Körperkultur und Moderne: Robert Musils Ästhetik des Sports 9783110210804, 9783110196436

This study investigates the presentation, evaluation, and literary appropriation of sport, physical education, and physi

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German Pages 370 Year 2008

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Table of contents :
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Inhalt
I. Einleitung
II. Sport und Moderne – Körper, Technik und Naturwissenschaften
III. Training für die Wirklichkeit – Die Avantgarde der Sportkultur: Der Querschnitt
IV. Sport als Medium der Kulturkritik: Als Papa Tennis lernte (1931)
V. Der Körper im Sport: Kunst und Moral des Crawlens (1932)
VI. Genie der Norm: Der Mann ohne Eigenschaften
Exkurs: Visuelle Kultur – Balázs und Musil
VII. Training für die Möglichkeit – Musils Ästhetik des Sports
Backmatter
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Körperkultur und Moderne: Robert Musils Ästhetik des Sports
 9783110210804, 9783110196436

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Anne Fleig Körperkultur und Moderne

Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von

Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer

Herausgegeben von

Ernst Osterkamp und Werner Röcke

51 ( 285 )

≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York

Körperkultur und Moderne Robert Musils Ästhetik des Sports

von

Anne Fleig

≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-019643-6 ISSN 0946-9419 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin

George Grosz, Der Neue Mensch (1921)  VG Bild Kunst, Bonn 2008

Fr Birthe

Der gute Schriftsteller Der gute Schriftsteller sagt nicht mehr, als er denkt. Und darauf kommt viel an. Das Sagen ist nmlich nicht nur der Ausdruck, sondern die Realisierung des Denkens. So ist das Gehen nicht nur der Ausdruck des Wunsches, ein Ziel zu erreichen, sondern seine Realisierung. Von welcher Art aber die Realisierung ist: ob sie dem Ziel przis gerecht wird oder sich geil und unscharf an den Wunsch verliert das hngt vom Training dessen ab, der unterwegs ist. Je mehr er sich in Zucht hat, und die berflssigen, ausfahrenden und schlenkernden Bewegungen vemeidet, desto mehr tut jede Kçrperhaltung sich selbst genug, und desto sachgemßer ist ihr Einsatz. Dem schlechten Schriftsteller fllt vieles ein, worin er sich so auslebt wie der schlechte und ungeschulte Lufer in den schlaffen und schwungvollen Bewegungen der Glieder. Doch eben darum kann er niemals nchtern das sagen, was er denkt. Es ist eben die Gabe des guten Schriftstellers, das Schauspiel, das ein geistvoll trainierter Kçrper bietet, mit seinem Stil dem Denken zu gewhren. Er sagt nie mehr, als er gedacht hat. So kommt sein Schreiben nicht ihm selber, sondern allein dem, was er sagen will, zugute. Walter Benjamin

Inhalt I.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 2 8 15

II.

Sport und Moderne – Kçrper, Technik und Naturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der moderne Kçrper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sport und Kçrperkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Physiologie des Sports . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Taylorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Psychotechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Angewandte Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Industrielle Psychotechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Arbeitswissenschaft in den zwanziger Jahren . . . . . . . . 6. Sport als moderne Lebensform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28 30 32 44 53 63 64 67 72 79

Training fr die Wirklichkeit – Die Avantgarde der Sportkultur: Der Querschnitt . . . . . . . . . . 1. Sportpresse und Sportkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Querschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. sthetik der Lebendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. sthetisierung des Boxens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Sport und Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Der Siegeszug des Sports . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85 89 97 104 112 121 131

Sport als Medium der Kulturkritik: Als Papa Tennis lernte (1931) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Denken der Bewegung – Simmel und Musil . . . . . . . . . . 2. „Geist des Sports“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sport und Mode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Tennis als Koketterie und Abenteuer . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der Prater als Passage der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . a) Landschaft fr berraschungen . . . . . . . . . . . . . . . . .

138 140 143 151 158 165 167

III.

IV.

Inhalt

b) Passagen im Prater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 c) Siegespltze ber die Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 V.

Der Kçrper im Sport: Kunst und Moral des Crawlens (1932) . 1. Geschichte des Schwimmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sport als psychotechnisches System . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Stil und Normierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Zukunft des Menschen – Denk, Unhold und Faust Magenschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Psychotechnik der Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

181 183 185 192

Genie der Norm: Der Mann ohne Eigenschaften . . . . . . . . . . 1. Mnner und Masken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Krise der Mnnlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Maske des Sports: Dandy und Boxer . . . . . . . . . . . . . c) Sport im Spiegel: Die Schwester . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Genie der Rennpferde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ulrichs Versuche, ein bedeutender Mann zu werden . b) Pferde und Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Genialitt und Durchschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Eigenschaftslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sport und Mystik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grenzflle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Europa auf dem Stier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Abenteurer des modernen Lebens . . . . . . . . . . . .

213 217 221 226 234 238 239 248 251 259 266 268 274 280

Exkurs: Visuelle Kultur – Balzs und Musil . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kolumbusfahrten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Gesicht der Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anstze zu neuer sthetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

285 288 293 299

VII. Training fr die Mçglichkeit – Musils sthetik des Sports . . VIII. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

303 315 322 322 331

VI.

200 205

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356

I. Einleitung Schlagbewegung im Boxtraining, Bei Betrachtung einer: Es sind nicht die tiefen sinnvollen Dinge, die das Leben hbsch machen, sondern die sinnlosen. Aus keinem Geist wre diese schçne Bewegung zu ersinnen gewesen, sie ist erst durch das alberne Drum u[nd] Dran des Sports entstanden. Robert Musil 1

In Musils Essay Kunst und Moral des Crawlens (1932) wirft ein Brief die Frage auf, ob Crawlen eine Kunst oder eine Wissenschaft sei.2 Der Briefwechsel macht ,Sport‘ als Gegenstand einer çffentlich gefhrten Debatte kenntlich, die gleichzeitig zu dessen Formierung und Wahrnehmung beitrgt. In diesem Rahmen spielen sowohl knstlerische Positionen, vertreten durch die Avantgarde in Theater, bildender Kunst und Literatur, als auch naturwissenschaftlich-technische Positionen eine zentrale Rolle, die von moderner Gesundheitsfrsorge bis hin zur psychotechnischen Optimierung des Menschen durch die Arbeitswissenschaft reichen. Ihren gemeinsamen Bezugspunkt bildet das wissenschaftlich begrndete Konzept des Maschinen- und Leistungskçrpers, dessen Ideal der bewegte Kçrper im Sport ist. Doch spitzt die Frage des Briefpartners in Musils Essay nicht nur die zeitgençssische Diskussion ber den Sport zu, sie verweist auch auf das sthetische Programm des Autors Musil selbst, dessen Erkenntnisanspruch sich ebenfalls auf die Formel ,Kunst oder Wissenschaft‘ bringen lsst.3 Ihre Beantwortung fhrt in den essayistischen Zwischenraum beider Gebiete, deren Grenzen sich unter den Bedingungen der Moderne 1 2

3

Robert Musil: Tagebcher, hg. von Adolf Fris, neu durchgesehene und ergnzte Aufl. Reinbek 1983 [1. Aufl. 1976], Bd. I, S. 732. Vgl. Robert Musil: Kunst und Moral des Crawlens, in: Robert Musil. Gesam melte Werke, hg. von Adolf Fris, Bd. 2: Prosa und Stcke, Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik, Reinbek 2000 [1978], S. 694 698, hier S. 694. Im Folgenden zitiere ich diesen Band unter Angabe der Sigle GW II. Zu Musils Begrndung der Kunst als eigene Erkenntnisform vgl. Roger Wil lemsen: Das Existenzrecht der Dichtung. Zur Rekonstruktion einer systemati schen Literaturtheorie im Werk Robert Musils, Mnchen 1984.

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Einleitung

zu verschieben beginnen. Diese Entwicklung greift Musil sowohl in inhaltlicher als auch formaler Hinsicht auf. Seine Inszenierung eines Briefwechsels fhrt vor, wie sich Erkenntnis im Wechselspiel der Gedanken vollzieht und das Denken neu konfiguriert. Musils Essayismus wird daher im Anschluss an Birgit Nbel „als Medium der Darstellung, Verschrnkung und Reflexion sthetischer und wissenschaftlicher Erkenntnisformen“ verstanden.4 Der Essay erscheint mithin als Spielform der Erkenntnis, die sich als reflektierende Haltung gegenber einem Leben mit Versuchscharakter erweist.5 Die Bedingungen dieses Lebens werden im Sport auf exemplarische Weise anschaulich. In ihm durchdringen sich technisch-naturwissenschaftliche Entwicklung, die Performativitt moderner sthetik und die Erfahrung der Kontingenz. Diese Verbindung von sthetischer und technischer Modernitt begrndet den bis heute ungebrochenen Siegeszug des Sports und macht ihn zu einem Paradigma der kulturellen Moderne. Dessen Bedeutung fr die Formierung des Subjekts hat Musil als erster deutschsprachiger Autor erkannt und reflektiert. Die Faszination durch den Sport und die scharfe Kritik des Sportbetriebes bilden daher zwei Seiten einer Medaille: sie schaffen die Grundlage fr Musils sthetik des Sports, die auf die Vernderung der modernen Lebenswelt zielt.

1. Ziele Als Paradigma sthetischer und technischer Modernitt ist Sport durch die Bewegung des Kçrpers definiert. Das Erlebnis des bewegten Kçrpers macht den Sport zu einer experimentellen, sthetischen Praxis, die den Ansatzpunkt fr Musils essayistische Reflexion bildet. Sie fhrt zum einen die sthetische Diskussion ber Bewegung fort, die mit der Sprachkritik der Aufklrung im 18. Jahrhundert einsetzt und ihren Hçhepunkt im

4 5

Birgit Nbel: Robert Musil Essayismus als Selbstreflexion der Moderne, Ber lin/New York 2006, S. 5. Zur Geschichte des Essays vgl. Christian Schrf: Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno, Gçttingen 1999, zum Verhltnis von Spiel und Er kenntnis bes. S. 16. Vgl. außerdem Ludwig Rohner: Der deutsche Essay. Ma terialien zur Geschichte und sthetik einer literarischen Gattung, Neuwied und Berlin 1966; Wolfgang Mller Funk: Erfahrung und Experiment. Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus, Berlin 1995.

Ziele

3

Werk Heinrich von Kleists (1777 – 1811) erreicht.6 Ihre Zielvorstellung ist das, so August Wilhelm Schlegel (1767 – 1845), in sich selbst bewegliche Kunstwerk.7 An diese Vorstellung knpft Musils sthetik des Sports unter allerdings radikal vernderten Bedingungen an. Grundlegend fr die folgende Untersuchung ist daher die Annahme, dass Musils Konzeption des bewegten Kçrpers, die seine sthetik des Sports begrndet, nur im Kontext der naturwissenschaftlich-technischen Entwicklung des 19. Jahrhunderts gedacht werden kann. Die Entstehung des Sports und die Entwicklung der Naturwissenschaften, insbesondere der Aufstieg der Physiologie und experimentellen Psychologie, sind nmlich ihrerseits unmittelbar miteinander verknpft. Die Rekonstruktion dieses Zusammenhangs ermçglicht es nicht nur, Musils sthetik des Sports systematisch zu entfalten, sondern auch die Ambivalenzen der kulturellen Moderne neu auszuleuchten. Die vorliegende Untersuchung verfolgt daher eine doppelte Zielsetzung: Sie analysiert zum einen den engen Zusammenhang von Sport und Wissenschaften, Technik und moderner Kultur, um damit die Grundlagen fr eine Kulturgeschichte des Sports zu schaffen. Mit diesem Zusammenhang legt sie gleichzeitig die Konstellation von Wissen und Wahrnehmung dar, die Musils Auseinandersetzung mit dem Sport formiert.8 Zum anderen zielt sie darauf, Musils sthetik des Sports zu entwickeln und als essayistische Verbindung von Erlebnis und Reflexion des bewegten Kçrpers zu profilieren. Wie die Analyse von Musils Essay Anstze zu neuer sthetik. Bemerkungen zu einer Dramaturgie des Films (1925) zeigt, liegt gerade in dieser Verbindung die Mçglichkeit, die bestehende Wirklichkeit zu verndern. Die zentrale These lautet daher, dass Musils sthetik des Sports darum kreist, der Moderne unter ihren eigenen Bedingungen zu entkommen Grundlage der Arbeit sind Musils Essays zum Sport9 und sein unvollendeter Roman Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32),10 zwischen 6 Zur sthetischen Konzeption und Diskussion von Bewegung im 18. Jahrhundert vgl. die grundlegende Untersuchung von Dirk Oschmann: Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist, Mnchen 2007. 7 Vgl. Oschmann, Bewegliche Dichtung, S. 11 f. 8 Zum Projekt einer Geschichte und Poetik des Wissens vgl. Joseph Vogl: Kalkl und Leidenschaft. Poetik des çkonomischen Menschen, Zrich, Berlin 2004, bes. S. 12 16; Gabriele Brandstetter/Gerhard Neumann (Hrsg.): Romantische Wissenspoetik. Die Knste und die Wissenschaften um 1800, Wrzburg 2004. 9 Vgl. Robert Musil: Als Papa Tennis lernte [1931], GW II, S. 685 691; ders.: Kunst und Moral des Crawlens; ders: Durch die Brille des Sports [1925/26 oder spter], GW II, S. 792 795; ders.: Randglossen zu Tennispltzen [1925/26 oder

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Einleitung

denen es vielfltige Bezge gibt. Die beiden wichtigsten Sport-Essays Als Papa Tennis lernte (1931) und Kunst und Moral des Crawlens (1932) erschienen in unmittelbarer Nhe zum Abschluss der ersten Teile des Romans im Berliner Magazin Der Querschnitt. 11 Es ist daher von einer diesen Texten gemeinsamen essayistischen Struktur auszugehen.12 Darber hinaus finden sich zahlreiche Bemerkungen zum Sport im Nachlaß zu Lebzeiten (1936), in Musils Tagebchern und Briefen13 sowie in seinem literarischen Nachlass, der ebenfalls herangezogen wurde.14 Um die skizzierte Zielsetzung zu verfolgen, vollzieht die folgende Untersuchung drei große Schritte: In einem ersten Schritt wird der Zusammenhang von Wissenschaft und Sport, Technik und Kultur entfaltet und damit der breite, interdisziplinre Bezugsrahmen aufgespannt, in dem sich Musils Texte bewegen. In Auseinandersetzung mit den wichtigsten Arbeiten zur Kçrpergeschichte15 erschließt die Untersuchung

