erste Beobachtungen skizzieren, indem ich die Frage nach den Sinn- und Erbauungsangeboten, die Rilkes Texte bereithielten, mit einem Blick auf die materialen Formate und medienkulturellen Gebrauchsmuster verknüpfe, die ihre Nachkriegsrezeption regulierten. Sinn und Trost eines Gedichts, so die Prämisse der folgenden Überlegungen, sind nie einfach gegeben, sie stellen sich nicht für jede Leserin zu jedem Zeitpunkt auf die gleiche Weise ein. Sie werden vielmehr erzeugt im Gebrauch – und dieser Gebrauch wird wiederum mitbestimmt durch die Materialität der Lektüreobjekte. Texte Rilkes, die 1905 oder 1923 erstmals publiziert und rezipiert worden sind, liest man nach 1945 anders: man begegnet ihnen in anderen Ausgaben, eingelassen in andere kulturelle Kontexte, im Horizont anderer Lebensbedingungen, gesteuert von anderen Lektüreerwartungen. Erst in diesem »Aufeinandertreffen der ›Welt des Textes‹ und der ›Welt des Lesers‹«19 wird Sinn freigesetzt. Im zeitgenössischen Diskurs der Zeitungen, Zeitschriften, Broschüren, Buchpublikationen, Rundfunkgespräche erfährt solches Aufeinandertreffen Reflexion, wird re-inszeniert, gedeutet, seinerseits mit Sinn versehen.

16 Werner Kohlschmidt: Rilke-Interpretationen, Lahr 1949, S. 7. 17 Hans Egon Holthusen: Der späte Rilke, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 1948, Jg. 2, H. 8, S. 194–220, hier S. 195, 220. 18 Kohlschmidt: Rilke (Anm. 16), S. 5. 19 Hierzu grundlegend: Roger Chartier: Einleitung, in: ders.: Lesewelten. Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1990, S. 7–24, hier S. 7.

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Den alltäglichen, erbaulichen, mitunter heiklen Gebrauchsweisen Rilkes nach 1945 nachzugehen, bedeutet, den Blick auf Formen »aktualisierende[r] Aneignung«20 zurückzuwenden, zu denen die Forschung – mit guten Gründen – auf Distanz gegangen ist. Zeitgenössisch sind sie von Friedrich Sieburg als »emsig betriebene Nebelbildung« beschrieben worden, die »das Werk mit fataler Undurchdringlichkeit« umziehe.21 Nachdem sich der Nebel gelichtet hatte, hat sich die Rilke-Forschung um hermeneutische Ausnüchterung bemüht, den »Trümmerberg von Zeugnissen quasi-religiöser, ja verzückter Bewunderung des Autors und verstiegener Auslegung seiner Gedichte«22 abzutragen versucht. Die Frage nach denjenigen Gebrauchsweisen und Gebrauchsangeboten Rilkes, die aus einer Perspektive hermeneutischer Distanz als verfehlt erscheinen müssen, ist dabei in den Hintergrund getreten. Ihren Voraussetzungen und Formaten nachzuspüren könnte etwas darüber verraten, wie junge Leser*innen aus literarischen Texten, literarische Texte für ihre jungen Leser*innen unter den spezifischen Bedingungen der Nachkriegszeit (auf wie bedenkliche Weise auch immer) Sinn gemacht haben.

Stückwerk Was liest man, wenn man nach 1945 Rilke liest? Unter den Bedingungen von Kriegsschäden, Papiermangel und leeren Buchhandlungsregalen spielt sich literarische Lektüre in besonderer Weise im Zeichen textueller Fragmentarität und Flüchtigkeit ab. Vor der Währungsreform ist sie in hohem Maß auf Formate verwiesen, die sich durch ihren provisorischen Charakter, ihre prekäre materielle Faktur und – an der Idee eines Werkes gemessen – durch ihre Unvollständigkeit auszeichnen. Eher als in geschlossenen Werkzusammenhängen begegnet man Rilkes Gedichten de- und rekontextualisiert in Zeitungen, Zeitschriften,23 Auswahlausgaben, Anthologien oder als Zitaten aus zweiter Hand, während »seine

20 Manfred Engel: Rilke-Forschung heute. Einige Überlegungen zum Verhältnis von AutorenForschung und Fachgeschichte anläßlich einer Sammelrezension, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 1999, Jg. 24, H. 1, S. 106–131, hier S. 108. 21 Sieburg: Rilke (Anm. 4), S. 16. 22 Erhard Schütz, Jochen Vogt: Rainer Maria Rilke, in: dies. u. a.: Einführung in die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts. Bd. 1: Kaiserreich, Opladen 1977, S. 96–108, hier S. 96. 23 Eine Nachkriegszeitschrift – darauf hat Wolfgang Braungart: Das Karussell. Ein Gedicht, eine Zeitschrift und eine Metapher, in: Andreas Hübener u. a. (Hg.): Rilkes Welt. Festschrift für August Stahl zum 75. Geburtstag, Frankfurt a. M. u. a. 2009, S. 167–177, hingewiesen – borgt sich bei einem Rilke-Gedicht, das ihre erste Nummer eröffnet, sogar ihren Titel: Rainer Maria Rilke: Das Karussell. Jardin du Luxembourg, in: Das Karussell. Literarische Monatsschrift, 1946, Jg. 1, H. 1, S. 1.

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Werke«, wie immer wieder beklagt wird, »kaum zu haben sind«.24 Unter den Bedingungen materieller und textueller Knappheit treten Fragen der Auswahl und der Stellenlektüre in den Vordergrund. Was ist überhaupt noch vorhanden? Was ist noch zu brauchen, was gehört »auf den Müllhaufen« – wie es 1948 Elisabeth Langgässer mit Blick auf die »Duineser Elegien« formuliert, über die »bedauerlicherweise […] eine große Schicht unserer heutigen Jugend« noch nicht »herausgekommen« sei?25 Bedarf als sinnvoll erfahrbare Lektüre der »vollkommene[n] künstlerische[n] Geschlossenheit«26 eines Werk-Ganzen oder eignet der Begegnung mit Werkteilen, Einzelversen, Stellen ein spezifisches Sinnpotential?27 Lassen sich »Stückwerk und Teile, als sei es das Ganze«28, in eine neue, tragfähige Sinn-Ordnung überführen? Wenn ja, welche Kriterien lassen sich einer solchen Auswahl zugrunde legen? Kann man dabei den eigenen Wertmaßstäben überhaupt noch vertrauen? Mit Blick auf die jüngeren Angehörigen der sogenannten ›jungen Generation‹ werden solche Fragen beispielsweise im Kontext der Reorganisation schulischer Lektüren diskutiert. Die »Frage, ob Rilke in die Schule gehört, ist dornenvoll«.29 Die schulischen Lesebücher (als Formate, die per se eine Auswahl treffen) stehen auf dem Prüfstand. Wäre es nicht besser, so etwa Gerhard Storz in seinen im März 1946 in der »Wandlung« publizierten »Vorbemerkungen für ein künftiges Lesebuch«, »der junge Mensch« lerne »von Rilke nur die Briefe an einen jungen Dichter und wenige, sehr bedachtsam ausgewählte Gedichte kennen, als daß er in den Jahren der Unreife auf ein fernes Jahrzehnt hinaus am ›Stundenbuch‹ den Geschmack sich vielleicht verderbe«?30 Gilt besonders das »Stunden-Buch« vielen als fragwürdig, so wird an anderer Stelle wiederum empfohlen, im Unterricht »Teile aus Rilkes ›Stundenbuch‹ [zu] erarbeiten und sich durch fünf bis neun Sprecher zu einem Ganzen runden [zu] lassen«: »Wenn bei einer festlichen Gelegenheit […] eine Stimme nach der andern laut wird, […] so ist das alles von

24 Sieburg: Rilke (Anm. 4), S. 16. 25 Eugen Kogon, Elisabeth Langgässer, Hans Mayer: Was verstehen wir unter moderner Literatur?, Hessischer Rundfunk, Abendstudio, 15. 07. 1948 (Tonaufzeichnung, Historisches Archiv des Hessischen Rundfunks). 26 Katharina Kippenberg: Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien und Sonette an Orpheus, Wiesbaden 1946, S. 9. 27 Zum ästhetischen und hermeneutischen Stellenwert der Stelle (auch und besonders bei Rilke): Wolfgang Braungart, Joachim Jacob: Stellen, schöne Stellen. Oder: Wo das Verstehen beginnt, Göttingen 2012. 28 Rainer Maria Rilke: Die Sonette an Orpheus. Geschrieben als ein Grab-Mal für Wera Ouckama Knoop, Wiesbaden 1946, S. 20. 29 Frey: Rilke (Anm. 9), S. 73. 30 Gerhard Storz: Vorbemerkungen für ein künftiges Lesebuch, in: Die Wandlung, 1946, Jg. 1, H. 3, S. 221–229, hier S. 225.

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einer großen Gesamtstimmung getragen.«31 Geeignete Lektüredramaturgien für »Rilke-Feiern«32 werden vorgeschlagen: Als Stimmungseffekt der Teilstimmen formiert sich, so die Kalkulation, ein »Ganzes«, ein feierliches Gemeinschaftsgefühl. Eigens »zum Schulgebrauch« sowie »[f]ür den akademischen Unterricht« erscheinen 1947 in Göttingen als »Sonderausgabe mit Genehmigung des InselVerlages« 63 »Gedichte« Rilkes in broschiertem Oktavformat, »[i]n Auswahl herausgegeben von Hermann Kunisch«. Der Herausgeber hat das Heftchen mit einer programmatischen »Einleitung« versehen, die Fragen der Auswahl und Neuaneignung vor den Horizont politisch-kultureller Neuordnung rückt: Wir haben zu prüfen, welches Gewicht und welcher Raum der Stimme dieses Dichters gebührt in dem Werk, das wir leisten müssen. Nach dem, was geschehen ist, bleibt uns keine andere Wahl, als das uns Überkommene neu zu werten, neu zu ordnen und neu in Besitz zu nehmen; vieles dürfen wir wiedererkennen und nun erst ganz zu dem Unseren machen; manchem werden wir den Zutritt verweigern, damit sich die Schuld, die sich durch verantwortungsloses Spielen in der Welt des Geistes gehäuft hatte, nicht wiederhole. Das meint kein Herunterwerten und Verkleinern, sondern jenes ›distinguere‹ der klassischen Theologie des Mittelalters, ohne das es keine Ordnung und kein ›Reich‹ gibt.33

Die Zeilen haben es werkpolitisch in sich, weisen sie doch das vorliegende Heft nicht als das aus, was es seiner materiellen Faktur und seinem Umfang nach ist: das Produkt einer »Verkleiner[ung]«, dessen »Gewicht« sich auch in Gramm angeben ließe, sondern als Bestandteil eines bedeutsamen »Werk[s]«, das in die lange Tradition theologischer Kanonpflege gestellt wird. Explizit »bekennt sich« die Einleitung dazu, dass »jede Auswahl zugleich eine Deutung« ist.34 Wie könnte eine solche Auswahl beginnen, wenn sie sich so dezidiert auf das Neue verpflichtet? Mit einer Losung: »Du mußt dein Leben ändern«?35 Mit »neue[m] Anfang, Wink und Wandlung«36 – ganz in der Spur zeitgenössischer Zeitschriftentitel? Mit demjenigen Sonett, das 1947 sogar eine buchförmige Einzelpublikation mit begleitender Deutung erfährt: »Sei allem Abschied voran…«?37 Das Göttinger Heft gibt sich nüchterner: »Die Anordnung unserer Auswahl folgt«, wie 31 Marie Hed Kaulhausen: Sprecherziehung im Deutschunterricht, in: Der Deutschunterricht. Arbeitshefte zu seiner praktischen Gestaltung, 1948, Jg. 1, H. 8, S. 49–66, hier S. 63. 32 Ebd., S. 64. Zu Stimmung als ästhetischer Kategorie vgl. Burkhard Meyer-Sickendiek, Friederike Reents: Einleitung, in: dies. (Hg.): Stimmung und Methode, Tübingen 2013, S. 1–14. 33 Rainer Maria Rilke: Gedichte, in: Auswahl, hg von Hermann Kunisch, Göttingen 1947, S. 3f. 34 Ebd., S. 4. 35 Rainer Maria Rilke: Archaïscher Torso Apollos, in: Die Besinnung. Eine Zweimonatsschrift, 1946, Jg. 1, H. 4, vordere Umschlaginnenseite. 36 Rilke: Sonette (Anm. 28), S. 5. 37 Rainer Maria Rilke: »Sei allem Abschied voran…« Das XIII. Sonett aus dem Zweiten Teil der Sonette an Orpheus. Eine Interpretation von Else Buddeberg, Hamburg 1947.

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die Einleitung erläutert, »der Zeit der Entstehung«.38 Ausgerechnet das Eröffnungsgedicht allerdings – »Für Frau N. Wunderly-Volkart (Mit den Duineser Elegien)«39 – weicht von dieser entstehungschronologischen Ordnung ab. Als Portalgedicht, das die Leser*innen zuerst passieren und das ihrer Lektüre die Weichen stellt (auch wenn die Einleitung offeriert, »die Führung durch den Herausgeber abzulehnen und eine andere Ordnung zu suchen«40), fungieren somit Verse, die in Sachen Kontinuität und Neubeginn eigenartig doppelbödig sind, zwar von »Wendung« und »Wandel« sprechen und von einem »[I]ch«, das »wieder zum Kinde« wird, andererseits aber auf Stabilisierungseffekte setzen. Das geschieht (metrisch) durch die jeweils letzten, typographisch abgesetzten Verse der fünfzeiligen Strophen, die mit ihren harten, betonten Schlusssilben die sprachliche Bewegung der vorangehenden Verse sistieren, und es geschieht (semantisch) durch die letzten Verse, die poetologisch das »Wort« beschwören, das, »statt daß es schwinde, / steht« – und zwar: »siegend und unversehrt«. Das kann man in der Trümmerwirklichkeit des Nachkriegs tatsächlich nur als Zauberformel lesen: Es gibt, so das heikle Versprechen, noch etwas, das triumphiert. Klammheimlich unterlegt die Anordnung der Gedichte der »Auswahl« so ein subtiles Sinnangebot. Gedruckten Auswahlausgaben dieser Art steht in der medienkulturellen Praxis der Nachkriegszeit ein anderes Auswahlformat gegenüber, auf das – ebenfalls 1947 – ein Beitrag Joachim Staves im »Denkenden Volk«, einer Zeitschrift der Volkshochschulbewegung, die Aufmerksamkeit richtet: »die Anthologie, die man sich selbst macht«.41 Als »Urbild« eines solchen Anthologisten 38 Rilke: Gedichte (Anm. 33), S. 5. 39 Ebd., S. 10: »ALLE die Stimmen der Bäche, / jeden Tropfen der Grotte, / bebend mit Armen voll Schwäche / geb ich sie wieder dem Gotte // und wir feiern den Kreis. // Jede Wendung der Winde / war mir Wink oder Schrecken; / jedes tiefe Entdecken / machte mich wieder zum Kinde –, // und ich fühlte: ich weiß. // Oh, ich weiß, ich begreife / Wesen und Wandel der Namen; / in dem Innern der Reife / ruht der ursprüngliche Samen, // nur unendlich vermehrt. // Daß es ein Göttlicher binde, / hebt sich das Wort zur Beschwörung, / aber, statt daß es schwinde, / steht es im Glühn der Erhörung // siegend und unversehrt.« 40 Ebd., S. 4. 41 Joachim Stave: Über das Abschreiben von Gedichten, in: Denkendes Volk. Blätter für Selbstbildung, 1947, Jg. 1, H. 6, S. 175–177, hier S. 177. Zur »Privatanthologie« vgl. Dietger Pforte: Die deutschsprachige Anthologie. Ein Beitrag zu ihrer Theorie, in: ders., Joachim Bark (Hg.): Die deutschsprachige Anthologie. Bd. 1: Ein Beitrag zu ihrer Theorie und eine Auswahlbibliographie des Zeitraums 1800–1950, Frankfurt a.M. 1970, S. 13–124, hier S. 32–37. Zu Lyrikanthologien der Nachkriegszeit als »Archive[n], in denen sich historisch spezifische Muster des allgemeinen kulturellen Selbstverständnisses ablagern«, vgl. Fabian Lampart: Nachkriegsmoderne. Transformationen der deutschsprachigen Lyrik 1945–1960, Berlin u. a. 2013, S. 60–85, hier S. 60. Zur Diskussion über den Status anthologischer Formate zwischen Fragmentarität und Werkeinheit sowie zum medienspezifischen Rezeptionspotential anthologischer »heterogeneity« vgl. Nora Ramtke, Seán M. Williams: Approaching the German Anthology, 1700–1850: An Introduction, in: Dies. (Hg.): Das Erblühen der Blumenlesen.

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stellt der Beitrag einen deutschen »Kriegsgefangene][n« vor, der »in einem kleinen holsteinischen Dorf in die Häuser ging, um sich in den Besitz einer geistigen Nahrung zu bringen, die ihm dringlicher schien als die schmale leibliche Tageskost von acht Keksen und einer dünnen Wassersuppe«: »Er lieh sich Bücher«, die er »auf eine[r] Wiese hinter den Zelten« gelesen habe. Aber er las sie nicht nur. Er schrieb sie ab auf simple Zettel des gleichen Formats, die er in einer, aus dem Karton eines Tabakpäckchens und einer Schnellhefterfeder selbstgefertigten Hülle verwahrte. Was er schrieb, waren Gedichte; später kamen Prosastellen hinzu, die auch, wenn man sie aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gelöst vernahm, in einem stillen Rhythmus wie Gedichte schwebten.42

Das Alter des Schreibers gibt der Aufsatz nicht an: dass er »einstmals Besitzer einer stattlichen Bibliothek«43 gewesen sein soll, lässt ihn als Älteren erahnen, die Erfahrung der Kriegsgefangenschaft teilt er aber mit vielen Angehörigen der sogenannten ›jungen Generation‹ – ebenso wie die Praxis, sich in Ermangelung gedruckter Bücher »eigene handschriftliche Gedicht- und Prosasammlungen anzulegen«. Diese hatte sich, wie die »Süddeutsche Zeitung« im September 1949 in Erinnerung ruft, als »Brauch« nicht zuletzt »bei der studierenden Jugend […] eingebürgert«: »Rilke, Reinhold Schneider und Ernst Jünger gehörten mit in die Reihe der so geehrten Autoren«.44 Und so auch hier. An den »Anfang seiner Sammlung« nämlich, so wieder Staves Beitrag, habe der Kompilator »einige[ ] Verse aus den Sonetten an Orpheus« gestellt: Wo, in welchen immer selig bewässerten Gärten, an welchen Bäumen, aus welchen zärtlich entblätterten Blütenkelchen reifen die fremdartigen Früchte der Tröstung? Diese köstlichen, deren du eine vielleicht in der zertretenen Wiese deiner Armut findest.45

Für Leser*innen, die beispielsweise über die 1946 im 51.–60. Tausend aufgelegte Einzelausgabe der »Sonette an Orpheus« in der »Insel-Bücherei« verfügen, sind diese Verse als Anfang des XVII. Sonetts des »Zweiten Teils« identifizierbar,46 die darin mit anderen Gedichten des Zyklus in kunstvollem Zusammenhang stehen,

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German Anthologies, 1700–1850 (Colloquia Germanica 2017, Jg. 70, H. 1), S. 1–21, hier S. 14– 20. Stave: Abschreiben (Anm. 41), S. 175. Zum hier zur Geltung kommenden Pathos des Kahlschlags, das die geschilderte Szenerie gerade in ihrer Kargheit existentiell auflädt, vgl. Joachim Jacob: Kahlschlag Pathos. Ein verdrängtes Phänomen in der frühen Nachkriegsliteratur, in: Ders., Günter Butzer (Hg.): Berührungen. Komparatistische Perspektiven auf die frühe deutsche Nachkriegsliteratur, München 2012, S. 243–261. Stave: Abschreiben (Anm. 41), S. 175. [Lektor]: Der Bücherfreund, in: Süddeutsche Zeitung, 01. 09. 1949, o.P. Stave: Abschreiben (Anm. 41), S. 175f. Rilke: Sonette (Anm. 28), S. 49.

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»alle geeinigt in Orpheus, um den und mit dem gemeinsam sie tiefsinnig spielen«.47 Aus diesem Kontext gerissen und der vorgestellten Anthologie vorangestellt, werden sie anders lesbar. Sie erhalten durch ihre Platzierung programmatischen Charakter und werden transparent auf die Schreib- und Leseszene ihrer Aneignung hin, wie Staves Beitrag sie vorstellt: Die Rede von den »Blütenkelchen« bringt die Anthologie in ihrem Charakter als ›Blütensammlung‹, als Florilegium zur Geltung; die »Wiese« – in Staves Beitrag wie nebenbei als Lektüreort eingeführt – wird als Fundstelle lesbar, an der die »fremdartigen« Lesefrüchte angeeignet werden; das paradiesische Motiv der »immer selig bewässerten Gärten« tritt zur »dünnen Wassersuppe«, die beschworene ›Köstlichkeit‹ der Früchte zur »schmale[n] […] Tageskost« des Lagers in Kontrast; die Rede von der »Tröstung« unterlegt der Blütenlese einen erbaulichen Zweck. Der Modus der Frage schiebt die Einlösung solcher »Tröstung« auf: die Antwort auf ihr »Wo«? kann die Sammlung nur selbst geben. Womöglich aber, so Staves Kommentar, liege der entscheidende Trost – abseits jedes propositionalen Sinngehalts – »im unermeßliche[n] Schwingen dieser Verse« selbst. Das Stückchen Lyrik, so die Deutung, gibt seinem Schreiber-Leser auch »ein Stückchen seines Selbst« zurück: »Im Grunde gab es auf die Frage dieser Zeilen keine Antwort, aber daß nun die Frage in einer solchen Reinheit aufstand, das beruhigte, und darum schrieb er sie sich ab«.48 In der von Staves Beitrag konturierten Leseszene49 scheinen Rezeptionsformen auf bzw. werden zur Sprache gebracht, die für die Aneignung von Rilkes Lyrik nach 1945 insgesamt charakteristisch zu sein scheinen: Objektseitig wird das erbauliche Potential des Textes seiner ästhetischen und materialen Performanz zugeschrieben. Die rezeptionsseitige Aktualisierung dieses Potentials entspricht Mustern erbaulicher Lektüre, wie sie systematisch Franz Eybl gefasst hat: Dazu zählen semantisch die Allegorisierung der Lektüre als geistige Nahrung50 und des Textes als »Vorrat« oder »Garten«51; strukturell die Relation einer »Bespiegelung des Lesers im Text«52, der dessen Sinnangebote aktualisierend auf sich selbst bezieht – sowie nicht zuletzt, dass solche Erbauung »auf den Werkcharakter ihres Gegenstandes verzichten und der Wirkungsstruktur eines geschlossenen Textes entraten« kann, sie sich hier vielmehr gerade und allererst 47 Kippenberg: Rilke (Anm. 26), S. 114. 48 Stave: Abschreiben (Anm. 41), S. 176. 49 Zum Konzept der Leseszene vgl. Irina Hron u. a. (Hg.): Leseszenen. Poetologie – Geschichte – Medialität, Heidelberg 2020. 50 Vgl. Franz M. Eybl: Vom Verzehr des Textes. Thesen zur Performanz des Erbaulichen, in: Andreas Solbach (Hg.): Aedificatio. Erbauung im interkulturellen Kontext der Frühen Neuzeit, Tübingen 2005, S. 95–112, hier S. 95f. Vgl. auch Sieburg: Rilke (Anm. 4), S. 18; Kogon u. a. (Anm. 25). 51 Eybl: Verzehr (Anm. 50), S. 99. 52 Ebd.

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»am Detail« einstellt.53 Durch ihre Herauslösung aus einem immer schon eine bestimmte Lesbarkeit vorgebenden Werk- und Sinnzusammenhang kann die Stelle zur »Kontaktstelle«54 werden, die sich für neue Kontextualisierungen, Aneignungen, Sinngebungen öffnet.

Sprechen und Schweigen So geschieht es auch auf den 22 Seiten eines schmalen Heftchens, das im Oktober 1946 zum Preis von 60 Pfennig in der Regensberg’schen Verlagsbuchhandlung in Münster erscheint. Vom Titel des Hefts lässt sich auf den ersten Blick kaum sagen, ob er wohl einen Psalm, ein Kirchenlied oder ein Gedicht zitiert: »Ich danke dir, du tiefe Kraft«. Der Untertitel allerdings lässt die Leser*innen erahnen, woher das Zitat stammen dürfte – er stellt ein »Heimkehrer-Gespräch über RilkeVerse« in Aussicht.55 Wer das Heft aufblättert und zu lesen beginnt, sieht sich – ohne jede weitere Vorrede der Autorin, Anna Püning – unmittelbar in das Gespräch eines (allem Anschein nach) jungen Paares versetzt. Schon in den ersten Dialogpartien kommt dabei eine eigenartige Spannung zwischen Verdunkelungs- und Aufklärungsimpulsen zur Geltung, die für den Dialog insgesamt strukturgebend ist: sie will Licht ins Dunkel bringen, er sträubt sich. Ludger: Komm, laß doch das Licht, Anja! Anja: Nur diese kleine Lampe laß brennen. Ich möchte dich doch sehen. Manchmal ist es wie ein Traum, daß du da bist, daß du mit mir sprichst.56

Ludger, so deuten die nächsten Zeilen an, ist »unbekannte Wege gegangen« (5) und nun »heimgekehrt« (6).57 Darum möchte Anja ihn »sehen«, »immerfort ansehen, weil ich dann vielleicht etwas erspüre von dir«. Ludger aber hat, wie er selbst sagt, »eigentlich noch garnicht mit dir gesprochen«, er ist, wie auch Anja

53 Ebd., S. 99. Hierzu auch Hanna Engelmeier: Trost. Vier Übungen, Berlin 2021, S. 33f., ebenfalls mit Eybls Stellen-Stelle. 54 Wolfgang Braungart: Vom Sinn und Leben der Stelle, in: Braungart, Jacob: Stellen (Anm. 27), S. 64–143, hier S. 95. 55 Zu finden ist das Titelzitat zeitgenössisch in: Rainer Maria Rilke: Das Stunden-Buch enthaltend die drei Bücher: Vom mœnchischen Leben / Von der Pilgerschaft / Von der Armuth und vom Tode, Wiesbaden 1946, S. 45. 56 Anna Püning: Ich danke dir, du tiefe Kraft. Heimkehrer-Gespräch über Rilke-Verse. Münster 1946, S. 5 (Nachweise im Folgenden direkt im Text). 57 Zum Heimkehrer-Diskurs vgl. Elena Agazzi, Erhard Schütz (Hg.): Heimkehr. Eine zentrale Kategorie der Nachkriegszeit. Geschichte, Literatur und Medien, Berlin 2010.

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befindet, »erstaunlich wortkarg«. Auf ihr kommunikatives Interesse reagiert er defensiv: »Ach, Anja, was willst du denn erspüren, ich will dir doch nichts verheimlichen. Ich will dir doch alles sagen, was du wissen möchtest. Nur mußt du mir Zeit lassen, viel Zeit. Du wirst schon noch alles erfahren, wenn du nicht fragst, und – du warst doch dabei, als ich Jan Rede und Antwort stand, da weißt du doch so ziemlich meine Marschroute« (5f.). Und damit weiß Anja immerhin mehr als wir: Wer zum Beispiel Jan ist, erfahren wir als Leser*innen bis zum Ende des Textes nicht (nur dass er einmal »bei uns gespielt hatte«, während »Jenny […] Rilkeverse[ ] gesprochen« habe (7) und dass »Jenny« später einen »kläglichen Tod« (21) gestorben sei, dringt wie nebenbei an die Gesprächsoberfläche) und auch von Ludgers »Marschroute« können wir nur Ungefähres erahnen: von einem »russischen Gehöft« (6) ist die Rede, vom »Ural« (7), vom »dunklen Stollen Sibiriens« (10) und der »äußerste[n] Grenze Europas«, an die Ludger »geworfen« (7f.8) worden sei. Gesagt ist damit aber in der Tat »ziemlich« wenig. Die Vokabel »geworfen« etwa – und darin ist sie für Ludgers Sprechen insgesamt symptomatisch – lässt mehr im Unklaren als sie verrät: Soldaten geraten ja in aller Regel nicht dadurch von A nach B, dass sie »geworfen« werden. Als Wehrmachtsangehöriger, so darf man vermuten, ist Ludger in die Sowjetunion einmarschiert, später dann offenbar gefangen genommen worden. Die heideggerisierende Rede vom »Geworfenwordensein« rückt das ins Passive und überhöht es ins Existentielle. Und auch wie Ludger auf jenes »russische[ ] Gehöft« gelangt sein mag, zu dem er sich »damals« (wann genau?) »mit letzter Kraft« (weshalb war sie ihm ausgegangen?) »schleppte« (6); was geschehen musste, damit ein deutscher Soldat überhaupt auf ein »russische[s] Gehöft« gelangen konnte (wem gehörte es? was spielte sich dort ab?), bleibt ungesagt. Für die Wahrnehmung solcher Unschärfen und Leerstellen werden die Leser*innen von Pünings Dialog von Anfang an sensibilisiert. Das avisierte »Gespräch über Rilke-Verse« ist schon mit seinen ersten Zeilen in einen Reflexionsrahmen gestellt, in dem das Problem des »[W]ortkarg[en]«, des »[S]agen[s]« und »[V]erheimlichen[s]«, des »[S]ehen[s]«, »[E]rspüren[s]« und »[W]issen[s]« thematisiert ist. Der Textbeginn gibt auf diese Weise subtil zu verstehen, dass das Gespräch über Rilke ein Schweigen über anderes einschließen wird. Das Ausgeschlossene – was Ludger als Soldat getan und erlebt hat – ist im Text von vornherein als Abwesendes präsent. An die Stelle des Sprechens über die Kriegswirklichkeit rückt hingegen ein anderer Gegenstand ins Zentrum des Gesprächs. Der Heimkehrer Ludger, so wie er sich in Pünings Dialog in Szene setzt, ist weniger Krieger, als Leser. Und bezogen auf diese Erfahrung nun, auf die Erfahrung seiner Lektüre, erweist sich Ludger als ganz und gar nicht »wortkarg«, sondern im Gegenteil als ausgespro-

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chen redselig. Auf jenem »russischen Gehöft«, so beginnt sein nun sich entspinnender Bericht, habe Ludger mit einem Mal Anjas »Stimme [ge]hört«: Ich lag auf dem Gesicht und da hörte ich dich meinen Namen rufen. Du weintest. Ganz bitterlich weintest du. Ich kann auch nicht sagen, wie es war. Aber ich drehte mich um, und dann sah ich das Licht und kroch darauf zu. Und als ich dann nachher auf dem Lastwagen lag und stundenlang in den grauen, endlosen Himmel ohne Sterne sah, da dachte ich plötzlich völlig beziehungslos an die Worte: ›Aber du freust dich jedes Gesichts, das dient und dürstet.‹ Anja: So völlig beziehungslos kamen sie dir wohl nicht in den Sinn. Jenny hatte sie doch mit anderen Rilkeversen gesprochen, als Jan bei uns gespielt hatte. Ludger: Daran erinnerte ich mich nicht im geringsten. Aber das erklärt ja vielleicht, daß sie mir im Gedächtnis blieben und plötzlich auftauchten. Ich suchte dann später, Monate später, das kleine Rilke-Buch nach, das du mir mal in die Kaserne geschickt hattest und das erstaunlicherweise im Ural noch in meinem Besitz war. Es war unter das Rockfutter gerutscht, und da fand ich es eines Tages und las, und ich erlebte eine der unauslöschlichsten Stunden meines Lebens, Anja. Anja: Dachtest du auch an mich, Ludger? Ludger: Ach weißt du, ich kann dir nicht sagen, woran ich dachte. Vielleicht mußte ich an die äußerste Grenze Europas geworfen werden, um diese Stunde zu erleben. Ich verstand garnicht alles, was in dem Heft stand, aber ich wurde angerührt von einem wunderbaren Klang, ein geheimnisvoller Rhythmus schien meine Seele und meinen Geist einzuwiegen. ›Dann kommt das Schweigen, das wir lang erwarten, kommt wie die Nacht von großen Sternen weit.‹ (6ff.)

Emphatischer lässt sich über literarische Lektüre kaum sprechen. Die »plötzlich[e]« Begegnung mit Rilke, zunächst in Form einer »Gedächtnis«-»Stimme«, dann in Form eines »kleine[n]« »Buch[s]« oder »Heft[s]«58, das wie ein papierner deus ex machina dem Bedürftigen im rechten Augenblick erscheint, verhilft Ludger dazu, eine Erfahrung der Sinnlosigkeit in eine Erfahrung der Sinnfülle 58 Eine bestimmte Ausgabe wird nicht genannt. Mit Ausnahme des nachgelassenen Gedichts »Begegnung« (8, 22; vgl. Rainer Maria Rilke: Tagebücher aus der Frühzeit, hg. von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber, Leipzig 1942, S. 275f.) stammen die im Dialog zitierten RilkeVerse (7, 10–19) aus dem »Stunden-Buch« (vgl. Rainer Maria Rilke: Das Stunden-Buch enthaltend die drei Bücher Vom mœnchischen Leben / Von der Pilgerschaft / Von der Armuth und dem Tode. Frontbuchhandels-Ausgabe für die Wehrmacht, Leipzig [recte: Paris] 1941, S. 14, 8, 16f., 20, 55, 36, 9f., 45, 44, 34).

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umzuwenden: »Und ich, Anja, arm, heimatlos, gefangen, verachtet, ich hatte die Kraft, im dunklen Stollen Sibiriens mich aufzurichten« (10). Diese Sinnerfahrung ist zugleich als religiöse profiliert: Ludger will durch sie begonnen haben, »das Wort heilig zu verstehen« und zu erfahren, »daß Gott uns zu vollenden sehnsüchtig bereit ist« (11). Unterstrichen wird diese religiöse Dimension dadurch, dass Ludgers Darstellung im aufgerufenen christlichen Deutungshorizont überaus prominente Intertexte unterlegt sind: Wie der Prophet Daniel liegt Ludger »auf dem Gesicht« (6) und vermag sich »aufzurichten« (10),59 wie Saulus sieht Ludger ein »Licht« (7) und »hört[ ]« eine »Stimme« seinen »Namen rufen« (6),60 wie Augustinus wird Ludger durch eine jäh vernommene »Stimme« (ebd.) zur einschneidenden Lektüre gebracht.61 In der Logik dieser Referenzen sind die Verse Rilkes strukturell in die Position der Worte Gottes eingerückt, ist ihrer Lektüre sakrale Bedeutsamkeit beigemessen. Das täuscht freilich darüber hinweg, dass Rilke-Lektüre in der literaturpolitischen Wirklichkeit des Zweiten Weltkriegs gerade keine Begegnung mit einem ganz Anderen war, Frontausgaben etwa des »Stunden-Buchs« (dem beinah alle im Dialog zitierten Rilke-Verse entnommen sind) vielmehr innerhalb nationalsozialistischer Lektürepolitik ihren Ort hatten.62 Wie bei Augustinus sind es auch hier isolierte Stellen, die Ludger ganz und gar identifikatorisch auf sich bezieht (»Ich trug auch ein Gesicht, das dient und dürstet«, 9), die ihn unmittelbar betreffen (»Diese Worte waren in den tiefsten, verschlossensten Raum der Seele gefallen«, 11) und die dabei gerade als Stellen ihre Wirkung entfalten: »Ich glaube, du überschlägst da einige Zeilen, Ludger!«, wendet Anja ein, als Ludger von seiner »gebannt[en]« Lektüre berichtet – worauf dieser bloß entgegnet: »Ja, ich weiß, aber ich vergaß sie. Ich nahm nur das auf, was mir gemäß war.« (10) Auch hier läuft Erbauung über Einzelnes, ja sie zerlegt den 59 Vgl. Daniel 8,18: »Und da er mit mir redete, sank ich in eine Ohnmacht zur Erde auf mein Angesicht. Er aber rührte mich an und richtete mich auf, daß ich stand.« (Übers. Luther) 60 Vgl. Apostelgeschichte 9,3ff.: »Und da er auf dem Wege war und nahe an Damaskus kam, umleuchtete ihn plötzlich ein Licht vom Himmel; und er fiel auf die Erde und hörte eine Stimme, die sprach zu ihm: Saul, Saul, was verfolgst du mich? […] Stehe auf und gehe in die Stadt; da wird man dir sagen, was du tun sollst. […] Saulus aber richtete sich auf von der Erde […]. […] Und alsobald fiel es von seinen Augen wie Schuppen, und er ward wieder sehend, und stand auf, ließ sich taufen und nahm Speise zu sich und stärkte sich.« (Übers. Luther) 61 Vgl. Augustinus: Bekenntnisse, in: Ders.: Bekenntnisse und Gottesstaat. Sein Werk ausgewählt von Joseph Bernhart. Mit einem Bildnis, 2. Aufl. Stuttgart 1939, S. 51–201, hier S. 142f.: »Jetzt aber, da ein grübelndes Betrachten aus tief verborgnem Grund mein ganzes Elend vorgezerrt und vor die Augen meines Herzens mir gestellt, da zog durch meine Seele ein gewaltger Sturm und führte Regengüsse mit sich unermeßlich reicher Tränen. […] Und sieh, da hör ich eine Stimme vom Nachbarhaus herüber, singenden Tons, die Stimme wie von einem Knaben oder Mädchen, die immer wieder rief: Nimm, lies! Nimm, lies!« 62 Vgl. Ine Van Iinthout: Das Buch in der nationalsozialistischen Propagandapolitik, Berlin u. a. 2012, S. 349.

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Text überhaupt erst in diejenigen Stellen, die für ihren Leser »Brauchbarkeit« beanspruchen dürfen, weil sie seine »Sinnbedürfnisse« treffen.63 »Ich wollte nicht weiter lesen«, so ist diese Logik der Stellenlektüre im augustinischen Prätext ausformuliert, »und brauchte nicht weiter zu lesen.«64 Auch Ludger geht es nicht um den hermeneutischen Nachvollzug eines Sinnganzen, sondern um eine Rezeption, die »das bloß Hermeneutische« in der Performanz erbaulicher Aneignung »überschreite[t]«65 – und darin auch den Autor unterläuft, der gerade das »Stunden-Buch« emphatisch als geschlossenes Ganzes bestimmt hatte, als »ein einziges Gedicht, in dem keine Strophe von ihrem Platz gerückt werden kann«.66 Sinn stellt sich für Ludger hingegen in einer Lektüre ein, die mit »StundenBuch«-Strophen frei hantiert und gar nicht darauf aus ist, den ganzen Schriftsinn zu deuten: »Ich nahm die Worte garnicht im einzelnen auf. Die unendliche Sehnsucht, das schmerzhafte Suchen war mir so verwandt« (12). Während Ludger also eine ganz kleine Zeichenmenge genügt, um ganz Großes zu erfahren, schlägt sich diese Erfahrung der Sinnfülle in seinem eigenen discours in einer umso größeren Zeichenfülle nieder: als regelrechter Redeschwall, der höchste Töne anschlägt und große Worte aneinanderreiht: von der »Unsterblichkeit der Seelen« und dem »Zwiespalt des Seins« ist da nun die Rede, von »Sünde und Gnade, Adel und Verbrechen«, vom Glauben an das »Unvergängliche«, vom »Mensch«-Sein, von »Leid«, »Verlorenheit« und der »tiefste[n] Innerlichkeit unserer Zeit«, vom »[W]andern und [S]uchen« (alle 9), von »Gott« (11, 12, 14), »Wahrheit« (13), »Ewigkeit« (13), »ewige[r] Wahrheit« (14), vom »Antlitz des Ewigen« (19), »Offenbarung« (13), »Leben« (19), »eigentliche[m] Leben« (14), vom »Mittelpunkt des Seins« (15), der »geistigen Weite des Seins« (16), »alle[n] wesenhaften Äußerungen des Menschengeistes« (15), »vollkommen[er] Harmonie« (19). Ludgers Rede folgt darin einem – in der deutschsprachigen Nachkriegsprosa, wie Philipp Pabst gezeigt hat, insgesamt verbreiteten – Verfahren heikler »Figuration[] von Bedeutsamkeit«, die an die Stelle konkret referentialisierenden Sprachgebrauchs immer wieder »übercodierte, aber unterdeterminierte Konzepte« und Vokabeln setzt, »die derart groß dimensioniert sind, dass ihre Inhaltsseite im Unscharfen, im Abstrakten verbleiben 63 Braungart: Sinn (Anm. 54), S. 79. 64 Augustinus: Bekenntnisse (Anm. 61), S. 144. Hierzu Joachim Jacob: Kleine Stellenkunde, in: Braungart, Jacob: Stellen (Anm. 27), S. 11–63, hier S. 17–22. 65 Eybl: Verzehr (Anm. 50), S. 95. 66 Maurice Betz: Rilke in Frankreich. Erinnerungen, Briefe, Dokumente. Aus dem Französischen übersetzt von Willi Reich, Wien u. a. 1938, S. 112. Hierauf weisen hin: Manfred Koch: Der Gott des innersten Gefühls. Zu Rilkes ästhetischer Theologie, in: Der Deutschunterricht, 1998, Jg. 50, H. 5, S. 49–59, hier S. 51: »das Stunden-Buch will als Zyklus, d. h. hier: in einem kontinuierlichen Lesefluss, gelesen werden«; ebenso Wolfgang Braungart: Der Maler ist ein Schreiber. Zur Theo-Poetik von Rilkes Stunden-Buch, in: Blätter der Rilke-Gesellschaft, 2007, Jg. 23, S. 49–75, hier S. 54.

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muss«.67 Darin wiederum ähnelt Ludgers Sprechen einer Unschärfestruktur der zitierten »Rilke-Verse« selbst, die sich ihrerseits durch vage Referenzverhältnisse und eine (allerdings unbegriffliche) Semantik der Überdimensionierung und Entdifferenzierung auszeichnen, durch eine Auflösung sinnhafter Eindeutigkeiten und sinnlich fassbarer Konturen. Es dominieren Vokabeln wie »Nacht« (8, 13), »schwarz« (13), »Dunkel« (13), »Dunkelstunden« (10), »dunkle[r] Intervall« (11), »dunkles Netz« (12), »dunkelnder Grund« (18), »dunkel tief« (14), »vertiefen« (10), »tiefe Kraft« (16), »groß« (8, 12), »weit« (8, 14), »lang« (8), »breit« (10), »zeitlos« (10), »stille« (15), »leise« (16), »Schweigen« (8, 12), »Ungefähre[s]« (15), »unerfaßlich[ ]« (18),68 von denen auch Ludgers Sprechen infiziert ist: »tief« (11, 12), »dunkle Tiefe« (22), »hinab« (16), »Abgrund« (18), »Seelengrund« (12), »Weite« (16, 17), »unendlich« (12), »unerschöpflich« (19), »leise« (22), »still« (18). Gerade in der Unschärfestruktur einer Lyrik, in deren poetischer Form – so formuliert es das ebenfalls 1946 publizierte Rilke-»Gedenkbuch« Elisabeth von Schmidt-Paulis – »Rhythmus und Klang den starren Sinn der Begriffe auflösen«69 und so einen ästhetischen Resonanzraum erzeugen, der Optionen zur erbaulichen Selbstbespiegelung eröffnet, scheint für Ludger ihr spezifischer Gebrauchswert zu bestehen. Durch Rilkes Verse sind Ludgers Sinnfragen nicht beantwortet, wohl aber ästhetisch gelöst. Und zugleich fungieren sie als Katalysator für ein Sprechen, das sich selbst als sinnerfüllt erfährt und dabei doch ›dunkel‹, ›tief‹ und ›schweigsam‹ bleiben kann. Auch das Problem der »[W]ortkarg[heit]« ist damit ästhetisch, nicht aber kommunikativ bewältigt. Vorläufig jedenfalls: Als Ludgers Rede auf seinen verstorbenen »Kamerad[en]« Hannes kommt (18), werden seine Worte wieder karger, das »[S]prechen« wieder aufgeschoben: »Vielleicht kann ich später einmal mehr davon erzählen« (20). Im dialogischen discours des Gesprächs bleibt Ludgers Rilke-Emphase keine stabile Position; sie erhält ein Gegengewicht. Im »hellen Tagesschein« des Geschehenen, vor dem auch Anja »oft flüchten und die Augen schließen« möchte, erscheinen ihr die »nachtdunklen Verse von Rilke […] unwirklich«: »Vielleicht ist es eine Flucht und ein Unrecht.« (21) Am Ende aber treten beide Figuren in die »Nacht« hinaus: miteinander ebenso wie mit den die »Nacht« beschwörenden Rilke-Versen, die Ludger dazu spricht, in perfekte Harmonie gebracht: »Zwei Menschen […] / wie im selben Garten, / und dieser

67 Philipp Pabst: Die Bedeutung des Populären. Kulturpoetische Studien zu Benn, Böll und Andersch. 1949–1959, Berlin u. a. 2021, S. 218. 68 Zu den rhetorischen »Entgrenzungs- und Entsemantisierungstechniken« des »StundenBuchs« und seiner Metaphorik der Tiefe und Dunkelheit vgl. Koch: Gott (Anm. 66), S. 52. 69 Elisabeth v. Schmidt-Pauli: Rainer Maria Rilke. Ein Gedenkbuch, 2. durchges. Aufl., Lorch 1946, S. 50.

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Garten ist / nicht in der Zeit.« (22) Pünings »Heimkehrer-Gespräch« inszeniert so nicht nur erbauliche Lektüre: es wird mit diesem Schlussakkord selbst erbaulich. Wie das »kleine Rilke-Buch« oder »Heft«, das Ludger liest, wie Hermann Kunischs Göttinger Rilke-»Heft« zum »Schulgebrauch« und wie die »selbstgefertigt[e]« »Zettel«-Sammlung des von Joachim Stave vorgestellten »Kriegsgefangenen« reißt auch Pünings kleines Heftchen Rilke-Gedichte aus ihrem Werkzusammenhang, rahmt und arrangiert sie neu, richtet sie aus auf Sinnbedürfnisse der Nachkriegsgegenwart. Weiter freilich als in einen »nachtdunklen« Tiefenraum der Entdifferenzierung (Püning), weiter als zum »siegend[en] und unversehrt[en]« »Wort« (Kunisch), weiter als in die »selig bewässerten Gärten« des Trostes (Stave) kann man sich aus der Gegenwart der Jahre 1945, 1946, 1947 kaum hinausimaginieren. Kein Wunder, dass bald die Appelle an »junge Menschen« lauter wurden, dem »Verführer«, dem »Rattenfänger« Rilke abzuschwören: »Unsere Lieder seien neue Lieder«.70 Kein Wunder aber auch, dass Rilkes Lyrik derart »breite Wirkungen«71 entfalten konnte. Sie verdanken sich nicht zuletzt ihrer Verwertbarkeit als Stückwerk: Sinn stellt sich in den vorgeführten Fällen in der Performanz einer aktualisierenden Lektüre ein, die über das Rearrangement und die Neuaneignung einzelner Stellen führt. Die Popularität von Rilkes Gedichten und Gedicht-Bruchstücken gerade auch bei der sogenannten ›jungen Generation‹ macht deutlich, in welchem Maße auch junge Leser*innen ihre Sinnfragen keineswegs nur an das emphatisch Neue richteten, sondern welcher Stellenwert zugleich einer prekären Refunktionalisierung des in vielerlei Hinsicht brüchig gewordenen Alten zukam.

70 Wolfdietrich Schnurre: Alte Brücken – neue Ufer, in: Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation, 01. 04. 1947, S. 12. 71 Sieburg: Rilke (Anm. 4), S. 16.

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Sinn- und Wertvorstellungen junger Mitglieder des Jugendverbandes »Die Falken-Sozialistische Jugendbewegung Deutschlands« in den Jahren 1945–1949 in Gruppenchroniken und Interviews »Da Werner Mock verreist war, mussten wir auf den Vortrag über Sozialismus verzichten.«1

Auch in der Sozialdemokratie keine »Stunde Null« Mit dem Zusammenbruch der äußeren Ordnung kollabierten auch die das Leben junger Menschen hinsichtlich der Sinn- und Wertvorstellungen prägenden Instanzen des NS-Staates, der Schule und der Staatsjugend. Diese Instanzen, die bisher als zentrale außerfamiliäre Sozialisationsinstanzen für die Vermittlung der nationalsozialistischen Ideologie zuständig waren, entfielen plötzlich ganz oder nahmen – jedenfalls dem Anspruch nach – auf gänzlich veränderter Wertegrundlage ihre Tätigkeit wieder auf. 1945 stellte sich daher die Frage nach den Wertmaßstäben, mit denen junge Menschen nun ihre Umwelt betrachteten und an denen sie ihr eigenes Handeln, ihre Wünsche und Zielvorstellungen orientierten. Die Erfahrung von Tod und Zerstörung und einer nun bei genauerem Hinsehen als destruktiv und mörderisch erkennbaren Ideologie kann nicht ohne Wirkung geblieben sein. Verlusterfahrungen und Tristesse können zwar durch Werte nicht kompensiert werden, prägen jedoch die Reorganisation neuer eigener Wertmaßstäbe. Diese waren die implizite Grundlage für als sinnvoll erfahrene Aktivitäten, für die der Jugendverband einen Rahmen bildete. Aus den in den untersuchten Zeitdokumenten dokumentierten Ereignissen soll daher auf den implizierten Wertekanon rückgeschlossen werden. Die Lebensbedingungen in den einzelnen Besatzungszonen waren sehr unterschiedlich; auch zwischen den verschiedenen sozialen und weltanschaulichen Milieus dürfte es große Differenzen gegeben haben. Das ist bei der Betrachtung der distinkten sozialen und politischen Milieus der Sozialdemokratie zu be1 Eintrag in der Gruppenchronik der Braunschweiger »Lichtstürmer« zur Gruppenstunde vom 10. 10. 1946. Archiv der Arbeiterjugendbewegung, Signatur: AAJB, SJD-BS-BS 2/1.

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rücksichtigen. Dieses Milieu konnte 1945 an tradierte Werte und eine sinnstiftende politische und kulturelle Praxis anknüpfen und stellte ein attraktives Angebot für eine Identitätsbildung jenseits des gerade überwundenen NS bereit. Es soll im Folgenden nicht primär nach der politischen Orientierung gefragt werden, die sich bei einer parteinahen Jugendorganisation innerhalb eines erwartbaren Spektrums bewegt, sondern nach Wertvorstellungen, die zugleich als Handlungsmaximen des Jugendverbandes im Allgemeinen wie auch der jungen Menschen im Speziellen für ihre alltägliche Praxis verstanden werden können. Die Wiedergründung der SPD 1945/46 war zum großen Teil das Werk von Sozialdemokrat*innen, die in innerer Emigration oder unter politischer Verfolgung die NS-Herrschaft überlebt hatten und nun bestrebt waren, das sozialdemokratische »Lager« der Weimarer Zeit, dem sie stark verhaftet gewesen waren, wieder aufleben zu lassen. Die Jüngeren unter diesen Altgenoss*innen aus der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ)2, der Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde (RAG)3 und dem Arbeitersport initiierten, zunächst unorganisiert und ohne überregionale Verbindungen, den Neubeginn auch der sozialdemokratischen Jugendarbeit. 1947 führte dies zur Gründung des bundesweiten Verbandes »Die Falken – Sozialistische Jugendbewegung Deutschlands«,4 in dem die unter verschiedenen Namen gegründeten lokalen Vorläufer, wie der »Braunschweiger Jugendbund« oder die »Volksjugend Hannover«, aufgingen. Innerhalb der »Falken« ist zwischen Kindern und Jugendlichen der Jahrgänge ab ca. 1928 und jünger, die auf keine persönlichen Erinnerungen aus der Zeit vor dem »Dritten Reich« zurückblicken konnten, und den bereits angesprochenen ( jungen) Erwachsenen zu unterscheiden. Welche Wert- und Sinnorientierung in ihren unterschiedlichen Dimensionen bestanden bei den »Falken« unterschiedlichen Alters, inwieweit unterscheiden sich diese bei den zwei zu unterscheidenden Alterskohorten? Welchen Einfluss nahmen die Verbandsaktivitäten – die Fahrt, der Gruppenabend oder das Zeltlager – auf diese Vorstellungen? Die Entstehung individueller Werthaltungen speist sich aus einer Vielzahl von Faktoren, von denen der Jugendverband nur einer neben z. B. Elternhaus und Schule ist. Als Erfahrungsraum Heranwachsender, der explizit von den sozialistischen Werten Solidarität, Freiheit, Verantwortung und Demokratie bestimmt wird, ist die Prägewirkung des Jugendverbandes nicht als gering einzuschätzen. Im Folgenden sollen aus den von den Gruppen oder ihren Mitgliedern selbst hinterlassenen Quellen die dargestellten Aktivitäten (Gruppentreffen, Fahrten, Zelt-

2 Die 1919/20 gegründete SAJ war, noch vor den Jungsozialisten, die Jugendorganisation der Sozialdemokratie in der Weimarer Republik. 3 Die RAG unter Leitung des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Kurt Löwenstein war die größte laienpädagogische Organisation der Weimarer Republik. 4 1951 umbenannt in »Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken«.

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lager) auf die zugrundeliegenden aber nur selten expliziten normativen Orientierungen hin betrachtet werden.

Gruppenchroniken als Quellen und das Selbstverständnis ihrer Autor*innen Über den Aufbauprozess der »Falkenbewegung« und ihre Transformation in einen einheitlich strukturierten Jugendverband liegen verschiedene Quellen vor. Gut sozialdemokratisch wurde über Treffen und Aktivitäten ausführlich Protokoll geführt, es wurden Berichte geschrieben, selbst kleine lokale Zeitungen erschienen bereits ab 1946. Gruppenbücher und Ortsverbandschroniken stellen in diesem Feld eine spezifische Quelle dar:5 Weder sind es rein subjektive Impressionen, wie etwa Tagebücher, noch sind sie offizielle Verlautbarungen, die an die verbandliche Beschlusslage – sofern es diese bereits gab – gebunden wären. Sie sollten vielmehr die Aktivitäten der Gruppe für sich selbst und das nahe Umfeld dokumentieren. Die Gruppenchronik hatte eine Repräsentationsfunktion: Sie zeichnete, in den subjektiven Schattierungen der einzelnen Schreiber*innen, das Gruppenleben in einer Form auf, die man Mitgliedern anderer Falkengruppen, auf Elternabenden, bei festlichen Anlässen, bei Treffen der Helfer*innenringe6 oder bei Werbeaktionen einer interessierten Öffentlichkeit präsentieren konnte. Subjektive Zweifel, private Träume und persönliche Wünsche finden dort nur vermittelt ihren Niederschlag. Gruppenbücher wie auch Ortsverbandschroniken drücken lokale Gruppenidentität aus und müssen, um retrospektiv ein realitätsnäheres Bild von der Vorstellungswelt der Akteure zu gewinnen, um Interviews und Sitzungsprotokolle ergänzt werden, das gilt besonders mit Blick auf jüngere Mitglieder, die selbst keine Einträge in den Gruppenquellen hinterließen. In Braunschweig, wo die Nähe zur Bündischen Jugend vor 1933 größer war als andernorts, nannte man sich zunächst »Braunschweiger Jugendbund«. Gewisse regionale Eigenheiten fallen auf: das Liedgut und die Namenswahl der Gruppen7 sind stärker bündisch gefärbt, auch werden Fahrtennamen an Gruppenmitglieder vergeben. Die Gruppe bestand, eher unbündisch, wohl nicht nur aus Jugendlichen, da sowohl ein »Vater Ohst«, als auch ein »Vater Kusian« erwähnt werden. Der vollständige Titel der Chronik lautet: BJB »Braunschweiger Ju5 Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu den »Nestbüchern« der Wandervögel und der Weimarer bürgerlichen Jugendbewegung vgl. Susanne Rappe-Weber: Freundschaft und Exklusion. Zur Bedeutung des gemeinsamen Lesens im Spiegel der »Gruppenbücher« von Wandervogel und bündischer Jugend, in: Wolfgang Braungart (George-Jahrbuch 2018) S. 2f. 6 Gruppenleiter*innen wurden bereits in der Weimarer Republik bei den Falken nicht als »Führer«, sondern als »Helfer« bezeichnet. 7 Braunschweiger Jugendbund, AAJB, SJD-BS-BS 2/1 S. 147f.

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gendbund«. Gruppen- und Fahrtenberichte der Gruppe »Aufwärts«. Gruppenbezirk »Nord«, ab 03. 10. 1946 Gruppe »Lichtstürmer«. Angefangen: Harald Wagner, am 6. Juni 1946.«8 Die Chronik scheint nicht den Beginn der Aktivitäten zu dokumentieren, da sie unvermittelt mit einer einfachen Gruppenstunde beginnt. Andere Chroniken tragen schlichte Titel wie »Die Falken Gruppe StuttgartHeslach Protokollbuch« (1946–1948) und beginnen nach der Überschrift »Angefangen August 1946« profan mit: »Mittwoch, 28. August. Erster FalkenHeimabend in der Lerchenrainschule, Raum 4, anwesend: 31 Teilnehmer.«9 Dort beginnt die Tätigkeit, mit einem (eigentlich zu dieser Zeit von den Besatzungsmächten noch untersagten) politischen Statement: »Wir veranstalteten eine kurze Antikriegs-Gedenkstunde, bei der wir ein Lied sangen, anschließend eine Genossin ein Gedicht vortrug und ein Genosse aus der Jugendzeitschrift ›Die Zukunft‹ einen Artikel verlas, der sich ›Wird es immer Kriege geben?‹ betitelte. Das Ganze dauerte ungefähr ¾ Std. Im Anschluss sangen wir Lieder.«10 Verfasst wurde der Bericht vom Gruppenhelfer Paul Schübel. Oft von älteren Leiter*innen verfasst, gehen einigen dieser Chroniken orientierende Sentenzen voraus. Heinz Westphal (1924–1998), späterer Bundesvorsitzender der Falken, Bundesminister und Vizepräsident des Deutschen Bundestages fasste zu Beginn des Gruppen-Tagebuchs seiner Jugendgruppe Berlin Tempelhof »Spatzen« im Juni 1945 dessen Zweck in ein Gedicht: »Was wir in schönen Stunden bei Arbeit, Spiel und Sport als interessant befunden, das lassen wir nicht fort. Hier schreiben wir es nieder, damit auch immerdar die Freude kehret wieder, die gestern einmal war. So woll’n wir weiter ringen um unser großes Werk. Wird Arbeit Freude bringen, dann sind wir übern’ Berg!«11

Zweck der Chronik soll die Dokumentation des gemeinsam Erlebten und die Selbstversicherung sein. Die dritte Strophe zielt – ohne das »große Werk« zu 8 9 10 11

Braunschweiger Jugendbund, ebd. Die (später eingedruckte) Paginierung beginnt mit S. 133. Protokollbuch Heslach (unpaginiert), AAJB, SJD-W-S22/1. Ebd., [Seite 1]. »Auszüge aus dem Gruppentagebuch der Jugendgruppe Tempelhof. Juni 1945«; AAJB SJD-B / 22/2-008, Bl. 5.

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konkretisieren – auf eine bessere Zukunft. Angesichts der Berliner Trümmerberge mag den Zeitgenossen auch so überdeutlich gewesen sein, was gemeint war. Westphal fällt in dieser Strophe zurück in die unverbindliche Sprache der Jugendbewegung und des NS, die ja auch gerne um »große Werke« »rangen«. Bei den »Spatzen« aus Berlin-Tempelhof handelte es sich um ältere Jugendliche und junge Erwachsene, um die 20 Jahre alt, die das Gemeinschaftserlebnis in ihrer Gruppe zu schätzen wussten, aber auch die übrigen Aktivitäten des Ortsverbandes mit trugen. In ihrer Chronik sprach kein stellvertretender Leiter, sondern die wechselnden Autoren sprachen für sich selbst. Die von Karl Heinz Kuhfuß12, dem Ortsverbandsvorsitzenden, vom 25. Oktober 1945 bis ins Jahr 1967 geführte Chronik des Ortsverbandes Hannover »Linden-Mitte« beginnt mit einer kurzen Sentenz: »Laßt der Zeiten Stürme walten / haltet nicht, was leblos fällt! / Jugendkraft wird neu gestalten, / was des Menschen Sturz zerschellt!«.13 Ein abstrakter, ebenfalls dem Jugendkult der vergangenen Jahrzehnte verpflichteter Vers, der jedoch dem Aufbauoptimismus, der aus den folgenden Berichten spricht, zum Ausdruck bringt. Daran schließt sich eine historische Selbstverortung und Selbstlegitimierung an, geschrieben aus der Perspektive scheinbar eines älteren, um die »junge Generation« bemühten Genossen: »Deutschland lag darnieder! Dieses einst so blühende Land war zerstört von Nord bis Süd, von Ost bis West. Zerstört durch die Wahnsinnsidee des Faschismus. – – – Schlimmer jedoch, weil nicht mit Kalk und Steinen wieder aufzubauen, war die seelische und moralische Zerstörung der jungen Generation. Das durfte nicht sein! Überall fanden sich alte SAJ-ler und Arbeitersportler die unverzagt an das schwierigste aller Aufbauwerke gingen: An den Aufbau der neuen deutschen Jugendbewegung. – Ihnen haben wir heute zu danken, für ihren Mut, ihren Opfersinn, ihren Idealismus!«14 Erst mit diesen letzten Worten markiert er seine eigene Position als Jüngerer. Die äußere Aufbauarbeit solle um den Aufbau »der neuen deutschen Jugendbewegung« ergänzt werden, ein für einen sozialdemokratischen Jugendverband sehr hochgestecktes Ziel. Ein Interesse an »der Jugendbewegung« spielt in den folgenden Berichten keine Rolle, auch die Falken aus Hannover-Linden bewegen sich allein im eigenen Milieu.

12 Kuhfuß ist vermutl. zwischen 1925 und 1928 geboren, er gehörte zu den »weißen Jahrgängen« (Mitteilung Wolfgang Mormann, der sich auch an dessen Autorenschaft für die Chronik erinnert, 27. 05. 2022). 13 Chronik der Falken OV Hannover-Linden-Mitte (unpaginiert). Die Chronik befindet sich im Besitz des Egon Kuhn Geschichtsvereins im Freizeitheim Hannover-Linden e.V. 14 Ebd.

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Der Weg in die Gruppe und den Verband Auch für Kinder aus sozialdemokratischen Elternhäusern war der Weg in die Jugendorganisation nicht selbstverständlich. Irmgard Johannes (geb. 1932) berichtete in einem Interview im Jahre 2011 mit dem Autor, dass sie 1935, nach dem Tod des Vaters, mit ihrer Mutter in die »Arbeiterhochburg« Linden gezogen sei. Die Familie war Teil des sozialdemokratischen Milieus, der Bruder der Mutter, Wilhelm Blum, war aktiv in der »Sozialistischen Front« und kam 1942 im KZ Sachsenhausen ums Leben15. Die sozialdemokratische Wertorientierung hat die Familie auch während der NS-Zeit geprägt. Sie sei mit der Warnung aufgewachsen, wenn sie erzähle was zuhause gesprochen werde, »holen sie Deine Mutti auch noch weg!« Dennoch war ihre Haltung stark von den typischen Erlebnissen eines Kriegskindes ihrer Generation geprägt: »[Ich war] zunächst überhaupt nicht bereit…, nach dem Kriege wieder in eine Organisation zu gehen, denn während der Kinderlandverschickung wurden wir also ziemlich gedrillt. Praktisch wie kleine Soldaten behandelt und eben alles organisiert und von daher hatte ich also die Nase gestrichen voll von organisierter Freizeit.« Mutter und Großmutter seien unmittelbar nach der Zulassung der SPD dieser wieder beigetreten. Sie selbst habe ablehnend auf deren Aufforderung reagiert, sich in der neugegründeten (noch klandestin) sozialdemokratischen Jugendbewegung zu organisieren. Trotz sozialdemokratischer Familienprägung überwog zunächst, aufgrund der generationstypischen Vorerfahrung die Abneigung gegen (befürchtet) fremdbestimmte, kollektive Freizeitgestaltung, selbst wenn diese im eigenen Milieu stattfand: »[…] im Januar oder Februar 1946 kam über die Partei die Mitteilung, dass eine ›Volksjugend‹ gegründet worden sei und eine Werbeveranstaltung in dem Lindener Jugendheim… stattfinden sollte. […] Es gab also zunächst eine Diskussion, weil ich mich zunächst weigerte und sagte: ›nein, ich will nicht! Mir reicht das alles noch vom ›Jungmädel‹ [gemeint war der BDM]. Ich bin dann aber des Familienfriedens wegen zu der Veranstaltung gegangen – und war hell auf begeistert!«16 Das sozialdemokratische Milieu, zu dem der ganz überwiegende Teil der Funktionäre und der Gruppenmitglieder gehörte (oder dort hineinwuchs), war Teil der entstehenden westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, teilte die blinden Flecken ihrer Selbstwahrnehmung, wie ihre Aufbruchsdynamik. Ein tabuisiertes Thema dieser Generation war das persönliche Erbe der NS-Sozialisation: Rein quantitativ war der neu entstehende Falkenverband zu groß, um seine Gruppenhelfer*innen ausschließlich aus dem relativ kleinen Personenkreis der politisch verfolgten, früheren Sozialdemokrat*innen zu rekrutieren. Die ganz große 15 https://www.sozialistische-front.de/biografien/bio/bluhm-wilhelm/ [05. 12. 2021]. 16 AAJB, Interview mit Irmgard Johannes am 31. 08. 2011, S. 2f. der Verschriftlichung.

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Mehrheit der Gruppenhelfer*innen und der nachwachsenden »Sturmfalken« und »Roten Falken« hatte – freiwillig oder nicht – ihre ersten Erfahrungen mit Fahrt, Gruppe und Zeltlager im Jungvolk, dem BDM und der HJ gemacht. Dies musste Auswirkungen auf den Geist und die neue Praxis bei den Falken gehabt haben. Dass die »HJ-Generation« in erheblichen Teilen zur Sozialdemokratie tendierte, hat u. a. Everhard Holtmann17 dargestellt. In einer Lokalstudie über die SPD-Ortsvereine Kamen und Unna zeigt er, wie die Integration der Kriegs- bzw. HJ-Generation in die SPD zur Erweiterung von deren sozialer Basis beitrug und ihre Öffnung zur »Volkspartei« in den 1950er Jahren vorbereite. Hierzu passt der Umstand, dass die »Falken« als einziger Jugendverband mit Erich Lindstaedt (1906–1952) einen Exilanten (und früheren SAJ-Funktionär aus Berlin, Hamburg und im ersten Exil im Sudetenland) zum Bundesvorsitzenden wählte. Dieser konnte als über alle moralisch-politischen Zweifel erhabener NS-Verfolgter und Demokrat umso glaubwürdiger für die Schuldlosigkeit der HJ-Generation und eine Jugendamnestie eintreten. Dies geschah prominent auf der ersten zentralen Jahreskonferenz der Falken in Bad Homburg am 06. 04. 1947, dort sage Lindstaedt: »Wir sind der Meinung, dass die jungen Menschen, die 1933 in einem Alter standen, in dem sie noch keine politischen Entscheidungen fällen konnten, heute nicht dafür verantwortlich gemacht werden können. Man kann einem damals Zehnjährigen, der später Führer einer Schar von zehn Jungen wurde, nicht Zeit seines Lebens nur deshalb einen Klotz ans Bein binden, weil er das Pech hatte, später als wir geboren zu sein.«18 Konsequent lehnte Lindstaedt den Begriff der »Jugendamnestie« ab, da dieser Schuld voraussetze, die hier gar nicht bestehe, es müsse stattdessen um die »Schuldlossprechung« der Jugend gehen. Wie selbstverständlich wurde hier an der verbreiteten deutschen Selbstentlastungskonstruktion mitgewirkt: die deutsche Jugend sei verführt worden, Täter seien andere gewesen. Niemand unterschied zwischen praktisch folgenloser politischer Verblendung und individuell grausamem und gewalttätigen Verhalten, etwa gegenüber »Fremdarbeitern« oder Schwächeren im eigenen sozialen Umfeld, Denunziantentum und unterlassener menschlicher Hilfe. Diese Differenzen ernst zu nehmen hätte bedeutet, viel kritischere und individuellere Fragen stellen zu müssen. Es erstaunt daher nicht, dass es in den Gruppenchroniken an der konkreten Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen im Nationalsozialismus oder mit der Shoah mangelt. Selbst persönlich Verfolgte und deren Kinder stellten die entsprechenden Fragen nicht. Nur so war es möglich, einen so großen Personenkreis, der ursprünglich nicht nur außerhalb des sozi17 Everhard Holtmann: Die neuen Lassalleander. SPD und HJ-Generation nach 1945, in: Martin Broszat u. a. (Hg.): Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1989, S. 169–210. 18 Erich Lindstaedt: Bericht über die 1. Zentrale Jahreskonferenz am 6. und 7. April 1947, Unsere Arbeit, S. 12.

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aldemokratischen »Lagers« stand, sondern Teil der Jugendorganisationen oder gar der Armee des Unterdrückers war, unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen in den Falkenverband und die Sozialdemokratie zu integrieren.

