Männlichkeit als Eigenschaft: Geschlechterkonstellationen in Robert Musils 'Der Mann ohne Eigenschaften' 9783110298642, 9783110298475

This study examines the ways that Robert Musil’s representations of gender roles and conflicts are symptomatic of the cr

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German Pages 258 [260] Year 2013

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Table of contents :
Danksagung
Einleitung
I Männlichkeit als Eigenschaft
II Männlichkeit in den zeitgenössischen Rezensionen
III Kakaniens Identitätskrisen und Musils ›dezentriertes‹ Subjekt
IV Ambivalenzen
Krisenfiguren: Von Drei Frauen zum Mann ohne Eigenschaften
I Männlichkeitskrisen in Drei Frauen
II Der Unfall als Krisenfigur
III ›Verunglückte‹ Männerkörper und Männlichkeitserzählungen
IV Ulrichs Muskeln
›Mutterrecht‹
I Gerhart Hauptmanns Die Insel der großen Mutter
II Johann Jakob Bachofens Mutterrechtstheorie
III Bonadea als ›Hetäre‹
IV Clarisse als ›Amazone‹
V Diotima als ›Gynaikokratin‹
VI Männliche Rückeroberungen
Im Zeichen des Barts: Das Versagen der Wissenschaften
I Musil versus Freud: Der bedrohte Ödipus, Die Versuchung der stillen Veronika
II Studie über Hysterie: Clarisse
III Die Bärte der Wissenschaft
IV Die Pädagogen Hagauer und Lindner
Eine ›bemerkenswerte Einzelheit‹: Arnheims phönikischer Herrenkaufmannsschädel
I Phönizier bei Herodot und Homer
II Phönizier im zeitgenössischen Diskurs (Chamberlain, Freud, von Luschan)
III Zu Arnheims Erkennbarkeit als Jude
IV Körperbau und Charakter
›Gender‹, Antisemitismus und Ökonomie: Die Fischels im sozialgeschichtlichen Kontext
I Vom ›englischen Lord‹ zum ›Börsenjuden‹: Leo Fischel
II ›Race‹, ›class‹ und ›gender‹ in der familialen Kampfzone
III ›Halbe Umarmungen‹: Hans Sepp und Gerda
IV Leo Fischels Revirilisierung
Ein ›Spektakel des Anderen‹: Der ›kleine Neger‹ Soliman
I Marc Connellys The Green Pastures
II Soliman als ›coon servant‹
Andere Zustände
I Das Denken der Partizipation in Musils Die Amsel
II Die siamesischen Zwillinge
III Agathes ›mentalité primitive‹
Anhang
Bibliographie
Robert Musil-Ausgaben
Quellenliteratur
Forschungsliteratur
Abbildungsnachweise
Register
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Männlichkeit als Eigenschaft: Geschlechterkonstellationen in Robert Musils 'Der Mann ohne Eigenschaften'
 9783110298642, 9783110298475

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Ulrich Boss Männlichkeit als Eigenschaft

Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur

Herausgegeben von Norbert Bachleitner, Christian Begemann, Walter Erhart und Gangolf Hübinger

Band 134

Ulrich Boss

Männlichkeit als Eigenschaft Geschlechterkonstellationen in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften

DE GRUYTER

Gefördert von der VolkswagenStiftung.

ISBN 978-3-11-029847-5 e-ISBN 978-3-11-029864-2 ISSN 0174-4410 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Danksagung Ganz besonderer Dank gilt Yahya Elsaghe, ohne dessen Anregungen, Unterstützung und Kritik die Studie nie entstanden wäre. Danken möchte ich außerdem Klaus Amann und Walter Fanta für die herzliche Aufnahme am Robert MusilInstitut in Klagenfurt; Andrew Webber für sein bestärkendes Interesse und seine zuvorkommende Betreuung während meines Aufenthalts in Cambridge; Karl Wagner für seine Bereitschaft, sich intensiv mit meiner Arbeit auseinanderzusetzen; Christiane und Peter Boss, Patrick Bühler, Florian Heiniger, Sabine Höfler, Franka Marquardt, Joanna Nowotny und Melanie Rohner für ihre wertvollen Hinweise und aufmerksamen Korrekturen sowie dem Schweizerischen Nationalfonds für seine finanzielle Unterstützung. Bei der Studie handelt es sich um eine leicht überarbeitete Version meiner Dissertation, die im Herbst 2011 von der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern angenommen wurde. Vorarbeiten zu einzelnen Kapiteln erschienen bereits in den Zeitschriften Musil-Forum (2011) und Kulturpoetik (2012) sowie in dem von Ulrich Johannes Beil, Michael Gamper und Karl Wagner herausgegebenen Sammelband Medien, Technik, Wissenschaft (2011).

Inhalt Danksagung

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1 Einleitung 1 I Männlichkeit als Eigenschaft II Männlichkeit in den zeitgenössischen Rezensionen 7 III Kakaniens Identitätskrisen und Musils ›dezentriertes‹ Subjekt 12 IV Ambivalenzen 26 30 Krisenfiguren: Von Drei Frauen zum Mann ohne Eigenschaften I Männlichkeitskrisen in Drei Frauen 30 II Der Unfall als Krisenfigur 38 III ›Verunglückte‹ Männerkörper und Männlichkeitserzählungen 60 IV Ulrichs Muskeln

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76 ›Mutterrecht‹ I Gerhart Hauptmanns Die Insel der großen Mutter 76 II Johann Jakob Bachofens Mutterrechtstheorie 79 III Bonadea als ›Hetäre‹ 84 IV Clarisse als ›Amazone‹ 91 94 V Diotima als ›Gynaikokratin‹ VI Männliche Rückeroberungen 97 104 Im Zeichen des Barts: Das Versagen der Wissenschaften I Musil versus Freud: Der bedrohte Ödipus, Die Versuchung der stillen Veronika 104 II Studie über Hysterie: Clarisse 112 III Die Bärte der Wissenschaft 125 IV Die Pädagogen Hagauer und Lindner 133 Eine ›bemerkenswerte Einzelheit‹: Arnheims phönikischer 138 Herrenkaufmannsschädel I Phönizier bei Herodot und Homer 141 II Phönizier im zeitgenössischen Diskurs (Chamberlain, Freud, von 143 Luschan) III Zu Arnheims Erkennbarkeit als Jude 151 IV Körperbau und Charakter 155

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Inhalt

›Gender‹, Antisemitismus und Ökonomie: Die Fischels im sozialgeschichtlichen Kontext 166 I Vom ›englischen Lord‹ zum ›Börsenjuden‹: Leo Fischel 166 173 II ›Race‹, ›class‹ und ›gender‹ in der familialen Kampfzone III ›Halbe Umarmungen‹: Hans Sepp und Gerda 177 IV Leo Fischels Revirilisierung 189 Ein ›Spektakel des Anderen‹: Der ›kleine Neger‹ Soliman I Marc Connellys The Green Pastures 197 II Soliman als ›coon servant‹ 199

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208 Andere Zustände I Das Denken der Partizipation in Musils Die Amsel II Die siamesischen Zwillinge 215 III Agathes ›mentalité primitive‹ 222 Anhang

230 Bibliographie 230 Robert Musil-Ausgaben 230 Quellenliteratur 230 Forschungsliteratur 236 Abbildungsnachweise 247

Register

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Einleitung I Männlichkeit als Eigenschaft 1929 erschien im Leipziger Seemann-Verlag eine Essaysammlung mit dem vielsagenden Titel Die Frau von morgen wie wir sie wünschen, zu der unter anderen Arnolt Bronnen, Hans Henny Jahnn, Stefan Zweig und Robert Musil je einen Text beisteuerten. Die Sammlung nahm sich – in Beiträgen, wie es in der Einleitung heißt, von »dem nächsten Freunde der Frau, dem Dichter«,¹ also von ausschließlich männlichen Autoren – des Modethemas der ›neuen Frau‹ an, der Beunruhigungen, der Ängste und Hoffnungen, die damit verbunden waren. Musste der Herausgeber Friedrich Markus Huebner in dieser Einleitung konzedieren, dass die »Zukunftsmöglichkeiten«, die in den Essays entworfen wurden, »wenig« von der »wirtschaftliche[n]«, der »juristische[n]«, der »sozialpolitische[n] Seite der angeschnittenen Frage« handelten,² so stimmt das freilich nicht für ganz alle Beiträge. Denn Musil ging, bei aller für Paradigmenwechsel bezeichnenden Ambivalenz, die auch in seinem Essay zum Ausdruck kommt, auf mindestens einige dieser Aspekte durchaus und durchaus hellsichtig ein. Musil verzichtete schon in der Überschrift seines Essays – Die Frau gestern und morgen – auf die männlichen ›Wünsche‹, die der Bandtitel vorsah. Anschließend vermied er, wie Huebner vom »Ewigen und Wesentlichen«, von einer geschlechterontologischen Substanz zu sprechen, die im »Dasein der Frau« »die Mittelachse« bilde (»die Liebe«; »denn die Frau will nun einmal für den Mann da sein«).³ Stattdessen betonte er weitab von solchen Festlegungen nicht nur die »unhaltbare rechtliche Stellung der Frau«, sondern auch die Auswirkungen des sozioökonomischen Wandels auf die geläufigen Phantasmagorien des Weiblichen: etwa die Folgen des »Übergang[s]« von der Groß- zur Kleinfamilie und »vom eigenen, die Geschlechter überdauernden, Rang und Reichtum darstellenden Haus, das seine Bewohner prägte, zur Nomadenmietswohnung der Großstädte«.⁴ Er beschrieb, wie dieser »Übergang« zu einer Emotionalisierung des familialen Raums führte. Und er wies auf die geschlechterhistorischen Konsequenzen des

 Friedrich Markus Huebner: Die Frau und der Dichter. Eine Einleitung. In: Ders. (Hg.): Die Frau von morgen wie wir sie wünschen. Frankfurt am Main 1990, S. 22– 24, hier S. 22.  Ebd., S. 22 f.  Ebd.  Robert Musil: Die Frau gestern und morgen. In: Ders.: Essays und Reden. Kritik. Hg. von Adolf Frisé. Neu durchgesehene und verbesserte Ausgabe 1978. Reinbek bei Hamburg 1983, S. 1193 – 1199, hier S. 1197.

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Einleitung

Ersten Weltkriegs hin, der »den Massen der Frauen die Scheu vor den Mannesidealen und dabei auch vor dem Ideal der Frau genommen« habe.⁵ Damit verdeutlichte er zum einen, dass es sich bei den bekannten Redeweisen über ›die Frau‹ und den an sie gebundenen »System[en] von Vorstellungen und Gefühlen« um historisch veränderliche, die längste Zeit männlich perspektivierte »Ideologisierung[en]« handelte.⁶ Zum anderen deutete er die Verunsicherungen an, die von den opferreichen Materialschlachten des Kriegs für die herkömmlichen Leitbilder der Männlichkeit ausgingen. Die Kehrseiten eines männlich verstandenen technischen Fortschritts, die im Krieg zutage traten, und die geschlechterpolitischen Umbrüche und Ausbrüche, die auf ihn folgten – Frauen, die im Beruf, in der Politik und in der Freizeit »dem Manne Tätigkeitsgebiete« abnahmen und »sich als ihr eigenes Wunschbild« ausdachten⁷ –, konnten auf hergebrachte Rollenmuster von Männlichkeit nicht ohne irritierende Weiterungen bleiben. Etwas so »[V]erwickeltes« wie eine »neue Frau«, stellte Musil im ersten Satz seines Essays klar, hatte auch einen »neuen Mann« zur Folge.⁸ Trotz Musils hier mithin luziden ›Vivisektionen‹⁹ bestimmter zeitgenössischer Geschlechterkonstellationen hat sich die geschlechtertheoretisch informierte Literaturwissenschaft mit dem epochalen Roman erst zaghaft auseinandergesetzt, den er in unmittelbarer werkchronologischer Nachbarschaft zur Frau gestern und morgen publizierte. Sie hat den Mann ohne Eigenschaften nur vereinzelt mit Lektüren konfrontiert, die Affinitäten zum weiten Feld der Gender Studies und somit zu einer ›Theorie‹ oder ›Methode‹ aufweisen, die innerhalb der Literaturwissenschaften nicht nur zu einer Kontestation und Erweiterung des Kanons, sondern gerade auch zu innovativen Lektüren der etablierten ›großen‹ Werke geführt hat. Insbesondere hat die freilich kaum mehr überschaubare Musil-Forschung bis vor kurzem die Modalitäten vernachlässigt, unter denen im Mann ohne Eigenschaften diejenige Geschlechterkategorie vorkommt, die auch in Huebners Sammelband als Redegegenstand zuweilen in den Hintergrund rückte und als eigentlicher Movens dieses Redens dennoch immer präsent blieb. Die Forschung hat zwar immer wieder auf die »Krise der individuellen Identität«,¹⁰ »Krise der

 Ebd., S. 1197.  Ebd., S. 1198.  Ebd., S. 1197 f.  Ebd., S. 1193.  Musil bezeichnete sich in seinen frühesten erhaltenen Aufzeichnungen in seinem »Tage[‐]« oder »Nachtbuch!« um die Jahrhundertwende selber als »monsieur le vivisecteur«. Robert Musil: Tagebücher. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1976, Bd. 1, S. 2.  Jacques Le Rider: Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krise der Identität. Wien 2000, S. 9.

Männlichkeit als Eigenschaft

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Subjektivität«¹¹ oder »moderne Ichkrise«¹² hingewiesen, die sich im Roman äußere. Aber obwohl Studien der letzten Jahre gezeigt haben, dass sich die »Krise der Identität in den Werken der literarischen Moderne als eine Krise der männlichen Identität dechiffrieren läßt«,¹³ hat sie lange Zeit übersehen oder sich jedenfalls noch nicht insistent genug damit befasst, wie grundlegend Zuschreibungen oder Aberkennungen von Männlichkeit gerade auch den Mann ohne Eigenschaften strukturieren. In den meisten Fällen, in denen die Musil-Forschung Geschlechterkonstruktionen als Untersuchungskategorien in Betracht zog, kaprizierte sie sich auf die Frauenfiguren oder die Beziehungen des Romanhelden zu ihnen¹⁴ – und folgte damit im Grunde einem herkömmlichen, sozusagen genuin ›patriarchalen‹ Denkmodell. Denn sie reihte sich so in eine Denktradition ein, die zum Teil auch in feministischen Arbeiten noch fortgeschrieben worden ist und an die Musils Ro Walter Moser: Diskursexperimente im Romantext. Zu Musils Der Mann ohne Eigenschaften. In: Uwe Baur und Elisabeth Castex (Hg.): Robert Musil. Untersuchungen. Königstein 1980, S. 170 – 197, hier S. 183.  Marja Rauch: Vereinigungen. Frauenfiguren und Identität in Robert Musils Prosawerk. Würzburg 2000, S. 16. Rauch spricht zwar in Bezug auf Drei Frauen von einer »Männlichkeit in der Identitätskrise«, geht aber weder auf diskurs- noch sozialhistorische Bezüge dieser »Identitätskrise« ein. Ebd., S. 81.  Walter Erhart: Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit. München 2001, S. 54. Vgl. z. B. auch Albrecht Koschorke: Die Männer und die Moderne. In: Wolfgang Asholt und Walter Fähnders (Hg.): Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung. Amsterdam und Atlanta 2000, S. 141– 162; Wolfgang Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450 – 2000). Wien, Köln und Weimar 2003.  Vgl. Elisabeth Castex: Auf der Suche nach der verlorenen Frau. Zur Problematik des Frauenbildes in Italo Svevos La Coscienza di Zeno und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. In: Robert Musil nel primo centenario della nascita. Incontri italo-austriaci. Innsbruck und Wien 1980, S. 51– 62; Andrew Webber: Sexuality and the Sense of Self in the Works of Georg Trakl and Robert Musil. London 1990; Ina Hartwig: Sexuelle Poetik. Proust. Musil. Genet. Jelinek. Frankfurt am Main 1998, S. 102– 168; Stefan Jonsson: Subject Without Nation. Robert Musil and the History of Modern Identity. Durham 2000, S. 175 – 216; Rauch, Vereinigungen. Die Vergeschlechtlichung des psychiatrischen und psychologischen Wissens im Mann ohne Eigenschaften behandelt: Florian Kappeler: Versuche, ein Mann zu werden. Psychotechnik, Psychiatrie und Männlichkeit in Robert Musil Der Mann ohne Eigenschaften. In: Zeitschrift für Germanistik 18.2 (2008), S. 331– 346. Ausführlich auf die Männlichkeit des Titelhelden geht in ihrer Studie zum Sportdiskurs in Musils Werk ein: Anne Fleig: Körperkultur und Moderne. Robert Musils Ästhetik des Sports. Berlin und New York 2008. Leider nicht mehr gebührend gewürdigt werden konnten die erst jüngst erschienene Arbeit von Peter C. Pohl und die auch in Geschlechterfragen instruktive Monographie von Norbert Christian Wolf: Peter C. Pohl: Konstruktive Melancholie. Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften und die Grenzen des modernen Geschlechterdiskurses. Köln, Weimar und Wien 2011; Norbert Christian Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien, Köln und Weimar 2011.

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Einleitung

mantitel seinerseits zu erinnern scheint, wenn man ihn einmal für sich und beim Wort nimmt: in die Tradition, Männlichkeit als – historisch variables und sozial differenziertes – Geschlecht unsichtbar zu machen, sie nicht als ›Eigenschaft‹ zu taxieren, sondern als unmarkierte Norm und letztlich, der Etymologie dieses Worts entsprechend, als schlechthin ›menschlich‹. Ute Frevert zum Beispiel hat diese Verschmelzung der männlichen Geschlechtsidentität mit dem Entwurf einer universalen Person unter anderem in ihrem Aufsatz Männergeschichte oder die Suche nach dem ›ersten‹ Geschlecht exemplarisch an Lexikonartikeln des neunzehnten Jahrhunderts aufgezeigt. In Meyers Conversationslexikon von 1851 etwa steht unter dem Lemma ›Mann‹: »siehe vor allem Mensch«, und auch im Brockhaus von 1898 besticht der betreffende Eintrag durch seine Kürze und seinen tautologischen Charakter (»Mann, das menschliche Individuum männlichen Geschlechts während des Zeitraums der Reife«).¹⁵ Zur ausufernden Redseligkeit und Untersuchungstätigkeit in ›Frauenfragen‹, wie sie eben auch in Die Frau von morgen wie wir sie wünschen einmal mehr zum Ausdruck kam, steht diese Kürze selbstredend in verräterischem Gegensatz. Für die Leserinnen und Leser also, die zur Lektüre des Mann ohne Eigenschaften unbefangen ansetzen, kann sich Musils Romantitel durchaus in diese Tradition der Universalisierung von Männlichkeit einreihen. Denn diese Leserschaft muss sich eigentlich zwangsläufig fragen, wie ein Mann überhaupt ›ohne Eigenschaften‹ sein kann, wenn er doch offensichtlich zumindest die Eigenschaft hat, dem männlichen Geschlecht anzugehören. Liest man den Titel so, im Literalsinn und als ›contradiction in terms‹, stellt er das Paradox fast schon aus, dass Männer selbstverständlich nur über ihre Geschlechtsidentität ein ›AllgemeinMenschliches‹ repräsentieren konnten. Im Verlauf der Lektüre freilich wird wohl jede Leserin und jeder Leser rasch realisieren, dass der Musil’sche Grundbegriff der Eigenschaftslosigkeit im Romanzusammenhang nicht bedeuten kann, keine sexuellen, ethnischen, nationalen, regionalen, klassen- oder altersspezifischen Identitäten respektive »Eigenschaften« zu haben. Die Formel »ohne Eigenschaften« kann zwar ideengeschichtlich zu Meister Eckharts Vorstellungen über die Unio mystica in Beziehung gesetzt werden,¹⁶ der es zur Bedingung für eine Verschmelzung der

 Zitiert nach: Ute Frevert: Männergeschichte oder die Suche nach dem ›ersten‹ Geschlecht. In: Manfred Hettling, Claudia Huerkamp, Paul Nolte und Hans-Walter Schmuhl (Hg.): Was ist Gesellschaftsgeschichte? Positionen, Themen, Analysen. München 1991, S. 31– 43, hier S. 32 f.  Vgl. Jochen Schmidt: Ohne Eigenschaften. Eine Erläuterung zu Musils Grundbegriff. Tübingen 1975; Matthias Luserke: Robert Musil. Stuttgart und Weimar 1995, S. 89; Brigitte Spreitzer:

Männlichkeit als Eigenschaft

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Seele mit Gott machte, ›âne eigenschaft‹ zu sein: die je eigene Individualität – nach Eckharts (noch ganz mittelalterlicher) Auffassung ein Laster, das einer Vereinigung mit Gott im Weg steht – zurückzunehmen und möglichst ganz abzuwerfen.¹⁷ Herstellen lässt sich ein solcher Bezug zum mystischen ›Entwerden‹ allerdings erst für den zweiten Romanteil. Der Titelheld Ulrich aber ja ist nicht erst ein Mann ohne Eigenschaften, als er zusammen mit seiner Schwester Agathe den Erfahrungen des ›anderen Zustands‹ nachjagt. Er ist es von allem Anfang an, weil er sich mit seinen Eigenschaften nicht restlos identifizieren kann und zur Überzeugung gelangt ist, dass sie nicht in einem eigentlichen Sinn ihm gehören: dass sie nicht Ausdruck seiner Individualität sind, sondern gesellschaftlich bedingt. »Die meisten Menschen«, konstatiert die Erzählinstanz und setzt nun doch unverblümt ›das Menschliche‹ mit ›dem Männlichen‹ in eins, »adoptieren« ganz einfach »den Mann, der zu ihnen gekommen ist, dessen Leben sich in sie eingelebt hat, seine Erlebnisse erscheinen ihnen jetzt als der Ausdruck ihrer Eigenschaften, und sein Schicksal ist ihr Verdienst oder Unglück. Es ist etwas mit ihnen umgegangen wie ein Fliegenpapier mit einer Fliege«.¹⁸ Ein oder der Mann ohne Eigenschaften hingegen lässt sich nicht dazu verleiten, »fertigen Einteilungen und Formen des Lebens«¹⁹ nachträglich eine innere Essenz zuzusprechen. Er ist – um bei der Bildlichkeit zu bleiben und das Selbstzitat aufzunehmen, mit dem Musil sich hier auf seine Prosaskizze Das Fliegenpapier bezieht – gegebenenfalls noch nicht ganz und gar »eingewickelt« in dieses Papier,²⁰ auf das sich die Fliegen »mehr aus Konvention« niederlassen, »weil schon so viele andere da sind«.²¹ In einer Entwurfsnotiz von 1927/28 lässt Musil seinen Protagonisten, der hier noch den sprechenden Namen Anders trägt, sich folgendermaßen charakterisieren: »Ich bin der Mann o[hne] E[igenschaften] […]. Ich habe alle guten konventionellen Gefühle, weiß mich natürlich auch zu benehmen, aber die innere Identifikation

Meister Musil. Eckharts deutsche Predigten als zentrale Quelle des Romans Der Mann ohne Eigenschaften. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 119.4 (2000), S. 564– 588, hier z. B. S. 566.  Vgl. Alois M. Haas: »… das Persönliche und Eigene verleugnen«. Mystische »vernichtigkeit und verworffenheit sein selbs« im Geiste Meister Eckharts. In: Manfred Frank und Anselm Haverkamp (Hg.): Individualität. München 1988, S. 106 – 122, hier S. 110 f.  Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. von Adolf Frisé. Neu durchgesehene und verbesserte Ausgabe 1978. Reinbek bei Hamburg 1987, S. 131.  Ebd., S. 129.  Ebd., S. 131.  Robert Musil: Das Fliegenpapier. In: Ders.: Prosa und Stücke. Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches. Hg. von Adolf Frisé. Neu durchgesehene und verbesserte Ausgabe 1978. Reinbek bei Hamburg 1983, S. 476 f., hier S. 476.

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Einleitung

fehlt«.²² So verstanden, als »innere« Distanz also des Titelhelden zu den sozialen Rollen, die er performiert, hört der Begriff der Eigenschaftslosigkeit im Romantitel freilich nicht auf, im speziellen ›gender‹-Fragen zu provozieren. Er wirft nun im besonderen die Frage auf, ob Ulrich auch die »Identifikation« mit der einzigen Subjektposition abgeht oder schwerfällt, die ihm bereits der Titel zuweist. Denn ob man diesen Titel nun wortgetreu in seiner sozusagen exoterischen oder in der übertragenen, ›esoterischen‹ Bedeutung rezipiert, die er textimmanent unmissverständlich annimmt: Der Roman – und das ist wirkungsästhetisch und für den hier behandelten Zusammenhang am wichtigsten – konfrontiert seine Leserinnen und Leser als allererstes mit der Männlichkeit seines Helden, die er mit dem Artikel auch noch als eine sehr bestimmte Eigenschaft hervorhebt. Nicht nur unter diesem rezeptionsästhetischen Aspekt aber, weil bereits der Paratext des Mann ohne Eigenschaften Geschlechterthemen anreißt, drängt sich eine gezielte Analyse der Frage auf, wie Geschlechterdifferenzen im Roman repräsentiert und gerade auch männliche Identitäten gewonnen werden. Sie bietet sich nicht nur an, weil Ulrichs Männlichkeit vom unmittelbaren Anfang an zum Erwartungshorizont der Leserinnen und Leser gehört, sondern erscheint auch aus rezeptionsgeschichtlicher Perspektive dringlich und desto dringlicher. Denn eine solche Relektüre verspricht ergiebige und vielleicht auch überraschende Resultate bereits durch die Nähe, in die die Musil-Forschung den Roman immer wieder zu jenen ›Theorien‹ gerückt hat, deren Konzepte und Modelle in den Gender Studies fruchtbar gemacht worden sind: Richard Precht beispielsweise attestierte bereits dem Eingangskapitel des Mann ohne Eigenschaften einen »dekonstruktivistischen Impuls«²³ avant la lettre. Hartmut Böhme machte im Roman »inhaltliche Parallelen« zu den Diskursanalysen Michel Foucaults und mit ihnen »verwandte Strategien« aus.²⁴ Oder Stefan Jonsson beobachtete am Subjektivitätsbegriff, der im Mann ohne Eigenschaften verhandelt wird, Schnittpunkte und Verwandtschaften zu postkolonialen Theorien der Hybridität und Métissage.²⁵ Dass ›gender‹-Verhandlungen im Roman eine signifikante und sogar exemplarische Rolle spielen, ist obendrein außerhalb der germanistisch-fachwissenschaftlichen For-

 Robert Musil: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hg. von Walter Fanta, Klaus Amann und Karl Corino. Klagenfurt 2009, Transkriptionen / Mappe II/4/120.  Richard Precht: Die gleitende Logik der Seele. Ästhetische Selbstreflexivität in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Stuttgart 1996, S. 68.  Hartmut Böhme: Eine Zeit ohne Eigenschaften. In: Ders.: Natur und Subjekt. Frankfurt am Main 1988, S. 308 – 333, hier S. 314. Vgl. auch Moser, Diskursexperimente im Romantext, S. 172 f.  Vgl. Jonsson, Subject Without Nation, S. 14, 265.

Männlichkeit in den zeitgenössischen Rezensionen

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schung längst festgestellt worden: So kann der Historiker Wolfgang Schmale in seiner Geschichte der Männlichkeit in Europa kommentarlos behaupten, der Mann ohne Eigenschaften firmiere »gewissermaßen als Emblem« der »Debatten über die Krise der Männlichkeit«.²⁶

II Männlichkeit in den zeitgenössischen Rezensionen Vor allem aber erscheint aus einer rezeptionsgeschichtlichen Perspektive eine ›gender‹-orientierte Analyse des Romans geboten, weil schon in der zeitgenössischen Kritik Musils Stil und Denken regelmäßig und vom Beginn seiner literarischen Karriere weg geschlechtlich codiert wurde. Die gleichsam topischen Betonungen von Musils schriftstellerischer Virilität unterstreichen, wie stark auch die damaligen poetologischen Diskussionen noch von Geschlechtermetaphern und -zuschreibungen geprägt waren. Bereits in der enthusiastischen Besprechung im Berliner Tageblatt, mit welcher der damalige Kritikerpapst Alfred Kerr den »selbständige[n]«, »tapferen Geist« Musil unversehens zu einem namhaften Autor machte,²⁷ klingt diese Sexuierung an. Sie schwingt mit in einer Passage, die sich Musil vier Jahre später, als er an den Vereinigungen arbeitete, eigens in sein Arbeitsheft abschrieb.²⁸ Kerr bezeichnet den Törleß, an dessen Publikation er selber beteiligt war,²⁹ als eine mit »Mut« und »Kraft« verfasste »Erzählung […] ohne Weichlichkeit. Es steckt darin keine, sozusagen, Lyrik«.³⁰ ›Selbständigkeit‹, ›Tapferkeit‹, »Mut«, »Kraft« und »ohne Weichlichkeit«: Das waren in den Einteilungen der traditionellen Geschlechteranthropologie samt und sonders dezi Schmale, Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450 – 2000), S. 231. Hingewiesen auf dieses Zitat haben auch schon: Kappeler, Versuche, ein Mann zu werden, S. 331; Wolf, Kakanien als Gesellschaftskonstruktion, S. 338.  Alfred Kerr: Robert Musil. In: Berliner Tageblatt, 21. Dezember 1906, wie alle anderen Rezensionen enthalten in: Musil, Klagenfurter Ausgabe, Zeitgenössische Rezensionen.  Vgl. Musil, Tagebücher, Bd. 1, S. 226.  Vgl. Alfred Kerr: Robert Musil: Vinzenz oder die Freundin bedeutender Männer. Lustspielhaus (Die Truppe). In: Berliner Tageblatt, 5. Dezember 1923. Vgl. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 2003, S. 258 – 268. In seinem Nachruf auf Musil beteuerte Kerr, sie hätten »jede Zeile« des Törleß-Manuskripts »zusammen durchgearbeitet«. Alfred Kerr: Nachruf auf Musil im Londoner PEN-Club. In: Karl Corino (Hg.): Erinnerungen an Robert Musil. En face – Texte von Augenzeugen. Wädenswil 2010, S. 462 f., hier S. 462. Musil nannte Kerr auch in den zwanziger Jahren noch seinen »größten kritischen Lehrer« und schrieb ihm, »oft Sehnsucht« nach seinem »korrigierenden Widerstand« zu haben. Brief vom 8. Dezember 1923 an Alfred Kerr. In: Robert Musil: Briefe 1901– 1942. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1981, Bd. 1, S. 325 – 328, hier S. 327.  Kerr, Robert Musil.

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Einleitung

diert männliche Eigenschaften.³¹ Die Symbiose zudem, die »Weichlichkeit« und »Lyrik« hier eingehen, kann als Ausdruck und Folge des zunehmenden, insbesondere ökonomischen Bedeutungsverlusts der Gattung gelesen werden, der mit ihrer Feminisierung einherging. Thomas Mann, um nur ein Beispiel zu nennen, hat diese Kontiguität von Genre und Genus im Gesang vom Kindchen ausgedeutscht. Darin stellt er sich nicht nur als wackeren pater familias dar, sondern auch als »Mann[] der gradausgehenden Rede«, der seine gradlinig-›männliche‹ Prosa nachdrücklich von den lyrischen Versuchen fernhält, die er als Knabe, in einem ›vormännlichen‹ Lebensabschnitt unternahm.³² Verhindern, dass gerade Kerr seine sexuelle und schriftstellerische Männlichkeit wiederholt in Zweifel zog, konnte diese Selbststilisierung im übrigen nicht. Noch sieben Jahre nach der Veröffentlichung des Gesangs zum Beispiel setzte Kerr in seinem Spottgedicht Thomas Bodenbruch den Roman, mit dem Mann seinerseits den literarischen Durchbruch geschafft hatte, zum flügellahmen Machwerk eines »skrophulös[en]« »lederne[n] Kommis’chen« herab.³³ Den also schon in der allerersten, prominentesten Törleß-Rezension mindestens angelegten Assoziationsstrang – die Sexuierung Musils als eines besonders männlichen Autors sowie der Lyrik als unterschwellig weiblich – nimmt spätestens Alfred Döblin wieder auf, als er Musil 1923 den Kleist-Preis zuspricht. Er betont, Musil habe »vielen poetisierenden Zeitgenossen« »einen freien und sicheren männlichen Geist voraus«³⁴ – eine Formulierung, die Käthe Schulze in ihrer Besprechung des Novellenzyklus Drei Frauen in den Neuesten Nachrichten verbatim wiedergibt³⁵ und die auch in den Musil-Portraits nachhallt, die Robert Müller für die Prager Presse und die Wiener Allgemeine Zeitung verfasste.

 Musil betonte 1927 in seiner Würdigungsschrift Zu Kerrs 60. Geburtstag seinerseits, Kerr habe den »Übergang vom kastrierten Essay, dem feierlichen Kunstaufsatz, der unter den ungünstigen Umständen der Zeitung in der Entwicklung zurückgeblieben ist, zu einer ausdrucksfähigeren und wegweiserhaft in die Augen springenden Ausdrucksweise angebahnt und vollzogen«. Robert Musil: Zu Kerrs 60. Geburtstag. In: Ders., Essays und Reden. Kritik, S. 1180 – 1186, hier S. 1180; im Original keine Hervorhebung.  Thomas Mann: Der Gesang vom Kindchen. In: Ders.: Gesammelte Werke in 13 Bänden. Frankfurt am Main 21974, Bd. 8, S. 1068 – 1101, hier S. 1068 f. Vgl. Yahya Elsaghe: Thomas Mann und die kleinen Unterschiede. Zur erzählerischen Imagination des Anderen. Köln, Weimar und Wien 2004, S. 278 f.  Alfred Kerr: Caprichos. Strophen des Nebenstroms. Berlin 1926, S. 168.  Alfred Döblin: [Die Kleist-Preise für 1923]. (19.10.1923). In: Ders.: Kleine Schriften 2. 1922– 1924. Hg. von Anthony W. Riley. Olten und Freiburg im Breisgau 1990 (Ausgewählte Werke in Einzelbänden), S. 316.  Vgl. Käthe Schulze: Zeitgenössische Literatur. Robert Musil: Drei Frauen. In: Neueste Nachrichten, 2. August 1925.

Männlichkeit in den zeitgenössischen Rezensionen

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Müller hebt nicht nur den »männlichen Geist«, sondern merkwürdigerweise selbst den »athletisch geschulten Körper« Musils hervor.³⁶ Verstehen lässt sich diese eigentümliche Hervorhebung wohl nur in ihrem mentalitäts- und literaturgeschichtlichen Kontext. Der Typus des Sportlers wurde in den zwanziger Jahren von verschiedenen Autoren und Autorinnen zu einem neuen Leitbild der Männlichkeit erhoben.³⁷ Er verkörperte in der zeitgenössischen Geschlechtersemantik männliche Ingredienzen wie Vitalität, Willensstärke und Kraft zur Erneuerung: lauter Merkmale, die im Gebiet des »Geist[s]« den Gegenpol zur Literatur der Décadence bilden sollten. In genau der Art scheinen sich Musils »Geist« und Athletik für Müller gegenseitig zu durchdringen. Für ihn, dessen eigenes Auftreten »einen Hang zu Sport und Körperkult« gehabt haben soll³⁸ und dessen literarische Helden in aller Regel ihrerseits durch »einen durchtrainierten, geschmeidigen und gesunden Körper« auffallen,³⁹ fungiert Musils »athletisch geschulte[]« Physis offenbar als Indiz auch für geistige Energie, für dichterische Gestaltungs- und Umgestaltungskraft, die im literarischen Feld schon seit den Stürmern und Drängern männlich besetzt war.⁴⁰ Müller charakterisiert Musil als »Stilist[en] im Sinn nicht des Berichtens, Schilderns, Abbildens, sondern des Schaffens« und hebt ihn ab von den »schlechte[n] und dumme[n], aber sinnliche[n] Autoren« insbesondere des Impressionismus.⁴¹ Er kontrastiert Musils Texte mit den »Schreibereien« der »Ausgehungerten und Zukurzgekommenen«, deren erotische »Hirngespinste« »auf Hungerdelirien und mangelnde Kenntnisse schließen« ließen und über die bisweilen kolportiert werde, sie seien sogar noch »Jungfrau«.⁴² Musil hingegen bringe nicht epigonal anverwandelte Phantasmen zu Papier, sondern zerlege die »Wirklichkeit« »in Kausalnexe von bisher unergründetem Tiefsinn«.⁴³ Er repräsentiere, kurzum und auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, einen »höchste[n] Männertypus« und sei ein Autor von schlechterdings »hypertrophe[r] Virilität«.⁴⁴ Gerade die so glühend betonte »Virilität« macht Müller indessen dafür verantwortlich, dass Musils Novellen und Dramen auf so wenig oder nicht genügend

 Robert Müller: Der erotischste Schriftsteller. In: Prager Presse, [ohne Datum] 1924.  Vgl. u. a. Fleig, Körperkultur und Moderne; Koschorke, Die Männer und die Moderne, S. 150.  Deniz Göktürk: Künstler, Cowboys, Ingenieure… Kultur- und mediengeschichtliche Studien zu deutschen Amerika-Texten 1912– 1920. München 1998, S. 206.  Stephanie Heckner: Die Tropen als Tropus. Zur Dichtungstheorie Robert Müllers. Wien und Köln 1991, S. 19 f.  Vgl. Koschorke, Die Männer und die Moderne, S. 144.  Müller, Der erotischste Schriftsteller.  Ebd.  Ebd.  Ebd.

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Resonanz stießen. Während Musils schriftstellerische Originalität und Substanz für ihn ganz im Zeichen der Männlichkeit steht, führt er seinen mangelnden Erfolg auf eine Effeminierung des Lesepublikums und der Gesellschaft im allgemeinen zurück. Er profiliert Musil vor dem Hintergrund einer Krise der Männlichkeit und partizipiert damit an einem Diskurs, der in der Weimarer und ersten österreichischen Republik weit verbreitet war. Musils »[s]o ganz männliche Bücher«, beklagt er, hätten unglücklicherweise – und hier taucht auch Kerrs Denunziation des ›Weichlichen‹ wieder auf – »keinen Appell an die verweichlichten Durchschnittsgeister der Zeit« und böten »den Frauen nichts, die sich« bei den damals auflagenstarken Autorinnen und Autoren wie »Courts-Mahlers [sic!] oder H. H. Ewers befriedig[t]en«.⁴⁵ Diese literatur- und publikumskritische Diagnose variiert daraufhin Franz Blei, der »promotion manager«⁴⁶ Musils schlechthin, als er in einer »Rundfrage« im Leipziger Tageblatt Musils Novellenband Drei Frauen zum »wertvollste[n] Buch des […] Jahres« 1924 kürt, weil es mit seiner »psychologische[n] Komplexheit« die Novellengattung reformiere.⁴⁷ Bleis Anmerkungen sind aber nicht nur – einmal mehr – symptomatisch dafür, wie wirkungsbezogene, differenz- und originalitätsästhetische Wertungen mit bestimmten Männlichkeitsvorstellungen verbunden waren. Sie geben auch Aufschluss darüber, welche Männlichkeitstypen von dieser Verweiblichung ausgenommen waren, welche als charakteristisch für den ›männlichen Geist‹ der Moderne galten und warum Musil von seinem Bildungsweg her so prädestiniert erscheinen musste, diesen ›Geist‹ schriftstellerisch zu repräsentieren. Musils Novellen, so Blei, seien in ihrer innovativen »Komplexheit« »für Menschen, die im Besitze des Wissens ihrer Zeit dieses nicht aufgeben müssen, um ein Literaturwerk dieser Zeit zu lesen«.⁴⁸ Und das heißt: »Keine gehobene Unterhaltungslektüre für Frauen, wie unsere ganze schöne Literatur von oben bis hinunter. Sondern für Männer, die Ingenieur sind, Mathematiker«.⁴⁹ Mit diesen namhaften Wortmeldungen von Kerr, Döblin, Müller und Blei war die Tonart angestimmt, die sich auch in etlichen Rezensionen zum Mann ohne Eigenschaften wieder nachweisen lässt. In einer der ersten dieser Rezensionen, aus denen ich lediglich ein paar besonders exemplarische herausgreife, bezeichnet Ludwig Marcuse in der hauseigenen Wochenschrift des Rowohlt Verlags, in Das Tagebuch, »Musils Held[en]« als »stark und groß wie Nietzsches Über-

 Ebd.  Murray G. Hall: Der unbekannte Tausendsassa. Franz Blei und der Etikettenschwindel 1918. In: Jahrbuch der Grillparzer Gesellschaft 15.3 (1983), S. 129 – 141, hier S. 131.  Franz Blei: Das beste Buch. In: Leipziger Tageblatt, 4. Januar 1925.  Ebd.  Ebd.

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mensch«.⁵⁰ Er beschreibt Ulrich, der ja seinerseits ein diplomierter Ingenieur und Mathematiker ist, als einen, der sich nicht »in Gefühlchen und Ideechen« »verläppert«, sondern »für den großen Plan« aufspart, »der dem kommenden Dasein den Lebensrahmen geben soll«.⁵¹ Durch ihn, so Marcuses Urteil, das der Rowohlt Verlag in seine Werbebroschüre übernahm,⁵² werde Musils »vitale[r]« Roman zu »ein[em] der männlichsten, ein[em] der geistigsten, ein[em] der gewalttätigsten, ein[em] der revolutionärsten Bücher, die je geschrieben worden sind«.⁵³ In der Magdeburgischen Zeitung betont Bernard Guillemin hernach die Ausrichtung dieses »ganz großen, […] weltfähigen« Romans auf das »Neue«, seinen »Drang zum Angriff auf das Leben und zur Herrschaft darüber«.⁵⁴ Er stellt Musils Ulrich einem anderen ausgebildeten, aber nicht ›praktizierenden‹ Ingenieur gegenüber, Thomas Manns Hans Castorp. Der Mann ohne Eigenschaften, kommt er zum Schluss, sei »mit seinem heroischen Wissenschaftsbegriff und temperamentvollen Aktivismus« im Vergleich mit dem passiven Protagonisten des Zauberberg »unendlich viel klüger«, »reifer und kritischer, ein durchaus männlicher Geist, der – man lasse sich durch sein beständiges Reflektieren nicht täuschen – sehr genau weiß, was er will«.⁵⁵ Suggeriert Guillemins Bemerkung, dass trotz der männlichen Codierung des Geists ein Übermaß an Reflexion diese Männlichkeit wieder dezimieren und zu femininer Wankelmütigkeit und Unentschiedenheit führen könnte, streicht Ernst Herbert Lucas sodann im Hamburger Monatsblatt Der Kreis ebenso Ulrichs supponierte Entschlossenheit heraus (»Es erwarten ihn Selbstmord oder Sieg. Nichts dazwischen«).⁵⁶ Lucas beteuert, »daß ein derart gründlicher, bis in die abwegigsten Tiefen reichender Verstand noch niemals in einem Buch vorgeführt worden« sei, und koppelt solche Superlative ebenfalls an eine – wiederum maximalistische – Kulturalisierung der Geschlechterdifferenz. Denn von Ulrich beziehungsweise Musil (»Der Dichter scheut sich nicht, seine eigene Meinung durch ihn auszusprechen«) stamme der überhaupt »männlichste Gedanke unserer Zeit«, der Gedanke nämlich, dass die »Relativität der An-

 Ludwig Marcuse: Hinweis auf ein Meisterwerk. In: Das Tagebuch, 6. Dezember 1930.  Ebd.  Musil, Klagenfurter Ausgabe, Zeitgenössische Rezensionen: Werbeausschnitte.  Marcuse, Hinweis auf ein Meisterwerk. Vgl. ders.: Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. In: Wirtschaftskorrespondenz für Polen, 10. Januar 1931; ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. Robert Musils großer Roman. In: Neue Badische Landeszeitung, 24. Januar 1931; ders.: Musil – Der Mann ohne Eigenschaften. In: Mitteldeutscher Rundfunk, 26. Januar 1931; ders.: Der Mann ohne Eigenschaften. In: Hamburger Fremdenblatt, 14. Februar 1931.  Bernard Guillemin: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. In: Magdeburgische Zeitung, 1. Januar 1931.  Ebd.  Ernst Herbert Lucas: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. In: Der Kreis 6 (1931).

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schauungen« lediglich »das Resultat schlechten und zu früh aufhörenden Nachdenkens« sei.⁵⁷ Nach der Veröffentlichung des zweiten Bandes schließlich stimmen auch Paul Eisner von der Prager Presse oder der Feuilletonleiter der Berliner Zeitung am Mittag, Otto Ernst Hesse, in diesen euphorischen Ton mit ein. Eisner sieht in Musils Roman, einem »der kühnsten Buchexperimente unserer Zeit«, neuerlich die »unerbittlich exakt arbeitende Passion eines Prosektors, Zergliederers, Zerdenkers von Welt und Leben« am Werk, eine »unbelletristische« »Leidenschaftlichkeit im Denkerischen«, in der auch er die »potenzierteste geistige Mündigkeit und Virilität« wahrzunehmen glaubt.⁵⁸ Und Hesse lädt Musils exakten und gründlichen Geist abermals geschlechtlich auf und äußert gleichermaßen einen männlichen Supremat des Verstands. Er rä- oder resoniert, im Mann ohne Eigenschaften – der »ebenso gehaltlich wie stilistisch hohe Anforderungen, höchste Anforderungen« stelle – habe »einer der männlichsten Männer und einer der geistigsten Menschen dieser unserer immer ungeistiger werdenden Epoche seine Zusammenfassung gegeben«.⁵⁹

III Kakaniens Identitätskrisen und Musils ›dezentriertes‹ Subjekt Allein schon die Rezensionen des Mann ohne Eigenschaften also scheinen eine genauere Analyse seiner Geschlechterregulative einzufordern und legen nahe, dass die Musil-Forschung Fragen nach ›sex‹ und ›gender‹ noch nicht beharrlich genug gestellt hat. Sie unterstreichen, wie zur Entstehungszeit des Romans »[a]lles, wirklich alles: ideell, materiell, körperlich, moralisch, habituell, […] dichotomisch-geschlechtlich und asymmetrisch durch überlegene Männlichkeit markiert« wurde.⁶⁰ Und sie verlangen gleichzeitig nach einer Erklärung, wie sich ihre zum Teil emphatischen Männlichkeitszuschreibungen mit den erwähnten neueren Zeugnissen der Rezeptionsgeschichte überhaupt vereinbaren lassen: mit dem Befund, der Roman sei bezeichnend für die Krisendiskurse der Männlichkeit in der Vor- und Nachkriegszeit; und vielleicht auch mit der Beobachtung, in ihm würden anti-essentialistisch ausgerichtete dekonstruktive, diskursanalytische oder postkoloniale Argumentationsfiguren vorweggenommen.

 Ebd.  Paul Eisner: Der Mann ohne Eigenschaften. In: Prager Presse, 23. Februar 1933.  Otto Ernst Hesse: Ein Dokument der Zeit. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften 2. Band. In: Berliner Zeitung am Mittag, 14. März 1933.  Schmale, Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450 – 2000), S. 154.

Kakaniens Identitätskrisen und Musils ›dezentriertes‹ Subjekt

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Jonsson hat versucht, diese Antizipationen darauf zurückzuführen, dass der Mann ohne Eigenschaften und die im weitesten Sinn poststrukturalistische und postkoloniale Kultur-, Literatur- und Subjekttheorie in ähnlichen historischen Konstellationen, in ›postimperialen‹ Räumen entstanden seien. In der auseinanderbrechenden Habsburgermonarchie und der ersten österreichischen Republik lasse sich eine historische Erfahrung ausmachen that is structurally akin to a phenomenon that was to affect other European states only later, the experience of postcoloniality. Indeed, Austria’s postimperial culture was characterized not only by explosive conflicts between a residual feudal system and an emerging capitalist society, but also by the struggle between a crumbling imperial regime and various movements of what we today would call identity politics.⁶¹

Die Nationalitätenkonflikte und die komplexen Machtbeziehungen zwischen Zentrum und Peripherie im Habsburgerreich, die die postkolonial ausgerichtete historische Forschung auch schon als einen ›Kolonialismus ohne Kolonien‹ bewertete,⁶² haben zweifelsohne zu Musils besonderem Interesse an der Frage beigetragen, wie kulturelle Identitäten gebildet und modifiziert werden. Ähnlich wie sich im Mann ohne Eigenschaften Österreichs hegemoniale Elite innerhalb der Parallelaktion mehr oder weniger entschlossen zeigt, die »Phantasie des Volks« auf die »wahren Ziele der Menschheit und des Vaterlandes«⁶³ zu lenken und die verschiedenen Nationalitäten und Klassen über ihre gesellschaftlichen Spaltungen hinweg zu einen, war Musil während der letzten zwei Kriegsjahre obendrein selber mit Aufgaben beschäftigt, die den desintegrativen Bewegungen im Reich entgegenwirken sollten. Als leitender Redakteur der Soldatenzeitung hatte er die tirolische Landesverteidigung publizistisch zu unterstützen (und wurde dafür mit dem damals meistverliehenen Orden,⁶⁴ dem Ritterkreuz des Franz-Joseph-Ordens ausgezeichnet). Und als verantwortlicher Schriftleiter der vom Kriegspressequartier auch auf ungarisch und tschechisch herausgegebenen Wochenschrift Heimat war er beauftragt, an die Loyalität und den Durchhaltewillen der kriegs-

 Jonsson, Subject Without Nation, S. X.  Vgl. Andrea Komlosy: Innere Peripherien als Ersatz für Kolonien. Zentrenbildung und Peripherisierung in der Habsburgermonarchie. In: Endre Hárs, Wolfgang Müller-Funk, Ursula Rebe und Clemens Ruthner (Hg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn. Tübingen 2006, S. 55 – 78.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 139.  Vgl. Karl Gattinger: Der kaiserlich österreichische Franz Joseph-Orden. In: Johann Stolzer und Christian Steeb (Hg.): Österreichs Orden. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Graz 1996, S. 170 – 182, hier S. 171. Vgl. Karl Dinklage: Musils Herkunft und Lebensgeschichte. In: Ders. (Hg.): Robert Musil. Leben. Werk. Wirkung. Zürich, Leipzig und Wien 1960, S. 187– 264, hier S. 230 f.; Corino, Robert Musil. Eine Biographie, S. 564 f.

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müden Bevölkerung zu appellieren.⁶⁵ Er arbeitete also selber an den letzten propagandistischen Versuchen mit, dem kollabierenden Reich gemeinsame Erzählungen bereitzustellen und eine möglichst geschlossene Kollektividentität zu verpassen. Dennoch sind es nicht primär diese Erfahrungen des ›Propagandakriegs‹, die Musil in seinen Reflexionen über Identität und Subjektivität immer wieder anführt und in seinen Nachkriegsessays zu ergründen sucht. Geprägt haben seinen Identitätsbegriff mehr noch die Beobachtungen, wie der Krieg die einzelnen Menschen – auch ihn selber – veränderte, wie die kollektive Begeisterung bei Kriegsausbruch regelrecht ekstatische Gefühle der Zusammengehörigkeit und Verbrüderung hervorrief. Wie war es möglich, fragt sich Musil in Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit, dass »Millionen Menschen, die zuvor nur für den Eigennutz und in übertünchter Angst vor dem Tode gelebt hatten, plötzlich mit Jubel dem Tod für die Nation entgegenliefen«?⁶⁶ Und wie konnten »betriebsame Bürger« innert kürzester Zeit zu »Mörder[n], Totschläger[n], Brandstifter[n] und ähnliche[m]« werden?⁶⁷ Die Schlussfolgerung lag nahe, dass es so etwas wie ein gesichertes, kohärentes Ich, ein mit sich selbst identisches Subjekt nicht gebe.⁶⁸ »Der Mensch«, stellt Musil zunächst in Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste und dann ganz ähnlich wieder im Nations-Aufsatz und im Fragment gebliebenen Essay Der deutsche Mensch als Symptom fest, habe »sich seit 1914 als eine überraschend viel bildsamere Masse erwiesen, als man gemeinhin an-

 Dass dies zumindest in den nichtdeutschen Gebieten wohl nicht allzu erfolgreich war, bezeugte einer der Mitarbeiter der tschechischen Ausgabe, Fráňa Šrámek: »Dieser alberne Bockmist ist es nicht wert, daß man ein Vierteljahr nach seiner Beseitigung noch von ihm redet. Er war so miserabel, daß er weder auf Böhmen noch auf die Tschechen einen Schatten werfen konnte […]. Er diente zur Erheiterung. Die Redaktion erhielt interessante Briefe von tschechischen Soldaten […]. Einer schrieb wörtlich etwa so: ›Ihr Blatt ist in meine Hände gelangt. Es ist das blödeste Blatt, das mir je zu Gesicht gekommen ist. Deshalb wird es bestimmt nicht eingestellt werden. Ich bezahle im voraus, schicken Sie es zu‹. […] Das Blatt wurde zugeschickt. Warum auch nicht? Sollte der Junge noch einmal etwas zum Lachen haben«. Zitiert nach: Robert Musil: Briefe nach Prag. Hg. von Barbara Köpplová und Kurt Krolop. Reinbek bei Hamburg 1971, S. 87, Anm. 7.  Robert Musil: Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit. In: Ders., Essays und Reden. Kritik, S. 1059 – 1075, hier S. 1060 f.  Robert Musil: Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste. In: Ders., Essays und Reden. Kritik, S. 1075 – 1094, hier S. 1075.  Vgl. dazu z. B. auch Klaus Amann: Robert Musil – Literatur und Politik. Mit einer Neuedition ausgewählter politischer Schriften aus dem Nachlass. Reinbek bei Hamburg 2007, S. 14 f.

Kakaniens Identitätskrisen und Musils ›dezentriertes‹ Subjekt

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nahm«.⁶⁹ Er sei – das habe der Krieg »in einem ungeheuren Massenexperiment allen bestätigt«⁷⁰ – »ethisch nahezu etwas Gestaltloses, unerwartet Plastisches, zu allem Fähiges«.⁷¹ Seine Subjektivität leite er nur zu einem »kleine[n] Rest« aus »Anlage und Erbmasse«, zu einem viel größeren Teil aber aus der »Gesamtheit der Rückwirkungen« her, die er »von dem erfährt, was er selbst geschaffen« hat: von »Wirtschaftsformen«, der »politische[n] Organisation, alle[n] Institutionen, Lebensgewohnheiten, Hilfsmittel[n], Bücher[n], Taten, Ereignissen«,⁷² die »dem Einzelnen überhaupt erst eine Oberfläche u[nd] die Möglichkeit eines Ausdrucks« geben.⁷³ Die einzelne Person erklärt Musil also weniger zum Grund von Identität als zu ihrem Effekt. Sie wird bestimmt durch die herrschenden ökonomischen und kulturellen Verhältnisse, durch Ideologien, normative Traditionen und institutionelle Einbindungen. Was sie von anderen unterscheidet, schreibt er summarisch, »kommt von außen und nicht von innen«.⁷⁴ In gewissem Sinn nun lassen sich diese essayistischen Erörterungen über ein gleichsam ›dezentriertes‹ Subjekt, die Musil in Der deutsche Mensch als Symptom auf den Begriff des »Theorem[s] der menschlichen Gestaltlosigkeit« bringt,⁷⁵ als Vorarbeiten zum Mann ohne Eigenschaften begreifen. In seinen Nachkriegsessays setzt sich Musil mit vielen der ›großen Fragen‹ analytisch auseinander, die auch seinen Roman grundieren und dessen verschiedene Erzählstränge miteinander verbinden: Wie laufen Prozesse der Subjektivation ab und welche Handlungsspielräume können einzelne Subjekte überhaupt für sich reklamieren, wenn doch die »Auflösung des anthropozentrischen Verhaltens, das den Menschen so lange Zeit für den Mittelpunkt des Weltalls gehalten hat, aber nun schon seit Jahrhunderten im Schwinden ist, endlich beim Ich selbst angelangt« ist?⁷⁶ Und wenn man außerhalb gesellschaftlicher Formationen tatsächlich »nicht den Arm heben oder den Finger bewegen« kann,⁷⁷ wenn also nur ein konstituiertes Subjekt überhaupt handlungsfähig ist: Wie müssten dann Strukturen und Ideologien beschaffen sein, die ermöglichten, dass »alle Taten aus einem ganz persönlichen Erregungszustand hervorgehen« und »Sinn haben, nicht nur Ursachen«, so dass

 Musil, Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste, S. 1080. Vgl. Robert Musil: Der deutsche Mensch als Symptom. In: Ders., Essays und Reden. Kritik, S. 1353 – 1400, hier S. 1369, 1373.  Musil, Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste, S. 1080.  Musil, Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit, S. 1072.  Musil, Der deutsche Mensch als Symptom, S. 1369 f.  Ebd., S. 1374.  Ebd., S. 1368.  Ebd., S. 1371.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 150.  Musil, Der deutsche Mensch als Symptom, S. 1362.

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»man, mit einem trivialen Wort, glücklich« wäre, »nicht nur sich nervös plagt[e]«?⁷⁸ In Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit meint Musil, die nationale Kriegseuphorie von 1914 könne nur als eine Form der »Flucht« verstanden werden, als ersehnter Ausbruch aus der Monotonie einer abgelebten »alten Ordnung«,⁷⁹ die diese ›anderen‹ oder ›Erregungszustände‹ in keiner Weise mehr zu erzeugen vermochte. Zu einem »mystische[n] Gemeinsamkeitserlebnis«, zu einer nationalen Euphorie habe dieser Ausbruch freilich nur durch ein »gemeinsames Interesse an der Gewalt gegen andre« werden können, das für den Glauben an die »Fiktion einer Gemeinsamkeit zwischen Handarbeitern und Professoren, Schiebern und Idealisten, Dichtern und Kinoregisseuren« grundlegend gewesen sei.⁸⁰ Den ideologischen Zweck des Kriegs ortet Musil also primär darin,von inneren sozialen Spannungen abzulenken und die verschiedenen Berufsgruppen oder sozialen Schichten stärker als sonst zu einer ›imaginären Gemeinschaft‹ zu vernähen. »Unter einen Hut«, so Musils Bild, »sind wir […] dann zu bringen, wenn er auf dem Kopf einer anderen Nation eingetrieben werden soll«.⁸¹ Der Mann ohne Eigenschaften allerdings erzählt in Bezug auf die ›identitätspolitische‹ Funktion des Ersten Weltkriegs – und das soll im Folgenden unter anderem gezeigt werden – noch eine andere Geschichte. In ihm wird ersichtlich, wie der Kriegsbeginn nicht nur die Hoffnung weckte, reichsintern gesellschaftliche Spaltungen zu überbrücken, sondern auch eine unscharf gewordene Grenze wieder eindeutiger zu ziehen. Schon im Ersten Buch kommentiert die Erzählinstanz vorausgreifend, dass selbst »Millionen Toter eines erschütternden Kriegs« »es auch nicht um eine Stunde zu verzögern vermochten, als eines Tags die Frauenröcke und -haare kürzer zu werden begannen und die Mädchen Europas aus tausendjährigen Verboten sich für eine Weile nackt herausschälten wie die Bananen«.⁸² Diese Vorausdeutung spielt auf die verbreitete Erwartung aus der Zeit der Mobilmachung an, dass der Krieg auf die sich aufweichenden traditionellen Geschlechterverhältnisse restabilisierend wirken möge. Er sollte für seine Apologeten jenen Verlust an Männlichkeit wieder gutmachen, den Müller in seinem Musil-Portrait in der Prager Presse auch in den zwanziger Jahren immer noch beziehungsweise wieder beklagte. Mit naiver, gleichsam medizinischer Zuversicht glaubten viele wie der expressionistische Maler Franz Marc (gefallen ungefähr ein Jahr später bei Verdun), dass sich die Soldaten »durch diesen blutigen Austrag der Waffen« von ihrer »eigne[n] Hysterie«, von den weiblichen Erschlaffungen der

    

Ebd., S. 1357. Musil, Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit, S. 1071. Ebd., S. 1070. Ebd. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 408.

Kakaniens Identitätskrisen und Musils ›dezentriertes‹ Subjekt

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Zivilisation kathartisch reinigen und als ›im Stahlbad‹ gesundete Männer aus der Schlacht zurückkehren würden.⁸³ Dass die verfügbaren Männlichkeitsmodelle schon zur Handlungs- und erst recht zur Entstehungszeit des Mann ohne Eigenschaften in eine Krise gerieten, hing mit vielfältigen Errungenschaften oder – je nach Sichtweise – Zumutungen der Moderne zusammen: Epistemologisch etwa ging dieses Krisenbewusstsein aus den narzisstischen Kränkungen hervor, denen sich das männlich konnotierte selbstbestimmte Subjekt gerade im Wien der Jahrhundertwende ausgesetzt sah, durch Sigmund Freuds Psychoanalyse beispielsweise oder Ernst Machs Empiriokritizismus.⁸⁴ Ideologisch ging es mit der Formation der Frauenbewegungen und der Einführung des Frauenstimmrechts beziehungsweise mit den gesellschafts- und bildungspolitischen Veränderungen einher, die diese Erscheinungen begleiteten. Medizingeschichtlich hing es von den vermehrt auftretenden Fällen von männlicher Nervosität oder Hysterie ab (ein etymologisch eigentlich an den weiblichen Körper gebundener Begriff), die häufig auf die großstädtischen Lebens- und Arbeitsbedingungen zurückgeführt wurden und sich im neuen Krankheitsbild der Neurasthenie niederschlugen. Militärgeschichtlich schließlich war es an die endgültige Hinfälligkeit älterer Kriegerideale angesichts der waffentechnologischen Entwicklungen gebunden.⁸⁵ Anstelle kampfgestählter Helden brachte der Weltkrieg Massen an traumatisierten Kriegsneurotikern hervor,⁸⁶ wobei die Kriegsniederlage und der Zusammenbruch des Habsburgerreichs die Verunsicherung des herkömmlich-militaristischen Männlichkeitsideals noch erheblich verstärkten. Bereits die Niederlage 1866 im Deutschen Krieg, aber auch das stürmische Wirtschaftswachstum und die rasch fortschreitende Urbanisierung im neu gegründeten Deutschen Reich hatten in der Donaumonarchie militärische und

 Franz Marc: Das geheime Europa. In: Ders.: Schriften. Hg. von Klaus Lankheit. Köln 1978, S. 163 – 167, hier S. 167. Vgl. Koschorke, Die Männer und die Moderne, S. 148 f.  Vgl. Dorothee Kimmich und Tobias Wilke: Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende. Darmstadt 2006, S. 36 – 47.  In Musils Kurztext Ein Mensch ohne Charakter meint die Titelfigur in der im Nachlaß zu Lebzeiten veröffentlichten Version: »Ich bin überzeugt, daß die Entwicklung des Charakters mit der Kriegsführung zusammenhängt […] und daß er darum heute auf der ganzen Welt nur noch unter Halbwilden zu finden ist. Denn wer mit Messer und Speer kämpft, muß ihn haben, um nicht den kürzeren zu ziehen. Welcher noch so entschlossene Charakter hält aber gegen Panzerwagen, Flammenwerfer und Giftwolken stand!? Was wir darum heute brauchen, sind nicht Charaktere, sondern Disziplin«. Robert Musil: Der Mensch ohne Charakter. In: Ders., Prosa und Stücke, S. 533 – 539, hier S. 539.  Vgl. Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München und Wien 1998.

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wirtschaftliche Inferioritätsgefühle geweckt: Um 1900 avancierte Berlin zu der »Frontstadt des technisch-zivilisatorischen Fortschritts«⁸⁷ und überholte Wien sowohl hinsichtlich der Bevölkerungszahl wie auch der ökonomischen Anziehungskraft.⁸⁸ Diese Minderwertigkeitsgefühle ließen sich in die gängige Geschlechterhierarchie übersetzen. Hugo von Hofmannsthal etwa hat in seinem Aufsatz Wir Österreicher und Deutschland (1915) die Geschlechterkonnotationen expliziert, die in seiner auf die Psychoanalyse gemünzten Wendung von Wien als einer »porta Orientis auch für jenen geheimnisvollen Orient, das Reich des Unbewußten«,⁸⁹ bereits mitschwangen. Österreich, das er also am Rand eines ›Orients‹ situierte, der im entsprechenden Diskurs topisch als überholter, geschichtsund bewegungsloser Raum imaginiert wurde,⁹⁰ habe den »Typus der Geistesklarheit,Tatfreudigkeit, unbedingte[n] Männlichkeit« nicht selber hervorgebracht. Es habe ihn nicht »aus seinen eigenen, wenngleich gehaltvollen Tiefen ans Licht zu stellen« vermocht, sondern vom »Westen« Europas – so das mit Weiblichkeit assoziierte Verb – »empfangen«.⁹¹ Musil nun hat weder Wien noch die Habsburgermonarchie ähnlich orientalisiert. Vielmehr ist es im Mann ohne Eigenschaften ja gerade der – in diesem Zusammenhang wohl nicht von ungefähr jüdische – Preuße Arnheim, auf den vor allem Diotima und Rachel ihre orientalistischen Phantasien über den ausufernden Luxus und »sprühend ausgeschütteten Schauder des Goldes« projizieren, der »die obersten Despoten« eines »orientalischen Betriebs« wie einer Großbank »umgeben müsse«.⁹² In seinem kurzen Nachkriegsessay Buridans Österreicher, in dem er Österreichs Anschluss an Deutschland propagiert, wehrt sich Musil ausdrücklich gegen die »patriotische[]« Idee, dass Österreicher »so begabt« seien, weil »Orient und Okzident« sich angeblich in ihnen ›vermählten‹.⁹³ Die »Begabung«, betont er, sei »international so ziemlich gleich verteilt«.⁹⁴ Allerdings unterstreicht er diese

 Lothar Müller: Die Großstadt als Ort der Moderne. Über Georg Simmel. In: Klaus R. Scherpe (Hg.): Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne. Reinbek bei Hamburg 1988, S. 14– 36, hier S. 22.  Vgl. Kimmich und Wilke, Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, S. 20.  Hugo von Hofmannsthal: Wiener Brief [II]. In: Ders.: Reden und Aufsätze II. 1914– 1924. Frankfurt am Main 1979 (Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden), S. 185 – 196, hier S. 195.  Vgl. Edward W. Said: Orientalism. New York 1979.  Hugo von Hofmannsthal: Wir Österreicher und Deutschland. In: Ders.: Reden und Aufsätze II. 1914– 1924. Frankfurt am Main 1979 (Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden), S. 390 – 396, hier S. 396.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 96 f.  Robert Musil: Buridans Österreicher. In: Ders., Essays und Reden. Kritik, S. 1030 – 1032, hier S. 1031.  Ebd.

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Parität nur, um Österreich als Staat dennoch mit Deutschland zu kontrastieren und kulturpolitisch als eine Organisation darzustellen, der die »Kraft und Gesundheit« des deutschen Staates abgeht.⁹⁵ Um es in puncto »Funktionstüchtigkeit« mit Deutschland aufzunehmen, meint er, fehle es der leicht ›verwesten‹ Kultur des österreichischen Staates an »Energie«, mit der »begabten Menschen eine materielle Basis« geboten und »ihnen durch die Stromstärke seines Blutkreislaufs de[r] Auftrieb« gesichert werde.⁹⁶ Mit »Energie« und »Stromstärke« verwendet Musil hier technisch-physikalische Begriffe, die auch und gerade auf die menschliche Psyche und Körpererfahrung, auf Tatkraft und Nerven übertragen zu Schlüsselkonzepten schon der Vorkriegszeit geworden waren. Das Verlangen, energisch zu sein, prägte im Zeitalter der Elektrizität und Kohle das Weltbild der Epoche – und die hegemonialen Männlichkeitsvorstellungen. »Energie« zu haben war zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Idealbilder von Männlichkeit geworden und nicht zuletzt eng mit Ideen von ›Manneskraft‹, von sexueller Potenz verwoben.⁹⁷ Aber so wie »ein technizistisches Menschenbild« seinerzeit noch keineswegs »mit der Vorstellung eines sicheren und perfekten Funktionierens« zusammenfiel,⁹⁸ wurde auch der menschliche Energiehaushalt als überaus störungsanfällig gedacht. Zumal in der beschleunigten urbanen Lebenswelt, die nach Ansicht vieler Zeitgenossen den menschlichen Wahrnehmungsapparat permanent belastete und überforderte, war der vitalistische Leitbegriff der »Energie« an Ängste vor Energielosigkeit und -vergeudung,vor Schwäche und Schlaffheit,vor den Symptomen der Neurasthenie gekoppelt. Diese männlich konnotierte »Energie« und elektrische Kraft also spricht Musil dem »gesellschaftlichen Gewebe[]« Österreichs ab,⁹⁹ das an einer Entropie zu laborieren scheint, die offenbar nur eine Anbindung Österreichs an Deutschland, an dessen Energieressourcen sozusagen, kurieren kann. Wenn sich Österreich stattdessen mit Ungarn zu einer Donau-Föderation vereinigte, hieße das, so Musil, einen »europäischen Naturschutzpark für vornehmen Verfall weiterzuhegen«.¹⁰⁰ Zwar schrieb Musil diesen Essay wahrscheinlich nicht aus persönlichem Antrieb, sondern aufgrund seiner damaligen Anstellung im Archiv des Pressedienstes des Staatsamtes für Äußeres. 1938, als er versuchte, eine Staatspension zu erhalten, beteuerte er in einem Brief an einen zuständigen »Ministerialrat« je-

 Ebd.  Ebd.  Vgl. Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, S. 240.  Ebd., S. 239.  Musil, Buridans Österreicher, S. 1031.  Ebd., S. 1032.

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denfalls, seine eigentliche Aufgabe an dieser Stelle sei gewesen, »durch essayistische Tätigkeit in verschiedenen Zeitschriften für den Anschluß Österreichs an Deutschland zu wirken«.¹⁰¹ Repräsentativ für kollektive Vorstellungen schon der Vorkriegsgesellschaft ist die Gegenüberstellung eines energetisch produktiven Deutschlands und eines überfeinert, schwerfällig und resignativ gewordenen Österreichs aber ohnehin. Im Mann ohne Eigenschaften etwa bedient sich der Berliner Arnheim, dessen Herkunftsort in einer Vorstufe des Romans noch als »Stadt der größten Energien«¹⁰² bezeichnet wird, bestimmter Schattierungen dieser Opposition. Um seine eigentlichen geschäftlichen Pläne zu kaschieren, behauptet er nämlich, er sei nur nach Wien, »in diese alte Stadt« »gekommen, um sich im Barockzauber alter österreichischer Kultur ein wenig vom Rechnen, vom Materialismus, von der öden Vernunft eines heute schaffenden Zivilisationsmenschen zu erholen«.¹⁰³ Vor allem aber zeigt sich die kulturpolitische ›Energielosigkeit‹ Kakaniens beispielhaft in der Parallelaktion. Deren Name deutet bereits darauf hin, dass sich ihre »wahre Erfindung«¹⁰⁴ weniger einem ingeniösen eigenen als einem externen oder, mit Hofmannsthals Ausdruck, ›empfangenen‹ Impuls verdankt. Angestoßen wird sie ja durch die Feierlichkeiten, die in Deutschland zum »30jährigen Regierungsjubiläum[] Kaiser Wilhelms II.«¹⁰⁵ vorbereitet werden. Diese Jubiläumsfestlichkeiten sollen mit einer »glanzvolle[n] Lebenskundgebung Österreichs«¹⁰⁶ in den Schatten gestellt werden, dessen »geliebter Kaiser« im gleichen Jahr, 1918, sogar »das hochseltene Fest seiner 70jährigen segensreichen Thronbesteigung« gefeiert hätte.¹⁰⁷ Natürlich liegt die ›dramatische Ironie‹ dieser Bemühungen im Mehrwissen der Leserinnen und Leser, dass beide Jubiläen ins Jahr der Kriegsniederlage der Mittelmächte fallen und Kaiser Franz Josef zu diesem Zeitpunkt schon zwei Jahre tot sein würde. Sie liegt darin, dass die Kränkung von »Königgrätz«, die Ulrichs Vater »wieder einmal« zu »erleben« befürchtet,¹⁰⁸ wenn die österreichische Jubiläumsfeier die deutsche nicht übertrumpfen sollte, genau im Jahr dieses Jubiläums eben durch ein anderes, durch ein viel größer dimensioniertes Trauma überboten, über-

 Brief vom 18. März 1938 an Karl Schönauer. In: Musil, Briefe 1901– 1942, Bd. 1, S. 819 f., hier S. 819. Vgl. Corino, Robert Musil. Eine Biographie, S. 598.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1803. In einem anderen Entwurf scheint Clarisse im Vergleich zu Wien selbst im literaturgeschichtlich topisch mit Verfall und Tod assoziierten Venedig »[a]lles […] voll Energie«, so dass sie sich »ganz elektrisiert« fühlt. Ebd., S. 1798.  Ebd., S. 109.  Ebd., S. 87.  Ebd., S. 78.  Ebd., S. 88.  Ebd., S. 169.  Ebd., S. 78.

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schrieben wurde: durch die Abwertung Österreichs zu einem zusammengeschrumpften, politisch mehr oder minder irrelevanten Kleinstaat, dessen Einwohnerzahl sich von 52 Millionen auf gerade noch sechs Millionen verringert hatte. Die ›Energielosigkeit‹ oder der »Verfall« des »gesellschaftlichen Gewebes« Kakaniens manifestiert sich im satirisch aufs Korn genommenen Unvermögen innerhalb der »große[n] vaterländische[n] Aktion«,¹⁰⁹ ein konsensfähiges Ziel oder eine Idee zu finden, die den verschiedenen, sozial, kulturell und politisch ausdifferenzierten Gruppen und Nationalitäten innerhalb des Reichs eine gemeinsame Möglichkeit der Identifikation böten. In seinem kritischen SpenglerEssay mit dem mokanten Untertitel Anmerkungen für Leser, die dem Untergang des Abendlandes entgangen sind, findet Musil, so sehr er darin den Dilettantismus der Spengler’schen Rationalitäts- und Wissenschaftskritik entlarvt, den »Gedanke[n]« durchaus »plausibel«, »daß Kulturen an innerer Erschöpfung schließlich zugrunde gehn« und dass »einander entsprechende Phasen in Auf- und Niederstieg unterschieden werden können«.¹¹⁰ Er glaubt ein historisches Grundgesetz darin erkennen zu können, dass Kulturen ›zerfallen‹, wenn sie sich in höherem Alter zu sehr ausgedehnt haben und ihre konstitutiven Ideen über Generationen hinweg ›verdünnt‹ worden sind, wenn »keine richtenden Kräfte mehr auf sie wirken«.¹¹¹ Das einzelne Subjekt wird für Musil zwar wie gesehen ganz maßgeblich durch die gesellschaftlichen Bedingungen konstituiert, in die es hineingeboren wird. Gesellschaften selber scheinen aber nicht zuletzt einem universalen zyklischen Prinzip zu folgen. Dieses Prinzip macht eine Kulturkrise, wie sie vor dem Ersten Weltkrieg weithin erfahren wurde, unvermeidlich und einen Neuanfang unabwendbar, der gewachsene Gesellschaftsstrukturen zerschlägt. Mit wiederum physikalischer Begrifflichkeit merkt Musil an, Kulturen verlören mit der Zeit und fortschreitendem Wachstum zwangsläufig an »Spannung«¹¹² und würden immer heterogener, weil ihre »Leitfähigkeit für Einflüsse« dem »Volumen des sozialen Körpers« nicht mehr entspreche – eine Diskrepanz, die »vor dem Krieg« einen »Höhepunkt« erreicht habe.¹¹³ Auf dem »Höhepunkt« demnach dieses Verlusts an »richtenden Kräfte[n]« wollen der Parallelaktion keine »Fiktion[en] der Gemeinsamkeit«, keine diskursiven Entwürfe mehr gelingen, die die verschiedenen Mitglieder Kakaniens »auf

 Ebd., S. 95.  Robert Musil: Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind. In: Ders., Essays und Reden. Kritik, S. 1042– 1059, hier S. 1055.  Ebd.  Ebd.  Ebd., S. 1057 f.

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den gemeinsamen Nenner Vaterland«¹¹⁴ bringen und Differenzen als »Einigkeit«¹¹⁵ oder Identität darstellen könnten.Vielmehr steigern die wenigen Maßnahmen, die in ihr getroffen werden, ja vergrößert genau genommen und ironischerweise bereits ihre bloße Existenz die innenpolitischen Dissonanzen und »Zerfallserscheinungen«,¹¹⁶ gegen die sie vorgehen möchte. Weil die Aktion von Graf Leinsdorf und der mehrheitlich deutschsprachigen Führungsschicht Kakaniens ausgeht, gilt sie bei den ›deutschfeindlichen‹ Nationalitäten von vornherein »als ein geheimnisvoller pangermanischer Anschlag«.¹¹⁷ Und als Leinsdorf, um diesem Ruf entgegenzuwirken, den polnisch-stämmigen Baron mit dem sprechenden Namen Wisnietzky an die Spitze des Propagandakomitees beruft, setzt endlich auch »in deutschen Kreisen« noch »ein lebhaftes Treiben gegen« sie ein.¹¹⁸ Nun waren das moderne Nationalbewusstsein und moderne Vorstellungen über Männlichkeit synchron laufende, gleichgerichtete Erscheinungen. Bürgerliche Leitbilder und hegemoniale Männlichkeitsideale entwickelten sich zur gleichen Zeit. Nationalcharaktere korrespondierten – wie das Hofmannsthals Aufsatz über die Österreicher und Deutschland bereits suggerierte – mit bestimmten Autooder Heterostereotypen der Männlichkeit, die für den Zusammenhalt der Gesellschaft unabdingbar schienen.¹¹⁹ Insofern kommt es vielleicht nicht von ungefähr, wenn Ulrich im krisengeschüttelten Kakanien sich ausgerechnet auf die Vielfalt an vorrätigen Männlichkeitskonzepten bezieht, um die kontextbestimmte Mehrdeutigkeit aller »Begriffe« zu illustrieren, »auf die wir unser Leben stützen«: »Zwischen wieviel Vorstellungen schwankt und schwebt nicht schon ein so einfacher Begriff wie der von der Männlichkeit! Das ist wie ein Hauch, der mit jedem Atemzug seine Gestalt ändert, und nichts ist fest, kein Eindruck und keine Ordnung«.¹²⁰ Die allseits empfundene Anomie und soziale Desintegration vor dem Ersten Weltkrieg führte zumindest in der »dünnen, unbeständigen Menschenschicht der Intellektuellen«¹²¹ auch zu einer Auffächerung oder Nuancierung männlicher Leitmuster.

 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 141.  Ebd., S. 171.  Ebd., S. 169.  Ebd., S. 452.  Ebd., S. 517.  Vgl. z. B. George L. Mosse: Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit. Frankfurt am Main und Wien 1997, S. 248 f.; Schmale, Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450 – 2000), S. 152– 154.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 574.  Ebd., S. 56.

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In diesem »allgemeine[n] Abflauen« in Kakanien, einer »geheimnisvolle[n] Zeitkrankheit«,¹²² die auch Ulrich feststellt, soll höchstens noch die allgemeine »Abneigung gegen den Mitbürger« zu einem »Gemeinschaftsgefühl« angewachsen sein.¹²³ Identitätsstiftende »Illusion[en]« scheinen nicht mehr zu greifen (»Wie wenn ein Magnet die Eisenspäne losläßt und sie wieder durcheinander geraten«),¹²⁴ stattdessen dominieren Gefühle der Divergenz, der Spaltung und Splitterung. In einer Art soziologischem Modell in nuce demonstriert die Erzählinstanz im Kapitel über Kakanien, warum es einen uniformen österreichischen Charakter nicht geben kann: Denn ein Landesbewohner hat mindestens neun Charaktere, einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geographischen, einen Geschlechts-, einen bewußten, einen unbewußten und vielleicht auch noch einen privaten Charakter; er vereinigt sie in sich, aber sie lösen ihn auf, und er ist eigentlich nichts als eine kleine, von diesen vielen Rinnsalen ausgewaschene Mulde, in die sie hineinsickern und aus der sie wieder austreten, um mit andern Bächlein eine andre Mulde zu füllen.¹²⁵

Dieses rudimentäre Modell, das zunächst an Ulrichs »statistische Entzauberung« auf der Polizeistation erinnert,¹²⁶ entwirft neuerlich ein ›gestaltloses‹, ganz von den Umständen formiertes, multiples Subjekt, das Identitäten durch seine Position innerhalb eines Systems von Beziehungen gewinnt.Wenn die Bedeutung auch eines vermeintlich »so einfach[en] Begriff[s] wie der von der Männlichkeit« auffällig schillert, dann liegt das analog zum österreichischen Charakter – so viel lässt sich aus diesem komprimierten Identitätsmodell wohl herauslesen – nicht zuletzt an den komplexen Wechselbeziehungen, in denen der ›Geschlechtscharakter‹ zu anderen Differenzkategorien steht. Selbst Vorstellungen von Männlichkeit, deren ideologische Funktion als sozialer Kitt wie schon angedeutet vielfach festgestellt worden ist,¹²⁷ sind in variablen Konfigurationen von anderen Identitätskonstruktionen abhängig, zu denen sie nicht einfach additiv hinzukommen. Vielmehr prägen und durchkreuen die einzelnen Identitätsfaktoren einander gegenseitig.  Ebd., S. 56 f.  Ebd., S. 34.  Ebd., S. 57.  Ebd., S. 34.  Ebd., S. 159.  Vgl. z. B. Ute Frevert: Männer(T)Räume. Die allgemeine Wehrpflicht und ihre geschlechtergeschichtlichen Implikationen. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichte 11.3: Im Inneren der Männlichkeit (2000), S. 111– 123; Frevert, Männergeschichte oder die Suche nach dem ›ersten Geschlecht‹, S. 41 f.; Schmale, Die Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450 – 2000), u. a. S. 195 – 203.

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Interessant an diesem Identitätsmodell ist für eine geschlechtertheoretisch ausgerichtete Untersuchung freilich nicht nur das Beharren auf Differenz und Vielfalt, das die Erzählinstanz den Verfechtern eines österreichischen Charakters entgegenhält und das in seiner Stoßrichtung – wenn man eine solche Extrapolation denn forcieren will – in gewissem Sinn an die Kritik erinnert, die innerhalb der feministischen und der Geschlechterforschung vor allem aus postkolonial orientierter Perspektive an einem einheitlichen Kollektivsubjekt ›Frau‹ geübt worden ist.¹²⁸ Aufschlussreich ist am Subjektbegriff, der hier entworfen wird, gerade auch, dass das konkrete Individuum nicht deterministisch auf die »mindestens neun Charaktere« reduziert wird, die es ›auswaschen‹. Die in Frage kommenden »Charaktere« oder Identitätskategorien werden den »Landesbewohner[n]« nicht einfach oktroyiert, sondern sind Gegenstand von Verhandlungen. Subjekte reproduzieren nicht glatt und reibungslos die Rollen, die ihnen gesellschaftlich vorgezeichnet sind. Sie können diesen Rollen partiell auch widerstehen, ohne sie pauschal zurückzuweisen. Denn jeder Erdbewohner [hat] auch noch einen zehnten Charakter, und dieser ist nichts als die passive Phantasie unausgefüllter Räume; er gestattet dem Menschen alles, nur nicht das eine: das ernst zu nehmen, was seine mindestens neun andern Charaktere tun und was mit ihnen geschieht; also mit andern Worten, gerade das nicht, was ihn ausfüllen sollte.¹²⁹

Der universale zehnte Charakter also bezeichnet ein Gefühl der ›Unausgefülltheit‹, eine ironische Reserviertheit gegenüber den Subjektpositionen, die »jeder Erdbewohner« wohl oder übel einnehmen muss und die Identität sowohl ermöglichen als auch einschränken. Er eröffnet gewisse Frei-»Räume«, um zu auferlegten Rollenvorgaben und Akten (»was seine mindestens neun andern Charaktere tun«) auf Distanz zu gehen respektive »den Mann, der zu« einem »gekommen ist«, eben doch nicht ganz vorbehaltlos zu »adoptieren«. Diese ungenügende oder Nicht-Identifikation mit tradierten Verhaltensmustern, die wie gesehen für den Mann ohne Eigenschaften charakteristisch ist, müsste nun zur Handlungszeit des Romans – von der Musil eben grosso modo glaubte, dass in ihr die »Leitfähigkeit für Einflüsse« eklatant abgenommen habe – besonders stark ausgeprägt und weit verbreitet sein. Und tatsächlich finden sich im Roman Stellen, die in dieser Form der Eigenschaftslosigkeit eine Signatur der

 Vgl. z. B. Franziska Schößler: Einführung in die Gender Studies. Berlin 2008, S. 121– 123; Gaby Dietze: Postcolonial Theory. In: Christina von Braun und Inge Stephan (Hg.): Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien. Köln, Weimar und Wien 22009, S. 328 – 349, hier S. 338 – 345.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 34.

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Zeit und im Romanhelden einen aktuellen Typus ermitteln. So kann etwa die Erzählinstanz sogar mit generalisierendem Indefinitpronomen bemerken, »[m]an beginn[e], es immer mehr als beschränkt zu empfinden, unwillkürlich erworbene Wiederholungsdispositionen einem Menschen als Charakter zuzuschreiben und dann seinen Charakter für die Wiederholungen verantwortlich zu machen«.¹³⁰ Richtet sich auch diese Aussage gegen einen obsoleten Subjektbegriff, der Identitäten als Ausdruck einer gleichsam privaten Essenz des Ich begreift, werden Eigenschaften oder Charaktere hier spezifischer noch als in den bisher angeführten Zitaten als etwas konzeptualisiert, das man tut: als eine Serie von angeeigneten Akten, die innerhalb bestimmter Regulative ständig wiederholt und dadurch erst quasi- oder pseudoontologisch aufgeladen werden. Identitäten werden demnach – im kulturwissenschaftlichen Jargon müsste man sagen: performativ – durch jene immer wieder neu zitierten Handlungen erst hervorgebracht, die angeblich ihre Folge sind. Diese Konzeption von Identität soll also schon zur erzählten Zeit des Mann ohne Eigenschaften immer verbreiteter geworden und Ulrich mindestens seinem Rivalen Walter zufolge sogar eine für die Epoche repräsentative Figur sein (»[d]as gibt es heute in Millionen«; »[d]as ist der Menschenschlag, den die Gegenwart hervorgebracht hat!«¹³¹). Dennoch steht Ulrich, worauf der bestimmte Artikel im Romantitel ja schon hindeutet, mit seiner Eigenschaftslosigkeit innerhalb des Figurenarsenals beinahe allein. Einzig bei ihm und vom Zweiten Buch an – wenn auch und wie noch zu zeigen sein wird gerade nicht auf exakt analoge Weise – bei seiner Schwester Agathe scheint die »passive Phantasie unausgefüllter Räume« so bestimmend zu sein, dass sie die Wirklichkeit im Zeichen des Möglichkeitssinns oder des »Prinzip[s] des unzureichenden Grundes«¹³² wahrnehmen. Diese Wahrnehmung, die Anerkennung, dass der Wirklichkeit keine zwingende Notwendigkeit zukommt und Subjekte von gesellschaftlichen Strukturen hervorgebracht werden, die letztlich kontingent sind, ermöglicht erst jene intellektuelle Beweglichkeit und kritische Denkfähigkeit, die Ulrich von den meisten anderen, sehr viel typisierteren Romanfiguren abhebt. Sie verbindet den Titelhelden des weiteren mit der Denkhaltung und dem Erzählgestus, mit den Kommentaren und essayistischen Einschüben des fiktiven Autors, mit dem er in dieser und manch anderer Hinsicht konspiriert. Und sie liegt gleicherweise den poetologischen Vorstellungen des realen Autors zugrunde,¹³³ der die eigentliche Aufgabe und

 Ebd., S. 252.  Ebd., S. 64.  Ebd., S. 134.  Vgl. zu dieser Nähe von Ulrich, Erzähler und Autor z. B. folgende Notiz Musils von 1930: »In Zukunft bei Dichtungen mich nur an die Stelle einer Nebenperson setzen, eines Zuschauers. Im

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soziale Funktion der Literatur – in Abgrenzung auch zu den jungen wissenschaftlichen Disziplinen der Psychologie und Psychoanalyse – in der »Gleichgewichtsstörung des Wirklichkeitsbewußtseins«¹³⁴ ortete, in der ›Sprengung‹ der »Formelhaftigkeit des Daseins«:¹³⁵ darin also, gängige Topoi zu beugen und existierende Formen aufzubrechen, um so zur »unaufhörliche[n] Umformung und Erneuerung des Bildes der Welt und des Verhaltens in ihr« beizutragen.¹³⁶

IV Ambivalenzen Ob die Geschlechterfigurationen und -repräsentationen im Mann ohne Eigenschaften diese poetologisch-ästhetischen Forderungen Musils einlösen und inwieweit sie mit den gerade vorgestellten Ideen über Identität abgestimmt sind, soll nun unter anderem und aus verschiedenen Perspektiven genauer untersucht werden. Zu erwarten ist eine solche allzu bruchlose Abstimmung und Einstimmigkeit schon deshalb nicht, weil sich selbst in Der deutsche Mensch als Symptom vereinzelt Denkfiguren finden, die offenkundig anderen Ansätzen verpflichtet sind als solch einem konstruktivistischen. Gerade in diesem Aufsatzfragment, in dem Musil sein »Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit« darlegt, taucht eine in diesem Kontext besonders auffällige und erklärungsbedürftige Aussage auf. Musil bemerkt dort, dass schon die »kleinste Tatsache aus dem Zusammenhang zwischen Charakter und Blutdrüsengleichgewicht […] mehr Anschauung von der Seele« ›öffne‹ »als ein fünfstöckiges idealistisches System«.¹³⁷ Diese im desillusionierenden Ton wissenschaftlicher Rigorosität gehaltene Bemerkung verweist auf eine Konstitutionstypologie, die in vielfacher Hinsicht in der Tradition der Physiognomie des neunzehnten Jahrhunderts und selbst der Humoralpathologie stand. Sie bezieht sich auf Ernst Kretschmers Studie Körperbau und Charakter, über die Musil eigens eine »Serie von Artikeln« zu schreiben erwog.¹³⁸ Denn er attestierte Kretschmer, aufgezeigt zu haben, »daß tatsächlich ein Zusammenhang

Roman stehe ich in der Mitte, auch wenn ich mich nicht selbst schildere, das hindert das ›Fabulieren‹; es liegt möglicherweise wirklich alles an solcher Grundeinstellung. Im Ausdenken einer Geschichte also schon sich in die Rolle eines Beobachters versetzen«. Musil, Tagebücher, Bd. 1, S. 817.  Robert Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films. In: Ders., Essays und Reden. Kritik, S. 1137– 1154, hier S. 1140.  Ebd., S. 1147.  Ebd., S. 1152.  Musil, Der deutsche Mensch als Symptom, S. 1384; vgl. S. 1359.  Brief vom 10. November 1923 an Arne Laurin. In: Musil, Briefe nach Prag, S. 50.