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12 13

14 15

spter], GW II, S. 795 797; ders.: Der Praterpreis [1925/26 oder spter], GW II, S. 798/99. Entgegen den Gepflogenheiten der Musil Forschung werde ich im Folgenden alle Texte unter Angabe des Titels und Sigle zitieren, damit Zusam menhnge, aber auch Vernderungen und Unterschiede innerhalb des Werkes erkennbar bleiben. Vgl. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, hg. von Adolf Fris, Bd. I: Erstes und Zweites Buch, Bd. II: Aus dem Nachlaß, Reinbek 1987 [1978]. Den Roman zitiere ich im Folgenden nach dieser Ausgabe mit Sigle MoE und Sei tenzahlen im Text. Vgl. Robert Musil: Als Papa Tennis lernte, in: Der Querschnitt 11 (1931), H. 4, 247 252; ders.: Kunst und Moral des Crawlens, in: Der Querschnitt 12 (1932), H. 6, S. 413 416. Obwohl diese beiden Essays in der Werkausgabe als ,Glossen‘ bezeichnet werden, spreche ich von Essays. Dies gilt auch fr die Fragment gebliebenen Texte. Als Spielform der Erkenntnis lçst Musils Essayismus Gat tungsgrenzen auf und trgt seinen experimentellen Inhalten Rechnung. Dies wird in Als Papa Tennis lernte beispielsweise nicht nur durch die mrchenhafte berschrift, sondern auch durch die essayistische Konzeption einer erzhler hnlichen Vaterfigur, in Kunst und Moral des Crawlens durch die Fiktion des Briefwechsels unterstrichen. Vgl. dazu auch Nbel, Robert Musil, S. 8. Vgl. Robert Musil: Nachlaß zu Lebzeiten [1936], GW II, S. 471 562; ders.: Briefe 1901 1942, hg. von Adolf Fris unter Mithilfe von Murray G. Hall, Reinbek 1981, Bd. I: Briefe 1901 1942, Bd. II: Kommentar, Register; ders.: Tagebcher, hg. von Adolf Fris, neue durchgesehene und ergnzte Aufl. Reinbek 1983 [1. Aufl. 1976], Bd. I: Tagebcher, Bd. II: Anmerkungen, Anhang, Re gister. Vgl. Robert Musil: Der literarische Nachlaß, hg. von Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl und Adolf Fris, Reinbek 1992 [CD ROM]. Der Geschichte des Kçrpers im 19. Jahrhundert ist in den letzten zwanzig Jahren die Aufmerksamkeit verschiedener Disziplinen zuteil geworden. Im Anschluss an

Ziele

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zeitgençssische Quellen aus dem Bereich der Militr- und Sportmedizin, der Kçrperkultur und der entstehenden Arbeitswissenschaft. Sie zeigt, dass der Sport zum Fluchtpunkt jener Modernisierungsprozesse wird, die an der Verwissenschaftlichung und Rationalisierung des Kçrpers ansetzen. Besonders deutlich erweist sich der enge Zusammenhang zwischen Sport und industrieller Arbeit in Frederick W. Taylors (1856 – 1915) System der wissenschaftlichen Betriebsfhrung. Um die zentralen Aspekte des avantgardistischen Sportdiskurses herauszuarbeiten und Musils Sport-Essays im Licht der Neuen Sachlichkeit zu erhellen, werden darber hinaus smtliche Jahrgnge des von der Forschung weitgehend unerschlossenen Magazins Der Querschnitt bis 1933 systematisch ausgewertet. In einem zweiten Schritt werden Musils Essays zum Sport analysiert und auf ihr utopisches Potenzial befragt, um Umrisse seiner sthetik erkennbar zu machen. Der bewegte Kçrper im Sport ist fr Musil sowohl Gegenstand der Darstellung als auch Medium der Reflexion. Seine Auseinandersetzung mit dem Sportgeschehen basiert auf dem Versuch, die Przision der sportlichen Bewegung in den Modus essayistischer Reflexion zu transformieren. Das Denken der Bewegung und das Denken als Bewegung gehen so eine produktive Verbindung ein. Wesentliches Merkmal dieser doppelten Bewegung ist das Zusammenspiel von Rationalitt und Hingabe, von Training und unbewusstem Erleben. Diese die Arbeiten von Michel Foucault wurde der Kçrper zunchst als historischer Gegenstand, als Einschreibeflche kultureller Normen, Muster und Disziplinie rungen, spter auch als historischer Akteur im Modernisierungsprozess entdeckt. Vgl. Catherine Gallagher/Thomas Laqueur (Hrsg.): The Making of the Modern Body. Sexuality and Society in the Nineteenth Century, Berkeley 1987; Michel Feher (Hrsg.): Fragments for a History of the Human Body, 3 Bde., New York 1989; Richard van Dlmen (Hrsg.): Erfindung des Menschen. Schçpfungs trume und Kçrperbilder 1500 2000, Wien, Kçln, Weimar 1998. Zum Beginn der deutschen Debatte vgl. Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hrsg.): Die Wiederkehr des Kçrpers, Frankfurt/Main 1982; zur Einfhrung vgl. Maren Lorenz: Leibhaftige Vergangenheit. Einfhrung in die Kçrpergeschichte, T bingen 2000; zur Entwicklung der interdisziplinren Forschung vgl. den aus fhrlichen Forschungsbericht von Ute Planert: Der dreifache Kçrper des Volkes: Sexualitt, Biopolitik und die Wissenschaften vom Leben, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), H. 4, S. 539 576. Zuletzt hat die Geschichte des Kçrpers vor allem durch die großangelegte Untersuchung von Philipp Sarasin Kontur gewonnen, die den Hygiene Diskurs und die aufklrerische Konzep tualisierung von Gesundheit in den Blickpunkt rckt. Vgl. Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Kçrpers 1765 1914, Frankfurt/Main 2001.

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Einleitung

Konzeption des Sports kann mit Bezugnahme auf Georg Simmel (1858 – 1918)16 als Muster sthetischer Selbstreflexion bestimmt werden.17 Simmels essayistische Kulturtheorie erweist sich dadurch nicht nur als wichtiger Bezugsrahmen fr Musils Modernekritik, sondern profiliert auch dessen kategoriale Bestimmungen. Musils Konzeption und Kritik des Sports wird schließlich im dritten Schritt auf seinen Roman Der Mann ohne Eigenschaften bezogen. „Durch die Brille des Sports“18 ergeben sich insbesondere fr die Mnnlichkeitskonstruktion des Protagonisten Ulrich, das Programm der Eigenschaftslosigkeit sowie den Entwurf des Urlaubs vom Leben neue Deu16 Simmel gilt heute aufgrund der von ihm gewhlten Themen und seiner es sayistischen Methode als einer der wichtigsten Theoretiker der Moderne und als „Grndervater“ der Soziologie. Vgl. David Frisby: Fragmente der Moderne. Georg Simmel Siegfried Kracauer Walter Benjamin, Rheda Wiedenbrck 1989 [Oxford 1986], S. 46; Klaus Lichtblau: Georg Simmel, Frankfurt/Main 1997, S. 11. Als Kulturphilosoph setzte Simmel die Loslçsung der Philosophie von ihren klassischen Gegenstnden in Gang, indem er sein Denken um kon krete Dinge kreisen lsst, deren unmittelbar sthetischen Reiz er gleichwohl systematisch nachgeht. In diesem Prozess wird der Essay als Form zur inhaltli chen und methodischen Herausforderung, da er auch vermeintlich nebensch liche Phnomene wie die Mode, das Gesicht, die Koketterie oder das Abenteuer in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rckt. Vgl. Elisabeth Lenk: Wie Georg Simmel die Mode berlistet hat, in: Silvia Bovenschen. (Hrsg.): Die Listen der Mode, Frankfurt/Main 1986, S. 415 437, hier S. 419. 17 Bezge zwischen beiden Autoren hinsichtlich der Form des Essays und der damit verbundenen Analyse der modernen Kultur sind immer wieder festge stellt, aber noch nicht systematisch untersucht worden. Die vielfltigen Bezge zwischen Simmel und Musil hat erstmals Birgit Nbel herausgearbeitet. Sie betont besonders die „multiplikatorische Funktion“ von Simmels Denken und weist darauf hin, dass die bisherige Forschung vor allem das essayistische Denken und Leben Ulrichs als Großstdter und Mann ohne Eigenschaften in einen Zusammenhang mit Simmels Essayistik gerckt hat. Vgl. Nbel, Robert Musil, S. 86 99. Zu den Bezgen zwischen Simmel und Musils Roman vgl. Richard David Precht: Die gleitende Logik der Seele. sthetische Selbstreflexivitt in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, Stuttgart 1996, S. 110 115; Wolfgang Mller Funk: Krieg in Mitteleuropa. Robert Musil als Kronzeuge der europischen Katastrophe, in: Jirˇ Munzar/Frantisˇek Herman (Hrsg.): Robert Musil. Ein Mitteleuroper, Brnn 1994, S. 73 81, hier S. 74; 79. Elisabeth Lenk vergleicht Ulrich mit Simmel in seiner Eigenschaft als Mçglichkeitsdenker (und Dandy). Vgl. Lenk, Wie Georg Simmel die Mode berlistet hat, S. 428. Auch Klaus Christian Kçhnke sieht Simmel in Ulrich gleichsam wiederkehren. Vgl. Klaus Christian Kçhnke: Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen, Frankfurt/Main 1996, S. 470. 18 Vgl. Musil, Durch die Brille des Sports, GW II, S. 792 795.

Ziele

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tungsperspektiven. Erlebnis und Kritik des Sports tragen dazu bei, die die Wahrnehmung strukturierenden Gegenstze von Geist und Kçrper, Innen und Außen, Ich und Welt im Horizont der Mçglichkeit einer anderen Wirklichkeit aufzuheben. Durch diese Konzeption ist der Sport mit dem zentralen Thema des Romans – der berwindung des normalen Bewusstseinszustands zugunsten eines ,anderen‘ Zustands – unmittelbar verbunden. Sie zielt auf den in Anstze zu neuer sthetik formulierten Anspruch an die Kunst, die Formeln der Wahrnehmung zu verndern und zu einer neuen Erfahrung zu verdichten. Um diesen Anspruch einzulçsen, sind innerhalb von Musils Gedankengebude noch einmal drei Ebenen der Sportreflexion zu unterscheiden: Kulturkritik, Kçrpertechnik und sthetik. Der Sportbetrieb erscheint in seinen Texten als Verkçrperung der modernen Kultur, die zum einen durch Flchtigkeit, Sichtbarkeit und Ereignishaftigkeit, zum anderen durch Messbarkeit, Beschleunigung und Steigerung charakterisiert ist. Wie die Frage ,Kunst oder Wissenschaft?‘ andeutet, verbinden sich im Sport sthetisierung und Rationalisierung der Lebenswelt in einer Weise, die den Sport zum Paradigma der modernen Kultur macht. Musils Sportkritik beinhaltet insofern immer auch die Kritik der Moderne. Als Kçrpertechnik erlaubt das subjektive Erleben des Sports, die Lebenswelt der Moderne zu transzendieren. In solchen Momenten der Entrckung scheint die Mçglichkeit einer anderen Wirklichkeit auf, die als technisch gesteigertes, individuelles Erleben der Moderne unter ihren eigenen Bedingungen zu entkommen sucht. Aufgrund dieser Mçglichkeit muss in Musils kritischer Auseinandersetzung mit dem Sport zwischen dem Sport als individueller Kçrperpraxis und dem Sport als Phnomen der entstehenden Massenkultur unterschieden werden. Diese Unterscheidung ist schließlich vor allem fr den dritten Aspekt der Musilschen Sportkritik entscheidend. Denn seine Sportreflexion zielt nicht auf eine feuilletonistische Kommentierung einzelner Sportereignisse, wie sie fr den Sportdiskurs der zwanziger Jahre kennzeichnend ist, sondern auf ein Muster essayistischer Kritik, die als Gedankenbewegung den bewegten Kçrpern im Sport folgt und in deren Przision ein Vorbild hat. Auch diese Verschrnkung von sthetischer und wissenschaftlicher Erkenntnis scheint in der eingangs zitierten Frage auf, ob Sport eine Kunst oder Wissenschaft sei. Sie begrndet die Auszeichnung des Sports als sthetisch bestimmte Form des Erlebens. Um Musils weitreichende Durchdringung des Phnomens Sport zu erfassen, verzichtet die Arbeit auf einen systematischen Vergleich mit den Sportdarstellungen anderer Autorinnen und Autoren der zwanziger Jahre.

8

Einleitung

Sie konzentriert sich auf Musil und die Kontextualisierung seines Werks. Die vorliegende Untersuchung leistet damit einen Beitrag zur Kulturgeschichte des Sports, zu Theorie und sthetik der kulturellen Moderne und zur Musil-Forschung, deren kulturwissenschaftliche ffnung schon çfter verlangt,19 aber nur selten eingelçst wurde.

2. Voraussetzungen Die sthetische Konzeptualisierung von ,Bewegung‘ hngt mit der Herausbildung einer neuen Bewegungskultur seit dem 18. Jahrhundert unmittelbar zusammen. Gesundheitsbewusstsein und Vergngen fhrten insbesondere das aufgeklrte Brgertum zunehmend ins Freie. In Wien fanden diese Formen der Bewegung vor allem im Prater statt, dem ehemaligen kaiserlichen Jagdrevier. Um seinen Anspruch auf aufgeklrte Herrschaft zu untermauern, hatte Joseph II. (1741 – 1790) den Prater 1766 fr die gesamte Bevçlkerung çffnen lassen. In seiner diesbezglichen Erklrung heißt es: Es wird anmit jedermanniglich kund gemacht, wasmaßen Se. Kaiserl. Majest. aus allerhçchst zu dem hiesigen Publico allermildest hegenden Zuneigung Sich allergndigst entschlossen und verordnet haben, daß knftighin und von nun an zu allen Zeiten des Jahrs und zu allen Stunden des Tags, ohne Unterschied jedermann in den Bratter sowohl als auch in das Stadtgut frey spazieren zu gehen, zu reiten und zu fahren, und zwar nicht nur in der Hauptallee, sondern auch in den Seitenalleen, Wiesen, Pltzen (die allzu abgelegenen Orte und dicke Waldungen, wegen sonst etwa zu besorgenden Unfugs und Mißbrauch alleinig ausgenommen) erlaubet, auch Niemanden verwehrt sein soll, sich daselbst mit Ballenschlagen, Kegelscheiben und anderen erlaubten Unterhaltungen eigenen Gefallens zu divertieren: wobey man sich aber versiehet, daß niemand bey solcher zu mehrerer Ergçtzlichkeit des Publici allergndigst verstattenden Freyheit sich gelusten lassen werde, eine Unfglichkeit, oder sonstig unerlaubte Ausschweifungen zu unternehmen, und anmit zu einem allerhçchsten Mißfallen Anlaß zu geben.20 19 Matthias Luserke hat in seiner Einfhrung zu Robert Musil schon 1995 fest gestellt, dass die Musil Forschung in eine „Sackgasse“ geraten sei. Vgl. Matthias Luserke: Robert Musil, Stuttgart, Weimar 1995, S. 2. Aus dieser Sackgasse kçnnen nur neue Fragestellungen und Kontextualisierungen heraus helfen. In diesem Sinne ist auch die mit dem 27. Jahrgang 2001/2002 erfolgte Erweiterung des Musil Forums in Studien zur Literatur der klassischen Moderne zu verstehen. 20 Erklrung vom 7. April 1766, zitiert nach Bertrand Michael Buchmann: Der Prater. Die Geschichte des Unteren Werd, Wien u. Hamburg 1979, S. 61.