Demokratie als Leitprinzip der Organisationsstruktur und der Pädagogik Ein in dieser Betonung auffallendes politisches Element, das die sozialdemokratischen Falken deutlich von anderen Milieus und ihren Jugendverbänden unterschied, und das die Pädagogik stark bestimmte, war der Anspruch an demokratisch gewählte Organisationsstrukturen auf allen Ebenen des Verbandes und ein demokratisch geprägtes Zusammenleben bei den Aktivitäten. Dies schlug sich in Gruppenstunden sowohl thematisch, als auch in der diskursiven Art der Themenbehandlung nieder. So lautete am 13. 06. 1946 das Thema des Gruppenabends beim Braunschweiger Jugendbund »Bauernkrieg«, über das ein Referat gehalten wurde. Ein Thema, das in den Jugendbewegungen unterschiedlicher politischer Ausrichtung bereits in Weimar aufgegriffen worden war: Für eine sozialdemokratische Interpretation gab schon Friedrich Engels eine Orientierung: Er bezeichnete ihn als »frühbürgerliche Revolution«19, auch Karl Kautsky betonte in seinem weit verbreitetem Werk »Vorläufer des Neueren Sozialismus« die demokratischen und sozialen Tendenzen.20 Für die bündische Jugend spielte der »Bauernkrieg« – oft mit völkischem Einschlag – ebenfalls eine wichtige Rolle in Liedern, Erzählungen und Geländespielen. Auch im Nationalsozialismus gab es antiklerikal gefärbte Darstellungen. Das Referat des Gruppenabends der Braunschweiger Falken ist nicht überliefert, es gibt jedoch eine dokumentierte Diskussion um das für das Pfingstlager geplante Geländespiel zu diesem Thema: »Vati meinte, die vergangenen Jahre steckten noch in unseren Knochen, denn man brauche nicht immer zu raufen und zu toben. – Da war Harald aber nicht mit einverstanden. Er fand es wunderschön sich zu raufen und nicht zu duckmäusern. Waltraut Kusian erklärte, voll und ganz unserer Meinung entsprechend, daß wir Mädels uns auch sehr gern einmal austoben. Nach Wolfgangs Meinung ist das zu ordinär, aber doch schön. Jedenfalls einigten wir uns am Schluss, alles auf der nächsten Fahrt ins Ferienlager besser zu machen«.21 – Was das für das Geländespiel über den Bauernkrieg bedeutete, wird leider nicht mitgeteilt. Offensichtlich dürfen jedoch die unterschiedlichen Perspektiven ne19 Friedrich Engels: Der Deutsche Bauernkrieg (1850). in: Marx Engels Werke, Bd. 7, Berlin (Ost) 1982, S. 327–413. 20 Karl Kautsky: Vorläufer den neueren Sozialismus (1909), hier Bd. 2, Berlin (West)1947. 21 Gruppenchronik Braunschweiger Jugendbund, S. 137 (wie Anm. 7).

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beneinander stehen bleiben, es steht am Ende kein verbindlicher Konsens, zu dem die Gruppe finden soll. Ein interessanter Hinweis auf die Kontinuität demokratischer pädagogischer Haltungen zum Gruppenleben der Weimarer Zeit findet sich in dieser Chronik unter dem 10. 10. 1946: »Dann machten wir eine Zausestunde, in der es zu heftigen Diskussionen kam.«22 Unter »Zausestunde« verstanden bereits die Kinderfreunde eine besondere, als solche bezeichnete Institution, in der alle Gruppenmitglieder, die Helfer*innen eingeschlossen, sich der Kritik der Gruppe stellen mussten. Dort konnte auch heftige persönliche Kritik vorgetragen werden, und es war Teil der Verabredung, dass das dort Gesagte in diesem Raum blieb und niemals zum Nachteil desjenigen, der die Kritik formuliert hatte, führen durfte. Auch dies war Ausdruck der Wertschätzung von Kindern, der sich von autoritär-bürgerlichen und faschistischen Erziehungskonzepten absetzte. Auch die »Kinderrepublik« genannten Zeltlager, von denen in vielen Gruppenbüchern berichtet wurde, folgten dem bereits in der Weimarer Republik entwickelten Konzept demokratisch-sozialistischer Pädagogik; an deren Prinzipien die Falken explizit anknüpften. Sie waren eine zentrale Aktivität von identätsbildender Bedeutung. »Kinderrepubliken« fanden auf allen organisatorischen Ebenen des Jugendverbandes statt. In den Chroniken finden sich ebenso Berichte über »Kinderrepubliken« auf Ortsverbandsebene mit 40 Teilnehmer*innen wie die Teilnahme an solchen im Bezirksverband mit vielen hundert Teilnehmer*innen. Die Kinderrepublik hatte eine durchgehende demokratische Struktur: Die Zeltgruppen wählten ihre Sprecher*innen, die das Dorfparlament bildeten. Außerdem wählte das ganze Dorf eine/n Bürgermeister*in, größere Lager mit mehreren Dörfern entsendeten gewählte Delegierte in ein Lagerparlament, das einen Lagerpräsidenten23 wählte. Diese Parlamente entschieden nach Debatten und Abstimmungen über das Tagesprogramm, Feste (Antikriegstag, internationale Solidarität, aber auch »Bergfest« und den Abschlussabend), Wandertage usw… Sie waren jedoch auch bei der Organisation von Lagerdiensten gefragt und mussten auftretende Konflikte oder praktische Probleme während der Lagerzeit lösen. Anders als in der frühen Bundesrepublik im Allgemeinen ging es nicht nur um die isolierte Stimmabgabe, sondern um die Einbeziehung möglichst vieler Teilnehmer in Prozesse demokratischer Entscheidungsfindung und gemeinsame Entscheidung in diskursiven Aushandlungsprozessen. Demokratie wurde hier als Lebensprinzip nicht als reine Machtdelegation verstanden. Der gleichen Intention dienten Einkaufskooperativen, in denen die Lagerteilnehmer*innen eine kleine Einlage leisten, Einkaufskomitee, Revisor*in und 22 Ebd., S. 157. 23 Soweit ersichtlich, wurden keine Präsidentinnen gewählt.

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Verkaufsdienste wählten, um einen Lagerkiosk zu betreiben. Aus den Einnahmen des Süßigkeitenverkaufs, dessen Preise selbst kalkuliert werden mussten, konnte dann wieder neue Ware gekauft werden. Auf diese Weise sollten die Kinder an demokratische Organisations- und Entscheidungsformen in ihrem Alltagsleben herangeführt werden. Die Entscheidung über die Teilnahme an öffentlichen politischen Veranstaltungen, über die ein demokratischer Gruppenbeschluss nahe gelegen hätte, lag bei der genannten Braunschweiger Gruppe jedoch allein in der Hand der Älteren. In demselben Tageseintrag, der über die Diskussion über den Bauernkrieg berichtet, heißt es: »Aber nach dem Lied ›Ich trag meinen Ranzen‹ teilte Vater uns mit, daß am 6. Juli in Rieseberg eine Feier für die Opfer des Faschismus stattfindet, an der auch der Jugendbund teilnimmt. Vater las uns den noch zu lernenden Sprechchor vor und wir legten Tag und Zeit für die Probe fest.«24 Einen breiten Raum nehmen bundesweit in den Chroniken auch die Jahreshauptversammlungen der Ortsverbände und die Wahlen von Gruppenleiter*innen, Ortsverbandsvorsitzenden und Beisitzer*innen, Kassenwart*innen und Revisor*innen ein. Die Stuttgart-Heslacher wählten sogar ihren Bibliothekar.25 Dieses Selbstverständnis stellte nach 1945 für die Jüngeren ein glaubwürdiges Gegenkonzept zum Führerprinzip da. Wenn die Nachwirkung der eigenen Vergangenheit in den NS-Jugendorganisationen zumindest darin bestand, im neuen Jugendverband alles ganz anders zu machen als früher, so war die demokratische Struktur ein äußerst geeignetes Vehikel hierfür. Während dies für die »Alten« selbstbewusstes Anknüpfen an die eigene Vergangenheit darstellte, bedeutete es für die Jungen die Identifikation und das Eintauchen in eine fraglos antifaschistische Kultur, die über diese Legitimität hinaus einen attraktiven Raum für eigene selbstbestimmte Aktivitäten bot.

Gruppenfahrten: Ausbruch aus grauer Städte Trümmern und sozialer Raum für selbstbestimmte Freizeit Insbesondere Jugendgruppen gingen bereits im Sommer 1945 wieder »auf Fahrt«. Das bedeutete eigenverantwortlich und selbstbestimmt als Gemeinschaft in aus dem Alltag herausgehobener Stimmung und fremder Umgebung Erfahrungen zu sammeln. Der erste vorliegende Bericht einer Gruppenfahrt stammt aus dem Juli 1945. Es handelt sich um einen Wanderausflug der »Spatzen« aus Berlin-Tempelhof zum Stößensee. Erst Ende April 1945 war der Bezirk Tempelhof 24 Gruppenchronik Braunschweiger Jugendbund (Anm. 7), S. 137. 25 An der Jahreshauptversammlung Stuttgart-Heslach am 27. November 1946 nahmen »31 Burschen 11 Mädel« teil (vgl. Anm. 9).

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in blutigen Straßenkämpfen durch sowjetische Truppen erobert worden – mit allen bekannten Folgen für die Zivilbevölkerung – und am 12. Juli in amerikanische Besatzungshoheit übergegangen.26 Vergegenwärtigt man sich diese dramatischen äußeren Umstände, unter denen die Gruppenmitglieder lebten, so irritiert der harmlos-fröhliche Tonfall, in dem der Bericht gehalten ist: »Wohl mancher, der an jenem Sonntagmorgen die Manteufelstraße entlangging, mag traurig den Kopf geschüttelt haben und bei sich bedauernde Worte über circuläres Irresein und dergleichen gemurmelt haben, denn siehe – in der Haltestelle der 96 warteten 7 junge Leute, obwohl man doch ganz genau wusste, die Bahn fährt nicht, da die Oberleitung entzwei ist. Achja, überhaupt die Oberleitung…, und man ging seufzend weiter. Die sieben Jungs und Mädels jedoch ließen sich dadurch nicht stören, bis endlich ein Achter dazukam, ersichtlich viel zu spät.«27 Hier genießen junge Menschen in der Gruppe ihr Anderssein gegenüber den geschäftig-vernünftigen grauen Alltagsmenschen. In Tempelhof war jedoch nicht nur die »Oberleitung entzwei«, die umstehenden Häuser waren großenteils zerstört, die Straßen von Schuttbergen gesäumt! Heinz Westphal deutet in seiner Autobiographie die Erlebnisse jener Zeit mit wenigen Sätzen an: »Es gab auch für uns all die Erlebnisse mit marodierenden und Beute suchenden Soldaten, die aus Teilen der Sowjetunion kamen, wohin die bisherige Entwicklung noch keinen elektrischen Strom und fließend Wasser gebracht hatte. Die Uhren, die Räder und vieles andere ging mit. Einmal konnte ich einen angetrunkenen Soldaten so lange an der Tür des Hauses aufhalten, bis meine Mutter nach hinten durch den Garten verschwunden war.«28 In dem Chronikeintrag bleiben diese äußeren Lebensumstände unerwähnt. Die Gruppe lässt den Nachzügler das schwere Akkordeon tragen, fährt mit der U-Bahn: »Der Bahnhof Ruheleben sprudelte gegen 10 Uhr eine große Menge erhitzter und ermatteter Gestalten an die Erdoberfläche, darunter auch die acht, – na, wir kennen sie ja schon.« Der Weg ist nun beschwerlich und dauert länger als geplant, in drollig-unbeschwertem Ton geht es weiter: »Nr. 8, das Nasobem trottete gesenkten Hauptes hintendrein; es ging ihm nicht gut.« Als der See dann gesichtet wurde, befand sich das Nasobem plötzlich an der Spitze usw. … Es folgt ein idyllischer Bericht über Badefreuden, Mücken und die Eroberung eines »halb abgesoffenen großen Kahns« – ein schöner, entspannter Sommerausflug, wie er in einem Gruppenbuch der Dreißigerjahre oder der Fünfzigerjahre ebenso gut hätte stehen können. Allein die beiden letzten Sätze verbinden die naturschöne Sommerfrische mit der Zeit und dem Lebensgefühl der Gruppe: »Die Schatten der Bäume waren mittlerweile lang 26 Berlin Chronik unter: https://berlingeschichte.de/kalender/jahr/1945.htm [27. 05. 2022.] 27 Gruppentagebuch der Jugendgruppe Tempelhof, Juni 1945, Bl 9, AAJB, SJD-B / 22/2-008. 28 Heinz Westphal: Ungefährdet ist Demokratie nie. Erlebnisse und Erfahrungen mit deutscher Zeitgeschichte, Düsseldorf u. a. 1994, S. 61.

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geworden, die Sonne lugte schräg durch die Kiefern und mahnte uns zum Aufbruch. Fröhlicher, als sie gekommen, zogen acht Mädel und Jungs ab in Richtung Berlin, nicht in sturem Gleichschritt, sondern im festen Rhythmus einer neuen Zeit.«29 Bei diesem frühen Bericht handelt es sich, wie mir scheint, um einen Ausbruch aus der tristen Gegenwart. Es wird ein bewusster Kontrapunkt zu den Schutthaufen, durch die man täglich gehen muss, und zu der sozialen Unsicherheit gesetzt. Auch bei den Hannoverschen Falken lag der Schwerpunkt des Niedergeschriebenen auf der Dokumentation gemeinsamer Anstrengung um schöne Gemeinschaftserlebnisse. »Hildesheim – Jahnütte – Gehrdener Berg – Deister. Kein Sonntag vergeht ohne daß eine unserer Gruppen unterwegs ist.«30 Wenige Seiten später heißt es nachdem von »Mühen und Sorgen«, vom solidarischen Zusammentragen von Lebensmitteln die Rede ist, »Nicht zu vergessen die 5 Kartoffeln, die jedes Kind mitgebracht hat«, über eine Freizeit im August 1947 in Bodenwerder im Weserbergland: »Aber jetzt ist nur noch Freude – Es hat keiner zu Hause bleiben müssen, wegen Geld oder so. Eine Gruppe hat ihr gestecktes Ziel erreicht: Stolz flattert der Wimpel auf dem noch stolzer der Name der Gruppe ›Linden-Mitte‹ steht. 12 Tage durch Bodenwerder, Sonnenschein und Kinderlachen – geschaffen durch gemeinsames Wollen. 12 Tage wandern, singen, spielen, baden und sehen und lernen. 12 Tage Gemeinschaft auch sie sind einmal vorbei – unwiderruflich. ›Heio wir fahren an die Weser, heio, wir fahren an den Bach, 12 Tage sind viel zu wenig, sechs Wochen blieb’n wir gerne noch‹.« Gleichzeitig bereitet sich die Jugendgruppe auf den bundesweiten Arbeiterjugendtag in Stuttgart vor: »[Z]um ersten Mal nach 18 Jahren wollte sich die Arbeiterjugend zu ihrem 7. Jugendtag in Stuttgart versammeln«31. Die »Roten Falken« aus Stuttgart-Heslach gingen 1949 auf Fahrt an den Bodensee. Eine Gruppe aus der amerikanischen Besatzungszone fuhr in die französische Zone; da waren erhebliche bürokratische Hürden zu überwinden. Dann musste viel improvisiert, ein Abort geschaufelt und Heu bei einem Bauern erworben werden. Das Wetter war schön, die Sonne schien, des Nachts gab es einen Sturm – die Gruppenchronik erzählt von einem sorgenfreien abenteuerlichunbeschwerten Lager. Die Lebensumstände hatten sich stark normalisiert im Vergleich zu 1945: »Am Abend fuhren Heinz und Jupp zum Vorsitzenden der Kressbronner SPD, dem Gen. Zinke. Man traf ihn gerade bei einer Sitzung im ›Lamm‹ und es wurde ihm gesagt, daß wir uns am Wahlkampf beteiligen wollten. Gern nahm man dies Anerbieten an und gab uns Wahlplakate, die wir am 29 Gruppentagebuch der Jugendgruppe Tempelhof, Juni 1945 (Anm. 11). Unterstreichung im Original, der Bericht ist mit Uli Weber gezeichnet (Bl. 12 Rücks.). 30 Gruppenchronik OV Linden-Mitte, Frühjahr 1947 (Anm. 12). 31 Ebd.; auch alle folgenden Zitate stammen von dort, sie sind deshalb nicht weiter belegt.

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Samstag und Sonntag verklebten.«32 Die Gruppe bewegte sich im eigenen politischen Milieu, der Wahlkampf ist Teil einer neuen demokratischen Normalität. Im Übrigen ging das Zeltlagerleben weiter: »Des Abends saßen wir nun immer am Strand und sangen. Tagsüber wurde viel gebadet und gepaddelt. Einmal erbeuteten vier Paddler auf ›hoher See‹ einen 6-Pfündigen Hecht. Der war von einem Raddampfer angeschlagen worden, jedoch noch ganz frisch. Wir verarbeiteten ihn zu Kotelett, verspeisten ihn und spießten den Raubtierkopf, ein Schlachtmesser quer ins Maul gelegt, auf den Zeltstab rechts neben den Eingang zur ›Geisterhöle‹ (dem Bubenzelt).«33 Ganz am Ende wird der Bericht noch einmal politisch: »Wir verabschiedeten uns auch vom freundlichen Bürgermeister, einem CDU-Mann, der aber sehr viel für die Jugend übrig hat und von den Genossen der SPD. Diese hatten ja wenig Aussicht im Wahlkampf etwas zu erreichen – die Gegend ist zu sehr von der Kirche und verkappten und unverkappten Nazis beherrscht – doch gilt es auch hier, wie überall, wo die Gerechtigkeit schwer erkämpft werden muss: ›Durchhalten!‹«34 Auch in den Berichten aus Hannover und Stuttgart stehen ganz unpolitisch Gemeinschaft, Freizeit und Erholung im Vordergrund, die Einbindung in die Sozialdemokratie und ihre Aktivitäten ist dennoch selbstverständlicher Teil der Lebenswelt.

Die Falken-Gruppe als Ort politischer Bildung Aus allen vorliegenden Gruppenchroniken ergibt sich, dass politische Themen durchaus auch bereits relativ junge Gruppen beschäftigten. Gemessen an den Gruppenchroniken anderer Orte nahmen die politischen Themen in der Gruppe von Irmgard Johannes (Hannover Linden), zumindest aus der Retrospektive, einen verhältnismäßig großen Raum ein. Das dürfte am Engagement des Gruppenleiters Helmut Rohde (1925–2016), Helfer bei den Falken, Gründer und Vorsitzender der Jungsozialisten in Hannover und späterer Bundesminister, gelegen haben. Irmgard Johannes berichtet über ihre Zeit als Gruppenmitglied der Volksjugend unter seiner Ägide 1946: »Da war ich 14, richtig. […] Wir trafen uns einmal die Woche im Lindener Jugendheim, und […] entweder Sonnabends oder Sonntags in noch erhaltenen Clubräumen von Lindener Gaststätten […] Und in der Woche auf den Gruppenabenden beschäftigten wir uns mit ernsteren Themen und am Wochenende wurde also getanzt.« Auf die Frage was Gegenstand der Gruppenabende war fährt sie fort: »[…] na ja, dann beschäftigten wir 32 »Die Falken« Gruppe Heslach. Rote Falken und Sozialistische Jugend 1949–52 (Anm. 9). 33 Ebd. 34 Ebd.

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uns natürlich auch mit den aktuellen Themen, das war seinerzeit natürlich im Wesentlichen der Hunger und die große Wohnungsnot.« Als junge Sozialist*innen, die aktive Bürger der jungen Demokratie werden wollten, strebten die »Falken« nach politischer Bildung und wollten sich sozial in der Gesellschaft engagieren. Neben Fahrten, Volkstanz und »Bunten Abenden« bildet die Beschäftigung mit unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Themen ein eigenes Feld der Gruppentätigkeit. Insbesondere durch Vorträge von externen Referent*innen, meist aus Partei oder Gewerkschaft, sollte dieser Anspruch eingelöst werden. Am 16. 10. 1945 folgte bei den Tempelhofer Spatzen »nach mehreren heiteren wieder ein Gruppenabend ernsteren Charakters«. Ein Referent berichtete über die Geschichte und Funktion von Gewerkschaften, dass die neue Gewerkschaft zwar überparteilich sei, aber »daß es im Interesse der Gewerkschaften unerlässlich ist, sich in einer politischen Partei zu organisieren, denn nur mit dem Rückhalt der Partei, die sich für das Wohlergehen des Arbeiters und Angestellten einsetzt, ist es im Parlament möglich, Mehrheitsbeschlüsse durchzubringen.«35 Der Bericht, weitgehend eine Wiedergabe des Referates, schließt mit dem Resümee: »Uns allen hat der Vortrag viel neues gebracht, und in manchen von uns ist wohl der Gedanke erwacht, daß hier auch für uns Junge ein Ansatzpunkt zur Mitarbeit am Neuaufbau unseres Staates liegt. Erfüllt von diesem interessanten Abend gingen wir auseinander.«36 Auch in Stuttgart, wie in der ganzen Republik, gab es derartige Veranstaltungen. Hier notiert ein Jugendgruppenleiter für den 07. 12. 1949: »An diesem Abend klappte es endlich und Werner Groß, z. Zt. UB [= Unterbezirks; KSG]Leiter der Stuttgarter Falken, erschien mit dicken Rechtsschwarten. Wenn es auch kein dankbares Geschäft ist, Paragraphen zu behandeln, so gab er uns doch manchen Aufschluß, besonders über das Jugend-Arbeitsrecht. Daß sich eine rege Diskussion darüber entspannt, ist bezeichnend für die Interesse [sic] der Jugendlichen, die sehr gesunde Ansichten über Recht und Gerechtigkeit vertraten. Daß wir aus dem Vortrag und der Diskussion manches lernten, ist wohl klar […] Teilnehmer: 14 Buben, 7 Mädel«.37 Auch die eigene politisch-weltanschauliche Orientierung spielte eine Rolle. In Braunschweig berichtet »Räbchen«, ein häufiger Chronist der Gruppentätigkeit, von der Gruppenstunde am 21. 11. 1946, die sich mit dem Thema »Sozialismus« beschäftigte: »Werner wollte uns ein Kurzreferat […] über Sozialismus halten. […] Einmal gibt es den Kapitalisten im einzelnen, oder in Konzernen und dann den Staatskapitalismus wie er in Russland zu finden ist. Kapitalismus heißt: Ausbeutung und Unterdrückung. Der, 35 Gruppentagebuch Berlin Tempelhof (Anm. 11) Unterstreichung im Original, Bl. 17. 36 Ebd., Bl. 18, Bericht: Lotte Westphal. 37 Heslacher Chronik (Anm. 9), Eintrag von Mittwoch, 7. Dezember 1949.

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welcher andere für sich arbeiten lässt, ist Kapitalist. Ganz gleich, ob er mehr oder weniger bemittelt ist. Solange er sich aus Kräften anderer Menschen Gewinn verschafft, solange ist er Kapitalist. Wir stellen in lebhafter Diskussion fest, dass die kapitalistische Gesellschaftsordnung nur Krieg, Hunger und namenloses Leid über die Menschheit brachte. Diese Ordnung kann nur durch eine Sozialistische Weltordnung abgelöst werden. – Was ist Sozialismus? Sozialismus führt einen Kampf gegen die herrschende Klasse. Strebt den Zusammenschluss jeglicher Arbeiter an. Bis jetzt hat es noch kein Land eine sozialistische Ordnung zu leben [sic]. Jeder Einzelne, der sich zu dieser Weltanschauung bekennt, muss zuerst nach den sozialistischen Grundsätzen zu leben wissen. Wir wollen uns ja alle zum Sozialismus bekennen und erziehen. Wir machten bei diesem Referat auch alle mit. Leider war die Zeit zu knapp. Es gab eigentlich noch die vielen kurz aufgeworfenen Probleme zu besprechen.«38 Ob die Schwächen in der Analyse des Kapitalismus und die Anklänge an die Lebensreform bei der Darstellung des Sozialismus auf den Referenten oder den Protokollanten zurückgehen, ist hier nicht zu rekonstruieren. Interessanter ist, dass an zentralen Stellen sprachlich die Formulierung der Vorlage durchscheint (»Krieg, Hunger und namenloses Leid über die Menschheit brachte«), was ein starkes Indiz für die mangelnde Durchdringung des Themas ist. Auch die sozialistischen Grundsätze, zu denen sich die Gruppenmitglieder »bekennen und erziehen« wollen, bleiben inhaltsleer. Krieg, Hunger und Leid waren wenige Jahre zuvor durch den deutschen Nationalsozialismus über die Menschheit gebracht worden, ein Gedankengang, der nicht aufgekommen zu sein scheint. Dies ist umso erstaunlicher, als die Gruppe selbst ja erst wenige Wochen vorher aktiv an einer Veranstaltung für die Opfer des Faschismus teilgenommen hatte. Problematisch für die Interpretation dieser Darstellung und den Vergleich mit Eintragungen anderer Gruppen ist der Umstand, dass das genaue Alter der Braunschweiger Gruppenmitglieder nicht aus der Quelle hervorgeht. In Stuttgart-Heslach referierte Fritz Lamm (1911–1977) am 04.01. und am 23. 03. 1950 vor verschiedenen Altersgruppen der Stuttgarter Falken offensichtlich mit altersgerechten Unterschieden. So fand bei den jüngeren »Roten Falken« der Gruppe Stuttgart-Ost am 23. 03. 1950 eine »Einführung in den Sozialismus statt«: »Fritz Lamm machte uns den Begriff Sozialismus etwa so klar. Sozialismus ist, wenn aller Reichtum allen Menschen zugeleitet wird. Wenn der Mensch für sich selbst arbeitet, arbeitet er gern. Fritz Lamm sprach unter anderem mit uns über die Begriffe Gut und Böse. Gut ist, was der Gesellschaft nützt, Böse ist was ihr schadet. Wenn wir die Zustände verändern in denen der Mensch lebt, dann werden die Begriffe gut und Böse ganz andere sein. Wenn wir den Sozialismus haben werden, und es uns gelungen ist, den Reichtum in alle Häuser zu leiten, 38 Braunschweiger Jugendbund (Anm. 7), Eintrag vom 21. 11. 1946, S. 179.

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dann gibt es kein Böse mehr. Das Schlusswort des Genossen Lamm war: Die Kirche fürchtet sehr den richtigen Sozialismus. Sozialismus ist nicht die letzte Gesellschaftsordnung, sondern die nach der Kapitalistischen. Teilnehmer: 8 Mädel, 16 Jungen.«39 Bereits am 04. Januar 1950 hatte er in Stuttgart-Heslach vor der Gruppe der Sozialistischen Jugend referiert: »Diesen ersten Abend des neuen Jahres gestaltete uns Genosse Lamm. Sein Vortrag umriss den Begriff ›Sozialisierung‹ eingehend und stellte ein kleines ›ABC‹ des Marxismus dar. Die Fragen ›wo fängt man mit der Sozialisierung an und wo hört sie auf ?‹ ›Welche Methoden sind für unseren Kampf um einen sozialistischen Staat die richtigen?‹ ›Welches Verhältnis besteht zwischen uns und dem Bolschewismus?‹ ›Diktatur des Proletariates oder bürgerliche Demokratie?‹ ›Ist es gerechtfertigt, für den Sozialismus auch zu den Waffen zu greifen?‹ wurden eingehend durchdiskutiert und das allgemeine Interesse an diesem Abend ließ es zu, ihn als guten Jahres-Anfang zu werten. 12 Buben, 6 Mädels.«40 Beide Berichte wirken erheblich lebendiger und besser auf den Zuhörerhorizont abgestimmt als das Braunschweiger Referat. Der Einstieg über die Moralbegriffe gut und böse dürfte für Jugendliche erheblich ansprechender sein, als ökonomische Definitionen. Unabhängig davon, ob man die Vorstellung teilt, dass »wenn wir den Sozialismus haben« es nichts »böses« in der Gesellschaft mehr gäbe (und ob Lamm das so gesagt, oder nur die Protokollantin es so verstanden hat) bietet der Ansatz moralische Wertungen auf ihre gesellschaftlichen Auswirkungen zu beziehen und grundsätzlich als wandelbar darzustellen, Jugendlichen Anknüpfungspunkte dafür, selbst weiter zu denken. Auch die konkreten Fragestellungen, die von der politischen Veranstaltung mit den Älteren mitgeteilt werden, zeigen ein tieferes Eindringen und eine konkreter gefasste Fragestellung mit aktuellem politischem Zeitbezug. In vielen Gliederungen der Falken gab es auch Wochenendseminare zu Themen wie »Sozialismus« »Unser Staat der Zukunft« usw. Welchen Einfluss auf die Wertvorstellungen und die politischen Positionen der Gruppenmitglieder in der Breite des Gesamtverbandes derartige Veranstaltungen hatten, ist anhand der hier untersuchten Quellen nicht zu ermessen. Deutlich stärker als die positive Vorstellungsbildung ist die Abgrenzung zur KPD und ihrer Jugendbewegung fassbar. Erich Lindstaedt befand sich mit seinem dezidierten Antikommunismus mit den führenden Parteifunktionären der SPD um Schumacher und Ollenhauer, mit dem ihn eine lange Freundschaft verband, auf einer Linie. Auch die übrigen Funktionäre aus der Weimarer Arbeiterbe39 Protokolle und Fahrtenberichte der Gruppe-Ost Rote Falken [Stuttgart], Eintrag vom 23. 03. 1950, AAJB SJD-W-St02. Der wenig ausgeschriebenen Handschrift nach handelte es sich um ein*e jüngeren Protokollant*in. 40 »Die Falken« Gruppe Heslach (Anm. 9), Rote Falken und Sozialistische Jugend vom 04. 01. 1950.

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wegung teilten in ihrer ganz großen Mehrheit diese Auffassung. Dies hatte seinen Ursprung in den politischen Erfahrungen der Weimarer Republik und teilweise dem Exil. Insbesondere in Berlin, aber auch in den westlichen Besatzungszonen, entstand mit der Freien Deutschen Jugend (FDJ) eine weitere »antifaschistische« Jugendorganisation mit zunächst deutlich unklarerem politischen Profil, die von den Falken von Anfang an als gegnerische Organisation und von der KPD ferngesteuert betrachtet wurde.41 Mit Beginn des kalten Krieges befanden sich die Falken hierbei – anders als bei ihren eigenen Zukunftsvorstellungen – im Einklang mit der übrigen Gesellschaft und später mit dem Adenauerstaat.

Soziales Engagement Viele Aktivitäten der Jahre 1945ff. galten der Unterstützung entwurzelter oder auch einfach armer Kinder, häufig handelte es sich dabei um Ostflüchtlinge. Falken, die sich selbst ja oftmals in prekären Lebenssituationen befanden, veranstalteten u. a. Weihnachtsfeiern, die nicht primär für die eigenen Gruppenkinder gedacht waren, sondern für Bedürftige. Die Tempelhofer Chronik der »Spatzen« berichtet bereits Ende 1945 von der Organisation von aufwändig vorbereiteten »Weihnachtsfeiern« (ohne erkennbaren christlichen Bezug), mit »Märchenspiel«, singen und Pfefferkuchenessen, bei denen am Vormittag 350, am Nachmittag »nur« 200 Kinder und am Folgetag noch einmal 300 Kinder am Ende mit vom »Frauenausschuss der Gewerkschaften« produziertem Spielzeug beschenkt wurden. »Der schönste Dank für unsere Arbeit aber war uns allen die Freude der Kinder.«42 Die Chronik berichtet im Weiteren von einem Kostümfest und Silvesterball: »Wir alle hatten das Bedürfnis das erste Friedensneujahr gemeinsam in heiterster Stimmung zu verleben.«43 Aus dem Oktober 1946 existiert ein Bericht des hauptamtlichen Sekretärs der Hannoverschen Volksjugend, Otto Barche, an das Jugendamt der Stadt Hannover. Die Volksjugend Hannover beteiligte sich »im Monat Oktober an verschiedenen Hilfsaktionen, Betreuungen von Flüchtlingen bzw. Besuch von Bunkern und war zum Teil bei der Einweisung von Flüchtlingen[…] tätig. Zum anderen haben sie bei den freien Wohlfahrtsverbänden an der örtlichen Unterbringung geholfen (Akku Bothfeld). In anderen Gruppen wird zur Zeit fleißig gebastelt, um zu Weihnachten einen kleinen Beitrag an Spielzeugen bzw. Ge-

41 Vgl. Kay Schweigmann-Greve: Erich Lindstaedt 1906–1952, Hannover 2015, S. 32ff. 42 Gruppentagebuch der Jugendgruppe Tempelhof (wie Anm. 11), Bericht: »Hermann«. 43 Ebd., S. 22, Rückseite, Bericht Hildegard Wenzel.

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brauchsgegenständen aus Resten und gesammeltem Material, Holzabfällen, Malutensilien, zu liefern.«44 Eine Werteorientierung wird hier nicht expliziert oder gar problematisiert, sie versteht sich von selbst: Gesellschaftliche Solidarität durch Hilfe für von der äußeren Not besonders betroffene Kinder. Aber ebenso: Endlich leben und selbst aktiv gestaltete Freizeit genießen.

Konflikte um die Wahl der Inhalte der Gruppenarbeit Ungewöhnlich für eine derartige Chronik wurde im Oktober 1947 aus Hannover-Linden von einem Konflikt bei den »Roten Falken« (Jugendgruppenalter ca. 18 Jahre) berichtet und dessen Verlauf dokumentiert. Der Bericht gewährt einen guten Einblick in die Art und Weise, wie der Konflikt ausgetragen wurde, obwohl er deutlich aus der Perspektive eines »Funktionärs« – des Ortsverbandsvorsitzenden Kuhfuß – geschrieben ist: »Es ›krieselt‹ bei den RF – Schon seit längerem macht sich auf den Heimabenden eine Situation die eines Tages alles zum Platzen bringen kann, wenn nicht ein neuer Weg gefunden wird. Da ist die Gruppe derjenigen, die auf Biegen oder Brechen unbedingt nur in ›Frohsinn‹ und ›Ausgelassenheit‹ machen will und auf der anderen Seite die Gruppe der ›Intelligenzbestien‹, Funktionäre und ›Kern‹ der Gruppe.« Eine Diskussion mit »unseren Rabauken« findet statt, diese »verläuft sehr erregt, aber anständig. Der ›Kern‹ überwiegt mit seiner Meinung. Voller Hoffnung gehen wir auseinander […]. Die Funktionäre des Ortsverbandes verfassen eine Liste für die Teilung der Gruppe, die von dieser ohne große Diskussion angenommen wird. »Die ›Rabauken‹ sind alle in Gruppe 1. Sämtliche Funktionäre jedoch in der Gruppe 2, demnach also die ›Kerngruppe‹. Sämtliche Mitglieder der Gruppe 2 sind sich einig in der Ansicht, daß Gruppe 1 nicht lange arbeiten wird. Wir beschließen still zu arbeiten und zu warten, was soll uns schon an der Arbeit der Gruppe 1 gelegen sein? Nur Tänzer und Spieler?«

Der dokumentierte Konflikt ist doppelt interessant, spiegelt er doch einerseits den Grundkonflikt freiwilliger Gruppen, die sich in der Freizeit treffen zwischen Unterhaltung und politischem Anspruch, andererseits ist die Form der Konfliktführung bedeutsam. Auch wenn der Chronik-Autor auf Seiten der Funktionäre steht, wird deutlich, dass die kritisierte Gruppe nicht nur zwischen Konformität und Ausscheiden wählen kann. Es gibt eine Aussprache, die um eine angemessene Form und eine Lösung ringt, mit der alle Gruppenmitglieder leben können. Eine autoritäre Lösung, etwa durch Entscheidung der »Funktionäre« über das künftige Programm oder ein Rauswurf der Frohsinnsfraktion steht gar nicht zur Debatte. Jedoch wird die von den Funktionären vorbereitete Grup44 Stadtarchiv Hannover, Jugendamt, Nr. 532.

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penaufteilung angenommen. Es folgt ein Bericht darüber, dass der Ortsverbandsvorsitzende, »der Gen. Kuhfuß« (er wird an anderer Stelle der Chronik als Kindergruppenleiter und Kassierer des Ortsverbandes genannt, ist aber offensichtlich darüber hinaus Teil der 2er RF-Gruppe), wegen »persönlicher Differenzen« von einem anderen Falken (man kann unterstellen: Mitglied der 1.er RFGruppe), dem »Gen. Vollmer« niedergeschlagen wurde. Der Vorfall wird Gegenstand einer Vollversammlung. Die »Brutalität des Angriffs« wird von anderen bestätigt. Es stellt sich jedoch außerdem heraus, »daß der Gen. Volmer am Aufbau der Kleingärtnerjugend in Linden beteiligt ist, entgegen dem Willen des Ortsverbandes: ›Es gibt nur eine Arbeiterjugendorganisation‹! Volmer wird einstimmig ausgeschlossen.« Dennoch versucht dieser weiter einen Volkstanzabend zu stören und »die Gruppe zu zersplittern.« Weiterhin, so der Bericht, tut er sich »mit einigen Lindner ›Schlägern‹ zusammen, die wir nicht aufgenommen hatten. Etliche unserer Leute beziehen Prügel. Aber wir halten fest zusammen. Auch in Gruppe 1 kann Volmer nichts ausrichten. So verliert sich die Sache schließlich. – Linden Mitte aber hat standgehalten. – Mögen wir auch oft verschiedener Ansicht sein, dann wird eben so lange diskutiert bis ein Weg gefunden ist.« Der Anspruch, Konflikte gewaltfrei und verbal zu lösen, wird durchgehalten. Dies ist angesichts der Gewalterfahrungen junger Menschen dieser Generation während des Krieges und innerhalb der »Wolfszeit« (Harald Jähner) beachtlich. Offensichtlich existiert die RF-Gruppe 1 weiter, wir entnehmen der Chronik, dass die Gruppe 2 am 2. Weihnachtstag im Klubraum einer Gaststätte feiert, »Gruppe 1 feiert ganz ›intern‹ und unter ›Ausschluss der Öffentlichkeit‹«. Doch scheint es auch zur Jahreswende keine wirkliche Harmonie zu geben: »Die JH Bodenwerder ist eigentlich belegt. Doch da auch Anmeldungen von Gruppe 1 vorliegen, überlassen wir ihnen ganz die JH«.

Fazit Bei der vergleichenden Analyse der vier vorliegenden Gruppenbücher und Ortsverbandschroniken aus Berlin, Braunschweig, Hannover und Stuttgart fällt bei allen Unterschieden im Detail deren relative Homogenität ins Auge: In den Gruppenstunden spielten »Bunte Abende«, »Spiel- und Singeabende« und immer wieder der Volkstanz eine dominierende Rolle. Von Anfang an haben daneben jedoch auch politische Diskussionen und Bildungsveranstaltungen einen hohen Stellenwert. Touristische Ländervorträge, teils mit Lichtbildern, fanden genauso statt wie Diskussionen zu tagesaktuellen politischen Themen. Soziales Engagement der Gruppen, nicht nur zu Weihnachten, war ebenso Teil des Selbstverständnisses wie Überlegungen, wie eine demokratische sozialisti-

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sche Wirtschaft und Gesellschaft aussehen sollten. Geschichte und Bedeutung der Gewerkschaften und – seltener – die Auseinandersetzung mit NS, Krieg und Gefangenschaft, zum Teil als persönliche Lebensberichte, waren Teil des Gruppenlebens. Sie waren den altersgerechten Vergnügungen, auf die man lange hatte verzichten müssen, jedoch deutlich nachgeordnet. Eine Thematisierung der Shoah oder individueller Schuld Einzelner an NS-Verbrechen oder Reflektionen über das Geschehen im eigenen sozialen Umfeld gab es, wie in der gesamten deutschen Gesellschaft, auch bei den Falken nicht. Wie ist also die Frage nach den Werten, die dem gemeinsamen Handeln zugrundeliegen, bei den »Falken« unterschiedlichen Alters zu beantworten? Wie wurden sie durch die Teilnahme an Veranstaltungen und die Gemeinschaft beeinflusst? Zunächst existiert eine individuelle Ebene bei jedem einzelnen Gruppenmitglied oder Verbandsfunktionär mit seinem Verständnis von gut und richtig bzw. falsch und böse, die individuelle Moral. Diese wird durch viele Faktoren, von denen die Sozialisation im Falkenverband nur eine ist, bestimmt. Daneben gibt es den Moral- oder Ehrenkodex der Gruppe, zu dem sich das einzelne Mitglied, will es in der Gruppe bleiben, nicht dauerhaft in Widerspruch setzten kann. Außerdem existiert ein gesellschaftlich-politischer Wertekanon (bei den Falken dieser Zeit mit Schwerpunkt auf den Prinzipien politischer Demokratie und sozialer Verantwortung), der das Selbstverständnis des Falkenverbandes begründete und der an die Gruppenmitglieder vermittelt werden sollte. Da der persönliche Wertekanon weitreichender ist als die politische Orientierung und diese Werte primär durch eigene Erlebnisse und nur in zweiter Linie durch »Lehrveranstaltungen« erworben werden – Lernen durch Erleben ist eine Maxime der Falkenpädagogik selbst –, war die Praxis von Zeltlagern (Kinderrepubliken), Fahrten und Gruppentreffen wichtiger zu ihrer Vermittlung, als die darauf zielenden Bildungsveranstaltungen. So wurde sowohl eine für jene Zeit keinesfalls selbstverständliche Diskussionskultur zur Lösung konkreter Konflikte eingeübt, als auch gelernt, lebensfroh und selbstbestimmt die eigene Freizeit zu organisieren, wie aus den zitierten Beispielen deutlich wird. Offensichtlich eröffnete der Handlungsspielraum des Jugendverbandes den »Falken« ein Feld, auf dem selbstbestimmte, als sinnvoll und erfüllend empfundene Aktivitäten entfaltet werden konnten. Betrachtet man etwa die Darstellung des Ausflugs der Tempelhofer »Spatzen« im Juli 1945, so sieht man wie bereits wenige Monate nach der Befreiung dieser Spielraum geradezu demonstrativ privat, anders als zuvor bei der Staatsjugend, gestaltet wurde. Hier liegt der in sprachlicher Abgrenzung zum rapportähnlichen Bericht in einer NS-Jugendorganisation artikulierte Sinn, neben der eigentlichen Erfüllung des Bedürfnisses junger Menschen nach unbeschwerter Freizeit, in dieser Selbstbestimmung. Individuell waren derartige Erlebnisse eine wichtige Ressource um mit der oft deprimie-

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renden – sinnlosen – Lebenssituation umzugehen und Resilienzen für das Handeln im Alltag aufzubauen. Ein Bedürfnis nach Transzendenz, nach Religion oder »Religioidem« (Simmel) ist nicht zu erkennen, ebenso wenig wie eines nach säkularen Formen emotional-ideologischer Überhöhung. Sinnerfüllt erschien nur das Streben nach einem selbstbestimmten, demokratischen, die Rechte aller Menschen achtenden Leben in selbst erarbeitetem Wohlstand. Überpersönlich-transzendente Sinnangebote waren desavouiert. Emotionale, sinnstiftende Bedeutung hatte jedoch die Teilhabe an der konkreten Gemeinschaft der Gruppe und die Identifikation mit der sozialdemokratischen Bewegung, die sich jedoch ebenfalls primär für ökonomische Teilhabe, Bildung und säkulare Kultur einsetzte. Während viele ehemalige Funktionäre der Weimarer sozialistischen Jugendbewegung mit ihrem bereits vor 1933 gebildeten Wertekanon das Rückgrat der wiederentstehenden Falkenbewegung darstellten, ermöglichte diese Bewegung einer Vielzahl junger Menschen nach dem NS die Bildung einer demokratischsozialistisch-antifaschistischen Identität – nicht zuletzt in Entgegensetzung zu dem, was sie zuvor in Schule, NS-Jugendorganisationen oder bei der Wehrmacht erlebt hatten. Gerade für Mitglieder der Alterskohorte der »HJ-Generation« stellte dies ein attraktives Angebot dar: »Frauen – und das dürfte für Männer dieser Generation erst recht gelten – nutzten ihre Organisations- Führungs- und Aufstiegserfahrungen für ihre spätere parteipolitische, gewerkschaftliche oder kirchliche Tätigkeit. Sie fanden dort eine ›neue Gemeinschaft‹, aber auch neue Chancen, soziale Positionen zu erwerben.«45 Diese allgemein für frühere Mitglieder von NS-Organisationen formulierte Beobachtung dürfte auf den Jugendbereich in besonders hohem Maße zutreffen. Nach der großen Zäsur, die trotz aller Kontinuitäten in der deutschen Gesellschaft eine moralische und politische Neuorientierung forderte, boten »Die Falken – Sozialistische Jugendbewegung Deutschlands« hierfür einen Rahmen, der einen großen individuellen Handlungsspielraum mit dem Angebot eines betont demokratischen und sozial verantwortlichen säkularen Wertekanons verband. Es entstand ein großes pädagogisches Handlungsfeld, in dem eine individuelle Wertebildung innerhalb eines legitimen gesellschaftlichen Lagers möglich war und das einen erheblichen Beitrag zum Entstehen der politischen Institutionen und der Zivilgesellschaft der jungen Bundesrepublik Deutschland leistete.

45 Nori Möding: »Ich muss irgendwo engagiert sein – fragen Sie mich bloß nicht warum«. Überlegungen zu Sozialisierungserfahrungen von Mädchen in NS-Organisationen, in: Lutz Niethammer, Alexander von Plato (Hg.) »Wir kriegen jetzt andere Zeiten« Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern, Berlin u. a.1985, S. 281.

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Ausstellung: »Den Kommenden einen Weg aus den Ruinen zeigen …«. Kinder- und Jugendzeitschriften der Nachkriegszeit

Zeitschriften und Zeitungen waren in der deutschen Nachkriegszeit neben dem Radio das wichtigste Medium zur gesellschaftlichen und kulturellen (Selbst-) Verständigung. Das mediale Angebot war ungemein vielfältig und wies gerade auch für junge Menschen eine aus heutiger Perspektive enorme Bandbreite auf. Die Jugendpresse beinhaltete Mitte der 1950er Jahren neben vielen anderen Formaten allein 13 Jugendzeitungen, die wöchentlich im Zeitungsformat für ihre Leserschaft unter jungen Arbeiter*innen, Katholik*innen, Protestant*innen usw. aktuelle Meldungen und Reportagen veröffentlichten. Für 1947 sind 35 lizensierte Zeitschriften belegt; 1953 weist das »Handbuch der Jugendzeitschriften« sogar 339 eigenständige Titel nach.1 Je nach Schwerpunkt dienten diese Periodika unterschiedlichen Zwecken. Dieser konnte eher in der Bildung und Unterhaltung, in der Selbstdarstellung und internen Verständigung bestimmter Gruppen oder aber in der institutionellen oder kommerziellen Kommunikation liegen. Eine Zäsur stellte die Währungsreform 1948 dar, die alle bis dahin eingeführten Titel unter ökonomischen Druck setzte. Die neuen gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen veränderten die Zeitschriftenlandschaft, zum einen durch die stärkere Verbreitung elektronischer Medien wie Radio und Fernsehen, zum anderen durch Tendenzen der Kommerzialisierung. Symptomatisch dafür war die seit 1956 erscheinende, kommerziell sehr erfolgreiche »Bravo«. Die Ausstellung in den Räumen des Archivs der deutschen Jugendbewegung dokumentierte ein breites Spektrum dieser Jugendzeitschriften aus der Zeit zwischen 1945 und 1960. Ausgewählt wurden sehr unterschiedliche Titel: von improvisierten Periodika der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zu aufwändigen Verlagsproduktionen, von milieu- und verbandsspezifischen bis zu allgemeingesellschaftlich ausgerichteten Blättern, von kurzlebigen bis zu dauerhaft etablierten Journalen. Entsprechend der Überlieferung im Archiv blieben die rein kommerziellen Titel sowie das ganz eigene Genre der Schul- und Schüler-Zeit1 Konrad Friesicke: Handbuch der Jugendzeitschriften, Mainz 1953.

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schriften in der Ausstellung ausgespart. Zudem hat sich bei der Auswahl die bescheidene Überlieferungslage im Bereich der Mädchen-Zeitschriften ungünstig ausgewirkt. Von den ohnehin nur relativ wenigen Titel, hat bislang nur eine kleine Auswahl ihren Weg in das Archiv gefunden. Daher konnte als Mädchen-Zeitschrift letztlich nur die katholische »Morgen« berücksichtigt werden. Thematisch wurden die Zeitschriften daraufhin untersucht, inwiefern Fragen zur Sinnhaftigkeit des (Jugend-) Lebens angesprochen wurden: Inwiefern war die unmittelbare Vergangenheit, waren NS-Zeit und Krieg Anlass über Fragen der Religion oder Metaphysisches nachzudenken? Woran konnten und wollten junge Menschen glauben? Was gab ihnen Halt? Die Auswahl der Zeitschriften repräsentiert ein breites Spektrum von Antworten: Christliche und jugendbündische Ansätze, intellektuelle und pragmatische Zugänge, moralische Vorbilder als Angebot für Mädchen und Jungen, redaktionelle Vorgaben und offene Plattformen. Eine Besonderheit stellt das kleine Segment von Zeitschriften der bündischen Jugendbewegung dar, die sich nach 1945 noch einmal an vielen Orten etablieren konnte. Auf verschiedenen Ebenen knüpften Pfadfinder*innen, Wandervögel und Jungenschafter an Organisationen und Erfahrungen der Vor-NS-Zeit an. Teils wurden alte Formen wiederbelebt, teils bewusst neue gesucht. Solange die Abgrenzung vom Nationalsozialismus klar formuliert wurde, standen die westlichen Besatzungsmächte diesen Angeboten für die junge Generation prinzipiell nicht im Weg. Vielmehr förderten sie diese sogar an vielen Stellen. Gerade in den bündischen Zeitschriften wurden Sinnstiftungsfragen erörtert: Was war den Jugendlichen wichtig? Was thematisierten sie in diesen Jahren? Welche Wege sahen sie für sich? Den Mangel an glaubwürdigen Lebensentwürfen spürten junge Leute sehr klar. Sie waren auf sich selbst zurückgeworfen, wie es Walter Scherf (1920–2010) formulierte: »Denn die kommende Generation ist führerlos und wird zu Nihilisten werden, wenn sie im Geschwätz aufwächst«.2 In diese Krise hinein formulierten die »Bündischen« einen eigenen kindheits- und jugendgemäßen Ausweg: »Wir singen und spielen und wandern und glauben, daß wir in dieser freien geistigen Atmosphäre zu aufrechten Menschen heranwachsen werden, die den Kommenden einen Weg aus den Ruinen zeigen können«. Die Ausstellungsgestaltung nahm die Ästhetik der Nachkriegszeit und speziell der Printmedien dieser Zeit, vor allem über die Auswahl der Schriften und Farben, auf. Dabei porträtierten die elf zentralen Ausstellungsplakate jeweils eine Zeitschrift mit ihren formalen Merkmalen (Erscheinungszeitraum, Verlagsort, Themenschwerpunkte, Erscheinungsweise, Format) sowie ausdrucksstarken 2 Walter Scherf: Unser Schiff. Rundbriefe der deutschen Jungenschaft, Göttingen 1946–1948, hier Nr. 1, 1946.

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Abbildungen aus dem Blatt und einem Übersichtstext zu den Inhalten: BambiHefte, Der Pinguin, Der junge Pionier, Eisenbahn Kinderzeitung, Die Laienspielgemeinde, Jugendpost, Der Junge Mann, Der Ruf, Der Wildpfad, Horizont und Morgen. Die Plakate wurden in einem überall ausliegenden, zeitschriftenartigen Ausstellungskatalog erläutert. Diese A3-große, im Stil der 1950er Jahre gestaltete 36-seitige Broschüre reproduziert das historische Genre »Jugendzeitschrift«, erkennbar vor allem an den Umschlagbildern, am Format, den Schriften und – damit »musste« jedes Jugendblatt enden – der »Rätsel-Seite«. Zusätzlich wurden im Katalog fünf weitere Zeitschriften aus der Jugendbewegung vorgestellt: Am Lagerfeuer, Unser Schiff, Wir unter uns, Der silberne Wimpel, Der große Jäger. Auf einem frei zugänglichen Tablet im Ausstellungsraum stand jeweils eine vollständige Ausgabe der porträtierten Zeitschriften in digitaler Form zum Durchblättern und Lesen bereit. Dazu lagen in einer zeittypisch ausgestatteten Sitzecke (Cocktailsessel, Stehlampe, Ascher) in einem Ständer einige originale Zeitschriften aus dem AdJb-Bestand aus. Weitere Ausgaben waren daneben in einem entsprechend dekorierten Schubladenschrank zu entdecken. In drei Ausstellungsvitrinen fanden sich zahlreiche Objekte zum Thema. Zwischen Literatur und Broschüren, u. a. mit Tipps für »Redakteure jugendeigener Zeitschriften«, zog vor allem die Schreibmaschine der Marke AEG Mignon aus dem Nachlass des Publizisten Karl Otto Paetel (1906–1975) die Aufmerksamkeit auf sich, bei der zum Schreiben jede einzelne Type mit einer Führungsnadel angewählt werden musste. Die Ausstellung wurde ab Oktober 2021 für zwölf Monate während der Archivöffnungszeiten zum selbstständigen Besuch angeboten; sie wurde darüber hinaus bei Gruppenbesuchen und bei Führungen persönlich erläutert. Aus den Gesprächen war zu erfahren, dass viele Besucher*innen zuvor tatsächlich noch nichts von dem demokratischen, nicht kommerziellen, jugendkulturellen Neuanfang nach 1945 wussten. Die frische Aufmachung, etwa der von Erich Kästner edierten Zeitung »Pinguin«, überraschte Viele ebenso wie die deutlichen Artikel zur Lebenswirklichkeit in der Nachkriegszeit. Die vermeintlich »bleierne Zeit« der 1950er Jahre hat eine lebendige Vorgeschichte, das zeigte die Ausstellung eindrucksvoll.

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Weitere Beiträge

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Zur Annäherung von Freideutscher Jugend und katholischer Jugendbewegung zwischen 1920 und 1922

Der Beginn der Annäherung von Freideutscher Jugend und katholischer Jugendbewegung zwischen 1920 und 1922 fällt in eine Zeit, in der die katholische Jugendbewegung einen deutlichen Zuwachs an Mitgliedern und an Einfluss auf die Entwicklungen der gesamten deutschen Jugendbewegung verzeichnete1, die Freideutsche Jugend dagegen um ihren Fortbestand kämpfte. Die Auflösungstendenzen der Freideutschen Jugend als Organisation deuteten sich schon auf der Ersten Freideutschen Woche auf dem Solling 1917 an, ließen sich zur Jenaer Tagung 1919 nur schwer bewältigen und gipfelten schließlich nach der Hofgeismarer Tagung von 1920 in der Auflösung der Freideutschen Jugend zum Jahreswechsel 1920/212. Jene Entwicklungen sind engstens mit der Person von Harald Schultz-Hencke (1892–1953) verknüpft. Er hatte sich 1916 der Freideutschen Jugend angeschlossen, gehörte 1917 bereits zum »Kerntrupp vom Solling«3, blieb fortan einer der führenden Persönlichkeiten der Freideutschen Jugend und war in den Jahren von 1919 bis 1921 schließlich jene Zentralfigur, die auf eher informellem Weg4 versuchte, seine freideutschen Mitstreiter in ihren politischen Differenzen, die sich zwischen dem kommunistischen und einem nationalistisch-völkischen Extrem bewegten, durch Austausch und Diskussion und mittels eines politisch eigenen, gemäßigt linken

1 Vgl. Hans Kusch: Die Quickbornbewegung, in: Hertha Siemering (Hg.): Die Deutschen Jugendverbände. Ihre Ziele sowie ihre Entwicklung und Tätigkeit seit 1917. Zweiter Teil des Handbuches: Die Deutschen Jugendpflegeverbände, Berlin 1923, S. 98–99; Theo Herrle: Die Deutsche Jugendbewegung in ihren kulturellen Zusammenhängen, Gotha u. a. 1924, hier S. 98– 103. 2 Vgl. Steffen Theilemann: Harald Schultz-Hencke und die Freideutsche Jugend. Biografie bis 1921 und die Geschichte einer Bewegung, Gießen 2018, S. 171f., 245, 380–386. 3 Elisabeth Busse-Wilson: Stufen der Jugendbewegung. Ein Abschnitt aus der ungeschriebenen Geschichte Deutschlands, Jena 1925, S. 53. 4 Formell lag seit 1919 der Vorsitz der Freideutschen Jugend bei der Arbeitsgemeinschaft der Freideutschen Jugend e.V. unter ihrem Vorsitzenden Knud Ahlborn.

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Programms5 zusammen zu halten und auf einen gemeinsamen Kurs zu führen6. In all seinen Bemühungen um die Freideutsche Jugend entwickelte sich SchultzHencke wohl zu der wichtigsten intellektuellen Stimme der Freideutschen, wie z. B. auch die Lauensteiner Tagungen von 1917 und 1918 zeigten7. Die enorme Bedeutung Schultz-Henckes für die Freideutsche Jugend, die in der biografischen Studie von Theilemann8 erstmals deutlich wurde, exemplifizierte sich auch in seinem Wirken innerhalb der zwischen 1920 und 1922 stattfindenden Annäherung von Freideutscher Jugend und katholischer Jugendbewegung. Jene Annäherung, die zugleich eine Auseinandersetzung war, gestalteten auf der theoretisch-intellektuellen und auf der publikationsseitigen Ebene vor allem Harald Schultz-Hencke und sein damaliger Weggefährte Max Bondy (1892–1951) auf der einen und Romano Guardini (1885–1968) für die katholische Jugendbewegung auf der anderen Seite. Jene Annäherung wie Auseinandersetzung, die beide Bewegungen in ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden in spezifischer Weise kennzeichnet, stellt einen bisher in der historischen Forschung wenig beachteten Aspekt der deutschen Jugendbewegung dar und wird hier nun nachfolgend beleuchtet. Im Verlauf des Jahres 1920 hatten sowohl Schultz-Hencke als auch Bondy ihren Lebensmittelpunkt auf den Sinntalhof, nur weniger Kilometer von Bad Brückenau entfernt, verlegt. Bondy begründete dort Anfang 1920 seine »Freie Schul- und Werkgemeinschaft«, aus der die späteren Landerziehungsheime in Gandersheim und Marienau hervorgingen9. Schultz-Hencke arbeitete auf dem Sinntalhof einerseits programmatisch und organisatorisch für die Freideutsche Jugend, andererseits unterstützte er in begrenztem Maß den Lehrbetrieb Bondys. Der Bericht der Schule auf dem Sinntalhof vom Oktober 1920 bis Oktober 1921 verweist erstmals auf eine Zusammenarbeit Schultz-Henckes und Bondys mit der christlich geprägten Jugendbewegung. Demnach fanden sich im genannten Zeitraum auf dem Sinntalhof »Angehörige […] der katholischen und evangelischen Bünde«10 zum Austausch ein. Besonderes Augenmerk gewannen dabei die Kontakte zur katholischen Jugendbewegung, hier insbesondere zum Quickborn, der die der Jugendbewegung zugeneigte katholische Studentenschaft einte, und

5 Harald Schultz-Hencke: Die Überwindung der Parteien durch die Jugend (Das Wollen der neuen Jugend. Eine Auseinandersetzung mit den Grundfragen der Zeit I), Gotha 1921. 6 Vgl. Theilemann: Schultz-Hencke (Anm. 2). 7 Vgl. Meike Werner (Hg.): Ein Gipfel für Morgen. Kontroversen 1917/18 um die Neuordnung Deutschlands auf Burg Lauenstein, Göttingen 2021, S. 280, 282, 341, 355f. 8 Theilemann: Schultz-Hencke (Anm. 2). 9 Vgl. Theilemann: Schultz-Hencke (Anm. 2), S. 376–380. 10 Bericht der Schule auf dem Sinntalhof vom Oktober 1920 bis Oktober 1921, S. 5, Archiv Schule Marienau.

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zu den »Großquickbornern« als der Vertretung der Älterengeneration des Quickborn. Die katholische Jugendbewegung war nach dem 1. Weltkrieg in bemerkenswerter Weise erstarkt und suchte nun den Kontakt auch zur Freideutschen Jugend. So »bekundeten« auf der Quickborn-Tagung im August 1920 auf Burg Rothenfels die Teilnehmer »ihren festen Willen, die Ziele [der übrigen deutschen Jugendbewegung] auf eigenen Pfaden und mit eigenen Kräften zu erreichen«11. Else Stroh vermutet auf katholischer Seite den Wunsch, »die Starrheit alter Formen mit neuem unmittelbaren Inhalt [der freideutschen Jugendbewegung] zu durchdringen.«12 Den Prozess der Annäherung trieb der Führer der katholischen Jugendbewegung, Romano Guardini13, wesentlich durch zwei seiner Schriften, voran. 1920 erschien »Neue Jugend und katholischer Geist«14 und im April 1921 dann »Die Sendung der katholischen Jugend«15. Die erste der beiden Schriften, eine kleine Broschüre über 35 Seiten, enthält eine Liebeserklärung an die »neue Jugend« und eine Kritik an ihr. Über die »neue Jugend«, die sich für Guardini insbesondere in den Zeitschriften: Freideutsche Jugend, Die Hochschule, Die Tat oder Der Mensch16 artikuliert17, sagt Guardini, »daß er sie aus ganzer Seele liebt, diese herrliche Woge jungen Lebens, die aus lang verschütteten Tiefen bricht. In Stunden der Sorge um Volk und Land sucht er sie im Geist, und schöpft neue Zuversicht aus ihr, […] [aus ihr, die das] Jung-Sein als die UrErscheinung, die Wurzeltatsache des Menschlichen [empfindet] und begrifflich erfasst.«18 Jung-Sein heißt für Guardini »vor allem, ein Werdender sein, und zwar mit Willen. […] Heißt also, sich ganz auf das Wachsen stellen und auf das Suchen. Nichts darf als endgültig genommen werden, alles ist fraglich. […] 11 E. W. Trojan: Jugendbewegung, in: Die neue Erziehung, 1921, Nr. 2, S. 60–61, hier S. 60. 12 Else Stroh: Zu Guardini. Das Unbedingte und der Kompromiß, in: Die Tat, 1921, Nr. 6, S. 474– 476, hier S. 476. 13 Guardini, Romano (1885–1968): in Italien geboren, kam Guardini einjährig mit seiner Familie nach Deutschland. Nach mehrsemestrigen Studien der Chemie und Nationalökonomie entschied er sich für ein Leben als katholischer Priester. Nach dem Theologiestudium empfing er 1920 die Priesterweihe. Zuvor hatte er 1915 promoviert. 1922 schloss Guardini seine Habilitation ab. Schon in der Gymnasialzeit der katholischen Jugendbewegung zugewandt, initiierte er die ab Oktober 1920 erscheinende Zeitschrift: »Die Schildgenossen. Blätter der Großquickborner und Hochländer«. Ab 1923 lehrte Guardini bis zur erzwungenen Emeritierung durch die Nationalsozialisten im Jahre 1939 an der Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges setzte er seine Lehrtätigkeit in München als einer der wesentlichen Vertreter der katholischen Weltanschauung im 20. Jahrhundert fort. 14 Romano Guardini: Neue Jugend und katholischer Geist, Mainz 1920. 15 Ders.: Die Sendung der katholischen Jugend, in: Die Tat, 1921, Bd. 13, H. 1, S. 9–18. 16 Die Zeitschrift »Der Mensch: ein deutsches Blatt für gemeinsames Leben« erschien 1919 und 1920 im Verlag von Adolf Saal in Hamburg unter der Herausgeberschaft von August Wilhelm Hunzinger (1871–1920). 17 Vgl. Guardini: Jugend (Anm. 14), S. 7. 18 Ebd., S. 5 und 7.

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Nichts ist bewusst, alles nur geahnt. Nichts fertig, alles in treibendem Drang. Auf nichts soll der junge Mensch hören als auf die dunkle Stimme in der eigenen Seele, auf das, was da heraus will, was zu unbekannten Fernen drängt. […] JungSein heißt wahr sein. […] Wahr nicht gegen eine bestimmte Wahrheitslehre, sondern gegen sich selbst, gegen den Drang des eigenen Innern. Der Wahrhaftige darf nichts annehmen, was seinem inneren Empfinden zuwider ist, was er nicht als Erfüllung der eigenen Wesensforderung erfahren hat.«19 Jung-Sein heißt aber auch, »Schöpfer sein«20, »unbedingt sein«21 und »der Natur nahestehen«22. Das sind Beschreibungen für das Empfinden und Sein der freideutschen Jugend, wie sie es für sich selbst kaum hätte besser formulieren können.23 Nachfolgend stellt Guardini dem »Jung-Sein« den katholischen Geist gegenüber. »Katholischer Geist stellt das Sein vor das Werden und vor das Schaffen. Er stellt die Wahrheit vor die Tat, die Autorität vor das persönliche Urteil, das Recht der Allgemeinheit vor das des Einzelnen, die Überlieferung und ihre lebendige Fortbildung vor die Forderungen des Augenblicks. Er anerkennt eine in sich ruhende Ordnung des Lebens: Wahrheit, die von allem persönlichen Meinen unabhängig ist; Gesetze, die vom persönlichen Wollen nicht berührt werden, die vertreten sind durch in sich stehende, vom Willen des Einzelnen und der Gesamtheit unabhängige Gewalten. Und dies Gegenständliche (Objektive) ist verbindlich für den Einzelnen; er soll sich davor beugen, soll über seine einzelhafte Enge hinausgehen und jene übergreifende Geisteswelt sich zu eigen nehmen.«24 Und wenn »[katholischer Geist] Form und Adel hat [und] der katholische Mensch der ganze Mensch [ist]«25, wenn auch das »Jung-Sein« im Wert den Charakteristika des katholischen Geistes gleichgestellt ist, so ergibt sich für Guardini die Frage, welcher Kraft im ganzen Menschen der Vorrang zukommt: katholischem Geist oder dem »JungSein«. Die Antwort ist: dem katholischen Geist! Denn letztlich, so nun die Kritik an der neuen Jugend, verkenne die freideutsche Jugendbewegung die Kraft der Autorität, überschätze sie den »Autonomietrieb«26 und bedürfe sie der »Demut«, letztlich der der Demut zuordenbaren »Überzeugung, daß es ein absolutes, alle 19 20 21 22 23

Ebd., S. 10f. Ebd., S. 12. Ebd., S. 13. Ebd. Vgl. zum »Jung-Sein« die Beschreibungen von Kurella zum »Jüngling« (Alfred Kurella: Körperseele, in: Freideutsche Jugend, 1918, Nr. 7, S. 252) und von Schultz-Hencke zur »Zartnervigkeit« bzw. zur »gesteigerte[n] Empfindsamkeit gegenüber allen Eindrücken […] als dem wesentlichen Charakterzug« der Freideutschen (Harald Schultz-Hencke: Jugendbewegung, in: Max Marcuse (Hg.): Handbuch der Sexualwissenschaft, Bonn 1926, S. 316–319, hier S. 319). 24 Guardini: Jugend (Anm. 14), S. 15. 25 Ebd., S. 16. 26 Ebd., S. 20.

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Fülle des Lebens und Wertes in reiner Geistigkeit befassendes Wesen gibt. Die Demut kommt schlicht und selbstverständlich aus der Wahrheit, daß nur Gott Gott ist, der Mensch aber nicht. […] Solche Demut […] [und der mit ihr verbundene] Gehorsam zerstören nicht, was am Autonomiegedanken wahr ist: daß die besonderen Jugendwerte ihre Geltung haben und der Einzelne frei und selbständig sei, sie zu verwirklichen. Sie bekennt nur, daß diese Eigenständigkeit eine bezogene ist, und ordnet sie, als Geltung eines Teiles der des Ganzen, und als Geltung geschöpflichen Lebens der des göttlichen unter. // Solche Gesinnung bedeutet etwas Entscheidendes: sie verzichtet auf das Maßlose in den […] Grundgehalten des Jugendbewußtseins. Und wir behaupten: sie macht das Jungsein erst seines Namens wert.«27 Wie zuvor die Begeisterung Guardinis für das »Jung-Sein« die Freideutschen zu einer eigenen Stellungnahme herausfordern musste, so auch die Kritik an ihr. Allerdings: Guardinis Schrift gelangte nur in die Hände von wenigen Freideutschen, wurde insofern auch nur wenig von ihnen gelesen. Das änderte sich mit der oben erwähnten zweiten Schrift von Guardini: »Die Sendung der katholischen Jugend«28, die im Tatheft vom April 1921 erscheint. Guardini argumentiert ähnlich wie in »Neue Jugend und katholischer Geist«, nur: er spricht nun zusätzlich die inzwischen offen zutage getretene Krise der freideutschen Jugendbewegung an, analysiert diese und bietet ihr eine Lösung an. Er schreibt: »[s]eit einiger Zeit ist aber eine Wende eingetreten. Der erste prachtvolle Ansturm ist vorüber, der Durchbruch gelungen – nun zeigt sich immer tiefer gefühlte Ratlosigkeit. Die Jugend will Großes, vermag es aber nicht. Vielfach weiß sie gar nicht, was sie will. […] Sind die letzten Forderungen der Unabhängigkeit ausgesprochen, hat äußerster Kommunismus alle Folgerungen gezogen, vollendete Naturbejahung jeden Trieb gelöst und jeden Willen des Körpers frei gegeben, hat Verantwortungslosigkeit für ausgesprochene Gedanken sich alle Freiheiten genommen: was dann?«29 Und weiter: »[d]ie Eigenwertigkeit und Eigenständigkeit des jungen Lebens hat die bisherige Jugendbewegung dargetan. Das ist ihre Bedeutung. Jetzt aber tritt sie in einen geschichtlich bedeutungsvollen Augenblick. Etwas Neues ist nun zu leisten. Das bisher nur aufgerissene, aber nicht gelöste Problem [der Zusammenführung des Differenzierten zu einem Ganzen] muß zu Ende gedacht werden. // Das aber kann die freideutsche Jugend nicht. So empfängt die katholische das Problem aus deren Hand. Sie wird es lösen. // Warum sie? Weil allein katholischer Geist die Kraft dazu hat.«30 Diese Kraft stützt

27 28 29 30

Ebd., S. 22f. Guardini: Sendung (Anm. 14). Ebd., S. 10. Ebd., S. 13.