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zwischen Äußerem, Temperament, Geist usw. besteht und worin er besteht«.¹³⁹ Damit sei sein »Buch« nicht nur für die Psychologie »interessant«, sondern auch »für den menschenbeschreibenden Schriftsteller, den Maler, den Schauspieler usw.«¹⁴⁰ Allein schon die Reminiszenz an Kretschmer also legt nahe, dass auch im Mann ohne Eigenschaften Identitäten vielschichtig und manchmal wohl auch widersprüchlicher verhandelt werden, als das in der Forschung zuweilen registriert worden ist. Um solche Brüche,Widersprüche und Inkohärenzen nicht zu glätten, sondern möglichst zu erfassen und dicht zu beschreiben, richtet diese Arbeit ihren Fokus immer auch auf die vielfältigen Beziehungen zwischen Musils Roman und zeitgenössischen nichtliterarischen Texten (aus Anthropologie, Psychologie, Medizin, Ökonomie etc.). Textkritische, erzähltheoretische, intertextuelle, sozial- und diskursgeschichtliche Ansätze sollen kombiniert werden, wenn es gilt, detailliert zu untersuchen, welche geschlechterdiskursiven Partikel der Mann ohne Eigenschaften übernimmt und welche er verwirft, wie er geschlechtliche Codierungen hierarchisiert und wann Oppositionen von Weiblichkeit und Männlichkeit allenfalls kollabieren. Der Fragekatalog, den ein solches Unterfangen eröffnet, ist sehr umfangreich und angesichts der Prävalenz der damaligen Geschlechterdiskurse und ihrer Metaphern nahezu unabschließbar. In den Mittelpunkt gerückt werden sollen in den folgenden, je relativ eigenständigen Lektüren deshalb Fragestellungen, die einerseits so oder ähnlich in der Musil-Forschung noch gar nicht oder jedenfalls nicht erschöpfend behandelt worden sind. Andererseits versuchen die Lektüren möglichst exemplarisch die Inkonsistenzen und impliziten Revokationen herauszuarbeiten, wie sie für Paradigmenwechsel eben typisch sind und zwischen Musils »Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit« und einer Konstitutionspsychologie wie derjenigen Kretschmers unvermeidlich hervortreten. Ein solcher Fokus auf bestimmte Bruchstellen und Ambivalenzen soll Zugang zu den besonders neuralgischen Genderfragen ermöglichen, an denen der Roman sich abarbeitete. In einer ersten Lektüre wird eingehend der Frage nachgegangen, wie die Männlichkeitsrepräsentationen des Romans derart widersprüchlich rezipiert werden konnten. Gezeigt werden soll, dass die »innere[] Erschöpfung« und gravierenden Identitätsprobleme Kakaniens einerseits tatsächlich mit einer fundamentalen Krise der Männlichkeit einhergehen, die auch den defizienten Körpern der Männerfiguren eingeschrieben ist. Andererseits jedoch fügt sich genau der Titelheld wenigstens auf einen ersten Blick nicht in dieses Krisenmuster. Ihm

 Ebd.  Ebd.

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allein wird die Eigenschaft der Männlichkeit konstant und nachdrücklich zugesichert, nicht zuletzt über seine immer wieder aufs neue hervorgehobene Athletik und sexuelle Attraktivität. Ulrichs ›built body‹ unterscheidet ihn von den übrigen, ›in corpore‹ gedemütigten Männerfiguren ebenso wie sein allen anderen weit überlegener Intellekt, sein schon in der zeitgenössischen Kritik notierter ›männlicher Geist‹. In einem zweiten Kapitel richtet sich das Erkenntnisinteresse sodann auf die Machtverhältnisse in den ehelichen Geschlechterbeziehungen. Anhand von Reminiszenzen an die nicht von ungefähr gerade in den zwanziger Jahren populäre Kulturstufen- und Geschlechtertheorie Johann Jakob Bachofens lässt sich – um auch diesen Befund schon vorwegzunehmen – aufzeigen, wie im Mann ohne Eigenschaften prä- oder postpatriarchale Zustände um sich greifen, wie die deregulierten Geschlechterverhältnisse und das Versagen der patriarchalen Familienordnung darin unter die Signatur des Bachofen’schen Mutterrechts zu stehen kommen. Ins pitoyable Bild, das die Mehrzahl der Männerfiguren in Musils Roman abgeben, fügen sich auch die wissenschaftlichen Fachvertreter. Die Wissenschaftskritik im Mann ohne Eigenschaften ist breit gefächert. Sie reicht von der Pädagogik über die Medizin und Psychoanalyse bis zum Ingenieurswesen. Dennoch wird die Krise der Wissenschaften und der staatlichen Institutionen – das soll das dritte Lektürebeispiel verdeutlichen – generell durch ein charakteristisches Merkmal angezeigt. Und zwar wird sie ausgerechnet durch ein Attribut chiffriert, das traditionell als Virilitätsindex gilt, sich romanimmanent, innerhalb von Musils Semiotik des Kulturkörpers indessen als symbolisches Zeichen intellektueller Inkonsequenz und Rückständigkeit erweist: den Bart. Nachdem sich die ersten drei Kapitel demnach auf Symptome der Männlichkeitskrise im Roman konzentrieren, verschiebt sich der Gegenstand des Interesses in den drei anschließenden Figurenanalysen auf die Zusammenhänge von ethnischer ›otherness‹ und männlicher Identität. So wird die Physiognomie des jüdisch-preußischen Großindustriellen Arnheim mit einer erlesenen und anachronistischen Markierung versehen, die zumindest in Diotima zunächst völlig andere, erhabenere Männlichkeitsassoziationen weckt als ein ›jüdischer Typus‹: ›phönikisch-antik‹. Den vorerst solid bürgerlichen Leo Fischel hingegen, die andere prominente jüdische Männerfigur, anerkennen sein antisemitisch geprägtes Umfeld, seine Frau und seine Tochter bemerkenswerterweise erst als ›Mann‹, nachdem er zu einem vermögenden Spekulanten und damit doch noch zu einem der Klischeejuden geworden ist, den sie die längste Zeit schon in ihm sehen wollten. Die erste dieser beiden Figurenanalysen rückt die Verhandlungen von Arnheims jüdischer Identität in den Vordergrund und rekonstruiert die diskursiven Bedingungen, die seine Typisierung als ›Phönizier‹ ermöglichten. Die zweite

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arbeitet sich an den in Bezug auf ›race‹, ›class‹ und ›gender‹ besonders vielschichtigen Konflikt- und Machtkonstellationen ab, die den Familienalltag der Fischels bestimmen. Beide Kapitel fragen dabei nach den ihrerseits heterogenen und widersprüchlichen Strategien, mit denen der Roman sich auf Topoi des antisemitischen Diskurses bezieht. In der nächsten, ebenfalls ›intersektional‹ ausgerichteten Lektüre steht danach noch eine andere, in Musils Kakanien exotischere Form von ethnischer Alterität im Zentrum. Der dunkelhäutige Diener Soliman, der den ›Phönizier‹ Arnheim nach Kakanien begleitet, lässt sich als einer jener infantilisierten dunkelhäutigen ›coon servants‹ beschreiben, die das Hollywood’sche Mainstreamkino der zwanziger und dreißiger Jahre bevölkerten. Der letzte Teil der Arbeit schließlich wendet sich wieder dem Romanhelden zu, seiner inzestuös gefärbten Beziehung zur ›vergessenen‹ Schwester Agathe und den mystisch erhöhten Augenblicken des ›anderen Zustands‹, die er mit ihr zusammen erlebt. Hierbei können noch einmal beispielhaft die Ambivalenzen, die verwickelten und nur schwer austarierbaren Verhältnisse von ›subversion‹ und ›containment‹ herauspräpariert werden, die für die Repräsentationen der Geschlechterdifferenzen und -verhältnisse im Mann ohne Eigenschaften insgesamt charakteristisch sind. Denn zum einen bekennen sowohl Ulrich als auch seine Schwester, von eingefahrenen Geschlechterrollen genug zu haben, und zielen mit ihren ›Verbrechen‹ im Zweiten Buch des Romans gerade auch gegen die Geschlechterordnung. Zum anderen freilich lässt sich Musils Gestaltung dieser Schwesterfigur nicht zuletzt als Reflex seiner Lucien Lévy-Bruhl-Rezeption fassen. Entsprechend regelmäßig wird Agathes Welt- und Denkhaltung mit dem Denken der Naturvölker assoziiert, wie es der französische Anthropologe in seiner Theorie einer ›mentalité primitive‹ ergründen zu können glaubte.

Krisenfiguren: Von Drei Frauen zum Mann ohne Eigenschaften I Männlichkeitskrisen in Drei Frauen In Robert Musils Novellenzyklus Drei Frauen kehre, stellte Hans Sturm im April 1925 in der Zeitschrift Die Literatur fest, »immer das gleiche Grundmotiv wieder«.¹ In allen drei »Arbeiten«, die Musils »klares psychologisches Gestaltungsvermögen« demonstrierten, trete »die Frau […] zerstörend oder verwirrend in das Leben des Mannes«.² Zwar lässt sich Sturm entgegenhalten, dass in den drei Erzählungen doch wohl auch, wenn nicht sogar in erster Linie die männlichen Protagonisten in das »Leben« der je eponymen Frauenfiguren »zerstörend oder« mindestens »verwirrend« eingreifen: Homo in das der Südtiroler Bäuerin Grigia, deren Los als überführte Ehebrecherin am Ende der Novelle ganz im Dunklen bleibt; Herr von Ketten in das der Portugiesin, die er heiratet, ins Südtirol auf seine »über alles Erwarten häßlich[e] […] Burg« führt und dort »elf Jahre« lang auf ihn ›warten‹ lässt;³ und der namenlos bleibende Sohn aus »gute[r] Familie«⁴ in das des Arbeitermädchens Tonka, das er an sich bindet und – in einer der wohl ernüchterndsten Sexszenen der Literaturgeschichte – »wie ein Gerichtsvollzieher!« zu seiner Geliebten macht.⁵ Sturms Bemerkung zeigt dennoch zweierlei an. Sie deutet zum einen bereits darauf hin, dass in Drei Frauen, anders als die Novellentitel Grigia, Die Portugiesin und Tonka suggerieren könnten, nicht die Frauenfiguren im Zentrum stehen, sondern die Sichtweisen und das Innenleben der männlichen Helden oder Antihelden. Zum anderen verweist Sturms Kommentar auf den Schaden, den die angeblich durch »die Frau« ›zerstörten‹ oder ›verwirrten‹ männlichen Hauptfiguren gerade im Selbstverständnis ihrer Männlichkeit davontragen. Alle drei Protagonisten starten ihre Geschichten aus einer Position des Männlich-Gesunden. Und alle drei verlieren im Verlauf der Handlung jene oder jedenfalls eine Vielzahl der Merkmale, die in den zeitgenössischen Dekadenzkritiken positiv und männlich besetzt waren. Sie verlieren ihre zielgerichtete Energie oder rationale Denk- und Handlungsfähigkeit, ihre Willensstärke oder soziale Integration. Der Einbruch »der Frau« oder ›des Weiblichen‹ steht in allen drei Erzählungen im

    

Hans Sturm: Drei Frauen. Novellen. In: Die Literatur 27.7 (1925). Ebd. Robert Musil: Die Portugiesin. In: Ders., Prosa und Stücke, S. 252– 270, hier S. 255 f. Robert Musil: Tonka. In: Ders., Prosa und Stücke, S. 270 – 306, hier S. 278. Ebd., S. 286.

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Zeichen einer existenziellen Krise der Männerfiguren, die gerade auch ihre Geschlechtsidentitäten tangiert. Dabei rührt die elementare Bedrohung, die von den drei Frauen ausgeht, nicht allein von der Geschlechterdifferenz her. Diese Differenz scheint in allen drei Erzählungen nicht auszureichen, um die Protagonisten – wie es Felix Langer 1924 im Tagesboten formulierte – »Griff um Griff« ›loszureißen‹ von ihrem »Herrentum, das keine Grenzen zu kennen schien«.⁶ Das Andere, das die titelgebenden Frauenfiguren personifizieren, verkörpern sie nicht nur qua Sexus. Vielmehr wird der Geschlechterunterschied mit nationalen, sprachlichen, ethnischen und Klassendivergenzen verschränkt. Bei der Portugiesin, die keinen eigenen Namen erhält und demnach ganz von ihrer fremden Nationalität her definiert bleibt, ist es ihr inniges und undurchsichtiges Verhältnis zu ihrem ebenfalls anonymen portugiesischen »Jugendfreund«, das ihren ohnedies schon »von Krankheit zerschabt[en]« Gatten in eine umso tiefere Identitäts- und Männlichkeitskrise treibt.⁷ In Tonka wird die Titelfigur zusätzlich zu ihrer ethnisch-sprachlichen Alterität auch sozial deklassiert. Das schon topographisch an den Rand gedrängte, buchstäblich marginalisierte Vorstadtmädchen mit »tschechische[m]«⁸ Namen wird als eine Art ›Subalterne‹ geschildert, die ausdrücklich nicht über das »Kapital« eines nutzbringenden »Redenkönnen[s]« verfügt⁹ und der studierten Hauptfigur desto bequemer als Projektionsschirm eigener Phantasien und Ängste dienen kann. Nicht nur entstammt sie einem der von Armut und sozialer Not geprägten dörflichen Außenbezirke, wo »ein seltsames Gemisch zweier Sprachen«¹⁰ gesprochen wird. Sie kommt auch aus einer Familie mit besonders zwielichtigen Verwandtschaftsverhältnissen. Sie wohnt mit ihrer Tante […], die eigentlich ihre viel ältere Base war, und deren kleinem Sohn, der eigentlich ein unehelicher Sohn war, wenn auch aus einem Verhältnis, das sie so ernst genommen hatte wie eine Ehe, und einer Großmutter, die nicht wirklich die Großmutter, sondern deren Schwester war, und früher wohnte noch ein wirklicher Bruder ihrer toten Mutter dort, der aber auch jung starb […].¹¹

 Felix Langer: Vom Büchertisch. Robert Musil, Drei Frauen. In: Tagesbote, 23. März 1924.  Musil, Die Portugiesin, S. 263.  Musil, Tonka, S. 272, 279.  Ebd., S. 280. Vgl. ebd.: »Wie stumm war Tonka! Sie konnte weder sprechen noch weinen. Ist aber etwas, das weder sprechen kann, noch ausgesprochen wird, das in der Menschheit stumm verschwindet, ein kleiner, eingekratzter Strich in den Tafeln ihrer Geschichte, ist solche Tat, solcher Mensch, solche mitten in einem Sommertag ganz allein niederfallende Schneeflocke Wirklichkeit oder Einbildung, gut, wertlos oder bös?«  Ebd., S. 272.  Ebd., S. 271.

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In der »guten Familie« des Protagonisten hingegen fehlte es, anders als in Tonkas Herkunftsmilieu, eigentlich nicht an männlichen Figuren, auch nicht an einem legitimen Vater. Dennoch erweist sich auch in ihr die patriarchale Ordnung als störungsanfällig oder sogar zerrüttet. Auch die ›gute Familie‹ wird weiblich dominiert. Der seit einiger Zeit erkrankte Vater ist ein »verblödende[r] Mann«, mit dem sein Sohn schon als Kind »Mitleid« hatte.¹² Er bemitleidet ihn »seit vielen Jahren«, weil sich der Familie ein männlicher Rivale, ein Oberfinanzrat und ›geistloser‹ Dichter angliederte, der der Mutter in »ausdauernde[r]«, wenn auch platonisch bleibender »Liebe« verbunden ist.¹³ Nicht zuletzt als Protest gegen die dominante Mutter, die er schon früh »bei allen kleinen Gelegenheiten des Familienlebens bekämpft[]«, lässt sich die ›wilde Ehe‹ verstehen, in der er »einige Jahre« mit Tonka lebt¹⁴ – trotz oder auch wegen der rigiden Moralvorstellungen der Zeit, ohne es eben zu wagen, die Mesalliance zivilrechtlich zu legalisieren. Sie lässt sich als männliche Selbstermächtigung und wohl auch als Versuch verstehen, dem ›Los‹ seines deplorablen Vaters zu entgehen. Tonka, in ihrer ›Stummheit‹, Anspruchslosigkeit und »edle[n] Natürlichkeit«,¹⁵ ohne eigenes ökonomisches, kulturelles oder symbolisches Kapital, ordnet sich ihm auf jeden Fall – auch sexuell – ganz unter. Erschüttert, ›verwirrt‹ oder sogar ›zerstört‹ wird sein männlicher Selbstentwurf erst, als sich Tonka unverhofft »schwanger fühlt[]«, obwohl »die Empfängnis eigentlich in eine Zeit« seiner »Abwesenheit und Reisen« fällt.¹⁶ Als sich obendrein erweist, dass sie an Syphilis erkrankt ist, deren »Urheber« er »nach menschlichem Ermessen« nicht sein kann,¹⁷ sieht er sein »Herrentum« endgültig in Frage gestellt. Der »vielseitig [b]egabte« Chemiker, eigentlich ein geradezu »fanatischer Jünger des kühlen, trocken phantastischen, Bogen spannenden neuen Ingenieurgeistes«,¹⁸ kann sich nicht dazu durchringen, den medizinischen Diagnosen zu glauben. Er holt in seinem Zweifel und seiner Verzweiflung immer neue ärztliche Gutachten ein und muss in Kauf nehmen, als »unverbesserlicher Hahnrei«¹⁹ angesehen zu werden. Die »Eifersucht« seines Protagonisten, schrieb Musil in seinen Notizen, rühre »nicht daher, daß er rasend verliebt wäre, sondern weil er wenigstens einen

       

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.; Ebd., Ebd.,

S. 282 f. S. 283. S. 283, 288. S. 285. S. 288. vgl. S. 289. S. 283. S. 289.

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Menschen besitzen will, weil er sich verzweifelt wehrt, daß ihm dieser Sicherste nicht auch von der allgemeinen Unsicherheit ergriffen werde«.²⁰ Lieber zieht der im Prinzip »haßerfüllte[] Gegner« von »Fragen, die nicht klar zu lösen sind«,²¹ in Betracht, sein wissenschaftlich-rationales Weltbild mindestens in dieser Hinsicht aufzugeben, es vor dem ›Weiblich-Mysteriösen‹ und empirisch nicht Objektivierbaren kapitulieren zu lassen, das Tonka für ihn verkörpert. In wiederholten Reminiszenzen an die ›jungfräuliche Mutterschaft‹ erwägt er, durch »die Möglichkeit eines geheimnisvollen Zusammenhangs«,²² durch einen »mystische[n] Vorgang mit Tonka« verknüpft zu sein,²³ und flüchtet sich zusehends in »Träume«²⁴ und »Märchen«.²⁵ In eine männliche Entwicklungsgeschichte integriert werden kann die Erzählung erst ›over her dead body‹. Erst als Tonka am Schluss der Novelle stirbt, vermag der ›männliche Held‹ sich der Episode wieder zu bemächtigen und sie als etwas zu betrachten, das ihn ein bisschen »besser machte als andere, weil auf seinem glänzenden Leben ein kleiner warmer Schatten lag« (»Das half Tonka nichts mehr. Aber ihm half es«).²⁶ Post mortem kann ihm das »kleine mitgenommene Geschäftsmädchen«²⁷ zum Andenken an eine mystische Erfahrung werden, die sein Leben bereichert. In Grigia wird das soziale und hier nun ganz unmissverständlich zivilisationsgeschichtliche Gefälle zwischen der Titelfigur und dem männlichen Protagonisten noch verstärkt. Dessen auf Repräsentativität abzielender, ambiger Name, Homo, soll hier wohl weniger für eine allgemein menschliche als für die wiederum spezifisch männliche Krisenerfahrung einstehen, die der Geologe, der also erneut naturwissenschaftlich tätige ›Held‹ der Erzählung seinerseits und mit fatalerem Ausgang durchmacht. Ausgelöst wird diese Krise zunächst in der Erbfolge der väterlichen Linie, durch seinen kranken kleinen Sohn, der seit einem Jahr nicht mehr gesundet. Ihm wird ein »lange[r] Kuraufenthalt« verordnet.²⁸ Homo kann »sich nicht entschließen, mitzureisen«, obwohl er »zuvor nie auch nur einen Tag lang von seiner Frau geschieden gewesen« ist und »ihm nicht einfallen« will, »wie er allein den kommenden Sommer« verbringen soll.²⁹ Auch wenn diese Unentschlossenheit nicht zuletzt von seinem »heftigen Widerwillen gegen Bade- und          

Musil, Tagebücher, Bd. 1, S. 103; Hervorhebung im Original. Musil, Tonka, S. 283. Ebd., S. 304. Ebd., S. 288. Ebd., S. 299, 303, 305. Ebd., S. 289, 296, 298. Ebd., S. 306. Ebd., S. 299. Robert Musil: Grigia. In: Ders., Prosa und Stücke, S. 234– 252, hier S. 234. Ebd.

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Gebirgsorte« ausgehen soll, nimmt er nur zwei Tage nach der Abreise seiner Frau und seines Kindes den Vorschlag eines Mozart Amadeo Hoffingott an, »sich an einer Gesellschaft zu beteiligen, welche die alten venezianischen Goldbergwerke im Fersenatal wieder aufschließen« will.³⁰ Dabei deuten Hoffingotts Name und das Gewerbe, in dem er tätig ist, bereits auf das Ende hin, das Homo nehmen wird. Sie spielen auf eine Erzählung von E. T. A., Ernst Theodor Amadeus Hoffmann an, die Hugo von Hofmannsthal nicht von ungefähr im gleichen Jahrzehnt dramatisch verarbeitete (1899), in dem ihm Bachofens »gewaltige[s] Mythenwerk, Das Mutterrecht, in die Hand kam«.³¹ In Die Bergwerke zu Falun wird der junge Elis Fröbom nach dem Tod seiner geliebten Mutter zum Bergmann, stößt in der Tiefe der weiblich-chthonisch dargestellten Bergwerkswelt auf eine »mächtige[]« Berg»Königin«³² und bleibt schließlich in ihrem, im »tiefen Schoß der Erde« verschüttet zurück.³³ Bei Hoffmann stehen die dunklen Stollen im Erdinnern – ganz in der Tradition des in der deutschen Literaturgeschichte häufigen Bergbaumotivs³⁴ – als Metapher für die un- oder vorbewussten archaischen Schichten des Gefühlslebens, die Fröbom schließlich übermannen. In Grigia hingegen geben nicht nur die Stollen, sondern die Bergwelt als Ganzes für Homo einen solchen archaischen Raum ab. In der Umgebung des »vorweltliche[n] Pfahldorf[s]«, in das er sich im Fersenatal

 Ebd.  Erschienen ist Hofmannsthals Bühnenversion erst 1932. Wie sich Musil in der ersten Jahreshälfte 1939 in seinem Tagebuch- oder Notizheft erinnerte, soll Hofmannsthal Grigia »sehr gelobt« haben. Musil, Tagebücher, Bd. 1, S. 938. Über seine Bachofenrezeption berichtete Hofmannsthal seinem Verleger Eugen Rentsch: »Ich war ein noch junger Mensch, als mir das gewaltige Mythenwerk, Das Mutterrecht, in die Hand kam. Nicht nur durch eine Zeittendenz – denn es war noch beträchtlich vor jener Entdeckung durch Schuler und Klages –, sondern durch die Hand eines ebenso einsamen als vieles wissenden, älteren Freundes. Es war noch ein Exemplar der völlig vergriffenen ersten Ausgabe von 1862 [sic], das er mir anvertraute und wieder anvertraute, einmal gar für mehrere Jahre; der durch die Witwe veranstaltete Neudruck von 1897 existierte noch nicht. Was das Buch mir bedeutete, läßt sich kaum sagen. Ich rechne diesen Mann seit damals wahrhaft zu meinen Lehrern und Wohltätern, und ausgelesen habe ich seine Bücher bis heute nicht«. Hugo von Hofmannsthal: An den Verleger Eugen Rentsch. In: Ders., Reden und Aufsätze III. 1925 – 1929. Frankfurt am Main 1980 (Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden), S. 136 f., hier S. 136. Armin von Hoffingott hieß ein Offizierskollege Musils im Ersten Weltkrieg. Vgl. Musil, Tagebücher, Bd. 1, S. 323; Corino, Robert Musil. Eine Biographie, S. 542.  E. T. A. Hoffmann: Die Bergwerke zu Falun. In: Ders.: Die Serapionsbrüder. Hg. von Wulf Segebrecht. Frankfurt am Main 2001 (Sämtliche Werke, Bd. 4), S. 208 – 241, hier S. 232.  Ebd., S. 235.  Vgl. Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. München 32008, S. 87– 89.

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»zurückversetzt« wähnt und das seinerseits in einer Art Grube oder »Schoß« liegt, in »einer leeren gugelhupfförmigen Welt«, »von der ein kleines Stück durch den tief fließenden Bach abgeschnitten worden war«³⁵ – in dieser sozusagen ›urzeitlichen‹, vielleicht bereits durch ihre Topographie weiblich sexuierten Gegend also fühlt sich Homo zunehmend wie »sich selbst aus den Armen genommen«.³⁶ Er erleidet diesen Selbstverlust auf einem präpatriarchal anmutenden oder jedenfalls auf einem Terrain, auf dem Geschlechterdifferenz anders als gewohnt kulturalisiert wird. Denn nicht nur gehen »fast alle« der einheimischen Männer wegen der drückenden Armut »nach der Heirat […] für Jahre nach Amerika«³⁷ und werden die übrigen von der Bergwerksgesellschaft in »Arbeitspartien« »auf die Berge« verteilt, »wo sie wochenüber verbleiben« müssen.³⁸ Sondern die Frauen lassen obendrein ihre »Liebe« ungewohnt »frei ausströmen«³⁹ und verhalten sich sexuell vergleichsweise offensiv (Grigia »schnalzt[]« zum Beispiel nach einem ersten Kuss mit Homo zu seinem ›Erschrecken‹ auf »gemeine Weise« mit ihren Lippen⁴⁰). Versehen werden die »merkwürdige[n]«⁴¹ Bewohner oder eben in erster Linie Bewohnerinnen des Gebirgstales außerdem mit Markierungen ethnischer Fremdheit. Zumindest eine der Bäuerinnen soll einen »Schädel wie eine Aztekin« haben;⁴² und offenbar alle von ihnen ziehen »die Knie hoch wie die Neger«, »[w]enn sie warten« müssen und sich »nicht auf den Wegrand, sondern auf die flache Erde des Pfads« setzen.⁴³ (In einer ersten Notiz von 1915 stand noch: »Die wartenden Frauen sitzen auf der flachen Erde mit hochgestellten Beinen, orientalisch.«⁴⁴) Die entwicklungs- und zivilisationsgeschichtliche ›Rückständigkeit‹ der ein altertümliches, zuweilen nur noch »zu erraten[des]«⁴⁵ Deutsch sprechenden Talbevölkerung – den »scharfen Geist der Zivilisation«⁴⁶ bringen die Amerika-Remigranten ausdrücklich nicht zurück in ihre Heimat – wird also in ethnische Differenz übersetzt. Zu dieser Allianz von Zivilisations-, Geschlechterund kraniologisch-ethnologischem Diskurs passt auch der kolonialherrliche

           

Musil, Grigia, S. 236. Ebd., S. 240. Ebd., S. 237. Ebd., S. 236. Ebd., S. 237. Ebd., S. 246. Ebd., S. 237. Ebd., S. 250. Ebd., S. 239. Musil, Klagenfurter Ausgabe, Transkriptionen / Heft I/3; im Original keine Hervorhebung. Musil, Grigia, S. 248. Ebd., S. 238.

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Gestus, mit dem die Gesellschafter »unter« diesen »Wilden«⁴⁷ walten »wie die Götter«.⁴⁸ Sie beschäftigen »alle Welt«, verwandeln das »Schulhaus« kurzerhand »in eine Faktorei«⁴⁹ und üben sogar eine eigene Strafgerichtsbarkeit aus, die zivile Rechtsstandards verdrängt: Ein »Bursche«, der »Wein gestohlen« hat, soll »zum abschreckenden Beispiel Tag und Nacht lang an einen Baum gebunden stehen«.⁵⁰ In dieser gleichsam kolonialen oder jedenfalls exotisierten ›mise-en-scène‹, scheinbar weitab von der eigenen Zivilisation und genormten Fortschrittskultur, erleidet der Protagonist sozusagen einen Tropenkoller. Er ergibt sich einer »Mischung aus Benommenheit und Nervenzerrüttung«, wie sie so ähnlich »von nahezu allen Kolonialbeamten, Missionaren und Ethnologen […] um 1900 beschrieben« und gemeinhin auf das »Klima in Übersee«, die »Ferne von der westlichen Zivilisation«, auf menschliche[] Isolation und sexuelle[n] Entzug« zurückgeführt wurde.⁵¹ Getrennt von seiner Ehefrau und heimgesucht von ersten Todesahnungen überlässt er sich in der »Einsamkeit«⁵² des Alpentals einer ›participation mystique‹, wie sie Lévy-Bruhl als charakteristisch für die Fonctions mentales dans les sociétés inférieures erachtete.⁵³ Homos intensive Naturerlebnisse rufen in ihm zwar zunächst noch die Phantasie hervor, sich über die Bergwelt mit seiner Frau und »Geliebten«⁵⁴ mystisch zu ›vereinigen‹. Gerade in diesen ekstatischen Einheitserfahrungen aber wird ihm sein »altes«, vaterrechtlich-monogames und bürgerlich intaktes »Leben« zunehmend »kraftlos«,⁵⁵ ja fühlt er sich »befreit« von der »Bindung an das Lebendigseinwollen« schlechthin.⁵⁶ Unter das Signum dieser topischen Verbindung von Weiblichkeit, Natur und Tod, einer ›Rückkehr zur Natur‹, die ihm zur »Selbstauflösung«⁵⁷ wird, kommt schließlich

 Ebd., S. 249.  Ebd., S. 236.  Ebd., S. 236 f.  Ebd., S. 241.  Hubertus Büschel: Im »Tropenkoller« – Hybride Männlichkeit(en) in ethnologischen Texten 1900 – 1960. In: Ulrike Brunotte und Rainer Herrn (Hg.): Männlichkeiten und Moderne. Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900. Bielefeld 2008, S. 241– 256, hier S. 241 f.  Musil, Grigia, S. 241, 246.  Lucien Lévy-Bruhl: Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures. Paris 1910. Die deutsche Übersetzung, Das Denken der Naturvölker, erschien am 17. März 1921 (freundliche Auskunft von Herma Papouschek, Braumüller Verlag Wien, vom 13. Januar 2011). Als Musil die Grigia-Novelle in der zweiten Hälfte 1921 schrieb, könnte er Lévy-Bruhl theoretisch also bereits in der Übersetzung gelesen haben. Erste Exzerpte aus dem Denken der Naturvölker legte er sich aber erst ca. zwei Jahre später an. Vgl. Musil, Tagebücher, Bd. 1, S. 627 f.  Musil, Grigia, S. 240 f., 247.  Ebd., S. 248.  Ebd., S. 241.  Ebd., S. 234.

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auch seine Beziehung zu einer der einheimischen Bäuerinnen zu stehen, deren exotische Sinnlichkeit ihn überwältigt. Diese »Bauernfrau«⁵⁸ heißt eigentlich Lene Maria Lenzi. Der sozial und kulturell privilegierte Homo aber versieht sie »lieber« mit jenem Namen, den auch die Erzählinstanz benutzt und der für die Symbiotik von Weiblichkeit und urwüchsiger Kreatürlichkeit in der Novelle seinerseits symptomatisch ist: Mit dem »Herrenrecht« also, »Namen zu geben«,⁵⁹ »nannte« er »sie noch lieber Grigia, mit langem I und verhauchtem Dscha, nach der Kuh, die sie hatte, und Grigia, die Graue, rief«.⁶⁰ Um mit dieser tierhaften, ›tellurischen‹⁶¹ »Geliebte[n]«⁶² zu schlafen, steigt Homo zuletzt in den alten Bergwerksstollen oberhalb des Dorfs, in den »tiefen Schoß der Erde«, aus dem er wie Hoffmanns Fröbom nicht mehr zurückkehrt. Der Stollen selber ist in kaum verhohlener Sexualsymbolik als eine Art Gebärmutter angelegt. Homo und Grigia tasten sich »mit großer Vorsicht in ein immer enger werdendes Dunkel hinein«, bis sich der Stollen »zu einer kleinen Kammer« erweitert, die ihm als finale Station seiner Regression und Krisengeschichte zur Grabkammer wird.⁶³ Grigias Mann, an den Homo bezeichnenderweise »noch nie« auch nur »gedacht« hat, versperrt den Stolleneingang mit einem Stein.⁶⁴ Der mittelalterliche Krieger von Ketten ›ermannt‹ sich am Schluss der Portugiesin über die Natur. Ihm fließen im »Kampf mit dem Tod Kraft und Gesundheit in die Glieder« zurück, als er seiner Krankheit zum Trotz in einer Art »Gottesurteil« »die unersteigliche Felswand unter dem Schloß« hinaufklettert.⁶⁵ Der »gebildete Mensch«⁶⁶ Homo hingegen bringt im Gegensatz zur Bäuerin Grigia die Kraft und den Willen, den Stollen zu verlassen, nicht mehr auf. Er findet zwar einen »Ausweg«, einen »schmalen Spalt«, aus dem Grigia »ins Freie« entwichen sein

 Ebd., S. 246.  Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1999 (Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 5), S. 260.  Musil, Grigia, S. 245.  Grigias Hand etwa ist »rauh wie […] rieselnde Gartenerde«. Wenn Homo seine neue auf dem Kartoffelacker sieht, weiß er, dass »sie nichts als zwei Röcke« anhat und »die trockene Erde, die durch ihre schlanken, rauhen Finger r[i]nn[t]«, »ihren Leib« berührt. Und als sie ein letztes Mal Geschlechtsverkehr haben, »r[i]nn[t]« Grigia »[n]och einmal […] wie weich trockene Erde durch ihn«. Ebd., S. 246, 249, 251.  Ebd., S. 246.  Ebd., S. 251.  Ebd., S. 268.  Musil, Die Portugiesin, S. 268 f.  Musil, Grigia, S. 251.

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Krisenfiguren: Von Drei Frauen zum Mann ohne Eigenschaften

muss: »Aber er war in diesem Augenblick vielleicht schon zu schwach, um ins Leben zurückzukehren, wollte nicht oder war ohnmächtig geworden«.⁶⁷

II Der Unfall als Krisenfigur Bedingt sind Homos Partizipationserlebnisse nicht zuletzt durch die Entschleunigung des Lebens, die er im abgelegenen Alpental erfährt. Sie führt dazu, dass er die geringeren exogenen Reize, die Impressionen der ihn umgebenden Natur desto konzentrierter aufnimmt. Die einzelnen »Eindrücke«, kommentiert die Erzählinstanz mit einem ihrerseits ›natürlichen‹ Vergleich, »waren hier in der Einsamkeit Erschütterungen, nicht anders, als hätte ein Baum seine Äste bewegen wollen in einer Weise, die durch keinen Wind oder eben wegfliegenden Vogel zu erklären war«.⁶⁸ Die vormoderne Einförmigkeit des Berglebens, fernab von den Zerstreuungs- und Konsummöglichkeiten der Stadt, von ihrem visuellen und akustischen Belastungsdruck, führt beim ›reizunterfütterten‹ Homo nicht nur zu Apathie, zu einer »sonderbar[en] […] Müdigkeit«.⁶⁹ Sie wird ihm auch zum mystischen Erlebnis. Artikuliert wird hier eine Gedankenfigur, die ganz ähnlich, in ihren wahrnehmungspsychologischen und kulturphilosophischen Weiterungen, bereits in Georg Simmels epochemachendem Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben von 1903 auftaucht. Die »Steigerung des Nervenlebens«, die in den beschleunigten Lebensverhältnissen der europäischen Metropolen »aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke« hervorgehe,⁷⁰ meint Simmel, habe zur »Unfähigkeit« geführt, »auf neue Reize mit der ihnen angemessenen Energie zu reagieren«.⁷¹ Die »Folge jener rasch wechselnden und in ihren Gegensätzen eng zusammengedrängten Nervenreize« eruiert er in einer Abstumpfung des physiologischen Wahrnehmungsapparats, die den modernen Verstandesmenschen, die »großstädtische[] Intellektualität« hervorbringe.⁷² In »tiefe[m] Gegensatz« zum »Landleben« »mit dem langsameren, gewohnteren, gleichmäßiger fließenden Rhythmus« seines »sinnlich-geistigen Lebensbildes«⁷³  Ebd., S. 252.  Ebd., S. 246.  Ebd., S. 240 f.  Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben. In: Ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901– 1908. Frankfurt am Main 1995 (Gesamtausgabe, Bd. 7), Bd. 1, S. 116 – 131, hier S. 116; Hervorhebung im Original. Vgl. zu den Bezügen von Musil zu Simmel Birgit Nübel: Robert Musil. Essayismus als Selbstreflexion der Moderne. Berlin und New York 2006, u. a. S. 91– 93.  Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, S. 121.  Ebd.  Ebd., S. 117.

Der Unfall als Krisenfigur

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führe die Unzahl unablässiger Stimuli im urbanen Raum zu einer Reizabwehr und fragmentarischen Wirklichkeitswahrnehmung, die die Verstandesmäßigkeit der Großstadtbewohner, den »Ausschluß« des Gefühlsmäßigen, Irrationalen und Instinktiven begünstige.⁷⁴ Diese Abwehrfunktion, seine ›Kruste der Zivilisation‹ also scheint Homo im ›vorweltlichen‹ Fersenatal zu verlieren. Er verliert sie, wenn seine »Rationalität« dort in jene »Mystik« umschlägt, die Musil nur relativ kurze Zeit vor der Abfassung der Grigia, in einer Vorstufe des Mann ohne Eigenschaften zum anderen prägenden, der »Rationalität« entgegengesetzten »Pol[]« seiner »Zeit« erklärte.⁷⁵ Im fertigen, autorisierten Romantext hat Ulrich einen ähnlichen Gedanken, während er nachts eine städtische Allee entlang flaniert. Auch er setzt dort die vervielfachten Wahrnehmungsanforderungen im urbanen Lebensalltag in Kontrast zu einer ländlichen »Eindringlichkeit des Geschehens, als ob sonst nichts auf der Welt wäre!«⁷⁶ »Am Land kommen die Götter noch zu den Menschen«, sinniert er mit einem Austriazismus, als »die besenkahlen Bäume« der Allee in ihm »plötzlich« das Bild einer Dorfstraße »hervorzauber[n]«.⁷⁷ »[M]an ist jemand und erlebt etwas, aber in der Stadt, wo es tausendmal so viel Erlebnisse gibt, ist man nicht mehr imstande, sie in Beziehung zu sich zu bringen: und so beginnt ja wohl das berüchtigte Abstraktwerden des Lebens«.⁷⁸ Das weitverbreitete und ganz unterschiedlich bewertete Gefühl eines optischen und akustischen Überangebots, einer ›Reizüberflutung‹, widerspiegelte selbstverständlich die tiefgreifenden demographischen, technologischen und ökonomischen Veränderungen, mit denen sich die Großstadtbevölkerung konfrontiert sah. Demographisch führte die Industrialisierung in den Ballungszentren zu einem rapiden Bevölkerungswachstum und einer starken Zunahme der Bevölkerungsdichte, zu einer Massenzuwanderung bäuerlicher Schichten aus den noch kaum industrialisierten agrarischen Regionen. Wien zählte 1850 noch wenig mehr als 430’000 Einwohner, 1910 waren es mehr als zwei Millionen⁷⁹ (von denen lediglich 35 Prozent in der Stadt selber geboren waren und gerade noch 2.6 Prozent

 Ebd., S. 120.  Musil, Tagebücher, Bd. 1, S. 389: »Denn Rationalität u. Mystik, das sind die Pole der Zeit«.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 649.  Ebd.  Ebd.  Vgl. Ernst Bruckmüller: Sozialgeschichte Österreichs. Wien 2001, S. 289. Den höchsten Einwohnerstand erreichte Wien 1918 mit 2’238’000. Vgl. Margrit Altfahrt und Wolfgang Mayer: 90 Jahre Vororte bei Wien. Wien 1982 (Wiener Geschichtsblätter, Beiheft 4).

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in der Inneren Stadt wohnten⁸⁰). Technologisch gesehen bewirkte die industrielle Revolution eine Beschleunigung von Verkehr und Kommunikation, die Wolfgang Schivelbusch als »Vernichtung von Raum und Zeit« beschrieben hat.⁸¹ Eisenbahn,⁸² elektrische Straßenbahnen (in Wien ab 1897⁸³), Benzinauto- oder Elektrobusse (in Wien ab 1905 bzw. 1908⁸⁴) und der einsetzende motorisierte Individualverkehr revolutionierten die allgemeine Mobilität. Die Erfindung von Telegraph und Telephon ermöglichte einen Informationsaustausch über große Distanzen praktisch ohne Zeitverlust. Die künstliche Beleuchtung verwandelte das Stadtbild, löste den Arbeitsalltag vom naturgegebenen Zeitrhythmus von Tag und Nacht und trug, über Schaufensterillumination und Lichtreklame,⁸⁵ ihren Teil zur fortschreitenden Ökonomisierung des öffentlichen Raums bei. Exponiert wird diese Dynamik, werden die beschleunigten Menschen- und Warenströme, »Technik, Tempo, Akkord und Lärm«⁸⁶ des großstädtischen ›Kosmos‹ im Mann ohne Eigenschaften gleich am Romananfang, im berühmten ersten Kapitel: »Autos« schießen »aus schmalen, tiefen Straßen in die Seichtigkeit heller Plätze«, »Fußgängerdunkelheit« bildet »wolkige Schnüre«, »[h]underte Töne« sind »zu einem drahtigen Geräusch ineinander verwunden«.⁸⁷ »Wie alle großen Städte« gleicht die gerade in diesem Kontext etwas ironisch, mit verstelltem Traditionalismus so genannte »Reichshaupt- und Residenzstadt Wien« »im ganzen einer kochenden Blase«, bestehend »aus Unregelmäßigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, Zusammenstößen von Dingen und Angelegenheiten«, »aus einem großen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Ver-

 Vgl. Wolfgang Maderthaner: Von der Zeit um 1860 bis zum Jahr 1945. In: Paul Csendes und Ferdinand Opll (Hg.): Wien. Geschichte einer Stadt. Bd. 3: Von 1790 bis zur Gegenwart. Wien, Köln und Weimar 2006, S. 175 – 544, hier S. 178; 243, Anm. 9.  Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 42004, S. 35.  Die erste Eisenbahnstrecke in Österreich, zwischen dem (später eingemeindeten) Wiener Vorort Floridsdorf und Deutsch-Wagram, wurde 1837 in Betrieb genommen. Eine Stadtbahnlinie wurde in Wien 1898 eröffnet, die erste U-Bahn-Strecke nicht vor 1978. Vgl. Wolfgang Mayer: Verkehr. In: Peter Csendes und Ferdinand Opll (Hg.): Die Stadt Wien. Wien 1999, S. 351– 364, hier S. 353, 361 f.  Die letzte Pferdebahn verkehrte in Wien 1902. Vgl. Hans-Henning Gerlach: Atlas zur Eisenbahngeschichte. Deutschland, Österreich, Schweiz. Zürich und Wiesbaden 1986, S. LXXXV. Die Elektrisierung der Straßenbahnen erfolgte in Wien damit 16 Jahre später als in Berlin. Vgl. Mayer, Verkehr, S. 354.  Vgl. Mayer, Verkehr, S. 357.  Vgl. Wolfgang Schivelbusch: Licht, Zeit und Wahn. Auftritte der elektrischen Beleuchtung im zwanzigsten Jahrhundert. Berlin 1992, S. 61– 80.  Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, S. 190.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 9.

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schiebung aller Rhythmen gegeneinander«.⁸⁸ Dabei stellt der »Unglücksfall«,⁸⁹ in den diese Exposition einer großstädtischen Wahrnehmungsstruktur mündet, das Gefährdungspotenzial aus, dem das einzelne Großstadtsubjekt in der urbanisierten Lebenswelt ausgesetzt war oder zu sein glaubte. In ihrem Verkehrs- und Menschenfluss ist »etwas aus der Reihe gesprungen«, ein »schwerer, jäh gebremster Lastwagen« hat »einen Mann« angefahren, der nun »wie tot« daliegt.⁹⁰ Angefahren worden ist dieser nicht näher beschriebene »Mann« damit von einem »Symbol für Modernität«⁹¹ und »Inbegriff der Zukunftstechnik«,⁹² wie sie das Automobil auch in Musils Roman nicht allein im ersten Kapitel versinnbildlicht. Die bemerkenswert hohe und entsprechend bedrohliche Geschwindigkeit, mit der sich »Autos« fortbewegen beziehungsweise »in die Seichtigkeit heller Plätze« »sch[ie]ßen«, bleibt das ganze Romangefüge hindurch ein wiederkehrendes Motiv.⁹³ Alltags- und mentalitätsgeschichtlich reflektiert es, wie sehr dieses zur erzählten Zeit noch relativ junge, binnen kurzem mit Geschwindigkeitsrekorden und Rennfahrerei assoziierte Verkehrsmittel trotz seiner zunächst eher bescheidenen Durchschnittstempi als »Verkörperung moderner Raserei« betrachtet wurde.⁹⁴ In Wien galt 1912 wie innerorts in ganz Österreich zwar eine Höchstgeschwindigkeit von 15 Kilometer per Stunde. Durchgesetzt wurde diese Limite aber offenbar nicht konsequent.⁹⁵ In einem Entwurf zur Kurzerzählung Der Vorstadtgasthof, der ursprünglich Teil von Musils großem Romanprojekt war, wird die »Stundengeschwindigkeit« noch eigens beziffert, mit der »die dunklen

 Ebd., S. 9 f.  Ebd., S. 10.  Ebd.  Ernst Hanisch: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 1994, S. 167.  Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, S. 206.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 9; im Original keine Hervorhebung. Vgl. ebd., S. 31, 46, 498, 1373, 1798, 1983.  Joachim Radkau: Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main 1989, S. 145. Vgl. Matthias Bickenbach: Robert Musil und die neuen Gesetze des Autounfalls. Die Ambiguität von Ordnung und Unordnung im Verkehr der Moderne. In: Christian Kassung (Hg.): Die Unordnung der Dinge. Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls. Bielefeld 2009, S. 89 – 116, hier S. 91.  Vgl. Michael Freiherr von Pidoll: Der heutige Automobilismus. Ein Protest- und Weckruf. Wien 1912, S. 55. Pidoll beteuert, in »Wien« könne »man sich täglich überzeugen, wie […] die Automobile unbehindert mitten durch sonstige Fahrzeuge und Fußgänger mit der Geschwindigkeit von Expresszügen dahinstürm[t]en. Eine derartige, angesichts der berufenen Sicherheitsorgane unbeanständet stattfindende Mißachtung einer bestehenden, zum Schutze der Bevölkerung dringend notwendigen Vorschrift« sei »ein grobes, öffentliches Ärgernis«. Ebd., S. 55 f.

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Brocken der Autos« »an einer der radial vom Kern ausstrahlenden Hauptverkehrsadern Wiens« »dahin[schießen]«: ganze »dreißig Kilometer«.⁹⁶ Das Bedrohungs- oder Katastrophenszenario, das die erste in den Roman eingeführte oder gerade nicht eingeführte männliche Figur – sie wird in einem metafiktionalen Spiel mit der Namengebung nur im Konditional, bloß versuchsweise benannt und gleich wieder zurück in die großstädtische Anonymität entlassen (»Angenommen, sie würden Arnheim und Ermelinda Tuzzi heißen, was aber nicht stimmt«⁹⁷) – das Bedrohungs- oder Katastrophenszenario also, das dieser »Herr«⁹⁸ angesichts des Unfallopfers entwirft, hält einer positivistischen Nachprüfung allerdings nicht stand. Der nur in Hinsicht auf seine soziale Identität näher bestimmte Angehörige »einer bevorzugten Gesellschaftsschicht« erklärt der ihn begleitenden »Dame« nämlich nicht nur – mit Rekurs auf das ›gender script‹ des technisch überlegenen Mannes –, diese »schweren Kraftwagen« hätten »einen zu langen Bremsweg«.⁹⁹ Nicht nur beruhigt er seine ›mitleidende‹ Begleiterin, indem er den »gräßlichen Vorfall in irgendeine Ordnung« bringt »und zu einem technischen Problem« macht, »das sie nicht mehr unmittelbar« angeht (obgleich sie als »Dame« innerhalb dieses Skripts nicht einmal weiß und wissen will, »was ein Bremsweg« ist).¹⁰⁰ Er zitiert darüber hinaus und immer noch im Rahmen sozusagen dieses männlichen Herrschaftswissens auch aus »amerikanischen Statistiken«, die dem Unfall erst recht das »Besondere[]« nehmen, das seine »Begleiterin« »erlebt zu haben« glaubt:¹⁰¹ »[D]ort«, in Amerika beziehungsweise den U.S.A., die im kollektiven Bewusstsein zum Vor- oder Schreckbild eines superlativischen Technizismus schon geworden waren,¹⁰² würden »jährlich durch Autos 190’000 Personen getötet und 450’000 verletzt«.¹⁰³

 Musil, Klagenfurter Ausgabe, Transkriptionen / Mappe IV/2/511. In einer anderen frühen Variante werden die Autofahrer noch ungehemmt als »blöde[] Automobillinge« bezeichnet. Musil, Klagenfurter Ausgabe, Transkriptionen / Mappe VII/10/39.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 10.  Ebd., S. 11.  Ebd.  Ebd.  Ebd.  Abgerufen wird dieser Topos im Mann ohne Eigenschaften insbesondere in der »soziale[n] Zwangsvorstellung« einer »überamerikanische[n] Stadt, wo alles mit der Stoppuhr in der Hand eilt oder stillsteht. Luft und Erde bilden einen Ameisenbau, von den Stockwerken der Verkehrsstraßen durchzogen. Luftzüge, Erdzüge, Untererdzüge, Rohrpostmenschensendungen, Kraftwagenketten rasen horizontal, Schnellaufzüge pumpen vertikal Menschenmassen von einer Verkehrsebene in die andre; man springt an den Knotenpunkten von einem Bewegungsapparat in den andern, wird von deren Rhythmus, der zwischen zwei losdonnernden Geschwindigkeiten eine Synkope, eine Pause, eine kleine Kluft von zwanzig Sekunden macht, ohne Überlegung

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»Lots of critics«, konstatiert Alexander Honold in seinem Beitrag zu »Bloom’s Modern Critical Interpretations« des Man Without Qualities, »have not been able to find any convincing explanation for these totally mistaken und exaggerated numbers«.¹⁰⁴ Darin freilich, dass diese »aufgrund der phantastischen Zahlen ohnehin nicht verifizierbare[n]«¹⁰⁵ »ominösen Ziffern« nicht bloß für das Jahr der erzählten Zeit, 1913, fiktiv und »offenkundig surreal[]« sind,¹⁰⁶ sondern auch für das Jahr 1924, für das Musil sie sich nota bene »[n]ach einer offiz[iellen] amerikan[ischen] Statistik« in seinem Arbeitsheft 21 notierte,¹⁰⁷ war sich die Forschung immer einig. Als erster und bislang allem Anschein nach einziger machte sich Walter Weiss die Mühe, diese im Roman so prominent platzierten Zahlen mit den ›Historical Statistics of the USA‹ abzugleichen. Er konnte feststellen, dass darin 1913 »nicht 190’000 Verkehrstote durch Automobile« verzeichnet sind, »sondern ca. 3’700, also etwa ein Fünfzigstel« – und 1924 immer noch »erst ca. 17’500, also ca. 1:11«.¹⁰⁸ Wenn aber Musil, wie Weiss annimmt, die Zahlen »zur – ironischen – Verwendung« in seinem Roman frei erfunden hätte,¹⁰⁹ warum hätte er sie dann in seinem Arbeitsheft auf 1924 datieren sollen? Diese Frage kann auch Honold nicht beantworten, der nicht von einer freien Erfindung ausgeht und dessen These in der Musil-Forschung mittlerweile communis opinio geworden ist. Honold ortet die Herkunft der ›enormen‹ Zahlen nicht

angesaugt und hineingerissen, spricht hastig in den Intervallen dieses allgemeinen Rhythmus miteinander ein paar Worte. Fragen und Antworten klinken ineinander wie Maschinenglieder, jeder Mensch hat nur ganz bestimmte Aufgaben, die Berufe sind an bestimmten Orten in Gruppen zusammengezogen, man ißt während der Bewegung, die Vergnügungen sind in andern Stadtteilen zusammengezogen, und wieder anderswo stehen die Türme, wo man Frau, Familie, Grammophon und Seele findet«. Ebd., S. 31.  Ebd., S. 11.  Alexander Honold: Endings and Beginnings. Musil’s Invention of Austrian History. In: Harold Bloom (Hg.): Robert Musil’s The Man Without Qualities. Philadelphia 2005 (Bloom’s Modern Critical Interpretations), S. 113 – 122, hier S. 121.  Wolf, Kakanien als Gesellschaftskonstruktion, S. 280, Anm. 52.  Eckhard Heftrich: Musil. Eine Einführung. München und Zürich 1986, S. 112.  Musil, Tagebücher, Bd. 1, S. 639.  Walter Weiss: Eindeutigkeit und Gleichnis. Beiträge zur geistigen Bewältigung der (modernen) Welt. In: Literatur und Kritik 149 f. (1980), S. 570 – 578, hier S. 575. Adolf Frisé führt im Kommentarband zu den Tagebüchern lediglich die »Statistik der Eisenbahn-Unfälle in den USA« (»Für 1913 […] 10’964 Tote, 200’308 Verletzte, für 1924 […]: 6’617 Tote, 143’739 Verletzte«) an, erklärt die »Zahlen« in Tagebuchheft und Roman aber dennoch für »offensichtlich imaginär[]«. Er merkt an, »Straßen- (d. h. Auto‐)Unfälle« seien »für 1913 wie auch für 1924 noch nicht ähnlich statistisch registriert« worden und »im übrigen hätte die Statistik keinesfalls jeweils zum selben Ergebnis geführt«. Musil, Tagebücher, Bd. 2, S. 453, Anm. 513.  Weiss, Eindeutigkeit und Gleichnis, S. 576.

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im amerikanischen Verkehr, sondern im Ersten Weltkrieg.¹¹⁰ Er ortet sie in den großen Verlusten, die die habsburgischen Truppen im ersten Kriegsjahr erlitten. Vom August 1914 an bis zum Juli 1915 hätten sie rund 190’000 gefallene Soldaten und zwar nicht exakt, aber ungefähr 450’000, nämlich 490’000 Verwundete zu beklagen gehabt.Verschlüsselt verweise der Anfang des Romans damit bereits auf die epochale Katastrophe, in die »[a]lle« seine »Linien« nach Musils Vorhaben bekanntermaßen »münden« sollten.¹¹¹ Abgesehen davon, dass Honolds insoweit selber nicht ganz ›überzeugende Erklärung‹ wie gesehen die Datumsangabe nicht motivieren kann, mit der Musil seine »offiziellen« statistischen Angaben im Notizheft versah, ist seine Quelle also auch in Hinblick auf die »Verwundetenzahlen« nicht unbedingt stimmig.¹¹² Sie deckt sich eben doch nur sehr ungenau mit dem zweiten Teil des Syndetons, mit dem der »Herr« sich im Eingangskapitel vor der »Dame« als Experte geriert, mit der angegebenen Summe der Verletzten, der auch Weiss nicht nachgegangen ist oder für die er jedenfalls keine Vergleichsstatistik gefunden zu haben scheint.¹¹³ Dabei geben wohl gerade die 450’000 Verletzten die Spur vor, um das Rätsel der Unfallstatistik zu lösen. Sie nämlich sind keineswegs dermaßen »unglaubwürdig hoch«¹¹⁴ und »extrem übertrieben«,¹¹⁵ wie die Forschung zuweilen pauschal, über die Verkehrstoten und -verletzten, geurteilt hat. Vielmehr lässt sich diese Zahl exakt so, ohne die geringfügigste Varianz für die »Kraftwagenunfälle mit leichten und schweren Verletzungen« »im Jahre 1924 in den Vereinigten Staaten von Nordamerika« statistisch belegen. Sie ist in mindestens einem »illustrierten« deutschsprachigen Medium von 1925 greifbar: in der populärwissenschaftlichen

 Honold, Endings and Beginnings, S. 121. Vgl. ders.: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München 1995, S. 88; ders.: Metropolis aus dem Schützengraben. Über den Zusammenhang von Masse und Mobilmachung bei Ernst Jünger und anderen. In: Kulturrevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie 36 (1998), S. 34– 42, hier S. 42.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1851, 1902.  Honold mutmaßt, die »Abweichung bei den Verwundetenzahlen« sei »vermutlich dem hierbei größeren ›Ermessensspielraum‹ geschuldet, der zu abweichendem Zahlenmaterial geführt haben kann; der Zugang zu diesem Material dürfte für Musil zur Zeit des Dienstes im Kriegspressequartier und später im Heeresministerium kein Problem gewesen sein«. Honold, Die Stadt und der Krieg, S. 88, Anm. 42.  Weiss stellt lediglich fest, »die angegebene Zahl von 450’000 Verletzten« könne »weder absolut noch in der Relation zu der angegebenen Zahl der Toten stimmen«. Weiss, Eindeutigkeit und Gleichnis, S. 575.  Heftrich, Musil, S. 112.  Bickenbach, Robert Musil und die neuen Gesetze des Autounfalls, S. 107. Vgl. auch Barbara Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose. Robert Musils Epochenroman Der Mann ohne Eigenschaften. Heidelberg 2005, S. 34, Anm. 41.

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Umschau, einer »illustrierte[n] Wochenschrift für die Fortschritte in Wissenschaft u. Technik«, die in der »Weimarer Zeit« eine Auflage von immerhin »15’000 bis 20’000« Exemplaren erreichte.¹¹⁶ Dort findet sie sich unter der Überschrift »Kraftwagenunfälle in Amerika«, zusammen mit der Gesamtzahl der Todesopfer, die diese Unfälle gefordert haben sollen und die ihrerseits bis auf eine einzige, fehlende Ziffer mit der im Mann ohne Eigenschaften genannten übereinstimmt. Nicht nur also sollen sich 1924 im US-amerikanischen Straßenverkehr »450’000 Kraftwagenunfälle mit leichten und schweren Verletzungen« ereignet haben, sondern auch »19’000 Menschen« »[d]urch Kraftwagen« »getötet« worden sein.¹¹⁷ Ob nun Musil bei seinem Notat ein Abschreibe- oder Erinnerungsfehler unterlaufen ist oder ob er die Anzahl der Todesfälle schon im Arbeitsheft absichtlich verzehnfachte, um sie dann so in seinen Roman einzuarbeiten: Dass die in der Umschau aufgeführten (und möglicherweise auch anderswo veröffentlichten) statistischen Erfassungen das oder zumindest ein Substrat für die Zahlen im Mann ohne Eigenschaften abgaben, dürfte quellenkritisch mehr als nur wahrscheinlich sein. Das Interpretament, das Verkehrsunglück und die Unfallstatistik als proleptischen Verweis auf den verheerenden ›Unfall‹ des Ersten Weltkriegs zu deuten, verliert dadurch nicht unbedingt seine Plausibilität. Erstens ist es auch so denkbar, dass Musil die in der Romanfiktion gegen die Quellenangaben rückdatierte amerikanische Verkehrsstatistik mit den von Honold angeführten Gefallenenzahlen kontaminierte, diese in jene verschleppte. Und zweitens setzt der Unfall im Eingangskapitel ohnehin eine beispielhafte moderne Erfahrung in Szene, die gerade als Kriegserfahrung noch prägender gewesen sein dürfte als die mit dem Krieg assoziierbaren Krisenfiguren, die sich in Drei Frauen ausfindig machen lassen: in Die Portugiesin die eines verletzten oder auch psychisch geschädigten Kriegsheimkehrers, der sich von seiner Frau entfremdet hat und sich obendrein einem körperlich gesunden Nebenbuhler gegenübersieht; in Tonka die eines Soldaten, dessen Frau zu einem Zeitpunkt schwanger geworden sein muss, als er nicht auf Kriegsurlaub zuhause war; und in Grigia die einer lang anhaltenden

 Arne Schirrmacher: Kosmos, Koralle und Kultur-Milieu. Zur Bedeutung der populären Wissenschaftsvermittlung im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 31 (2008), S. 353 – 371, hier S. 357 f.  K. A. Tramm: Kraftwagenunfälle in Amerika. In: Die Umschau. Illustrierte Wochenschrift über die Fortschritte in Wissenschaft u. Technik. Vereinigt mit Naturwissenschaftl. Wochenschrift und Prometheus 29.27 (4. Juli 1925), S. 540.

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Trennung von der eigenen Frau und der sexuellen Versuchungen, denen sich Soldaten während des Kriegsdienstes ausgesetzt sehen konnten.¹¹⁸ Die Unzulänglichkeit des menschlichen Körpers in Konfrontation mit der technischen Entwicklung, für die der statistisch serialisierte Unfall im Mann ohne Eigenschaften steht, konnte nirgends gravierender und traumatisierender erlebt werden als in den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs. In seinen Schützengräben und – mit Karl Kraus’ Bonmot – »chlorreichen Offensiven«¹¹⁹ wurde sie evidenter denn je. So verstanden, vor dem Hintergrund der Äquivalenz von Verkehrs- und Kriegsopfern, wie sie sich aus dem Eingangskapitel ohne weiteres herauslesen lässt, kommt der beschädigte Körper des Mannes repräsentativ für die »Serie von Demütigungen« zu stehen, die der »männliche Körper […] im Industriezeitalter« zu ertragen hatte:¹²⁰ als »Kriegerkörper«, weil im modernen technischen Krieg sedimentierte Vorstellungen von Heldentum nicht mehr griffen; als »selbstbeherrschter, orientierungsfähiger Organismus«, weil die verdichtete Wahrnehmung im großstädtischen Alltag wie erwähnt als Stressfaktor und Überlastung des Nervensystems empfunden wurde und zu den psychophysischen Störungen führte, die im Pathogramm des Neurasthenikers auf einen Nenner gebracht werden konnten; und als »Arbeiterkörper«, weil die Dynamik der Industrialisierung althergebrachte Ideen über »Körperkraft und deren gesellschaftliche[] Wertschöpfung« nicht mehr zeitgemäß erscheinen ließ.¹²¹ (In einem älteren Entwurf der Unfallszene, 1926/27, zieht im übrigen noch Arnheim selber eine Verbindung vom »Opfer der Straße« zu den »Betriebsunfällen«, mit denen er zu »rechne[n]« »gewohnt« ist¹²²). Im Unterschied zu Tonka oder Grigia geht die Gefahr für den männlichen Körper im ersten Kapitel des Mann ohne Eigenschaften folglich nicht mehr von einem zunächst noch externalisierten ›dark continent‹ der Weiblichkeit aus, vom Naturhaften, ›Prälogischen‹ und Fremden, von einer Art »Urfrau[]«, wie sie auch Robert Müller in den Deuteragonistinnen der Drei Frauen-Trilogie erblickte.¹²³ Sie rührt vielmehr vom Novellistischen im eigentlichen Wortsinn her. Sie ›verdankt‹ sich dem neuen Phänomen des Automobilismus, entspringt der modernen Zivi-

 Vgl. Allen Thiher: Understanding Robert Musil. Columbia 2009, S. 119. Zu den Feldbordellen der österreichischen Armee vgl. Ernst Hanisch: Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wien, Köln und Weimar 2005, S. 31.  Karl Kraus: Das technoromantische Abenteuer. In: Die Fackel 20.474– 483 (Mai 1918), S. 41– 45, hier S. 43.  Koschorke, Die Männer und die Moderne, S. 145.  Ebd.  Musil, Klagenfurter Ausgabe, Transkriptionen / Mappe VII/6/351.  Müller, Der erotischste Schriftsteller.

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lisation selber, dem naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt, mit dem just die beiden Protagonisten in Tonka und Grigia zunächst ihrerseits identifiziert werden. (Dabei handelt es sich ideengeschichtlich bei der in beiden Novellen zentralen Vorstellung, dass auch im modernen Menschen früh- oder vorgeschichtliche Bewusstseinszustände und »Lebensschichten«¹²⁴ weiterwirken, natürlich um eine ebenfalls genuin moderne Auffassung.¹²⁵) Nicht mehr »die Frau« tritt hier mithin »zerstörend […] in das Leben des Mannes«, sondern ein »schwere[r] Kraftwagen«. ›Losgerissen‹ von seinem »Herrentum« wird das anonyme männliche Opfer vom beschleunigten Verkehr und der Gewalt der modernen Technik. Zwar soll er – die Straße ist hier offensichtlich bereits zum Revier des Autos geworden – »durch seine eigene Unachtsamkeit zu Schaden gekommen« sein.¹²⁶ Aber er erleidet diesen »Schaden« eben in der »kochenden Blase« jener Großstadtzivilisation, die die Wiener Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Rosa Mayreder in ihren mehrfach aufgelegten Essays schon 1905 zu einer »monumentale[n] Grabstätte« »der Männlichkeit« erklärte.¹²⁷ Auch dem Mann ohne Eigenschaften zufolge stellt diese »Blase« Anforderungen an das Wahrnehmungsvermögen, wie sie sich selbst mit den kolossalsten mythologischen Größen nicht mehr quantifizieren lassen. »Könnte man die Sprünge der Aufmerksamkeit messen«, denkt sich Ulrich, die Leistungen der Augenmuskeln, die Pendelbewegungen der Seele und alle die Anstrengungen, die ein Mensch vollbringen muß, um sich im Fluß einer Straße aufrecht zu halten, es käme vermutlich […] eine Größe heraus, mit der verglichen die Kraft, die Atlas braucht, um die Welt zu stemmen, gering ist, und man könnte ermessen,welche ungeheure Leistung heute schon ein Mensch vollbringt, der gar nichts tut.¹²⁸

Wenngleich die ›Unfallgeschichte‹ des anonymen, »wie tot« daliegenden Mannes in der Eingangsszene des Romans also nicht mehr von einem Vorzivilisatorisch›Weiblichen‹ oder den entsprechenden Affektstrukturen ausgeht, finden Männlichkeit und Weiblichkeit darin dennoch unter verwandten Modalitäten zusam-

 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 724.  Vgl. Wolfgang Riedel: Archäologie des Geistes. Theorien des wilden Denkens um 1900. In: Jürgen Barkhoff, Gilbert Carr und Roger Paulin (Hg.): Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra im August 1998. Tübingen 2000, S. 467– 485; ders.: Arara = Bororo oder die metaphorische Synthesis. In: Manfred Engel und Rüdiger Zymner (Hg.): Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder. Paderborn 2004, S. 220 – 241.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 10.  Rosa Mayreder: Von der Männlichkeit. In: Dies.: Zur Kritik der Weiblichkeit. Essays. Jena 3 1910, S. 102– 138, hier S. 118.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 12.

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men. Denn die im Roman als erste und im Kapitel als einzige auftretende Frauenfigur, die an den Unfall heranspazierende »Dame«, vertritt auch hier eine Mentalität, die zwar nicht gerade als ›archaisch-urmenschlich‹, aber wiederum als älter,vom Erzähler selber als veraltet ausgewiesen wird. Ihr bleibt, selbst nachdem der »Herr« die in die erzählte Romanzeit zurückdatierten Statistiken zitiert hat, eben das eigens als »unberechtigt[]«¹²⁹ abqualifizierte »Gefühl, etwas Besonderes erlebt zu haben«. Im Gegensatz zu ihrem Begleiter hat sie offenbar den Paradigmenwechsel noch nicht mitgemacht, der mit der Massenmotorisierung einsetzte und für den ›modernen‹ Umgang mit Verkehrsopfern bezeichnend ist. Anders als die meisten Passanten (»Man«) geht sie nicht »mit dem« wiederum auktorial kommentierten, nun explizit »berechtigten Eindruck davon, daß sich« mit dem »aus der Reihe gesprungen[en]« Lastwagen »ein gesetzliches und ordnungsmäßiges Ereignis vollzogen habe«.¹³⁰ Damit reagiert die »Dame« auf eine Art, die sich so auch in der medialen Berichterstattung der Vorkriegszeit noch beobachten lässt. Vor 1914 konnte die Lokalpresse etwa in München sogar über die Verletzung dreier Pferde durch ein Auto noch mehrere Tage echauffiert berichten.¹³¹ Und als 1911 nur wenige Meter von Musils Wohnung entfernt ein Mann »von einem Automobil getötet« wurde, erschien darüber eine Zeitungsnachricht mit einem eigens angefertigten Holzstichportrait des in der Bildunterschrift namentlich ausgewiesenen Opfers (vgl. Abb. 1).¹³² Michael Freiherr von Pidoll zählte in seinem Protest und Weckruf gegen den Automobilismus in Wien für das erste Halbjahr 1912 zwar sechzehn Verkehrstote.¹³³ Im Österreich des vorangehenden Jahres, 1911, waren aber gerade einmal 7703 Kraftfahrzeuge registriert.¹³⁴ Für den größten Teil der Bevölkerung waren Automobile noch die längste Zeit, bis in die sechziger und siebziger Jahre

 Ebd., S. 11.  Ebd.  Vgl. Radkau, Technik in Deutschland, S. 302.  Vgl. Karl Corino: Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten. Reinbek bei Hamburg 1988, S. 347. Bickenbachs Behauptung, Musil habe diese in Corinos Band abgebildete Zeitungsseite aufbewahrt und als Quelle für das erste Romankapitel benutzt, bleibt allerdings reine Spekulation. Der bei Corino abgebildete Zeitungsausschnitt stammt nicht aus Musils Nachlass. Vgl. Bickenbach, Robert Musil und die neuen Gesetze des Autounfalls, S. 89, 102 f.  Vgl. Pidoll, Der heutige Automobilismus, S. 15, 45. Für Pidoll hat sich der »Automobilverkehr […] bereits zu einer Massenerscheinung entwickelt«. Ebd., S. IV. Vgl. Christian Kassung: EntropieGeschichten. Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften im Diskurs der modernen Physik. München 2001, S. 329.  Vgl. Hanisch, Der lange Schatten des Staates, S. 169. Auch kurz vor der Publikation des ersten Bandes von Musils Roman, 1929, waren es erst ca. 20’000.

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Abb. 1. Tödlicher Verkehrsunfall vor Musils Wiener Haustür

hinein nicht erschwinglich.¹³⁵ Das »große[] Publikum[]« der »Nichtautomobilisten« nahm diesen Sport- und Luxusartikel denn auch desto stärker als »Belästigung[] und Störung[]« wahr und zeigte sich gegenüber Unfällen noch wenig gleichmütig oder abgebrüht.¹³⁶ (Im Mann ohne Eigenschaften besitzen, obwohl der Roman fast ausschließlich in den höheren und höchsten Kreisen Wiens spielt, lediglich zwei Figuren ein Auto. Ausnahmsweise in Kongruenz also zu den realen Verkehrsverhältnissen der ›story time‹ verfügen bloß Graf Leinsdorf als gerade in dieser Hinsicht ausdrücklich »moderner Geist« sowie aller Wahrscheinlichkeit nach auch der Berliner Arnheim über einen eigenen »Kraftwagen«.¹³⁷) Für den »Herr[n]« nun aber, der die amerikanischen Unfallstatistiken heranzieht und der noch in der schon angesprochenen Rohversion des Unfallkapitels

 Vgl. für Deutschland Heinz-Gerhard Haupt: Der Konsum von Arbeitern und Angestellten. In: Ders. und Claudius Torp (Hg.): Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890 – 1990. Ein Handbuch. Frankfurt am Main 2009, S. 145 – 153, hier S. 147.  Pidoll, Der heutige Automobilismus, S. 3. Pidoll wehrt sich im übrigen noch vehement und ganz grundsätzlich dagegen, dass die Schuld für Verkehrsunglücke – wie im Mann ohne Eigenschaften die Passanten es für dieses eine ja »allgemein« eingestehen – auch bei den Fußgängern selber liegen könnte (»Mit demselben Rechte könnte man behaupten, daß ein Soldat blindlings in die Kugel rennt, die ihn durchbohrt«). Ebd., S. 13 f.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 175, 429, 1448.

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dieser autobesitzende Arnheim hätte sein sollen – was nur schon deswegen sinnig gewesen wäre, weil Berlin als »Spree-Chicago«¹³⁸ und die »am rücksichtslosesten in ganz Europa amerikanisiert[e]«¹³⁹ Stadt galt – für diesen »Herrn« also scheint anders als für seine Begleiterin das einzelne Opfer keine besondere Bedeutung mehr zu haben. Für ihn ist das Verkehrsunglück keine unerhörte Begebenheit mehr, die Unordnung des Unfalls Teil der »Ordnung« und zur Normalität geworden. Er nimmt das Verkehrsopfer nur mehr vor der Folie von Statistiken wahr und nennt Zahlen, die charakteristisch sind für das zur Entstehungszeit des Mann ohne Eigenschaften in den U.S.A. bereits angebrochene Zeitalter des Massenautomobilismus. »Was man heute noch persönliches Schicksal nennt«, prophezeit Ulrich später in den immer ›heiliger‹ werdenden Gesprächen mit seiner Schwester, »wird verdrängt von kollektiven und schließlich von statistisch erfaßbaren Vorgängen«.¹⁴⁰ So wie Musil im ganzen ersten Kapitel seiner ›invention of history‹ als gleichsam poetologisches Prinzip topische, »etwas altmodisch[e]« Romananfänge mit neuartigen Sprechweisen konfrontiert und in diese überführt (der Meteorologie, der metropolitanen Menschen- und Verkehrsströme, der Nicht-Identität von Figuren), stellt er folglich auch einen älteren Umgang mit Verkehrsunfällen einem zukunftsweisenden Idiom gegenüber. Die »Dame« zeigt in geschlechtertypologisch sprechender Weise eine Reaktion, die innerhalb der fiktionalen Anlage schon obsolet geworden zu sein scheint. Der »Herr« hingegen wird mit der verkehrstechnischen Weiterentwicklung assoziiert und verweist mentalitätsgeschichtlich darauf, wie sich die Öffentlichkeit im Lauf der kollektiven Motorisierung an Verkehrsunfälle gewöhnte. Krisenanfällig wird die stereotype Geschlechterrolle, die er wahrzunehmen versucht, freilich dennoch. Und zwar wird sie es aus dem einfachen Grund, dass die Zahlen, die er mit dem Habitus eines Sachverständigen präsentiert, für die erzählte Zeit eben alles andere als angemessen und korrekt sind. So betrachtet spielt schon in das erste Kapitel des Mann ohne Eigenschaften ein weiterer Aspekt der männlichen Rollenkrise hinein, wie sie schon in den werkchronologisch nächststehenden Drei Frauen je ein wenig anders dekliniert wird. Neben der ›Erniedrigung‹ des »zu Schaden gekommen[en]« männlichen Körpers schlägt sich bereits auf den ersten drei Seiten des Romans eine für den hier entfalteten Argumentationszusammenhang nicht minder signifikante Irritation nieder, eine Krise des Wissens und der Wissenschaften: Der

 Ralf Thies: Ethnograph des dunklen Berlin. Hans Ostwald und die »Großstadt-Dokumente« (1904– 1908). Köln 2006, S. 197.  Karl Scheffler: Berlin. Ein Stadtschicksal. Berlin-Westend 1910, S. 141.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 722.

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vermeintliche Fachmann ist offensichtlich nicht vom Fach, der männliche Experte entpuppt sich als Schein- oder Möchtegernexperte.

III ›Verunglückte‹ Männerkörper und Männlichkeitserzählungen Der im ersten Ereignis des Romans »zu Schaden gekommen[e]« Körper des verunglückten »Mann[es]« verweist indessen nicht nur extratextuell auf die ›Verletzungen‹, die idealtypische Vorstellungen über den männlichen Körper, über seine Funktion und sein Funktionieren im Industriezeitalter davontrugen. Er antizipiert auch romanimmanent die Körperschäden und -defizite, die in die Merkmals-›sets‹ beinahe aller Männerfiguren eingetragen sind. Er präfiguriert gewissermaßen die Abstände, in denen die große Mehrzahl der – so Paul Rilla 1933 in den Breslauer Neuesten Nachrichten – »vielen unvergeßlichen« »männlichen« »Physiognomien«¹⁴¹ im Roman zum geschlechterspezifischen Schönheitsideal gehalten sind. Und er deutet in einem übertragenen Sinn auch in geschlechternarratologischer Hinsicht auf das männliche Romanpersonal voraus. Denn intratextuell kann die Unfallgeschichte des »Mann[es]« auch als exemplarisch dafür verstanden werden, wie die einzelnen Männlichkeitsgeschichten im Romanverlauf ihrerseits immer wieder von neuem verunglücken. Wie Walter Erhart anhand zahlreicher literarischer und wissenschaftlicher (anthropologischer, medizinischer, psychoanalytischer) Texte des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts freigelegt hat, gründeten moderne Männlichkeiten maßgeblich auf bestimmten Erzählmodellen, auf ›archetypisch‹-literarischen Mustern. Die Kulturalisationsmodalitäten von Männlichkeit, die Formen des Wissens über ›sex‹ und ›gender‹ in den Geschlechtertexten der Zeit folgen einer narrativen Struktur. Sie folgen einer Erzählordnung, in der »männliche Helden ein Ziel« zu erreichen haben, »an dem sich Männlichkeit durch Inbesitznahme, Aneignung und (re‐)produktive Verwandlung von Weiblichkeit etabliert und vollendet«.¹⁴² In Musils »Gesellschaftspanorama«¹⁴³ freilich, in immerhin rund einem Jahr erzählter Zeit, ist bemerkenswerterweise keine einzige solche eheliche »Inbesitznahme« und eine »(re‐)produktive Verwandlung von Weiblichkeit« allerhöchstens an der Peripherie des Romans zu finden. Eine Ehe als, wie Thomas  Paul Rilla: Roman der unendlichen Perspektiven. In: Breslauer Neueste Nachrichten, 18. Februar 1933.  Erhart, Familienmänner, S. 374.  Honold, Die Stadt und der Krieg, S. 68.

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Mann seinerzeit mit asyndetischem Nachdruck betonte, »Dauer, Gründung, Fortzeugung, Geschlechterfolge,Verantwortung«¹⁴⁴ wird darin nicht eingegangen. Heiraten als »bürgerliche[r] und geschlechtliche[r] Initiationsakt«,¹⁴⁵ »›[m]arriage tradition‹ und ›marriage plot‹« als »inhaltliche Muster« von »Romanerzählungen«¹⁴⁶ kommen im Mann ohne Eigenschaften nicht vor (von Stumms »heimliche[r] geistige[r] Hochzeit«¹⁴⁷ mit Diotima in der Staatsbibliothek einmal abgesehen). Obwohl die Trauungsziffer in Wien zwischen 1911 und 1920 so hoch war wie seit hundert Jahren nicht,¹⁴⁸ bleiben in Musils »durchstrichene[m]«¹⁴⁹ Vorkriegs-Wien die beiden einzigen, je unter mehrfachen Gesichtspunkten heiklen und verwickelten Verbindungen, die für eine Eheschließung überhaupt infrage kämen, auf halbem Weg stecken. Der »alte[] Junggeselle« Arnheim macht zwar der unglücklich verheirateten Diotima einen Heiratsantrag, den er aber schon bald als »Verrat einer Sache an eine persönliche Schwäche« empfindet.¹⁵⁰ Im weiteren Romanverlauf kommt er nie mehr darauf zu sprechen und ist zu mehr als profunden Gesprächen »über die Behandlung des Ehebruchs in der zeitgenössischen Literatur« nicht mehr bereit.¹⁵¹ Der antisemitische Student Hans Sepp zudem, der »nicht die geringste Aussicht auf Versorgung« bietet,¹⁵² ist wohl am Schluss der publizierten Romanteile »halboffiziell verlobt«.¹⁵³ Aber erstens ist er es mit einem ›Mädchen‹, das »heimlich«¹⁵⁴ »seit Jahren« einen anderen »liebt[]«.¹⁵⁵ Und zweitens beabsichtigte Musil ohnehin, diesen Vertreter der »militante[n] Strömung des ›Zeitgeistes‹« in den Fortsetzungskapiteln im Militär Suizid begehen zu lassen.¹⁵⁶ Über dieses Scheitern der Männerfiguren hinaus, sich als ehestiftende Subjekte zu etablieren, trägt aber eben noch ein anderes familiales Versagen zur Untergangsstimmung im auseinanderbrechenden Kakanien bei. Die apokalyptische Atmosphäre in diesem »fortgeschrittenste[n] Staat«, »der sich selbst irgendwie nur noch mitmacht[]«,¹⁵⁷ liegt nicht nur daran, dass kein ›traffic in wo-

             

Thomas Mann: Über die Ehe. In: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 191– 207, hier S. 199. Erhart, Familienmänner, S. 386. Ebd., S. 101. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 463. Vgl. Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, S. 223. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1820. Ebd., S. 502. Ebd. Ebd., S. 206. Ebd., S. 1008. Ebd., S. 558. Ebd., S. 487, 551. Ebd., S. 1395. Ebd., S. 35.

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men‹ mehr ein »Band der Gegenseitigkeit […] zwischen Männern« stiftete.¹⁵⁸ Bedingt ist diese Atmosphäre auch durch die Suspension eines weiteren patriarchalen Grundprinzips. Denn wenn im Mann ohne Eigenschaften »alle zusammen glauben«, ihre »Zeit« sei »zur Unfruchtbarkeit verdammt«,¹⁵⁹ ist das für die erzählte »Zeit« des Romans nicht bloß eine Metapher für die politische oder kulturelle Stagnation. Es trifft ganz buchstäblich zu, weil während dieser »Zeit« eine neue »Fortzeugung, Geschlechterfolge, Verantwortung« selbst dort nicht zu finden ist, wo schon Ehen bestehen. In einem Niedergangszenario, das natürlich seinerseits in gesuchtem Widerspruch zu den sozialgeschichtlichen Fakten steht, wird im ganzen Romantext kein einziges Kind geboren (die Geburtenziffer in Österreich war zwischen 1900 und 1913 zwar wie in sämtlichen anderen europäischen Ländern leicht gesunken, aber nach wie vor höher als etwa in Deutschland, England oder Frankreich¹⁶⁰). Alle drei verhältnismäßig jungen Ehen, die im Mann ohne Eigenschaften im Mittelpunkt stehen, die Ehen von Walter und Clarisse, von Diotima und Tuzzi sowie von Agathe und Hagauer bleiben kinderlos. Als Ulrich glaubt, »daß Diotima schwanger geworden sei«, hat sie »in Wahrheit bloß Menstruationskrämpfe«, was »dunkel ahnbar mit ihrem Schwanken zwischen Arnheim und ihrem Gatten«¹⁶¹ zusammenhängen soll und demnach gerade auf die Instabilität ihrer Ehe hinweist.¹⁶² Und selbst oder vielmehr gerade die Ausnahme in diesem Szenario bestätigt noch die Regel. Das eine und einzige Kind, das am Ende des zweiten Bands wenigstens erwartet wird, stammt von einem Vater, der im kakanischen Wien unter mehr denn nur einem Aspekt als fremd und andersartig erscheint. Das seinerseits mit Alteritätsmerkmalen versehene jüdisch-galizische  Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Frankfurt am Main 1981, S. 190. Vgl. Gayle Rubin: The Traffic in Women. Notes on the Political Economy of Sex. In: Rayna R. Reiter (Hg.): Toward an Anthropology of Women. New York 1975, S. 157– 210.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 490.  Die Geburtenziffer in Österreich betrug 1900 36.4, 1913 29.7 Promille; in Deutschland zum Vergleich 34.4 (1900) resp. 27.5 (1913), in England 28.1 resp. 24.1 und in Frankreich 21.2 resp. 18.1 Promille. Vgl. Massimo Livi Bacci: Europa und seine Menschen. Eine Bevölkerungsgeschichte. München 1999, S. 176.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 811.  Diotimas eigene Erklärung für ihre Bettlägerigkeit (»das kommt nur von den Erregungen. Meine Nerven werden es nicht mehr lange aushalten«) scheint mit jenen Menstruationstheorien der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zu kommunizieren, die Menstruationsbeschwerden sowohl als Ursache wie als Folge von Nervosität auffassten (vor der Entdeckung der hormonalen Bedingtheit der Menstruation wurde in der Medizin weitgehend davon ausgegangen, dass die Monatsblutung durch eine Reizung des Nervensystems durch den Eierstock herbeigeführt werde). Ebd. Vgl. Sabine Hering und Gudrun Maierhof: Die unpäßliche Frau. Sozialgeschichte der Menstruation 1860 – 1985. Pfaffenweiler 1991, S. 29 f.

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Dienstmädchen Rachel wird also nicht etwa von einem Österreicher »schwanger«.¹⁶³ Es erwartet sein Kind von einem »verdorbene[n] junge[n] Berliner«,¹⁶⁴ der sich weit mehr noch als über seine Nationalität durch seine Ethnizität von allen anderen Figuren des Romans unterscheidet: von dem »kleinen Mohrenknaben«,¹⁶⁵ »kleine[n] Neger«,¹⁶⁶ »kleinen Diener Soliman«.¹⁶⁷ Wenngleich also kaum zufällig gerade Soliman aus Versehen ›passiert‹, was die in ihren sexuellen Identitäten größtenteils gedemütigten Repräsentanten des kriselnden Kakanien nicht mehr zustande bringen, hat das nicht zu bedeuten, dass wenigstens diese eine, wenn auch noch so exotische Figur ein Männlichkeitsnarrativ in Gang setzte. Dem noch nicht volljährigen, mit stehendem Beiwort ›kleinen‹ »Mohrenjunge[n]«¹⁶⁸ wird seine Vaterschaft erklärtermaßen nicht zur männlichen Initiation. Er reagiert auf Rachels Schwangerschaft »ohne Verständnis für die Wirklichkeit des Unheils mit romantischen und läppischen Plänen«.¹⁶⁹ Seine Männlichkeitsgeschichte bleibt ebenso stecken wie diejenigen der anderen Männerfiguren, die ihrerseits den Faden ihrer ›paternal narratives‹ verlieren oder gar nicht erst ausspinnen. Bonadeas Ehemann, immerhin ein »Landesgerichtspräsident[]«, wird von ihr bereits »seit ihrem zwanzigsten Jahr« belogen und betrogen.¹⁷⁰ Clarisse entzieht sich den sexuellen Ansprüchen, die Walter an sie stellt, und schlägt ihm seinen Kinderwunsch ab. Agathe hat den »Schulmeister«¹⁷¹ Hagauer nur aus Selbstverachtung und ausdrücklich »zur Strafe«¹⁷² geheiratet, um ihn schon bald »hie und da mit anderen«¹⁷³ zu betrügen und sich schließlich aus reiner »Abneigung«¹⁷⁴ wieder von ihm scheiden zu lassen. »Der kleine Sektionschef«¹⁷⁵ Tuzzi muss sich die »gründliche[] Anwesenheit Arnheims«¹⁷⁶ in seinem Haus gefallen lassen und wird von der »großartige[n] Diotima«¹⁷⁷ sexuell erzogen und erniedrigt. Der ma-

              

Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1027. Ebd., S. 180. Ebd., S. 107. Ebd., S. 181. Ebd., S. 220. Ebd., S. 97. Ebd., S. 1027. Ebd., S. 522, 525. Ebd., S. 679. Ebd., S. 758. Ebd., S. 728. Ebd., S. 1473. Ebd., S. 333. Ebd., S. 200. Ebd., S. 1133.

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liziös als »dieser Sohn«¹⁷⁸ in den Roman eingeführte, eigentlich schon »gegen fünfzig Jahre alt[e]«¹⁷⁹ Arnheim leidet unter einem Vaterkomplex und wird von Diotima zuletzt seinerseits zu einem »[e]rotische[n] Feigling!«¹⁸⁰ herabgewürdigt. Der zur »Nachgiebigkeit« neigende Leo Fischel wird »[s]eit Jahren« sowohl von seiner »unnachgiebig[en]«¹⁸¹ Frau als auch von seiner dreiundzwanzigjährigen Tochter »gemordet«.¹⁸² Den antisemitisch gesinnten Studenten Hans Sepp mit seinem »christgermanischen Kreis junger Leute«¹⁸³ muss er bei sich zuhause dulden wie einst Odysseus »die Freier der Penelope«.¹⁸⁴ Dieser Student oder »Schulbub[]«¹⁸⁵ selber (der in einer älteren Textschicht noch den dialektal sprechenden Namen »Hans Tepp« tragen sollte¹⁸⁶) »gehabt[]« sich auch »mit einundzwanzig Jahren« noch »wie ein Kind«.¹⁸⁷ Der Dichter Friedel Feuermaul, der an seiner »Zigarre« »mit der Gier eines Kalbes« saugt, »das seine Schnauze gegen den mütterlichen Euter stößt«,¹⁸⁸ verdankt seinen Erfolg in der Hauptsache den Beziehungen seiner Mäzenin Melanie Drangsal, die ihn »bemuttert«¹⁸⁹ und beaufsichtigt. Der »Tugut« und Pädagoge Lindner scheitert bei der Erziehung seines »Tunichtgut« von Sohn¹⁹⁰ und lässt sich von der »schönen und gefährlichen«¹⁹¹ Agathe »verwirren« und »spöttisch« vorführen.¹⁹² Und der junge Sozialist und »Kandidat der Technischen Wissenschaften Schmeißer« traut sich seinerseits lediglich, »Agathe von ferne« zu bewundern.¹⁹³ Wenn Musil sich notierte, die »Geschichte dieses Romans« »komm[e] darauf hinaus, daß die Geschichte, die in ihm erzählt werden sollte, nicht erzählt wird«,¹⁹⁴ dann gilt das demnach auch für die darin blockierten Männlichkeitsgeschichten. Wie dem Roman selber ist auch ihnen das »primitiv Epische abhanden gekom-

                

Ebd., S. 96. Ebd., S. 382. Ebd., S. 1036. Ebd., S. 205. Ebd., S. 1554. Ebd., S. 312. Ebd., S. 478. Ebd., S. 477. Musil, Klagenfurter Ausgabe, Transkriptionen / Mappe I/6/53, I/6/55, VII/8/34. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 555. Ebd., S. 1004. Ebd., S. 1005. Ebd., S. 1066. Ebd., S. 1070. Ebd., S. 1081. Ebd., S. 1454 f.; im Original keine Hervorhebung. Ebd., S. 1937.

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men«, wie er sind auch sie »unerzählerisch geworden«.¹⁹⁵ So wie es zu den ästhetischen Besonderheiten des Mann ohne Eigenschaften gehört, dass »das recht runde Erzählen recht bekannter Dinge«¹⁹⁶ in ihm nicht mehr glückt, wird die narrative Grammatik der Männlichkeit darin im Prinzip schon durch die erzähltechnischen Parameter des Romans unterwandert. Seine achronische und essayistisch-digressive Erzählstruktur kann folglich nicht nur homolog gedacht werden zur historischen Situation der kakanischen Monarchie im allgemeinen, in der kein Konsens mehr erzielt wird, wie die Vergangenheit verstanden und die Zukunft bewältigt werden könnte.¹⁹⁷ Sondern sie lässt sich auch und im besonderen auf die männlichen Geschlechtererzählungen beziehen, die ihrerseits Umwege nehmen, unentschlossen steckenbleiben und sich einem linearen Fortgang verweigern. Obwohl der Erzählmodus des Mann ohne Eigenschaften und die Krise der Männlichkeit, die in ihm zum Ausdruck kommt, insoweit korreliert werden können, gilt es allerdings zwischen dem erzählten Geschlecht und dem des Erzählers zu unterscheiden. Die narrative Strategie des Romans lässt sich zwar als »Schreiben der Krise« begreifen, wie Walter Moser sie charakterisiert hat.¹⁹⁸ Wie schon die zeitgenössische Rezeption eindrücklich untermauert, werden Musils poetologisches Programm, die Erzähltechnik des Romans und sein fiktiver Autor von der im Mann ohne Eigenschaften so omnipräsenten Geschlechterkrise aber gerade nicht affiziert. Denn das »ordentliche Nacheinander von Tatsachen«¹⁹⁹ wird im Roman selber als unangemessenes, unterkomplexes Darstellungsverfahren verabschiedet. Der Erzähler und Ulrich – ob jener hier gedachte Figurenrede wiedergibt oder in eigener Instanz dessen Gedanken fortführt, bleibt in der Schwebe – fassen die »Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Lebens in einer [E]indimensionalen«²⁰⁰ einhellig als unzulässige Vereinfachung auf. Die linear-kausale »erzählerische[] Ordnung«, von der Musil seine eigenen erzähltechnischen Prinzipien differenzästhetisch abhebt und »die darin besteht, daß man sagen kann: ›Als das geschehen war, hat sich jenes ereignet‹«, wird mit dem anrüchigen Terrain der Trivialliteratur assoziiert und sowohl ontogenetisch wie auch geschlechtertypologisch entsprechend gebannt: Sie erscheint als eine

     

Ebd., S. 650. Musil, Tagebücher, Bd. 1, S. 697. Vgl. dazu Jonsson, Subject Without Nation, S. 218. Moser, Diskursexperimente im Romantext, S. 188. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 650. Ebd.