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Und tatschlich fungiert der Prater seitdem als Freiraum, Spielsttte und Schauplatz sportlicher Unterhaltung. Der Aufenthalt im Prater erfreute sich auf Anhieb grçßter Beliebtheit und machte diesen innerhalb weniger Jahre zum zentralen Wiener Ort populren Vergngens. Hier wurde gekegelt und Federball gespielt, es gab eine mechanische Schlittenfahrt, Glckshfen, Wachsfigurenkabinette, Theaterbuden und viele andere Formen der Zerstreuung.21 Auch die ersten Wiener Veranstaltungen mit explizit sportlichem Charakter fanden im Prater statt. So errichtete Toldy Janos 1851 auf der Feuerwerkswiese ein Gebude fr Ring- und Boxkmpfe.22 Zu den regelmßigen Veranstaltungen gehçrte seit dem 19. Jahrhundert das traditionelle Lauferrennen, das die sogenannten Wiener ,Laufer‘ vormals auf einer Strecke zwischen Mariahilf und Mariabrunn in unregelmßigen Abstnden miteinander ausgetragen hatten.23 Mit Genehmigung der Polizei wurden diese Wettlufe ab 1822 zu einer jhrlich am 1. Mai im Prater stattfindenden Veranstaltung, die nun das traditionelle Mai-Fest einlutete.24 Zehn bis zwçlf herrschaftliche Laufer mussten in ihrer prunkvollen Livree auf der Hauptallee bis zum Lusthaus um die Wette laufen, dort eine Trophe entgegennehmen und dann umdrehen. Dabei wurden sie von Pferdewagen begleitet, denn nicht selten brach ein Lufer vor Erschçpfung zusammen. Erst die politischen Vernderungen des Vormrz machten dem Lauferberuf ebenso wie dem 21 Vgl. Buchmann, Der Prater, S. 64; vgl. Lutz Musner/Wolfgang Maderthaner: Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt/Main, New York 1999, S. 118. 22 Vgl. Buchmann, Der Prater, S. 70. 23 Die ursprngliche Aufgabe der Wiener Laufer bestand darin, allein oder zu zweit vor den Karossen ihrer Herrschaft herzulaufen und fr ein zgiges Vorankom men zu sorgen; im Dunkeln trugen sie dem Wagen Fackeln oder Windlichter voran. Gelegentlich hatten sie außerdem die Aufgabe, Botschaften zu berbrin gen. Durch die sich bessernden Straßen und Postverhltnisse ging ihre Bedeu tung im Verlauf des 18. Jahrhunderts zurck, sie blieben aber auch zur De monstration sozialen Standes im Amt, waren zunftmßig organisiert und verfolgten eine eigenstndige Ausbildung. Vgl. Hannes Strohmeyer: Beitrge zur Geschichte des Sports in sterreich. Gesammelte Arbeiten aus vier Jahrzehnten, Wien 1999, S. 299 f. Vgl. zur Geschichte und Bedeutung der Wiener Laufer grundlegend Stephan Oettermann: Lufer und Vorlufer. Zur Kulturgeschichte des Laufsports, Frankfurt/Main 1984. 24 Diese Datierung weist auf die frhneuzeitliche Tradition sportlicher Veranstal tungen zurck, die in lokalen Zusammenhngen als Begleitprogramm fr Mes sen, Jahrmrkte oder jahreszeitliche Feste ausgetragen wurden. Vgl. Christiane Eisenberg: „English Sports“ und deutsche Brger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800 1939, Paderborn, Mnchen, Wien 1999, S. 25.

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Lauferrennen ein Ende. 1847 fand der letzte Lauf im Prater statt. Parallel dazu hatten sich aber bereits Schaulufe einzelner Schnell- oder Dauerlufer etabliert, die vor zahlendem Publikum im Prater auftraten. Fr die Kulturgeschichte des modernen Sports sind diese Lufe deshalb interessant, weil sie sowohl artistische – z. B. traten einige Lufer als Stelzenlufer auf – als auch sportliche Merkmale aufweisen, die in Richtung Leichtathletik deuten. So wurde bereits die Zeit der Lufe gemessen, auch wenn es im Laufe der Jahre noch nicht zu einem Vergleich der Laufzeiten kam, der sportliches Leistungsdenken – etwa im Sinne eines Streckenrekords – erkennen lsst.25 Dennoch zeigt sich der allmhliche Wandel im Zeitbewusstsein daran, dass im Laufe des 19. Jahrhunderts vor allem solche Sportarten populr wurden, die einen Wettkampf um die Zeit beinhalteten wie Rudern, Segeln, Schwimmen, Eislaufen, Rodeln oder Radfahren.26 Zeitmessung und genauer Leistungsvergleich machten die sportlichen Darbietungen besonders spannend. Der Publikumszuspruch des 19. Jahrhunderts weist jedenfalls unmissverstndlich darauf hin, dass der entstehende Wettkampfsport immer auch Zuschauersport war, der die Unterhaltungsbedrfnisse vieler Menschen stillte.27 Die Grenzen zwischen Sport, Zirkus und sonstigen Vorfhrungen, die auf kçrperlicher Leistung basierten, waren bis ins 20. Jahrhundert hinein fließend. Athleten, Ringkmpfer und ,starke Mnner‘ zeigten sich um 1900 „regelmßig im Prater bei Zirkusvorstellungen, im Unterhaltungsprogramm bei Festveranstaltungen und in eigens organisierten Ringkampfkonkurrenzen“.28 Auch Athletinnen stellten ihre Kraft wiederholt zur Schau.29 Veranstaltungen dieser Art nahmen – wie auch der Wandel des Lauferrennens zeigt – volkstmliche Unterhaltungsformen der Jahrmarktskultur auf, die durch den Leistungsgedanken des Wett25 Vgl. Strohmeyer, Beitrge zur Geschichte des Sports, S. 301. 26 Vgl. Henning Eichberg: Leistung, Spannung, Geschwindigkeit. Sport und Tanz im gesellschaftlichen Wandel des 18./19. Jahrhunderts, Stuttgart 1978, S. 60. 27 Vgl. Strohmeyer, Beitrge zur Geschichte des Sports, S. 303. 28 Ursula Storch: Das Pratermuseum. 62 Stichwçrter zur Geschichte des Praters, Wien 1993, S. 18. 29 Vgl. Storch, Pratermuseum, S. 18. Max Schmeling beschreibt in seinen Erin nerungen, dass Boxauftritte noch nach dem Ersten Weltkrieg „nahe der Rum melpltze und Jahrmrkte“ stattfanden und die Boxer zum fahrenden Volk ge hçrten. Vgl. Max Schmeling: Erinnerungen, Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1977, S. 43. Boxkmpfe im Berlin der zwanziger Jahre fanden beispielsweise auch im „Lunapark“ statt, der mit dem Wurstelprater durchaus vergleichbar aus einem Netz von Gassen bestand, in denen Schießbuden, Karussels, Akro batenzelte und Lokale versammelt waren. Vgl. Schmeling, ebd., S. 56.

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kampfs modernisiert wurden. Sie trugen damit gleichzeitig zur Popularisierung physiologisch begrndeter Kçrpernormen bei.30 In verschiedenen Großstdten nutzten kommerzielle Sportanbieter das Publikumsinteresse und machten seit der Jahrhundertwende den Show-Sport zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor, der neben andere Unterhaltungsangebote der kulturellen Moderne trat. Die meisten modernen Sportarten kamen im 19. Jahrhundert von England auf den Kontinent. Als Praxis eigener kçrperlicher Bewegung verbreitete sich der Sport im deutschsprachigen Raum zunchst an Orten, die durch Handelsbeziehungen, dynastische Kontakte oder die ,Grand Tour‘ adliger gentlemen von Englndern frequentiert wurden. In Handelsstdten wie Hamburg oder Bremen, Residenzstdten wie Hannover, Dresden oder Wien und Kurorten wie Bad Homburg oder Wiesbaden waren schon im 18. Jahrhundert sogenannte ,Englnderkolonien‘ entstanden, von denen der moderne Sport seinen Ausgang nahm. Impulse fr den Sport gingen darber hinaus von englischen Touristinnen und Touristen aus, die immer hufiger das Festland besuchten, von Studenten an den neu gegrndeten Technischen Hochschulen und von kommerziellen Interessenten.31 Im Zuge dieser Entwicklung trat der Sport neben das ,deutsche‘ Turnen und begann sich als eigenstndiger Bereich zu etablieren. Zwar dominierte das Turnen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts das Feld der Leibesbungen in Deutschland und sterreich, zu denen Laufen, Springen, Stemmen, Klettern sowie Fechten, Ringen und Schwimmen gehçrten, gleichzeitig aber trugen die modernen Elemente des Sports – Wettkampf und Leistungsvergleich – zu einer Versportlichung der traditionellen Leibesbungen bei, die schließlich auch die Turnbewegung erfasste.32 Trotz dieser Annherung unterschied sich das Turnen durch 30 Vgl. Bernd Wedemeyer: Muskelwettbewerbe und Modellathleten Zum Ver hltnis zwischen Mnnerkçrpern, Kunst und ffentlichkeit im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Norbert Gissel (Hrsg.): ffentlicher Sport: die Darstellung des Sports in Kunst, Medien und Literatur, Hamburg 1999, S. 37 53, hier S. 46. 31 Vgl. Eisenberg, „English Sports“, S. 155. 32 Nach Ansicht von Stefan Nielsen sollte die Annahme von aus England impor tierten Sportarten daher relativiert werden, da nicht die einzelnen Spiele und Bewegungsmuster selbst, sondern ihre Versportlichung sich dem englischen Einfluss verdanke. Die meisten der englischen Sportarten seien in Gestalt der Leibesbungen in Deutschland prsent gewesen. Vgl. Stefan Nielsen: Sport und Großstadt 1870 bis 1930: komparative Studien zur Entstehung brgerlicher Freizeitkultur, Frankfurt/Main, Berlin, Bern u. a. 2002, S. 348; zum Verhltnis

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seine politische Zielsetzung grundstzlich vom modernen Sport, der auf die reine Leistung und den Leistungsvergleich zielt. Fr den Sport als kçrperliche Praxis nennt Robert Hessen in einer zeitgençssischen Darstellung drei Kriterien: Erstens wird jeder echte Sport an freier Luft um seiner selbst willen betrieben. Zweitens ist ihm eigentmlich das Streben nach Vervollkommnung, nach Beherrschung der betreffenden Technik. Drittens will er diese Technik auch erproben im Ringen um die Meisterschaft, im selbstndigen und freien Antreten zum Wettspiel.33

Bis heute gelten Regelhaftigkeit, Konkurrenz, Wettkampf und Leistungsstreben als wesentliche Merkmale des Sports. Regeln machen die sportlichen Leistungen im Wettkampf vergleichbar und bedingen gleichzeitig die spezifische Rationalitt des Sports. Diese macht den Sport zum Betrieb, zu dem Trainer, Schiedsrichter etc. gehçren. In diesem Zusammenhang hat bereits Heinz Risse (1898 – 1989) in seiner Soziologie des Sports (1921) darauf hingewiesen, dass die Rationalisierung des Apparats der Rationalisierung der Kçrper vorausgeht.34 Hinzu kommt die Zweckfreiheit der sportlichen Aktivitt, die den Sport als Erscheinungsform von allen Formen kçrperlicher Arbeit unterscheidet. Vielmehr dient Sport der Unterhaltung und dem Vergngen.35 In diesem Sinne lautet 1905 der Eintrag im Grimmschen Wçrterbuch: „Sport, m. leibesbung als spiel und zum vergngen; ein englisches wort, das die vergngungen des feldes, der jagd, wettrennen, schwimmen und sonst allerlei kurzweil nach festen regeln ausgefhrt, bedeutet […].“36 Ob das Vergngen aus der eigenen Bettigung oder auch aus dem Zuschauen resultiert, geht aus dieser Bestimmung allerdings nicht hervor.

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von Turnen und Sport vgl. auch Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866 1913, Bd. 1: Arbeitswelt und Brgergeist, 3. durchges. Aufl. Mnchen 1993, S. 172 f. Robert Hessen: Der Sport, Frankfurt/Main 1908 (= Die Gesellschaft. Samm lung sozialpsychologischer Monographien. Herausgegeben von Martin Buber, Bd. 23), S. 5. Vgl. Heinz Risse: Soziologie des Sports, Berlin 1921 (Reprint der 1. Aufl. Berlin 1921, Mnster 1979). Zur Terminologie vgl. Nielsen, Sport und Großstadt, S. 71; Arnd Krger: „Vom Ritual zum Rekord“. Auf dem Weg zur Sportleistungsgesellschaft, in: Hans Sarkowicz (Hrsg.): Schneller, hçher, weiter. Eine Geschichte des Sports, Frank furt/Main 1999, S. 82 95, hier S. 92. Deutsches Wçrterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 16, Leipzig 1905 (Nachdruck der Erstausgabe, Mnchen 1984), Sp. 2688.

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Ende des 19. Jahrhunderts war die zeitgençssische Deutung des Sport-Begriffs vor allem von der Frontstellung zwischen Turnen und Sport geprgt.37 Der englische ,Sport‘ fungierte auch als Gegenbegriff zum deutschen ,Turnen‘.38 Fr seine Anhngerinnen und Anhnger bezeichnete ,Sport‘ alles Moderne und Fortschrittliche, im Unterschied zum uniformen, gemeinschaftsfçrdernden Turnen erschien er als Ausdrucksmçglichkeit der freien Persçnlichkeit.39 Den traditionellen Turnern galt er hingegen als Inbegriff berzogener Rekordsucht, der als Schimpfwort benutzt wurde.40 Vor allem aber unterschied sich das Turnen durch seine politische Zielsetzung vom Sport, der auf den reinen Leistungsvergleich

37 Das Turnen entwickelte sich in den deutschen Staaten im 19. Jahrhundert pa rallel zur Modernisierung des Sports in Großbritannien. Der ,Erfinder‘ des Turnens, Friedrich Ludwig Jahn, konnte dafr auf die Leibesbungen der deutschen Philanthropen zurckgreifen. Nach der preußischen Niederlage gegen Napoleon war das Turnen Teil der patriotischen Befreiungsbewegung. Zwischen 1811 und 1819 entwickelte sich das Turnen zu einem umfassenden Spiel und Bewegungsprogramm, das auf Wehrhaftigkeit und Kçrperertchtigung zielte. Volks und Nationalerziehung gingen dabei Hand in Hand. Zur Geschichte der Turnbewegung vgl. den berblick bei Eisenberg, „English Sports“, S. 120 144. In sterreich entstanden Vereine in der Tradition des deutschen Turnens seit 1864; als Schulfach wurde ,Turnen‘ 1869 in Volks und Realschulen, 1872 an den Gymnasien eingefhrt. Vgl. Hannes Strohmeyer: sterreich, in: Geschichte der Leibesbungen, hg. von Horst Ueberhorst, Bd. 5, Berlin, Mnchen, Frankfurt/Main 1976, S. 285 310, hier S. 291 294. 38 Der Begriff ,Turnen‘ ist ein von Jahn geschaffenes Kunstwort, das auf sprach geschichtliche Studien zurckgeht und ,gymnastische bungen treiben‘ meint. Es ist mit dem ,Turnier‘ verwandt und weckte von daher sowohl kriegerische Assoziationen als auch Erinnerungen an eine vermeintlich glcklichere Vorzeit. Aufgrund seiner Krze eignete sich das Wort zu einer Vielzahl von sich rasch findenden Komposita wie Turnplatz, Turnbung, Turnerehre oder Turner freundschaft. Vgl. Eisenberg, „English Sports“, S. 112. 39 Vgl. Hessen, Der Sport, S. 78. Den unauflçslichen Gegensatz zwischen Ein ordnung in die Riegen der Turner und individueller Entfaltung hat Rainer Maria Rilke in seiner Erzhlung Die Turnstunde (1902) eindringlich gestaltet. Vgl. Rainer Maria Rilke: Die Turnstunde, in: Rainer Maria Rilke. Smtliche Werke, hg. vom Rilke Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber Rilke besorgt durch Ernst Zinn, Bd. 4, Frankfurt/Main 1961, S. 601 609. 40 Vgl. Nielsen, Sport und Großstadt, S. 73. Diese Unterscheidung findet sich auch bei Musil, der den sportlichen Schick gegenber den Turnern betont. Vgl. Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 925 f. Im Mann ohne Eigenschaften rckt er die „Turner schaft“ in die Nhe der konservativen Jugendbnde und lsst sie mit einer Verwahrung „gegen die Verletzung des deutschen Geistes“ hervortreten. Vgl. Musil, MoE, S. 550.