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sich, und das führt Guardini weiter aus, auf den »Sinn für die Wirklichkeit«, der wiederum auf der Anerkennung der »Autorität«31 ruht. Den Äußerungen Guardinis folgten Stellungnahmen der Freideutschen: zunächst in drei eher kurzen Stellungnahmen im Tatheft vom September 1921. Friedrich Bauermeister stimmt dort zwar den Analysen von Guardini weitestgehend zu, distanziert sich aber von einer mit der Zuwendung zur katholischen Jugend verbundenen Einordnung der freideutschen Jugend in die katholische Kirche32. Else Stroh erachtet die bestehenden Unterschiede in der Persönlichkeit von Katholiken und Freideutschen als ausschlaggebend für ein von ihr prognostiziertes Scheitern der Annäherung von katholischer und freideutscher Jugend33. Und Wilhelm Hagen führt in einer dritten Stellungnahme, ähnlich wie Else Stroh, gravierende Persönlichkeitsunterschiede zwischen katholischer Jugend und den zumeist »in tiefer protestantischer Wesenstradition aufgewachsenen« Freideutschen als Begründung an, warum eben Freideutsche nicht »katholisch werden [müssen]«34. Katholiken erscheinen Hagen so, als ob er bei ihnen »mit etwas Fremdem, Kaltem zu tun habe.«35 Und nicht die Unterordnung unter eine Autorität soll im Menschen ein Gefühl des ganzen Lebens bewirken, sondern eine »Liebe, […] die [das] ganze All in sich umschließen kann […] [und] zu einer ehrfürchtigen Demut vor allem Seienden [führt]«36. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Guardini leisteten dann SchultzHencke37 und Bondy38. Bevor Schultz-Hencke seinen Aufsatz »Neue Jugend und katholische Werthierarchie«39 verfasste, hatte er im Verlauf des Jahres 1921 eine Reihe der »katholischen Studenten von Maria Laach« als auch Vertreter der »Großquickborner« kennengelernt. Er weilte auch auf der Liturgischen Woche

31 Ebd. 32 Friedrich Bauermeister: Neue Jugend und katholischer Geist, in: Die Tat, 1921, Nr. 6, S. 470– 472. 33 Stroh: Guardini (Anm. 12). 34 Wilhelm Hagen: Müssen wir katholisch werden?, in: Die Tat, 1921, Nr. 6, S. 472–474, hier S. 472. 35 Ebd. 36 Ebd., S. 474. 37 Harald Schultz-Hencke: Neue Jugend und katholische Werthierarchie, in: Die Schildgenossen, 1921, Nr. 6, S. 210–216. 38 Max Bondy: Jugendbewegung und Katholizismus, in: Die Schildgenossen, 1921, Nr. 1, S. 44– 56; Max Bondy: Noch ein Mal Jugendbewegung und Katholizismus. Eine Entgegnung auf Guardinis Antwort, in: Die Schildgenossen, 1922, Nr. 5, S. 275–283; der Aufsatz von Bondy aus dem Jahr 1921 (vgl. zuvor) und die Antwort Guardinis hierauf (Romano Guardini: Katholische Religion und Jugendbewegung. Eine Antwort an Max Bondy, in: Die Schildgenossen, 1921, Nr. 2, S. 96–110) sind auch in Kindt wiedergegeben (Vgl. Werner Kindt (Hg.): Grundschriften der Jugendbewegung. Dokumentation der Jugendbewegung, Düsseldorf u. a.1963, S. 274–287 und S. 287–302). 39 Schultz-Hencke: Jugend (Anm. 37).

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der katholischen Jugend 192140. In seinem Aufsatz stellt Schultz-Hencke zunächst fest, der Freideutschen Jugend war es nie darum gegangen, sich der Autorität per se zu verweigern, sondern, analog der katholischen Jugend, »die ganz besonderen Autoritäten, die vom mechanisierenden Einfluß des technischen Lebens und seinen Folgeerscheinungen verkrüppelt waren, ab[zu]lehnen.«41 Sich und die Freideutschen meinend, stellt Schultz-Hencke fest: »wir maßten uns an, über den Wert oder Unwert einer jeden Autorität selbst zu entscheiden, mit unserem Kern. […] Wenn also ein Mal eine Autorität uns als solche evident geworden ist, wenn wir eine ganze Person, ein ganzes Lehrgebäude als seinem Wesen nach autoritativ anerkannt haben, so werden wir auch bereit sein, in Einzelfällen zu dienen, wenn wir nicht einsehen, wenn wir nicht ein unmittelbares Mitklingen unseres Kernes spüren. Dadurch wird ja eigentlich eine Autorität erst zu einer solchen, daß wir ihre Forderung anerkennen müssen, demütig zu sein, uns ihr zu unterwerfen, auch wenn wir nicht im Augenblick ›einsehen‹.« Schultz-Hencke sieht in der freideutschen wie katholischen Jugend eine »Sehnsucht nach Einordnung, […] die Bereitschaft zu freudigem Empfang der Autorität, wenn sie die Kraft in sich trägt, […] die Verkörperung des Absoluten im Sein zu zeigen, oder in dessen Bild.«42 Und nun das Entscheidende: die katholische Kirche, auch Guardini, erkennt jene »Verkörperung des Absoluten«, des »Vollkommenen«43, in Christus, nicht so die freideutsche Jugend. Christus »als Ganzes« hat die Freideutschen »nicht überwältigt. […] Er ist in [ihr] Leben fast ebenso häufig als Anschauung getreten wie in das der katholischen Jugend. Ihr [der Freideutschen] Kern hat nicht restlos ja zu seinem Bild sagen können.«44 Auch »die Kirche als Person, als Mittler« lehnt die freideutsche Jugend ab, denn ihr »[erscheint] die Kirche als Institution durchaus nicht als sinnvolle, in diesem Sinne notwendige Einrichtung Gottes.«45 In Abgrenzung zur Autorität des Christus entwirft Schultz-Hencke das Bild einer Autorität, die von einer »neuen Jugend« Anerkennung finden kann. Diese Autorität stellt sich dar als ein dem Menschen inne wohnendes psychisches Gebilde, das »im Ganzen der Welt Freude gefunden hat, das […] gelernt hat, die Welt als Kosmos zu erleben; auf jeden Fall das Ganze als Kosmos so stark, daß das Leiden an chartischen Wirbeln im empirischen Ich und in den Teilen der Realität46 in jener Freude zwar nicht

40 Vgl. ebd., S. 210; auch Max Bondy berichtet von persönlichen Kontakten zu »führenden Jungkatholiken« (vgl. Bondy: Jugendbewegung (Anm. 38), S. 50). 41 Schultz-Hencke: Jugend (Anm. 37), S. 211. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 213. 44 Ebd., S. 212. 45 Ebd., S. 212f. 46 Gemeint ist: das Leiden an sich selbst und an der Realität.

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beseitigt, aber aufgehoben wird. // Wer in seinen Augen und seinem Sein das Zeichen dieses Gefundenhabens zeigen wird, der wird Autorität sein.«47 Die Unterschiede in der Auffassung der Autorität zwischen Schultz-Hencke und Guardini bzw. zwischen der von ihnen vertretenen freideutschen und katholischen Jugend sind evident. Für Guardini hat das »Jung-Sein«, ein Annehmen dessen, was dem eigenen inneren Empfinden entspricht, sich der göttlichen Autorität ein- und dabei unterzuordnen. Für Schultz-Hencke existiert eine göttliche Autorität nicht und damit entfällt die Möglichkeit, sich ihr unterzuordnen. Die Autorität entäußert sich durch jene Menschen, die »im Ganzen der Welt Freude gefunden« bzw. »gelernt« haben, »die Welt als Kosmos«48 zu erleben. Die Stimmung des Aufsatzes von Schultz-Hencke ist nicht die, die Guardini mit seinen Schriften beabsichtigte zu erzeugen: nein, für Schultz-Hencke ist nicht die katholische Jugendbewegung die »neue Jugend«, sondern die freideutsche. Aber: die katholische Jugend möge der freideutschen deren noch »unvollständige[s] Bild vom Ganzen des Lebens [ausfüllen]«49. Die Freideutschen »warten darauf«, dass die katholische Kirche sie »an ihrer Weisheit teilnehmen lässt;« auch dann, wenn Schultz-Hencke und mit ihm die Freideutschen sich »ihrer Werthierarchie nicht unterwerfen können.«50 Max Bondy legt in seiner Antwort auf Guardinis Schriften, in »Jugendbewegung und Katholizismus«51 klar, daß »Gott [als] die selbstverständliche, unbedingte Herrschaft derjenigen Autorität, von der der Mensch ganz abhängig ist, [als] die Bestimmung des Weltgefühls durch von außen kommende Gewalten, durch das ›Du‹«52, eigentlich nur bis zur Renaissance existierte. Gott hört im benannten Sinne auf Gott zu sein, »sobald das Ich anfängt, sich seiner selbst bewusst zu werden«53. Dennoch bedarf es einer »Synthese von Gott und Ich«54, nun verstanden als Synthese von »Du« und »Ich«. Diese Synthese, auch einer Ganzheit des Lebens nahe stehend, kann, so Bondy, möglicherweise der Katholik besser gerecht werden, denn der »Katholizismus besitzt […] eine intellektuelle Deutung seiner Formen, die im Großen und Ganzen gleich geblieben ist trotz der sich verändernden Gesamtstruktur der Menschen. […] Diese Formen enthalten gerade Beziehungen zum Absoluten. So ist anzunehmen, daß heute, wo […] diese Beziehungen wieder lebendig werden, […] der Katholik an seinen alten Formen eine große Stütze haben kann. […] Der Freideutsche, der, […] infolge der un47 48 49 50 51 52 53 54

Ebd., S. 215. Ebd. Ebd. Ebd., S. 216. Bondy: Jugendbewegung (Anm. 38). Ebd., S. 47. Ebd. Ebd., S. 46.

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glücklichen Zeitlage gar keine Formen hat, die ihm in irgend einem Punkt adäquat sind […], wendet sich an den Katholiken, nicht um dessen alte Formen zu übernehmen, sondern, weil er annimmt, daß jener, eben weil er noch in den alten Formen Beziehungen zum Absoluten hat, leichter diejenigen Formen finden kann, in denen die neuen heute notwendigen Beziehungen zu den überindividuellen Gewalten zum Ausdruck gelangen können.«55 Bondy meint, »die Kirche [hat] […] einen tieferen Blick für die menschlichen Wesenszüge als er sonst anzutreffen ist. […] Die in der Atmosphäre der katholischen Kirche Großgewordenen [besitzen] etwas, das man Weisheit nennen könnte, eine gewissermaßen psychosynthetische Fähigkeit. Die katholische Weisheit, richtig angewandt, […] dringt, wie etwa ihr Verständnis für die metaphysische Bedingtheit der Schuld, der Reue oder des Opfers zeigt, in seelische Schichten bewußt ein, die dem Bewusstsein der Nichtkatholiken meist verschlossen sind, deren Bedeutung ihnen jedenfalls selten klar wird. Allmählich dringt der Freideutsche auch in jene Tiefen; er erkennt, daß das Leben nicht ehrlich gestaltet werden kann, daß bestimmte Probleme nicht zu lösen sind, ohne daß er sich etwa mit der Schuld als wirkenden, lebendigen Faktor auseinandergesetzt hat. Da steht er in Neuland, vor ungelösten Problemen, vielleicht kann ihm da die katholische Weisheit und Erfahrung einen Fingerzeig zur Lösung geben.«56 Romano Guardini kommt in seiner Entgegnung auf Schultz-Henckes und Bondys Aufsatz57 auf das Problem der Autorität zurück und schreibt: »[d]ie Autorität ist aber im Grunde genommen nichts anderes als das objektive Gegenbild des Gewissens«58. Nach Guardini enthalte das Gewissen einen Wunsch nach Autorität und dieser Wunsch vertritt »Gottes unbedingte Hoheit«59, ist ein phylogenetisch erworbener Wunsch, in diesem Sinne »Gott«. Das Wesen der Autorität liege in jenem unabhängig von der individuellen Entwicklung und Erfahrung bestehenden Impuls, zu gehorchen. Daraus ergibt sich für Guardini auch der Unterschied zwischen einem Freideutschen und einem Katholiken: »[d]ieser lebt von vornherein von den beiden Polen des Lebens, dem Objektiven und dem Subjektiven her. Sein Begriff der Wahrhaftigkeit umgreift beides. Sein Persönlichkeitsbewußtsein ist von vornherein auf Gemeinschaft und Autorität bezogen, so wie sein Autoritätsbewußtsein von vornherein auf die Persönlichkeit bezogen ist. Dadurch wird sein Denken, seine gesamte Haltung ausgeglichener. […] Der Freideutsche hingegen stellt sich – wenigstens zunächst – ganz auf den persönlich-subjektiven Pol. Dadurch kommt er in jene eigentümliche, kritische, angriffliche, innerlich einsame Haltung. Daraus ergibt sich die ihm eigene, be55 56 57 58 59

Ebd., S. 49f. Ebd., S. 51. Guardini: Religion (Anm. 38). Ebd., S. 98 (Fußnote). Ebd., S. 97.

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sondere Erlebnisfähigkeit und Scharfsichtigkeit für gewisse Bereiche des Lebens.«60 Sich auf die allgemeinen Unterschiede zwischen freideutscher und katholischer Jugend beziehend formuliert Guardini sein Resümee, das eine Trennung von den Freideutschen ankündigt. »Ich habe vom katholischen Menschen große Dinge geschrieben, so fühle ich mich verpflichtet, dazu noch etwas zu sagen. Wären wir wirklich und ganz katholisch, dann wäre eine Erörterung, was die katholische Jugend der anderen sein könnte, nicht nötig. Dann würde sie nicht reden ›in Worten menschlicher Überzeugung und Wissenschaft‹, sondern ›ein lebendiger Erweis der Kraft‹ sein. Gottes Reich würde aus ihrem Sein sprechen; Christi Bild würde die Anderen überwältigen. Denn unsere wahre und ganze Kraft ist nicht, was wir selbst sind und sagen – Ihr seid uns ja in Vielem weit überlegen –, sondern die Wirklichkeit des Reiches Gottes, Christus und seiner Gnade. Unser wahrer Wert wäre, Organe zu sein. Daß wir das nicht sind, das ist unsere Schuld. // Ihr habt uns gezeigt, Max Bondy61, was Ihr von uns erwartet. Ich habe erwidert, wie wenig ich uns dazu fähig glaube. // Was wir aber von Euch zu lernen haben ist dies: so ganz katholisch zu sein, wie Ihr freideutsch.«62 In der »Entgegnung auf Guardinis Antwort«63 warb Max Bondy noch ein Mal für eine Annäherung der freideutschen Jugend an die katholische Jugendbewegung. [Noch ein Mal setzte er seine Hoffnungen für ein Auffinden von Kultur, für eine »Erfülltheit mit den seelischen Kräften der zu erlebenden Zeit« (Brief: Bondy – Schultz-Hencke, 23.02.19)64 auch auf den Katholizismus, speziell auf dessen Fähigkeit, den »Formtrieb« bzw. den »Willen, sein Leben nach einem ganz bestimmten immanenten Bild zu gestalten«65, umsetzen zu können. Im »Formtrieb« sieht Bondy eine Parallele zu dem, was Guardini »mit der Wirkung des Objektiven im Leben des Einzelnen bezeichnen würde.«66 Bondy meint nun: werde der »Formtrieb« in zu vielen Individuen verdrängt, macht sich das »im Kulturganzen bemerkbar, in der Atmosphäre, die ein Volk sich schafft. Die unmittelbaren Ursachen für die Verfallsmomente, die wir in unserer Zeit erkennen, für den ›Untergang des Abendlandes‹, könnte man damit kennzeichnen 60 Ebd., S. 106. 61 Daß Guardini in seinem Resümee wie auch im Titel seines diesbezüglichen Aufsatzes Bondy, nicht aber Schultz-Hencke, als freideutschen Austauschpartner explizit benennt, dabei aber gerade auf die von Schultz-Hencke vorgegebenen Stichworte wie »Autorität«, »Absolutes«, »Gewissen« und Überwältigtsein von Christus eingeht, muß verwundern. Es scheint, daß Guardini – aus welchen Gründen bleibt offen – Schultz-Hencke offiziell übergeht, inoffiziell gerade ihm – und nicht (nur) Bondy – antwortet. 62 Ebd., S. 109f. 63 Bondy: Jugendbewegung (Anm. 38), S. 275. 64 Bundesarchiv Koblenz B 363, Bd. 31 (unsortiert). 65 Bondy: Jugendbewegung (Anm. 38), S. 283. 66 Ebd.

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[…]. Hier an dieser Stelle könnte der katholische Geist einsetzen.«67 Bondy hofft, daß, wenn der katholische Geist es »versteht, die besonderen Zeichen der Zeit zu erkennen und auf sie Rücksicht zu nehmen, es fertig bringt, […] das Schuldgefühl zu einem aufbauenden Faktor im Lebensganzen zu machen. Gelingt ihm das, so dürfte die Erneuerung unserer Zeit ihren tatsächlichen Anfang genommen haben.«68 In der Gesamtschau der beiden Aufsätze von Bondy ergibt sich, dass Bondy den Disput zwischen Guardini und Schultz-Hencke bzgl. dessen, woraus sich »Autorität« speist – aus Gott bei Guardini und aus dem persönlichen Erleben eines Ganzen von Subjekt und Welt bei Schultz-Hencke –, beiseitelässt und Schultz-Henckes Wunsch, die katholische Jugend möge der freideutschen deren noch »unvollständige[s] Bild vom Ganzen des Lebens [ausfüllen]«69, spezifiziert. Bondy vermutet unter den Katholiken eine im Vergleich zur freideutschen Jugend stärker ausgeprägte Fähigkeit, innere Beziehungen »zum Absoluten« und zu den Problemen »der Schuld, der Reue oder des Opfers«70, damit zu Teilen des Ganzen, herzustellen, von der die Freideutschen partizipieren könnten. Eine Unterordnung des »Jung-Seins« unter eine göttliche Autorität ist – wie bei Schultz-Hencke – auch Bondys Sache nicht. Die Annäherungen und Auseinandersetzungen zwischen Freideutscher Jugend und katholischer Jugendbewegung endeten hier. Sie blieben ein kurzzeitiges Geschehen. Ein gegenseitiges Lernen voneinander, wie es Bondy, SchultzHencke und anfangs auch Guardini für möglich hielten, blieb aus. Die Annäherungsversuche beider Arten von Jugendbewegung scheiterten an den bestehenden Unterschieden der beiden Gruppen, wie sie sich in den Aufsätzen von Schultz-Hencke, Bondy und Guardini spiegeln. Und sie scheiterten, weil die Freideutsche Jugend als Organisation Anfang 1921 aufhörte zu existieren, zeitgleich die Freideutschen ihr ihnen verbliebenes Zentralorgan, die Zeitschrift Freideutsche Jugend, ab Anfang 1921 mehrheitlich boykottierten und insofern als Forum der Koordinierung eigenen Tuns und des Austausches aufgaben71. Damit stand eine freideutsche Jugend als Gesprächspartner für die katholische Jugendbewegung und darüber hinaus als Impulsgeber und Mitgestalter einer in freideutschem Sinne zu verändernden Gesellschaft kaum bzw. nicht mehr zur Verfügung.

67 68 69 70 71

Ebd. Ebd. Schultz-Hencke: Jugend (Anm. 37), S. 215. Bondy: Jugendbewegung und Katholizismus (Anm. 38), S. 49 und S. 51. Vgl. Theilemann: Jugend (Anm. 2), S. 335–357.

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Bewerbungen um einen Platz in der »neuen Gemeinschaft«. Eine sozialstrukturelle Analyse der Interessent*innen an der völkischen Siedlung »Vogelhof« um 1920

»Für Luftschlösser habe ich keine Verwendung; ich will ordentlich mitarbeiten mit den Füßen am Boden & dem Kopf oben in unseren Idealen!«1 Mit diesen Worten voller Tatendrang schließt der 32-jährige Angestellte Hans Fischer seine Bewerbung für eine Aufnahme als Siedler in der völkischen Lebensreformsiedlung »Vogelhof«2 ab. Wer dort siedeln wollte, durfte vor körperlich anstrengender Arbeit keine Scheu haben, denn die Bereitschaft zum Anpacken auf dem Hof unter Verzicht auf Komfort und Bequemlichkeit wurde von den Siedlungsgründern erwartet.3 Wie viele Menschen sich in der Weimarer Republik wie Hans Fischer dazu entschlossen, ihre gesellschaftliche Existenz aufzugeben und als Siedelnde in eine Selbstversorgersiedlung einzutreten, ist bis dato nicht aufgearbeitet. In der Fachliteratur zur deutschen Siedlungsbewegung gibt es lediglich ungefähre Hinweise darauf, dass zwischen 1918 und 1933 circa 100 jugendbewegte und lebensreformerische Siedlerstellen existierten, wobei diese Zahl aufgrund der Kurzlebigkeit mancher Siedlungen eher auf eine Momentaufnahme hinweist. An zuverlässigen Informationen über die exakten Dimensionen der Siedlungsbestrebungen, über Ausmaß und Anzahl der Siedlungen sowie der Siedelnden, fehlt es weitestgehend.4 Während die ideologischen Motivationen und materiellen Interessen der Gründer*innen bekannter Sied1 Antwortschreiben Fischer, AdJb, A 221 Nr. 170, Bl. 27. 2 Im Folgenden verzichte ich auf die Anführungszeichen und übernehme die Selbstbezeichnung der Lebensreformsiedlung Vogelhof. 3 Auskunftsblatt der Siedlung Vogelhof, AdJb, A 221 Nr. 113 (ca. 1930), S. 8: »Allen denen, die gerne zu uns kommen möchten, wollen wir recht deutlich vorher sagen: Wer sich der Sache nicht ganz, unter Verzicht auf eigenes Wünschen und Bequemlichkeit, widmen will, wer nicht schon in naturfroher und naturgemäßer Weise (frei von Fleisch, Alkohol und Tabak) lebt, wer nicht räumliche und wirtschaftliche Enge, ein Leben ohne Geld, zu ertragen vermag, wer nicht im Geist der Jugendbewegung zu Hause ist, wer nicht von früh bis spät zu jeder Arbeit bereit ist, wer Menschen verschiedener seelischer Artung nicht mit liebevollem Verstehen zu ertragen weiß: der bleibe uns fern, […]«. 4 Bernd Wedemeyer-Kolwe: Aufbruch. Die Lebensreform in Deutschland, Darmstadt 2017, S. 132.

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lungsprojekte von Historiker*innen in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder in den Blick genommen wurden,5 gibt es zudem kaum Erkenntnisse über die sozialen Hintergründe und Interessen derjenigen, die als Siedelnde in Landkommunen eintreten wollten. Die offenstehende Frage nach dem »Wer?« in der deutschen Siedlungsbewegung des 20. Jahrhunderts ist deshalb so interessant, weil die Lebensumstände der Siedlungsbewegten in ihren spezifisch historischen Kontexten auf unterschiedliche Beweggründe für den Wunsch, sich einer Siedlung anzuschließen, hindeuten. Obwohl sich auf keine adäquate Quellenlage gestützt wurde, trafen Historiker*innen dennoch Aussagen über die Sozialstruktur dieser Siedlungsbewegung. Je nachdem welche Akteur*innen als Siedelnde identifiziert wurden, schloss man auf unterschiedliche Motivationen hinter der Entscheidung, einer Siedlung beizutreten. Der Kulturwissenschaftler Bernd Wedemeyer-Kolwe ist der Überzeugung, dass die Siedlungsbewegten materielle statt ideologischer Absichten in den Lebensreformsiedlungen verfolgten. In seiner Monographie »Aufbruch. Die Lebensreform in Deutschland« (2017) stellt er fest, dass Siedlungen vor allem in Krisenzeiten viel Zulauf erhielten. Aus den Umständen wirtschaftlicher Not abgeleitet, identifiziert er die gesellschaftlichen Aussteiger*innen als existenziell Bedrohte, die sich nach einem möglichst autarken (Über-)Leben sehnten. Die Entscheidung zum Leben als Siedler*in trafen die Zeitgenoss*innen »häufig eher aus Not als aus Überzeugung«6. Dagegen hatte zuvor der Historiker Ulrich Linse in seinem Buch »Zurück, o Mensch, zur Mutter Erde« (1983) argumentiert, dass sich das großstadtfeindliche Milieu der gesellschaftlichen Aussteiger*innen aus dem Bildungsbürgertum speiste. Die »kulturrevolutionäre Gebildetenrevolte«, so nennt Linse die bildungsbürgerlichen Agrarromantiker*innen, sah sich durch den sozialen Aufstieg der mittleren Beamten und Angestellten in ihrem bisher dominierenden, bildungsbürgerlichen Status bedroht und wagte daher den Ausstieg aus der Stadt aufs Land.7 Der Erste Weltkrieg wirkte gemäß Linse als weiterer Motor der Siedlungsbestrebungen. Die mit der Rückkehr aus dem Krieg verbundenen Schwierigkeiten einer Reintegration in das Alltags- und Berufsleben habe den Wunsch nach einer 5 Siehe u. a.: Aufbruch; Ulrich Linse: Völkisch-jugendbewegte Siedlungen im 20. und 21. Jahrhundert, in: Gideon Botsch, Josef Haverkamp (Hg.): Jugendbewegung, Antisemitismus und rechtsradikale Politik. Vom »Freideutschen Jugendtag« bis zur Gegenwart, Berlin 2014, S. 29– 73.; ders.: Zurück, o Mensch, zur Mutter Erde. Landkommunen in Deutschland 1890–1933, München 1983; Rainer Schmidt: »Abstecher ins Traumland der Anarchie«. Siedlungsgemeinschaften der deutschen Jugendbewegung, in: Hans-Jürgen Görtz (Hg.): Alles gehört allen. Das Experiment Gütergemeinschaft vom 16. Jahrhundert bis heute, München 1984, S. 188–207; Hans-Ulrich Helmer (Bearb.): Die Meuterei der Bu¨ rgerkinder oder Wie kommt das Schiff ins Traumland. Die Kommune- und Siedlungsbewegung der 20er Jahre, Hannover 1983. 6 Wedemeyer-Kolwe: Aufbruch (Anm. 4), S. 133. 7 Linse: Landkommunen (Anm. 5), S. 31f.

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alternativen Lebensweise in einer ländlichen Kommune verstärkt, in der nicht zuletzt der eigene bildungsbürgerliche Führungsanspruch geltend gemacht werden sollte.8 Weder Wedemeyer-Kolwe noch Linse berufen sich auf gesicherte Erkenntnisse über die Sozialstruktur der Siedlungsbewegung, um ihre Klientel samt Beweggründen zu benennen. Um nachvollziehen zu können, wer sich von der Siedlungsidee angesprochen fühlte, müssen die Siedelnden selbst jedoch in den Fokus der Forschung gerückt werden. Das wird in dieser Arbeit mittels einer Sozialstrukturanalyse umgesetzt, die die Lebensumstände der Siedlungsbewegten rekonstruiert. Dadurch sollen mögliche Auslöser und Beweggründe für einen Anschluss an die Siedlungsbewegung aufgedeckt werden. Der eingangs erwähnte Vogelhof eignet sich als empirische Fallstudie hierfür auf besondere Weise, da 45 beantwortete Fragebögen von 1920, die die Siedlungsgründer zuvor an interessierte Siedlungswillige sandten, im Aktenbestand des Vogelhofs überliefert sind.9 Der Fragebogen diente der Auswahl der eintretenden Siedler*innen. Gefragt wurde nach persönlichen Daten wie etwa dem Tag und Ort der Geburt, nach dem Gesundheitszustand, ob man »germanischer Abstammung« sei, nach religiöser, politischer und lebensreformerischer Einstellung, Ausbildung, landwirtschaftlichen Fertigkeiten sowie nach Vermögensverhältnissen und Liquidität. Auf Basis der gemachten Angaben kategorisiere ich die 45 Bewerber*innen10 nach Alter, Geschlecht und Familienstand, Wohnort, lebensreformerischer und völkischer Gesinnung, Konfession, Berufszugehörigkeit sowie finanziellem Status. Innerhalb jeder Kategorie frage ich nach Gemeinsamkeiten, Unterschieden und Tendenzen, um die Beweggründe der Bewerber*innen im historischen Kontext von Modernisierung und Lebensreformbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschließen zu können. Da nicht alle Bewerber*innen vollständige Angaben machten, muss die Analyse stellenweise lückenhaft bleiben. Ich beziehe sonstige Äußerungen der Bewerbenden mit ein und setze sie in Bezug zu den aufbereiteten Daten der Sozialstrukturanalyse, um mögliche Motivationen auch durch eine qualitative Herangehensweise erörtern zu können. Ebenso wird berücksichtigt, wie der Vogelhof in den Publikationen der Siedlungsgründer beworben wurde und so spezifische Interessen der Bewerber*innen ange8 Ebd., S. 90f. 9 Fragebogen an die Siedler, AdJb, A 221 Nr. 173. 10 Die Bezeichnungen »Bewerber*innen« und »Bewerbung« verwende ich, da die Antwortschreiben der Interessent*innen einem Bewerbungsprozess insofern ähnlich sind, als auf die getätigten Angaben über die eigene Person ein Auswahlprozess nach bestimmten Eignungskriterien erfolgte. Um aufgenommen zu werden, mussten die Interessent*innen die Siedlungsgründer von sich überzeugen. Die Antwortschreiben boten somit einen Raum zur beschönigten Selbstdarstellung. Wie das Problem der fehlenden Verifizierbarkeit der Aussagen der Bewerbenden zu bewerten ist, greife ich im Fazit auf.

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Abb. 1: »Fragebogen an die Siedler«, 1920 (AdJb, A 221 Nr. 173)

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Bewerbungen um einen Platz in der »neuen Gemeinschaft«

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sprochen haben könnte.11 Nach einer kurzen weltanschaulichen Einordnung des Vogelhofs kategorisiere und untersuche ich die Gruppe der Bewerber*innen in der oben genannten Reihenfolge und resümiere meine Ergebnisse abschließend im Fazit.

Leitlinien der Siedlung Hellauf (Vogelhof ) Die Gründer des Siedlungsprojekts kamen aus dem württembergischen Raum. Um den Oberrealschullehrer und völkischen Publizisten Friedrich Schöll sammelte sich vor 1920 eine Gruppe, die gemeinsam eine »arisch-christliche Lebensgemeinschaft« errichten wollte. Im selben Jahr gründeten sie die »Siedlung Hellauf G.m.b.H.« und besiedelten nach dem Kauf des Vogelhofs im Frühjahr 1921 das Hofgut.12 Das Ziel des Projekts bestand in der sogenannten Wiedergeburt des deutschen Volkstums, die auf dem Land geschehen sollte.13 »Fremdblütige« – gemeint waren Personen ohne »germanische Abstammung« – schloss man prinzipiell aus der Siedlungsgemeinschaft aus. Ebenso war die Enthaltsamkeit gegenüber Fleisch, Tabak und Alkohol obligatorisch. Vor allem der Alkoholabstinenz maßen die Gründer des Vogelhofs eine starke Relevanz in der lebensreformerischen Lebensweise bei.14 Laut einem Auskunftsblatt von 1930 stellte sich die Siedlung laut eigener Aussage »gegen das ganze System des Liberalismus und Individualismus, des Kapitalismus, des Kampfes aller gegen alle, des allgemeinen Mißtrauens, gegen die unsittliche Meinung, der Mensch arbeite nur aus Hoffnung auf Gewinn, nur unter dem Zwang der Konkurrenz.«15 Diese Selbstcharakterisierung verdeutlicht die ablehnende Haltung gegenüber der Modernisierung und Industrialisierung. Vor allem die Lohnarbeit machten die Siedlungsgründer für eine von ihnen wahrgenommene Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit verantwortlich. Dem setzten die Gründer den Archetyp des »Siedlers« entgegen, der aus Freude an der Arbeit für die Gemeinschaft lebe. Das Ersetzen der individualistischen Lohnarbeit, in der nur der Erhalt des Lohns eine Rolle spiele, durch die am Gemeinwohl orientierte Arbeit, wurde zur allgemeinen Grundlage der Siedlung erhoben.16 Neben dem obligatorischen Ver11 Dabei muss bedacht werden, dass sich einige aus nicht überlieferten Gründen für eine Siedler*innenstelle beworben haben könnten. Möglicherweise erfuhren sie durch Mundpropaganda vom Vogelhof oder hatten persönliche Beziehungen zum Gründerkreis und standen dem Vogelhof daher näher als anderen Siedlungen. 12 Linse: Landkommunen (Anm. 5), S. 199ff. 13 Ebd., S. 31f. 14 Linse: Siedlungen (Anm. 5), S. 47ff. 15 Auskunftsblatt (Anm. 3), S. 3. 16 Ebd.

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zicht auf Fleisch sowie auf die Genussmittel Tabak und Alkohol, gingen für die Bewerber*innen mit dem Eintritt in die Genossenschaft, die Voraussetzung zum Siedeln war, finanzielle Verpflichtungen einher. Jede*r musste mindestens einen Genossenschaftsanteil von 500 Mark zeichnen, der für den Landerwerb und die Errichtung gemeinschaftlich genutzter Gebäude und Produktionsstätten eingesetzt werden sollte. Die Vorschriften der Genossenschaft sahen für jede*n eine Bodenabgabe und eine Gemeindesteuer vor. Außerdem mussten die Siedler*innen den Bau von Wohnungen und Häusern auf der Siedlung selbst finanzieren.17

Alter, Geschlecht und familiale Integration Als sich die Interessent*innen für das Siedlungsprojekt Hellauf bewarben, war der Vogelhof noch gar nicht erworben. In der von Schöll publizierten Rundbriefserie »Siedlerbriefe« kündigte er 1920 an, Fragebögen an die Abonnent*innen seines Rundbriefs zu senden, die der Auswahl geeigneter Siedler*innen dienen sollten.18 Im selben Jahr gingen 45 Antwortschreiben bei den Gründern des Siedlungsprojekts ein. Oft stand hinter einer Bewerbung nicht nur ein*e einzelne*r Interessent*in. 23 männliche Bewerber bewarben sich gleichzeitig stellvertretend für ihre Ehefrauen, Verlobte oder im Namen ihrer Familie. Der Rest bewarb sich ohne Mitsiedelnde. Diese waren meist ledige oder alleinstehende Männer. Nur drei der insgesamt 45 Bewerbungen wurden von Frauen verfasst. Das Alter der Bewerber*innen lag ausgeglichen verteilt zwischen 18 und 53 Jahren. Nur ein Bewerber war mit 62 Jahren deutlich älter. Der Großteil der Interessent*innen lässt sich in zwei Gruppen mit unterschiedlicher familialer Integration aufteilen. Die eine bestand aus 18 verheirateten Paaren mit Kindern, die andere aus 15 alleinstehenden oder ledigen Personen ohne Mitsiedelnde. Das Durchschnittsalter der familial integrierten Bewerbenden betrug circa 33 Jahre, während das Durchschnittalter der Alleinstehenden und Ledigen bei circa 25 Jahren lag. Das Siedlungsprojekt Hellauf stieß damit in erster Linie bei männlichen Ledigen und Alleinstehenden sowie bei Familien auf Gefallen. Für die jüngeren Ledigen und Alleinstehenden bot der Umzug in die Siedlung die Aussicht auf eine feste Arbeitsstelle und eine Einbindung in die Siedlungsgemeinschaft. Für Familien könnte zudem die Schule »Sonnenheim« ansprechend gewesen sein, die Schöll bereits ab 1920 bewarb. Sie sah für Kinder und Jugendliche einen Lehrplan mit praktischen und handwerklichen Elementen sowie 17 Aufruf! 1. Siedlerbrief, AdJb, A 221 Nr. 174, S. 3. 18 2. Siedlerbrief, AdJb, A 221 Nr. 174, S. 3.

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lebensreformerisch und völkisch geprägten Inhalten vor.19 In der von Friedrich Schöll angestrebten »Lebenserneuerung« spielte die Erziehung von Kindern und Jugendlichen eine zentrale Rolle. Ein Streben zum »Hellen« funktioniere nur, wenn »arische« Kinder nach völkischer Ideologie erzogen würden.20 Ob es der völkische Erziehungsgedanke Schölls war, der die Eltern von der Siedlung überzeugte, ist den Bewerbungsschreiben allerdings nicht zu entnehmen.

Wohnort Der Blick auf die Verteilung der Wohnorte der Bewerber*innen21 verrät, dass mehr als die Hälfte in Großstädten und mittelgroßen Städten lebten. Vier Bewerber*innen wohnten in einer Kleinstadt mit bis zu 20.000 Einwohnern, acht lebten in Landgemeinden mit weniger als 5.000 Einwohnern. In noch kleineren Ansiedlungen, auf Landkommunen und in einem Weiler, lebten drei Personen. Das Interesse an der Hellauf-Siedlung scheint demnach primär, aber nicht ausschließlich, ein städtisches Phänomen gewesen zu sein. Die Mehrheit der Bewerber*innen wollte aus der Stadt, die durch Prozesse der Urbanisierung und Industrialisierung geprägt war, in die »Natur«. Aber auch in Kleinstädten oder Landgemeinden fanden industrielle Neuerungen statt, weswegen es nicht auszuschließen ist, dass auch die Bewerbungen der dort lebenden Interessent*innen eine Reaktion auf die Erfahrungen mit der Industrialisierung gewesen sein konnten. Eine typisch lebensreformerische Sichtweise auf die »Natur« lässt sich in einigen Bewerbungen finden. Christian Jangy aus Remscheid beispielweise nennt als Motivation für seine angestrebte ländliche Lebensweise »Ideale und Lust und Liebe«22. Er habe seine »selige Erbauung in der Natur gesucht und gefunden«23. Jangys Aussage offenbart weniger eine realitätsnahe Einschätzung vom Leben auf dem Land, sondern spricht vielmehr für eine romantische Auffassung von einer »Natur« und deren heilsamen Kräften. Auffällig ist, dass die meisten Interessent*innen nicht aus dem benachbarten Schwäbischen Raum kamen und auch nicht aus Württemberg. Lediglich 13 Bewerber*innen gaben einen Wohnort in Württemberg an. Dagegen wohnten 13 19 Aufruf! 1. Siedlerbrief, AdJb, A 221 Nr. 174, S. 1f. 20 2. Siedlerbrief, AdJb, A 221 Nr. 174, S. 2. 21 Die Einwohnerzahlen der Städte und Gemeinden, die meiner Klassifizierung zugrunde liegen, entnehme ich der Website »gemeindeverzeichnis.de«. Die Einwohnerzahlen aller Städte und Gemeinden des Deutschen Reichs für 1910 entstammen Volkszählungen, Lexika und Gemeindeverzeichnissen, die von Privatpersonen auf der Website aufbereitet wurden: https://ge meindeverzeichnis.de/ [20. 05. 2022]. 22 Antwortschreiben Jangy, AdJb, A 221 Nr. 170 (Bl. 5). 23 Ebd.

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weitere Bewerber*innen in Preußen, fünf in Sachsen, jeweils zwei in Hessen und Hamburg und jeweils einer in Thüringen, Baden, Bremen und im nahe gelegenen Österreich. Warum weckte das Siedlungsprojekt außerhalb der württembergischen Grenzen so viel Interesse? Schöll war Mitglied in zahlreichen Vereinen, Bünden, Parteien24 und zudem als eifriger Publizist tätig. Daher liegt der Schluss nahe, dass er entsprechende Schriften über die »Hellauf«-Siedlung in lebensreformerischen und völkischen Organisationen verbreitet und das Siedlungsprojekt somit in der ganzen Republik und sogar über die Landesgrenzen hinaus bekannt gemacht hatte. Schöll erwähnte selbst, dass die Interessent*innen aus dem Leser*innen-Kreis seiner gleichnamigen Zeitschrift »Hellauf« kamen.25 Sie waren also bereits vor Ankündigung des Siedlungsprojekts mit seinen Publikationen und Standpunkten vertraut. Die Tatsache, dass die Wohnorte der Bewerbenden in der ganzen Republik verteilt lagen, stellt darüber hinaus Wedemeyer-Kolwes Annahme infrage, dass die Siedlungsbewegten in erster Linie ökonomische und existenzsichernde Ziele verfolgten. Diese hätten sich wohl an die nächstgelegenen Siedlungen gewandt, während die Interessent*innen am Vogelhof bereit waren, in eine mehrere hundert Kilometer weit entfernte, ihnen höchstwahrscheinlich unbekannte Region zu ziehen.

Lebensreformerische und völkische Gesinnung Die von den Bewerber*innen angegebenen Mitgliedschaften in lebensreformerischen und völkischen Vereinen und Parteien sowie Äußerungen über die ideologische Gesinnung, geben Aufschluss darüber, ob sie tatsächlich Schölls völkische Haltungen zu Bodenreform, Freigeldwirtschaft und Abstinenz von Fleisch, Alkohol und Tabak teilten. Insgesamt ordneten sich 27 der 45 Bewerbenden der Lebensreform und/oder der völkischen Bewegung zu – davon sieben Personen gleichzeitig dem lebensreformerischen sowie dem völkischen Milieu. 19 Bewerber*innen gehörten lebensreformerischen Vereinen, von denen manche Bezüge zur völkischen Ideologie aufwiesen, an, wovon die Hälfte Mitglied im Bund deutscher Bodenreformer war. Einige gehörten dem Guttempler-Orden, Tabakgegner-Bund oder dem Deutschen Vegetarierbund an, die sich jeweils für die Enthaltsamkeit von Alkohol, Tabak oder Fleisch einsetzten. 15 Bewerbende 24 Christoph Knüppel: »Vorarbeiten zu einer geistigen Einheit des deutschen Volkes«. Friedrich Schöll als Leiter der Württembergischen Bauernhochschule und der Arbeitsgemeinschaft Vogelhof, in: Paul Ciupke u. a. (Hg.): »Die Erziehung zum deutschen Menschen«. Völkische und nationalkonservative Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik, Essen 2007, S. 178–216, hier S. 187f. 25 Zur Verbreitung in der Presse. Aufruf der Siedlungsgenossenschaft »Hellauf«, AdJb, A 221 Nr. 173.

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waren entweder Mitglied in einer dediziert völkischen Organisation oder aber nannten ihre politische Ausrichtung »völkisch« oder »deutschnational«. Sie gehörten beispielsweise dem Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund, dem Deutschen Orden oder der Germanischen Glaubens-Gemeinschaft an oder waren Parteimitglied in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), der Deutschen Arbeiterpartei (DAP) oder der Württembergischen Bürgerpartei, der Landespartei der DNVP. Die Ergebnisse zeigen, dass die Mehrheit der Bewerbenden gegenüber dem ideologischen Fundament der Siedlung Hellauf entweder im lebensreformerischen oder völkischen Sinne affin war. Darüber hinaus verdeutlichen die geäußerten Meinungen und Kommentare einiger Bewerber*innen das genuine Interesse an der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt und den ideologischen Grundsätzen des Siedlungsprojekts, gerade weil sie den Ansichten der Siedlungsgründer nicht immer bedingungslos zustimmten. So störte sich Georg Hoch an der zunächst geplanten viehlosen Landwirtschaft. Hoch befürchtete, ohne Arbeitstiere bräuchten die Siedelnden zu viele menschliche Arbeitskräfte auf dem Acker, was zu einem deutlich erhöhten Preis für die Lebensmittel führen würde.26 Fritz Jaquet kritisierte den Fleischkonsum seiner Zeitgenoss*innen und das in seinen Augen entfremdete Verhältnis des Menschen zum Tier. »Ekelhaft« fand Jaquet »seine [des Menschen] Abhängigkeit von ihm [dem Tier], seine Fleischfabriken. Aber nicht weniger seine Einstellung zur Pflanzennahrung«.27 Dass sich die Bewerber*innen schlicht aus finanzieller Not bewarben, lässt sich mit solchen Äußerungen nicht in Einklang bringen. Die Mitgliedschaften vieler Bewerber*innen in völkischen und lebensreformerischen Organisationen und die darüber hinaus formulierten Anschauungen sind als starkes Indiz dafür zu werten, dass Viele sich aus ideologischer Überzeugung für das Siedlungsprojekt bewarben.

Konfession und Religiosität In den Bewerbungsschreiben wird das Bedürfnis Vieler nach einer spirituellen und religiösen Fundierung ihres Lebensstils deutlich. Die Mehrheit der Bewerber*innen gab an, einer christlichen Konfession anzugehören, davon 19 dem Protestantismus28 und drei dem Katholizismus. Vier Bewerbende antworteten 26 Antwortschreiben Hoch, AdJb, A 221 Nr. 170 (Bl. 26). 27 Antwortschreiben Jaquet, AdJb, A 221 Nr. 170 (Bl. 38). 28 Zur Veränderung protestantischer Religiosität vgl. Lucian Hölscher: Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland, München 2005. Zur grundsätzlichen Neuformulierung der Religion in der Moderne siehe Boris Krause: Religion und die Vielfalt der Moderne. Erkundungen im Zeichen neuer Sichtbarkeit von Kontingenz, Paderborn u. a. 2012.

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ohne weitere Spezifizierung mit »christlich«. Auffällig ist die ablehnende Haltung Vieler gegenüber einer staatlichen Organisation von Religion. Nur ein Bewerber betonte, er sei »evangelischer Christ & stehe auf dem Boden der Landeskirche«29, während sich viele andere Bewerber*innen im Zuge dieser Frage von ihrer auf dem Taufschein vermerkten Religionszugehörigkeit distanzierten. Etwa Oswald Markert, der schrieb, er sei auf der Suche nach Gott »kirchenfremd« geworden und seine Begeisterung für das Religionsverständnis von Friedrich Schöll äußerte: »Die Gottesauffassung der Sch. [Schöll’schen] Rundbriefe scheinen das Gefäß zu sein, in das ich ganz hineinwachsen werde. Sie haben mich bis in mein Innerstes hinein ergriffen.«30 August Mattes erwähnte, dass er und seine Frau aus der evangelischen Landeskirche ausgetreten seien, da sie dort keine »Heimat« gefunden hätten.31 Julius Glemser merkte an, dass sich kein religiöses Bekenntnis mehr mit seinem Weltbild decke32 und Walter Hartung wies die »Glaubenssache« zurück und befürwortete stattdessen »mehr praktische Betätigung guter, edler [christlicher] Grundsätze«33. Die Haltungen der Bewerbenden sind Ausdruck einer »auffallende[n] außerkirchliche[n] Religiosität« jener Zeit, die der Historiker Thomas Nipperdey für das protestantische, bürgerliche Spektrum konstatiert – also jenes Spektrum, in dem die lebensreformerischen Ideen im 19. und 20. Jahrhundert am populärsten waren. Diese Religiosität bezog sich auf keine Religion oder Konfession im herkömmlichen Sinne, sondern war vielmehr ein diffuses Bedürfnis nach Religiosität.34 In den Augen der Lebensreformer*innen konnte die kirchliche Theologie ihrem Anspruch an eine »Gesamtinterpretation der menschlichen Erfahrungen«35 in einer zunehmend modernisierten und technisierten Welt nicht mehr gerecht werden. Infolge suchten sie sich andere, »außerkirchliche« Lebensdeutungen. Dass dennoch nicht von einer religiösen Grundstimmung abgelassen wurde, erklärt Nipperdey unter anderem damit, dass sich die Lebensdeutung der »Außerkirchlichen« immer noch am »bisherigen religiösen Anspruch auf Universalität« maß, an »über-individuelle[r] Verpflichtung und feste[r] Wertordnung«,36 an deren Stelle nur eine andere Form der Religiosität treten konnte.37

29 30 31 32 33

Antwortschreiben Wetzel, AdJb, A 221 Nr. 170 (Bl. 13). Antwortschreiben Markert, AdJb, A 221 Nr. 170 (Bl. 8). Antwortschreiben Mattes, AdJb, A 221 Nr. 170 (Bl. 7). Antwortschreiben Glemser, AdJb, A 221 Nr. 170 (Bl. 2). Antwortschreiben Hartung, AdJb, A 221 Nr. 170 (Bl. 31). Klammersetzung entspricht dem Original. 34 Thomas Nipperdey: Religion im Umbruch: Deutschland 1870–1918, München 1988, S. 143. Vgl. auch Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. München 2004. 35 Nipperdey: Religion (Anm. 34), S. 149. 36 Ebd., S. 151f.

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Betrachteten die am Vogelhof Interessierten das Siedlungsprojekt als eine »neue Heimat« für ihre losgelösten religiösen Empfindungen? Viele Bewerber*innen vereint, dass sie ihr religiöses Empfinden keiner bestimmten Konfession zuordnen wollten und sie sich mehrheitlich durch den Austritt aus der Landeskirche von der kirchlichen Organisation von Religion gelöst hatten. Dabei zeichnet sich das Bedürfnis nach einer alternativ-religiösen Sinnsuche bei einigen Bewerber*innen deutlich ab. Zum Beispiel schrieb Christian Jangy [sic]: »Nebenbei bemerkt bin ich seit meinem 21. Lebensjahr disident. Nun wird mann wohl nach prüfen dieser Antworten zu dem Schluß kommen ich sei ein Gegner von Religion. Das ist nicht der Fall denn Religion und Kirche sind 2 Dinge und wohlweislich voneinander zu trennen. Die Lebenserfahrungen haben mir dieses zur Erkenntnis gegeben, habe meine selige Erbauung in der Natur gesucht und gefunden.«38 Ebenso schien Schölls Auffassung von Religiosität zumindest bei einigen Bewerber*innen auf Gefallen zu stoßen, die in der Siedlung eine Antwort auf ihre Suche nach einem übergeordneten Lebenssinn zu finden glaubten. Diese Sinnsuche kann als Bedürfnis nach einer spirituellen Fundierung des Lebens beschrieben werden, die keine Hinwendung zu einer spezifischen Religion oder Konfession meint, sondern sich auf das unmittelbare Erleben einer transzendenten Wirklichkeit, einer übergeordneten »Wahrheit« bezieht. Dies verdeutlicht Arno Stuglich, der sich eigenen Angaben zufolge aus dem »sehnlichsten Wunsche« bewarb, »ein ehrliches Leben zu führen, ein Leben, das unseren Kindern die Tore öffnet zum wahrhaften Menschsein«.39 Das Motiv des Wahrhaftigen, das durch das Leben als Siedler*in erreicht werden soll, weist dabei nicht nur auf Stuglichs (außer-) religiöse Überzeugung hin, sondern auch auf dessen intensiv empfundene Sehnsuchtsgefühle.

37 Die Soziologin Eva Barlösius kritisiert an dieser Interpretation die rein ideengeschichtliche Betrachtungsweise, in der ausgehend von den ideellen Inhalten und Angeboten lebensreformerischer Publikationen auf die Bedürfnisse der Anhänger*innen der Lebensreform geschlossen wurde. Barlösius vermutet eine Überschneidung von lebensreformerischen Angeboten und Interessen der Anhänger*innen, jedoch keine Deckungsgleichheit; Eva Barlösius: Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende, Frankfurt u. a. 1997, S. 253. 38 Antwortschreiben Jangy, AdJb, A 221 Nr. 170 (Bl. 5). 39 Antwortschreiben Stuglich, AdJb A 221 Nr. 170 (Bl. 12).

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Berufszugehörigkeit In dieser Fallstudie kann Linses Behauptung, die Siedlungsbewegung sei das Phänomen einer bildungsbürgerlichen Schicht gewesen, die sich von der »staatlich oder privatwirtschaftlich verbeamteten Intelligenz«40 in ihrem führenden Status bedroht sah, nicht bestätigt werden, da sich ein erheblicher Teil der Bewerber*innen dem Mittelstand zuordnen lässt. Sie waren in Industriebetrieben angestellt – unter anderem als Schlosser, Mechaniker, Bautechniker, Bankund kaufmännische Verwaltungsangestellte. Nur eine Handvoll Bewerbende entstammte dem Bildungsbürgertum, darunter ein Oberstudienrat, ein angehender Lehrer, ein Privatdozent und ein Pfarrer. Die Berufsbezeichnung »Kaufmann« wurde mit insgesamt neun Erwähnungen am häufigsten angegeben. Zwar ist eine Charakterisierung des kaufmännischen Berufs nicht selbsterläuternd, da sie einen Kleingewerbetreibenden, aber auch einen Angestellten in einem großen Handelsbetrieb meinen konnte.41 Die genannten beruflichen Tätigkeiten und Ausbildungsgänge legen jedoch nahe, dass es sich um kaufmännische Angestellte handelte.42 Ein großer Teil der Bewerbenden übte technische und verwaltende Berufe aus, die im Zuge eines erhöhten Verwaltungs- und Managementbedarfs während der Industrialisierung in staatlichen Behörden und Industriebetrieben entstanden und in der historischen Forschung dem »neuen Mittelstand« subsumiert werden. Die schon seit der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert existierenden begrifflichen Phänomene »neuer Mittelstand« sowie »Angestellte*r« sind in erster Linie als Abgrenzungsbestreben von Angestellten gegenüber Arbeiter*innen zu verstehen.43 Eine materielle Abgrenzung gegenüber den Arbeiter*innen war den Angestellten oftmals jedoch nicht möglich, da ihr Gehalt nur knapp höher als das der Arbeiter*innen war, wodurch ihnen stets der soziale Abstieg drohte.44 Der Sozialwissenschaftler Reinhard Schüren konstatiert im »neuen Mittelstand« eine soziale Klassenbildung durch Außenabgrenzung und Binnenhomogenisierung

40 Linse: Landkommunen (Anm. 5), S. 30. 41 Barlösius: Lebensführung (Anm. 40), S. 142. 42 So etwa Hans Fischer, der eine dreijährige kaufmännische Lehre durchlief und nach eigener Aussage als leitender Angestellter in einem Unternehmen der Schwerindustrie arbeitete. Ebenso Wilhelm Wetzel, der nach der Obersekunda eines humanistischen Gymnasiums in die Lehre bei dem Pech- und Harzhersteller Zapf & Lang in Schwäbisch Hall eingetreten war und dort »gründliche Kenntnisse der Buchhaltung [und] Korrespondenz« erwarb. Antwortschreiben Fischer, AdJb, A 221 Nr. 170 (Bl. 27); Antwortschreiben Wetzel, AdJb, A 221 Nr. 170 (Bl. 13). 43 Jürgen Kocka: Arbeiten an der Geschichte. Gesellschaftlicher Wandel im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 22012, S. 137–138, außerdem S. 347, Anm. 1. 44 Ebd., S. 152f.

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als alleinstellendes Merkmal ohne Entsprechung in anderen sozialen Schichten.45 Durch die fehlende ökonomische Abgrenzung gegenüber der Arbeiterschicht eigneten sich die Angestellten ein bürgerliches Selbstbewusstsein an, von dem sie eine entsprechende bürgerliche Lebensweise ableiteten. Sie konzentrierten sich nicht darauf, ihre Position materiell abzusichern, sondern definierten ihre soziale Schichtzugehörigkeit über als bürgerlich geltende Verhaltensmuster und Tugenden, wie Fleiß und Gehorsam.46 Aus den Bewerbungsschreiben geht nicht hervor, ob sich die mittelständischen Bewerber*innen der sozialen Klasse der Angestellten angehörig fühlten und ihre Beweggründe für das Siedeln in der Verflechtung ihrer beruflichen Position mit der modernen Industriegesellschaft lagen. Es verwundert, dass gerade sie einen großen Teil der Interessent*innen am Vogelhof ausmachten, da diese Berufsgruppen von der wachsenden Nachfrage an technischen und verwaltenden Berufen während der Industrialisierung eigentlich profitiert haben müssten. Die Lebensumstände und insbesondere die Erfahrungen der Angehörigen des »neuen Mittelstands« lassen sich allerdings kaum verallgemeinern.47 Berücksichtigt man die Proletarisierungsängste der Angestellten und die Inflation ab 1914, die zu materiellen Verlusten derer führte, die nur wenig oder gar kein Vermögen besaßen,48 könnte der Gang in die Siedlung auch eine Rettung vor dem ansonsten drohenden finanziellen und sozialen Abstieg gewesen sein. Oder die Bewerbung für das Siedlungsprojekt war ein geplanter Ausbruch aus dem Angestelltenleben, das den Bewerber*innen durch den sich stetig wiederholenden Arbeitsalltags zweckrationalisiert und konsumorientiert vorkam. Siegfried Kracauer stellte in seiner zeitgenössischen Studie »Die Angestellten« (1929) die Widersprüchlichkeit des Lebens vieler Angestellter heraus. Diese hielten an ihrer scheinbaren Privilegierung gegenüber der Arbeiterschicht durch die Übernahme bürgerlicher Verhaltensweisen fest, während sie den ständig drohenden Abstieg ins Proletariat verdrängten.49 Waren sich die Bewerber*innen allerdings der Zwiespältigkeit ihres Berufsstandes bewusst, hätte das Siedlungsprojekt für sie als Gegenentwurf zu ihrer zweckrationalen Lebensweise fungiert. Die Anforderungen einer neuen kapitalistischen Leistungsethik, der sich gemäß Linse Teile des Bildungsbürgertums in der Siedlungsbewegung widersetzten, hätten ebenso 45 Reinhard Schüren: Soziale Mobilität. Muster, Veränderungen und Bedingungen im 19. und 20. Jahrhundert, St. Katharinen 1989, S. 241. 46 Barlösius: Lebensführung (Anm. 40), S. 154. 47 Detlev Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987, S. 160. 48 Andreas Schulz: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin u. a. 2014, S. 29f. 49 Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. Mit einer Rezension von Walter Benjamin, Frankfurt a. M. 1971, S. 94f.

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in den mittelständischen Lohnarbeiter*innen den Wunsch nach gesellschaftlichem Ausstieg aufkommen lassen können. Ihre berufliche Situation war ebenso an die Anpassung an die damaligen wirtschaftlichen Anforderungen gebunden. Dass die eigene Arbeitstätigkeit mitunter starke Entfremdungsgefühle auslöste, lässt sich dem Bewerbungsschreiben Hans Wölleckes entnehmen, der über seine Motivation zur Bewerbung als Siedler schrieb: »[…] wer weiß schon heute, zu was er sich in einer solchen idealen Gemeinschaft noch entwickeln kann. Ich suche Arbeit, die mich dem weltl[ichen] Lug & Trug entrückt & würde mich vor keiner Arbeit scheuen«.50

Vermögensverhältnisse Nur wenige Bewerber*innen schrieben von ihrer persönlichen finanziellen Not. Ewald Cichy berichtete davon, dass seine Frau zur Erwerbstätigkeit gezwungen sei, da er als kaufmännischer Angestellter nicht genug Lohn erhalte.51 Wilm Haussmann erwähnte, dass seine Lebensverhältnisse nicht mehr zuließen als fleischlose Ernährung.52 Durch die Angaben über die Vermögensverhältnisse wird allerdings deutlich, dass ein Großteil der Bewerber*innen relativ arm gewesen sein muss. 18 Bewerbende gaben an, dass sie abgesehen von einem obligatorischen Genossenschaftsanteil von 500 Mark kein weiteres Vermögen für Landerwerb und Hausbau zur Verfügung hätten. Zehn Bewerber*innen verfügten ihren Angaben nach über 1.000 bis 6.000 Mark, sieben über 6.000 bis 20.000 Mark und ein Bewerber gab an, dem Siedlungsprojekt 23.000 Mark vermachen zu können. Zur Einordnung: Aus dem statistischen Jahrbuch für Preußen von 1920 geht hervor, dass 86 % aller Haushaltsvorstände und selbstständigen Einzelpersonen im Jahr 1917 nicht mehr als 6.000 Mark Vermögen besaßen. Acht Prozent verfügten über 6.000 bis 20.000 Mark und vier Prozent über 20.000 bis 52.000 Mark.53 Dagegen besaß fast die Hälfte aller Bewerbenden nicht mehr als 500 Mark und 28 Bewerbende nicht mehr als 6.000 Mark. Wie kann nun festgestellt werden, ob sich die Bewerber*innen eher aus Not oder aus Überzeugung für das Siedlungsprojekt bewarben? Dass fast die Hälfte der Bewerbenden, abgesehen von dem Genossenschaftsanteil, über kein Vermögen verfügte, legt den Schluss nahe, dass sie mit der Aufnahme in die Siedlung in erster Linie ihre Existenz absichern wollten. Ein geringeres Interesse an der Lebensreform kann man den beinahe mittellosen Bewerber*innen jedoch nicht 50 51 52 53

Antwortschreiben Wöllecke, AdJb, A 221 Nr. 170 (Bl. 14). Antwortschreiben Cichy, AdJb, A 221 Nr. 170 (Bl. 22). Antwortschreiben Haussmann, AdJb, A 221 Nr. 170 (Bl. 37). Preußisches Statistisches Landesamt (Hg.): Statistisches Jahrbuch für den Preußischen Staat (16. Band), Berlin 1920, S. 232.

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unterstellen. Zehn der 18 vermögenslosen Bewerbenden gaben eine Mitgliedschaft in einem lebensreformerischen oder völkischen Verein an. Bei denjenigen, deren Vermögen zwischen 1 000 und 6 000 Mark lag, waren es acht von zehn, und bei denen, die mehr als 6 000 Mark Vermögen angaben, waren es wiederum nur drei von acht. Die Motivation hinter den Bewerbungen war wohl ein Zusammenspiel aus ökonomischen und ideellen Interessen, in denen sich das Motiv der Existenzsicherung kaum isoliert betrachten lässt. Dass sie sich mit gesellschaftlichen Missständen und sozialen Fragen auseinandersetzten, zeigt sich in den Antwortschreiben. Wie etwa die mittellose Emilie Moser, die die in ihren Augen ungerechte Verteilung von Kapital und Boden beklagte, was für hunderttausende Menschen ein Leben im Mangel bedeute.54 Mosers Interesse an einer gerechteren Verteilung von Vermögen und das gleichzeitige Erleben von Besitzlosigkeit werden ausschlaggebende Gründe für ihre Bewerbung gewesen sein. Zudem sollten Geld und Vermögen in der Hellauf-Siedlung eine neue Bedeutung erhalten, die nicht nur arme Interessent*innen ansprach, sondern auch diejenigen, die mit der Wirtschaftspolitik der Weimarer Republik oder mit ihrer eigenen Abhängigkeit von einer Lohnarbeit unzufrieden waren. Der sehnsüchtige, religiös konnotierte Wunsch einiger Bewerbenden nach einem alternativen Konzept von Arbeit und Kapital wird deutlich, wenn sich Hans Wöllecke eine Arbeit wünscht, durch die er sich nicht entfremdet fühlt, und Josef Thanheiser ein Gemeinwesen ohne Geld als »Paradies« bezeichnet.55 Der Eintritt in die »neue Gemeinschaft« auf dem Vogelhof sollte die »Zerfallsgemeinschaft« ersetzen.56 In der Siedlung sollte das kapitalistische Wirtschaftssystem durch eine genossenschaftliche Bewirtschaftung des Bodens abgelöst werden. Die Siedlung versprach den Bewerber*innen einen Lebensraum, in dem Wirtschaft und Gemeinschaft unzertrennlich miteinander verbunden waren. Die geleistete Arbeit und die Herstellung von Gütern waren nicht mehr nur für den Gelderwerb der*des Einzelnen wichtig, sondern Arbeit und Konsumption wurden durch die Verpflichtung einer*eines Jeden gegenüber der Siedlungsgemeinschaft neu gedeutet.57 Anders als Wedemeyer-Kolwe, der die Entscheidung der Zeitgenoss*innen zum Siedeln als notgedrungene Maßnahme zur Existenzsicherung betont, geben die Antwortschreiben zu erkennen, dass viele Bewerber*innen das gesellschaftliche Geschehen reflektiert kommentierten und sich mit lebensreformerischen Ideen auseinandersetzten. Für einige wird die finanzielle Mittellosigkeit den 54 55 56 57

Antwortschreiben Moser, AdJb, A 221 Nr. 170 (Bl. 20). Antwortschreiben Thanheiser, AdJb, A 221 Nr. 170 (Bl. 17). Linse: Landkommunen (Anm. 5), S. 35. Anna Danilina: Die moralische Ökonomie der »inneren Kolonie«. Genossenschaft, Reform und Rasse in der deutschen Siedlungsbewegung (1893–1926), in: Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 26, 2019, S. 105.

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hauptsächlichen Grund dargestellt haben, ein selbstversorgendes Siedlerleben anzustreben. Für das Gros der Bewerbenden lassen sich allerdings eindeutige ideologische Motivationen konstatieren. Die prekäre finanzielle Situation vieler Bewerbender und die damit einhergehenden Einschränkungen in ihren Lebensweisen werden die Entfremdungsgefühle gegenüber ihrer Sozial- und Arbeitswelt verstärkt haben. Die Wünsche und Sehnsüchte, die sie in den Schreiben formulierten und auf das Siedlungsprojekt projizierten, legen nahe, dass ihre Bewerbungen für einen Platz in der »neuen Gemeinschaft« ein Streben nach gesellschaftlichem Ausbruch und Selbstverwirklichung waren. Die religiöse »über-individuelle Verpflichtung«, die sich laut Nipperdey in den Lebensdeutungen der außerkirchlichen Lebensreformer*innen niederschlug,58 bietet einen weiteren Erklärungsansatz für das Bedürfnis der Bewerbenden nach einer alternativen Gemeinschaftsdynamik. Hoffnung auf die Erfüllung dieses Bedürfnisses weckte Siedlungsmitbegründer Schöll mit seinen »Siedlerbriefen«. Dort transzendierte er die Bedeutung des Individuums in ein »Über-Leben« in der Siedlungsgemeinschaft. Im 2. Siedlerbrief betonte er, dass auf der Siedlung nicht nur gemeinsam gewohnt, sondern miteinander gelebt und erlebt werden soll.59 »Ganz der Gemeinschaft gehören, das heißt, […] seinen Willen zum freudigen begeisterten Diener der Gemeinschaft, zur Offenbarung des Gemeinschaftswillens zu machen«,60 schrieb Schöll. Wie es die Auswertung der Antwortschreiben nahelegt, wurde Schölls völkische und rassistische Weltanschauung von einigen, aber nicht unbedingt von allen Bewerbenden geteilt. Es scheint, als sei vorwiegend die praktische Umsetzung einer lebensreformerischen Arbeits- und Wirtschaftspolitik, fundiert durch den Wunsch nach einer ersatzreligiösen Lebensdeutung, bei den meisten Bewerbenden auf Zustimmung gestoßen. Schölls völkisches Gedankengut hielt sie aber offensichtlich nicht davon ab, der Siedlung beitreten zu wollen.

Fazit und Ausblick Aus der Sozialstrukturanalyse der Bewerber*innen ergibt sich, dass das Gros der Bewerbenden zu etwa gleichen Teilen aus verheirateten Männern und Familienvätern sowie männlichen Alleinstehenden im Alter von 20 und 53 Jahren bestand, deren Wohnsitze in ganz Deutschland verteilt lagen. Das Interesse am Siedlungsprojekt war in erster Linie ein Phänomen einer städtischen Klientel, allerdings nicht ausschließlich. Die Bewerbenden gehörten überwiegend der 58 Nipperdey: Religion (Anm. 34), S. 152. 59 »2. Siedlerbrief«, AdJb, A 221 Nr. 174, S. 1. 60 Ebd.

Bewerbungen um einen Platz in der »neuen Gemeinschaft«

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protestantischen Konfession an. Sie äußerten sich mehrheitlich über ihre ablehnende Haltung gegenüber der Landeskirche und betonten ihr Bedürfnis nach einer alternativen religiösen Ausrichtung, die nicht der kirchlich und konfessionell verfassten entsprach. Linses These von der Siedlungsbewegung als bildungsbürgerlichem Unternehmen kann in dieser Fallstudie nicht bestätigt werden, denn Viele arbeiteten in technischen und verwaltenden Berufen, die dem »neuen Mittelstand« zugeordnet werden. Für sie war der Gang in die Siedlung möglicherweise ein alternativer Entwurf zur technisierten, rationalisierten und gewinnorientierten Angestelltenarbeit, die zudem die Gefahr der Proletarisierung barg. Das Vermögen, über das die Bewerbenden verfügten, war vergleichsweise niedrig, wobei knapp die Hälfte bis auf das Geld für den Genossenschaftsbeitrag mittellos war. Dass die Entscheidung zum Siedeln für viele Bewerber*innen zeitgleich eine ökonomische Entscheidung war, ist plausibel, jedoch werden die lebensreformerischen und völkischen Weltanschauungen vieler Bewerber*innen eine wegweisende Rolle in der Suche nach einer alternativen Lebensmöglichkeit gespielt haben. Ihre geäußerten gesellschaftspolitischen Ansichten sowie die Vorstellungen von einer idealen Siedlungsgemeinschaft lassen die Bewerbungen weniger als notgedrungene ökonomische Entscheidungen, sondern eher als selbstverwirklichende Maßnahmen für ein Leben nach alternativen Wertvorstellungen erscheinen. Die sich in Sprache und Wortwahl widerspiegelnden Empfindungen verdeutlichen die starken Entfremdungsgefühle einiger Bewerbenden gegenüber ihrer Lebens- und Arbeitswelt. In einer als heuchlerisch und verdorben empfundenen Welt konzentrierte sich das Gefühl von Hoffnung, ausgedrückt durch Begriffe wie »Sehnsucht«, »Wahrhaftigkeit« oder »Paradies«, auf die HellaufSiedlung, für die viele bereit waren, in eine mehrere hundert Kilometer weit entfernte, für sie fremde Region zu ziehen. Der Vogelhof fungierte damit als Projektionsfläche für eine idealisierte »neue Gemeinschaft«, auf die verschiedene Vorstellungen und Wünsche dieser Gemeinschaft geworfen wurden. Nicht alle Motive und Beweggründe der 45 Bewerber*innen ließen sich durch die sozialstrukturelle Analyse aufdecken. So blieben Generationenphänomene wie die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die Bewerber*innen und auch rein persönliche Gründe, die womöglich gar nicht überliefert sind, unberücksichtigt. Ebenso lässt sich die Problematik der fehlenden Verifizierbarkeit der Aussagen in den Bewerbungen kaum überwinden. Diese Betrachtungsweise wird zumindest dadurch angefochten, dass sich einige Bewerbende in genuiner und interessierter Weise mit der Gesellschaft und den ideologischen Grundsätzen des Siedlungsprojekts auseinandersetzten. Dass die Bewerbenden laut Schöll schon vor 1920 mit dessen Schriften vertraut waren, macht es unwahrscheinlich, dass eine beschönigte Selbstdarstellung über eine fehlende weltanschauliche Nähe zum Siedlungsprojekt hinwegtäuschen sollte.

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Hannah Behling

Da die Sozialstruktur der deutschen Siedlungsbewegung des 20. Jahrhunderts noch nicht erforscht wurde, bleibt bislang offen, ob sich die Befunde für den Vogelhof auf andere Siedlungen übertragen lassen. Gerade weil die mittelständischen Lohnarbeitenden in der Forschung noch nicht als Akteur*innen der Siedlungsbewegung in den Blick genommen wurden, wäre es in künftigen Studien aufschlussreich zu erörtern, welche Ursachen für ihre Entfremdungsgefühle gegenüber der Gesellschaft nicht zur Anpassung an diese, sondern zur Durchsetzung ihres Strebens nach Individualität, also zum Ausstieg, führten.Denn die Siedlungsbewegung ist auch eine Geschichte des gesellschaftlichen Ausstiegs, in der der Fokus auf dem konkreten Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft liegt, aus dem sich das Individuum letztendlich löst und den gesellschaftlichen Ausstieg vollzieht.61 Wie die vorliegende Untersuchung zeigt, lassen sich die Motive der Siedlungsbewegten nicht ausschließlich auf materielle oder ideologische Interessen verdichten. Ihre Beweggründe erschließen sich nur, wenn man die Bruchstellen zwischen Individuum und Gesellschaft aufspürt und dadurch die Motive der Siedlungsbewegten offenlegt.

61 Vgl. Alexander Fischer: Existenzielle Spannungsverhältnisse. Überlegungen zum Begriff »Aussteiger«, in: Archiv für Begriffsgeschichte, 2016, Nr. 57, S. 259–275, hier S. 261.