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»perspektivische Verkürzung des Verstandes«, mit der »schon die Kinderfrauen ihre Kleinen beruhigen«.²⁰¹ Die »alte Naivität des Erzählens«, schrieb Musil 1931, reiche »der Entwicklung der Intelligenz gegenüber nicht mehr aus[]«.²⁰² Im Mann ohne Eigenschaften wird die »Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten ›Faden der Erzählung‹« daher als psychohygienische Schutzmethode derjenigen Figuren denunziert, die das Bedürfnis haben, sich »im Chaos geborgen« zu fühlen.²⁰³ Für »etwas ganz Großes«, »die echteste erzählerische Kunst« gehalten wird dieses ›naive Erzählen‹, das »episch unerschütterliche ›Und‹« – »der und die waren da, hatten dies und das an und äußerten das und jenes« – nur noch von Schreiberlingen wie Feuermaul,²⁰⁴ der »nicht zehn Minuten warten« kann, »ohne einen Unsinn zu sagen«.²⁰⁵ Der Erzähler hingegen, der zu Feuermaul wie zu den meisten der Männerfiguren (mit der desto prominenteren Ausnahme des Mannes ohne Eigenschaften) in einem ausgeprägten Dominanzverhältnis steht, wertet dieses »unerschütterliche ›Und‹« zu einem »hilflos aneinanderreihende[n]« ab, wie es »dem Geistesschwachen verwickeltere Beziehungen ersetzt«.²⁰⁶ Der »junge Dichter«²⁰⁷ Feuermaul befindet sich dadurch und natürlich nicht nur dadurch in gehöriger Distanz zu Musils schriftstellerischer Selbstdefinition, ja verkörpert gewissermaßen die Summe all dessen, was dieser Definition widerspricht. Er wird in den letzten Kapiteln des Zweiten Buches als ›Schöngeist‹, Dichter und Pazifist nach allen Regeln von Musils Erzählkunst desavouiert. Dabei zielen diese Desavouierungen – und das hat innerhalb des ganzen Romans Methode – nicht nur gegen seine Schriftstellerei und gegen die großtuerisch vorgetragenen Klischees, die er in Diotimas Salon zum Besten gibt. Sie gelten auch nicht bloß dem ökonomischen Unterbau, der seinen schriftstellerischen Werdegang und Philanthropismus zuallererst ermöglichte, den Phosphor-Fabriken seines Vaters, in denen »kein Arbeiter älter als vierzig Jahre wird«.²⁰⁸ Sondern sie richten sich wie in der bereits zitierten Tiermetapher für sein Rauchen – »mit der Gier eines Kalbes,

  505,      

Ebd; im Original keine Hervorhebung. Brief vom 15. März 1931 an Johannes von Allesch. In: Musil, Briefe 1901– 1942, Bd. 1, S. 503 – hier S. 504. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 650. Ebd., S. 1014. Ebd., S. 1003. Ebd., S. 1015. Ebd., S. 997. Ebd., S. 1018.

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das seine Schnauze gegen den mütterlichen Euter stößt« – eben auch gegen seine Geschlechtsidentität. »[A]ls Mann« findet Diotima Feuermaul einfach nur »traurig« – und schickt diesem Eindruck einen ebenfalls der Tierwelt entlehnten Vergleich hinterher, der dem ›jungen Dichter‹ wiederum implizit die Geschlechtsreife abspricht: »Wie ein Lämmchen, das vorzeitig die Fettsucht bekommen hat«.²⁰⁹ Zum satirischen Prozess, welcher der Figur gemacht wird, gehört also auch, dass sie über ihr äußeres Erscheinungsbild deminuiert und bloßgestellt wird. Feuermauls Aussehen korrespondiert gleichsam mit dem unreifen und vollmundigen »Unsinn«, den dieses ›Kalb‹ spätestens alle »zehn Minuten« redet. Sowohl diese Korrespondenz, der Zusammenhang von geistig-intellektueller und körperlicher Konstitution, als auch die korrektive Denunziation des »Pseudogeist[s]«²¹⁰ durch die Betonung körperlicher Männlichkeitsmankos haben im Mann ohne Eigenschaften System. Der Erzähler sinniert zwar, »die Mehrzahl der Menschen« habe entweder einen verwahrlosten, von Zufällen geformten und entstellten Körper, der zu ihrem Geist und Wesen in fast keinen Beziehungen zu stehen scheint, oder einen von der Maske des Sports bedeckten, die ihm das Aussehen der Stunden gibt, wo er sich auf Urlaub von sich selbst befindet.²¹¹

Für die »Mehrzahl« der Musil’schen Romanfiguren stimmt das aber gerade nicht. In Musils Romanwelt, in der vermeintlich stabile Ordnungsmuster und Sinnsysteme ansonsten immer wieder verunsichert werden, bildet die Körpersemiotik sozusagen einen Kompass. Gleichsam im ›Modus der Evidenz‹²¹² werden den Merkmalssätzen des männlichen Personals physische Defizite eingeschrieben, die auch die ideologisch verfestigten Überzeugungen der Figuren, ihre Denkmuster und Weltanschauungen in ein schiefes Licht stellen. Nur der Romanprotagonist nimmt auch in dieser Beziehung eine Sonderstellung ein und wird von allen anderen Männerfiguren über eine Form des »Spott[s]« abgegrenzt, die wirklich um einen »Hauch von Männerumkleide« nicht immer herumkommt.²¹³

 Ebd., S. 1003.  Rilla, Roman der unendlichen Perspektiven.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 285.  Vgl. Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft. In: Irene Dölling und Beate Krais (Hg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der alltäglichen Praxis. Frankfurt am Main 1997, S. 153 – 217.  Albert Kümmel: Das MoE-Programm. Eine Studie über geistige Organisation. München 2001, S. 473.

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In immer wieder eigens hervorgehobenem Abstand zu Ulrich also kontrastieren beim restlichen männlichen Romanpersonal etwa feste Werte mit einem weichlichen Körperbau, der bildlich den männlichen Antitypus repräsentierte²¹⁴ und in medizinischen Diskursen als prominentes Symptom für Neurasthenie galt:²¹⁵ In Lindners Gesicht offenbart sich eine »Weichheit«, die seine »ursprünglich wohl weibische[] Anlage« bezeugt.²¹⁶ Dem »klein[en] und eher weichlich[en]«²¹⁷ Walter werden »weich[e] Mädchenbeine«²¹⁸ und Siegmund »weiche, etwas verwischte Linien« zugeschrieben.²¹⁹ Arnheim kann die »Weichheiten« »an seinem eigenen Körper […] nicht verbergen«.²²⁰ Und selbst Dr. Friedenthal ist »etwas weichlich gebaut[]«.²²¹ Der prätendierte geistige Durchblick von Ideologen wie Lindner, Meingast²²² und Schmeißer, aber auch wie Fischel und General Stumm steht zudem in Gegensatz zu ihrer eigens hervorgehobenen Myopie. Die topische phallizistische Symbolik der Augen²²³ muss dabei mindestens im Fall Lindners gesucht sein, wenn etwa seine »von der Brille befreiten, kurzsichtigen Augen« »märtyrerhaft in die Weite« blicken, »als ob man ihren Blick nahe beim Auge abgeschnitten hätte«.²²⁴ Das »Ideal der Rassereinheit«²²⁵ des deutschnationalen Hans Sepp »mit

 Vgl. Mosse, Das Bild des Mannes, S. 82 f.  Vgl. Erhart, Familienmänner, S. 247.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 967.  Ebd., S. 64; vgl. S. 48, 838.  Ebd., S. 217.  Ebd., S. 828.  Ebd., S. 540.  Ebd., S. 979.  Als Walter Clarisse und Meingast in seinem »offen daliegenden Nutzgarten[]« und demnach aus nicht allzu großer Ferne mustert, heißt es lapidar: »Das Gefühl, sie würden beobachtet, das [Meingast] belästigte, weil er selbst nicht so weit sah, beruhte auf Richtigkeit«. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 913 f.  Zur topischen Assoziation von Blendung und Kastration vgl. z.B. Mieke Bal: Reading Rembrandt. Beyond the Word-Image Opposition. The Northrop Frye Lectures in Literary Theory. Cambridge, New York, Port Chester, Melbourne und Sidney 1991, S. 298– 303. Zur sexualsymbolischen Bedeutung von Blicken schon in Musils Törleß, aber auch im Mann ohne Eigenschaften vgl. Webber, Sexuality and the Sense of Self in the Works of Musil and Trakl, S. 103– 133, 150 – 182.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1051; im Original keine Hervorhebung. Im Prosafragment Durch die Brille des Sports beschreibt Musil Kurzsichtigkeit als etwas, das zu bekennen ausdrücklich »Mut« braucht: »Ich will nichts gegen die Hornbrille sagen, sie ist kleidsam, hat dadurch Unzähligen den Mut zu ihrer Kurz- oder Weitsichtigkeit gegeben und verleiht ihren Trägern eine gewisse Liebe zur Intelligenz, was nach Platon der erste Schritt zu deren Erwerb ist«. Robert Musil: Durch die Brille des Sports. In: Ders., Prosa und Stücke, S. 792– 795, hier S. 792.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1512.

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seinem fett gesträubten Haar« wird schon durch die Beschreibung seiner unreinen, »schlecht gepflegten Haut«²²⁶ blamiert, über die er wiederholt mit Ekelreflexen belegt wird. Die neurotisch zuckende Oberlippe des seinerseits ganz buchstäblich erniedrigten, »kleine[n] Sekionschef[s]«²²⁷ Tuzzi gibt dessen »unsichere[s]« eheliches »Leid«²²⁸ zu erkennen und Hagauers »wulstige[]«²²⁹ und »dicke[] Lippen« stehen synekdochisch für seine abstoßende Hässlichkeit und metonymisch für den schwülstigen, geradezu »körperliche Übelkeit« erregenden Pädagogendiskurs,²³⁰ der ihnen entweicht. Am allermeisten aber verrät die Statur General Stumms von Bordwehr die Krise genau derjenigen Institution, die sich als »Schule der männlichen Nation« die Durchsetzung eines hegemonialen Männlichkeitsmodells nachgerade auf die Fahne geschrieben hat.²³¹ Der »kleine, dicke General«²³² als »Leiter« ausgerechnet »der Abteilung für MilitärBildungs- und Erziehungswesen im Kriegsministerium«²³³ entspricht weniger als jeder andere dem Bild eines »körperlich starken, belastbaren Mann[s]«,²³⁴ das die militärischen Institutionen propagierten. Mit »dem ihm eigentümlichen Verhältnis von Höhe und Breite«²³⁵ passt er in keine der konventionellen Offiziersuniformen.

IV Ulrichs Muskeln Die Schwierigkeiten der männlichen Romanfiguren, ihr Geschlecht als Ehemänner oder Familienväter zu realisieren, schlagen sich demnach auch körperästhetisch nieder. Sie manifestieren sich in körperlichen Unzulänglichkeiten, die im Zeichen einer Entlarvungsstrategie stehen und selbst dann auf die Charaktereigenschaften der Figuren verweisen, wenn der eine oder andere diese Eigenschaften angestrengt zu kaschieren versucht. Körpermerkmalen kommt im Mann ohne Eigenschaften damit eine ähnliche Aussagekraft zu wie in den verschiedenen Konstitutionslehren und Charakterologien, die in den zwanziger

 Ebd., S. 560.  Ebd., S. 333.  Ebd., S. 803.  Ebd., S. 679, 759.  Ebd., S. 728.  Ute Frevert, Männer(T)Räume, S. 116. Vgl. Schmale, Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450 – 2000), S. 195 – 203.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 320.  Ebd., S. 341.  Ute Frevert, Männer(T)Räume, S. 115.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 979.

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Jahren einen regelrechten Boom erlebten und physiognomische und kriminalbiologische Ansätze auch in wissenschaftlichen Zirkeln wieder salonfähig machten.²³⁶ Gründe dürfte dieser Boom verschiedene, sowohl wissenschafts- wie auch sozialhistorische gehabt haben. Sicherlich versprachen solche ganzheitlichen Ansätze und Innen-Außen-Formeln Übersicht und Orientierung in einer Zeit, in der sich nicht nur die Naturwissenschaften zunehmend ausdifferenzierten, sondern auch althergebrachte gesellschaftliche Unterscheidungen und Hierarchien immer weniger griffen.²³⁷ Im Mann ohne Eigenschaften jedenfalls können mutatis mutandis einige der Männerfiguren auf die drei Konstitutionstypen heruntergebrochen werden, die Kretschmer in Körperbau und Charakter, seinen 1921 erschienenen Untersuchungen zum Konstitutionsproblem und zur Lehre von den Temperamenten benennt. Das muss nicht nur und wird mutmaßlich nicht einmal vorrangig daran gelegen haben, dass Musil Kretschmers Untersuchungen gleich mehrmals akklamierte, die übrigens bis Ende der sechziger Jahre in der Psychiatrie als Lehrbuch benutzt und insgesamt 26 Mal neu aufgelegt wurden. Denn die Körperstereotypen, die der (1929 sogar für den ›Nobelpreis der Physiologie oder Medizin‹ nominierte) Psychiater trotz seiner angestrengten Abgrenzungsversuche gegenüber der Physiognomik wieder aufgriff und in den Wissenschaftsdiskurs reintegrierte, gehörten im literarischen Interdiskurs chronisch zum festen Bestand an Darstellungsverfahren. Sie waren durch die ikonographischen Traditionen der bildenden Künste im kollektiven Imaginären tief verankert.²³⁸ Bereits im Frühjahr 1923 äußerte Musil, wie schon zitiert, in Der deutsche Mensch als Symptom provokant, die »kleinste Tatsache aus dem Zusammenhang zwischen Charakter und Blutdrüsengleichgewicht öffne[] mehr Anschauung von der Seele als ein fünfstöckiges idealistisches System«. Damit spielte er auf Kretschmers Grundthese an, Körperbau und charakterliche Dispositionen seien letztlich beide gleichermaßen bestimmt durch »den ganzen Konzern innerer Drüsen«, »den Chemismus des Gesamtkörpers«.²³⁹ Im Herbst noch des gleichen

 Vgl. Jutta Person: Der pathographische Blick. Physiognomik, Atavismustheorien und Kulturkritik 1870 – 1930. Würzburg 2005, S. 187 f.; Michael Hau und Mitchell G. Ash: Der normale Körper, seelisch erblickt. In: Claudia Schmölders und Sander Gilman (Hg.): Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte. Köln 2000, S. 12– 31, hier S. 18.  Vgl. Helmut Lethen: Neusachliche Physiognomik. Gegen den Schrecken der ungewissen Zeichen. In: Der Deutschunterricht 50 (1997), S. 6 – 19, hier S. 12.  Vgl. Person, Der pathographische Blick, S. 211 f.  Ernst Kretschmer: Körperbau und Charakter. Untersuchungen zum Konstitutionsproblem und zur Lehre von den Temperamenten. Berlin 1921, S. 29. Im Mann ohne Eigenschaften erwähnt der Erzähler die Idee, »daß es gewisse ins Blut wirkende Drüsen seien, die mit ihren Antrieben

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Jahres, 1923, bot Musil Arne Laurin, dem damaligen Chefredakteur der Prager Presse, brieflich an, die Untersuchungen zu rezensieren. Und gut drei Jahre später schlug er noch einmal in die gleiche Kerbe und vermerkte in seinem Aufsatzfragment Charakterologie und Dichtung mit einem direkten Begriffsverweis auf Kretschmers Typologie, »[h]eute schon« sage man ihm »mit den paar Worten asthenischer, schizothymer Typus mehr als mit einer langen individuellen Beschreibung«.²⁴⁰ Musils Faible für Kretschmer bleibt vor dem Hintergrund seiner eigentlich konstruktivistischen Identitätstheorie zwar erklärungsbedürftig – verständlicher wird es vielleicht insofern, als Kretschmers biologistischer Subjektbegriff sich ja ebenfalls gegen die Vorstellung eines autonomen Individuums richtet und mit seinem Primat des oberflächlich Sichtbaren obendrein die Leitvorstellungen der Freud’schen Psychoanalyse unterläuft,²⁴¹ zu der Musil zeitlebens in einem ambivalenten Verhältnis stand.²⁴² Für eine Lektüre des Mann ohne Eigenschaften aber ist Musils merkwürdiges Interesse an Kretschmers morphologischer Typenlehre durchaus aufschlussreich. Denn so wie dieses Interesse in Der deutsche Mensch als Symptom mit dem »Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit« nur schwer zur Deckung zu bringen ist, stehen auch in seinem Roman die subjekttheoretischen Erörterungen in auffälligem Kontrast zu den Körperformeln, die darin bisweilen untrüglich, als gleichsam ›natürliche‹ Zeichen auf die Charaktereigenschaften der Figuren hinweisen. Darüber hinaus erlaubt eine Figurenlektüre vor der Folie von Kretschmers Klassifikationen, desto stichhaltiger zu ermitteln, wie auch der »menschenbeschreibende[]« Erzähler im Mann ohne Eigenschaften viele der Figuren »mit« ein »paar Worten«, meist ohne »lange[] individuelle[] Beschreibung« typologisch verortet. Er setzt sie nämlich fast ausnahmslos in gehörige Distanz zu dem »Typus«, der selbst den beharrlich um Sachlichkeit bemühten Kretschmer von »schönsten Exemplare[n]«²⁴³ und »Männer[n]« schwärmen lässt, die »unserem künstlerischen Schönheitsideal recht nahe kommen«.²⁴⁴

und Hemmungen den Charakter beeinflussen und namentlich sein Temperament«. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 880. Vgl. ebd., S. 1073.  Robert Musil: Charakterologie u. Dichtung. In: Ders., Essays und Reden. Kritik, S. 1402– 1404, hier S. 1403 f.  Vgl. Lethen, Neusachliche Physiognomik, S. 8, 10.  Vgl. dazu die Kapitel ›Musil versus Freud. Der bedrohte Ödipus, Die Versuchung der stillen Veronika‹ und ›Studie über Hysterie: Clarisse‹. Vgl. auch Oliver Pfohlmann: »Eine finster drohende und lockende Nachbarmacht«? Untersuchungen zu psychoanalytischen Lehrdeutungen am Beispiel Robert Musils. München 2003, z. B. S. 18 – 20, 364– 377.  Kretschmer, Körperbau und Charakter, S. 17.  Ebd., S. 21.

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»[R]echt nahe« kommt Kretschmers ästhetischen Idealvorstellungen der ›athletische‹ »Typus« (vgl. Abb. 3), den er neben dem ›leptosomen‹ (vgl. Abb. 2) und dem ›pyknischen‹ zu einer der drei grundlegenden Körperbauformen bestimmt. Die Charaktermerkmale, die er mit diesen drei Phänotypen in Zusammenhang bringt, verbindet er als Psychiater mit bestimmten Krankheitspotenzialen. Die schmal gebauten, mageren Leptosomen oder Astheniker neigten im Krankheitsfall zur Schizophrenie, die kurzgliedrigen, rundlichen Pykniker zu manisch-depressiven Störungen. Daher spricht Kretschmer für die normalpsychologischen Konstitutionen von ›schizothymen‹ und ›zyklothymen‹ Temperamenten, die er im großen und ganzen eben trotz seiner Warnungen davor, »laienhaft subjektive Wertungen in die Körperbaudiagnostik« hineinzutragen,²⁴⁵ entlang älterer humoralpathologischer und physiognomischer Muster beschreibt. Die gängigen Topoi, an die sich seine Psychobiogramme letztlich anlehnen, sind die voneinander abhängigen, gegenseitig aufeinander bezogenen Klischees des gutherzigen, natürlich-unmittelbaren, gemütlich-humoristischen ›Dicken‹ und des eher ungeselligen, künstlich-kühlen, ironischen oder pathetisch-ernsten ›Mageren‹.²⁴⁶ Bereits das Schillern zwischen ›schizothymem‹ Ironiker und Pathetiker zeigt, dass Kretschmers Begriffsbilder nicht ohne Ambiguitäten auskommen und »mit den paar Worten asthenischer, schizothymer Typus« durchaus nicht mehr gesagt sein dürfte »als mit einer langen individuellen Beschreibung«.²⁴⁷ Im Mann ohne Eigenschaften aber reichen dennoch oder gerade deswegen oftmals ein paar wenige Attribute, um den Figuren innerhalb dieser Schematik einen festgelegten Platz zuzuweisen. Das stimmt keineswegs bloß für den trotz seines sprechenden oder eben gerade nicht sprechenden Namens sehr geselligen General. Es gilt auch für die »mageren«, ›schmalbrüstigen‹, bisweilen mit »Feminismen« und »blutarmer Haut« geschlagenen Figuren²⁴⁸ wie beispielsweise für Hans Sepp, der »knochig« ist, »ohne groß oder kräftig zu sein«;²⁴⁹ für den »hageren«²⁵⁰ Meingast mit seinem »etwas dürren Oberkörper«;²⁵¹ für den »kleinen«, »mageren Sektionschef« Tuzzi;²⁵² für den »große[n], schlanke[n]« Dr. Friedenthal;²⁵³ für den

        

Ebd. Vgl. Person, Der pathographische Blick, S. 211– 216. Vgl. Lethen, Neusachliche Physiognomik, S. 10. Kretschmer, Körperbau und Charakter, S. 13 f. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 551. Ebd., S. 785. Ebd., S. 828. Ebd., S. 1133. Ebd., S. 979.

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Abb. 2. Asthenischer Typus Kretschmers

»mager[en]« Lindner, in dessen Gesicht mit seiner »ursprünglich wohl weibischen Anlage« man »harte, fast asketische Einzelheiten der Form« bemerkt;²⁵⁴ und für den »engbrüstigen jungen« Schmeißer, an dem neben seiner »fahle[n], fette[n], schlecht durchblutete[n] Haut« auch seine »proletarisch knochigen Wangen« hervorgehoben werden.²⁵⁵ Während demnach eine ganze Reihe von Männerfiguren über ihre »Magerkeit« in die Nähe des ›leptosomen‹ Typus gerückt werden, unter deren »Angehörigen« Kretschmer zufolge auch »öfters homosexuelle Neigungen, […] weibi-

 Ebd., S. 966 f.  Ebd., S. 1455, 1630 f.

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sche« und generell »Männer« mit sexuellen Problemen zu »finden« sind,²⁵⁶ bleibt es im Mann ohne Eigenschaften lediglich einer Figur vorbehalten, im genauen Wortsinn »athletisch gebaut[]« zu sein.²⁵⁷ Zwar müsste augenscheinlich auch der Prostituiertenmörder Moosbrugger, »ein großer, breitschultriger Mensch ohne überflüssiges Fett«,²⁵⁸ mit seiner »gewaltigen«²⁵⁹ Gestalt und »buschbärtige[n] Männlichkeit«²⁶⁰ Kretschmers ›athletischer‹ Konstitution zugeordnet werden. Aber abgegrenzt werden die ›leptosomen‹ oder ›pyknischen‹, die kleinen, mageren, weichlichen, weiblichen und jedenfalls durchs Band unathletischen Männerkörper dennoch in erster Linie vom Protagonisten selber. Die Männlichkeit der Figuren misst sich und wird gemessen an der ausnehmend »gute[n] Erscheinung« des Romanhelden.²⁶¹ Wie bei Kretschmer der athletische Typus bildet im Mann ohne Eigenschaften Ulrichs Ausnahme-»Erscheinung« den Bezugsrahmen, in dem die anderen Männerfiguren bewertet und abqualifiziert werden. »Am besten erkennt man diesen Mann, dessen Eigenschaften es sind, keine Eigenschaften zu haben«, schrieb Marcuse in seiner eingangs zitierten Rezension, »an seinen Gegnern. Alle Schatten der Welt weisen auf ihn als Lichtquelle«.²⁶² Ulrich, der sich »mit Recht für einen männlich empfindenden Mann« hält,²⁶³ der »in einem Mann-Mannesverhältnis zu den sogenannten großen Ideen« steht²⁶⁴ und etwa auf dem männlich konnotierten Gebiet der »harten, mutigen, beweglichen, messerkühlen und -scharfen Denklehre« der Mathematik »nicht wenig geleistet« hat,²⁶⁵ bleibt eben »ohne die Weichheiten«, die Arnheim »an seinem eigenen Körper nicht« vor sich »verbergen« kann. Er erhält nicht ›weiche Mädchenbeine‹, sondern »muskulöse[] Schenkel«.²⁶⁶ Er ist weder »knochig« noch »mager«, sondern hat einen »mächtige[n] Manneskörper[]«²⁶⁷ und ein »kräftig und entschlossen«²⁶⁸ aussehendes, seinerseits »mächtige[s] Gesicht«²⁶⁹ mit einer

             

Kretschmer, Körperbau und Charakter, S. 75. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1455; im Original keine Hervorhebung. Ebd., S. 67. Ebd., S. 241. Ebd., S. 1364. Ebd., S. 282. Marcuse, o. T. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 938. Ebd., S. 900. Ebd., S. 39, 41. Ebd., S. 473. Ebd., S. 490. Ebd., S. 258. Ebd., S. 942.

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»klaren Stirn«.²⁷⁰ Ihn plagen keine »Pustel[n]«,²⁷¹ seine »Fingernägel« sind »geputzt[]«,²⁷² seine Haut ist ausdrücklich nicht »unrein[]«²⁷³ und sein »Haar« nicht »fett gesträubt[]«, sondern »gekämmt[]«.²⁷⁴ Anders etwa als die nervösen Fischel,²⁷⁵ Leinsdorf,²⁷⁶ Arnheim²⁷⁷ und Lindner²⁷⁸ besitzt er überdies, wie zu Beginn des Romans eigens fest- und sichergestellt wird, in der »ganze[n] moderne[n] Nervosität«²⁷⁹ »noch immer vorzügliche Nerven«.²⁸⁰ Bei Kretschmer ist das »grobe Eindrucksbild der schönsten Exemplare« der athletischen »Gattung« »[e]in mittel- bis hochgewachsener Mann mit besonders breiten, ausladenden Schultern, stattlichem Brustkorb«.²⁸¹ Im Mann ohne Eigenschaften wird diese Typisierung in einer ganz ähnlichen Satzkonstruktion wieder aufgenommen: »Nach seinem«, Ulrichs eigenem »Gefühl war er« – »sobald er sich ärgerte, stritt, oder Bonadea sich an ihn schmiegte« – »groß, seine Schultern waren breit, sein Brustkorb saß wie ein gewölbtes Segel am Mast«.²⁸² Wie Kretschmer seine Athletiker mit einer »hypertrophischen Muskulatur« ausstattet, »die als Muskelrelief plastisch hervortritt«,²⁸³ ist auch der Romanprotagonist mit »bis zur Bösartigkeit trainierten Muskeln«²⁸⁴ und »Gelenke[n]« dekoriert, die »wie schmale Stahlglieder die Muskeln« abschließen.²⁸⁵ Und so wie Kretschmer außer der Schulterbreite und Muskulatur »besonders« auch »den Handumfang […] bei diesem Typus« herausstreicht,²⁸⁶ hat Ulrich eine »Hand, in der das Gelenk« von Gerdas Hand verschwindet »wie ein Kind zwischen Bergfelsen«.²⁸⁷ Der Mann ohne Eigenschaften, der nicht von ungefähr in den ersten Romankonzeptionen noch Achilles heißen sollte, wird also mit positiven äußeren Merkmalen überfrachtet und in mehr als nur gebührlichem Sicherheitsabstand

                 

Ebd., S. 282. Ebd., S. 551. Ebd., S. 315. Ebd., S. 283. Ebd., S. 315. Vgl. ebd., S. 1605. Vgl. ebd., S. 1606. Vgl. ebd., S. 174, 542. Vgl. ebd., S. 1179. Ebd., S. 969. Ebd., S. 27. Kretschmer, Körperbau und Charakter, S. 17. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 159. Kretschmer, Körperbau und Charakter, S. 17. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1428. Ebd., S. 159. Kretschmer, Körperbau und Charakter, S. 18. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 314.

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Abb. 3. Athletischer Typus Kretschmers

zum restlichen männlichen Romanpersonal gehalten. Seine Konfrontation mit den defizitären Körperbildern der übrigen Männerfiguren unterstreicht, was innerhalb der Gender Studies schon länger festgestellt worden ist. Sie bestätigt, dass Männlichkeit als »restricted status« nicht zuletzt über mann-männliche Konfigurationen, über Hierarchien innerhalb des eigenen Geschlechts begriffen und umgesetzt wird.²⁸⁸ Dürfen im Mann ohne Eigenschaften eine ganze Reihe von Frauenfiguren – Leona, Bonadea, Diotima, Rachel, Agathe – erotisch attraktiv sein, bleibt der ›sex appeal‹ des Romanhelden unter den männlichen Charakteren ein Alleinstellungsmerkmal. Ulrichs Aussehen soll sich sogar so weitgehend mit dem klassischen Schönheitsideal decken, dass er sich »manchmal selbst wie ein

 Vgl. David Gilmore: Manhood in the Making. Cultural Conceptions of Masculinity. New Haven 1990, S. 17.

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Vorurteil« vorkommt, »das sich die meisten Frauen von einem eindrucksvollen noch jungen Mann bilden«.²⁸⁹ Er hat »bloß nicht immer die Kraft, sie rechtzeitig davon abzubringen«.²⁹⁰ Die ›autoreflexive‹ Rede vom »Vorurteil« deutet zwar bereits an, dass der muskelbepackte Körper des Protagonisten nicht in gänzlich ungestörter Harmonie zu seinem Charakter steht. Ulrichs virile Athletik, über die Musil seinem Roman sozusagen trivialliterarische Versatzstücke integriert,²⁹¹ ›spiegelt‹ »den Frauen« eine »gangbare Männlichkeit« vor, für die der Romanheld ausdrücklich »zu viel Geist und Widersprüche« besitzt.²⁹² Seine Muskelstärke aber ist trotz dieser »Widersprüche« mehr als nur eine beliebige Kostümierung, als lediglich eine »Maske […], die ihm das Aussehen der Stunden gibt, wo er sich auf Urlaub von sich selbst befindet«.²⁹³ Denn die positiven Konnotationen, die dem auch in literarischen Kreisen angesagten Typus des Sportlers anhafteten, soll sein athletischer Körper augenscheinlich dennoch transportieren. Zu diesen positiven Konnotationen gehörte für Marieluise Fleißer, die in diesen Kreisen verkehrte, insbesondere »eine bestimmte Kampfeinstellung des Lebensgefühls«.²⁹⁴ Ohne das wegweisende Potenzial des »Sportsmann[s]« vorwiegend in der körperlichen Leistung selber zu orten, erklärte sie ihn deshalb 1927 in ihrem Essay Sportgeist und Zeitkunst zum charakteristischen modernen Menschentyp. Auch auf dem Gebiet des Geistes, forderte Fleißer, komme es hinfort darauf an, sich vom »zurückliegenden Zeitgefühl[]«²⁹⁵ zu befreien und durch beharrlichen Willen die nötige intellektuelle Spannkraft aufzubauen, um gedankliche Herausforderungen anzugehen. Mit neuer Dynamik und Vitalität sei so ein verjüngender kultureller Aufbruch einzuleiten. Fleißer betonte mit voluntaristischer Verve, es gelte »den Samen des Willens zu säen, der ein energisches, sich

 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 93.  Ebd.  Vgl. Hartwig, Sexuelle Poetik, S. 111.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 285.  Ebd. Vgl. dagegen Fleig, für die Ulrichs Überschuss an Geist nicht seine Männlichkeit bestärkt, sondern seinen »betont männlichen Körper« als Maskerade lesbar macht, die Ulrichs »Selbstzweifel […] kaschiert«. Fleig, Körperkultur und Moderne, S. 222.  Marieluise Fleißer: Sportgeist und Zeitkunst. Essay über den modernen Menschentyp. In: Dies.: Roman, Erzählende Prosa, Aufsätze. Hg. von Günther Rühle. Frankfurt am Main 21983 (Gesammelte Werke, Bd. 2), S. 317– 320, hier S. 317. Vgl. zu Fleißer und Musil auch: Anne Fleig: Bruder des Blitzes. Sportgeist und Geschlechterwettkampf bei Marieluise Fleißer und Robert Musil. In: Dies. und Birgit Nübel (Hg.): Figurationen der Moderne. Mode, Sport, Pornographie. Paderborn 2011, S. 181– 197.  Fleißer, Sportgeist und Zeitkunst, S. 318.

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selber vortreibendes Geschlecht« erwecke,²⁹⁶ und durch »Kämpfe und Siege des Geistes« die Welt lebendiger zu machen.²⁹⁷ Musil seinerseits war in der 1931 publizierten Glosse Als Papa Tennis lernte der Ansicht, man könne »auf dem Sportplatz« Eigenschaften wie »Mut, Ausdauer, Ruhe, Sicherheit« austesten.²⁹⁸ Er räumte aber zugleich ein, das ginge im Prinzip geradeso »beim Kartoffelgraben«.²⁹⁹ Obwohl er selber ausgiebig Sport trieb und sich auch für den Spitzensport nicht allein von einer soziologischen und mediengeschichtlichen Warte aus interessierte, reagierte er auf die in Mode gekommenen sportpädagogischen und -journalistischen Zumutungen, auf den Transfer des Geniebegriffs in den Sportjargon zum Beispiel geradezu empfindlich und stellte klar, »daß die Rolle des Geistes nicht die« sei, »eine im Sport zu spielen«.³⁰⁰ Im Mann ohne Eigenschaften wird genau das von Fleißer angerissene »neue[] Bild der Männlichkeit« zwar zitiert. Der Erzähler kommt auf die »Entdeckung« zu sprechen, »daß die Griffe und Listen, die ein erfinderischer Kopf in einem logischen Kalkül anwendet, wirklich nicht sehr verschieden von den Kampfgriffen eines hart geschulten Körpers« seien.³⁰¹ Die Zitation jedoch erfolgt nicht ohne ironische Brechung. Denn die allzu einfach gestrickten Analogien zwischen der Psychotechnik eines »großen Geist[s]« und eines »Boxlandesmeister[s]«, zwischen ihrer »Schlauheit, ihr[em] Mut, ihre[r] Genauigkeit und Kombinatorik« werden auf die Spitze getrieben und persifliert.³⁰² Der Erzähler erweitert die Vergleichsgrößen um ein zusätzliches Glied. Auch ein »berühmte[s] Hürdenpferd«, so seine Pointe, soll sich unter diesem Aspekt »voraussichtlich«³⁰³ weder vom »großen Geist« noch von den »Genies des Fußballrasens und des Boxrings« unterscheiden³⁰⁴. Schließlich dürfe man nicht »unterschätzen, wieviele bedeutende Eigenschaften ins Spiel gesetzt« würden, »wenn man über eine Hecke springt«.³⁰⁵

 Ebd., S. 320.  Ebd., S. 317.  Robert Musil: Als Papa Tennis lernte. In: Ders., Prosa und Stücke, S. 685 – 691, hier S. 689 f.  Ebd.  Robert Musil: Kunst und Moral des Crawlens. In: Ders., Prosa und Stücke, S. 694– 698, hier S. 698.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 45.  Ebd.  Ebd.  Ebd., S. 45.  Ebd., S. 44 f.

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Gleichwohl, trotz dieser Abgrenzungen und Musils ambivalentem Verhältnis zum Sport als ›Zeitgeist‹³⁰⁶ scheint Ulrichs Athletik aber nicht zuletzt den Zweck zu haben, den Romanhelden an die Diskurse anzubinden, an denen Fleißer mitschrieb und die ja schon Müller in seinem Musil-Portrait in der Prager Presse aufgegriffen hatte. Der Mann ohne Eigenschaften partizipiert an diesen Vorstellungen nur schon dadurch, dass der Sport auch darin ein Terrain des »Männervergleich[s]«³⁰⁷ abgibt, dass Ulrich auch durch seine Sportlichkeit von anderen Männerfiguren unterschieden wird und seine geistige mit seiner körperlichen Überlegenheit einhergeht. Obwohl ihm das bisweilen »unaussprechlich unsinnig« vorkommt, das heißt mit angemessener Reserviertheit gegenüber den lebensreformerischen Programmen der Körperkultur-, Fitness- und Bodybuildingbewegungen, beginnt der Romanprotagonist seinen Tagesablauf »gewöhnlich« damit,³⁰⁸ »seinen nackten Körper nach vorn und hinten« zu biegen, »ihn mit den Bauchmuskeln von der Erde« aufzuheben »und wieder« hinzulegen »und schließlich die Fäuste gegen einen Boxball prasseln« zu lassen.³⁰⁹ Dieses morgendliche Training soll ausreichen, um »einen geübten Leib in dem Zustand eines Panthers zu erhalten, der jedes Abenteuers gewärtig« ist.³¹⁰ Die »Morgen[‐]«, »Leibes[‐]« und »Tugendübungen«, mit denen sich der »mager[e]« Pädagoge Lindner schon seit »einigen Jahren« diszipliniert,³¹¹ erzielen hingegen keine vergleichbaren Resultate. Wenn Lindner zunächst beim Abtrocknen sein Handtuch zum »turnerischen Gebrauch seiner Gliedmaßen« nutzt und dann »als abschließende Mutübung etwa über einen umgelegten Stuhl« springt,³¹² kommen diese Übungen allein unter die Signatur des Lächerlich-Komischen zu stehen. Der Tugut bietet dabei einen »Anblick«, bei dem es durchaus »geschehen« könnte,

 Vgl. dazu Fleig: Körperkultur und Moderne; Uwe Baur: Sport und subjektive Bewegungserfahrung bei Musil. In: Ders. und Elisabeth Castex (Hg.): Robert Musil. Untersuchungen. Königsstein 1980, S. 99 – 112; Corino, Robert Musil. Eine Biographie, S. 809 – 822.  Henning Eichberg: Leistung, Spannung, Geschwindigkeit. Sport und Tanz im gesellschaftlichen Wandel des 18./19. Jahrhunderts. Stuttgart 1978, S. 26.  Vgl. z. B. Bernd Wedemeyer-Kolbe: »Der neue Mensch«. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Würzburg 2004, z. B. S. 305.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 46. Musil selber »trieb […] Gymnastik, sprang Seil, schwang seine Sandow-Hanteln« und »schwamm«. Corino, Robert Musil. Eine Biographie, S. 809. Dem Schwiegersohn Martha Musils, Otto Rosenthal zufolge soll er schon oder – angesichts seines Alters – noch 1925 beim Sommeraufenthalt in Velden »eine äußerst kurze, etwas pralle Schwimmhose« getragen haben, »die zu dieser Zeit wohl noch nicht allgemein war, aber seine ausgezeichnet entwickelte Muskulatur allen zu erkennen gab«. Zitiert nach: ebd., S. 812.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 46.  Ebd., S. 1050.  Ebd.

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daß ein Unvorbereiteter […] zum Lachen gereizt würde: denn seine Bewegungen riefen, bloß körperlich betrachtet, die Vorstellung eines sich vielfach wendenden Schwanenhalses hervor, der außerdem nicht aus Rundung, sondern aus dem spitzen Element von Knie und Ellbogen bestand; die von der Brille befreiten, kurzsichtigen Augen blickten märtyrerhaft in die Weite, als ob man ihren Blick nahe beim Auge abgeschnitten hätte, und unter dem Bart warfen sich die weichen Lippen im Schmerz der Anstrengung auf.³¹³

In gleicher oder gleichartiger Form wird Ulrich auch von weiteren seiner Gegenfiguren über den Sport abgesetzt. So entsinnt sich etwa Clarisse, er habe »früher unvergleichlich besser Tennis gespielt als Walter«.³¹⁴ Sie weiß noch, »bei seinen rücksichtslosen Schlägen manchmal so heftig empfunden zu haben, der wird erreichen, was er will, wie sie es nie vor Walters Malerei, Musik oder Gedanken empfand«³¹⁵ (obwohl sie von Walter immerhin »hoffte«, er werde eines Tages »ein noch größeres Genie sein […] als Nietzsche«³¹⁶). Auch Hagauer wird, ebenfalls im Tennis, selbst von der Sport ›verabscheuenden‹ und dennoch »unvergleichlich besser« spielenden Agathe ungeniert »sechs zu null« geschlagen.³¹⁷ Und während Ulrich als junger Reiterleutnant Rennen geritten ist und dabei in einem der früheren Kapitelentwürfe sogar »schwere Hindernisse genommen« hat,³¹⁸ ist General Stumm mit seinen »kleine[n] Hände[n] und Beine[n]« ein vollkommen »untauglicher Reiter«.³¹⁹ Sein Vorgesetzter bei der Kavallerie soll ihm seinerzeit sogar vorgehalten haben, er könnte an seiner Stelle ebenso gut »einen Säugling aufs Pferd« setzen »und vor die Front« stellen.³²⁰ Insoweit also Ulrichs sportliche Überlegenheit mit den »Siege[n] des Geistes« korrespondiert, die er in den Gesprächen mit seinen Kontrastfiguren davonträgt, erscheint der Sport im Mann ohne Eigenschaften für sein Teil als ein Vehikel, um auch die geistige Vitalität des Romanhelden und seine Position als »Repräsentant des modernen Zeitgefühls«³²¹ zu unterstreichen. Wie Musil selber in Müllers Portrait und wie Müllers ihrerseits durchtrainierte literarische Helden verkörpert Ulrich mit seiner intellektuellen »Kampfeinstellung« ganz buchstäblich den Willen zur Veränderung und geistigen Reorganisation, die – so Musils Notat in den Dreißigern – »Möglichkeiten der Neuordnung«.³²² Der Mann ohne Eigenschaften          

Ebd., S. 1051. Ebd., S. 53. Ebd., S. 53 f. Ebd., S. 146. Ebd., S. 704. Musil, Klagenfurter Ausgabe, Transkriptionen / Mappe VII/8/32. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 342. Ebd. Fleißer, Sportgeist und Zeitkunst, S. 317. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1887.

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stellt sich den auch von ihm selber so genannten »Kampferlebnisse[n] des Geistes«³²³ und figuralisiert in einer stagnierenden, energie- und kraftlos gewordenen, innerlich erschöpften Gesellschaft die Chance in der Krise, die Hoffnung auf einen Um- und Aufbruch, auf eine Zukunft, in der nicht nur »[s]einesgleichen geschieht«.³²⁴ Diese Hoffnung, die erneuernde und utopische Kraft, die »Phantasie«, die »auf Veränderungen [aus]gerichtet« ist,³²⁵ wird mithin auch in Musils Roman an ein idealtypisches Männlichkeitsbild gebunden. Zu einer solchen »Hoffnung«,³²⁶ zu einem derartigen »Pionier[]«³²⁷ macht den Romanhelden zwar erst sein Überschuss an »männliche[m] Geist«, der ihn von der eigens auf Distanz gehaltenen »gangbare[n] Männlichkeit« eines schlichten Sportlers abhebt. Nicht zuletzt sein ›athletisch geschulter Körper« aber erlaubt Ulrich, vergleichsweise souverän zwischen verschiedenen Männlichkeitspositionen hin und her zu wechseln und so seine Virilität zu bekräftigen.³²⁸ Denn Ulrichs bisweilen überzeichnete Athletik, seine »muskulöse Geistigkeit«³²⁹ sollte gewiss auch dabei förderlich sein, ihn gegen bestimmte Verdächtigungen abzusichern. Die Verdächtigungen, denen er hätte ausgesetzt werden können, liegen auf der Hand. Dass Ulrich äußerlich so aufdringlich dem »neuen Bild der Männlichkeit« angeglichen ist und derart überdeutlich die Männlichkeitsdefizite der anderen Figuren wettzumachen hat, schützte den Protagonisten supplierbar davor, mit Vorstellungen der zeitgenössischen Dekadenzkritik assoziiert zu werden. Als verlässliches Signal der Leserlenkung beugte es Lektüren vor, die vielleicht selbst in Marcuses Rezension des ersten Bandes anklingen, wenn darin auch von Ulrichs »Achillesferse« die Rede ist: von seiner geschlechtertypologisch ambigen, »angreiferisch-abwartende[n] Haltung«, die sich »in eine eindeutige Tat« erst noch

 Ebd., S. 795.  Ebd., S. 81.  Ebd., S. 247.  Lucas, Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften.  Guillemin, Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften.  Als das für einmal nicht der Fall ist und Ulrich von drei ›Strolchen‹ »übel zugerichtet« wird, weil er in Gedanken ist, nicht schnell genug reagiert und so »auf sportlichem Gebiet« einen »Fehler« macht, wird er schon in Bonadeas Mietkutsche »wieder Mann«. Er nimmt die ›Niederlage‹ sportlich, verteidigt »das Geschehene« »[n]atürlich« und »zieht sich« dadurch selbst in seinem »Zustand von Schwäche« »eine neue Geliebte zu«. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 25 – 28.  Walther Petry: Der Mann ohne Eigenschaften. Bemerkungen zu Robert Musils Roman. In: Neue Zürcher Zeitung, 14. Februar 1931; im Original keine Hervorhebung. Petry schrieb vom »Buch« als ganzem, dass es sich von »der zeitgenössischen Belletristik […] durch eine muskulöse Geistigkeit« abhebe.

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»auflösen müsse[]«.³³⁰ Vor allem aber sicherte es den Titelhelden ab gegen Assoziationen, in deren Zeichen erst recht seine Geschwisterbeziehung, der angedeutete Inzest und seine Beschäftigung mit Mystik im zweiten Band hätten wahrgenommen werden können. Der Publizist und Kritiker Kurt Pinthus beispielsweise setzte 1929 in seinem programmatischen Essay Männliche Literatur den virilen Antiillusionismus der Neuen Sachlichkeit einer rückwärtsgewandten, nervösen und verweichlichten Literatur der »Reizsamkeit« und Décadence entgegen. Ulrichs Interesse für ›andere Zustände‹ – auch für das »kosmische Erlebnis« der Liebe, das für Pinthus nicht mehr Gegenstand einer versachlichten und vermännlichten Literatur sein konnte³³¹ – sollte augenscheinlich niemand lediglich als Ausfluss eines neurasthenischen und überfeinerten Geistes, eines »kranke[n] Mensch[en]«³³² fehlinterpretieren. Mit Ulrich wird die theoretische Durchdringung der Mystik und des ›anderen Zustands‹, die Musil auch aufgrund seiner Kriegserfahrungen für eines der dringendsten Probleme der Zeit hielt, an eine Figur delegiert, die über solche Verdächtigungen erhaben war. Sie konnte nicht in den Verdacht geraten, ein Repräsentant jener rückwärtsgewandten Literatur der »Reizsamkeit« zu sein, die Pinthus zufolge bloß »nervöse […] Zustände schilderte« und von der er eine neue literarische Generation der »zeitgemäßen, zukunftsträchtigen Dichtung« abgrenzte³³³ (auch er im übrigen, indem er eine »Sprache« forderte, die sich mit »dem Körper eines Boxers vergleichen« lasse³³⁴). Auch wenn sich Musils eigenes mit dem von Pinthus skizzierten ästhetischen Programm einer neusachlichen Reportageliteratur ansonsten nicht oder kaum vermitteln lässt – ein weiterer Schnittpunkt wäre zumindest publikations-›organisch‹ auszumachen, erschien doch Pinthus’ Aufsatz im Tagebuch des Rowohlt Verlags, in dem auch Musil mehrfach kleinere Texte veröffentlichte³³⁵ –; trotz dieser weitgehenden Unvermittelbarkeit also ist Ulrichs Gestaltung als Athletiker wohl auch aus dem Kontext der poetologischen Debatten der zwanziger Jahre zu verstehen. Der literaturkritische und -programmatische Kampfbegriff der Männlichkeit – das bezeugen die Rezensionen, die Musils Roman erhielt – sollte nicht einfach den literarischen Kontrahenten überlassen werden. Sowohl die Männlichkeitsbescheinigungen der Literaturkritik als auch Ulrichs eigene ›hypertrophe

 Marcuse, Hinweis auf ein Meisterwerk; im Original keine Hervorhebung.  Kurt Pinthus: Männliche Literatur. In: Das Tagebuch 10.22 (1929), S. 903 – 911, hier S. 910.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 13.  Pinthus, Männliche Literatur, S. 907, 910.  Ebd., S. 903.  Nur gut einen Monat vor Pinthus’ Männliche Literatur erschien darin z. B. Musils Protestschrift gegen die unautorisierte Berliner Urraufführung der Schwärmer. Robert Musil: Der Schwärmerskandal. In: Das Tagebuch, 10.16 (1929), S. 648 – 651.

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Virilität‹ lassen sich damit geradeso als Symptom eines Krisenbewusstseins der Männlichkeit lesen wie die traurige Gestalt, die die anderen Männer im Mann ohne Eigenschaften abgeben. Der mit Musil befreundete Béla Balázs machte in seiner Replik auf Pinthusʼ Artikel, Männlich oder kriegsblind?, denn auch klar, dass Reportagen, die lediglich versuchen, das greifbar Wirkliche zu reproduzieren, seinem Männlichkeitsverständnis diametral gegenüberstünden. Männlich zu schreiben, so Balázs, könne nur heißen, ›den Tatsachen‹ analytisch nachzuspüren, sie geistig zu differenzieren und ›bohrend‹ in schwer zugängliches psychisches Gebiet vorzustoßen. So oder ähnlich erscheint in Musils Roman eine Ausweitung der »harten, nüchternen, geistigen Kraft« des wissenschaftlich-analytischen Denkens auf die ›Fragen der Seele‹ und des ›anderen Zustands‹ als »zukunftsträchtige[]« männliche Herausforderung, als Sendung einer »Rasse geistiger Eroberer«.³³⁶ Die ›objektiven Berichte‹ der neusachlichen Literaten hingegen minderte Balázs ihrerseits zu baren Dokumenten der »seelischen Müdigkeit« und »Impotenz« herab, zu einer »Literatur von Krüppeln«.³³⁷ Gewiss drängte es sich auf, Ulrichs »übermännliche[s] Wesen[]«³³⁸ trotz und neben einer solchen eher ideengeschichtlich ausgerichteten Begründung auch psychoanalytisch als autofiktive Wunscherfüllungsphantasie zu lesen. Schließlich passt Freuds Feststellung in Der Dichter und das Phantasieren, für die in Literatur verwandelten dichterischen Tagträume sei »typisch[]«, dass »sich stets alle Frauen des Romans in den Helden verlieben«,³³⁹ musterbeispielhaft zu den Geschlechterbeziehungen in Musils Roman. Das Indefinitpronomen »alle« trifft darin wohl vollständiger zu, als es sich selbst Freud je hätte träumen lassen. Es ist hier durchaus keine Hyperbel. Oder jedenfalls ist es das nicht in Bezug auf »alle« die Frauenfiguren, die für den Protagonisten als Sexualobjekte überhaupt in Frage kommen. Die meisten respektive, wenn man die Entwürfe aus dem Nachlass mitberücksichtigt, eben wirklich »alle« von ihnen – Leona, Bonadea, Gerda, Clarisse, Rachel, Agathe und sogar Diotima – sind entweder tatsächlich in Ulrich verliebt oder landen früher oder später wenigstens mit ihm im Bett. Dabei schließt die erste seiner Geliebten, Leona, an die archaisierten Frauenfiguren an, die in Drei Frauen angeblich »zerstörend oder verwirrend in das Leben« der Protagonisten treten. Wie die »Urfrauen« im Novellenzyklus wird

 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 46.  Béla Balázs: Männlich oder kriegsblind? In: Die Weltbühne 25.26 (1929), S. 969 – 971, hier S. 969 f.  sk: Der Mann ohne Eigenschaften. In: Basler Nachrichten, 28. Mai 1933.  Sigmund Freud: Der Dichter und das Phantasieren. In: Ders., Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Hg. von Anna Freud et al. Frankfurt am Main 1999, Bd. 7, S. 213 – 223, hier S. 220. Vgl. auch Wolf, Kakanien als Gesellschaftskonstruktion, S. 1160.

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Leona ›primitivisiert‹ und zivilisationsgeschichtlich herabgestuft. An ihr soll beobachtet werden können, »was man noch heute an Primitiven« zu studieren vermöge, wie »in früheren Zeiten« »die Triebkräfte der Persönlichkeit und des gesellschaftlichen Aufstiegs […] mit dem tractus abdominalis, den Eßvorgängen, […] in Verbindung gestanden« hätten.³⁴⁰ In einer 1926 in der Prager Presse unter dem Titel Ein herausgerissenes Blatt vorab veröffentlichten Vorstufe dieses Kapitels hatte sie dem männlichen Helden noch explizit als ein »Urwesen« zu erscheinen, »das, ganz noch ohne Artikulation durch Verstand und Gefühl, die Herrlichkeit der Welt durch den Verdauungskanal in sich aufnimmt«.³⁴¹ Wenngleich sich Leona so gesehen also unter die ›drei Frauen‹ der Novellen einreiht (und im übrigen auch insofern, als sie ebenfalls ein besonders handfestes Beispiel für patriarchale Ausbeutungsverhältnisse abgibt), kann in ihrem Fall aber nicht die Rede davon sein, dass sie den Romanprotagonisten ihrerseits »von seinem Herrentum« losrisse. Anders als die kriselnden Antihelden der Novellen fällt Ulrich – dafür steht eben nicht zuletzt sein sportlich-athletischer Körper ein – nicht aus der Position des Männlichen und Gesunden. Seine mystischen Erlebnisse sind weder Ausdruck einer »sonderbar[en] […] Müdigkeit« und ›Kraftlosigkeit‹ noch bringen sie ihn dazu, von seiner wissenschaftlich orientierten Geisteshaltung abzurücken. Seine Männlichkeit ›verunfallt‹ auch dann nicht, als er sich zusammen mit Agathe dem ›anderen Zustand‹ hingibt, den er selber als »weibliche[] Erlebensweise« vergeschlechtlicht.³⁴² Denn für ihn hat dieser Zustand »nichts an sich, was einen mathematisch-naturwissenschaftlich und exakt fühlenden Menschen zu verletzen brauchte«.³⁴³ Er reizt vielmehr seine »männliche Gedankenlust«.³⁴⁴ Ulrich, anders gesagt und in die Bildlichkeit des Eingangskapitels übersetzt, wird im Gegensatz zu den Protagonisten der Novellen im Handlungsverlauf nicht ›angefahren‹. Er wird in seiner männlichen Identität nicht ernsthaft bedroht oder beschädigt, sondern sitzt gewissermaßen selber im Auto. Er schaut sich, wie er Agathe gegenüber meint, »den heiligen Weg mit der Frage an, ob man wohl auch mit einem Kraftwagen auf ihm fahren könnte!«³⁴⁵

     

Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 23. Ebd., S. 2032. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 688. Ebd., S. 688. Ebd., S. 1464. Ebd., S. 751.

›Mutterrecht‹ I Gerhart Hauptmanns Die Insel der großen Mutter Der dritte und letzte Teil von Robert Musils Geschichte aus drei Jahrhunderten weist seinen Gegenwartsbezug schon über den Titel aus. Er ist mit nichts weiter als dem Jahr überschrieben, in dem er spielt, entstand und erstmals publiziert wurde: »1927«. Der »berühmte Chemiker Kratochwil« wohnt darin zwar »nicht gerade eine[r] politische[n]«, aber immerhin einer »Versammlung« bei, »wo die Opposition unter weiblicher Führung« steht.¹ Der »neue geistige Weltzug« hat »seinen Zusammenstoß mit dem alten«, und die »Herren von der Mehrheit« müssen sich von den »Damen« vorhalten lassen, sie seien »denkfaul« und »Esel« – bis der »verdienstreiche Mann« Kratochwil, wenn »er an seinen chemischen Ruhm« denkt, sich vorkommt »wie eine brave Hausfrau, die daheim mit Fläschchen und Töpfchen hantiert, während diese Damen auf schäumendem Roß durch die Welt« sprengen.² Der Topos vom mundus inversus und die »[d]unkle[n] Gymnasialerinnerungen« an »die Amazonen«,³ die Kratochwil abruft, um mit den gesellschafts- und geschlechterpolitischen Veränderungen der zwanziger Jahre zurechtzukommen, nehmen in der Geschlechterrhetorik der Zwischenkriegszeit einen wichtigen Platz ein. ›Unter weiblicher Führung‹ steht beispielsweise auch der »Amazonenstaat«⁴ in Gerhart Hauptmanns Insel der großen Mutter, einem Roman von 1924, der, wie jedenfalls Hauptmanns Verleger Samuel Fischer festhielt, das »Gespräch der Kreise« bildete, »die für Literatur Interesse« hatten.⁵ Über die Romanform allerdings war sich Hauptmann noch knapp ein Jahr vor der Veröffentlichung unsicher und erwog, die Insel in ein Epos umzuarbeiten.⁶ Diese Erwägung hing vielleicht nicht nur mit den zahlreichen mythologischen Reminiszenzen und Hauptmanns Selbstverständnis als Nationaldichter zusammen, sondern auch mit dem ›gendering‹ der Gattung. Denn das Epos galt seit seinen Gründungstexten als aus-

 Robert Musil: Eine Geschichte aus drei Jahrhunderten. In: Ders., Prosa und Stücke, S. 587– 592, hier S. 590.  Ebd., S. 590 f.  Ebd., S. 591.  Gerhart Hauptmann: Die Insel der großen Mutter. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von HansEgon Hass. Bd. 5: Romane. Frankfurt am Main und Berlin 1996 (Centenar-Ausgabe), S. 681– 902, hier S. 731.  Peter de Mendelssohn: S. Fischer und sein Verlag. Frankfurt am Main 1970, S. 956.  Vgl. Gerhart Hauptmann: Diarium 1917– 1933. Hg. von Martin Machatzke. Berlin 1980, S. 93 f.

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gesprochen ›männliches‹ Genre, als »male stronghold«,⁷ in dem vornehmlich männliche Identitäten verhandelt wurden⁸ und das ganz besonders der Stiftung und Konsolidierung kollektiver Identitäten diente. Zwar spielen in Hauptmanns Insel Frauenfiguren und eben sogar ein Frauenstaat eine zentrale Rolle. Trotzdem hätte dem männlichen ›gendering‹ eines Versepos nicht nur die mitunter voyeuristische Blickposition der Erzählinstanz entsprochen, der ›male gaze‹, durch den die ›natürliche‹ Schönheit der Insulanerinnen mit zwanghafter Regelmäßigkeit fokussiert und schwelgerisch beschrieben wird. (Den Roman, soll Hauptmann gesagt haben, verdanke er auch den »vielen schönen, oft ganz nackten Frauenkörper[n]«, die er »jahrelang auf Hiddensee« beobachtet habe.⁹) Vor allem hätte die ›Männlichkeit‹ der Gattung zur Unmissverständlichkeit gepasst, mit welcher der zum »geistige[n] Haupt des nachkaiserlichen Reiches«¹⁰ aufgestiegene Nobelpreisträger in der Insel den Wettkampf zwischen einem Frauen- und einem Männer- resp. Knabenstaat entschied und sein männliches Lesepublikum über die Irritationen hinwegtröstete, die traditionelle Männlichkeitskonzepte in den zwanziger Jahren erfahren mussten. Der Frauenstaat auf der utopischen Insel entsteht, als sich nach einem Schiffbruch circa hundert Frauen und – was angesichts der eigentlich zweigliedrigen, im Roman obendrein zitierten alten Seenotregel, »Frauen und Kinder« »zuerst«,¹¹ etwas überrascht – nur gerade eine Figur männlichen Geschlechts, ein zwölfjähriger Knabe auf eine paradiesische Südseeinsel retten. Die Frage, was denn besser sei, »aktives oder passives Wahlrecht oder Knechtung der Frau«,¹² erübrigt sich folglich bei der Organisation des Insellebens zunächst. Trotzdem und erst recht erhalten die gestrandeten Frauen in dieser Versuchsanordnung Gelegenheit zu zeigen, »was ohne Kulturschminke an« ihnen ist¹³ und ob die Forderungen der Frauenbewegungen in ihren Herkunftsländern eigentlich gerechtfertigt sind. Die ›Damen‹ stellen ihren ausgeprägten republikanischen Eifer stante pede unter Beweis, indem sie offenbar nur Minuten nach der »Landung«, »wie es

 Cora Kaplan: Editor’s Introduction to Elizabeth Barrett Browning, Aurora Leigh and Other Poems. In: Mary Eagleton (Hg.): Feminist Literary Theory. A Reader. Oxford 21996, S. 180 – 182, hier S. 180.  A. M. Keith: Engendering Rome. Women in Latin Epic. Cambridge 2000, S. 1 f.  Carl F. W. Behl: Zwiegespräche mit Gerhart Hauptmann. Tagebuchblätter. München 1949, S. 111.  Thomas Mann: Von deutscher Republik. In: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 811– 852, hier S. 814.  Hauptmann, Die Insel der großen Mutter, S. 686; im Original keine Hervorhebung.  Ebd., S. 690.  Ebd., S. 691.

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in Parlamenten üblich ist«, zu einer »Präsidentenwahl« schreiten.¹⁴ Dabei wählen sie diejenige unter ihnen zur Präsidentin, durch deren »Schönheit« sich keine der anderen »in den Schatten gestellt fühlen« kann,¹⁵ und gründen eine herrschaftsfreie und friedfertige Republik, in der sie aber nicht recht glücklich werden. Erfüllung finden sie nach einer »Epoche der tiefste[n] Niedergeschlagenheit«¹⁶ nur in der Mutterschaft: Sie blühen regelrecht auf und werden erst »mit dem Sinn ihres Daseins eins«,¹⁷ als einige und schließlich fast alle von ihnen ein Kind bekommen – in einer übrigens auch für den inneren Zusammenhang von (unkontrollierter) Sexualität, Klassenzugehörigkeit und Ethnizität bezeichnenden Abfolge. Denn die ersten drei Frauen, die Mutter werden, sind alle auch ethnisch oder über ihre soziale Herkunft markiert: eine stammt eigentlich aus dem Dienstmädchenstand,¹⁸ eine ist eine »schöne Jüdin« und die dritte eine »Mulattin«; die ›weißen‹, ›bürgerlichen‹ Frauen kriegen erst nach einer »längere[n] Pause« ihrerseits Kinder.¹⁹ In der darauffolgenden »gnadenreiche[n] Epoche«²⁰ werden Maternität und das »verbreitetste« und »wichtigste« »Geschäft des Gebärens«²¹ als conditio sine qua non weiblicher Verwirklichung zum Fundament einer ganz von religiösen Riten und Mythen bestimmten Kultur. Ihr Zentrum bildet zum einen ein Mythos der jungfräulichen Mutterschaft, der – nach einem »Grundsatz des Code Napoléon«, »La recherche de la paternité est interdite«²² – die Vaterschaft des minderjährigen Knaben, Phaon, tabuisieren soll. Zum anderen wird das Alltagsleben auf diesem »Inselland Aphroditas«²³ bestimmt von einem Fruchtbarkeitskultus »der Bona Dea«,²⁴ in deren Tempelbezirk ein Fortpflanzungsritus institutionalisiert wird, der sogenannte Tempelschlaf. Mit der Ausübung des Mütterlichkeits- und Fruchtbarkeitskults und der »aufs engste damit verbundene[n] […] Idee des Matriarchats«²⁵ verschmelzen die Frauen zunehmend mit der sie umgebenden Natur, werden zu »Töchter[n] der Erde«.²⁶ Sie fallen kulturgeschichtlich »auf eine frühe Stunde« zurück und stagnieren in einem

            

Ebd., S. 683 f. Ebd., S. 686. Ebd., S. 709. Ebd., S. 810. Vgl. ebd., S. 716. Ebd., S. 753. Ebd., S. 772. Ebd., S. 809. Ebd., S. 743. Ebd., S. 800. Ebd., S. 864, 873. Ebd., S. 817. Ebd., S. 775.

Johann Jakob Bachofens Mutterrechtstheorie

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»künstlich herbeigeführte[n] Anfangszustand«,²⁷ der in diametralem Abstand zur europäischen Zivilisation steht. Entgegengesetzt ist diese fast schon prä- beziehungsweise posthistorische Kultur des »Stillstand[s]«²⁸ aber auch der Welt des Knabenstaats, der sich seinerseits und ausdrücklich »nicht umsonst«, das heißt kulturgeographisch bezeichnenderweise »am westlichen Zipfel« der hufeisenförmigen Insel formiert.²⁹ Er entsteht dort, weil die im ›orientalischeren‹ Teil verharrenden amazonenhaften Mütter zur Sicherung ihres Matriarchats beschlossen haben, die Knaben an deren fünftem Geburtstag im nördlichen Teil der Insel auszusetzen. Während die Mütter »in Mythologie mach[]en«³⁰ und sozusagen in Akkordarbeit und ganz im Einklang mit der pronatalistischen Politik der zwanziger Jahre Kinder produzieren³¹ – in zwanzig Jahren erzählter Zeit rund zweitausend – realisieren die Knaben auf »Mannland« unter der Führung Phaons ein dezidiertes Gegenprogramm. Sie zähmen Tiere, erstellen Werkzeuge, bauen Schiffe und Geigen (auf denen sie sogar im Quartett Haydn spielen), bis sie schließlich ›Mütterland‹ und seine »mänadisch begeisterten« Töchter erobern.³² Sie vereinigen sich mit diesen in dionysischer Verzückung und pflanzen mit der Absicht, die »alte versumpfte, verdumpfte Zeit« hinter sich zu lassen, im Tempelbezirk der Bona Dea ein »Banner« mit der »Inschrift: Mann!« auf.³³

II Johann Jakob Bachofens Mutterrechtstheorie Ob nun Musil zu den ›literaturinteressierten Kreisen‹ gehörte, deren »Gespräch« Hauptmanns Roman gebildet haben soll, ob er etwas über den Roman oder ihn sogar selber gelesen hat, kann wohl nicht geklärt werden. In seinen Notizen vermerkt er die Insel jedenfalls nicht – und auch auf den Namen der nymphomanen Bonadea aus dem Mann ohne Eigenschaften kann er nicht erst bei Hauptmann gestoßen sein. Denn die Figur erscheint unter diesem Namen schon in Die beiden Geliebten, einer Vorstufe des späteren sechsten Kapitels des Mann ohne Eigenschaften, die Musil im Mai 1923 im Prager Tagblatt publizierte. Geklärt

 Ebd., S. 813.  Ebd., S. 823.  Ebd., S. 861.  Ebd., S. 860.  Vgl. Ulrike Rotmann: Geschlechterbeziehung im utopischen Roman. Analyse männlicher Entwürfe. Würzburg 2003, S. 128.  Hauptmann, Die Insel der großen Mutter, S. 895.  Ebd., S. 893.

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werden kann aber, dass die beiden ›guten Göttinnen‹ dennoch miteinander in Verbindung stehen, wenn auch »auf Umwegen« beziehungsweise einem ganz bestimmten Umweg. »[A]uf Umwegen« nämlich, schrieb Hermann Hesse 1923 in einer Rezension, soll »das Leben« »seit Jahrzehnten« von einem Schweizer Rechtshistoriker und Mythenforscher »wesentlich beeinflußt« worden sein,³⁴ ohne den Hauptmann auch laut eigener Aussage seinen Roman »nie […] geschrieben« hätte:³⁵ Johann Jakob Bachofen.³⁶ Auch im Mann ohne Eigenschaften lassen sich gerade in den Bonadea-Episoden Anspielungen auf Bachofen ausmachen, aus dessen Gräbersymbolik der Alten Hauptmann den Namen der römischen Fruchtbarkeitsgöttin nachweislich hatte.³⁷ Bachofen entwarf in der 1859 erschienenen Gräbersymbolik und zwei Jahre später in Das Mutterrecht eine Kulturstufentheorie,³⁸ bei der er sich besonders auf antike Mythen stützte, indem er Mythologie als »Manifestation« einer ganz fremden, »ursprünglichen Denkweise«³⁹ und als »urzeitliche Menschheitserinnerungen«,⁴⁰ als Überbleibsel realer Geschichte begriff. Er konzeptualisierte die Menschheitsgeschichte als Geschlechterkampf, als Rivalität zwischen einem

 Hermann Hesse: [Rezension von:] Oknos, der Seilflechter. Von J. J. Bachofen. In: Vivos voco. Zeitschrift für neues Deutschtum 3 (1922/1923), S. 417; zitiert nach: Yahya Elsaghe: Krankheit und Matriarchat. Thomas Manns Betrogene in den Kontexten des Spätwerks. Berlin und New York 2009, S. 231.  Behl, Zwiegespräche mit Gerhart Hauptmann, S. 84.  Die Hauptmannforschung hat die Bezüge noch nicht vollständig gehoben: vgl. Roy C. Cowen: Hauptmann-Kommentar zum nichtdramatischen Werk. München 1981, S. 110 f.; Sprengel, Die Wirklichkeit der Mythen, S. 28, 178, 311– 316, 323; Soheir Gohar: Der Archetyp der Großen Mutter in Hermann Hesses Demian und Gerhart Hauptmanns Insel der Großen Mutter. Bern, Frankfurt am Main, New York und Paris 1987, S. 62, 119 f., 249 – 252; Eberhard Hilscher: Gerhart Hauptmann. Leben und Werk. Frankfurt am Main 1988, S. 382 f.; Friedhelm Marx: Gerhart Hauptmann. Stuttgart 1998, S. 314 f.; Rotmann, Geschlechterbeziehung im utopischen Roman, S. 131– 133, 138 f.; Gustav Frank: Schiffbrüche als Aufbrüche. (Re‐)Konstruktionen von Wissen und Geschlecht in Gerhart Hauptmanns Atlantis (1912) und Die Insel der Großen Mutter (1924). In: Ders. und Wolfgang Lukas (Hg.): Norm – Grenze – Abweichung. Kultursemiotische Studien zu Literatur, Medien und Wirtschaft. Passau 2004, S. 179 – 197; Peter Davies: Myth, Matriarchy and Modernity. Johann Jakob Bachofen in German Culture 1860 – 1945. Berlin und New York 2010, S. 153 – 161.  Vgl. Sprengel, Die Wirklichkeit der Mythen, S. 323.  Vgl. zu Bachofen Elsaghe, Krankheit und Matriarchat.  Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur. Stuttgart 1861, S. VII; ders.: Urreligion und antike Symbole. Systematisch angeordnete Auswahl aus seinen Werken […]. Hg. von Carl Albrecht Bernoulli. Leipzig 1926, Bd. 1, S. 57; ders., Urreligion und antike Symbole, Bd. 2, S. 71.  Carl Albrecht Bernoulli: [Kommentar]. In: Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 2, S. 262.

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›weiblich-stofflichen‹ und einem ›männlich-geistigen‹ Prinzip, zwischen dem Primat der Mutterschaft und dem Primat der Vaterschaft, zwischen Naturrecht und Zivilrecht, Plebs und Patriziat und – in seiner assoziativen und bilderreichen Metaphorik – zwischen Dunkel und Licht, sumpfig-fertiler Erde und unkörperlicher, »incorruptib[ler]« Sonne.⁴¹ Die Abfolge der drei Makroepochen, die er entdeckt haben wollte, gliedert sich nach dem abnehmenden Anteil des weiblichstofflichen Prinzips an der Kultur und der zunehmenden Sicherheit, mit der Vaterschaft identifiziert werden kann. Eine erste, noch gleichsam tierische Entwicklungsstufe bezeichnet Bachofen mit einem eigenartigen, Polygamie und Prostitution in eins setzenden Terminus als Periode des Hetärismus. Auf dieser ›tellurischen‹ Stufe sollen noch keinerlei gesellschaftliche Hierarchie oder sexuelle Verbote existiert, die Menschen sich vielmehr der »aphroditisch regellose[n] Geschlechtsliebe«⁴² hingegeben haben und noch ganz den ›Naturgesetzen des Stoffes‹ unterworfen gewesen sein. Die zweite und mittlere, ›lunarische‹ Entwicklungsphase sodann ist die Stufe der eigentlichen Gynaikokratie, in der sich weibliches Natur- und männliches Zivilgesetz ergänzen. Die Frauen wehren sich in dieser »nothwendige[n] Erziehungsperiode der Menschheit«⁴³ gegen den Hetärismus, den sie als Missbrauch empfinden, zivilisieren die Sexualität der Männer und institutionalisieren die monogame Ehe. Symptomatisch ist Bachofens Gynaikokratie dabei auch für die Feminisierung der Religion im neunzehnten Jahrhundert.⁴⁴ Denn es ist die größere »religiöse Weihe«,⁴⁵ die die Frauen zu »heroische[r] Größe«⁴⁶ erhebt und im Kultus und dem hieratisch geprägten Gemeinwesen führende Positionen einnehmen lässt, bis sie diese Dominanz meist durch den »auflösenden Einfluss[] der dionysischen Religion«⁴⁷ wieder verlieren. Die dritte, ›solarische‹ Periode als Ende und Vollendung dieses Entwicklungsprozesses beginnt schließlich mit dem Sieg des männlich-

 Bachofen, Das Mutterrecht, S. 41.  Johann Jakob Bachofen: Versuch über die Gräbersymbolik der Alten. Basel 1859, S. 100; ders., Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 320.  Bachofen, Das Mutterrecht, S. XVII; ders., Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 86.  Vgl. Irmtraud Götz von Olenhusen: Die Feminisierung von Religion und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Forschungsstand und Forschungsperspektiven. In: Frauen unter dem Patriarchat der Kirchen. Katholikinnen und Protestantinnen im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart, Berlin und Köln 1995, S. 9 – 21.  Bachofen, Das Mutterrecht, S. XIII f., 25, 143, 223, 238, 259, 339; vgl. S. XII, XIV, 33, 234, 236 f.; ders., Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 76, 78; Bd. 2, S. 89, 132, 312, 318; vgl. Bd. 1, S. 72, 77; Bd. 2, S. 86, 89, 385.  Bachofen, Das Mutterrecht, S. XIII; ders., Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 73.  Bachofen, Das Mutterrecht, S. XXIV; ders., Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 105.

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geistigen über das weiblich-stoffliche Prinzip. Das Vaterrecht löst das Mutterrecht ab, die Kultur erhebt sich über die Natur. Bachofens Bedeutung für das Wissen über die Geschlechter, für die Geschlechterdiskurse der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ist wohl kaum zu überschätzen. Mit seiner ›Entdeckung‹ des Mutterrechts stellte er durchaus im Zeichen des Möglichkeitssinns die Universalität und Natürlichkeit männlicher Herrschaft infrage, wenn eben auch nur unter der Kautel, weibliche Macht und Dominanz an eine tiefere und eigentlich längst vergangene Kulturstufe zu knüpfen. Er trug maßgeblich dazu bei, die Organisation von Sexualität, Geschlechter- und Verwandtschaftsverhältnissen zu zentralen Untersuchungskategorien der Anthropologie zu machen.⁴⁸ Und auch in der Literatur der Jahrhundertwende hinterließ er erste Spuren.⁴⁹ Populär wurde Bachofen dennoch erst in dem Jahrzehnt, in dem auch Musils Geschichte aus drei Jahrhunderten und Hauptmanns Insel der großen Mutter erschienen. Seine eigentlich schwer lesbaren Texte zeugen schon rund sechzig Jahre vorher von den sozialen Veränderungen, die im dritten Teil der Geschichte aus drei Jahrhunderten verhandelt werden. Sie verraten latente Revolutionsängste und lassen es nicht an Bemerkungen und Hinweisen darauf fehlen, dass »die innere Auflösung der alten Welt« fortschreite und das »mütterlich-stoffliche Prinzip von Neuem in den Vordergrund gestellt« werde.⁵⁰ Eigens um diesen ›Auflösungstendenzen‹ gerecht zu werden, vermittelte Bachofen sein lineares, dreistufiges Fortschrittsmodell mit einer zyklischen Geschichtskonzeption.⁵¹ Das Vaterrecht herrscht bei ihm nur temporär, die »frühesten Zustände der Völker« sollen »am Schlusse ihrer Entwicklung wiederum nach der Oberfläche drängen«.⁵² Zu diesen frühesten Zuständen zählt er nicht nur,

 Vgl. Erhart, Familienmänner, S. 72.  Zur Bachofenrezeption bei Hofmannsthal vgl. Michael Worbs: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. Frankfurt am Main 1983, S. 268, Anm. 3; bei Rilke und George vgl. Eckhard Heftrich: Johann Jakob Bachofen und seine Bedeutung für die Literatur. In: Helmut Koopmann (Hg.): Mythos und Mythologie in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1979, S. 235 – 250; bei Hesse vgl. Frederick Alfred Lubich: Bachofens Mutterrecht, Hesses Demian und der Verfall der Vatermacht. In: Germanic Review 65.4 (1990), S. 150 – 158; Serena Failla: Matriarchatsphantasien in Hermann Hesses Prosa. Zur Bachofen-Rezeption in Der Inseltraum, Peter Camenzind, Demian und Siddhartha [erscheint voraussichtlich 2014]; in Deutschland allgemein zwischen 1860 und 1945 vgl. Davies, Myth, Matriarchy and Modernity.  Bachofen, Das Mutterrecht, S. XXIV; ders., Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 106.  Vgl. Elsaghe, Krankheit und Matriarchat, S. 225.  Bachofen, Das Mutterrecht, S. XXIV; ders., Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 105.

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dass »Frauen […] in Volks-Versammlungen stimmen« konnten,⁵³ sondern auch das »Gesetz der Demokratie«⁵⁴ mit ihrer »natürlichen Gleichheit aller«,⁵⁵ die ihn als Angehörigen des Basler Patriziats in seiner privilegierten gesellschaftlichen Stellung bedrohte. Diese Gleichsetzung von Demokratie mit einem Rückfall auf eine primitive Entwicklungsstufe, mit einer Verweiblichung der Kultur und mit Hetärismus erklärt wohl, warum aus den Wissensbeständen der Weimarer und Ersten Republik gerade Bachofens Mutterrechtstheorie noch einmal mit so viel sozialer Energie aufgeladen werden konnte: Sie offerierte all den Anhängern des »alten« »geistige[n] Weltzug[s]«, die ihre Klassen- und Geschlechterprivilegien bedroht sahen, ein Modell, die gesellschaftspolitischen Veränderungen nicht als Fortschritt, sondern als Regression zu interpretieren – auf eine Art also, die ihr symbolisches Kapital nicht tangierte. Allein 1926, ein Jahr vor der erzählten Zeit von Musils dritter Geschichte, wurden nicht weniger als drei Bachofen-Ausgaben veröffentlicht.⁵⁶ Aus einer dieser Ausgaben, Urreligion und antike Symbole, machte sich Musil 1933 ein paar Notizen, die trotz ihrer Spärlichkeit darauf hinweisen, dass er Bachofen wohl ausgiebig gelesen hat. Denn sie stammen aus Passagen, die insgesamt 140 Seiten auseinander und noch dazu an vorgerückter Stelle des zweiten Bandes liegen.⁵⁷ Mit Bachofen konfrontiert worden sein muss Musil aber ohnehin schon zehn Jahre früher. Er muss ihm etwa zur gleichen Zeit begegnet sein, als der Vorabdruck Die beiden Geliebten erschien:⁵⁸ in Ludwig Klages’ Zum kosmogonischen Eros, aus dem er ausführlich exzerpierte.⁵⁹ Klages bezeichnet Bachofen darin als den »größte[n] Erschließer« des »urzeitlichen Bewußtseinszustandes« und »bekennt, daß die ihm um die Jahrhundertwende zuteil gewordene Bekanntschaft mit den Hauptwerken Bachofens sein größtes literarisches Erlebnis war und sein weiteres Leben entscheidend mitbestimmte«.⁶⁰ Gleich im Anschluss an seine Klagesexzerpte

 Bachofen, Das Mutterrecht, S. XII; ders., Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 72.  Bachofen, Das Mutterrecht, S. XXIII; ders., Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 103.  Bachofen, Das Mutterrecht, S. 103.  Bachofen, Urreligion und antike Symbole; ders.: Der Mythus von Orient und Occident. Eine Metaphysik der alten Welt. Aus den Werken von J. J. Bachofen. Mit einer Einleitung von Alfred Baeumler. Hg. von Manfred Schröter. München 1926; ders.: Mutterrecht und Urreligion. Eine Auswahl. Hg. von Rudolf Marx. Leipzig 1926.  Musil, Tagebücher, Bd. 1, S. 728, 828. Vgl. Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 2, S. 259 f., 290, 402.  Vgl. Helmut Arntzen: Musil-Kommentar zu dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München 1982, S. 22, 40.  Vgl. Musil, Tagebücher, Bd. 1, S. 615 – 624.  Ludwig Klages: Vom kosmogonischen Eros. München 1922, S. 180 f.

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notierte sich Musil denn auch vier Titel Bachofens, Das Mutterrecht, Versuch über die Gräbersymbolik der Alten, Das lykische Volk und Die Sage von Tanaquil. ⁶¹

III Bonadea als ›Hetäre‹ Der exakte oder auch nur aufs Jahr genaue Zeitpunkt von Musils erstmaliger Bachofen-Lektüre ist hingegen schwierig oder vielleicht auch gar nicht zu bestimmen. Bei vielen der komplexen intertextuellen Beziehungen, die sich zwischen Musils und Bachofens Korpus herstellen lassen, bleibt letztlich unentscheidbar, ob es sich um kalkulierte Anspielungen oder um interdiskursive Effekte handelt. Auf den Namen Bonadeas muss Musil natürlich nicht wie Hauptmann zwingend bei Bachofen gestoßen sein, trotz der zeitlichen Nähe ihrer Romane.Von »Ausschweifungen«, zu deren »Sammelpunkt« der römische »Tempel« der Bona Dea schon in Die beiden Geliebten erklärt wird,⁶² ist auch in Juvenals Satiren die Rede⁶³ oder in entsprechenden Nachschlagewerken. Paulys Real-Encyclopädie von 1899 etwa spricht sogar von »ungeheuerliche[n] geschlechtliche[n] Ausschweifungen«, allerdings nicht im Tempel, sondern bei privaten Bona Dea-Kulten.⁶⁴ Kratochwils Wahrnehmung der politisch aktiven »Damen« als Amazonen überdies reproduziert zwar einen Geschlechtertopos Bachofens, der aber bereits in den Geschlechterdiskursen der Französischen Revolution zu stark verankert ist,⁶⁵ als dass er als positivistisch nachweisbare Anspielung auf Bachofen verbucht werden könnte.

 Musil, Tagebücher, Bd. 1, S. 624.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 2022. Vgl. ebd., S. 41.  Vgl. Juvenal: Römische Satiren. Eingeleitet und übertragen von Otto Weinreich. Zürich 1962, S. 244, V. 306 – 311: »Geh und frage dich noch, was die Fratze bedeutet, mit welcher / Tullia Luft einzieht, und was der berüchtigten Maura / ihrer Stammesgenossin und Milchschwester wohl in das Ohr sagt, / gehn sie vorbei am alten Altar der Göttin der Keuschheit. / Denn hier halten des Nachts die Sänften, hier pissen bezechte / Weiber und richten den Spritzenstrahl auf das Bild dieser Göttin, / reiten einander und rühren die Lenden – Luna ist Zeugin«.  Paulys Real-Encyklopädie der classischen Altertumswissenschaft. Bd. 3. Hg. von Georg Wissowa. Stuttgart 1899, S. 693, s. v. ›Bona dea‹. In Meyers Großem Konversationslexikon wird aufgeführt, dass die Feier der Bona Dea »zu ausschweifenden Mysterien aus[geartet]« sei. Meyers Großes Konversationslexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Bd. 3. Leipzig und Wien 61905, S. 192, s. v. ›Bona Dea‹. Vollmer’s Wörterbuch der Mythologie vermerkt, »das Fest« sei »der Schauplatz der grössten Ausschweifungen« geworden. Vollmer’s Wörterbuch der Mythologie aller Völker. Stuttgart 31874, S. 109, s. v. ›Bona Dea‹.  Vgl. Inge Stephan: »Da werden Weiber zu Hyänen…«. Amazonen und Amazonenmythen bei Schiller und Kleist. In: Dies. und Sigrid Weigel (Hg.): Feministische Literaturwissenschaft. Berlin 1984, S. 23 – 42.

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Ein quellenkritisch verifizierbarer Rezeptionszusammenhang lässt sich vermutlich erst für den ersten Band des Mann ohne Eigenschaften belegen, in dem nicht nur mit einer Namensreminiszenz, mit der auf einem Schloss wohnenden »Patrizierfamilie« Pachhofen⁶⁶ ironisch auf die soziale Herkunft Bachofens angespielt wird, die dessen Werk entschieden prägte.Vielmehr findet sich darin auch eine Formulierung, mit der Musil Bachofen parodistisch anzitiert und die fast ganz aus Schlüsselwörtern Bachofens besteht: die Formulierung vom »periodische[n] Untergang« von Bonadeas »Kultur in den Umschwüngen einer dumpfen Stoffwelt«.⁶⁷ In der Gräbersymbolik, in einem Abschnitt, der auch in der erwähnten Sammelausgabe Urreligion und antike Symbole enthalten ist, schreibt Bachofen zum Beispiel vom »Untergang« des »Geschlechtsleben[s] der Frau« in »den Sumpfgründen des unreinen Stoffes«.⁶⁸ Dieser Untergang soll charakteristisch sein für die Periode des Hetärismus, für dessen »stoffliche Welt und ihren beständigen Umschwung«.⁶⁹ Bonadea regrediert also »periodisch[]«, in »ihre[n] Anfälle[n] von Ehebruch«,⁷⁰ in diese ›hetärisch-tellurische‹ Periode der »ehelose[n] Begattung«⁷¹ und »aussereheliche[n] Geschlechtsverbindung«,⁷² mit der Bachofen die Bona Dea denn auch ausdrücklich assoziiert. Ausgehend von dieser parodistischen Referenz lässt sich ein ganzes Netz von intertextuellen Bezügen und Analogien freilegen. Vor allen anderen personifiziert für Bachofen Aphrodite die Periode des Hetärismus. Wenn eine Frau die Ehe bricht, soll sie »Aphroditens Gesetz« gehorchen.⁷³ Und dieser Hypostase genau entsprechend wird die »allzu weiblich[e]«⁷⁴ Bonadea auch im Mann ohne Eigenschaften zur Aphrodite stilisiert, als ihre »halb hochgezogenen Kleider«, nachdem sie und Ulrich zusammen geschlafen haben, »am Teppich den kleinen, reizend mythologischen Schaumkrater« bilden, »aus dem Aphrodite hervorsteigt«.⁷⁵ An der Bona Dea selber hebt Bachofen in seinen ausführlichen Erörterungen im Mutterrecht und vor allem in der Gräbersymbolik insbesondere zwei Aspekte hervor. Sie verkörpert für ihn »das mütterliche Naturprinzip« und er bestimmt ihren Tempel zum »Haus« des aphroditischen, weiblich-stofflichen »Naturgeset-

 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 291.  Ebd., S. 525.  Bachofen, Gräbersymbolik, S. 95; ders., Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 315.  Bachofen, Gräbersymbolik, S. 254. Vgl. z. B. ebd., S. 124; ders., Das Mutterrecht, S. 41, 60, 172, 319, 405; ders., Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 322; Bd. 2, S. 71, 210.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 120.  Bachofen, Das Mutterrecht, S. 19; ders., Urreligion und antike Symbole, Bd. 2, S. 288.  Bachofen, Das Mutterrecht, S. 10; ders., Urreligion und antike Symbole, S. 263.  Bachofen, Das Mutterrecht, S. 13; ders., Urreligion und antike Symbole, S. 273.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 525.  Ebd., S. 119.

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zes«,⁷⁶ das auf der Stufe des Hetärismus eben noch ganz uneingeschränkt herrschen soll. Das »mütterliche Naturprinzip« repräsentiert Bonadea als »hypertrophe Mutter«⁷⁷ im Mann ohne Eigenschaften bereits deshalb, weil sie unter den jüngeren Frauenfiguren bemerkenswerterweise als einzige nicht kinderlos ist. Im Zeichen ihrer Mütterlichkeit und des stofflichen Naturgesetzes, das Bachofen zufolge »jegliche leibliche Wohlfahrt beförder[n]«⁷⁸ und »dem Verletzten bei[stehen]« soll,⁷⁹ steht auch schon ihre erste Begegnung mit Ulrich. Er trifft die ihm ›beistehende‹ »mütterliche[] Schönheit«,⁸⁰ als ihn drei »starke Männer« in einer Schlägerei »übel zugerichtet« haben,⁸¹ und versieht die anonym bleibende Bonadea ausdrücklich mit diesem göttlichen Tarnnamen, »weil sie so«, als seine »Retterin«, »in sein Leben« getreten ist⁸² (auch im Pauly ist übrigens nachzulesen, dass in den »Kultstätten« der Bona Dea »Frauen als Ärzte« gewirkt haben⁸³). Ganz im Sinn der hetärisch-aphroditischen Isotopie der Bonadea-Kapitel begegnet er ihr in einem »Zustand von Schwäche«,⁸⁴ in dem gleichsam seine persönliche Entwicklung vom ›Stoff‹ zum ›Geist‹ rückgängig gemacht ist und sein »Körper« prononciert »das Übergewicht« hat:⁸⁵ Er liegt buchstäblich »ohne […] Bewusstsein«⁸⁶ auf der Straße. Und dieser Regression auf eine frühere, von Bachofen wiederholt als ›Kindheitsperiode‹ der Menschheitsgeschichte bezeichnete Entwicklungsstufe⁸⁷ entspricht vielleicht auch, dass Ulrich nach seinem Aufwachen zuerst »alles wie in der Welt der Kinderbücher« sieht. Erst in Bonadeas Wagen findet er wieder »zu sich selbst« und wird »wieder Mann«.⁸⁸ Des weiteren akzentuiert der Mann ohne Eigenschaften die besondere »Verbindung«, in der die Bona Dea als Repräsentantin des weiblich-stofflichen Rechts laut Bachofen zum römischen Prätor gestanden haben soll,⁸⁹ also zum höchsten

 Bachofen, Gräbersymbolik, S. 210 f.  Thomas Pekar: Die Sprache der Liebe bei Robert Musil. München 1989, S. 195.  Bachofen, Gräbersymbolik der Alten, S. 155; Vgl. ders., Das Mutterrecht, S. 141.  Bachofen, Das Mutterrecht, S. 141.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 28.  Ebd., S. 25 f.  Ebd., S. 30, 41.  Paulys Real-Encyklopädie der classischen Altertumswissenschaft. Bd. 3, S. 690 f., s. v. ›Bona Dea‹.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 25.  Ebd., S. 30.  Ebd., S. 28; vgl. S. 25.  Vgl. Bachofen, Das Mutterrecht, z. B. S. XVIII, 19, 96, 384; ders., Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 90, 406; Bd. 2, S. 48, 289.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 28.  Bachofen, Gräbersymbolik, S. 210.