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zielt.41 Sind also Turnen und Sport klar voneinander geschieden, muss innerhalb des Bereichs ,Sport‘ noch einmal zwischen der kçrperlichen Praxis und dem Zuschauersport differenziert werden. Diese Unterscheidung ist auch nçtig, um Musils Interesse und Kritik am Sport zu nachzuvollziehen. Insgesamt berlagern sich in der Charakterisierung des Sports seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zwei Bedeutungsebenen, die zentral fr seine Stellung in der Moderne sind: Der Sport erscheint zum einen als geselliges Vergngen, das Unterhaltung bietet und das freie Spiel der Persçnlichkeit erlaubt. Der sportliche Wettkampf wird mithin zur eigentlichen Bettigungsform des Individuums.42 Zum anderen ist der Sport systematisch und rational am Streben nach Leistungssteigerung orientiert. Der Kçrper wird also im Sport instrumentell eingesetzt und tritt gleichzeitig in seinem Eigensinn hervor, der als solcher auch erfahren wird. Diese Erfahrung lsst sich mit Helmuth Plessner (1892 – 1985) als exzentrische Positionalitt des Menschen fassen.43 Die doppelte Verfasstheit der kçrperlichen Bewegung zeigt sich insbesondere im sportlichen Training. In Anschluss an Marcel Mauss (1872 – 1950) kann die systematische bung des Bewegungsablaufs als Kçrpertechnik bezeichnet werden.44 Dieser Begriff hebt wie der verwandte Begriff der „Technologien des Selbst“45 von Michel Foucault (1926 – 1984) das Zusammenspiel von sthetischen und technischen Normen in der sportlichen Praxis hervor, durch die das Subjekt ein 41 Die Kopplung von Kçrpererfahrung und Einschwçrung auf gemeinsame Werte und Ziele, auf Kaiser und Vaterland, setzte in ihrer Rckbindung an den Kriegseinsatz die mnnliche Geschlechtszugehçrigkeit voraus. Mdchen und Frauen waren vom Turnen im 19. Jahrhundert kategorisch ausgeschlossen. Vgl. zu diesem Komplex Svenja Goltermann: Kçrper der Nation. Habitusformierung und die Politik des Turnens 1860 1890, Gçttingen 1998. Zur Geschichte des Mdchenturnens vgl. Gertrud Pfister (Hrsg.): Frau und Sport, Frankfurt/Main 1980. 42 Vgl. Risse, Soziologie des Sports, S. 27. Das Gefhl einer freien, schçpferischen Ttigkeit gewinnt das Individuum Risse zufolge vor allem aus einzeln messbaren Leistungen. Vgl. Risse, ebd., S. 26. Diese These kçnnte auch erklren, warum sich Musil nicht fr Mannschaftssport interessiert hat. 43 Diese doppelsinnige Erfahrung kann auch als Spannung zwischen Kçrper Haben und Leib Sein charakterisiert werden, die fr das Erlebnis des Sports zentral ist. Vgl. Helmuth Plessner: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen des menschlichen Verhaltens, Mnchen 1950, S. 42 50. 44 Vgl. Marcel Mauss: Die Techniken des Kçrpers [1935], in: ders.: Soziologie und Anthropologie, Mnchen, Wien 1975, Bd. 2, S. 197 220. 45 Vgl. Michel Foucault: Technologien des Selbst, Frankfurt/Main 1993.

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Verhltnis zu sich selbst herstellt.46 Vor diesem Hintergrund begreift die vorliegende Untersuchung die Sportpraxis als Schnittstelle zwischen Individualisierung und Rationalisierung.

3. Forschungsstand Die Omniprsenz des Sports kann als eines der markantesten Phnomene der Moderne gelten.47 Doch trotz der unabweisbaren Bedeutung des Sports in Medien, Kultur und Gesellschaft sind die Anfnge dieser Entwicklung bisher nur in Anstzen erforscht.48 Eine Geschichte des Sports als kultureller Erscheinungsform der Moderne steht bisher noch aus. Sie bedeutet eine interdisziplinre Herausforderung, die Wissenschafts-, Kçrper- und Gesellschaftsgeschichte sowie Literatur-, Kunstund Mediengeschichte verbinden muss. Der Historikerin Christiane Eisenberg kommt das Verdienst zu, die Verbreitung der englischen sports durch das entstehende Brgertum und die Durchsetzung der Industrialisierung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert erstmals untersucht zu haben. Ihre Darstellung erfasst die Entstehung des Sports als Geschichte der Vergesellschaftung der brgerlichen Schichten und des britisch-deutschen Kulturtransfers, die vom 18. Jahrhundert bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs reicht.49 Eisenberg 46 Vgl. zur Formierung des modernen Subjekts auch die grundlegende Untersu chung von Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjekt kulturen von der brgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006. 47 Zur Bedeutung und Funktion des Sports fr die Entwicklung der modernen Gesellschaft vgl. Norbert Elias/Eric Dunning: Sport und Spannung im Prozeß der Zivilisation (= Norbert Elias Gesammelte Schriften, Bd. 7), Frankfurt/Main 2003. 48 Vgl. Volker Caysa (Hrsg.): Sport Philosophie, Leipzig 1997. Zur gegenwrtigen Bedeutung des Sports vgl. Thorsten Knobbe: Spektakel Spitzensport. Der Mo loch aus Stars, Rekorden, Doping, Medienwahn, Sponsorenmacht, Mnster 2000; Gunter Gebauer: Sport in der Gesellschaft des Spektakels, St. Augustin 2002; aus philosophischer Perspektive vgl. Volker Caysa: Kçrperutopien. Eine philosophische Anthropologie des Sports, Frankfurt/Main, New York 2003. 49 Vgl. Christiane Eisenberg: „English Sports“ und deutsche Brger. Eine Gesell schaftsgeschichte 1800 1939, Paderborn, Mnchen, Wien 1999. Zum Ver hltnis von Sportgeschichte und Kulturgeschichte im Zeichen der kulturhisto risch begrndeten Kritik an der Sozialgeschichte vgl. dies.: Sportgeschichte. Eine Dimension der modernen Kulturgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 295 310; vgl. auch Burkhart Lauterbach: Beatles, Sportclubs, Landschaftsparks. Britisch deutscher Kulturtransfer, Wrzburg 2004.

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charakterisiert den Sport als geselliges Vergngen, das von unterschiedlichen sozialen Gruppen im Laufe der Zeit unterschiedlich stark nachgefragt wurde, so dass der Sport als integraler Bestandteil sozialen Wandels erscheint.50 Darber hinaus zeigt sie, dass der Sport durch seine Wechselbeziehungen mit Wirtschaft, Militr, Bildungs- und Gesundheitssystem sowie Politik einen Beitrag zum Verstndnis der Gesellschaft als soziales System leistet, wobei sein Massencharakter diesen Beitrag besonders begnstigt.51 Dass der Sport in Deutschland nicht nur ein brgerliches, sondern auch ein großstdtisches Phnomen war, hat Stefan Nielsen in einer empirischen Studie zum Sport als kommunales Dienstleistungsangebot herausgearbeitet.52 Getragen wurde der Sport einerseits durch die stdtischen Eliten, namentlich Angehçrige des Wirtschafts- und Bildungsbrgertums, und andererseits durch die neue Schicht der Angestellten, die mittels des Sports am brgerlichen Leben teilzuhaben versuchte.53 Dieser Befund wird durch neuere Untersuchungen zur Kçrperkultur- und Lebensreformbewegung gesttzt. Auch hier waren es die aufstrebenden brgerlichen Schichten, die in einer gesundheitsbewussten Lebensweise und der Geselligkeit im Verein ein adquates Mittel brgerlicher Lebensfhrung erblickten, das ihren Aufstieg ins Brgertum begleitete.54 Sowohl Eisenbergs als auch Nielsens Untersuchung thematisieren zwar den Sport als kulturelle Erscheinungsform der Moderne, lassen aber den Kçrper als Erfahrungsraum und Schauplatz dieser Form der Modernisierung außer Acht.55 Als kçrperliche Praxis gert ihnen der Sport

50 Vgl. Eisenberg, „English Sports“, S. 13. 51 Vgl. Eisenberg, „English Sports“, S. 14. 52 Vgl. Stefan Nielsen: Sport und Großstadt 1870 bis 1930: komparative Studien zur Entstehung brgerlicher Freizeitkultur, Frankfurt/Main, Berlin, Bern 2002. 53 Vgl. Eisenberg, „English Sports“, S. 211; vgl. Nielsen, Sport und Großstadt, S. 349. 54 Vgl. Eva Barlçsius: Naturgemße Lebensfhrung. Zur Geschichte der Lebens reform um die Jahrhundertwende, Frankfurt/Main, New York 1997, hier bes. S. 144 149; Bernd Wedemeyer Kolwe: „Der neue Mensch“. Kçrperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Wrzburg 2004, S. 18 f. Barlçsius und Wedemeyer Kolwe interpretieren beide Eisenbergs Deutung des Sports vergleichbar das Engagement der Lebensreformer als Versuch der kulturellen Verbrgerlichung und Vergesellschaftung. 55 Zum Konzept des modernen Kçrpers vgl. Barbara Duden: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart 1987, S. 14 16; zu Modernisierung und Verwissenschaftlichung Philipp Sarasin/Jakob

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weder auf der Ebene der Kçrpertechniken der Sportler noch der sthetik der Kçrper, die das Publikum der Sportveranstaltungen faszinieren, in den Blick. Zwar berhren beide Arbeiten Fragen der Korporalitt, als Analysekategorie spielt der Kçrper aber keine Rolle.56 Die fehlende Auseinandersetzung mit dem kulturwissenschaftlichen Kçrperdiskurs und verschiedenen Kçrperkonzepten schlgt sich auch in dem damit unmittelbar verbundenen Bereich der Medialisierung des Sports nieder. Eisenberg hat zwar eine Flle an historischem Zeitschriftenmaterial ausgewertet, doch die Vermittlungsprozesse zwischen Sportereignissen und Sportberichterstattung bilden fr die Historikerin allenfalls einen Nebenschauplatz.57 Demgegenber ist hervorzuheben, dass gerade der bewegte, trainierte und leistungsorientierte Kçrper des Sportlers zum Motor und Darstellungsmittel einer Moderne wurde, die sich selbst durch Bewegung bestimmt sah. Die Konzeptualisierung des Kçrpers durch Naturwissenschaften und Technik58 ist in den letzten Jahren ebenso intensiv erforscht worden wie die verschiedenen Aspekte einer sthetik der Korporalitt

Tanner (Hrsg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwis senschaftlichung des Kçrpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1998. 56 Zum Kçrper aus sporthistorischer Perspektive vgl. Irene Diekmann/Joachim H. Teichler (Hrsg.): Kçrper, Kultur und Ideologie. Sport und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Bodenheim bei Mainz 1997. 57 In einem Aufsatz zur Weimarer Republik ist Eisenberg auf das Verhltnis zwi schen Sportdiskurs und realer Sportpraxis nher eingegangen. Vgl. Christiane Eisenberg: Massensport in der Weimarer Republik. Ein statistischer berblick, in: Archiv fr Sozialgeschichte 33 (1993), S. 137 177. 58 Grundlegend fr diese Konzeptualisierung des Kçrpers ist die Arbeit von Anson Rabinbach, die der Frage nachgeht, warum und wie die Arbeitskraft zum Im perativ im Denken des 19. Jahrhunderts werden konnte. Wissenschaftler und Sozialreformer entwarfen den Kçrper auf der mechanischen Grundlage von Kraft und Arbeit, die Rabinbach auf die Formel „Motor Mensch“ gebracht hat. Vgl. Anson Rabinbach: Motor Mensch. Kraft, Ermdung und die Ursprnge der Moderne, Wien 2001 [Orig.: The Human Motor. Energy, Fatigue and the Origins of Modernity, Berkeley 1990]. In Anschluss an Rabinbachs Untersu chung hat John Hoberman die Entwicklung der Sportphysiologie als Suche nach den Grenzen der kçrperlichen Leistungsfhigkeit nachgezeichnet. Sie markiert gleichzeitig den Beginn experimenteller Leistungssteigerung, die kennzeichnend fr die Geschichte des Hochleistungssports ebenso wie des Dopings ist. Vgl. John Hoberman: Sterbliche Maschinen. Doping und die Unmenschlichkeit des Hochleistungssports. Aachen 1994 [Orig.: Mortal Engines. The Science of Performance and the Dehumanisation of Sport, New York 1992].

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und Performativitt.59 Schon fr Charles Baudelaire (1821 – 1867) bestand Modernitt in der Poesie des „Vorbergehenden“.60 Die entstehende Physiologie untersuchte Ausdauer, Kraft und Leistungsgrenzen des Kçrpers, der zunehmend Beschleunigung und Steigerung unterstellt wurde.61. Ihre Erkenntnisse bildeten die Grundlage fr die europische Arbeitswissenschaft und den parallel entstehenden Leistungssport. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts avancierte die Figur des Sportlers, dessen Leistungsfhigkeit auf der Rationalisierung des Kçrpers beruht, zum Vorbild fr Energie und Effizienz, das sich in unermdlichem Rekordstreben beweist.62 Die rasche Verbreitung des Sports fllt mit einem Umbruch in den Knsten zusammen, der seinerseits unlçsbar mit dem technischen Fortschritt verbunden ist. Wie ein Blick auf die knstlerische Avantgarde zeigt, sind die technische Entwicklung und der damit verbundene Wandel

59 Vgl. Erika Fischer Lichte/Doris Kolesch (Hrsg.): Kulturen des Performativen (= Paragrana. Internationale Zeitschrift fr Historische Anthropologie 7 (1998), H. 1); Erika Fischer Lichte/Anne Fleig (Hrsg.): Kçrper Inszenierungen. Prsenz und kultureller Wandel, Tbingen 2000; Erika Fischer Lichte/Christian Horn/Mat thias Warstat (Hrsg.): Verkçrperung, Tbingen, Basel; Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer sthetik des Performativen, Frankfurt/Main 2002; Erika Fischer Lichte: sthetik des Performativen, Frankfurt/Main 2004; Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Pr senz, Frankfurt/Main 2004; kritisch Walburga Hlk: Paradigma Performativitt? in: Marijana Erstic/Gregor Schuhen/Tanja Schwan (Hrsg.): Avantgarde, Medien, Performativitt. Inszenierungs und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2005, S. 9 25. 60 Charles Baudelaire: Der Maler des modernen Lebens [1863], in: Charles Baudelaire. Smtliche Werke/Briefe in acht Bnden, hg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost, Bd. 5: Aufstze zur Literatur und Kunst 1857 1860, Darmstadt 1989, S. 213 258, hier S. 225. Der Aufsatz war bereits 1860 abgeschlossen, wurde aber erst 1863 in Le Figaro publiziert. 61 Vgl. Gabriele Klein: Bewegung und Moderne: Zur Einfhrung, in: dies. (Hrsg.): Bewegung. Sozial und kulturwissenschaftliche Konzepte, Bielefeld 2004, S. 7 19, hier S. 12. 62 Vgl. Frank Becker: Der Sportler als „moderner Menschentyp“. Entwrfe fr eine neue Kçrperlichkeit in der Weimarer Republik, in: Clemens Wischermann/ Stefan Haas (Hrsg.): Kçrper mit Geschichte. Der menschliche Kçrper als Ort der Selbst und Weltdeutung, Stuttgart 2000, S. 223 243; Michael Cowan/Kai Marcel Sicks: Technik, Krieg und Medien. Zur Imagination von Idealkçrpern in den zwanziger Jahren, in: dies. (Hrsg.): Leibhaftige Moderne. Kçrper in Kunst und Massenmedien 1918 1933, Bielefeld 2005, S. 13 29, hier S. 24 f.