Werkstatt

Lucia Thiede

Werkstattbericht zum Dissertationsprojekt »Ästhetik der Jugendbewegung zwischen 1945 und 1949«

»Offenes Fenster. Es ließe sich leicht eine Geschichte der Jungenschaft in ihren Symbolen schreiben. Jedes einzelne deckt etwas Wesentliches auf und zeigt die Entwicklung an. Alle deuten über sich hinaus. Keines ist mit dicker Ölfarbe gemalt, alle sind durchsichtig. Ist das nicht überhaupt entscheidend für eine wirkliche Aussage? Ein rundes, glattes Wort, was nicht mehr aussagt als sein sichtbarer Buchstabenkörper, ist eine wertlose Münze der Verständigung. Wir brauchen es täglich wie Papiergeld. Aber ein Wort kann auch offenes Fenster sein. Und wirkliche Symbole sind offene Fenster. Das heißt nicht, daß man sie ausdeuten kann, wie einem gerade der Sinn steht, nein – wenn man sie lange betrachtet und nicht mit gewaltsamen Vorstellungen überschwemmt, dann öffnen sie sich tief und eindeutig.«1

In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg musste die junge Generation Wege suchen, sich auszudrücken, auszutauschen und zu orientieren. Konnten es die alten, mussten es neue Wege sein? Und wer ist ›die junge Generation‹, die sich mit den einschneidenden Erlebnissen im Nationalsozialismus und ohne Gewissheit über das, was sie in der Zukunft erwarten konnte, neu orientieren musste?2 Kulturelle und soziale Gemeinschaft wieder zu beleben, zu erfahren und zu gestalten kann für sie nicht einfach gewesen sein. Nahe liegt es deshalb zu untersuchen, was Jugendliche nach 1945 erlebten und wie sie ihre Erfahrungen artikulierten.3

1 Walter Scherf: Unser Schiff. Die 8. Kohtenpostille, ausgewählt und zusammengestellt von Erich Meier, mit Genehmigung von Walter Scherf, Heidenheim 1983, S. 14. 2 Die Jugendbewegung bezieht sich auf einen Jugendbegriff, der keineswegs eindeutig definiert ist. Es kann sich um das Selbstverständnis einer bestimmten Alterskohorte, um eine Selbstoder Fremdzuschreibung handeln. Der Jugendbegriff wird im Verlauf der Untersuchung thematisiert werden. 3 Das ist der Ausgangspunkt für die Untersuchung kultureller Artikulationsformen der Jugendbewegung nach 1945, die ich im Zuge eines kooperativen Promotionsvorhabens an der Universität Bielefeld bei Professor Wolfgang Braungart verfolge. Dieser Beitrag soll einen ersten Einblick in das Projekt geben, das in eine Forschungsgruppe bestehend aus Wolfgang Braungart, Nils Rottschäfer und Marja Kersten integriert ist, die sich mit der (Neu-)Konstitution des deutschen Kultursystems zwischen 1945 und 1949 befasst.

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Lucia Thiede

Ich möchte herausfinden, was den Mitgliedern der Bünde für die Kultur nach 1945 wichtig war und welche Absichten sie verfolgten, um ihr kulturelles Leben in den Bünden zu gestalten. Um herauszufinden, wie die Jugendbewegung wahrgenommen und verstanden werden wollte, untersuche ich Quellen, in denen sie ihre Vorstellungen von Kultur selbst artikulierte. Dazu nutzten die Bünde etwa Zeitschriften und Rundbriefe, die nur teilweise regelmäßig erschienen, da unter anderem die knappen Papierbestände die Druckbedingungen beeinflussten. Es ist bisher nicht eindeutig geklärt, welche Publikationen als Periodika gelten können und wie sehr die Veröffentlichungen auch zur Kommunikation mit anderen Bünden oder Nicht-Mitgliedern dienten. Die äußeren Umstände beeinflussten auch die ästhetische Praxis. Regelmäßig erscheinende Drucke herzustellen, war beinahe ein Luxus und zugleich eine wichtige Voraussetzung für die Kommunikation. Die Lizenzen wurden von den Besatzungsmächten ausgestellt, die lokal sehr unterschiedliche Entscheidungen trafen. Faktoren wie diese waren mehr als nur der Rahmen für Jugendkultur – sie bestimmten, was der Jugendbewegung nach 1945 möglich war. Manche Mitglieder taten sich etwa schwer, Geld für die Erfahrungen in der Natur, einen unterhaltsamen Abend oder aufwändige Rundbriefe auszugeben, während große Teile des Landes noch nicht wieder aufgebaut waren. Dieses Beispiel verdeutlicht, warum die äußeren Bedingungen die Entwicklung der Kultur in der Nachkriegszeit nicht nur in direkter materieller Hinsicht beeinflussten. Neben den bündischen Zeitschriften beziehe ich auch Dokumente ein, die Aufschluss darüber geben, wie die kulturellen Themen in den Publikationen dargestellt werden sollten und welche Absichten einzelne Mitglieder oder Bünde durch die Kommunikation in den Periodika verfolgten. Eine dritte Kategorie stellen (bis heute) wichtige Personen und Werke dar, die daraufhin untersucht werden können, warum sie eine so große Rolle für die Kultur der Jugendbewegung spielen. Auf solche Standardwerke wie Liederbücher oder Fahrtenbeschreibungen von Walter Scherf oder Eberhard Koebel beziehen sich die Bünde noch heute.4 Das ist für mich ein weiteres Kriterium, um die Quellen auszuwählen, welche einen Einblick in die Entwicklung des bündischen Kulturlebens nach 1945 geben. Ein Teil meiner Untersuchung wird daher auch biografische Forschungsarbeit sein. Die drei Quellengruppen – Selbstdarstellungen, Dokumente über konzeptionelle Entscheidungen und einflussreiche Kulturformen, die in einer bündischen Tradition stehen – werden mithilfe von Informationen ergänzt, die diese Materialien einordnen. Es kann zur Interpretation der Quellen beitragen, mehr darüber zu verstehen, wie sich die Bünde organisierten, wer als Mitglied galt und 4 Siehe beispielsweise die Internetpräsenz des »Verlag der Jugendbewegung«, http://www.ju gendbewegung.de [27.05.2022].

Dissertationsprojekt »Ästhetik der Jugendbewegung zwischen 1945 und 1949«

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wie die Kommunikationswege gestaltet wurden. Wer sind die Akteurinnen und Akteure, die Autorinnen und Autoren, Gestalterinnen und Gestalter? An wen wendeten sie sich? Den bündischen Zeitschriften, deren Funktion unter anderem die bewusste Selbstverständigung und Selbstvergewisserung der Jugendbewegung ist, können häufig Publizierende zugeordnet werden, was bei Fahrtenbüchern, Briefen und Liedern seltener möglich ist. Gleiches gilt für Fotografien, Zeichnungen und Gegenstände des jugendbewegten Lebens wie Kleidung, Wimpel, Zelte etc. Trotzdem können diese unterschiedlichen Quellen – materielle Kultur, künstlerische Werke und Praktiken – wertvolle Informationen zur gestaltungsgeschichtlichen Untersuchung liefern. In den Materialen ist nicht nur sichtbar, wie Jugendliche das bündische Leben nach der Zäsur des Zweiten Weltkriegs wieder aufnahmen. Kontinuitäten und Brüche entstehen auch durch ganz unterschiedliche Lebenssituationen. Die Frage, wie groß dieser Einfluss auf die Jugendkultur war, soll Gegenstand meiner Dissertation sein. Für die Auswahl der Quellen bedeutet das, zu berücksichtigen, was man in den Publikationen bürgerlicher und akademischer Bünde, der sogenannten Arbeiterjugend und der auf dem Land lebenden Jugend darüber erfährt, wodurch Gemeinschaftsgefühle, Orientierung und Hoffnung zustande kamen. Jugendkultur ist ohne gemeinsames Handeln nicht vorstellbar. Da praxisgebundene Kulturformen als charakteristischer – zum Teil recht homogener – Stil sichtbar sind, können die Quellen als Ausgangspunkt der Untersuchung genommen werden.5 Methodisch lasse ich mich bei der Betrachtung dieser Bezüge von der Hermeneutik des Kulturanthropologen Clifford Geertz inspirieren.6 Zunächst wähle ich bündische Zeitschriften und ergänzende Quellen aus, die sich unterschiedlichen sozialen Kontexten und Publikationsorten (auch in Hinblick auf die Besatzungszonen) zuordnen lassen. Eine Bestandsaufnahme der großen Anzahl bündischer Zeitschriften soll und kann im Zuge der Untersuchung nicht geleistet werden, wenngleich sie interessant wäre, weil wenig über die Publikation und die Distribution der Zeitschriften in diesem Zeitraum bekannt ist. Damit ein exemplarischer Überblick über die Medienpraxis für die Analyse der Ästhetik der Jugendbewegung und der Kulturkonstitution zwischen 1945 und 1949 nützlich sein kann, fokussiere ich mich auf Folgendes: Wo und wann wurden bündische Zeitschriften veröffentlicht? Warum kam es in manchen Regionen zu besonders vielen oder einflussreichen Publikationen? Wer war für die Gründung und die Inhalte verantwortlich? Unter welchen Bedingungen arbeitete 5 Vgl. Matthias Jung: Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation, Berlin u. a. 2009. 6 Clifford Geertz formulierte das Modell einer interpretativen Ethnologie, das von einem semiotischen Kulturbegriff ausgeht: Kultur als ein dynamisches, lebenspraktisch entwickeltes Bedeutungsgewebe mit sozial manifestierten Bedeutungsstrukturen, die nicht allein mit externen Maßstäben analysiert werden können. Vgl. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 2002.

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Lucia Thiede

man an den Ausgaben? Wie gelang der Lizensierungsprozess durch die Alliierten? Inhaltlich wende ich mich den Quellen vor allem mit der Frage zu, wie sich die Jugendbewegung selbst präsentierte. Über die Herausforderungen, die sich für ihre Mitglieder unmittelbar nach Kriegsende stellten, ist bislang nur wenig bekannt. Mehr über die Ausdrucksformen und das Selbstverständnis der Jugendbewegung zu verstehen, kann Aufschluss darüber geben, wie die junge Generation in den ersten Nachkriegsjahren so etwas wie Jugendkultur und ein jugendliches Selbstverständnis im Rahmen der Jugendbewegung zu begründen versuchte. Woran knüpfte man an? Welche Ausdrucksformen waren »verbrannt«? Darf man annehmen, dass sich Jugendliche, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit ganz verschiedenen Einflüssen aufwuchsen, (sozioökonomisch, religiös, politisch, geografisch etc.) vor ähnliche Probleme gestellt sahen und ähnliche Situationen zu gestalten hatten? Denkbar ist, dass junge Menschen durch das erfahrene Leid und die Ungewissheit über die vor ihnen liegende Zukunft zusammenrückten und einst gepflegte Traditionen zunächst weniger Einfluss darauf hatten, wem sie sich zugehörig fühlten. Die Mitglieder verband vielmehr das Erleben in den Bünden. Wie konnte das gelingen? Setzte die bündische Jugend fort, was die gemeinsamen Praktiken einst ausgemacht hatte: Fahrten, Lieder, Spiele, Handarbeiten? Noch bis Kriegsende übliche Aktivitäten sollten Kinder und Jugendliche ideologisch mobilisieren: Sie regten dazu an, Kinder zum Kämpfen zu bewegen, forderten sie auf, sich zugunsten eines Gruppenziels zurückzunehmen, Demütigungen auszuhalten oder unreflektiert Spielanweisungen umzusetzen. Beschäftigten sich die Gruppenleitungen oder die Jugendlichen nach 1945 damit? Was bedeutet dies nun konkreter für die Neu-Konstituierung der jugendbewegten Bünde? Alte wie neue kulturelle Praktiken können daraufhin untersucht werden, welche ästhetischen Erfahrungen die Jugendlichen in den Bünden machten. Sie drücken nicht nur aus, womit sich die Jugendlichen beschäftigten und vielleicht sogar identifizierten, sondern geben zugleich Aufschluss darüber, wie sich die ästhetischen, also die Sinne und Sinnlichkeit betreffenden, Selbstverständnisse, Praktiken und Erfahrungen konstituierten. Ließen diese Praktiken der Jugendbewegung Raum für eine Auseinandersetzung mit Transzendenz? Wurden sie – auch aus dem Rückblick – als Teil eines jugendbewegten Stils wahrgenommen? 7 Die Analyse der Ästhetik in der Jugendbewegung zwischen 1945 und 1949 ermöglicht es, mehr über die gemeinsamen Erfahrungen herauszufinden. Da die 7 Vgl. hierzu die soziologische Betrachtung von Stil nach Bourdieu, die den Lebensstil, die Sprache, die Kleidung und den Geschmack für eine Analyse relativ homogener Kulturformen aufgreift.

Dissertationsprojekt »Ästhetik der Jugendbewegung zwischen 1945 und 1949«

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Jugendbewegung stark erlebnisorientiert ist, schließe ich materielle Kultur wie Kleidung, Zelte, Kochgeschirr etc. und selbst gewählte Bezeichnungen für symbolische Gegenstände in die Untersuchung mit ein. Welche Bedeutungen wies man diesen Dingen zu? In einem weiten Verständnis des kulturellen Lebens sind auch die Unternehmungen zu betrachten. Besuchten die Jugendbewegten die Ziele zurückliegender Fahrten oder brachen sie zu neuen Orten auf ? Wer pflegte welche Kontakte? Nach dem Bamberger Sozialwissenschaftler Gerhard Schulze wandelte sich die westdeutsche Gesellschaft insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg insofern, als »Erlebnisse« an Bedeutung gewannen. Das Erlebnisbedürfnis wuchs laut Schulze in den 1980er-Jahren im gleichen Ausmaß wie der materielle Wohlstand, wodurch die Probleme des alltäglichen Überlebens an Bedeutung verloren.8 Zeichnete sich eine solche Entwicklung bereits kurz nach Kriegsende ab? Welche Rolle spielten ästhetische Praktiken für die Entwicklung der Gemeinschaft? Schulze geht davon aus, dass die Orientierung am Erleben daraus resultiert, dass Menschen täglich neu versuchen, Sinn wahrzunehmen – vor allem dann, wenn Werte nicht mehr einer Tradition entnommen werden können. Diese Herausforderung gilt besonders für die Zeit nach dem Nationalsozialismus. Schulzes Deutungsansatz, nach dem Erlebnisorientierung verstärkt wird, wenn Menschen sich nicht mehr um ihre basalen Bedürfnisse kümmern müssen, weil sie bereits befriedigt sind, müsste für den Zeitraum zwischen 1945 und 1949 unter verkehrten Vorzeichen überprüft werden. Denkbar ist, dass Jugendliche, die sich nur sehr begrenzt um ihre Bedürfnisse kümmern konnten, ebenfalls dazu übergingen, sich stärker auf die gemeinsamen Erfahrungen zu fokussieren. Ein weiterer Aspekt, die zunehmende Wahrnehmung des Menschen als Individuum, kann dadurch bekräftigt worden sein, dass nach dem Zweiten Weltkrieg ein Bewusstsein dafür bestand, welche Risiken damit einhergehen, sich in soziale Gruppen wie eine Partei zu fügen. Andererseits liegt es nahe, dass sich gerade Jugendliche angesichts dessen, wie umfassend sie sich bei alltäglichen Entscheidungen, aber auch sozial und ideologisch neu ausrichten mussten, mit Gleichgesinnten zusammenschlossen oder die teilweise funktionierenden Beziehungen (etwa innerhalb der Familie) intensivierten. Kann die Ästhetik der Jugendbewegung Aufschluss darüber geben, wo ihre Mitglieder Halt und eine neue Perspektive fanden? Erfährt man in den Quellen mehr darüber, wie Jugendliche sich selbst als Individuen und als Teil der Gesellschaft wahrnahmen? In Bezug auf Selbst- und Fremdwahrnehmungen ist auch die Frage nach sich wandelnden Jugendbildern interessant. Veränderten die ästhetischen Handlungen die gesellschaftlichen Vorstellungen von sozialen 8 Der Soziologe Gerhard Schulze veröffentlichte 1992 die auf Befragungen basierende Studie »Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart«. Vgl. Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a. M. u. a. 1995.

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Lucia Thiede

Gruppen und insbesondere von der Jugend zunehmend stärker, während die Bedeutung externer Eigenschaften wie feste Altersgrenzen oder milieuspezifische Merkmale abnahm? Möglicherweise bot die Jugendbewegung nach 1945 den Mitgliedern einen Rahmen, um gemeinsam herauszufinden, was ihnen abseits der an sie herangetragenen Erwartungen wirklich wichtig war. Das bedeutet nicht, dass junge Menschen sich weitgehend aussuchen konnten, wer oder was ihre Identitätsentwicklung beeinflusste. Die Jugendbewegung setzte sich jedoch mit ihrer Rolle in der Kultur intensiv auseinander.9 Ähnliche Zusammenhänge beschäftigen uns auch aktuell: Die eigene Identität als sich aktualisierende Interpretation und Selbstbeschreibung ist immer wieder Gegenstand wissenschaftlicher und populärer Diskurse. Die Untersuchung der ästhetischen Formen der Jugendbewegung zwischen 1945 und 1949 kann nachzeichnen, wie sich kulturelle Kontinuitäten und Brüche über die Zeit und über soziale Zuordnungen hinaus entwickelten und was das für Jugendliche hieß, die mit zum Teil überwältigenden Belastungen versuchen mussten, ihr Leben (wieder-)aufzunehmen. Die Bedeutung des Ästhetischen für diesen Prozess zu beleuchten, soll auch deswegen Ziel meiner weiteren Untersuchung sein, weil es keineswegs selbstverständlich ist, dass Jugendliche sich in einer derart unsicheren Zeit besonders auf neue ästhetische Erfahrungen ausrichteten. Allzu nachvollziehbar wäre es, wenn das dazu notwendige Vertrauen gefehlt hätte und die vermeintliche Sicherheit bekannter ästhetischer Erfahrungen gesucht worden wäre. Mir ist es ein Anliegen, zu verstehen, ob und wie diese Herausforderungen bewältigt werden konnten.

9 Eine Frage, die ich im Rahmen meiner Dissertation untersuchen möchte, betrifft die eigene Identität, die sich in den Bünden herauszubilden scheint. Zeichnete sich hier ein semantisch stärker bestimmter Jugendbegriff ab?

Marja Kersten

Werkstattbericht zum Dissertationsprojekt »Literatur und Literaturrezeption in Zeitschriften der deutschen Jugendbewegung von 1945 bis 1949«*

Obwohl das Medium Zeitschrift in der frühen Nachkriegszeit von großer gesellschaftlicher Bedeutung war, gibt es aus literaturwissenschaftlicher Perspektive wenig Forschung dazu.1 Das gilt besonders für die bündischen Zeitschriften und Rundbriefe nach 1945, die in diesem Kontext bislang nicht beachtet worden sind. Das »Totalverbot für publizistische Betätigung«2 der Alliierten wurde gegen Ende des Jahres 1945 aufgehoben. Das führte zu einer regelrechten »Zeitschrifteneuphorie«3: Zeitungen und Zeitschriften wurden zu dem Medium kulturellen und gesellschaftlichen Austauschs. Weil sie breit aufgefächert waren, konnten Zeitschriften ein Medium der kulturellen Kommunikation sein und auf diese Weise zur Entwicklung einer Nachkriegsgesellschaft beitragen. Literaturwissenschaftler Malte Lorenzen beschreibt die bündischen Zeitschriften als eine Form der Kommunikation zwischen den Mitgliedern.4 Obgleich Papier sehr knapp war, erschienen nach Kriegsende schnell viele Zeitschriften, die sich thematisch und politisch unterschiedlich ausrichteten. Das gilt auch für die publizistischen Veröffentlichungen der deutschen Jugendbewegung, auf die sich * Dieser Beitrag soll einen ersten Einblick in mein laufendes Dissertationsprojekt geben, das in eine Forschungsgruppe, bestehend aus Wolfgang Braungart, Nils Rottschäfer und Lucia Thiede, eingebunden ist, die sich umfassender mit der Literatur nach 1945 befasst. Malte Lorenzen hat in seiner Dissertationsschrift »Zwischen Wandern und Lesen« bereits die Literaturrezeption der bürgerlichen deutschen Jugendbewegung von 1896 bis 1923 dargelegt. Mein Dissertationsprojekt schließt in gewisser Weise daran an: Lorenzen verfolgte eine wertungsgeschichtliche Perspektive, ich hingegen werde Bedeutung und Funktion von Literatur in den Zeitschriften der deutschen Jugendbewegung von 1945 bis 1949 untersuchen. 1 Vgl. Björn Bühner: Kulturkritik und Nachkriegszeit. Zur Funktionalisierung bildungsbürgerlicher Semantik in den politisch-kulturellen Zeitschriften 1945–1949, Heidelberg 2004; Ingrid Laurien: Politisch-kulturelle Zeitschriften in den Westzonen 1945–1949. Ein Beitrag zur politischen Kultur der Nachkriegszeit, Frankfurt a. M. 1991. 2 Werner Faulstich: Die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts, München 2012, S. 226. 3 Ebd., S. 212. 4 Vgl. Malte Lorenzen: Zwischen Wandern und Lesen. Eine rezeptionshistorische Untersuchung des Literaturkonzepts der bürgerlichen deutschen Jugendbewegung 1896–1923 (Jugendbewegung und Jugendkulturen Schriften 19), Göttingen 2016, S. 88.

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Marja Kersten

mein Dissertationsprojekt begrenzt. Die deutsche Jugendbewegung nach 1945 wurde bislang vor allem aus (pädagogik-)historischer Perspektive untersucht, jedoch kaum literaturgeschichtlich. Mein literaturwissenschaftliches Dissertationsprojekt soll nun aus ebendieser Perspektive untersuchen, welche Bedeutung und Funktion(en) Literatur für die deutsche Jugendbewegung von 1945 bis 1949 hatte, und wie sich dies in ausgewählten bündischen Zeitschriften zeigt. Dass zwischen einem jugendbewegten Leben und der Rezeption von Literatur eine Verbindung besteht, ist nicht zu bestreiten.5 Historiker Hans-Ulrich Thamer zeigt, dass nur Teil einer jugendbewegten Gruppierung werden konnte, wer neben seiner Naturverbundenheit auch Sinn für Literatur, bildende Kunst und Musik hatte.6 Bündische Zeitschriften, aber auch Chroniken und Fahrtenbücher dokumentieren, welche Literatur von den Mitgliedern rezipiert wurde und welchen Stellenwert das Lesen für das jugendbewegte Leben hatte. In meinem Dissertationsprojekt soll unter anderem herausgearbeitet werden, welche Literatur konkret und welche literarischen Epochen und Gattungen rezipiert wurden, an welche literarischen und symbolischen Traditionen die Jugendbewegten anknüpften und welche Funktion Literatur im Zusammenhang mit Erinnerung und kultureller Entwicklung, mit Identität7 und persönlichem Sinn übernahm. Bislang gibt es kaum empirische Forschung über das Leseverhalten einzelner Personengruppen in den ersten Nachkriegsjahren, sodass es nicht möglich ist, verlässliche Angaben darüber zu machen, welche literarischen Werke verbreitet waren und welche von unterschiedlichen Personengruppen gelesen wurden. Für mein Dissertationsprojekt ist es also wichtig, dass die jugendbewegten Gruppierungen selbst kontinuierlich Aufzeichnungen machten und sich schriftlich mit anderen Mitgliedern austauschten. Im Archiv der deutschen Jugendbewegung befindet sich ein großer Bestand an bündischen Zeitschriften und Rundbriefen, in denen unter anderem literarische Werke und Autoren empfohlen oder in denen anhand literarischer Beispiele (moral-)philosophische und politische Fragestellungen diskutiert wurden. Es gibt folglich zahlreiche Quellen, die eine umfangreiche Literaturrezeption dokumentieren – beispielsweise in Form von 5 Vgl. Aufsatz von Susanne Rappe-Weber, der auf die Bedeutung des gemeinsamen Lesens für die Jugendbewegung eingeht; dies.: Freundschaft und Exklusion. Zur Bedeutung des gemeinsamen Lesens im Spiegel der ›Gruppenbücher‹ von ›Wandervogel‹ und bündischer Jugend, in: Wolfgang Braungart (Hg.): Stefan George und die Jugendbewegung, Stuttgart 2018, S. 111–124. 6 Vgl. Hans-Ulrich Thamer: Bünde und Kreise. Jugendbewegte Gemeinschaftsformen von der Weimarer Republik bis in die frühe Bundesrepublik, in: Braungart: George (Anm. 5), S. 57–68, hier S. 61. 7 Es gilt jedoch zu untersuchen, ob es so früh bereits ein Bewusstsein von Identität gegeben haben kann. Hier sind meine Interpretationsperspektive und die Perspektive der Selbstzuschreibung der Jugendbewegten zu unterscheiden.

Literatur und Literaturrezeption in Zeitschriften der Jugendbewegung

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Aufsätzen, Rezensionen und abgedruckter literarischer Werke in den bündischen Zeitschriften. Gab es im Zeitraum von 1945 bis 1949 auch bündische Zeitschriften, die sich an Jungen und Mädchen oder sogar ausschließlich an Mädchen richteten? Wird dort andere Literatur rezipiert? Finden sich dort literarische Texte, die Konzepte von Weiblichkeit aufzeigen? Ein erstes Beispiel: Von März 1947 bis zum Herbst 1948 erschien »Unser Schiff. Rundbrief der deutschen Jungenschaft Göttingen«.8 Als Verantwortlicher der Zeitschrift wird Walter Scherf genannt, der aktives Mitglied verschiedener Jugendgruppen und ab 1949 Bundesführer der deutschen Jungenschaft war.9 Als junger Soldat kehrte er aus dem Zweiten Weltkrieg mit dem Ziel zurück, sich nach Kriegsende besonders um die Jugend zu kümmern, »damit so etwas wie dieser Krieg nie wieder geschehen«10 konnte. Scherf selbst war als junger Mann Mitglied der Akademischen Freischar, einer bündischen Gruppe junger Akademiker, die sich der ursprünglichen Jugendbewegung verbunden fühlte. Doch in den Mitgliedern der Jungenschaft sah er das eigentliche Potential, Einfluss zu nehmen und die Jungen im Sinne der Jugendbewegung in die Zukunft zu leiten.11 Sein Engagement in der Jugendarbeit zeigt sich ebenfalls in seinem beruflichen Werdegang: Scherf übersetzte Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. Nach seiner Promotion im Jahr 1986 arbeitete er als Lehrbeauftragter in der Volkserzählforschung an verschiedenen Universitäten. Neben Tätigkeiten als Redakteur, Verlagsleiter und Lektor war Scherf Direktor der Internationalen Jugendbibliothek München.12 Die von Walter Scherf mitherausgegebene Zeitschrift 8 Vgl. dazu auch die Einführung in die Ausstellung zu den Zeitschriften der Jugendbewegung in diesem Band. Die sogenannten Jungenschaften sind neben dem Wandervogel und der bündischen Jugend die dritte große Gruppierung innerhalb der deutschen Jugendbewegung. Gegründet wurde die Jungenschaft bereits 1929 von Eberhard Köbel, der vor allem unter seinem Fahrtennamen tusk bekannt war. Die Mitglieder waren hauptsächlich zwischen elf und achtzehn Jahre alt. Vgl. für die Geschichte und den Begriff der Jungenschaft: Hiltraud Casper-Hehne: Zur Sprache der bündischen Jugend. Am Beispiel der Deutschen Freischar, Tübingen 1989; Helm König (Hg.): tejo, Unser Schiff und die Jungenschaften 1945 bis 1949. Mit einem Faksimile der Originalausgaben von »Unser Schiff. Rundbriefe der Deutschen Jungenschaft Göttingen« 1947–1949, Baunach 2016; Rüdiger Ahrens: Bündische Jugend. Eine neue Geschichte 1918–1933, Göttingen 2015. 9 Vgl. Helge Gerndt: Scherf, Walter, in: Rolf Wilhelm Brednich (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Bd. 11, Berlin u. a. 2004, S. 1367–1372, hier S. 1368. 10 König: Schiff (Anm. 8), S. 11. 11 Vgl. ebd., S. 21; »Unser Schiff« verdeutlicht außerdem, dass es wichtig sein kann, biographische Forschung in Bezug auf die Herausgeber der Zeitschriften einzubeziehen. Als Quelle können beispielsweise Briefwechsel dienen, in denen sich Herausgeber und Mitwirkende über ihre Zeitschrift austauschten. Auch in den Vorreden der Erstausgaben lassen sich Hinweise darauf finden, an wen sich die Herausgeber richteten und teilweise auch, welche Intentionen sie hatten. 12 Vgl. Gerndt: Scherf (Anm. 9), S. 1368.

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Marja Kersten

»Unser Schiff« bezieht sich auffallend stark auf Literatur, sodass es sich lohnt, diese exemplarisch vorzustellen. In der ersten Ausgabe erklärten die Herausgeber, dass die Zeitschrift unregelmäßig, »etwa ein- oder zweimal monatlich«13, erscheinen sollte. Zunächst kostete die Zeitschrift 0,20 RM14, später stieg der Preis auf 0,70 RM15. Die Leserschaft wurde von den Herausgebern beziehungsweise den Autoren dazu aufgefordert, Papier für die Zeitschrift zu spenden16 sowie neue Bezieher anzuwerben17. Trotzdem musste die Veröffentlichung am Ende des Jahres 1948 eingestellt werden, da es nicht mehr möglich war, sie zu finanzieren.18 Die Kommunikation zwischen einzelnen Jungenschaften war auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg schwierig. Bündische Zeitschriften und Rundbriefe erleichterten den Informationsaustausch19 in dieser Zeit: So finden sich beispielsweise Hinweise auf Veranstaltungen anderer bündischer Gruppen auf der letzten Seite der Zeitschrift.20 Um Veröffentlichungen finanzieren zu können, war in den ersten Nachkriegsjahren nicht darauf zu verzichten, diese von der jeweiligen Militärregierung lizensieren zu lassen: Eine Lizenz entschied beispielsweise über die »Zuteilung eines Papierkontingents«21. Auch die bündischen Gruppen selbst konnten in Teilen von den Militärregierungen der jeweiligen Besatzungszone unterstützt werden, was ihnen Vergünstigungen für Übernachtungsmöglichkeiten sowie Nahrungsmittel für Zeltlager einbrachte.22 Es bleibt zu untersuchen, inwiefern die Zeitschriften von den jeweiligen Militärregierungen zensiert wurden. In der sowjetischen Besatzungszone waren die Herausgeber der Zeitschriften »zunehmend Kontrollversuchen der SED ausgesetzt«23. »Unser Schiff« zeigt außerdem, inwiefern Jugendbewegte mögliche Anknüpfungspunkte an die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg suchten und wie sie dies bewerkstelligten. Walter Scherf befürchtete, die Jugendbewegten könnten »die Jahre der Hitlerzeit ausblenden […] als sei man im Jahre 1932«24; die Themen in 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24

Heft 1/1947, in: König: Schiff (Anm. 8), S. 60. Ebd., S. 60. Vgl. Heft 8–10/1947, in: ebd., S. 95. Vgl. Heft 3/1947, in: ebd., S. 68. Vgl. Heft 8–10/1947, in: ebd., S. 95. Vgl. ebd., S. 41f. Das gilt nicht nur für den reinen Informationsaustausch. Es ging vor allem darum, die Mitglieder an gesellschaftlichen Ereignissen, existenziellen Fragen und einem kulturellen Austausch teilhaben zu lassen. Vgl. Heft 1/1947, in: ebd., S. 60. Ebd., S. 9. Vgl. ebd. Erhard Schütz: Nach dem Entkommen, vor dem Ankommen, in: Elena Agazzi, Erhard Schütz (Hg.): Handbuch Nachkriegskultur. Literatur, Sachbuch und Film in Deutschland (1945– 1962), Berlin u. a. 2013, S. 1–135, hier S. 83. König: Schiff (Anm. 8), S. 54.

Literatur und Literaturrezeption in Zeitschriften der Jugendbewegung

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»Unser Schiff« sollten sich also von denen des Dritten Reichs unterscheiden, um eine Zäsur zu setzen und Zukunftsperspektiven für die Jugend aufzuzeigen. An diese Stelle traten Beobachtung und sinnliche Wahrnehmung von Natur und Sprache.25 Neben zahlreichen literarischen Texten wurden auch solche abgedruckt, die Literatur per se sowie Literaturrezeption und -wertung diskutierten. Die Texte sollten allerdings nicht wie »Moralpredigten«, sondern vielmehr wie ein »Gespräch im kleinen Kreis« wirken26. Das gemeinschaftliche Lesen und der Austausch über literarische Werke wurden in »Unser Schiff« immer wieder thematisiert; so heißt es beispielsweise in einem Beitrag über Literatur: »Wir lasen Shakespeares Sturm [auf einer Fahrt]«27. Das Pronomen wir findet sich in einem Großteil der einleitenden Texte einzelner Ausgaben. Aber wie soll man sich dieses Wir in der Nachkriegszeit vorstellen? Für viele jugendbewegte Gruppen wurde die Zeitschrift – wie erwähnt – zu einem Kommunikationsmittel über Literatur und philosophische Fragen. Die Verfasser stellten jedoch nicht nur ihre eigenen literarischen Vorlieben vor. Sie baten auch um Zuschriften und Literaturvorschläge von ihren Lesern.28 Sie begründeten dies in einem der Aufrufe mit einer gemeinschaftsstiftenden, aber auch dokumentarischen Funktion: »Das Lesen unseres ganzen Kreises soll sich hier wiederspiegeln [sic]«29. Die Herausgeber veröffentlichten ganz bewusst Literatur aus verschiedenen Kulturkreisen und Zeiträumen und thematisierten ihre Intention in den Beiträgen. Kanonisierte deutschsprachige Autorinnen und Autoren wie Hölderlin, Rilke, Stefan George30, Annette von Droste-Hülshoff und Hugo von Hofmannsthal finden sich neben Philosophen wie Heraklit und Nietzsche sowie Autoren aus dem asiatischen Kulturraum, etwa Matsuo Basho31, Kakuzo Okakura und Tao 25 26 27 28

Vgl. ebd. Ebd., S. 54. Heft 2/1947, in: König: Schiff (Anm. 8), S. 62. Einer dieser Aufrufe lautet wie folgt: »Das Schiff plant Sonderhefte Lyrik und möchte wissen, welche Lyrik euch etwas zu sagen hat. Schreibt uns darüber und schickt uns Gedichte, die euch etwas bedeuten, auch außerhalb der Schule.« (Heft 2/1947, in: König: Schiff (Anm. 8), S. 64). Der Verweis auf die Literaturrezeption in den Schulen verstärkt den Eindruck, dass es die Jugend ist, die angesprochen wird und sich beteiligen soll, nicht unbedingt die Erwachsenen, die sich der Jugendbewegung noch immer verbunden fühlten. Dabei muss allerdings beachtet werden, dass es sich bei Herausgebern und Leserschaft meist nicht um eine Generation handelte. Auch Walter Scherf war während seiner Tätigkeit für »Unser Schiff« nicht mehr jugendlich. Welche Rolle spielten dabei also Mentoren-Konzepte? In einem Beitrag schreibt Scherf über das Verhältnis der Generationen: »[Der junge Mensch] ist aber noch kein Meister. Sein werdender Verstand sollte ihm dazu dienen, seinen Meister zu suchen, damit er im Schutze des Erfahrenen reifen kann.« (Heft 2/1947, in: König: Schiff (Anm. 8), S. 62). 29 Heft 14–17/1947, in: ebd., S. 123. 30 Für die Bedeutung Stefan Georges für die Jugendbewegung vgl. Braungart: George (Anm. 5). 31 Matsuo Basho gilt als einer der wichtigsten Dichter in der japanischen Literatur. Bekannt ist er vor allem für seine Haikus. Die Zeitschrift druckt allerdings nicht nur Gedichte von Basho

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Marja Kersten

Te King. Literatur aus dem asiatischen Kulturraum wird auch heute noch mit ›Weisheitsdichtung‹ in Verbindung gebracht. Zeigt sich in dieser Rezeption eine Sehnsucht nach tröstlichen Worten?32 Auch Gedichte und kurze Geschichten von Walter Scherf und anderen Jugendbewegten wurden in die literarische Auswahl integriert. Die Herausgeber sahen in dem breiten literarischen Spektrum ein »Zeichen der Befreiung zu einer offenen Weltsicht«33 nach der Zeit der Diktatur. Einen großen Teil der Zeitschrift nahmen außerdem Märchen ein – auch hier griff »Unser Schiff« auf bereits vorhandene Märchen aus verschiedenen Kulturkreisen zurück, druckte aber auch von Mitgliedern verfasste Märchenadaptionen ab. Inwieweit »Unser Schiff« repräsentativ für die Literaturrezeption in jugendbewegten Zeitschriften der frühen Nachkriegsjahre ist, soll in meinem Dissertationsprojekt noch untersucht werden. Zunächst möchte ich herausarbeiten, welche bündischen Zeitschriften es gab und wie diese in den frühen Nachkriegsjahren organisiert wurden.34 Dazu zählen beispielsweise Finanzierung und Distribution der Zeitschriften, Herausgeber und Adressatenkreis sowie die Auswahl literarischer Werke beziehungsweise der inhaltliche Aufbau. Dies beinhaltet, die in bündischen Zeitschriften abgedruckten literarischen Texte sowie Texte über Literatur und Literaturrezeption wie Buchvorstellungen, Essays oder Aufsätze mit Literaturbezug auszuwerten. Wie Malte Lorenzen bereits erläutert hat, bieten Zeitschriften einen guten Einblick in das literarische Rezeptionsverhalten der Jugendbewegten35, woraus sich für mich relevante Fragestellungen ableiten lassen: Welche literarischen Werke wurden in den bündischen Zeitschriften abgedruckt? Welche literarischen und symbolischen Anknüpfungspunkte an die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg sahen die Herausgeber, und was sagen ihre Zeitschriften über das Literaturkonzept der Jugendbewegung nach 1945 aus? Wie diskutieren die veröffentlichten Beiträge Literatur und (gemeinschaftliches) Lesen? Welche Rolle spielte Lesen für die Jugendbewegten, wenn es darum ging, neue Gemeinschaften zu

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ab. Begleitet werden diese von einem ausführlichen Artikel über Haikus; vgl. Heft 2/1948, in: König: Schiff (Anm. 8), S. 145. Walter Scherf schrieb Gedichten – in diesem Fall Haikus – eine besondere ästhetische Wirkung zu: »Eine Sammlung japanischer Haikus beschwört eine Unzahl von Bildern und Gedanken in uns. Lest sie und erlebt sie, wenn ihr sie einmal in die Hände bekommt. Vielleicht könnt ihr diese Form auch in eueren Horten heimisch machen«; Heft 2/1948, in: ebd. Ebd., S. 55. Bei der Auswahl der zu untersuchenden Zeitschriften sind mehrere Aspekte relevant. Da ich den Einfluss der jeweiligen Militärregierungen der Besatzungsmächte auf die Herausgeber der Zeitschriften für wichtig erachte, möchte ich bündische Zeitschriften aus allen vier Besatzungszonen auswählen. Des Weiteren sollen auch unterschiedliche Milieus beachtet werden: Welche Unterschiede gibt es in Bezug auf die Milieus? Welchen Milieus lassen sich die Zeitschriften zuordnen – konfessionell, akademisch, der Arbeiterjugend? Vgl. Lorenzen: Wandern (Anm. 4), S. 70f.

Literatur und Literaturrezeption in Zeitschriften der Jugendbewegung

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bilden?36 Untersucht werden muss, welchen (literarischen) Einfluss die Besatzungszonen auf die von ihnen lizensierten Zeitschriften hatten. Finden sich darin häufig Übersetzungen aus den Sprachen der jeweiligen Besatzungszone, und falls ja, welche Schlüsse lassen sich darüber ziehen, wie frei die Herausgeber in ihrer Textauswahl wirklich waren? Was Gesellschaft nach dem Krieg sein konnte, musste sich erst wieder herausbilden. Die Gesellschaft musste sich formieren. Das betraf natürlich auch die gesellschaftlichen Teilsysteme: Der literarische und publizistische Betrieb musste sich nach Kriegsende ebenfalls neu konstituieren. Wie konnte es gelingen, als junger Mensch einen Platz in dieser sich neu formierenden Gesellschaft zu finden? Wie konnte die jüngere Generation einen Umgang mit der Sehnsucht nach Zukunftsperspektiven finden, nachdem sie von der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges traumatisiert war? Es liegt nahe, dass eine neue Form der offenen Kommunikation erst wieder erlernt werden musste. Wie schwer es war, seine Gedanken und Gefühle in Bezug auf die traumatischen Erlebnisse zu äußern, lässt sich nur erahnen. Literaturrezeption und -produktion könnten als Ausdrucksmittel für das Unsagbare des gesellschaftlichen Traumas gesehen werden. Inwiefern sich dies in den bündischen Zeitschriften widerspiegelt und was sich daraus für die Entwicklung der Gesellschaft nach 1945 schließen lässt, soll noch erarbeitet werden.

36 Einen konzisen Überblick über die Veränderung des Gemeinschaftsbegriffs in der deutschen Jugendbewegung gibt Hans-Ulrich Thamers Aufsatz Bünde und Kreise. Jugendbewegte Gemeinschaftsformen von der Weimarer Republik bis in die frühe Bundesrepublik, in: Braungart: George (Anm. 5), S. 57–68.

Jens Elberfeld

Zwischen strenger Enthaltsamkeit und jugendlicher Erotik. Zum Platz der bürgerlichen Jugendbewegung in der Geschichte adoleszenter Sexualität

Heutzutage gilt die Phase der Adoleszenz wie selbstverständlich als der Lebensabschnitt, in dem sich die eigene Sexualität entfaltet. Der Prozess umfasst nicht allein biologisch-physiologische Vorgänge während der Pubertät. Vielmehr betrifft dies auch und gerade die Ausbildung einer autonomen, erwachsenen Identität, die auf das engste mit Sexualität verknüpft wird, scheint sie doch eine wesentliche Quelle für die Individualität des Menschen zu sein. Jugend ebenso wie Sexualität stellen indes keine anthropologischen Konstanten dar, sondern historisch sich wandelnde Konzepte. Insofern kann auch die jugendliche Sexualität auf eine bewegte Geschichte zurückblicken.1 Wenngleich sich – bezogen auf Europa und insbesondere den deutschsprachigen Raum – gewisse Vorläufer und durchaus heterogene Anfänge seit der Frühen Neuzeit ausfindig machen lassen, etablierte sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Vorstellung einer genuin jugendlichen Sexualität, die sich nunmehr rasch in der Gesellschaft verbreitete sowie nachhaltige Effekte in der Lebensführung zeitigte.2 Mit Jugend und Sexualität verbanden sich dabei zwei Diskurse, die zu zentralen Elementen der Moderne respektive ihrer Erfahrung um und ab 1900 zählen. Zum einen war es die Jugend, in der sich nicht nur im Deutschen Kaiserreich die Zukunftshoffnungen und -sorgen einer von tiefgreifenden Wandel erfassten Gesellschaft bündelten.3 Zum anderen fungierte die Sexualität als Ansatzpunkt sowohl für einen zunehmenden biopolitischen Zugriff von Staat und Gesellschaft auf die Bevölkerung, als auch als Ausgangspunkt für

1 Carolyn Cocca (Hg.): Adolescent Sexuality. A Historical Handbook and Guide, Westport 2006. 2 Zu den Anfängen in der Frühen Neuzeit vgl. Philippe Ariès: Geschichte der Kindheit, München 17 2011. Zum wirkmächtigen Anti-Onaniediskurs seit dem 18. Jahrhundert vgl. Thomas Laqueur: Solitary Sex. A Cultural History of Masturbation, New York 2003. Franz X. Eder: Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität, München 2009, S. 91–128. 3 Vgl. Thomas Koebner u. a. (Hg.): Mit uns zieht die neue Zeit. Der Mythos Jugend, Frankfurt a. M. 1985.

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diverse Bestrebungen zur sozialen Reform und individuellen Emanzipation.4 Zusammen erklärt dies bereits partiell die enorme öffentliche Aufmerksamkeit, die jugendliche Sexualität in der wilhelminischen Epoche und in der Weimarer Republik erfuhr. Anders ausgedrückt steht sie paradigmatisch für die viel diskutierte Janusköpfigkeit der Moderne und ihre umkämpften multiplen Entwürfe insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts.5 In meinem Habilitationsprojekt spüre ich der Erfindung und Entwicklung jugendlicher Sexualität in der Zeit von ca. 1890 bis 1930 nach. Wenngleich Deutschland beziehungsweise der deutschsprachige Raum im Zentrum der Studie stehen, werden auch transnationale Verflechtungen und Transfers in den Blick genommen. Mein Erkenntnisinteresse gilt den drei folgenden Fragen: Was für Konzeptionen jugendlicher Sexualität lassen sich im Diskurs ausfindig machen? Welche Versuche wurden unternommen, um auf diese erzieherisch einzuwirken? Und wie gingen die Jugendlichen damit um? Dabei wird eine diachrone ebenso wie eine synchrone Perspektive eingenommen. Zum einen ist nach Wandel und Kontinuitäten des Diskurses jugendlicher Sexualität zu fragen, nicht zuletzt im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg und die anschließenden politischen Umbrüche. Zum anderen ist die Heterogenität des Diskurses aufzuzeigen, indem die verschiedenen Diskursarenen und die jeweils beteiligten Akteur*innen betrachtet werden. Die Arbeit wandelt grosso modo auf den Pfaden der neueren Sexualitätsgeschichte im Anschluss an Michel Foucault.6 Ihr liegt ein konstruktivistisches Verständnis von Sexualität zugrunde, die es zu historisieren und zu problematisieren gilt. Insofern verabschiedet sie sich auch von einer Repressionshypothese, laut der Sexualität vornehmlich unterdrückt werde, weshalb sie im Umkehrschluss einen prädestinierten Ort für widerständiges Handeln bilde, an dem sich zugleich der authentische Kern des Subjekts verberge. Demgegenüber geht es dieser Arbeit darum, mit Hilfe des foucaultschen Werkzeugkastens die Produktivität des Sexualitätsdiskurses zu akzentuieren, der historisch-spezifische Subjekte konstituiert und körperlich materialisiert. Das bedeutet weder, dass Sexualität frei von Macht- und Herrschaftsbeziehungen zu betrachten ist, noch dass den Akteur*innen kein Eigensinn oder Agency zugestanden wird. Vielmehr schärft ein solcher Ansatz den Blick für die konkreten Mechanismen von Macht und nimmt gerade die Phänomene nicht von einer kritischen Analyse aus, bei

4 Vgl. Edward Ross Dickinson: Sex, Freedom, and Power. Imperial Germany, 1880–1914, New York 2014. 5 Zu den heterogenen Entwürfen vgl. Shmuel Eisenstadt: Multiple Modernities, London 2002. 6 Vgl. Peter-Paul Bänziger u. a. (Hg.): Sexuelle Revolution? Zur Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum seit den 1960er Jahren, Bielefeld 2015. Scott Spector u. a. (Hg.): After the History of Sexuality. German Genealogies with and beyond Foucault, New York 2012.

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denen Sexualität mit dem Versprechen von Befreiung und Emanzipation auftritt.7 Foucault hat diesbezüglich zwei theoretische Zugänge entwickelt, die unterschiedliche Perspektiven auf Sexualität eröffnen. Zum einen sein Konzept der Subjektivierung sowie der Technologien des Selbst, mit dem die individualisierenden Effekte des Sexualitätsdiskurses betrachtet und nach den damit verbundenen Wissen und Praktiken gefragt werden kann.8 Zum anderen sein Konzept der Biomacht bzw. Biopolitik, laut dem Sexualität dem modernen Staat wie auch weiteren gesellschaftlichen Akteur*innen dazu dient, regulierend auf die Bevölkerung einzuwirken.9 In der anvisierten Studie werden diese Konzepte dem eigenen Erkenntnisinteresse angepasst und dahingehend zugespitzt, dass jugendliche Sexualität im Hinblick auf Regime der Selbsterziehung und Fremderziehung sowie deren spannungsreiches Verhältnis zueinander analysiert wird. Dahinter steht die Annahme, der Diskurs jugendlicher Sexualität sei im Untersuchungszeitraum maßgeblich geprägt worden von einer weitreichenden Pädagogisierung, die im Zusammenhang mit den Erziehungsutopien und -dystopien moderner Gesellschaften zu sehen ist. Bei der Verwendung des Begriffs jugendlicher Sexualität ist auf zwei Punkte hinzuweisen, die von heuristischer Relevanz sind. Im Anschluss an sozialwissenschaftliche Theorien verstehe ich Jugend, erstens, als relationale Kategorie innerhalb einer generationalen Ordnung, die sich wesentlich definiert durch die beidseitige Abgrenzung von Kindheit und Erwachsenensein.10 Das ist ebenso zu übertragen auf jugendliche Sexualität, wobei die genauen Altersgrenzen unscharf respektive umkämpft sind, was historisch im Detail zu untersuchen ist. Zweitens ist der Begriff streng genommen im Plural zu gebrauchen, da sich entlang von Differenzkategorien wie class, race und gender, aber auch sexueller Orientierung, Herkunft und Religion unterschiedliche Konzeptionen jugendlicher Sexualität ausbilden. Dementsprechend geht es darum, einerseits die Heterogenität des Diskurses herauszuarbeiten und andererseits nach Hegemonien und Distinktionen zu fragen.11 7 Vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a. M. 1983. 8 Vgl. Michel Foucault u. a. (Hg.): Technologien des Selbst, Frankfurt a. M 1993. Ders.: Subjekt und Macht, in: ders.: Schriften – Dits et Ecrits, Band IV, 1980–1988, Frankfurt a. M. 2005, S. 269–294. 9 Vgl. Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–76), Frankfurt a.M. 1999. 10 In Bezug auf Kindheit vgl. Anna Fangmeyer, Johanna Mierendorff (Hg.): Kindheit und Erwachsenheit in sozialwissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung, Weinheim u. a. 2017. 11 Diesbezüglich lehne ich mich an das Konzept Hegemonialer Männlichkeit an. Vgl. Raewyn Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Wiesbaden, 4. überarb. Auflage 2015.

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Methodisch bedient sich die Arbeit bei der Historischen Diskursanalyse sowie der darauf aufbauenden Dispositivanalyse, die ein größeres Augenmerk auf Institutionen und Praktiken legt.12 Das Quellenkorpus setzt sich primär aus publizierten Quellen, also Monographien, Ratgeberliteratur, diversen Zeitschriften und Grauer Literatur, wie Aufklärungsbroschüren, Flugblättern etc., zusammen. Diese werden punktuell ergänzt um nicht-veröffentlichte Quellen, etwa aus Behörden und Bildungseinrichtungen. Indem so kleinere Fallstudien unternommen werden, kann in die Arbeit eine weitere Analyseebene eingezogen werden, mit der sich die soziale Praxis und die Konflikte zwischen unterschiedlichen Akteur*innen exemplarisch untersuchen lassen. Schließlich werden ausgewählte Ego-Dokumente von Jugendlichen in das Korpus übernommen. Dabei wird es nicht darum gehen, öffentlichen Diskurs und individuelle Erfahrung einander gegenüberzustellen. Vielmehr liegt der Fokus auf der diskursiven Konstruktion der eigenen sexuellen Identität mit Hilfe von Praktiken wie dem Tagebuchschreiben. Die Jugendbewegung stellt nur einen, wenngleich wichtigen, Aspekt der Arbeit dar. Ihre Besonderheit besteht darin, dass sich mit ihr Jugendliche erstmals aktiv im Diskurs zu Wort meldeten und sich mit ihrer Sexualität auseinandersetzten. Mich interessiert, ob Jugendliche Deutungsmuster und Leitbilder der Erwachsenen übernommen oder ob sie divergierende Vorstellungen und Normen entwickelt haben, die zu Konflikten führten. In der anfangs von Jugendbewegten dominierten, hagiographischen Geschichtsschreibung tauchte Sexualität kaum auf. Das änderte sich ab Mitte der 1960er Jahre mit einer zunehmend kritischen Betrachtung der Jugendbewegung.13 Eine systematisch Erforschung setzte jedoch erst ab den 1980er Jahren ein und konzentrierte sich auf Homosexualität sowie Verbindungen zur Männerbundideologie, die zeitgenössisch bekanntermaßen vom früheren Wandervogel Hans Blüher angestoßen worden war.14 Erst in jüngerer Vergangenheit weitete sich der Fokus, so dass andere Debatten, die Beziehungen zwischen den Geschlechtern und der Alltag der Jugendbewegung vermehrt untersucht werden.15 Allerdings beschränken sich auch neuere Studien 12 Vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1981. Achim Landwehr: Geschichte des Sagbaren. Einfu¨ hrung in die Historische Diskursanalyse, Tu¨ bingen 22004. Andrea D. Bu¨ hrmann, Werner Schneider: Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einfu¨ hrung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 22012. 13 Vgl. Harry Pross: Jugend, Eros, Politik. Die Geschichte der deutschen Jugendverbände, Bern u. a. 1964. Walter Laqueur: Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie, Köln 1962. 14 Vgl. Ulfried Geuter: Homosexualität in der deutschen Jugendbewegung. Jugendfreundschaft und Sexualität im Diskurs von Jugendbewegung, Psychoanalyse und Jugendpsychologie am Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1994. Claudia Bruns: Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur (1880–1934), Köln u. a. 2008. 15 Vgl. Karl Braun, Felix Linzner, John Khairi-Taraki (Hg.): Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer »Aufrüstung« (Jugendbewegung

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für gewöhnlich auf die Jugendbewegung und vernachlässigen den breiteren, sexualitäts- und jugendgeschichtlichen Kontext. Im Archiv der deutschen Jugendbewegung liegen drei Quellenarten, die von besonderer Relevanz für mich sind. Erstens finden sich in den Beständen zahlreiche Veröffentlichungen zur Sexualität, wie Aufklärungsschriften und Rategeberliteratur, die in der Regel von externen, erwachsenen Autor*innen stammen. Das zeigt zunächst einmal das generelle Interesse der Jugendbewegung an der Thematik und speziell ihre Bereitschaft, sich entsprechendes Wissen anzueignen. Grosso modo überwiegen sexualethische Abhandlungen, während medizinisch-sexualwissenschaftliche Studien ebenso wie explizite, biologische Aufklärungsliteratur kaum vertreten sind.16 Zwei Punkte sind weiter zu erörtern. Zum einen spricht der vorläufige Befund dafür, dass die Jugendbewegung sich im konservativen Mainstream des Sexualitätsdiskurses bewegte. Zum anderen verweist die vorwiegend ethische, lebensphilosophische Ausrichtung auf eine bestimmte Form sexueller Selbsterziehung in der Jugendbewegung. Diese stellte keinen Widerspruch zu medizinisch-naturwissenschaftlichen Konzepten der Prävention qua Wissenspopularisierung dar, sondern ergänzte diese. Zweitens ermöglichen die diversen Zeitschriften der Jugendbewegung einen Einblick in die Debatten und öffentlichen Positionierungen. In der Frühphase des Wandervogel wurde jugendliche Sexualität selten und höchstens sporadisch thematisiert. Anders sah das in der freideutschen Jugendbewegung gegen Ende des Kaiserreichs aus, die sich zum Teil intensiv und kontinuierlich damit befasste. Zugespitzt lassen sich zwei konträre Standpunkte ausmachen. Auf der einen Seite riefen die meisten Gruppen bis hin zum »Vortrupp« um Hermann Popert und Hans Paasche vehement zu strenger Abstinenz und Selbstzucht auf.17 Demgegenüber warb die vergleichsweise kleine linke Strömung der Jugendbewegung um den »Anfang« für ein Recht auf jugendliche Erotik und eine Selbstkultivierung.18 Beide Standpunkte waren nur bedingt avantgardistisch. Die Selbstzucht entsprach hegemonialen Normen und schloss an etablierte Diskurse und Jugendkulturen. Jahrbuch 13|2017), Göttingen 2017. Detlef Siegfried, David Templin (Hg.): Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980. Kontinuitäten und Brüche in Milieus der gesellschaftlichen Selbstreflexion im frühen und späten 20. Jahrhundert (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 15|2019), Göttingen 2019. 16 Vgl. Eduard Heimann: Das Sexualproblem der Jugend, Jena 1913, AdJb B 205–005. Friedrich Wilhelm Förster: Sexualethik und Sexualpädagogik, Kempten/München 41913, AdJb B 205– 077. Emanuele Meyer: Vor heiligen Toren, Stuttgart 1913, AdJb B 205–053. Georg Hermann: Unsere Jungen. Ihr Kampf in den geschlechtlichen Entwicklungsjahren, Hamburg 1918, AdJb B 205–010. 17 Vgl. Walther Groothoff: Selbsterziehung! Ein Mahnwort an Abiturienten, in: Wandervogel Führerzeitung, März 1913, Nr. 4, S. 67–73. Freya Groth: Gedanken über Freundschaft und Liebe. Aus einem Briefe, in: Deutscher Mädchenwanderbund, 1920, Nr. 1, S. 7–9. 18 Vgl. Herbert Blumenthal: Jugendliche Erotik, in: Der Anfang, Oktober 1913, Nr. 6, S.166–169.

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um Onanie an. Die Selbstkultivierung war gerade kein Plädoyer für freie Liebe und vergleichbare Bemühungen um eine jugendliche Selbstaufklärung fanden sich ebenfalls in der wesentlich größeren Arbeiter*innenjugendbewegung.19 Neben einer primär männlichen Codierung der Sexualität basierten beide Formen der Selbsterziehung überdies auf sozialen Differenzen respektive Distinktionen. Während der linke Flügel der Jugendbewegung die eigenen sozioökonomischen Privilegien kaum hinterfragte und trotz aller Kritik weiter unter dem bürgerlichen Wertehimmel der Eltern flanierte, lag der Aufforderung zur Selbstzucht eine kulturkritische Sichtweise auf die Moderne zugrunde, in der nichtbürgerliche Schichten den gesellschaftlichen Niedergang verkörperten und für einen fatalen Mangel an Selbstzucht standen.20 Auffällig ist, dass Homosexualität in jenen Debatten ausgespart wurde und der Diskurs jugendlicher Sexualität getrennt davon abzulaufen schien. Weiter zu vertiefen ist die Analyse mit Hilfe von Quellenbeständen zu einzelnen Akteur*innen. Beispielsweise kann an Hand von Alma de l’Aigle (1889–1959) und Elisabeth Busse-Wilson (1890–1974) die Rolle von Frauen, die sich öffentlich hierzu äußerten, genauer eruiert werden.21 Drittens liegen auf der Burg Ludwigstein Ego-Dokumente, mit denen sich eine zusätzliche Analyseebene eröffnet. Die bisherige, unsystematische Auswertung der Quellen deutet darauf hin, dass sexuelle Belange selten angesprochen wurden. Und wenn dies der Fall war ging es auffallend oft um Beziehungen zu Jugendlichen und jungen Erwachsenen des gleichen Geschlechts.22 Das könnte damit zusammenhängen, dass die Schreibenden hierbei eher das Bedürfnis verspürten, sich der eigenen Gefühle klar zu werden als bei kulturell grundsätzlich anerkannten heterosexuellen Beziehungen. Dabei griffen die Protagonist*innen mitunter auf Konzepte der Sexualwissenschaften zurück, um ihr Begehren benennen zu können und sich auf diese Weise als sexualisierte Subjekte zu konstituieren. Beispielsweise fragte sich ein Wandervogel nach der Lektüre Blühers, ob dessen Begriffe von »Homosexualität« und »invertiert« auf ihn zu19 Vgl. Jens Elberfeld: »Der Kampf der Jugend gegen Prüderie«. Arbeiter*innenjugendbewegung und Sexualerziehung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Mitteilungen. Archiv der Arbeiterjugendbewegung, 2020, Nr. 2, S. 15–18. Die Arbeiter*innenjugendbewegung grenzte sich dezidiert von Sexualvorstellungen der bürgerlichen Jugendbewegung ab und unterschied sich u. a. durch einen stärkeren Bezug auf Wissenschaft. Vgl. Hans Hackmack: Arbeiterjugend und sexuelle Frage, 4. erw. Aufl., Berlin 1922. 20 Beim linken Flügel änderte sich das zum Teil mit der Politisierung durch den Ersten Weltkrieg. Vgl. Peter Dudek: Rebellen gegen den Krieg – Sucher nach Gemeinschaft: Der jugendbewegte »Berliner Kreis« im Kontext des Ersten Weltkrieges, Bad Heilbrunn 2021. Zur Kulturkritik vgl. Hermann Popert: Helmut Harringa. Eine Geschichte aus unserer Zeit, Dresden 1910. 21 Vgl. Nachlass Aigle, AdJb N 17. Nachlass Busse-Wilson, AdJb N 7. 22 Vgl. Tagebücher des Jungwandervogels »Padde« in Burg bei Magdeburg (handschriftlich), 2 Bde., 1917, AdJb CH 1 Nr. 322/1 und 2.

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träfen.23 Derlei Aneignungen relativieren die vermeintliche Kluft zwischen den Generationen und demonstrieren, dass sich eigensinnige sexuelle Identitäten ebenso wenig außerhalb von machtvollen Diskursen bildeten.

23 Vgl. Fahrtenbuch von Victor Gudenberg in Göttingen, Führer im Alt-Wandervogel, (1909, 1912) 1913–1915, S. 1–3. AdJb Bestand CH 1 Nr. 214/1. In seinem frühen Tagebuch berichtet er noch über freundschaftliche Kontakte zu Jungen und Mädchen. Vgl. Tagebuch (»TaschenNotizbuch 1908«) von Victor Gudenberg in Göttingen (Alt-Wandervogel), AdJb, CH 1, 214/2.

Susanna Kunze

»Lest von jüdischen Helden, Jungens, und grabt unseren Bar Kochba aus!«1 Erziehung und Identitätsbildung im Jüdischen Wanderbund Blau-Weiß (1912–1926)

»Der ›Blau-Weiß‹ Bund für jüdisches Jugendwandern bezweckt die Pflege des Wanderns unter der jüdischen Jugend, insbesondere der Schuljugend […]. Aber unsere Bewegung will noch mehr. Ihr sollt nicht bloß mit uns Sonntags durch Felder und Wälder schweifen, sondern wir wollen in Euch eine tiefe und starke Liebe zum Judentum wecken!«2

Diese Forderung des Berliner Blau-Weißen Georg Todtmann verweist auf eine zentrale Erziehungsaufgabe und zugleich auf die Programmatik des Jüdischen Wanderbundes Blau-Weiß (1912–1926) in den ersten Jahren seines Bestehens. Aus diesem Blickwinkel illustriert der vorliegende Beitrag anhand von Aufsätzen aus den »Blau-Weiss-Blättern«, wie die jüdisch-zionistische Erziehung im Wanderbund konkret aussah und welche Bedeutung Palästina in der Erziehung der jüdischen Jugend Deutschlands zukam.3 Der Jüdische Wanderbund Blau-Weiß wurde 1912 von führenden Mitgliedern der Zionistischen Vereinigung für Deutschland im Zuge des Posener Delegiertentages gegründet. Als Nachwuchsorganisation der ZVfD sollten die Kinder und Jugendlichen an den Zionismus herangeführt werden. Entsprechend dieser Intention lag der Schwerpunkt des Blau-Weiß in seinen ersten Jahren (1912–1918) auf der Erziehung der Jugendlichen.4 Infolgedessen gehörte es zu den wichtigsten 1 Rudolf Pick: Der jüdische Held, in: Blau-Weiss-Blätter, 1914, 2. Jg., Nr. 5, August, S. 2–4, hier S. 4. 2 Georg Todtmann: Was wir wollen, in: Blau-Weiss-Blätter, ebd., Nr. 2, Mai, S. 2f., hier S. 2. 3 Der vorliegende Artikel basiert auf einem Kapitel meiner Masterarbeit »›Wir wollen doch für Palästina Pioniere und nicht Pfuscher großziehen‹. Jugendkulturelle Blicke auf Palästina – Das Beispiel des Jüdischen Wanderbundes Blau-Weiß.« Die »Blau-Weiss-Blätter«, das Publikationsorgan des Wanderbundes, erschienen von 1912–1919. Einhergehend mit dem Generationswechsel und der Umstrukturierung des Bundes pausierte die Zeitschrift seit 1919 und erschien ab 1923 unter dem erweiterten Titel »Bundesblatt« bzw. »Neue Folge«, vgl. https:// sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/id/2425321 [11. 02. 2022]. 4 Jörg Hackeschmidt: Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias. Die Erfindung einer jüdischen Nation, Berlin 1997, S. 43; Yehuda Eloni: Zionismus in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914, Gerlingen 1987, S. 448–453.

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Susanna Kunze

Zielen des Wanderbundes, seine Mitglieder zu starken und bewussten Juden zu erziehen und somit deren Gemeinschafts- und Zusammengehörigkeitsgefühl als Juden und Jüdinnen zu stärken.5 Daher sollten die Jugendlichen im Wanderbund in ungezwungener Atmosphäre Wissenswertes über Palästina, jüdische Geschichte und Feiertage erfahren und Teil einer Gemeinschaft sein, in der sie sich stolz und selbstbewusst als Juden und Jüdinnen bekennen konnten. Im Alltag des Wanderbundes beinhaltete dies, »jüdische Lieder«6 zu singen und hebräische Begriffe in den Alltag des Wanderbundes zu integrieren. So wünschten sie sich »Be-te’avon« bevor sie auf der Fahrtenrast gemeinsam speisten und erwiderten den »Heil«-Gruß der Wandervögel mit »Hedad« oder »Schalom«.7 Auch jüdische Feste waren fester Bestandteil der gemeinsamen Aktivitäten im Blau-Weiß. Ein Aufsatz aus den »Blau-Weiß-Blättern« bringt zum Ausdruck, wie sich jüdisches Leben im Wanderbund konkret gestaltete: »Als Juden wandern wir nicht am Sabbath, kochen in unserem Hordentopf koscher, singen alle jüdischen Lieder vom jüdischen Volkslied bis zum hebräischen Freiheitslied, grüßen uns und andere mit dem jüdischen Ruf Schalom und feiern frei und jubelnd unsere Feste Purim, Pessach und Chanukkah. Wir sind stolz auf unser Judentum, wenn wir auf den Bergen bei Kaputh bei acht lodernden Feuern uns vor aller Welt als Juden bekennen […].«8 Bereits seit 1913 feierten Blau-Weiße in den Bergen bei Caputh, in der Nähe von Potsdam, jährlich Chanukka und gedachten der Makkabäer, die ihnen als Vorbilder und Identifikationsangebot dienten.9 Anlässlich des jeweiligen Festes wurden auch Erzählungen und Gedichte in den »BlauWeiss-Blättern« veröffentlicht, die einen Bezug zu Palästina herstellten, indem die Aktivitäten der dortigen jüdischen Jugend beschrieben wurden. 1914 berichtete Heinrich Glanz von der Gründung eines Jerusalemer Blau-Weiß-Bundes und von einer viertägigen Chanukka Wanderung, bei der sie die Geburtsstätte der Makkabäer in Modiin besuchten.10 Dieses Ereignis teilte Glanz durch seinen Aufsatz mit den Blau-Weißen in Deutschland: »Die Chanukanummer unserer ›Blau-Weiß-Blätter‹ hat ja alles über unsere Helden, unsere Makkabäer, erzählt. 5 Felix Rosenblüth: Leitfaden für die Gründung eines Jüdischen Wanderbundes ›BlauWeiß‹, in: Jehuda Reinharz (Hg.): Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus 1882–1933, Tübingen 1981, S. 114–117. 6 Ebd., S. 116. 7 Ebd.; Michael Berkowitz: Western Jewry and the Zionist project, 1914–1933, Cambridge 1997, S. 152. 8 Todtmann: Wollen (Anm.2), S. 3. 9 Ivonne Meybohme: Erziehung zum Zionismus. Der Jüdische Wanderbund Blau-Weiß als Versuch einer praktischen Umsetzung des Programms der Jüdischen Renaissance, Frankfurt a. M. 2009, S. 65. 10 Glanz: Die Gründung des ersten Wanderbundes, in Erez – Israel und unsere erste Wanderung Chanukah 5674, in: Blau-Weiss-Blätter, 1914, 2. Jg, Nr. 1, April, S. 7–9; Vgl. auch Blau-WeissBlätter, 1914, 2. Jg., Nr. 8, Dezember und Blau-Weiss-Blätter, 1917, 5. Jg., Nr. 4, Dezember, in denen Chanukka besonders ausführlich behandelt wurde.

Erziehung und Identitätsbildung im Jüdischen Wanderbund Blau-Weiß

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Ich wünschte nur, daß ihr mit uns die Geburtsstätte derselben mitsehen dürftet. Von kühnen, hohen Bergen umringt, liegen die Reste des alten Modiin in ein tiefes Tal gebettet. Hartes, unerbittliches Felsgestein sahen die Makkabäersöhne, als sie zum Ruhme unseres Volkes heranwuchsen.«11 Sein Bericht verdeutlicht, wie mit derartigen Beschreibungen jüdische Heldenfiguren, z. B. die Makkabäer, mit der Gegenwart in Verbindung gebracht wurden. Dabei stärkten Formulierungen wie »unsere Helden« und »unsere Makkabäer« die nationale Verbundenheit zwischen den jungen Juden Deutschlands und denen Palästinas, die an den Feiertagen den gemeinsamen Urahnen gedachten. Anhand dieser Erzählungen in den »Blau-Weiß-Blättern« erfuhren die Kinder und Jugendlichen in Deutschland, wie ihre Altersgenossen in Palästina die Feste feierten, so dass nicht nur ein Bezug zu den vergangenen Heldentaten ihrer Urahnen, sondern auch zur Gegenwart Palästinas hergestellt wurde. Dies wurde nicht nur durch Berichte über das Leben und die Feste der jüdischen Jugend in Palästina vermittelt, sondern auch über aus Palästina importierten Wein, den beispielsweise die Mitglieder des Prager Blau-Weiß während ihrer Sukkotfeier im Herbst 1915 tranken. Zugleich gedachten sie der Ernte Erez Israels, tanzten, sangen und lasen in der Bibel über das Fest und seine Bedeutung.12 Insbesondere importierter Wein galt Zionisten und auch Mitgliedern des Blau-Weiß als wichtiges Symbol für die »neue jüdische Schaffenskraft«13 und wurde trotz des von verschiedenen Jugendbewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgestellten Grundsatzes, weder Nikotin noch Alkohol zu konsumieren, von Blau-Weißen während verschiedener Feiern getrunken, wodurch die Beziehung zu Palästina gestärkt werden sollte.14 Ein anderes Fest, in dessen Mittelpunkt ebenfalls Ressourcen aus Palästina – in diesem Fall Bäume – standen, beschreibt Josef Glaser in seinem Bericht über den Frühlingsanfang in Palästina: »In wenigen Tagen werden wir hier ein schönes Fest feiern: ›Rosch haschanah leilanoth‹ nennt man es, ›Neujahrsfest der Bäume‹. – Dann werden alle die Jungen und Mädchen der hebräischen Schulen Jerusalems in langem Zuge nach einem schönen jüdischen Dörfchen pilgern. Sie werden schöne hebräische Lieder singen, und am Ziele wird jeder ein kleines junges

11 Glanz: Gründung (Anm. 10), S. 9. 12 Albert Baer: Von einer Prager Wanderfahrt, in: Blau-Weiss-Blätter, 1915, 3. Jg. Nr. 4, Dezember, S. 86. 13 Miriam Rürup: Enges Ghetto, weites Land. Zionistische Aneignungen des Raumes und die Überwindung der Heimatlosigkeit, in: Ulrike Jureit (Hg.): Umkämpfte Räume. Raumbilder, Ordnungswille und Gewaltmobilisierung, Göttingen 2016, S. 239–259, hier S. 250. 14 Ebd.; Hermann Meier-Cronemeyer: Jüdische Jugendbewegung, in: Germania Judaica, N. F. 27/28, Köln 1969, S. 1–122, hier S. 35; Vgl. auch Baer: Wanderfahrt (Anm. 12), S. 86.