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Justizbeamten Roms, in dessen Haus ihr jährliches Fest traditionell gefeiert wurde. Auch Musils Bonadea ist mit einem »hohen Gerichtsbeamten«⁹⁰ eng verbunden: Ihr Mann ist ein »bekannter und angesehener Jurist«, ein »Landesgerichtspräsident[]«.⁹¹ Den Prätor ordnet Bachofen nach Maßgabe seiner Verknüpfung von Weiblichkeit, Demokratie und Naturrecht wie die Bona Dea freilich der »stofflichweiblichen Seite«⁹² des Rechts zu, wahrscheinlich weil Prätoren vom Volk gewählt wurden. Er sieht ihre Funktion darin, »das Civilrecht des patricischen Staats zu dem ius naturale des aequum et bonum […] zurückzuführen« und das Recht der Bona Dea als ihr »Organ« »auszusprechen«.⁹³ Bonadeas Mann dagegen zeigt keinerlei Interesse, als »Organ« seiner Frau tätig zu sein. Als sie sich in einem ihrer zahlreichen Versuche, Ulrich als Geliebten zurückzugewinnen, an ihn wendet, um eine »dienliche Auskunft« über Moosbrugger zu bekommen,⁹⁴ widersetzt sich der »harmlos tötende[] Jagdliebhaber«⁹⁵ ihrem Einbruch in eine männliche Domäne und verbittet sich jede Geschlechterkonfusion: Sie erfährt von ihm nur, »daß er das Gebären für Frauensache, das Töten aber für eine Männerangelegenheit halte«.⁹⁶ Das bei Bachofen männlich besetzte Zivilrecht, das für ihn auf der »positive[n] Institution der Ehe« gründet und erst mit der »eheliche[n] Gesittung« entsteht,⁹⁷ kann angesichts des ›hetärischen Muttertums‹ Bonadeas indessen just ihr Richtergatte nicht mehr durchsetzen. Schon beim ersten Gespräch mit Ulrich in ihrer Mietkutsche zeigt Bonadea allzu großes Interesse für Zustände, in denen die »zivilrechtlich gegen die Umwelt abgegrenzte Haupt- und Gesamtperson […] nur so obenauf mitgenommen« wird.⁹⁸ Ausgerechnet ihr Mann als Vertreter der Institution, die gerade auch patrilineare Nachfolgebestimmungen regelt, kann sich der Vaterschaft ›seiner‹ zwei Knaben, der für traditionelle Männlichkeitsvorstellungen so essenziellen Fortsetzung der eigenen Genealogie nicht mehr sicher sein: Auch bei ihm verbietet sich eine »recherche de la paternité«, denn Ulrich ist in Bonadeas »Leben der weiß Gott wievielte Fall«.⁹⁹ Trotzdem hat der geprellte Gatte, dessen Geschlechtsnamen der Roman bezeichnenderweise nicht preisgibt, die längste Zeit nicht die geringste Ahnung,

         

Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 446. Ebd., S. 43, 522. Bachofen, Gräbersymbolik, S. 208 f. Ebd., S. 210; Hervorhebungen im Original. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 261. Ebd., S. 43. Ebd., S. 261. Bachofen, Das Mutterrecht, S. 10; ders., Urreligion und antike Symbole, Bd. 2, S. 263 f. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 29; im Original keine Hervorhebung. Ebd., S. 42.

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dass er sich mit seiner eigenen Ehefrau bloß in einem »Gelegenheitsverhältnis«¹⁰⁰ befindet. Er vermutet nicht, dass ›seine‹ Knaben ihren »Ursprung« nicht unbedingt »auf den Vater zurückführ[en]« können, ja dass ein solcher Vater, wie auf Bachofens Stufe des Hetärismus und »vaterlosen Mutterthums« die notwendige Regel, wohl gar nicht identifiziert werden kann.¹⁰¹ Der Verdacht, »ob nicht ein Dritter seinen häuslichen Frieden störe«, kommt ihm erst mit Verspätung. Er beschleicht ihn ironischerweise gerade dann »zum ersten Mal«,¹⁰² als sich bei Bonadea der »periodische Untergang ihrer Kultur in den Umschwüngen einer dumpfen Stoffwelt« endlich »verloren« hat,¹⁰³ dem sie sich schon »seit ihrem zwanzigsten Jahr« nicht entgegensetzte, trotz des hohen Risikos, mit dem ein Ehebruch auch wegen des geltenden Scheidungsrechts verbunden war.¹⁰⁴ Verloren haben sich ihre »Ausschweifungen« allerdings gerade nicht ihrem »erheblich älter[en]«¹⁰⁵ Gatten zuliebe. Treu ist Bonadea mit ihrem Verzicht auf Liebschaften pikanterweise nicht etwa ihm, sondern einem ihrer Geliebten. Ulrich, den sie wiederzugewinnen versucht, hat bei ihr als offenbar einziger einen so nachhaltigen Eindruck hinterlassen, dass sie von nun an »den illegitimen Teil ihres Lebens als Witwe« lebt.¹⁰⁶ Dass dem »Landesgerichtspräsidenten«, der sich in seiner Freizeit in der archaischen Geschlechterrolle eines »Jagdliebhaber[s]« gefällt,¹⁰⁷ Hörner aufgesetzt werden, insinuiert also auch sein Ungenügen in der Männerrolle des Liebhabers. Der »gern gesehene[] Gast an verschiedenen Stammtischen von Jägern und Rechtskundigen, wo von Männerfragen gesprochen« wird »statt von Kunst und Liebe«, erscheint Bonadea »als ein rücksichtsloses Untier«, das sie »verachtet« und betrügt, »um ihm zu entfliehen«.¹⁰⁸ Für Bonadeas ›Rückfälle‹ in den Hetärismus ist er demnach mindestens mitverantwortlich. Erstens beginnen solche Rückfälle auch nach Bachofen üblicherweise mit »der Verachtung des Man-

 Ebd., S. 43.  Bachofen, Das Mutterrecht, S. 86; ders., Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 116. Dabei hätte er in Hanns Gross’ Criminalpsychologie nachlesen können, dass jede »Frau, die über Vernachlässigung durch ihren Mann klag[e], […] eine Ehebrecherin« sei »oder mindestens auf dem Wege, eine zu werden«. Hanns Gross: Criminalpsychologie. Graz 1898, S. 467.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 526.  Ebd., S. 525.  Bei einer Scheidung wegen Ehebruch war der betrogene Ehemann von der Unterhaltspflicht entbunden. Vgl. Hanisch, Männlichkeiten, S. 166.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 43.  Ebd., S. 525.  Ebd., S. 43.  Ebd.

Bonadea als ›Hetäre‹

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nes«.¹⁰⁹ Und zweitens hätte sie eigentlich das »Ideenbedürfnis« nach »einer stillen, idealen Lebensführung in einem Kreis, den Gatte und Kinder bilden«,¹¹⁰ das Bachofen den Frauen auf der Kulturstufe des Hetärismus zuschreibt. Genau wie jene aber fühlt sich Bonadea »oft mißbraucht«.¹¹¹ Ähnlich wie bei Bachofen die zur »Knechtschaft« erniedrigten Frauen zuletzt dazu veranlasst werden, sich im Hetärentum jenen Einfluss wieder zu verschaffen, der ihnen in der ehelichen Beziehung vorenthalten bleibt,¹¹² erscheint ihr Hetärismus somit auch als Konsequenz »eines jahrelang einem Menschen Willfahrens«, »dessen Frau sie mehr aus Klugheit denn aus Herzensverlangen geworden war«.¹¹³ Es ist ausdrücklich dieses ›jahrelange Willfahren‹, das in ihr »die Täuschung« erst »ausgebildet« hat, »daß sie körperlich übererregbar sei«.¹¹⁴ Indem nun Bonadeas Übererregbarkeit zur »Täuschung« und ihre »überreizte[] Konstitution« zur »Ausrede« erklärt werden,¹¹⁵ indem auch Ulrich reflektiert, ihre »Leidenschaft« entspringe »zutiefst nicht der Sinnlichkeit, sondern dem Ehrgeiz«,¹¹⁶ entpuppt sich ihr Hetärismus letztlich gerade nicht als Folge einer weiblichen Veranlagung, die bestenfalls gezähmt und unterdrückt werden könnte. Zwar bilden Bonadeas Nymphomanie und »Ausschweifungen« noch wie in den Sexualitätsdiskursen der Jahrhundertwende¹¹⁷ einen Gegenstand großen Interesses und scheint ihr Merkmalssatz vordergründig die Geschlechterstereotypen eben buchstäblich zu zitieren, als deren Abfolge Bachofen seine Kulturstufentheorie konzipierte. Aber diese Stereotypen werden gerade auch aufgeboten, um sie wiederholt zu brechen, um die Leserinnen und Leser zu korrigierenden Relektüren zu zwingen. So wird auch der Weiningerismus unterlaufen, der dem Bonadea-Portrait prima facie inhärent und mit dem Musils Frühwerk noch durchsetzt ist.¹¹⁸ Bonadeas Sexualität wird mithin als soziales Konstrukt gekennzeichnet, als Produkt einer asymmetrischen Geschlechterordnung, die ihr

 Bachofen, Das Mutterrecht, S. 34, 78; ders., Urreligion und antike Symbole, Bd. 2, 387.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 42.  Ebd., S. 258.  Bachofen, Das Mutterrecht, S. 78.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 43.  Ebd.  Ebd., S. 522.  Ebd., S. 889.  Vgl. Kimmich und Wilke, Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, S. 34.  Vgl. Karl Corino: Robert Musils Vereinigungen. Studien zu einer historisch-kritischen Ausgabe. München und Salzburg 1974, S. 133, 226 f., 287; Webber, Sexuality and the Sense of Self in the Works of Georg Trakl and Robert Musil, S. 103 – 133; Walter Fanta: Die Entstehungsgeschichte des Mann ohne Eigenschaften. Wien 2000, S. 189. Zu Weiningers Bachofenrezeption vgl. Erhart, Familienmänner, S. 119.

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›Mutterrecht‹

»erheblich älter[er]« und ausnahmsweise »körperlich größer[er]«¹¹⁹ Gatte und Gerichtspräsident gewissermaßen verkörpert. Wenn Alfred Baeumler in seiner »Einleitung« zu einer der Bachofen-Ausgaben von 1926 glaubt, es sei »ein offenes Geheimnis, daß die väterliche Gewalt, die Herrschaft des Mannes heute gebrochen ist, daß Monogamie und Vaterrecht zwar in den Gesetzbüchern vorkommen, aus dem Leben aber geschwunden sind«, bestätigen sich diese »mutterrechtliche[n] Zustände« im Mann ohne Eigenschaften freilich nicht nur für die Ehe des Landesgerichtspräsidenten mit Bonadea. Wenn Baeumler weiter moniert, in dieser »Zeit der Ausschweifung« genüge ein »Blick in die Straßen Berlins, Paris [sic!] oder Londons, in das Gesicht eines modernen Mannes oder Weibes«, »um den Kult der Aphrodite als denjenigen zu erweisen, vor dem Zeus und Apollon zurücktreten« müssten,¹²⁰ dann könnte die Reihe dieser drei Großstädte durchaus mit Musils »durchstrichene[m]« Vorkriegs-Wien ergänzt werden. Auch darin suggerieren nicht bloß die »Blick[e] […] in das Gesicht« respektive auf die bereits erwähnten Körperdefizite der Männerfiguren ein ›Schwinden‹ des »Vaterrecht[s]«. Denn eine Mehrheit der verheirateten weiblichen Hauptfiguren spielt sogar mit dem Gedanken einer Scheidung. Obwohl es sich bei Österreich-Ungarn um eine »non-divorcing society«¹²¹ handelte und Scheidungen fast nur in der Arbeiterklasse vorkamen,¹²² die für die »bevorzugte[] Gesellschaftsschicht«¹²³ des Mann ohne Eigenschaften so gut wie nicht zu existieren scheint, nimmt das weibliche Romanpersonal damit sozusagen frauenherrschaftliches Recht wahr: Es aktualisiert das gemäß Bachofen gynaikokratische »Recht des Weibes, ihren Mann selbst zu wählen«.¹²⁴

 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 43.  Alfred Baeumler: Einleitung. In: Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident, S. XXV–CCXCIV, hier S. CCXCII f.; zitiert nach: Elsaghe, Krankheit und Matriarchat, S. 264.  Lawrence Stone: Road to Divorce. England 1530 – 1987. Oxford 1990, S. 387.  Vgl. Hanisch, Männlichkeiten, S. 167. Allerdings »stieg die Zahl der Scheidungen im Gebiet des heutigen Österreich deutlich an, von 491 (1890) auf 1.785 (1913). Wenig überraschend gab es die meisten gerichtlichen Scheidungen in Wien, 305 im Jahre 1891, 850 im Jahre 1910. Die häufigsten Scheidungen (ohne Recht auf Wiederverheiratung) finden sich bei Katholiken, die meisten Trennungen (mit dem Recht auf eine neue Heirat) bei den Juden.« Ebd., S. 167 f. Vgl. Wolf, Kakanien als Gesellschaftskonstruktion, S. 785 f.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 10.  Bachofen, Das Mutterrecht, S. 92; ders., Urreligion und antike Symbole, Bd. 2, S. 353.

Clarisse als ›Amazone‹

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IV Clarisse als ›Amazone‹ Wie schon Bonadea ihr »Abenteuer« mit Ulrich in einer Vertauschung der Geschlechterdiathesen »selbst« initiiert und »eigenmächtig fortsetzt[]«,¹²⁵ nimmt dieses »Recht« auch Clarisse in Anspruch. Nur usurpiert sie noch konsequenter männlich codierte Positionen. Aus Bachofens Fundus wird mit Clarisse nicht der klassische Weiblichkeitstopos der hetärischen Mutter aufgerufen, sondern – wie schon vom »berühmten Chemiker Kratochwil« in seinen Gedanken über die politisch engagierten Frauen – der Topos der kriegerischen Amazone. Clarisse, zu deren »Füßen«¹²⁶ sogar General Stumm »Soldatenmut« »lern[t]«,¹²⁷ verweigert sich mit der von Bachofen beschriebenen »Enthaltsamkeit und Strenge«¹²⁸ ihrem Ehemann Walter. Sie widersetzt sich seinem Wunsch, sie mit einem Kind zur »natürliche[n] Mutter« umzufunktionieren und sich so ganz buchstäblich Vater»Rechte« anzueignen,¹²⁹ über die er nie zuvor hat verfügen können. Denn als er einmal tatsächlich auf dem ›Vaterrecht in den Gesetzbüchern‹, dem Paragraph 91 des ABGB insistiert und Clarisses »halbe[n] Ehebruch«,¹³⁰ ihren intendierten Besuch in der Irrenanstalt mit dem Verweis unterbinden will, sie dürfe »nichts tun ohne [s]eine Erlaubnis«, er sei »rechtlich« ihr »Mann und Vormund«, ist das Clarisse zwar »ein neuer Ton«.¹³¹ Aber dieses »Vaterrecht« besteht nur noch de iure und pro forma. Im »Leben« der Romanhandlung zieht Walters Ermahnung keinerlei Konsequenzen nach sich. Vielmehr glaubt Clarisse, gerade »im Umgang mit Walter männliche Empfindungen erlernt« und »den Charakter und die Pflichten eines Mannes erworben« zu haben.¹³² Dem entspricht auch, dass sie gegenüber Walter wiederholt die Position Nietzsches einnimmt, der in Der Fall Wagner seine Überwindung genau des Komponisten als Akt der Mannwerdung beschrieb, mit dem Walter regelmäßig in Verbindung gebracht wird.¹³³ Bekanntlich integrierte Nietzsche Wagners Musik, die Walter spielt »wie ein Knabenlaster«,¹³⁴ in einen Geschlechtertext. Er bezeichnete sie als ein Symptom der Degeneration und eines effeminierenden

 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 30.  Ebd., S. 1292.  Ebd., S. 1287.  Bachofen, Das Mutterrecht, S. 230.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 657.  Ebd., S. 980.  Ebd., S. 911.  Ebd., S. 922; im Original keine Hervorhebung.  Vgl. Götz Müller: Ideologiekritik und Metasprache in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. München 1972, S. 26 – 32; Neymeyr, Psychologie als Kulturdiagnose, S. 107– 142.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 49.

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›Mutterrecht‹

Rückfalls und überführte sie so in ein Denkmuster, das wie gesehen schon Bachofens Mutterrechtstheorie inhärent ist. Analog zu dieser Verkehrung der geschlechtlichen Vorzeichen will Clarisse denn auch wie die »männer- und ehefeindliche[n] Amazone[n]«¹³⁵ der antiken Mythologie nur außerhalb konventioneller Familienstrukturen und fast schon gleichermaßen gewaltsam ein Kind zeugen. Sie rückt dem Mann ihrer Wahl, Ulrich, »plötzlich auf den Leib«, weil sie »von ihm und nicht von Walter den Erlöser der Welt« empfangen will.¹³⁶ Allerdings scheitert sie dabei wie die Amazonenkönigin Penthesilea an einem Helden, der ja in frühen Konzeptionen des Romans sogar noch den Namen Achilles hätte tragen sollen: den Namen also des – auch nur schon nach Ausweis einschlägiger Konversationslexika – »schönste[n], schnellste[n] und stärkste[n]«,¹³⁷ »gefeiertste[n] Helde[n] des griechischen Heroentums«.¹³⁸ Herbeigeführt wird die »amazonisch-hetärische Ausartung des Mutterrechts«¹³⁹ nach Bachofen besonders durch »des Mannes Missbrauch«.¹⁴⁰ Fast schon vergleichbar mit dem Krankheitsbild in Freuds und Josef Breuers Studien über Hysterie resultiert das Amazonentum bei Bachofen also gewissermaßen aus einer Art Trauma – ein Diskurskomplex, dem auch Musil bei der ›Ätiologie‹ von Clarisses Amazonentum folgte,¹⁴¹ das immer schon im Kontext ihrer Hysterie lokalisiert ist. Denn wie im nächsten Kapitel noch genauer dargelegt werden soll, lassen sich beides, Hysterie und Amazonentum, ganz buchstäblich auf einen »Missbrauch« ausgerechnet auf dem Schloss der Pachhofens zurückführen. Sie basieren auf einem Vergewaltigungsversuch ihres Vaters, dem sich Clarisse gerade noch entziehen kann, auf einem beinahe begangenen Inzest also, wie er auf Bachofens hetärisch-tellurischer Kulturstufe noch die Regel gewesen sein soll. Just auf das »Schloß« der Pachhofens wird Clarisse und die Familie van Helmond auch »zum erstenmal« von Meingast begleitet,¹⁴² dessen leicht zu

 Bachofen, Das Mutterrecht, S. 87; ders., Urreligion und antike Symbole, Bd. 2, S. 345.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 660.  Herders Conversations-Lexikon. 5 Bände. Freiburg im Breisgau 1854– 1857, Bd. 1, S. 29 f., s. v. ›Achilles‹.  Meyers Großes Konversations-Lexikon. Bd. 1. 61902, S. 79, s. v. ›Achilleus‹.  Bachofen, Das Mutterrecht, S. 231.  Ebd., S. XXIV; vgl. S. 18 f., 128; ders., Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 107; vgl. Bd. 2, S. 285, 289.  In den Nachlassnotizen Musils steht – darauf wird später noch näher einzugehen sein –, Clarisse habe »ein Trauma erlitten«. Musil, Klagenfurter Ausgabe, Transkriptionen / Mappe I/5/ 89.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 292.

Clarisse als ›Amazone‹

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identifizierendes ›Vorbild‹ Ludwig Klages abgab,¹⁴³ der ja mit den »Hauptwerken Bachofens sein größtes literarisches Erlebnis« gehabt haben will. Meingast, der sich seinerseits als schon »völlig erwachsene[r]«, rund Fünfundzwanzigjähriger gegenüber der zehn Jahre jüngeren Clarisse und »alle[n] ihre[n] Freundinnen« »zügellos[]« benahm – während »Walter, der immer […] an zögernder Verdauung litt, genau so, wie seine Entschlüsse zögernd waren«, Clarisse »bloß immerzu« ›ansah‹ –, dieser mittlerweile »berühmte[] Philosoph[]«¹⁴⁴ also schreibt schließlich in der »kriegerische[n] Einfachheit« von Clarisses und Walters Häuschen an einem »Rüstungsbefehl für den Geist neuer Männer«.¹⁴⁵ Als aber Clarisse mit ihrer »Hand« seinen »Arm« umklammert, »wie sich ein vielbeiniges Tier auf sein Weibchen schiebt«,¹⁴⁶ und ihn »in eine[m] Taumel mänadischen Entzückens«¹⁴⁷ nicht mehr loslässt, ergreift der ›Meister‹ mit dem »etwas dürren Oberkörper«¹⁴⁸ im Gegensatz zum achilleischen Ulrich die »Flucht«.¹⁴⁹ Er flieht vor seiner durchweg nur »kleinen«¹⁵⁰ und »knabenhaft[en]«¹⁵¹ Bedrängerin, obwohl deren ›mänadisches Entzücken‹ – wie schon das der »mänadisch begeisterten« AmazonenTöchter auf Hauptmanns Insel – auf Dionysos verweist, und das heißt auf einen anderen »siegreichen Bekämpfer des Amazonenthums«.¹⁵² Dionysos soll die Amazonen zu »schwärmenden Maenaden« gemacht und in sein »Heergefolge« aufgenommen haben.¹⁵³ Meingast also läuft hier vor Clarisse davon und rückt nicht in die Position des Amazonenbezwingers, obschon auch Clarisse seinem ›Gefolge‹ beitreten, sich als sein »Knappe« und »Knecht«¹⁵⁴ definieren und in einem »ritterlich dienende[n] Verhältnis«¹⁵⁵ zu ihm stehen möchte.

 Vgl. Tobias Schneider: Robert Musil – Gustav Donath – Ludwig Klages. In: Musil-Forum 25/ 26 (1999/2000), S. 239 – 252; Pohl, Konstruktive Melancholie, S. 240 – 250.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 439 – 441.  Ebd., S. 782.  Ebd., S. 919.  Ebd., S. 924.  Ebd., S. 828.  Ebd., S. 924.  Ebd., S. 115, 147, 360; vgl. S. 62, 355 f., 362, 661, 791, 922.  Ebd., S. 354; vgl. S. 357, 654 f., 661, 781, 789, 919, 1492.  Bachofen, Das Mutterrecht, S. 231.  Ebd., S. 230 f.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 781.  Ebd., S. 789.

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›Mutterrecht‹

V Diotima als ›Gynaikokratin‹ Unterliegt der »klein[e]«¹⁵⁶ Walter im Geschlechterkampf der ebenso »kleinen« Clarisse, muss der »kleine Sektionschef« Tuzzi sich von der »großartigen«,¹⁵⁷ »göttliche[n]«¹⁵⁸ Diotima schließlich nachgerade demütigen lassen. Mit Diotima, die selbst in Ulrich einen »[u]ralte[n] Kinderschreck vor der Großen Frau« erregt,¹⁵⁹ wird im Mann ohne Eigenschaften der dritte Weiblichkeitstopos evoziert, auf den Bachofen in seiner Mutterrechtstheorie zurückgreift: die erhabene Matriarchin, die mit ihrer »zauberartige[n] Gewalt der weiblichen Erscheinung«¹⁶⁰ und »religiösen Weihe«¹⁶¹ »als Trägerin nicht nur alles leiblichen, sondern auch alles geistigen Wohls an der Spitze der Familie und der ganzen Kultur steht«.¹⁶² In Musils Roman steht die »gebietend[e]«, »schöne Diotima«,¹⁶³ von deren Erscheinung und »edel-frauliche[n] Hoheit« ebenfalls ein »Zauber« ausgeht,¹⁶⁴ an der Spitze der Parallelaktion.Wie Bachofen in der platonischen Priesterin Diotima von Mantinea, in der »Höhe […] ihres Geistes«,¹⁶⁵ in ihrer »hervorragende[n] Erscheinung«¹⁶⁶ und ihrer »hervorragende[n] Stellung«¹⁶⁷ nichts Geringeres als den ›erhabensten‹ »Ausdruck« der Gynaikokratie ermittelt,¹⁶⁸ nimmt also auch Musils Diotima eine »hervorragende Stellung«¹⁶⁹ ein. Auch sie versucht, »Betrachtungen von großer geistiger Höhe« anzustellen,¹⁷⁰ und soll sogar »›hervorragende‹ Ideen bei einer ›hervorragenden‹ Gelegenheit ›hervorragen‹« machen.¹⁷¹ Die männlich codierte Führungsstellung, die die ›Große Frau‹ in der Parallelaktion einnimmt, und die Sitzungen der Aktion in ihrem Salon erschüttern die anfängliche »Überlegenheit«¹⁷² des »kleineren, mageren«¹⁷³ Tuzzi, die lange ein-

 Ebd., S. 64.  Ebd., S. 166; vgl. S. 1133.  Ebd., S. 178; vgl. S. 345, 504, 524, 934.  Ebd., S. 566.  Bachofen, Das Mutterrecht, S. XIV; ders., Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 77.  Bachofen, Das Mutterrecht, S. XII, XIV, 33; vgl. S. 25, 143; ders., Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 72, 77; Bd. 2, S. 385; vgl. Bd. 1, S. 76; Bd. 2, S. 312, 318.  Bachofen, Das Mutterrecht, S. 358.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 174.  Ebd., S. 576.  Bachofen, Das Mutterrecht, S. 358.  Ebd., S. 355.  Ebd., S. 357.  Ebd., S. XVII; Bachofen, Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 85.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 79.  Ebd., S. 424.  Ebd., S. 466.  Ebd., S. 104.

Diotima als ›Gynaikokratin‹

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fach »die des älteren«, später auch noch »die des erfolgreichen Mannes« gewesen ist.¹⁷⁴ Sie irritieren die Arbeitsteilung zwischen intimer Welt der Familie und ›öffentlichem‹ »Amt«,¹⁷⁵ das nun auch Diotima ausübt. Ihr »großartige[r] Frauenkörper«¹⁷⁶ und ihre »imponierend weibliche Fülle«¹⁷⁷ erweisen sich auch als eine Form der Maskerade, um diese »männliche Selbständigkeit« zu verdecken, die sich in ein paar »kleine[n] Härchen« auf ihrer »Oberlippe« immerhin andeutet.¹⁷⁸ Zuerst darf Tuzzi plötzlich nicht mehr »selbst und unmittelbar wissen«, was »in seinem Hause« vorgeht,¹⁷⁹ in dem dafür Arnheim desto gründlicher anwesend ist. Weil für Diotima nicht der »unermeßlich reich[e]«¹⁸⁰ ›global player‹, sondern ihr Gatte die »Geschichtsperiode« verkörpert, in der sie sich »nicht« oder jedenfalls nicht vollständig zu ihrem »wahren Wesen […] erheben« kann,¹⁸¹ schmiedet sie mit Arnheim wie erwähnt sogar Heiratspläne. Dennoch kulminiert die Umkehrung der innerehelichen Geschlechterhierarchie erst, als »dieser Sohn«, als der Arnheim ja trotz seines Alters von »gegen fünfzig Jahre[n]« in den Roman eingeführt wird, von einer Ehe mit Diotima vor allem aus ökonomischen und machtpolitischen Gründen absieht. Jetzt erst macht Diotima nämlich mit der Gynaikokratie als »nothwendige[r] Erziehungsperiode« richtig ernst, in der Bachofen zufolge die Sexualität der Männer zivilisiert wird. Jetzt erst versucht sie mangels einer Alternative, den älteren Tuzzi sexuell umzuerziehen, der sich in der Rolle des Liebhabers wie Bonadeas Gatte, wie Walter, Hagauer, Fischel und Hans Sepp nicht zurechtfindet und dem neu aufkommenden, sexualreformerischen Ideal einer erotisierten Ehe nicht genügt.¹⁸² Deshalb wird Ermelinda Tuzzi nun wie Diotima von Mantinea tatsächlich eine »Dozentin der Liebe«.¹⁸³ Propagiert Platons Diotima aber als eine Art Sokrates ›in drag‹¹⁸⁴ eine sublimierte, geistige Form der Zeugung im homosozialen

 Ebd., S. 1133.  Ebd., S. 104.  Ebd., S. 98.  Ebd., S. 166.  Ebd., S. 375.  Ebd., S. 105.  Ebd., S. 195.  Ebd., S. 96.  Ebd., S. 106.  Vgl. Hanisch, Männlichkeiten, S. 205.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 92.  Vgl. David M. Halperin: Why Is Diotima a Woman? Platonic Eros and the Figuration of Gender. In: Ders., Jack Winkler und Froma Zeitlin (Hg.): Before Sexuality: The Construction of Erotic Experience and the Ancient Greek World. Princeton und New Jersey 1990, S. 257– 308, hier S. 293.

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›Mutterrecht‹

Männerbund, bemüht sich die »von leichter Korpulenz bekleidete Antike«¹⁸⁵ im Mann ohne Eigenschaften mit technizistischen sexualwissenschaftlichen »Belehrungen«,¹⁸⁶ Tuzzis »Fehler« »auszugleichen«.¹⁸⁷ Sokrates soll Diotima um ihre Weisheit bewundert haben, eigens zu ihr gegangen sein, um von ihr zu lernen,¹⁸⁸ und ihr in »empfangender, horchender, hingegebener Stellung«¹⁸⁹ zugehört haben. Tuzzi indessen wird zu seinen Lektionen gezwungen. Der »Gatte einer bedeutenden Frau zu sein« erscheint ihm daher zunehmend als »ein peinigendes und sorgfältig zu verbergendes Leiden«, »in gewissem Sinne ähnlich der Entmannung durch einen Unglücksfall«.¹⁹⁰ Dass das Sexualleben der Tuzzis quasi von einem »Unglücksfall« betroffen ist, legt vielleicht schon die frappante Begründung der ehelichen Kinderlosigkeit nahe. Diotima soll »wegen der Sparsamkeit ihres Gatten« keine Kinder haben,¹⁹¹ der als Sektionschef zu den vierzig bis fünfzig höchsten Beamten des kakanischen Staates zählt¹⁹² und sich eine Vaterschaft eigentlich leisten können müsste. Verraten wird dieser »Unglücksfall« jedenfalls durch Diotimas Lektüre von Paul Möbius’ auflagenstarkem Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes. Gerade bei der Lektüre dieses misogynen ›Klassikers‹ entwickelt Diotima, die sonst »arglos wie ein feuchtes Schwämmchen«¹⁹³ alles repetiert, was sie gelesen hat, eine dezidiert kritische Haltung zu ihrem Lesestoff. Das scheint nicht oder zumindest nicht in erster Linie an Möbius’ Bemerkungen über ›die Dame‹ zu liegen, deren »Thron […] im ›Salon‹« stehe, die »wie eine griechische Göttin in sonniger Schönheit über dem irdischen Dunste« schwebe,¹⁹⁴ »alles weichlich und weibisch« mache und »eins der wichtigsten Zeichen der Fäulnis« der Gesellschaft darstelle.¹⁹⁵ Diotimas kritische Lesehaltung beruht vielmehr auf Erfahrungen aus ihrem Ehealltag. Darin ist sie mit einem anderen physiologischen Manko konfrontiert worden als mit eigenen, »schlechter entwickelt[en]« »Gehirnteile[n]«,¹⁹⁶

 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 109.  Ebd., S. 333.  Ebd., S. 816.  Vgl. Platon: Symposion. In: Ders.: Meisterdialoge. Phaidon. Symposion. Phaidros. Eingeleitet von Olof Gigon und übertragen von Rudolf Rufener. Zürich 1958, S. 104– 181, hier S. 155.  Bachofen, Das Mutterrecht, S. 357.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 334.  Ebd., S. 426.  Vgl. Herbert Kraft: Musil. Wien 2003, S. 156.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 98.  P. J. Möbius: Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes. Halle 81905 (Nachdruck München 1977), S. 56.  Ebd., S. 58.  Ebd., S. 29.

Männliche Rückeroberungen

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die der Neurologe Möbius dem weiblichen Geschlecht zuschrieb und den bildungspolitischen Forderungen der Frauenbewegung entgegenhielt. Diotimas Erlebnisse decken sich im Gegenteil einfach mit »etwas«, das sie »in einem anderen […] Buch« gefunden hat: mit der »physiologische[n] Minderwertigkeit des Mannes«, die darin besteht, dass »der Mann sehr oft, auch wenn er lieben will, nicht« kann – weil sein »männlichster Teil« »sehr leicht einzuschüchtern« ist.¹⁹⁷ Der ›entmannte‹ Tuzzi also laboriert ganz offensichtlich an einer Indisposition, die als sogenannte »Mannesschwäche«¹⁹⁸ Männlichkeit wie keine andere in Frage stellte. Er leidet an einem Defekt, der in medizinischen und sexualwissenschaftlichen Diskursen seinerseits als Chiffre für Nervosität, Neurasthenie, Degeneration und Verweiblichung figurierte und die allgemein wahrgenommene Krise der Männlichkeit schlechterdings verkörperte. »Die Liebesunfähigkeit des Mannes«, lauten die allerersten Sätze von Wilhelm Stekels 1920 erschienener Studie über die Impotenz des Mannes, »nimmt in erschreckendem Maße zu. Die Impotenz ist geradezu die Kulturkrankheit unserer Zeit geworden«.¹⁹⁹ Eingeschüchtert von Diotimas »Liebesschule«²⁰⁰ und ›phallischer‹ »Zuchtrute der Seele«²⁰¹ – die vielleicht von fern an die »Rute«²⁰² der »ganz gynaikokratische[n]«,²⁰³ Männer ebenfalls demütigenden Circe erinnert – setzt Tuzzi mit seiner Verfallsgeschichte des Vaterrechts sozusagen eine Notiz in Szene, die Musil noch 1940 im Tagebuch anfertigte: die »Sexualität«, notierte er sich, »ist die ärgste Gynäkokratie«.²⁰⁴

VI Männliche Rückeroberungen Ihre sexuelle Passivität legen auch die gynaikokratischen Frauen auf Hauptmanns Insel der großen Mutter ab. Die eigentlich in der europäischen Fortschrittsgesellschaft sozialisierten, größtenteils aus Bildungsschichten stammenden Insulanerinnen – unter ihnen sogar ein »weibliche[r] Voltaire«,²⁰⁵ allerdings mit dem  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 885.  Meyers Großes Konversations-Lexikon. Bd. 9. 61907, S. 782, s. v. ›Impotenz‹.  Wilhelm Stekel: Die Impotenz des Mannes. Die psychischen Störungen der männlichen Sexualfunktion. Leipzig, Wien und Bern 21923, S. 1.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 884.  Ebd., S. 886.  Homer: Ilias. Odyssee. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß. Frankfurt am Main 1990, S. 631, 633 (10. Gesang, V. 238, 293).  Bachofen, Das Mutterrecht, S. 364.  Musil, Tagebücher, Bd. 1, S. 797; im Original keine Hervorhebung.  Hauptmann, Die Insel der großen Mutter, S. 774.

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›Mutterrecht‹

sprechenden Namen Kalb – entledigen sich dieser Passivität wie eben aller »Kulturschminke« und nehmen »etwas Naturwesenhaftes« an,²⁰⁶ so dass sich »gleichsam die Moral reiner Tierheit herrschend« macht.²⁰⁷ Ihre matriarchalische, hieratische Kultur konvergiert stereotyp mit ihrer Natur, fällt mir ihr zusammen und entspricht ganz ihrem natürlichen, biologisch bedingten Geschlechtscharakter. Die Kultur der in der Wildnis aufgewachsenen Knaben hingegen ist der Natur entgegengesetzt, bezwingt und überwindet sie. Damit naturalisierte Hauptmann selbstredend traditionelle Geschlechterklischees und zog scharfe, unüberbrückbare Grenzlinien zwischen den Geschlechtern. Im Mann ohne Eigenschaften indessen bleiben die Repräsentationen der mutterrechtlichen Bonadea, Clarisse und Diotima mehrdeutig und inkohärent. Schon die Geschlechtsidentität der ersten im Roman näher eingeführten Frauenfigur, Leonas, wird selbstreferenziell als artifizialisiertes Bild und Zitat aus einer Vergangenheit ausgewiesen, die zeitlich nicht allzu weit von der entfernt sein dürfte, in der Bachofen seine mutterrechtstheoretischen Texte verfasste. Leona erinnert »an alte Photographien oder an schöne Frauen in verschollenen Jahrgängen deutscher Familienblätter«, ihr »Gesicht« besteht aus einer »ganze[n] Menge kleiner Züge, die gar nicht wirklich sein« können.²⁰⁸ In diesem Rahmen erweisen sich auch Bonadea und Diotima – schon über ihre Namen – als Zitate nicht nur aus einem Archiv klassischer Weiblichkeitsmuster, sondern auch und spezifischer der Bachofen’schen Geschlechtertypologie. Der Transfer dieses vermeintlichen Geschlechterwissens aber erfolgt nicht ohne Störung. Durchaus im Sinn von Musils poetologischem Programm und der besonderen Funktion, die er der Literatur bei der Repräsentation von Wissen zuspricht, werden auch die Geschlechter-Formeln Bachofens ins »Grenzgebiet« »der Mehrdeutigkeit«²⁰⁹ fortgeschrieben, verbogen und infrage gestellt. Bonadeas hetärische Konstitution ist wie gesehen nur eine »Täuschung« und Diotima lässt sich vielleicht sogar als Persiflage des Bachofen’schen Typus der gravitätischen Matriarchin lesen.Während Diotima von Mantinea bei Bachofen als ›erhabenster Ausdruck der Gynaikokratie‹ erscheint, spricht Musils Diotima plötzlich im Jargon einer Sexologin. Die platonische Theorie einer spirituellen Liebe wird im modernen Kontext zur Sexualwissenschaft und Sokrates als devoter Zuhörer durch Tuzzi und Bonadea ersetzt, so dass verschiedene Modi des Sprechens über Weiblichkeit,verschiedene Diskurs- und Wissenstypen sich überlagern

 Ebd., S. 759.  Ebd., S. 810.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 22.  Robert Musil: [Von der Möglichkeit einer Ästhetik]. [Ohne Titel – vermutlich vor 1914]. In: Ders., Essays und Reden. Kritik, S. 1327– 1330, hier S. 1327.

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und gegenseitig destabilisieren. Bei Bachofen ist die Gynaikokratie ganz Ausdruck der weiblichen Natur. Diotimas Eigenschaften bei Musil indessen sind alles andere als ursprünglich und naturbedingt. Selbst wenn Diotima einen »Naturlaut« von sich gibt, hat dieser paradoxerweise »höchst unnatürlich[]«²¹⁰ zu sein und zeugt so von ihrer fundamentalen »Unnatur«.²¹¹ Die Identität, die Diotima vorgibt zu haben, konstituiert sie augenscheinlich selbst, auch als eine Form dessen, was Stephen Greenblatt als ›self-fashioning‹ bezeichnet hat: der theatralischen Selbstdarstellung »als eines manipulierbaren, kunstreichen Vorganges«.²¹² Fraglich bleibt, ob im Portrait der amazonenhaften Clarisse die Bachofen’schen Geschlechtertopoi ihrerseits gebrochen werden. Clarisse sorgt zwar reichlich für ›gender trouble‹, die Maskulinität, die sie sich – im Gegensatz etwa zu den von Judith Butler beschriebenen ›cross dressers‹ ohne jede Ironie – selber zulegen will, enthält ihr der Erzähler aber konsequent vor: Die ›bubiköpfige‹²¹³ Clarisse wird konstant als »knabenhaft« beschrieben und in der Position eines androgynen ›boy-girls‹ eingegrenzt. Das Erzählmuster, das Bachofen aus den Amazonenmythen gewinnt, durchbricht sie jedoch in einem der Fortsetzungskapitel, das für den Schlussteil des Mann ohne Eigenschaften vorgesehen war. Die Mythen der Amazonen berichten, so Bachofen, nicht nur von den Niederlagen der Kriegerinnen gegen die versammelte griechische Heldenprominenz. Sie erzählen auch davon, wie die Amazonen ihren ›Irrweg‹ selber einsehen; wie der »Krieg in ein Liebesverhältnis übergeht« und »das Weib erkennt«, dass »Liebe und Befruchtung seine Bestimmung ist«.²¹⁴ Als Walter sich in diesem Fortsetzungskapitel vornimmt, sich sein »Recht als Gatte« gewaltsam zu verschaffen,²¹⁵ Clarisse handgreiflich und über ihren Körper, über ihre sexuelle Differenz eine ›weibliche‹ Geschlechtsidentität zuzuweisen, leitet er mit seinem Gewaltakt keine Peripetie, keinen Umbruch im Geschlechterverhältnis ein. In einem ersten Entwurf aus den zwanziger Jahren wird er von Clarisse sogar noch »besiegt«.²¹⁶ Nun vergewaltigt er sie, wenngleich seine »Kraft nicht ausreicht[], sie ruhig zu überwältigen«, und zwingt sie so eben mit größter »Brutalität« in eine ›weibliche‹ Position.²¹⁷ Anders als die Amazonen in Bachofens  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 818.  Ebd., S. 889.  Vgl. Stephen Greenblatt: Selbstbildung in der Renaissance. Von More bis Shakespeare (Einleitung). In: Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Frankfurt am Main 1995, S. 35 – 47, hier S. 35.  Vgl. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 654.  Bachofen, Das Mutterrecht, S. 8; ders., Urreligion und antike Symbole, Bd. 2, S. 181.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1494.  Ebd., S. 1706.  Ebd., S. 1493 f.

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Interpretation folgt Clarisse danach aber nicht »ihrem Ueberwinder«.²¹⁸ Im Gegenteil macht Musil die desolaten Folgen des erneuten sexuellen Übergriffs auf sie sichtbar. Durch Walters Vergewaltigung wird sie ganz wörtlich und endgültig auf den ›Irrweg‹ gebracht: Sie macht sich gleich nach der Vergewaltigung auf den Weg ins Irrenhaus.²¹⁹ In einem Entwurf zur eingangs erwähnten Geschichte aus drei Jahrhunderten schreibt Musil, seinem Jahrhundert »des gebildeten Bürgers« sehe es »durchaus ähnlich, daß es von dem ganzen Vorstellungskreis nur die Überwindung der Amazonen bewahrt u[nd] daraus so etwas wie der Widerspenstigen Zähmung gemacht ha[be]. Siegreich streicht sich der humanistisch gebildete Mann den Bart«.²²⁰ Auch der »humanistisch gebildete« Bachofen mag sich seinen Backenbart – den man auf einem Portrait in Urreligion und antike Symbole nicht übersehen kann – ›siegreich gestrichen‹ haben, als er eine bessere soziale Stellung von Frauen einer längst überwundenen, niedrigeren Kulturstufe zuordnete. Den Umstand, dass sich Gynaikokratie in den Mythen »überall in ihrer Ausartung und dem durch blutigen Missbrauch der Macht herbeigeführten Untergang« zeigt,²²¹ sah er bloß mnemotechnisch begründet: »Die erschütternden Ereignisse, die den Uebergang begleiten, sind es allein, die so tiefe Wurzeln in der Erinnerung der Menschen zu schlagen vermochten«.²²² Nach der politischen Funktion der Matriarchatsmythen fragte Bachofen nicht. Er las die Mythen also – in Roland Barthes Worten – »nicht als Motiv, sondern als Begründung«.²²³ Musil dagegen reflektiert auch in der publizierten Fassung der Geschichte, in die er den ›Bart des Humanisten‹ nicht mehr übernahm, die legitimatorische Funktion von Amazonensagen. Er erkennt, wie Joan Bamberger es in den siebziger Jahren fordern sollte, im »ideological thrust of the argument made in the myth of the Rule of Women […] the justification it offers for male dominance«:²²⁴ Ein Mann besiegt in offener Feldschlacht das Amazonenheer, und die Amazone verliebt sich in ihren Bezwinger. So ist es in Ordnung! Die Widerspenstigkeit wird gezähmt, sie wirft Schild und Speer weg, und die Männer kichern geschmeichelt in der Runde. Das ist von der alten

 Bachofen, Das Mutterrecht, S. 48.  Vgl. Musil, Klagenfurter Ausgabe, Transkriptionen / Mappe I/5/169 – 172.  Musil, Klagenfurter Ausgabe, Transkriptionen / Mappe III/5/41.  Bachofen, Das Mutterrecht, S. 95; ders.,Urreligion und antike Symbole, Bd. 2, S. 47.  Bachofen, Das Mutterrecht, S. 95; ders., Urreligion und antike Symbole, Bd. 2, S. 47.  Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main 1964, S. 113.  Joan Bamberger: The Myth of Matriarchy. Why Men Rule in Primitive Society. In: Michelle Z. Rosaldo und Louise Lamphere (Hg.): Woman, Culture, and Society. Stanford 1974, S. 263 – 289, hier S. 274. Vgl. auch William Blake Tyrrell: Amazons. A Study in Athenian Mythmaking. Baltimore 1984, S. 63.

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Sage übrig geblieben. Das Zeitalter des gebildeten Bürgers bewahrte von der wilden, jungen Raubfrau, welche danach brennt, ihre Pfeilspitze hinter Mannesrippen zu landen, bloß das moralische Beispiel, wie sich unnatürliche Triebe wieder in natürliche verkehren […].²²⁵

Wenn in Hauptmanns »moralische[m] Beispiel«, zu dem sich Musils ideologiekritische Analyse fast schon wie ein Kommentar ausnimmt, die geistig und handwerklich überlegenen Knaben das amazonische ›Mütterland‹ erobern, geschieht dies denn auch ausdrücklich in einem »der ewig wiederkehrenden Akte der Natur, womit sie von Zeit zu Zeit alles Künstliche von sich abschüttelt«.²²⁶ Der Versuch einer Frauenrepublik hält der »unaufhaltsamen Bildnerkraft der Natur […] nicht stand«.²²⁷ Er kann selbst unter paradiesischen Bedingungen nicht gelingen. Männliche Herrschaft und Überlegenheit erscheinen als biologische, nicht hinterfragbare Gegebenheiten und einer von Frauen regierten Gemeinschaft wird jede politische Überlebenschance abgesprochen. Hauptmann schuf damit einen neuen Matriarchatsmythos in der spezifischen Bedeutung, die Barthes den Mythen verliehen hat: In ihnen, so Barthes, »verlieren [die Dinge] die Erinnerung an ihre Herstellung«,²²⁸ sie verwandeln Geschichte in Natur. Im Mann ohne Eigenschaften zeichnet sich schon in den letzten autorisierten Kapiteln ebenfalls ein vaterrechtlicher Umschwung ab. An der letzten Sitzung der Parallelaktion, an der Ulrich teilnimmt, vernimmt man in »den Gesprächen« »sehr oft die Worte ›männliche Strenge‹ und ›moralische Gesundheit‹«.²²⁹ Vorstellungen von ›Moralität‹, ›Strenge‹, ›Gesundheit‹ und ›Tatkraft‹ finden zu einem Assoziationskonglomerat der Männlichkeit zusammen und partizipieren an einer Rhetorik der Revirilisierung, die vor dem Ersten Weltkrieg grassierte. In den Fortsetzungskapiteln nimmt sich nicht nur Walter vor, Clarisse »›den Mann‹ zu zeigen«.²³⁰ Sogar der »entschieden selbständiger«²³¹ gewordene General Stumm »verurteilt« jetzt mit »Kühnheit« und »trotz Agathes Gegenwart« »die Frau zum Gehorchen«.²³² Hagauer strengt gegen die scheidungswillige Agathe rechtliche Schritte an. Fischel wird, nachdem seine Frau die »Scheidung gegen« ihn »eingeleitet« hat, endlich ein »eigener Mann«,²³³ so dass sich seine Ex-Frau sogar überlegt, ihn wieder zu

        

Musil, Eine Geschichte aus drei Jahrhunderten, S. 590. Hauptmann, Die Insel der großen Mutter, 898. Ebd., S. 846. Barthes, Mythen des Alltags, S. 130. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1007. Ebd., S. 1492. Ebd., S. 1131. Ebd., S. 1117. Ebd., S. 1388.

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heiraten. Und Tuzzis »Rückkehr zu sich selbst«²³⁴ impliziert, dass er die »Weltrettungs- und Vaterlandshebungsgesellschaft seiner Frau« ›umbringt‹²³⁵ und die Führung der Parallelaktion dem Außenministerium und also wahrscheinlich auch sich selber überträgt. Im Gegensatz zu konventionellen Matriarchatsmythen, die männliche Herrschaft, so Bamberger, rechtfertigen »through the evocation of a catastrophic alternative – a society dominated by women«,²³⁶ mündet im Mann ohne Eigenschaften unverkennbar dieser vaterrechtliche Umschwung in eine ›katastrophale Alternative‹: in die Katastrophe des ›abwesenden Zentrums‹²³⁷ des Romans, des Ersten Weltkriegs mit seinen »Millionen Tote[n]«,²³⁸ in den die Versuche der Krisenmänner, einem hegemonialen Männlichkeitsideal wieder zu genügen, geradewegs führen. Das katastrophale Potenzial der Revirilisierungsdiskurse wird mithin evident, die den Weltkrieg wenn nicht verursachten, so doch mit herbeiredeten. Auf Hofrat Professor Schwungs Erkundigung an eben jener männerdiskurslastigen großen Sitzung der Parallelaktion, »was […] eigentlich der Zweck des heutigen Abends« sei, verweist ihn Ulrich direkt an General Stumm »als den geeignetsten Mann unter allen Anwesenden, diese Frage zu beantworten«.²³⁹ Mit dem Krieg als »maskuline[m] Ereignis par excellence«²⁴⁰ findet die Vaterlandsaktion endlich ihre große Idee, ein »machtvolles Auftreten nach außen, das auch auf die« krisenhaften ethnischen, Klassen- und Geschlechter-»Verhältnisse im Innern« der ›imagined community‹ »aufrichtend« wirken soll.²⁴¹ Delegitimiert oder mindestens ambivalent wird die »Gedankenfigur einer überfälligen Rückgewinnung der Männlichkeit«²⁴² aber auch dadurch, dass der männliche und intellektuelle Romanheld sich am vaterrechtlichen Umschwung nicht beteiligt. Ulrich verlässt nach der großen Sitzung die Parallelaktion, zieht sich mit seiner Schwester Agathe in seinen heterotopischen Garten zurück und hilft ihr dabei oder hindert sie wenigstens nicht daran, konsequenter noch als Bonadea, Clarisse und Diotima das Vaterrecht zu demontieren. Agathe bricht unter anderem mit zwei fundamentalen Organisationsprinzipien der vaterrechtlichen Gesellschaft, gleich nachdem mit ihrem Vater eine Personifikation der

        

Ebd., S. 1135. Ebd., S. 1134. Bamberger, The Myth of Matriarchy, S. 279. Vgl. Jonsson, Subject Without Nation, S. 95. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 408. Ebd., S. 1007. Mosse, Das Bild des Mannes, S. 143. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 137. Koschorke, Die Männer und die Moderne, S. 146.

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älteren patriarchalen Generation und Ordnung gestorben ist. Sie hofft im Gegensatz zu Diotima nicht nur auf eine Scheidung, sondern verkündet noch vor dem »kleine[n] eingeschrumpfte[n] Leichnam«²⁴³ des Vaters resolut ihren Entschluss dazu. Sie ist fest entschlossen, ihre Ehe aufzulösen, die als ein prototypischer ›traffic in women‹ zwischen ihrem Vater und Hagauer ausgewiesen wird, einem Männerbund, in dem sie lediglich als Objekt fungierte.²⁴⁴ Sie bricht ganz wörtlich mit dem Recht des Vaters, indem sie sein Testament fälscht, seine Handschrift kopiert und sein letztes Wort zu einem illokutionären Scheitern bringt, um auch die erbrechtlichen Implikationen seines ›male bond‹ mit Hagauer zu beseitigen. Und sie akzeptiert schließlich in den Fortsetzungskapiteln beim Rechtsanwalt auch keine der rechtlich-gängigen Scheidungsursachen. »Matriarchat« und »Vaterrecht«, die Musil schon in einer Notiz zum Mann ohne Eigenschaften von 1927 in einer »ordre d[e] bat[aille]« der »Gedankenschlacht unserer Zeit« einander tabellarisch entgegenstellte,²⁴⁵ blieben für ihn als Thema während der ganzen Entstehungszeit des Romans aktuell. Noch um den Jahreswechsel 1941/42 taucht im Arbeitsheft die Idee der Gynaikokratie wieder auf, in einer Anmerkung, in der auch Bachofens Denkfigur anklingt, dass durch »die Steigerung zum Extreme« »jedes Prinzip den Sieg des entgegengesetzten« herbeiführe:²⁴⁶ »Auf H[itler], den Konkurs der Mann-Ideen«, notierte sich Musil, »wird ein Matriarchat folgen«.²⁴⁷ Und zwei Zeilen weiter unten erwägt er, immer schon unter dem Vorbehalt freilich, dass es nicht umgesetzt werden soll: »Eigentlich müßte im M[ann] o[hne] E[igenschaften] […] die geistige Führung auf Ag[athe] übergehen«.²⁴⁸

     

Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 701. Vgl. Rubin, The Traffic in Women, S. 157– 210. Musil, Klagenfurter Ausgabe, Transkriptionen / Mappe VII/1/168. Bachofen, Das Mutterrecht, XVIII; ders., Urreligion und antike Symbole, Bd. 1, S. 88. Musil, Tagebücher, Bd. 1, S. 811. Ebd.; Hervorhebung im Original.

Im Zeichen des Barts: Das Versagen der Wissenschaften I Musil versus Freud: Der bedrohte Ödipus, Die Versuchung der stillen Veronika In den 1935 veröffentlichten Nachlaß zu Lebzeiten nahm Musil auch eine ›unfreundliche Betrachtung‹ der Psychoanalyse auf, eine Glosse mit dem Titel Der bedrohte Ödipus, die zuerst 1931 in der Zeitschrift Querschnitt erschienen war. Das Motto dieser Glosse stellt dabei von Anfang an klar, dass die Betrachtung, »[o]bwohl boshaft und einseitig«, »keinen Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität« erhebt.¹ An wen alles dieser Seitenhieb auch adressiert sein mochte: In der anschließenden »Kritik« bescheinigt Musil »der Psychoanalyse« also ohne eigenen Objektivitätsanspruch, bei ihr ›gebe‹ »es noch gute alte Zeit«.² Im »Überhandnehmen der Neuerungen und Erfindungen, neben dem sich der Einzelne als ein Nichts« vorgekommen sei, fasse sie den »verkümmerten Einzelnen bei der Hand«.³ »[S]anft magnetisch gestreichelt«, lerne dieser sich »wieder als das Maß aller Dinge fühlen«.⁴ Allerdings, so Musil, befürchte er, »daß es nach ein bis zwei Menschenfolgen keinen Ödipus mehr geben« werde.⁵ Der entspringe nämlich »der Natur des kleinen Menschen […], der im Schoß der Mutter sein Vergnügen finden und auf den Vater, der ihn von dort verdrängt, eifersüchtig sein soll. Was nun«, fragt Musil, wenn die Mutter keinen Schoß mehr hat?! Schon versteht man, wohin das zielt: Schoß ist ja nicht nur jene Körpergegend, für die das Wort im engsten Sinne geschaffen ist; sondern dieses bedeutet psychologisch das ganze brütend Mütterliche der Frau, den Busen, das wärmende Fett, die beruhigende und hegende Weichheit, ja es bedeutet nicht mit Unrecht sogar auch den Rock, dessen breite Falten ein geheimnisvolles Nest bilden. In diesem Sinn stammen die grundlegenden Erlebnisse der Psychoanalyse bestimmt von der Kleidung der siebziger und achtziger Jahre ab, und nicht vom Skikostüm. Und nun gar bei Betrachtung im Badetrikot: wo ist heute der Schoß? Wenn ich mir die psychoanalytische Sehnsucht, embryonal zu ihm zurückzufinden, an den laufenden und crawlenden Mädchen- und Frauenkörpern vorzustellen versuche, die heute an der Reihe sind, so sehe ich, bei aller Anerkennung ihrer eigenartigen Schönheit, nicht ein, warum die nächste Generation nicht ebensogern in den Schoß des Vaters wird zurückwollen.⁶

 Robert Musil: Der bedrohte Ödipus. In: Ders., Prosa und Stücke, S. 528 – 530, hier S. 528. Zuerst erschienen in: Der Querschnitt, 11. Oktober 1931, S. 685 f.  Musil, Der bedrohte Ödipus, S. 528.  Ebd., S. 530.  Ebd.  Ebd.  Ebd.

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Bereits in Die Frau gestern und morgen hatte Musil die Wirkung der Kleidermode auf die Geschlechter-»Revolution«⁷ der zwanziger Jahre hervorgehoben. Die »entscheidende Schlacht« der Frauenemanzipation, meint er dort, sei »am Ende von den Schneidern geschlagen worden«.⁸ Dank ihnen sei »die neue Frau« erst »aus dem Ausnahmezustand der Literatur und aus der Separation der Lebensreformerei vor die Augen des Volks getreten«.⁹ Gleichermaßen bindet er im Bedrohten Ödipus nun die Freud’sche Psychoanalyse zurück an ihren modegeschichtlichen Entstehungszusammenhang und nimmt dadurch auch ihren universalistischen Ansatz und ihre kulturübergreifenden Generalisierungen ins Visier seiner »Kritik«. Im Zeichen des Möglichkeitsdenkens beschreibt er die Ödipus-»Theorie« sozusagen als eine »Narration der Kultur in anatomischer Verkleidung«.¹⁰ Er entlarvt ihre Abhängigkeit von bestimmten ›dress codes‹, einem spezifisch kulturalisierten Weiblichkeitsbild und den in den »siebziger und achtziger Jahre[n]« gegebenen Familienstrukturen. Wegen dieser Abhängigkeit von bereits angealterten Geschlechtervorstellungen enthält die »Theorie« für Musil offenbar ein nostalgisches, im Grunde konservatives Moment. Im Gegensatz zum Selbstverständnis Freuds und seiner Assoziierten scheint er sie hier also – und darin besteht wohl zu einem guten Teil die eigens deklarierte ›Boshaftigkeit‹ der »Kritik« – gerade nicht für eine wissenschaftliche Revolution zu halten; oder zumindest schweigt er sich über ihre wissenschaftlich-revolutionären Aspekte beharrlich aus. Im Gegenteil präsentiert er sie als ein Refugium der »gute[n] alte[n] Zeit« für all jene, die unter der Moderne und ihren »Energien«¹¹ zu leiden haben. Ihnen soll sie einen Fluchtraum anbieten, der von den »Neuerungen und Erfindungen« der »Gegenwart«¹² noch unberührt geblieben ist. Die obendrein mit einem vorwissenschaftlichen Ausdruck so genannte »Heilkunde«¹³ erweist sich dementsprechend nicht wie bei Freud selber als »dritte und empfindlichste« »große« »Kränkung« der »Menschheit«.¹⁴ Sie hat den »Einzelnen« vielmehr gerade zu lehren, sich »wieder als das Maß aller Dinge« zu fühlen. Auf die gleiche Trajektorie des allzu Althergebrachten und Unzeitgemäßen kommt auch die nur scheinbar affirmative Bemerkung zu liegen, dank »der Psy Musil, Die Frau gestern und morgen, S. 1197.  Ebd. Vgl. zu Modefragen in Musils Texten Fleig, Körperkultur und Moderne, S. 155 – 157.  Musil, Die Frau gestern und morgen, S. 1197.  Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Frankfurt am Main und New York 1992, S. 267.  Musil, Der bedrohte Ödipus, S. 529.  Ebd.  Ebd.  Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 294 f.

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choanalyse« würde »dem Familiensinn, den das heutige Leben sonst schon arg vernachlässig[e], […] seine natürliche Bedeutung wieder zurückgegeben«.¹⁵ Nur auf einen ersten Blick affirmativ ist diese Bemerkung, weil das Adjektiv ›natürlich‹ hier kaum dazu taugt, der angeblich so aus der Zeit gefallenen »Theorie« den Stempel des Wahren oder wenigstens Wahrscheinlichen aufzudrücken. Anstatt für deren Wahrheitsgehalt einzustehen, parodiert es wohl lediglich Freuds medizinisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnisanspruch beziehungsweise den Eigendünkel der »Unfehlbarkeit«,¹⁶ den Musil »der Psychoanalyse« unterstellt. Jedenfalls kommt der Vokabel ›natürlich‹ hier, wie bei Musil öfter, eine ironische Note zu. Denn die Prätention des ›Zeitlos-Natürlichen‹ gerät bereits im nächsten Absatz in offenen Widerspruch zur modehistorischen Einbettung und Relativierung dieser »Familien«-Gefühle. Und sie steht zuvor schon in einem schiefen oder eben ironischen Verhältnis zu dem ausgefallenen Beispiel, das in der zweiten Hälfte des betreffenden Satzes für das vermeintlich Naturgegebene folgt und wahrscheinlich die psychoanalytische Methode der gleichschwebenden Aufmerksamkeit auf die Schippe nehmen will. Beispielhaft für die »wieder zurückgegeben[e]« »natürliche Bedeutung« des »Familiensinns« soll nämlich ausgerechnet die Erkenntnis sein, »daß es gar nicht lächerlich erscheint, was Tante Guste gesagt hat, als das Dienstmädchen den Teller zerbrach, sondern, richtig betrachtet, aufschlußreicher ist als ein Ausspruch von Goethe«.¹⁷ In solchem Zusammenhang also muss das Adjektiv seine eigentliche Bedeutung verlieren. Rezeptionsästhetisch kann es das Leserinteresse stattdessen auf seine ideologischen Implikationen lenken. Es kann durch seine Deplaziertheit darauf aufmerksam machen, wie es bisweilen im Dienst einer Rhetorik steht, die das »determinierende Gewicht der Geschichte aufzuheben«¹⁸ und ›ontologisch Kontingentes‹ zu naturalisieren versucht. Derartige Appelle, hinter Vokabeln aus dem Wortfeld des ›Natürlichen‹ das kulturell Gewordene zu entdecken, ließen sich im Mann ohne Eigenschaften geradeso ausfindig machen wie in der Prosaskizze, die dem Bedrohten Ödipus im Nachlaß zu Lebzeiten unmittelbar vorangestellt ist. Die mit einem Eichendorff-Zitat betitelte Skizze Wer hat dich, du schöner Wald..? handelt schlechterdings von der »Unnatur […] der Natur«, der ›Künstlichkeit‹ »des Busens der Natur«.¹⁹ Und im Mann ohne Eigenschaften verwässert der fiktive Autor die Trennlinie zwischen ›nature‹ und ›nurture‹ nicht bloß, indem Diotima, wie

 Musil, Der bedrohte Ödipus, S. 529; im Original keine Hervorhebung.  Ebd.  Ebd.  Barthes, Mythen des Alltags, S. 17.  Robert Musil: Wer hat dich, du schöner Wald..? In: Ders., Prosa und Stücke, S. 525 – 528, hier S. 527 f. Zuerst erschienen in: Berliner Tageblatt, 27. Juli 1927.

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schon zitiert, einen »höchst unnatürlichen Naturlaut« auszustoßen hat. Er lässt, um nur ein weiteres Beispiel anzuführen, Natur und Kultur auch dann aufeinanderprallen, wenn er über die Bedeutung des »nackte[n] Hauptwort[s]« ›Geist‹ und die semantischen Verschiebungen spricht, die der Ausdruck durch adjektivische oder Genitivattribute erfährt (der »Geist der Treue, der Geist der Liebe, ein männlicher Geist, ein gebildeter Geist«): »Es ist so natürlich, daß der Geist als das Höchste und über allem Herrschende gilt. Es wird gelehrt«.²⁰ Angesichts sowohl dieser paradigmatischen Beziehungen als auch der syntagmatischen Beziehungslosigkeit, in der das Adjektiv ›natürlich‹ im Bedrohten Ödipus steht, untergräbt der Ausdruck die Autorität »der Psychoanalyse« eher, als dass er sie stützte. Anstatt sie zu beglaubigen, rückt das Natürlichkeitsattribut die »Theorie« eher in ein verdächtiges Licht. Es setzt sie im hier gegebenen Kontext vielleicht sogar dem Verdacht aus, ihrerseits gewisse »Familien«-Gefühle als naturgerecht oder naturbelassen hinzustellen, deren Künstlichkeit die darauffolgenden modegeschichtlichen Erwägungen gerade enttarnen sollen. Ähnlich wie im Mann ohne Eigenschaften der Titelheld reflektiert, es scheine »ihm recht zu den Menschen der Bürgerzeit zu passen«, das »Schaurige oder Unerlaubte in der zugelassenen Gestalt von Träumen und Neurosen zu bewundern«,²¹ zielte Musil in Der bedrohte Ödipus mithin auf die Entstehungsbedingungen der Ödipustheorie, auf ihre Geschichtlichkeit und zugleich auf ihre ideologisch ambivalenten Weiterungen. Die Theorie des Ödipuskomplexes erweist sich in seiner Glosse als Ausdruck und Folge des Habits im doppelten Wortsinn. Sie erscheint als Reflex auch von historisch spezifischen Geschlechtergewohnheiten, die in den zwanziger Jahren durch die ›neue Frau‹ in Auflösung begriffen waren oder zumindest unter Druck gerieten. Anders aber als seine ebenso witzig-pointierte wie »boshaft[e]« »Kritik« nun vielleicht vermuten ließe – beziehungsweise wie die Anmerkung ihrer ›Einseitigkeit‹ im Peritext eigentlich bereits verrät –, stießen Freuds Thesen bei Musil zwar auf Skepsis, aber keineswegs nur auf Widerspruch. Noch in einem Vorwortentwurf zum Nachlaß zu Lebzeiten versuchte Musil denn auch, die ›Boshaftigkeit‹ und ›Einseitigkeit‹ seiner ›unfreundlichen Betrachtung‹ quasi zu kompensieren. Er lässt »die Psychoanalyse« gewiss auch darin nicht unangefochten gelten und gibt an, ihrem »Wahrheitsgehalt« im Grunde »nicht sehr« zu »traue[n]«, wenngleich er »annehmen« wolle, »er sei groß«.²² Aber trotz dieses anhaltenden, hier allerdings nicht mehr sachlich begründeten Misstrauens spricht er Freuds »Theorie« nun zu, was er ihr im Bedrohten  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 152; im Original keine Hervorhebung.  Ebd., S. 121.  Robert Musil: Fallengelassenes Vorwort zu: Nachlaß zu Lebzeiten ~ Selbstkritik u -biogr. In: Ders., Prosa und Stücke, S. 959 – 974, hier S. 968.

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Im Zeichen des Barts: Das Versagen der Wissenschaften

Ödipus maliziös versagte. Ausdrücklich als Gegengewicht zu seinem ›einseitig‹›boshaften‹ Feuilleton zieht er jetzt ausgerechnet sie heran als ein »gutes Beispiel« nicht für eine altbackene »Heilkunde«, sondern für den aktuellen »Stand des Wissens« und die »Tatsachen« der »Forschung«.²³ Den Bedrohten Ödipus und die darin angemeldeten Bedenken hingegen stuft er verharmlosend zu einem »kleinen Scherz« herab, mit dem er »natürlich vom Recht der Narrenfreiheit Gebrauch« gemacht habe.²⁴ Auch wenn Musil diese versöhnlich-beschwichtigende Aufwertung schließlich nicht in die »Vorbemerkung« des Nachlasses zu Lebzeiten aufnahm und damit in seinen eigentlichen Nachlass verbannte, ist die Passage noch in anderer Hinsicht aufschlussreich. Sie steht kaum von ungefähr in einem Kontext, in dem er den »Charakter« und das Verhältnis von »Wissenschaft« und »Dichtung« näher zu bestimmen versucht.²⁵ Denn seine Rezeption »der Psychoanalyse« schon während der Abfassung seiner formal- und differenzästhetisch vermutlich waghalsigsten Erzählexperimente, der Vereinigungen, animierte Musil, dieses Verhältnis zu überdenken und die Aufgabe von Literatur neu zu definieren. Genauer gesagt dürfte für die beiden 1911 erschienenen Novellen insbesondere seine Auseinandersetzung mit einem Titel aus Freuds psychoanalytischem Frühwerk einschlägig gewesen sein. Von entscheidender Bedeutung war für Musil zumindest in dieser ersten Rezeptionsphase allem Anschein nach eine Untersuchung, die in Literaturkreisen schon um die Jahrhundertwende Epoche gemacht hatte und sensu stricto noch nicht der ›klassischen‹ psychoanalytischen Theorie zugerechnet werden kann (zu deren »Schibboleth« Freud bekanntlich das von Musil ›kritisierte‹ Konzept des Ödipuskomplexes erklärte²⁶). Auf die von Freud und Breuer 1895 gemeinsam veröffentlichten Studien über Hysterie muss Musil spätestens 1904 bei seiner Lektüre von Hermann Bahrs Dialog vom Tragischen aufmerksam geworden sein.²⁷ Aber erst an den Zwei Erzählungen der Vereinigungen, Die Vollendung der Liebe und Die Versuchung der stillen Veronika – beziehungsweise schon an deren älterer, drei Jahre zuvor publizierter Fassung, Das verzauberte Haus –, ist

 Ebd.  Ebd.  Ebd.  Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. In: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 5, S. 27– 145, hier S. 127 f., Anm. 2.  Vgl. Musil, Tagebücher, S. 37 f. Vgl. Oliver Pfohlmann: Von der Abreaktion zur Energieverwandlung. Musils Auseinandersetzung mit den Studien über Hysterie in den Vereinigungen. In: Peter-André Alt und Thomas Anz (Hg.): Sigmund Freud und das Wissen der Literatur. Berlin und New York 2008, S. 169 – 192, hier S. 178; ders., Eine finster drohende Nachbarmacht? S. 353, Anm. 572.

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eindeutig belegbar, dass er die Studien aus erster Hand rezipiert und sich mit ihnen eingehend beschäftigt hatte.²⁸ Wie zuletzt Oliver Pfohlmann aufzeigen konnte, lassen sich die Vereinigungen als Antwort auf die Frage lesen, wie Literatur im Zeitalter von »psychologische[n] Arbeiten« aussehen könnte, die »wie Dichtungen sind«.²⁹ So beschreibt Musil diese Arbeiten noch 1920 in einem Essayfragment und lässt damit Freuds eigenes Verdikt nachklingen, der in den Studien eingestanden hatte, seine »Krankengeschichten« seien »wie Novellen zu lesen«.³⁰ Musil für sein Teil spricht von »Beschreibungen pathologischer Seelenabläufe, die von einer wunderbaren Eindringlichkeit u. so stark gleichnishaft« seien, »daß der Zusatz von Deutung, der große Dichtungen aus ihnen machen würde, kaum entbehrt« werde.³¹ Die Wahrnahme einer solchen Grenzverwischung von Literatur und Wissenschaft weckte offenbar Rivalitätsängste in einem Autor, der nach seinem ersten Roman als »Entdecker von Neu-Seelland«³² gefeiert worden war und der der ›Dichtung‹ zuliebe gerade eben eine Hochschullaufbahn als Psychologe aufgegeben hatte. Das produktionsästhetische Dilemma, das sich für Musil dadurch auftat, scheint schwerwiegend gewesen zu sein. Es erklärt unter anderem den geradezu selbstquälerischen Ehrgeiz, den er nach eigener Aussage während »21/2 Jahre[n], u man kann sagen: beinahe Tag und Nacht«,³³ in seine beiden avantgardistischen Novellen investierte. Musils Reaktion auf diesen Konkurrenzdruck bestand im Entwurf einer Literatur, die sich text- und wirkungsästhetisch von den Fallgeschichten eines »Pseudo-Dichter[s]«³⁴ wie Freud grundlegend unterscheiden sollte. Die poetologischen Reflexionen Musils aus dem Umkreis der Vereinigungen kaprizieren sich auf die Differenz zwischen psychologischer ›Dichtung‹ und der noch jungen

 Vgl. schon Corino, Robert Musils Vereinigungen, z. B. S. 127– 132; Pfohlmann, Von der Abreaktion zur Energieverwandlung; ders., Eine finstere und lockende Nachbarmacht? S. 338 – 350.  Robert Musil: [Psychologie und Literatur]. In: Ders., Essays und Reden, S. 1345 – 1347, hier S. 1347.  Sigmund Freud und Josef Breuer: Studien über Hysterie. In: Freud, Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 75 – 312, hier S. 227. Neben Freuds Fallstudien dürfte Musil damit auch die Krankengeschichten des Berliner Psychologen Konstantin Oesterreich gemeint haben. Vgl. Pfohlmann, Von der Abreaktion zur Energieverwandlung, S. 171; Silvia Bonacchi: Die Gestalt der Dichtung. Der Einfluss der Gestalttheorie auf das Werk Robert Musils. Bern u. a. 1998, S. 94– 99; Fred Lönker: Poetische Anthropologie. Robert Musils Erzählungen Vereinigungen. München 2002, S. 142 f.  Musil, [Psychologie und Literatur], S. 1347.  Ernst Blaß: Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. In: Prager Tageblatt, 7. April 1907.  Robert Musil: [Vermächtnis-Entwürfe]. In: Ders., Prosa und Stücke, S. 951– 959, hier S. 957.  Musil, Tagebücher, S. 435.

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akademischen Disziplin der Psychologie. Mit deutlichen Anklängen an Wilhelm Dilthey oder den Münchner Psychologen Theodor Lipps³⁵ fordert Musil von der Literatur, sich nicht in erster Linie mit der psychohygienisch heilsamen Herstellung von Kausalzusammenhängen zu beschäftigen; mit, wie es im Mann ohne Eigenschaften ja schließlich heißen sollte, der »Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf […] jenen berühmten ›Faden der Erzählung‹«. Vielmehr soll die ›Dichtung‹ quasi »unter dem Vergrößerungsglas«³⁶ und in »kleinsten Schritten«³⁷ individuell-einzigartige Bewusstseinszustände, Gefühle und Wahrnehmungen nacherlebbar machen. Der genuine Aufgabenbereich einer zeitgemäßen Kunst, ihr Wirkungsfeld und ihre gesellschaftliche Relevanz können für Musil nur noch in den »Dinge[n]« liegen, die sich »nicht wissenschaftlich erledigen«³⁸ und »nicht rein begrifflich ausdrücken« lassen.³⁹ Die Literatur für wissenschaftlich gebildete, »begriffsstarke[]«⁴⁰ Menschen, die ihm vorschwebte, darf also nicht die Schilderung von »Tatsachen« und ›Gesetzen‹ zum Ziel haben. Sie hat den singulären »Gefühlswert von Tatsachen« zum Ausdruck zu bringen und – auf dem Fundament der Wissenschaften – das »Erfassen unbekannter Komplexionen bekannter Gesetze«⁴¹ zu ermöglichen. Realisiert hat Musil diese normative Poetik,⁴² indem er die äußere Handlung seiner Erzählungen bis auf wenige Eckpfeiler ausdünnte und dafür das Bewusstseinsleben der Figuren mit dichten Bilderketten zu vermitteln versuchte. Dieser ›overflow‹ des »Bildlichen«⁴³ soll den mitfühlenden und miterlebenden Leser dazu befähigen, sich auch die nicht vollständig verbalisierbaren psychi-

 Vgl. Pfohlmann, Von der Abreaktion zur Energieverwandlung, S. 185 f.  Musil, Fallengelassenes Vorwort zu: Nachlaß zu Lebzeiten ~ Selbstkritik u -biogr., S. 969.  Ebd., S. 972.  Robert Musil: Profil eines Programms. In: Ders., Essays und Reden, S. 1315 – 1322, hier S. 1317.  Ebd., S. 1322.  Robert Musil: Über Robert Musil’s Bücher. In: Ders., Essays und Reden, S. 995 – 1001, hier S. 997; Hervorhebung des Originals.  Robert Musil: Typus einer Erzählung. In: Ders., Essays und Reden, S. 1311.  Der normative Duktus ist u. a. gewiss dadurch zu erklären, dass Musil mit der Mehrzahl dieser Ästhetik-Entwürfe auf die Kritik an seinen Novellen reagieren wollte und entsprechend unter Legitimationsdruck stand. Vgl. dazu, wie Musil auch die eigene Normativität wieder unterläuft, Florentine Biere: Unbekanntes, für das man als erster Worte findet: Robert Musils Novellentheorie. In: Sabine Schneider (Hg.): Die Grenzen des Sagbaren in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Würzburg 2010, S. 53 – 71, hier S. 71.  Brief von Robert Musil an Franz Blei, nach dem 15. Juli 1911. In: Musil, Briefe 1901– 1942, Bd. 1, S. 86 – 88, hier S. 87. Zur Rhetorik der Vereinigungen vgl. Monika Schmitz-Emans: Vom Doppelleben der Wörter. Zur Sprachreflexion in Robert Musils Vereinigungen. In: Hans-Georg Pott (Hg.): Robert Musil – Dichter, Essayist, Wissenschaftler. München 1993, S. 70 – 125, hier S. 102– 106.

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schen Vorgänge einer Figur teilweise anzuverwandeln, ihre ›anderen Zustände‹, Erregungen, ›Vibrationen‹⁴⁴ und »seelischen Kraftstoffe«.⁴⁵ So, durch dieses »Zurückdrängen« vertrauter Erwartungen und des in hohem Maße unvollständigen, ergänzungsbedürftigen »Causalen«⁴⁶ zugunsten neuer »Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen,⁴⁷ würde sich die ›Dichtung‹ ihre Daseinsberechtigung sichern. Die Novellengattung, »in der heute noch Schriftsteller von […] sanftem geistigen Postkutschenrhythmus als Meister« gehandelt würden,⁴⁸ ließe sich dergestalt reformieren. Mit einer in puncto ›gender‹ signifikanten Formulierung, die wie gesehen im Mann ohne Eigenschaften ihrerseits so ähnlich wieder auftaucht, geht es Musil hier schon darum, das »Erzählen vom« ›Ammen‹-⁴⁹ und »Kinderfrauenberuf« zu »emanzipieren«.⁵⁰ Die nachhaltige Bedeutung der Studien über Hysterie für die Vereinigungen geht über diese ›Poetik der Erregung‹⁵¹ freilich hinaus. Intertextuell einschlägig sind die Fallstudien Freuds und Breuers auch für das dezimierte stoffliche Gerüst der Novellen, für die ›Tatsachen‹ oder »psychologischen Gesetzmäßigkeiten«,⁵² auf die die allein noch erzählwürdigen akribischen Beschreibungen der ›Gefühlswerte‹ aufbauen. Zumindest in einer der beiden Novellen ist dieser »Unterbau«⁵³ an die Thesen Freuds und Breuers angelehnt. Das sexualpathologische Motiv der ›stillen‹ Veronika wenigstens scheint der in den Studien skizzierten Ätiologie entlang modelliert zu sein. Beide, Freud und Breuer, betrachten hysterische Symptome darin noch als Resultat psychischer Traumen, die nicht genügend verarbeitet wurden. Eine Abreaktion und Verarbeitung, glaubten sie, sei unterblieben, weil die traumatischen Affekte vom Bewusstsein abgespalten und außerhalb des aktiv verfügbaren Gedächtnisses in ihrer ursprünglichen Intensität konserviert wurden.

 Vgl. Musil, Über Robert Musil’s Bücher, S. 998. Vgl. Sergej Rickenbacher: Vibration des Textes. ›Stimmung‹ in Robert Musils Vereinigungen. In: Ders. und Hans-Georg von Arburg (Hg.): Concordia discors. Ästhetiken der Stimmung zwischen Literaturen, Künsten und Wissenschaften. Würzburg 2012, S. 61– 82, hier S. 75 – 81.  Musil, Über Robert Musil’s Bücher, S. 1000.  Musil, Profil eines Programms, S. 1322.  Musil, Über Robert Musil’s Bücher, S. 997.  Robert Musil: Novelleterlchen. In: Ders., Essays und Reden, S. 1323 – 1327, hier S. 1323.  Robert Musil: Die Kunst der Erzählens. In: Ders., Klagenfurter Ausgabe, Transkriptionen / Mappe IV/3/149.  Musil, Über Robert Musil’s Bücher, S. 999.  Vgl. Pfohlmann, Von der Abreaktion zur Energieverwandlung, S. 188.  Musil, [Typus einer Erzählung], S. 1311.  Ebd.

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Wie die Patientinnen in den Fallbeispielen der zwei Wiener Ärzte »leide[t]« auch die Titelheldin der Versuchung gewissermaßen »an Reminiszenzen«.⁵⁴ Sie laboriert, wie sich Musil für eine frühere Textstufe der Novelle notiert hatte, auch in der Endfassung noch an einem »erotische[n] Jugendtrauma […], durch das viel später«, in der nun erzählten Zeit, manche ihrer »Einbildungszustände akut werden«.⁵⁵ Veronikas Vorstellungen und Phantasien sind ihrerseits durch eine abgespaltene Erinnerung mit motiviert, die sie im genauen Wortlaut des Textes »wie ein[en] fremde[n] Körper«⁵⁶ (bei Freud und Breuer steht »nach Art eines Fremdkörpers«⁵⁷) in sich aufbewahrt hat und die sich nun »mit der vollen Affektkraft neuer Erlebnisse«⁵⁸ zurückmeldet. Ihre sinnliche Erregung und ihre Gefühle einer quasi mystischen Verschmelzung mit dem abgereisten, von ihr bereits totgeglaubten Johannes stehen mit der »Erinnerung« an einen ›anderen Zustand‹ in Zusammenhang, die sie plötzlich wieder heimsucht, »über viele Jahre hinweg, wieder da […], unvorbereitet, heiß und lebendig«.⁵⁹ Sie erinnert sich auf einmal wieder an eine ›unerhörte Begebenheit‹, die sie wohl aufgrund ihrer damals »abscheuliche[n] Angst«⁶⁰ verdrängt hatte: an ein Erlebnis des Selbstverlusts, der Vereinigung und quasi der Tierwerdung,⁶¹ das sie beim Anblick eines sexuell erregten Bernhardiners, in »Konfrontation mit der für Gewalt und Überwältigung stehenden phallischen Sexualität« hatte.⁶²

II Studie über Hysterie: Clarisse Der Rezeptionseffekt, den Freuds ›case studies‹ auf Musil hatten, ist also nicht zu unterschätzen. Bei allen Abwehrreflexen, die »die Psychoanalyse« bei ihm auslöste, ist dieser Effekt auch im Mann ohne Eigenschaften noch einmal greifbar. In der Krankengeschichte Clarisses finden einige der Motive aus der Versuchung erneut zusammen und lassen sich auch weitere Querbezüge zu den Studien ausmachen. Zwar speist sich diese Krankengeschichte aus verschiedenen Wissensvorräten, die in einem spannungsreichen und vertrackten Verhältnis zueinander  Freud und Breuer, Studien über Hysterie, S. 86.  Musil, [Typus einer Erzählung], S. 1311.  Robert Musil: Die Versuchung der stillen Veronika. In: Ders., Prosa und Stücke, S. 194– 223, hier S. 210.  Freud und Breuer, Studien über Hysterie, S. 85.  Ebd., S. 89.  Musil, Die Versuchung der stillen Veronika, S. 204.  Ebd., S. 205.  Vgl. dazu ausführlich Lönker, Poetische Anthropologie, S. 70 – 77.  Pfohlmann, Von der Abreaktion zur Energieverwandlung, S. 183.

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stehen.⁶³ Aber Clarisses psychotische Wahnideen, ihre manische Selbstüberschätzung und ihr eigenartiges, zwischen gewollter Abstinenz und fast schon obsessiver Faszination pendelndes Verhältnis zur Sexualität stehen wie schon erwähnt mit einem Vergewaltigungsversuch in ihrer Kindheit in Verbindung, einem Vergewaltigungsversuch nota bene ihres Vaters. Dabei hat auch sie, wie sich Musil 1931 auf einem Notizblatt für die Fortsetzung des Romans noch einmal vergegenwärtigte, »ein Trauma erlitten«.⁶⁴ Seit diesem Missbrauch mit also offenbar »determinierende[r] Eignung«⁶⁵ ist Clarisse der festen Überzeugung, dass »mit der Lust der Männer« generell »etwas« »nicht in Ordnung« sei,⁶⁶ ja dass Sexualität das »größte[] Gift« darstelle, »das es überhaupt gibt«.⁶⁷ Da ihr Vater seinen Vergewaltigungsversuch genau bei ihrem »Muttermal« »einwärts der Hüfte« abbrach, schreibt sie diesem »Medaillon« nun eine »wunderbare Kraft« zu.⁶⁸ Christlich-religiöse Motive und ihre Neurose kommen hierbei in einen symptomalen Zusammenhang zu stehen. Denn Clarisse glaubt jetzt, »ans Kreuz genagelt«⁶⁹ »die verstreuten Sünden aller auf sich vereinigen«,⁷⁰ und das heißt, die Männer von ihrer Geschlechtlichkeit befreien zu können. Entsprechend versucht sie, ihren Ehemann Walter von seiner künstlerischen Mittelmäßigkeit zu erlösen, indem sie sich ihm sexuell verweigert. Sie stellt sich vor, ausgerechnet den Sexualmörder Moosbrugger durch Handauflegen in einen »schöne[n] Jüngling« zu verwandeln.⁷¹ Sie ist der festen Ansicht, sie als »Auserwählte«⁷² stünde am Anfang der Metanoia Meingasts, sie habe den »leichtfertigen Lebemann« und »zügellosen Freund« in einen sexuell enthaltsa-

 Zu den Anregungen, die Musil aus Kretschmers Medizinischer Psychologie holte, vgl. Wolf, Kakanien als Gesellschaftskonstruktion, S. 685 – 692. Kretschmer hat im übrigen auch Grundgedanken der Studien über Hysterie in sein Lehrbuch übernommen. So ist bei ihm beispielsweise nachzulesen, die »Neurosen Erwachsener« könnten »ihre Wurzeln noch bis in kindliche Sexualerlebnisse zurückstrecken«. Ernst Kretschmer: Medizinische Psychologie. Leipzig 31926, S. 176.  Musil, Klagenfurter Ausgabe, Transkriptionen / Mappe I/5/89.  Sigmund Freud: Zur Ätiologie der Hysterie. In: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 423 – 459, hier S. 428.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 920. Vgl. dazu auch Pekar, Die Sprache der Liebe bei Robert Musil, S. 248.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1679.  Ebd., S. 295; im Original keine Hervorhebung; vgl. S. 437: »Sie nannte diese Stelle an ihrem Leib das Auge des Teufels. An dieser Stelle war ihr Vater umgekehrt. Das Auge des Teufels hatte einen Blick, der durch die Kleider drang; dieser Blick ›faßte‹ die Männer ›ins Auge‹, zog sie gebannt an, aber erlaubte ihnen nicht, sich zu rühren, solange Clarisse wollte«.  Ebd., S. 712.  Ebd., S. 442.  Ebd., S. 146.  Ebd., S. 442.

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men, »berühmten Denker« verwandelt⁷³ und seine jugendlichen Sünden auf sich genommen. Und sie hat obendrein die hybride »Vision«,⁷⁴ sie sei durch ihr »Muttermal« dazu prädestiniert, zur »Gottesmutter« zu werden und »den Erlöser der Welt« zu empfangen.⁷⁵ So unterschiedlich ihre Symptome und ihr Psychogramm auch sind, hängen also sowohl Veronikas als auch Clarisses ›andere Zustände‹ mit einem traumatischen sexuellen Jugenderlebnis zusammen. Die Beziehungslinien zwischen den beiden Figuren- und den Krankengeschichten der Studien sind damit aber noch nicht erschöpft. Parallel zu der in den Studien hergeleiteten Pathogenese verläuft Clarisses »Trauma« auch insoweit, als in ihrem Fall die zwei häufigsten Ursachen gegeben sind, die dort für eine fehlende Abreaktion des traumatischen Ereignisses ermittelt werden. Zum einen machen auch bei ihr »die sozialen Verhältnisse eine Reaktion« zunächst »unmöglich« oder erschweren diese zumindest beträchtlich.⁷⁶ Denn Clarisse ist zum Zeitpunkt des traumatisierenden Missbrauchs de facto und de iure noch völlig abhängig von ihrem Aggressor; sie ist noch minderjährig und muss »noch gehorsam Papa sagen«.⁷⁷ Zum anderen bedrängt ihr Vater sie sexuell, als sie sich in einer Art ›hypnoidem‹ Zustand befindet. So bezeichnen Freud und Breuer eine Verfassung, die das Ausagieren von Affekten behindere und die Abspaltung von Erinnerungen begünstige. Eine derartige Disposition, glaubten sie, sei dann gegeben, wenn ein Teil des Bewusstseins, wie etwa beim Tagträumen, vom restlichen abgesperrt, sozusagen auf ›stand-by‹ geschaltet sei. Das »an sich wirksame[] Trauma« Clarisses jedenfalls fällt buchstäblich in einen »Zustand von schwerem, lähmendem Affekt« und »verändertem Bewußtsein«:⁷⁸ Clarisse kann, als ihr Vater sie nachts in ihrem »stockfinster[en]« Zimmer aufsucht, nicht um Hilfe rufen.⁷⁹ Sie fühlt sich ›sonderbar‹⁸⁰ paralysiert und bekommt in dieser ›condition seconde‹⁸¹ ihrerseits etwas Tierhaftes, so ähnlich wie bereits Veronika in der Versuchung. Denn diese kommt sich, als sie mitten in einer Tagträumerei die Augen aufschlägt und die sexuelle Erregung ihres Bernhardiners bemerkt, »eigentümlich gelähmt« vor, »wie wenn sie selbst auch ein Tier wäre«.⁸² Clarisse für ihr Teil vermag in ihrer Paralyse lediglich einen »Laut« auszustoßen,          

Ebd., S. 441. Ebd., S. 444. Ebd., S. 444, 660; vgl. S. 436. Freud und Breuer, Studien über Hysterie, S. 89. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 293. Freud und Breuer, Studien über Hysterie, S. 90. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 294 Vgl. ebd. Freud und Breuer, Studien über Hysterie, S. 95. Musil, Die Versuchung der stillen Veronika, S. 205.

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»der wie ein Winseln« ist.⁸³ Während der Vater, »ganz zusammengekrampft […] von rücksichtslosem Hunger nach« ihr, in abermals animalischer Manier seinen Arm an ihrem »Körper hinabschlängelt«, bleibt sie »ganz ratlos« und mit »steinerne[r] Angst« liegen.⁸⁴ Obwohl sie sich »bei dem Gedanken« »verabscheut«, dass er die »Reglosigkeit für ein Zeichen des Einverständnisses halten müsse«,⁸⁵ ist Clarisse zunächst nicht imstande, sich dem Vater zu widersetzen. Wie in den Fallbeispielen der Studien also verunmöglicht ihr alienierter Zustand eine angemessene Reaktion. Erst als die ›wandernde‹ Hand des Vaters das Muttermal erreicht, gelingt es ihr doch noch, sich ihm »mit letzter Kraft« zu entwinden und sich »zur Seite« zu drehen.⁸⁶ Damit ist Clarisse von einem ähnlichen traumatischen Erlebnis geprägt wie ein nervenleidendes ›Bergmädchen‹, dessen Fallgeschichte Freud während eines Ausflugs in die Tauern aufgeklärt haben wollte und in den Studien auseinandersetzt. Die junge Kellnerin Katharina, die ihm »soviel leichter« als »die prüden Damen in [s]einer Stadtpraxis« ›beichtet‹⁸⁷ und deren Rede er mitsamt ihrer dialektalen Einschläge wiederzugeben versucht, wurde wie Clarisse von ihrem Vater sexuell belästigt. In beinahe demselben Alter wird auch Katharina – sie ist damals vierzehn, Clarisse fünfzehn, Veronika beim Vorfall mit dem Bernhardiner übrigens ebenfalls vierzehn – von ihrem Vater bedrängt, als sie nachts »im Bette« liegt.⁸⁸ Anders als Clarisse verliert Katharina bei diesem »nächtlichen Überfall«⁸⁹ weder ihr Sprechvermögen, noch zeigt sie Lähmungserscheinungen. Sie entzieht sich dem Vater sogleich, als sie seinen »Körper […] spürt[]« und erwacht.⁹⁰ Aber auch sie reagiert auf den Übergriff mit Ekelreflexen, andauerndem Erbrechen. Darüber hinaus resultieren ihre hysterischen Symptome wie diejenigen Clarisses aus mehreren sogenannten »Partialtraumen«.⁹¹ Sie treten erst richtig auf, als sie den Vater mit ihrer Cousine erwischt, was die Erinnerung an dessen »nächtlichen Überfall« bei ihr assoziativ erst wieder erweckt.

 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 294.  Ebd., S. 294 f; im Original keine Hervorhebung.  Ebd, S. 295.  Ebd.  Freud und Breuer, Studien über Hysterie, S. 192.  Ebd., S. 190. Vgl. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 294. Freilich sprach Freud in diesem spezifischen Fall zuerst von einem Onkel und traute sich erst 1924 richtigzustellen, dass »Katharina nicht die Nichte, sondern die Tochter der Wirtin war, das Mädchen […] also unter den sexuellen Versuchungen [!] erkrankt [war], die vom eigenen Vater ausgingen«. Freud und Breuer, Studien über Hysterie, S. 195, Anm. 1.  Ebd., S. 192.  Ebd.  Ebd., S. 84.