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des Kçrperbildes auch fr Tanz und Theater von zentraler Bedeutung.63 Die Theateravantgarde hat sich, wie zu zeigen sein wird, auf das Kçrperkonzept des Sports konkret bezogen. Im Unterschied zum weiblich codierten Tanz handelt es sich beim Sport um ein mnnlich bestimmtes Kçrperkonzept. Als Muster der Leistungskraft wird die Figur des Sportlers um 1900 zu einem schichtenbergreifenden Mnnlichkeitsideal, der das brgerliche Ideal des Knstlers und Universalgelehrten abzulçsen beginnt.64 Auch unter diesem Gesichtspunkt ist der Sport nicht nur Folge, sondern auch Antrieb des gesellschaftlichen Umbruchs. Kennzeichnend fr diesen Umbruch ist die Aufwertung des Kçrpers, der die vielschichtigen Modernisierungsprozesse sichtbar macht und als Austragungsort und Darstellungsmittel des kulturellen Wandels selbst einem Modernisierungsschub unterworfen wird. Dies gilt sowohl fr den Bereich der Wissenschaften und der Knste als auch fr das Arbeits- und entstehende Freizeitleben. Diskurse und Praktiken der Moderne sind eng mit der Wahrnehmung und den Darstellungsformen des Kçrpers verbunden, die auf der einen Seite die brchig gewordenen Vorstellungen selbstbewusster, brgerlicher Identitt ausstellen und auf der anderen Seite als Projektionsflche verlorener Ganzheit und mçglicher Lçsungen erscheinen. Die zunehmende Verwissenschaftlichung des Kçrpers und der Wahrnehmung gehen mit der Mystifikation des Kçrpers samt seines Erlçsungspotenzials Hand in Hand.65 Selbst die konzeptionelle Natura63 Vgl. Gabriele Brandstetter: Tanz Lektren. Kçrperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt/Main 1995; Inge Baxmann: Mythos: Gemeinschaft. Kçrper und Tanzkulturen in der Moderne, Mnchen 2000; Yvonne Hardt: Politische Kçrper. Ausdruckstanz, Choreografien des Protests und Arbeiterkul turbewegung in der Weimarer Republik, Mnster 2004; Erika Fischer Lichte (Hrsg.): TheaterAvantgarde, Tbingen, Basel 1995; dies.: Die Entdeckung des Zuschauers: Paradigmenwechsel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts, Tbin gen, Basel 1997. 64 Zur Figur des Sportlers vgl. Ernst Hanisch: Mnnlichkeiten. Eine andere Ge schichte des 20. Jahrhunderts, Wien, Kçln, Weimar 2005, S. 385 412; zum amerikanischen Sportsmann vgl. Christoph Ribbat: Sportsmnner: Interpreta tionen des Faustkampfes um 1900, in: Jrgen Martschukat/Olaf Stieglitz (Hrsg.): Vter, Soldaten, Liebhaber. Mnner und Mnnlichkeiten in der Ge schichte Nordamerikas. Ein Reader, Bielefeld 2007, S. 183 200. Zum mit dem Sportler vergleichbaren Abenteurer als Mnnlichkeitsentwurf vgl. Birgit Dahlke: Jnglinge der Moderne. Jugendkult und Mnnlichkeit um 1900, Kçln, Weimar, Wien 2006, S. 220 228. 65 Inge Baxmann hat in diesem Zusammenhang von Verwissenschaftlichung des Kçrpers und Sakralisierung des Leibes gesprochen. Vgl. Baxmann, Mythos: Gemeinschaft, S. 108 118.

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lisierung des Kçrpers wird mittels moderner wissenschaftlicher Methoden zu verwirklichen gesucht.66 Auch die darauf aufbauenden Konzepte eines ,Neuen Menschen‘ gehen vom Kçrper aus.67 Insofern desavouiert der moderne Kçrper, und dies ist in Hinblick auf Musils Konzeption des Sports besonders zu betonen, die Vorstellung einer sthetischen Gegenwelt, die der Rationalisierung entgegen steht.68 Vielmehr wird der Kçrper zu einem „Topos kultureller Selbstvergewisserung“69. Denn der Kçrper ist selbst ein Produkt der Moderne im weiteren Sinne, whrend die Moderne-Diskurse des beginnenden 20. Jahrhunderts ihrerseits einen ,modernen‘, sichtbaren Kçrper voraussetzen. Die Bedeutung des Sports ergibt sich aus seiner Stellung an der Grenze der großen Lebensbereiche Wissenschaft, Arbeit, Freizeit und Kunst; sie macht ihn zu einem Teil der entstehenden Massenkultur.70 Darber hinaus ist die Inszenierung von Sportveranstaltungen als sthetisches Ereignis beschreibbar,71 das eng mit der Theatralisierung der Avantgarde-Strçmungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusammenhngt. Damit trgt der Sport zur Modernisierung populrer Schauveranstaltungen72 und einem avantgardistischen Bekenntnis zur Schaulust bei,73 das auf die Auflçsung der brgerlichen Trennung von Kunst und Unterhaltung zielt. 66 Vgl. Wedemeyer Kolwe, „Der neue Mensch“, S. 83. 67 Vgl. Michael Cowan/Kai Marcel Sicks (Hrsg.): Leibhaftige Moderne. Kçrper in Kunst und Massenmedien 1918 1933, Bielefeld 2005. 68 Vgl. Alice Bolterauer: Rahmen und Riss. Robert Musil und die Moderne, Wien 2000, S. 26. 69 Gabriele Brandstetter: Einfhrung: Kçrperlichkeit im 20. Jahrhundert, in: Erika Fischer Lichte (Hrsg.): Theatralitt und die Krisen der Reprsentation, Stuttgart, Weimar 2001, S. 441 446, hier S. 441. 70 Vgl. Kaspar Maase: Grenzenloses Vergngen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850 1970, Frankfurt/Main 1997, S. 20. Maase versteht unter „Massenkultur“ ein „System kommerzieller Populrkunste“, mithin das Angebot und den Um gang mit Unterhaltungsprodukten. Vgl. Maase, Grenzenloses Vergngen, S. 321. 71 Zur sthetik des Sports vgl. Martin Seel: Ethisch sthetische Studien, Frankfurt/ Main 1996, bes. S. 188 200; Hans Ulrich Gumbrecht: Die Schçnheit des Mannschaftssports: American Football im Stadion und im Fernsehen, in: Gianni Vattimo/Wolfgang Welsch: Medien Welten Wirklichkeiten, Mn chen 1998, S. 201 228; ders.: Lob des Sports, Frankfurt/Main 2005. 72 Zum Sport als Teil der Populrkultur der Frhen Neuzeit und der karnevalesken Tradition in Anschluss an Bachtin vgl. Andrew Blake: The Body Language. The Meaning of Modern Sport, London 1996. 73 Zur Schaulust als avantgardistischer Position vgl. Kaspar Maase: Krisen bewußtsein und Reformorientierung. Zum Deutungshorizont der Gegner der

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Der Titel Kçrperkultur und Moderne umschreibt historisch den Zeitraum von etwa 1880 bis 1930 und koppelt damit die Moderne im engeren Sinne an Industrialisierung und Urbanisierung.74 Bezogen auf die sthetische Abgrenzung der Moderne wird explizit von ,kultureller‘ Moderne die Rede sein. Im Unterschied zur ,klassischen‘ oder auch ,literarischen‘ Moderne75 betont dieser Begriff die Durchsetzung naturwissenschaftlich-technischer Rationalitt im Sinne Max Webers,76 die nicht nur zu einer Selbstreflexion der Knste im Spiegel neuer Medien fhrt,77 sondern auch zu einer Infragestellung der knstlerischen Gattungsgrenzen und der Herausbildung einer visuellen Kultur (Bla Bal zs), die neue sthetische Erfahrungen ermçglicht.78 Diese Erfahrungen wer-

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modernen Populrknste 1880 1918, in: ders./Wolfgang Kaschuba (Hrsg.): Schund und Schçnheit. Populre Kultur um 1900, Kçln, Weimar, Wien 2001, S. 290 342, hier S. 294. Zur Begriffsgeschichte vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Modern, Modernitt, Moderne, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Ge schichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 93 131; zu den verschiedenen his torischen Abgrenzungsmçglichkeiten der ,Moderne‘ vgl. Silvio Vietta: Die lite rarische Moderne. Eine problemgeschichtliche Darstellung der deutschsprachi gen Literatur von Hçlderlin bis Thomas Bernhard, Stuttgart 1992, bes. S. 17. Zur Diskussion dieser Begriffe vgl. Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, sthetik, Dichtung im 20. Jahrhundert, Mnchen 2004, S. 13 33, den Forschungsbericht von Matthias Luserke Jaqui: „Technische Kulturarbeit“? berlegungen zum Begriff der ,Klassischen Moderne‘, in: ders. (Hrsg.): „Alle Welt ist medial geworden.“ Literatur, Technik, Naturwissenschaft in der Klassischen Moderne, Tbingen 2005, S. 9 22 sowie die instruktive Begriffskritik von Anke Marie Lohmeier: Was ist eigentlich modern? Vorschlge zur Revision literaturwissenschaftlicher Modernebegriffe, in: IASL 32 (2007), S. 1 15. Weber hat den Prozess der Rationalisierung als „Entzauberung“ gefasst. Vgl. Max Weber: Vom inneren Beruf zur Wissenschaft in: ders.: Soziologie, Weltge schichtliche Analysen, Politik, hg. und erlutert von Eduard Baumgarten, 4. erneut durchges. und verb. Aufl. Stuttgart 1968, S. 311 339, hier S. 338. Zu Webers Rationalisierungsthese vgl. Friedrich H. Tenbruck: Das Werk Max Webers, in: Kçlner Zeitschrift fr Soziologie und Sozialpsychologie 27 (1975), S. 663 702. Zu Weber und Musil vgl. Hartmut Bçhme: Anomie und Ent fremdung. Literatursoziologische Untersuchungen zu den Essays Robert Musils und seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“, Kronberg/Ts. 1974, bes. S. 286 290; Hans Dieter Zimmermann: Die zwei Bume der Erkenntnis. Ra tionalitt und Intuition bei Robert Musil und Max Weber, in: Sprache im technischen Zeitalter 28 (1990), S. 41 48. Vgl. Brandstetter, Tanz Lektren, S. 35. Diese Erfahrungen hat auch Heinz Brggemann betont, der dafr den Begriff der urbanen Moderne einfhrt, aber ebenfalls den Begriff ,kulturelle Moderne‘ ver

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den von einem Moderne-Begriff, der sich ausschließlich auf Kunst und Literatur bezieht, gerade nicht erfasst. Doch ist die Modernisierung populrer Darbietungsformen auf der Grundlage technischer Mçglichkeiten, die der Sport etwa mit dem Kino teilt, ebenso ein Merkmal dieser Moderne wie die Erfahrung der Beschleunigung und Kontingenz in der Großstadt.79 Die Literaturwissenschaft hat sich lange nur vereinzelt und unter ideologiekritischem Vorzeichen mit dem Thema Sport befasst.80 Gerade fr die Forschung zur Weimarer Republik gilt, dass zwischen neusachlicher Sportbegeisterung, massenwirksamer Inszenierung des Sports und der Sportpraxis der Bevçlkerung kaum unterschieden, der Sport insgesamt dem Verdikt der amerikanisierten Freizeitindustrie unterworfen wurde.81 Erst in den letzten Jahren ist dem Komplex Sport und Literatur im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Kçrper als Kategorie kulturwissenschaftlicher Forschung strkere Beachtung seitens der literatur- und sportwissenschaftlichen Forschung zuteil geworden. Neben einzelnen Beitrgen, die nach dem theoretischen Verhltnis von Sport und Literatur bzw. nach der Erzhlbarkeit des Sports fragen,82 liegen auch drei Mo-

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wendet. Vgl. Heinz Brggemann: Architekturen des Augenblicks: Raum Bilder und Bild Rume einer urbanen Moderne im Literatur, Kunst und Architektur des 20. Jahrhunderts, Hannover 2002, bes. S. 12 17. Vgl. Sabina Becker: Urbanitt und Moderne. Studien zur Großstadtwahrneh mung in der deutschen Literatur 1900 1930, St. Ingbert 1993; Johannes Ros kothen: Verkehr. Zu einer poetischen Theorie der Moderne, Mnchen 2003; Honold, Die Stadt und der Krieg. Vgl. Leo Kreutzer: Das geniale Rennpferd. ber Sport und Literatur, in: Akzente 6 (1970), S. 559 574; Wolfgang Rothe: Sport und Literatur in den zwanziger Jahren. Eine ideologiekritische Anmerkung, in: Stadion. Internationale Zeit schrift fr Geschichte des Sports 7 (1981), H. 1, S. 131 151. Vgl. Jost Hermand/Frank Trommler: Die Kultur der Weimarer Republik, Frankfurt/Main 1988 [Mnchen 1978], S. 75 80. Vgl. K. Ludwig Pfeiffer: Wahlverwandtschaften? ber Phantasie, Literatur und Sport, in: Sprache im technischen Zeitalter 1984, S. 279 300; Gunter Gebauer: Der erzhlte Sport. Homo ludens auctor ludens, in: ders. (Hrsg.): Kçrper und Einbildungskraft. Inszenierungen des Helden im Sport, Berlin 1988, S. 144 163; Harry Nutt: Kampf bis zur Linie. Sport und Literatur, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift fr europisches Denken 44 (1990), S. 258 264; Uwe Wittstock: Nachwort. Literatur und Leibesbungen, in: ders. (Hrsg.): Sport Stories. Ein literarischer Zehnkampf samt Training, Halbzeitpause, Verlnge rung, einem Bericht aus der Fan Kurve und einem ruhigen Heimweg, Frankfurt/ Main 1993, S. 271 281; Bernhard Boschert/Gunter Gebauer: Sprachspiel und Sportspiel, in: dies. (Hrsg.): Texte und Spiele: Sprachspiele des Sports, St. Au gustin 1996, S. 9 14; Hermann Bausinger: Die schçnste Nebensache… Etap

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nographien vor, die den Sport als Thema und Motiv der deutschsprachigen Literatur behandeln.83 Die Arbeiten von Mario Leis und Nanda Fischer machen die Flle an Texten kenntlich, die sich dem Sportdiskurs verschrieben haben. Leis untersucht thematisch gegliedert literarische Texte des gesamten 20. Jahrhunderts, whrend sich Fischer auf das erste Drittel des 20. Jahrhunderts konzentriert. Die Sportwissenschaftlerin befragt den Sportdiskurs der Literatur auf seine geschlechtsspezifischen Implikationen und untersucht bewusst Texte von Autorinnen und Autoren. Als Thema speziell der essayistischen Literatur behandelt HannsMarcus Mller den Sport und nimmt dabei auch die Frhzeit des Sports um 1900 in den Blick. Seine These lautet, dass der Sport im Essay nicht nur gefunden, sondern erfunden worden sei, sein Interesse gilt der essayistischen Formierung des Sports.84 Trotz dieser gerade in Hinblick auf Musils Essayismus interessanten Konzeption, leidet die Studie daran, dass ihr ein so unspezifischer Essay-Begriff zugrunde liegt, dass beinah jeder pen der Sportbegeisterung, in: Jahrbuch fr finnisch deutsche Literaturbezie hungen 31 (1999), S. 7 19; Franz Josef Gçrtz: „Dichter, bt euch im Weit sprung“. Sport und Literatur im 20. Jahrhundert, in: Hans Sarkowicz (Hrsg.): Schneller, hçher, weiter. Eine Geschichte des Sports, Frankfurt/Main 1999, S. 342 355. 83 Vgl. Nanda Fischer: Sport als Literatur. Traumhelden, Sportgirls und Ge schlechterspiele. Zu Theorie und Praxis einer Inszenierung im 20. Jahrhundert, Eching 1999; Mario Leis: Sport in der Literatur. Einblicke in das 20. Jahrhun dert, Frankfurt/Main, Berlin, Bern u. a. 2000 (= Forschungen zur Literatur und Kulturgeschichte, Bd. 67); Hanns Marcus Mller: „Bizepsaristokraten“. Sport als Thema der essayistischen Literatur zwischen 1880 1930, Bielefeld 2004. Vgl. außerdem Nanda Fischer (Hrsg.): Heldenmythen und Kçrperqualen. Referate zum II. Interdisziplinren Symposium „Sport und Literatur“ des Lehrstuhls fr Sportpdagogik der TU Mnchen und der dvs vom 21. bis 23. 1. 1988, Claus thal Zellerfeld 1989; Norbert Gissel (Hrsg.): ffentlicher Sport: die Darstellung des Sports in Kunst, Medien und Literatur, Hamburg 1999. Als berblick vgl. auch Jrgen Court (Hrsg.): Was ist Sport? Sportarten in der Literatur, Schorn dorf 2001. Durch sein Bildmaterial besticht vor allem der Band von Elisabeth Tworek/Michael Ott: SportsGeist. Dichter in Bewegung, Zrich, Hamburg 2006. Als Materialsammlung mag auch der im brigen ußerst problematische Beitrag von Josef Gçhler: Die Leibesbungen in der deutschen Sprache und Literatur, in: Wolfgang Stammler (Hrsg.): Deutsche Philologie im Außriß, Berlin 1962, Bd. III, Sp. 2973 3050 dienen. Vgl. außerdem die Bibliographie von Karl Schwarz: Sport als Motiv in der Weltliteratur Eine Bibliographie, in: Die Leibesbungen 14 (1965), H. 9, S. 318 346. Eine Vollstndigkeit beanspru chende Bibliographie als Grundlage weiterer Forschungsarbeiten stellt noch ein Desiderat der Forschung dar. Demgegenber existiert in der anglo amerikani schen Forschung eine Flle von Arbeiten zum Thema Sport und Literatur. 84 Vgl. Mller, „Bizepsaristokraten“, S. 14.