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Bäumchen einpflanzen. Der Himmel wird sein schönstes, lachendes Gesicht aufsetzen, und ein leises Lüftchen wird einen Segen flüstern.«15 Und auch die Blau-Weiß-Bünde in Deutschland und Österreich wollten dieser Tradition nachkommen und feierten das »Neujahrsfest der Bäume«. Da zu diesem Zeitpunkt in Westeuropa noch Winter war, sollte ein zweites Fest im Wiener Blau-Weiß 40 Tage nach dem ersten folgen, um auf diese Weise Mitte März den Frühlingsbeginn in Österreich zu feiern.16 Anhand dieser geographisch-klimatischen Unterschiede zeigt sich bereits, dass Palästina ein weit entferntes Land war. Die Jugendlichen waren nie selbst dort gewesen, sondern sollten das Land durch die in den »Blau-Weiss-Blättern« publizierten Aufsätze und mittels Erzählungen auf Heimabenden und im Rahmen jüdischer Feiertage und Feste kennenlernen. Dass dieser rein theoretische Zugang auch Probleme mit sich brachte, zeigte ein mahnender Artikel von Martin Rosenblüth (1886– 1963). Er kritisierte, dass einige Wanderbünde die jüdischen Feste nicht respektieren würden, indem beispielsweise Sederabende für Wanderungen genutzt würden.17 Wie sich an diesem Beispiel zeigt, versuchten die leitenden Persönlichkeiten und Führer des Blau-Weiß die Kinder mittels Erzählungen und Berichten mit jüdischen Traditionen und dem Leben der jüdischen Jugend in Palästina vertraut zu machen. Für die deutsch-jüdischen Kinder und Jugendlichen stellte hingegen das Leben in Deutschland den eigenen Lebensmittelpunkt dar. Denn sie waren in Deutschland aufgewachsen und sozialisiert, so dass es die deutschen Landschaften waren, die sie als Mitglieder des Blau-Weiß durchwanderten. In den entsprechenden Fahrtenberichten drückten sie ihre Begeisterung für die Natur Deutschlands und Österreichs aus, indem sie diese poetisch und emotional aufgeladen beschrieben.18 So äußert sich Fritz Valk über die Lüneburger Heide, ein beliebtes Wanderziel der Hamburger*innen, mit den folgenden Worten: »[…] und im Hochsommer liegt das Land da, warm atmend, mit dem schweren, wiegenden Korn […] und warm und süß steigt der Duft der blühenden Erika auf. 15 Josef Glaeser: Frühling in Erez Jisrael, in: Blau-Weiss-Blätter, 1914, 2. Jg., Nr. 1, April, S. 2–4, hier S. 2f. 16 Otto Schick: Unser Gruß an den Frühling, in: ebd., S. 1f. 17 Der Sederabend ist der Vorabend und Auftakt für Pessach. Martin Rosenblüth: Ein Brief, in: Blau-Weiss-Blätter, 1916, 4. Jg., Nr. 1, Juni, S. 2–4. Martin Rosenblüth war Mitarbeiter der Zionistischen Organisation und seit 1914 verantwortlich für die Redaktion der Blau-WeißBlätter; vgl. Meybohm: Erziehung (Anm. 9), S. 17. 18 Als Beispiele für entsprechende Fahrtenberichte vgl. Hans Hirschfelde: Regenfahrt, in: BlauWeiss-Blätter, 1914, 2. Jg., Nr. 7, Dezember, S. 17; Otto Simon: Lenzfahrt, in: ebd., Nr. 4, Juli, S. 1f.; Vgl. auch Joachim Wolschke-Bulmahn: Zu Formen der Naturwahrnehmung und zu den Landschaftsidealen in der Jugendbewegung am Beispiel der jüdischen Gruppe »Blau-Weiß«, in: Hubertus Fischer u. a. (Hg.): Natur- und Landschaftswahrnehmung in deutschsprachiger jüdischer und christlicher Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, München 2010, S. 193–229, hier S. 210–212.

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Mir sagte jemand einmal: wie schön das klingt ›die Heide!‹ Ja, es ist ein heiliges Land.«19 Dieses Zitat und zahlreiche weitere Fahrtenberichte verdeutlichen, in welchem Maße die Mitglieder des Blau-Weiß in Deutschland verwurzelt waren und dass die Beziehung zu Palästina in den ersten Jahren des Wanderbundes philanthropisch ausgerichtet war. Mit Ausnahme eines Spendenaufrufs zur Unterstützung Palästinas während des Ersten Weltkriegs, wird in den ersten fünf Jahrgängen der »Blau-Weiss-Blätter« keine persönlich-praktische Arbeit für Palästina von den Mitglieder des Wanderbundes gefordert.20 Erst im April 1918 findet sich in der Berichterstattung der Bundesleitung die Anmerkung, dass ein Palästinaamt unter der Leitung Walter Moses (1892–1955) eingerichtet wurde – ein Verweis auf die praktische Arbeit, die in den 1920er-Jahren die Aktivitäten und die ideologische Ausrichtung des Blau-Weiß bestimmte.

19 Fritz Valk: Fahrten der Hamburger, in: Blau-Weiss-Blätter, 1914, 2. Jg., Nr. 7, Dezember, S. 16f., hier S. 17. 20 Martin Rosenblüthn: Liebe Blau-Weiße!, in: ebd., 1916, 3. Jg., Nr. 5, Februar, S. 105f. Martin Rosenblüth appellierte an die Mitglieder des Blau-Weiß sich durch finanzielle Spenden an der Verbesserung der Situation ihrer »Brüder in Erez Israel« zu beteiligen. Die Blau-Weißen kamen dieser Aufforderung nach, so dass in den Berichten der einzelnen Ortsgruppen aufgelistet wurde, wie viele Spenden sie zusammentragen konnten. So berichtet die Bundesleitung im Juni 1916, dass bei ihnen für das Palästina Hilfswerk aus Hamburg 322,75 Mark, aus Köln 25 Mark und aus Berlin als zweite Rate 139,55 Mark eingegangen seien vgl. N.N.: Aus der Bewegung, I. Mitteilungen der Bundesleitung, in: Blau-Weiss-Blätter, 1916, 4. Jg., Nr. 1, Juni, S. 22.

Zukunftswerkstatt

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Woran forscht die junge Wissenschaft zur Jugendbewegung?

Während der Pandemie kam im Organisationsteam des Workshops zur Jugendbewegungsforschung die Idee auf, nach langen Durststrecken das Interesse an Recherchen und Forschungen im Archiv wieder zu wecken. Gemeinsam mit Susanne Rappe-Weber vom Archiv der deutschen Jugendbewegung und Stephan Sommerfeld von der Jugendbildungsstätte Ludwigstein gelang es, eine Förderung von der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen einzuwerben, die für ein Kurzstipendienprogramm eingesetzt wurde. Interessierte bewarben sich auf fünftägige Archivaufenthalte auf der Burg Ludwigstein, wo sie zu eigenen Forschungsprojekten und -interessen recherchierten. Die Ergebnisse dieser Arbeiten wurden auf Postern festgehalten und während des Archivjubiläums vom 8. bis zum 10. Juli 2022 unter dem Titel »Woran forscht die junge Wissenschaft zur Jugendbewegung« ausgestellt. Sie geben einen Einblick in bisher weniger berücksichtigte oder neue Bestände des Archivs der deutschen Jugendbewegung sowie in verschiedene methodische Zugänge zu diesen Quellen. Die folgenden Texte der Stipendiat*innen sind die Verschriftlichungen dieser Poster. Der Workshop zur Jugendbewegungsforschung entstand 2013 aus dem Wunsch, ein Forum für diejenigen zu schaffen, die sich wissenschaftlich mit verschiedenen Aspekten der historischen Jugendbewegung auseinandersetzen. Seitdem findet die Veranstaltung in Eigenorganisation jährlich auf Burg Ludwigstein statt. Aus den Kontakten ehemaliger Teilnehmer*innen, Organisator*innen und Interessierten der Jugendbewegungsforschung hat sich mittlerweile ein Netzwerk gebildet, das unabhängig von der Veranstaltung im wissenschaftlichen Austausch steht. Der Dank gilt der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen und vor allem Susanne Rappe-Weber und Stephan Sommerfeld, ohne deren Ermutigung und Unterstützung es dieses Projekt nicht gegeben hätte, sowie allen Stipendiat*innen für die Teilnahme und die spannenden Beiträge.

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Historische Kinder- und Jugendtagebücher im Archiv der deutschen Jugendbewegung

Zu Beginn: Stella Diefenbachs erstes Tagebuch »Endlich – endlich kam der Tag […]«1. Mit diesen Worten, die auf den 2. Oktober 1893 datiert sind, lässt die 11-jährige Stella Diefenbach (1882–1971), Tochter von Karl W. Diefenbach (1851–1913), der als Künstler und Reformator Bekanntheit erlangte, ihr erstes Tagebuch beginnen.2 Die Worte verschaffen dem Besonderen medialen Raum, denn es war der Tag, so Stella über ihre Lebensumstände, »an dem Gretl wieder ihre Heimat zurückkehn und ich eine neue kommen sollte.«3 Der Heimatwechsel war das erwartete Ereignis, das sich Stella erst herbeisehnte und dann im Tagebuch festhielt. Da das Tagebuch weitergegeben, tradiert und öffentlich archiviert wurde,4 kann man heute – fast 130 Jahre später – lesend an diesem Ereignis teilhaben. Dadurch auch ist es allererst möglich den Aufschrieb einer historischen Analyse zuzuführen. Betrachtet man z. B. die umklammerten Einlassungen (), kann das Tagebuch als kommunikativer Raum greifbar werden. Denn die Einlassungen im 1 AdJb, N151 Nr. 363, Eintrag vom 02. 10. 1893. 2 Die Tagebücher von Stella befinden sich im Nachlass ihres Vaters. Der Nachlass enthält viele Tagebücher aus dem näheren Umfeld der Diefenbachs. Zum Beispiel die Aufzeichnungen einer Lebensgefährtin von K. W. Diefenbach Magdalene Bachmann gen. Magda, die zeitweise auch als Erzieherin und Lehrerin der Kinder fungierte (vgl. AdJb, N 151 Nr. 43, 44). Ebenfalls vorhanden sind die Tagebücher von Stellas Brüdern Helios (1880–1950) und Lucidus Diefenbach (1886–1958). Auch von K. W. Diefenbachs sog. Anhänger*innen, die sich in seiner Nähe aufhielten, weil sie ihn als Künstler und Lebensreformer verehrten, sind Tagebuchschriften erhalten. K. W. Diefenbach kommentierte einige der vorhandenen Tagebücher (vgl. z. B. AdJb, N 151 Nr. 51; AdJb, N 151 Nr. 50). Unter seinen Anhängern sind auch junge proletarische Schreibende, was besonders hervorzuheben ist, da von Arbeiter*innen seltener Tagebücher erhalten sind. 3 AdJb, N151 Nr. 363, Eintrag vom 02. 10. 1893. 4 Zur Geschichte und zur Charakterisierung der existierenden Sammlungen und zu Geschichte der Archivierung von Tagebüchern u. a. im deutschsprachigen Raum vgl. Li Gerhalter: Tagebücher als Quellen. Forschungsfelder und Sammlungen seit 1800 (L’Homme. Schriften 27), Göttingen 2021.

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Transkript bilden nachträglich eingefügte Korrekturen ab, welche sich häufiger in Stellas erstem Tagebuch finden. Sie lassen sich über das Schriftbild nicht nur Stella, sondern auch ihrer Mutter bzw. ihren Erzieherinnen zuordnen. Die Zuordnung ist nicht in allen Fällen genauer möglich, doch bereits das Vorhandensein der Verbesserungen lässt vermuten, dass die Tagebucheinträge nicht nur dem Festhalten von Erlebten dienten, sondern auch zur Schreibübung verfasst wurden. Diese Annahme wird ebenso durch die Form des Tagebuchs befördert. Stella schrieb ihre Eintragungen auf linierten Bogen in ein Schulheft, dem »Sprachheft Nr. 9 für die Volks- oder Bürgerschulklasse«5. Sie schrieb in dieses Heft sehr säuberlich – die Großbuchstaben über die volle Höhe der vorgegebenen Linien, die Kleinbuchstaben zwischen die eigens dafür vorgesehenen Zeilen. Die Hinweise zusammen – die Korrekturen, das genutzte Format eines Schulheftes und auch die bemühte Schönschrift – deuten sehr deutlich darauf hin, dass das Tagebuch zu dieser Zeit von verschiedenen Personen eingesehen wurde und damit war es – anders als man vielleicht erwarten würde – kein individualer und privater Raum für Stella. Im Gegenteil ist das Tagebuch-Heft sowohl als ein zwischen Personen geteiltes Medium wie auch als pädagogisches Mittel zu verstehen. Das ist bis ins frühe 20. Jahrhundert typisch für private resp. persönliche Kinder- und Jugendtagebücher,6 bevor diese – auch im Kontext der Entstehung von Jugend als eigene gesellschaftliche Sphäre – zur Privatsache und zum Geheimnisträger erklärt wurden.7 Davor entstanden Aufzeichnungen im Tagebuch, gerade in jungen Jahren der Heranwachsenden, oft unter Aufsicht und in dieser Weise mit erzieherischem Zweck. Pädagogische Ziele, die Erziehende verfolgten, wenn sie Kinder und Jugendliche zum Schreiben anhielten – so arbeitet u. a. Angelika Linke heraus – waren z. B. das Vermitteln von (bürgerlicher) Standeskultur und sittlich-religiöse Charakterbildung.8 Die Idee war, dass das Schreiben über sich selbst den Heranwachsenden Gewissensprüfung und Selbstverbesserung ermöglichte. Durch Gewöhnung und Übung sollte in dieser Weise die als notwendig erachtete Arbeit am Selbst erfolgen. Auf das pädagogische Potential des Mediums reflektiert Stella im Alter von 17 Jahren selbst: »Das

5 AdJb, N 151 Nr. 363, Umschlag. 6 Siegfried Bernfeld: Trieb und Tradition im Jugendalter. Kulturpsychologische Studien an Tagebüchern, Werke 7, hg. und mit einem Nachwort versehen von Ulrich Herrmann, Leipzig 1924, ND Gießen 2015, S. 137–152. 7 Gerhalter: Tagebücher (Anm. 3), S. 391ff. 8 Angelika Linke: Sprache, Gefühl und Bürgertum im 19. Jahrhundert. Zur Rolle der Sprache im Spannungsfeld von individuellem Erleben und überindividueller Gefühlsprogrammatik einer Sozialformation, in: Volker Hertel, Gotthard Lerchner (Hg.): Sprache und Kommunikation im Kulturkontext. Beiträge zum Ehrenkolloquium aus Anlass des 60. Geburtstages von Gotthard Lerchner (Leipziger Arbeiten zur Sprach- und Kommunikationsgeschichte 4), Bern 1996, S. 85–103, hier S. 93.

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Tagebuch«, so schreibt sie in ein späteres Heft im Jahr 1899, »ist dazu da, den Menschen erziehen zu helfen.«9 Stella schrieb fast ihr ganzes Leben lang, im Archiv der deutschen Jugendbewegung lassen sich ca. 15 Tagebücher von ihr finden. Die ersten tagebuchähnlichen Aufzeichnungen stammen bereits aus dem Jahr 1892, diese sind in einem »Heft für Allerlei«,10 da ist sie 10 Jahre alt. Die letzten Tagebucheinträge, die im Archiv vorliegen, sind aus dem Jahr 1965, da war sie bereits 83-jährig. Über die Jahre verändert sich das Schreiben von Stella – die Korrekturen schwinden früh, die Formen, Inhalte und auch die Schrift sowie die Funktionen des Schreibens wandeln. In ihrer Kindheit und frühen Jugend herrscht vor allem ein protokollarischer resp. berichtender Schreibstil vor, der sich gemeinhin auf den Nachvollzug des Alltäglichen konzentriert. Ulrike Gleixner zeigt u. a. mittels pietistischer Tagebuchschriften auf, dass dies zumindest bis ins späte 19. Jahrhundert als typisch für das angeleitete Tagebuchschreiben von Heranwachsenden anzusehen ist.11 In dieser Weise füllen sich die Seiten der 11-jährigen Stella mit Besonderem und Alltäglichem, exemplarisch sei hier der Eintrag vom 05. 10. 1893 nacherzählt: Sie wachte auf, als der Morgen graute. Nach dem Frühstück räumte sie ihr Zimmer auf. Zwischen den Lernstunden gab es ein »Butterbrod mit Honig« und nach dem Mittagessen gingen sie zum Drachensteigen zum »Herrn v. Lorenz«. Da es jedoch keinen Wind gab, war nur ein Spaziergang möglich. Nach der Milch zu Mittag fertigte sie »künstliche Blumen« und am Abend las sie – wahrscheinlich mit der Mutter – französisch und danach, so Stella in ihren eigenen Worten, »nachtmahlten wir u. legten uns«.12

Zur Sammlung von Kinder- und Jugendtagebüchern im Archiv der deutschen Jugendbewegung Stellas erstes Tagebuch gibt nur ein Beispiel für die vielen unterschiedlichen Tagebücher im Archiv, ein Beispiel sowohl für kindliches Schreiben als auch für (bildungs-)historische Forschungen an Kinder- und Jugendtagebüchern. Zur Frage kann stehen, welche Subjektivierungsweisen Tagebücher evozieren.13 Für

9 AdJb, N 151 Nr. 420, S. 14. Eintrag vom 11. 03. 1899. 10 AdJb, N 151 Nr. 466. 11 Ulrike Gleixner: Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit. Württemberg 17.–19. Jahrhundert (Bürgertum Neue Folge. Studien zur Zivilgesellschaft 2), Göttingen 2005, S. 138. 12 AdJb, N 151 Nr. 363, Eintrag vom 05. 10. 1893. 13 Meike Sophia Baader: Kinder als Akteure oder: Wie ist das Kind als Subjekt zu denken? Historische Kontexte, relationale Verhältnisse, pädagogische Traditionen, neue Perspektiven,

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mein Habilitationsprojekt, das sich grundlagensystematisch mit historischen Kinder- und Jugendtagebüchern aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert beschäftigt, habe ich im Archiv der deutschen Jugendbewegung nach eben solchen Tagebüchern recherchiert. Während die Tagebücher von Stella einen ersten Einblick gewährten, möchte ich nun die gesammelten Eindrücke und Ergebnisse meiner Recherche übergreifend formulieren, u. a. mit dem Ziel einen Teil des Tagebuchbestands des Archivs näher vorzustellen. Zunächst lässt sich sagen, dass sich – meinen bisherigen Rechercheerfahrungen nach – verhältnismäßig viele Tagebuchschriften von Kindern und Jugendlichen im Archiv auffinden lassen. Bislang habe ich ca. 50 recherchieren können. Viele von diesen wurden aufwendig digitalisiert, sie sind deshalb auch über die Online-Recherche im Katalog von Arcinsys Hessen einzusehen. Dies erleichtert und verbessert ihre Beforschung erheblich, wenn es auch die analytische Arbeit an den Tagebüchern im Archiv selbst nicht ersetzt.14 In Bezug auf die aufgefundenen Tagebuchschriften ist festzustellen, dass diese in sehr unterschiedlichen Formaten verfasst sind und höchst unterschiedliche Schreibaktivitäten aufweisen, sowohl was die Häufigkeit der Einträge als auch deren Umfang und Dauer angeht. Die Tagebuch-Formate sind grundsätzlich in zwei größere Gruppen zu unterscheiden. Zum einen liegen im Burgarchiv Einzeltagebücher, also persönliche Tagebücher, wie z. B. die von Stella Diefenbach. Diese sind in der Regel konkreten Personen zuzuordnen bzw. deren Einträge beziehen sich auf private Lebensvorgänge aus einer individuellen Perspektive. Sie sind mehrheitlich in Ich-Form verfasst. Davon sind zum anderen die Gruppentagebücher zu trennen.15 Jene sind zwar manches Mal auch auf einzelne Personen zurückzuführen, z. B. weil eine Person das Tagebuch durchgängig führt, allerdings beziehen sich die Inhalte des Schreibens zumeist auf Gruppenaktivitäten. Diese Tagebücher sind oft in Wir-Form geführt und nicht selten gibt es auch mehrere Schreibende. Das heißt, die Einträge der Gruppentagebücher haben entweder Gemeinschaftsbezug oder sie wurden gemeinschaftlich gestaltet. Nicht wenige der Einzeltagebücher im Burgarchiv stammen von Personen, die zu ihren Lebzeiten größere Bekanntheit erlangten. Dies ist auch als ein entscheidender Grund für die Aufbewahrung und Tradierung ihrer persönlichen Gegenstände in: Bianca Bloch, Peter Cloos, Sandra Koch, Marc Schulz, Wilfried Schmidt (Hg.): Kinder und Kindheiten. Frühpädagogische Perspektiven, Weinheim u. a. 2018, S. 22–39. 14 Wichtig bleibt die Archivarbeit aus verschiedenen, je nach Forschungsprojekt höchst unterschiedlichen Gründen. Für mich war bedeutsam, dass sich nur vor Ort die Materialität der Objekte erkunden lässt. Dies gilt sowohl für beigelegte oder eingeklebte Materialien wie auch für das Tagebuch selbst. Zum Beispiel ist für die Analyse aufschlussreich, ob sich das Tagebuch verschließen ließ oder ob leere oder herausgerissene Seiten aufzufinden sind, die in der Regel nicht mit digitalisiert werden. Viele Archivalien wie auch die Archivordnung selbst, lassen sich zudem besser durch das Gespräch mit den Mitarbeitenden vor Ort erschließen. 15 Im Archiv liegen ca. 750 Gruppenbücher, nur ein Teil dieser wurden tagebuchähnlich geführt.

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anzusehen und damit für den Erhalt der Tagebücher. Als Beispiel hierfür können etwa die Aufzeichnungen von Walter H. Schottky (1886–1976) dienen, ein Physiker und Elektrotechniker. Von ihm liegt das Transkript eines Jugendtagebuchs im Archiv, dass er ab dem Alter von 14 Jahren führte.16 Auch ein Tagebuch von Walter Fränzel (1889–1968) lässt sich vorweisen, er begann es im Alter von 19 Jahren.17 Fränzel war Philologe, ein Vertreter der Lebensreform-Bewegung, daneben Schulgründer und Autor. Gerade in den Nachlasskonvoluten öffentlich bekannterer Menschen, die das Jugendarchiv aufbewahrt, lassen sich weitere Kinder- und Jugendtagebuchschriften finden. Auch hier gibt Stella ein erstes Beispiel, ein weiteres wäre das Tagebuch von Drude Höppener (1900–1918),18 Tochter von Hugo R. K. J. Höppener, gen. Fidus (1868–1948), der ebenfalls Vertreter der Lebensreformbewegung war und außerdem Bekanntheit als Maler und Illustrator erlangte. Drudes erhaltene Aufzeichnungen beginnen 1912, da war sie 12 Jahre alt. Während sich persönliche Tagebücher auch in anderen Archiven finden lassen, stellt die hohe Anzahl der Gruppentagebücher im Burgarchiv sicherlich eine Besonderheit dar. Dieser Umstand lässt sich auf die Fokussierung des Archivs auf die Sammlung von Zeugnissen zur deutschen Jugendbewegung zurückführen. Deren Praxen bezogen sich vielfach auf gemeinschaftliches Handeln, wie u. a. Susanne Rappe-Weber am Leben der Ortsgruppen der Wandervogel-Jugendbünde anhand verschiedener Gruppenbücher zeigen kann.19 Nach meiner Durchsicht einiger weiterer Gruppenbücher, die sich von mir als Kinder- und Jugendtagebücher einordnen ließen, lässt sich sagen, dass diese weiter nach Funktion untergliedert werden können. Dabei folge ich in Teilen der Einteilung Rappe-Webers: Da wären z. B. die sogenannten Nestbücher,20 wie z. B. das Nestbuch der Ortsgruppe Cöthen im Wandervogel e.V., Gau Thüringen, das sehr ausführlich zwischen 1909 und 1919 geführt wurde. Nach Rappe-Weber lagen Nestbücher üblicherweise an einen Ort aus, im sog. »Nest«, also z. B. dem Haus der Wandervogel-Gruppe. Sie wurden dort über die Zeit von mehreren Schreibenden verfasst – die tagebuch- oder chronikähnlich verschiedene Aktivitäten der Gruppen und anderes festhielten.21 Davon zu trennen sind die Wander- und Fahrtenbücher, von den Schreibenden auch manchmal »Tippelbücher« ge-

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AdJb, N 30 Nr. 22. AdJb, N 230 Nr. 545. AdJb, N 38 Nr. 624. Susanne Rappe-Weber: Freundschaft und Exklusion. Zur Bedeutung des gemeinsamen Lesens im Spiegel der ›Gruppenbücher‹ von ›Wandervogel‹ und bündischer Jugend, in: Wolfgang Braungart (Hg.): Stefan George und die Jugendbewegung, Stuttgart 2016, S. 111–123. 20 Vgl. ebd., S. 112f. 21 AdJb, CH 1 Nr. 724.

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nannt.22 Als solches Fahrten- oder Wanderbuch lässt sich z. B. das »Tagebuch einer Schwedenfahrt« aus dem Jahr 1911 exemplarisch nennen, das Anni Leder, ebenfalls zum Wandervogel gehörig, geführt hat.23 Zu nennen wäre auch das Tagebuch von Hanns Dralle, das dieser zwischen 1914 und 1915 schrieb.24 Als er begann, war er 15 Jahre alt. Gelegentlich, zumindest anfänglich, finden sich auch im Tagebuch von Hanns Dralle Beiträge von anderen Schreibenden. Und während es zu Beginn viele Berichte von Hanns über die Schule, die Ferien und die Wanderfahrten gab, wandelte sich das Tagebuch später zu seinem Kriegstagebuch. Damit wird das Tagebuch, dann zu einem persönlichen Tagebuch. Ein solcher Funktionswechsel beim Schreiben ist nicht ungewöhnlich. Daneben gibt es Gruppenbücher, die stärker als Chronikbücher angelegt sind, wie z. B. das Tagebuch der Wandervogel-Hundertschaft der Provenienz Franz H. Bock, das zwischen den Jahren 1919 und 1920 geführt wurde.25 Auch gruppenbezogene Mischformen zwischen Einzel- und Gruppentagebuch lassen sich auffinden. Die eben genannten Tagebücher von Anni Leder und Hanns Dralle können bereits als solche gelten. In dieser Hinsicht interessant sind auch die industriell gefertigten Wandervogeltagebücher – ihre Titel lauteten z. B. »Wandervogels Tagebuch«, »Der Gefährte« oder später dann »Der neue Gefährte«. Diese Bücher sind bereits vorgedruckt und kalendarisch normiert, sie wurden u. a. vom »Verband deutscher Wandervögel« jährlich herausgegeben. Neben vorgegebenen Abschnitten, die direkt für den Gebrauch als Tagebuch vorgesehen waren, enthalten die Bücher u. a. Drucke, Gedichte und Sinnsprüche, wie auch Gedanken der Herausgebenden zur gesellschaftlichen Lage und zur Bewegung der Wandervögel. »Das Büchlein«, so heißt es beispielsweise 1915 im Vorwort des Buches, »soll euer Gefährte sein«, denn »die Eindrücke sind gewaltig«, und »wohl wert, daß man sie aufzeichne«.26 Diese Jahres-Tagebücher, von denen etliche im Archiv liegen,27 waren sehr unterschiedlich im Gebrauch. Einige sind nur spärlich, andere sehr dicht beschrieben. Viele werden von Einzelpersonen geführt, die teilweise die Ich- und teilweise die Wir-Form nutzten. Die Themen waren stark auf Wandervogelthemen konzentriert und die Schreibenden, üblicherweise Menschen zwischen 15

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Ebd. AdJb, CH1. Nr. 313. AdJb, A 238 Nr. 35, 1 und 2. AdJb, CH 1 Nr. 643. AdJb, A 238 Nr. 37. Vgl. z. B. AdJb, CH 1 Nr. 193, AdJb, CH 1 Nr. 193, AdJb, CH 1, 66; AdJb, A 238 Nr. 42, AdJb, CH 1 Nr. 553; AdJb, CH 1 Nr. 505, AdJb. CH 1 Nr. 458, AdJb, A 238 Nr. 48, AdJb, CH 1 Nr. 287, AdJb, CH1 Nr. 598, AdJb, CH1 Nr. 32, AdJb, CH 1 Nr. 193, AdJb, CH 1 Nr. 154, AdJb, A 238 Nr. 40, AdJb, CH 1 Nr. 410, AdJb, A 238 Nr. 39, AdJb, CH 1 Nr. 154, AdJb, CH 1 Nr. 193, AdJb, CH 1 Nr. 458, AdJb, CH 1 Nr. 505.

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und 20 Jahren, entstammten mehrheitlich bürgerlicher Herkunft.28 Auch einige dieser Tagebücher wurden von mehreren Personen gestaltet, dies in Teilen sehr aufwändig und weit über schriftsprachliche Einträge hinaus. So findet sich Gezeichnetes und Gemaltes, (Ein-)Geklebtes und Gebasteltes in den Tagebüchern, weshalb sie nicht nur Potential zu schriftsprachlicher Analyse bieten. Diese Art der Multimedialität, die sich mit Textlichkeit verschränkt, gilt zwar für alle Kinder- und Jugendtagebücher, jedoch in besonderem Maße für die Gruppenbücher. Ein Beispiel hierfür bietet das Tagebuch von Gesa Rautenberg.29 Sie war Mitglied der »Mädelsgruppe Bergedorf«, die zum Jungnationalen Bund gehörte. Das Tagebuch war wahrscheinlich in Gesas Besitz, das lassen zumindest die ersten Eintragungen vermuten, aber auch andere Mädchen der Gruppe gestalteten es mit. Es wurde über die Jahre 1931 und 1932 geführt und enthält viele aufwändige Zeichnungen. Ein weiteres Beispiel in Bezug auf die Gestaltung von Tagebüchern ist das Tagebuch von Hildegard Enge, die in Berlin wohnte. Ihre Aufzeichnungen stammen aus den Jahren 1923/24. Im Tagebuch erhalten sind auch eingeklebte Fotografien, getrocknete Blumen, abgeschriebene Gedanken und Zitate.30 Ein in materialer Hinsicht sehr besonderes, in Teilen kreativ angelegtes Gruppentagebuch, das sogar räumlich angelegte Bastelleien enthält, ist das Tagebuch einer Klasse der Jugendmusikschule in Berlin, dass mit »Unser Tagebuch« betitelt wurde.31 In diesem baumelt zum Beispiel an einem Faden ein roter gebastelter Mund an einem Musikstück, das thematisch von einem Mund handelt. Eine letzte Gruppe von Tagebüchern soll hier gesondert Erwähnung finden, und zwar Kriegstagebücher. Manchmal werden Tagebücher zu Kriegstagebüchern, wie z. B. im Fall von Hanns Dralle. Allerdings fangen Menschen auch anlässlich von Krieg und Kriegseinsätzen an Tagebuch zu führen. Auch das ist nicht ungewöhnlich, gerade zum Ersten Weltkrieg popularisierte sich die Praxis des Tagebuchschreibens.32 Der 19-jährige Georg Götsch (1895–1965), später Musikpädagoge, wäre hier ein Beispiel aus dem Burgarchiv – er schrieb u. a. in ein kleines schwarzes Notizheft während seiner Kriegseinsätze in Belgien, Frankreich und Russland.33

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Vgl. z. B. AdJb, CH 1 Nr. 66; AdJb, N 151 Nr. 51. AdJb, N 179 Nr. 6. AdJb, CH 1 Nr. 244. AdJb, A 228 Nr. 943. Janosch Steuwer, Rüdiger Graf: Selbstkonstitution und Welterzeugung in Tagebüchern des 20. Jahrhunderts, in: dies. (Hg.): Selbstreflexionen und Weltdeutungen. Tagebücher in der Geschichte und der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2015, S. 7–36. 33 AdJb, N 62 Nr. 69. Von ihm liegt ein weiteres Tagebuch vor.

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Sylvia Wehren

Zum Abschluss: Ergebnisse und Reflexionen Soweit ein erster Einblick in den Archivbestand des Archivs der deutschen Jugendbewegung zu Kinder- und Jugendtagebüchern. Die Recherche darin erweiterte meinen bislang gesammelten Korpus in größerem Umfang, gerade bzgl. der Gruppentagebücher. Die gefundenen Tagebücher festigten dabei einige meiner Grundannahmen, allerdings gewann ich auch neue Erkenntnisse. Zum Beispiel wurde mir deutlich, dass die Tagebücher eingebunden sind in umfänglichere Schriftkultur, Malte Lorenzen hat hierzu intensiver gearbeitet.34 Auch war mir zwar bekannt, dass sich seit dem 18. Jahrhundert ein größerer literarischer Markt um Tagebücher entwickelt hatte, der später auch industriell gefertigte Tagebücher hervorbrachte und der sich ebenso an Erwachsene wie auch an Kinder und Jugendliche richtete; welche vielfältigen Formen jedoch dieser in Bezug auf die Jugendbewegung hervorbrachte, war mir neu. Dabei war deutlich festzustellen, dass die Tagebücher, die im Kontext von jugendbewegten Praxen entstanden, sich nicht so stark auf Familie, sondern eher auf Peergroups bezogen, was Inhalt und Funktion des Tagebuchschreibens deutlich beeinflusste. Nicht überraschend, aber doch interessant war zudem die starke politische Aufladung der Inhalte der Tagebücher im Kontext der Jugendbewegung. Zudem lässt sich sagen, dass jugendbewegtes Leben Tagebücher hervorbringt, die stark auf die Historisierung der eigenen Bewegung gerichtet sind und nicht so sehr die Arbeit am Selbst vollziehen, bzw. Tagebücher, die nicht dem Topos der Selbstbezüglichkeit folgen, sondern eher die Arbeit am Wir gestalten. Dies führt mich zu der These, die sicherlich genauer ausgearbeitet werden muss, dass die vielfältigen Formen der Jugendbewegung die Herausbildung des Tagebuchs als privates Medium für Kinder- und Jugendliche beförderte.

34 Malte Lorenzen: Zwischen Wandern und Lesen: eine rezeptionshistorische Untersuchung des Literaturkonzepts der bürgerlichen deutschen Jugendbewegung 1896–1923 (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Schriften 19), Göttingen 2016.

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»Singewettstreite« im Bild – Abbildungen einer kontinuierlichen Praxis

Bündisches Zusammensein bedeutet immer auch Singen. Diese Tatsache ist bislang in der Forschung wenig beachtet worden, obwohl sich musikbezogene Quellen in großer Menge auch im Archiv der deutschen Jugendbewegung finden – nicht zuletzt in den Beständen des »Archivs der Jugendmusikbewegung« (A228) und in der Dokumentation der »Hamburger Singewettstreite« (A 240). Wir möchten durch unterschiedliche Betrachtungsweisen der Geschichts- und Musikwissenschaft die zeitlichen Kontinuitäten des »Damals« und »Heute« jugendbewegter Praktiken im Bereich Musik und Singen anhand zweier Beispiele aus dem Archivbestand darstellen.1 Im Widerspruch zu dem hohen Stellenwert, den das Singen in der Bündischen Jugend auch nach 1945 bis heute einnimmt, gibt es vergleichsweise wenige Dokumentationen tatsächlicher Singegelegenheiten. Eine Ausnahme bildet jedoch damals wie heute die Praxis der »Singewettstreite«, da hier das normalerweise partizipatorische und interne bündische Singen als performative, externe Darbietung erfolgt, die auf verschiedene Weise dokumentiert werden kann, etwa in Form von Bildern, Fotos, Programmen, Berichten und Tonaufnahmen. In unserem als Double-Feature konzipierten Projekt haben wir uns daher mit bildlichen Repräsentationen zweier Singewettstreite in Vergangenheit und Gegenwart beschäftigt und gefragt, welche Motive dieser spezifisch jugendbewegten Praxis musikalischer Konkurrenz darin erkennbar werden.

1 Dieser Artikel bezieht sich auf die Abbildungen unserer als Double-Feature angelegten Posterpräsentation zum Thema Singewettstreite »Eine ›invented tradition‹ damals/heute«, vgl. den Beitrag in diesem Band von Sandra Funck und Michael Kubacki: Woran forscht die junge Wissenschaft zur Jugendbewegung?.

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Das Wettstreiten in der (bündischen) Musik Singwettstreit, Singstreit, Sängerkrieg – eine Vielzahl an Begriffen für ein immer ähnliches Phänomen, sind doch die Assoziationen geprägt von Bildern der Legende um den Sängerkrieg auf der Wartburg, den dortigen Fresken und Richard Wagners Oper »Tannhäuser«. Auch Singewettstreite, wie wir sie hier besprechen möchten, lassen sich als Teil jener invented tradition begreifen, welche auf diese sich im 19. Jahrhundert verfestigende Legendenbildung zurückgeht.2 Derzeit existieren heute etwa zehn große, überbündische Singewettstreite in Deutschland, wie etwa das »Beräunertreffen« auf Burg Ludwigstein, sowie viele kleinere, gruppeninterne Singewettstreite und -Singetreffen mit und ohne Jurybewertung, wie beispielsweise auf Burg Trifels. Relevant ist diese bündische Praxis nicht zuletzt durch den Vorstoß zu einer Bewerbung für den ECHO Klassik Preis 2010 und 2011 durch den Hamburger Singewettstreit. Was hat es mit dem Wettstreiten und der Konkurrenz auf sich?3 Der Historiker Ralph Jessen konstatiert in dem von ihm herausgegebenen, interdisziplinär angelegten Band »Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierung« (2014), dass »Konkurrenz« sowie »Wettbewerb« in der Wissenschaft lange Zeit allein von der Ökonomie betrachtet worden seien. Erste Erweiterungsversuche durch die Soziologie in den 1920er Jahren seien schnell wieder ad acta gelegt worden, die Integration in die Politikwissenschaft sei eher marginal (z. B. bei der These einer »Konkurrenzdemokratie«) und genauso sei in der Geschichtswissenschaft nur selten konkret mit dem Begriff der Konkurrenz gearbeitet worden. Jessen sieht in der interdisziplinären Betrachtung historisch und kulturell verschiedener Konkurrenzphänomene einen Gewinn für die historische Forschung.4 Der im selben Band enthaltene Beitrag des Ethnologen Markus Tauschek lenkt den Blick auf die Netzwerke und die Akteur*innen, ihre Werte und Handlungen, die neben den großen soziologischen Fragen nach Strukturen und Gesetzmäßigkeiten und den Beschränkungen der Ökonomie auf Modelle und Normen bislang zu wenig in den Blick genommen worden seien. So proklamiert er: »Den monolithischen Ergebnissen von Wettbewerben, die trennscharf zwischen Gewinnern und Verlierern zu unterscheiden glauben, steht ein höchst dynamisches, von Machtverhältnissen durchdrungenes soziales Feld gegenüber.«5 Wir können also davon ausgehen, dass soziale Beziehungsgeflechte 2 Zum Konzept der invented tradition siehe Eric Hobsbawm, Terence Ranger (Hg.): The Invention of Tradition, Cambridge 1983. 3 Auf die semantische Einordnung und die Begriffsgeschichte soll an dieser Stelle verzichtet werden; vgl. beispielhaft auf Ralph Jessen (Hg.): Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionen, Frankfurt a. M. 2014. 4 Vgl. ders.: Konkurrenz in der Geschichte – Einleitung, in: ebd., S. 7–32. 5 Markus Tauschek: Konkurrenz. Ein Handlungsmodell, in: ebd., S. 95–118, hier S. 96.

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genauso wie gesellschaftliche und kulturelle Wertvorstellungen einen Wettbewerb genauso beeinflussen wie vermeintlich objektive Kriterien – gerade dieser Umstand macht Wettbewerbe zu einem interessanten Untersuchungsgegenstand. Sie zeigen auf, welche formalen Kriterien an Leistungen angelegt wurden, aber auch wie darüber z. B. in der Presse gesprochen wurde und welche informellen Werte und Regeln auf das Wettbewerbsgeschehen wirkten – Erkenntnisse über die jeweilige Gesellschaft, ihre Werte und Normen also. Erst jüngst beschäftigten sich der Musikwissenschaftler Christoph MüllerOberhäuser und der Soziologe Tobias Werron mit Konkurrenz im musikalischen Bereich. Sie unterscheiden den »Wettbewerb« von der »Konkurrenz« (nach Georg Simmel) durch 1. eine zeitliche Begrenzung, 2. ein Mindestmaß an Öffentlichkeit/Publikum und 3. Regelungen in Form von Teilnahmebedingungen und Bewertungskriterien. Außerdem sei Wettbewerb im Gegensatz zur Rivalität ein Wetteifern um ein rares Gut (Preisgeld, Aufmerksamkeit u. ä.). Ihr Augenmerk liegt dabei auf hochkulturellen Wettbewerben, doch beziehen sie auch popkulturelle Wettbewerbe ein. Deutlich benennen sie Unterschiede in nationaler und regionaler Vergleichsperspektive wie auch zwischen Wettbewerben arrivierter Musiker*innen gegenüber Laien- und Nachwuchsmusiker*innen, als welche die von uns untersuchten Singewettstreite gelten können.6

Visual History und Musikikonographie – Bildquellen in Geschichtsund Musikwissenschaft Auf den ausgewählten Bildern ist jeweils ein Singewettstreit als typisch jugendbewegte Praxis zu sehen. Zur Untersuchung der dahinterstehenden Motive »damals« und »heute« und eventueller Kontinuitäten haben wir zwei unterschiedliche methodische Zugänge kombiniert. Visual History ist ein methodischer Ansatz in der Geschichtswissenschaft, der es erlaubt, neben den üblicheren und in größerem Anteil vorhandenen schriftlichen Quellen auch bildliche Quellen in die Rekonstruktion von Geschichte mit einzubeziehen. Für die Phänomene der Jugendbewegung wurde dieser Ansatz bereits 2015 anlässlich der Archivtagung »Jugend im Fokus von Film und Fotografie« in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Bildquellen enthalten wichtige Informationen und dienen nicht allein der Bebilderung – sie sind als alleinstehende Quelle mit ihrem eigenen Quellenwert zu betrachten.7 Die entsprechende Quellenkritik gebietet es, 6 Vgl. Christoph Müller-Oberhäuser, Tobias Werron: Interdisziplinäre Perspektiven einer Erforschung musikbezogener Konkurrenz, in: Die Tonkunst, 2021, 15. Jg., Nr. 3, S. 248–260. 7 Vgl. Sabiene Autsch: Visual History und Jugendbewegung. Re-Lektüren, methodische Überlegungen und Perspektiven fotografischer Inszenierung, in: Jugend im Fokus von Film und

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sowohl das zu untersuchen, was zu sehen ist, als auch das, was die Entstehungszusammenhänge über das Bild aussagen: Autorenschaft, (Selbst)Inszenierung, Fototechnik und weiteres. Für die Untersuchung von Abbildungen musikalischer Sujets wie einem Singewettstreit bietet sich zudem ein musikikonographischer Zugang an. Mit diesem zweiten methodischen Ansatz wird die zweidimensionale Abbildung um eine »dritte Dimension« erweitert, indem Zusatzinformationen, etwa über Instrumente und Repertoire sowie konkrete Klangbeispiele in die Untersuchung miteinfließen, so »dass man über alle relevanten Details, die man nicht deutlich genug abbilden kann, genau informiert wird«.8 Dieser musikikonographische Ansatz ermöglicht zudem zusätzlich Erkenntnisse über den Werkaspekt (was wird gesungen?) und den Handlungsaspekt (wie wird gesungen?) der dargestellten Singsituation, indem Programme, Noten, Kritiken und Tonaufnahmen mit der Abbildung in Verbindung gebracht werden können.

Der deutsch-böhmische Wandervogel und das »Singen & Streiten« »Ist ein Wunder geschehen? Sind Jahrhunderte wiedererstanden? Das junge Volk spielt auf der grünen Waldwiese wie in alten Zeiten, scharenweise stehen die Leute umher und lauschen. Was edle Menschen erträumt und ersehnt, ist Wahrheit geworden: ein Sängerkrieg, ein rechter Sängerwettstreit wie in der Tannhäusersage!«9

Das Gemälde »Sangeswettstreit bei einem Gautreffen des Böhmischen Wandervogels« von Hermann Heide (AdJb, K 1 Nr. 10) hat einen durchgehenden Riss/ Bruch in der Mitte und sieht auch sonst nicht gut erhalten aus. Besonders auffällig sind die nicht fertiggestellten Ränder links unten, rechts und rechts oben. Da eine Absicht darin nicht erkannt werden kann, ist zu vermuten, dass der Maler das Bild schlicht nicht fertigstellte. Zu sehen sind viele Personen, die im Kreis stehend, liegend oder sitzend auf einer Wiese vor einem Laubwald versammelt sind. Am Flusslauf in der linken oberen Ecke steht eine Art Zypresse, und ein Weg ist zu erahnen. Eine Gruppe in der Bildmitte rechts steht und scheint eine musikalische Darbietung vorzutragen, einige halten Instrumente in Händen – Geigen und ein lautenähnliches Zupfinstrument sind zu erkennen. Der Maler Hermann Heide (1891–1979) stammte aus Brotzen nördlich von Prag, und war ab 1914 in der akademischen Freischar in Prag aktiv, ab 1917 im Fotografie. Zur visuellen Geschichte von Jugendkulturen im 20. Jahrhundert (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 11|2015), Göttingen 2016, S. 315–338. 8 Konrad Küster: Studium Musikwissenschaft, München 1996, S. 84. 9 Dr. Jul[ius] Janiczek, später Walther Hensel: Zum Sängerkrieg in Hammer am See, in: Burschen heraus, Fahrtenblatt der Deutschböhmen im Österreichischen Wandervogels, 1915/16, 4. Jg., H. 10, S. 17–18, hier S. 17 (AdJb, Z/100-1221).

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österreichischen Wandervogel Gau Böhmen und ab 1918 in der Böhmerland Gemeinschaft. Er arbeitete zeitlebens als freischaffender Künstler.10 Über diese Organisationen lässt sich sein Netzwerk rekonstruieren. Eine zentrale Figur in der Böhmerlandbewegung war Walther Hense (Geburtsname: Julius Janiczek, 1887–1956) aus Mährisch-Trübau östlich von Prag, der ab 1923 die Finkensteiner Singbewegung initiierte. Als studierter Germanist und Volksliedforscher engagierte er sich für den Erhalt beziehungsweise die Wiederbelebung der deutschen Volksmusik. Auch er war im Böhmischen Wandervogel aktiv. Bekanntheit erlangte er jedoch durch Zeitschriften wie die »Singgemeinde« im Bärenreiter Verlag und weitere Schriften wie »Lied und Volk. Streitschrift wider das falsche deutsche Lied«, erschienen 1923 im Böhmerland-Verlag in Eger. Dieser Umstand verweist auf eine dritte Person: den Verleger und Gymnasiallehrer Johannes Stauda (1887–1972) aus Eger, der den Böhmerland-Verlag gründete und später unter dem Namen Johannes Stauda Verlag in Augsburg weiterführte und 1954 im Bärenreiter Verlag aufging. Er war Mitbegründer der ersten Prager Wandervogelgruppe 1911 sowie Mitbegründer des Böhmerlandbundes 191911. Was alle drei Männer verband, war die zeitweise Zugehörigkeit zum Wandervogel Gau Böhmen. Dieser Spur folgend, lohnt ein Blick in die Verbandszeitschrift des böhmischen Wandervogels »Burschen heraus. Fahrtenblatt der Deutschböhmen im Österreichischen Wandervogels«. Darin findet sich unter dem Titel »Unser Gautag« in Heft 10 des 4. Jahrgangs (1915/1916) ein Bericht zum Gautag zu Pfingsten 1916, auf dem ein Wettstreit der Sänger*innen stattfand. Walther Hensel (1887–1956) berichtete darin über den Wettstreit und hielt seine Bewertung der einzelnen Beiträge für die Nachwelt fest. Einige seiner Wertungskriterien lassen sich aus seinem Bericht herauslesen, wie Authentizität des Volksliedes, auswendiger Vortrag, Zwei- oder Mehrstimmigkeit, gute Instrumentalbegleitung (Fidel statt Mandoline), Qualität des sängerischen und instrumentalen Vortrags.12 Auch bei späteren Pfingst-Gautagen der Deutschböhmen im österreichischen Wandervogel gab es Wettstreite mit Gewinnergruppen, wie die Notiz zum ersten Lied im »Gudrun-Liederbuch« von 1920 belegt: »Mit diesem Lied [Es wollt ein Mägdlein wohl früh aufstehen, F. M.] erhielt die Ortsgruppe ›Gudrun‹ beim Preissingen auf dem Gautag zu Waltsch im Egerland Pfingsten 1919 den ersten Preis.«13 10 Vgl. Fragebogen von Hermann Heide für Hinrich Jantzens »Namen und Werke«; AdJb, N 216 Nr. 54. 11 Vgl. Peter Becher: »Stauda, Johannes«, in: Neue Deutsche Biographie, 2013, Bd. 25, S. 79–80 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd117220825.html#ndbconte nt [14. 10. 2021]. 12 Vgl. Walther Hensel: Unser Gautag, in: Burschen (Anm. 8), S. 113–118. 13 Walther Hensel (Hg.): Gudrun Liederbuch, Eger 1920, S. 5 (AdJb, B/934-122).

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Erneut lässt sich die Verbindung der drei Männer eindeutig belegen. Dieses »Gudrun-Liederbuch« erschien im Böhmerland Verlag Johannes Staudas, den Umschlag gestaltete Hermann Heide und Walther Hensel gab es heraus. In dieser Konstellation erschien 1919 das erste Liederbuch im Böhmerland Verlag »Der Prager Spielmann«. Vermutlich entstanden die Idee und erste Skizzen zu diesem Buch bei einem Besuch der Eheleute Hensel bei Hermann Heide. Der »Prager Spielmann« ist Walther Hensels Frau Olga – »Der Henselin« – gewidmet. Das Vorwort ist künstlerisch-assoziativ formuliert, hat jedoch einen eindeutig politischen Einschlag, wenn Hensel über den Prager Spielmann schreibt, dass dieser von denen, die ihn einst holten, die Tür gewiesen bekäme. Und auch in seiner Heimat sei er als Fremder verfemt. Doch durch die Volksliedtradition und die Lieder, die er in der Fremde bewahrt hätte, sei er wertvolles Mitglied der Volksgemeinschaft. Hensel beschreibt seine Sicht auf die Situation der böhmischen und mährischen Deutschen in der 1918 gegründeten Tschechoslowakei. Diese drei Männer, 1920 alle um die 30 Jahre alt, teilten also dieselbe Vision eines Erstarkens des deutschen Volkstums im Sudetenland, der deutschen Volksbildung und -kultur14 und verhalfen ihr zu öffentlicher Geltung, jeder auf seine Weise: Hensel als pädagogischer und ideeller Führer der Jugendmusikbewegung, Stauda vor allem als Verleger, der entsprechende Bücher herausbrachte und zuletzt Hermann Heide als Maler, der der Vision ein Antlitz gab. Eine weitere Bildquelle, welche die Informationen um das Gemälde Hermann Heides ergänzt, stammt aus dem Werk »Der Wandervogel in Böhmen 1911– 1920« (1975).15 Auffallend ist die im Vergleich zu Hermann Heides Gemälde sehr ähnliche Anordnung der Personen auf dem Bild; allein die Perspektive ist eine andere. Auf einer Wiese vor einem Wald – hier sind sowohl Nadel- als auch Laubbäume zu erkennen – sind Personen in einem Kreis angeordnet zu sehen. Aus dem Kreis hebt sich in der rechten Bildmitte eine etwa 10–15-köpfige, in Formation stehende Gruppe hervor, aus der einige Personen offenbar Saiteninstrumente in Händen halten. Die übrigen weiblichen und männlichen Personen sitzen in mehreren Reihen hintereinander. Die Wiese wirkt leicht abschüssig und die vortragende Gruppe scheint am oberen Ende zu stehen; eine Bühnensituation ist jedoch nicht ersichtlich. Die Vortragenden und das »Publikum« gehen ineinander über, was auf eine partizipative performative Praxis hinweist.

14 Tobias Weger: Das Konzept der »Volksbildung« – völkische Bildung für die deutschen Minderheiten, in: Cornelia Eisler, Silke Göttsch-Elten (Hg.): Minderheiten in Europa in der Zwischenkriegszeit. Wissenschaftliche Konzeptionen, mediale Vermittlung, politische Funktion, Münster 2017, S. 99116, hier S. 105–107. 15 Kurt Oberdorfer (Hg.): Der Wandervogel in Böhmen 1911–1920. Überarbeitetes Manuskript von Johannes Stauda, Teil 1: Darstellungen, Reutlingen 1975.

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Bei dem Versuch einer Interpretation muss festgehalten werden, dass die Fotografie in seiner Ikonografie dem von Heide geschaffenen Ölkreidebild sehr ähnlich ist. Der Beschreibung nach bildet es das gleiche Ereignis ab: Einen Singewettstreit unter den Deutschböhmen im österreichischen Wandervogel. Da das Bild von Heide nicht datiert ist, ist es einerseits möglich, dass beide aus demselben Jahr stammen. Genauso ist es möglich, dass sich die Singewettstreite von Jahr zu Jahr in der Szenerie so sehr ähnelten, dass die Inszenierung und die Abbildung durch die Protagonist*innen selbst als ikonisch gesehen wurden und »Singewettstreite« schon damals als stetig in selber Weise wiederholte Handlung fast schon als ritualisiert gelten können. Möglich ist auch, dass Heide sich bei seinem Ölkreidebild an der Fotografie orientierte und sie als Gedankenstütze und Inspiration nutzte.

Der Hamburger Singewettstreit im Bild »Singewettstreite, sowohl in den einzelnen Bünden als auch überbündisch, sind eine Möglichkeit, die Qualität des Singens zu vergleichen und Neues kennen zu lernen. Heute gibt es in Deutschland mehrere überbündische Singewettstreite, die von der Teilnehmerzahl her von unter 100 bis zu 2.000 Menschen schwanken können. Unterschiede zeigen sich in der Qualität der Beiträge, der Kategorien sowie der Atmosphäre (Kongresszentrum vs. Schwarzzeltflair)«.16

Der Ort der Singgelegenheit (vgl. Fig. 2 und 3 unseres zweiten Posters) ist das Audimax der Universität Hamburg. Hier fand 2015 zwar nicht auf freiem Feld, aber in einer durch und durch von der bündischen Formenwelt geprägten Atmosphäre der seit 1978 alljährliche Hamburger Singewettstreit (HaSiWe) statt. Dieses ohne jegliche künstlerisch-gestalterische Wirkungsabsicht entstandene Foto versucht, die dort vorgefundene Singsituation möglichst umfassend abzubilden. Der Raum ist von einer Darbietungssituation geprägt, in der deutlich zwischen Personen auf der Bühne und Personen im bestuhlten Publikumsbereich unterschieden werden kann. Eine auf der hell ausgeleuchteten Bühne aufgebaute Kohte sowie mehrere, die Hinterbühne verkleidende, schwarze Jurtenplanen, an denen neben dem Logo des Hamburger Singewettstreits verschiedene Transparente befestigt sind, vermitteln den Eindruck einer Inszenierung jugendbewegten Lebens. Unter den ca. 16 darbietenden Personen auf der Bühne sind deutlich mehrere Musikinstrumente auszumachen, darunter ein Kontrabass und mehrere akustische Gitarren. Zwei rechts und links am Bühnenrand aufgestellte Lautsprechertürme sowie drei Monitorboxen lassen zudem 16 https://www.scout-o-wiki.de/index.php/Musikkultur#Liste_einzelner_.28.C3.BCberb.C3.BC ndischer.29_Singewettstreite [13. 10. 2021].

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auf eine elektrische Verstärkung der Darbietung schließen. Das Foto bildet zwar nur einen Bruchteil des tatsächlichen Publikumsbereiches ab, lässt aber bei Kenntnis der Saalstruktur und fast kompletter Auslastung des größten Hörsaals der Universität Hamburg auf ca. 1.000 Personen schließen, die in einem Kreisbogen dem offenen Halbkreis der Darbietenden gegenübersitzen, bzw. stehen. In deutlichem Gegensatz zu dieser eher nüchternen Momentaufnahme steht ein Foto aus der CD »30 Jahre Hamburger Singewettstreit. Fotogalerien von 1978–2006«, die u. a. Bestandteil der Bewerbungen des »HaSiWe« um den Musikpreis ECHO Klassik Preis 2010 und 2011 war (AdJb, A 240 Nr. 8). Diese Darstellung erinnert deutlich an das zuvor besprochene Gemälde von Herrmann Heide, bzw. das Foto aus dem Jahre 1917: hier wie dort suggeriert die Perspektive aus der Zuhörerschaft (sitzend) von unten eine unmittelbare Nähe des Betrachters, als wäre er Teil einer partizipatorischen Praxis und nicht Zuschauer einer Darbietung. In der Tat wird der Urheber des Fotos durch Nennung seines »Fahrtennamens« mittelbar als »Bündischer« kenntlich gemacht. Die Konstellation von Singenden und Umsitzenden vermittelt den Eindruck einer kreisförmig angeordneten Gemeinschaft, die sich lediglich zum Zweck des musikalischen Wettstreits als einer Ausnahmesituation kurzzeitig in Darbietende und Publikum unterteilt. Mikrofone und Ständer fallen dementsprechend kaum ins Gewicht. Betrachtet man dazu das Instrumentarium aus lediglich akustischen, volkstümlichen Instrumenten wie Gitarre und Geige, kommt die Darstellung der Hensel’schen Idee einer musikalischen »Volksgemeinschaft« schon recht nahe. Die Uniformierung der Singenden mit schweren Stiefeln, kurzen Lederhosen, Fahrtenhemden und Halstüchern mag zwar manchen Außenstehenden unangenehm an die NS-Zeit erinnern. Die Tatsache, dass es sich ausschließlich um Mädchen bzw. junge Frauen handelt, die auf dieser Kluft das Lilienzeichen der Christlichen Pfadfinderschaft (CP) tragen und Westerngitarre spielen, konterkariert dieses Bild allerdings und verlangt nach weiteren Erklärungen. Hierzu eröffnet die eingangs beschriebene »dritte Dimension« der Musikikonographie weitere Einblicke. So spricht die Analyse des Archivmaterials im vorliegenden Fall der »Sippe Rotfuchs«, die beim HaSiWe 2006 erklungene Eigenkomposition »Bis nach Ungarn fuhr’n wir hin« sowie die Tatsache, dass der »Stamm« der Gruppe nach dem schwedischen Friedensnobelpreisträger Dag Hammersskjöld (1905–1961) benannt ist, gegen allzu nationalistische und völkische Tendenzen.. Die Tatsache aber, dass der »Stamm« der Gruppe nach dem schwedischen Friedensnobelpreisträger Dag Hammersskjöld (1905–1961) benannt ist, spricht gegen allzu nationalistische und völkische Tendenzen.17

17 Vgl. Textausdruck der Schautafeln zur Ausstellung ›Dokumentation der Hamburger Singe-

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Die »dritte Dimension« der musikikonographischen Bildbetrachtung entsteht auch durch Einbeziehen der Pressereaktionen auf den betreffenden Singewettstreit 2006.18 Zwei Beispiele: »[…] Zum Singewettstreit hatten sich 28 Singegruppen aus 17 Bünden und zwei überbündische Singegruppen angemeldet, die rund 1.700 Karten waren bereits im Dezember vergeben. In der Endausscheidung sangen dann 19 Gruppen, z. T. musikalisch ganz hervorragend […]« (Ingo, Altpfadfindergilde Hamburg, in: Scouting 1-2006, AdJb A 240, 6/3, S. 50). »[…] Die Lichtblicke in diesem ersten Teil konnten sich nicht so recht entfalten, sie wurden totgekreischt. Und manchmal auch totgeschlagen – mittels Klampfe als Schlagzeug… […]« (Helm König, Liedermacher, Schallplatten-Verleger in: Zeitung 1/ 2006; AdJb, A 240 ebd.)

Treten in diesen beiden Aussagen zweier bedeutender Protagonisten der bündischen Musikszene unterschiedliche persönliche und unmittelbare Bewertungsmaßstäbe zutage, verrät die Überlieferung an anderer Stelle weitaus expliziter, nach welchen Kriterien musikalischer Wettbewerb im bündischen Kontext entschieden wird, etwa im »Bewertungsbogen« der Juroren beim HaSiWe 2012. Aus diesem wird deutlich, dass die überzeugende Darbietung von Gruppengesang im Vordergrund steht. So überwiegen Kategorien, die direkt mit dem Gesang als Gruppenleistung in Verbindung stehen (»Einzelkämpfer/ Gruppenleistung«) gegenüber den Instrumenten, die bis auf ihre Stimmung (»sind gestimmt«), lediglich in ihrer begleitenden Funktion beurteilt werden (»Fügen sich sinnvoll ein«). Werden diese Kategorien mit ein bis fünf Punkten bewertet, ergeben »Extras« wie »Tonartenwechsel«, »Takt- und Rhythmuswechsel« und »Sonstiges« jeweils nur einen Extrapunkt. Es werden zwei Lieder bewertet. Pro Lied kann eine Höchstpunktzahl von 75 Punkten erzielt werden. Dazu kommen noch maximal fünf Punkte für den größtmöglichen Unterschied (»Variation beider Lieder«), so dass sich eine maximale Gesamtpunktzahl von 155 Punkten pro Gruppe ergibt. Bemerkenswerterweise entfallen lediglich vier von 18 Kategorien mit maximal 15 Punkten auf die Liedauswahl (»Lied passt zur Gruppe«, »Inhalt und Ausdruck sind stimmig«, »Liedart« und »Variation beider Lieder«). Besonderes Augenmerk lenkt dabei die Kategorie »Liedart« auf sich, welche eine vielsagende Bewertungshierarchie offenbart: – »Alter Hut« (1 Punkt) – »Arrangement« (2 Punkte) – »Übersetzung« (3 Punkte) wettstreite 1955–2013‹ auf der Jugendburg Ludwigstein anl. 100j. Jubiläum des Freideutschen Jugendtags auf dem Hohen Meißner; AdJb, A 240 Nr. 6, Teil 3, S. 48. 18 Dokumentiert ebd.

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– »Eigener Text/Melodie« (4 Punkte) – »Alles selbst gemacht« (5 Punkte) An höchster Stelle der Bewertungshierarchie steht demnach auch noch beim HasiWe 2012 das Gruppenlied, das nach Fritz Jödes Ideal der »Gemeinschaftsmusikkultur«19 in einer Gemeinschaft produziert, distribuiert und rezipiert wird.

Bewertungskriterien von Singewettstreiten im diachronen Vergleich Um die Kontinuität jugendbewegter Singewettstreite über ein Jahrhundert und darüber hinaus zu demonstrieren, haben wir zu unseren beiden Beispielen ein drittes Beispiel hinzugezogen, das zeitlich etwa zwischen der frühen Beschreibung eines »Singstreits« im Wandervogel (1916) und dem Beginn der bis heute kontinuierlichen Zählung des größten deutschen »Singewettstreits« in Hamburg (1978) angesiedelt ist: das Telegramm einer Jungmädel-Führerin an den Musikpädagogen Hilmar Höckner (1891–1968), einen bedeutenden Protagonisten der Jugendmusikbewegung, mit der Bitte, als Juror bei einem »Singwettstreit« im Rahmen der NS-Kinderlandverschickung zu fungieren.20

Beispiel: Bewertungskriterien 1916 (Walther Hensel, »Singstreit«)

1944 (Jungmädel und Kinderlandverschickung, »Singwettstreit«) Authentizität des Volksliedes Liedauswahl Auswendiger Vortrag Zwei [oder Mehr] -stimmigkeit

2012 (HaSiWe, »Singewettstreit«) »Liedart«, Zusatzpunkte für eigene Lieder

Text- und Melodiebeherr- »Textsicherheit«; »Einsätschung ze« Berücksichtigung mehr»Mehrstimmigkeit« stimmiger Sätze

Gute Instrumentalbegleitung, – Fiedel statt Mandoline (M. »vorlaut, stahlbesaitet«.) Qualität des Gesangs – (»Stimmbruch … schade«)

Instrumente »passen zum Lied«; »sind gestimmt«; »fügen sich sinnvoll ein«. »Artikulation«; »Sauberkeit der Stimmen«

19 Vgl. Dorothea Kolland: Die Jugendmusikbewegung. »Gemeinschaftsmusik« – Theorie und Praxis, Stuttgart 1979. 20 Vgl. Telegramm der Mädelführerin des Banns Fulda 167 an Hilmar Höckner vom 11. 05. 1944 betr. »Singewettstreit der Fuldaer JM-Gruppe & KLV-Lager«; AdJb, A 228 Nr. 626.

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(Fortsetzung) 1916 (Walther Hensel, »Singstreit«) – – –

1944 (Jungmädel und Kinderlandverschickung, »Singwettstreit«) Liedauswahl dem Alter entsprechend Auftreten, Haltung und Uniformierung der Einheit

2012 (HaSiWe, »Singewettstreit«)

Dirigieren der Führerin

»Einzelkämpfer/Gruppenleistung«

»Lied passt zur Gruppe« »Ansage«; »Inhalt und Ausdruck sind stimmig«

Anhand des diachronen Vergleiches der Bewertungskriterien der drei Beispiele musikalischer Wettbewerbe wird deutlich, dass sich hier in bedeutenden Kriterien eine Kontinuität offenbart: alle drei legen Wert auf die Liedauswahl, sei es als »echtes Volkslied«, als ideologiekonformes Massenlied oder als möglichst selbstgestaltetes Gemeinschaftsprodukt; alle drei verlangen die Beherrschung des gesungenen Textes und alle drei bevorzugen Mehrstimmigkeit gegenüber Einstimmigkeit. Während im NS-Singwettstreit offenbar wenig Wert auf die Qualität des Gesanges und Instrumentalbegleitung gelegt wurde, sind sich in diesen beiden Kriterien Hensel und die Juroren des HaSiWe erstaunlich einig: Wichtig sind eine saubere Intonation und eine harmonische Abstimmung von Gruppengesang und Instrumentalbegleitung. Eine gruppenangemessene Liedauswahl sowie der Fokus auf Auftreten und Präsentation der Gruppe verbindet den NS-Singstreit mit dem heutigen bündischen Singewettstreit, wo hingegen das Kriterium der »Führung« diametral entgegengesetzt bewertet wird. So wird beim NS-Singstreit das »Dirigieren der Führerin« als eigene Bewertungskategorie genannt, während beim HaSiWe jede Form von »Einzelkämpfer«-tum gegenüber der Gruppenleistung offenbar als unerwünscht gilt und entsprechend mit geringer Punktzahl geahndet wird.

Zusammenfassung und Ausblick: Singewettstreite – eine invented tradition damals und heute Was sind heute und waren damals also die Motivationen jener Singewettstreite? Ausgehend von dem Gemälde Hermann Heides als Bildquelle (AdJb, K 1 Nr. 10), konnten die Motive der (Selbst-) Inszenierung sowie die Ideologisierung des gemeinsamen Singens und der Singewettstreite im Böhmischen Wandervogel zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachvollzogen werden. Walther Hensel, als Ideengeber jener Inszenierung, beschreibt die Motivation als eine Hinwendung zum

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»ursprünglichem Deutschtum« und damit als eine völkisch-nationalen Identitätsbildung. Die vergleichende Gegenüberstellung mit der Dokumentation der Hamburger Singewettstreite zeigt zwar sowohl im Hinblick auf die bildliche Inszenierung als auch auf die Bewertungskriterien deutliche Parallelen zu den beschriebenen frühen jugendbewegten Singewettstreiten. Gemeinschaft und gemeinsames Erleben stehen damals wie heute im Vordergrund. Allerdings ist eine völkisch-nationale Tendenz nicht mehr auszumachen bzw. wird bei der Übernahme und Fortführung jener invented tradition deren ursprüngliche Motivation ausgeblendet. Die aus den unterschiedlichen methodischen Prämissen unseres double features abgeleiteten Ergebnisse der Untersuchung bildlicher Repräsentationen von Singewettstreiten »damals« und »heute« haben diese eher als »friedlichen Kampf« im Sinne Max Webers denn als »Konkurrenz« im Sinne Georg Simmels erkennen lassen.21 Es zeigt sich nach Müller-Oberhäuser und Werron auch hier, dass musikalische Wettbewerbe ein »wichtiges Mittel der (Selbst-)Disziplinierung« sind, »dass durch Wettbewerbsvorgaben nachhaltig wirksame Standards gesetzt werden können«, eine »musikalische Erziehung des Publikums« erhofft wird und sie Mittel zur »individuellen ebenso wie zur kollektiven Identitätsbildung« sind.22 Zusätzlich können für jugendbewegte Singewettstreite weitere Motivationen ausgemacht werden – zumal sie seit jeher nicht im Sinne einer Leistungsgesellschaft etwa um ein Preisgeld streiten. Vielmehr wetteifern bündische Sänger*innen untereinander um Aufmerksamkeit, tradieren ihre eigenen Lieder und handeln Gruppenidentität aus. Zielführend bei der Untersuchung weiterer derartiger Integrations- und Abgrenzungspraktiken erscheint auch in anderen Zusammenhängen Hobsbawms Konzept der invented tradition. Jedenfalls zeigen sich sowohl die Unterscheidung »Wir-Ihr« im Sinne von »bündisch-nicht bündisch« als auch die teils emotional geführten Debatten bezüglich der Unterschiede bündischer Gruppen voneinander als Teile einer bis heute ungebrochenen langen Linie der deutschen Jugendbewegung, die im Singewettstreit auf künstlerisch-musikalische Weise repräsentiert wird.