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In erneuter Übereinstimmung mit dem ätiologischen Modell der Studien also muss auch Clarisse nicht nur erdulden, dass ihr Vater seinerseits ein Mädchen ihrer Generation zur Geliebten nimmt, »ganz […] verschossen« ist in ihre erst siebzehnjährige Freundin Lucy Pachhofen.⁹² Vielmehr wird sie sogar wiederholt und von verschiedenen Männern sexuell behelligt. Ihr ›páthos‹ entspringt zumindest einem weiteren traumatischen Erlebnis, zu denen Freud auch ein Jahr nach den Studien, in Zur Ätiologie der Hysterie, zuerst den »Versuch der Vergewaltigung« rechnete, »der dem unreifen Mädchen mit einem Schlage die ganze Brutalität der Geschlechtslust enthüllt«.⁹³ Bereits der schon »völlig erwachsene[]« »zügellose[] Freund« Dr. Meingast nähert sich ihr im »Sommer vor dem Sommer«, das heißt vor dem väterlichen Vergewaltigungsversuch, ohne dass sie sich traute, »zu widersprechen«.⁹⁴ Sie fürchtet sich, »einen blöden Eindruck zu machen«.⁹⁵ Vor allem aber lässt Meingast, als er genau wie ein Jahr später der Vater zahlensymbolisch bezeichnenderweise »um elf Uhr«⁹⁶ in Clarisses Zimmer ›gastiert‹, seinen »Schüler« und »Bewunderer«, den »stämmigen kleinen Georg« Gröschl bei ihr und ihrer Schwester Marion zurück.⁹⁷ Gröschl, der nur wenig älter ist als die beiden Schwestern, steht zunächst »sehr lange« an Marions Bett, ohne dass Clarisse im Dunkeln erkennen könnte, was er dort tut. Dann begibt er sich zu ihr: »Endlich kam seine Hand […] und machte sich an Clarisse zu schaffen. Was er sonst tat, blieb ihr unklar; sie hatte keine Vorstellung davon«.⁹⁸ Clarisses Wahrnehmung und ihre Reaktion oder Nichtreaktion sind dabei bis in den Wortlaut der Beschreibung hinein auf das erzählzeitlich erste ›sexual harassment‹ abgestimmt. Georgs Hand wird wie die des Vaters mit einer »Schlange« verglichen und Clarisse selber in ihrer »starke[n], namenlose[n], ängstliche[n] Aufregung« erneut mit einem »Stein«.⁹⁹ Schon bei diesem ersten Missbrauch am »unreifen Mädchen«

 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 292.  Sigmund Freud, Zur Ätiologie der Hysterie, S. 436.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 439.  Ebd.  Ebd., S. 438. Zur Elf als ›böser Zahl‹ vgl. Heinz Meyer und Rudolf Suntrup (Hg): Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen. München 1987, Sp. 615 f.; Dietz-Rüdiger Moser: Elf als Zahl der Narren. Zur Funktion der Zahlenallegorese im Fastnachtsbrauch. In: Jahrbuch für Volksliedforschung 27/28: Festschrift für Lutz Röhrich (1982/1983), S. 346 – 363. Bei den im Mann ohne Eigenschaften sehr spärlichen und oft nur verwirrenden Zeitangaben deutet die genaue Nennung auf die Wichtigkeit des Erzählten hin. Vgl. zu den Zeitangaben im Mann ohne Eigenschaften z. B. Irmgard Honnef-Becker: »Ulrich lächelte«. Techniken der Relativierung in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Frankfurt am Main, Bern, New York und Paris 1991, S. 32.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 438; vgl. S. 294.  Ebd., S. 438.  Ebd.

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vermag sie »nichts zu sagen«, lässt »alles mit sich geschehen« und ruft genau wie ihre Schwester nicht um Hilfe.¹⁰⁰ Dass es Musil auf diese ›Unreife‹, auf das wie bei Katharina »so frühzeitig verletzte[]« »sexuelle[] Empfinden«¹⁰¹ ankam, zeigen einige gezielte Differenzen der Romanfiguren zu ihren hier leicht identifizierbaren biographischen ›Vorbildern‹. Für seine Clarisse-Kapitel hat Musil die Lebens- und Krankheitsgeschichte von Alice Charlemont Donath umfassend verwertet (und sich damit von seinem Jugendfreund Gustav Donath sogar den Vorwurf eingehandelt, er sei »[b]esessen von der Sucht« zu »entblößen, um jeden Preis[,] nur um der Bloßstellung willen«¹⁰²). Nur war Alice, deren ›Verwandtschaft‹ mit Clarisse sich nicht zuletzt in der Assonanz der Vornamen niedergeschlagen hat, aller Wahrscheinlichkeit nach bereits achtzehn Jahre alt,¹⁰³ als ihr Vater Hugo Charlemont zunächst »nachts« zu ihr kam und danach ein »zweites Mal« »bei einer Spazierfahrt mit ihr« ›spielte‹.¹⁰⁴ Beim ›Modell‹ für Lucy Pachhofen, Hermine Ginzkey, ist der Altersabstand zum fiktionalen Ableger sogar noch deutlicher. Die reale Geliebte Charlemonts war damals nicht in einem ähnlichen Alter wie Alice. Sie war schon eine Generation älter, stattliche neununddreißig.¹⁰⁵ Alice Charlemont selber nahm an, wie ihr Krankenblatt der Psychiatrischen Klinik München ausweist, ein lebensgeschichtlich noch etwas früher angesetzter Missbrauch sei für ihre Erkrankung verantwortlich: »Als Kind von 10 Jahren von einem Schulknaben manuell mißbraucht. Darauf führt P. die Entstehung ihrer nervösen Symptome zurück«.¹⁰⁶ Ob die Ärzteschaft der psychiatrischen Klinik sich von dieser Annahme beeinflussen ließ, ist aufgrund der bei Corino abgebildeten Krankenakte nicht feststellbar. Wahrscheinlicher dürfte sein, dass sie dem Gebot folgte, auf das sich Freud in Zur Ätiologie der Hysterie auch für die neue Therapieform der Psychoanalyse berief: »nicht zuzulassen, daß die Patienten uns unsere wissenschaftliche Meinung über die Ätiologie der Neurose zurechtma-

 Ebd., S. 438 f.  Freud und Breuer, Studien über Hysterie, S. 193.  Gustav Donath: Robert Musil. Hg. von Helmuth Kreysing. In: Musil Forum 25/26 (1999/ 2000), S. 226 – 229, hier S. 229. Seine Strategie, um Donath auszufragen, hielt Musil sogar in seinem Tagebuchheft fest: »R. braucht G. nur zu sagen: Manchmal komme ich mir wie pervers vor, so ist das das Signal, auf das hin G. die intimsten Dinge erzählt«. Musil, Tagebücher, Bd. 1, S. 87.  Alice Charlemont wurde am 21. März 1885 geboren. Die Übergriffe dürften in den Sommerferien 1903 stattgefunden haben. Vgl. Corino, Robert Musil. Eine Biographie, S. 297, 300.  Musil, Tagebücher, Bd. 1, S. 94.  Vgl. Corino, Robert Musil. Eine Biographie, S. 1544, Anm. 17.  Krankenblatt der K. Psychiatrischen Klinik München Nr. 293/10 vom 20. Mai 1910, zitiert nach: Corino, Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten, S. 165.

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chen«.¹⁰⁷ Nach Gründen für das diagnostizierte »[m]anisch-depressive[] Irresein« scheint jedenfalls eher in Alice Charlemonts eigenem Sexualhaushalt gesucht worden zu sein. Denn neben den in Stichworten vermerkten Symptomen steht in der Akte der Befund: »Keine sexuelle Befriedigung bei sinnlicher Veranlagung infolge Vaginismus, Zuneigung zu fremden Männern. / Abneigung gegen Ehemann«.¹⁰⁸ Musil hingegen folgte in seiner literarischen Ausgestaltung oder ›Pathographie‹ allen Modifikationen und Verschiebungen zum Trotz zumindest teilweise der »Meinung« der »Patient[i]n«, die für Clarisse als ›Modell‹ herhalten musste. Dabei unterlief er auch im Romantext selber das klassische psychoanalytische Szenario der Wissensproduktion. Denn bei allen Koinzidenzen, die sich zwischen Clarisses Krankengeschichte und dem ätiologischen Muster der Studien auffinden lassen, unterscheidet sich diese Geschichte davon doch in einem entscheidenden Punkt. Trotz ihres hypnoiden Bewusstseinszustands während des väterlichen Missbrauchs hat Clarisse ihre Erinnerung daran keineswegs abgespalten. Während Veronika ihr »erotisches« Erlebnis noch verdrängte, um sich dann freilich von selber wieder daran zu erinnern, scheint es in Clarisses Fall erst recht keines autorisierten Arztes oder Analytikers zu bedürfen, um die pathogenen Ereignisse zurück ins Bewusstsein zu holen. Der Missbrauch durch den Vater benötigt in ihrem Fall keine Verdrängung, um traumatisch zu wirken. Er ist per se verstörend genug und seine Spuren sind auch durch Abreaktion so leicht nicht zu tilgen. Clarisse schildert Ulrich im Gespräch den Vergewaltigungsversuch aus eigenem Antrieb und sehr detailliert. Musils literarischer Umgang mit psychoanalytischen Wissensbeständen läuft demnach auch in Clarisses Fallgeschichte nicht auf eine glatte Reproduktion und fiktionale Beglaubigung hinaus. Einerseits scheint er für den »Unterbau« dieser Geschichte wie bereits in den Vereinigungen weniger auf ›kanonische‹ als auf sozusagen apokryphe Konzepte der psychoanalytischen Theorie zurückgegriffen zu haben. Andererseits verfährt er mit diesen »Gesetzmäßigkeiten« selektiv. Wie Corino schon für die Vereinigungen beobachten konnte, verleibt Musil auch dem Mann ohne Eigenschaften manche dieser Konzepte nur ein, um wieder andere zu suspendieren.¹⁰⁹ Darüber hinaus hat Musil gerade der Clarisse-›story‹ auch eine Spitze gegen die Psychoanalyse eingeschrieben, die in ihrer Stoßrichtung an die ›Boshaftigkeiten‹ des Bedrohten Ödipus erinnert. Er rezykliert darin ein ›antianalytisches‹ Klischee, gegen das sich Freud sogar publizistisch zu verteidigen  Freud, Zur Ätiologie der Hysterie, S. 425.  Krankenblatt der K. Psychiatrischen Klinik München Nr. 293/10 vom 20. Mai 1910, zitiert nach: Corino, Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten, S. 165.  Vgl. Corino, Robert Musils Vereinigungen, S. 397, Anm. 3.

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genötigt sah und das seinerseits geeignet war, die Psychoanalyse ins Licht des Rückschrittlichen, Altväterischen und Innovationslosen zu rücken. Eingehandelt haben dürfte Freud sich dieses »Vorurteil[]«¹¹⁰ erst durch die Anpassungen, die er nach den Studien über Hysterie an seiner Theorie vornahm. Während darin noch jede Art Trauma am Anfang einer hysterischen Erkrankung stehen konnte, verengte er dieses Grundkonzept bereits ein Jahr später. Schon im Aufsatz Zur Ätiologie der Hysterie führte er hysterische Symptome nun monokausal auf frühkindliche Sexualmissbräuche zurück. Eine Verbindung zwischen Hysterie und infantiler Sexualität zog er auch dann wieder, als er diesen in der Psychoanalyse euphemistischerweise ›Verführungstheorie‹ genannten Ansatz aufgab und die Theorie des Ödipuskomplexes entwickelte. Freud war auf Fälle von Neurosen gestoßen (nicht zuletzt seinen eigenen), bei denen er nicht von sexuellen Missbräuchen ausgehen konnte. Daher kam er »endlich zur Einsicht«, dass die »Berichte« seiner Patientinnen »unwahr seien« und »die hysterischen Symptome sich von Phantasien, nicht von realen Begebenheiten« ableiteten.¹¹¹ Im klassischen ödipalen Schema, das Musil in Der bedrohte Ödipus wie gesehen aufs Korn nimmt, treten an die Stelle traumatischer Erinnerungen also unterdrückte »Phantasie[n] von der Verführung durch den Vater«, die bekanntlich zum »Ausdruck des typischen Ödipuskomplexes beim Weibe« werden.¹¹² Die Krankheitsursache der Hysterie verlagert sich damit vom verdrängten traumatischen Ereignis in die pathogene Verdrängung des eigenen Verlangens. Das Klischee oder »Vorurteil[]«,¹¹³ das Musil mobilisierte, hat mit solchen Verdrängungsleistungen zu tun. Zur Wehr setzen zu müssen glaubte Freud sich mit seinem Aufsatz Über wilde Psychoanalyse gegen zwei miteinander verbundene Populärmythen: erstens, in der Psychoanalyse drehe sich ›alles nur um Sex‹ respektive »das Bedürfnis nach dem Koitus«;¹¹⁴ und zweitens, Neurosen könnten ihr zufolge durch die einfache Befriedigung zuvor verdrängter Geschlechtstriebe geheilt werden. Auf beides kommt Freud in seiner 1910 publizierten Richtigstellung anhand eines Beispiels zu sprechen. Um andere künftig davon abzuhalten, »an ihren Kranken unrecht zu tun«, berichtet er von einem Sprechstunden-Besuch

 Sigmund Freud: Über wilde Psychoanalyse. In: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 117– 125, hier S. 125.  Sigmund Freud: Die Weiblichkeit. In: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 15, S. 119 – 145, hier S. 128.  Ebd.  Sigmund Freud: Über wilde Psychoanalyse. In: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 117– 125, hier S. 125.  Ebd., S. 120.

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einer »älteren Dame«, die zuvor bei einem »jungen Arzt« in Behandlung war.¹¹⁵ Diese Dame »in der zweiten Hälfte der Vierzigerjahre«¹¹⁶ soll seit ihrer Scheidung an Angstzuständen gelitten und ihn, Freud, konsultiert haben, um sich bei einer oder der Autorität schlechthin einen Zweitbefund einzuholen. Denn der junge Arzt hatte sich bei seiner Diagnose auf eine »neue Einsicht« berufen, die man Freud verdanke. Offensichtlich ohne mit psychoanalytischen Leitideen vertraut zu sein,¹¹⁷ hatte er der ›älteren Dame‹ in Freuds Namen eröffnet, »daß die Ursache ihrer Angst ihre sexuelle Bedürftigkeit sei. Sie könne den Verkehr mit dem Manne nicht entbehren, und darum gebe es für sie nur drei Wege zur Gesundheit, entweder sie kehre zu ihrem Manne zurück, oder sie nehme einen Liebhaber, oder sie befriedige sich selbst«.¹¹⁸ Dieser junge Arzt, dem Freud vorwirft, mit seinem Un- oder Halbwissen kursierende »Vorurteile« gegen die Psychoanalyse zu festigen und ihrer Reputation zu schaden – dieser ignorante ›wilde Analytiker‹ nun erhält in den Fortsetzungsentwürfen des Mann ohne Eigenschaften gewissermaßen ein Pendant. Sein Wiedergänger allerdings erscheint nicht wie bei Freud selber im Rang eines ›outcasts‹, der zu den »wissenschaftlichen Lehren der Psychoanalyse«¹¹⁹ auf Distanz gehalten werden soll. Im Gegenteil ist Musils Figur eben darauf angelegt, die von Freud beklagten »Vorurteile« erneut abzurufen und an die schulgerechte Psychoanalyse zurückzubinden. Wie Freuds unberufener ›junger Arzt‹ bei seiner Patientin bringt auch Clarisses eigener Bruder die neurotischen Symptome seiner Schwester mit ihrer sexuellen Abstinenz in Verbindung. Der seinerseits noch ziemlich junge Mediziner erteilt seinen Ratschlag aber nicht der Patientin selber; sondern er stiftet, viel schlimmer, seinen Schwager damit an, Clarisse zu vergewaltigen. Seine gleichsam verwilderte Analyse nimmt er dabei nicht im, sondern sozusagen mit dem Namen Freuds vor. An seiner »Kranken unrecht tu[t]« er mit einem Figurennamen, der mit Freuds eigenem ›boshafterweise‹ bis auf das Dehnungs-e übereinstimmt. Der Wiener Doktor Siegmund also beteuert mit »ärztlicher Gewissenhaftigkeit« und einem bildungsbürgerlichen Faust-Zitat, der »Weiber Weh und Ach« sei »immer

 Ebd., S. 118 f.  Ebd., S. 118.  Freud nennt den Begriff der »Psychosexualität«, die Idee einer intrapsychischen Abwehrinstanz (»innere []Widerstände[]«) und die Technik der »Übertragung«. Ebd., S. 120, 123 f.; Hervorhebungen des Originals.  Ebd., S. 118.  Ebd., S. 120.

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von dem gleichen Punkt aus zu kurieren«.¹²⁰ Clarisse sei so »auf andere Ideen [zu] bringen«, »[w]ie es ein Mann eben tut«:¹²¹ »Du mußt ordentlich anpacken, auch wenn sie sich wehrt!«¹²² Mit diesem ›Therapie‹-Konzept ist Siegmund einem Vorstellungsfeld verpflichtet, dessen Alter auch hinter »die herrliche alte Zeit der Postreisen« weit zurückreicht, mit der Musil die Psychoanalyse im Bedrohten Ödipus assoziierte (so ähnlich wie in der zeitgenössischen Novelle ja noch der »Postkutschenrhythmus« vorherrschend sein sollte).¹²³ Der Coup der Glosse, die Psychoanalyse und ihre »Novellen« ins Licht beziehungsweise in den Schatten des Reaktionären und Anachronistischen zu stellen, findet also im Mann ohne Eigenschaften mit der Namensreminiszenz an Freud gewissermaßen eine Fortsetzung. Die »Einsicht« und die »Ideen«, an die Siegmund und der von Freud gerügte ›junge Arzt‹ mit ihren Diagnosen anschließen, könnten ihrerseits sozusagen ›aus Omas Klamottenkiste‹ stammen. Freuds wilder Analytiker, der sie als Neuigkeit verkaufte, war allem Anschein nach nicht nur in der psychoanalytischen Theorie, sondern auch medizinhistorisch wenig beschlagen. Zurückverfolgen lässt sich die Geschichte dieses im Grunde längst obsolet gewordenen Ideenfelds bis ins alte Ägypten.

 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 925. Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Eine Tragödie. In: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. von Erich Trunz. München 1998, Bd. 3, S. 7– 145, hier S. 65 (Verse 2024– 2026).  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 925.  Ebd., S. 927.  Musil, Der bedrohte Ödipus, S. 529. Wenn in seiner »Jugendzeit«, schreibt Musil dort, »einer von uns Knaben von einem anderen mit Beschimpfungen so überhäuft wurde, daß ihm beim besten Willen nichts einfiel, den Angriff mit gleicher Kraft zu erwidern, so gebrauchte er einfach das Wörtchen ›selbst‹«. Beim »Studium der psychoanalytischen Literatur« nun habe er »wahrnehmen« können, »daß man allen Personen, die vorgeben, daß sie nicht an die Unfehlbarkeit der Psychoanalyse glauben, sofort nachweist, daß sie ihre Ursachen dazu hätten, die natürlich wieder nur psychoanalytischer Natur seien. Es ist das ein schöner Beweis dafür, daß auch die wissenschaftlichen Methoden schon vor der Pubertät erworben werden«. Durch »diesen Gebrauch der ›Retourkutsche‹« aber erinnere die Psychoanalyse »zwar unbewußt, doch beileibe nicht ohne tiefenpsychologischen Zusammenhang« »an die herrliche alte Zeit der Postreisen«. Auch gegen diesen »ebenso kränkende[n] wie ungerechte[n]« Vorwurf hat Freud sich übrigens 1937 eigens zu verteidigen versucht. Sigmund Freud: Konstruktionen in der Analyse. In: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 16, S. 43 – 56, hier S. 43: »Er [ein sehr verdienter Forscher] sagte, wenn wir einem Patienten unsere Deutungen vortragen, verfahren wir gegen ihn nach dem berüchtigten Prinzip: Heads I win, Tails you lose. Das heißt, wenn er uns zustimmt, dann ist es eben recht; wenn er aber widerspricht, dann ist es nur ein Zeichen seines Widerstandes, gibt uns also auch recht. Auf diese Weise behalten wir immer recht gegen die hilflose arme Person, die wir analysieren, gleichgiltig wie sie sich gegen unsere Zumutungen verhalten mag«.

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Bereits in der alt-ägyptischen Medizin wurden bestimmte somatische Beschwerden bei Frauen auf eine Veränderung der Position der Gebärmutter zurückgeführt.¹²⁴ Davon gehen auch die hippokratischen Schriften aus, in denen solche Körperbeschwerden einen gemeinsamen Namen erhalten. Sie werden dort als ›pnix hysterike‹ bezeichnet, als »durch die ›Gebärmutter hervorgerufene Erstickung‹«.¹²⁵ Für die Positionswechsel des Uterus machte man einen Feuchtigkeitsmangel verantwortlich, der entweder durch sexuelle Abstinenz oder übermäßige Menstruation herbeigeführt würde. Wenn die Gebärmutter auszutrocknen drohe, würde sie feuchtere Körperregionen aufsuchen und dort je spezifische Krankheitssymptome hervorrufen. Damit war das Krankheitsbild der Hysterie von allem Anfang an mit der Vorstellung einer sexuellen Ätiologie verknüpft und exklusiv an das weibliche Geschlecht gebunden. Die beste Therapie dafür, glaubt auch Platons Timaios, könne nur in einer Heirat und Schwangerschaft bestehen. Es wird das, was man Gebärmutter und Uterus nennt und was ein auf Kindererzeugung begieriges Lebewesen in ihnen ist, wenn es entgegen seiner Reife lange Zeit ohne Frucht bleibt, unwillig und nimmt es übel, irrt allenthalben im Körper umher, versperrt die Durchgänge der Atemluft, läßt das Atmen nicht zu, bringt die Frauen in äußerste Ratlosigkeit und führt zu mannigfachen Krankheiten, solange bis die Begierde und der Trieb der beiden Geschlechter sie zusammenbringen, gleichsam von den Bäumen die Frucht pflücken, in die Gebärmutter wie im Ackerland auf Grund ihrer Winzigkeit unsichtbare und ungestaltete Lebewesen aussäen und sie wieder gliedern, im Innern großziehen und hiernach ans Licht bringen.¹²⁶

Diese Verflechtung von Sexualität, Hysterie und weiblicher ›Natur‹ nun konnte sich, selbst als längst erwiesen war, dass die Gebärmutter im Körper nicht herumvagabundiert, über Jahrhunderte halten. Sie stellt damit eines der besten Beispiele dafür, wie »der Körper der Frau […] als ein gänzlich von Sexualität durchdrungener Körper analysiert – qualifiziert und disqualifiziert« und »aufgrund einer ihm innewohnenden Pathologie […] in das Feld der medizinischen

 Vgl. Silvia Kronberger: Die unerhörten Töchter. Fräulein Else und Elektra und die gesellschaftliche Funktion der Hysterie. Innsbruck, Wien, München und Bozen 2002, S. 34. Zur Geschichte der Hysterie vgl. auch Regina Schaps: Hysterie und Weiblichkeit. Wissenschaftsmythen über die Frau. Frankfurt am Main und New York 1992; Horst Thomé: Autonomes Ich und ›Inneres Ausland‹. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848 – 1914). Tübingen 1993, S. 196 – 228; Elisabeth Bronfen: Das verknotete Subjekt. Hysterie in der Moderne. Berlin 1998, S. 107– 164.  Schaps, Hysterie und Weiblichkeit, S. 19.  Platon: Timaios. In: Ders.: Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch. Hg. von Gunther Eigler. Darmstadt 1972, Bd. 7, S. 1– 210, hier S. 207, 91 c–d.

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Praktiken integriert« wurde.¹²⁷ Im neunzehnten Jahrhundert, in dem sich der medizinische Diskurs zunehmend zu einer moralisch-sittlichen Regulierungs- und Disziplinierungstechnologie entwickelte, wurde Hysterie zwar bisweilen nicht mehr als ein organisches, sondern auch als psychosomatisches Leiden definiert (zum Beispiel als psychopathologische Folge exzessiver Lektüre¹²⁸). Der Konnex zwischen weiblichem Begehren und den proteischen Krankheitserscheinungen der Hysterie blieb aber in vielen medizinischen Schriften erhalten. Richard von Krafft-Ebing beispielsweise schrieb in seiner epochalen Psychopathia sexualis, »[ä]usserst häufig« sei »bei dieser Neurose auch das sexuelle Leben abnorm, bei belasteten Fällen wohl immer«.¹²⁹ Dabei sei »das Sexualleben« der Hysterikerinnen häufig entweder »krankhaft erregt« oder aber durch »Frigidität« gekennzeichnet, »meist auf Grund genitaler Anästhesie«.¹³⁰ Sowohl sexuelle Abstinenz als auch eine erhöhte Libido – wie sie im Befund des »Vaginismus« und der »sinnliche[n] Veranlagung« auf Alice Charlemonts Krankenblatt ja gedoppelt auftauchen – sollten sich pathogen auswirken. Wenn der Mediziner Siegmund seinem Schwager Walter rät, Clarisse zu vergewaltigen, tradiert und aktualisiert er also einen medizingeschichtlich antiken Topos, dessen Persistenz für den Zusammenhang von Wissen, Macht und Geschlecht geradezu beispielhaft ist. Dass Walter selber von ähnlichen Vorstellungen geprägt ist und vielleicht sogar einen uterinen Ursprung der Hysterie vermutet, klingt mindestens an, wenn er von Clarisses »Kaverne des Unheils«, ihrem »geheimen Hohlraum« und »geheimen leeren Raum« spricht, »wo es an Ketten« – dem Bandapparat der Gebärmutter? – reiße, »die eines Tages ganz nachlassen« könnten.¹³¹ Freud für sein Teil rückte mit dem Paradigmenwechsel von der Trauma- zur Trieb-»Theorie des Ödipuskomplexes« den inneren Zusammenhang von Hysterie und gehemmtem Begehren erneut in den Mittelpunkt des Interesses und mag damit selber noch ein Stück weit im Bann solcher Denktraditionen gestanden haben. In seinem Aufsatz Über wilde Psychoanalyse schlägt er gegenüber dem ›jungen Arzt‹, den er zuvor belehrte, zuletzt sogar versöhnliche Töne an. Obwohl  Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen. Frankfurt am Main 1977, S. 126.  Vgl. Philippe Pinel: Nosographie philosophique où la méthode de l’analyse appliquée à la médicine. Paris 1813, S. 285.  von Krafft-Ebing, Psychopathia sexualis, S. 367.  Ebd., S. 368.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 62 f. Vgl. Neymeyr, Psychologie als Kulturdiagnose, S. 225. Ludwig Klages übrigens empfahl dem mit ihm befreundeten Gustav Donath als bestes Mittel gegen Alices »hysterische Erregung« ebenfalls ein »Kind«. Brief von Ludwig Klages an Gustav Donath vom 3. Dezember 1909, zitiert nach: Corino, Robert Musil. Eine Biographie, S. 451.

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dieser Kollege der therapeutischen ›Dramaturgie‹ der Psychoanalyse nicht gefolgt sei und die inneren Widerstände seiner Patientin deshalb nicht habe bezwingen können, habe er es »in Wahrheit« doch häufig erlebt, daß ein so ungeschicktes Vorgehen, wenn es zuerst eine Verschlimmerung im Befinden des Kranken machte, ihm am Ende doch zum Heile gereicht hat. Nicht immer, aber oftmals. […] Für den Fall der Dame, deren Anklage gegen den Arzt wir gehört haben, möchte ich meinen, der wilde Psychoanalytiker habe doch mehr für seine Patientin getan als irgendeine hochangesehene Autorität, die ihr erzählt hätte, daß sie an einer »vasomotorischen Neurose« leide. Er hat ihren Blick auf die wirkliche Begründung ihres Leidens oder in dessen Nähe gezwungen, und dieser Eingriff wird trotz alles Sträubens der Patientin nicht ohne günstige Folgen bleiben.¹³²

Im Mann ohne Eigenschaften hingegen zieht Siegmunds Therapievorschlag ausgesprochen ›ungünstige‹ »Folgen« nach sich. Sein nicht gerade brüderliches Rezept ist wenig geeignet, Clarisse von ihrer Überzeugung abzubringen, dass »mit der Lust der Männer« »etwas« »nicht in Ordnung« sei. Walter antwortet ihm zwar zunächst noch im Sinn von Musils Ödipus-»Kritik«, die »medizinische Überschätzung des geordneten Geschlechtslebens« sei »überhaupt von gestern«.¹³³ Aber schon da lässt ihn eine tiefsitzende ›gender anxiety‹ befürchten, »daß man von ihm sagen könnte, er sei kein Mann«.¹³⁴ Als diese Angst vor dem Verlust seiner Männlichkeit in den Fortsetzungsentwürfen wie schon erwähnt in »Brutalität« umschlägt, muss Walter während seines »widerliche[n] Auftritt[s]« freilich feststellen, dass sein Opfer »so häßlich« aussieht »wie eine Wahnsinnige«.¹³⁵ Bereits in einer Notiz Mitte der zwanziger Jahre hatte Musil vermerkt, die Vergewaltigung werde bei Clarisse die ›beginnende Manie‹ auslösen, einen ›hypersthenischen Zustand‹;¹³⁶ und auch in seinen letzten Plänen sollte Clarisse sich nach dem erneuten Übergriff »[f]reiwillig aus dem Leben ins Irrenreich« verabschieden.¹³⁷ Dabei kündigt sie Walter ihre Rache an und lässt ihn »schwören, sie nicht mehr anzurühren, ehe sie es ihm erlaube«: Von seiner Verzweiflung u Hilflosigkeit wich da sein ganzes Mannesleben zurück, er warf sich auf die Knie u. bat sie mit erhobenen Händen, ihm zu verzeihn, so wie er einst gegen Schläge gebeten hatte; es fiel ihm nichts anderes mehr ein. […] Aber Cl. verzieh ihm nicht.¹³⁸

      

Freud, Über wilde Psychoanalyse, S. 125. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 929. Ebd. Ebd., S. 1563. Vgl. Musil, Klagenfurter Ausgabe, Transkriptionen / Mappe VII/6/364. Ebd., Transkriptionen / Mappe I/5/231. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1564.

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III Die Bärte der Wissenschaft Der en bloc negative Eindruck, den Siegmund als ärztliche Autorität im Mann ohne Eigenschaften macht, seine mangelnde Kompetenz und fehlende moralische Integrität nun sind paradigmatisch für das klägliche Bild, das viele der männlichen Figuren nicht nur als Familien-, sondern auch als Berufsmänner abgeben, insbesondere in der Staatsverwaltung und der Wissenschaft. Diese Autoritätskrise der staatlich instituierten Führungsschichten äußert sich je unterschiedlich. Bei den ›Technikern des Apparats‹,¹³⁹ den kakanischen Administrationsorganen manifestiert sie sich in der Vergeblichkeit ihrer Bemühungen, das habsburgische Reich weiter zusammenzuhalten. Im Feld der Wissenschaften hingegen hat die Krise mehrere Gesichter. Sie zeigt sich dort auch in den ideologisch antiquierten und desto verhärteteren Kleinkriegen, die sich Juristen und Psychiater unter- und gegeneinander liefern. Sie kommt im obsolet gewordenen idealistischen und deduktiven Denken zum Ausdruck, mit dem besonders die Rechtswissenschaften und die Pädagogik an der empirischen Wirklichkeit und an neueren subjekttheoretischen Erkenntnissen vorbei argumentieren. Und sie wird am Unvermögen auch der natur- und technikwissenschaftlichen Spezialisten evident, ihre fortschrittsorientierte wissenschaftliche Grundhaltung auf Fragen außerhalb ihrer ausdifferenzierten Fachrichtungen auszuweiten. Trotz ihrer Vielgesichtigkeit steht die ›institutionelle‹ Krise aber im Zeichen eines ganz bestimmten Gesichtsmerkmals. Und zwar wird sie ausgerechnet durch eine Chiffre markiert, die traditionell als besonders zuverlässiger Index von Männlichkeit verstanden wurde. Sie wird durch ein Merkmal angezeigt, von dem beispielshalber Hermann Hauff in seiner Geschichte der Moden und Trachten 1840 schreiben konnte, es mache »die Periode« kenntlich, »welcher der Mann angehört«.¹⁴⁰ Obgleich Musils Romancharaktere in der Regel wie angesprochen nur wenige, wenn auch desto aufschlussreichere Körperattribute haben, bleibt der Bartwuchs eigentümlicherweise bei kaum einer der Männerfiguren unerwähnt, und seien sie auch noch so peripher. Im Mann ohne Eigenschaften figuriert der Bart in allen seinen Varianten weniger als ›marker of sex‹ denn als ›marker of style‹. Er kennzeichnet in einer Zeit, in der »fast alle modischen Männer sich glatt rasieren«

 Max Weber: Deutschlands künftige Staatsform. In: Ders.: Gesammelte politische Schriften. Hg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 51988, S. 448 – 483, hier S. 478.  H[ermann] Hauff: Moden und Trachten. Fragmente zur Geschichte des Costüms. Stuttgart und Tübingen 1840, S. 251. Otto Weininger übrigens wollte in der »Wirkung« dieses Merkmals »auf die Frau« sogar ein »Abbild der Wirkung des männlichen Gliedes selbst« sehen. Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. Wien und Leipzig 1903 (Nachdruck München 1980), S. 338, Anm. 1.

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lassen,¹⁴¹ seine Träger als Repräsentanten von Einstellungen und Positionen, die sich wie Siegmunds fataler Vorschlag als regressiv und überholt oder zumindest als »unmodern«¹⁴² erweisen. Graf Stallburg trägt »wirklich jenen eisgrauen, kurzen, am Kinn ausrasierten Backenbart, den alle Amtsdiener und Eisenbahnportiers in Kakanien« in Imitation der kaiserlichen Vater-Imago, des hierfür stilprägenden Franz Joseph ›besitzen‹.¹⁴³ Entsprechend gleicht der Polizeipräsident, dem Ulrich nach seiner Verhaftung vorgeführt wird, dem Grafen aufs Haar. Auch er schmückt sich mit dem »geteilten Backenbart, den er«, der Romanprotagonist, »nun schon« kennt.¹⁴⁴ Graf Leinsdorf sodann hat (auch schon in den älteren Textstufen, als er noch Graf Bühl heißt¹⁴⁵) einen »Knebelbart«, durch den er sogar »an die Bilder böhmischer Aristokraten aus der Zeit Wallensteins« erinnert.¹⁴⁶ Tuzzis »gekräuselte[s] Bärtchen«¹⁴⁷ wird seinerseits immer wieder erwähnt, ob sich nun seine »Oberlippen« wegen der Schwierigkeiten, die ihm Diotima macht, »schamvoll« einziehen¹⁴⁸ oder ob sie anfangen, neurasthenisch zu »zucken«.¹⁴⁹ Und General Stumm von Bordwehr lässt sich ebenfalls einen »kleinen Bart«¹⁵⁰ stehen, eine »kleine[] Lippenbürste«,¹⁵¹ über die er im Gespräch mit Diotima, ohne sich dessen bewusst zu sein, mit einem psychoanalytisch-sexualsymbolisch leicht motivierbaren »kleine[n] Bürstchen aus der Hosentasche« »hin und her« fährt.¹⁵² Unter den Wissenschaftlern erhält Professor Schwung einen »weiße[n] Stoppelbart«, der sozusagen auf der Bartebene in der gleichen chiastischen Umkehrfigur zu den »weiße[n] Bartstoppeln« von Ulrichs Vater steht,¹⁵³ die auch der strafrechtlichen Gegnerschaft der beiden Herren zugrunde liegt; der Frage, ob »das Denken im Wollen« oder »der Wille im Denken bestimmt« ist.¹⁵⁴ Hagauer, einer der beiden sich ihrerseits feindlich gesinnten Professoren der Pädagogik,

             

Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 421. Vgl. ebd., S. 197. Ebd., S. 84 f. Ebd., S. 161. Vgl. Musil, Klagenfurter Ausgabe, Transkriptionen / Mappe VII/3/246. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 90. Ebd., S. 412; vgl. S. 195, 415, 803. Ebd., S. 412. Ebd., S. 803. Ebd., S. 321. Ebd., S. 267. Ebd., S. 267, 321. Ebd., S. 700. Ebd., S. 317 f.

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trägt einen »borstigen Schnurrbart«,¹⁵⁵ unter dem sich seine »etwas wulstigen Lippen« auf unappetitliche Art verliebt runden.¹⁵⁶ Seinem Antipoden in paedagogicis, Professor Lindner, wird ein gleichfalls immer wieder ins Bild gerückter »dünne[r]«, »schüttere[r] Bart« buchstäblich angehängt.¹⁵⁷ Um »seine Lippen« ›bewegen sich‹ »Bartfäden«,¹⁵⁸ die in Kontrast zu diesen »aufgeworfene[n], weiche[n] Lippen«, zu seiner »ursprünglich wohl weibischen Anlage« »wie eingepflanzt« wirken.¹⁵⁹ In diese ›Fäden‹ muss er sich von der »arrogante[n] Eroberin«¹⁶⁰ Agathe einmal unversehens hineinlangen lassen, gerade als er über die Verhüllung des Nackten in der Kunst spricht. Darauf hat er, um die sexualsymbolische Signifikanz auch dieses Coups noch zu bekräftigen, »mit Zeichen keuschen Erschreckens« zurückzufahren.¹⁶¹ Siegmund überdies, der mit seinem medizinisch autorisierten Ratschlag, Clarisse »ordentlich« anzupacken, wie gesagt auf physiologisch längst widerlegte Denkmuster rekurriert, wird wenigstens mit einem »Schnurrbärtchen«¹⁶² bestückt. Und selbst den psychiatrischen Gerichtsgutachter Dr. Pfeifer verunzieren »ungepflegte Bart- und Haarstummel«, deren (im Fall eines Mediziners besonders suspekte) mangelnde Hygiene mit seinen ›schmutzigen‹, »von Zigaretten und Zigarren« »ölig[en]« »Nägel[n] an seinen Fingern« korrespondiert.¹⁶³ Im Mann ohne Eigenschaften also wird ein ganzer Katalog an Bärten und Bärtchen aufgestellt: Auch Walter trägt »einen kleinen Schnurrbart, ein Bürstchen«;¹⁶⁴ Fischel einen »ausrasierte[n] Backenbart«;¹⁶⁵ Arnheim einen »kleinen, spitzen Kinn- und einen kurz geschorenen Schnurrbart«;¹⁶⁶ Moosbrugger einen »Schnurrbart«,¹⁶⁷ »dichten Schnauzbart«,¹⁶⁸ »große[n] Bart«;¹⁶⁹ und der »große[], kräftige[] Jude«, der das Begräbnis von Ulrichs Vater organisiert, einen »langen,

              

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 679; vgl. S. 728, 951. S. 679. S. 1055, 1060. S. 1079. S. 966 f. S. 1071, 1079. S. 1468. S. 828. S. 1359. S. 145. S. 203. S. 421; vgl. S. 568. S. 68. S. 1586. S. 1590.

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blonden Schnurrbart«.¹⁷⁰ Nur bei einer einzigen Figur des Romans liegt »die Zeit, wo […] seine Lippen noch« einen solchen »Schnurrbart trugen«, ausdrücklich »weit zurück«.¹⁷¹ Schon im 1923 vorab publizierten Bild aus einem Roman, Die beiden Geliebten, war der spätere Romanprotagonist nicht nur »ein schöner Mensch, […] außerordentlich kräftig, […] mit einem Blick, der den Frauen kalt und heiß versprach, ohne daß sein Besitzer im geringsten daran dachte«.¹⁷² Er war hier bereits »stets glatt rasiert«.¹⁷³ Ulrich allein also, in einmal mehr betonter Verschiedenheit vom restlichen männlichen Personal, ist innerhalb dieser Semiotik der Bartmode eindeutig ›modern‹. Er wird auch durch sie von der ›Welt von gestern‹ abgegrenzt, die Stefan Zweig 1944 in seiner postum erschienenen Autobiographie seinerseits über diesen Code von der Gegenwart unterschied: »Die Männer trugen lange Bärte zur Schau oder zwirbelten zum mindesten einen mächtigen Schnurrbart als weithin erkennbares Attribut ihrer Männlichkeit empor«.¹⁷⁴ Der Bart, der beinahe zeitgleich mit der französischen Revolution wieder zunehmend ›en vogue‹ geworden war, gehört auch bei Zweig ins ›lange neunzehnte Jahrhundert‹, »a complete heyday for facial hair throughout Europe«.¹⁷⁵ Er kam von neuem auf nicht nur als Antithese zu der in der bürgerlichen Rhetorik bisweilen als verweichlicht, verweiblicht und degeneriert dargestellten Aristokratie mit ihrer Perückenmode und ihren Puderfrisuren,¹⁷⁶ sondern auch zur visuellen Betonung der Geschlechterdifferenz und der Geschlechtscharaktere, entlang derer sich die bürgerliche Gesellschaft zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts organisierte.¹⁷⁷ Genau diese Funktion als ›natürliche‹ sexuelle Markierung und Maskulinitätsindex kommt dem Bart im Mann ohne Eigenschaften indessen nicht mehr zu (beziehungsweise wird sie nur noch in Binnendifferenzierungen beibehalten wie im Fall von Lindners »schüttere[r]« und Moosbruggers »dichte[r]« Gesichtsbehaarung). Anstatt einen ›natürlichen‹ Geschlechterunterschied, eine männliche ›gender identity‹ zu garantieren, wird der Bart eben zu einer denunziatorischen

 Ebd., S. 710.  Ebd., S. 24.  Ebd., S. 2022.  Ebd.  Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt am Main 1992, S. 93.  Allan Peterkin: One Thousand Beards. A Cultural History of Facial Hair. Vancouver 2001, S. 34 f.  Vgl. Reginald Reynolds: Beards. Their Social Standing, Religious Involvements, Decorative Possibilities and Value in Offence and Defence Through the Ages. Garden City 1949, S. 265.  Vgl. Karin Hausen: Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart 1976, S. 363 – 393.

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Chiffre für anachronistische Identitäten, für Werte und Vorstellungen, die wie die ganze Doppelmonarchie rückwärtsgewandt sind und sozusagen der Kontemporanität entzogen werden. Insbesondere wird er zum Zeichen einer Krise der Wissenschaften, deren Vertreter ihr kritisch-wissenschaftliches Denken nicht konsequent genug umsetzen und sich der entscheidenden Zukunftsfragen nicht annehmen. Auf das Gerede der »berühmten Schöngeister[]«,¹⁷⁸ denen sie diese Fragen überlassen, reagieren die gleichermaßen »berühmten Fachleute«¹⁷⁹ in Diotimas Salon lediglich mit der »männliche[n] Tätigkeit des In den Bart Lächelns«.¹⁸⁰ Eine Äußerung des »Mißtrauens gegen alles Ungewisse«,¹⁸¹ des Substrats jeder wissenschaftlichen Denkart, ist dieses »Männerlächeln« dabei bestenfalls im »Unterbewußtsein« der Fachgelehrten.¹⁸² Bloß unterschwellig äußert sich darin eine Schattierung jenes wissenschaftlichen »Geist[s]«, den der Erzähler als »sehr männliche[n] Heilige[n] mit kriegerischen und jägerischen Nebenuntugenden« geschlechtlich einrangiert.¹⁸³ Im »Bewußtsein« der »Gelehrten« dagegen geht ihre lächelnde Reaktion gerade nicht aus einer skeptisch-aggressiven Grundeinstellung hervor,¹⁸⁴ dank der die Männlichkeits-›Archetypen‹ des Jägers und Kriegers in den Wissenschaften also noch fortleben sollen. »Im Gegenteil« erscheint ihnen diese Reaktion als »Ausdruck« sowohl ihrer »Ehrerbietung« als auch ihrer »Inkompetenz«.¹⁸⁵ Sie stellt eine etwas hilflose Gebärde ihrer unzureichenden Beschlagenheit in all dem dar, was über die eng gesetzten Grenzen ihres Fachs hinausgeht und wofür sie sich nicht zuständig fühlen. Beispielhaft zeigt sich diese »Ehrerbietung und Inkompetenz« in der Resonanz, die ein Phraseur wie Arnheim bei ihnen findet. Just diesen zwiespältigen zivilisationskritischen Großindustriellen und Großschriftsteller zitieren sie anstandslos in ihren Arbeiten, um sie mit ein paar »humanistische[n] Augenblikke[n]« abzuschmecken.¹⁸⁶ Sie ziehen ihn heran, obwohl seine »Ausflüge in die Gebiete der Wissenschaften« »nicht immer den strengsten Anforderungen genügen«.¹⁸⁷ Damit demonstrieren sie, wie sie im »Leben«, »außerhalb der Grenzen besonderer Fachaufgaben«, »das Bestehende, mag es sein, wie es will«, »bis zu          

Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 301. Ebd., S. 306. Ebd., S. 301. Ebd., S. 303. Ebd., S. 301. Ebd., S. 305. Ebd., S. 306. Ebd., S. 301. Ebd., S. 191. Ebd.

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einem gewißen Grad als natürlich« empfinden und »nicht gern« antasten.¹⁸⁸ Jenseits dieser Aufgaben sind sie empfänglich für den in Barthes’ Bedeutung mythischen Charakter des Pseudonatürlichen. Wie bereits die naturwissenschaftlich tätigen Protagonisten in Grigia und Tonka – die als solche ja ihrerseits in eine Nachfolgebeziehung zum mittelalterlichen Krieger von Ketten der dritten Frauen-Novelle gesetzt werden – geben die bärtigen Spezialisten ihre fortschrittsorientierte, wissenschaftlich »erworbene[] Gesinnung« auf, sobald es gälte, sie »ins Leben zu wenden«.¹⁸⁹ (Auch die Hauptfigur der Tonka-Novelle hört im übrigen genau dann auf, sich zu rasieren, als sie im Privatleben »recht abergläubisch« wird.¹⁹⁰) Der »glatt rasiert[e]« maskuline Ulrich hingegen verfolgt kein rein fachwissenschaftliches Vorhaben und erhebt die Entmythologisierung und Revidierbarkeit gesellschaftlicher Ordnungen bekanntlich zum Prinzip. Gleichzeitig ist bei ihm auch das supponierte Nachfolgeverhältnis von Krieger und Wissenschaftler noch greifbarer, denn dessen Stationen sind Teil seines eigenen Werdegangs. Der kriegerischen, ›listigen‹ und ›gewalttätigen‹ Note, die in der wissenschaftlichen »Lust an den Tatsachen« unentwegt durchklingen soll,¹⁹¹ verschreibt er sich zunächst nicht in einem verschobenen oder figurativen Sinn, sondern ganz konkret. Bei seinem ersten Versuch, »ein bedeutender Mann zu werden«, trachtet er als junger, jugendlich trotziger Fähnrich und Leutnant in der kakanischen Kavallerie ja danach, Napoleon nachzueifern, ›erfüllt‹ von längst obsolet gewordenen »heroische[n] Zustände[n] des Herrentums, der Gewalt und des Stolzes«.¹⁹² Beim zweiten Berufs- und Geltungsversuch, über den er »heute« ebenso wie über den ersten nur noch »den Kopf zu schütteln« vermag,¹⁹³ frustriert ihn bereits die ›Problemkonstante‹, die sich auch im »Männerlächeln« der Fachgelehrten an den Sitzungen der Parallelaktion wieder beziehungsweise immer noch abzeichnet. Denn die »kraftvolle Vorstellung«, die er sich vom Ingenieurwesen macht, als er von der Kavallerie zum »neue[n] Pferd« mit »Stahlglieder[n]« übergeht, wird gleichfalls enttäuscht.¹⁹⁴ Der Ingenieursalltag entspricht nicht dem »reizvollen zukünftigen Selbstbildnis[]« eines ganz dem Fortschrittsdenken verpflichteten, international tätigen »Mann[es] mit entschlossenen Zügen«,¹⁹⁵ das er sich aus-

       

Ebd., S. 305. Ebd., S. 304 f. Musil, Tonka, S. 294. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 303. Ebd., S. 36. Ebd., S. 38. Ebd., S. 36 f. Ebd., S. 37.

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gemalt hatte. Selbst die mit der Entstehung des Industriekapitalismus zum »Stoßtrupp der Moderne«¹⁹⁶ erklärten Ingenieure, die in der kollektiven Wahrnehmung als »tatendurstige, wagemutige und tüchtige[] Helden der Zivilisation«¹⁹⁷ tatsächlich hergebrachte Männlichkeitsmythen aktualisierten, erweisen sich für ihn nicht uneingeschränkt als visionäre Garanten menschlichen Fortschritts. Dabei charakterisierte etwa Simone de Beauvoir diesen Typus des ›homo faber‹ noch 1949 als einen »Mann«, der die »Grenzen« der gegebenen Welt zu sprengen und eine »neue Zukunft« zu eröffnen versuche.¹⁹⁸ Aber nach Ulrichs Richtlinien benimmt er sich »in allem, was ihm für das Höhere gilt«, »weit altmodischer«, »als es seine Maschinen sind«.¹⁹⁹ Den »Vorschlag, die Kühnheit ihrer Gedanken statt auf ihre Maschinen auf sich selbst anzuwenden«, bekräftigt der Erzähler, würden auch Ingenieure »ähnlich empfunden haben wie die Zumutung, von einem Hammer den widernatürlichen Gebrauch eines Mörders zu machen«.²⁰⁰ Der Mann ohne Eigenschaften also fungiert, indem er das betont männlich semantisierte wissenschaftliche Denken²⁰¹ auch außerhalb bestimmter Fachaufgaben gewissermaßen zum ›way of life‹ machen will, selbst in Hinsicht auf die Ingenieurszunft als positive Kontrastfigur (obwohl Blei in seiner Rezension Musils Roman ja unter anderem »für Männer« bestimmte, »die Ingenieur sind«). Dem Titelhelden ist es ein Anliegen und geradezu Programm, das ›Prinzip des unzureichenden Grundes‹ auf die einzig wirklich lohnende Frage anzuwenden, »die des rechten Lebens«.²⁰² Auch dieser großen Zukunftsfrage soll in einer Art »Morallaboratorium«,²⁰³ mit einer induktiven »Gesinnung auf Versuch und Widerruf« nachgegangen werden, die dennoch – wie es in einer Metaphorik heißt, in der

 Ruth Oldenziel: Technologie als Merkmal amerikanisch-bürgerlicher Männlichkeit, 1830 – 1978. In: Jürgen Martschukat und Olaf Stieglitz (Hg.): Väter, Soldaten, Liebhaber. Männer und Männlichkeiten in der Geschichte Nordamerikas. Ein Reader. Bielefeld 2007, S. 201– 218, hier S. 207.  Karin Hausen: Ingenieure, technischer Fortschritt und Geschlechterbeziehung. In: Wolfgang König und Marlene Landsch (Hg.): Kultur und Technik. Zu ihrer Theorie und Praxis in der modernen Lebenswelt. Frankfurt am Main 1993, S. 235 – 252, hier S. 240.  Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek bei Hamburg 72007, S. 89.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 37.  Ebd., S. 38.  Zum traditionellen ›gendering‹ der Naturwissenschaften als männlich vgl. Christina von Braun und Inge Stephan: Einführung. In: Dies. (Hg.): Gender@Wissen, S. 9 – 46.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 255.  So, als ein »Morallaboratorium«, erschien Musil in seinem Essay Der Dichter und diese Zeit die »Kunst«. Robert Musil: Der Dichter und diese Zeit oder: Der Dichter und seine Zeit. In: Ders., Essays und Reden, S. 1349 – 1352, hier S. 1351.

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Krieg und Wissenschaften abermals auf die gleiche Isotopieebene zu liegen kommen – »dem eisernen Kriegsgesetz der geistigen Eroberung« untersteht.²⁰⁴ Die Wissenschaftskritik Ulrichs und des Erzählers zielt folglich nicht nur gegen die willkürlichen, allein für den intrikaten Zusammenhang von Wissen und Macht charakteristischen Festlegungen, mit denen etwa die Justiz und Gerichtspsychiatrie Moosbrugger für zurechnungsfähig und gesund oder unzurechnungsfähig und geisteskrank erklären. Sie richtet sich auch nicht in erster Linie gegen die Selektionsmechanismen des universitären Betriebs, in dem es Ulrich eher zum Schaden gereicht haben soll, dass er »seine ganze Kraft der Sache« widmete, »statt einen großen Teil von ihr auf das äußere Vorwärtskommen zu verwenden«.²⁰⁵ Vielmehr ist sie – bei aller »Achtung vor Fachlichkeit und Spezialistentum«, die Ulrich hat²⁰⁶ – eben insbesondere gegen die Folgewidrigkeit gemünzt, dass die ausdifferenzierten Wissenschaften ihre neuen Erkenntnisse (wie zum Beispiel die Verabschiedung des autonomen Individuums) nicht mit Blick auf die für das »fernere[] Ziel der menschlichen Seligkeit«²⁰⁷ entscheidenden moralischen oder psychotechnischen²⁰⁸ Problemstellungen bündeln und weiterdenken. Den Titelhelden führt dieses Desiderat bei seinem »wichtigste[n] Versuch«, sich unter die bedeutenden Männer einzureihen, zunächst zur bereits zitierten »harten, mutigen, beweglichen, messerkühlen und -scharfen Denklehre«, in der sowohl er als auch der Erzähler das Fundament jeder »heutige[n] Forschung« sehen.²⁰⁹ Es bringt ihn bemerkenswerterweise nicht zur Philosophie, sondern unter die Mathematiker, in denen Musil schon 1913 in seinem Essay Der mathematische Mensch »eine Analogie […] für den geistigen Menschen« sah, »der kommen wird«.²¹⁰ Die Entzauberungen des Hergebrachten hingegen, wie sie die in den Bart lächelnden Fachwissenschaftler leisten, werden nicht männlich sexuiert.

 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 304.  Ebd., S. 44.  Ebd., S. 359.  Robert Musil: Franz Blei. In: Ders., Essays und Reden. Kritik, S. 1022– 1025, hier S. 1024.  Vgl. für Musils Interesse an der Psychotechnik insbesondere seinen Essay Psychotechnik und ihre Anwendungsmöglichkeit im Bundesheere. Robert Musil: Psychotechnik und ihre Anwendungsmöglichkeit im Bundesheere. In: Ders., Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs und Studien zur Technik und Psychotechnik. Reinbek bei Hamburg 1980, S. 177– 200. Vgl. Wolf, Kakanien als Gesellschaftskonstruktion, S. 91; Christoph Hoffmann: Der Dichter am Apparat. Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899 – 1942. München 1997, S. 230 – 284.  Ebd., S. 38 f.  Robert Musil: Der mathematische Mensch. In: Ders., Essays und Reden. Kritik, S. 1004– 1008, hier S. 1007.

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Der Erzähler vergleicht sie im Gegenteil mit den »versteckten Bosheiten«, »welche eine junge Nichte gegen eine altjüngferliche Tante ausheckt«.²¹¹

IV Die Pädagogen Hagauer und Lindner Mit der vielleicht beißendsten Komik werden im Zweiten Buch und in den Fortsetzungskapiteln des Mann ohne Eigenschaften freilich nicht diese vergleichsweise ›nichtigen‹, trotz ihres bärtigen Lächelns ›mädchenhaften‹ Wissenschaftsrepräsentanten traktiert. Aufs Korn der Satire genommen werden nicht in erster Linie jene Vertreter der Forschung, die lediglich fachintern versuchen, Möglichkeitssinn zu gewinnen, und so gleichsam »aus zwei Männern« bestehen, ohne dass man wüsste, »ob sie nun eigentlich am Abend oder am Morgen zu sich zurückkehren«.²¹² Permanent unter die Signatur des Komischen und der Satire zu stehen kommen vielmehr gerade die beiden Akademiker, die ihre »Gesinnung« beharrlich »ins Leben […] wenden« und es sich zum Beruf gemacht haben, Kindern den Weg ins Erwachsenenleben zu weisen; oder, wie in Kirchner’s Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe von 1907 nachzulesen ist: die »Jugend zur Höhe der Kulturstufe« zu erheben, »auf der sie im Leben stehn soll«.²¹³ Die Erziehungsmethoden des »anerkannten Pädagogen«²¹⁴ August Lindner, den Musil schon in den frühesten Romankonzeptionen als »Gegenfigur« zum Protagonisten vorgesehen hatte,²¹⁵ greifen wie gesagt nicht einmal beim eigenen, in der Schule versagenden und jeder Arbeit abgeneigten Sohn. Lindners christliche Pflichtmoral, seine peniblen Tagespläne, skurrilen Waschrituale und Leibesübungen werden als ängstliche Schutzvorrichtung und sexuelle Verdrängungsstrategie entlarvt. Dabei fällt ihm diese Abwehr sichtlich schwer. Seine unterdrückte Sexualität, die er mit pedantischen Disziplinierungsstrategien zu bannen versucht, verschafft sich über andere Bahnen Ausdruck. Der »ängstlich[]« seine »Rolle«²¹⁶ spielende Professor wird in den Gesprächen mit Agathe von seiner Libido sozusagen umnebelt. Selbst wenn er den schulmeisterlichen Lehrsatz vorbringt, »man soll[e] niemals fliehn vor den Schwierigkeiten«, beschlagen sich

 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 304.  Ebd., S. 429.  Friedrich Kirchner: Kirchner’s Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 5 1907, S. 191 f., hier S. 191, s. v. ›Erziehung‹.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 1066 f.  Musil, Klagenfurter Ausgabe, Transkriptionen / Heft 21/24.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1076.

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ihm vor innerer Hitze die Brillengläser.²¹⁷ Darüber hinaus unterlaufen ihm in seinen »Lebensschulstunde[n]« mit der spöttischen Agathe regelmäßig Fehlleistungen. Er wird von ihrem »Busen« abgelenkt,²¹⁸ kann es nicht vermeiden, »schlüpfrig« und »wollüstig« zu werden,²¹⁹ und erheitert seine Zuhörerin ohnehin bereits durch seine »Vortragsweise, die zur ganzen Verkörperung in Widerspruch« steht »wie eine schwere Blüte zu einem schwachen Stengel«.²²⁰ Lindners Professorenkollege und erziehungswissenschaftlicher Rivale, der Reformpädagoge Hagauer, wird für sein Teil nicht nur als Erzieher, sondern auch in sexueller Beziehung diskreditiert. Ein erfülltes Liebesleben konnte sich Agathe mit diesem »o wie hässlich[en] […] Menschen« gar nie vorstellen. Ihre Ehe mit ihm ist sie in einer »Stimmung« eingegangen, in der »ein Mensch« in »früheren Jahrhunderten« »in ein Kloster eingetreten« wäre.²²¹ Agathe hat diesen »Mann […], der ihr einen leichten Widerwillen einflößte«,²²² einerseits geheiratet, weil »der Vater es gewollt« hat.²²³ Andererseits war ihre Heirat auch eine Form der »Selbstbestrafung«.²²⁴ Sie strafte sich mit ihm dafür, dass sie nach dem Tod ihres noch auf der Hochzeitsreise verstorbenen Bräutigams sich einen neuen »Geliebte[n]« genommen hatte und dabei »leidenschaftlich[]« ernüchtert worden war.²²⁵ Wenngleich der Erzähler ihr die »Begabung zur Untreue« eigens abspricht, mag es daher kaum erstaunen, dass sie ihren Gatten schon bald »hie und da mit anderen« betrog.²²⁶ Überraschen kann das desto weniger, weil Hagauer sich bei ihr an »keinen einzigen Beweis jener voll geöffneten und traumverlorenen Hingabe« erinnern kann, die er in seiner »Junggesellenzeit« im entsprechenden Milieu ›kennenlernte‹ und allem Anschein nach für bare Münze nahm.²²⁷ Er lernte sie an »weiblichen Personen« kennen – so die gewundene, an Hagauers eigene Diktion assimilierte Periphrase –, »deren sinnliche Lebensführung außer Zweifel stand«.²²⁸ Überraschender sind dagegen die Folgerungen, die dieser »kommende[] Mann« »im Gebiet des Unterrichts und der Erziehung«²²⁹ daraus und aus Agathes

            

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd. Ebd., Ebd.,

S. 967; vgl. S. 972, 1045, 1049. S. 1075. S. 1078 f. S. 1077. S. 758. S. 683. S. 758. S. 728. S. 951. S. 681.

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Scheidungsabsichten zieht. Wie sein »pädagogische[r] Fachgenosse[]«²³⁰ Lindner antwortet auch Hagauer auf die Bedrohung seiner männlichen Identität mit der Zitation bestimmter Geschlechterstereotypen, an deren Zementierung die Erziehungswissenschaften selbstverständlich ihren Anteil hatten.²³¹ Lindner stärkt sich in seinen moralischen Grundsätzen und seiner sexuellen Abstinenz zum Beispiel mit einem wohl parodistisch auf Schillers ästhetische Veredelungstheorie Bezug nehmenden Spruch:²³² Die »wenigsten Männer«, »erbaut« er sich, hätten »eine Ahnung davon, welches tiefe Bedürfnis edle weibliche Wesen nach dem EdelMann haben, der schlicht mit dem Menschen in der Frau verkehrt, ohne durch geschlechtliche Gefallsucht gleich gestört zu werden!«²³³ An diesen ›edlen‹ Gedanken klammert er sich ausgerechnet, nachdem Agathe einen seiner Ansicht nach »unmöglichen Einfall« hatte, der eigentlich »allen seinen Vorstellungen von« edler, von »zarter und unberührter Weiblichkeit« widerspricht.²³⁴ Zu seiner Verblüffung und in einer bezeichnenden Verkehrung des gängigen ›gender plots‹ hat sie ihm angekündigt, ihn in seiner »Wohnung«, der Wohnung des »Mannes« ›aufzusuchen‹.²³⁵ Auch durch diese zitierte Rede wird also ersichtlich, wie der überrumpelte Lindner auf die Gefährdung seines männlichen Selbstverständnisses mit einer offensichtlich willkürlichen und stereotypen Geschlechtersetzung reagiert. Deutlicher noch wird ein solcher Stereotypisierungsprozess durch die schematischen Überlegungen entlarvt, mit denen Hagauer Agathe wegen ihres Scheidungswunsches in eine zwar nicht gesellschaftlich rollenkonforme, aber dennoch vertraute Weiblichkeitsschablone zwängt. Die Projektionsarbeit, auf der solche Stereotypen beruhen, wird an ihm in actu vorgeführt und karikiert. Der gekränkte »Schulmeister« mit seinen »Schulmeistersätze[n]«,²³⁶ dessen »sanfte Lehrereitelkeit und -güte« Agathe ertragen haben soll »wie eine bloß körperliche Übelkeit«,²³⁷ kann »gegen sein eigenes Verhalten« nämlich »keinen einzigen

 Ebd., S. 1045.  Vgl. z. B. Rainer Strotmann: Zur Konzeption und Tradierung von Geschlechterrollen in ausgewählten Schriften pädagogischer Klassiker. In: Barbara Rendtorff (Hg.): Geschlecht und Geschlechterverhältnisse in der Erziehungswissenschaft. Eine Einführung. Opladen 1999, S. 117– 134.  Vgl. Norbert Christian Wolf: »Wer hat dich, du schöner Wald…?« Kitsch bei Musil – mit Blick auf den Mann ohne Eigenschaften. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 127.2 (2008), S. 199 – 217, hier S. 211.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1048.  Ebd., S. 971.  Ebd.  Ebd., S. 679, 703.  Ebd., S. 728.

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Im Zeichen des Barts: Das Versagen der Wissenschaften

Einwand« finden.²³⁸ Durch »objektive Überlegung« kommt er zum Schluss, ein Liebhaber könne unmöglich für die Trennungsabsichten Agathes verantwortlich sein.²³⁹ Denn für den »hässlich[en]«²⁴⁰ Professor mit seinem »rotapfelige[n] Gesicht«²⁴¹ und seinen »dickfelligen Falten«²⁴² ist nicht zu erraten und »einzusehen«, »was ein anderer Mann« ihr »Besseres bieten sollte als er«.²⁴³ Deshalb, auf dieser »objektive[n]« Grundlage, stellt er ihr »mit voller wissenschaftlicher Ruhe« die Diagnose der Frigidität (»Zum erstenmal seit seiner Heirat fiel ihm eine Gruppe von Erscheinungen auf, die seines Wissens nur von Frauen berichtet werden, in denen die Liebe zum anderen Geschlecht ganz und gar keine tiefe oder leidenschaftliche ist«).²⁴⁴ Clarisses Bruder Siegmund gehört wie Freud dem Berufsstand an, der im neunzehnten Jahrhundert die Autorität der Geistlichen bei der ›Verwaltung‹ der Sexualität beerbte. Als er Walter mit »ärztlicher Gewissenhaftigkeit« anweist, Clarisse sei »ordentlich« ›anzupacken‹, übernimmt er gleichsam erzieherische Aufgaben. Der Pädagoge Hagauer hingegen geriert sich umgekehrt als Mediziner, wenn er Agathe über ihre Sexualität pathologisiert und einem »geschlossenen Typus« zuordnet.²⁴⁵ Beide schnurrbärtigen Akademiker erweisen sich als Disziplinierungstechnologen, die als Fachpersonen haarsträubende Fehldiagnosen vornehmen und damit die Verflechtung von Wissen und Macht bei der Konstruktion von ›gender‹ in den Lichtkegel der Aufmerksamkeit rücken. Dabei dient Hagauer der Befund, den er vornimmt, seinerseits als eine Art ›Retourkutsche‹, mit der Musil in Der bedrohte Ödipus die Aporien des psychoanalytischen Diskurses verglich.²⁴⁶ Der Pädagoge hält sich schadlos, erhebt sich selber sozusagen wieder zum »Maß aller Dinge«, indem er mit wissenschaftlichen oder pseudowissenschaftlichen Redensarten seine scheidungswillige Frau zum Untersuchungsobjekt degradiert. Er kontert den »peinlichen Vorfall«,²⁴⁷ von Agathe verlassen zu werden, mit einem ›Grübeln‹ über das ›Rätsel der Weiblichkeit‹.²⁴⁸ So befleißigt er sich, diskursiv die Geschlechterhierarchie wieder zu festigen, die Agathe mit ihrem

 Ebd., S. 950.  Ebd.  Ebd., S. 728.  Ebd., S. 709.  Ebd., S. 728.  Ebd., S. 950.  Ebd., S. 950 f.  Ebd., S. 952.  Vgl. S. 121, Anm. 123 dieser Arbeit.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 950.  Vgl. Sigmund Freud: Die Weiblichkeit. In: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 15, S. 119 – 145, hier S. 120.

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Scheidungsbegehren gefährdet. Bezeichenderweise versucht auch Hagauer, dieses ›Rätsel‹ von der weiblichen Sexualität her zu lösen. Ausgehend von der Diagnose ihrer sexuellen »Teilnahmslosigkeit« schließt er zu guter Letzt auf Agathes moralische und soziale »Trägheit«. Er folgert, sie hätte sich durch ihre »Auflehnung« gegen ihr »eheliche[s] Glück« »dem Reichtum des Menschlichen und Sittlichen verweigert«.²⁴⁹ Daher ordnet er sie einer »im ganzen ausreichend intelligenten Sonderart des moralischen Blödseins« zu, die sich »in Anlehnung an eine weit verbreitete weibliche Minderleistung« und wohl auch an das schon zitierte Traktat von Möbius über den Physiologischen Schwachsinn des Weibes als »sozialer Schwachsinn bezeichnen ließe[]«.²⁵⁰ Bei alledem »kraut[]« er, so ähnlich wie die »humanistisch gebildete[n]« Männer in Anbetracht der besiegten Amazonen, kaum zufällig »mit dem Federstiel« seinen gestrigen, aus der Mode gekommenen »Bart«.²⁵¹

 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 951.  Ebd., S. 952.  Ebd., S. 951.

Eine ›bemerkenswerte Einzelheit‹: Arnheims phönikischer Herrenkaufmannsschädel Zwischen 1874 und 1884 wurden zunächst im Deutschen Reich unter der Leitung des preußischen Anatomen und Anthropologen Rudolf Virchow, später auch in Österreich, Belgien, England, Italien, Persien und der Schweiz an insgesamt über zehn Millionen Schulkindern (allein in Deutschland an genau 6’758’827) Haut-, Haar- und Augenfarbe untersucht.¹ Provoziert worden war diese gigantische Untersuchung unter anderem durch die These Armand de Quatrefages’, dessen anthropologisches Museum in Paris 1870 von deutschen Truppen schwer beschädigt worden war, die Preußen seien rassisch Finnen oder Finno-Slawen, das heißt eine dunkle und kurzschädelige, minderwertige Rasse:² »vorgeschichtliche Menschen«, die zur selben Zeit in Europa ansässig gewesen seien »wie das Nashorn und der Elefant, das Ren und der Moschusochse«.³ Das exorbitante statistische Material sollte aber nicht nur diese These widerlegen. Es sollte auch Aufschluss über Unterschiede zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Kindern geben. Tatsächlich ermöglichten die Statistiken den Nachweis, dass es eine reine ›germanische‹ oder ›jüdische‹ Rasse nicht oder nicht mehr gab. Den jüdischen Schulkindern, die in den Formularen der deutschen Gesellschaft für Anthropologie separat erfasst wurden, führten die Untersuchungen gleichwohl »ihren Minderheitenstatus und ihre angeblich unterschiedlichen Ursprünge vor Augen«.⁴ Eigentlich hätten Virchow und die Gesellschaft für Anthropologie jedoch nicht die Haar-, Haut- und Augenfarbe, sondern die Schädelformen der Kinder und Jugendlichen erforschen wollen.⁵ Aber den anthropometrisch nicht ausgebildeten Lehrern an den Schulen trauten die Anthropologen die Durchführung von

 Vgl. Rudolf Virchow: Gesamtbericht über die von der deutschen anthropologischen Gesellschaft veranlaßten Erhebungen über die Farbe der Haut, der Haare und der Augen der Schulkinder in Deutschland. In: Archiv für Anthropologie. Zeitschrift für Naturgeschichte und Urgeschichte des Menschen 16 (1886), S. 275 – 475, hier S. 283 – 285, 369.  Vgl. Erwin H. Ackerknecht: Rudolf Virchow. Arzt, Politiker, Anthropologe. Stuttgart 1957, S. 174– 178; Léon Poliakov: Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus. Wien, München und Zürich 1977, S. 303 – 309; George L. Mosse: Die Geschichte des Rassismus in Europa. Frankfurt am Main 1990, S. 112– 115.  Armand de Quatrefages: La race prussienne. Paris 1871; zitiert nach: Poliakov, Der arische Mythos, S. 303.  Mosse, Die Geschichte des Rassismus in Europa, S. 114.  Vgl. Anonymus: Protocoll. In: Correspondenzblatt der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 6 – 10 (1871), S. 41– 80, hier S. 53.

Eine ›bemerkenswerte Einzelheit‹: Arnheims phönikischer Herrenkaufmannsschädel

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Schädelindexberechnungen nicht zu.⁶ Im Mann ohne Eigenschaften nun wird gerade die Schädelform an einer preußischen Figur exponiert, die realiter zu der in den Statistiken erfassten Altersgruppe gehört hätte. Während der ersten großen Sitzung der Parallelaktion, an der Ulrich dem Juden Paul Arnheim erstmals begegnet, registriert er mit kraniometrischem Blick dessen »phönikisch harte[n] Herrenkaufmannsschädel«.⁷ Mindestens für den Romanhelden scheint diese »bemerkenswert[e]« »Einzelheit[] der Physiognomie«⁸ ein Körperzeichen zu sein, das im Sinn der komplexitätsreduzierenden Versprechen der Phrenologie unmittelbar auf bestimmte Eigenschaften des »Kaufmann[s]«⁹ verweist. Das soziale Herkunftsmilieu Arnheims, aber auch seine »Herrennatur«¹⁰ und die führende gesellschaftliche Rolle, mit der sich dieser »inkorrekt vornehme[] Bürgerliche[]«¹¹ identifiziert, sind aus seinem ›Schädel‹ unmittelbar ableitbar. Als Sohn eines »königlichen Kaufmann[s]«,¹² des »mächtigste[n] Beherrscher[s] des ›eisernen Deutschland‹«¹³ vertritt er im Mann ohne Eigenschaften eine international vernetzte Wirtschaftselite, die den Habitus und die Repräsentationsformen der feudalen ›Herren‹ imitiert, deren Macht sie beerbt – Arnheim am ostentativsten, indem er sich mit Soliman als Diener ganz unzeitgemäß gewissermaßen einen Hofmohren hält. Ungleich größer erscheint das Irritationspotenzial des Epithetons ›phönikisch‹, mit dem Ulrich den »Herrenkaufmannsschädel« kraniologisch klassifiziert. Er zitiert damit eine atavistische ethnische Kategorie, die trotz ihrer Ausgefallenheit Arnheim merkwürdigerweise schon siebzig Seiten früher aus einer Figurenperspektive zugeschrieben wird, die mit Ulrichs eigener gewöhnlich gar nicht kompatibel ist. Bereits Diotima bemerkt bei ihrer ersten Begegnung mit Arnheim »entzückt«, dass dieser »nicht im geringsten jüdisch aus[sieht], sondern ein vornehm bedachter Mann von phönikisch-antikem Typus« ist.¹⁴ Diese identische ethnische Verortung ist umso auffälliger, als beide Figuren mit ganz unterschiedlichen Phantasien und Erwartungen an Arnheim herantreten. Beide

 Vgl. Christian Geulen: Blonde bevorzugt. Virchow und Boas: Eine Fallstudie zur Verschränkung von ›Rasse‹ und ›Kultur‹ im ideologischen Feld der Ethnizität um 1900. In: Archiv für Sozialgeschichte 40 (2000), S. 147– 170, hier S. 154; Andrew Zimmerman: Anthropology and Antihumanism in Imperial Germany. Chicago 2001, S. 135 f.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 178.  Ebd.  Ebd., S. 192, 409, 571.  Ebd., S. 470.  Ebd., S. 107.  Ebd., S. 389.  Ebd., S. 96.  Ebd., S. 109.

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Eine ›bemerkenswerte Einzelheit‹

haben, als sie Arnheim zum ersten Mal begegnen, schon »viel von [ihm] gehört«¹⁵ und sogar die »Bücher und Abhandlungen«¹⁶ gelesen, die dieser Großindustrielle und »Großschriftsteller« in seinen »Mußestunden« schreibt.¹⁷ Ihre Lektüren dieser »Bücher« über »nichts Geringeres als gerade die Vereinigung von Seele und Wirtschaft oder von Idee und Macht«¹⁸ unterscheiden sich aber grundlegend. Als Ulrich die »bemerkenswert[e]« physische Erscheinung Arnheims entziffert, gibt ihm der »unermeßlich«, »über die Maßen reich[e]«¹⁹ »große Finanzmann«²⁰ längst eine Negativfolie ab. Er kann »das Muster Arnheim«, diese »Verbindung von Geist, Geschäft, Wohlleben und Belesenheit« »nicht ausstehen«, »schlechtweg als Daseinsform nicht, grundsätzlich«.²¹ Diotimas Begegnung mit Arnheim hingegen steht im Zeichen einer »wundersame[n] Ähnlichkeit«,²² die sich bekanntlich dem eher profanen Umstand verdankt, dass beide Figuren die gleichen vernunft- und modernitätskritischen Seelendiskurse einer Ellen Key, eines Maurice Maeterlinck oder Walther Rathenau reproduzieren. Als der »berühmte Ausländer« der sozialen Aufsteigerin in einem »Einführungsschreiben« mitteilen lässt, den »Ruf ihres Geistes« zu kennen und ihrem Wiener Haus vor allen anderen aufzuwarten, fühlt sie sich durch diese Bevorzugung »ausgezeichnet wie ein Schriftsteller, der zum erstenmal in die Sprache eines fremden Landes übersetzt wird«.²³ Dass trotz dieser sehr unterschiedlichen Erwartungshaltungen sowohl Ulrich als auch Diotima unabhängig voneinander Arnheims ›Schädel‹ oder »Typus« als »phönikisch« bestimmen, vergrößert natürlich den Nachdruck, der auf das allem Anschein nach eindeutig klassifizierbare physiognomische Merkmal zu liegen kommt. Zugleich sagt die analogische Benennung etwas über die Figuren aus, zwischen denen die ethnische Kategorie zirkuliert. Beide, Ulrich wie Diotima, sind offenbar mit den anthropologisch-archäologischen Diskursen der Zeit vertraut. Sie schöpfen aus einem gemeinsamen Vorrat an ›Wissen‹ über vergleichende Anatomie, das in der Handlungs- und Entstehungszeit von Musils Roman Konjunktur hatte, und scheinen geneigt, dieses ›Wissen‹ im lebensweltlichen Alltag auch einzusetzen. Die Forschung freilich ist diesem ›Wissen‹ bis anhin nicht nachgegangen und hat sich dem Erklärungsdruck nicht gebeugt, den das Attribut

        

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 177. S. 191. S. 429. S. 108. S. 96. S. 185. S. 176. S. 108. S. 108 f.

Phönizier bei Herodot und Homer

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»phönikisch« eigentlich erzeugt. Sie hat die Bedingungen noch nicht zu rekonstruieren versucht, die es überhaupt ermöglichten, dass der preußische Jude Arnheim ausgerechnet als Phönizier Eingang in Musils Roman finden konnte, und sich nicht gefragt, welche durchaus widersprüchlichen Vorstellungen seine ethnische Verortung abruft und welche stillschweigenden Voraussetzungen diese verschiedenen Vorstellungen dennoch teilen. Insbesondere hat sie auch in den einschlägigen Arbeiten zur Repräsentation des Antisemitismus im Roman nicht oder nur nachlässig sondiert, wie sich ein phönikischer ›Schädel‹ oder »Typus« zur Frage verhält, die auch in Virchows Studie schon im Zentrum des Interesses stand und die sich einem zeitgenössischen Stadtführer gemäß als allererste stellte, wenn man in den Straßen Wiens einem Passanten begegnete: »Ist er ein Jud?«²⁴

I Phönizier bei Herodot und Homer Schon die Rekonstruktion der Bedeutung und Funktion, welche den Phöniziern in griechisch-antiken Diskussionen über das Fremde zukam, fördert durchaus Analogien zu antisemitischen Topoi zutage. Kein geringerer als Herodot, der

 Ludwig Hirschfeld: Das Buch von Wien. Was nicht im Baedeker steht. München 1927, S. 56. Für Barbara Neymeyr z. B. ist Diotimas Feststellung über Arnheims »Typus« Ausdruck »der genußvollen wechselseitigen Selbstbespiegelung der beiden antikisch modellierten Figuren«. Barbara Neymeyr: Antikisierte Moderne – modernisierte Antike. Zur Idealismus-Problematik in Musils Der Mann ohne Eigenschaften. In: Olaf Hildbrand und Thomas Pittrof (Hg.): »… auf klassischem Boden begeistert«. Antike-Rezeption in der deutschen Literatur. Freiburg im Breisgau 2004, S. 401– 417, hier S. 406. Franka Marquardt geht ebenfalls davon aus, dass Arnheim als Phönizier »hellenisch aussehe[]«. Franka Marquardt: Erzählte Juden. Untersuchungen zu Thomas Manns Joseph und seine Brüder und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Münster, Hamburg und London 2003, S. 62 f. Hildegard Hogen bemerkt zwar, das Phönikische spiele auf Arnheims »Tätigkeit als Geschäftsmann an«, die Phönizier würden »als Volk der Händler in der Antike« gelten, bringt diese Vorstellung aber nicht mit Arnheims jüdischer Herkunft in Verbindung. Hildegard Hogen: Die Modernisierung des Ich. Individualitätskonzepte bei Siegfried Kracauer, Robert Musil und Elias Canetti. Würzburg 2000, S. 112, Anm. 127. Peter Sprengel hingegen schreibt in seinem Aufsatz über die ›fremden Blicke‹ Hauptmanns auf Walther Rathenau, der Sinn des »sondern« in Diotimas Beobachtung sei »wohl gerade, das Phönizische als heroisch-erhabene Variante des Jüdischen zu beglaubigen«. Peter Sprengel: Phantom des Reichstags: fremde Blicke Hauptmanns auf Rathenau. In: Zeitschrift für Germanistik 8.1 (1998), S. 97– 107, hier S. 106. Friedbert Aspetsberger schließlich erwähnt in seiner BronnenBiographie sogar en passant, das Phönikische von Arnheims Schädel sei »auch ein Begriff des antisemitischen Diskurses« gewesen. Friedbert Aspetsberger: ›arnolt bronnen‹. Biographie. Wien, Köln und Weimar 2004, S. 360.

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Eine ›bemerkenswerte Einzelheit‹

»Vater der Geschichtsschreibung«,²⁵ führt an prominentester Stelle, am unmittelbaren Beginn seiner Historien die Ursache der fortwährenden »Auseinandersetzung« zwischen »Griechen und Nichtgriechen«, zwischen ›Okzident‹ und ›Orient‹ auf einen Frauenraub der Phönizier zurück. Dabei objektiviert er diese Schuldzuweisung über den rhetorischen Kniff, sie einer den Phöniziern eigentlich verbündeten Partei in den Mund zu legen: Er für seine »Person möchte darüber keine Aussage machen, dass es so oder anders geschehen sei«.²⁶ Aber ausgerechnet die »persischen Weisen«,²⁷ die doch »Asien […] und die dort wohnenden nichtgriechischen Volksstämme […] für sich« beanspruchten,²⁸ würden »behaupten, den Phoinikiern sei die Schuld an der Auseinandersetzung zuzuschreiben«.²⁹ Sie hätten die argivische Königstochter Io entführt, »und dies sei der Anfang der Feindseligkeiten gewesen«,³⁰ die schließlich zum trojanischen Krieg geführt hätten. In der Odyssee liegt ein ähnliches Muster vor. Im vierzehnten Buch erzählt Odysseus, um seine wahre Identität zu verbergen, dem Schweinehirten Eumaios eine erfundene Geschichte über seine Herkunft. In dieser Geschichte, die als Teil seiner Verhüllungstaktik wohl besonders gezwungen ist, einem kulturell vorherrschenden Narrativ zu folgen, behauptet Odysseus, ein »phönikischer Mann« (»ein arger Betrüger / Und Erzschinder, der viele Menschen ins Elend gestürzt hat«) habe ihn zu sich nach Phönizien eingeladen, ihn dann jedoch nach Libyen verkaufen wollen, um »großen Gewinn zu erwerben«.³¹ Und schon im nächsten Buch erfährt man, dass es sich bei Eumaios seinerseits um einen Königssohn aus Syria handelt, der als Kind von listigen phönizischen Händlern (»berühmt in der Seefahrt / Und Erzschinder«) entführt und nach Ithaka verkauft wurde, nachdem sie »ein ganzes Jahr« lang in seinem Herkunftsland »unzählige Güter« zusammengekauft hatten.³² In beiden Texten wird den Phöniziern demnach die Position eines komplementären ›Anderen‹ zugewiesen, das kollektiven hellenischen Werten, dem Selbstverständnis und ›way of life‹ der Griechen antithetisch gegenübersteht. Besonders in der Odyssee fungieren die Phönizier als Projektionsschirm für Ängste  Vgl. M. Tullius Cicero: De legibus. Paradoxa Stoicorum. Lateinisch und deutsch. Hg., übersetzt und erläutert von Rainer Nickel. Zürich 1994, S. 11 (1,5).  Herodot: Historien. Erstes Buch. Griechisch/Deutsch. Hg. von Kai Brodersen. Übersetzt von Christine Ley-Hutton. Stuttgart 2002, S. 11 (I. Buch, 1,1).  Ebd.  Ebd., S. 15 (I. Buch, 4,4).  Ebd., S. 11 (I. Buch, 1,1).  Ebd., S. 13 (I. Buch, 2,1).  Homer, Ilias. Odyssee, S. 696 (14. Gesang, Verse 288 f., 297).  Ebd., S. 716 f. (15. Gesang, Verse 414 f., 418, 455).

Phönizier im zeitgenössischen Diskurs (Chamberlain, Freud, von Luschan)

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und Probleme, mit denen sich die aufkeimenden griechischen Stadtstaaten selber zwischen dem neunten und siebten Jahrhundert v. Chr. angesichts eines raschen politischen, ökonomischen und sozialen Wandels konfrontiert sahen.³³ Die Phönizier, mit denen die Griechen im Wettbewerb um Märkte und Ressourcen standen, verstoßen dem Profit zuliebe gegen griechische Ehrenkodizes, täuschen Freundschaft und Gastfreundschaft nur vor. Ihre Geschäftspraktiken erscheinen als korrupt und korrumpierend. Sie zeigen völlige Gleichgültigkeit gegenüber der Qualität der Ware, mit der sie handeln. Sie repräsentieren so etwas wie eine Voroder Frühform eines gewinnsüchtigen Kapitalismus, der sich um hergebrachte ethische und soziale Normen, um Gesetze und die Konsequenzen seines Handels und Handelns nicht kümmert. Strukturell besetzen sie eine Gegenposition insbesondere zum heroischen Odysseus, der zwar auch als ›trickster‹ dargestellt wird, aber die traditionellen griechischen ›social codes‹ respektiert.³⁴ Innerhalb dieser Repräsentationsstrategie verkörpern die Phönizier als profitgierige, verräterische, gesetzlose und bedrohliche Barbaren also eine Alterität, die für griechische Identität konstitutiv ist und die gleichzeitig einen frühen Ableger respektive einen der Ausgangspunkte des westlichen Orientalismus bildet.³⁵

II Phönizier im zeitgenössischen Diskurs (Chamberlain, Freud, von Luschan) Die nachhaltige Wirkung dieser Stereotypisierungen³⁶ verrät schon ein Blick in eine der populärsten Quellen des modernen Rassendenkens, in Houston Stewart Chamberlains – übrigens in Wien verfassten³⁷ – Grundlagen des neunzehnten

 Vgl. Irene J. Winter: Homer’s Phoenicians: History, Ethnography, or Literary Trope? A Perspective on Early Orientalism. In: Jane B. Carter und Sarah P. Morris (Hg.): The Ages of Homer. A Tribute to Emily Townsend Vermeule. Austin 1995, S. 247– 272, hier S. 263.  Vgl. ebd., S. 257.  Vgl. ebd., S. 263.  Schon Johann Christoph Blumhardt etwa beteuerte in seinem 1843 erstmals erschienenen und bis 1899 zehnmal neu aufgelegten Handbüchlein der Weltgeschichte für Schulen und Familien, die Phönizier seien »verschlagen und wollüstig, ohne Sinn für etwas Höheres, räuberisch, grausam und treulos« gewesen und hätten »die abscheulichsten Sitten gehabt«. Das »Verbrennen kleiner Kinder« sei für sie »etwas Gewöhnliches« gewesen. Johann Christoph Blumhardt: Handbüchlein der Weltgeschichte für Schulen und Familien. Calw und Stuttgart 4 1857, S. 27.  Vgl. David Clay Large: Ein Spiegelbild des Meisters? Die Rassenlehre von Houston Stewart Chamberlain. In: Dieter Borchmeyer, Ami Maayani und Susanne Vill (Hg.): Richard Wagner und die Juden. Stuttgart und Weimar 2000, S. 144– 159, hier S. 147 f.

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Eine ›bemerkenswerte Einzelheit‹

Jahrhunderts, aus denen sich auch Musil ein paar Exzerpte anlegte.³⁸ Chamberlain hält darin dem phönizischen »Handel und Götzendienst« die »Wissenschaft und Kultur« der »Hellenen« entgegen.³⁹ Er bezeichnet die Phönizier als »Räuber[]« von geradezu »entsetzenerregend[er]« »geistige[r] Unfruchtbarkeit«, die im Unterschied zu den Hellenen keine »künstlerischen Grosstaten« zuwege gebracht, »stets nur auf Handelsobjekte [ge]fahnde[t]« und »bei fremden Völkern im Interesse ihres Handels künstliche Bedürfnisse grosszuziehen« verstanden hätten.⁴⁰ Dabei kann Chamberlain selbst aus Theodor Mommsens Römischer Geschichte zitieren, trotz der Diskrepanz zwischen ihren ›kulturellen Codes‹ und obgleich er sich bei anderer Gelegenheit nicht scheute, gegen Mommsen zu polemisieren.⁴¹ Denn Mommsen sah seinerseits in der »Verfassung« des phönizischen Karthago nichts weiter als ein »Capitalistenregiment« und sprach den Phöniziern im Gegensatz zu »uns Occidentalen«, zu den ›indogermanischen Nationen‹, »de[n] staatenbildende[n] Trieb, de[n] geniale[n] Gedanke[n] der sich selbst regierenden Freiheit« ab.⁴² Allerdings treten die Phönizier bei Chamberlain nur noch als Stellvertreter einer anderen ›outgroup‹ und Rasse in Erscheinung, denn viel prominenter werden in den Grundlagen bekanntermaßen die Juden in die Position eines konstitutiven Außen gerückt. Chamberlains Hauptwerk, das zwischen der Erstpublikation 1899 und 1944 in nicht weniger als 29 Auflagen gedruckt wurde, stammt ja aus genau der Zeit, in welcher der rassistisch begründete Antisemitismus zu einem der Leitdiskurse der Epoche geworden war. Weil sich die antiphönizischen Stereotype, wie sie bei Herodot und in der Odyssee zum Ausdruck kommen, mit den um die Jahrhundertwende verbreiteten, im engeren und eigentlichen Sinn antisemitischen überschneiden, geht die Stellvertreterfunktion der Phönizier bei Chamberlain so weit, dass er Unterschiede zwischen ihnen und Juden beinahe vollständig nivelliert: Rassisch soll es sich bei beiden um »pseudosemitische[] Mestizen« handeln⁴³ und zeitlich stellt er sie in ein Nachfolgeverhältnis zueinander. Die Phönizier erscheinen sozusagen als ›verschobene‹ Juden, als weitläufig tätige und vernetzte Protokapitalisten der Antike, deren Erbe

 Vgl. Musil, Tagebücher, Bd. 1, S. 491– 493, 530 – 532.  Houston Stewart Chamberlain: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts. München 11 1915, S. 889.  Ebd., S. 159, 163, 840.  Vgl. Houston Stewart Chamberlain: Der voraussetzungslose Mommsen. In: Die Fackel, 3.87 (1901), S. 1– 13.  Theodor Mommsen: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Berlin 31861, S. 479 f., 491.  Chamberlain, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, S. 441.

Phönizier im zeitgenössischen Diskurs (Chamberlain, Freud, von Luschan)

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die Juden antraten. Sie sollen »gewissermassen Juden« gewesen sein, »die niemals Propheten gekannt« haben.⁴⁴ Wie sehr diese Verknüpfung von Phöniziern und Juden von einer tief verankerten kollektiven Phantasie gesteuert wurde, bekräftigt aber auch ein Text ganz anderer Provenienz: Freuds Traumdeutung. In deren fünftem Kapitel, in einer Reihe von Träumen, die alle Freuds sogenannte »Rome neurosis«,⁴⁵ seinen Wunsch, endlich einmal Rom zu sehen, ausdrücken, werden Juden und ein Phönizier ebenfalls aufeinander bezogen. Freud interpretiert seine Romträume als eine Wunscherfüllung, die auf seiner jugendlichen Identifikation mit dem Phönizier Hannibal basiere. Motiviert sieht er seine »Schwärmerei für den karthagischen General« besonders in ersten Erfahrungen seiner jüdischen Alterität, seinem »erste[n] Verständnis für die Konsequenzen der Abstammung aus landesfremder Rasse«.⁴⁶ Hannibal bietet sich ihm als ein Modell eines »semitischen Feldherrn« an, das er antisemitischen Anfeindungen entgegenhalten kann und dessen Bedeutung sich ihm im Kontext des rassistischen Antisemitismus nachgerade zur »Fixierung« entwickelt.⁴⁷ Der heroische Phönizier wird ihm zum »Deckmantel und Symbol« für die »Zähigkeit« ausdrücklich »des Judentums«, die er der überlegenen Macht und »Organisation der katholischen Kirche« Roms und dem vehementen Antisemitismus im römisch-katholischen Wien entgegenhält.⁴⁸ Dort kam der christlich-soziale Antisemit Karl Lueger zu genau der Zeit an die Macht, in der Freud seine Romträume hatte.⁴⁹ Freuds Engführung von Juden und Phöniziern bleibt freilich nicht ohne Dissonanzen. Zwar verwandelt Freud den »semitischen Feldherrn« gleichsam in einen Juden und nutzt ihn als Imaginationsangebot dafür, wie Juden sich Handlungsmächtigkeit zulegen und sich dem Objektstatus widersetzen können, in den sie in den zahllosen, obsessiven Diskussionen über ihr Anderssein gezwungen wurden. Gleichzeitig aber stilisiert Freud Hannibal auch zur Antithese seines eigenen Vaters. Er setzt ihn als Männlichkeitsvorbild an dessen Stelle und lässt so erkennen, in welch verwickeltem Zusammenhang die Kategorien ›race‹ und ›gender‹ für ihn standen. Freud ortet als eigentlichen Ursprung seiner Hannibalfixierung nämlich ein »Jugenderlebnis«, das in seinen »Empfindungen und

 Ebd., S. 163.  Carl E. Schorske: Fin-de-siècle Vienna. Politics and Culture. New York 1980, S. 190.  Freud, Traumdeutung, S. 202 f.  Ebd., S. 202.  Ebd., S. 202 f.  Vgl. Gerald N. Izenberg: Seduced and Abandoned: The Rise and Fall of Freud’s Seduction Theory. In: Jerome Neu (Hg.): The Cambridge Companion to Freud. Cambridge 1991, S. 25 – 43, hier S. 40.