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Text zum Sport in diese Kategorie fllt. Modifiziert msste daher Mllers Ausgangsthese eigentlich lauten, dass der Sport ein diskursives Konstrukt ist. Gleichwohl liefert seine Untersuchung wertvolle Einsichten in den so gefassten Sportdiskurs, den er als Beitrag zur Modernekritik versteht.85 In dieser Perspektive setzt sich Mller auch mit Musil auseinander, wobei er besonders die Bedeutung des Sportkçrpers hervorhebt.86 Die Literatur der zwanziger Jahre und speziell die Frage nach dem Sportdiskurs dieser Zeit beschftigt außerdem mehrere Aufstze.87 Weitgehend einig ist sich die Forschung inzwischen, dass die ,SportLiteratur‘ der Zwischenkriegszeit zunchst als Reaktion auf den medialen Sportdiskurs zu verstehen ist. So bildete sich seit etwa Mitte der zwanziger Jahre eine literarisch ambitionierte Sport-Essayistik heraus, die versuchte, das Phnomen des Sports zu ,deuten‘, und in Feuilleton oder Zeitschriften einen publizistischen Sportdiskurs etablierte. Zu nennen sind hier beispielsweise Bertolt Brecht, Marieluise Fleißer, dçn von Horv th, Martin Kessel, Siegfried Kracauer, Alfred Polgar, Joseph Roth oder Frank Thieß. Datierung und Zuordnungen zu diesem Diskurs sind allerdings umstritten. Michael Gamper hat bezogen auf diese Debatte die These eines literarischen Gegendiskurses aufgestellt, der sich kritisch auf den brigen Sportdiskurs beziehe.88 Dagegen hat Mller ausgehend von der Etablierung des Sports im Kaiserreich die These eines einzigen, essayistischen Sportdiskurses vertreten, dem er smtliche Texte zuordnet, die sich mit Sport befassen.89 Diese Thesen sind beide zu pauschal. Gerade das Beispiel Musil zeigt, dass sich literarischer und essayistischer Diskurs 85 Vgl. Mller, „Bizepsaristokraten“, S. 22. 86 Zu Musil vgl. Mller, „Bizepsaristokraten“, S. 116 129. 87 Vgl. Michael Gamper: Im Kampf um die Gunst der Masse. ber das Verhltnis von Sport und Literatur in der Weimarer Republik, in: Hans Georg von Arburg/ Michael Gamper/Dominik Mller (Hrsg.): Popularitt. Zum Problem von Esoterik und Exoterik in Literatur und Philosophie. Ulrich Stadler zum 60. Geburtstag, Wrzburg 1999, S. 135 163; ders.: Ist der neue Mensch ein „Sportsmann“? Literarische Kritik am Sportdiskurs der Weimarer Republik, in: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 6 (2001), S. 35 71; Michael Ott: „Unsere Hoffnung grndet sich auf das Sportpublikum“. ber Sport, Theatralitt und Literatur, in: Erika Fischer Lichte (Hrsg.): Theatralitt und die Krisen der Reprsentation, Stuttgart, Weimar 2001, S. 463 483. Aus historischer Perspektive vgl. dazu auch Frank Becker: Weimarer Sportrepublik. Deutungsangebote fr die Demokratie, in: Archiv fr Kulturgeschichte 78 (1996), S. 179 206. 88 Vgl. Gamper, Ist der neue Mensch ein „Sportsmann“?, S. 36. 89 Vgl. Mller, „Bizepsaristokraten“, S. 28 f., zu Gampers These S. 22 f.

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keineswegs trennen lassen. Gleichzeitig zielt die literarische Auseinandersetzung mit dem Sport nicht immer auf Kritik. Mllers Begriff des Essays, unter den selbst Dissertationen fallen, erlaubt dagegen keine Abgrenzung des Gegenstandes. Im Folgenden soll daher vom publizistischen Sportdiskurs die Rede sein, der zwar hufig in Form des Essays vom Sport handelte, der aber auch Erzhlungen oder Glossen umfasst. Wichtig ist zudem, dass es um Beitrge zu einer in den Medien, wesentlich von Intellektuellen gefhrten Debatte geht, die sich vor allem mit dem Zuschauersport und der entstehenden populren Massenkultur auseinandersetzt. Dieser Sportdiskurs wchst in den zwanziger Jahren durch die Grndung von Magazinen wie dem Querschnitt, Illustrierten, Sportzeitschriften und der zunehmenden Presseberichterstattung, anders als Mller meint, signifikant. Debatten wie diese liegen der Musil-Forschung mehr als fern. Auch die Kontextualisierung des Werks durch die verschiedenen ModerneDiskurse ist fr die geistesgeschichtlich orientierte Musil-Forschung keineswegs eine Selbstverstndlichkeit.90 Entsprechend wenig Beachtung hat bislang Musils Reflexion des Sports gefunden.91 Gleichwohl wurde die Musil-Forschung schon in ihren Anfngen auf das Thema aufmerksam. So hat der Sporthistoriker Hajo Bernett bereits 1960 auf die Bedeutung 90 Die vielleicht wichtigste Ausnahme bildet die Arbeit von Alexander Honold zu Raum und Zeitkonstruktionen im Mann ohne Eigenschaften, die den Roman erstmals nachdrcklich in der Moderne Diskussion des beginnenden 20. Jahr hunderts situiert und die Bedeutung urbaner Raumstrukturen und erfahrungen in Beziehung zur Konstruktion des Romans setzt. Vgl. Alexander Honold: Die Stadt und der Krieg. Raum und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“, Mnchen 1995. Die Moderne Erfahrung von Tempo und Beschleunigung bestimmt die Untersuchung von Andrea Gnam: Die Bewltigung der Geschwindigkeit. Robert Musils Roman „Der Mann ohne Ei genschaften“ und Walter Benjamins Sptwerk, Mnchen 1999. Bezogen auf die wissenschaftsgeschichtliche Kontextualisierung Musils hat außerdem die Arbeit von Christoph Hoffmann: „Der Dichter am Apparat“. Medientechnik, Experi mentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899 1942, Mnchen 1997, neues Gebiet erschlossen. Hoffmann rekonstruiert die experimentalpsychologischen Diskurse, die in Musils Texte Eingang gefunden haben, und reklamiert diese als avanciertes Beispiel einer Medientechnik, die das Subjekt zum psychophysischen Sinnesapparat macht. Eine kulturgeschichtlich orientierte Arbeit, die Musils Essays und den Roman Der Mann ohne Eigenschaften gleichberechtigt behandelt, liegt bisher nicht vor. 91 Dies gilt selbst fr neuere Arbeiten zur Bedeutung des Kçrpers bei Musil. Vgl. Martin Anders: Prsenz zu denken… Die Entgrenzung des Kçrperbegriffs bei Ernst Mach, Robert Musil und Paul Valry, St. Augustin 2002.

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des Sports im Werk Musils – den Essays ebenso wie dem Mann ohne Eigenschaften – hingewiesen und Musils eigene sportliche Bettigung hervorgehoben.92 Bernett betont vor allem die Konvergenz von Handeln und Erleben im Sport und stellt fest, dass Musils berlegungen zum Sport um den Zwiespalt von Gefhl und Verstand sowie Intuition und Wissenschaft kreisen.93 Dies gelte sowohl fr die individuelle Sportausbung als auch fr den Zuschauersport. Bernett wirft damit die Frage nach Musils Bewertung des Sports auf, geht aber selbst diesem Aspekt nicht genauer nach, sondern erklrt sich Musils Anteilnahme am Sport letztlich mit dessen entlastender Funktion fr den Geist.94 Diese Hinweise hat Elisabeth Albertsen in ihrer Deutung des Mann ohne Eigenschaften aufgegriffen, die als erste und bisher einzige dem Sport systematischen Stellenwert im Gedankengebude Musils zugewiesen hat. Sie erkennt in Ulrichs Training als Teil der Ratio eine Analogie zu seinem Denken, die seiner experimentellen Gesinnung entspricht.95 Diese Einsicht fhrt die vorliegende Untersuchung weiter, da die Spannung von Ratio und Mystik nicht nur Ulrichs Haltung zum Leben, sondern auch der Sportpraxis selbst eingeschrieben ist. Im Kontext einer ersten Erforschung von Musils gesellschaftlichen Bezgen hat Uwe Baur „Sport und subjektive Bewegungserfahrung“ bei Musil schlaglichtartig beleuchtet und das Moment der sportlichen Selbsterfahrung hervorgehoben, gegen das er die rationalisierte Bewegung als Ausdruck der Entfremdung abgrenzt.96 Aus dem Abstand von mehr als 25 Jahren lsst sich in dieser Gegenberstellung vor allem die Sportkritik der siebziger Jahre, die den Sport als „Natur-Beherrschung am Menschen“ interpretiert hat, erkennen.97 Die vorliegende Studie wird durch die Bezugnahme auf Physiologie, Psychotechnik98 und Trainingslehre 92 Vgl. Hajo Bernett: Musils Deutung des Sports, in: Karl Dinklage (Hrsg.): Robert Musil. Leben, Werk, Wirkung, Reinbek 1960, S. 145 156. 93 Vgl. Bernett, Musils Deutung des Sports, S. 149 f. 94 Vgl. Bernett, Musils Deutung des Sports, S. 155. 95 Vgl. Elisabeth Albertsen: Ratio und ,Mystik‘ im Werk Robert Musils, Mnchen 1968, S. 28 f. 96 Vgl. Uwe Baur: Sport und subjektive Bewegungserfahrung bei Musil, in: ders./ Elisabeth Castex (Hrsg.): Robert Musil. Untersuchungen, Kçnigstein/Ts. 1980, S. 99 112. 97 Vgl. Baur, Sport und subjektive Bewegungserfahrung, S. 110. 98 Mit der Bedeutung der Psychotechnik fr Musil haben sich in Anschluss an die Arbeit von Christoph Hoffmann auch Stefan Rieger und Alfred Kmmel befasst. Beide haben in diesem Zusammenhang den Stellenwert des Sports bei Musil akzentuiert. Vgl. Stefan Rieger: Die Individualitt der Medien. Eine Geschichte

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zeigen, dass sich in Musils Konzeption des Sports Rationalisierung und subjektives Erleben keineswegs ausschließen, sondern dass ihre Verbindung gerade die radikale Modernitt Musils begrndet. Die Bedeutung des Sports fr Musil hat zuletzt Karl Corino herausgestellt, der Musils Sportbegeisterung – neben dessen Begeisterung fr das Kino – einen Exkurs in seiner umfangreichen Biografie gewidmet hat.99 Die tgliche Gymnastik des Autors deutet Corino als Teil von Musils persçnlicher „Organisation“, die Strkung und Ablenkung zugleich beinhalte.100 Darber hinaus besaß Musil Erfahrungen im Turnen, Radfahren, Schwimmen, Tennis und Fechten.101 Er verfolgte in den zwanziger Jahren die Entwicklung von Boxen und Fußball, 1925 besuchte er die sterreichischen Tennismeisterschaften im Wiener Prater.102 Vor dem Hintergrund der medialen Sportbegeisterung der zwanziger Jahre betont Corino Musils Kritik am modernen Sportbetrieb, Ulrichs Programm der Eigenschaftslosigkeit deutet er als Flucht vor einer Zeit ohne Genie.103 Damit besteht der Ertrag von knapp fnfzig Jahren MusilForschung in puncto Sport in wenigen Aufstzen und Hinweisen. Es scheint daher an der Zeit, einen Brckenschlag zwischen der interdisziplinren Forschung zu Kçrper, Sport und kultureller Moderne sowie der Musil-Forschung zu leisten und Musils sthetik des Sports im Spannungsfeld von Kunst und Wissenschaft zu situieren.

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der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt/Main 2001; Albert Kmmel: Das MoE Programm. Eine Studie ber geistige Organisation, Mnchen 2001, S. 101 105. Vgl. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie, Reinbek 2003, S. 809 822. Vgl. Corino, Robert Musil, S. 809. Herbert Kraft geht in seinem parallel zu Corino erschienenen Musil Buch nur am Rande auf Musils Sportausbung ein; er hlt dessen sportliche Kondition wie auch ein Hinweis auf der Darmstdter Musil Tagung 2003 deutlich machte offenbar fr berschtzt. Vgl. Herbert Kraft: Musil, Wien 2003, S. 26 f. Wie erst krzlich aufgefundene Dokumente belegen, war Musil Grndungs mitglied im 1898 gegrndeten Akademischen Radfahrverein Brnn. Außerdem war er Mitglied im Brnner Fechtclub, 1902 nahm er an einem Schaufechten teil. Vgl. Vojen Drlik: Unbekannte Texte von Robert Musil, pdf Dokument, S. 1 8, hier S. 7 [http://www.i r m g.de/bruenn1.html]. Vgl. Corino, Robert Musil, S. 810 f. Vgl. Corino, Robert Musil, S. 821.

II. Sport und Moderne Kçrper, Technik und Naturwissenschaften Wenn es so weiter geht, werden sie unsterblich. Dann kçnnen sie immer sporten. Siegfried Kracauer 1

Mit der Herausbildung des modernen Sports im Laufe des 19. Jahrhunderts trat die spielerische Lust an der schçnen, zweckfreien Bewegung in ein experimentelles Verhltnis zum technischen Fortschritt, das sich in der zunehmenden Technisierung der Messverfahren, Sportgerte und Sportpltze auf der einen sowie der Kçrper auf der anderen Seite niederschlug. Diese Entwicklung bildet den Ausgangspunkt von Musils Reflexion des Sports als Kritik der modernen Kultur, deren spezifische Organisation ihm durch seine eigene Ausbildung als Ingenieur und Psychologe deutlich vor Augen stand.2 Wie im Folgenden gezeigt wird, ist die Geschichte des Sports unmittelbar mit der Durchsetzung technisch-naturwissenschaftlicher Rationalitt im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung in Europa verbunden. Zum gemeinsamen Fluchtpunkt dieser Modernisierungsprozesse wurde der Kçrper im Sport auf der mechanischen Grundlage von Kraft und Arbeit. Der Sportler erschien als Sinnbild fr Muskelkraft, Disziplin und Leistungsbereitschaft, die die industrielle Entwicklung und damit den gesellschaftlichen Fortschritt vorantrieben. Der Kçrper, der nicht ermdet, avancierte zur Utopie des 19. Jahrhunderts.3 1 2

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Siegfried Kracauer: Sie sporten [1927], in: Siegfried Kracauer Schriften, hg. von Inka Mlder Bach, Frankfurt/Main 1990, Bd. V/2, S. 14 18, hier S. 14. Musil hatte nach einem Maschinenbau Studium an der Deutschen Technischen Hochschule Brnn und einer Assistenz im Maschinenlaboratorium bei Carl Bach an der TH Stuttgart an der Berliner Friedrich Wilhelms Universitt experi mentelle Psychologie bei Carl Stumpf studiert. Vgl. dazu Corino, Robert Musil, S. 121 234. Vgl. Rabinbach, Motor Mensch, S. 58. Vgl. auch Anson Rabinbach: Ermdung, Energie und der menschliche Motor, in: Philipp Sarasin/Jakob Tanner (Hrsg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Kçrpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1998, S. 286 312.