21 Müller-Oberhäuser, Werron: Perspektiven (Anm. 9), S. 249. 22 Ebd., S. 257–259.

Johann Nicolai

»Völkische« Jugendbewegungen und Personenkult um den Religionswissenschaftler Jakob Wilhelm Hauer (1920–1945)

Der »Bund der Köngener« entstand im Oktober 1920 aus pietistischen Schülerbibelkreisen in der Nähe von Stuttgart, welcher bündische Stilelemente der Pfadfinder und des Wandervogels übernahm. Charismatischer Kanzler der Bewegung wurde Jakob Wilhelm Hauer, der durch seine theologische Ausbildung als protestantischer Pfarrer und seine Studien der indischen Religionspraxis esoterisch-spirituelle Elemente einführte. Er traf damit den Nerv der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, in der viele junge rechtsnational eingestellte Menschen nach Werten und Orientierung suchten, die sie nicht bei kirchlichen Jugendgruppen fanden. Eine grundlegende »völkische« Orientierung der Köngener war in Teilen bereits vorhanden, jedoch wandte sich Hauer ab 1933 zunehmend offen der nationalsozialistischen Ideologie zu, sodass der Bund 1934 endgültig aufgelöst wurde.1 In den Jahren 1933 bis 1945 führte Hauer die »Deutsche Glaubensbewegung« an, die das Christentum durch einen Glauben »aus deutschem Urgrund, aus indogermanisch-nordischen Mutterboden« anstelle der christlichen Kirchen ersetzen sollte.2 Innerhalb dieser Bewegung verehrte man den Tübinger Religionswissenschaftler als »Führer«3, was ihn als »völkischen Dissidenten« in Konflikt mit den Machtstrukturen der NS-Führung brachte. Er war aber zweifellos nicht »ahnungslos« über die Ziele des nationalsozialistischen Herrschaftssystems, so wie

1 Der kleinere »völkische« Kreis um Hauer, die Köngener, ging in die Deutsche Glaubensbewegung über, der größere, nicht »völkische« Kreis um den Pfarrer Rudolf Daur (1892–1976) löste sich 1934 auf, entstand aber von 1945 bis 2010 erneut als »Freundeskreis der Köngener«; vgl. Dieter Fauth: Die Freie Akademie in Beziehung zum Nationalsozialismus, Zell a. M. 2020, S. 9 und 16. 2 Vgl. J[akob] Wilhelm Hauer: Deutsche Gottesschau. Grundzüge eines Deutschen Glaubens, Stuttgart 1935, S. 3. 3 Vgl. Wilhelm Hauer – Der Führer der deutschen Glaubensbewegung (Broschüre, undat.), AdJb, P1 Nr. 1360.

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es die neurechte Hauer-Biografin Margarete Dierks (1914–2010) zu rechtfertigen versuchte.4

Jakob Wilhelm Hauer (1881–1962) Hauer stammte aus einer pietistisch geprägten Handwerkerfamilie aus Württemberg und wuchs dort unter ärmlichen Bedingungen auf. Er fällte mit 19 Jahren den Entschluss, sich als Missionar ausbilden zu lassen. Diese Tätigkeit übte er von 1907 bis 1911 in Kerala (Südindien) aus. Tief beeindruckt durch den Kontakt mit Buddhismus und Hinduismus studierte er diese Religionen 1911– 1918 in Tübingen und Oxford. Während der Kriegsjahre, als Hauer zunächst in britische Kriegsgefangenschaft geriet, begann er sich von der Kirche zu distanzieren. Mit Beginn der 1920er Jahre verfolgte er schließlich konsequent eine wissenschaftliche Laufbahn, zunächst 1925 als Privatdozent in Marburg und ab 1927 als ordentlicher Professor der Religionsgeschichte und Indologie in Tübingen. Wissenschaftlich führte Hauer wichtige Grundlagenforschungen über die indische Glaubenspraxis (z. B. Yoga)5 durch, geriet jedoch aus ideologischer Verblendung immer weiter in das Fahrwasser »völkischer« und nationalsozialistischer Rassenideologien. Seine Publikationen der 1930er und 1940er Jahre sind geprägt von einem Irrweg der Verknüpfung von »Rasse« und Religion. Bereits 1934 wurde Hauer Mitglied der SS, 1937 trat er der NSDAP bei. Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet er für zweieinhalb Jahre in französische Kriegsgefangenschaft.6 Man stufte ihn nur als »Mitläufer« ein, entließ ihn aber 1949 bei vollen Pensionsbezügen aus dem Universitätsdienst.7

4 Vgl. Margarete Dierks: Jakob Wilhelm Hauer 1881–1962: Leben, Werk, Wirkung, Heidelberg 1986, S. 259. 5 Jakob Wilhelm Hauer: Die Anfänge der Yogapraxis im alten Indien: Eine Untersuchung über die Wurzeln der indischen Mystik nach Rgveda und Atharvaveda« (Habilitationsschrift), Berlin 1922. 6 Vgl. Fauth: Akademie (Anm. 2), S. 48. 7 Vgl. Urteil der Spruchkammer für den Lehrkörper der Universität Tübingen vom 27. 06. 1949, BArch Koblenz, N 1131/209.

»Völkische« Jugendbewegungen und Personenkult

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Nachkriegszeit und Initiative zur Gründung der Arbeitsgemeinschaft Nach dem Verlust seiner Professur in Tübingen begann Jakob Wilhelm Hauer ab Weihnachten 1948 mittels Rundschreiben, die Mitglieder seiner »freireligiösen« Jugendbewegungen zu sammeln.8 Sie sollten sich auf Grundlage der »strengsten Wissenschaftlichkeit« zusammenfinden und auf interdisziplinärer Basis über die Themen Religion, Ethik und Naturwissenschaften diskutieren. Der politische und weltanschauliche Standpunkt sei eine »persönliche Angelegenheit».9 Die erste Tagung der Arbeitsgemeinschaft in Stuttgart-Rohr am 17. September 1950 zum Thema »Die Krise der Religion im heutigen Denken« fand mit ungefähr 140 Teilnehmenden bereits unerwartet großen Anklang.10 Unterstützt wurde Hauer durch seine vertrauten Mitarbeiter, den Pädagogen Friedrich Berger und den Arzt Lothar Stengel-von Rutkowski.

Friedrich Berger (1901–1974) Berger stammte aus der württembergischen Provinz und wuchs in einfachen Verhältnissen als Sohn eines Schmieds auf. Er besuchte von 1916 bis 1922 das evangelische Lehrerseminar. Danach war er als Volksschullehrer tätig. In den 1920er Jahren geriet Berger in das Umfeld des von Hauer geleiteten »Bund der Köngener». Zugleich studierte er von 1924 bis 1928 in Tübingen Pädagogik und Philosophie. Nach seiner Habilitation 1931 erhielt er eine Professur an der Technischen Hochschule in Braunschweig. Hier wirkte er auch ab 1937 am Aufbau der nationalsozialistischen Bernhard-Rust-Hochschule für Lehrerbildung mit. Berger war seit 1934 SS-Mitglied, trat der NSDAP jedoch erst 1937 bei. Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet er für ein Jahr in britische Kriegsgefangenschaft. Er war danach als Berufsschullehrer in Künzelsau (Württemberg) tätig. Nach dem Tod Hauers war Berger von 1961 bis 1968 Präsident der Freien Akademie.

8 Vgl. Rundbrief vom 20. 12. 1948, vgl. BArch Koblenz, N 1131/539. 9 Vgl. Aufruf Hauers aus der Vorweihnachtszeit 1949, AdJb, N 35 Nr. 526. 10 Vgl. Rundbrief der Arbeitsgemeinschaft vom 18. 08. 1950, AdJb, N 35 Nr. 526.

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Lothar Stengel-von Rutkowski (1908–1992) Stengel wurde unter dem Namen Lothar von Rutkowski als Sohn einer deutschbaltischen Familie in Lettland geboren. Im Zuge der Oktoberrevolution ermordeten Bolschewiki seine Eltern. Zusammen mit seinem Bruder gelangte er nach Ende des Ersten Weltkriegs nach Deutschland und wurde in Marburg von dem nationalsozialistisch gesinnten Historiker Eduard Stengel adoptiert. Er studierte Medizin von 1928 bis 1933. Bereits 1930 trat Stengel der NSDAP und kurz danach, 1934, der SS bei. Im selben Jahr leitete er das Abteilung Lehre und Forschung des Rasseamtes an der Universität Jena. Außerdem schloss er sich in diesem Jahr auch der »Deutschen Glaubensbewegung« Hauers an. In dieser Tätigkeit war er sowohl als Theoretiker als auch als Gutachter in Gerichtsprozessen an der »Tötung unwerten Lebens« (der so genannten »Euthanasie«) beteiligt. Während des Zweiten Weltkriegs wurde Stengel als SS-Truppenarzt auf dem Balkan und in der Sowjetunion eingesetzt. Von 1945 bis 1949 war er in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, blieb aber von dem Entnazifizierungsverfahren der Nachkriegszeit unbehelligt. Stengel konnte sogar nach einem Amtsarztexamen 1954 seine Tätigkeit als Mediziner bis zu seiner Pensionierung 1972 in Korbach (Nordhessen) wieder aufnehmen. Seit Gründung und bis 1976 war er in leitender Position als »wissenschaftlicher Sekretär« für die Freie Akademie tätig. Ab 1981 bekannte er sich als Anhänger der Partei »Die Grünen«.11

Tagungen auf Burg Ludwigstein 1952 bis 1966 Der Burgwart auf Ludwigstein von 1948 bis 1958, Walther Jantzen (1904–1962), war in der Nachkriegszeit nicht nur bemüht, die während der NS-Zeit als Gebietsführerschule der Hitlerjugend genutzte Burg wieder für die Jugendbewegungen zugänglich zu machen, sondern auch Arbeitskreise für Erwachsenenbildung als Multiplikatoren der Jugendarbeit einzuladen.12 Die erste Tagung des Hauerschen Arbeitskreises fand Ostern 1952 zum Thema: »Die geistigen Vor-

11 Vgl. Fauth: Akademie (Anm. 2), S. 68. 12 Jantzen war selbst in seiner Tätigkeit als NS-Geopolitiker ideologisch verstrickt, so dass er sich grundsätzlich nicht an der Ausrichtung der Arbeitsgemeinschaft störte; vgl. ders.: Erziehung zum Nationalsozialismus. Beiträge aus »Weltanschauung und Schule 1938–1944«, eingeleitet von Alexander Glück, Norderstedt 2017. Die Korrespondenz zwischen Hauer und Jantzen wurde nach der ersten Tagung auf Ludwigstein 1952 zunehmend vertraulich. Jantzen war 1956 eines der 20 Gründungsmitglieder der Freien Akademie (Fauth: Akademie (Anm. 2), S. 34). Er begann sich aber ab den späten 1950er Jahren persönlich von Hauer zu distanzieren, vgl. AdJb, N 216 Nr. 212–14.

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aussetzungen und lebensgesetzlichen Neuordnung unseres Daseins«13 statt. Sie fand mit insgesamt 60 Teilnehmenden und fünf Referenten recht großen Anklang. Die Folgetagung im Sommer 1954 übernahm ersatzweise der »Arbeitskreis für sittlich-religiöse Erziehung« um den ebenfalls NS-belasteten Pädagogen Friedrich Berger, da Hauer bis 1954 schwer erkrankte und so auch die für 1953 geplante Tagung ausfallen musste.14 Im Jahr 1955 tagte die Arbeitsgemeinschaft erneut unter Hauers Leitung zum Thema »Die Begründung des Sittlichen aus Erfahrung und Denken«.15 Als »Geschenk« zum 75. Geburtstag widmete man dem Tübinger Religionswissenschaftler 1956 die fünfte und letzte Tagung der Arbeitsgemeinschaft, auf welcher die »Freie Akademie« gegründet wurde. An der Gründung beteiligten sich neben dem Hauerschen Arbeitskreis auch dier aus diesem entstandene pädagogisch-sittliche Arbeitsgemeinschaft um Berger und die SPD-nahe Eekboomgesellschaft um dem Hamburger Lehrer Fritz Hermann (1907–1987). Nachfolger im Vorsitz der Freien Akademie wurden nach Hauers Tod Friedrich Berger und Lothar Stengel-von Rutkowski. Die jungen Teilnehmenden begannen jedoch zunehmend in den 1960er Jahren, die nationalsozialistische Vergangenheit der Gründer der Freien Akademie in Frage zu stellen16, bis es 1968 schließlich zur Absetzung Bergers als Präsident und 1979/80 zu einer Neufassung der Satzung der Akademie kam.

Zusammenfassung Die »Arbeitsgemeinschaft für freie Religionsforschung und Philosophie« wurde von zutiefst in die Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickten Personen gegründet, die in den 1950er Jahren noch nicht im freiheitlich-demokratischen Wertesystem der Bundesrepublik Deutschland angekommen waren. Im Diskurs der Veranstaltungen auf Burg Ludwigstein der Jahre 1952–1966 und besonders auch in der Konfrontation mit der jungen Generation begann aber wie unter einem Brennglas ein Prozess der historischen Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen zwischen der Generation der Täter und der »68er«-Generation auf ethisch-philosophischer Grundlage. Das Ergebnis war ein »Ankommen« der 13 Vgl. Bericht zur Arbeitstagung vom 10. bis 14. April 1952 von Friedrich Berger, AdJb, A 211 Nr. 607. 14 Vgl. Rundschreiben vom 31.06.54, BArch Koblenz, N 1131/146/289. 15 Vgl. Rundschreiben vom 21.05.55, BArch Koblenz, N 1131/146/287. 16 Ab 1964 begannen Kreise der Studierendenbewegung in der Freien Akademie, die fehlende Auseinandersetzung »mit konkreten Vorgängen in der realen Welt im Allgemeinen und bezogen auf den Nationalsozialismus im Besonderen« zu kritisieren, vgl. Fauth: Akademie (Anm. 2), S. 105.

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mittleren Generation der Freien Akademie, wofür besonders Lothar Stengel-von Rutkowski steht, der sich von einem NS-Täter zu einem Anhänger der Grünen entwickelte. Die junge Generation konnte zusätzlich mit der Neufassung der Satzung der Freien Akademie 1979/80 diese Institution dem Wertesystem der bundesdeutschen Demokratie anpassen.

Felix Linzner / Felix Ruppert

(Alt-)»Kommunarde« und »Unternehmer-Bohemien«1: Neue Zugänge zu Hans Koch

»Sinn ist: radikaler, also wurzelhafter Neubeginn des Lebens im Kreise der Gemeinschaft: konsequente Fortführung und umfassende Verwirklichung der Ideen, die in der Jugendbewegung keimhaft lebendig sind. Dem liegt zu Grunde der Glaube, daß, parallel zu dem revolutionären Geschehen der Massen im Wirtschaftskampf, Stätten nottun, an denen Menschen, abhold jeder Reformerei und Spekulation, ihr Leben in schöpferischer Synthese körperlich wie geistig ›von Grund auf‹ neu zu bauen beginnen […].«2

Eine dieser »Stätten« stellte für Hans Koch (gen. Hako) sicher das von ihm mitinitiierte kommunistische Siedlungsprojekt Blankenburg bei Donauwörth dar. Darin zeigt sich nur eine Facette seines schillernden Lebens – die des politischen »Kommunarden«. Und obwohl in der Sekundärliteratur nur wenig besprochen, attestiert der Historiker Ulrich Linse, dass »keine andere Siedlung innerhalb der freideutschen Jugendbewegung die Hoffnung auf eine reale Überwindung der Klassengesellschaft durch den ›Klassenkampf der Jugend‹ gegen die ›Alten‹«, zumindest kurzzeitig, so belebte wie diese.3 Doch bringt man heute das Akronym ›Hako‹ weniger mit dem Namen Hans Koch, als vielmehr mit der Nutzfahrzeugfirma in Verbindung, die er 1948 gründete. Schon in der Zwischenkriegszeit war es ihm ein Anliegen, die landwirtschaftliche Arbeit für sich, war er doch durch eine Kriegsverletzung eingeschränkt, und seine zumeist städtischen und an körperliche Arbeit weniger gewöhnten Mitstreiter*innen zu erleichtern. Nach dem Zweiten Weltkrieg widmete sich Koch dem Produzieren und Vermarkten landwirtschaftlicher Geräte und gab für den eigenen weiteren Lebensentwurf »den Gedanken an gemeinschaft1 Hier zitiert nach: Hans Koch: Handschriftliche Widmung für »Maria«, 30. 5. 1974 [Privatbesitz FL] und Ulrich Linse: Die Kommune der deutschen Jugendbewegung. Ein Versuch zur Überwindung des Klassenkampfes aus dem Geiste der bürgerlichen Utopie. Die ›kommunistische Siedlung Blankenburg‹ bei Donauwörth 1919/1920, München 1973, S. 169. 2 Hans Koch: Erläuterungen zu dem Politischen Gespräch »Der Weg zum Bolschewismus«, in: Kurt Hiller (Hg.): Das Ziel. Jahrbücher für geistige Politik, 4/1920, S. 132–137, hier: S. 132. 3 Ulrich Linse: Zurück o Mensch, zur Mutter Erde: Landkommunen in Deutschland 1890–1933, München 1983, S. 127.

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liches Siedeln auf«.4 Dass er von seiner Vision des Siedelns jedoch bis ins hohe Alter überzeugt war, zeigt sich in seinem Interesse und der Unterstützung ähnlicher Bestrebungen im Kontext der Alternativbewegung in den 1980er Jahren.5 Neben Hans Kochs eigenem Nachlass6, findet man im Archiv der deutschen Jugendbewegung seit einigen Jahren eine weitere beachtliche Sammlung an Briefen und Dokumenten von und zu Hans Koch. Sie befindet sich im Vorlass des Münchener Historikers Ulrich Linse,7 Jg. 1939, der seit dem Ende der 1960er Jahre eine umfangreiche und breit rezipierte Publikationstätigkeit mit dem Schwerpunkt alternative sozialen Bewegungen vom Kaiserreich bis in die Gegenwart betrieb. »Landkommunen«, »Barfüßige Propheten«, »Die anarchistische und anarcho-syndikalistische Jugendbewegung« und »Die Kommune der deutschen Jugendbewegung« sind Themen, die Ulrich Linse mit dem Archiv und seinen Beständen verbinden.8 Der Bestand umfasst 144 Archivkartons, deren Herzstücke, neben der gesammelten Korrespondenz von 1964–2019, die »Materialsammlung« und die darin enthaltene Sammlung zu Linses Publikationen (Bücher, Aufsätze, aber auch »gescheiterte Projekte«) ausmachen. Anhand dieser lässt sich eine 55 Jahre währende Forschungstätigkeit, die Vielfalt der genutzten Quellen und geknüpften Kontakte nachvollziehen. Der Umfang seines privaten Archivs spricht für eine Arbeitsweise, die neben der Literatur auf einem reichen Quellenfundus basiert und durch eine breite Korrespondenz und Interviews mit Zeitzeug*innen bereichert wurde. Die Reaktion Hans Kochs, im Anschluss an die Lektüre der veröffentlichten Studie zur Siedlung Blankenburg, lässt vermuten, dass Linse auf seiner Suche nach Material – bildlich gesprochen – jeden Stein umdrehte:9 »Dein 4 Ebd., S, 128. 5 Vgl. AdJb, N 139 Nr. 198: Zeitschrift: Alternativbewegung 1916. Ein Gespräch mit Hans Koch, in: Netzwerk Rundbrief, 1981, Nr. 15, A 7204 F, 14.12.1981, S. 11–15; Ulrich Linse: Die wissenschaftliche Wiederentdeckung des historischen Alternativmilieus. Annotierte persönliche Erinnerungen, in: Detlef Siegfried, David Templin (Hg.): Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980. Kontinuitäten und Brüche in Milieus der gesellschaftlichen Selbstreflexion im frühen und späten 20. Jahrhundert (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 15 | 2019, Göttingen 2019, S. 125–148, hier S. 132ff sowie Peter Dudek: Rebellen gegen den Krieg – Sucher nach Gemeinschaft. Der jugendbewegte »Berliner Kreis« im Kontext des Ersten Weltkrieges. Bad Heilbrunn 2021, S. 199. 6 AdJb N 76. 7 AdJb N 139. 8 Vgl. dazu Judith Baumgartner und Bernd Wedemeyer-Kolwe: Verzeichnis der Schriften von Ulrich Linse, in: dies. (Hg.): Aufbrüche – Seitenpfade – Abwege, Suchbewegungen und Subkulturen im 20. Jahrhundert: Festschrift für Ulrich Linse, Würzburg 2004, S. 201–210. 9 Neben Schul-, Hochschuldienst und der wissenschaftlichen Betätigung pflegte Ulrich Linse ein langjähriges Hobby, das sich mit dem tatsächlichen Umdrehen und Begutachten von Steinen befasst, vgl. Ulrich Linse: Die Insel Rhodos (Griechenland): Geologische Stratigraphie und politische Strategie. Zweihundertfünfzig Jahre Forschungsgeschichte (1761–2008), München 2008.

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Arbeitsstil, der mit fanatischem Eifer auch den kleinsten Ansätzen nachging + vor keiner Arbeit + Mühe und Reisen zurückschreckte – einer fast kriminalistischen ›Spurensicherung‹ dienend: Das ist wahrhaft lebensvolles Geschichtsforschung + Geschichtsschreibung, die mich gepackt + begeistert hat.«10 Im Spiegel der jüngst erschlossenen Bestände aus dem Vorlass Ulrich Linses bietet das Leben und Wirken Hans Kochs neue Forschungsmöglichkeiten. Dabei vermischen sich Quelle und Literatur und das einschränkende Verständnis von Forschenden und »Beforschten«11. Beide pflegten engen und durchaus privaten Kontakt. Hier schließen grundlegende Fragen und Perspektiven der Europäischen Ethnologie an. Ausgebildet in diesem universitären Fach, das aus der Tradition der Volkskunde stammt, untersuchen wir Phänomene der Alltagskultur in gegenwartsbezogener und historischer Perspektive. Beide dienen dazu, kulturelle Ordnungen und Dynamiken moderner Gesellschaften zu analysieren und zu interpretieren. Kultur und Alltag sind die Leitperspektiven des Faches. Der Begriff Kultur bezeichnet die sich ständig verändernden Ausdrucksformen in denen Wirklichkeit gelebt wird und schließt das alltägliche Handeln und das gemeinsame Ausgestalten der »Alltage der Vielen«12 ein. Das Fach ist aus der Volkskunde hervorgegangen und möchte verstehen, wie unterschiedliche Akteur*innen Kultur (materiell und immateriell) gestalten. Vermeintlich Vertrautes wird dabei kritisch hinterfragt. Die Forschungsmethoden des Faches sind qualitativ und ethnografisch, um der Lebenswelt der jeweiligen Akteur*innen so nah wie möglich zu kommen. Daneben werden weitere Methoden und Analyseverfahren (wie z. B. Medien-, Bild- und Textanalyse, Quellen- und Archivrecherche, Diskursanalyse, Interviewtechniken, materielle Kulturanalyse, Erzählforschung) angewendet.13 Ulrich Linses Kontakte und Forschungen schlagen eine generationsübergreifende Brücke und zeigen Grenzen und Schnittmengen historischer Forschung und Feldforschung auf. Hatte Linse noch direkten und z. T. sehr persönlichen Zugang zu den Forschungspartner*innen14, findet für die heutige 10 AdJb, N 139 Nr. 197, Brief von Koch an Linse, in: Materialsammlung von Ulrich Linse zu dessen Publikationen (chronologisch), mit vereinzelter Korrespondenz, 29. 12. 1973 [Streichung i.O.]. 11 Gerade aus unserer Fachperspektive, der Writing Culture Debatte und einer Krise der Repräsentation ist es in ethnografischen Texten üblich geworden, von Forschungspartner*innen zu sprechen. 12 Herman Roodenburg im Gespräch mit Michaela Fenske: »Ethnologie meint den Alltag der Vielen.«, in: kulturen. Volkskunde in Niedersachsen 2|2008, S. 19–25. 13 Vgl. Lehrstuhl für Europäische Ethnologie/Volkskunde, Universität Würzburg: Europäische Ethnologie/Volkskunde, in: WueStart – Studieren an der Uni Würzburg, https://wuestart.uni -wuerzburg.de/de/orientieren-und-informieren/studienangebot/eevk/europaeische-ethnolo gie-volkskunde [29. 03. 2022]. 14 Vgl. Linse: Wiederentdeckung (Anm. 5).

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Forscher*innengeneration eine Veränderung der Quellen statt. Obwohl Linses Kontakte für uns »historische Personen« geworden sind, wirken sie spätestens durch die Erschließung des Vorlasses durch das AdJb weiter. Fragen nach Nähe und Distanz zum Feld können perspektiviert werden. Wie verstehen wir in diesen Kontexten Archiv als Feld?15 Wie kann das Material im Sinne einer historischanthropologischen Feldforschung als reflexiver Prozess gedeutet werden?16 Aber auch allgemeinere Fragen schließen sich an: z. B. nach den Interpretationen und Verortungen von verschiedenen Forscher*innengenerationen,17 der Historisierung und Selbsthistorisierung und dem Verständnis des Archivs als lebendigen Ort. Dabei einen Fokus auf das Leben und Wirken Hans Kochs zu legen, scheint ein spannendes Forschungsdesiderat zu eröffnen. Neu erschlossene Archivbestände bieten Forschenden die Möglichkeit, Lücken in einer jugendbewegt geprägten Biografie zu schließen. Hans Koch wurde 1897 geboren und wuchs ab dem fünften Lebensjahr in Berlin auf. Sein Vater hielt zunächst einen Posten als Geheimrat im Kriegsministerium und arbeitete später für das Reichsmilitärgericht. Trotz der hohen Stellung der Familie zog die »elterliche Erziehung, die also bewußt sehr sozial gerichtet war« keine strikte Grenze zwischen den sozialen Klassen, sodass Koch als Jugendlicher auch in »Verbindung mit den Arbeiterkreisen«18 kam. Der »Drang […], auch etwas von der Natur kennenzulernen«19 brachte ihn als Jugendlichen in die Nähe der Jugendbewegung. 1910 trat er einer Gruppe des »Deutschen Späherkorps« bei, wechselte 1913 zum »Steglitzer Wandervogel« und engagierte sich kurz darauf schließlich »in einer ›wilden‹ Wandervogelgruppe, in der Jungen und Mädchen gemeinsam wanderten«.20 Koch wurde Teil eines jugendbewegten Freundeskreises, der, inspiriert von der Jugendkulturbewegung um Gustav Wyneken und deren Zeitschrift »Der Anfang«, später in der Selbstzuschreibung wie in der Historiografie »Berliner Kreis« genannt wurde.21 Nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges meldete er sich 15 Vgl. Kaspar Maase: Das Archiv als Feld?, in: Katharina Eisch, Marion Hamm (Hg.): Die Poesie des Feldes. Beiträge zur ethnographischen Kulturanalyse, Tübingen 2001, S. 255–270. 16 Vgl. u. a. Ernst Langthaler: Geschichte(n) über Geschichte(n). Historisch-anthropologische Feldforschung als reflexiver Prozess, in: Historische Sozialforschung, 2005, Bd. 30, Nr. 1 (111), S. 200–214. 17 Bernd Wedemeyer-Kolwe: Forschungsgegenstände und Forschungsgenerationen – Die Forschungsgeschichte der Lebensreformbewegung als Reflexionsproblem: Verläufe, Interpretationen, Selbstbilder, in: Meike Sophia Baader, Alfons Kenkmann (Hg.): Jugend im Kalten Krieg. Zwischen Vereinnahmung, Interessenvertretung und Eigensinn (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 16|2020/21), Göttingen 2021, S. 265–282. 18 AdJb, N 76 Nr. 1, Jutta Bohnke-Kollwitz: Das Gespräch. Interview mit Hans Koch, [1982], S. 3 [Textstellen i.o. Manuskript gestrichen]. 19 Ebd. S. 2. 20 Linse: Kommune (Anm. 1), S. 69f. 21 Vgl. Dudek: Rebellen (Anm. 5), S. 7–11.

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gemeinsam mit Freunden aus diesem Kreis freiwillig zum Kriegsdienst. Die Freunde fielen bereits 1914, Koch wurde 1916 nach zwei Verwundungen aus dem Dienst entlassen. Die Kriegserfahrungen und vor allem der frühe Tod der Freunde setzte eine Ideologisierung des »Berliner Kreises«, hin zu einer pazifistischen und sozialistischen Gruppe, in Gang.22 In einer Wohngemeinschaft im Berliner Westend, »durchdrungen von den neuen Gedanken des gemeinsamen Lebens und der Verwirklichung desselben auf einem der Gemeinschaft gehörenden Landstück«23 konkretisierte sich der Wille, eine Landkommune aufzubauen. »Mit abenteuerlicher Finanzierung«24 gelang es Hans Koch, ein Grundstück nahe Donauwörth zu kaufen und die Siedlung Blankenburg zu gründen, die von etwa 20 Personen bewohnt wurde. Der häufig wechselnde Personenkreis speiste sich dabei aus Bürgertum und Arbeiter*innenschaft. Gartenbau, Tierhaltung und Handwerk sollten die finanzielle bzw. subsistenzwirtschaftliche Grundlage der Siedlung bilden, letztere konnte jedoch nie erreicht werden.25 Die Gründung der Siedlung Blankenburg, 1919, südlich von Donauwörth in Bayern, »ist ohne die von der Novemberrevolution […] ausgelösten politischen Entwicklungen weder denkbar noch verstehbar«26, da sie auf derselben sozialistisch geprägten Idee basierten.27 So überrascht es nicht, dass auch die »Kommuno-Anarchisten«28 nach der Zerschlagung der Räterepublik München ins Visier der Polizei gerieten. Koch wurde wegen seines 1919 veröffentlichten Artikels »Der Weg zum Bolschewismus«29 zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. 1920 zerbrach die Landkommune schließlich an internem Streit, ihrer ökonomisch prekären Situation und der politischen Entwicklungen. Ulrich Linse widmete sich der »Kommune der deutschen Jugendbewegung« in seiner 1973 publizierten Studie, an deren Entstehung neben Koch viele weitere ehemalige ›Kommunard*innen‹ als Forschungspartner*innen beteiligt waren.30 Die freund-

22 Vgl. Ebd. S. 8. 23 Fritz Klatt zitiert nach Linse: Kommune (Anm. 1), S. 74. Klatt selbst sollte jedoch nur an den verschiedenen »Vorstufen« des gemeinsamen Wohnens beteiligt sein. Noch vor der Gründung der Siedlung Blankenburg verließ er die Gruppe u. a. wegen den unterschiedlichen ideologischen Auffassungen des Siedlungsgedankens, vgl. Dudek: Rebellen (Anm. 5), S. 210– 213. 24 Brief Hans Koch an Alfred Kurella vom 03. 11. 1970, zitiert nach ebd., S. 215. 25 Vgl. Linse: Zurück (Anm. 3), S. 126. 26 Dudek: Rebellen (Anm. 5), S. 207. 27 Vgl. ebd., S. 216f. 28 AdJb, N 76 Nr. 1, Bohnke-Kollwitz: Gespräch [Anm. 18], S. 14. 29 Hans Koch-Dieffenbach: Der Weg zum Bolschewismus, in: Kurt Hiller (Hg.): Das Ziel. Jahrbücher für geistige Politik, Bd. 3, Leipzig 1919, S. 50–58. 30 Vgl. AdJb, N 139 Nrn. 196–199, Korrespondenz von U. Linse (Allgemeines, nach Korrespondenten), 1978–2008.

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Felix Linzner / Felix Ruppert

schaftliche Verbindung mit Koch entstand während der Forschung und hielt bis zu dessen Tod 1995. Linse sprach wie selbstverständlich von »unserem Buch«.31 Auch nach dem Scheitern der Siedlung war Koch weiterhin von der Idee gemeinschaftlichen Lebens und Arbeitens überzeugt, die er in weiteren Projekten zu verwirklichen suchte: mit einer Schokoladenfabrik, einem Kommunalkino und ab 1925 als Mitglied der Siedlung Harxbüttel, die sich aber bereits 1926 auflöste.32 Doch den Grundstein seiner zukünftigen Tätigkeit hatte Koch bereits gelegt. Schon vor der Zeit in Harxbüttel hatte Koch mit der Entwicklung einer Maschine begonnen, die die Arbeitsschritte bei der Feldbestellung vereinfachen sollte. Nicht zuletzt war es die eigene Kriegsverletzung, die ihn hierzu bewogen hatte. Die Landwirtschaft unterlag zu dieser Zeit Transformationsprozessen, die sie zunehmend rationalisierten. Bisherige Maschinen fanden in industriellen Maßstäben Verwendung, kleinere Landwirtschaftsbetriebe oder gar Landkommunen wurden dabei weniger berücksichtigt. Mit der Erfindung einer kompakten Motorhacke begann die Erfolgsgeschichte der Firma Hans Koch & Sohn, die bis heute andauert. Die Hako Werke, die seit 2007 nicht mehr als Familienbetrieb geführt werden, beschäftigen heute über 2.000 Angestellte.33 Dieser kurze Beitrag soll das Interesse für ein mögliches Forschungsdesiderat wecken. Fasziniert von der eindrucksvollen Persönlichkeit Kochs und den Möglichkeiten, die der vollständige Vorlass Ulrich Linses gerade auch für die jüngere Forschendengeneration bietet, gilt es hier, eine wechselseitige Forschungsgeschichte zu schreiben. Aus einer Disziplin mit philologischen Wurzeln, stark von der Romantik geprägt und bis heute die Erzählforschung als Arbeitsfeld definierend, schließen wir mit einem Zitat Kochs. »Wenn ich Euch die Entstehungsgeschichte des Hauses HAKO schildern soll, dann kann ich beginnen wie bei einem Märchen. Es ist ein Märchen aus dem 20. Jahrhundert, es spielt auch nicht in Amerika, wo aus Tellerwäschern Millionäre werden; es spielt in Deutschland, es ist wahr und beginnt wie alle Märchen: Es war einmal…«34

31 AdJb, N 76 Nr. 15, Brief von Linse an Koch, in: Korrespondenz von Hans Koch mit dem Historiker Dr. Ulrich Linse in München betr. dessen Publikation zur Siedlung Blankenburg, 10. 02. 1974. 32 Günter Wiemann: Hans Löhr und Hans Koch – Politische Wanderungen, Braunschweig 2011, S. 195f. 33 Matthias Popien: Hako – das Ende einer Ära, Hamburger Abendblatt, 04. 10. 2007, hier: https://www.abendblatt.de/region/stormarn/article107332453/Hako-das-Ende-einer-Aera.h tml [29. 03. 2022]. 34 AdJb, N139, Hako Werke – Hans Koch & Sohn: Einführung der Lehrlinge am ersten Lehrtag, o. D.

Lieven Wölk

Zugänge zur Historisierungs- und Selbsthistorisierungsgeschichte ehemals Jugendbewegter – »Historiker« Walter Laqueur und »Zeitzeuge« Gustav Wyneken im Gespräch (1960)

Erkundungen in der Forschungslandschaft der Jugendbewegung Das Dissertationsprojekt »Der deutsch-jüdische Jugendbund Schwarzes Fähnlein und seine wechselvolle Geschichte im 20. Jahrhundert – Jugendbewegung, Erinnerungsnetzwerke und Historisierung« erforscht in Form einer neuen Gesamtgeschichte einen patriotisch und politisch rechts gesinnten deutsch-jüdischen Bund.1 Die Arbeit wird eine wenig beachtete Sphäre deutsch-jüdischen Lebens erhellen, indem sie 1. die Verflechtungen im jüdischen und nicht-jüdischen jugendbewegten Milieu der Weimarer Republik und im frühen Nationalsozialismus mit besonderem Fokus auf weibliche Mitglieder, 2. die widerständige Performanz von jungen Juden entgegen nationalsozialistischer Ausschlussbestrebungen und 3. die Rezeptionsgeschichte eines nicht-zionistischen Jugendbundes nach der Shoah in den historiographischen Blick rückt. Im dritten Teil werden die Bestrebungen zur Selbsthistorisierung der ehemaligen Mitglieder und deren Erinnerungsnetzwerke von Interesse sein. Daneben soll aber auch die historische Forschung nach 1945 zur deutschen Jugendbewegung kritisch betrachtet werden, da sich in diesem Feld auch jüdische ehemals Jugendbewegte als Historiker betätigten. Nur zwei Jahre lang, von 1932 bis 1934, bestand der Zusammenschluss deutschkonservativer Jüdinnen und Juden. Einer von ihnen war Walter Laqueur (1921–2018) – Mitglied der jüdischen Jugendbewegung,2 Shoah-Überlebender, Emigrant, Journalist und später Geschichtsprofessor.3 Sein lebenslanger Umgang 1 Siehe dazu bislang Carl J. Rheins: The Schwarzes Fähnlein, Jungenschaft, 1932–1934, in: Leo Baeck Institute Year Book, 1978, 23. Jg., Nr. 1, S. 173–198. 2 Vgl. Micha Brumlik: Walter Laqueur, in: Barbara Stambolis (Hg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013, S. 443–449. 3 Siehe dazu Walter Laqueur: »A Wanderer between Several Worlds«, in: Andreas W. Daum, Hartmut Lehmann and James J. Sheehan (Hg.): The Second Generation – Émigrés from Nazi Germany as Historians, New York 2016, S. 59–71.

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mit der Geschichte der Jugendbewegung steht im Mittelpunkt dieses Beitrags. 1962 veröffentlichte er die vielbeachtete englischsprachige Studie »Young Germany – A History of the German Youth Movement«.4 Kurz vor seinem 39. Geburtstag war er im April 1960 auf die Burg Ludwigstein gereist, um das »Archiv der deutschen Jugendbewegung« (AdJb) für die Arbeit an seiner Gesamtdarstellung zu konsultieren. In einem Bericht für die Zeitschrift »Der Monat« schrieb er über dieses Erlebnis: »Der Burgarchivar, ein freundlicher Herr, ehemaliger Wandervogel und Bankrat aus Berlin, führt uns in seine Bibliothek. Es ist nicht einfach, sich in dieser Umgebung zu konzentrieren; der Ausblick durchs Fenster auf die Werra und die Kirschblüte im Tal sind dazu angetan, auch jemanden von der Lektüre vergilbter Zeitschriften abzulenken, der eigens zu diesem Zweck aus tausend Kilometern Entfernung herbeigekommen ist. Da sind die gelben Hefte des alten Wandervogel, der Weiße Ritter, der Zwiespruch, der Eisbrecher und wie sie alle heißen mögen. Wenige mache sich eine Vorstellung, was für eine ungeheure Literatur, quantitativ jedenfalls, die Jugendbewegung hervorgebracht hat.«5

Über ein halbes Jahrhundert später treffen viele dieser Beobachtungen noch immer zu: Die Jugendburg erweist sich als malerisch-abgelegene Adresse für einen ertragreichen Forschungsaufenthalt in einem einzigartigen Archiv. Immer noch ist die historiographische Erforschung der deutschen Jugendbewegung ein Randthema in der Wissenschaftslandschaft. Gleichwohl lohnt die Reise an den »Erinnerungsort Ludwigstein«. Neben den Quellen zu Erlebniswelten und Selbstimaginationen vergangener Jugendbewegungen, bietet das AdJb heute auch viele Ansätze, um die Sammlungspraxis und Jugendbewegungsforschung nach 1945 zu historisieren und zu untersuchen. Diesem Themenbereich möchte die vorliegende Erkundung folgen, um Schwierigkeiten und Möglichkeiten der Geschichtsschreibung »gestern« und »heute« zu erhellen.

4 Walter Laqueur: Young Germany – A History of the German Youth Movement, London 1962. 5 Walter Laqueur: Jugendbewegung – Betrachtungen auf einer Reise, in: Der Monat, 1960, 12. Jg., Nr. 142, S. 51–58, hier S. 54. Hans Wolf (1896–1977), Mitglied im Alt-Wandervogel und Jungdeutschen Bund, später Mitglied in der SS und von 1954 bis 1976 Leiter des Archivs, wies, ebenso wie weitere Personen im Umfeld des AdJbs, de facto eine intensive NS-Belastung auf, wie zuerst Niemeyer herausstellte, vgl. Christian Niemeyer: Die dunklen Seiten der Jugendbewegung – Vom Wandervogel zur Hitlerjugend, Tübingen 2013, S. 10–13.

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Jugendbewegungsgeschichte von »Eingeweihten« für »Außenstehende«? Laqueurs Forschungsbericht über seine Reise nach Deutschland, aber auch sein Buch in der deutschen Übersetzung6 sorgten im Umfeld ehemaliger Jugendbewegter für einige Aufregung, wie die AdJb-Sammlung von Zeitungsausschnitten, Rezensionen, Anmerkungen und Zuschriften Laqueur betreffend bezeugt.7 Neben Würdigungen findet sich hier vor allem Kritik von Beteiligten der »alten« Jugendbewegung vor 1933:8 In Leserbriefen lieferten sie Ergänzungsvorschläge und Änderungswünsche an die Redaktion des »Monats«. Ein ehemaliger Wandervogel aus Berlin-Wannsee befand etwa, die Jugendbewegung vor 1918 käme in Laqueurs Forschung zu kurz. Ein anderer Zeitzeuge wollte im Rückgriff auf die »eigenen Erlebnisse und Erinnerungen« die Intensität der persönlichen Erfahrungswelt nachtragen:9 »Beim Wandern fanden wir zurück zu den vier Elementen der Alten: Feuer, Wasser, Luft und Erde. […] Das aber hat für uns über das als »Romantik« empfundene Erleben hinaus eine Verbindung mit den ursprünglichen Kräften des Daseins bedeutet, eine Rückbindung, eine re-ligio, die uns nie wieder verlassen hat und die eine Beziehung herstellt zwischen allem und allen, die dieser re-ligio unterliegen: Menschen und Tieren und Pflanzen und selbst die scheinbar tote Materie.«10

Diesem Narrativ folgt ein Kritikpunkt, der immer wieder aufscheint: Ein unbeteiligter Historiker würde und könne der wirkmächtigen Tiefe der emotionalen Erfahrung einer jugendbewegten Vergangenheit in seiner Forschung nicht Rechnung tragen. So schrieb Ende 1962 Günther Welter in einer Rezension zu »Die deutsche Jugendbewegung«:11 »Während seine Darstellung z. B. die Mentalität der Jugend von heute voll und ganz trifft, vermag er die Motivationen der Jugendbewegung und ihrer Bünde – wohl weil Außenstehender – nicht zu erspüren und geht über sie völlig hinweg, legt damit vielleicht den Grund für

6 Walter Laqueur: Die deutsche Jugendbewegung – Eine historische Studie, Köln 1962. 7 Siehe Personenmappe Walter Laqueur, AdJb, P 1 Nr. 1959. 8 Siehe dazu Christian Niemeyer: Jugendbewegung und Nationalsozialismus, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 2005, 57. Jg., Nr. 4, S. 337–365, insb. S. 348–353. 9 Vgl. Kurt Hentschel (Berlin-Wannsee), in: »Aus der Zeitschrift ›Der Monat‹, Berlin Sept. 1960, S. 91ff.«, maschinenschriftliche Kopie, S. 1–2, AdJb, P 1 Nr. 1959. 10 Ebd., S. 1. 11 Die Biografie des Journalisten Günther Welter (1921–1994), u. a. Mitglied im Scharnhorstbund, ist noch nicht genauer erforscht, obwohl er in der Nachkriegszeit Mittelpunkt vieler jugendbewegter Netzwerke war, u. a. indem er als Journalist eine Nachrichtenagentur der Jugendbewegung (dipa) betrieb.

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manche spätere falsche Schlußfolgerung.«12 Laqueur wurde abgesprochen, die bündische Jugend von innen her, das heißt explizit dem Empfinden der Zeitzeugen nach, zu verstehen und zu beschreiben. Der Autor erwähnte dies gleichfalls als Vorteil zur Erforschung der Geschichte der Jugendbewegung, immerhin sei die Studie somit »frei von bündischen Sentiments«.13 Weitere Dokumente führen die Position des angeblich »Außenstehenden« darauf zurück, dass er selbst zu jung gewesen sei, um die Ereignisse vor 1933 wirklich erfahren zu haben und keine Mitgliedschaft in einem Bund offenlegen würde.14 Gerade der Umstand, dass der Historiker keine eigenen Erfahrungen, stattdessen aber schriftliche Quellen zur Grundlage seiner Studie machte, bedinge seine »mangelhafte Kenntnis« der tatsächlichen jugendbewegten Lebenswelten.15 Hier erhoben ehemals Jugendbewegte wiederholt den Vorwurf, Laqueur hätte sie – als Experten der eigenen Geschichte – befragen müssen und nicht die archivalischen Dokumente in den Vordergrund stellen sollen.16

Briefwechsel Walter Laqueur und Gustav Wyneken Auf seiner Reise im Frühjahr 1960 hatte Laqueur nicht ausschließlich Archivarbeit betrieben. In seinem Bericht reflektierte er über ein Zeitzeugengespräch mit Gustav Wyneken (1875–1964), Reformpädagoge und Ikone im jugendbewegten Milieu vor dem Ersten Weltkrieg.17 Auch Wyneken verfolgte die Forschung zur Geschichte der Jugendbewegung sehr genau und nahm an Laqueurs Einschätzung dazu Anstoß, darüber gibt ein kurzer Briewechsel im AdJb Auskunft.18 Ein weiterer Eingeweihter fühlte sich missverstanden und gedrängt,

12 Günter Welter: Rezension zu Laqueur, Walter Z.: Die deutsche Jugendbewegung – Eine historische Studie, in: ders. (Hg.): jb-information – Mitteilungen und Beiträge zum Gesamtgebiet Jugendbewegung, 1962, 15. Jg., Nr. 12, S. 21, AdJb, P 1, Nr. 1959. 13 Vgl. Welter: Rezension (Anm. 12), S. 21, ebd. 14 Die antijüdische Latenz oder offene Judenfeindschaft im Konstrukt des »Außenstehenden« und in der Kritik an Laqueur und weiteren jüdischen Historikern/ Zeitzeugen kann hier nicht explizit behandelt werden, wird aber im eingangs skizzierten Promotionsprojekt genauer untersucht. 15 Georg Anton an Hans Wolf, Hannover, 29. 01. 1963, S. 1, AdJb, P 1 Nr. 1959. 16 Vgl. Welter: Rezension (Anm. 12), S. 21, ebd. 17 Siehe ausführlich Peter Dudek: »Sie sind und bleiben eben der alte abstrakte Ideologe« – Der Reformpädagoge Gustav Wyneken (1875–1964). Eine Biographie, Bad Heilbrunn 2017. 18 Vgl. zwei Briefe von Laqueur an Wyneken u. ein Brief von Wyneken an Laqueur, Frühjahr/ Sommer 1960, AdJb, N 35, Nr. 690. Zum Wyneken Nachlass und der Archivgeschichte siehe Susanne Rappe-Weber: Das Gustav-Wyneken-Archiv im Archiv der deutschen Jugendbewegung, in: Sabine Andresen, Johannes Kistenich-Zerfaß (Hg.): Archive und Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, Darmstadt 2020, S. 103–125.

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»einige kleine, nicht weiter wichtige Berichtigungen« an den Historiker zu übermitteln.19 Laqueur hatte das Gespräch wie folgt beschrieben: »Ich beginne ziemlich ungeschickt mit einer allgemeinen Frage […] und gehe dann zu Einzelheiten über, dem Meißner, der Marburger Tagung 1914, Wickersdorf. Ich finde Wyneken im Alter kaum gemäßigter […]; sein Urteil über seine Gegner ist schroff und kompromißlos. Aber er ist nicht bitter […]. Wenn aus der Kombination WynekenJugendbewegung schließlich nichts wurde, so ist das nicht nur Schuld der Jugendbewegung. Er hat es den Freideutschen nicht leicht gemacht; mit seiner links-liberalen Einstellung konnten die Völkischen nichts anfangen.«20

Diese Charakterisierung scheint den umstrittenen – wegen Kindesmissbrauchs bereits 1922 verurteilten – ehemaligen Pädagogen herausgefordert zu haben. Als Antwort auf Laqueurs Veröffentlichung zur Forschungsreise schrieb er: »Nicht recht verständlich ist es mir, daß Sie mich als »links liberal« kennzeichnen. Ich habe natürlich nie einer Partei angehört […]. Es interessiert mich, aber befriedigt mich nicht, zu lesen, daß, von jeher bis heute, meinem Urteil Mäßigung abgesprochen und Schroffheit nachgesagt wird. Ich bin mir bewußt, stets mit unbedingter Sachlichkeit gekämpft zu haben, und wüßte gerne, wo Sie solche bei mir vermissen. […] Aber im Geistigen sind halt oft Nuancen entscheidend.«21

Wie für viele weitere ehemalige Akteure der historischen Jugendbewegung waren auch für Wyneken die »nuancierten« Details der eigenen Wahrnehmung entgegen dem großen Gesamtbild einer historischen Studie wichtiger. Davon zeugt nicht nur der Inhalt des dreiseitigen Briefes, auch die Beschaffenheit des originalen Entwurfes zum Brief belegt, wie wichtig dem Zeitzeugen die vermeintlich richtige Darstellung seiner Geschichte war. Was auf den ersten Blick im Archiv als Typoskript wie eine saubere und kurze Darlegung erscheint, lässt sich im überlieferten Entwurf als komplexer Denk- und Arbeitsprozess am Brieftext erahnen (vgl. Plakat-Abbildung, S. 318). Im Original handschriftlich verfasste Einschübe, gestrichene Passagen, Korrekturen und sogar angeklebte Ergänzungen zeigen eindrucksvoll in der Materialität auf, dass das Gespräch den Zeitzeugen Wyneken länger und emotional stärker beschäftigte. Der Historiker Laqueur antwortete auf die wohlvorbereiteten drei Seiten kurz, höflich und sachlich auf einer halben Seite. Die Quintessenz lautete: »Nun ist mir sehr wohl bekannt, dass nur sehr selten der ganze Mensch in seinen Buechern und Artikeln zu finden ist, dass das Leben im Allgemeinen reicher und vielfältiger ist, als das geschriebene Wort. Aber ich war nun

19 Vgl. Wyneken an Laqueur, Göttingen 26. 07. 1960, Typoskript S. 1–3, hier S. 1, AdJb, N 35, Nr. 690. 20 Laqueur: Jugendbewegung (Anm. 2), S. 57. 21 Wyneken an Laqueur (Anm. 19), Typoskript S. 1–2.

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einmal zur Zeit des Hohen Meissner noch nicht geboren, und schriftliche Quellen sind einmal die Hauptquellen fuer den Historiker.«22

»Woran forscht die junge Wissenschaft zur Jugendbewegung«? Das bis hierher skizzierte problematische Verhältnis zwischen den Historiker*innen mit ihrem archivalischen Quellenmaterial zu jugendbewegten Themen einerseits und der zeitgenössischen Erlebniswelt ehemaliger Beteiligter und ihren Erinnerungen andererseits tritt auch in Laqueurs eigener Geschichte zu Tage. Er machte als junger Mensch durchaus bündische Erfahrungen – nämlich, wie eingangs erwähnt, im deutsch-jüdischen Schwarzen Fähnlein. Im Rahmen des Dissertationsprojektes zu seinen jugendbewegten Jahren zwischen der späten Weimarer Republik und dem frühen Nationalsozialismus befragt, antwortete der damals 96-Jährige Laqueur nun in einer Doppelrolle als Historiker und Zeitzeuge wie folgt: »Let me be blunt: you seem to commit the same mistake many do dealing with youth movements, you are looking for ideological and/ or political answers which cannot be found in the archives. People joined this movement not because of the ideology, but because their friends or classmates belonged. What attracted them was not their ideology, which was quite unimportant. I joined when I was not yet twelve, when I was fourteen, the whole thing was over. […] You may recall in what people aged twelve and thirteen are interested in – football, girls (or boys), games – but not ideology. But the youth movement offered that romanticism, walking in the forest at night, and this, political parties could not offer.«23

Anhand von zeitgenössischen Veröffentlichungen des Schwarzen Fähnleins, dem »Fahnenträger« (in 5 Nummern zwischen 1932 und 1934 erschienen) näherte sich die Recherche zur Dissertation dem Forschungsgegenstand an. Zur Relevanz und Reichweite der Veröffentlichung befragt, antwortete das ehemalige Mitglied: »[…] the Zeitung was read by the people who wrote it, but hardly no one else.«24 Als Zeitzeuge machte nun also Laqueur auf die Relevanz der emotionalen Erfahrungsebene seiner bündischen Erlebnisse gegenüber einem Historiker aufmerksam und empfahl – nicht unähnlich den oben beleuchteten Einwänden und Ergänzungen zu seinen ersten Publikationen – fernab von veröffentlichten zeitgenössischen Dokumenten die Forschung auf die lebensweltlichen Bereiche der jugendlichen Mitglieder sowie deren persönliche Überlieferung zu richten. Die Historisierung der Jugendbewegungsforschung selbst kann also dezidiert 22 Laqueur an Wyneken, London, 16.08.1960, S. 1, ebd. 23 Walter Laqueur an Lieven Wölk, Washington D. C., 28. 09. 2017. 24 Ebd.

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helfen, neue Geschichte in diesem Feld zu schreiben. Wie können wir als Historiker*innen arbeiten und dabei sowohl objektiven wissenschaftlichen Standards wie auch dem subjektiven Empfinden, Erfahren und Erinnern von jugendbewegten Zeitgenossinnen und -genossen gerecht werden?25 Der Fortgang und die Entwicklung der Forschung von Walter Laqueur gibt Antwort. In seiner Jahrzehnte andauernden Auseinandersetzung mit der Thematik »Jugendbewegung« lässt sich die Hinwendung von Laqueur zu den von Wyneken betonten »Nuancen« beobachten, die er in seiner im Archivjahrbuch anonym abgedruckten Rezension der »Kindt-Edition« bereits 1969 pointiert beschrieb: »Der Historiker der Jugendbewegung hat der Bedeutung seiner Aufgabe bewußt zu sein. Es ist vergleichsweise leicht, die Verwicklungen diplomatischer Verhandlungen zu entwirren, wenn Kopien der relevanten Dokumente zugänglich sind. Aber wie soll man einer chaotischen Bewegung Gerechtigkeit widerfahren lassen, einer Generationsrevolte mit ihren Konfliktstoffen, ihren rasch wechselnden Ansichten, ihrem unfaßbaren, aber sehr realen Dynamismus, wie einer Lebensform, die sich von der Umwelt unterscheidet, dem quasi-religiösen Erlebnisgrund, an dem ihre Mitglieder teilhaben? Die Gestimmtheit einer Generation spiegelt sich nur selten in historischen Dokumenten, und selbst dann liefern diese nicht notwendig den verläßlichsten Wegweiser. Eine Jugendbewegung hat eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Liebesaffäre; auch die Schwierigkeiten, denen der außenstehende Beobachter dabei begegnet, ähneln einander. Die Intensität einer Liebesgeschichte läßt sich nicht immer aus dem Kommunikationsaustausch zwischen den Partnern ablesen; wer große Liebesbriefe schreibt, braucht nicht notwendig ein großer Liebender zu sein – und umgekehrt. Die dominanten Wesenszüge der Jugendbewegung steckten nicht in ihren Manifesten, in ihren programmatischen Artikeln, in ihren publizierten Ansichten über Politik oder Sexualität, sondern in ihrer Lebensform, und diese läßt sich wahrscheinlich eher in einer guten Autobiographie oder in einem großen Roman wiederfinden. […] Es ist Unsinn zu behaupten, wie es einige alte Wandervögel tun, daß die Geschichte der Jugendbewegung nur von jemand geschrieben werden könne, der selbst dabei war. Aber es ist wahr, daß man mehr als nur gründliche Kenntnis archivalischer Quellen nötig hat, um zu begreifen, was alles darin steckte.«26

Die dargestellten Unterschiede im Zugang zur jugendbewegten Geschichte aus der Perspektive von Historiker*innen und Zeitzeug*innen, von Dabeigewesenen und 25 Siehe hierzu die Beiträge in Eckart Conze, Susanne Rappe-Weber (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung. Historisierung und Selbsthistorisierung nach 1945 (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 13|2018), Göttingen 2018. 26 N. N.: Archäologie der Jugend – Zu neuen Büchern (übersetzt von Karl Seidelmann); Rezension zu Werner Kindt (Hg.): Dokumentation der Jugendbewegung – Grundschriften der deutschen Jugendbewegung; sowie zu Werner Kindt (Hg.): Dokumentation der Jugendbewegung – Die Wandervogelzeit, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, 1971, 3. Jg., Nr. 1, S. 119–127, hier S. 123–124. Im englischen Original ist die Rezension unter Laqueurs Namen zu finden: The Archaeology of Youth, in: The Times Literary Supplement, 6. 11. 1969, o. S.

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Nachgeborenen lösen sich in der Rezension fruchtbar und anleitend auf. Auch die »junge Wissenschaft zur Jugendbewegung« muss einen Weg durch das Dickicht von veröffentlichter Selbstdeutung, authentischen Äußerungen und anhaltenden Kommentierungen finden.27 Neue Forschung kann sich hier Walter Laqueurs Auseinandersetzung und Findung zwischen den Standpunkten vom »Historiker« und »Zeitzeugen« zur Empfehlung nehmen, um den Quellenkorpus zu erweitern, und dabei klassisch geschichtswissenschaftliche Dokumentenbestände mit rezipierter fiktionaler Literatur, Liedtexten, Tagebüchern, Fotodokumente und mit autobiographischen Erinnerungsberichten, Oral-History-Interviews sowie Zeitzeugenvorträgen zu einem nuancierten Gesamtbild der jeweiligen zeitgenössischen jugendbewegten »Lebensformen« und ihrem historischen Nachwirken zu verweben. Das ist eben keine Absage an das Archiv, sondern die Aufforderung, vielfältiges Quellenmaterial zur Grundlage von Forschung zu machen; also das Archiv konsequent zu nutzen und zu erweitern.

27 Zur Thematik siehe die Beiträge in Martin Sabrow, Norbert Frei (Hg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012.

Eric Angermann

Peter Dudek und Michael Kühnen – ein Briefwechsel. Neonazistische Egodokumente als damalige und heutige Forschungsgrundlage

Seit den späten 1970er Jahren verbreitete sich in der Bundesrepublik ein neueres politisches Phänomen des extrem rechten Spektrums: Explizit neonazistische Gruppierungen, deren Mitglieder mehrheitlich nach 1945 geboren worden waren und die NPD und andere Organisationen einer vermeintlich »alten« Rechten für ihre vorgebliche Anpassung und ihre Abgrenzungsbemühungen vom historischen Nationalsozialismus kritisierten, erhielten von nun an verstärkt personellen Zulauf. Der »herausragende Exponent« dieser Strömung war zweifelsohne Michael Kühnen.1 Er inszenierte sich medial nicht nur als zentrale Führungsfigur von neonazistischen Organisationen, die öffentlich sogar unter dem Begriff der »Kühnen-Bewegung« subsumiert wurden. Kühnen hatte diesen Status unter seinen Anhänger*innen auch nahezu unumschränkt inne, bis seine befürwortenden Positionen zur männlichen Homosexualität bekannt wurden und er sich in diesem Zuge zu einem ausgeprägten Feindbild von früheren wichtigen Mitstreiter*innen entwickelte. Nichtsdestotrotz blieb er bis zu seinem frühen Tod infolge einer Aids-Erkrankung im Jahr 1991 ein führender extrem rechter Aktivist und leistete nach dem Fall der Mauer mit dem »Arbeitsplan Ost« noch einen maßgeblichen Beitrag zum Zusammenkommen, zur strukturellen Zusammenarbeit und schließlich zur Vereinigung des ost- und westdeutschen Neonazismus.2 Das Handeln neonazistischer und weiterer extrem rechter Organisationen blieb den Sozial- und Politikwissenschaften natürlich nicht verborgen. Ebenfalls seit den späten 1970er Jahren bildete sich die »Rechtsextremismus«-Forschung heraus, deren Arbeiten spätestens seit der SINUS-Studie – einer quantitativen Untersuchung zur Verbreitung extrem rechter Einstellungsmuster – eine umfangreiche innerakademische, mediale und zivilgesellschaftliche Rezeption er1 Rainer Erb: Kühnen, Michael, in: Wolfgang Benz (Hg.): Handbuch des Antisemitismus, Bd. 8: Nachträge und Register, Berlin 2015, S. 89–92, hier S. 89. 2 Vgl. zu Kühnen auch Karl Kniest: Die »Kühnen-Bewegung« – Darstellung, Analyse und Einordnung. Ein Beitrag zur deutschen und europäischen Geschichte des Rechtsextremismus, Frankfurt a. M. 2000.

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fuhren.3 Für einen dezidiert akteursorientierten und historisch reflektierten Ansatz standen bereits zu Beginn der 1980er Jahre die Arbeiten von Hans-Gerd Jaschke und Peter Dudek.4 Sie verfassten zusammen mit »Entstehung und Entwicklung des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Zur Tradition einer besonderen politischen Kultur« eine bis heute als ein Standardwerk geltende Arbeit zur extremen Rechten als bundesdeutschen politischen Akteur.5 Dudek, der nicht nur wissenschaftlich tätig war, sondern auch bis zu seiner Pensionierung 2010 als Lehrer arbeitete, forschte und publizierte nach dieser Veröffentlichung weiter zum Themenkomplex.6 Es ist aber wohl eher die Folge seiner späteren Studien zu verschiedenen Aspekten der Jugendbewegung, dass ein Vorlass seiner Forschungsunterlagen Eingang in das Archiv der deutschen Jugendbewegung fand.7 Er ist dort unter der Signatur AdJb, N 174 zu finden und umfasst – zumindest in Bezug auf Dudeks Arbeiten zur extremen Rechten – Primärquellen dieses politischen Spektrums, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Kopien mehrerer wissenschaftlicher Aufsätze zum Themenbereich – und einen Briefwechsel mit dem eingangs erwähnten Michael Kühnen. Zwischen November 1985 und Oktober 1986 schrieben sich Kühnen und Dudek jeweils drei Briefe. Die erste Kontaktaufnahme war das Resultat einer vorherigen Korrespondenz von Dudeks Doktorvater Eike Hennig mit der Führungspersönlichkeit des Neonazismus, die höchstwahrscheinlich im Rahmen von Hennigs eigenen Forschungsarbeiten geführt worden war.8 Kühnen schrieb Hennig während seiner zweiten Haftzeit im April 1985 einen ausführlichen Brief, in dem er auf die in seinen Augen »sehr interessante« Veröffentlichung von Dudek und Jaschke Bezug nahm und den von beiden festgestellten »Generatio3 Ein Ergebnis der Studie war, dass mehr als 13 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung über ein geschlossenes extrem rechtes Weltbild verfügen würden, vgl. Martin Greiffenhagen: 5 Millionen Deutsche: »Wir sollten wieder einen Führer haben …« Die SINUS-Studie über rechtsextremistische Einstellungen bei den Deutschen, Reinbek 1981. 4 Vgl. Gideon Botsch: Rechtsextremismus als politische Praxis. Umrisse akteursorientierter Rechtsextremismusforschung, in: Christoph Kopke, Wolfgang Kühnel (Hg.): Demokratie, Freiheit und Sicherheit. Festschrift zum 65. Geburtstag von Hans-Gerd Jaschke, Baden-Baden 2017, S. 130–146. 5 Peter Dudek, Hans-Gerd Jaschke (Hg.): Entstehung und Entwicklung des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Zur Tradition einer besonderen politischen Kultur, Opladen 1984. 6 https://www.uni-frankfurt.de/48908866/Dudek [04. 04. 2022]. 7 Zuletzt wurde etwa veröffentlicht: Peter Dudek: Rebellen gegen den Krieg – Sucher nach Gemeinschaft. Der jugendbewegte »Berliner Kreis« im Kontext des Ersten Weltkrieges, Bad Heilbrunn 2021. 8 Er veröffentlichte in den Jahren zuvor ebenfalls Beiträge zur Thematik Jugend und extreme Rechte, vgl. u. a. Eike Hennig: »Wert habe ich nur als Kämpfer«. Rechtsextremistische Militanz und neonazistischer Terror, in: Reiner Steinweg (Red.): Faszination der Gewalt. Politische Strategie und Alltagserfahrung, Frankfurt a. M. 1983, S. 89–122.

Peter Dudek und Michael Kühnen – ein Briefwechsel

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nenwechsel im nationalen Lager« kommentierte.9 Eine Kopie des Briefes dürfte Dudek aber vor allem deshalb erhalten haben, weil Kühnen, der laut eigener Aussage seine zweite Haftzeit erneut für »umfangreiche Reflexionen« seiner politischen Arbeit nutzen wollte, sich selbst »für Kommentare und Stellungnahmen« zur Verfügung stellte: Er habe ein »lebhaftes Interesse an der wissenschaftlichen Forschung über diese Dinge«, die er selbst »praktisch betreibe« und für ihn »Lebenssinn« seien.10 Es können bezüglich der Gründe für Kühnens Bereitschaft, den Kontakt zu Vertretern einer kritischen Forschung zur extremen Rechten zu suchen, letztendlich nur Mutmaßungen aufgeführt werden, da, soweit dem Autor bekannt, in dessen Hinterlassenschaften keine weiteren Bezugnahmen auf die Korrespondenz mit Dudek existieren. Neben individuellen Ursachen – wie etwa einer sinnstiftenden Tätigkeit in der weitgehenden sozialen Isolation des Gefängnisses, Kühnens generellem Sendungsbewusstsein oder des Gefühls, als politischer Akteur einer numerisch wachsenden, aber weiterhin kleinen Bewegung11 wahr- und ernstgenommen zu werden – kann das offensive Bemühen auch als Teil einer politischen Strategie aufgefasst werden. Denn Kühnen und seine Gefolgsleute suchten propagandistisch nach öffentlichen Resonanzräumen, in denen sie Aufmerksamkeit und Zuspruch zu erreichen versuchten.12 Peter Dudeks Motivation hingegen ist seiner Anfrage an Kühnen, die dessen Angebot ein halbes Jahr später folgte, »zwischen den Zeilen« zu entnehmen. Er fragte vordergründig nach den aktuellen politischen Strategien Kühnens und wies ihn auf Widersprüche hin: Der angeführte legalistische Kurs, mit dem die Aufhebung des Verbots der NDSDAP und damit die Neugründung der einstmaligen nationalsozialistischen Partei erreicht werden sollte,13 werde durch das gewaltsame Auftreten beim »Kampf um die Straße« konterkariert.14 Das hieran anknüpfende Erkunden nach Kühnens Meinung zu den Zukunftschancen der eigenen politischen Bewegung hatte sicherlich nicht den Hintergrund, eine gemeinsame politische Debatte führen zu wollen. Stattdessen ist erkennbar, dass vorrangig neue wissenschaftliche Erkenntnisse über das politische Vorgehen und 9 Michael Kühnen an Eike Hennig, Frankfurt a. M., 22. 04. 1985, AdJb, N 174 Nr. 55, Bl. 1. 10 Ebd. 11 Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) mit seinen eher konservativen Schätzungen taxierte 1991 – also im Todesjahr Kühnens – die Zahl der Anhänger*innen des »Neonationalsozialismus« auf 5.900 Personen nur in den alten Bundesländern, vgl. Bundesminister des Innern: Verfassungsschutzbericht 1991, Bonn 1992, S. 90. 1983, ein Jahr, in dem Kühnen bis zum Verbot der Aktionsfront Nationaler Sozialisten/Nationale Aktivisten (ANS/NA) politisch besonders rege aktiv war, verlautbarte das BfV noch eine Zahl von 1.400 bekannten Neonazis, vgl. Bundesminister des Innern: Verfassungsschutzbericht 1983, Bonn 1984, S. 122. 12 Vgl. Gideon Botsch: Die extreme Rechte in der Bundesrepublik Deutschland. 1949 bis heute, Darmstadt 2012, S. 75. 13 Zum zentralen Ziel der Neugründung der NSDAP vgl. Erb: Kühnen (Anm. 1), S. 91. 14 Peter Dudek an Michael Kühnen, Frankfurt a. M., 01. 11. 1985, AdJb, N 174 Nr. 104.

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die strategischen Überlegungen des bundesdeutschen Neonazismus generiert werden sollten. Tatsächlich gelang es Dudek, Kühnens Überzeugungs- und Selbstdarstellungseifer zu entfesseln. Denn er erhielt einen umfassenden, eng beschrifteten sechsseitigen Brief, in dem die damals prägende Figur des bundesdeutschen Neonazismus seine Grundannahmen zur politischen Praxis zusammenfasste: Die »außergewöhnlich genormte und kontrollierte Massengesellschaft« der BRD lasse strategisch nur auf eine massive »Systemkrise« hoffen, in deren Folge eine breite Hinwendung zu den Neonationalsozialisten geschehen werde, da diese zuvor als radikalste Gegner der noch bestehenden und nun weithin abgelehnten gesellschaftlichen Ordnung aufgetreten seien.15 Angesichts dieses »revolutionären Attentismus« bräuchte es wiederum taktisch disziplinierte und linientreue »Kader«, die organisatorisch flexibel auf staatliche Verfolgungsmaßnahmen reagieren können und eine möglichst große Menge an SympathisantInnen um sich scharen.16 Hierbei ging er auf die Rolle der unterwanderten FAP17 ein, einer Kleinpartei, die den öffentlichen »Kampf um die Straße« der Bewegung um Kühnen übernahm und immer mehr junge Aktivist*innen um sich schare.18 Er zeichnete also ein durchweg positives Bild hinsichtlich der Zukunft »seiner« politischen Organisationen – und auch er selbst werde durch die erneute Haftstrafe nur härter.19 Die Antwort von Dudek fiel sehr viel kürzer aus, aber dennoch ging er auf die verlautbarten Positionen von Kühnen ein, indem er etwa die Chancenlosigkeit von dessen Hoffnung auf eine künftig führende Rolle nach gesellschaftlichen Krisen inhaltlich unterfütterte. Der Sinn hinter diesem Austausch dürfte in der Aufrechterhaltung des Kontaktes mit Kühnen gelegen haben, denn das Antwortschreiben endete mit einer erneuten inhaltlichen Nachfrage, ob es Generationenkonflikte zwischen den jugendlichen Aktivist*nnen und Angehörigen der »Erlebnisgeneration« des Nationalsozialismus gebe.20 Das Stellen genau dieser Frage stand sicherlich im Zusammenhang mit Dudeks damaligen Forschungs-

15 Michael Kühnen an Peter Dudek, Butzbach, 05. 11. 1985, AdJb, N 174 Nr. 104, Bl. 2. 16 Ebd., Bl. 3. 17 Die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP) wurde 1979 durch Martin Pape veröffentlicht und war bis zu den Unterwanderungsaufrufen Anfang 1984 völlig irrelevant, wobei sie auch nach der neonazistischen Infiltration durch Kühnen und seine Anhänger*innen nie mehr als 1.000 Mitglieder hatte. Die Mitgliederzahl schwankte zudem wegen interner Streitigkeiten und personeller Umbrüche stark. 1995 wurde sie letztendlich verboten, vgl. Armin PfahlTraughber: Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP), in: Frank Decker, Viola Neu (Hg.): Handbuch der deutschen Parteien, Wiesbaden 22013, S. 296f. 18 Michael Kühnen an Peter Dudek, Butzbach, 05. 11. 1985, AdJb, N 174 Nr. 104, Bl. 3–5. 19 Ebd., Bl. 5f. 20 Peter Dudek an Michael Kühnen, Frankfurt a. M., 01. 12. 1985, AdJb, N 174 Nr. 104, Bl. 1f.