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Eine ›bemerkenswerte Einzelheit‹

Träumen noch heute seine Macht« äußere:⁵⁰ eine Geschichte seines Vaters darüber, wie er als »junger Mensch« von einem »Christ[en]« öffentlich gedemütigt wurde,⁵¹ wie dieser ihm sein Schtreimel – den traditionellen Sabbath-Pelzhut der osteuropäischen Chassidim – vom Kopf geschlagen und ihn beschimpft habe. Eingeprägt hat sich dem adoleszenten Freud diese Episode indessen nicht oder nicht in erster Linie wegen des aggressiven Antisemitismus, den sie veranschaulicht. Zentralen Stellenwert erhält die Geschichte für Freud erst, weil ihm sein Vater »gelassen[]« erzählt, er habe sich gegen diese Demütigung nicht gewehrt und lediglich »die Mütze« wieder »aufgehoben«.⁵² Diese passive Reaktion des eigentlich »starken Mann[es]« fand der junge Freud »nicht heldenhaft«.⁵³ Sie widersprach hegemonialen mitteleuropäischen Männlichkeitsvorstellungen und veranlasste ihn, sich ein erstes Mal zu wünschen, Hannibals Stelle einzunehmen: die Position eines Sohnes, dessen Vater Hamilkar »seinen Knaben vor dem Hausaltar schwören« ließ, »an den Römern Rache zu nehmen«.⁵⁴ Wie Daniel Boyarin in Unheroic Conduct aufzeigt, sind Freuds Hannibalphantasien paradigmatisch für »the parallel shift of Jews from ›traditional‹ to ›modern‹ and ›eastern‹ to ›western‹, and the ways that both are intimately implicated in questions of male gender«.⁵⁵ Freuds Vater steht für ein herkömmliches jüdisches – für den akkulturierten Sohn ein offensichtlich stigmatisiertes ostjüdisches – Männlichkeitsverständnis, das sich von höfisch-kriegerischen mitteleuropäischen Männlichkeitsnormen abgrenzte und in antisemitischen und zionistischen Diskursen gleichermaßen als unmännlich galt. Freud formuliert mithin eine Gedankenfigur, in welcher der eigentlich nicht-jüdische, antike Phönizier Hannibal zum Leitbild eines modernen männlichen Juden avanciert und die bezeichnend ist für die Diskurse vom ›neuen jüdischen Mann‹ und ›Muskeljuden‹ um die Jahrhundertwende;⁵⁶ für die Bemühungen in jüdischen Kreisen, jüdische Männlichkeit neu zu definieren und dem Ideal der antisemitischen Aggressoren anzugleichen. Dieses Denkmuster, das Freud bei der komplexen Aushandlung seiner jüdischen Identität mobilisiert, klingt im Mann ohne Eigenschaften in Diotimas Wortlaut an, dass Arnheim »nicht im geringsten jüdisch« aussehe, »sondern ein

 Freud, Traumdeutung, S. 202.  Ebd., S. 203.  Ebd.  Ebd.  Ebd.  Daniel Boyarin: Unheroic Conduct. The Rise of Heterosexuality and the Invention of the Jewish Man. Berkeley 1997, S. 34.  Vgl. ebd., S. 37.

Phönizier im zeitgenössischen Diskurs (Chamberlain, Freud, von Luschan)

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vornehm bedachter Mann von phönikisch-antikem Typus« sei. So oder jedenfalls so ähnlich wie Freud seine Zugehörigkeit zum Judentum gleichzeitig affirmiert und verdrängt, versucht auch Diotima, Arnheims mutmaßliche jüdische Herkunft an eine positiver besetzte Antike zu knüpfen und so zu nobilitieren. Auch für sie stellt Arnheim als Phönizier offenbar eine Art besseren Juden dar, der ihrem Stereotyp von jüdischer ›Unvornehmheit‹ widerspricht und dieses gleichzeitig verrät; so wie auch Freuds eigenes Bemühen, Hannibal als heroischen Verwandten zu reklamieren, dem Rassendenken verhaftet bleibt, das ihn als Juden diskriminierte und dem er – so jedenfalls lautet eine These Sander Gilmans – mit dem universalen Gültigkeitsanspruch seiner Psychoanalyse gerade entkommen wollte.⁵⁷ Spezifischer allerdings lässt sich Diotimas Beobachtung in dem naturwissenschaftlich-exakten ›Wissens‹-Gebiet der Rassendiskussionen verorten, in dem auch schon Virchows extensive Untersuchung angesiedelt war: im Gebiet der vergleichenden Anthropometrie, in deren Diskurs sich Musil mit einer Tagebuchnotiz gewissermaßen selber einschrieb, gleich nachdem er Rathenau am 11. Januar 1914 in Berlin kennengelernt hatte. Denn die Physiognomie Rathenaus, der bekanntlich in mancher und auch in dieser Hinsicht das ›Vorbild‹ für Arnheim abgab, vermaß Musil durchaus im Duktus und in der Diktion eines Kraniologen – und nicht ohne gleich neben dieser Notiz viermal zu versuchen, ihn und seine Schädelform im Profil zu zeichnen:⁵⁸ Etwas Negroides im Schädel. Phönikisches. Stirn und vorderes Schädeldach bilden ein Kugelsegment, dann steigt der Schädel – hinter einer kleinen Senkung, einem Stoß – rückwärts empor. Die Linie Kinnspitze – weitestes Hinten des Schädels steht beinahe unter 45° zur Horizontalen, was durch einen kleinen Spitzbart (der kaum als Bart sondern als Kinn wirkt) noch verstärkt wird. Kleine kühne gebogene Nase. Auseinandergebogene Lippen. Ich weiß nicht wie Hannibal aussah, aber ich dachte an ihn.⁵⁹

 Vgl. Sander Gilman: Freud, Identität und Geschlecht. Frankfurt am Main 1994, S. 67.  Vgl. Musil, Klagenfurter Ausgabe, Transkriptionen / Heft 7/36.  Musil, Tagebücher, Bd. 1, S. 295. Nota bene bezeichnet auch Gerhart Hauptmann, der von Musils Notiz kaum etwas wissen konnte, um den Jahreswechsel 1928/29 herum in seinem unvollendeten Manuskript Berliner Kriegs-Roman den »Kahlkopf« seiner Rathenau-Figur als den eines »Sufeten« und die Figur ihrerseits als »Punier«, der »wahrscheinlich unter den alten Phöniziern seine Vorfahren gehabt habe«. Gerhart Hauptmann: Berliner Kriegs-Roman [Fragment]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Hans-Egon Hass, Bd. 10: Nachgelassene Werke. Fragmente. Frankfurt am Main und Berlin 1996 (Centenar-Ausgabe), S. 325 – 370, hier S. 370. Vgl. Hans-Georg Pott: Besitz und Bildung. Zur Figur des Großindustriellen Arnheim in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. In: Susanne Hilger (Hg.): Kapital und Moral. Ökonomie und Verantwortung in historisch-vergleichender Perspektive. Köln, Weimar und Wien 2007, S. 121– 138, hier S. 116 f. Insofern ist es gut möglich, dass sich schon Musil bei seiner Tagebuchnotiz auf einen Prätext bezieht, den Hauptmann ebenfalls kannte.

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Eine ›bemerkenswerte Einzelheit‹

Im Kontext anthropometrischer Diskurse also ist Diotimas Diagnose, dass der »phönikisch-antike Typus« des ›vornehmen‹ Arnheim »nicht im geringsten jüdisch« sei, anschließbar an die Frage, aus welchen ›Urrassen‹ die Juden und Phönizier hervorgegangen und an welchen somatischen Eigenschaften diese Mischungen ersichtlich sein sollen. Sie lässt sich mit der rassischen und kraniologischen Typologie eines anderen Anthropologen aus dem Umfeld der deutschen anthropologischen Gesellschaft in Beziehung setzen: mit Felix von Luschan, der für seine Studie über Die anthropologische Stellung der Juden seinerseits immerhin 60’000 Schädelmessungen durchgeführt haben wollte. Von Luschan, der 1911 auf den ersten Lehrstuhl für Anthropologie in Berlin berufen wurde⁶⁰ und dem Virchow seine 2300 Nummern zählende Skelettsammlung vererbte,⁶¹ stammt in der politisch-weltanschaulichen Landschaft der Zeit zwar aus einer anderen Umgebung als Chamberlain. Vom gängigen Antisemitismus versucht er sich nachdrücklich abzugrenzen. Er unterstreicht die »ethischen Eigenschaften der Juden«,⁶² insistiert auf ihrer kulturhistorischen Bedeutung und greift, um ihre militärische und politische Stärke zu illustrieren, ebenfalls auf das Beispiel Karthagos zurück, vor dem »Rom gezittert« habe.⁶³ Wie schon Virchow widerspricht er der verbreiteten Meinung, dass es eine reine jüdische oder arische Rasse gebe. Aber dass sich die originalen Rassen rekonstruieren lassen, aus deren Durchmischung die modernen Juden hervorgegangen sind, zieht von Luschan nicht weiter in Zweifel. Er entwickelt ein Modell ihrer rassischen Genealogie, das auch die Varietäten der Haar-, Haut- und Augenfarbe unter ihnen erklären konnte, die Virchow statistisch nachgewiesen hatte. Seine Klassifikationen, auf die sich Chamberlain wesentlich stützte, erklären, warum die Differenzen zwischen Juden und Phöniziern in den Grundlagen eben doch nur beinahe eingeebnet und warum Chamberlain sogar expressis verbis und wie Diotima selber von einem »phönizische[n] Typus« spricht.⁶⁴ Anhand einer »nicht ganz geringe[n] Anzahl von Schädeln« aus »Gräbern mit phönicischen Inschriften« diagnostiziert von Luschan, dass der »phönizische« im Gegensatz zum jüdischen »Typus« dem der »wirklichen Semiten«, der »ältesten  Vgl. Neue deutsche Biographie. Hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 15: Locherer–Maltza(h)n. Berlin 1987, S. 529, s. v. ›Luschan, Felix Ritter v.‹  Vgl. Anja Laukötter: Von der »Kultur« zur »Rasse« – vom Objekt zum Körper? Völkerkundemuseen und ihre Wissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Bielefeld 2007, S. 42, 207.  Felix von Luschan: Die anthropologische Stellung der Juden. In: Correspondenz-Blatt der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 13 (1892), S. 94– 100, hier S. 99.  Ebd., S. 100.  Chamberlain, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, S. 447, Anm. 2.

Phönizier im zeitgenössischen Diskurs (Chamberlain, Freud, von Luschan)

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Araber« noch sehr nahe gestanden habe.⁶⁵ Diesen ältesten Semiten schreibt er die in aller Regel vornehm-adlig konnotierte,⁶⁶ »hervorragende Eigenschaft« »lange[r] schmale[r] Köpfe« zu.⁶⁷ In Übereinstimmung mit dem impliziten Schönheitsideal auch von Luschans sollen die Semiten und Phönizier »ausgesprochene Langschädel« gehabt haben,⁶⁸ so wie auch Arnheim im Mann ohne Eigenschaften ein betont »vornehmer Kopf«⁶⁹ attestiert wird. Die hybriden Juden hingegen seien entstanden, indem sich die langschädligen Semiten mit indoeuropäischen Amoritern, vor allem aber mit rundschädligen Hethitern vermischt und dadurch ihre Langschädligkeit größtenteils eingebüßt hätten. Hauptsächlich stellten sie heute Nachkommen dieser alten Hethiter mit ihrer »extreme[n] Kurzköpfigkeit«⁷⁰ dar: Nur »etwa 5 Prozent« der Juden seien noch »gute Langschädel«, nur noch »ein kleiner Bruchteil« rekrutiere sich »aus wirklichen Semiten«,⁷¹ deren physische Eigenschaften aber »immer und immer wieder neu zum Vorschein kommen« könnten.⁷² Wie von Luschan »mit dem größten Nachdruck« betont haben will, sollen solche Eigenschaften auch »durch hunderte von Generationen vererbt werden« können⁷³ – so dass folgerichtig auch der »phönikisch-antike[] Typus« unter den »modernen Juden«⁷⁴ immer wieder in Erscheinung treten kann. »[N]icht im geringsten jüdisch« soll von Luschan zufolge am »phönikischantiken« oder semitischen »Typus« überdies eine physiognomische Partie sein, die die meisten »modernen Juden« ebenfalls den Hethitern verdankten. Die kurzschädligen Hethiter sollen durch ein weiteres rassentypologisch signifikantes Kennzeichen markiert gewesen sein, das den impliziten Schönheitskriterien der Rassenforscher, ihrem anatomischen Leitbild nicht genügte: durch »genau dieselben grossen gebogenen Nasen, die wir hier als jüdisch zu bezeichnen pflegen«.⁷⁵ Diese symptomatischen Nasen, die im antisemitischen Bildrepertoire einen im Wortsinn prominenten Platz einnahmen und »das jüdische Gesicht in der westlichen Diaspora« wie kaum ein anderes Merkmal vermeintlich »sichtbar«

          

Von Luschan, Die anthropologische Stellung der Juden, S. 96. Vgl. z. B. Poliakov, Der arische Mythos, S. 313. Von Luschan, Die anthropologische Stellung der Juden, S. 96. Ebd. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 183. Von Luschan, Die anthropologische Stellung der Juden, S. 98. Ebd., S. 96. Ebd., S. 95. Ebd. Ebd., S. 99. Ebd., S. 98.

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Eine ›bemerkenswerte Einzelheit‹

machen sollten,⁷⁶ spricht von Luschan den Semiten und Phöniziern prononciert ab. Ihre »kurze, kleine und wenig gebogene Nase« sei »in jedweder Beziehung das Gegentheil von dem«, »was der Laie bei uns zu Lande als eine echte Judennase zu bezeichnen« pflege.⁷⁷ Mindestens ansatzweise im Sinn dieser Taxonomie hat der phönizisch anmutende Rathenau in Musils Portrait denn auch eine »[k]leine«, wenngleich mehr als nur ›wenig‹ »gebogene« Nase und fällt Arnheims im Gegensatz zu seinem ›Schädel‹ offensichtlich nicht »bemerkenswert[e]« Nase zumindest unter die Unbestimmtheitsstellen des Texts. Nur sein minder vornehmer Vater – »einfach« ein »kleine[r], breitschultrige[r] Kerl« – wird eigens mit einer ungewöhnlichen »Knopfnase« versehen,⁷⁸ die mit ihren ausladenden Nasenflügeln und ihrem flachen Nasenrücken in der zeitgenössischen Anthropologie in aller Regel als eine typisch afrikanische Nasenform eingestuft wurde.⁷⁹ Mit der jüdischen Herkunft des alten Arnheim steht sie vielleicht insofern in Verbindung, als die rassische Beziehung der Juden zu Afrikanern in der Ethnologie des neunzehnten Jahrhunderts längst zum Gemeinplatz geworden war (worauf ja auch das »Negroide[] im Schädel« noch hinweist, das Musil an Rathenau beobachtet haben will).⁸⁰

 Sander L. Gilman: Der jüdische Körper. Gedanken zum physischen Anderssein der Juden. In: Jüdisches Museum der Stadt Wien (Hg.): Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen. Wien 1995, S. 168 – 179, hier S. 168.  Von Luschan, Die anthropologische Stellung der Juden, S. 96.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 270.  Der Wiener Anthropologe Josef Weninger etwa erklärte in seiner an hundert »westafrikanischen Negern« durchgeführten »morphologisch-anthropologisch[en] Studie« die Knopfnase zur überhaupt ›primitivsten‹ und in größtem Abstand zur ›europäischen Nase‹ stehenden Nasenform. Vgl. Josef Weninger: Eine morphologisch-anthropologische Studie. Durchgeführt an 100 westafrikanischen Negern, als Beitrag zur Anthropologie von Afrika. Wien 1927, S. 75 – 89. Vgl. auch Margit Berner: From »Prisoner of War« Studies to Proof of Paternity: Racial Anthropology and the Measuring of »Others« in Austria. In: Marius Turda und Paul J. Weindling (Hg.): Blood and Homeland. Eugenics and Racial Nationalism in Central and Southeast Europe 1900 – 1940. Budapest 2007, S. 41– 53, hier S. 45 f.  Vgl. Gilman, Der jüdische Körper, S. 168 f.; ders., Making the Body Beautiful. A Cultural History of Aesthetic Surgery. Princeton 1999, S. 85 – 91. Chamberlain zufolge sollen die Semiten »nach der jetzt fast überall geltenden Anschauung« aus einer »Kreuzung zwischen Neger[n] und Weissen« entstanden sein. Chamberlain, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, S. 420, Anm. 2. Georg Zivier beschreibt in Deutschland und seine Juden, wie eine »Knopfnase« von »Nazi-Anthropologen gleichfalls als Merkmal jüdischer Abstammung eingestuft werden konnte und sich in einem [ihm] bekannten Fall für den ›Nasenträger‹ geradezu lebensgefährlich auswirkte, denn das Rasseamt wollte dem ›Mischling ersten Grades‹ den Versuch, in die deutsche ›Volksgemeinschaft‹ einzudringen, als heimtückisches Verbrechen ankreiden«. Georg Zivier: Deutschland und seine Juden. Ein Buch gegen Vorurteile. Hamburg 1971, S. 79.

Zu Arnheims Erkennbarkeit als Jude

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III Zu Arnheims Erkennbarkeit als Jude Zum Zeitpunkt jedenfalls, als Musil Diotima das also eigentlich nur auf einen ersten Blick irritierende rassenbiologische Merkmal Arnheims benennen und dessen »phönikisch-antiken Typus« auf eine Weise vom jüdischen unterscheiden lässt, die in den zeitgenössischen Rassendiskursen rekontextualisiert werden kann – zu diesem Zeitpunkt ist die Frage nach Arnheims »jüdischer Abstammung« noch nicht beantwortet. Sie ist durch eines von mehreren, sich noch widersprechenden »Gerüchte[n]«,⁸¹ die über den Großindustriellensohn kursieren, eben erst gestellt. Aufgeworfen wird sie, obwohl oder gerade weil Arnheims Assimilationsund Akkulturationswille fast schon groteske Züge annimmt: Arnheim trägt nicht nur den Vornamen Paul, den Namen also des überhaupt berühmtesten Konvertiten. Er kann auch »mit jedem in seiner Sprache reden«⁸² und ist »imstande, ebenso unumschränkt« »mit Großindustriellen über die Industrie und mit Bankleuten über die Wirtschaft zu sprechen« wie »über Molekularphysik, Mystik oder Taubenschießen zu plaudern«.⁸³ Er vermag Kennern die feinsten Stichworte ihres Wissensgebiets zu bringen, kannte aber ebensogut jede wichtige Person aus dem englischen, dem französischen oder japanischen Adel und wußte auf Renn- und Golfplätzen nicht nur in Europa, sondern auch in Australien und Amerika Bescheid. […] Er spricht von Liebe und Wirtschaft, von Chemie und Kajakfahrten, er ist ein Gelehrter, ein Gutsbesitzer und ein Börsenmann; mit einem Wort, was wir alle getrennt sind, das ist er in einer Person […].⁸⁴

Dieser kaum zu überbietende Eifer Arnheims, jegliche kulturelle Alterität aufzuheben, seine Überidentifikation mit der ›westlichen‹ Kultur verhindert nicht, dass über seine jüdische Herkunft spekuliert wird. Durch seine maximale Assimilation scheint er sich mindestens vordergründig an die (auto‐)aggressive Forderung zu halten, die Rathenau in seinem notorischen Aufsatz Höre Israel! stellte: dass Juden alle Eigenheiten konsequent abzulegen hätten, die sie als solche erkennbar machten.⁸⁵ Das Stigma seiner »Abstammung« scheint aber selbst er nicht löschen und antisemitischen Diskriminierungen nicht entgehen zu können. Das alltagsantisemitische Bedürfnis, angepasste Juden trotz oder gerade wegen ihrer Angepasstheit immer noch als Angehörige einer Minderheit zu identifizieren, wird in den sich widersprechenden »Gerüchte[n]« im Mann ohne Eigenschaften

    

Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 108. Ebd., S. 271. Ebd., S. 189. Ebd., S. 189 f. Vgl. Walther Rathenau: Höre Israel! In: Ders.: Impressionen. Leipzig 1902, S. 1– 20.

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Eine ›bemerkenswerte Einzelheit‹

demnach manifest. Als Reaktion auf exakt dieses Bedürfnis, auch assimilierte Juden immer noch als solche ausfindig zu machen, lässt sich das Aufkommen des rassenbiologisch argumentierenden Antisemitismus im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts verstehen. Auch jene Juden, die nicht mehr, wie Graf Leinsdorf als »Gegner der Assimilation« es sich wünschte, »hebräisch« beziehungsweise jiddisch sprachen, »ihre alten eigenen Namen« trugen und sich »orientalisch[]« kleideten,⁸⁶ sollten trotz ihrer Akkulturation und rechtlichen Gleichstellung (in der Habsburgermonarchie seit 1867) nach wie vor als Juden erkannt werden können: wenn auch nicht mehr über ihre kulturelle, so immerhin noch über ihre physische Differenz. »Ich gebe zu«, meint Graf Leinsdorf in der überhaupt längsten Verhandlung der »Judenfrage« im ganzen Roman, daß ein soeben erst bei uns reich gewordener Galizianer im Steireranzug mit Gamsbart auf der Esplanade von Ischl nicht gut aussieht. Aber stecken Sie ihn in ein lang herabwallendes Gewand, das kostbar sein darf und die Beine verdeckt, so werden Sie sehen, wie ausgezeichnet sein Gesicht und seine großen lebhaften Bewegungen zu dieser Kleidung passen! Alles, worüber man sich jetzt Witze erlaubt, wäre dann am richtigen Ort […].⁸⁷

Mit Arnheim freilich will Leinsdorf diesen Vorschlag, dass die »ganze sogenannte Judenfrage« durch eine Unterbindung von Hybridität, durch Segregation »aus der Welt« zu schaffen wäre,⁸⁸ ausdrücklich gerade nicht in Zusammenhang bringen. In einer merkwürdigen und aufschlussreichen Paralipse merkt er an, wie er zu seinem ›katholischen Scharfblick‹, »die Dinge« auch in der »Judenfrage« so »zu sehn, wie sie wirklich sind«, »geführt worden« sei: Nicht durch den Arnheim, von den Preußen red ich jetzt nicht. Aber ich habe einen Bankier, natürlich mosaischer Religion, mit dem ich schon seit langer Zeit regelmäßig konferieren muss, und da hat mich anfangs sein Tonfall immer etwas gestört, so daß ich auf das Geschäftliche nicht recht habe aufpassen können. Er spricht nämlich genau so,wie wenn er mir einreden möchte, daß er mein Onkel wäre; ich meine, so, wie wenn er grade vom Pferd abgestiegen wäre oder vom großen Hahn zurückkäme; so, wie unsere eigenen Leute reden, möchte ich halt sagen: Kurz und gut aber, hie und da, wenn er in Eifer kommt, mißlingt ihm das, und dann, kurz gesagt, jüdelt er halt. Das hat mich sehr gestört, habe ich, glaub ich, anfangs schon bemerkt; weil das nämlich immer gerade in den geschäftlich wichtigen Augenblicken vorgekommen ist, so daß ich unwillkürlich schon darauf gewartet habe und auf das andere schließlich gar nicht mehr habe aufpassen können oder einfach aus allem etwas Wichtiges herausgehört habe. Da bin ich dann aber eben darauf gekommen: Ich hab mir einfach jedesmal,wenn er so zu reden angefangen hat,vorgestellt, er spricht hebräisch, und da hätten Sie nun hören sollen, wie angenehm es dann klingt!⁸⁹

   

Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 844. Ebd. Ebd. Ebd., S. 844 f.; im Original keine Hervorhebung.

Zu Arnheims Erkennbarkeit als Jude

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Die Kategorien ›des Juden‹ und ›des Preußen‹ kommen sich in Leinsdorfs auf Eindeutigkeit und Einheitlichkeit angelegtem Denken hier in die Quere. Wie Franka Marquardt gezeigt hat, erscheint Arnheim in Leinsdorfs Sprechen über ›den Juden‹ als »Störfaktor« und »Stolperstein«.⁹⁰ Er taucht in einem Redekontext als Preuße auf, in dem er eigentlich nur als Jude etwas zu suchen hätte, und unterwandert Leinsdorfs Erörterung über das »wahre[] Wesen« der Juden, indem er aus ihr ausgeschlossen wird. Für die katholisch-habsburgische Identität des Grafen, der ja der gegen Preußen gerichteten Parallelaktion vorsitzt, erweist sich eine Distanzierung vom Kriegsgegner von anno 1866 offensichtlich als vordringlicher als eine Abgrenzung gegenüber dem Judentum. Dass Arnheims jüdische Herkunft in Leinsdorfs Erläuterung nur noch als Fehlleistung einbricht, dass er in der Wahrnehmung des Grafen auch an anderer Stelle vorrangig als Preuße figurieren kann, unterstreicht und bestätigt zugleich noch einmal seine vorbehaltlose Assimilation. Arnheim ›jüdelt‹ eben auch nicht in »den geschäftlich wichtigen Augenblicken«, »wenn er in Eifer kommt«. Sein Ausschluss aus Leinsdorfs Ausführungen lässt supplieren, dass er den Grafen wohl auch »im Steireranzug mit Gamsbart« nicht störte, oder zumindest nicht als Jude, sondern höchstens als Preuße. Denn neben Arnheim soll sogar Tuzzi »mit seinem Bärtchen und den südländischen Augen« aussehen »wie ein levantinischer Taschendieb neben einem Bremenser Handelsherrn«,⁹¹ einem Kaufmann aus einer der Städte des Nordens mithin, der innerhalb der kulturellen Topographie Deutschlands ganz besonders ›germanisch‹ codiert war.⁹² Auch in Schädelstudien der deutschen Frühgeschichtsforschung war der Norden zur »Urheimat der Germanen« mit ihren »lange[n] Schädel[n]« und ihrem »mächtigen Körperbau mit breiter Brust und schönem Maßverhältnis von Rumpf und Gliedern« bestimmt worden.⁹³ Obwohl er also wie ein prototypischer »Bremenser Handelsherr[]« aussehen soll und trotz seiner maximalen, mutmaßlich kompensatorischen und jedenfalls überzeichneten Akkulturationsbemühungen bleibt Arnheim im Mann ohne Eigenschaften als Jude sichtbar. Zweifelsfrei belegt wird seine Zugehörigkeit zum Judentum erst auf Seite 543. Die Frage danach wird indessen schon 435 Seiten früher eigens gestellt und steht fortan unbeantwortet im Raum.Verlässlich geklärt wird sie erst, als Arnheim darüber nachdenkt, »wie er als Jude« in der preußischen

 Marquardt, Erzählte Juden, S. 291.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 195.  Zum Nord-Südgefälle z. B. bei Thomas Mann vgl. Yahya Elsaghe: Die imaginäre Nation. Thomas Mann und das ›Deutsche‹. München 2000.  Alfred Schliz: Rassenfragen. In: Johannes Hoops (Hg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Straßburg 1911– 1919, Bd. 3, S. 439 – 459, hier S. 440, 442, 444.

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Eine ›bemerkenswerte Einzelheit‹

Armee »nicht Reserveoffizier« werden konnte.⁹⁴ Schon zwei Abschnitte nachdem Arnheims »jüdische[] Abstammung« kolportiert wird, lädt der Text seine Leserschaft aber ein, sich an den Spekulationen um die Herkunft des preußischen Großindustriellensohns zu beteiligen. Im Kontext des Status, den die Phönizier im völkergeschichtlichen und anthropologischen Diskurs erhalten, kommt er einem Bedürfnis jener Rezipienten entgegen, die gewillt sind, Arnheims jüdische Herkunft über eine rassische Kategorie zu dechiffrieren. Er macht dieser Leserschaft das Angebot, einen Juden selbst dann noch über ein somatisches Merkmal als solchen zu identifizieren, wenn dieser wenigstens auf einen ersten Blick »nicht im geringsten jüdisch« aussieht, und enthält somit einen gängigen alltagsantisemitischen Diskriminierungsmechanismus. Werner Sombart, dem Musil 1914 gleichzeitig mit Rathenau vorgestellt wurde, hatte nur drei Jahre vor dieser Begegnung in Die Juden und das Wirtschaftsleben geschrieben, »de[m] Juden« gelinge es sogar, »seiner ausgesprochenen Körperlichkeit in weitem Umfange das Aussehen zu geben, das er ihr geben möchte«.⁹⁵ In diesem Sinn erreicht selbst Arnheim eine solche Anpassung nicht ganz restlos, sondern nur »in weitem Umfange«. Auch bei ihm versagen die rassenbiologischen Wahrnehmungskriterien letztlich nicht, trotz seiner immensen Bemühungen, sich eine Identität ohne die Kennzeichen des Andersseins zu konstruieren. Arnheim stellt für diese Kriterien zwar einen Prüfstein da. Aber letztlich muss selbst er in der Position eines Mimkry-Juden verharren und wird das antisemitische Phantasma der untilgbaren Erkennbarkeit von Juden vielleicht umso nachhaltiger bestätigt.⁹⁶ Dass sich die Synthese von Phöniziern und Juden aus einem kollektiven Vorstellungsregister speiste und ihre Zusammengehörigkeit im Dispositiv der Rassendiskurse tief verankert war, bekräftigt noch einmal Georg Rosens 1929, also nur ein Jahr vor dem ersten Band des Mann ohne Eigenschaften erschienene Schrift Juden und Phönizier (eingeleitet und erweitert vom Tübinger Theologieprofessor Georg Bertram, dem späteren Leiter des Instituts zur Erforschung und Beseitigung

 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 543.  Werner Sombart: Die Juden und das Wirtschaftsleben. München und Leipzig 1920, S. 327.  Bestätigt wird diese Erkennbarkeit im übrigen auch durch die beiden anderen eindeutig jüdischen Figuren, die Ulrich erst während der erzählten Zeit kennenlernt: An der von Diotima zur französischen Kammerzofe stilisierten Rachel beziehungsweise Rachelle erfasst der Mann ohne Eigenschaften – so indefinit das pronominal Bezeichnete auch bleibt – »[e]twas Arabischoder Algerisch-Jüdisches«. Und an der Beerdigung seines Vaters ›entgeht‹ ihm nicht, dass der nervös dirigierende »Unternehmer der Leichenbestattung, der den katholischen Zug zum Friedhof« führt, »ein großer, kräftiger Jude von einigen dreißig Jahren« ist, obschon dieser »Trauergeschäftsmann« einen wenig stereotypen »langen blonden Schnurrbart« trägt. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 95, 692, 710.

Körperbau und Charakter

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des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben).⁹⁷ In dieser Darstellung über Das antike Judentum als Missionsreligion und die Entstehung der jüdischen Diaspora entfallen auch die ›kleinen Unterschiede‹, die bei Chamberlain und Freud zwischen Juden und Phöniziern noch ausgemacht werden können. Beide, Phönizier und Juden, verschmelzen zu einem synkretistischen »phönizisch-jüdischen Krämertum«,⁹⁸ gehören »völkisch[] und kulturell[]« zusammen.⁹⁹ Sie sind »einfach […] Kanaanäer«,¹⁰⁰ das Hebräische und das Phönizische je Dialekte des Kanaanäischen.¹⁰¹ Den Grund für das »Verschwinden der Phönizier vom Schauplatz der Weltgeschichte« ermittelt Rosen im Proselytentum.¹⁰² Er erklärt sich »die ungeheure Vermehrung und Ausbreitung des Volks der Juden« mit dem »Uebertritt der Hauptmassen der phönizischen Bevölkerung […] zum Judentum«.¹⁰³ Das angebliche »Vorkommen negroider Typen im aschkenasischen Judentum« bringt er in einen Kausalzusammenhang mit dem phönizischen Sklavenhandel.¹⁰⁴ Und ähnlich wie Arnheims Assoziation mit den Phöniziern es Leserinnen oder Lesern des Mann ohne Eigenschaften erlaubt, seine »jüdische[] Abstammung« vorzeitig zu ermitteln, konstatiert Rosen selbstzufrieden, er habe »noch immer die Juden sofort mit Sicherheit erkannt«.¹⁰⁵

IV Körperbau und Charakter Zu dieser »Sicherheit«, mit der das zeitgenössische Lesepublikum Arnheims »Abstammung« vorzeitig eruieren konnte, trägt vielleicht auch schon sein Familienname bei. Bereits ex nomine war Arnheims Herkunft möglicherweise inkriminierbar, so dass ein solcher Verdacht durch bestimmte phänotypische Merk-

 Vgl. Susannah Heschel: Deutsche Theologen für Hitler. Walter Grundmann und das Eisenacher »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben«. In: Fritz Bauer Institut (Hg.): »Beseitigung des jüdischen Einflusses…«. Antisemitische Forschung, Eliten und Karrieren im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main und New York 1999, S. 147– 168, hier S. 158.  Georg Rosen: Juden und Phönizier. Das antike Judentum als Missionsreligion und die Entstehung der jüdischen Diaspora. Neu bearbeitet und erweitert von Friedrich Rosen und D. Georg Bertram. Tübingen 1929, S. 91.  Ebd., S. 158, Anm. 26.  Ebd., S. 5.  Vgl. ebd., S. 8.  Ebd., S. 1; Hervorhebung im Original.  Ebd., S. 1, 4; Hervorhebungen im Original.  Ebd., S. 173, Anm. 6.  Ebd., S. 11.

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Eine ›bemerkenswerte Einzelheit‹

male lediglich noch ergänzt und bestätigt zu werden brauchte. In der Musil-Forschung boten die Bedeutung und die Herkunft des Namens Arnheim zwar wiederholt Anlass für Spekulationen.¹⁰⁶ Obwohl die Namengebung zu den elementaren literarischen Techniken der Markierung und Stigmatisierung jüdischer Figuren gehörte, ist aber wiederum nur ausnahmsweise gefragt worden, in welchem Verhältnis dieser Name zu Arnheims Judentum steht. Zwar vermutete man zum Beispiel, der Name des »unermesslich reich[en]« »Finanzmann[s]« leite sich von einem Berliner Dialektausdruck für »Geldschrank« her;¹⁰⁷ jedoch nicht, dass Musils Namengebung dann in verdächtige Nähe zur verbreiteten Tradition antisemitischer Namenspolemiken rückte. Oder man mutmaßte, die erste Namenssilbe, das »Arn = ehern« gebe einen Hinweis auf die »wahre Identität Arnheims«, »die des Industriemagnaten«;¹⁰⁸ hingegen nicht, dass diese Anfangssilbe sinnfällig auf einen prototypischen jüdischen Vornamen verweist, auf Aaron, der – auch nach Ausweis der dokumentierten, sehr häufigen Namensänderungsanträge¹⁰⁹ – zu den am stärksten jüdisch stigmatisierten gehörte. Erst Marquardt stellte fest, dass Arnheim »von Ferne jüdisch klinge«, da »jüdische Herkunftsnamen doch häufig auf -heimer« endeten.¹¹⁰ Im Jüdischen Adreßbuch für Groß-Berlin von 1931 jedenfalls wird der Name Arnheim immerhin 29 Mal aufgeführt.¹¹¹ Besonders freilich ist er über die identischen Anfangssilben mit zwei berühmten jüdischen Bankiersfamilien assoziierbar: mit dem Bankhaus der Gebrüder Arnhold, das in den zwanziger Jahren zu den größten Privatbanken Deutschlands gehörte;¹¹² und mit der geadelten Wiener Bankiersfamilie Arnstein, die im »mondänen, künstlerischen und politischen Leben Wiens« noch bis weit ins neunzehnte Jahrhundert

 Einen Überblick über die verschiedenen Spekulationen bietet Marquardt, Erzählte Juden, S. 285, Anm. 16.  Der Ausdruck, den in dieser Bedeutung auch Theodor Fontane in Mathilde Möhring verwendet, soll auf eine »Firma für Panzerschränke S. I. Arnheim« zurückgehen. Klaus Laermann: Eigenschaftslosigkeit. Reflexionen zu Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Stuttgart 1970, S. 97, Anm. 24. Vgl. Theodor Fontane: Mathilde Möhring. Hg. von Gabriele Radecke. Berlin 2008 (Große Brandenburger Ausgabe), S. 22. Laut Kommentar der Brandenburger Ausgabe war die Tresorfabrik Simon Joel Arnheim jüdisch. Vgl. ebd., S. 316.  Fanta, Die Entstehungsgeschichte des Mann ohne Eigenschaften, S. 228.  Vgl. Dietz Bering: Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag 1812– 1933. Stuttgart 1987, S. 239.  Marquardt, Erzählte Juden, S. 285, Anm. 16.  Jüdisches Adreßbuch für Groß-Berlin. Berlin 1931 (Nachdruck Berlin 1994), S. 9, s. v. ›Arnheim‹ (Musil hat sich in den zwanziger Jahren immer wieder in Berlin aufgehalten). Vgl. auch Nelly Weiss: Die Herkunft jüdischer Familiennamen. Herkunft, Typen, Geschichte. Bern, Frankfurt am Main, New York, Paris und Wien 1992, S. 144, s. v. ›Arnheim‹.  Vgl. Ingo Köhler: Die »Arisierung« der Privatbanken im Dritten Reich. Verdrängung, Ausschaltung und die Frage der Wiedergutmachung. München 2005, S. 207.

Körperbau und Charakter

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hinein eine »herausragende Rolle[]« spielte¹¹³ und deren ›Palais Arnstein‹ am Hohen Platz Musil ein Begriff gewesen sein muss. Romanimmanent schließlich wird der Name bereits im ersten Kapitel auf nicht viel mehr als einer Seite mit dem ›Orient‹, mit Amerika und mit offensichtlichem Schwindel verbunden: zum einen, weil die Figur, von der »[a]ngenommen« wird, sie würde »Arnheim […] heißen«, ausgerechnet eine amerikanische, wie gesehen überhöhte Unfallstatistik zitiert; zum anderen, weil sich der innerhalb der Fiktion ›wirkliche‹ Dr. Arnheim noch in »Konstantinopel« befinden soll.¹¹⁴ Schon in diesem ersten Kapitel also taucht Arnheims Name im Zusammenhang mit drei prominenten antijüdischen Stereotypen auf, die im Verlauf des Romans auch am Portrait des ›wirklichen‹ Arnheim haften bleiben und kaum je konterkariert werden: das Stereotyp vom Juden als Orientalen; das Stereotyp von der Affinität der Juden zu den USA, in dem sich Antisemitismus, Antiamerikanismus und Antikapitalismus vereinigen; und das Stereotyp von der besonderen Begabung der Juden zur Lüge, Schauspielerei und Maskerade. Arnheims Affinität zum »Orient[]« als dem »Vaterland[]« der Juden¹¹⁵ manifestiert sich doppelt und dreifach: wie gesehen in seinem ›Schädel‹ und »Typus«, aber etwa auch darin, dass er sich später wieder in »Bagdad« aufhält und wiederholt und wiederum aus verschiedenen, sich gegenseitig legitimierenden Perspektiven, in Erzähler- wie Figurenrede als »Nabob« bezeichnet wird.¹¹⁶ Seine besondere Beziehung zu den Vereinigten Staaten als dem Prototyp eines modernen kapitalistischen Landes bestätigt sich durch seinen Verkehr »mit amerikanischen Geldmagnaten«¹¹⁷ und wird durch seine Bedenken vor einer Heirat verraten, welche die Grenzen der Binnenordnung der bürgerlichen Klassengesellschaft verletzte. Anstatt auf Diotima, die »schließlich nichts ist als eine Beamtengattin« und »ohne jene höchste menschliche Bildung, die nur die Macht verleihen kann«, findet Arnheim, hätte er eigentlich »Anspruch auf ein Mädchen aus der amerikanischen Hochfinanz«,¹¹⁸ auf »eine große amerikanische Witwe«.¹¹⁹

 Le Rider, Das Ende der Illusion, S. 259.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 10.  Johann Kaspar Lavater: Fünfundsechzigstes Fragment. Eine Bemerkung von Lenz. In: Ders.: Johann Kaspar Lavater’s ausgewählte Schriften. Hg. von Johann Kaspar Orelli. Zürich 1842– 1844, Bd. 4, S. 18.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 97, 183, 188, 200.  Ebd., S. 182.  Ebd., S. 393. Julius Langbehn z. B. hatte in seinem Kultbuch der Jugendbewegung, in Rembrandt als Erzieher behauptet, dass »der rohe Geldkultus […] ein nordamerikanischer und zugleich – jüdischer Zug« sei, »welcher in dem jetzigen Berlin mehr und mehr überhand nimmt«. Julius Langbehn: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen. Leipzig 351891, S. 308.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 502.

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Eine ›bemerkenswerte Einzelheit‹

Seine Verbindung mit Täuschung und »Schwindel«,¹²⁰ seine »charakterliche Unehrlichkeit«¹²¹ endlich offenbart sich in der konstanten Spannung oder fast schon systematischen Divergenz zwischen seinen idealistischen Äußerungen und seinen wirtschaftlichen Motiven. Sie kommt beispielsweise in seiner bereits zitierten Beteuerung im Gespräch mit Diotima zum Ausdruck, er sei nach Wien »nur gekommen, um sich im Barockzauber alter österreichischer Kultur ein wenig vom Rechnen, vom Materialismus, von der öden Vernunft eines heute schaffenden Zivilisationsmenschen zu erholen«.¹²² Und sie gipfelt gleichsam in seiner Rede, »umgeben von Damen, über die notwendige Organisierung der inneren Zartheit, um die Menschheit vor Wettrüsten und Seelenlosigkeit zu retten«.¹²³ Dabei nutzt der Rüstungsindustrielle, wie sich im Fortlauf des Romans herausstellt, seine Österreichaufenthalte und instrumentalisiert die Parallelaktion, um in Galizien Ölfelder zu erwerben, Kontakte zum kakanischen Militär zu knüpfen und der Artillerie Panzer zu verkaufen.¹²⁴ Arnheim also hat eine ganze Reihe von Charaktereigenschaften, die mit seinem phönikischen ›Schädel‹ und »Typus« stereotyp korrespondieren. Seine Physiognomie, die somatischen Rudimente seiner »jüdische[n] Abstammung« spiegeln seine Mentalität und lassen durchaus im Sinn der gängigen Rassendiskurse Rückschlüsse selbst über Wesensmerkmale zu, die er eigentlich zu kaschieren versucht. Wie schon die Phönizier in der Odyssee dient auch Musils Arnheim als Projektionsfläche für verschiedene als misslich empfundene Aspekte ökonomischer und gesellschaftlicher Veränderungen. Wie sie besetzt er strukturell eine Gegenposition zum Protagonisten, der in einer frühen Version des Romans ja seinerseits noch den Namen Achilles trug und dessen Aussehen und »Figur« auch unter dem späteren Namen »Anders« immer noch »griechisch« hätte sein sollen, »aber mit stärkeren Muskeln«!¹²⁵ Wie Homers Phönizier neigt Arnheim zum »Schwindel«, »um großen Gewinn zu erwerben«. Wie sie erscheint er als indifferent gegenüber der (ethischen) Qualität seiner Handelsware. Wie ein Phönizier wenigstens vorgeblich sogar den ›listenreichen Odysseus‹ überlistet haben soll, »legt[]« auch Arnheim »selbst die gerissensten [Wirtschaftskapitäne] hinein«.¹²⁶ Und obendrein wird er wie die Phönizier mit Sklavenhandel assoziiert, wenn Soliman behauptet, »daß er der

      

Ebd., S. 295. Wolf, Kakanien als Gesellschaftskonstruktion, S. 447. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 109. Ebd., S. 200. Ebd., S. 642, 774 f., 1005 – 1009. Musil, Tagebücher, Bd. 2, S. 1102. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 192.

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Sohn eines Negerfürsten und seinem Vater, der tausende Krieger, Rinder, Sklaven und Edelsteine besitze, als Kind gestohlen worden sei; Arnheim habe ihn gekauft, um ihn dereinst dem Fürsten furchtbar teuer wieder zu verkaufen«.¹²⁷ Gerade weil sich das »Muster« Arnheim, das Ulrich »grundsätzlich« »nicht ausstehen kann«, an den ›Schädel‹ und »Typus« des preußischen Juden rückkoppeln lässt, weist es Parallelen zu Topoi aus dem Repertoire des Antisemitismus auf, die sich nicht oder jedenfalls nicht immer aus Bezügen zur Biographie Rathenaus herleiten und plausibel erklären lassen.¹²⁸ Vielmehr sind es – »so eng« sich Musil auch an »Rathenaus Lebenslauf« hielt¹²⁹ – gerade bestimmte Abweichungen vom biographischen ›Modell‹ oder ›Vorbild‹, die Musils Figurenportrait ihrerseits mit solchen Topoi abstimmen. Zu diesen Unterschieden gehört etwa schon, dass der spätere Reichsaußenminister, dessen Name die Arnheim-Figur noch bis 1922 und also bis in genau das Jahr trug, in dem Rathenau von zwei ehemaligen Freikorps-Offizieren ermordet wurde¹³⁰ – dass also der spätere Reichsaußenminister seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger in der preußischen Armee durchaus abgeleistet hat, wie übrigens zwischen 1885 und 1914 mehr als 25’000 Juden, ohne dass auch nur ein einziger zum Reserveoffizier berufen worden wäre.¹³¹ An der Vorlage des Rathenau’schen Lebenslaufs kann es folglich nicht liegen, wenn Musils jüdischer Figur selbst dort Privilegien eingeräumt werden, wo sie eigentlich diskriminiert wird: wenn der Kaufmannssohn, weil er »als Jude nicht Reserveoffizier« werden und als Arnheim »nicht die geringe Stellung eines Unteroffiziers einnehmen konnte«, »kurzerhand für untauglich zum Soldaten erklärt« wurde. Vielmehr partizipiert Musils Roman durch diese Unstimmigkeit an einem Diskurs, der insbesondere während des Ersten Weltkriegs prävalent war und sogar zu einer Judenzählung innerhalb des deutschen Heeres führte: am Diskurs, dass – so hieß es im offiziellen Erlass des Kriegsministeriums 1916, der diese Judenzählung initiierte – »eine unverhältnismäßig große Anzahl wehrpflichtiger Angehöriger israelitischen Glaubens vom Heeresdienst  Ebd., S. 222.  Vgl. exemplarisch für die in der Forschungsliteratur z.T. bis heute gängige Ineinssetzung von Figur und ›Modell‹ Wilfried Berghahns reduktionistische Feststellung: »Arnheim, das ist Walther Rathenau«. Wilfried Berghahn: Robert Musil. Reinbek bei Hamburg 1963, S. 98.  Corino, Robert Musil. Eine Biographie, S. 870.  Walther Rathenau wurde am 24.6.1922 ermordet. Den Namenswechsel zu Arnheim realisierte Musil spätestens im August 1922. Vgl. Fanta, Die Entstehungsgeschichte des Mann ohne Eigenschaften, S. 231.  Vgl. Massimo Ferrari Zumbini: Die Wurzeln des Bösen. Gründerjahre des Antisemitismus: Von der Bismarckzeit zu Hitler. Frankfurt am Main 2003, S. 584.

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befreit sei oder sich von diesem unter allen nur möglichen Vorwänden drücke«.¹³² Darüber hinaus divergieren auch die Koordinaten der jüdischen Aufsteigergeschichte der Arnheims auffällig von den biographischen Vorgaben der vermeintlichen Figuren-›Vorbilder‹. Arnheims Großvater soll »mit einem Müllabfuhrgeschäft in einer rheinischen Mittelstadt begonnen« und damit den »Grund zum Einfluß der Arnheims gelegt« haben,¹³³ Arnheim selber gleichsam aus dem »Werden« »einer Müllabfuhr zum weltumspannenden Wirtschaftskonzern« »entstanden« sein.¹³⁴ Walther Rathenaus Großvater indessen war Getreidekaufmann in Berlin. Das Fundament für den »Einfluß« der Rathenaus, den Elektroindustriekonzern A. E. G. (Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft), baute erst Walthers Vater Emil auf, nachdem er die Lizenz der Edison-Patente für Deutschland erworben hatte.¹³⁵ Auch hier schafft gerade das in der Fiktionalisierung gleichsam Anerfundene einen umso höheren Erklärungsbedarf und deutet auf die Matrizen, die diese Differenzen zu den ›Modellen‹ verstehbar werden lassen. Die Konstruktion der Familien- und Firmengeschichte entspricht nun jenem antisemitischen Topos, den schon Sombart in Die Juden und das Wirtschaftsleben tale quale aufruft. Sombart zufolge, dem im übrigen der »Streit um Abgrenzung« von Phöniziern und Juden »ziemlich müßig« scheint,¹³⁶ ist es eine bekannte »Eigenart der Juden, ›aus den verworfensten Dingen hier und da sich Unterhalt und Gewinn zu verschaffen‹ und« »›die gemeinsten Artikel […]‹ zu wertvollen Handelsartikeln zu machen. Vielleicht«, mutmaßt er, »könnte man sie auch die Väter der Abfallindustrie nennen«.¹³⁷ Das Vermögen der Arnheims hat also von allem Anfang an eine anrüchige Note, es ist von Beginn weg verdächtig und basiert effektiv auf einem »Denken, das nicht immer vornehm ist«.¹³⁸ Als typisches und typisch jüdisches Mittel, »gemeinste[] Artikel« an die Frau oder den Mann zu bringen, gilt Sombart die Reklame. Sie fungiert bei ihm als Synekdoche eines reinen, allein auf Gewinnmaximierung bedachten Kapitalismus, als eine unsaubere Geschäftspraxis, die Konkurrenten aggressiv die Kunden ausspannt und der hergebrachten christli Zitiert nach: Shulamit Volkov: Die Juden in Deutschland 1780 – 1918. München 22000, S. 68.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 269.  Ebd., S. 545.  Vgl. Ernst Schulin: Die Rathenaus – Zwei Generationen jüdischen Anteils an der industriellen Entwicklung Deutschlands. In: Werner Mosse (Hg.): Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890 – 1914. Tübingen 1976, S. 115 – 142, hier S. 120 f.  Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben, S. 341.  Ebd., S. 177. Sombart zitiert hier aus einer »am 9. Jan. 1786 von der ungarischen und siebenbürgischen Hofkanzlei abgefaßten Denkschrift«. Ebd., S. 462, Anm. 390.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 545.

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chen Geschäftsmoral diametral widerspricht. Das klassische Beispiel für diesen »Kundenfang«, für die »unchristlich[en]« Bemühungen, »seinem Nachbarn die Käufer abspenstig zu machen«,¹³⁹ stellt für Sombart die A. E. G. dar, die eben Emil Rathenau gegründet und in der Walther Rathenau selber seit 1899 eine leitende Stellung einnahm. Im Mann ohne Eigenschaften wird diese rassische Verortung bestimmter kulturpessimistisch beäugter Phänomene des modernen Kapitalismus mit der ›Psychotechnik‹ des mittelalterlichen Exorzismus verglichen: So wie »der Zauberer den sorgsam vorbereiteten Fetisch aus dem Leib des Kranken« gezogen habe, so verlege »der gute Christ seine Fehler in den guten Juden und behaupte[], daß er durch ihn zu Reklame, Zinsen, Zeitungen und ähnlichem verleitet worden sei«.¹⁴⁰ Trotz dieses scharfsinnigen Befunds besteht freilich zwischen dem Kommentar der Erzählstimme und dem, was sie erzählt, abermals eine merkwürdige Diskrepanz. Denn abgesehen von diesem einen Beispiel tritt das Wort ›Reklame‹ im ganzen Roman ausschließlich im Zusammenhang mit Arnheim auf, so dass die ethnischen Konnotationen unterschwellig trotzdem bestätigt werden, die dem Begriff in zeitgenössischen Diskussionen immer schon eingelagert sind. Die vermeintliche Größe Arnheims, der ja auch die Parallelaktion sozusagen als Plattform für seinen »Kundenfang« missbraucht, basiert dem Erzähler zufolge darauf, »daß letzten Endes auch das groß ist, was durch tüchtige Reklame dafür ausgeschrien wird«.¹⁴¹ Und auch für Ulrich stellt »Arnheim in all seiner Unschuld und Schuld« das beste Beispiel für eine »falsche Verknüpfung mit dem Großen« dar, für »das […], was durch Reklame für groß gilt und durch kaufmännisches Geschick«:¹⁴² »Er hat Geld, gibt allen recht und weiß, daß sie freiwillig für ihn Reklame machen!«¹⁴³ Rathenaus kulturpessimistische Äußerungen gegen Rationalismus, Zweckbedachtheit und kühles Kalkulieren, die im Mann ohne Eigenschaften parodiert werden, lassen sich, wie Franziska Schößler unlängst aufgezeigt hat, auch und gerade als Reaktion auf solche Stereotypisierungen verstehen, die Juden auf ihren abstrakt-kühlen Geschäftsgeist reduzierten und ihnen ein genuines ›Werk- und Sachinteresse‹ absprachen.¹⁴⁴ Seine Ausführungen über die »divinatorischen

     

Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben, S. 144. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 513. Ebd., S. 433. Ebd., S. 469. Ebd., S. 467. Vgl. z. B. Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben, S. 320.

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Eine ›bemerkenswerte Einzelheit‹

Qualitäten des Unternehmers«,¹⁴⁵ seine Akzentuierung der Intuition und seine forcierten Vorstellungen einer beseelten Wirtschaft antworteten auf antisemitische Topoi, die genau diese Eigenschaften Juden prinzipiell absprachen. Die Diskriminierungen, denen Rathenau als Jude in Deutschland ausgesetzt war, spielen aber im Portrait Arnheims eine auffallend marginale Rolle. Sie kommen abgesehen von der einen Erinnerung Arnheims eben daran, dass er nicht Reserveoffizier werden konnte, auch in den Gedanken der Figur überhaupt nicht vor. Vielleicht treten sie an der Stelle in den Roman ein, an der Arnheim »von seinem Vater« spricht und seine »Stimme«, »ihre dozierende Ruhe« plötzlich »einen kleinen Sprung« bekommt.¹⁴⁶ In aller Regel aber entlarvt Musils Roman die vordergründigen kultur- und rationalitätskritischen Aussagen Arnheims vorrangig als Ausfluss jenes »Primat[s] des Erwerbszwecks«,¹⁴⁷ der Juden in antisemitischen Diskursen beständig unterstellt wurde. Dass dieses »Erfolgsinteresse« in die physische Konstitution der Arnheims zu liegen kommt, veranschaulicht bereits das Beispiel von Arnheims Vater, und zwar über die Konnotate hinaus, die seiner »Knopfnase« im Kontext antisemitischer Diskussionen anhafteten. Denn der »Geist[] echt kapitalistischer Wirtschaft« manifestiert sich nicht oder jedenfalls nicht in erster Linie im Geruchsorgan dieses »schon über siebzig Jahre alt[en]«¹⁴⁸ »mächtigste[n] Beherrscher[s] des ›eisernen Deutschland‹«. Gerade nicht, wie landläufige Redewendungen nahelegten, über den Geruchs-, sondern über einen anderen und degoutanteren Nahsinn soll der alte Arnheim erkennen, wie er zu Geld kommen kann: mit seiner »kurzen[n], dicke[n] Zunge«, mit der er »nicht beweglich zu reden« vermag, »aber dafür im weitesten Umkreis und an den feinsten Anzeichen herausschmeckt[], was ein Geschäft« ist.¹⁴⁹ Vom jüngeren Arnheim selber wird die Opposition zwischen Erfolgs- und Sachinteresse schließlich auch seinem und dem Körper seines virilen Antagonisten eingeschrieben. Der körperlich wie erwähnt ›weichlich‹ gebaute »Sohn« ›von fünfzig Jahren‹ beobachtet nämlich, dass sich »etwas bedingungslos Unabhängiges« in Ulrichs »Gesicht« offenbart, das »[u]nbesorgter um Geld und Wirkung« ist als sein eigenes und das er auf einen »Abkömmling asketischer

 Franziska Schößler: Der Unternehmer als Bauer. Judentum und Ökonomie bei Walther Rathenau. In: Walter Delabar und Dieter Heimböckel (Hg.): Walther Rathenau. Der Phänotyp der Moderne. Bielefeld 2009, S. 139 – 161, hier S. 149.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 270.  Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben, S. 155.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 541.  Ebd., S. 192.

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Gelehrtengeschlechter« zurückführt.¹⁵⁰ Während Arnheims Materialismus aus seiner ethnischen Markierung, aus seinem phönikischen ›Schädel‹ und »Typus« vorerst nur über bestimmte geltende Diskursregeln ableitbar war, liest er nun selber aus seiner Physiognomie das »Erfolgsinteresse« explizit heraus, das mit dieser ethnischen Markierung traditionell verbunden wurde. In der Tat ist Arnheim ja trotz seiner rationalitätskritischen Attitüde derart infiziert vom Geist des Kapitalismus, dass er sogar das »Tausendjährige Reich nach kaufmännischen Grundsätzen« einrichten möchte.¹⁵¹ An »Geld«, gegen das Musil selber nach einschlägigem Zeugnis eine solche »Abneigung« hatte, dass er es nicht einmal »in die Hand« nahm,¹⁵² glaubt Arnheim als »eine spirituelle Macht«.¹⁵³ Er spricht vom »Kapital von Liebesfähigkeit«¹⁵⁴ und von der »Kapitalsubstanz der Seele«.¹⁵⁵ Geld »im stillen für Zwecke und Menschen verschenken, die ihm nichts nützen«, käme ihm vor wie ein »Meuchelmord«.¹⁵⁶ Reflektiert er über die »Liebe«, setzt er sie sogleich mit »Geld« in Beziehung, das ihn »im Vergleich« »eine außerordentlich saubere Macht« dünkt.¹⁵⁷ Wenn »er Seele schenkt«, bringt er »nur die Zinsen zum Opfer« »und niemals das Kapital«.¹⁵⁸ Ist er »geistreich«, dann nur »in einer immer ein wenig an das Verfahren des wirklichen Reichtums gemahnenden Bedeutung«.¹⁵⁹ Denkt er an seinen »Schnurrbart«, erinnert ihn dieser »aus Gründen, die ihm selbst nicht klar sind«, aber die Zentralität des Ökonomischen für seine männliche Identität bezeugen, »in einer angenehmen Weise an sein Geld«.¹⁶⁰ Selbst die Dichtung, die für Ulrich wie für Musil vordringlich eine »Lebensverneinung«, einen »Widerspruch zum Leben« darzustellen hat,¹⁶¹ assoziiert Arnheim mit dem »Geschäft«.¹⁶²

 Ebd., S. 540.  Ebd., S. 508.  Elias Canetti: Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931– 1937. Frankfurt am Main 142002, S. 162 f.: »Es war bekannt, daß Musil mit Geld nicht umzugehen verstand, ja mehr noch, eine Abneigung dagegen hatte, Geld in die Hand zu nehmen. Er ging nirgends gern alleine hin, beinahe immer war seine Frau dabei, die in der Elektrischen die Tramkarten für ihn löste und im Café für ihn bezahlte. Er hatte kein Geld bei sich, ich habe nie eine Münze oder einen Schein in seiner Hand gesehen. Man hätte denken können, daß Geld mit seiner Hygiene unvereinbar war«.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 421.  Ebd., S. 104.  Ebd., S. 541.  Ebd., S. 420.  Ebd., S. 393.  Ebd., S. 511.  Ebd., S. 282.  Ebd., S. 421.  Ebd., S. 367.  Ebd., S. 269.

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Der ›männliche Geist‹ Ulrich steht dem Eklektiker¹⁶³ Arnheim in dieser und manch anderer Hinsicht so fern wie nur möglich. Er steht nur schon deshalb in großem Abstand zu ihm, weil die ›gender identity‹ des »Kronprinzen«¹⁶⁴ Arnheim gerade durch diese Grenzverwischung von ›business‹ und Schöngeistigkeit, die Musil von Berufs wegen besonders suspekt gewesen sein muss, selbst in der Wirtschaftselite infrage gestellt wird. Dort nämlich wird ihm trotz der antik-heldenhaften Konnotationen seines »Herrenkaufmannsschädels« abgesprochen, ein besonders befähigter »Kaufmann« zu sein.¹⁶⁵ Sein »Einfluß« wird vielmehr mit dem verglichen, den »eine schöne und schöngeistige Gattin ausübt, welche die ewige Kontortätigkeit schmält, aber dem Geschäft nützt, weil sie von allen bewundert wird«.¹⁶⁶ Vor allem aber ist Ulrich nicht bloß, wie seine einschlägige Physiognomie Arnheim verrät, »unbesorgter um Geld und Wirkung«, sondern und weit über diesen Komparativ hinausgehend, »wie ein Narr unempfindlich gegen soziale Vorteile«.¹⁶⁷ Er »arbeite[t]« explizit »gegen« Arnheim, weil er »selbstlos« »arbeitet[]«.¹⁶⁸ Und er ist, wie wiederum Arnheim von sich aus bemerken darf, »ein Besessener, der kein Besitzender sein will«, so dass dem jüdischen Industriellensohn »ganz ohne seinen Willen« einfällt, »[d]ieser Mann« habe die »Seele!«, von der er selber immer nur redet.¹⁶⁹ Ulrich ist Mathematiker mit genau der Denkart, die Musil ›dem mathematischen Menschen‹ im gleichnamigen, bereits erwähnten Aufsatz attestierte. Er »ist nicht zweckbedacht, sondern unökonomisch und leidenschaftlich«, und »er dient der Wahrheit, das heißt seinem Schicksal und nicht dessen Zweck«.¹⁷⁰ Arnheim indessen soll zwar »alle erdenklichen Wissenschaften studiert« haben. In erneuter Abweichung vom ›Vor-

 Satirisch zugespitzt wird Arnheims fehlende ›männliche‹ Originalität, als er seinem Sekretär in die Maschine diktiert, sich die männlich codierte Rolle des Diktierenden aber nur noch anmaßt: »Er hatte die Muße, die er sich jetzt öfter als sonst gönnte, dazu benützt, seinem Sekretär einen Aufsatz über die Übereinstimmung von Staatsbauten und Staatsauffassung in die Maschine zu diktieren, und hatte einen Satz ›Wir sehen das Schweigen der Mauern, wenn wir diesen Bau betrachten‹ nach dem Worte Schweigen unterbrochen, um für einen Augenblick das Bild der römischen Cancelleria zu genießen, das soeben ungerufen vor seinem inneren Gesicht aufgestiegen war; aber als er wieder ins Manuskript blickte, bemerkte er, daß der Sekretär, gewohnheitsmäßig voraneilend, schon niedergeschrieben hatte: ›Wir sehen das Schweigen der Seele, wenn –‹. An diesem Tag diktierte Arnheim nicht weiter, und am folgenden ließ er den Satz streichen.« Ebd., S. 392.  Ebd., S. 192.  Ebd.; im Original keine Hervorhebung.  Ebd., S. 193.  Ebd., S. 540.  Ebd., S. 539; im Original keine Hervorhebung.  Ebd., S. 547 f.  Musil, Der mathematische Mensch, S. 1006.

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bild‹ Rathenau, der Physik, Chemie und Philosophie studiert hatte, wird aus allen diesen vorstellbaren »Wissenschaften« aber nur eine einzige namentlich angeführt: »Nationalökonomie«.¹⁷¹ Die Leichtigkeit, mit der für zeitgenössische Leserinnen und Leser Paul Arnheims ethnische Markierung entzifferbar gewesen sein muss und mit der sich stigmatisierende Topoi an diese Markierung anlagern ließen, steht also in auffälligem Widerspruch zu den hellsichtigen Analysen, die der Antisemitismus im Mann ohne Eigenschaften anderwärts erfährt. Dass sich Musil in einem Antwortschreiben vom 3. März 1933 an Else Meidner, die ihn in einem verlorenen Brief offenbar mit dem Vorwurf des Antisemitismus konfrontierte, nur auf die beiden ganz anders gestalteten jüdischen Figuren Rachel und Fischel beruft, um diesen Vorwurf zu entkräften, dürfte insofern kein Zufall sein. Musil erinnert Meidner daran, dass die »kleine jüdische Kammerzofe Rachel« »außer Ulrich und dem General die einzige warmgetönte Figur« im »ganzen ersten Band« sei; und er merkt an, er habe »bloß über jüdische Figuren mit der gleichen Freiheit verfügen wollen, wie über andere, also nach dem ressentimentfernen Gefühl, daß, was für Leinsdorf recht sei, auch für Fischel billig sein dürfe«.¹⁷² Just Arnheim jedoch spart er in seiner Replik bezeichnenderweise aus. Ihn als eigentlich prominenteste jüdische Figur seines Romans erwähnt er gerade nicht, wenn er betont, er habe sich schon im Aufsatz Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit »gegen jede Rassen-Ideologie […] ausgesprochen« und sehe »das allgemein Typenbildende in den sozialen Bedingungen«.¹⁷³ Zwar gehört diese Auffassung von Identität als gesellschaftlich formiert und kontingent ja wie gesehen zu den Hauptthemen des Romans. Der phönikische ›Schädel‹ und »Typus« aber, mit dem Musil Arnheim versah, obwohl er ausdrücklich nicht wusste, »wie Hannibal aussah«, scheint als Körperzeichen eher nach der Logik jenes »anthropologischen Küchenlateins« zu funktionieren, das er in seinem Nations-Aufsatz so pointiert kritisiert hatte: jener »lasterhaften Denkgewohnheit«, »angeblichen Rassen« »mit der Stimme der Jahrtausende« allzu folgerichtig bestimmte »Eigenschaften« »zu oder ab[zusprechen]«.¹⁷⁴

   

Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 269. Brief vom 3. März 1933 an Else Meidner. In: Musil, Briefe 1901– 1942, Bd. 1, S. 563 f. Ebd., S. 564. Musil, Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit, S. 1064.

›Gender‹, Antisemitismus und Ökonomie: Die Fischels im sozialgeschichtlichen Kontext I Vom ›englischen Lord‹ zum ›Börsenjuden‹: Leo Fischel Die Börse, mit der Arnheim als »Börsenmann«¹ ebenfalls verbandelt ist, galt in kapitalismuskritischen Diskussionen schon der Jahrhundertwende als eine stereotyp jüdische, von Juden beherrschte Einrichtung. Sie stand pars pro toto für eine unkontrollierbar gewordene, rücksichtslos auf Profitmaximierung ausgerichtete Ökonomie, für intransparente wirtschaftliche Machenschaften, mit denen Juden regelmäßig identifiziert wurden. Der einst liberale Wirtschaftsjournalist Otto Glagau beispielshalber unterstellte nach dem ›Gründerkrach‹ in der Gartenlaube jüdischen Bankiers und Spekulanten, für die Wirtschaftskrise verantwortlich zu sein. Er behauptete, nicht »nur in Berlin, Wien, Frankfurt a. M., nicht nur in Deutschland und Oesterreich-Ungarn« seien »die Börsianer zu neun Zehntel Juden resp. getaufte Juden«, sondern »auch an den Börsen von London und Paris«.² Für Sombart seinerseits gaben Juden die »perfekte[n] Börsenspekulant[en]« ab.³ In der »Unruhe des Börsenverkehrs, der seiner innern Natur nach auf Veränderung des bestehenden Zustandes hindrängt«, sah er ein Abbild »der unruhevollen, rastlosen Natur des Juden«.⁴ Als solch ein »Hort jüdischer Kapitalerwirtschaftung« wurde die Börse in weiten Kreisen für eine Institution gehalten, die dem Allgemeinwohl abträglich ist und von pathologisch kriminellen Händlern bestimmt wird.⁵ Max Weber musste in seinem Bändchen Die Börse beanstanden, sie gelte in »breite[n] Volksschichten« als eine »Art Verschwörerklub zu Lug und Betrug auf Kosten des redlich arbeitenden Volkes«.⁶ Dabei lief eine

 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 190.  Otto Glagau: Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin. Gesammelte und stark vermehrte Artikel der Gartenlaube. Leipzig 1876, S. XXV. Die Zahlen dürften sehr stark übertrieben sein. Im Finanzsektor insgesamt waren im Vorkriegs-Österreich viermal mehr Katholiken beschäftigt als Juden. Vgl. Marquardt, Erzählte Juden, S. 303, Anm. 7; Ivar Oxaal und Walter R. Weitzmann: The Jews of Pre-1914 Vienna. An Exploration of Basic Sociological Dimensions. In: Leo-Baeck-Institute-Yearbook 30 (1985), S. 395 – 434, hier S. 425.  Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben, S. 332.  Ebd., S. 333.  Franziska Schößler: Der jüdische Börsianer und das unmögliche Projekt der Assimilation. Zu Fontanes L’Adultera. In: Ulrich Kittstein und Stefani Kugler (Hg.): Poetische Ordnungen. Zur Erzählprosa des deutschen Realismus. Würzburg 2007, S. 93 – 119, hier S. 100.  Max Weber: Die Börse. In: Ders.: Börsenwesen. Schriften und Reden 1893 – 1898. Hg. von Knut Borchardt. Tübingen 1999, 1. Halbband, S. 135– 174, hier S. 135; zitiert nach Schößler, Der Unternehmer als Bauer, S. 146.

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solche Unterscheidung zwischen spekulativer Hochfinanz mit ihren riskanten Transaktionen und ›ehrlicher‹ Arbeit häufig auf eine Sonderung des ›jüdischen‹ Finanzkapitals selbst vom industriellen Kapital hinaus. Indem die Ursachen sozialer Konflikte und Probleme einseitig in den Machenschaften der Börse ermittelt wurden, konnten die industriellen und agrarischen Wirtschaftszweige von ähnlichen Vorwürfen entlastet werden.⁷ Die zweite der beiden prominenten jüdischen Männerfiguren in Musils Roman, Leo Fischel, ist anders als Arnheim sogar hauptberuflich an der Börse tätig. Er ist »Börsendisponent[]« und »Bankdirektor[]«⁸ (obwohl er diesen Titel nur pro forma trägt und genau genommen lediglich »Prokurist« und »Abteilungsleiter« ist⁹). Mit den beschriebenen kollektiven Vorstellungen über die Börse ist Fischel zunächst aber nicht harmonisierbar. Beizukommen ist ihm mit solchen Imaginationsmustern erst im Lauf der erzählten Zeit respektive in den Fortsetzungsentwürfen, in denen er tatsächlich zu einem »Spieler«¹⁰ wird, der »auf eigene Rechnung an der Börse«¹¹ agiert und »die gefährlichsten Börsenoperationen«¹² abwickelt. Im Gegensatz etwa zum Vater der jüdischen Titelfigur in Arthur Schnitzlers Fräulein Else, der »an der Börse« sein Vermögen leichtsinnig »verspielt«,¹³ gibt Fischel vorerst bloß einen »brave[n] Bankbeamte[n]« ab,¹⁴ der »feste moralische Werte […] höher bewertet als eine feste Börse«.¹⁵ Während in kapitalismuskritischen und antisemitischen Schriften die Börsentätigkeit bisweilen als Nichtarbeit den handwerklichen und agrarischen Berufen entgegengesetzt wurde,¹⁶ erweist sich der Titulardirektor Fischel als Anhänger einer geradezu klassischen bürgerlichen Arbeitsethik: Er ist seinem Habitus nach zu einem ›redlich

 Vgl. Freddy Raphael: Sechstes Bild: »Der Wucherer«. In: Julius H. Schoeps und Joachim Schloer (Hg.): Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus. Vorurteile und Mythen. Augsburg 1999, S. 103 – 118, hier S. 109.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 482; vgl. S. 202 f., 773, 1007, 1455 f.  Ebd., S. 133, 136.  Ebd., S. 1577.  Ebd., S. 1499.  Ebd., S. 1577.  Arthur Schnitzler: Fräulein Else. In: Ders.: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften. Frankfurt am Main 1961, Bd. 2, S. 324– 381, hier S. 335. Vgl. Franziska Schößler: Börse und Begehren. Schnitzlers Monolog Fräulein Else und seine Kontexte. In: Evelyne Polt-Heinzl und Gisela Steinlechner (Hg.): Arthur Schnitzler. Affairen und Affekte. Wien 2006, S. 119 – 129.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1577.  Ebd., S. 1496.  Vgl. z. B. Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben, S. 411, 425.

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›Gender‹, Antisemitismus und Ökonomie

arbeitenden‹, »tüchtigen und arbeitsamen« Angestellten gemodelt,¹⁷ der ausdrücklich nicht »das zur Spekulation nötige Temperament in sich« fühlt.¹⁸ Von Spekulationen profitiert im Mann ohne Eigenschaften dafür einer, der sich grundsätzlich als Exponent der »organisch-original[en]«, bäuerlich-feudalen Wirtschaftsgesinnung geriert, die Sombart der »mechanisch-rational[en]« und ›jüdischen‹ gegenüberstellt.¹⁹ Wenn für Graf Leinsdorf »in Verbindung mit einer ausländischen Spekulantengruppe ein Geschäft besser zu machen« ist »als an der Seite des heimischen Grundadels«,²⁰ wählt er in aller Regel die erste Option. Ganz entgegen seiner feudalistisch-modernitätskritischen Rhetorik investiert er sein Kapital nach den Methoden der Zeit. Er lässt sein »Geld arbeiten« und sich unter anderem durch die »Lloyd-Bank«, bei der Fischel angestellt ist, seine »Börsenaufträge besorgen«.²¹ Damit steht Leinsdorf repräsentativ für den ökonomischen Wandel in der adligen Oberschicht Kakaniens, deren Angehörige längst zu Verwaltungsräten und Agrarkapitalisten geworden waren,²² so sehr sie ihre Verstrickung in den Hochkapitalismus auch aristokratisch bemäntelten. Hat sich Leinsdorf mit den modernen ökonomischen Gegebenheiten also offenkundig arrangiert, wird dem »solide[n] Angestellte[n]«²³ Fischel ein Vorwärtskommen im Bankwesen gerade verwehrt. Seine Laufbahn bleibt »auf dem Posten eines Börsendisponenten stecken«.²⁴ Er scheint »alle Aussicht verloren« zu haben, »jemals wirklicher Bankdirektor zu werden« – »aus Gründen, über die er niemals richtig Auskunft geben« will²⁵ und die im Text letztlich eine Leerstelle bleiben. Die Appellstruktur des betreffenden Romanpassus lässt aber eigentlich nur eine Möglichkeit zu, diese Leerstelle zu füllen. Der Karrierestillstand des »alten Liberalen«²⁶ hat supplierbar mit seiner jüdischen Herkunft zu tun, denn seine berufliche Stagnation wird in einem Kontext angesprochen, in dem ausgiebig von der Krise des emanzipatorischen Liberalismus und dem Aufstieg des politischen Antisemitismus die Rede ist. Sie geht unverkennbar einher mit der »Welle der Judenangriffe«, die »in ganz Europa« ›hochgestiegen‹ ist²⁷ und die zunehmend auch die Wahrnehmung strukturiert, mit der Fischels nichtjüdische

          

Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 135. Ebd., S. 481. Vgl. Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben, S. 326. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 99. Ebd., S. 133. Vgl. Hanisch, Der lange Schatten des Staates, S. 73. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1499. Ebd., S. 203. Ebd. Ebd., S. 478. Ebd., S. 203.

Vom ›englischen Lord‹ zum ›Börsenjuden‹: Leo Fischel

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Gattin Klementine ihren Ehemann betrachtet und seine äußere Erscheinung interpretiert. Fischels Aussehen lässt sich nämlich seinerseits mit stereotypen Judenbildern zusammenbringen. Es speist sich aus dem Bildervorrat des Antisemitismus oder besteht genauer gesagt sogar ausschließlich aus solchen Stereotypen. Die zwei einzigen, dafür desto schärfer fokussierten Merkmale, aus denen sich sein Erscheinungsbild zusammensetzt, sein »ausrasierter Backenbart« und sein »auf der Mitte der Nase thronende[r] Kneifer«,²⁸ gehörten nicht nur als Kennzeichen geldgieriger Geschäftsmänner und anrüchiger Emporkömmlinge zur vertrauten Typologie politischer Karikaturen.²⁹ Sie fanden insbesondere Verwendung, sobald es galt, jüdische Figuren zu karikieren. Wenn Andreas Zumsee in Heinrich Manns Im Schlaraffenland versucht, den Börsianer und Klischeejuden James Louis Türkheimer zu imitieren, beginnt er als erstes damit, sich »durch fingierte Kotelettes zu streichen« und »einen Klemmer […] vorn auf die Nase« zu setzen.³⁰ Und als der »reich aussehende« Türkheimer mit seinen »rotblonden Kotelettes« den Architekten Kokott auffordert, eine typisch jüdische Physiognomie zu grimassieren, greift auch dieser auf das jüdisch konnotierte Requisit zurück: »[…] Machen Sie mal Ihre Judenfratze!« »Geben Sie mir Ihren Klemmer, Herr Generalkonsul«, erwiderte Kokott. Er drückte sich das Glas auf die plötzlich plattgewordene Nasenspitze, schob die Lippen wulstig vor und zog die Stirn in schmutzige Falten. Sein Gesicht bekam unversehens einen schlaff gierigen, besorgten und hinterhältigen Ausdruck.³¹

Wie gefestigt und abrufbar dieses Stereotyp war, belegen Karikaturen selbst aus Zeitungen und Zeitschriften, die den Antisemitismus prinzipiell ablehnten, sich grundsätzlich über nationalistisches und Rassendenken stellten und als Verfechter der Aufklärung begriffen. Im humoristisch-satirischen Wiener Arbeiterblatt Glühlichter zum Beispiel erschien in den neunziger Jahren eine Bildfolge, die karikaturistisch darstellen sollte, dass die antisemitische Politik der christlichsozialen und deutsch-nationalen Parteien nur die Funktion habe, vom Klassenkampf und den eigentlichen sozialen Problemen abzulenken.³² Auf dem ersten

 Ebd., S. 203 f.  Vgl. Peter Hohl: Der Kaufmann als satirischer Typus. Untersuchung zu Prosawerken von Heinrich Mann, Kurt Tucholsky und Bertolt Brecht. Wittlich 1988, S. 55.  Heinrich Mann: Im Schlaraffenland. Ein Roman unter feinen Leuten. Hg. von Peter-Paul Schneider. Frankfurt am Main 2001 (Studienausgabe in Einzelbänden), S. 97.  Ebd., S. 289.  Vgl. Abb. 4: »Kapital schlägt sich, Kapital verträgt sich«. Glühlichter, Zeitung der sozialdemokratischen Partei, 1894/95, Zeitung, Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung. Abgebildet

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Bild geben zwei personifizierte ›Geldsäcke‹, ein Repräsentant des ›christlichen‹ und ein Vertreter des ›jüdischen Kapitals‹ vor, sich gegenseitig zu bekämpfen. Das zweite Bild entlarvt diesen Konflikt als Scheingefecht. Es zeigt das ›christliche‹ und ›jüdische Kapital‹ als Verbündete und gemeinsame Profiteure des kapitalistischen Systems. Sie verbrüdern sich nun jovial als kollektive Unterdrücker auf dem Rücken eines ausgezehrten Arbeiters, den sie mit dem Gewicht ihres Kapitals am Aufstehen und Aufstand hindern. Bei allen, auch über den Gegensatz zum niedergedrückten Proletarier akzentuierten Gemeinsamkeiten dieser beiden kapitalen ›Fettsäcke‹ lassen sich zwischen ihnen dennoch ein paar kleine, aber desto bezeichnendere Differenzen erkennen. Dabei orientieren sich die physiognomischen Unstimmigkeiten zwischen ihnen wiederum an antisemitischer Bildlichkeit. Gekennzeichnet wird der jüdische Kapitalist nicht nur durch seine stereotyp große und krumme Nase. Ihn charakterisieren obendrein genau jene beiden Merkmale, mit denen auch Leo Fischel oder James Louis Türkheimer ausstaffiert sind: Backenbart und Kneifer.

Abb. 4. Karikatur aus der sozialdemokratischen Zeitung Glühlichter (1894/95)

Anders als Arnheims ›phönikischer‹ Schädel gehören diese beiden Markierungen Fischels allerdings nicht zum Natur-, sondern zum Kulturkörper, wenn man einmal davon absieht, dass seine »Favorits« in einem Fortsetzungsentwurf von 1936 doch noch die genau gleiche »rötlich blonde[]« Farbe zugesprochen

in: Susanne Böck: »Kühl bis ans Herz hinan«? Das ambivalente Verhältnis der österreichischen Sozialdemokratie zu den Juden 1880 – 1950. In: Jüdisches Museum der Stadt Wien (Hg.): Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen. Wien 1995, S. 272– 283, hier S. 275.

Vom ›englischen Lord‹ zum ›Börsenjuden‹: Leo Fischel

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bekommen wie Türkheimers Koteletten.³³ Mit der Ausnahme also dieser entstehungsgeschichtlich spät ergänzten und zur Publikation nicht oder nicht mehr autorisierten Haarfarbe stellen sie demnach keine biologischen Differenzmarkierungen dar und können nicht als Ausdruck einer bestimmten rassisch-vererbten Anlage gelesen werden. Im Gegenteil wird anhand von Fischels Backenbart und Kneifer gerade vorgeführt, dass die Bedeutungen dieser beiden Kennzeichen abhängig von ihren sozialen und diskursiven Kontexten und letztlich arbiträr sind. Während Arnheims ›Charakter‹ zu seinem ›Körperbau‹ in einer untergründig kausalen Beziehung steht und sich sozusagen ›natürlich‹ aus diesem extrapolieren lässt, wird mit Fischels äußerer Erscheinung ein bestimmtes stereotypes Judenbild nur zitiert, um es historisch zu perspektivieren. Denn Klementine liest die beiden Merkmale ihres Gatten zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich. Als sie und Leo vor »vierundzwanzig«³⁴ Jahren heirateten, war Luegers christlich-soziale Partei, die den Antisemitismus salonfähig und zu einem bewährten Mittel politischer Agitation machte, noch nicht gegründet. Die Liberalen, denen sich ein Großteil der ökonomisch aufstrebenden und assimilationsbereiten Juden politisch zugehörig fühlte, stellten zwar parlamentarisch schon keine Mehrheit mehr, waren jedoch nach wie vor die »relativ stärkste […] Macht«.³⁵ In diesem noch vom Liberalismus geprägten Umfeld konnten Fischels »ausrasierter Backenbart« und sein »auf der Mitte der Nase thronende[r] Kneifer« Klementine an einen »englischen Lord« erinnern³⁶ und ihr einen angemessenen gesellschaftlichen Status versprechen. Das »Bankwesen« erschien ihr in diesem Klima »als ein freigeistiger, zeitgemäßer Beruf«.³⁷ Weil »ein gebildeter Mensch im neunzehnten Jahrhundert den Wert eines anderen Menschen nicht danach beurteilt« haben soll, »ob er Jude oder Katholik« war, »empfand« sie damals noch »nahezu etwas besonders Gebildetes dabei, sich über das naive antisemitische Vorurteil […] hinwegzusetzen«.³⁸ In der Zwischenzeit jedoch, da »in ganz Europa ein Geist des Nationalismus« und Antisemitismus grassiert, ist Fischels Gattin vom »allgemeinen Vorurteil eingeschüchtert«.³⁹ Vor dem Hintergrund der Verbindung des postliberalen Nationalismus mit dem politischen Antisemitismus in den neunziger Jahren haben

 Musil, Klagenfurter Ausgabe, Transkriptionen / Mappe II/7/109. Zum Stereotyp des rothaarigen Juden vgl. Elsaghe, Die imaginäre Nation, S. 195 f.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 203.  Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, S. 333.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 204.  Ebd., S. 203.  Ebd.  Ebd.

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Fischels »Backenbart« und »Kneifer« die nobilitierende Geltung verloren, die Klementine ihnen anfänglich zusprach. In dieser neuen historischen Konstellation fügen sie sich ihr nur mehr ins mittlerweile verfestigte Klischeebild eines jüdischen »Börsenmakler[s]«,⁴⁰ zu dessen konstitutiven Bestandteilen sie in der veränderten Zeitstimmung geworden sind. Der Stil und die Erscheinung des »alten Liberalen« Fischel haben sich während des knappen Vierteljahrhunderts seiner Ehe nicht verändert, anders geworden ist nur Klementines Interpretation seiner Merkmale.⁴¹ »Das Schicksal dieser beiden Gatten«, analysiert der Erzähler, »hing zum größern Teil von einer trüben, zähen, ungeordneten Schichtung von Gedanken ab, die gar nicht ihrer, sondern der öffentlichen Meinung angehörten und sich mit dieser verändert hatten, ohne daß sie sich davor bewahren konnten«.⁴² Klementine selber muss feststellen, dass an und für sich »nirgends in der Welt ein Maß dafür vorhanden ist, ob ein Backenbart rechtmäßig an einen Lord oder an einen Makler erinnert und ein Kneifer einen Platz auf der Nase hat, der zusammen mit einer Handbewegung Enthusiasmus oder Zynismus ausdrückt«.⁴³ Fischels gleichbleibender ›Physiognomie‹ kommt zwar wie dem Aussehen aller anderen Romanfiguren ein Verweischarakter zu. Sie verweist sowohl auf die Beständigkeit seiner liberalen Grundsätze als auch auf ein antisemitisches Klischeebild. Das Klischeebild aber wird nicht als solches stehengelassen. Seine Entstehung wird sozusagen in actu vorgeführt. Der antiliberale Wandel im Wien des Fin de siècle, die Erstarkung des Antisemitismus zu einer tonangebenden Bewegung ermöglichten Klementine eigentlich einen Einblick in die Kontingenz solcher Bedeutungszuschreibungen. Dennoch zieht sie zur Erklärung der »Gegensätze«, die sich zwischen ihr und Leo im Ehealltag »allmählich immer heftiger« auftun,⁴⁴ eben zunehmend rassistische Denkmuster heran. Der »altmodisch[e]«⁴⁵ Bourgeois Fischel hingegen gelangt immerhin zu einer Ahnung dieser Kontingenz und bringt sie auf genau denselben, im Mann ohne Eigenschaften nirgends sonst zitierten Begriff, den Musil dafür in seinem Essay Der deutsche

 Ebd., S. 204. Wenn beispielsweise Schnitzlers Else in ihrem inneren Monolog reflektiert, dass man ihrem Vater das Spekulantentum nicht ansehe, impliziert das förmlich, dass man ihm auch das Stigma seiner jüdischen Herkunft nicht anmerkt: »Immer diese Geschichten! Seit sieben Jahren! Nein – länger. Wer möcht’ mir das ansehen? Niemand sieht mir was an, auch dem Papa nicht. […] Mir sieht’s niemand an. Ich bin sogar blond, rötlichblond, und Rudi sieht absolut aus wie ein Aristokrat. Bei der Mama merkt man es freilich gleich, wenigstens im Reden. Beim Papa wieder gar nicht«. Schnitzler, Fräulein Else, S. 332 f.  Vgl. dazu auch Marquardt, Erzählte Juden, S. 307– 311.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 207.  Ebd., S. 204.  Ebd., S. 203.  Ebd., S. 206.

›Race‹, ›class‹ und ›gender‹ in der familialen Kampfzone

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Mensch als Symptom benutzte: Obwohl das, wie der Erzähler dann doch ironischabgrenzend anmerken muss, im Grunde genommen »weit über seinen Bedarf an Philosophie« hinausgeht, beginnt Fischel die »tiefe Nichtigkeit des seelischen Lebens zu ahnen, seine Gestaltlosigkeit«.⁴⁶

II ›Race‹, ›class‹ und ›gender‹ in der familialen Kampfzone Die Abwertung, die Fischel durch den allgegenwärtigen Antisemitismus in Klementines Augen erfährt, ramponiert nun unverkennbar auch seine Geschlechtsidentität.Wie schon angesprochen werden auch in dieser Ehe die konventionellen Geschlechterrollen und die vaterrechtliche Ordnung gestürzt. Dabei sehnte sich gerade Fischel nach patriarchal intakten Familienverhältnissen. Sein Geschlechter- und Familienbild orientiert sich am »Modell Odysseus und Penelope […]: die wartende Ehefrau und der von seinen Kriegs- und Irrfahrten heimkehrende Mann«⁴⁷ – und an den konventionellen Geschlechtscharakteren, über die der kleinfamiliale Raum im Lauf des achtzehnten Jahrhunderts emotionalisiert, sakralisiert und feminisiert wurde.⁴⁸ Fischel ist ein »unverbesserlicher Familienmensch«,⁴⁹ seine Tochter mit dem für assimilationswillige Juden typischen germanischen Namen Gerda der »Lichtstrahl in seinem Leben«.⁵⁰ Wenn er »ermüdet von seinem Dienst«⁵¹ heimkehrt, sehnt er sich nach einem »um Gottvater-Titulardirektor schwebenden Kreis von Engeln«.⁵² Seine Familie wünscht er sich im Sinn der vorherrschenden Familienideologie als Gegenstruktur zur öffentlichen Welt, als den versöhnlichen und gefühlsbetonten Hort, zu dem sie in der Folge der Dissoziation von Erwerbsund Familienleben geworden war.⁵³ Dieses Konzept der Familie als eines idyllischen Refugiums ist durchaus symptomatisch für den Privatismus und die politische Resignation des jüdisch-liberalen Bürgertums nach der Jahrhundertwende,

 Ebd., S. 207; im Original keine Hervorhebung. Vgl. Musil, Der deutsche Mensch als Symptom, S. 1368, 1371, 1375, 1392.  Hanisch, Männlichkeiten, S. 225.  Vgl. z. B. Schmale, Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450 – 2000), S. 193.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 481.  Ebd., S. 206.  Ebd., S. 207.  Ebd., S. 481.  Vgl. Hausen, Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«.