II. Sport und Moderne

Kçrper, Technik und Naturwissenschaften

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Parallel dazu wurde die Sportausbung Teil einer methodischen, brgerlichen Lebensfhrung, die Gesundheit zum Leitbild individuellen Handelns erklrte und durch Hygiene-Ratgeber propagierte.4 Als kçrperbezogene Selbsttechnik fhrte die Sportpraxis damit einerseits zu systematischer Selbstdisziplinierung, andererseits trug sie zu einer Individualisierung der Selbstwahrnehmung bei, die dem Einzelnen individuelle Deutungs- und Wahrnehmungsspielrume erçffnete.5 In diesem Spannungsfeld von Normierung und Individualisierung sind Sportdiskurs und Sportpraxis zu verorten.6 Doch kennzeichnet diese Spannung nicht nur den Sport, sondern die Moderne insgesamt. Das Ziel der Rationalisierungsbewegung, die ihren Hçhepunkt in den zwanziger Jahren erreichte, bildete die durchrationalisierte Gesellschaft, die das Prinzip technisch-effizienter Organisation auf smtliche gesellschaftlichen Beziehungen auszudehnen suchte. Ihm lag die am Gemeinwohl orientierte Utopie zugrunde, alle gesellschaftlichen Konflikte technisch lçsen zu kçnnen.7 Gleichzeitig zeigt sich gerade im Sport die fr die Moderne charakteristische Verbindung von Rationalisierung und sthetik, die die Wahrnehmung der Individuen bestimmt.8 Wird der Sport in die Moderne-Konzeption einbezogen, ergeben sich daher Perspektiven, die die Ambivalenz der Moderne neu auszuleuchten vermçgen. In allen Bereichen gesellschaftlicher Modernisierung spielte Sport als Diskurs und als kçrperliche Praxis eine zentrale Rolle. Dies gilt nicht nur fr die Ar4 5 6

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Vgl. Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 22. Vgl. Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 24. In dieser Untersuchung ist bezogen auf die Rationalisierung des Kçrpers von Normierung die Rede. Diese Normierung ist als rationalisierte Normalisierung zu verstehen. Normalisierung ist der Begriff Foucaults, den Sarasin in Bezug auf den Hygienediskurs (vgl. Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 22 24) und Maren Mçhring hinsichtlich der Nacktkulturbewegung verwendet. Dabei steht die Konstruktion eines naturalisierten Kçrpers im Mittelpunkt. Zum natrlichen Kçrper als normalen Kçrper vgl. Maren Mçhring: Marmorleiber. Kçrperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890 1930), Kçln, Weimar, Wien 2004, S. 26 34. Im Sport geht es ber die Kçrperbildung hinaus um die Steigerung der kçrperlichen Leistung. In Hinblick auf den Prozess der Rationalisierung spricht daher auch Sarasin von „Normierung“. Vgl. Philipp Sarasin: Die Rationalisie rung des Kçrpers. ber „Scientific Management“ und „biologische Rationali sierung“, in: Michael Jeismann (Hrsg.): Obsessionen. Beherrschende Gedanken im wissenschaftlichen Zeitalter, Frankfurt/Main 1995, S. 78 115. Vgl. Detlev Peukert: Max Webers Diagnose der Moderne, Gçttingen 1989, S. 55 91, hier bes. S. 75. Vgl. Reckwitz, Das hybride Subjekt, S. 18.

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beitswelt, sondern auch fr die Alltagsbeziehungen, vor allem im Bereich Erziehung, Freizeit und Gesundheitsvorsorge, die Bereiche Bauen, Wohnen und Stdteplanung sowie Kunst und Kultur.9 Dadurch konnte der Sport zum Antrieb, Darstellungsmittel und Austragungsort des Modernisierungsprozesses werden.

1. Der moderne Kçrper Das Konzept einer modernen Kçrperkultur entwickelte sich mit den Wissenschaften vom Menschen aus dem Hygienediskurs des ausgehenden 18. Jahrhunderts, der jenen neuen Kçrper hervorbrachte, der gepflegt und gesund erhalten werden musste und sich damit als Gegenstand bestndiger brgerlicher Aufmerksamkeit empfahl. Dieser Kçrper entstand im Wechselspiel zwischen rztlichem Blick und dem Material, das sich diesem darbot, das er aber auch konstituierte.10 Seine Verwissenschaftlichung machte ihn zu einer physischen Einheit, zu einem klar umrissenen Gegenstand.11 Mit dem Aufstieg des Brgertums wurde der moderne Kçrper zum elementaren Besitz erklrt, in dem sich das brgerliche Individuum ,verkçrpert‘.12 Die Haltung zu diesem Besitz war durch brgerliche 9 Vgl. Peukert, Max Webers Diagnose, S. 75 77. Dabei muss selbstverstndlich zwischen Rationalisierungsdebatte und praktischer Umsetzung unterschieden werden. Vgl. dazu auch Joachim Radkau: Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt/Main 1989, S. 276 f. Zur Kritik an Weber vgl. Reckwitz, Das hybride Subjekt, S. 18. 10 Vgl. Duden, Geschichte unter der Haut, S. 15; vgl. auch Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, Frankfurt/Main, New York 1991. 11 Dieses moderne Verstndnis bildete sich im Laufe des 18. Jahrhunderts erst heraus, wie sich unter anderem anhand des Eintrags ,Kçrper‘ in verschiedenen Wçrterbchern und Konversationslexika zeigen ließe. Im 18. und auch noch im 19. Jahrhundert fand sich dieser Eintrag unter dem Stichwort ,Corpus‘, da der Begriff ,Kçrper‘ nur langsam aus dem Latein der Gelehrten Eingang ins Deutsche bekommen hatte. Im Grimmschen Wçrterbuch wurde darauf hingewiesen, dass der Gebrauch des Wortes ,Kçrper‘ auch bei Nicht Gelehrten zwar in medizi nisch gelehrtem Sinne vorkomme, aber eben den toten Kçrper, den Leichnam meine. Vgl. Deutsches Wçrterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 11, Leipzig 1873 (Nachdruck der Erstausgabe Mnchen 1984), Sp. 1833. 12 Der moderne Kçrper ist daher Barbara Duden zufolge der Kçrper, von dem ich meine, dass ich ihn ,habe‘, und mit dem ich mich ,als Frau‘ oder ,als Mann‘ identifiziere. Vgl. Duden, Geschichte unter der Haut, S. 14. Der abgeschlossene,

Der moderne Kçrper

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Normen wie Affektregulierung sowie Kontrolle kçrperlicher Bedrfnisse und des Benehmens geprgt. Konzeptualisiert wurde das Verhltnis des Kçrpers zu seiner Umgebung durch eine Vielzahl von medizinischen Anleitungen und Ratgebern, die die Vorstellung eines gesnderen und besseren Lebens propagierten: „Alle Bereiche des Lebens – vom Verhalten im Bett bis zur Arbeit am Schreibtisch oder der Anzahl der Kaubewegungen beim Essen – wurden unter dem Gesichtspunkt einer vernnftigen, gesunden Lebensfhrung in den Rang medizinisch beschreibungswrdiger Ttigkeiten erhoben.“13 Vorsorge und Pflege des Kçrpers wurden zunehmend als individuelle Aufgaben wahrgenommen, die zu den Pflichten des prosperierenden Brgertums gehçrten.14 Das Streben nach Gesundheit objektivierte den Leib, dessen ,Natur‘ Teil der modernen Normalisierung wurde.15 Gleichzeitig wurde das Kçrperinnere zu einem Ort der Selbsterkenntnis stilisiert, der Kçrper einer strengen Selbstbeobachtung unterworfen. In diesem Zusammenhang stellte vor allem der Hygienediskurs diejenigen Kriterien zur Verfgung, die die Kçrper unterscheidbar, damit aber auch vergleichbar und messbar machten.16 Seine Ratschlge galten einem Subjekt, dass Zeit und Muße hatte, ,seinen‘ Kçrper zu betrachten

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private Kçrper lçst darber hinaus die jahrhundertealte Vorstellung von zwei Geschlechtern in einem ab. Die Geschlechterdifferenz wird um 1800 zu einem Faktum stilisiert, auf dem fortan alle kulturellen, politischen und çkonomischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern aufsitzen. Vgl. Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt/Main, New York 1992; Duden, Geschichte unter der Haut, S. 42 f. Vgl. Duden, Geschichte unter der Haut, S. 28. Vgl. Duden, Geschichte unter der Haut, S. 28. Zur historischen Genese von Gesundheit als ,natrlichem‘ Wunsch, der wissenschaftlich kontrolliert wird, vgl. Duden, ebd., S. 29 32. Zur Konstruktion von Gesundheit und Krankheit vgl. auch Ute Frevert: Krankheit als politisches Problem 1770 1880. Soziale Un terschichten in Preußen zwischen medizinischer Polizei und staatlicher Sozial versicherung, Gçttingen 1984. Die Konstruktion eines ,natrlichen‘ Kçrpers kann in diesem Zusammenhang als spezifische Form von Normalisierung verstanden werden, die eine Strategie der Objektivierung ist. Vgl. Mçhring, Marmorleiber, S. 26 34. Vgl. Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 174. Hygiene ist Sarasin zufolge „Teil der Kultur eines zur Macht gelangten Brgertums, das auf Differenz gegenber anderen Klassen bedacht war und zumindest hinsichtlich der brgerlichen Mnner an die Werte der Individualitt, der persçnlichen Lebensgestaltung, der Selbstverantwortung und der rationalen Begrndung des eigenen Handelns glaubte (ein Selbstverhltnis, das natrlich keineswegs frei von Machtbeziehun gen war).“ (Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 257.)

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und dessen Zeichen zu deuten. Mit dem Hygienediskurs traten Objektivierung und Subjektivierung des Kçrpers, Normalisierung und Individualisierung in ein sich wechselseitig vielfach verstrkendes Spannungsverhltnis ein, das fr den modernen Sport als konstitutiv gelten kann. Denn der Kçrper im modernen Sport ist Objekt wissenschaftlich angeleiteter Kontrolle und ermçglicht gleichzeitig individuelle Erfahrungen, die sich jedem kontrollierenden Zugriff entziehen.

2. Sport und Kçrperkultur Im hygienischen Konzept von Gesundheit, das maßgeblich fr die Kçrperkulturbewegung wurde, verbanden sich in der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts selbstverantwortliche Lebensfhrung und Pflichterfllung gegenber der Gesellschaft, ein Konzept, das sptestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts auch die Sorge um die ,Volksgesundheit‘ einschloss. Nicht nur Mediziner beschworen wiederholt die „Pflicht“, sich um den Kçrper zu kmmern und sich gesund zu erhalten, auch die Politik zielte um 1900 auf eine „Gesundheitspflicht“.17 Durch die Folgen der Industrialisierung – insbesondere dem sozialen Elend in den Arbeiterquartieren der entstehenden bzw. expandierenden Großstdte, aber auch dem Wandel der Lebensbedingungen in den Stdten generell – und der einsetzenden gesellschaftlichen Diskussion ber diese Missstnde wurde Gesundheit auch zu einem Konzept fr die nichtbrgerliche Bevçlkerung. Gleichzeitig wurde die Sportpraxis, die bis dato vor allem dem Vergngen des Großbrgertums und des Adels diente, aus ihrem Kontext gelçst und zur „Arbeit“ erklrt, die, wie der Mediziner Julian Marcuse (1862 – 1942) programmatisch schrieb, aus Pflichtgefhl gegenber der im Alltag „mißhandelten Leiblichkeit“ verrichtet werde.18 Diese Zielsetzung stand nicht nur dem traditionell zweckfreien Spiel des Sports offensichtlich entgegen, sondern richtete sich auch an neue Adressaten. Ihnen lieferte das Kompendium Moderne Kçrperkultur die entscheidenden Stichworte zur pflichterfllten Arbeit am eigenen Kçrper: 17 Vgl. Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 259; Mçhring, Marmorleiber, S. 272 f. 18 Vgl. Julian Marcuse: Kçrperpflege durch Wasser, Luft und Sport. Eine Anleitung zur Lebenskunst, Leipzig 1908, S. 113. Die Rede von der „Arbeit“ verweist auf das Paradox, dass Anstrengung nçtig war, um einen ,natrlichen‘ Kçrper zu erlangen. Vgl. Siemens, Neue Literatur zur Kçrpergeschichte, S. 643.

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Sport ist wahrhaftig zehnmal mehr als ein Vergngen; er ist, zumal fr die Stdter und fr alle Schreibtischarbeiter, eine ernste Pflicht der Selbsterhaltung geworden. Jede Mußestunde sollten wir moderne Menschen dazu benutzen, mit seiner Hilfe Siechtum und frhen Tod zu vermeiden. Nur Bewegung ist Leben; ohne Bewegung mssen wir verkmmern, verlernen die wichtigsten Organe unseres Kçrpers die Erfllung ihrer Aufgaben. Unaufhçrlich klingt uns der Vorwurf ins Ohr, daß die Kultur von heute ihren eigenen Untergang erzwingt, daß die berhastete, ruhelose Erwerbsttigkeit, die tolle Jagd nach dem Geld und die einseitige Ausbildung geistiger Fhigkeiten uns zu kçrperlich widerstandslosen Gehirnkrppeln macht.19

Als Gegenbewegung zum lauten, hektischen und beengten Leben in den Stdten entwickelten sich Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche Gruppierungen, die im Anschluss an den modernen Hygienediskurs den Kçrper zum Ansatzpunkt einer natrlichen Lebensweise whlten. So heißt es beispielsweise bei Marcuse programmatisch: Selbst sein bißchen Kraft erproben und vorsichtig mehren, bei der Gelegenheit wieder in ein annehmbares Verhltnis zur mietskasernenfreien Natur treten und von Wald und Fluß Sauerstoff und Wasserduft, vor allem Sonne, mit nach Hause bringen, das ist Sport! […] Er gibt uns die Freiheit wieder, die wir Woche und Monat, Jahr um Jahr hinter den Gittern und Schranken der Erwerbskfige zurcklassen mssen, er fllt uns mit wohligem Behagen, mit Lust und Liebe zum Leben.20

Verantwortung sich selbst gegenber sollte den Boden bereiten fr eine Bewegung, die Vernunft und Genuss miteinander verband. Die „Liebe zum Leben“ sollte durch eine umfassende Selbstreform schließlich zu einer Vernderung der gesellschaftlichen Verhltnisse fhren, die als Befreiung und Rckkehr zur Natur gefeiert wurde. Zu den weiteren Themen dieser brgerlich-protestantisch geprgten Reformbewegung, die unter dem Oberbegriff ,Lebensreform‘ firmierte, gehçrten neben dem Sport Gymnastik, Neuer Tanz, Nacktkultur, Vegetarismus, Antialkoholismus und Nikotinfeindschaft, Tierschutz, Impf- und Vivisektionsgegnerschaft, Naturheilkunde, Wohnungsreform, Gartenstadt- und Siedlungsbewegung sowie Neue Pdagogik.21 19 Moderne Kçrperkultur. Ein Kompendium der gesamten modernen Kçrperkultur durch Leibesbung, hg. von Richard Nordhausen, Leipzig 1909, hier S. 2. 20 Marcuse, Kçrperpflege, S. 113. 21 Der Begriff ,Lebensreform‘ entstand vermutlich nicht vor 1890. Mit ihm schufen die vielfltigen Gruppierungen, die Konzepte einer naturgemßen Lebensfh rung zu verwirklichen suchten, einen Oberbegriff als Selbstbezeichnung, um ihr gemeinsames Anliegen kenntlich zu machen und darber hinaus einen inhaltli chen und sozialen Bezugsrahmen zu schaffen. Zur Lebensreformbewegung vgl.