Peter Dudek und Michael Kühnen – ein Briefwechsel

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schwerpunkt, den extrem rechts eingestellten Jugendlichen.21 Sein pädagogischer Hintergrund dürfte aber ebenfalls eine Rolle darin gespielt haben, inhaltlich mit dem bundesweit bekannt Neonazi-Anführer zu debattieren und mit Gegenargumenten womöglich dessen Positionen zu irritieren. Hierbei lässt sich in der Retrospektive ebenso eine gewisse Sympathie für Kühnen erkennen, die in kleinen Passagen wie der Verabschiedung (»mit persönlich guten Wünschen«) aufblitzt22 – womit er bei weitem nicht alleine stand, denn Kühnen galt auch in den Augen seiner politischen Gegner*innen vielfach als charismatische und eloquente Persönlichkeit. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist der schon in den 1980er Jahren umstrittene freundschaftliche Austausch zwischen Kühnen und dem jüdischen Antifaschisten und Dichter Erich Fried.23 Die hier skizzierte Korrespondenz endete nach weiteren Briefen mit einem Interview von Dudek mit Kühnen im Februar 1987 in der Justizvollzugsanstalt Butzbach, aus dem er abermals Erkenntnisse zum damaligen Ist-Zustand des Neonazismus generierte.24 Sie ist als zeithistorische Quelle nicht nur für die Genese neonazistischer Positionen und Strategien oder für den Werdegang einer prägenden Figur dieser politischen Strömung von Interesse. Der im Archiv der deutschen Jugendbewegung aufbewahrte Schriftwechsel kann auch in eine Zeitgeschichte der Frage eingeordnet werden, welcher wissenschaftliche, pädagogische, mediale und politische Umgang mit der politischen Rechten getätigt werden sollte. Denn nicht erst in der jüngsten Vergangenheit wurde die Problematik »Mit Rechten reden?« – beispielsweise angesichts der medialen Inszenierung prominenter Vertreter der sog. »Neuen Rechten« – heiß diskutiert.25 In ähnlicher Weise stellte sie sich schon beim medienaffinen Kühnen26 und ab Mitte der 1980er Jahre in der virulenten und kontrovers geführten Debatte, welche (sozial-)pädagogischen, strafrechtlichen und politischen Zugänge zu rechten

21 Er zitierte in dem Brief auch sein damals zuletzt erschienenes Werk; vgl. Peter Dudek: Jugendliche Rechtsextremisten. Zwischen Hakenkreuz und Odalsrune 1945 bis heute, Köln 1985. 22 Peter Dudek an Michael Kühnen, Frankfurt a. M., 01. 12. 1985, AdJb, N 174 Nr. 104, Bl. 2. 23 Vgl. Thomas Wagner: Der Dichter und der Neonazi. Erich Fried und Michael Kühnen – eine deutsche Freundschaft, Stuttgart 2021. 24 Notiz: Interview Michael Kühnen, Butzbach, 05. 02. 1987, AdJb, N 174 Nr. 104. 25 Vgl. u. a. die von der Bundeszentrale für Politische Bildung angeregte Debatte: https:// www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/231748/debatte-soll-m an-mit-neonazis-reden/ [09. 04. 2022]; Andreas Speit: Mit Rechten reden?, in: der rechte rand Nr. 169, November 2017, https://www.der-rechte-rand.de/archive/2678/nicht-mit-rechten-re den/ [09. 04. 2022]. 26 Siehe Wagner: Dichter (Anm. 23).

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Jugendlichen am wirksamsten seien.27 Letztere verfolgte auch Dudek selbst mit regem Interesse, wie gleich mehrere Akten seines Vorlasses aufzeigen.28 Auch wenn der Tonfall in Dudeks Briefen heute kritische Forscher*innen zur extremen Rechten irritieren könnte, ist seine Hauptmotivation doch deutlich erkennbar, Kontinuitäten oder Wandel in den politischen Vorstellungen des damalig präsentesten westdeutschen Neonazis festzustellen und Hinweise auf generationelle Konfliktlinien innerhalb dieses politischen Spektrums zu erhalten. Bezüglich der auch ethischen Frage, wem durch die eigene Forschung Raum zur Selbstdarstellung ermöglicht werden könnte, ist ebenso festzuhalten, dass der extrovertierte Kühnen aus dem Briefwechsel keinen eigenen politischen Vorteil erreichen konnte, da schlicht die hierfür notwendige Öffentlichkeit fehlte. Er konnte in keinerlei Weise einen Resonanzraum für sich kreieren und half mit seinen Ausführungen einer kritischen Analyse der zeitgenössischen extremen Rechten, die in erster Linie staatliche und zivilgesellschaftliche Gegenmaßnahmen potentiell unterfütterte und stärkte.

27 Vgl. hierzu u. a. Albert Scherr (Hg.): Jugendarbeit mit rechten Jugendlichen, Bielefeld 1992; Hans-Uwe Otto, Roland Merten (Hg.): Rechtsradikale Gewalt im vereinigten Deutschland. Jugend im gesellschaftlichen Umbruch, Bonn 1993. 28 U. a. AdJb, N 174 Nr. 48 u. Nr. 59.

Laura Haßler

Junge Deutsche Stimmen. Die Schülerzeitungen der Jungen Nationaldemokraten (JN)

Rätsel-Ecken, Platten-Tipps, Comics und Karikaturen, Artikel zum Schulalltag: eine Schülerzeitung. Daneben ein Appell zur Freilassung des Kriegsverbrechers Rudolf Heß, der Ruf nach »Ausländerstopp« und kaum verhohlener Antikommunismus: eine rechte Schülerzeitung. Blättchen mit Namen wie »Kaktus«, »Denkzettel«, »Fanal« oder »Junge Deutsche Stimme«, die seit den 1970er Jahren meist kostenlos an bundesdeutschen Schulen verteilt wurden, transportierten versteckt zwischen kreativen Überschriften und Witzerubrik nationalistische, antisemitische und rassistische Inhalte – die Positionen der Herausgebenden, oft die Jugendorganisation der NPD, »Junge Nationaldemokraten«, auf die ich im Folgenden fokussiere. Eine zentrale Sammlung rechter Schülerzeitungen gibt es nicht, die Überlieferung ist dispers. Neben dem wohl größten Bestand im Berliner »apabiz« hat auch der Forscher und Publizist Peter Dudek über die Jahrzehnte Material zusammengetragen, das intimen Einblick in die Aktivitäten der rechten Schüler*innen gibt und derjenigen, die sich ihnen entgegenstellten. Im Archiv der deutschen Jugendbewegung auf der Burg Ludwigstein ist die Sammlung für Forschende zugänglich.1 Wie die »Nationale Opposition« generell, sind extrem rechte Jugendliche in der Geschichtsschreibung zur Bundesrepublik jahrzehntelang vernachlässigt worden.2 Die neuere Forschung mahnt zur Notwendigkeit, die extreme Rechte in der deutschen Gesellschaftsgeschichte zu verorten – nicht als Übriggebliebene am Rande der Mehrheitsgesellschaft, sondern als eine Gruppe von Akteur*innen, die Teil der Demokratie sind, durch deren Strukturen geprägt und sie mitge-

1 Die im Folgenden als Belege herangezogenen Schülerzeitungen stammen aus der genannten Sammlung Peter Dudeks, die Befunde wurden aber auf einer breiteren Quellenbasis gebildet, die die Überlieferung im »apabiz« miteinschließt. 2 Ausführlicher zum Desiderat: Gideon Botsch: ›Nationale Opposition‹ in der demokratischen Gesellschaft. Zur Geschichte der extremen Rechten in der Bundesrepublik Deutschland, in: Fabian Virchow, Martin Langebach, Alexander Häusler (Hg.): Handbuch Rechtsextremismus (Edition Rechtsextremismus), Wiesbaden 2016, S. 43–82, hier S. 44.

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staltend – und in diesem Zuge das lange dominante Erfolgsnarrativ der zunehmenden Liberalisierung der Bundesrepublik zu reevaluieren.3 Die organisierte Publikation nationalistischer Schülerzeitungen begann erst in den 1970er Jahren, obwohl das Medium an deutschen Schulen bereits seit Jahrzehnten etabliert war.4 1978 gründeten nationalistische Schüler- und Jugendzeitungen in Nordrhein-Westfalen mit Unterstützung der NPD einen eigenen Jugendpresseverband. Ein Jahr später ging aus dieser Vereinigung der bundesweite »Nationale Jugendpresseverband« (NJV) hervor, in dem vor allem Publikationen der JN organisiert waren.5 Die Jugendorganisation stellte außerdem die Infrastruktur bereit: Das neue Referat »Schülerzeitungen« im Bundesvorstand organisierte Schulungen, den Austausch zwischen den Redaktionen und stellte Texte, Fotos und Zeichnungen als Vorlagen zur kostenfreien Nutzung bereit.6 Selbsterklärtes Ziel des NJV war es, mit seinen Zeitungen Alternativen zu den Jugendzeitschriften »BRAVO«, »ran« oder »elan« zu bieten sowie »›den nationalistischen und nonkonformistischen Schülerzeitungen eine überregionale Organisation zu verschaffen‹«. Seit der Gründung habe sich die Zahl an Schüler- und Jugendzeitungen von sieben auf rund 50 erhöht.7 Die Heftchen ließen sich in Stil und Aufmachung nicht immer leicht vom übrigen Angebot der Schülerpresse unterscheiden: Sie waren amateurhaft produziert und warteten mit kurzen Rätseln, juvenilen Witzen und schulalltagsbezogenen Inhalten auf. Diese Ähnlichkeit dürfte nicht nur einer strategischen Anpassung geschuldet sein; auch rechte Schüler*innen hatten zunächst einmal ( jugendliches) Interesse an Unterhaltung und alltagsnahen Themen und bauten neue Projekte auf bekannten Formaten auf. Gleichzeitig war den Autor*innen die Notwendigkeit durchaus bewusst, sich als nationalistische Organisation zu rechtfertigen und gegen bestimmte vorgefasste Meinungen zu positionieren. In 3 Für einen Forschungsüberblick siehe Dominik Rigoll, Laura Haßler: Forschungen und Quellen zur deutschen Rechten. Teil 1: Ansätze und Akteur*innen, in: Archiv für Sozialgeschichte, 2021, 61. Jg., S. 569–612. 4 Marcel Kabaum: Jugendkulturen und Mitgestaltung in westdeutschen Schulen der 1950er und 1960er Jahre. Schülerzeitungen als historische Quellen der Schul- und Jugendforschung. Humboldt-Universität zu Berlin 2017, verfügbar unter: https://edoc.hu-berlin.de/handle/184 52/20556 [letzter Zugriff: 06. 05. 2021]. 5 Wolfgang Benz: Die »Blockadebrecher«. Rechtsextreme Schüler- und Jugendzeitschriften, in: ders. (Hg.): Rechtsradikalismus: Randerscheinung oder Renaissance? Frankfurt a. M. 1980, S. 210–221, hier S. 211; Peter Dudek, Hans-Gerd Jaschke: Revolte von Rechts. Anatomie einer neuen Jugendpresse, Frankfurt a. M. u. a. 1981, S. 20. 6 Landesarchiv Berlin, B Rep. 002–10708, Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD): Allgemeines, Schreiben VS-vertraulich vom 06. 05. 1981, in: apabiz, Sammlung Stöss, NPD, JN, Ordner 4.2.5, Karl-Heinz Sendbühler: Rundschreiben aus dem Februar 1982. 7 Landesarchiv Berlin, B Rep. 004, Nr. 4087; Hans-Ulrich Stoldt: Rechte Alternativen. Wie sich neonazistische Zeitschriften mit ökologischen Themen tarnen, in: Die Zeit vom 29. 01. 1982 [https://www.zeit.de/1982/05/rechte-alternativen, 09. 06. 2022].

Die Schülerzeitungen der Jungen Nationaldemokraten (JN)

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der Frankfurter Zeitschrift »JN-Rebell« verwahrte die Jugendorganisation sich etwa gegen den Vorwurf des Neonazismus, was sie eng als rückwärtsgewandte NS-Nostalgie auslegten. Sie seien »Demokraten […], denn wir wissen, daß nur in der Demokratie der Wille des ganzen Volkes berücksichtigt werden kann und kein Unrecht gegen Minderheiten geschieht«.8 Fern von einer Sehnsucht nach der faschistischen Vergangenheit gehe es ihnen darum, die Zukunft zu gestalten – gleichwohl in Form einer rassistisch-exklusiven Volksgemeinschaft in den deutschen Grenzen von 1937. Die Themenauswahl der Zeitungen ist Ausdruck dieses Selbstverständnisses und befasste sich mit aktuellen Debatten, die den Schüler*innen gut bekannt gewesen sein dürften. So sind etwa Umweltschutz und Anti-Atomkraft-Proteste in zahlreichen Ausgaben präsent. Mit gängigen Symbolen – der blaue Engel der Bundesregierung, Atomkraftwerke, stilisierte Bäume – bebildert, wurde das Thema als Vehikel benutzt, um unter dem Begriff des »Lebensschutzes« eine nationalistische Politik zu bewerben, die mit kaum verdeckten antisemitischen Untertönen »international[e] Finanz- und Wirtschaftskräfte« den Bedürfnissen einer »Volksgemeinschaft« gegenüberstellt.9 Ein Comic verdeutlicht das zugrundeliegende rassistische Menschenbild: Gleich Tieren und Pflanzen ließen sich auch Menschen in »Rassen und Völker« mit spezifischen Eigenschaften einteilen, die, um das Gleichgewicht zu erhalten, separiert bleiben sollten. Wer die Vielfalt der Natur anerkenne, nicht aber die Richtigkeit dieser biologistischen Vorstellung, wird vermeintlich der Doppelmoral überführt. Ein zweites Thema, das in den verschiedenen Heften regelmäßig aufgegriffen wird, ist Pop im Sinne massenindustriell gefertigter ästhetisierender Konsumgüter. Das widersprüchliche Verhältnis der Jugendorganisation zu Pop wird in der Zusammenschau der verschiedenen Hefte deutlich: Artikel sprechen sich einerseits mitunter explizit gegen Konsum und »Amerikanisierung« aus. Mit John Travolta und dem populären Film »Saturday Night Fever« als Aufhänger wird etwa Disco als Eskapismus verurteilt, der vom tristen und überfordernden Alltag ablenken soll, statt Jugendliche für diesen zu ermächtigen.10 Die Ablehnung darf dabei andererseits nicht als eine generelle Abkehr verstanden werden: Vielmehr schafft diese Positionierung im Sinne gesellschaftlicher Singularisierungsprozesse ein pop-bezogendes Distinktionsangebot, das den geneigten Leser*innen helfen soll, sich von der Masse abzuheben. Werbung für die JN8 AdJB, N 147, Nr. 98, o. A., Was ist JN?, in: JN-Rebell 1/1984, S. 3. 9 Siehe für die Symbolik beispielsweise AdJB, N 147 Nr. 89, o. A., Umweltschutztipps für den Hausgebrauch, in: Fryheit 1/1982, S. 10–11. Zitate: AdJB, N 147 Nr. 107, o. A., Nationalisten treten ein für den Planeten Erde, in: Fanal 1/1979, S. 3. 10 AdJB, N 147, Nr. 107, o. A., Disco – Die neue Religion, in Fanal 1/1979. Die Zeitschrift ist nicht durchgängig paginiert und in der überlieferten Version entweder falsch beziffert oder in falscher Reihenfolge geheftet.

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Rockband »Ragnaröck« oder die Rubrik »Pop-Corner«, in der Musikstile vorgestellt und diskutiert wurden, legen nahe, dass die JN Popmusik zudem als anknüpfungsfähiges und attraktives Werbeinstrument wahrnahmen. Werbung für den US Verkauf Petermann oder »Jeans & Fashion Rockenhausen« (beide u. a. Levi’s) spitzen die Widersprüchlichkeit zu, verweisen aber auch auf die für überregionale Organisationen nicht unüblichen Ungleichzeitigkeiten und die Abhängigkeit der Zeitschriften von Anzeigenkunden.11 Ich argumentiere dafür, diese Ähnlichkeiten in Publikationsform und Themensetzung nicht als Ergebnis rein taktischer »scheindemokratischer« Verschleierung der eigenen politischen Position zu sehen. Betrachtet man die »Jungen Nationaldemokraten« nicht nur als Akteur*innen des organisierten Nationalismus, sondern auch als Gruppe westlicher Jugendlicher nach dem Zweiten Weltkrieg, eröffnet das den Blick auf diese Praktiken als durchaus unbewusste Reaktion auf Verhältnisse und Erwartungen. Meine Hypothese ist, dass das Aufgreifen »demokratischer« Gepflogenheiten ein Versuch war, zwischen Erlaubtem, Erwartetem und den eigenen Wünschen eine Position zu finden, die möglichst großen politischen Freiraum ermöglichte. Dabei sahen die JN sich nicht nur mit den Erwartungen an politische Akteure nach dem NS konfrontiert, sondern auch mit jenen an die »Jugend«: eine ohnehin im 20. Jahrhundert mit Bedeutung aufgeladene Kategorie,12 auf die als dem Faschismus »Nachgeborene« zusätzliche Emotion projiziert wurde. Die Schülerzeitungen von rechts führten zu einem vergleichsweise großen Echo in der Presse und unter antifaschistischen (Schüler-) Organisationen.13 Das überrascht nicht, bedienten die JN sich hier doch eines Sets an Praktiken, das gesellschaftlich mit dem Versprechen der Demokratisierung der Schüler*innen aufgeladen war. Die Erziehung der deutschen Jugend galt im Rahmen der alliierten »Reeducation« als Schlüssel zur Demokratisierung der deutschen Gesellschaft. Hierarchische Formen der Autoritätsausübung galten als undemokratisch, Leitmotive der Demokratisierung waren hingegen, Partizipationsstruktu11 Siehe für die Ragnaröck-Werbung AdJB, N 147, Nr. 89, o. A., Ragnaröck, in: Fryheit 1/1981, S. 16; AdJB, N 147 Nr. 89, Peter Kleinert, Pop Corner: The Who Story, in: Perplex 6/o. J. [vermutlich 1979], S. 10–11. Für die Werbung siehe etwa ebd., S. 19 oder Fryheit 2/1982 (Anm. 9), S. 13. 12 Bodo Mrozek: Das Jahrhundert der Jugend?, in: Martin Sabrow, Peter Ulrich Weiß (Hg.): Das 20. Jahrhundert vermessen. Signaturen eines vergangenen Zeitalters, Bonn 2017, 199–218. 13 Siehe etwa LAB, B Rep. 232–44 – Demokratischer Klub e.V., 130, Zeitungsauschnittsammlung, H. Budde: Blick nach rechts: Rechtsradikale Schülerzeitungen, in: Beilage zur Allgemeine Süd. Wochenzeitung, 03. 06. 1983; apabiz, Sammlung Stöss, NPD, JN, Ordner 4.2.5, o. A.: Junge Nazis und ihr ›dritter Weg‹, in: die tat, 09. 04. 1982; ebd., S. N.: Verantwortung – nicht wahrgenommen, in: Der antifaschistische Widerstandskämpfer 8, 1986; Auch in der DDR wurde berichtet: o. A.: BRD: Wachsende Flut von Nazisudelblättern, in: Freiheit, 23. 04. 1980, S. 4.

Die Schülerzeitungen der Jungen Nationaldemokraten (JN)

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ren zu schaffen und demokratische Gepflogenheiten einzuüben. Eigenständiges kritisches Denken, das Einstehen für eigene Überzeugungen sollte gestärkt werden. Zu diesem Zweck führten die West-Alliierten in den 1950er Jahren eine eingeschränkte Schüler*innenmitbestimmung ein.14 Die nun erscheinenden Schüler*innenzeitungen wurden ab den 1970er Jahren selbst von der JN für die Verbreitung der eigenen »Weltanschauung« auf dem Schulhof gebraucht und damit letztlich missbraucht. Die Partizipationsinstrumente schufen mithin einen Handlungsraum für rechte Akteur*innen. Eingeengt wurde dieser wiederum durch antifaschistische Schüler*inneninitiativen, die sich in den 1970er Jahren an mehreren Schulen bildeten. Sie leisteten Aufklärungsarbeit, sammelten die verteilten Zeitungen in Papierkörben auf dem Schulhof wieder ein, verbrannten sie oder sandten sie in großen Mengen an die Redaktionen zurück.15 Der Blick auf die Schülerzeitungen zeigt, dass die JN kein Relikt überkommener Einstellungen waren, sondern ein genuines Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse der Bonner Republik. Sie waren von denselben (politischen) Debatten und (pop) kulturellen Trends geprägt und Teil einer generellen Entwicklung, die Jugendlichen durch kürzere Arbeitszeiten, einen Zugewinn an Freizeit und finanziellem Einkommen vermehrte Möglichkeiten bot, sich – auch durch Konsum und popkulturelle Praktiken – auszudrücken und gesellschaftlich zu partizipieren.16 Die Schülerzeitungen zeigen das besonders gut, da die JN dort ihre jugendkulturelle Verständigung innerhalb der Schüler*innenschaft präsentierten und ihre Positionen auch in Abgrenzung zu den Erwachsenen markierten.

14 Sonja Levsen: Autorität und Demokratie. Eine Kulturgeschichte des Erziehungswandels in Westdeutschland und Frankreich 1945–1975, Göttingen 2019, S. 41–100, insbes. S. 42, 49, 73. 15 apabiz, Tanja Hartwig: Schüler gegen die Gefahr von Rechts – Ein Projektbericht und Daniel Blum: »Sylvia muß sterben!« – Jungfaschisten in Gütersloh, beides in: Arbeitsgemeinschaft Junge Presse NW / Landesschülervertretung NRW (Hg.): Nazis auf der Schulbank (extra – das magazin – sonderdruck), Duisburg 1985, S. 13–15; apabiz, Sammlung Stöss, NPD, JN, Ordner 4.2.5, VVN-BdA (Hg.): Neonazis in Münster, 1982; ebd., o. A., Gesinnungsterror am Gymnasium in Bielefeld Brackwede, in: Deutsche Stimme, IV 1982; AdJB, N 147 Nr. 68, Landes-Schüler-Vertretung Hessen, Stadtschülerrat Frankfurt/Main, Arbeitskreis gegen Neofaschismus ehemaliger Holbeinschüler, Einladung zur Diskussion über »neofaschistische Umtriebe an Frankfurter Schulen«, Frankfurt a. M. 1985. 16 Zur generellen Entwicklung ohne Erwähnung rechter Jugendlicher: Sonja Levsen: Jugend in der europäischen Zeitgeschichte – nationale Historiographien und transnationale Perspektiven, in: Neue politische Literatur, Bericht über das internationale Schrifttum, 2010, Nr. 55, S. 421–446.

Rezensionen

Susanne Rappe-Weber

Li Gerhalter: Tagebücher als Quellen. Forschungsfelder und Sammlungen seit 1800 (L’Homme Schriften. Reihe zur Feministischen Geschichtswissenschaft 27), Göttingen: V&R unipress 2021, 459 S., ISBN 978-3-8471-1179-5, 40,– €

In einem Durchlauf vom 19. Jahrhundert bis dicht an die Gegenwart untersucht die Verf. den Zugriff unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen auf das Genre Tagebuch und auf Tagebuchsammlungen. Wichtige Anregung dafür boten ein entsprechender Bestand im Wiener Stadt- und Landesarchiv sowie die Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien. Im ersten Kapitel geht es um das Zeitalter der Romantik, als sich ein neues wissenschaftliches Interesse an der Kindheit ausbreitete und mit »Elterntagebüchern« dafür eine empirische Basis geschaffen wurde, also chronikartigen Dokumentationen des kindlichen Aufwachsens. Gelehrte wie August Ludwig von Schlözer oder Dietrich Tiedemann griffen dieses Thema auf und publizierten Vätertagebücher. Aber es waren nicht nur bürgerliche Männer, die im 19. Jahrhundert Notizen mit detaillierten Beschreibungen des Aussehens sowie der körperlichen oder seelischen Konstitution ihrer Kinder anfertigten und so zur aufkommenden Kinderpsychologie und -gesundheitspflege bzw. zur Evolutionsbiologie beitrugen. Nicht wenige gedruckte Erziehungsratgeber des 19. Jahrhunderts empfahlen die genaue Beobachtung der Kinder einschließlich schriftlicher Dokumentation, wobei eine große Bandbreite von populären bis zu medizinisch anspruchsvollen Fragekatalogen entstand. Mit dem Buch »Bubis erste Kindheit« (1907) des Ehepaares Gertrud und Ernst Scupin erlangte ein solches Tagebuch sogar Bestsellerstatus. Weitere Arbeitspaare in der Kinderforschung waren Clara und William Stern sowie Rosa und David Katz. Deren Wirken markiert schon das Ende der Beteiligung von Laien und den Übergang zur Etablierung universitärer Wissenschaft. Im zentralen zweiten Kapitel werden die Bedeutung des Jugendtagebuchs bei der Entwicklung der Jugendpsychologie und die Rolle der Wiener Protagonisten Charlotte Bühler und Siegfried Bernfeld erläutert. Bernfelds zentrale Rolle in der Jugendbewegung (»Der Anfang«) macht seine Perspektive für die Erforschung der Sammlung von Gruppentagebüchern im Archiv der deutschen Jugendbewegung besonders interessant. Er hatte 1913 damit begonnen, ein »Archiv für Jugendkultur« anzulegen, mit dem er eine Sammlung zu allen Fragen des Schul-

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und Familienlebens sowie darauf aufbauende Forschungen anstrebte und in den folgenden Jahren auch zu einigem Umfang ausbaute. Die Forschenden in Wien können als Netzwerk innerhalb der Jugendbewegung verstanden werden. Genannt werden von der Verf. neben Bernfeld die Kinder des bereits genannten Ehepaares Stern, deren Cousine Dora Benjamin und Cousin Walter Benjamin sowie Adolf Busemann und Hans Blüher. Basierend auf Tagebüchern entstanden so wegweisende jugendpsychologische Forschungen. Dabei verstand Bernfeld Tagebuchtexte von Jugendlichen als »Objekt der Deutung« und lehnte die Auffassung ab, es handele sich um unmittelbare psychologische Quellen. Nach Bernfeld gab es drei Motive für Jugendliche zu schreiben: 1. entsprechende Aufforderungen von Lehrern, Eltern, Freunden etc., 2. literarische Anregungen und 3. das materielle Angebot von Fertigtagebüchern im Schreibwarenladen und Kaufhaus. Entsprechen müssten diese Quellen historisiert werden. Mit Charlotte Bühler lieferte sich Bernfeld zeitweise einen regelrechten publizistischen Schlagabtausch. Sie konstatierte 1925, dass das »Tagebuch des Jugendlichen einstweilen die ergiebigste und sicherste Quelle« für die Jugendpsychologie sei. Ihr Standardwerk »Das Seelenleben des Jugendlichen« (1921) basierte bereits auf Tagebüchern. Gestartet war sie mit einem vergleichsweise bescheidenen Sample, das erst für die späteren Auflagen stark erweitert wurde. Bis 1938 hatten sie 130 Tagebücher zusammen getragen. Sie war der Auffassung, dass Jugendliche Tagebücher aus einem Bedürfnis des Sich-Selbst-ErforschenWollens heraus verfassten und interpretierte die Texte als glaubwürdige Selbstaussagen. Eine Wissenschaftskontroverse entspann sich um ein vermeintlich echtes Mädchentagebuch von Hermine Hug-Hellmuth (1921), dem Bühler ihrerseits die Edition des Tagebuchs eines jungen Mädchens entgegensetzte (1922). Eine Debatte um Authentizität und Echtheit setzte ein, neue Editionen mit umfangreicheren Angaben zur Provenienz entstanden. Bühler und Bernfeld positionierten sich mit der Sammlung weiterer Selbstzeugnisse. Sie stellten sich mit dem Fokus auf Tagebücher in gewisser Weise gegen die auf oral erhobenen Aussagen basierende Psychoanalyse. Die Tagebuchforschung kam in Konjunktur. Am Psychologischen Institut in Wien führte Bühler zusammen mit ihrem Ehemann eine größere Forschungsgruppe, die zusammen einen großen Aufbruch in der Jugendforschung initiierte. Karl, besonders aber Charlotte Bühler waren in ihrer Arbeit sehr erfolgreich und galten in Wien als bedeutende angesehene Persönlichkeiten. Die nationalsozialistische Verfolgung der Bühlers nach dem Anschluss Österreichs und die erzwungene Emigration in die USA zogen einen Abbruch dieser Forschungen in Österreich nach sich. Als Pionierin der frühen Tagebuchforschung hat sich Charlotte Bühler durchgesetzt, wohingegen

Tagebücher als Quellen. Forschungsfelder und Sammlungen seit 1800

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Bernfeld weniger und der ebenfalls sehr produktive Fritz Giese dafür fast gar nicht bekannt geworden sind. Die Verf. untersucht Bühlers historische Sammlung nach sozialstatistischen Kriterien. Die Schreiberinnen kamen fast ausschließlich aus der Bildungsschicht, insbesondere aus Lehrberufen, geografisch zumeist aus Deutschland und Österreich, zeitlich überwiegend aus den Jahrgängen 1890–1909. Motiviert waren die Abgebenden häufig dadurch, dass sie etwas zur Forschung beitragen wollten. Auffällig ist die starke Beteiligung von Frauen, als Schreiberinnen und Abgebende, aber auch als Forscherinnen. Verstanden wurde Geschlecht in den entsprechenden Studien zumeist konservativ-biologistisch, d. h. es ging darum »Mädchen zu ihrer geschlechtsanthroplogischen Rolle als Frau und Mutter zu verhelfen« (221). Auch hinsichtlich der Quellennutzung weist die Verf. einige Schwachstellen in Bühlers Arbeiten nach, z. B. indem sie zeigt, dass diese letztlich nur wenige Tagebücher, und dabei überrepräsentativ viele Jungentagebücher, als Belegstellen zitierte. Die beiden Wiener Tagebuchsammlungen, und nicht nur diese, sind bis auf wenige Einzelstücke verschwunden, wie die Verf., die dazu im Umfeld der Verfolgung von Bühler und Bernfeld, des Krieges und der Nachkriegssituation umfassende Recherchen angestellt hat, feststellen musste! Nach 1945 erschienen nur noch zwei Studien im Anschluss an die Wiener Schule. Das seit den 1970er Jahren neu erwachte Interesse der Geschichtswissenschaft an historischen Selbstzeugnissen stellt also einen Neuanfang dar. An verschiedenen Stellen wurde damit begonnen, Tagebuchsammlungen anzulegen und sich dabei auf die Überlieferung nicht prominenter Menschen zu fokussieren. Näher vorgestellt werden die Tagebuchsammlung der Wiener Historischen Kommission und das Deutsche Tagebucharchiv in Emmendingen. Die Vielzahl der Einrichtungen kategorisiert die Verf. entlang der Unterscheidung von Tagebüchern als Text oder audiovisuelles Medium, entlang der dokumentierten Personen usw. Ein interessantes Kapitel ist dem Übergang solcher Selbstzeugnisse aus privater Hand in ein Archiv gewidmet. Die Verf. attestiert diesen Personen den Status als »Citizen Scientist«, da sie sich an der Gewinnung öffentlich verfügbarer Daten für die Wissenschaft beteiligten. Dieser Punkt scheint für die oft zu beobachtende Unterrepräsentanz von Frauen in Archiven – als Nachlasserin, als Forschende, als Personen der (Zeit-) Geschichte – sehr wichtig zu sein. Unter welchen Bedingungen können Frauen erwarten, dass ihre Aufzeichnungen oder ihre Sammlungen von Archiven als wertvoll erachtet werden? Die Verf. präsentiert hier Erfahrungen aus der langjährigen Tätigkeit in der Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien. Statistisch wertet sie aus, wer was von wem überliefert, wie Entscheidungen zur Übergabe zustande kamen. Anders als in »hegemonialen Sammlungseinrichtungen«, in denen der Frauenanteil innerhalb der Überlieferung gering ist, sieht es in den Tagebucharchiven aus. Die

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Verf. analysiert genau, wie sich Frauen an öffentlichen Aufrufen, Berichte einzureichen, beteiligt haben. Wenn Sammlungseinrichtungen Texte von Frauen gewinnen wollen, um Geschichte ganzheitlicher erforschbar zu machen, finden sie hier zahlreiche Anregungen, worauf es dabei ankommt. Am Ende greift die Verf. noch einmal die Bedingungen des Tagebuchschreibens, nun in einer kulturwissenschaftlichen Perspektive, auf. Dekonstruiert wird u. a. der vielfach mit dem Tagebuch assoziierte Topos des »Geheimnisses«, für den symptomatisch das seitlich am Buch angebrachte Schloss steht. Tatsächlich standen die Inhalte des Tagebuch in intensiven kommunikativen Zusammenhängen, wurden teils offen im Freundeskreis geteilt, teils regelmäßig von Erziehungspersonen überprüft und waren nur selten dazu bestimmt, niemals von irgendjemandem gelesen zu werden. Mit ihrem interdisziplinären, auch feministischen Blick auf Tagebücher, der die Möglichkeiten und Grenzen dieser Quellengattung genau bestimmt, erweist sich die gründliche Studie als Referenzrahmen für eine Vielzahl künftiger Studien, von denen einige im Ausblick des Buches schon angedacht werden. Wenn es etwas zu kritisieren gibt, so sind es die Redundanzen im Hinblick auf Bühler und Bernfeld, auf die wiederholt umfänglich referiert wird. Im Kontext der Jugendbewegungsforschung ergeben sich allerdings aus eben diesem Bezugsrahmen sehr interessante Anknüpfungspunkte.

Karl Braun

Birgit Lulay: Eugenik und Sozialismus. Biowissenschaftliche Diskurse in den sozialistischen Bewegungen Deutschlands und Großbritanniens um 1900 (Wissenschaftskulturen II | Wissensforschung 2), Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2021, 402 S., ISBN 978-3-515-13042-4, 68,– € »The human race, as it at present exists, is an extremely rotten lot«: Bei der allgemein geglaubten und hier – von George Bernhard Shaw 1911 (S. 12) – kategorisch behaupteten Degeneration erstaunt es nicht, dass auch in den sozialistischen Bewegungen, die ja angetreten waren, eine neue Gesellschaft mit neuen Menschen zu schaffen, der Kampf gegen dieses Herunter-Kommen geführt wurde. Bestimmt wurde der auf Gesundung ausgerichtete Diskurs über die intergenerationelle Degenerierungsgefährdung vom Darwinismus und insbesondere vom Sozialdarwinismus, wie ihn z. B. Francis Galton vertrat. Dieser hatte 1883 den Begriff eugenics geprägt, der in allen sozialen und politischen Strömungen der Zeit Einfluss, aber auch verschiedene Kontur gewann. Die internationale sozialistische Bewegung hatte bei ihrer Auseinandersetzung mit der Eugenik auf die spezifische Gefährdung der Arbeiterklasse zu achten und zu betonen, dass innerhalb des kapitalistischen Systems und seiner Ausbeutungsmechanismen keine essentielle Gesundung der Arbeiter und der Menschheit insgesamt zustande kommen könne. Denn den bürgerlichen, selbst von nervöser Zerrüttung bedrohten Kontrahenten der Arbeiterbewegung diente das Proletariat und dessen sozial erzeugte Armut als Folie, dieser Gefahr einen Namen zu geben. So hatten die Protagonist*innen eines die Eugenik berücksichtigenden Sozialismus eine Art Zweifrontenkrieg zu führen: gegen die Zumutungen ihrer Gegner, die das Proletariat als solches als zur Verrottung bestimmte Masse betrachteten, und gegen die tatsächliche Verrottung in den eigenen Reihen, dem ohne Klassenbewusstsein dahindämmernden, schon von Marx und Engels kritisch benannten Lumpenproletariat. In der hier vorliegenden Veröffentlichung ihrer Dissertationsschrift (Humboldt-Universität Berlin 2017) untersucht Birgit Lulay für den Zeitraum zwischen ca. 1880 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 die spezifische Ausprägung des Verhältnisses von sozialistischer Bewegung und eugenischen Überlegungen und Positionen, zudem im Vergleich Deutschlands und Großbritanniens. Dies ist als besonders verdienstvoll zu betrachten, da – wie die knapp gehaltene, aber aussagekräftige Referierung des Forschungsstandes ausweist (S. 15–23) – Eu-

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genik aus sozialistischer Sicht als eigener Gegenstand für das Deutsche Reich bislang nur sehr vereinzelt, für das Vereinigte Königreich praktisch gar nicht ins Blickfeld der Forschung geraten war. Neben den einleitenden Bemerkungen ist die Studie in übersichtlicher Weise in sieben Kapitel (Vorstellung der beiden sozialistischen Bewegungen und ihrer Publikationsorgane; wichtige Akteurinnen und Akteure; »Quantität und Qualität der Bevölkerung«; neuer Mensch und neue Gesellschaft; wissenschaftlich konstatierte Gesetzmäßigkeiten; positive Eugenik und Sozialismus; sozialistische Eugenikkritik) gegliedert, wobei die Berücksichtigung der Frauenfrage, wo nötig, besondere Aufmerksamkeit erfährt. Ein Schlusskapitel (S. 337–354) fasst die Ergebnisse gut strukturiert und in nachvollziehbarer Weise zusammen. Es ist vielleicht bezeichnend, dass mit Lulays Studie vor allem für Deutschland ziemlich vergessene, weibliche Protagonistinnen ins Zentrum rücken: Oda Olberg (1872–1955) und Henriette Fürth (1861–1938). Warum aber die Autobiographie der Soziologin und Frauenrechtlerin zwischen bürgerlicher und sozialistischer Frauenbewegung: »Henriette Fürth: Streifzüge durch das Land eines Lebens, Wiesbaden 2010« keine Erwähnung findet, muss offen bleiben. Die Gestimmtheit der Zeit stand ganz unter dem Einfluss sozialdarwinistischen Denkens, in welchem die in der Natur geschehende natürliche Zuchtwahl durch eine wissenschaftlich-medizinisch begründete künstliche Zuchtwahl ersetzt werden solle; so schreibt Karl Kautsky 1910, dass diese Ersetzung »in der Weise« vor sich gehen solle, »daß alle kränklichen Individuen, die kranke Kinder zeugen können, auf die Fortpflanzung verzichten« (S. 11f). Die Begriffe Eugenik und Rassenhygiene werden dabei praktisch synonym benutzt. Wie nun dieser Verzicht auf Fortpflanzung zum Tragen kommen könne und welche gesellschaftlichen Eingriffe, Überzeugungsstrategien, zu schaffenden Akzeptanzen (z. B. für Empfängnisverhütung) oder Zwangsmaßnahmen (z. B. für Sterilisation) dabei eingesetzt werden sollten, wird in allen Richtungen der Eugenik-Befürwörter*innen diskutiert; für die sozialistische Linie der Eugenik aber – im Gegensatz zur bürgerlichen, kapitalistisch bestimmten, sich aber objektiv gebenden Wissenschaft – wird das Erreichen des eugenischen Ziels mit dem Ziel des Sozialismus (neue Gesellschaft mit neuen Menschen), und zwar sich gegenseitig bedingend, gleichgesetzt: »The eugenic ideal shows complete identity with socialism. […] Whatever Eugenics may achieve in the future, it can achieve only with the help of Socialism« (S. 11). Lulay schreitet in ihrer extrem materialreichen Untersuchung den aus diesem ideologisch motivierten Zusammenhang abgeleiteten Vorwurf des Dilettantismus seitens der »reinen« Wissenschaft, den Zusammenhang von Eugenik und Frauenbewegung (sich überschneidender bürgerlicher und sozialistischer Kampf für Frauenrechte), aber auch die Bandbreite der Durchsetzung eugenischer Maßnahmen im sozialistischen Denken ab. Denn ähnlich wie in der allgemeinen

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Eugenik reichen die Vorstellungen von aufklärender Überzeugungsarbeit bis zu rigoros durchgesetzten Zwangsmaßnahmen, der sog. negativen Eugenik. Auguste Forel z. B., der sich als sozialistischer Arzt und Psychiater verstand, ließ in seiner Klinik bereits in den 1890er Jahren Patienten ohne deren Einwilligung kastrieren bzw. sterilisieren (S. 140). Im Ganzen entsteht so ein plastisches Bild der ausdifferenzierten sozialistischen Umgangsweisen mit der Gesundheitsverbesserung in gesamtgesellschaftlicher Hinsicht. Der Begriff Eugenik ist durch die nationalsozialistischen Verbrechen der Euthanasie nachhaltig kontaminiert. Der vorliegende Band jedoch versteht es, nachzuzeichnen, wie utopische Gesellschaftsentwürfe und praktische linke Politik mit der in den Zeitumständen verankerten Eugenik arbeiteten, sich dem allgemeinen Diskurs anglichen und sich ihm auch zu widersetzen wussten. Vor allem erweist er die Ambivalenz auch des sozialistischen Eugenik-Denkens hinsichtlich der Selbstbestimmung der Individuen. Mit Erschrecken liest man z. B. Sätze wie den folgenden von Oda Olberg von 1926: »In der Möglichkeit, die Zeugung zu regeln, haben wir somit das Mittel in der Hand, um den biologischen Abfall jeder Generation auf das Mindestmaß herabzusetzen« (S. 271; Hervorheb. KB). Interessantes und dem Mainstream, auch dem sozialistischen, widersprechendes Material liefert das Kapitel zur Eugenik-Kritik. Für den Schweizer Biologen und Sozialisten Adolf Koelsch war »es indiskutabel […], das Wohl von Mitmenschen einem höheren Zweck zu opfern« (S. 250). Der Anarchist und Geograf Petr Kropotkin setzte auf »die gegenseitige Hilfe« in den sozialen Verhältnissen, statt auf den Kampf der Stärksten (fittest) und der dafür als notwendig erachteten Ausschaltung der gesundheitlich Schwachen und fragt 1912, wer eigentlich als unfit zu betrachten sei: »Those who produce degenerates in the slums, or those, who produce degenerates in the palaces« (S.334f). Lulays breit recherchierter und sorgfältig editierter Band »Eugenik und Sozialismus« füllt somit eine Lücke im Diskurs um die Eugenik, auch wenn er, nicht zuletzt durch den durchgeführten und gelungenen Vergleich Deutschlands und Großbritanniens, parallele Bestrebungen wie die Lebensreform nicht berücksichtigt. Dies gilt auch für die Jugendbewegung, deren linksgerichtete Vertreter erst gegen Ende des Weltkriegs und in den frühen Jahren der Weimarer Republik sich mit Problemen der Eugenik zu befassen begannen. Ein Ausblick auf Vertreter*innen sozialistisch bestimmter Eugenik der Weimarer Zeit, die Einrichtung von Sexualberatungsstellen und die Massenversammlungen zur Sexualaufklärung junger Menschen (z. B. Max Hodann, Schüler des Sozial-Hygienikers Alfred Grotjahn) wäre wohl wünschenswert gewesen, ihr Fehlen ist aber angesichts der Fülle des in der Studie neu zugänglich gemachten Materials durchaus zu verschmerzen.

Gudrun Fiedler

Anna-Sophie Laug: Oskar Schwindrazheim (1865–1962). Ein Künstler, Pädagoge und Kunstschriftsteller zwischen Tradition und Reform (Beiträge zur Geschichte Hamburgs 69), Göttingen: Wallstein Verlag 2017, 51 farbige Abb. und 9 Tafeln, 448 S., ISBN 978-3-8353-3733-6, 42,– € Der in Hamburg geborene Oskar Schwindrazheim gehörte zu den Netzwerken der um 1860/70 geborenen Männer, die mit ihren Ideen einer lebensreformerischen Erneuerung der Gesellschaft durch Kunsterziehung dem Wandervogel und überhaupt der Jugendbewegung nahestanden. In den Zeitschriften der Jugendbewegung wurden ihre Aufsätze abgedruckt und ihre Ideen diskutiert. Zu diesen im ganzen Deutschen Reich vernetzten Kreisen gehörten Ferdinand Avenarius, Dresden (1856–1923), Eugen Diederichs, Jena (1867–1930) und Paul SchultzeNaumburg, Saaleck bei Bad Kosen (1869–1949). Schwindrazheim hatte Kontakt zum engeren Kreis um die Wandervogelbewegung, so zu Heinrich Sohnrey, Steglitz (1859–1948), dem Mitbegründer des Ur-Wandervogels und zu Cornelius Gurlitt (1820–1901), Mitbegründer des Vereins Altonaer Kunsthalle, dem Bruder von Ludwig Gurlitt, Steglitz (1855–1931), erster Vorsitzender des »Wandervogels. Verein für Schülerfahrten« (Ur-Wandervogel). Schwindrazheim kam über seine Begeisterung für das Wandern und für die Natur auch in Berührung mit dem in Hamburg gegründeten Hamburger Wanderverein (später Deutscher Wanderverein bzw. Bund Deutscher Wanderer) und dem auf dem Falkenberg bei Hamburg gegründeten Wanderbund »Die Fahrenden Gesellen«. Der Ältere begleitete die Jüngeren auf Fahrten und hielt Vorträge über das richtige Sehen. Die Autorin verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass schon Karl Fischer die Praxis des Hamburger Künstlers und Kunstpädagogen vom ästhetischen Sehen der Natur im Ur-Wandervogel propagierte. Im Gegensatz zu seinen Mitstreitern, die noch in den letzten Ausgaben des Brockhaus’ Anfang des 21. Jahrhunderts aufgeführt sind, ist Oskar Schwindrazheim heute weniger bekannt. Die Autorin zeichnet in dieser ersten vollständigen Biographie über Oskar Schwindrazheim das Bild eines vielseitigen, entdeckungsfreudigen und geselligen Künstlers. Ausgebildet an den Kunstgewerbeschulen in Hamburg und München arbeitete er zunächst in Hamburger Gewerbebetrieben des Kunstgewerbes und als freier Kunstgewerbler. Dabei probierte er zahlreiche stilistische Formen aus und stieß sich ausdrücklich von den überkommenen, immer wieder kopierten historisierenden und wuchtigen ornamentalen Formen im Kunstge-

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werbe ab, die er angesichts der sich rasch verändernden Umwelt als nicht mehr zeitgemäß einstufte. Schwindrazheim machte ebenso wie zahlreiche andere Kunstschaffende den Schritt aus dem Atelier heraus und suchte seine Motive in der Natur und bei den einfachen Menschen auf dem Lande, die er auf seinen Wanderungen entdeckte und in einer an der Romantik ausgerichteten Ästhetik zeichnete und malte.1 Die Beispiele auf dem Titelblatt der vorliegenden Veröffentlichung und im Buch selbst veranschaulichen dies (S. 129–138). Sein Credo der Schlichtheit und Funktionalität in den Formen der Gebrauchsgegenstände erinnert an den Werkbund, seine auf dem Studium der Pflanzen beruhende Abstraktion an den Jugendstil. Schwindrazheim wollte, so die Autorin, auch bei der industriellen Fertigung von kunstgewerblichen Produkten die Qualität der traditionellen Handwerkerkunst bewahren und weiter entwickeln, ebenso wie die mit dem Begriff »Heimat« verbundene Tradition einer von ihm als Volks- und Bauernkunst angesehenen Stilrichtung, brach also nicht so konsequent mit Motiven und Formen. Es ist also wenig verwunderlich, dass die Autorin keinen Nachweis für eine Mitgliedschaft im Werkbund oder eine Nähe zu Hamburger Jugendstilkünstlern oder Sezessionisten nachweisen konnte. Schwindrazheim profilierte sich seit 1900 v. a. als Kunstschriftsteller, Kunstpädagoge und »Volkserzieher«. Hatte er sich zunächst in zahlreichen Kunstgewerbevereinen engagiert, um sich als Zeichner einen Namen zu machen, so schloss er sich nun lebensreformerisch-kulturkritischen Vereinigungen wie den Dürerbund oder den Deutschen Bund Heimatschutz und Geschichts- und Heimatvereinen an, die sich auf die ästhetische Erziehung konzentrierten und den »Erhalt historischer, kultureller und landschaftlicher Zeugnisse in ihrer Heimat« (S. 213) zum Ziel setzten. Sein Name findet sich unter dem Gründungsaufruf zum Deutschen Bund Heimatschutz neben dem von u. a. Ferdinand Avenarius, Eugen Diederichs und den Worpsweder Künstlern Fritz Overbeck, Fritz Mackensen und Heinrich Vogler. Er war Vorstandsmitglied im Dürerbund. Schwindrazheims Ziel war es, den Menschen künstlerisches Sehen nahe zu bringen, gerade auch auf dem Lande. Schwindrazheim wirkte mit an der Wanderausstellung »Mensch und Umwelt in Niedersachsen« von 1927, die vom Verein der »Heimatsucher« in Deinstedt (heute Kreis Rotenburg/Wümme) organisiert wurde und ein breites Spektrum der in den 1920er Jahren vertretenen Kunstrichtungen zunächst in der Bremervörder Markthalle zeigte, u. a. Werke von Barlach, Ernst Mackensen, Otto Modersohn oder Willy Jaeckel, darunter auch durchaus abstrakte Darstellungen (S. 162f.). Hier wie auch bei den von Schwindrazheim zusammengestellten Mappen von Pastellen zu landschaftlichen Motivgruppen, die er bei seinen 1 Vgl. dazu auch Robert Gahde, Anna-Sophie Laug und Daniel Nössler: Mit künstlerischem Blick. Der »Naturschutzpark« Goldbecker Heide und seine Gestaltung durch Oskar Schwindrazheim, in: Stader Jahrbuch, 2018, Bd. 108, S. 195–223.

Oskar Schwindrazheim (1865–1962)

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zahlreichen Vortragen und Zeichenwanderkursen erläuterte, stand der kunstpädagogische Charakter im Vordergrund. Zielgruppen waren u. a. Kunsterzieher, Teilnehmer von Volkhochschulkursen, Schüler oder Mitglieder des von ihm gegründeten Vereins »Bund für Jugendpflege und Heimatliebe Bubenburg-Altershausen«, dessen Unterlagen im Archiv der deutschen Jugendbewegung lagern. Anna-Sophie Laug ordnet Schwindrazheims künstlerisches Schaffen, in dessen Mittelpunkt »das künstlerische Sehen in der [zu bewahrenden – d. Verf.] Natur« steht, kunsthistorisch als »Konservative Moderne« ein, um 1900 ein europaweites Phänomen, zu denken ist etwa an die Arts and Crafts-Bewegung in England. Mit seiner unglaublich intensiven Vereinstätigkeit und seinen zahllosen Vorträgen und Wanderungen hat er als Kunstpädagoge einen nachhaltigen Einfluss u. a. auf die Kunsterzieher bis in die bundesrepublikanische Zeit gehabt. Damit war auch sein »Hang zur Agrarromantik« (S. 371), also die Vorstellung von Landschaft als eng unberührter Natur verbunden. Sein Ziel war eine »Kunst für alle« (S. 325), die sich auch geschmacksbildend auswirkte und eine Verbindung zwischen dem handwerklichen oder industriellen Produkt und den Konsumenten herstellte und sich, so die Autorin, gegenwartsbezogen weiter entwickeln solle. Gegen eine beliebige Massenproduktion setzte er auf eine regionale und heimatliche Verbundenheit zwischen Produzenten und Konsumenten. Mitstreiter fand er in den vom allgemeinen lebensreformerischen Aufbruch des Bildungsbürgertums bestimmten Vereinen, die im Kaiserreich eher dem nationalen und damit dem illiberalen Spektrum zuzuordnen sind. Der Autorin ist dieser Zusammenhang sehr bewusst und sie geht auf den Künstler Oskar Schwindrazheim »im Spannungsfeld konservativer, nationaler und völkischer Strömungen« (S. 360) ausdrücklich ein. Sie konstatiert bei ihm jedoch keine antisemitischen oder völkischen Ansichten. Der Autorin ist es gelungen, die erste fundierte und auf einer breiten Quellenbasis beruhende Biographie Schwindrazheims vorzulegen und dadurch allzu schnelle Pauschalurteile über den Künstler zu widerlegen. Die Arbeit gibt darüber hinaus Einblicke in die Vernetzung und die Aktivitäten der lebensreformerischen Aufbruchsbewegung des Bildungsbürgertums von den Großstädten bis hin in kleinere Kreisstädte wie Bremervörde. Sie regt zum Nachdenken an, u. a. weil sie auch deutlich macht, wie sehr die Auffassung von »Heimat« und das Sehen von Natur konstruiert sind und die damalige Sichtweise die heutige Wahrnehmung trotz der Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus immer noch beeinflusst. Die Autorin ordnet Schwindrazheim kunsthistorisch der »Konservativen Moderne« zu. Aus Sicht der Kulturgeschichte zählt er zu den Lebensreformern um 1900, die als »Avantgarde der Moderne« bezeichnet werden können, weil sie auf Krisen der kapitalistischen Moderne u. a. im Hinblick auf Urbanisierung, Industrialisierung oder Konsumgesellschaft hinweisen, deren

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Teil sie sind. Denn ohne die entsprechende Entwicklung eines Marktes für Kunstgewerbeartikel (»Produktdesign«) oder für Landschaftsmalerei hätte Oskar Schwindrazheim seinen Lebensunterhalt weder als Angestellter noch als Dozent an einer Hochschule verdienen können.

Sylvia Wehren

Peter Dudek: Rebellen gegen den Krieg – Sucher nach Gemeinschaft. Der jugendbewegte »Berliner Kreis« im Kontext des ersten Weltkrieges, Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2021, 263 S., ISBN 978-3-7815-2435-4, 19,– €

In der Erforschung der deutschen Jugendbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts liegt ein großer Schwerpunkt der geschichtlichen Auseinandersetzungen auf der organisierten und institutionalisierten Jugend. Peter Dudeks Studie beschäftigt sich demgegenüber mit einem Verbund, dem jugendbewegten Berliner Kreis, auch Westender Kreis genannt, der als private Gemeinschaft gelten kann, da dessen Aktivitäten (seit ca. 1908) sich nicht auf ein Vereinswesen oder eine Institution gründete, weshalb er bislang nur wenig wissenschaftliche Beachtung erhielt. In Erörterung seines Forschungsstandes stellt Dudek diesen Umstand heraus und bemerkt, dass auch deshalb die bisherigen Forschungen genau diesem Aspekt zu wenig Gewicht beimaßen. So sei der Kreis bislang nur basierend auf den wenigen offiziellen Stellungnahmen und Aufsätzen beforscht worden. Da er jedoch »primär auf privaten Freundschaftsbeziehungen« (7) beruhe, müsse die Quellenbasis erweitert werden, vor allem um biografische Zeugnisse. Dudek bezieht daher u. a. die Tagebücher von Fritz Klatt und Käthe Kollwitz sowie den Briefwechsel einiger Kreisangehöriger in seine Untersuchungen ein, um auf diese Weise auch einen Blick auf die »internen Beziehungen« (9) der Gemeinschaft zu ermöglichen. Diesem Vorhaben nähert sich der Autor entlang von fünf thematischen Fokussierungen. Zum Ersten beschäftigt sich Dudek mit Gustav Wyneken und der frühen Jugendkulturbewegung, da sowohl die Person Wyneken wie auch die Idee einer Jugendkultur, zunächst den intellektuellen Bezugspunkt der gemeinschaftlichen Bezüge des Kreises darstellte. Sichtbar wird dies u. a. an der Jugendzeitschrift »Der Anfang. Zeitschrift der Jugend«, die von Wyneken verantwortet und zunächst von Georges Barbizon (Pseudonym für Georg Gretor), dem Ziehsohn von Käthe Kollwitz, und Siegfried Bernfeld, bekannt als Pädagoge, Jugendforscher und Psychoanalytiker, herausgegeben wurde. Gleichzeitig werden die Anfänge der Entwicklung der Gemeinschaft des Kreises beschrieben. Im Kern handelte es sich um Mitglieder des Steglitzer Wandervogels, die sich im Umfeld von Freideutscher Jugend, der Berliner Freien Studentenschaft und der organisierten Arbeiter*innenjugend bewegten. Im Kreis waren auch die Söhne von Käthe

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Kollwitz, Hans und Peter, engagiert; die Verbindung zu Wyneken stellte wohl Barbizon her. Die pädagogisch problematischen Ideen Wynekens – der auf eine führerkultische Bewegung mit ihm als Zentrum abzielte –, werden von Dudek ebenso herausgearbeitet wie die anfängliche Ausrichtung der Gruppe auf eine patriarchale, kollektivistische und anthropozentrische Beförderung der Ideen von Geisteskultur. Dabei sei es gerade die Scharnierfunktion von geistiger Bildung und die Ideen von pädagogischem Eros, die im Berliner Kreis gesellschaftliche Fragen und (homo-)erotische Interessen verknüpfte. Zum Zweiten werden die Kreismitglieder, deren Aktivitäten und ihr soziales Umfeld dargestellt. Näher beschäftigt sich Dudek zunächst mit den bereits genannten Söhnen von Kollwitz wie auch mit Barbizon, des Weiteren mit Erich Krems, Hans Koch, Richard Noll, Julius Hoyer und Gottfried Laessig. Die Hoffnungen der Gemeinschaft, die mit den zeitgenössischen Konzepten von Jugend verbunden waren, werden von Dudek ebenso erläutert, wie die persönlichen Haltungen der einzelnen Personen zum Krieg, die sich aufgrund der Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg und ausgelöst durch den Tod einiger Kreisangehörigen stark wandelten. Besonders eindrücklich sind in der Studie die gemeinsamen Trauerprozesse der Gruppe geschildert, die auch die anfängliche Kriegsbegeisterung in differenzierte Positionen mit unterschiedlichen Weltauffassungen überführt. Die Kriegserfahrungen einzelner Personen im Verbund seien es auch, die die Politisierung der Gruppe und die Suche nach neuen Lebenskonzepten vorantrieb. In diesem Zusammenhang macht Dudek das zeitweise gemeinsam gestaltete Zusammenleben und die Formen des politischen Wirkens der Gruppe sichtbar, das u. a. in publizistischen Erzeugnissen (z. B. Flugblätter und Druckschriften) und der Idee, eine eigene gemeinsame Siedlung zu gründen, mündete. Interessant ist bei diesen Ausführungen mindestens zweierlei. Zum einen negiert und glättet der Autor Widersprüchliches in der Erinnerung der Beteiligten nicht, sondern bringt dies geordnet und kommentiert zur Darstellung. Zum anderen verfolgt er die Beziehungen der Personen teils bis in die 1970er Jahre nach, was die Geschehnisse um den Ersten Weltkrieg in besonderer Weise kontextualisiert. Nach diesen Ausführungen werden die Ideen und die Praktiken von Kameradschaft, Gemeinschaft und Freundschaft, von Liebe, Eros und Sexualität ebenso Gegenstand der Auseinandersetzungen, wie eine dezidiertere Analyse der religiösen und politischen Haltungen des Personenkreises. Dieses Kapitel bildet den dritten und ausführlichsten Teil der Studie. Beschreibung findet insbesondere die rege intellektuelle Kultur des Kreises, die zur Formierung gemeinsamer Denkhorizonte führte. Die Gruppe hebt dabei auf ihre Kraft als loser Verbund ab. Freiwilligkeit wird als Basis der kameradschaftlichen Stärke untereinander angesehen, die sich konträr z. B. zur soldatischen Gemeinschaft verhalten würde. Dudek erörtert tiefergehend die bis ins erotische reichenden Freundschaftsbe-

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züge, die im Kreis »stabilisierende Funktion« (113) gehabt hätten und die, so der Autor, auch innerhalb der deutschen Jugendbewegung Wirkung entfalteten. Gerade die Themen Sexualität, Eros und Liebe und damit verbunden die Problematisierung der Instanz der bürgerlichen Ehe, darüber hinaus die Kriegserfahrungen der Beteiligten, so wird weiter ausgeführt, sorgten zudem für Distanz gegenüber den etablierten christlichen Kirchen. Auf der Suche nach neuen Sinnstrukturen boten Orientalismus und die Hinwendung zu einer neuen geistesbezogenen Religiosität ein Gegengewicht. Gleichfalls werden die biografischen bzw. die lebensgeschichtlichen Bedeutungen der Gruppenaktivitäten an einzelnen Personen aufgezeigt, etwa wenn Mitglieder der Gruppe, z. B. aufgrund ihrer publizistischen Tätigkeiten, in Konflikt mit Institutionen gerieten. Zudem geht Dudek in diesem Kapitel intensiver dem Aspekt der Klasse nach, die in Diskussionen um die Verbindung von proletarischer und bürgerlicher Jugend aber auch in den unterschiedlichen politischen Haltungen der Personen aus dem Kreis zum Ausdruck kommt. Zum Vierten konzentriert sich die Studie auf die Westender Tagung vom August 1917, die im Elternhaus von Fritz Klatt, selbst dem Berliner Kreis zugehörig, stattfand. Diese führte laut Dudek nicht nur zu einer »Annäherung zwischen dem rechten Flügel der Freideutschen Jugend um Knud Ahlborn und den Anhängern Wynekens, in deren Zentrum der Berliner Kreis stand« (192), sondern erstmals auch zu einer »ideologischen Fundierung« (205) der Gruppe, die nun u. a. in der Ablehnung des Krieges eine Gemeinsamkeit fand. Der Kreis versuchte zudem sich aktivistisch neu auszurichten, um dadurch die Stärkung einer landesweiten Jugendkultur, die u. a. auf Basis von Eros und Gemeinschaft, funktionieren sollte, hervorzubringen. Die politisch praktische Neuausrichtung intensivierte auch das Nachdenken über eine gemeinsame Lebensgestaltung, ein Ansinnen, dass in das kommunistisch ausgerichtete Experiment der Siedlung Blankenburg mündete, die im fünften und letzten Schwerpunkt vorgestellt wird. Das Siedlungsexperiment währte nur kurze Zeit und endete in umfänglichen Polizeiaktionen gegen Angehörige des Berliner Kreises aufgrund der Geschehnisse um die Niederschlagung der Münchner Räterepublik 1919, u. a. mit Anklagen wegen Hochverrats gegen einzelne Personen – Vorkommnisse, die ähnlich einschneidende Wirkung auf die Gruppe hatten, wie die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs. Die vorliegende Studie erweitert und vertieft Dudeks wissenschaftliches Oeuvre. Sie zeichnet sich durch eine interessante und quellennahe Detailfülle aus, die sowohl biografie- wie auch ideen- und kulturgeschichtlich inspiriert die Netzwerke des Berliner Kreises anschaulich werden lässt. Eine Stärke der Arbeit ist der umfängliche Einbezug von neuem Quellenmaterial. Neben (auto-) biografischen Materialien werden auch bisher nicht beachtete Quellen, wie Zeitungsausschnitte oder Bücher aufgenommen. Dies er-

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möglicht eine gründlichere Aufarbeitung der Zusammenhänge als bisher. In dieser Weise sind neue Perspektiven zur Jugendgeschichte und wichtige Akteure der Pädagogik weiter beforscht. Abschließend betrachtet erscheint die Titelgebung in Teilen etwas unklar, denn worin das rebellische Potential des Kreises genau bestand, wird nicht vergleichend ausgearbeitet. Wünschenswert wäre auch eine weitere analytische Betrachtung der geschlechtlichen Aspekte gewesen. Zwar wird in den Ausführungen deutlich, dass sich der Kreis vorwiegend ideologisch männerbündisch versteht, auch nimmt Dudek Stellung zum Beispiel zu antifeministischen Tendenzen und zu historischen Kontexten der Entwicklung von Frauenrechten. Auch lässt er, insbesondere im Kapitel 4 unter dem Stichwort »Sexualität«, Autorinnen zu Wort kommen. Eine geschlechtstheoretische und geschlechtshistorische Einordnung – gerade im Hinblick auf die Forschungsstände der Männerforschung – unterbleibt jedoch. Zudem steht zur Frage, warum der Autor nicht größere Bezüge zu emotionsgeschichtlichen Forschungen hergestellt hat, u. a. das wissenschaftliche Interesse an der gefühlsbezogenen Verbundenheit des Kreises hätte sich dafür angeboten. Diese Wünsche und Anfragen stehen jedoch der Reichhaltigkeit der Arbeit Dudeks in keiner Weise entgegen, im Gegenteil regt die Studie eher zu diesen und anderen weiterführenden Aspekten und Fragen an. Zum Beispiel wird in den Ausführungen auch sehr deutlich, dass sich die Zugehörigkeit zur Gruppe dynamisch gestaltete. Weiter beforscht werden könnte daher, wie sich die Bindungskräfte derartig loser und privater Verbünde charakterisieren und historisieren lassen und wie dies in die Entstehung von Jugend als gesellschaftlicher Bezugshorizont einzuordnen ist.

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Meike G. Werner (Hg.): Ein Gipfel für Morgen. Kontroversen 1917/18 um die Neuordnung Deutschlands auf Burg Lauenstein (marbacher schriften neue folge 18), Göttingen: Wallstein Verlag 2021, 448 S., ISBN 978-3-8353-3584-4, 22,90 € Am 7./8. Dezember 2017 fand am Deutschen Literaturarchiv Marbach die Konferenz »Die Ideen von 1917. Debatten auf Burg Lauenstein über die Neuordnung Deutschlands nach dem Krieg« statt. Grundlage war hierfür das in Marbach liegende Material aus dem Nachlass des Verlegers Eugen Diederichs (1867–1930), der 1917/18 eine, für den Mainstream des intellektuellen Klimas in Deutschland aussagekräftige Tagungsreihe auf Burg Lauenstein (29.–31. Mai 1917; 29. Sept.–3. Okt. 1917; 21.–25. Mai 1918) initiiert hatte. Eine Dokumentation dieser Konferenz – versehen mit ergänzendem umfangreichem Material an Texten und Bildern – liegt nun mit diesem Buch vor. In der Literatur zur Gestimmtheit in der Endphase des Ersten Weltkriegs dürfte diese Publikation künftig einen Stammplatz beanspruchen dürfen. Als die Ideen von 1914 werden all jene Äußerungen der Kriegsbegeisterung in Deutschland zusammengefasst, die von intellektueller Seite den Krieg als notwendige Verteidigung des deutschen Geistes und der deutschen Kultur gegen die materialistisch und individualistisch orientierte Zivilisation des Westens bejubelten. Diederichs’ Anliegen war es, im vierten Kriegsjahr eine erneuerte Bilanz dieser Ideen von 1914 zu ziehen. Bereits im Vorwort liefert Meike G. Werner ein knappes, die Ideen von 1914 und 1917 zusammenführendes Resümee: »Unumstritten war unter den oft ungleichen Teilnehmern der Führungsanspruch des ›deutschen Geistes‹ bei der Neuordnung Deutschlands« (S. 18). Die Tagung, die eigentlich an Pfingsten 1917 in Jena stattfinden sollte, wurde aufgrund der kritischen Versorgungslage – die Hungersnot im Winter 1916/17 ist als Steckrübenwinter in die Erinnerung eingegangen – auf die etwas im Abseits des Frankenwalds gelegene Burg Lauenstein verlegt. Thema der Pfingsttagung 1917 war »Sinn und Aufgabe unserer Zeit«, das der Folgetagung im Herbst »Das Führerproblem im Staate und in der Kultur«. Bei beiden darf Max Weber (1864– 1920, Heidelberg) als die zentrale Figur gelten; er hatte für ein drittes Treffen an Pfingsten 1918 »den Schwerpunkt ›sexuelle Frage‹ und Jugendbewegung […] favorisiert« (S. 13f.) – daraus wurde aber, auf unterschiedliche Tage terminiert, »Die Jugendbewegung« sowie »Politik und Moral« (S. 344).