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›Gender‹, Antisemitismus und Ökonomie

das auf den politischen Machtverlust und den anwachsenden Antisemitismus mit dem schrittweisen Rückzug in den Privatbereich reagierte.⁵⁴ Klementine indessen können Leos Familienphantasien nichts mehr anhaben. Sie, deren Wirkungskreis im Sinn der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung weitgehend auf den privaten Raum des Hauses begrenzt bleibt und die »nichts zu tun« hat, »als Tag und Nacht den Schoß dieser Familie zu bilden«, wird »durch keinerlei romantische Vorstellungen davon mehr beirrt«.⁵⁵ Ihre Unzufriedenheit mit ihrem Eheleben ist also offenkundig auch geschlechterstrukturell bedingt. Sie resultiert auch aus herkömmlichen Rollenmustern und der damit verbundenen Einschränkung ihres Aktionsfelds. Dennoch wird Klementine nicht umstandslos eine Opferrolle zugeschrieben. In den Fokus rückt vielmehr, wie sie und Leo Machtpositionen aushandeln und wie sie in ihren Konflikten mit ihm davon profitiert, dass er seinerseits einer diskriminierten sozialen Gruppe angehört. Ihre Auseinandersetzungen zeigen beispielhaft,wie die Kategorien ›race‹, ›gender‹ und ›class‹ sich gegenseitig ›durchqueren‹ und Klementine als ›weiße‹, nichtjüdische Frau aus der »hohen Bürokratie«⁵⁶ eine ambivalente Position zwischen Opfer und Täterin einnimmt. Klementine ist nicht nur Objekt unterdrückender Strukturen und Praktiken, sondern instrumentalisiert ihrerseits antisemitische Klischees, um sich in ihren »täglichen Kleinkämpfen«⁵⁷ mit Leo zu behaupten. Sie ist selber in Ausschließungsprozesse verwickelt und setzt sich über ihre familiäre Herkunft sowohl in Bezug auf Klasse wie auch ›Rasse‹ von ihrem Gatten ab. Klementine Fischel stammt aus einer renommierten »alten Beamtenfamilie«, deren ökonomisches Kapital ihrem sozialen nicht entsprach: aus einer Familie also, die »mehr Kinder als Vermögen« besaß.⁵⁸ Insoweit erschien ihr eine Ehe mit Leo wenigstens in finanzieller Hinsicht als ein Versprechen, das sie der »peinlich

 Freud zum Beispiel konnte als Knabe noch voller Zuversicht auf den kulturellen Fortschritt davon träumen, Minister zu werden, und hätte nicht zuletzt deshalb beinahe angefangen, Jura zu studieren. Danach zeichnet sich eine ›innere Emigration‹ in seiner Biographie aber ebenso ab wie in vielen Texten jüdischer oder als jüdisch wahrgenommener Autoren aus dem Umfeld der Wiener Moderne: sei es in Lord Chandos’ Unfähigkeit, über »die Vorkommnisse im Parlament […] ein Urteil herauszubringen«, oder in Professor Bernhardis konsequenter Weigerung, sich der politischen Dimension der Intrige gegen ihn zu stellen. Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Bd. 31: Erfundene Gespräche und Briefe. Hg. von Ellen Ritter. Frankfurt am Main 1991, S. 45 – 55, hier S. 48. Vgl. Freud, Traumdeutung, S. 198 f.; Arthur Schnitzler: Professor Bernhardi. Komödie in fünf Akten. In: Ders.: Gesammelte Werke. Die dramatischen Werke. Frankfurt am Main 1962, Bd. 2, S. 337– 463.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 207.  Ebd., S. 136.  Ebd., S. 307.  Ebd., S. 203.

›Race‹, ›class‹ und ›gender‹ in der familialen Kampfzone

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sparsamen Begrenztheit ihres Elternhauses« entgegensetzen konnte.⁵⁹ Seit Leo Fischels Karriere aber »zögernd auf dem Posten eines Börsendisponenten stecken geblieben« ist und die soziokulturellen Umstände, die »Welle der Judenangriffe« ihn »aus einem geachteten Freigeist in den Ätzgeist eines bodenfremden Abstämmlings verwandelte[n]«,⁶⁰ sieht sie ihre Hoffnungen enttäuscht, ihren gesellschaftlichen Stand nach der Heirat halbwegs zu behaupten. Sie, die sozusagen ihrerseits mit der sozialen ›upward mobility‹ des emanzipierten Judentums spekulierte, fasst ihre Heirat inzwischen als sozialen Abstieg auf. Anders als die meisten übrigen Männerfiguren des Romans kann Fischel seiner Gattin demnach schon in der traditionell männlichen Rolle des ›Versorgers‹ und ›Ernährers‹ nicht genügen und sie nicht standesgemäß unterhalten. Wenn er eine Einladung in die Parallelaktion erhält, verdankt er sie »bloß den Familienbeziehungen seiner Frau« – ein »Zusammenhang«, den sie, wie eigens hervorgehoben wird, »niemals« vergisst.⁶¹ Klementines frustriertes »Standesbewußtsein«⁶² steht gleichsam am Ursprung der anderen Abwertungen, mit welcher der zur »Nachgiebigkeit« neigende Leo sich durch seine »unnachgiebig[e]« Frau konfrontiert sieht. Zum Beispiel verbietet ihr dieses Klassenbewusstsein »getrennte Schlafräume«, »um die ohnehin unzureichende Wohnung nicht noch mehr zu verkleinern«.⁶³ Diese standesorientierte Raumaufteilung provoziert die fast schon ritualisierte »Ehrabschneidung«⁶⁴ und symbolische Kastration, die Fischel in der Rolle des Liebhabers regelmäßig zu erleiden hat. Sein Vorname ist damit ebenso offenkundig ein Ironym wie der seiner Gattin. Deren Name, Klementine, beschwört zwar die Sanftmut, die Jean-Jacques Rousseau zufolge »erste und wichtigste Qualität einer Frau«,⁶⁵ noch herauf. Gerade dadurch weist er aber umso nachdrücklicher auf das Spannungsverhältnis zwischen ihren Eigenschaften und dem bürgerlichen, von Rousseau mitgeprägten Weiblichkeitsideal hin. Und auch Leos eigentlich Macht und Maskulinität konnotierender Vorname ist zunächst nur ex negativo bedeutsam. Auch er ruft eine bestimmte Geschlechterrolle lediglich auf, um desto deutlicher zu machen, dass Leo ihre Vorgaben nicht oder nicht mehr erfüllt. Mit der »schon sehr abgespielte[n] Rolle eines Helden« und »fauchenden Löwen«, die

 Ebd.  Ebd.  Ebd., S. 136.  Ebd., S. 205.  Ebd.  Ebd., S. 206.  Jean-Jacques Rousseau: Émile oder Über die Erziehung. Übersetzt von Eleonore Sckommodau. Stuttgart 2004, S. 744.

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Fischel genau wegen des gemeinsamen Schlafzimmers seiner Gattin nächtens immer noch ›vorzaubern‹ zu müssen glaubt, vermag er Klementine nicht mehr zu erwärmen.⁶⁶ Aus dem »dunkle[n] Zuschauerraum«, und das heißt von seiner völlig teilnahmslosen Frau, erhält er »weder den leisesten Applaus noch das geringste Zeichen von Ablehnung«.⁶⁷ Fischel, der als Mann auch gemäß den Sexualratgebern des frühen zwanzigsten Jahrhunderts noch für eine glückende, ›gesunde‹ eheliche Sexualität zuständig wäre,⁶⁸ scheitert in dieser Rolle geradeso wie die anderen verheirateten Männerfiguren des Romans. Seinen sinnbildlichen Ausdruck findet dieses Scheitern beim Frühstück, das die beiden Verheirateten nach alter Familientradition gewöhnlich trotz der nächtlichen Bett-›Kämpfe‹ zusammen einnehmen: Klementine »steif wie eine gefrorene Leiche«, Leo mit ›erschütterten‹ »Nerven«, »zuckend von Empfindlichkeit«.⁶⁹ Wenn Fischel sich nach Feierabend selbst im Winter lieber »in einem der Stadtgärten« herumtreibt, statt »nach Hause zu eilen«,⁷⁰ liegt das aber, wie schon angedeutet, nicht in erster Linie an den sexuellen Spannungen zwischen ihm und seiner Gattin. Fischels Männlichkeit, seine Autorität als vermeintlicher »Gottvater« innerhalb der Familie wird nicht nur von seiner klassenspezifischen und seiner sexuellen Identität beeinträchtigt. Dass sich verschiedene Modalitäten von Identität wechselseitig durchdringen, veranschaulicht zumal die Art und Weise, wie Fischel auch innerhalb seiner Familie ethnisch etikettiert wird. Zum einen beginnt Klementine genau dann, ihre Ehe auch unter einem rassistischen Blickpunkt als Mesalliance zu begreifen, als Leo »alle Aussicht« verliert, »jemals wirklicher Bankdirektor zu werden«.⁷¹ Sie führt ihre Dauerkonflikte mit ihm nun vermehrt auf sein Jüdischsein zurück und erklärt sie sich damit, »daß Leos Charakter eben doch dem ihren fremd sei«.⁷² Ihre Weigerung aber, Fischel einen »Engel[]« darzubieten und sich der »Wiederherstellung« der männlichen »Arbeitskraft« im idyllischen Familienraum zu widmen,⁷³ spielt beim Verlust seiner

 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 205.  Ebd.  Vgl. Schmale, Die Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450 – 2000), S. 209. Diotimas sexualerzieherische Eigeninitiative ist in dem Sinn anachronistisch. Die in die entsprechenden Kapitel eingearbeiteten Zitate stammen bekanntlich aus Sofie von Lazarsfeld: Wie die Frau den Mann erlebt. Fremde Bekenntnisse und eigene Betrachtungen. Leipzig und Wien 1931.Vgl. Musil, Klagenfurter Ausgabe, Transkriptionen / Mappe VII/14/58.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 205.  Ebd., S. 480.  Ebd., S. 203.  Ebd.  Ute Gerhard: Verhältnisse und Verhinderungen. Frauenarbeit, Familie und Rechte der Frauen im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1978, S. 94 f.

›Halbe Umarmungen‹: Hans Sepp und Gerda

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Hausherrschaft noch nicht einmal die Hauptrolle. Zum »Höllenkreis«⁷⁴ geworden ist ihm sein Familienkreis noch aus einem anderen triftigen Grund. Im Gegensatz zu Walter, Tuzzi oder Hagauer hat Fischel ja einen Nachkommen, eine Tochter. Gerade sie, die doch den »Lichtstrahl in seinem Leben« abgeben sollte, ist dafür verantwortlich, dass er umso stärker kujoniert und gedemütigt, dass das Vaterrecht in seiner Familie auch im wörtlichen Sinn des Kompositums verletzt wird.

III ›Halbe Umarmungen‹: Hans Sepp und Gerda Gerda Fischel ist dreiundzwanzig Jahre alt und wäre also im besten heiratsfähigen Alter. An »Herrn Glanz« allerdings, »der sich, von ihrem Vater unterstützt, vorsichtig um sie bew[i]rb[t]«,⁷⁵ ist sie nicht interessiert. Fischel mag es seinerzeit gelungen sein, eine Familie zu gründen, und so ein wichtiges Kapitel seines ›male narrative‹ zu schreiben. Konnte er sich damals in der ›politischen Ökonomie der Sexualität‹⁷⁶ als ›männlicher Akteur‹ etablieren, schafft er es nun als legales »Haupt der Familie«⁷⁷ nicht mehr, dieses Narrativ weiterzuführen. Schließlich bestünde in der Geschlechterordnung des neunzehnten Jahrhunderts, der Fischel verpflichtet ist, das nächste Kapitel im patriarchalen Curriculum ja gerade darin, sein nach zeitgenössischem Recht noch nicht volljähriges⁷⁸ Kind in der Tat an einen »Herrn Glanz«, an einen geeigneten Schwiegersohn zu vermitteln.⁷⁹ Der aussichtsreichste Heiratskandidat für Gerda indessen eignet sich denkbar schlecht für ein ›male bond‹ und familiale Allianzen. Seine Präsenz und sein Einfluss im Familienleben der Fischels ist im Gegenteil darauf angelegt, Leo darin eine hilf- und machtlose Position zuzuweisen: Hans Sepp stammt nicht nur »aus ›gar keinem Haus‹«⁸⁰ und bietet, wie fast schon leitmotivisch wiederholt wird, »nicht die geringste Aussicht auf Versorgung«. Er erweist sich, unseligerweise, auch als ein militanter »christgermanische[r]« Antisemit. Der Student Hans Sepp besitzt »längst keinen Vater mehr«.⁸¹ Seine Mutter betreibt ein »kleines Geschäft […], von dem sie ihn und seine Geschwister« er Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 481.  Ebd., S. 477.  Vgl. Rubin, The Traffic in Women.  Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch für die gesammten Deutschen Erbländer der Österreichischen Monarchie (ABGB). Wien 1811, S. 32 f., § 91.  Vgl. Ursula Floßmann: Österreichische Privatrechtsgeschichte. Wien und New York 52005, S. 39.  Vgl. Erhart, Familienmänner, S. 57– 62.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 313.  Ebd., S. 554.

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›Gender‹, Antisemitismus und Ökonomie

nährt.⁸² Seine antijüdischen Ressentiments sind sozialpsychologisch bezeichnend sowohl für das Segment des unteren gewerblichen Mittelstands,⁸³ aus dem er stammt, wie auch für das burschenschaftliche Universitätsmilieu,⁸⁴ in dem er verkehrt. In beiden mobilisierten antisemitische Diskurse Ängste vor jüdischer Konkurrenz, vor Deklassierung und Proletarisierung. Schon Hans Sepps aus zwei Allerweltsvornamen bestehender Name weist darauf hin, dass dieser »›Seelenführer‹ Gerdas«⁸⁵ aus der Stratifikation der habsburgischen Gesellschaftsordnung keinerlei soziales Prestige ziehen kann. Gleichwohl glaubt Hans, »wenn er Umschau« hält, »was ihn auszeichnen könnte«,⁸⁶ ausgerechnet in seinem Namen ein Mittel der sozialen Distinktion auszumachen. Er hat, wie es in einem Kapitelentwurf aus den späten zwanziger Jahren noch mokant heißt, mit seinem wenigstens »deutschen Namen« eines Tages »die Ansicht« kennengelernt, »daß deutsch sein adelig sein heißt«.⁸⁷ »Von da an« hält er sich zugute, »einen Adelsnamen« zu tragen.⁸⁸ Noch in diesem Entwurf wird Hans Sepps Antisemitismus mithin explizit als ein Versuch beschrieben, sich eine privilegiertere Herkunft zuzulegen. Sepps Rassen-›Denken‹ erscheint als strategisches Mittel, um sich einen höheren gesellschaftlichen Rang und die damit einhergehenden Vorteile zu sichern. Es erweist sich so nicht zuletzt als eine Form jenes ›berechnenden‹ Handelns, gegen das er vordergründig so vehement opponiert. Veranschaulicht wird demnach ein Konnex von Rassen- und Klassendispositiven, wie ihn etwa Benedict Anderson beschreibt. Die »Ideologien, in denen die Phantasien des Rassismus ihren Ursprung« haben, sind für ihn »in Wirklichkeit eher solche der Klasse als der Nation«.⁸⁹ Hans Sepps Judenfeindlichkeit konstituiert eine privilegierte ›ingroup‹, deren Angehörigen er erlaubt, sich in die Rolle eines Aristokraten hineinzuphantasieren. Diese Form des Rassismus konnte zumal in Nationen mit Koloni-

 Ebd.  Vgl. Shulamit Volkov: Zur sozialen und politischen Funktion des Antisemitismus: Handwerker im späten 19. Jahrhundert. In: Dies.: Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. München 1990, S. 37– 53.  Vgl. Peter G. J. Pulzer: Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867– 1914. Göttingen 2004, S. 262.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 313.  Ebd., S. 1511 f.  Ebd., S. 1512.  Ebd. Zur Konfusion des feudalistischen und des rassistischen Diskurses vgl. schon JosephArthur de Gobineau: Essai sur l’inégalité des races humaines. Paris 1854 f. oder George L. Mosses Abriss davon in ders., Die Geschichte des Rassismus in Europa, S. 76 – 82.  Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt am Main 21996, S. 150; Hervorhebung im Original.

›Halbe Umarmungen‹: Hans Sepp und Gerda

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alreich auch der Sicherung aristokratischer Machtbereiche im Innern dienen, da Kolonien es ermöglichten, bürgerliche Herrschaftsansprüche in periphere Räume auszulagern.⁹⁰ Im multinationalen Kakanien aber, in dem Rassenideen den Zusammenhalt der Monarchie hintertrieben, übt nicht zufällig gerade Se. Erlaucht Graf Leinsdorf Kritik an den ›modernen‹ anthropologischen Rassentheorien. Gerade er sieht in ihnen eine bürgerliche Mimikry des adligen Abstammungsdenkens, hinter der das Ziel steht, soziale Differenzen zum Adel zu nivellieren: Wozu brauchen die Bürgerlichen eine Rasse?! Daß ein Kammerherr sechzehn adelige Ahnen haben muß, darüber haben sie sich immer aufgehalten als eine Anmaßung, und was tun sie jetzt selber? Nachmachen möchten sie’s und übertreiben tun sie’s. Mehr als sechzehn Ahnen ist ja schon ein Snobismus!⁹¹

Wenn der »über das Eindringen ›völkischer‹ Elemente in die Parallelaktion« verärgerte Leinsdorf sich des weiteren über die Anwendung der »Ideale der Hühner- und Pferdezucht auch auf Gottes Kinder« empört,⁹² spielt er wohl auf eine Aussage Chamberlains an. Im Vorwort zur vierten Auflage der Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts appelliert dieser mit einem ähnlichen Beispiel an den Erfahrungshorizont seiner Leserschaft und den Blick des Kleintierzüchters. Er setzt sich dort über eine Form der Rassenbestimmung hinweg, die sich mit »Gräberfunden und paläolithischen Äxten und Lautverschiebungen«⁹³ herumschlage und über ein »ewiges Längs- und Quermessen und ein ewiges Hin- und Herspielen mit Hypothesen und Systemen und Nomenklaturen«⁹⁴ nicht hinausgelange. In seinen Grundlagen verarbeitete Chamberlain zwar trotz dieser Polemik gegen positivistisch ausgerichtete Wissenschaften selber eine Vielzahl anthropologischer, archäologischer und sprachgeschichtlicher Forschungsliteratur. Nicht zuletzt deshalb konnte dieser – wie Musil sich um 1920 notierte – »fleißige Versuch[]«⁹⁵ sogar in Großbritannien als »ein Denkmal der Gelehrtheit« (The Spectator) und ein »Meisterwerk wahrhaft wissenschaftlicher Geschichtsschreibung« (Fabian News) rezipiert werden.⁹⁶ Um aber »zu entdecken, ob etwas ›Rasse‹ heißen kann, und was«,⁹⁷ glaubte Chamberlain nicht unbedingt auf stichhaltige

 Vgl. ebd., S. 151.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1016.  Ebd.  Houston Stewart Chamberlain: Dilettantismus, Rasse, Monotheismus, Rom. Vorwort zur 4. Auflage der Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts. München 1903, S. 16.  Ebd., S. 12 f.  Musil, Tagebücher, Bd. 1, S. 527.  Zitiert nach: Poliakov, Der arische Mythos, S. 374.  Chamberlain, Dilettantismus, Rasse, Monotheismus, Rom, S. 16.

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wissenschaftliche Kriterien angewiesen zu sein, denen sich Anthropologen wie der erwähnte von Luschan wenigstens verpflichtet fühlten. Im Gegenteil macht er die Präsuppositionen sozusagen unverschämt sichtbar, auf denen mutatis mutandis auch von Luschans kraniologische Messungen beruhten. Eigentlich, versichert Chamberlain seinem Publikum, seien Rassenfragen denkbar unkompliziert. Obgleich »die Gelehrten« mit diesen Fragen noch nicht abschließend »zu Rande gekommen« seien, brauche man »nicht« auf ihre endgültigen Ergebnisse »zu warten«.⁹⁸ Um sagen zu können, dass es auch »unter den gegenwärtigen Menschen« etwas gebe, »was dem Wort Rasse Inhalt verleihe«, brauche er als »Mann[] der Praxis« lediglich Darwin, »dem großen englischen Naturforscher in den Pferdestall oder auf den Hühnerhof« zu folgen.⁹⁹ In den ›völkischen‹ Kreisen, mit denen Leinsdorf diese »Ideale der Hühnerund Pferdezucht« assoziiert, stießen Chamberlains freilich überhaupt sehr breit rezipierte Elaborate denn auch auf besondere Resonanz. Nicht zuletzt deshalb dürfte Musil dieses Kryptozitat eingebaut und sich anfangs der zwanziger Jahre vorgenommen haben, sich für seinen »Rassentheoretiker« und die in solchen »Köpfen angerichtete Verwirrung« »[e]twa Chamberlain zum Vorbild« zu »nehmen«.¹⁰⁰ Seit Musil den so hübsch sprechenden Namen »Tepp« aufgegeben und durch einen eigentlich als Vornamen üblichen ersetzt hat, verweisen vielleicht schon die Initialen Hans Sepps auf Chamberlains Vornamen. Auf jeden Fall teilt Hans Sepp mit Houston Stewart dessen mystisch angehauchten Antimaterialismus und Antirationalismus. Er teilt dessen Glauben an die Auserwähltheit des Germanentums und an das Bedrohungsszenario, wonach die germanische Weltsendung und ihr Erlösungsanspruch durch eine »jüdische[] Gesinnung«¹⁰¹ oder einen »jüdischen Geist«¹⁰² akut gefährdet sei. Er teilt mit ihm die Auffassung, »Arier« seien »nur dann fähig«, »Symbole zu schaffen, wenn sie rein unter sich sind«,¹⁰³ weil der prosaisch-materialistische ›Judengeist‹ die tiefsinnige mystische Symbolik der Arier zersetze.¹⁰⁴ Und er teilt mit ihm einen unscharfen Rassenbegriff, den auch er »wahllos zur Beschreibung einer biologischen Entität, einer Nation oder eines Volkes, gelegentlich auch nur einer Geisteshaltung oder eines Wertekatalogs«¹⁰⁵ verwendet.

 Ebd., S. 21.  Ebd., S. 15 f.  Musil, Klagenfurter Ausgabe, Transkriptionen / Mappe I/6/47.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 313.  Chamberlain, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, S. 1115.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 483.  Vgl. Chamberlain, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, z. B. S. 467, 471.  Large, Ein Spiegelbild des Meisters? S. 154.

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Trotz dieser leicht zu hebenden Bezüge lässt sich Musils Figur aber nicht eingleisig auf ein bestimmtes »Vorbild« zurückführen. Im Portrait des jugendbewegten Antisemiten werden vielmehr Partikel verschiedener Diskurse zusammengeführt und verdichtet. Obwohl diese Versatzstücke quellenkritisch häufig, geradezu naturgemäß, nicht eindeutig isolier- und verifizierbar sind, finden sich darin zum Beispiel auch Anleihen an Ludwig Klages’ kosmogonische Philosophie¹⁰⁶ oder an die kulturpessimistische Zivilisations- und rationalitätsfeindliche Wissenschaftskritik, die Julius Langbehn in seinem Long- und Bestseller Rembrandt als Erzieher formulierte. Die für die Mentalität der lebensreformerischen »Jugendbewegung« zentrale idealische Abgrenzung vom bürgerlichen Elternhaus ist ebenso wichtig für Sepp und seine Gesinnungsgenossen wie beispielsweise die Konzepte »der Probe- und Kameradschaftsehe, ja der Polygamie und Polyandrie«,¹⁰⁷ die in der Weimarer Republik nicht nur in sozialdemokratischen und marxistisch-leninistischen,¹⁰⁸ sondern auch in völkischen Zirkeln diskutiert wurden.¹⁰⁹ In Gestalt Hans Sepps, kurzum, manifestiert sich im Mann ohne Eigenschaften jenes ideologische »Gemenge«, das Musil bereits in seinem 1919 erschienenen Essay Der Anschluß an Deutschland als grundlegend für das »Selbstbewußtsein[]« der Deutschnationalen bestimmt hatte: »Wagner, Chamberlain, Rembrandtdeutsche[s], Felix Dahn, Studentenpoesie, Antisemitismus und unwissende[] Geringschätzung der anderen Nationen«.¹¹⁰

 Vgl. zu letzterem Müller, Ideologiekritik und Metasprache in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, S. 23 – 26. Quellenkritisch schon in Musils Notizen nachweisbar ist auch ein Teil der besonders eigentümlichen Lexik Hans Sepps, die für den christgermanischen Kreis eine Art Gruppencode darzustellen scheint: Ausdrücke wie »Empor-Menschlichung«, »Tat-Schwebung« und »Lebensdenkkunst« hat sich Musil aus einer Rezension von Willy Schlüters Deutschem Tatdenken herausgeschrieben. Vgl. Musil, Tagebücher, Bd. 1, S. 397; Bd. 2, S. 252– 254, Anm. 254– 260.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 553.  Vgl. Rebecca Heinemann: Familie zwischen Tradition und Emanzipation. Katholische und sozialdemokratische Familienkonzeptionen in der Weimarer Republik. München 2004, S. 99, 173 f.  Vgl. Puschner, Bausteine zum völkischen Frauendiskurs, S. 173 f. Der Lebensreformer Ernst Hunkel z. B. verschmolz Bachofens Mutterrechtstheorie mit Eugenik und forderte die deutschen Frauen auf, »Priesterinnen des reinen Blutes, des gesunden und aufsteigenden Lebens« zu werden, mit ihren Sexualpartnern eine bis zur Schwangerschaft dauernde ›Mutterrechtsehe‹ einzugehen und so »durch Auslese der Tauglichsten aus dem Nachwuchs ein stärkeres, reineres, gesunderes, schöneres Geschlecht heran[zu]züchte[n]«. Ernst Hunkel: Verkündigung der Frauenrechte. Sontra 1923, S. 27, S. 121.  Robert Musil: Der Anschluß an Deutschland. In: Ders., Essays und Reden. Kritik, S. 1033 – 1042, hier S. 1037.

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Diese synkretistische »Weltanschauung« nun darf Hans Sepp im Haus des Bankdirektors Fischel »unaufhörlich« auseinandersetzen.¹¹¹ Mehr noch hat er sich darin »durch nichts als die […] herrschenden Gegensätze« förmlich »zum Tyrannen aufgeworfen«¹¹² und die Fischel’sche Wohnung zum Treffpunkt für seinen »Schwarm christlich-germanischer Altersgenossen« gemacht.¹¹³ Er hat Gerda, die »sonst immer ein gutes und herzliches Kind gewesen ist«,¹¹⁴ in eine Tochter verwandelt, die ihren Vater als solchen schlechterdings nicht mehr anerkennt. In Widerspruch zum ius sanguinis des Rassendenkens will sie nicht von ihren Eltern »erblich belastet«, sondern »blond, frei, deutsch und kraftvoll« sein, »als hätte sie mit ihnen nichts zu tun«.¹¹⁵ Leos eigene Tochter also hat die Stereotypen internalisiert, die der antisemitische Diskurs in Umlauf setzte und die ihren Vater und im Prinzip auch sie selber diskriminieren. Sie empfindet zwar »heimlich nicht wenig Mißtrauen gegen« Hans Sepps »übertriebene[] Anschauungen«.¹¹⁶ Aber sie »mißtraut[] auch diesem Mißtrauen, in dem sie ein Erbteil der elterlichen Vernunft«¹¹⁷ vermutet – und bietet so ein gutes Beispiel für das Phänomen, das Theodor Lessing 1930 auf den (freilich schon länger umstrittenen¹¹⁸) Begriff des jüdischen Selbsthasses brachte.¹¹⁹ Aus Furcht davor, antijüdischen Klischeevorstellungen zu ähneln, konstruiert Gerda ihr eigenes Ich-Ideal in einer möglichst weitgehenden Abgrenzung von ihrem jüdischen Vater, der als Projektionsschirm für all das herhalten muss, was sie und die christgermanische Clique ablehnen. Fischel also, der seine Geschlechtervorstellungen am »Modell Odysseus und Penelope« orientiert, muss diese Clique bei sich zu Hause dulden »wie einst Odysseus die Freier der Penelope«. Seine Wohnung hat den »Körper« abzugeben, den »eine geistige« und damit auch Hans Sepps antisemitische »Bewegung braucht, wenn sie dauern soll«.¹²⁰ Diese Metapher des Erzählers weist auf eine Isotopie zurück beziehungsweise voraus, die die Virulenz der »Bewegung« unterstreicht. Sie ist assoziativ mit einer Reihe von Tropen und Vergleichen ver-

 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 309.  Ebd., S. 478.  Ebd., S. 206.  Ebd., S. 309.  Ebd., S. 312.  Ebd., S. 313.  Ebd.  Vgl. Allan Janik: Viennese Culture and the Jewish Self-Hatred Hypothesis: A Critique. In: Ivar Oxaal, Michael Pollak und Gerhard Botz (Hg.): Jews, Antisemitism, and Culture in Vienna. London und New York 1987, S. 75 – 88.  Vgl. Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass. Berlin 1930.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 482.

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bunden, die die antisemitische Schädlingsmetaphorik aufgreifen, dabei aber Aggressor- und Opferrollen verkehren.¹²¹ Den »Geist dieser jungen Leute« etwa vergleicht der Erzähler mit dem »Auftreten einer neuen Krankheit«.¹²² Hans Sepps Wirkung auf Gerda bezeichnet schließlich sogar Klementine als eine Art »geistige Infektion«.¹²³ Und Fischel selber soll eine eigentlich »tüchtige kleine Zelle im sozialen Körper« darstellen, »die brav ihre Pflicht« tut, »aber von überall vergiftete Säfte« erhält.¹²⁴ Im Gegensatz zum reinrassigen Antisemiten mit der unreinen Haut wird Fischel innerhalb des sanitären Schemas von ›purity and danger‹¹²⁵ demnach auf der Seite des Sauberen und Guten situiert. Gleichzeitig setzen die biologistischen Vergleiche und Metaphern aber noch einmal eindringlich seinen Verlust von Handlungsmächtigkeit und seine marode Männlichkeit ins Bild. Wenn es Fischel im Unterschied zu Odysseus nicht gelingen will, sich als Hausherr wiedereinzusetzen, liegt das indessen nicht in erster Linie an der Stärke seines ›unsauberen‹ Kontrahenten. Überlegen ist ihm, als er Hans Sepp endlich das Haus verbietet, vielmehr seine »nervös[e] und blutarm[e]«¹²⁶ Tochter. Sie zwingt ihn durch ein Kampfmittel, ihren Verkehr mit Hans wieder zuzulassen, das nosologisch mit ihrer Disposition zur Hysterie zusammenhängen dürfte und insofern schon auf den lehrbuchmäßigen hysterischen Anfall vorausweist,¹²⁷ den sie in Ulrichs Bett zu erleiden hat. In Otto Binswangers einschlägigem Handbuch beispielsweise werden Anorexie und Nahrungsverweigerung, mit der Gerda auf die väterliche Direktive reagiert, in das Krankheitsbild der Hysterie integriert.¹²⁸ Die wie schon Clarisse auffällig »schmal[e]«,¹²⁹ »mager[e]«¹³⁰ und androgyn ›knabenhafte‹¹³¹ Gerda widersetzt sich Leos Diktat, indem sie »drei Wochen lang so wenig« isst, »daß sie bis auf die Knochen« abmagert.¹³²

 Vgl. auch Marquardt, Erzählte Juden, S. 326 f.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 482.  Ebd., S. 309.  Ebd., S. 207. Vgl. zum medizingeschichtlichen Hintergrund dieser Metapher Wolf, Kakanien als Gesellschaftskonstruktion, S. 513.  Mary Douglas: Purity and Danger. An Analysis of the Concepts of Pollution and Taboo. New York 1966.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 206.  Vgl. dazu ausführlich Wolf, Kakanien als Gesellschaftskonstruktion, S. 858 – 864.  Vgl. Binswangers Kapitel zur hysterischen Anorexie: Otto Binswanger: Die Hysterie. Wien 1904, S. 609 – 614.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 309; vgl. S. 1013.  Ebd., S. 489, 617.  Ebd., S. 621.  Ebd., S. 309.

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Begünstigt wird Gerdas Tendenz ins konstitutionell Hysterische durch den Umgang mit Hans Sepp allerdings noch in anderer ›fleischlicher‹ Hinsicht. Wenn Gerdas Körper in einer für den Hysteriediskurs bezeichnenden Doppelung als »halb schon schlaff und halb noch unreif« beschrieben wird,¹³³ hängt diese Kontamination von Erschöpfung und innerer Glut explizit mit ihrer sexuellen Frustration zusammen. Hans Sepp stimuliert mit seinen Küssen und »halben Umarmungen«¹³⁴ zwar Gerdas Begehren, reibt »mit seinen kindischen Zärtlichkeiten« aber nur »ihre Nerven« auf.¹³⁵ Anders als die Freier in der Odyssee, die alle laut lärmend ihren Wunsch artikulieren, mit Penelope »das Bette zu teilen«,¹³⁶ zeigt er sich auch in puncto Sexualität als Repräsentant der deutschvölkischen Ausprägung der Jugendbewegung. Ihr schuldet er seine kulturregenerative Leitidee der Enthaltsamkeit, die völkische Kreise schon aus Tacitus’ Germanenschilderungen herauslasen.¹³⁷ Obwohl Gerda »das Verlangen nach vollendeter Umarmung« »arglos stark« empfindet,¹³⁸ berührt er sie daher nur »schattenhaft«.¹³⁹ Und davon, von dieser zwar anregenden, aber »unschuldig[]« bleibenden »Wollust«¹⁴⁰ sollen ihre »Schultern« »mager« werden »und ihre Haut die Frische« verlieren.¹⁴¹ Der »Student mit dem unreinen Teint und der umso reineren Seele«¹⁴² befindet »Sinnlichkeit« für besitzergreifend und lehnt sie als »kapitalistisch-jüdisch« ab.¹⁴³ Wenn Gerda »vor Unbefriedigung am ganzen Leibe« zittert, scheut Hans Sepp sich nicht, ihr diese körperliche Rebellion »als einen Rest ungermanischer Abkunft anzurechnen«.¹⁴⁴ Am eigentlichen Motiv, mit dem er ihr Begehren rassisch markiert und aus seinem Verständnis einer ›germanischen‹ oder ›weißen‹ Weiblichkeit ausschließt,¹⁴⁵ lässt Musils Roman allerdings wenig Zweifel. Gerdas

 Ebd., S. 622.  Ebd., S. 561.  Ebd., S. 617.  Homer, Ilias. Odyssee, S. 498 (1. Gesang, Vers 366).  Vgl. Puschner, Bausteine zum völkischen Frauendiskurs, S. 175; Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte. 1866 – 1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist. München 1990, S. 123.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 561.  Ebd., S. 617.  Ebd., S. 479.  Ebd., S. 617.  Ebd., S. 482.  Ebd., S. 311.  Ebd., S. 561.  Vgl. zum Ideal der ›pure white woman‹ Richard Dyer: White. London und New York 1997, S. 74– 77; Melanie Rohner: ›w/White‹ werden. Zur Repräsentation von ›whiteness‹ in Max Frischs Stiller. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 2.1 (2011), S. 95 – 112.

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»junge[r] Freund«¹⁴⁶ macht ihr den Vorwurf des ›Ungermanischen‹ primär aus Angst vor ihrer und seiner eigenen Geschlechtlichkeit. Der Erzähler konstatiert eigens, Sepps Eintreten für einen »Riegel gegen die Einflüsterungen der niederen Natur« sei »ganz nach seinem Sinne«¹⁴⁷ und er sei »einer von denen, die einen Sündenbock benutzen« für all das, »mit dem sie nicht fertig werden«.¹⁴⁸ Der Student propagiert seine Maxime der sexuellen Abstinenz offenbar als eine Art Schutzmaßregel, weil er selber noch eher ein »Schulbub[]« ist als ein ›Mann‹. Oder zumindest wird er mit Weiblichkeit und Kindlichkeit assoziiert, weil er sich für dieses Keuschheitsideal engagiert. Insofern scheint auch Hans Sepps Auflehnung gegen den »Kapitalismus am Kinde« nicht ganz selbstlos zu sein, zu der er die »bisher zu Hause recht wohlgeborgen gewesene[] Schülerin Gerda« als erstes anhält.¹⁴⁹ Diese Auflehnung deckt sich mit Langbehns Propagierung der Selbsterziehung und »Kindernatur« in mancher, aber nicht in jeder Beziehung. Für Langbehn wie für Hans Sepp äußert sich im »Kindersinn« eine konkret schöpferische und genuin deutsche Kraft, deren Individualität jedoch »unter dem Wuste einer äußerlichen Bildung […] erstickt« wird.¹⁵⁰ Aufschlussreicher als die bloße Identifikation dieser intertextuellen Reminiszenz¹⁵¹ sind für das hier leitende Frageinteresse aber die Differenzen beziehungsweise eine auffällige Unstimmigkeit zwischen Hypo- und Hypertext. Langbehn zufolge soll sich bei den bedeutendsten deutschen Männern »des Worts wie der That […] fast ausnahmslos« die »urdeutsche[] Eigenschaft« der »Kindlichkeit« zu ihrer ohnehin gegebenen »Männlichkeit« »addirt« haben.¹⁵² In Hans Sepps Adaption der Langbehn’schen Ideen jedoch ist von Männlichkeit keine Rede mehr. Dieser vereinseitigenden Verformung oder Entstellung entsprechend wird Gerdas »junge[m] Freund« Maskulinität denn auch durchgängig aberkannt: Auch »mit einundzwanzig Jahren« gehabt sich Hans, wie schon zitiert, noch »wie ein Kind«. Er verbirgt, nachdem er Gerda »beleidigt« hat, »sein tränenüberströmtes Gesicht […] wie ein Kind zwischen ihren Beinen«.¹⁵³ Wenn Gerda ihn »mit Heftigkeit und zuletzt manchmal mit Verachtung« behandelt, antwortet er »mit noch größerer Heftigkeit, wie ein Knabe, der droht, sich ein Leid anzutun«.¹⁵⁴

        

Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 312. Ebd. Ebd., S. 1033. Ebd., S. 553 f. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, S. 246 f. Vgl. Neymeyr, Psychologie als Kulturdiagnose, S. 358. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, S. 247. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 561. Ebd., S. 617.

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Gerda selber »ahnt[], ein Mann würde mehr und weniger tun als Hans«.¹⁵⁵ Er würde weiter gehen als nur bis zu dessen »halben Umarmungen«, die »so salzlos« sein sollen »wie Kinderküsse«,¹⁵⁶ oder aber diese Umarmungen ganz lassen. Ulrich seinerseits denkt sich, verärgert über Hans Sepps doppelt weiblich konnotiertes¹⁵⁷ »abergläubische[s] Geschwätz«,¹⁵⁸ dass »nach dem unklaren Schmutzfink Hans« nicht nur er, sondern »jeder andere wirkliche Mann« »als Erlösung auf« Gerda »wirken müßte«.¹⁵⁹ Der »unreife[] Bube[]«¹⁶⁰ trägt also vielleicht nicht umsonst die gleichen Namen wie die beiden Kutschenpferde Graf Leinsdorfs (»Das ist der Pepi, und das ist der Hans«¹⁶¹). Denn Pepi und Hans sind beide, wie das bei Kutschenhengsten die Regel war,¹⁶² ausdrücklich »verschnitten«.¹⁶³ Am Portrait Hans Sepps lässt sich somit ein weiteres Mal beobachten, wie im Mann ohne Eigenschaften diskursive Positionen auch darüber geschwächt werden, dass die Männlichkeit ihrer Repräsentanten lädiert wird. Besonders deutlich ist diese Lädierung auch in Hans Sepps Fall im Vergleich mit dem Romanprotagonisten. Sie wird wiederholt gegen die schillernde Maskulinität Ulrichs ausgespielt, mit dem Hans bei Gerda in Konkurrenz steht. Gerda nämlich liebt »ihren jungen Freund« »eigentlich nicht sehr«¹⁶⁴ (dessen biblischer Nachname ja bereits auf die vergleichsweise unerhebliche »Spottgestalt[]« weist, die im Dreieck der heiligen Familie bloß die Stelle eines Ersatzvaters, um nicht zu sagen eines »ohnmächtige[n], gehörnte[n] Gatte[n]« besetzt¹⁶⁵). Ihr vorgeschobenes ›Bekenntnis‹ zum »knochig[en]«, weder »groß[en]« noch »kräftig[en]« Hans, der »sich seine Hände im Haar oder an den Kleidern« abwischt und den »auf seiner ungepflegten Gesichtshaut immer irgendeine Pustel beunruhigt«,¹⁶⁶ gibt sie sozusagen jenseits des

 Ebd., S. 561.  Ebd.  Zur weiblichen Codierung des Geschwätzes vgl. Regina Schulte: Bevor das Gerede zum Tratsch wird. In: Karin Hausen und Heide Wunder (Hg.): Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte. Frankfurt am Main und New York 1992, S. 67– 73, hier S. 73.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 557.  Ebd., S. 562; im Original keine Hervorhebung.  Ebd., S. 486.  Ebd., S. 175. Pepi hiess auch das Pferd, das Musil während des Kriegs 1915 ritt. Vgl. Corino, Robert Musil. Eine Biographie, S. 1469, Anm. 43.  Freundliche Auskunft von Hanspeter Meier vom Institut für Pferdemedizin der Universität Bern, 21. April 2010.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 175.  Ebd., S. 312.  Albrecht Koschorke: Die Heilige Familie und ihre Folgen. Ein Versuch. Frankfurt am Main 3 2001, S. 30 f.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 551.

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Lustprinzips ab. Es bedeutet für sie ein »Opfer«.¹⁶⁷ Dieses Opfer schließt für sie den Verzicht auf den »heimlich geliebten Menschen«,¹⁶⁸ auf »den schlank aufgerichteten mächtigen Körper des Mannes in seinem Gleichgewicht von Gewalttätigkeit und Schönheit« mit ein.¹⁶⁹ Ulrichs Anblick genügt bereits, um bei Gerda mit zwanghafter Regelmäßigkeit hysterische Symptome hervorzurufen, die sich naheliegend als Reflex einer unterdrückten sexuellen Anziehung lesen lassen. Er, den sie im Grunde »schon seit Jahren« »liebt[]«,¹⁷⁰ verfügt über eine sexuelle Ausstrahlung, der sie sich »gegen alle ihre Überzeugungen« nicht entziehen kann.¹⁷¹ Gerda reagiert auf Ulrich fortwährend, indem sie »kreisrunde rote Flecken« im Gesicht bekommt,¹⁷² »blaß und rot«¹⁷³ wird sowie anfängt »zu zittern«¹⁷⁴ und »zu schwitzen«.¹⁷⁵ Ulrich freilich erwidert diese Liebe oder auch nur dieses Begehren nicht. Gerdas physisch-hygienische Makel disqualifizieren sie für ihn als Sexualobjekt. So versucht er »gewöhnlich«, sie »spöttisch ab[zukühlen]«, weil er nur zu gut weiß, dass »weder Hans noch sonst wer solche Macht über ihr Gemüt« hat, »wie er sie hätte haben können«.¹⁷⁶ Diesen Vorrang im Wettstreit mit Hans verdankt er auch hier wieder seinem »mächtige[n] Manneskörper[]«. Wenn Ulrich versucht, Gerda die unausgegorene Beschränktheit von Sepps Auffassungen vorzuhalten (womit er ihr gegenüber manchmal fast schon in die vakant gewordene Vaterposition rückt), lässt sie ihn wiederholt alt aussehen. Sie widersetzt sich seiner intellektuellen Autorität gewöhnlich mit dem Hinweis, er gehöre »einer anderen Generation«¹⁷⁷ an und werde die »Jüngere[n]« ohnehin »nie verstehen«.¹⁷⁸ Gegen seine sexuelle Attraktivität indessen kommt sie nicht an. Ihre »Liebe« ist ausdrücklich der »zu einem Unwürdigen ähnlich, wo die beleidigte Seele von einem verächtlichen Hang nach körperlicher Unterwerfung geplagt wird«.¹⁷⁹ Dabei scheint ihre Fixierung auf Ulrich stark genug, dass seine mitunter tatsächlich beleidigende Zurückhaltung ausreicht oder wesentlich dazu beiträgt, in Gerda die

            

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 552. S. 558. S. 621. S. 487, 551. S. 490. S. 309, 483; vgl. S. 491, 621. S. 313; vgl. S. 621, 1013. S. 486, 491; vgl. S. 561, 618, 621, 1013 f., 1018. S. 491; vgl. S. 311. S. 561 f. S. 488. S. 311. S. 551.

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»Ahnung« auszulösen, sie werde »niemals heiraten und am Ende aller Träume ein einsam ruhig tätiges Leben führen«.¹⁸⁰ Als sie Ulrich schließlich mit eindeutigen Absichten aufsucht und er sie endlich küsst, sollen dies »die ersten Küsse wirklicher, nicht bloß gespielter und eingebildeter Leidenschaft« sein, »die sie soeben gegeben und, wie sie fühlte, auch empfangen« hat.¹⁸¹ Obwohl Ulrich den Part des Liebhabers nur widerwillig, ja sogar angewidert erfüllt und nicht zuletzt deshalb ihren hysterischen Anfall provoziert, ist der Kontrast dieser ›wirklichen‹ zu Hans Sepps »Kinderküsse[n]« offenbar so stark und »der Widerhall in ihrem Körper« »so ungeheuer, als ob sie schon dieser Augenblick zur Frau gemacht hätte«.¹⁸² Nachdem Gerdas Anfall ihre »heimliche[n]« Hoffnungen auf eine Verbindung mit Ulrich wohl zerschlagen hat, schafft es der »eifersüchtig[e]«¹⁸³ und düpierte Hans Sepp immerhin, sich mit ihr »so halboffiziell« zu verloben.¹⁸⁴ Zu einer Heirat sollte es aber wie gesagt nicht kommen. Bereits Musils Kapitelentwürfe aus den späten zwanziger Jahren sahen vor, Hans Sepp in den einjährigen Militärdienst zu schicken und ihm dort ein Ende zu bereiten, das für Angehörige des kakanischen Militärs charakteristischer war als für diejenigen aller anderen europäischen Streitkräfte. Hans Sepp sollte in Musils Fortsetzungsmanuskripten von 1936 während seiner Dienstzeit in der k. u. k. Armee, deren »Selbstmordrate […] die höchste in Europa« war,¹⁸⁵ Suizid verüben. Der zivilisationskritische Student sollte sich ironischerweise das Leben nehmen, weil er von einem »Bauernsohn« und Korporal ›gepeinigt‹ worden wäre¹⁸⁶ und weil ihn für einmal tatsächlich ein »urzeitliche[s] Gefühl« beschlichen hätte: das Gefühl, »einem fremden Stamm in die Hände gefallen u[nd] zum Sklaven gemacht worden zu sein«.¹⁸⁷ Entzogen hätte er sich dadurch der »besonders schlecht[en]«¹⁸⁸ Behandlung, die ihm eine Einstufung als »[p]olitisch unverläßlich«¹⁸⁹ eingebrockt hätte, für die wahrscheinlich sowohl Graf Leinsdorf als auch Fischel verantwortlich gewesen wären. Mindestens wirft Gerda, die diese »Geschichte« freilich schon »überwunden« zu haben scheint,¹⁹⁰ ihrem Vater emphatisch, aber auffälligerweise kaum nachtragend vor, Hans »ermordet« zu haben.¹⁹¹

           

Ebd. Ebd., S. 619. Ebd. Ebd., S. 483; vgl. S. 562. Ebd., S. 1008. Hanisch, Der lange Schatten des Staates, S. 200. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1597; im Original keine Hervorhebung. Ebd., S. 1598; im Original keine Hervorhebung. Ebd., S. 1391. Ebd., S. 1390. Ebd., S. 1395. Ebd., S. 1389.

Leo Fischels Revirilisierung

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IV Leo Fischels Revirilisierung Demnach wäre es Fischel gewissermaßen doch noch wie Odysseus gelungen – wenn auch entschieden weniger martialisch und heroisch –, sich eines »Freier[s]« und damit wohl des ganzen christgermanischen Kreises zu entledigen. Auf jeden Fall passt diese Wendung zum grundlegenden ›Turnaround‹, der sich nach Musils Plänen in Fischels Berufs- und Privatleben einstellen sollte und auf den in den ersten beiden ›Büchern‹ bereits kataphorisch angespielt wird. Schon in einem der ersten Fischel-Kapitel erwägt der »brave[] Bankbeamte[]«, ob er nicht, um ›unabhängiger‹ zu werden, »so wie […] die Hauptdirektoren« seine »Kenntnis der Börse ausnutzen« sollte.¹⁹² Damals glaubte er noch, nicht »das zur Spekulation nötige Temperament in sich« zu haben.¹⁹³ Eine seiner Bemerkungen an der großen, fünf Kapitel langen Sitzung der Parallelaktion am Ende des Zweiten Buches zeigt allerdings bereits an, dass »sich irgend etwas Wichtiges unmerklich an« ihm »verändert« hat.¹⁹⁴ Ulrich, der diese Beobachtung macht, »verabsäumt[]« es zwar, »dem nachzugehn«.¹⁹⁵ Fischels Äußerung indessen, »Ansichten« könne »jeder haben, aber bleibend« seien »auf die Dauer nur die, mit denen man etwas« verdiene,¹⁹⁶ weist prononciert in die Richtung, in die diese Veränderung gehen sollte. Wie schon erwähnt rückt Fischel in den Fortsetzungsentwürfen von seinem »moralischen Materialismus«¹⁹⁷ ab und wird nun faktisch zu einem jener großkapitalistischen jüdischen Spekulanten, zu deren stereotypem Merkmalssatz sein »Kneifer« und »Backenbart« gehörten. In den jüngsten Rohfassungen von 1936 ist er mit undurchsichtigen Geschäften (»Warengeschäfte, Geldgeschäfte, politische Geschäfte, künstlerische Geschäfte«) »in wenigen Wochen ein einflußreicher« und »wohlhabender Mann« geworden (»Vielleicht werde ich übermorgen wieder nichts haben, aber vielleicht auch noch viel mehr!«).¹⁹⁸ Er hat zwar zunächst »große Unannehmlichkeiten gehabt«¹⁹⁹ und nicht nur seine Prokuristenstelle bei der Lloyd-Bank verloren. Auch Klementine reicht nach seiner Freistellung umgehend die Scheidung ein. Gerade deshalb aber, ohne »alle diese Gewichte wie Familie

 Ebd., S. 481.  Ebd.  Ebd., S. 1008.  Ebd.  Ebd.  Stefan Howald: Ästhetizismus und ästhetische Ideologiekritik. Untersuchungen zum Romanwerk Robert Musils. München 1984, S. 317.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1389.  Ebd., S. 1388.

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und Beamtenstellung«,²⁰⁰ kann Fischel endlich von sich behaupten, »ein eigener Mann geworden« zu sein (»Ein großes Wort, sage ich Ihnen!«).²⁰¹ Der Grund für seine Entlassung bleibt im jüngsten Entwurf unerwähnt. In den etwas älteren, inhaltlich zum Teil divergenten Kapitelentwürfen aus den späten Zwanzigern ist sein »Austritt aus der Bank«²⁰² aber noch eindeutig motiviert. Er fängt in ihnen an, »auf eigene Rechnung an der Börse zu operieren«.²⁰³ »[H]eimlich« tätigt er »die gefährlichsten Börsenoperationen«²⁰⁴ und verspekuliert so einstweilen nicht nur seine eigenen »geringen Ersparnisse[]«,²⁰⁵ sondern auch das »kleine[] Vermögen«²⁰⁶ seiner Gattin – wenn auch nur, um nach dieser »vorübergehende[n] Illiquidität«²⁰⁷ umso rasanter schwerreich und »ein großer Mann«²⁰⁸ zu werden. Mit Fischels selbständiger Börsentätigkeit und seinem spekulativen Erfolg setzt in sämtlichen erhaltenen Fortsetzungsentwürfen seine Revirilisierung ein, mit der er sich dem geläufigen Syndrom von Judentum und Weiblichkeit widersetzt. Ihm selber kommt die »Zeit, wo er nicht spekuliert« hat, »vor wie eine Entmannung«.²⁰⁹ Gerda ihrerseits erzählt Ulrich in den Nachlasskapiteln imponiert und »burschikos[] […] von der Karriere des Vaters«.²¹⁰ Sie kann »sich nicht helfen«, dass Leo »einen starken Eindruck« auf sie macht, als sie »die neuen Verhältnisse« sieht.²¹¹ Bisweilen gibt sie sogar seinen inzwischen de facto erzkapitalistischen Ansichten »recht«, so dass er sie wieder versöhnlich »Mein Glück!« nennen kann.²¹² Klementine schließlich »bereut« und sistiert die Scheidung, »als sich« Leos »Verhältnisse zusehends« bessern.²¹³ Sie »wartet« nun »auf eine Aussprache«²¹⁴ und glaubt just dann zu bemerken, Leos supponierter Materialismus sei »von ihm geschwunden«,²¹⁵ als »sein Einkommen« »größer«, »seine Gesinnung« aber »weniger groß geworden« ist.²¹⁶                 

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 1389. S. 1388. S. 1602. S. 1499. S. 1577. S. 1499. S. 1577. S. 1602. S. 1604. S. 1555. S. 1390. S. 1623 f. S. 1625. S. 1604 f. S. 1604. S. 1556. S. 1495.

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Fischel nämlich verändert sich nicht nur beruflich und ökonomisch, sondern wechselt auch seine Ansichten. Mit seiner Entwicklung zum Spekulanten gibt er gleichsam reziprok seine einst soliden moralischen Werte für eine »Philosophie des Geldes«²¹⁷ auf, die mit Arnheims Überzeugungen größtenteils übereinstimmt und charakteristisch ist für die Nähe, in die die beiden Figurenprofile in den Nachlasskonvoluten geraten.²¹⁸ Im jüngsten Kapitelentwurf hat sich Musil eigens notiert, von der »Kaufmanns-Gewalt-Steinbautheorie«, für die Fischel plädieren sollte, sei »vieles […] schon« im Kapitel »I106«, und das heißt im dafür einschlägigen Arnheim-Kapitel des Ersten Buches »gesagt« worden.²¹⁹ Auch Fischel glaubt nun beispielsweise, »eine andere Moral als das Bestehen des Handels« wäre »überhaupt nicht nötig, wenn bloß »jede Sache ihren Preis« hätte und »alles dem Gelde zugänglich« wäre.²²⁰ Dabei erschüttert Fischels Verwandlung in einen klischierten Geldjuden auch seinen »Familiensinn«. Jetzt, da er ein »eigener Mann geworden« ist, widersetzt er sich seinem Ausschluss aus der Sphäre der Virilität auch in sexueller Beziehung. Er findet auf einmal Gefallen an Prostituierten und versichert sich seiner remedierten Männlichkeit mit der namensverwandten Leona, die ihn offenkundig wieder zum Löwen macht und die er bezeichnenderweise, bezeichnend eben für die intendierte Annäherung der beiden Figurenprofile, an Arnheim weitervererben sollte. Dieser Annäherung entspricht obendrein die schon an den Arnheims konstatierte Beliebigkeit der Gegenstände, mit denen Fischel nun handelt. Seine »Warengeschäfte, Geldgeschäfte, politische[n] Geschäfte, künstlerische[n] Geschäfte« stehen ihrerseits ganz im Zeichen des Sombart’schen »Erfolgsinteresses« und haben etwas entschieden Suspektes, wie es eben schon Arnheims Geldschöpfung anhaftet. (In einer Textvariante sollte sich Fischel nach seiner kurzzeitigen Pleite in gleich doppelter Anlehnung an antijüdische Topoi sogar überlegen, »sein Brot durch Hausieren mit pornographischen Büchern zu verdienen«.²²¹) Auf dieses Suspekte deutet möglicherweise bereits Fischels im

 Ebd., S. 1389.  Umso mehr erstaunt Jonssons eilfertige Bemerkung, der Roman, »cutting through [antiSemitic] prejudices with his ironical and analytical edge«, mache »a point of revealing that these Jewish characters have nothing in common«. Jonsson, Subject Without Nation, S. 250; im Original keine Hervorhebung.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1390.  Ebd., S. 1610.  Ebd., S. 1578. Glagau schreibt in Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin, dass »frivole Bücher, obscöne Bilder ihren Hauptabsatz unter Juden« fänden. Glagau, Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin, S. 345. Und für Sombart z. B. waren im Frühkapitalismus »Hausierer […] großenteils Juden und Juden […] großenteils Hausierer«. Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirt-

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Wortsinn anrüchiger Name, der ihn im übrigen – ähnlich wie die Arnheims durch ihr »Müllabfuhrgeschäft« – mit dem schlechten Geruch assoziiert, der Juden nachgesagt und sogar als Teil ihrer biologischen Konstitution erachtet wurde.²²² Zumindest ist diese Art, den Namen ad malam partem zum Sprechen zu bringen, eine vorstellbare und vielleicht gar nicht so unplausible Erklärung, warum Musil den Figurennamen noch 1929, in der endgültigen Fassung der Reinschrift, von Fischer in Fischel umänderte. Vielleicht sollte der Name tatsächlich das Dubios-Anrüchige von Fischels wirtschaftlichen Aktivitäten schon antizipieren, das jedenfalls die Wirtschaftspraktiken nicht bloß Arnheims und Fischels, sondern auch der beiden anderen jüdischen Männerfiguren des Romans kennzeichnet. Der jüdische Unternehmer der Leichenbestattung, der ja wenig beschönigend als »Trauergeschäftsmann« ausgegeben wird, erzielt sein Einkommen offensichtlich auf moralisch zweideutige Weise. Das soziale und ökonomische Kapital Friedel Feuermauls zudem ist seinerseits und wiederum gleich mehrfach verdächtig. In den autorisierten Teilen des Romans wird Feuermaul zwar nicht als Jude bezeichnet. Dennoch lässt er sich unter einem entstehungsgeschichtlichen, einem rezeptionstheoretischen und eventuell auch einem onomastischen Aspekt dem jüdischen Romanpersonal zurechnen. Womöglich assoziiert ihn schon sein sprechender Nachname – dessen Komponenten sich isoliert zum Beispiel in Feuerlilie, Feuerdorn oder Löwenmaul finden – mit ›jüdischen‹ Pflanzennamen wie Rosenbaum, Ringelblum oder Feilchenblau, die das preußische Justizministerium der Weimarer Republik bei Namenänderungsanträgen explizit als Spottnamen taxierte.²²³ Vor allem aber wird Feuermaul in den Vorstufen des Romans noch eigens als »jüdische[r] Dichter« bezeichnet²²⁴ und dürfte für große Teile des zeitgenössischen Lesepublikums relativ mühelos als Parodie auf Franz Werfel erkennbar gewesen sein.²²⁵ Das Kapital dieser zumindest jüdisch konnotierten Figur also ist erstens zweifelhaft, weil Feuermaul seinen Ruf als »Dichter« einer fragwürdigen Mäzenin verdankt. Er schuldet sein Renommee einer Förderin, die nicht nur dort, »wo

schaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. München und Leipzig 21916, Bd. 2: Das europäische Wirtschaftsleben im Zeitalter des Frühkapitalismus vornehmlich im 16., 17. und 18. Jahrhundert, S. 450.  Vgl. Jay Geller: (G)nos(e)ology: The Cultural Construction of the Other. In: Howard EilbergSchwart (Hg.): People of the Body. Jews and Judaism from an Embodied Perspective. New York 1992, S. 243 – 282. Zum Stereotyp des foetor judaicus vgl. Gilman, Freud, Identität und Geschlecht, S. 227.  Vgl. Bering, Der Name als Stigma, S. 222.  Musil, Klagenfurter Ausgabe, Transkriptionen / Mappe I/6/49.  Vgl. Corino, Robert Musil. Eine Biographie, S. 915.

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schöne Frauen früher ein Feigenblatt hatten, […] ein Lorbeerblatt« haben soll,²²⁶ sondern für ihren »Pazifismus« ausdrücklich »über Leichen geht«.²²⁷ Zweitens ist dieses Kapital verdächtig, weil auch Feuermauls eigener Einsatz für die Menschenliebe als großspurige Selbstinszenierung entlarvt wird. Sein Engagement und seine »Güte« werden in scharfen Gegensatz zu seinem Verhalten im »Kampf um den Nutzen« gestellt.²²⁸ Wenn es nicht um »den Menschen im allgemeinen«, sondern um seinen persönlichen Vorteil geht, soll er sich durchaus »recht ungut« verhalten können,²²⁹ analog zum Abstand, in dem die Konnotate seines Vor- und Nachnamens gehalten sind. Drittens schließlich rühren Feuermauls Mittel aus einer Quelle, die zu seinem Philanthropismus in nachgerade zynischem Kontrast steht: Bei seinem Vater soll es sich ja um einen Phosphor-Fabrikanten handeln, in dessen »Betriebe[n] […] kein Arbeiter älter als vierzig Jahre wird: Berufskrankheit Knochennekrose«²³⁰ (während übrigens Franz Werfels Vater Rudolf ein »redliche[r] Handschuhfabrikant[]« war²³¹). Die Auslagerung besonders bedenklicher Formen des Wirtschaftens auf das jüdische Romanpersonal scheint im Mann ohne Eigenschaften also eine gewisse Methode zu haben. Sie könnte mitunter an den exorzistischen Mechanismus erinnern, der im Roman selber angesprochen wird. Denn die Verkennungsstruktur, dass »der gute Christ seine Fehler in den guten Juden« verlege und ihn zum ›solitary scapegoat‹ für die rapiden Veränderungen der Moderne mache, wird vom Erzähler ja wie gesehen eigens reflektiert.Wenn nicht suspendiert, so doch irritiert wird diese Auslagerungsmechanik allerdings nur schon durch die allzu evidenten Widersprüche zwischen Leinsdorfs gewohnheitsmäßigem Weltbild und seinem in praxi kapitalistischen Unternehmertum. Auch Klementine stört sich an der Zweifelhaftigkeit von Leos neu erworbenem Reichtum nicht im geringsten. Ihr scheint es nichts auszumachen, dass gleichzeitig mit Leos größerem »Einkommen« auch seine »Gesinnung weniger groß geworden« ist. Im Gegenteil koppelt sie ihre Scheidungsabsichten und ihren Versöhnungswillen in erster Linie an seine ökonomischen Verhältnisse und geht demzufolge mit genau der »materielle[n] Gesinnung« vor, die sie ihm »so oft« angelastet hat.²³² Um von Klementine und Gerda akzeptiert zu werden, muss Fischel offenbar das Stigma seiner Ethnizität, die Degradierungen, die er im antisemitischen Diskurs erfährt, in oeconomicis

      

Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1003. Ebd., S. 1005. Ebd. Ebd., S. 1033. Ebd., S. 1018, Corino, Robert Musil. Eine Biographie, S. 915 f. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1556.

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kompensieren und gleichsam ausleben:²³³ »Er wäre zeit seines Lebens ein verläßlicher kaufmännischer Beamter geblieben, wenn seine Gattin zu ihm aufgeblickt u. seine Tochter Ge. ihn anerkannt hätte«.²³⁴ Paradoxerweise erreicht Fischel diese Akzeptanz also genau dann, als er tatsächlich zu einem der klischierten Juden wird, mit denen ihn die beiden ›femmes fatales‹ beziehungsweise ›coupables‹ schon zuvor die längste Zeit, aber eben ausgesprochen missbilligend identifiziert haben. Anders als bei Arnheim, dessen Charakter mit dem ›face value‹ seiner bemerkenswerten Physiognomie in einem heiklen Verhältnis steht, treten diese Klischees in Fischels Fall aber in einer sich sozusagen selbst relativierenden Form auf. Denn Fischel gleicht nicht ›von Natur aus‹ einem stereotypen Juden, sondern wird durch verschiedene soziale Faktoren in diese altbekannte Position erst überführt. Darüber hinaus wird ihm, der weder intellektuell noch sexuell in Rivalität zu Ulrich steht, zugestanden, was Arnheim mit einer nur schon deshalb umso beachtlicheren Konsequenz verwehrt bleibt: dass die Problematik, die seine jüdische Herkunft in der Vorkriegsgesellschaft darstellt, überhaupt und möglichst facettenreich zur Sprache kommt. Im Unterschied zu Arnheim gesteht die Sympathieregie des Erzählers Fischel zu, unter den antijüdischen Ressentiments und Phantasmen zu leiden, die seinen sozialen und besonders seinen familiären Alltag prägen.

 Wolf spricht in dem Zusammenhang von einer »self-fulfilling prophecy«. Norbert Christian Wolf: Doktor Demant und Direktor Fischel. Zur ›Alterisierung‹ jüdischer Figuren in Roths Radetzkymarsch und Musils Der Mann ohne Eigenschaften. In: Musil-Forum 31 (2009/2010), S. 102– 126, hier S. 119.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1556.

Ein ›Spektakel des Anderen‹: Der ›kleine Neger‹ Soliman »Besuchen Sie manchmal den Film?«, fragt Arnheim Ulrich einmal und fügt sogleich an, ohne eine Antwort abzuwarten: »Sie sollten es tun!«¹ Denn ließen sich mit dem Film »erst größere kommerzielle Interessen – etwa elektrochemische oder solche der Farbenindustrie – […] verknüpfen«, werde Ulrich »in einigen Jahrzehnten eine Entwicklung sehn, die durch nichts aufzuhalten« sei und die zu einer »Kunst der A. E. G. oder der Deutschen Farbwerke« führen werde.² Obwohl die Nennung der A. E. G. hier ja auf das historische ›Modell‹ Arnheims, auf Rathenau verweist, findet Arnheim diesen Gedanken »entsetzlich«.³ Dennoch hindert er ihn bezeichnenderweise nicht daran, in der »beginnenden Filmindustrie« »Geld stehn« zu haben.⁴ Unabhängig davon, wie Ulrichs Antwort wohl ausgefallen wäre, wenn er Gelegenheit bekommen hätte, Arnheims Frage zu bejahen oder zu verneinen, hätte man Musil selber zumindest zur Entstehungszeit des Mann ohne Eigenschaften kaum dazu auffordern müssen, ins Kino zu gehen. Als er 1930 für kürzere Zeit regelmäßig Tagebuch führte, um sich zum »Erzählen zurück [zu] erziehen«,⁵ hielt er zuweilen für mehrere Abende hintereinander Kinobesuche fest.⁶ Und schon 1925 verfasste er in seinem Essay Ansätze zu neuer Ästhetik, angeregt durch Balázs’ filmtheoretische Ausführungen in Der sichtbare Mensch,⁷ eigene Bemerkungen zu einer Dramaturgie des Films und besonders zur »Berührungs- und Abgrenzungsfläche«⁸ zwischen den Konkurrenzmedien Film und Literatur. In diesem wohl auch unter seinen poetologischen Schriften einschlägigsten Text gesteht Musil dem schwarz-weißen Stummfilm den Status einer eigenständigen Kunstform zu. Gerade weil der Film »[s]tumm wie ein Fisch und bleich wie Unterirdisches« »im Teich des Nursichtbaren« schwimme, führe er jene Irritation gängiger Wahrnehmungsmuster herbei, jene »Gleichgewichtsstörung des Wirklichkeitsbewußtseins«⁹ und »Sprengung des normalen Totalerlebnisses«,¹⁰ über

 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 645.  Ebd., S. 645 f.  Ebd., S. 646.  Ebd., S. 403.  Musil, Tagebücher, Bd. 1, S. 693.  Ebd., S. 699, 704.  Béla Balázs: Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films. Leipzig und Wien 1924.  Musil, Ansätze zu neuer Ästhetik, S. 1138.  Ebd., S. 1139 f.  Ebd., S. 1145.

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die Musil Kunst wirkungsästhetisch definiert. Allerdings dienen ihm seine Reflexionen über die Ästhetik des Films in erster Linie dazu, die Literatur – gemeint ist offensichtlich vor allem die Erzählliteratur – auf Kosten des Films zu profilieren. Obwohl für ihn also auch der Stummfilm »durch das isolierte optische Erlebnis«¹¹ wenigstens flüchtig an jener »unaufhörliche[n] Umformung und Erneuerung des Bildes der Welt« partizipiert,¹² in der er wie erwähnt die Aufgabe und soziale Funktion der Kunst ortet, sieht er den Film »stärker als jede andere Kunst an die billigste Rationalität und Typik gekettet«.¹³ Denn anders als bei der Literatur mit ihrem viel ausgeprägteren Reflexions- und Nuancierungspotenzial gehöre es zu den spezifischen Rezeptionsbedingungen des Stummfilms, dass in ihm die »Verständlichkeit der Handlung […] mit ihrer Undifferenziertheit« wachse und überhaupt nur durch die »motorische Phrase, das schönkörperliche Geplapper« garantiert werden könne: Das »Unerträgliche«, so Musil, »beginnt dort, wo Zorn Augenrollen wird, Tugend Schönheit und die ganze Seele eine Steinallee bekannter Allegorien«.¹⁴ Nicht zuletzt an dieser Phrasen- und Formelhaftigkeit mag es gelegen haben, dass sich Musil in seinen Notizen kaum je mit einzelnen Filmen inhaltlich auseinandersetzte und das Kino für ihn explizit »Zerstreuung«¹⁵ blieb. Er registrierte zwar verblüfft die Wirkungskraft des Mediums, wie ihn »einzelne Bilder« selbst aus Machwerken verfolgten, in denen er es vor Langeweile kaum ausgehalten hatte.¹⁶ Aber die Notate im Tagebuch sprechen den Filmen, die er sich ansah, gewöhnlich kaum mehr Gewicht zu als etwa dem anschließenden Kaffeehausimbiss. Sie weisen deren Titel in aller Regel nicht aus und vermerken allenfalls den Namen des Hauptdarstellers: »Abends in einem Buster Keaton Film gewesen. Dann im Kaffe Kolowrat. Eier im Glas u[nd] Schokolade«,¹⁷ heißt es etwa, oder: »Vor dem Abendessen im Rochus Kino gewesen. […] Geschmackvoll gemachter Film, der« – was allem Anschein nach schon anerkennenswert war – »keinen Widerwillen hinterläßt«.¹⁸

       

Ebd. Ebd., S. 1152. Ebd., S. 1148. Ebd., S. 1149. Musil, Tagebücher, Bd. 1, S. 713. Robert Musil: o. T. In: Ders., Prosa und Stücke, S. 909. Musil, Tagebücher, S. 704. Ebd., S. 699.

Marc Connellys The Green Pastures

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I Marc Connellys The Green Pastures Einer der wenigen Filme, die für Musil anregend genug waren, um sich darüber gleichwohl ein paar Aufzeichnungen zu machen, war ein von ihm und natürlich nicht nur von ihm so genannter »Negerfilm«,¹⁹ dessen Titel er zwar nicht notierte, bei dem es sich aber um The Green Pastures von 1936 handeln muss.²⁰ In dieser ersten Hollywoodproduktion seit 1929, die ausschließlich mit dunkelhäutigen Schauspielern besetzt wurde,²¹ versuchte der weiße Regisseur Marc Connelly, eine Art ›black version‹ der Bibel in Szene zu setzen. In der Rahmenhandlung des Films eröffnet der schwarze Geistliche Mr. Deshee im Sonntagsschulunterricht einer USamerikanischen ›black community‹ seinen Schülern, dass sie sich heute zum ersten Mal mit dem »Good Book itself« beschäftigen und direkt aus der Genesis lesen würden.²² Aber schon bald wechselt er zurück zu einer vergnüglich-oralen, im entsprechenden Sozio- oder Ethnolekt gehaltenen Form des Geschichtenerzählens. Er veranschaulicht die biblischen Prätexte, wie es in einer Einblendung im Vorspann heißt, so, wie »[t]housands of Negroes in the Deep South« sich Gott und den Himmel angeblich vorstellten: »in terms of people and things they know in their everyday life«.²³ In den folgenden Sequenzen aus dem alten Testament werden die biblischen Charaktere in ein Repertoire von Typen überführt, die im Hollywood der zwanziger und dreißiger Jahre populär waren und auf die schwarze Figuren in aller Regel beschränkt blieben. Der Film verschreibt sich mithin, trotz seines Anspruchs auf Authentizität, einem filmischen Zitatverfahren und versammelt, so der Filmhistoriker Donald Bogle, »the liveliest collection of agreeable toms, uncle Remuses, aunt jemimas, and corn-patch pickaninnies ever assembled in one motion picture«.²⁴ Musil interessierte an The Green Pastures, dass »sich Gott selbst« darin »erschießen« lasse: »Das zeigt eigentlich deutlich einen Kern des Erlösertod-Mythos. Der Gott, der unbeschadet seiner auch nachher fortdauernden Macht erschossen wird«.²⁵ Geschuldet ist just dieses seltene inhaltliche Interesse an einem Film damit einer Fehlinterpretation. Denn erschossen wird in The Green Pastures nicht

 Ebd., S. 898.  In Wien lief der Film am 14. Februar 1938 unter dem Titel Auf grüner Aue an. Vgl. Corino, Robert Musil. Eine Biographie, S. 1058 mit Anm. 42.  Vgl. Donald Bogle: Toms, Coons, Mulattoes, Mammies, and Bucks. An Interpretive History of Blacks in American Films. New Expanded Edition. New York 1989, S. 67.  Marc Connelly: The Green Pastures [Filmskript]. Hg. von Thomas Cripps. Madison 1979, S. 62.  Ebd., S. 191.  Bogle, Toms, Coons, Mulattoes, Mammies, and Bucks, S. 67.  Musil, Tagebücher, Bd. 1, S. 898.

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Ein ›Spektakel des Anderen‹: Der ›kleine Neger‹ Soliman

»Gott selbst«, sondern ein Gottes Strafe ankündigender Prophet im babylonischen Exil, der dem Film-Gott freilich nicht ganz unähnlich sieht. Insofern ist Musils Verwechslung wohl nicht nur für sein eigenes Unvermögen bezeichnend, die Physiognomien dunkelhäutiger Darsteller auseinanderzuhalten; sondern auch für die Typisierungen, die der Film vornimmt, und insbesondere für die weitgehende Vermenschlichung, die der schwarze Gott darin erfährt. Die Irritationen, die ein dunkelhäutiger Gott beim Kinopublikum der dreißiger Jahre hätte auslösen können, werden nämlich antizipiert und dadurch gedämpft, dass er aufdringlich anthropomorphisiert wird. »De Lawd«, wie er beinahe durchgängig genannt wird, hat zwar übermenschliche Kräfte, ist aber weder allwissend noch allmächtig. Er erscheint vielmehr als eine Art improvisierender ›Negro preacher‹,²⁶ als eine etwas hinterwäldlerische und leicht naive Figur, die bei einem Besuch auf der Erde gleich mehrfach als »Country Boy«²⁷ verspottet wird und von der es nicht unvorstellbar ist, dass sie tatsächlich umgebracht werden könnte. Der burleske Grundton des Films resultiert aus dieser gezielten Konfrontation des Hohen und Erhabenen mit dem Niedrigen und Alltäglichen, der Bibel mit den illiteraten und kindhaften Vorstellungen, die sich ›black Americans‹ über sie vorgeblich machen, und der ›alttestamentlichen‹ Figuren mit einer Anhäufung schablonenhafter ›Toms‹, ›Coons‹ und ›Mammies‹. Der Himmel etwa wird als eine Plantagen-Idylle imaginiert, in der es gratis Zigarren gibt und unterwürfig-servile, aber frohmütige Arbeiter fortlaufend Spirituals anstimmen. Die Erde erschafft Gott mehr zufällig während eines »fish fry«-Picknicks,²⁸ als sein »custard«, seine ›Crème‹ zu wenig »firmament« enthält und er darauf derart übereifrig ein Wunder geschehen lässt – »Let it be a whole mess of firmament« –,²⁹ dass die ganze eingezäunte Himmelsplantage davon durchnässt wird. Damit das himmlische Picknick nicht abgebrochen werden muss, lässt er stante pede den neuen Planeten als einen Ort entstehen, an den das im genauen Wortsinn überflüssige ›Firmament‹ abfließen kann (»Dat’s always de trouble wid miracles. When you pass one you always gotta r’ar back an’ pass another«³⁰). Und weil ihn sein Erzengel und »workin’ boss« Gabriel sodann darauf hinweist, dass es auf der Erde »mighty nice farmin’ country« gebe,³¹ das doch bewirtschaftet werden müsse, kreiert der »big boss«³² durch ein drittes Wunder prompt auch noch den Menschen.

 Vgl. auch Judith Weisenfeld: Hollywood by the Name. African American Religion in American Film 1929 – 1949. Berkeley 2007, S. 75, 88.  Connelly, The Green Pastures, S. 96 f., 107.  Ebd., S. 66 – 68, 79, 81, 84 f.  Ebd., S. 82 f.  Ebd., S. 84.  Ebd., S. 87.

Soliman als ›coon servant‹

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Die Erde indessen bleibt ein Terrain, das er sich nie ganz aneignen kann. Bevor er die Menschheit nach der besagten Ermordung des Propheten endlich ganz aufgeben will, straft er sie zwar mit der Sintflut und schmettert gelegentlich Blitze auf sie hinunter. Ihrer länger- oder auch nur mittelfristig wirklich ›Herr‹ zu werden, will ihm aber nicht gelingen. Anders als der rural gezeichnete Himmel wird die Erde nicht von unterwürfigen Domestiken bevölkert, sondern mehrheitlich von einem anderen Typus, über den das zeitgenössische Mainstream-Kino ethnische Differenz inszenierte: vom Typus der possenhaften, nichtsnutzigen und etwas geistlosen ›Coons‹, jener »unreliable, crazy, lazy, subhuman creatures good for nothing more than eating watermelons, stealing chickens, shooting crap, or butchering the English language«.³³

II Soliman als ›coon servant‹ Als ein solcher, fast schon musterbeispielhafter ›coon jester‹ oder ›coon servant‹ nun kann auch eine Figur aus Musils eigener Erzähl-Welt beschrieben und begriffen werden. Der fortwährend mit Somatonymen bezeichnete »schwarze[] Mohrenknabe []«³⁴ und »kleine[] Diener Soliman«³⁵ nämlich partizipiert augenscheinlich an den Repräsentationspraktiken, die zur Entstehungszeit des Mann ohne Eigenschaften das Kino dominierten.Wirkungsästhetisch ist der »komische[]«,»zappelige Kleine«³⁶ wie die Grundform des ›Coons‹ darauf angelegt, über sein Aussehen, seine outrierten Bewegungen und seine Ungeschicklichkeit einen humoristischen Effekt zu erzielen. Er hat mit seinen weiß glänzenden Augen, blendend weißen Zähnen und breiten Lippen im »schwarze[n] Boxball«³⁷ seines Gesichts jene stereotypen physiognomischen Merkmale, auf die bereits die ungemein erfolgreichen und beliebten ›Negerfiguren‹ in Werbungen und Cartoons oft geradezu reduziert und die auch an schwarzen Filmfiguren gewöhnlich, durch Schminke oder die entsprechende Lichttechnik, hervorgehoben wurden. So, wie die prototypischen ›Coon‹-Darsteller dazu gebracht wurden, kontinuierlich die Augen zu rollen und weit aufzureißen, um den Kontrast zwischen ihrer Augapfel- und Hautfarbe plakativ zu betonen, so ›kugelt‹ auch Soliman mehrfach »das Weiße« seiner »Augen heraus[]«, wenn er zum Beispiel in der Küche »ungeschickte[s] Theater« spielt, um sich zur Kammerzofe

     

Ebd., S. 74. Bogle, Toms, Coons, Mulattoes, Mammies, and Bucks, S. 8. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1488. Ebd., S. 220. Ebd., S. 221. Ebd., S. 546.

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Ein ›Spektakel des Anderen‹: Der ›kleine Neger‹ Soliman

Rachel davonzumachen.³⁸ So, wie die gängigen ›scripts‹ vorsahen, dass schwarze Filmfiguren mit breitem Grinsen ihre weißen Zähne zur Schau stellten, »wiehert[]« Soliman des weiteren ein »großartiges Lächeln«³⁹ oder muss Rachel entdecken, wenn er ihr »hinter Vorhängen, Schreibtisch, Schränken und Betten« auflauert, dass »sich irgendwo das Halbdunkel zu einem schwarzen Gesicht verdichtet[], aus dem zwei weiße Zahnreihen aufleucht[]en«.⁴⁰ Und so, wie in diese Ikonographie, vor allem, solange die Figuren noch von weißen Schauspielern gespielt wurden, regelmäßig eine karikatureske Hervorhebung der Lippen gehörte, warten auf Rachel »überall« »die dicken […] Lippen des Mohrenkönigssohns«,⁴¹ der immerzu versucht, die »prallen Polster«⁴² oder »breiten Stempelkissen seines Mundes auf ihre Lippen zu drücken«.⁴³ Diese slapstickartigen Nachstellungen Solimans sind – das hat die MusilForschung vielfach festgestellt – parallel zur Liebesgeschichte seines »Herrn«,⁴⁴ des »hohe[n] Liebende[n]«⁴⁵ Arnheim gestaltet. Sie sind dem »komödiantische[n] Traditionsmuster« verpflichtet, die »Passion der Noblen«⁴⁶ auf der Stufe der Diener ›standesgemäß‹ zu variieren. Aber die Simultanaffäre oder »Parallelpassion[]«⁴⁷ zwischen Soliman und dem ostjüdischen Dienstmädchen Rachel hat eben nicht nur klassenspezifische, sondern auch ethnische Implikationen.⁴⁸ Sie hat diese Implikationen sogar umso mehr, als in gewisser Weise ja beide der sich gegenseitig spiegelnden Affären, also auch die Liaison zwischen Arnheim und der

 Ebd., S. 337; vgl. S. 541. Vgl. auch ebd., S. 495: Dort lässt Soliman sein »Augenpaar aus einer dunklen Ecke des Vorzimmers wie zwei große Schneckenhäuser« auf Rachel »zuwander[n]«.  Ebd., S. 604.  Ebd., S. 338.  Ebd., S. 497.  Ebd., S. 337.  Ebd., S. 498.  Ebd., S. 108, 221, 498.  Ebd., S. 501.  Heftrich, Musil, S. 104.  Ebd., S. 97.  Friedrich Bringazi sieht in seinem Kapitel über »Das Rassismusproblem im Mann ohne Eigenschaften« »die ungeschminkte Fratze jener kolonialistischen Großmannssucht, mit der die europäische weiße Rasse im 19. Jahrhundert die Unterdrückung und Ausbeutung der Völker Schwarzafrikas zu legitimieren suchte«, einzig »in der Figur Arnheim«. Friedrich Bringazi: Robert Musil und die Mythen der Nation. Nationalität als Ausdruck subjektiver Identitätseffekte. Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris und Wien 1998, S. 327. Jonsson bemerkt zu den Soliman-Episoden lediglich, Soliman und Rachel missachteten das kulturelle Tabu der Rassenmischung, stellten durch diesen monströsen Akt fundamentale gesellschaftliche Prinzipien in Frage und zerstörten so symbolisch »the ideological order that ascribes identities to persons«. Jonsson, Subject Without Nation, S. 247– 249.

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»göttliche[n]« Diotima, als ›race-crossing‹-Geschichten angelegt sind. Dabei werden sowohl Arnheim als auch Rachel mit dem ›Orient‹ und Nordafrika assoziiert und scheinen eine somatisch ambivalente Position zwischen den Polen ›whiteness‹ und ›blackness‹ einzunehmen: Arnheim wie gesehen über seinen »phönikisch harte[n] Herrenkaufmannsschädel« oder »phönikisch-antike[n] Typus« und Rachel, indem Ulrich in auffälliger Äquivalenz dazu »[e]twas Arabischoder Algerisch-Jüdisches« an ihr wahrzunehmen glaubt.⁴⁹ Die Beziehung zwischen der »statuenhafte[n]«,⁵⁰ »marmorne[n]«,⁵¹ »weiße[n]«⁵² Diotima und dem jüdisch-preußischen Großindustriellen Arnheim jedenfalls wird auf der Dienerebene auf das einfach gestrickte Verhältnis einer ostjüdischen Kammerzofe mit einem »Mohrenknaben« heruntergebrochen. Übersetzt Connellys The Green Pastures wie beschrieben den hohen Stoff der Hebräischen Bibel in eine vermeintlich illiterate ›schwarze‹ Volks-Theologie, manifestiert sich im Mann ohne Eigenschaften eine homologe Struktur. Die Avancen des »Berggipfel[s]«⁵³ Arnheim bei der »göttliche[n]« »Seelenriesin«⁵⁴ Diotima werden durch Soliman auf eine Art parodistisch wiederholt, die sich von den an seine schwarze Hautfarbe gebundenen Imaginationsklischees nicht trennen lässt. Ähnlich wie sich die ›Toms‹, ›Coons‹ und ›Mammies‹ in The Green Pastures zu einem »Spektakel des ›Anderen‹«⁵⁵ vereinigen, fungiert auch Arnheims Page im europäisch-bürgerlichen Kontext des Romans als possierliches Exotikum. Der trotz seiner fast siebzehn Jahre⁵⁶ mit stehendem Epitheton »kleine[] Mohrenknabe[]«,⁵⁷ »kleine Mohr«,⁵⁸ »kleine Neger«,⁵⁹ »kleine[] Diener Soliman«,⁶⁰ »kleine Negersklave, oder auch Negerfürst«,⁶¹ »kleine Affe«,⁶² »kindisch[e]« und »knabenhaft[e]«⁶³ »kleine[] stumme[] Halbwilde[]«⁶⁴ mit seinem »kleine[n] Af Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 95; im Original keine Hervorhebung.  Ebd., S. 167, 618; vgl. S. 328, 566, 618.  Ebd., S. 261.  Ebd., S. 202.  Ebd., S. 182.  Ebd., S. 95.  Stuart Hall: Das Spektakel des ›Anderen‹. In: Ders.: Ideologie. Identität. Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4. Hamburg 2004, S. 108 – 166.  Vgl. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 221.  Ebd., S. 107.  Ebd., S. 180.  Ebd., S. 181.  Ebd., S. 220.  Ebd., S. 335.  Ebd., S. 497.  Ebd., S. 603.  Ebd., S. 549.

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fengesicht«⁶⁵ »rudert[]« beispielsweise »mit übertriebenen Bewegungen« »durch das Halbdunkel« der Tuzzi’schen Wohnung »wie durch Blätterdickicht«.⁶⁶ Oder er jagt »mit phantastischen Sprüngen auf Rachels Spur durch das fremde Haus«,⁶⁷ um sie mit seinen »Kinderküssen«⁶⁸ einzudecken, sie »wie ein Tier in den Arm« zu beißen⁶⁹ respektive »ins Bein zu zwicken, damit sie aufschr[eit]«.⁷⁰ Oder er stiehlt, um nachts aus dem Hotel auszureißen und in Rachels Kammer zu gelangen, »ein Bettuch und versucht[], mit Schneiden und Drehn eine Strickleiter daraus zu machen«, was ihm aber nicht gelingt, so dass er »das mißbrauchte Laken in einem Lichtschacht verschwinden« lässt.⁷¹ Oder er macht sich aus dem gleichen Grund »lange«, aber »vergeblich« Gedanken, »wie man nachts an den Figuren und Gesimsen einer Hauswand hinab- und emporklettern könnte«, und sieht »tagsüber auf seinen Wegen von der Architektur der ihrethalben berühmten Stadt nichts als die« kletter-»touristischen Vorteile und Schwierigkeiten«.⁷² Und so weiter. Wenngleich Soliman also durch seine Faxen und Flausen geradeso wie durch seine nachdrücklich und redundant hervorgehobene Kleinwüchsigkeit verkindlicht wird, kommt es zwischen ihm und Rachel endlich doch zu einem kurzen »Sturm der Liebe«.⁷³ Es kommt dazu, obwohl diese Verkindlichungen hier wie in Connellys Film natürlich nicht nur die Idee unterstreichen, der Westen sei einem historisch unerwachsenen Afrika zivilisatorisch überlegen. Sie stellen vielmehr auch eine Form der ›symbolischen Kastration‹ dar.⁷⁴ Im Zeichen dieser Kastration stehen auch die ›gender‹-Inversionen der Liebesszene. So muss Rachel Soliman zunächst einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass der Weg in ihre »Kammer« nicht nur über »Strickleitern« oder »an der Hauswand empor«, sondern auch durch die Zimmertüre »möglich wäre«.⁷⁵ Und weil sich Soliman sodann »bis in die Knochen ungeschickt« »fühlt[]« und nur »kindisch« sein Gesicht »an das ihre preßt[]«, sieht sie sich obendrein gezwungen, selber »den Verführer [zu] machen«.⁷⁶

           

Ebd., S. 223. Ebd., S. 337. Ebd. Ebd., S 499. Ebd., S. 340. Ebd., S. 602. Ebd., S. 601. Ebd. Ebd., S. 603. Vgl. Hall, Das Spektakel des ›Anderen‹, S. 149. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 602. Ebd., S. 603.

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Trotz dieser Stürzung der gängigen Geschlechterrollen und obwohl Rachel ihn anschließend, nach dem Geschlechtsverkehr, in einer Art postkoitalen Tristesse nur noch als einen »etwas lächerlichen kleinen Wicht«⁷⁷ wahrnimmt, schafft Soliman damit, wenn auch alles andere als vorsätzlich, was im Verlauf der erzählten Zeit keiner anderen der männlichen Romanfiguren gelingt. Während die Liebesgeschichte der »hohen Liebenden« Arnheim und Diotima ja ungeachtet ihrer »potenziell[en] epische[n] Qualität«⁷⁸ nie wirklich in Gang kommt und es die beiden nicht weiter bringen als bis zu einem »anschwellenden seelischen Verkehr«,⁷⁹ ist Rachel am Ende des Zweiten Buches »schwanger«.⁸⁰ In dieser einen und vielleicht nicht von ungefähr in gerade dieser Hinsicht also nimmt Soliman endlich doch eine männliche Position ein und schert aus einer der Linien aus, denen die übrigen Männlichkeitsrepräsentationen des Mann ohne Eigenschaften folgen. Wie bereits angedeutet hat das freilich nicht zu bedeuten, dass ihm nun auch weitere zentrale Männlichkeitsattribute wie ›Familienverantwortung‹ oder ›väterliche Autorität‹ zugestanden würden. Soliman reagiert auf Rachels Schwangerschaft in typischer ›Coon‹-Manier, »ohne Verständnis für die Wirklichkeit des Unheils mit romantischen und läppischen Plänen«. Aber es bedeutet vielleicht, dass in Solimans exklusiver Vaterschaft ein Phantasma durchschimmert, das Teil und Ausdruck herkömmlicher Stereotypen von Schwarzen war und zum Teil immer noch ist: das tiefsitzende Phantasma ihrer sexuellen Überlegenheit, ihrer Hypersexualität und Überpotenz, das zumindest Stuart Hall zufolge durch die weniger beunruhigende Gedankenfigur lediglich getarnt wird, dass »Schwarze keine richtigen Männer, sondern nur einfache Kinder sind«.⁸¹ Weder Solimans Infantilisierung noch seine mindestens anklingende Sexualisierung jedenfalls lassen sich quellenkritisch auf den Vor- oder Hypotext zurückführen, der Musil veranlasste, seine Dienerfigur überhaupt zu einem ›Mohrenknaben‹ zu machen. Sie lassen sich gerade nicht mit dem Hinweis auf Wilhelm A. Bauers Biographie des Wiener ›Hofmohren‹ Angelo Soliman erklären, die 1922 in Wien erschien und die Musil bald darauf gelesen haben muss.⁸² Denn

 Ebd., S. 604.  Ulf Eisele: Ulrichs Mutter ist doch ein Tintenfaß. Zur Literaturproblematik in Musils Mann ohne Eigenschaften. In: Renate von Heydebrand (Hg.): Robert Musil. Darmstadt 1982, S. 160 – 203, hier S. 174.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 168.  Ebd., S. 1027.  Hall, Das Spektakel des ›Anderen‹, S. 150.  1923/24 transformiert Musil die Figur in einen ›Mohren‹, ab 1925/26 trägt sie den Namen Soliman. Vgl. dazu Corino, Robert Musil. Eine Biographie, S. 875 – 880.

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Bauer erzählt die Lebensgeschichte des ›hochfürstlichen Mohren‹ aus dem Wien des achtzehnten Jahrhunderts grosso modo als eine Geschichte der bürgerlichen Integration und Emanzipation. Er legt dar, wie Angelo Soliman, nachdem er als Kind »eine[s] jener zahlreichen mehr oder weniger schwarzen Duodezfürsten«⁸³ aus seinem afrikanischen Heimatdorf verschleppt worden war, sich vom ›Hofmohren‹ zum mutmaßlichen Kindererzieher des Fürsten von Liechtenstein mit »außerordentlich[em]« Salär entwickelte.⁸⁴ Und er schildert, wie Soliman zum Mitglied einer mächtigen Freimaurerloge und – im Gegensatz zu Musils Figur – zu einem Familienvater wurde, der »mit seiner Gattin […] das häusliche Glück« genoss und sich »mit ganz besonderer Sorgfalt und Liebe« um die Erziehung seiner Tochter kümmerte.⁸⁵ Aufschlussreicher als die Ähnlichkeiten sind daher die Differenzen, die zwischen dem Soliman des Mann ohne Eigenschaften und seinem intertextuell eindeutig identifizierbaren ›Modell‹ herausstechen. Spekulierte der ungarische Dichter Ferenc Kazinczy, ein Zeitgenosse Angelo Solimans, der Fürst von Liechtenstein könnte seinen ›Hofmohren‹ nur »gekauft« haben, »um herauszubekommen, ob die Kultur einen Neger genauso bildet wie einen europäischen Weißen«,⁸⁶ so hat auch der großbürgerliche Arnheim seinen Soliman nicht bloß erworben, um »sich selbst zu schmücken« und feudale Repräsentationsformen zu imitieren. Er hat ihn explizit auch zu sich genommen, um »eine Kreatur aus der Tiefe zu heben […], indem er ihr das Leben des Geistes« erschließt.⁸⁷ Damit wird auch Musils Soliman zum Probanden in einer Versuchsanordnung.Wie sein Namensvetter aus dem achtzehnten Jahrhundert erhält

 Wilhelm A. Bauer: Angelo Soliman, der hochfürstliche Mohr. Ein exotisches Kapitel AltWien. Wien 1922 (Nachdruck Berlin 1993), S. 29.  Ebd., S. 63.  Ebd., S. 61. Ein abruptes Ende findet die Integrationsgeschichte erst mit dem Tod Angelo Solimans. Denn trotz der Interventionen seiner Tochter soll ihm sogleich »auf Befehl Kaiser Franz II. im Jahre 1796 die Haut über die Ohren gezogen«, »diese Haut auf Holz gespannt und so die frühere plastische Gestalt Angelo Solimans täuschend ähnlich darstellend zehn Jahre zur öffentlichen Besichtigung ausgestellt« worden sein, im k. k. Hof-Naturalienkabinett, neben einem »Wasserschwein, eine[m] Tapir, einige[n] Bisamschweine[n]« und »amerikanische[n] Sumpf- und Singvögel[n]«. Gustav Brabée: Sub Rosa. Vertrauliche Mitteilungen aus dem maurerischen Leben unserer Großväter. Wien 1879 und Leopold J. Fitzinger: Geschichte des kais. kön. Hof-Naturalien-Cabinetes zu Wien. 1. Abteilung: Älteste Periode bis zum Tode Kaiser Leopold II. 1792. In: Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaft. Mathematisch-naturwissenschaftliche Classe, 21 (1856), S. 433 – 479; beide zitiert nach: Bauer, Angelo Soliman, S. 82 f.  Brief von Ferenc Kazinczy von 1787. Zitiert nach: Monika Firla: »Segen, Segen, Segen auf Dich, guter Mann!« Angelo Soliman und seine Freunde Graf Franz Moritz von Lacy, Ignatz von Born, Johann Anton Mertens und Ferenc Kazinczy. Wien 2003, S. 36.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 97.

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er »ein[en] eigene[n] Lehrer«.⁸⁸ Er lernt an nichts Geringerem als »am Handwörterbuch der Geisteswissenschaften buchstabieren« und liest schon in jungen Jahren »Scott, Shakespeare und Dumas […], wenn gerade Scott, Shakespeare und Dumas auf den Tischen« herumliegen.⁸⁹ Doch während Angelo, wie in Bauers Biographie nachzulesen ist, »schnelle[] Fortschritte in jeder Art des Unterrichts« erzielte, »die er empfing«, zum Beispiel »in siebzehn Tagen Deutsch schreiben lernte«,⁹⁰ und so den »Grund zu seiner, nach allen Zeugnissen, weitgehenden und tiefen Bildung« legte,⁹¹ kann davon bei Musils Soliman nicht die Rede sein. Die Konstruktion seiner Geschichte erinnert eher an ein in der Alltagskultur, in Kinderbüchern und Seifenreklamen beliebtes Motiv, das schon in den Aesop’schen Fabeln auftaucht:⁹² an die sogenannte ›Mohrenwäsche‹, den vergeblichen Versuch, die Haut eines Schwarzen als gleichzeitig »faszinierendes Zeichen körperlicher Differenz und untilgbare[n] Makel«⁹³ ›rein‹ beziehungsweise ›weiß‹ zu waschen. Ganz anders als sein ›Vorbild‹, dessen »Lerneifer« und »hervorragend[e]« »Auffassung«⁹⁴ Bauer ausdrücklich hervorhebt, hat sich Musils ›servant coon‹ bei »alledem […] fürchterlich gelangweilt und« eigentlich »nichts so sehr geliebt wie die Aufgaben eines Kammerdieners, an denen er gleichfalls teilhaben durfte«.⁹⁵ Wenn Arnheim seinen Erziehungsversuch mit ihm kurz vor ihrer ersten

 Ebd., S. 221.  Ebd.  Bauer, Angelo Soliman, S. 36. Bauer zitiert hier aus der Kurzbiographie, die Caroline Pichler schon 1807 im Auftrag des französischen Bischofs und Abolitionisten Henri Grégoire über Angelo Soliman verfasst hatte. Vgl. Henri Grégoire: De la littérature des Nègres, ou recherches sur leurs facultés intellectuelles, leurs qualités morales et leur littérature: suivie de Notices sur la vie et les ouvrages des Nègres qui se sont distingués dans les Sciences, les Lettres et les Arts. Paris 1808, S. 130 – 145; Caroline Pichler: Angelo Soliman. 1807. In: Dies.: Prosaische Aufsätze vermischten Inhalts. Erster Theil, Wien 1814 (Sämmtliche Werke, Bd. 13), S. 217– 233.  Bauer, Angelo Soliman, S. 34.  Der ›Schwank‹ »Die Haut des Mohren« lautet: »Es hatte jemand einen Mohren gekauft im Glauben, er habe die schwarze Hautfarbe der Gleichgültigkeit seines früheren Herrn zu verdanken. So nahm er ihn mit nach Hause und wandte alle möglichen Seifen an und versuchte es mit den verschiedensten Bädern, ihn rein zu bekommen: die Farbe blieb, er erreichte nur durch alle Mühe, die er sich mit ihm gab, daß er krank wurde. Das Angeborene, das einmal da ist, ist etwas Bleibendes«. Aesop: Die Haut des Mohren. In: Antike Fabeln. Hesiod, Archilos, Aesop, Ennius, Horaz, Phädrus, Avianus, Romulus, Ignatius, Diaconus. Hg. und übersetzt von Ludwig Mader. Zürich 1951, S. 126.  Nana Badenberg: Die Bildkarriere eines kulturellen Stereotyps. 14. Juli 1894: Mohrenwäsche im Leipziger Zoo. In: Alexander Honold und Klaus R. Scherpe (Hg.): Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit. Stuttgart und Weimar 2004, S. 173 – 182, hier S. 174.  Bauer, Angelo Soliman, S. 34.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 221.

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Wien-Reise abbricht, degradiert er ihn also gewissermaßen zu dem, wofür er naturaliter vermeintlich immer schon prädestiniert war: »zum Diener mit freier Station und kleinem Salär«.⁹⁶ Im Aufsatzfragment Der deutsche Mensch als Symptom schrieb Musil in den frühen zwanziger Jahren, er »glaube nicht an den Unterschied des Deutschen vom Neger«.⁹⁷ Die Feststellung fällt im Kontext des antiessentialistischen Identitätsmodells, das er im Essay entwickelt und das wie gesehen dem Mann ohne Eigenschaften auf vielfältige Weise zugrunde liegt. Sie unterstreicht wie gesagt Musils Überzeugung, dass sich Subjektivität nur zu einem »kleine[n] Rest« aus »Anlage und Erbmasse«,⁹⁸ zu einem viel größeren Teil aber aus gesellschaftlichen Implementierungen herleite. Solimans stereotypes ›Cooning‹ aber scheint sich nicht aus dem sozialen Umfeld der Figur zu ergeben, sondern aus genau der angeborenen Disposition, die Musil sowohl in seinen Aufsätzen als auch anderwärts in seinem Roman infrage stellt. Seine Gestaltung Solimans speist sich aus dem stehenden Arsenal an Vorstellungen über ›Schwarze‹, wie sie auch und gerade im zeitgenössischen Film immer wieder von neuem und besonders effektvoll ins Bild gesetzt wurden. Unabhängig von einzelnen Figurenperspektiven funktioniert der »kleine Diener« in seiner Plastizität als Zitation oder ›remake‹ bestimmter ›Formeln‹ und Stereotypen, die für die Repräsentationen von ›blackness‹ im Mainstream-Kino der Zeit die Leitlinien vorgaben. Er ist demnach, etwas zugespitzt formuliert, weniger jener »Erneuerung des Bildes der Welt« verpflichtet, die Musil von Kunst und Literatur forderte, als der ›Typik‹, die er am Stummfilm kritisierte. Bevor Musil Bauers Soliman-Biographie kannte, figurierte in den Vorarbeiten zum Roman noch ein »kathol[ischer]« »Meßnerssohn« als Page,⁹⁹ für den sein ›Herr‹ nicht etwa einen Privatlehrer eingestellt hätte. Im Gegenteil sollte die Arnheim-Figur (die damals noch Rathenau hieß) »eigentlich unerhört indolent grausam«¹⁰⁰ gegen ihren Diener sein und ihn ausdrücklich »gar nichts lernen« lassen.¹⁰¹ Aber nicht nur die Unfähigkeit zu Entwicklung und Bildung, unter deren Signatur natürlich auch die Animalisierungen Solimans stehen, trat textgenetisch erst dann zum Merkmalssatz des Pagen, als Musil dessen ethnische Zugehörigkeit

 Ebd., S. 222.  Musil, Der deutsche Mensch als Symptom, S. 1353 – 1400, hier S. 1364.  Ebd., S. 1369.  Musil, Klagenfurter Ausgabe, Transkriptionen / Mappe I/6/22, I/6/37, VII/3/6; ders., Tagebücher, Bd. 2, S. 1095 f.  Musil, Klagenfurter Ausgabe, Transkriptionen / Mappe I/6/37, VII/3/6; ders., Tagebücher, Bd. 2, S. 1095 f.  Musil, Klagenfurter Ausgabe, Transkriptionen / Mappe I/6/37, VII/3/6; ders., Tagebücher, Bd. 2, S. 1095 f.; im Original keine Hervorhebung.

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neu konzipierte. Auch ein weiteres der erst sehr sparsam skizzierten Figurenmerkmale wechselte nun auf Soliman über, das in enger Beziehung zum Stereotyp des unzuverlässigen ›Coons‹ steht: In den ersten Notizen ist es noch das von allem Anfang an jüdische Dienstmädchen, das aus »Leidenschaft« stiehlt und versucht, den in den »Grundsätzen der Ehrlichkeit erzogen[en]«¹⁰² »Groom«¹⁰³ auch dazu zu verleiten. Im autorisierten Romantext von 1930 hingegen wehrt sich nun Rachel gegen die Diebereien Solimans,¹⁰⁴ der Arnheim zwar keine »chickens«, aber schon »frühzeitig« unter anderem »Zigaretten« entwendet,¹⁰⁵ die bei seinem »Herr[n]« anders als in Connellys ›black heaven‹ offenbar nur auf diesem nicht ganz statthaften Weg gratis zu bekommen sind. Entstehungsgeschichtlich bewirkte somit genau der »Unterschied des Deutschen vom Neger«, dass Musil seine Konzeption der Dienerfigur regelrecht umkehrte. Vielleicht hat er im Aufsatz Das hilflose Europa von 1922 seine antiessentialistische Konzeption von Identität also nicht umsonst phylogenetisch entscheidend relativiert: »Es soll damit natürlich nicht der Unterschied zwischen primitiven Kulturen und entwickelten Gesellschaften geleugnet sein; er liegt in einer größeren Versatilität des Gehirns, die sich nur durch Generationen entwickelt«.¹⁰⁶

    

Musil, Klagenfurter Ausgabe, Transkriptionen / Mappe I/6/42. Ebd., Transkriptionen / Mappe I/6/23, I/6/40. Vgl. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 339. Ebd., S. 221; vgl. S. 222, 338. Musil, Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste, S. 1081.

Andere Zustände I Das Denken der Partizipation in Musils Die Amsel Bei den »drei kleine[n] Geschichten«, die Azwei seinem Jugendfreund Aeins in Musils Erzählung Die Amsel von 1928 erzählt, soll es ausdrücklich darauf ankommen, »wer sie berichtet«.¹ Eigens durch den Rahmenerzähler erwähnt wird diese erzähltheoretische Selbstverständlichkeit, weil die drei existenziellen Erlebnisse, die Azwei beschreibt, alle von mystischen Erfahrungen handeln. Sie handeln von Vorfällen, deren Erlebnisformel Musil auf den Schlüsselbegriff des ›anderen‹ »Zustand[s]« brachte,² der in Azweis abstraktem Figurennamen gleich doppelt chiffriert ist. Er ist ihm durch das Zahlmorphem ›zwei‹ eingeschrieben als eine von der ersten, ›normalen‹ abweichende Denk- und Wahrnehmungsart. Und er ist in ihm über das Kürzel enthalten, das Musil in seinen Notizen für diese ex negativo definierten ›anderen Zustände‹ in aller Regel brauchte und das in der Handschrift leicht als ›a2‹ zu lesen wäre: ›aZ‹. Bereits Azweis Name also zeigt an, dass die drei Episoden eine alternative Sichtweise zum Thema haben und aus einer alternativen Sichtweise geschildert sind. Um diese ›anderen‹ Perspektiven bemüht sich Azwei auch sozusagen räumlich-konkret. Bereits in seiner »Knabenzeit« soll er »der Erfinder« einer »Gesinnungsprobe« gewesen sein, bei der es galt, »sich auf dem Turmgeländer, mit dem Blick nach unten, durch langsamen Druck der Muskeln in die Höhe zu heben und schwankend auf den Händen stehenzubleiben« – eine Mutprobe, bei der sein Gegenüber, Aeins, ausdrücklich nicht mitmachte.³ Selbst als Erwachsener klettert Azwei auch »einmal auf einen Schrank«, »nur um die Vertikale auszunutzen«.⁴ Er sucht also bewusst ungewohnte Wahrnehmungen oder ganz buchstäblich Umdrehungsmomente,⁵ die auch das Faszinations- oder Gravitationszentrum der drei unerhörten Begebenheiten bilden, welche er dem einer ganz anderen Form des Erzählens verpflichteten Zeitungsherausgeber Aeins darbietet, »um zu erfahren, ob sie wahr sind«.⁶ In der ersten der drei intradiegetischen Geschichten löst der nächtliche Gesang einer Amsel, die er zu einer Nachtigall und einem »Him-

 Robert Musil: Die Amsel. In: Ders., Prosa und Stücke, S. 548 – 562, hier S. 548.  In jeder der drei »Geschichten« kommt das Wort »Zustand« einmal vor. Ebd., S. 552, 555, 560.  Ebd., S. 548 f.  Ebd., S. 550.  Vgl. Thomas Betz und Florian Eichberger: Körperteilerkenntnis. Zu Robert Musils Erzählung Die Amsel (1928). In: Thomas Betz und Franziska Mayer (Hg.): Abweichende Lebensläufe, poetische Ordnungen. München 2005, Bd. 2, S. 479 – 496.  Musil, Die Amsel, S. 553.

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melsvogel« emporstilisiert, in Azwei einen traumähnlichen, »zauberhaften Zustand« aus, als ob ihn »etwas umgestülpt hätte«.⁷ Wie von einem »Signal getroffen« verlässt er darauf seine ihm »fremd geworden[e]« Frau.⁸ Das Weltkriegserlebnis eines unmittelbar neben ihm einschlagenden Fliegerpfeils in der zweiten Geschichte ruft bei ihm eine ähnliche Inversion des normalen Bewusstseins hervor. Als er aus dem intensiven, im Zeichen einer Epiphanie stehenden »Rausch« erwacht, in den die Erwartung des Pfeils und seine Todesahnung ihn versetzt hat, steht er zwar noch »am gleichen Fleck«, sein »Leib aber« ist quasi paroxysmal »wild zur Seite gerissen worden und« hat »eine tiefe, halbkreisförmige Verbeugung« beschrieben.⁹ Als in der dritten Geschichte schließlich seine Mutter erkrankt, empfindet er ihre Krankheit als »eine Art« unbewusste »Urentscheidung« ihres »ganzen Körpers«, um ihm in seiner finanziell schwierigen Situation »mit dem wenigen« beizustehen, das sie ihm vererbt.¹⁰ Er lädt ihre Erkrankung entsprechend mit Sinn auf und glaubt sich »in einer auffallenden Weise und völlig verändert«, in einem »Zustand«, der »viel Ähnlichkeit mit dem Erwachen in jener Nacht hatte, wo« er sein »Haus verließ, und mit der Erwartung des singenden Pfeils aus der Höhe«.¹¹ Nach dem Tod der Mutter fühlt er sich beim Lesen seiner Kinderbücher, »als ob das Unterste zu oberst gekehrt würde«,¹² und hört in der Nacht darauf wiederum »die« – durch diesen bestimmten Artikel mit der ersten gleichgesetzte – »Amsel« singen, deren Gesang er in einer erneuten Ineinssetzung des Differenten als »Gesang einer Nachtigall« wahrnimmt. »[D]ie Amsel« setzt sich dieses Mal auf sein Fensterbrett und gibt sich gleichsam als Reinkarnation zu erkennen: »Ich bin deine Mutter«.¹³

 Ebd., S. 552.  Ebd., S, 553.  Ebd., S. 557. Während des Kriegs muss Musil selber ein ähnliches Erlebnis gehabt haben. Vgl. Musil, Tagebücher, Bd. 1, S. 312: »22/ IX [1915]. Das Schrapnellstück oder der Fliegerpfeil auf Tenna: Man hört es schon lange. Ein windhaft pfeifendes oder windhaft rauschendes Geräusch. Immer stärker werdend. Die Zeit erscheint einem sehr lange. Plötzlich fuhr es unmittelbar neben mir in die Erde. Als würde das Geräusch verschluckt. Von einer Luftwelle nichts erinnerlich. Von plötzlich anschwellender Nähe nichts erinnerlich. Muß aber so gewesen sein, denn instinktiv riß ich meinen Oberleib zur Seite und machte bei feststehenden Füßen eine ziemlich tiefe Verbeugung. Dabei von Erschrecken keine Spur, auch nicht von dem rein nervösen wie Herzklopfen, das sonst bei plötzlichem Choc auch ohne Angst eintritt. – Nachher sehr angenehmes Gefühl. Befriedigung, es erlebt zu haben. Beinahe Stolz; aufgenommen in eine Gemeinschaft, Taufe«.  Musil, Die Amsel, S. 559.  Ebd., S. 559 f.  Ebd., S. 561.  Ebd.

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Andere Zustände

Azwei verkörpert damit einen ›anderen‹ Bewusstseinszustand oder Denkmodus, wie ihn Musil in Ansätze zu neuer Ästhetik vom »Normalzustand unserer Beziehungen zu Welt, Menschen und eigenem Ich« absetzt und als »schattenhaften Doppelgänger unserer Welt« bezeichnet, als ein »Grunderlebnis[], das in Religion, Mystik und Ethik aller historischen Völker ebenso übereinstimmend wiederkehrt, wie es merkwürdig entwicklungslos geblieben ist«.¹⁴ Zu verstehen ist dieser »schattenhafte[] Doppelgänger« demnach als ein entwicklungsgeschichtlich älteres Welt- und Selbstverhältnis, als eine Frühform des Denkens, die auch im modernen Zivilisationsmenschen noch fortbesteht. Er lässt sich begreifen als Rudiment einer ›primitiven‹ Denkform, die ein Großteil der frühen Ethnologie dem abendländischen logisch-rationalen, begrifflich-abstrakten Denken entgegensetzte und von der sie überzeugt war, dass sie in gewissen außereuropäischen Kulturen noch unverfälscht oder mindestens ungetrübter beobachtbar sei.¹⁵ Popularisiert worden war dieses anthropologische ›Wissen‹ besonders von einem französischen Philosophen und Ethnologen, den Musil in seinem ÄsthetikEssay mit einem Adjektiv adelt, gegen dessen inflationäre Verwendung er im Mann ohne Eigenschaften anschreibt und das er entsprechend nur selten selber benutzte: »genial[]«.¹⁶ Dieses ungewöhnliche und überschwängliche Lob also zollt Musil Lévy-Bruhl und seiner bereits erwähnten, 1910 veröffentlichten Studie Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures, die wie schon angemerkt 1921 unter dem Titel Das Denken der Naturvölker auch in deutscher Übersetzung erschien. Er spendet ihm diese Anerkennung im Kontext der wirkungsästhetischen Überlegungen zur Kunst im allgemeinen, die er in den Ansätzen anstellt. Bereits die »Mittel, deren sich die Künste bedienen«, glaubt Musil und fügt sich so in einen damals populären Diskursstrom ein,¹⁷ stünden in »Gegensatz zur normalen Welthaltung« und entstammten »sehr alten Kulturzuständen«.¹⁸ Avantgardistische Bewegungen in den bildenden Künsten wie der Expressionismus oder der Kubismus rekurrierten ja nicht zuletzt auf diese Vorstellung, wenn sie in ihre Gemälde und Skulpturen primitivistische Darstellungsformen aufnehmen, wie sie

 Musil, Ansätze zu neuer Ästhetik, S. 1143 f.  Vgl. Nicola Gess: Anthropologie und Metapherntheorie um 1900. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 83.4 (2009), S. 643 – 666, hier S. 645.  Musil, Ansätze zu neuer Ästhetik, S. 1141.  Erhard Schüttpelz veranschlagt Lévy-Bruhls Gewicht für die »ethnologische[] oder anthropologische[] Moderne zwischen den Weltkriegen« so hoch, dass man sie seiner Ansicht nach »Monsieur Lévy-Bruhls Moderne« nennen könnte. Erhard Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie (1879 – 1960). München 2005, S. 345; Hervorhebung im Original.  Musil, Ansätze zu neuer Ästhetik, S. 1141.

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sie in den neu eingerichteten Völkerkundemuseen der europäischen Großstädte studieren konnten.¹⁹ Im »Kunsterlebnis«, meint mithin auch Musil, könne man durchaus eine »späte Entwicklungsform jener Frühwelt« erkennen, und zwar »namentlich […] jenes besonderen Verhaltens zu den Dingen, das« Lévy-Bruhl »Partizipation« nenne.²⁰ Darunter versteht Lévy-Bruhl eine mystische, und das heißt für ihn eine übersinnliche Anteilnahme an Wesen, Gegenständen und Naturereignissen. Zugrunde liegen sollen diesem Partizipationsdenken kulturell je spezifische Kollektivvorstellungen, die »sich in den niedrigen Gesellschaften heftiger und mit mehr Macht und Tiefe geltend« machten als jeder intellektuelle »Wissensdrang« und im »›Primitiven‹ […] Gefühle von einer Intensität« erweckten, »wie wir sie uns gar nicht mehr vorstellen können«.²¹ Diese insbesondere emotiv und motorisch verankerten, sich den einzelnen Individuen nolens volens aufdrängenden Vorstellungen sind für Lévy-Bruhl geprägt »von dem Glauben an Kräfte, an Einflüsse, an Handlungen […], welche für die Sinne nicht wahrnehmbar und dennoch wirklich sind«.²² Dabei ist es ihm wichtig, dieses ›primitive‹ vom kausallogischen Denken abzugrenzen. Er wendet sich – in diesem ›sociological turn‹ insbesondere besteht die Neuartigkeit seiner Theorie – entschieden gegen die individual- und entwicklungspsychologisch orientierten ethnologischen Ansätze etwa von James George Frazer oder Edward Tylor, die ›primitive‹ Mentalitäten lediglich auf ein noch kindlich-naives, unterentwickeltes Kausalitätsdenken zurückführten. Sein eben vielmehr kollektivistisch gefasstes ›Denken der Naturvölker‹ gehorcht eigenen Gesetzmäßigkeiten, kennt den Satz vom Widerspruch nicht und ist in diesem Sinn ›prälogisch‹. Es artikuliert aller phänomenalen Verschiedenheit zum Trotz zwischen unterschiedlichsten Wesen und Dingen mystische Identitätsbeziehungen und Kontinuitäten und steht daher in »größter« »Distanz« zur »Geistesart« der »positive[n] Wissenschaften«.²³ Verwandt ist das ›prälogische‹ Wirklichkeitsbewusstsein der ›sociétés inférieures‹ für Lévy-Bruhl – wenig überraschend – den Modalitäten des Traums, in dem das Kausalitätsprinzip gleichermaßen außer Kraft gesetzt ist. Träume sollen

 Vgl. Wolfgang Riedel: Ursprache und Spätkultur. Poetischer Primitivismus in der österreichischen Literatur der klassischen Moderne (Hofmannsthal, Müller, Musil). In: Europäische Begegnungen – Um die schöne blaue Donau. Acta Ising 2002. Hg. von Stefan Krimm und Martin Sachse im Auftrag des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus. München 2003, S. 182– 202, hier S. 184.  Musil, Ansätze zu neuer Ästhetik, S. 1141.  Lucien Lévy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker. Wien und Leipzig 21926, S. 12.  Ebd., S. 23.  Ebd., S. 16.

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die ›Naturvölker‹ als »eine wirkliche Wahrnehmung« verstehen, »die so gewiß ist, wie es die ihres Wachzustandes ist«, als »ein Voraussehen der Zukunft, eine Kommunikation mit den Geistern, den Seelen und den Gottheiten«.²⁴ Damit rekapituliert Lévy-Bruhl eine geläufige Denkfigur, die bereits Nietzsche in einen viel zitierten Aphorismus fasste²⁵ und die in Musils Ästhetik-Aufsatz ihrerseits anklingt, wenn darin die von Freud bestimmten Grenzverschiebungstropen der Traumarbeit im gleichen Abschnitt erwähnt werden wie Lévy-Bruhls »geniale[] Beschreibungen«: »Verdichtung und Verschiebung«.²⁶ Azweis ekstatische Sensationen werden also kaum von ungefähr allesamt mit dem Traum in Verbindung gebracht. Schon beim ersten seiner mystischen Erlebnisse, der singenden Nachtigall beziehungsweise Amsel, zeigt er sich unsicher, ob es ein »wacher Eindruck gewesen« ist oder bereits ein »ruhendes Traumgesicht«.²⁷ Über seine Absicht, die Fliegerpfeilerfahrung möglichst nüchtern zu beschreiben, ist er sich hernach im klaren, »daß das bis zu einem Grad wie im Traum ist«.²⁸ Man wähne »ganz klar zu sprechen […], während die Worte außen wirr sind«.²⁹ Und auch nach der Erzählung der dritten Binnengeschichte über die Amsel, die ihn anspricht und sich als seine Mutter ausgibt, muss er konzedieren: »Siehst du, das mag ich ja geträumt haben«.³⁰ Ersichtlich als Referenztext für Die Amsel wird Lévy-Bruhls Denken der Naturvölker aber über diese Kongruenz hinaus vor allem hinsichtlich »jenes besondren Verhaltens zu den Dingen«, das Musil in seinem Aufsatz hervorhob. Die mystischen Erlebnisse Azweis, seine Denk- und Wahrnehmungsart, die ›anderen Zustände‹, die er erlebt, stehen im Zeichen der archaisch-magischen Partizipationslogik, die Lévy-Bruhl beschreibt. So wie den »Primitiven« »[n]icht ein Wesen, ein Gegenstand« als das erscheinen soll, »was es uns zu sein scheint«, wie es für sie expressis verbis »keinen Vogel« gibt, »dem nicht die seltsamsten mystischen

 Ebd., S. 40.  In Menschliches, Allzumenschliches schrieb Nietzsche – eine Bemerkung, die Freud nachträglich noch in die fünfte Auflage seiner Traumdeutung aufnahm –: »[I]m Schlaf und Traum machen wir das Pensum früheren Menschtums noch einmal durch. […] [W]ie jetzt der Mensch im Traume schließt, so schloss die Menschheit auch im Wachen viele Jahrtausende hindurch«. Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1999 (Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 2), S. 32 f.; vgl. Freud, Die Traumdeutung, S. 554; Riedel, Ursprache und Spätkultur, S. 199.  Musil, Ansätze zu neuer Ästhetik, S. 1141.  Musil, Die Amsel, S. 551.  Ebd., S. 556.  Ebd.  Ebd., S. 562.

Das Denken der Partizipation in Musils Die Amsel

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Eigenschaften zugeschrieben worden wären«,³¹ so begreift auch Azwei die Amsel als ein »Zeichen«, ein »Vehikel geheimer Kräfte«,³² ein »Signal«. An ihr wird das »merkwürdig entwicklungslos geblieben[e]« Denken der Übertragung und Identität, die ›prälogische‹ Zusammenziehung oder Gleichsetzung des Unterschiedlichen sozusagen vorexerziert, wenn sie ihm zugleich eine Nachtigall, einen »Himmelsvogel« und seine Mutter darstellt. Zudem lässt sich die zweite der beiden Amsel-Episoden als Reminiszenz an jenes ethnologische Beispiel lesen, das der ›armchair anthropologist‹ Lévy-Bruhl zur Illustration des Partizipationsdenkens immer wieder heranzieht und das durch ihn »geradezu zum Topos […] für ein Denken vor der Differenz«³³ wurde. Gestoßen ist Lévy-Bruhl auf sein Paradeexempel der Fonctions mentales dans les sociétés inférieures bei einem weiteren prominenten Mitglied der deutschen Gesellschaft für Anthropologie, einem der ersten Lehrstuhlinhaber für Völkerkunde in Deutschland. Er fand es in einer Reiseschilderung von 1894 des deutschen Psychiaters und Ethnographen Karl von den Steinen, dessen beruflicher Werdegang symptomatisch für die enge Beziehung ist, in die ›Verrückte‹ und ethnisch Fremde als je Andere der westlichen Rationalität immer wieder gesetzt worden sind.³⁴ In Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens schildert von den Steinen die totemistischen Praktiken verschiedener nordbrasilianischer ›Stämme‹. Er stellt verwundert fest, diese ›Stämme‹ zögen zwischen Menschen und gewissen Tieren keine kategorielle Trennlinie, und verdeutlicht diese fehlende Abgrenzung unter anderem an den Vorstellungen der Bororó-›Indios‹, die Lévy-Bruhl schließlich zum Inbegriff der ›mentalité primitive‹³⁵ machte. Die Bororó, so von den Steinen, würden nämlich von sich behaupten, ›Araras‹, rote Papageien zu sein, und dies in einem weder metaphysischen noch metamorphotischen Sinn.Weder glaubten sie, nach ihrem Tod zu Araras zu werden, noch dass es sich bei den Araras um in Papageien verwandelte Menschen handle. Vielmehr gäben sie einem »kalt zu

 Lévy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker, S. 24.  Wilhelm Jerusalem: Vorbemerkungen des Herausgebers. In: Lévy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker, S. V–XVII, hier S. IX.  Riedel, Ursprache und Spätkultur, S. 191; Hervorhebung im Original.  Zur Verschränkung von Primitivismus- und Psychopathologie-Diskurs in der deutschsprachigen Lévy-Bruhl-Rezeption im allgemeinen und bei Musil im besonderen vgl. Marcus Hahn: Zusammenfließende Eichhörnchen. Über Lucien Lévy-Bruhl und die Ethnologie-Rezeption Robert Musils. In: Ulrich Johannes Beil, Michael Gamper und Karl Wagner (Hg.): Medien, Technik, Wissenschaft. Wissensübertragung bei Robert Musil und in seiner Zeit. Zürich 2011, S. 47– 72, hier S. 55 – 63.  Lévy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker, S. 58.

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verstehen, daß sie wirklich rote Araras seien, wie wenn eine Raupe sagte, daß sie ein Schmetterling sei«.³⁶ Musils sprechende Amsel lässt sich folglich als quasi chiastischer Reflex dieses Bororó/Arara-Topos lesen, den auch Musil selber nachweislich vor allen anderen »Beispiel[en]«³⁷ mit Lévy-Bruhls ›participation mystique‹ assoziierte. Denn in einer 1923 in der Prager Presse veröffentlichten Rezension über die Wahrnehmungspsychologie Erich Rudolf Jaenschs erwähnt Musil den Topos in unmittelbarem Zusammenhang mit der »›mystischen Partizipation‹ im Sinne Lévy-Bruhls«: »jener für unser Bewußtsein kaum nachziehbaren Identifikation, in welcher die brasilianischen Bororós ohne jede Mitbeziehung von Irrealität erklären, sie seien rote Papageien«.³⁸ Spiegelbildlich vertauscht sozusagen taucht also diese »viel bemerkte und weitverbreitete Gleichsetzung«³⁹ in Musils Amsel wieder auf, in der nicht ein amazonischer Indio auf seiner Identität mit einer gewissen Vogelgattung insistiert, sondern ein Vogel beteuert, ein bestimmter Mensch zu sein. Im einen wie im anderen Fall steht der totemistische Vogel mit mystischen Kräften in Verbindung, die auf die menschliche Existenz entscheidenden Einfluss ausüben. Dabei ersetzen beide Male Ineinssetzungen übliche Unterscheidungen und Kategorisierungen, wird die philosophisch-anthropologisch grundlegende Differenz von Mensch und Tier suspendiert. Zu dieser Suspension passt im übrigen auch Azweis animalisierter und kleinköpfiger Körper, der ihn selber noch einmal als phylogenetisch älteren »Doppelgänger« kenntlich macht, als den Musil den ›anderen Zustand‹ wie gesehen personifizierte: Es war schwer, einen Körper zu finden wie den seinen. Er trug nicht die Muskeln des Sports wie die Körper vieler, sondern schien einfach und mühelos von Natur aus Muskeln geflochten zu sein. Ein schmaler, ziemlich kleiner Kopf saß darauf, mit Augen, die in Samt gewickelte Blitze waren, und mit Zähnen, die es eher zuließen, an die Blankheit eines jagenden Tiers zu denken, als die Sanftmut der Mystik zu erwarten.⁴⁰

 Karl von den Steinen: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Reiseschilderung und Ergebnisse der Zweiten Schingú-Expedition 1887– 1888. Berlin 1894, S. 353; vgl. Lévy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker, S. 58.  Robert Musil: Aus der Begabungs- und Vererbungsforschung. In: Ders., Essays und Reden. Kritik, S. 1701 f., hier S. 1702.  Ebd. Jaensch vertritt in seiner Onto- und Phylogenese kurzschließenden »Theorie« die Grundthese, dass die »eidetische Anlage« der »Wahrnehmungswelt im Jugendalter« mit dem »typischen Zustand der Naturvölker« vergleichbar sei. Ebd., S. 1701.  Ebd., S. 1702.  Musil, Die Amsel, S. 549.

Die siamesischen Zwillinge

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II Die siamesischen Zwillinge Im Mann ohne Eigenschaften nun werden zahlreiche Mythen und Motive mobilisiert, um die Geschwisterliebe zwischen Ulrich und seiner »vergessene[n] Schwester«⁴¹ Agathe ihrerseits im Zeichen eines Denkens vor der Differenz erscheinen zu lassen, das auch und gerade auf eine Irritation der Geschlechterordnung zielt. Zunächst einmal treffen sich Ulrich und Agathe nach dem Tod ihres Vaters im elterlichen Haus ihrer Kindheit nicht etwa in Trauerkleidung. Ein erstes Gleichheitszeichen zwischen ihnen wird gesetzt, indem bei diesem erstmaligen Aufeinandertreffen nach langer Zeit beide einen nur leicht variierten »pyjamaartigen Hausanzug« tragen.⁴² In einer »Art Pierrotkleid«, »schwarz-grau gewürfelt und an den Händen und Füßen ebenso gebunden wie in der Mitte«, begegnet Ulrich so »durch geheime Anordnung des Zufalls« ebenfalls einem nur etwas farbiger gekleideten »großen, blonden, in zarte graue und rostbraune Streifen und Würfel gehüllten Pierrot«.⁴³ Die beiden Geschwister sehen sich also gleichsam im Kostüm einer sexuell ambivalenten, androgynen Kunst- und Clownfigur wieder.⁴⁴ Ihr Moment der ›Anagnorisis‹⁴⁵ stellt sich über einen ›dress code‹ ein, der sich für Pierrot und Pierrette ikonographisch kaum unterscheidet. Zugleich ist diese »geheime Anordnung des Zufalls«, erst recht aber Agathes Reaktion darauf symptomatisch für die »Poetik der Übereinstimmung«,⁴⁶ der die Geschwisterbeziehung folgt. Denn Ulrichs fünf Jahre jüngere Schwester, die zumindest »auf den ersten Blick ganz ähnlich aus[sieht] wie er selbst«, reagiert auf ihre gleichartige ›Kostümierung‹ mit dem Ausruf, sie »habe nicht gewußt, daß« sie »Zwillinge« seien.⁴⁷ Bereits durch diesen allerersten Satz wird Agathe mit dem »ursprünglichen Lebenszustand des Gleichnisses«⁴⁸ assoziiert, wie er gemäß Lévy-Bruhl eben auch für die Mentalität der ›Primitiven‹ bezeichnend sein soll. Selbst wenn Agathe dieses Sinnbild zunächst nur spielerisch und spaßeshalber äußert, besteht sie später, nachdem sie bei Ulrich eingezogen ist, auf seiner Buchstäblichkeit und

 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 671.  Ebd., S. 675.  Ebd., S. 675 f.  Vgl. Achim Aurnhammer: Androgynie. Studien zu einem Motiv in der europäischen Literatur. Köln und Wien 1986, S. 289.  Vgl. Wolf, Kakanien als Gesellschaftskonstruktion, S. 205, 935 f.  Hartwig, Sexuelle Poetik, S. 102.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 676.  Ebd., 582.

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macht so das Gleichnis zur Gleichung.⁴⁹ Sie erklärt sogar – und verbildlicht derart sozusagen Lévy-Bruhls ›Gesetz der Partizipation‹ –, sie müssten eigentlich »ein Siamesisches Zwillingspaar« sein; ein Paar, wie Ulrich annimmt, bei dem die Erfahrung einer unio mystica physiologisch garantiert wäre, »jede Erregung der einen Seele« zwangsläufig »von der andern mitgefühlt« würde.⁵⁰ Agathe deutet demnach schon hier eine »Welthaltung« an, die »viel mehr um die mystischen Eigenschaften des Wesens besorgt« ist »als um den logischen Zusammenhang ihres eigenen Denkens«.⁵¹ Geradeso wie Azwei oder die Bororó scheint sie einem magischen Identitätsdenken verpflichtet zu sein, in dem rhetorische Tropen wie bei Lévy-Bruhls ›Naturvölkern‹ ihre Figurativität verlieren. Charakteristisch für die Übereinstimmungen zwischen Ulrich und seinem gegengeschlechtlichen Zwilling ist auf imagologischer Ebene aber nicht allein Agathes Kulturkörper – ihre Kleiderähnlichkeit bei ihrem Wiedersehen –, sondern auch ihr Naturkörper. Zwar soll ihr Gesicht seinem höchstens »ähnlich sein wie ein Pastell einem Holzschnitt«.⁵² Aber abgesehen von diesem selber etwas holzschnittartigen geschlechtsspezifischen Unterschied konstatiert Ulrich sogleich, dass Agathe »in der Größe« zu ihm passt, sich durch die »gleiche[] duftige[] Trockenheit der Haut« auszeichnet wie er und ebenfalls »schlank und kräftig« ist, »natürliche Leistungsfähigkeit mit Schönheit vereint«.⁵³ Wie Ulrichs Körper kommt also auch ihr Äußeres ohne physische Defizite, ohne negative Attribute des Gesichts, des Körperbaus oder der Hautoberfläche aus. Körpersemiotisch signifikant für die Ähnlichkeiten zwischen den »zwei Pierrots«⁵⁴ ist darüber hinaus auch eine Beobachtung Ulrichs, mit der er die wechselseitige Verbindung zunächst zu kappen scheint, in der ›Körperbau und Charakter‹ bei den anderen Figuren des Romans stehen. Selbst wenn Ulrich bemerkt, Agathes Physiognomie fehle das, »was die gewöhnlichen Schlüsse auf die Person erlaubt«,⁵⁵ bleibt aber auch ihr Aussehen ein stabiler Zeichenträger und ein bewährtes Orientierungsmittel. Denn ihrem nicht oder jedenfalls nur schwer entzifferbaren Gesicht entspricht genau, dass Agathe sowohl aus Ulrichs wie auch aus ihrer eigenen Perspektive in keine der gängigen Weiblichkeitsschablonen

 Vgl. Wolfgang Riedel: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. In: Dorothea Klein und Sabine M. Schneider (Hg.): Lektüren für das 21. Jahrhundert. Schlüsseltexte der deutschen Literatur von 1200 bis 1990. Würzburg 2000, S. 264– 285, hier S. 279.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 908 f.  Lévy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker, S. 62.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 676.  Ebd.  Ebd., S. 677.  Ebd.

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passen soll. Ulrich vermag bei ihrer ›reunion‹ seine Schwester keinem der Frauentypen zuzuordnen, an die sie ihn in ihrem Pierrotkostüm, in ihren »weiten Hosen« offenbar noch am ehesten erinnert.⁵⁶ Er stellt an ihr »weder etwas Emanzipiertes, noch etwas Bohemehaftes« fest.⁵⁷ Ohne sie also deshalb zum Beispiel mit dem damals prominenten Klischeebild der ›Neuen Frau‹ abzugleichen,⁵⁸ registriert er an ihr lediglich eine geschlechtliche Grenzverwischung, wie sie für Pierrots typisch ist, »etwas Hermaphroditisches«.⁵⁹ Damit nimmt er an ihrem Äußeren eine Nivellierung der Geschlechterunterschiede wahr, die sich erneut zu ihren Charaktermerkmalen in Beziehung setzen lässt und nun das ›Denken vor der Differenz‹ quasi abbildet, unter dessen Signatur Agathes Leitidee des »Siamesische[n] Zwillingspaar[s]« erscheint. Vor allem aber steht Agathes Physiognomie in einem Abbildungsverhältnis zu ihrem Charakter, weil ihr Gesicht in seiner lesbaren Unlesbarkeit ihre ebenfalls fehlende Eigenschaftlichkeit bereits anzeigt oder wenigstens andeutet. So wie ihr eigenschaftsloser Bruder ihre Gesichtsmerkmale nicht verorten kann, ist sie ihrerseits der Ansicht, nicht in die zeitgenössische Geschlechtertypologie integrierbar zu sein. Sie vermag sich mit keinem der für sie abrufbaren weiblichen Rollenangebote zu identifizieren: Bin ich die zeitgemäße, wirtschaftlich oder geistig irgendwie tätige Frau? Nein. Bin ich die verliebte Frau? Auch nicht. Bin ich die gute, ausgleichende, vereinfachende, nestbildende Gefährtin und Mutter? Schon gar nicht. Was bleibt da noch übrig?⁶⁰

Durch diesen Abstand, in den sie sich zu verschiedenen aktuellen Weiblichkeitsrollen setzt, durch ihre generelle »große Teilnahmslosigkeit« gegenüber dem konventionell Alltäglichen,⁶¹ die selbst ihr nicht besonders aufmerksamer Ehemann an ihr wahrnimmt, erweist sich Agathe auch in ihrer Eigenschaftslosigkeit bald einmal als ›Zwilling‹ Ulrichs, als sein »Doppelgänger im anderen Geschlecht«.⁶² Wie er zeigt sie keine innere Verbundenheit mit gesellschaftlich

 Ebd., S. 686.  Ebd.  Vgl. z. B. Christine Kanz: Maternale Moderne. Männliche Gebärphantasien zwischen Kultur und Wissenschaft (1890 – 1933). München 2009, S. 336 – 338.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 686.  Ebd., S. 954 f. So wie Ulrich in der »von Männern geschaffene[n] Welt« »eine Frau sein« möchte, »wenn nicht – die Frauen die Männer liebten«, »mag« Agathe »Frauen gar nicht«, kann aber weder die »Liebeslarven, die der europäische Mann anlegt«, ernstnehmen, noch lässt sie sich von der »Logik der Männer« vereinnahmen. Ebd., S. 728, 740, 858, 944.  Ebd., S. 951.  Ebd., S. 905.

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sanktionierten Rollenmustern und erfährt die Wirklichkeit als unzulänglich und unbefriedigend. Auch bei ihr, kurzum, erscheint jener »zehnte[] Charakter« besonders dominant, der »dem Menschen alles« erlaubt, außer »das ernst zu nehmen, was seine mindestens neun andern Charaktere tun und was mit ihnen geschieht«. »Zwei Ich, die es wissen, wie fraglich Ich heute ist, halten sich aneinander«; so und nur so, erklärt Ulrich in einem Gespräch mit Diotima im Ersten Buch des Romans einmal, könne er sich »Liebe« vorstellen.⁶³ Mit Agathe, seinem eigenschaftslosen weiblichen alter ego, findet er ein solches ›zweites Ich‹. Ihr gegenüber legt er die innere Teilnahmslosigkeit ab, die für sein Verhalten zur Welt des Seinesgleichen und zu anderen Menschen ansonsten charakteristisch ist. Durch und dank Agathe erlebt er im Zweiten Buch und in den nachgelassenen Fortsetzungsentwürfen seinerseits erhöhte Momente eines anderen Zustands. In diesen Kapiteln, in denen Musils Staats- und Gesellschaftsroman sich streckenweise in einen Liebesroman verwandelt und sich der Erzählton entsprechend ändert, animieren sich die imaginären Zwillinge gegenseitig zu mystisch-innigen Erlebnissen. Sie erfahren sich in diesen Momenten nicht wie üblich als fragmentiert und entfremdet, sondern fühlen sich mit dem anderen, dadurch auch mit sich selber und der Welt identisch. Mit anderen Worten durchleben auch sie Augenblicke der Auflösung dualer Strukturen, der Einheit und Partizipation, wie LévyBruhl sie in Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures beschreibt. Sie befinden sich in diesen erfüllten Augenblicken in einer »Art Traumzustand«, in dem alle »Einzelheiten« »geschwisterlich und im wörtlichen Sinn ›innig‹ untereinander verbunden« sind, in dem »alles grenzenlos in« sie »über[geht]«.⁶⁴ Die ursprüngliche »Doppelgeschlechtlichkeit der Seele« ist dann wiederhergestellt⁶⁵ und »Außen und Innen« berühren sich, »als wäre ein Keil ausgesprungen, der die Welt geteilt hat«.⁶⁶ Über diese beglückend-ekstatischen Erlebnisse der Ganzheit und Kontinuität stellen Agathe und vor allem Ulrich in ihren ›heiligen Gesprächen‹ in der Folge weitläufige gefühlspsychologische und kulturtheoretische Reflexionen an. Bei den Versuchen, durchzudenken, was mit ihnen passiert, wenn sie einer im anderen das ›Paradies‹, das »Reich der Liebe«,⁶⁷ das ›Tausendjährige Reich‹ finden, greifen sie nun allerdings weniger auf ethnologisches ›Wissen‹ zurück als auf eine ganze Reihe mystischer und mythologischer Überlieferungen. Zum einen lesen sie

    

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 476. S. 762. S. 906. S. 1234. S. 1233.

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die Zeugnisse mittelalterlicher Mystiker, die Martin Buber in seiner Anthologie Ekstatische Konfessionen 1909 herausgab.⁶⁸ Zum anderen beziehen sie sich auf diverse Urszenen und Geschlechtermuster aus der griechischen und ägyptischen Mythologie. Neben der bereits anzitierten Hermaphroditos-Sage berufen sie sich auch auf »den Mythos, den Platon« im Symposion »irgendwelchen älteren Vorbildern nacherzählt, daß der ursprüngliche ganze Mensch von den Göttern in zwei Teile geteilt worden sei, in Mann und Weib«.⁶⁹ Zudem kommen sie auf Isis und Osiris zu sprechen, auf das sich liebende Zwillingspaar, das sich schon im Mutterleib vereinigt haben soll und dem Musil – auch dank den intertextuellen Referenzen in Ingeborg Bachmanns Das Buch Franza – sein einziges einigermaßen bekanntes Gedicht widmete. Mit dem von Ulrich festgestellten »uralt[en]« »Verlangen nach einem Doppelgänger im anderen Geschlecht«⁷⁰ spricht aus diesen mythologischen Szenen offenkundig auch die Sehnsucht, die Geschlechtergrenzen zu überwinden. (In Musils Gedicht, von dem er behauptete, es enthalte »in nucleo den Roman«,⁷¹ äußert sich diese Vereinigungsphantasie darüber, dass Isis Osiris’ Geschlecht aufisst.⁷²) Anders als in der Amsel wird im Mann ohne Eigenschaften das »merkwürdig entwicklungslos geblieben[e]« »Grunderlebnis[]« des anderen Zustands, dieses Andenken an einen archaischen oder mythischen Wahrnehmungsmodus also auch durch die aufgebotenen mythologischen Reminiszenzen mit einer Zurücknahme der Geschlechterdifferenz assoziiert. Diese Assoziation ist umso stimmiger, als nicht nur Agathes fehlende Identifikation mit sozialen Rollenvorgaben mehrmals und beinahe ausschließlich über ihren ›Geschlechtscharakter‹

 Musil selber exzerpierte diese Zeugnisse auch aus Carl Girgensohns religionspsychologischer Untersuchung Der seelische Aufbau des religiösen Lebens von 1921, in der dieser ausführlich aus Bubers Konfessionen zitiert. Vgl. Musil, Klagenfurter Ausgabe, Transkriptionen / Mappe II/1/1. Vgl. Robert Leucht und Susanne Reichlin: »Ein Gleichgewicht ohne festen Widerhalt, für das wir noch keine rechte Beschreibung gefunden haben«. Robert Musils ›anderer Zustand‹ als Ort der Wissensübertragung. In: Ulrich Johannes Beil, Michael Gamper und Karl Wagner (Hg.): Medien, Technik, Wissenschaft. Wissensübertragung bei Robert Musil und in seiner Zeit. Zürich 2011, S. 289 – 322.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 903.  Ebd., S. 905.  Musil, Tagebücher, 847. Walter Fanta hat mit Recht angemerkt, dass es aus entstehungsgeschichtlichen Gründen sehr fragwürdig ist, das Gedicht wie in der Musil-Forschung üblich zur Interpretation des Romans heranzuziehen. Gerade die »Ekstatiker-Zitate« machten eine entscheidende Differenz deutlich zwischen den fertigen Romankapiteln und den Textstufen, anhand derer Musil seine Aussage über das Gedicht machte: »Anders/Agathe sind im Zustand der Ekstase, Ulrich und Agathe sprechen darüber«. Fanta, Die Entstehungsgeschichte des Mann ohne Eigenschaften, S. 296.  Vgl. Musil, Isis und Osiris. In: Ders., Prosa und Stücke, S. 465.

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verdeutlicht wird. Auch Ulrich selber räumt ein, am »Bruder und Schwester«Spielen nicht zuletzt deshalb Gefallen zu finden, weil er »vom Mann und Frau Spielen übergenug« habe: Wir haben von dieser aufgeschwollenen Ideologie heute genug, die fast schon so lächerlich ist wie eine Gastrosophie. Ich bin überzeugt, die meisten würden es gern sehn, wenn diese Verbindung eines Hautreizes mit dem gesamten Menschentum wieder rückgängig gemacht werden könnte, Agathe! Und bald oder später kommt ein Zeitalter schlichter sexueller Kameradschaft herauf […].⁷³

Die verschiedenen ›actes de passage‹, durch die er und vor allem Agathe sich zu »Verbrecher[n]« machen und von der Gesellschaft lossagen, richten sich wie bereits erwähnt denn auch allesamt gegen das Vaterrecht. Agathes Scheidungswunsch und erst recht ihre Testamentsfälschung zielen gegen eine patriarchalische Ordnung, deren zumindest gesetzlichen Teil ihr Vater repräsentierte, den er als Rechtsprofessor lehrte, als Richter durchsetzte und als »Mitglied des« legislativen »Herrenhauses«⁷⁴ mitkonstituierte. Ihre Vergehen gegen den toten Vater, der den Romanhelden und seine Schwester zu Lebzeiten immer wieder zur Ordnung und Räson gerufen hat, gehen aber noch weiter. Denn nichts Geringerem als »dem letzten Willen ihres Vaters« (»Agathe führt[] es aus«) handeln die Geschwister schon zuwider,⁷⁵ bevor Agathe das väterliche Testament fälscht. Sie ersetzen entgegen seiner ausdrücklichen Direktive die Orden, die ihm zur Unterstreichung seiner »universalistische[n]« »Staatstheorie« so wichtig waren, bereits durch »Duplikate«, bevor ihm alle Trauergäste während seiner Aufbahrung die letzte Ehre erwiesen haben.⁷⁶ In einer Art symbolischer Totenschändung schiebt ihm Agathe obendrein »ein seidenes, breites Strumpfband« »in die Tasche«⁷⁷ und riskiert damit, seinen zur wissenschaftlichen Sektion freigegebenen Leichnam den anzüglichen Witzen der Medizinstudenten preiszugeben.⁷⁸ Schließlich ist nicht einmal sicher, ob der »nur flüchtig wieder zusammengenäht[e]« »alte[] Herr[]«⁷⁹ überhaupt mit den Ordensduplikaten begraben wird, mit denen er partout beerdigt werden wollte. Ulrich vergisst vor dem Begräbnis nachzusehen, ob man sie dem Vater in der Anatomie wieder angesteckt hat.

      

Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 940. Ebd., S. 15. Ebd., S. 705; im Original keine Hervorhebung. Ebd., S. 695. Ebd., S. 707. Vgl. ebd., S. 711. Ebd., S. 711.

Die siamesischen Zwillinge

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Die Begräbniszeremonie selber wird zwar als »Mannbarkeitsfeier für den« inszeniert, »der nun das Schwert« übernimmt.⁸⁰ Dem Trauerzug, »vornehmlich ein Zug von Männern« – Agathes »private[s] Leid« hat seinen Platz erst hinter den »in amtlicher Eigenschaft Erschienenen«⁸¹ –, soll die Funktion eines Übergangsrituals zukommen, das Ulrich in der symbolischen Ordnung in die Position des Vaters einsetzt. Musils Romanheld aber bleibt gleichsam in der liminalen Phase dieses Rituals stecken. Anstatt sich an der vorgesehenen neuen Stelle in die gesellschaftliche Ordnung einzufügen, zieht er sich ja in der Folge ganz daraus zurück. Er hält Agathe nicht von ihren ›verbrecherischen‹ Schritten ab, mit denen sie an Grundpfeilern dieser Ordnung rüttelt. Und vor allem gehört zu diesem Vorstellungskomplex des ›Verbrecherischen‹ ›natürlich‹ auch die erotisch-sexuell grundierte Geschwisterliebe selber. Unabhängig davon, ob Ulrich und Agathe wie noch in den »Reise ins Paradies«-Entwürfen aus den zwanziger Jahren miteinander schlafen⁸² oder ihr Begehren wie in den späten Fortsetzungskapiteln sublimieren,⁸³ ist ihre Beziehung inzestuös aufgeladen. Sie vereinigt dadurch die beiden Momente, auf die es Musil bei der Grundkonzeption des Geschwisterverhältnisses augenscheinlich ankam. Einerseits stellt sie mit dem Inzestverbot die Regel infrage, die für die Organisation von Sexualität und Verwandtschaft, für soziale Interaktion und gesellschaftliche Vernetzungen als grundlegend galt. »Das Verhältnis zur Schwester«, notierte sich Musil schon vor dem Ersten Weltkrieg, »entsteht mit durch Gegensatz gegen den Staats- u[nd] Gesellschaftsgedanken, er soll Protest sein«.⁸⁴ Andererseits lässt sich bereits aus der inzestuösen Anlage dieser Beziehung jene Sehnsucht nach einem Denken vor der Differenz herauslesen, wie sie auch in den zitierten Mythen zum Ausdruck kommt: der Wunsch, in eine mythische Vergangenheit der »Einheit des Empfindens«,⁸⁵ an einen Nullpunkt der symbolischen Ordnung zurückzukehren und Kulturalisierungen wie die Geschlechterdifferenz »rückgängig« zu machen.

 Ebd., S. 710.  Ebd., S. 709.  Ebd., S. 1651– 1675.  Vgl. z. B. das Kapitel »Atemzüge eines Sommertags«, an dem Musil noch an seinem Todestag gearbeitet hat. Ebd., S. 1232– 1239.  Musil, Klagenfurter Ausgabe, Transkriptionen / Mappe IV/2/8.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 688.

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Andere Zustände

III Agathes ›mentalité primitive‹ Musils Romantext betreibt in den Geschwisterkapiteln also viel Aufwand, um »ein Zusammenleben jenseits der sozial definierten Geschlechtscharaktere« zu verheißen.⁸⁶ Gleichwohl bleiben seine Repräsentationen der Geschwisterliebe und des ›anderen Zustands‹ in verschiedener Hinsicht traditionellen Geschlechterdualismen verpflichtet. Ulrich bremst zum Beispiel seine Kritik an der »aufgeschwollenen« Geschlechter-»Ideologie« schon dadurch aus, dass er bei seiner »Forschung«⁸⁷ über Gefühle und den anderen Zustand selber Geschlechterstereotypen mobilisiert.⁸⁸ Und Agathe, die ja explizit keinem der vorgegebenen Weiblichkeitsmuster entsprechen soll, bleibt ihrerseits herkömmlichen Darstellungsmodi verpflichtet, wenn sie etwa als komplementär angelegte Frauenfigur Ulrichs männliche Einseitigkeit zu kompensieren, seine »Erlösung und Versöhnung« darzustellen hat.⁸⁹ Auch die »Gesetzlosigkeit ihres Wesens«⁹⁰ ließe sich mit Vorstellungen über Weiblichkeit als anarchischer Differenz, als Metapher für die Auflösung aller Ordnung in Beziehung setzen. Darüber hinaus wird sie, wie schon angedeutet, mehrfach mit den Angehörigen der ›Naturvölker‹ gleichgesetzt, über die Lévy-Bruhl in seinen »genialen« ethnologischen »Beschreibungen« berichtet.⁹¹ Agathe erscheint in gewissem Sinn ihrerseits als eine »Urfrau[]« oder ein »Urwesen«. Wie in Grigia oder Tonka lebt demnach im Mann ohne Eigenschaften – anders als in der Amsel – wiederum eine Frauenfigur die »entwicklungslos gebliebene«, der wissenschaftlichen Rationalität entgegengestellte Welt- und Denkhaltung exemplarisch fort, unter deren Signum bereits der Grundgedanke der siamesischen Zwillingsgeschwisterschaft steht. Agathe sei, vermerkte Musil schon zu Beginn seiner Arbeit am Roman, »im Sinn« seiner »Pseudotheorie« »der Mensch, in dem die ältere Stufe weniger un-

 Honold, Die Stadt und der Krieg, S. 464.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 1199.  So unterscheidet er beispielshalber in einem der Druckfahnenkapitel zwischen »bestimmten Gefühl[en]«, die »zu einer Handlung oder zu einem Beschluß« führen, und »unbestimmten«, die nur auf »wunschlose und selbstlose Weise« die Sicht auf die Welt verändern und dadurch »etwas Magisches an sich und – Gott helfe mir! – im Vergleich mit dem bestimmten etwas Weibliches!« hätten. Ebd., S. 1198.  Georg Simmel: Weibliche Kultur. In: Ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901– 1908, S. 64– 83, hier S. 68.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 746.  Vgl. auch Renate von Heydebrand: Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Ihr Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Denken. Münster 1966, S. 225, Anm. 30; Hahn, Zusammenfließende Eichhörnchen, S. 63 – 65.

Agathes ›mentalité primitive‹

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terdrückt ist«.⁹² Als klassisches Exempel für den »Aufbau der Wahrnehmungswelt« auf dieser phylogenetisch früheren »Stufe« nennt er in jener Jaensch-Rezension »das enorme Gedächtnis der Primitiven für Texte«, »die sie oft in vergessenen Sprachen und in solcher Länge auswendig können, daß die Rezitation mehr als fünf Nächte erfordert«.⁹³ Das einschlägige Beispiel, auf das sich Musil hier bis in den Wortlaut hinein bezieht, zitiert Lévy-Bruhl in Das Denken der Naturvölker aus Walter E. Roths ethnographischer Studie über die »North-West Central Queensland Aborigines«. Darin berichtet Roth, er habe diese »Eingeborenen« »eine Reihe von Gesängen rezitieren gehört, deren vollständige Wiedergabe im ganzen mehr als fünf Nächte erforderte«.⁹⁴ Und er krönt diesen kulturanthropologisch ohnehin schon spektakulären Feldbericht eben mit dem Befund, sie lernten diese Gesänge überdies in einer »Sprache«, die »vollkommen verschieden[]« von ihrer eigenen sei. Sie trügen sie mirabile dictu »auswendig« vor, »ohne daß irgend jemand, weder von den Darstellern noch von den Zuhörern, ein einziges Wort davon« verstehe.⁹⁵ Diese »außerordentliche Entwicklung des Gedächtnisses und der konkreten Erinnerung«,⁹⁶ die Lévy-Bruhl unter anderem auch mit den »Beschwörungsgesänge[n]« nordamerikanischer Stämme belegt, welche »von Generation zu Generation wortgetreu überliefert und weder von den Offizianten noch von den Zuhörern verstanden« würden, oder mit afrikanischen Königsboten, die Charles und David Livingstone zufolge »Neuigkeiten ebenso gut in die Ferne tragen können wie ein Brief«⁹⁷ – diese »überraschende«⁹⁸ mnemotechnische Leistung also hat für Lévy-Bruhl aber erwartungsgemäß auch eine Kehrseite. Sie gleicht für ihn lediglich einen kognitiven Mangel aus, kompensiert die in der ›mentalité primitive‹ geringere Ausprägung des logischen Denkens. »Bei uns« – so LévyBruhls eurozentristisch-selbstvergewissernde Wendung an sein Lesepublikum – bleibe »das Gedächtnis […] auf die untergeordnete Rolle beschränkt, die Resultate aufzubewahren, welche durch eine logische Ausarbeitung der Begriffe erworben

 Musil, Tagebücher, Bd. 1, S. 390.  Musil, Aus der Begabungs- und Vererbungsforschung, S. 1701.  Walter E. Roth: Ethnographical Studies Among the North-West-Central Queensland Aborigines. Brisbane und London 1897, S. 120; zitiert nach Lévy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker, S. 88.  Roth, Ethnographical Studies Among the North-West-Central Queensland Aborigines, S. 117; zitiert nach Lévy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker, S. 88.  Lévy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker, S. 91.  Charles Livingstone und David Livingstone: Narrative of an Expedition to the Zambesi and its Tributaries; and of the Discovery of the Lakes Shirwa and Nyassa. 1858 – 1864. London 1865, S. 267; zitiert nach Lévy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker, S. 89.  Lévy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker, S. 89.

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Andere Zustände

worden sind«.⁹⁹ Die ›niedrigen Gesellschaften‹ hingegen vollzögen keine solchen logischen Denkoperationen: »Das geringste, nur ein wenig abstrakte Begründen widersteht ihnen derartig, daß sie sofort erklären, müde zu sein und darauf zu verzichten«.¹⁰⁰ Im Partizipationsdenken der ›Naturvölker‹ erlaubten die »emotionellen und affektiven Elemente« den Gedanken kaum, ihr »eigener Herr zu sein«.¹⁰¹ Daher speichere das ›primitive‹, aber desto leistungsfähigere Gedächtnis Erlebnisse gleichsam in ihrer Rohform und übernehme die Arbeit, »die sonst der eigentlich logische Mechanismus besorgt«.¹⁰² Agathe nun soll ihrerseits »ein Vorurteil gegen allgemeine Untersuchungen« haben und »jede Anstrengung, die sozusagen über ihre Haut« hinausgeht, für »ziemlich […] aussichtslos« halten.¹⁰³ Auch Ulrich unterschiebt ihr eine solche Abneigung gegen logisch-abstrakte Denkformen. Er stellt fest, sie habe »kein Verständnis für das Verlangen, Gedanken zu großen, gegliederten Massen zusammenzufassen«, »die Kampferlebnisse des Geistes« seien ihr »fremd«.¹⁰⁴ Wie bei Lévy-Bruhls ›Naturvölkern‹ korreliert dieses prälogische Denken bei ihr überdies mit einer ›wunderbaren‹ Steigerung des Erinnerungsvermögens. Agathe hat, wie mehrfach und redundanterweise betont wird, ein »ungewöhnlich treue[s]«¹⁰⁵ und nachgerade »schrecklich gutes Gedächtnis«.¹⁰⁶ Sie kann nicht nur die Shakespeare- und Pindar-Übersetzungen, die Hagauers Schüler im Unterricht verfasst haben, anscheinend problemlos »wörtlich« wiedergeben, sondern auch die Korrekturen ihres Gatten.¹⁰⁷ Passagen aus Bubers Ekstatischen Konfessionen zitiert sie ohne weiteres »aus dem Gedächtnis«.¹⁰⁸ Und die »Schulmeistersätze« Hagauers, die Musil wie die schulischen Übersetzungsbeispiele Georg Kerschensteiners Wesen und Wert des naturwissenschaftlichen Unterrichtes entnahm,¹⁰⁹ vermag sie zwar nicht gerade fünf Nächte lang vorzutragen. Aber immerhin kann sie sie rund eine halbe Seite lang derart »tadellos« aufsagen, dass der ›staunende‹ Ulrich ihrer Beteuerung nicht glauben will, sie hätte sich diese »langen, verwickelten Sätze« »bloß aus Gesprächen gemerkt«.¹¹⁰

 Ebd., S. 92.  Ebd.  Ebd., S. 86.  Ebd., S. 92.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 741.  Ebd., S. 795.  Ebd., S. 851.  Ebd., S. 703.  Ebd., S. 704.  Ebd., S. 1091.  Vgl. Musil, Tagebücher, S. 573 f.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 703.

Agathes ›mentalité primitive‹

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Noch bestaunenswerter wird Agathes »Gedächtnisleistung« wiederum präzis nach dem Lévy-Bruhl’schen Muster, indem auch sie nicht versteht oder jedenfalls nicht verstehen muss, was genau sie wörtlich repetiert. Agathe hat ausdrücklich »[k]eine Ahnung«, was die von ihr nachgesprochenen »Schulmeistersätze« Hagauers eigentlich bedeuten, »was ein Schluß aus dem Zeichen oder eine Verifikation ist«.¹¹¹ Ähnlich wie die australischen oder nordamerikanischen »Stämme« also soll sie die Sätze »nach seinem Mund auswendig gelernt« haben »wie eine Reihe sinnloser Worte«.¹¹² Auch ihre Gespräche mit Ulrich kann sie sich später bis in »die kleinen Überraschungen des Tonfalls und der Gebärde« hinein von neuem vergegenwärtigen, obwohl oder gerade weil sie sie nicht vollumfänglich verstanden hat. Sie tauchen in ihrer Erinnerung wieder auf »ohne viel Zusammenhang und eher so, wie sie gewesen waren, noch ehe Agathe sie recht aufgefaßt und gewußt hatte, was sie wollten«.¹¹³ Analog zu Lévy-Bruhls Vorstellung, dass sich gattungsgeschichtlich das konkrete Erinnerungsvermögen reziprok zur Entwicklung des abstrakten und begrifflichen Denkens verhalte, bleiben Agathe ihre Erlebnisse genau deshalb bis in die »kleinsten Einzelheiten gegenwärtig«,¹¹⁴ weil ihr quasi stufenanthropologisch älteres »Gedächtnis« »niemals seine Eindrücke leicht in Allgemeines« auflöst.¹¹⁵ In »mir«, meint sie selber, »bleiben die Dinge liegen, weil ich nichts mit ihnen anzufangen weiß, – das ist mein gutes Gedächtnis«.¹¹⁶ Vor der Folie von Lévy-Bruhls Thesen ist es demnach kein Zufall, dass Ulrich im Druckfahnenkapitel ›Mondstrahlen bei Tage‹ die ›Wildheit‹ von Agathes »Wesen« »im Vergleich mit« seinem eigenen exakt dann feststellt,¹¹⁷ als sie ihm die Mystikerzitate aus den Ekstatischen Konfessionen auswendig vorträgt. Noch im gleichen Passus führt der Erzähler erneut ihr »gutes Gedächtnis« darauf zurück, dass es »nicht gern seine Erinnerungen zu Begriffen« umwandle.¹¹⁸ Des weiteren bringt er es hier nun mehr oder weniger explizit mit den »emotionellen und affektiven Elemente[n]« in Verbindung, die gemäß Lévy-Bruhl im primitiven Bewusstsein das kausallogische Denken behindern und der Wahrnehmungsform der Partizipation zugrunde liegen. Aufbewahren soll Agathe ihre »Erinnerungen«

       

Ebd. Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.

S. 851 f. S. 736 S. 757. S. 703. S. 1091.

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Andere Zustände

nämlich »sinnlich-einzeln«, »wie man sich Gedichte merkt«.¹¹⁹ Sie soll sie mithin im Gedächtnis behalten wie die Texte jener literarischen Gattung, in der das »Prinzip der Äquivalenz«¹²⁰ ganz besonders dominant ist, die demnach stärker als jede andere das strukturelle Individuations- und Funktionsprinzip von Sprache – Differenz und Opposition – unterläuft und in diesem Sinn am ehesten nach einer ›Logik der Partizipation‹ funktioniert. Als Musil in seinen Ansätzen zu neuer Ästhetik den »Zusammenhang« des von Lévy-Bruhl so »genial[]« beschriebenen Partizipationsdenkens mit der »Wirkung des Kunstwerks« erörtert, nennt er als erstes Beispiel für diesen Konnex denn auch: »ein Gedicht«.¹²¹ Agathes Wahrnehmungs- und Erinnerungsart ist also verwandt mit der anderen Welthaltung, in die Kunst ihre Rezipienten Musils Ansicht nach versetzt und in der er, wie im ›anderen Zustand‹ allgemein, Denkformen aus »einer vorzivilisatorischen Phase der Menschheit« weiterbestehen sah.¹²² Die ästhetischen Mittel, durch die die Künste eine »Gleichgewichtsstörung des Wirklichkeitsbewußtseins« und »abnormale Mitbewegung« erzeugten, illustriert er in seinem Ästhetik-Essay daher konkret mit Praktiken, wie sie Lévy-Bruhl in Das Denken der Naturvölker schildert. Als Beispiele für die in »jede[r] Kunst«¹²³ wirkungsästhetisch grundlegenden Mechanismen der »Verdichtung und Verschiebung« führt Musil sowohl »Tiermenschen und multiple Tiere der primitiven Kulturen« als auch die »[m]agische Rolle von Haaren, Fingernägeln, Schatten, Spiegelbild u. dgl.« an.¹²⁴ In diesem Kontext, vor dem Hintergrund dieses Ideenkonglomerats ist es umso schlüssiger, dass Agathe als Ausdruck ihres archaisch-prälogischen Denkens ihrerseits gerade Haaren und Fingernägeln eine »mystische Bedeutung«¹²⁵ zuspricht oder jedenfalls einmal zugesprochen hat. Als sie nämlich vorschlägt, dass sie und Ulrich je dem toten Vater »etwas Schönes auf einen Zettel schreiben und ihm das

 Ebd.  Roman Jakobson: Linguistik und Poetik. In: Ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921– 1971. Frankfurt am Main 1979, S. 83 – 121 hier S. 94.  Musil, Ansätze zu neuer Ästhetik, S. 1140 f.  Ebd., S. 1141.  Ebd., S. 1138.  Ebd., S. 1139. Quellenkritisch betrachtet sind Musils Beispiele den Beschreibungen des ›primitiven Denkens‹ in Kretschmers Medizinischer Psychologie entnommen. Vgl. Kretschmer, Medizinische Psychologie, S. 68 f. Vgl. dazu auch Hahn, Zusammenfließende Eichhörnchen, S. 64. Lévy-Bruhl erwähnt Haare und Fingernägel als Requisiten ›primitiver‹ Zeremonien immerhin vier Mal. Er merkt z. B. an, sie könnten »von magischem Einfluß sein«, im Partizipationsdenken bestünde eine »Kontinuität« »zwischen den Nagelabfällen […] oder den Haaren eines Menschen und diesem Menschen selbst«. Lévy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker, S. 25, 107; vgl. auch S. 280, 292.  Lévy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker, S. 25.

Agathes ›mentalité primitive‹

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in die Tasche stecken« sollten, knüpft sie damit an eine Kindheitserinnerung an. Sie spielt darauf an, wie sie bereits als Kind ihren Bruder dazu anstiftete, mit ihr zusammen solche magischen oder mystischen Zeremonien abzuhalten. Schon damals fasste sie und nicht etwa der ältere Ulrich, der »bloß in den männlicheren Unternehmungen führte«, die entsprechenden ›Beschlüsse‹.¹²⁶ Sie beschloss, »daß sich jeder einen Fingernagel abschneiden solle, um ihn im Garten zu begraben«, wobei sie »auch noch von ihrem blonden Haar ein kleines Bündel zu den Nägeln« tat.¹²⁷ Wird in der Geschwisterbeziehung von Ulrich und Agathe das magische Partizipationsdenken des anderen Zustands also zeittypisch weiblich besetzt, sind selbstverständlich auch Ulrichs Bemühungen, den ›dark continent‹ dieses älteren Weltverhältnisses theoretisch auszuleuchten, Teil und Ausdruck dieses ›gendering‹. Agathe hat nicht bloß die »überschwänglichen Augenblicke, in denen« anders als »im ausgereiften Weltbild des zivilisierten Menschen« »eine Zweiteilung noch nicht auftritt«, »lebhafter, oder, wenn man will, auch abergläubischer« wahrzunehmen als ihr Bruder.¹²⁸ Sie verkörpert das prälogische Denken der Synthese geradezu superlativisch: »[W]äre sie selbstgewisser«, meint der Erzähler, dürfte sie durchaus »den Anspruch erheben«, sich in »diesem Sinn« »die unlogischeste aller Frauen zu nennen«.¹²⁹ Ulrichs Denken hingegen gleicht, wie schon Renate von Heydebrand festhielt, »eher dem Lévy-Bruhls über die Denkart der Primitiven, als dieser selbst«.¹³⁰ Im Gegensatz zu seinem »Doppelgänger im anderen Geschlecht« wechselt der Mann ohne Eigenschaften immer wieder in die geschlechtstypische Gegenposition des Wissenschaftlers und versucht, den veränderten Wahrnehmungsmodus des rätselhaften anderen Zustands begrifflich zu fassen und zu analysieren. Ulrich, der »weder Gedächtnis für Einzelheiten, noch für Wortlaut« haben soll,¹³¹ wendet sich damit einer Aufgabe zu, die Musil sowohl im Mann ohne Eigenschaften wie auch in seinen Essays als eine der größten Herausforderungen seiner Zeit erachtete. Die »Grunderlebnisse« des anderen Zustands mit möglichst »phantastische[r] Genauigkeit«¹³² zu erforschen, war Musil nicht zuletzt wegen der gewaltigen kollektiven Begeisterung beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein

 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 706.  Ebd.  Ebd., S. 857.  Ebd., S. 858.  Von Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, S. 110; ohne Hervorhebung des Originals.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, S. 702.  Ebd., S. 247.

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Andere Zustände

dringliches Desiderat. Er selber konnte sich dieses »mystische[] Gemeinsamkeitserlebnis« und »plötzliche, ungeheure Umsichfressen des Feuers«¹³³ nur als einen »Protest des Gefühls« in einem Zustand der moralischen Stagnation erklären, in dem »Verstand und Seele« aneinander vorbeigelebt haben.¹³⁴ Er deutete die Kriegseuphorie im Bezugsrahmen seiner »Schichtenanthropologie«¹³⁵ und diagnostizierte, die älteren Bedürfnisse der menschlichen Psyche, zumal die nach mystischen Identitätsgefühlen, seien in der »ungeheure[n] seelische[n] Ermattung«¹³⁶ des zerfallenden Kakaniens nicht mehr saturiert worden – oder hätten sich auf Irr- und Abwegen Befriedigung gesucht, bei den »bekannten Fetische[n] der Epoche, der Nation, der Rasse, des Katholizismus, des Intuitionsmenschen«.¹³⁷ Anstatt sich mit der »Phrase« zufriedenzugeben, den Krieg ein »religiöses Erlebnis« zu nennen, fordert Musil in Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit, sollte man sich deshalb präzis fragen, »was da eigentlich an einen doch längst entschlafenen Vorstellungs- und Gefühlsbereich so heftig seltsam poche«, warum »mystische Ureigenschaften«, welche die »Jahrhunderte verschlafen« hätten, »plötzlich so real erwachten wie die Fabriken und Kontore am Morgen«.¹³⁸ Dieser sowohl zur Handlungs- wie zur Entstehungszeit des Mann ohne Eigenschaften drängenden Materie also wendet sich Ulrich zu. Er widmet sich einem »Wissen«, von dem es im Roman heißt, es sei »bis vor kurzem noch so« gewesen »wie unser übriges Weltwissen ungefähr im zehnten Jahrhundert«.¹³⁹ In den Druckfahnenkapiteln macht er sich ausführliche gefühlspsychologische Aufzeichnungen und befasst sich anders als die bärtigen Wissenschaftler mit dem »Mangel einer seelischen Ordnung«, ohne den sich der Krieg Musils Meinung nach »niemals« »derart übermächtig« hätte »ausbreiten können«.¹⁴⁰ Damit wird dem Romanprotagonisten eine weitere gewichtige Eigenschaft jedes prototypischen männlichen Helden zuteil. Er erscheint eben als einer, »der dem kommenden Dasein den Lebensrahmen geben soll«, der wenn auch nicht als Garant, so wohl doch als Wegbereiter einer besseren, fortschrittlichen Zukunft figuriert. »Über die Tatsachen sich und Andern Gedanken zu machen«, schrieb Balázs in seinem gegen die ›impotenten‹ Literaten der Neuen Sachlichkeit gerichteten Aufsatz, »da  Musil, Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste, S. 1089.  Ebd., S. 1092.  Wolfgang Schraml: Relativismus und Anthropologie. Studien zum Werk Robert Musils und zur Literatur der zwanziger Jahre. München 1995, S. 222. Vgl. auch Hahn, Zusammenfließende Eichhörnchen, S. 59.  Musil, Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit, S. 1062.  Musil, Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste, S. 1087.  Musil, Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit, S. 1060.  Musil, Ansätze zu neuer Ästhetik, S. 1144.  Musil, Der deutsche Mensch als Symptom, S. 1367.

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beginnt die Männlichkeit, die wir meinen«.¹⁴¹ Die Krisenmänner im Mann ohne Eigenschaften geben in der Parallelaktion die Parole der Tat aus, die sie auf direktem Weg in den ›Unfall‹ des Kriegs führt. Ulrich hingegen bleibt in Musils Fortsetzungsnotizen auch in der bevorstehenden »antitheoretische[n]« Weltkriegs-»Zeit«: ein »Theoretiker. (Ein M. o. E. ist ein Theoretiker)«.¹⁴²

 Balázs, Männlich oder kriegsblind? S. 970; im Original keine Hervorhebung.  Musil, Der Mann ohne Eigenschaften., S. 1381 f.

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Anhang

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Abbildungsnachweise

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Abbildungsnachweise Abb. 1. Tödlicher Verkehrsunfall vor Musils Wiener Haustür, abgebildet in: Corino, Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten, S. 347. Abb. 2. Asthenischer Typus Kretschmers, abgebildet in: Kretschmer, Körperbau und Charakter, S. 15. Abb. 3. Athletischer Typus Kretschmers, abgebildet in: Kretschmer, Körperbau und Charakter, S. 18. Abb. 4. Karikatur aus der sozialdemokratischen Zeitung Glühlichter (1894/95), »Kapital schlägt sich, Kapital verträgt sich«, Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung, abgebildet in: Böck, »Kühl bis ans Herz hinan«, S. 275.

Register Ackerknecht, Erwin H. 138 Aesop 205 Allesch, Johannes von 57 Altfahrt, Margrit 39 Amann, Klaus 14 Anderson, Benedict 178 Arnheim, Simon Joel 156 Arntzen, Helmut 83 Ash, Mitchell G. 61 Aspetsberger, Friedbert 141 Aurnhammer, Achim 215 Bacci, Massimo Livi 53 Bachmann, Ingeborg 219 Bachofen, Johann Jakob 28, 34, 80–100, 103, 181 Badenberg, Nana 205 Baeumler, Alfred 90 Bahr, Hermann 108 Bal, Mieke 59 Balázs, Béla 73 f., 195, 228 f. Bamberger, Joan 100, 102 Barthes, Roland 100 f., 106, 130 Bauer, Wilhelm A. 203–206 Baur, Uwe 68 f. Beauvoir, Simone de 131 Behl, Carl F. W. 77, 80 Berghahn, Wilfried 159 Bering, Dietz 156, 192 Berner, Margit 150 Bernoulli, Carl Albrecht 80 Bertram, Georg 154 Betz, Thomas 208 Bickenbach, Matthias 41, 44, 48 Biere, Florentine 110 Binswanger, Otto 183 Blaß, Ernst 109 Blei, Franz 10, 110, 131 Blumhardt, Johann Christoph 143 Bogle, Donald 197, 199 Böhme, Hartmut 6 Bonacchi, Silvia 109 Bourdieu, Pierre 58 Boyarin, Daniel 146

Brabée, Gustav 204 Braun, Christina von 131 Breuer, Josef 92, 108 f., 111 f., 114 f., 117 Bringazi, Friedrich 200 Bronfen, Elisabeth 122 Bronnen, Arnolt 1 Bruckmüller, Ernst 39, 52, 171 Buber, Martin 219, 224 f. Büschel, Hubertus 36 Butler, Judith 99 Canetti, Elias 163 Castex, Elisabeth 3 Chamberlain, Houston Stewart 143 f., 148, 150, 155, 179–181 Charlemont, Alice 117 f., 123 Charlemont, Hugo 117 Cicero, M. Tullius 142 Connelly, Marc 197 f., 201 f., 207 Corino, Karl 7, 20, 34, 48, 69 f., 89, 109, 117 f., 123, 186, 192 f., 203 Courths-Mahler, Hedwig 10 Cowen, Roy C. 80 Dahn, Felix 181 Darwin, Charles 180 Davies, Peter 80, 82 Dietze, Gaby 24 Dilthey, Wilhelm 110 Dinklage, Karl 13 Döblin, Alfred 8, 10 Donath, Gustav 117, 123 Dyer, Richard 184 Meister Eckhart 4 f. Eichberg, Henning 70 Eichberger, Florian 208 Eichendorff, Joseph von 106 Eisele, Ulf 203 Eisner, Paul 12 Elsaghe, Yahya 8, 80, 82, 90, 153, 171 Erhart, Walter 3, 51 f., 59, 82, 89, 177 Ewers, Hanns Heinz 10

Register

Failla, Serena 82 Fanta, Walter 89, 156, 159, 219 Firla, Monika 204 Fischer, Samuel 76 Fitzinger, Leopold J. 204 Fleig, Anne 3, 9, 68 f., 105 Fleißer, Marieluise 68–71 Floßmann, Ursula 177 Fontane, Theodor 156 Foucault, Michel 6, 123 Frank, Gustav 80 Franz Josef I. 20 Frazer, James George 211 Freud, Sigmund 17, 74, 92, 104–109, 111–121, 123 f., 136, 145 –147, 155, 174, 212 Frevert, Ute 4, 23, 60 Frisé, Adolf 43 Gattinger, Karl 13 Geller, Jay 192 George, Stefan 82 Gerhard, Ute 176 Gerlach, Hans-Henning 40 Gess, Nicola 210 Geulen, Christian 139 Gilman, Sander L. 147, 150, 192 Gilmore, David 67 Ginzkey, Hermine 117 Girgensohn, Carl 219 Glagau, Otto 166, 191 Gobineau, Joseph-Arthur de 178 Goethe, Johann Wolfgang von 121 Gohar, Soheir 80 Göktürk, Deniz 9 Götz von Olenhusen, Irmtraud 81 Greenblatt, Stephen 99 Grégoire, Henri 205 Gross, Hanns 88 Guillemin, Bernard 11 Haas, Alois M. 5 Hahn, Marcus 213, 222, 226, 228 Hall, Murray G. 10 Hall, Stuart 201–203 Halperin, David M. 95 Hanisch, Ernst 41, 46, 48, 88, 90, 95, 168, 173, 188

249

Hartwig, Ina 3, 68, 215 Hau, Michael 61 Hauff, Hermann 125 Haupt, Heinz-Gerhard 49 Hauptmann, Gerhart 76–80, 82, 97 f., 101, 147 Hausen, Karin 128, 131, 173 Heckner, Stephanie 9 Heftrich, Eckhard 43 f., 82, 200 Heinemann, Rebecca 181 Hering, Sabine 53 Herodot 141 f., 144 Heschel, Susannah 155 Hesse, Hermann 80, 82 Hesse, Otto Ernst 12 Heydebrand, Renate von 222, 227 Hilscher, Eberhard 80 Hirschfeld, Ludwig 141 Hoffingott, Armin von 34 Hoffmann, Christoph 132 Hoffmann, E. T. A. 34, 37 Hofmannsthal, Hugo von 18, 22, 34, 82, 174 Hogen, Hildegard 141 Hohl, Peter 169 Homer 97, 141–144, 158, 182, 184 Honnef-Becker, Irmgard 116 Honold, Alexander 43–45, 51, 222 Howald, Stefan 189 Huebner, Friedrich Markus 1 f., 4 Hunkel, Ernst 181 Izenberg, Gerald N. 145 Jaensch, Erich Rudolf 214, 223 Jahnn, Hans Henny 1 Jakobson, Roman 226 Janik, Allan 182 Jerusalem, Wilhelm 213 Jonsson, Stefan 3, 6, 13, 56, 102, 191, 200 Juvenal 84 Kanz, Christine 217 Kaplan, Cora 77 Kappeler, Florian 3, 7 Kassung, Christian 48 Kazinczy, Ferenc 204 Keaton, Buster 196

250

Register

Keith, A. M. 77 Kerr, Alfred 7 f., 10 Kerschensteiner, Georg 224 Key, Ellen 140 Kimmich, Dorothee 17 f., 89 Kirchner, Friedrich 133 Klages, Ludwig 83, 93, 123, 181 Köhler, Ingo 156 Komlosy, Andrea 13 Koschorke, Albrecht 3, 9, 17, 46, 102, 186 Krafft-Ebing, Richard von 123 Kraft, Herbert 96 Kraus, Karl 46 Kretschmer, Ernst 26 f., 61–66, 113, 226 Kronberger, Silvia 122 Kümmel, Albert 58 Laermann, Klaus 156 Langbehn, Julius 157, 181, 185 Langer, Felix 31 Laqueur, Thomas 105 Large, David Clay 143, 180 Laukötter, Anja 148 Laurin, Arne 26, 62 Lavater, Johann Kaspar 157 Lazarsfeld, Sofie von 176 Le Rider, Jacques 2, 157 Lessing, Theodor 182 Lethen, Helmut 61 –63 Leucht, Robert 219 Lévi-Strauss, Claude 53 Lévy-Bruhl, Lucien 29, 36, 210–216, 222 –227 Lipps, Theodor 110 Livingstone, Charles 223 Livingstone, David 223 Lönker, Fred 109, 112 Lubich, Frederick Alfred 82 Lucas, Ernst Herbert 11 Lueger, Karl 145, 171 Luschan, Felix von 148–150, 180 Luserke, Matthias 4 Mach, Ernst 17 Maderthaner, Wolfgang 40 Maeterlinck, Maurice 140 Maierhof, Gudrun 53 Mann, Heinrich 169

Mann, Thomas 8, 52, 77 Marc, Franz 16 f. Marcuse, Ludwig 10 f., 65, 72 Marquardt, Franka 141, 153, 156, 166, 172, 183 Marx, Friedhelm 80 Mayer, Wolfgang 39 f. Mayreder, Rosa 47 Meidner, Else 165 Meier, Hanspeter 186 Mendelssohn, Peter de 76 Möbius, Paul J. 96 f., 137 Mommsen, Theodor 144 Moser, Dietz-Rüdiger 116 Moser, Walter 3, 6, 56 Mosse, George L. 22, 59, 102, 138, 178 Müller, Götz 91, 181 Müller, Lothar 18 Müller, Robert 8–10, 16, 46, 70 f. Musil, Martha 70 Musil, Robert passim Neymeyr, Barbara 44, 91, 123, 141, 185 Nietzsche, Friedrich 10, 37, 91, 212 Nipperdey,Thomas 184 Nübel, Birgit 38 Oesterreich, Konstantin 109 Oldenziel, Ruth 131 Oxaal, Ivar 166 Pekar, Thomas 86, 113 Person, Jutta 61, 63 Peterkin, Allan 128 Petry, Walther 72 Pfohlmann, Oliver 62, 108–112 Pichler, Caroline 205 Pidoll, Michael Freiherr von 41, 48 f. Pindar 224 Pinel, Philippe 123 Pinthus, Kurt 73 Platon 96, 122 Pohl, Peter C. 3, 93 Poliakov, Léon 138, 149, 179 Pott, Hans-Georg 147 Precht, Richard 6 Pulzer, Peter G. J. 178 Puschner, Uwe 181, 184

Register

Quatrefages, Armand de 138 Radkau, Joachim 17, 19, 40 f., 48 Raphael, Freddy 167 Rathenau, Emil 160 f. Rathenau, Walther 140, 147, 150 f., 154, 159–162, 165, 195 Rauch, Marja 3 Reichlin, Susanne 219 Rentsch, Eugen 34 Reynolds, Reginald 128 Rickenbacher, Sergej 111 Riedel, Wolfgang 47, 211 –213, 216 Rilke, Rainer Maria 82 Rilla, Paul 51, 58 Rohner, Melanie 184 Rosen, Georg 154 f. Rosenthal, Otto 70 Roth, Walter E. 223 Rotmann, Ulrike 79 f. Rousseau, Jean-Jacques 175 Rubin, Gayle 53, 103, 177 Said, Edward W. 18 Schaps, Regina 122 Scheffler, Karl 50 Schirrmacher, Arne 45 Schivelbusch, Wolfgang 40 Schlaffer, Heinz 34 Schliz, Alfred 153 Schlüter, Willy 181 Schmale, Wolfgang 3, 7, 12, 22 f., 60, 173, 176 Schmidt, Jochen 4 Schmitz-Emans, Monika 110 Schneider, Tobias 93 Schnitzler, Arthur 167, 172, 174 Schorske, Carl E. 145 Schößler, Franziska 24, 161 f., 166 f. Schraml, Wolfgang 228 Schulin, Ernst 160 Schulte, Regina 186 Schulze, Käthe 8 Schüttpelz, Erhard 210 Shakespeare, William 224 Simmel, Georg 38, 222 Sokrates 96, 98

251

Soliman, Angelo 204 f. Sombart, Werner 154, 160–162, 166–168, 191 Spengler, Oswald 21 Spreitzer, Brigitte 4 Sprengel, Peter 80, 141 Šrámek, Fráňa 14 Steinen, Karl von den 213 f. Stekel, Wilhelm 97 Stephan, Inge 84, 131 Stone, Lawrence 90 Strotmann, Rainer 135 Sturm, Hans 30 Thies, Ralf 50 Thiher, Allen 46 Thomé, Horst 122 Tramm, K. A. 45 Tylor, Edward 211 Tyrrell, William Blake 100 Virchow, Rudolf 138, 141, 147 f. Volkov, Shulamit 160, 178 Wagner, Richard 181 Webber, Andrew 3, 59, 89 Weber, Max 125, 166 Wedemeyer-Kolbe, Bernd 70 Weininger, Otto 89, 125 Weisenfeld, Judith 198 Weiss, Nelly 156 Weiss, Walter 43 f. Weitzmann, Walter R. 166 Weninger, Josef 150 Werfel, Franz 192 f. Werfel, Rudolf 193 Wilhelm II. 20 Wilke, Tobias 17 f., 89 Winter, Irene J. 143 Wolf, Norbert Christian 3, 7, 43, 74, 90, 113, 135, 158, 183, 194, 215 Worbs, Michael 82 Zivier, Georg 150 Zumbini, Massimo Ferrari 159 Zweig, Stefan 1, 128