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Der Band ist in drei große Blöcke unterteilt: Analysen (Vorträge der Konferenz 2017); Bilder (Fotoalben aus Lauenstein); Texte (hier finden sich das Originalmaterial aus dem Nachlass Diederichs’, aber auch Briefe aus anderen Nachlässen, Dokumente aus Aktenbeständen sowie Veröffentlichungen). Ergänzt wird dies durch den Block Erinnerungen mit späteren Berichten und literarischen Verarbeitungen von Teilnehmenden. Gerade an dieser Stelle sind die Frauen, von denen wenige vorgetragen haben, deutlich präsent. Die weibliche Perspektive wird im Feld der Geschichts- und Erinnerungsarbeit deutlich. Zu nennen sind hier die Frauenrechtlerin und Politikerin Marianne Weber (1870– 1954) (S. 275), die Lyrikerin Ida Dehmel (1870–1942) und die Schriftstellerin Else Ernst (1874–1946), die jeweils mit ihren Gatten gekommen waren. So ergibt sich aus den wissenschaftlichen Analysen, den Originaltexten, den zwei Fotoalben und den Erinnerungen ein multiperspektivisches Bild der Zeitumstände, der Organisation, des Umfeldes und der Stimmung während der Tagungen. Da kaum offizielle Protokolle der Tagungen existieren und auch Vortragsmanuskripte nicht erhalten sind (z. B. »sind von Webers Lauensteiner Reden nur gewisse Anhaltspunkte überliefert«, S. 176), können die inhaltlichen Diskussionen, vor allem für die zweite und dritte Tagung, nur mit einigen Schwierigkeiten nachgezeichnet werden. Wie bereits erwähnt, Max Weber, der an den ersten beiden Tagungen teilgenommen hatte, wurde in der bisherigen Rezeption als wichtigster Referenzpunkt für Lauenstein gesehen. Dass nun aber sein großer Gegenspieler auf der Burg, Max Maurenbrecher (1874–1927), genauer in den Blick gerät, ist nachhaltig zu begrüßen. Maurenbrecher, evangelisch-reformierter Theologe, erst Mitglied im Kreis um Friedrich Naumann, von 1903–1913 Mitglied der SPD, dann immer weiter nach rechts rückend – 1917 (nach den beiden Tagungen) wurde er Mitglied der Deutschen Vaterlandspartei (auch: Hindenburg-Partei) und des Alldeutschen Bundes, später war er ein führender Kopf der der Ideologie des Nationalsozialismus verpflichteten Deutschen Christen –, war von Eugen Diederichs beauftragt worden, die Tagungen zu organisieren. Maurenbrechers Denkweise geht von Fichtes Proklamation des Deutschen Geistes und der Deutschen als weltrettendem Volk aus (»Reden an die deutsche Nation«, 1808) und setzt auf einen antiparlamentarischen autoritären Führerstaat. Die Konfrontation mit Max Webers Parlamentarismus und dessen angestrebter politischer Lösung der anstehenden Probleme war somit vorprogrammiert. In einem zusammenfassenden Überblick der Pfingsttagung schrieb Wolfgang Schumann (1867–1964), 1917 Redakteur des »Kunstwarts«, über die unterschiedlichen Positionen: »Außenpolitisch sieht er [Maurenbrecher] das bisherige Ergebnis des Weltkriegs in einer völligen Zusammenschweißung der individualistisch denkenden Welt unter Englands Joch gegen die deutsche Staatsauffassung. […] Der Weltkrieg ist ihm der Opfer wert, wenn der deutsche klassische Staatsgedanke sich zu erhalten

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vermag […] M. Weber-Heidelberg vertritt M. gegenüber einen auf wirtschaftlichen Liberalismus und starkem Realismus fussenden gemäßigten Imperialismus. […] Das allgemeine Wahlrecht ist ihm kein ideales aber das einzige realmögliche. Bezüglich der äußeren Politik sieht W. im Weltkrieg nicht den Kampf der von M. betonten beiden Weltanschauungen […], sondern vielmehr die Folgen einer unkontrollierten, äußeren Politik« (S. 277–280). Dieses zeitgenössische Zitat der Pfingsttagung 1917 mag den »ersten tiefgehenden Riß« (S. 279) auf Lauenstein charakterisieren. Festzuhalten aber bleibt, dass sich die Debatten um die immer gleiche Litanei »Deutscher Geist« drehten, während politische Analysen abgelehnt wurden – »mit seinen ökonomisch-politischen Ordnungsideen redet sich Weber ins Abseits der Lauensteiner Sinnsuche« (S. 113). Aber selbst bei Weber scheint kein Gedanke an eine mögliche Niederlage des Deutschen Reiches auf. Dies bedingte den zweiten Riss: den zwischen der von der Kriegserfahrung geprägten »Jugend, welche etwa im Alter von 24 bis 35 vertreten war« (S. 280) und der älteren Generation. Schumann macht drei Gruppen aus: Knud Ahlborn (1888–1977) und Harald Schultz-Hencke (1892–1953), beide Ärzte, als Führer der akademischen Freischaren München, »die zweite Gruppe, zwei Münchener Studenten […], vertraten einen literarischen Kreis, die dritte Gruppe endlich wurde von drei Eigenbrödlern gebildet […]«. (S. 280) Diese sehr mager gehaltene und die Breite der Jugendbewegung negierende Repräsentation von Jugend auf einer Tagung für Zukunftsentwürfe dürfte von der Einladungsstrategie her gewollt gewesen sein. So griff denn auch Ahlborn die »Tendenzen, die sich im Kreise Wynekens, des ›Anfangs‹ und des ›Aufbruchs‹ geltend gemacht haben«, den liberalen und eher linken Flügel der freideutschen Jugend also, an und betonte statt einer politischsuchenden Ausrichtung »Förderung von Reformbestrebungen wie Alkohol- und Nikotinbewegung, Bodenreform, […] Luxusgegnerschaft usw.« (S. 280). Max Weber – »offenbar nur nach der Wynekenschen Richtung hin orientiert« – kritisierte diesen Auftritt aus der rechten freideutschen Jugendbewegung »mit soviel Sarkasmus, daß ihm ein grosser Teil der anfänglichen Sympathien bei den Hörern verloren ging«. (S. 281) Für die dritte Tagung scheint es, dass Max Weber die Jugendbewegung mit dem aktuellen Thema »Jugendbewegung und ›sexuelle Frage‹« (S. 14) ins Zentrum stellen wollte. Nach seinem Rückzug aus der Planungsgruppe wurde das Thema, das Maurenbrecher wohl nicht zum deutschen Geist zu passen schien, »entschärft«. Ob die Pfingsttagung 1918 offiziell den Titel »Jugendbewegung und Frauenfrage(n)« (S. 17, 137, 164) trug, ist den abgedruckten Dokumenten (z. B. S. 344, 350) nicht zu entnehmen. Das Hauptreferat zur Jugendbewegung auf der Pfingsttagung hatte Harald Schultz-Hencke übernommen, der als Vertreter der akademischen Freischar und

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Karl Braun

der Freideutschen Jugend schon an den Vortagungen anwesend war.1 Für die Diskussionsrunde »wurden in Aussicht genommen Hr. Wyneken, Hr. Nelson (evtl. s. Schüler Hasselblatt), Hr. Joël (evtl. einer seiner Freunde)« (S. 350).2 Bei der Tagung, die erst abgesagt werden musste und dann über Pfingsten 1918 dennoch stattfand, trugen neben Schultz-Hencke laut Martha Paul[-Hasselblatt] (1893–1987) in einer Besprechung in der »Freideutschen Jugend« (August 1918) vor: Gustav Wyneken (1875–1964), »Jugend und Politik«, und Meinhard Hasselblatt (1888–1966), »Dogma, Gewissen, Willkür« (S. 369). Sie spricht neben Wyneken von sechs freideutschen Teilnehmer*innen: die zwei Vortragenden, Anna Bresser (1892–1956, später Ethnologin), Margret Hahlo (1896–1971, später Physiotherapeutin), Alfred Kurella (1895–1975) und sie selbst. Über die geführten Diskussionen ist wenig überliefert. Die Tagebuch-Aufzeichnungen von Schultz-Hencke geben ein gutes Stimmungsbild der Tagung und seiner eigenen, erotisch aufgeladenen Befindlichkeit (S. 361–368), doch bleiben die dortigen, verschieden geführten Auseinandersetzungen ziemlich im Unklaren. Kurella schrieb am 19. Juni 1918 an Wyneken: »Es fehlte nur die Zote. Nachher kam ein Schwof. Uns wars zum Kotzen und wir benahmen uns wie die Klötze, machten nichts mit.« (S. 369) Warum der Auszug aus dem Roman »Stille und Sturm« (1955) der späteren Kommunistin Berta Lask (1878–1967) unter die Dokumente zur dritten Tagung (S. 370–379) eingeordnet wurde und nicht unter die Erinnerungen, bleibt unverständlich; zu fiktiv und ungenau sind die dortigen Schilderungen. Max Weber, der Pfingsten 1918 gar nicht anwesend war, wird als jemand charakterisiert, der der Jugend keinen Weg weisen konnte und ohnmächtig umfiel: »In alten, überlebten Ideen steckengeblieben, verkrampft und nervenkrank. Er ist zerrüttet« (S. 373). Einen jungen Mann jedoch, beim Spartakus-Bund engagiert und von der Befreiung Karl Liebknechts träumend, lässt sie fragen: »Sag mal, was ist das eigentlich für ein Käse hier auf dem Schloß?«, (S. 376; zum Roman s. auch S. 165–170). Mit dem vorliegenden Band werden die Tagungen auf Burg Lauenstein greifbar und können – endlich! – auch für die Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur zum Ersten Weltkrieg und der Novemberrevolution nutzbar gemacht werden. Mehrere der Teilnehmer auf Burg Lauenstein (z. B. Otto Neurath, Ernst Toller) wurden wichtige Akteure der Bayerischen Räterepublik. Als bezeichnend für die konservative und vergangenheitsgebundene Ausrichtung der Lauensteiner Tagungen unter der Federführung von Eugen Diederichs und Max Maurenbrecher mag die Absage von Gustav Landauer stehen: »Im allgemeinen 1 Vgl. den Beitrag von S. Theilemann über H. Schmidt-Hencke in diesem Band. 2 Gemeint sind der Philosoph Leonard Nelson (1892–1927) und Mediziner Ernst Joel (1902– 1980).

Ein Gipfel für Morgen

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tut dem Geist, wie er in Deutschland im Krieg und vor dem Krieg sich gezeigt hat, Reue […] mehr und früher not als Anspruch auf Führung. Führen heißt unter anderem lehren; ich suche die, die das Lernen gelernt haben und die mit Demut führen« (S. 306f). Ein äußerst gelungener und von Meike G. Werner sehr sorgfältig edierter Band, der meines Erachtens jedoch einen Wermutstropfen enthält, nämlich den gewählten Titel: »Ein Gipfel für Morgen«. Denn Zukunftsperspektiven werden auf Burg Lauenstein kaum erörtert, eher feiert eine im Untergang begriffene deutsche Geist-Überheblichkeit sich selbst, die – angesichts des absehbaren weiteren Kriegsverlaufs und des desaströsen Kriegsendes – der zunehmenden völkischen Radikalisierung kein Morgen entgegenzusetzen hatte. Aber ein Titel wie »Ein Gipfel ohne Zukunft: Die Ideen von 1917« wäre auch keine wirklich publikumswirksame Alternative.

Katharina Lenski

Adriane Feustel: Alice Salomon (1872–1948). Sozialreformerin und Frauenrechtlerin (Humanistische Porträts 4), Würzburg: Königshausen & Neumann 2020, 15 Abb., 78 S., ISBN 978-3-8260-6886-7, 9,80 €

»Nicht Wohltun, sondern Gerechtigkeit!«1 war das Anliegen von Alice Salomon. Sie plädierte für ein Umdenken in der Wohlfahrts- und Armenpflege, die sich nicht länger an Defiziten, sondern an den Potentialen der Hilfsbedürftigen orientieren sollte. Damit verband sie Gedanken aus der Klassik (S. 47) mit den sozialen, pragmatisch orientierten Debatten ihrer Zeit (S. 21, 33) und knüpfte an den Ruf des englischen Freidenkers und Reformers Karl Pearson an, die Welt » to a better place to live in« (S. 35) zu gestalten. Dies könnte angesichts der schwelenden Debatten um Hilfsbedürftige, Flüchtlinge, Obdachlose oder Hartz-IVReform nicht aktueller sein. Denn dort dominieren nach wie vor Disziplinaransprüche preußischer Provenienz, wo zur Problembewältigung vielmehr Potentialanalysen nötig sind. Wer kennt heute die Verdienste der Sozialreformerin und Frauenrechtlerin, die 1908 in Berlin-Schöneberg die erste Soziale Frauenschule und 1925 die Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit gründete, doch schon 1920 aus dem Bund Deutscher Frauen ausgetreten war, weil dort antisemitische und nationalistische Tendenzen unüberhörbar wurden? Die studierte Nationalökonomin, Historikerin und Philosophin war 1906 an der FriedrichWilhelms-Universität zu Berlin gegen den lautstarken Widerstand der alten Professoren bei dem damals bekanntesten Nationalökonomen Max Sering zu den »Ursachen der ungleichen Bezahlung von Männer- und Frauenarbeit« promoviert worden. Diese Studie veröffentlichte sie 1906 in der Reihe »Staatsund sozialwissenschaftliche Forschungen«, die Sering gemeinsam mit dem Kathedersozialisten und Begründer der historischen Sozialökonomie, Gustav Schmoller, herausgab.

1 So auch der Titel des zweiten Bandes der einschlägigen Biographie von Carola Kuhlmann: »Nicht Wohltun, sondern Gerechtigkeit«. Alice Salomons Theorie sozialer Arbeit, Stuttgart 2008; s. auch den ersten Band: dies.: Alice Salomon und der Beginn der sozialen Berufsausbildung. Eine Biographie, Stuttgart 2007.

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Ihr Studium resultierte aus einem theoretischen Interesse, aber auch aus der Beschäftigung mit der Geschlechterungerechtigkeit und dem Elend der Frauen, Mädchen und Mütter. Frauenwohl und Gemeinwohl waren nicht abgelöst voneinander zu denken. Frauenbewegung, Sozialwissenschaften und Kommunalreformen mussten deshalb in diesem Sinne zusammenwirken (S. 16–27). Bereits seit 1893 hatte sie sich in den, von der Pionierin der sozialen Frauenarbeit, Jeannette Schwerin, gegründeten Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit in Berlin engagiert. Zu deren Vorsitz wurde sie 1899 auf Vorschlag des Reformers der Armenpflege, Emil Münsterberg, gewählt. Im Jahr zuvor hatte sie Arbeiterinnenklubs gegründet, um den Ärmsten zumindest einen zeitweise verfügbaren, geschützten Sozialraum zu öffnen. Von der Basisarbeit über die Analyse konkreter Problemlagen bis hin zur internationalen Vernetzung erstreckte sich ihr Engagement. Bereits 1899 war sie als Rednerin auf dem internationalen Frauenkongress in London aufgetreten und publizierte unentwegt. In ihren Schriften verband sie kritische Reflexionen mit Reformkonzepten, um den Sozialberuf zu entwerfen und zu entwickeln. Ihr Grundanliegen war es, gemeinsam mit den Hilfsbedürftigen diese zu befähigen, ihre Lage stetig, nachhaltig und selbstbestimmt zu verbessern, anstatt ihnen fremde Interessen überzustülpen (S. 28–34). Das unterschied ihr Konzept von der altüberkommenen Wohlfahrt, die zahlreiche Stigmatisierungen für Zwangslagen und Armut insbesondere der Frauen parat hatte und diese mit Hilfe bürokratischer Techniken auf Dauer stellte. Dies änderte sich mit dem Ersten Weltkrieg, der das Sozialgefüge erschütterte, doch der auch zur Unterfinanzierung der Wohlfahrtsund Armenpflege und damit zum Verlust an Reformpotential führte. Zugleich musste die Frage nach dem, was sozial ist und was die Gesellschaft zusammenhält, neu gestellt werden (S. 30): Die Sozialarbeit hatte als Kriegswohlfahrt ihre »Unschuld verloren« (S. 43). Nach dem verlorenen Krieg brachen alte Gegensätze neu inszeniert auf. Die Konkurrenz der Individuen, von Stadt und Land, von Klassen, Rassen und Nationen verschärfte sich und nötigte Alice Salomon, an die gegenseitige Hilfe und an die Berufsethik der sozial Arbeitenden zu appellieren, da der Mensch von der Liebe, nicht aber vom Hass leben könne (S. 39–41). So produktiv Alice Salomon international vernetzt war, so schleichend wurde sie ab 1933 eingeschränkt und 1937 wegen ihrer jüdischen Wurzeln aus Deutschland vertrieben. Nur dank ihrer guten Netzwerke und internationaler Fürsprache konnte sie nach New York einreisen. Dort gelang es der nun fast mittellosen Fünfundsechzigjährigen jedoch nicht mehr, sich zu etablieren oder wie gewohnt zu publizieren. Erst 1944 erlangte sie die amerikanische Staatsbürgerschaft und starb schon am 30. 08. 1948 in New York. Das Manuskript ihrer

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Autobiographie hatte sie zwar 1944 abgeschlossen. Doch in deutscher Sprache wurde es erst 1983, fast vierzig Jahre später, veröffentlicht.2 Seit 1991 trägt u. a. die Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Berlin, hervorgegangen aus der von Alice Salomon gegründeten Sozialen Frauenschule, ihren Namen. Die Historikerin Adriane Feustel hat im Jahr 2000 das Archiv der Alice-Salomon-Hochschule (ASA) gegründet und bis zu ihrem siebzigsten Lebensjahr 2013 geleitet.3 Sie hat nach zahlreichen Veröffentlichungen zu Alice Salomon 2020 deren Biographie vorgelegt und ermöglicht damit auf 78 Seiten einen Einblick in deren Leben und Werk. Der Band basiert auf Quellen aus Berliner Archiven (ASA, Archiv im Pestalozzi-Fröbel-Haus, Archiv des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen, Archiv der HUB) und der AliceSalomon-Collection des Leo-Baeck-Instituts New York. Zunächst wird die Lebensleistung dargestellt, anschließend die Jugend und der Beginn des Engagements, um anschließend um inhaltliche Schwerpunkte wie die Spannung von Gerechtigkeit und Wohltun sowie ethische Fundierungen zu kreisen. Zum Schluss wird zusammenfassend gefragt, wie eine Welt angeeignet wird, die »aus den Fugen« geraten ist. Diese Fragen verbinden die Perspektive von Alice Salomon mit der von Autorin und Leserin. Die Protagonistin diversifizierender Sozialarbeit hat mit ihrem Werk weit über den bestehenden Horizont hinausgedacht und -konzipiert. Zugleich musste sie 1933 ertragen, dass ihr die selbst aufgebaute und lange Jahre geleitete Soziale Frauenschule Hausverbot erteilte (S. 55), und sie damit aus ihrem eigenen Werk ausschloss. Die Verfemung ihres Werks als »bürgerlich« in der DDR und das lange Vergessen in der Bundesrepublik werden abschließend benannt. Das Buch erinnert auf wenigen Seiten an die große Sozialreformerin und bietet einen guten Einstieg in die Problemlagen der damaligen Zeit, zugleich wird die Aktualität der Thematik deutlich. Womöglich hätte eine andere Gliederung einige Längen und irritierende Vorausgriffe (so die Würdigung der Lebensleistung bereits auf den ersten Seiten) verhindert. Ein wenig zu kurz kommen auch die internationalen Bezüge bzw. die internationale Rezeption ihres Werks. Doch das ist wohl auch der fehlenden Forschung geschuldet, die hier einsetzen könnte. Wenn heute von Inklusion gesprochen wird, sollten wir uns eingestehen, dass der langjährige Ausschluss von Alice Salomon aus dem öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs auch die ausschließende Agenda und deren Kontinuitäten in der deutschen Sozial- und Armenfürsorge zeigt. Wir wären gut beraten, Alice Salomons Plädoyer für das Erkennen der Potentiale vermeintlich Anderer ernst

2 Alice Salomon: Charakter ist Schicksal. Lebenserinnerungen, aus dem Englischen übersetzt von Rolf Landwehr, hgg. von Rüdiger Baron und Rolf Landwehr, Weinheim u. a. 1983. 3 Vgl. auch das Schriftenverzeichnis in Carola Kuhlmann: Wohltun (Anm. 1), S. 166–190.

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zu nehmen und in der kritischen Rückschau potentialorientierte Wege zum Umgang mit Armut und Anderssein zu finden.

Reinhold Lütgemeier-Davin

Helmut Donat und Rostocker Friedensbündnis (Hg.): Hans Paasche – Ein Leben für die Zukunft, Bremen: Donat Verlag 2022, 192 S., ISBN 978-3-949116-07-0, 14,80 €

Hans Paasche (1881–1920) gilt als Ikone für Anhänger der Jugend-, Lebensreform-, Naturschutz-, Tierschutz- und Friedensbewegung und ist dennoch ein bekannter Unbekannter geblieben. Der Bremer Verleger Helmut Donat ist die wesentliche Antriebskraft bei der Erforschung und Popularisierung seines Werdegangs und seiner Lebensleistung. Angefangen hat er schon 1981 mit der Herausgabe ausgewählter, damals kaum mehr greifbarer Paasche-Schriften im Selbstverlag.1 Ihm zu verdanken ist schließlich 1992 die Publikation wesentlicher Schriften2 in seinem Bremer Verlag, jüngst etwa eine bibliophile, aber preisgünstige Neuausgabe von Paasches bekanntestem zivilisationskritischen Werk, »Lukanga Mukara« (2020).3 Werner Lange veröffentlichte dort eine gut lesbare Biographie Paasches (1995).4 Aus historischer und ethnologischer Perspektive hat man sich der Biografie Hans Paasches durchaus unterschiedlich angenähert: Mary Fulbrook, Professorin am University College in London, beschreibt Hans Paasche als Vertreter eines dissonanten Lebens, der Wahrnehmungen der äußeren Wirklichkeit gegen sich allmählich ausbildende konträre Überzeugungen aushalten musste.5 Uwe Puschner hebt in einem Buchbeitrag in vergleichbarer Denkrichtung ab auf die »Ambivalenzen und Wandlungen« eines »Übergangsmenschen«, der bis in die Gegenwart als Repräsentant der Jugend-, Lebensreform- und Friedensbewegung rezipiert, aber kaum als zeitgenössischer Kritiker des deutschen Kolonialismus wahrgenommen werde; er liefert einen analytisch interessant aufgefächerten 1 Helmut Donat (Hg.): »Auf der Flucht« erschossen…Schriften und Beiträge von und über Hans Paasche, Bremen 1981. 2 Hans Paasche: »Ändert Euren Sinn!« Schriften eines Revolutionärs, hg. von Helmut Donat und Helga Paasche, Bremen 1992. 3 Hans Paasche: Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins Innerste Deutschland, Bremen 2020. 4 Werner Lange: Hans Paasches Forschungsreise ins innerste Deutschland. Eine Biographie, Bremen 1995. 5 Mary Fulbrook: Dissonant Lives. Generations and violence through the German dictatorships, Oxford 2011, S. 24–51.

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Hintergrund für Paasches bekanntestes Werk »Lukanga Mukara«.6 Andreas Schmid zeigt hierzu auf, dass es bei der Briefsatire nicht nur um »die Idee eines Naturmenschen« gehe. »Lukanga« sei »kein Perser, kein türkischer Spion und nicht nur ein ›edler Wilder‹, sondern sowohl ein primitiver als auch ein primitivistischer Ethnograph«. Indem er das eigene Schreiben maskiere und dafür zugleich einen »Anderen« erfinde, bleibe er allerdings »ethnozentrischen Denkmustern verhaftet, die durch sein doppelseitiges ethnographisches Interesse an Deutschland und Afrika jedoch zugleich infrage gestellt werden.«7 Lothar Wieland skizziert den Wandlungsprozess Paasches und stellt ihn als nachdenklichen zivilisationskritischen Menschen vor, der sich konsequent zum Kritiker des Kolonialismus und Militarismus entwickelt habe.8 Sehenswert dürfte die Ausstellung im Völkerkundemuseum Zürich sein, die bis zum Januar 2024 läuft: »Hochzeitsreise? 5 Fragen an die ›Sammlung Hans Paasche‹ aus Ostafrika«. Sie thematisiert die auf der Hochzeitsreise von Ellen und Hans Paasche gesammelten Objekte, erklärt, wie sie 1922 nach Zürich gelangt sind, bestimmt ihren Wert, forscht nach den ehemaligen Besitzern der Objekte und liefert zugleich einen Beitrag zur aktuellen Debatte um Provenienz und Restitution.9 Der Marburger Ethnologe John Khairi-Taraki vergleicht die propagierten, weitgehend diametral entgegengesetzten Körperbilder von Paasche und Hermann Popert anhand ihrer Aufsätze in der lebensreformerisch orientierten Zeitschrift »Der Vortrupp« (1912–1921) mit dem Ergebnis: Der germanophile Popert vertrat »von Beginn an ein deutschnationales Programm. Paasches Konzept hingegen, auch wenn er in Teilen deutschnational bzw. kollektivistisch argumentiert, war ein mehr oder weniger auf die ganze Menschheit zielendes.«10 6 Uwe Puschner: Perspektivenwechsel. Hans Paasches »Forschungsreise…ins Innerste Deutschland«, in: Stefan Noack, Christine de Gemeau, Uwe Puschner (Hg.): Deutsch-Ostafrika. Dynamiken europäischer Kulturkontakte und Erfahrungshorizonte im kolonialen Raum, Berlin 2019, S. 145–160. 7 Andreas Schmid: Deutschland im Spiegel Ostafrikas. Hans Paasches Lukanga Mukara (1912/ 13), in: Marcus Hahn, Frederic Ponten (Hg.): Deutschland-Analysen (Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2/2020), Bielefeld 2020, S. 49–65, hier S. 61. 8 Lothar Wieland: Vom kaiserlichen Offizier zum deutschen Revolutionär. Stationen der Wandlung des Kapitänleutnants a. D. Hans Paasche (1881–1920), in: Wolfram Wette (Hg.): Weiße Raben. Pazifistische Offiziere in Deutschland vor 1933, Bremen 2020, S. 179–191; siehe auch Metin Toprak: Hans Paasche. Vom Kolonialoffizier zum Antikolonisten und Pazifisten, in: Andreas Kramer, Ritchie Robertson (Hg.): Pacifist and Anti-Militarist Writing in German, 1889–1928. From Bertha von Suttner to Erich Maria Remarque, München 2018, S. 226–240. 9 Ein Ausstellungskatalog ist bislang noch nicht angezeigt; vgl. https://www.news.uzh.ch/de/ar ticles/media/2022/Hochzeitsreise.html [15. 08. 2022]. 10 John Khairi-Taraki: Gegen »Fremdkörper« und »Fremdherrschaft« im eigenen Reich. Körperdenken bei Hans Paasche und Hermann Popert, in: Karl Braun, Felix Linzner, John Khairi-Taraki (Hg.): Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und Strategien biologischer »Aufrüstung« (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 13/2017), Göttingen 22019, S. 109–122, Zitat S. 122.

Hans Paasche – Ein Leben für die Zukunft

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Der Aufsatz bietet einen ersten Blick in die Analyse des lebensreformerischen Konzepts der frühen bürgerlichen Jugendbewegung. Der emeritierte Professor für Sozialpädagogik Christian Niemeyer spürt den tatsächlichen oder vermeintlichen »dunklen Seiten« der Jugendbewegung am Beispiel Paasches nach.11 Sein jüngster Aufsatz dazu, fußend auf trüben Quellen, spekuliert darüber, ob Paasche 1920 wirklich durch eine rechtsterroristische Soldateska, die mit 60 (sic!) Bewaffneten anrückte, ermordet worden ist – sein Urteil: die »offizielle Mär« – oder ob es sich nur um Totschlag oder Suizid gehandelt habe. Niemeyer legt nahe, dass Paasche wegen des frühen Todes seiner Frau und seiner nicht vollends ausgeheilten Syphiliserkrankung suizidal gestimmt gewesen sei, unter Verfolgungswahn gelitten habe und folglich vor den Soldaten geflohen sei, als sie auf sein Gut »Waldfrieden« vorrückten. Diese Spekulation kommt einer absurden Verunglimpfung Paasches und einer Verharmlosung der organisierten militaristischen Mordorganisationen in der Weimarer Republik gleich, die auch nicht dadurch seriöser und überzeugender wird, dass sie in der renommierten »Zeitschrift für Geschichtswissenschaft« erscheinen konnte.12 Angemessen wäre es gewesen, wenn die Zeitschrift eine Erwiderung gegen diese üble Diffamierung Paasches zugelassen hätte. Helmut Donat wäre dazu bereit gewesen. Er musste mit seiner Klarstellung auf eine Tageszeitung ausweichen.13 Neu herausgekommen ist nun ein prachtvoller, reichhaltig bebilderter und dabei kostengünstiger Band über Paasche, der an die bisherigen Veröffentlichungen Helmut Donats anknüpft, sie erweitert und vertieft. Ihm ging es nie nur um einen Beitrag zur Wiederentdeckung eines aufrechten Mannes, der sich schon vor dem Ersten Weltkrieg vom kaiserlichen, imperialistisch infizierten Marineoffizier zu einem überzeugten demokratischen Friedenskämpfer entwickelt hat, der klarsichtig erkannte, dass die maßgebliche Schuld am Friedensbruch 1914 Deutschland zuzuschreiben war und deshalb von rechtsradikal gesinnten Reichswehrsoldaten 1920 ermordet wurde. Sondern Helmut Donat ging es zugleich – darauf verweist der Untertitel des Buches – um Erinnerungspolitik in einem urdemokratischen Sinn, darum, die Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung Paasches zu beschreiben, zu belegen, mit Sympathie und zugleich kritisch-sezierendem Blick herauszustellen. Dazu hat Helmut Donat zusammen mit seinen Mitstreitern weitere wertvolle Bausteine geliefert. In der Tat: Hans Paasche hatte zu seinen Lebzeiten etwas zu sagen; und er hätte es auch heute noch. Er 11 Christian Niemeyer: Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend, Tübingen 2013, S. 175ff. 12 Ders.: Hans Paasche unter Töchtern der Wüste? Kritische Anmerkungen zur Heldenverehrung in der Jugendbewegungshistoriographie, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 2020, 68. Jg., H. 3, S. 210–229. 13 Helmut Donat: Den Toten die Wahrheit, in: Junge Welt, Nr. 150, 30. 06. 2020, S. 12f.

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Reinhold Lütgemeier-Davin

wurde nicht nur von Rosa Luxemburg, Carl von Ossietzky, Kurt Tucholsky, Friedrich Wilhelm Foerster, Maximilian Harden und anderen als weltläufiger, überzeugender Aktivist für Frieden, Freiheit, soziale Gerechtigkeit geschätzt, als ein Mann, der sich zwar als junger Marineoffizier an den Kolonialgräueln in Ostafrika schuldig gemacht hatte, dann aber eine bemerkenswerte weltanschauliche Wandlung durchlief, sich um kulturelle Vermittlung zwischen Europa und Afrika bemühte, sich für fortschrittliche Ideale, reale Utopien, einsetzte, die im krassen Gegensatz zum imperialistisch, rassistisch, antisemitisch, autoritär, militaristisch fundierten Kaiserreich standen. An Paasches Ideen ließe sich heute anknüpfen: Er hätte etwas zu sagen zur Klimaveränderung, zu den Folgen von Umweltzerstörung, zur Achtung kultureller Unterschiede, zum mörderischen Eroberungswahn, zur Friedensbewahrung jenseits bloßer militärischer Sicherheitspolitik, ja zur Bewahrung der Grundlagen jeglichen Lebens überhaupt. Freilich ist zuzugeben, dass aktuelle gesellschaftliche Bewegungen oft, zu oft ohne Beachtung ihrer historischen Vorbilder auszukommen meinen. Dennoch: Lebendig und greifbar ist Hans Paasche jedenfalls in der organisierten Jugendbewegung, insonderheit auf dem Ludwigstein. Hier benannte die Freideutsche Jugend auf ihrer Pfingsttagung 1921 im Gedenken an den Ermordeten eine mächtige Linde nach ihm. Einige hundert Jahre alt, ist sie über die Zeitläufte erhalten geblieben, wenngleich sie ein Sturm schließlich so schwer traf, dass die Linde nicht mehr zu retten war und es zu einer Neuanpflanzung kam. Der derzeit stolze Baum entstammt einem Sprössling aus dem Jahr 2007 von Hans Paasches ehemaligem Landgut, in der heutigen Woiwodschaft Großpolen gelegen. Neben der Linde, unterhalb der Jugendburg Ludwigstein, findet sich auch der Grabstein von Hans Paasche, 1985 von seiner Tochter Helga und Freunden aus Polen hierhergeschafft. An dieser Stelle fanden auch deutschpolnische Jugendbegegnungen statt; ein besonderer Kontakt bestand zwischen dem Ludwigstein und dem Gimnazjum in Krzyz˙ Wielkopolski, deren Schülergruppen sich zunächst auch um die Pflege der Grabstätte Hans Paasche gekümmert haben, was Werner Lange bis heute fortgeführt hat. Zu all dem informiert das neue Buch. Es versammelt Zeugnisse und Darstellungen von Menschen, die sich aus historisch-politischem oder familiärem Interessen mit Hans Paasche vielfach im Einklang wissen, Menschen, die sich zum Teil zu den Traditionen der bürgerlichen Jugendbewegung bekennen, organisatorisch mit ihr verbunden sind. Neben Darstellungen über Paasches Beziehungen zu Afrika, zu seiner Biographie wird ihm auch selbst das Wort gegeben: aussagekräftig, meinungs- und argumentationsstark, mitunter gar anrührend. Dazu Stellungnahmen von Persönlichkeiten, die ihn kannten und solchen aus der unmittelbaren Gegenwart, die seine Gedanken nutzbar machen möchten für virulente gesellschaftliche Herausforderungen. Eine Instrumentalisierung

Hans Paasche – Ein Leben für die Zukunft

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Paasches für aktuelle politische Zwecke? Das wäre überzogen geurteilt. Aber die Erweiterung eines Blicks von der Historie in unsere Gegenwart hinein ist sehr wohl beabsichtigt.

Rückblicke

Susanne Rappe-Weber

Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für das Jahr 2021

Noch einmal prägten Einschränkungen, die sich aus der Corona-Pandemie-Bekämpfung ergaben, das Arbeitsjahr in der Jugendburg und damit auch im Archiv. Der Lesesaal bleib bis in den Februar hinein geschlossen; die Mitarbeiterinnen arbeiteten in der ersten Jahreshälfte weit überwiegend im Homeoffice. Trotzdem gelang die Aufrechterhaltung der Archivgeschäfte: es wurden Anfragen beantwortet, Praktikant*innen und eine Freiwilligendienstleistende angeleitet und beschäftigt, Erschließungsvorhaben über Werkverträge durchgeführt, Nachlassund Aktenübernahmen organisiert, die Kommunikation mit Jugendburg und Landesarchiv betrieben. Nachdem wieder reguläre Buchungen in der Herberge möglich waren, kamen einige Archivnutzer*innen in den Lesesaal. Auch fanden wieder vereinzelte VorOrt-Besuche von Einzelpersonen und Gruppen statt, dann kamen allmählich auch Arbeitsbesprechungen in Präsenz und Veranstaltungen der Öffentlichkeitsarbeit hinzu. Im letzten Quartal lief der Betrieb fast normal; allerdings blieben die sonst üblichen, spontanen Besuche von Burggästen im Archiv aus. Eine große Verbesserung für die Internet-Versorgung aller Ludwigsteiner Einrichtungen brachte der im Sommer realisierte Glasfaser-Anschluss. Für das Archiv besteht somit die Voraussetzung, mittels sog. »HessenPCs« nunmehr das »HessenNetz« zu erreichen, also die Internetplattformen des Landes Hessen, insbesondere für Personalangelegenheiten sowie für archivfachliche Informationen und Anwendungen. Die Funktionalität des AdJbs als Dienststelle des Hessischen Landesarchivs hat sich damit um einen entscheidenden Schritt erhöht.

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Susanne Rappe-Weber

Archivstatistik 2021 Auskünfte

2016 294

2017 269

2018 289

2019 261

2020 214

2021 263

Benutzer Benutzertage

122 281

63 177

103 217

60 230

65 177

63 112

Besucher Besuchergruppen

1283 25

1346 29

933 17

554 19

100 4

130 7

Seminargruppen Seminarteilnehmer

11 210

11 174

16 181

6 105

2 20

2 35

Scanaufträge

1088

868

2487

3001

5460

4.730

Personal Bei den Stellen der Archivleiterin Dr. S. Rappe-Weber, der Archivarin E. Hack und der B.A./ FAMI B. Richter gab es keine formalen Veränderungen. Bis Ende Juli unterstützte die Bundesfreiwillige Isabella Stutrucker, die anschließend eine Ausbildung als Fachangestellte antrat. Das ganze Jahr über haben die DFGfinanzierten Musikwissenschaftlerinnen, Frau Dr. Amrei Flechsig (Hannover) und Frau Dr. Ute Brüdermann (Bückeburg), jeweils mit einer halben Stelle die Erschließung der Nachlässe und Aktenbestände fortgesetzt. Im Bereich der Praktikant*innen wurden in Zusammenarbeit mit der Vitos Reha Kassel mehrere Personen für eine Arbeitserprobung jeweils für mehrere Monate in verschiedenen archivischen Arbeitsbereichen wie dem Verpacken oder Digitalisieren eingesetzt.

Ehrenamt, Praktikum, Werkvertrag – – – –

Bundesfreiwillige: Isabella Stutrucker (01.01.–31.07.) Bundesfreiwillige: Johanna Steffenhagen (01.09.–31.10.) Ehrenamtlich: Lutz Kettenring (Pfadfindergeschichte) Ehrenamtlich: Sandra Funck und Michael Kubacki (Workshop Jugendbewegungsforschung) – Praktikum Lara Moon Stoller, Gießen: Erschließung des Psychologen-Nachlasses von Wolfgang Kroug, N 16 (27.09.–25.10.) – Praktikum Igor Engelhardt, Kassel: Digitalisierung von Kunstmappen (26.04.– 30.06.)

Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für das Jahr 2021

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– Praktikum Monisa Drube, Witzenhausen: Verpackung und Neuordnung von Musikalien (26.04.–31.12.) – Werkvertrag Saskia Pältz-Rieger, Jena: Klärung von Urheberrechten älterer Jahrbücher (15.05.–31.07.) – Werkvertrag Lucia Thiede, Bielefeld: Gestaltung der Jahresausstellung (01.06.– 15.10.) 100 Std. – Werkvertrag Marja Kersten, Bielefeld: Gestaltung der Jahresausstellung (01.06.–15.10.) – Werkvertrag Felix Ruppert, Marburg: Erschließung der Fotos im djo-Bestand (01.10.–31.12.) – Werkvertrag Anne Hildebrand, Göttingen: Tonträgererschließung im Bestand der Jugendmusikbewegung (ganzjährig)

Erschließung und Bestandserhaltung Zum Ende des Jahres gelangten die Erschließungsarbeiten an den MusikNachlässen und dem Großbestand »Archiv der Jugendmusikbewegung« (A 228) von Dr. Ute Brüdermann und Dr. Amrei Flechsig an ein zeit- und fachgerechtes Ende. Diplom-Archivarin Elke Hack hat ihr letztes Dienstjahr für den Abschluss mehrerer Erschließungsprojekte genutzt. Fachangestellte Birgit Richter hat das Fotoarchiv des Mindener Kreises erschlossen (A 239). Fortgeführt wurde die Erschließung von Nachträgen im Bestand »djo-Deutsche Jugend in Europa« durch Felix Ruppert (A 216). Im Rahmen der Bundessicherungsmittel ist der Nachlass von Walter Fränzel vollständig verfilmt und digitalisiert worden (N 230). Aus eigenen Mitteln sind die Plakatsammlung, die Baupläne und alle Gruppenbücher (Fahrten-, Nest- und Tagebücher) digitalisiert worden und stehen nun auch in ARCINSYS online zur Verfügung. Insgesamt stehen mehr als 100.000 Digitalisate des AdJbs im Netz.

Bibliothek Das innerhalb des DFG-Projektes zur Jugendmusikbewegung aufgeworfene Problem, wie größere Mengen bibliothekarisch schwieriger Katalogisierungen zu realisieren sind, wurde gelöst. In Zusammenarbeit mit der Firma BBI – Daten Digital GmbH mit Sitz in Mühlhausen konnten relativ kostengünstig alle Titel mit Musikbezug, über 5.000 Einheiten, direkt in den OPAC des AdJbs aufgenommen werden, darunter auch Liederbücher und Notenwerke aus Nachlässen (Helm König, Eckard Holler).

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Susanne Rappe-Weber

Zugänge Häufiger als in den Vorjahren erreichten das Archiv Angebote zur Übernahme von Archiv- oder Bibliotheksgut, möglicherweise veranlasst durch Corona-bedingte Freiräume für entsprechende Aufräumarbeiten. Diese Anfragen führten in insgesamt 34 Einzelfällen zur Aufnahme. Peter Dehmel – Sohn von Hans Dehmel (1896–1985), Bundesführer der deutschen Freischar, Gründer des Boberhauses in Schlesien und Lehrer – hat in einem ersten Schritt Nachlassteile seines Vaters an das AdJb abgegeben (N 269, 18 Archivkartons). Weitere Abgaben dieses in seiner Vollständigkeit und Vielseitigkeit besonders wertvollen Jugendbewegungsnachlasses sind geplant. – Übergeben wurde durch den Sohn der Nachlass von Heinrich Mohr de Sylva, einem von Wilhelm Kotzde-Kottenrodt geprägten Aktivisten der völkisch-bündischen Singebewegung im Hohenloher Land in den 1920er und 1930er Jahren (N 276, 11 Archivkartons). – Wie von dem Pädagogen und ehemaligen Vorsitzenden des Archivbeirats, Hartmut Alphei, ausdrücklich gewünscht, ergänzte seine Tochter Wiebke Alphei im Namen der Familie den entsprechenden AdJbNachlass. Vereinbart wurde, dass weitere Nachlassteile aus der Familie im Zusammenhang mit Wandervogel, Jugendbewegung und Reformpädagogik darin Eingang finden sollen (N 153, 10 Archivkartons). – In das Archiv gelangt sind weiterhin drei Fotoalben des einschlägig bekannten Heinrich Eichen mit pädophilen und teils kinderpornografischen Aufnahmen aus dem Umfeld des Berliner Bundes deutscher Pfadfinder, die zur Rekonstruktion entsprechender Personennetzwerke und damit zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt beitragen (F 3 Nrn. 648–650). Laufend stellt Peter Dudek Materialien, die er zur Vorbereitung seiner Veröffentlichungen gesammelt hat, zur Verfügung (N 174). Wie ertragreich diese nachgenutzt werden, zeigen nicht zuletzt zwei Beiträge in diesem Jahrbuch (Angermann, Haßler). Auch für Eckard Holler wurde ein Vorlass angelegt, in dem insbesondere seine musikalischen Sammlungen Aufnahme finden sollen; in seinem Fall hat die wissenschaftliche Rezeption ebenfalls bereits eingesetzt (N 275). Jürgen Reulecke hat mit der sukzessiven Übertragung seiner Unterlagen begonnen, zunächst mit dem eigenständigen Nachlass der Familie Paasche, für den, ausgehend von dem neuen Interesse an Hans Paasche (vgl. die Rezension in diesem Jahrbuch), bereits Voranfragen vorliegen (N 177). Entsprechend dem Vertrag mit dem Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder wurden noch einmal papierene Unterlagen der Bundeszentrale (2012– 2018) aus der Geschäftsstelle in Immenhausen in das AdJb übernommen und in einem parallelen Erschließungsprojekt in der Datenbank ARCINSYS nutzbar gemacht (A 204, 4 lfd. Meter). Vorgesehen ist, ab 2019 verstärkt digitale Akten direkt in das Digitale Archiv Hessen zu übernehmen.

Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für das Jahr 2021

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Ebenfalls in Zusammenarbeit mit dem Digitalen Archiv Hessen wurde die Website »gustograeser.info« gesichert, das erste rein digitale Archivobjekt des AdJbs. Die Seite wird laufend in technischer Hinsicht von dem Gräser-Enkel Reinhard Christeller aktualisiert und inhaltlich von dem Gusto-Gräser-Experten und -Sammler Hermann »Gusto« Müller verantwortet; entsprechende Aktualisierungen des Digitalisats sind daher vereinbart (AdJb, N 277 Nr. 1) Käuflich erworben aus Mitteln des Landesarchivs Hessen wurden bei einer Auktion des Berliner Auktionshauses Bassenge mehrere Postkarten von Hugo »Fidus« Höppener aus dem Nachlass von Klaus Wieben (N 268). Außerdem ist die Kunstsammlung um das Gemälde »Burg Ludwigstein« des Eschweger Malers Ernst Metz durch einen Ankauf erweitert worden.

Ausstellung Anlässlich der Archivtagung wurde eine, in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl von Prof. Dr. Wolfgang Braungart (Bielefeld) entwickelte Ausstellung eröffnet, zu dem Thema: »Den Kommenden einen Weg aus den Ruinen weisen« – Neue Archivausstellung zu Kinder- und Jugendzeitschriften der Nachkriegszeit im AdJb (vgl. dazu den Beitrag in diesem Jahrbuch). In Kooperation mit dem Projekt »Grauzone. Rechtsextremismus-Prävention in Nordhessen« der Jugendbildungsstätte Ludwigstein, Dr. Alexander Akel, wurde eine Buchausstellung mit Neuerwerbungen realisiert. Nachfragen zur Beteiligung an anderen Ausstellungen gab es, bis auf die Anforderung von digitalen Bildvorlagen, 2021 nicht.

Archivführungen, Seminare, Präsentationen In der zweiten Jahreshälfte kamen einige Gruppen zu Führungen bzw. Seminaren in das AdJb: drei Familien, zwei Pfadfindergruppen (DPSG), das Projekt »Landpartie«, das Kasseler Staatstheater-Projekt »mädchentreu« sowie die VJL-Novembergespräche.

Tagungen – Workshop Jugendbewegungsforschung, digital (30.04.–02. 05. 2021) – Archivtagung »Transzendental obdachlose Jugend? Sinnsuche, Sinnfragen, sinn-volle Praktiken der jungen Generation in den ersten Nachkriegsjahren (1945–1949)« (22.–24. 10. 2019, 40 Teilnehmer*innen)

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Susanne Rappe-Weber

Veröffentlichungen und Vorträge Meike S. Baader, Alfons Kenkmann (Hg.): Jugendbewegung im Kalten Krieg. Zwischen Vereinnahmung, Interessenvertretung und Eigensinn (Jugendbewegung und Jugendkulturen. Jahrbuch 16| 2020/21), Göttingen 2021, 428 S., 48 Abb. Susanne Rappe-Weber – Susanne Rappe-Weber (Konzept und Texte), Carsten Deiters (Bilder und Realisierung): Die Schule am Meer – Videocast zu der Reformschule auf Juist, Eduard Zuckmayer, Anni Reiner [https://www.youtube.com/watch?v=5sr8Tk U0qYc; 24. 06. 2022] – Maria Daldrup, Susanne Rappe-Weber: archive2121 – Netzwerk Kinder- und Jugendarchive. Ein Archiv-Blog zur Sammlung und Archivierung kinder- und jugendhistorischer Quellen aus dem 21. Jahrhundert [https://archive2121.hy potheses.org/] – Rezension zu »Kristine Alexander: Guiding Modern Girls. Girlhood, Empire, and Internationalism in the 1920s and 1930s, Vancouver 2017«, in: Baader, Kenkmann: Jugendbewegung (2021), S. 371–376 – Rezension zu »Würzburger Beiträge zur Kestenberg-Forschung, hg. von Friedhelm Brusniak u. a., Weikersheim 2019«, in: Baader, Kenkmann: Jugendbewegung (2021), S. 389–392 – Vorstandswechsel bei der Stiftung Dokumentation der Jugendbewegung. Jürgen Reulecke und Hannes Moyzes übergeben ihre Ämter als Vorsitzender und Finanzvorstand an Eckart Conze und Lutz Kettenring, in: Ludwigsteiner Blätter Nr. 291, S. 20–22 – Nur bedingt zur Lektüre empfohlen. Umstrittene Schriftsteller-Überlieferung im Archiv der deutschen Jugendbewegung, in: Archivnachrichten aus Hessen 21/1, 2021, S. 15–19 – Kinder- und Jugendzeitschriften auf dem Ludwigstein. Frankfurter Sammlung (1945–1990) im Archiv der deutschen Jugendbewegung, in: Archivnachrichten aus Hessen 21/1, 2021, S. 20–23 – Prominente Neuzugänge: Fidus-Bestand durch Ankauf verstärkt, in: Newsletter HessenArchiv aktuell 2021/02 – Die Schule am Meer. Reformpädagogisches Experiment der Weimarer Zeit digital, in: Newsletter HessenArchiv aktuell 2021/05 – Archiv, Atmosphäre, Austausch. Die Wochenstipendien auf der Jugendburg Ludwigstein, in: Newsletter HessenArchiv aktuell 2021/09 – »Den Kommenden einen Weg aus den Ruinen weisen«. Neue Archivausstellung zu Kinder- und Jugendzeitschriften der Nachkriegszeit im Archiv der deutschen Jugendbewegung, in: Newsletter HessenArchiv aktuell 2021/10

Aus der Arbeit des Archivs. Tätigkeitsbericht für das Jahr 2021

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– Präsentation von »archive2121« beim digitalen Treffen der International Association of Labour History Institutions (09. 09. 2021) – Präsentation des AdJbs bei der 70-Jahrfeier der »djo-Deutsche Jugend in Europa« in Berlin (09. 10. 2021) – Präsentation von Archivquellen zu »Hans Paasche« in einem Geschichtsseminar der Universität Jena (08. 11. 2021) – Vortrag »Frauenbewegtes Engagement für eine deutschnationale Volksgemeinschaft – Katharina Hertwig (1878–1953)« bei der digitalen Konferenz »Politikerinnen in der Weimarer Republik – mehr als eine Spurensuche?« (11.11.)

Ute Brüdermann Gesangsepidemie auf der Jugendburg. Archiv der Jugendmusikbewegung online, in: Newsletter HessenArchiv aktuell 2021/12 Amrei Flechsig Die Orgel »Ver sacrum« – vom Jugendhof Hassitz zur Jugendburg Ludwigstein, in: Ludwigsteiner Blätter Nr. 292, S. 26–29

Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2021 sowie Nachträge

1.

Alexander Akel: Strukturmerkmale extremistischer und populistischer Ideologien. Gemeinsamkeiten und Unterschiede, Baden-Baden: Nomos 2021 2. Thure Alting: Das Ohr am Herzen der Jugend. 75 Jahre Jugendverbandsarbeit, hg. vom Stadtjugendring Wiesbaden e. V., Wiesbaden: Selbstdruck 2021 3. Hannah Behling: Bewerbungen um einen Platz in der »neuen Gemeinschaft«. Die völkische Siedlung »Vogelhof« in den 1920er Jahren, Bachelorarbeit, Justus Liebig Universität Gießen 2020 4. Heidi Benneckenstein: Ein deutsches Mädchen. Mein Leben in einer Neonazi-Familie, Stuttgart: Tropen 2019 5. Christian Berkel: Der Apfelbaum. Roman, Berlin: Ullstein 2019 6. Heinz R. Böhme (Hg.): Wir haben uns lange nicht gesehen. Kunst der Verlorenen Generation, Salzburg u. a.: Hirmer 2020 7. Peter Dudek: Rebellen gegen den Krieg – Sucher nach Gemeinschaft. Der jugendbewegte »Berliner Kreis« im Kontext des Ersten Weltkrieges, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2021 8. Nina Funke: Demokratische Strukturen und Demokratievorstellungen in der deutschen bürgerlichen Jugendbewegung am Ende der Weimarer Republik (1930/31) am Beispiel einer Leipziger Mädchengruppe der Deutsche Freischar, Masterarbeit, Technische Universität Braunschweig 2019 9. Katja Geisenhainer: Der Kulturhistoriker Paul Leser und seine Verbindung zur Bündischen Jugend und zum SVD-Orden, Berlin: Reimer 2020 10. Li Gerhalter: Tagebücher als Quellen. Forschungsfelder und Sammlungen seit 1800, Göttingen: V&R unipress 2021 11. Manfred Göbel: Der Stahlberg in Mainz: Festung – Spielplatz – Jugendhaus, München: morisel Verlag 2021 12. Benno Hafeneger, Hannah Jestädt, Moritz Schwertheim: Die AfD und die Jugend. Wie die Rechtsaußenpartei die Jugend und die Bildungspolitik verändern will, Frankfurt a. M.: Wochenschau Verlag 2021

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Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2021 sowie Nachträge

13. Antje Harms: Von linksradikal bis deutschnational. Jugendbewegung zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, Frankfurt u. a.: Campus Verlag, 2021 14. Sabine Hering, Harald Lordick, Gerd Stecklina: Jüdische Jugendbewegung und soziale Praxis (Schriftenreihe des Arbeitskreises Geschichte der Jüdischen Wohlfahrt in Deutschland 6), Frankfurt a. M.: Fachhochschulverlag 2017 15. Petra Hoffmann (Hg.): Historische Bootshäuser. Architektur des deutschen Rudersports (1883–1933), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2021 16. Eckart Holler: Auf der Suche nach der Blauen Blume. Die großen Umwege des legendären Jugendführers Eberhard Koebel (tusk), Berlin u. a.: Lit 2020 17. Barbara Magen, Natalie Reinsch (Hg.): Vom Ihr zum Wir. Flüchtlinge und Vertriebene im Niedersachsen der Nachkriegszeit (Aufsatzsammlung zum Ausstellungskatalog), Hannover: Museumsverband Niedersachsen und Bremen e. V. 2021 18. Mindener Kreis (Hg.): Wolfgang Hempel zum 90. Geburtstag. Die Jugendbewegung in Minden/Westfalen von 1909 bis 1962, Baunach: Spurbuchverlag 2021 19. Nerother Wandervogel (Hg.): 100 Jahre Nerother Bund 1921–2021, Dorweiler: Nerother Wandervogel 2021 20. Sophie Reinlaßöder (Hg.): »Wir sind Arbeiterkinder« – Arbeiterjugendbewegung nach 1945. Archivpädagogische Handreichung, Archiv der Arbeiterjugendbewegung: Oer-Erkenschwick 2021 21. Diana Rieger: Das »poetische Tagebuch« des Volksschullehrers Johannes Greb. Der Spiegel eines Vogelsberger Lebens, Lauterbach: Hohhausmuseum und Hohhausbibliothek 2016 22. Martin Saintemarie: Les Artamans. Espoirs et déceptions d’un mouvement de jeunesse völkisch 1924–1939, Paris: Sorbonne Université 2019 23. Tim Schanetzky, Tobias Freimüller, Kristina Meyer, Sybille Steinbacher, Dietmar Süß und Annette Weinke (Hg.): Demokratisierung der Deutschen. Errungenschaften und Anfechtungen eines Projekts, Göttingen: Wallstein 2021 24. Fritz Schmidt, Jürgen Reulecke: Hans Scholl: »Noch nie in meinem Leben war ich so Patriot…«: Hans Scholl im Umfeld von dj.1.11 und sein verschlungener Weg in den Widerstand, Baunach: Spurbuchverlag 2021 25. Alina Schubert: Der Jugendbuchautor Karl Köster im Dritten Reich. Eine bio-bibliographische Skizze, Bachelorarbeit, Universität Osnabrück 2021 26. Barbara Stambolis (Hg.): Flucht und Rückkehr: Deutsch-jüdische Lebenswege nach 1933, Gießen: Psychosozial-Verlag 2020 27. Martin Steinhagen: Rechter Terror. Der Mord an Walter Lübcke und die Strategie der Gewalt, Hamburg: Rowohlt 2021

Im Archiv eingegangene Bücher des Erscheinungsjahres 2021 sowie Nachträge

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28. Florence Tamagne: Homosexuels et lesbiennes de l’Europe nazie (Ausstellungskatalog), Paris 2021 29. Juliane Tiffert: »Auf Fahrt für Führer, Volk und Vaterland«. Narrative der Grenz- und Auslandsfahrten Nationalpolitischer Erziehungsanstalten, Münster: Waxmann 2021 30. Vereinigung Jugendburg Ludwigstein (Hg.): 100 Jahre Jugendburg Ludwigstein (1920–2020). Jubiläumsheft 100 Jahre bewegte Geschichte (Ludwigsteiner Blätter – Sonderheft), o. O. 2020 31. Lorenz Völker: War mein Großvater ein Nazi?: Ein Enkel auf Spurensuche nach der Geschichte eines Staatsanwalts im Dritten Reich, Hildesheim 2015 32. Bertram Weisshaar: Einfach losgehen. Vom Spazieren, Streunen, Wandern und vom Denkengehen, Köln: eichborn 2018 33. Fritz Ziegler, Wolfgang Kumpf (Hg.): Deutsche evangelische Jungenschaft Gau Bergstrasse. Erinnerungen an ein Jungenschaftsjahrzehnt in Weinheim und Lützelsachsen 1959–1969, Weinheim 2018

Wissenschaftliche Archivbenutzung 2021

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21.

Alexander Akel, Kassel: Projekt Grauzone. Extremismusprävention zum völkisch-nationalistischen Milieu Eric Angermann, Berlin: Die neonazistische Rechte in beiden deutschen Staaten (1983–1991) Rebecca Bamberger, München: Antisemitic cultural codes in Weimar Republic youth literature Franziska Bauer, Marburg: Das große Turnerjugendtreffen 1924 in Marburg Stephan Beetz, Mittweida: Frank Glatzel Detlef Belau, Mössingen: Die deutsche Jugendbewegung 1910–1925 Hans Joachim Dietz, Erkrath: Zur Biografie von Eduard Daelen Jens Elberfeld, Halle: Geschichte von Jugend/ Sexualität (1890–1930) Renata Gußmann, Berlin: Geschichte der djo-Deutsche Jugend in Europa Laura Haßler, Berlin: Die »Jungen Naionaldemokraten« (1967–1994) Uwe Hemke, Bad Honnef: Wilhelm Matern Marja Kersten, Bielefeld: Bedeutung, Funktion und Rezeption von Literatur in der Jugendbewegung nach 1945 Marie Knipfer, Recklinghausen: Bund Deutscher Pfadfinder Christian Köhler, Kaiserslautern: Die Fahrenden Gesellen Petra Lange-Berndt, Hamburg: Monte Verità Felix Linzner, Würzburg: Archivierung und Forschung – Ulrich Linse und Hans Koch Emmy Maendel, Walden, New York, USA: Die Geschichte der BruderhofBewegung Bernd Martin, Horben: Zum persönlichen Umfeld von Martin Heidegger Bernard McLardy, Weimar: Die Odenwaldschule (1968–1976) Tobias Mielich, Hannover: Artamanenbewegung in den 1920er und 1930er Jahren Simon Nussbruch, Hamburg: Bündische Singewettstreite

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Wissenschaftliche Archivbenutzung 2021

22. Niklas Pelizäus-Gengenbach, Berlin: Musikethnologische Sammlungen in der deutschen Kolonialzeit (1900–1914) 23. Fritz Riemer, Hannover: Fritz Jöde; Arbeitskreis Musik in der Jugend 24. Felix Ruppert, Marburg: Archivierung und Forschung – Ulrich Linse und Hans Koch 25. Walter Sauer, Reutlingen: Kunst und Künstler der Jugendbewegung 26. Carola Schormann, Lüneburg: Der Komponist Heinrich Spitta 27. Tobias Stark: Erhalt und Modernisierung der baulichen Anlagen auf Burg Ludwigstein 28. Lara Moon Stoller, Gießen: Wolfgang Kroug und die Marburger Akademische Freischar 29. Hans Christoph Stoodt, Frankfurt a. M.: Biografische Entwicklung des Wandervogels und Journalisten Dr. Otto Pohl (1895–1943) 30. Markus Strüver, Fischbachtal: Naturbildung an vorgeschichtlichen Orten 31. Lucia Thiede, Bielefeld: Ästhetik der Jugendbewegung nach 1945 32. Christoph Wagner, Balingen: Lebensreform in Süddeutschland 33. Jakob Wasserscheid, Jena: Das Problem der Geschlechtlichkeit im »Berliner Kreis« 34. Holger Vietzke, Hamburg: Biografische Skizze zu Hans Braumann (1892– 1978) 35. Lieven Wölk, Berlin: Der deutsch-jüdische Jugendbund »Schwarzes Fähnlein« und seine Geschichte im 20. Jahrhundert

Anhang

Autorinnen und Autoren

Eric Angermann, M.A., Promovend an der Georg-August-Universität Göttingen zum Thema der Genese neonazistischer Akteure in der BRD und in der DDR zwischen 1983 und 1992, Publikationen zu weiteren Aspekten der Geschichte der extremen Rechten und zu internationalen Studierenden in der DDR Hannah Behling, B. A., Studentin der Geschichts- und Kulturwissenschaften an der Justus-Liebig-Universität Gießen Karl Braun, Prof. Dr., 2002–2019 Professor für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg; Veröffentlichungen zur Sexualitätsgeschichte, Jugendbewegung, zur spanischen Kulturanthropologie, zu deutsch-tschechischen Beziehungen, zum Genozid am europäischen Judentum (Fokus Theresienstadt) Wolfgang Braungart, Prof. Dr. phil., seit 1996 Prof. für neuere deutsche Literatur und allgemeine Literaturwissenschaft; Publikationen u. a. zur Kunstpädagogik, zur literarischen Utopie, zur Ritualtheorie, zu Stefan George und seinem Kreis, zu Literatur und Religion sowie zur Zeit um 1900 David Brehm, M. A., Promotionsprojekt an der Philipps-Universität Marburg zum Thema »›Gebrauchte Moderne‹. Reformatierung und Relektüre in der frühen Bundesrepublik«; Publikationen zur deutschsprachigen Literatur und ihrer Medienkulturgeschichte seit dem 19. Jahrhundert Matthias Buschmeier, Dr. phil., Studium der neueren deutschen und europäischen Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie in Hagen, Bielefeld und Santa Barbara; Promotion am Graduiertenkolleg »Klassizismus und Romantik« in Gießen und Bielefeld, Akademischer Oberrat an der Universität Bielefeld; Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, Kulturtheorien der Schuld, europäische Besatzungsliteraturen

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Autorinnen und Autoren

Gloria Colombo, Dr. habil., wissenschaftliche Mitarbeiterin für deutsche Literatur an der Katholischen Universität Mailand und Brescia (Italien); Veröffentlichungen zur deutschsprachigen Literatur der Jahrhundertwende und des frühen 20. Jahrhunderts (Stefan Georges Dichtung in den Schulbüchern der Zeit, Kafka und die symbolische Architektur. Ariosts Spuren in Hugo von Hofmannsthals Werk), zur Seelenwanderungsthematik in der deutschen Kulturwelt zwischen 1700 und 1850, mit besonderer Aufmerksamkeit auf Goethes Werk; zur Rezeption des deutschsprachigen Theaters in Mailand Jens Elberfeld, Dr. phil., Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Historische Erziehungswissenschaft des Instituts für Pädagogik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Veröffentlichungen unter anderem zur Geschichte der Therapeutisierung sowie zur Geschichte kindlicher und jugendlicher Sexualität Viktor Fichtenau, M. A., Historiker und Doktorand am Historischen Seminar der Universität Heidelberg; Veröffentlichungen zur südwestdeutschen Universitäts-, Parteien- und Behördengeschichte Gudrun Fiedler, Dr. phil., seit 2006 Leiterin der Abteilung Stade des Niedersächsischen Landesarchivs; Veröffentlichungen zur Niedersächsischen Wirtschafts- und Verwaltungsgeschichte im 20. Jahrhundert, zur Geschichte des Landes Braunschweig und des Elbe-Weser-Raums 18.–20. Jh. sowie zur Geschichte der bürgerlichen Jugendbewegung Saskia Fischer, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Seminar der Leibniz Universität Hannover; Veröffentlichungen u. a. zur Literatur nach 1945, zum Schulddiskurs und zur Vergebung in Kunst und Kultur nach 1945, zur jüdischen Literatur, zur Lagerliteratur und zum Verhältnis von Ritual und Literatur Sandra Funck, M. A., Historikerin, Mitarbeiterin im Universitätsarchiv Göttingen; Promotionsprojekt an der Universität Göttingen über die Schülerproteste um 1968 in Deutschland und Italien Gabriele Guerra, Dr. phil., Professor für deutsche Literaturgeschichte an der Sapienza Universität in Rom; Veröffentlichungen zum Deutsch-Judentum in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zur konservativen Revolution, zur historischen Lebensreform und zur Jugendbewegung. Interessengebiete u. a.: Walter Benjamin, Ernst Jünger, Stefan George, Franz Kafka, Hugo von Hofmannsthal

Autorinnen und Autoren

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Laura Haßler, M. A., seit 2020 Doktorandin am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam; Forschung zur Geschichte der NPD-Jugendorganisation »Junge Nationaldemokraten«, Publikationen u. a. zu privatem Bunkerbau in der Bundesrepublik und zu dem Liederbuch der Bundeswehr Marja Kersten, M. A., Linguistin und Literaturwissenschaftlerin, Promovendin an der Universität Bielefeld über Literatur und Literaturrezeption in Zeitschriften der deutschen Jugendbewegung von 1945 bis 1949 Viola Kohlberger, M. A., Kirchenhistorikerin, Studium des Lehramtes für Mittelschulen, Dissertation zur Katholischen Jugendverbandsarbeit im Bistum Augsburg von 1945 bis 1963 bei Prof. Dr. Franz Xaver Bischof, Hilfskraft am Lehrstuhl für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der LudwigMaximilians-Universität München Rainer Kolk, apl. Prof., Dr. phil., bis 2020 Literaturwissenschaftler an der Universität Bonn; Veröffentlichungen zur Literatur des 18.–20. Jahrhunderts und zur Wissenschaftsgeschichte der Kulturwissenschaften Michael Kubacki, B. A., Historiker, Masterstudium Geschichte der internationalen Politik an der Philipps-Universität Marburg Susanna Kunze, M. A., Historikerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg, Veröffentlichungen zur jüdischen Jugendbewegung Katharina Lenski, Dr. phil., Historikerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Geschcihte der FSU Jena, Habilitationsprojekt zur Geschichte der Asozialität im 19. und 20. Jahrhundert; bis 2011 Aufbau und Leitung des Thüringer Archivs für Zeitgeschichte »Matthias Domaschk« Jena, Publikationen zu Jugendkulturen, zu Marginalisierten und Eliten, zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte mit Schwerpunkt DDR Felix Linzner, M. A., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Europäische Ethnologie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg; Dissertation zur völkisch rassistischen Gesellschaftskonzeption Willibald Hentschels im Kontext von völkischer Jugendbewegung und Siedlungswesen Reinhold Lütgemeier-Davin, Dr. phil., Studiendirektor i. R.; Veröffentlichungen zum organisierten Pazifismus, zu Rüstungs- und Abrüstungsfragen, zum Wi-

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Autorinnen und Autoren

derstand gegen den Nationalsozialismus, zu politischen Biographien, zu geschichtsdidaktischen Themen Franziska Meier, Dr. phil., Historikerin, seit 2021 Projektleiterin zur Konzeption des Orientierungsjahres im Collegium Academicum Heidelberg: Publikationen u. a. zu subkulturell geprägten Kulturmärkten, Liedgut der bündischen Jugend sowie zur Kollegienhausbewegung Mitte des 20. Jahrhunderts Johann Nicolai, Dr. phil., Promotion als Historiker 2014 an der Universität Potsdam, Post-Doc u. a. an der Universität Haifa (2018) und am Deutschen Historischen Institut Warschau (2021); Publikationen zur deutsch-jüdischen Geschichte in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zur jüdischen Emigration nach Shanghai und zur Geschichte des schlesischen Judentums in den Jahren 1933 bis 1938 Simon Nußbruch, M. A., Dipl.-Orchestermusiker, seit 2014 Doktorand am Institut für Musikforschung der Universität Würzburg; Publikationen u. a. zur Musik der Bündischen Jugend nach 1945 Susanne Rappe-Weber, Dr. phil., Historikerin und Archivarin, 1993–1997 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Institut der Universität Potsdam, seit 2002 Leiterin des Archivs der deutschen Jugendbewegung; Veröffentlichungen zu Archivfragen und Historischer Bildungsarbeit, zur historischen Jugendforschung sowie zur hessischen Regional- und Agrargeschichte Jürgen Reulecke, Prof. Dr., 1984–2003 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Siegen, danach bis Ende 2008 Professor für Zeitgeschichte und Sprecher des Sonderforschungsbereichs Erinnerungskulturen an der Universität Gießen; Forschungsschwerpunkte: Geschichte von Sozialreform, sozialen Bewegungen und Sozialpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, Geschichte der Urbanisierung, Geschichte von Jugend und Jugendbewegungen sowie Generationengeschichte im Kontext einer allgemeinen Erfahrungsgeschichte Nils Rottschäfer, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft (Universität Bielefeld); Veröffentlichungen zur Literatur um 1900, zur Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur Felix Ruppert, M. A., Europäischer Ethnologe, seit Mai 2022 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft der Philipps-Universität Marburg, Masterarbeit zur Politisierung des Burg Waldeck

Autorinnen und Autoren

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Festivals 1964–69; Forschungsinteressen: historische wie gegenwärtige soziale Bewegungen, Protest- und Jugendkulturen Kay Schweigmann-Greve, Dr. phil., Kommunaljustiziar und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Juristischen Fakultät der Universität Hannover; Publikationen zur proletarischen und bürgerlichen Jugendbewegung, zu Theodor Lessing, zur jüdischen Arbeiterbewegung und jüdisch-russischen Sozialrevolutionären, Übersetzungen aus dem Jiddischen Steffen Theilemann, Dr. phil., Studium der Psychologie an der Humboldt-Universität Berlin, Psychologischer Psychotherapeut und Psychoanalytiker (DPG, DGPT), niedergelassen in eigener Praxis in Potsdam; Forschungsschwerpunkte: Harald Schultz-Hencke (1892–1953) und die Freideutsche Jugend, Geschichte der Psychoanalyse Lucia Thiede, M. A., Gestalterin und Promovierende im Fach Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld über die Ästhetik in der Jugendbewegung zwischen 1945 und 1949 Hartmann Tyrell, Dr. phil., bis zu seiner Pensionierung 2008 apl. Prof. für Theorie und Geschichte der Soziologie an der Universität Bielefeld; Forschungsschwerpunkte: Religionssoziologie, Max Weber, Georg Simmel; bis 2008 Herausgeber der Zeitschrift für Soziologie Justus H. Ulbricht, Dr. phil., Historiker, Germanist und Pädagoge, seit Dezember 2020 Freier Wissenschaftler; Veröffentlichungen zur Geschichte des deutschen Bildungsbürgertums seit 1800, zur Klassik- und Nietzsche-Rezeption, zur Religionsgeschichte der Moderne, der Jugendbewegung, zu Aspekten der deutschen Erinnerungskultur und zur Kulturgeschichte Mitteldeutschlands Sylvia Wehren, Dr. phil., Erziehungswissenschaftlerin, seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Stiftung Universität Hildesheim; Arbeitsschwerpunkte: Historische Bildungsforschung, erziehungswissenschaftliche Körperforschung, historische Jugend- und Tagebuchforschung und Medienbildungsforschung Lieven Wölk, M. A., Studium der Jüdischen Studien und Geschichte in Potsdam sowie der Modernen Europäischen Geschichte in Berlin, Promotion an der Humboldt Universität zu Berlin zur Gesamtgeschichte des deutsch-jüdischen Jugendbundes Schwarzes Fähnlein; Veröffentlichungen zu Akteurinnen im Schwarzen Fähnlein und zu dem ehemaligen Berliner Mitglied Werner Tom Angress