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Wie diese Aufzhlung bereits deutlich macht, setzten die verschiedenen Gruppierungen auf die Verbreitung sozialhygienischer Konzepte von Gesundheit, Erziehung und vermeintlich natrlichem Leben.22 In enger inhaltlicher und zeitlicher Nhe zur Lebensreformbewegung auf der einen und dem entstehenden modernen Sport auf der anderen Seite entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts die Kçrperkulturbewegung.23 hnlich wie die Lebensreformbewegung umfasste auch die Kçrperkulturbewegung eine Vielzahl kleiner, heterogener Gruppierungen. Um 1900 wurde sie im Bereich der Leibesbungen als dritte Kraft neben Turnen und Sport wahrgenommen.24 Bernd Wedemeyer-Kolwe zufolge lsst sich die Kçrperkulturbewegung in vier große Sinnstiftungsprinzipien gliedern: 1. Rhythmus, 2. Reinkarnation, 3. Licht und Luft und 4. Kraft und Schçnheit.25 Sie stand im Spannungsfeld zwischen Selbstreform durch Kçrperpflege und Bewegung, an deren Endpunkt der mitunter geradezu prophetisch beschworene ,Neue Mensch‘ aufschien, und einer skularisierten, kommerziell ausgerichteten Trainingskultur, die auch den Wettbewerb und Leistungsvergleich nicht scheute, was sie allerdings in Widersprche be-

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Janos Frecot/Johann Geist/Diethart Kerbs: Fidus (1868 1948). Zur stheti schen Praxis brgerlicher Fluchtbewegungen, Mnchen 1972; Barlçsius, Na turgemße Lebensfhrung; Corona Hepp: Avantgarde. Moderne Kunst, Kul turkritik und Reformbewegungen nach der Jahrhundertwende, Mnchen 1987; Kai Buchholz, Rita Latocha, Hilke Peckmann, Klaus Wolbert (Hrsg.): Die Le bensreform. Entwrfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde., Darmstadt 2001; zur Modernitt der Lebensreformbewegung vgl. auch Mçhring, Marmorleiber, S. 13. Ein verwandtes Phnomen ist in der Jugendbewegung zu sehen. Vgl. Detlev J.K. Peukert: „Mit uns zieht die neue Zeit…“. Jugend zwischen Disziplinierung und Revolte, in: Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880 1930, hg. von August Nitschke, Gerhard A. Ritter, Detlev J.K. Peukert, Rdiger vom Bruch, Bd. 1, Reinbek 1990, S. 176 202; Sabine Weißler (Hrsg.): Fokus Wandervogel. Der Wandervogel in seinen Beziehungen zu den Reformbewe gungen vor dem Ersten Weltkrieg, Marburg 2001. Vgl. Wedemeyer Kolwe, „Der neue Mensch“. Einen fundierten berblick ber die Entwicklung und Zielsetzung der verschiedenen Gruppierungen, die zur Kçrperkulturbewegung zu zhlen sind, gibt auch Sabine Merta: Wege und Irr wege zum modernen Schlankheitskult. Ditkost und Kçrperkultur als Suche nach neuen Lebensstilformen 1880 1930, Stuttgart 2003, S. 356 511. Vgl. Wedemeyer Kolwe: „Der neue Mensch“, S. 12. Zur Unterscheidung von Sport , Bewegungs und Kçrperkultur vgl. auch Merta, Schlankheitskult, S. 423. Vgl. Wedemeyer Kolwe, „Der neue Mensch“, S. 23.

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zglich der Zielsetzung von gymnastischen bungen und Sport verwickelte.26 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lsst sich ,Kçrperkultur‘ generell als durchdachte, selbstverantwortliche Pflege des eigenen Kçrpers verstehen. „Kultur des Kçrpers heißt Pflege seiner Natur.“27 Diese Pflege beinhaltet neben der regelmßigen Reinigung des Kçrpers vor allem die Bewegung im Freien, um der Wohnungsmisere der Großstdte zu entfliehen und Sauerstoff und Sonne zu tanken, ein Programm, das ein zeitgençssischer Ratgeber-Titel wie Kçrperpflege durch Wasser, Luft und Sport (1908) pointiert zusammenfasst.28 Fr die Anhnger der Kçrperkultur war der Kçrper nicht einfach Mittel zum Zweck, sondern Ansatzpunkt fr grundlegende gesellschaftliche Vernderungen. Ihr Ziel bestand in der Bildung einer neuen Persçnlichkeit, die auf einer als natrlich verstandenen Einheit von Kçrper, Geist und Seele basierte.29 Der Sport wurde in diesem Zusammenhang fr zwei miteinander verwobene Perspektiven beansprucht, zum einen fr die hygienisch-medizinische, zum anderen fr die sthetische Ausrichtung der Kçrperkultur. So dienten Leibesbungen, Gymnastik und frische Luft im weitesten Sinne der Gesunderhaltung und Pflege des Kçrpers. Darber hinaus 26 Vgl. Wedemeyer Kolwe, „Der neue Mensch“, S. 14. 27 Karl Vogt: Mnnliche Kçrperpflege, in: ders. (Hrsg.): Kçrperkultur, aber wie und warum. Eine Anleitung fr Jedermann, Berlin und Leipzig 1909, S. 10 16, hier S. 16. 28 Vgl. Marcuse, Kçrperpflege. Zur Geschichte von Kçrperhygiene und Reinlich keit vgl. auch Alain Corbin: Pesthauch und Bltenduft. Eine Geschichte des Geruchs, Frankfurt/Main 1988; Georges Vigarello: Wasser und Seife, Puder und Parfum. Geschichte der Kçrperhygiene seit dem Mittelalter. Mit einem Nach wort v. Wolfgang Kaschuba, Frankfurt/Main 1988; Regina Lçneke/Ira Spieker (Hrsg.): Reinliche Leiber, schmutzige Geschfte. Kçrperhygiene und Reinlich keitsvorstellungen in zwei Jahrhunderten, Gçttingen 1996; Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 264 313. 29 Wedemeyer Kolwe betont daher die religiçsen Tendenzen der Kçrperkulturbe wegung, wobei er Religion unter Rckgriff auf Rudolf Otto und Mircea Eliade als Annahme einer heiligen transzendenten Sphre fasst, die auch im Diesseits liegen kann: „Da alle vier Prinzipien der Kçrperkulturbewegung den Kçrper als heiligen Raum betrachteten, dessen Pflege und Weiterentwicklung als heilige Handlung aufgefaßt wurde, bietet sich eine derartige Definition an, zumal sie einen vorurteilslosen Blick auf das Material und damit eine breitere Analyse zulßt.“ (Wedemeyer Kolwe, „Der neue Mensch“, S. 24). Zum Verhltnis von Religion und Reformbewegung vgl. Gottfried Kenzlen: Der Neue Mensch: eine Untersuchung zur skularen Religionsgeschichte der Moderne, 2. Aufl. Mnchen 1994.

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sollte die proklamierte Einheit der Persçnlichkeit in der Verwirklichung von Schçnheit in der Bewegung ihren Ausdruck finden. Fr diese Vorstellung wurde auf die Kçrperbilder der griechischen Antike zurckgegriffen, die als gelungene Verbindung von Natur und Kultur galten: „Das Prinzip des Schçnen, der quellenden Kraft, der reinen Freude beherrschte die Leibesbungen der Hellenen und schuf jene freie, nie der Anmut entbehrende Haltung und Bewegung, wie sie uns die steinernen Zeugen jener klassischen Epochen vor Augen fhren. Ihre Vorbilder sind nie mehr erreicht worden […].“30 Auch der Ratgeber Kçrperkultur, aber wie – und warum sieht den Sinn der Kçrperkultur darin, „[…] einen schçnen und geschmeidigen Kçrper heranzubilden und die Freude an dem Schçnen in der Natur zu erwecken.“31 Die Konstruktion der Natur des Kçrpers sollte den Brckenschlag zum positiven Naturerlebnis ermçglichen, das als Erfahrung des Selbst und Quell neuer Lebensfreude konzipiert wurde. In einem Zirkelschlussverfahren wurden also erst normative Setzungen in die Natur hineingelesen, um diese dann als Naturgesetze aus ihr wieder herauslesen zu kçnnen.32 Dieser Deutung von Natur folgte auch der Sport, insofern er generell der Krftigung des Kçrpers und der Bewegung im Freien diente. Er trug wesentlich zum natrlichen Gleichgewicht der kçrpereigenen Krfte bei, das die Ratgeberliteratur als harmonischen Ausgleich zwischen Leib und Seele pries, eine Harmonie, die der Schçnheit des kçrperlichen Ausdrucks in der Bewegung korrespondierte.33 Schçnheit und Gesundheit gingen in der Kçrperkulturbewegung mit der Norm des natrlichen Kçrpers eine 30 Marcuse, Kçrperpflege, S. 122. Auf die Bedeutung der sthetischen Normen der griechischen Antike geht Mçhring in ihrer Arbeit ausfhrlich ein. Vgl. Mçhring, Marmorleiber, Teil II: Der Naturkçrper als griechische Statue, S. 167 257. 31 Johannes Gaulke: Zur Kçrperkultur, in: Kçrperkultur, aber wie und warum?! Ein Ratgeber fr Jedermann, hg. von Karl Vogt, Berlin und Leipzig 1909 (= Sonderheft der „Literarischen Wanderungen“), S. 5 9, hier S. 7. 32 Vgl. dazu Mçhring, Marmorleiber, S. 263. 33 Diese auf eine harmonisch disziplinierte Norm zielenden Vorstellungen von Gesundheit und Bewegung waren auch im Bereich der Rhythmischen Gymnastik und im Ausdruckstanz von zentraler Bedeutung. Vgl. Rudolf Bode: Rhythmus und Kçrpererziehung. Fnf Abhandlungen, Jena 1923; ders.: Ausdrucksgym nastik, 2. Aufl. Mnchen 1926. Bode gilt als Begrnder der Rhythmischen Gymnastik. Zu Bode und den vielfltigen Anstzen im Bereich Rhythmischer Gymnastik und Kçrperkultur vgl. Wedemeyer Kolwe, „Der Neue Mensch“, S. 25 128.

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enge Verbindung ein, die sichtbare Gestalt in der Figur des (griechischen) Athleten fand. Gleichzeitig aber war der Sportpraxis ein Widerspruch eingeschrieben, der das propagierte Gleichgewicht leicht aus der Balance bringen konnte. So fhrte das regelmßige Training bestimmter Bewegungsmuster zu einer Steigerung der individuellen Leistung im Sport, auf die die lebensreformerische Kçrperkultur reagieren musste. Galt ihr die kçrperliche Bewegung vor allem als Gegengewicht zu den Belastungen durch Arbeit, Wohnungselend und großstdtischem Leben allgemein, gingen auf der anderen Seite Leistungssteigerung und Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft unweigerlich Hand in Hand. Viele Gruppierungen aus dem Bereich der Kçrperkultur waren an einem systematischen Training durchaus interessiert, um gute bungsergebnisse etwa in den Bereichen Fitness und Bodybuilding zu erzielen.34 Dafr griffen sie auch auf die Erkenntnisse der parallel entstehenden Sportphysiologie zurck.35 So beschrieb der Mediziner Marcuse beispielsweise das „Hinausschieben der Ermdungsgrenze“ und betonte, dass das „Trainieren auf bestimmte sportliche bungen“ den Betreffenden befhigte, „auch andere kçrperliche Kraftleistungen zu vollbringen, ohne daß vorzeitige Ermdung eintritt.“36 Diese Ergebnisse konnte selbst die aus der Physiologie entstehende Arbeitswissenschaft nutzen, da die systematische Einbung von Bewegungsablufen, wie im Folgenden noch genauer analysiert wird, immer mit ihrer Rationalisierung einher geht.37

34 Fitness und Body Building sind zeitgençssische Begriffe, die im Englischen ge lufig waren und zunehmend ins Deutsche bernommen wurden. Vgl. dazu Wedemeyer Kolwe, „Der neue Mensch“, S. 290. 35 Vgl. Wedemeyer Kolwe, „Der neue Mensch“, S. 427. 36 Marcuse, Kçrperpflege, S. 121. 37 Bezeichnenderweise findet sich in dem umfangreichen Band Moderne Kçrper kultur tatschlich auch ein Kapitel zur rationellen Lebensweise, das hygienische Ratschlge fr verschiedene Lebensbereiche gibt, die ihrer wissenschaftlichen Durchdringung korrespondieren. So finden sich Hinweise zur Hygiene der Ar beit, die jene Bemhungen umfasst, „die Arbeit richtig einzuteilen, um bei denkbar kleinstem Kraftaufwand das denkbar grçßte Quantum Arbeit zu leis ten.“ Paul Meißner: Rationelle Lebensweise, in: Moderne Kçrperkultur. Ein Kompendium der gesamten modernen Kçrperkultur durch Leibesbung, hg. von Richard Nordhausen, Leipzig 1909, S. 67 78, hier S. 67. Zur „Hygiene des Vergngens“ [sic!] gehçrt entsprechend „nicht nur eine vernnftige Mßigung, sondern auch eine geeignete Auswahl der Vergngungen […], um sie nicht statt zu ntzlichen, zu schdlichen Zugaben des Lebens zu machen.“ (Ebd., S. 70).

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Durch diesen Widerspruch zwischen Steigerung und Regenerierung der Leistungskraft blieb das Verhltnis der Kçrperkulturbewegung zum Sport letztlich ambivalent.38 Im Unterschied zur Sportpraxis diente das Training den Anhngerinnen und Anhngern der Kçrperkultur vor allem zur individuellen Gestaltung ihres Kçrpers, nicht dem Wettkampf. Unbegrenzte Leistungssteigerung war mit den Leitwerten Schçnheit und Gesundheit nicht zu vereinbaren. Daher zog die Kçrperkulturbewegung vor allem gegen das Rekordstreben als Inbegriff der maximal gesteigerten Leistung im Sport zu Felde. Im Interesse ihrer ,klassischen‘ Harmonieideale machte die Kçrperkulturbewegung, die den Kçrper als skulpturales Kunstwerk betrachtete, gegen die einseitige Belastung des Kçrpers im Sport mobil: Die Hauptsache aber bleibt, daß der Mensch seinen Kçrper schtzen lernt, daß er ihn als ein Kunstwerk, das herrlicher ist als alle Gebilde seiner Hand, betrachten lernt. Wenn er das erst begriffen hat, wird er sich von jedem Sport, der unschçne Bewegungen auslçst, aber auch vor jeder bertreibung einer sportlichen bung hten.39

Darber hinaus wurde das Konzept eines harmonischen Gleichgewichts des Kçrpers, das auf einer Verbindung von Leib und Seele basiert, bemht, um den Vorwurf der Geistlosigkeit abzuwehren, der die vermeintlich sinnentleerten bungen als Mittel zum Zweck des sportlichen Rekords betraf. Auch hier fungierte die griechische Antike als Modell einer Verbindung von Geistes- und Kçrperkultur.40 Die Ausbildung und Pflege des schçnen Kçrpers wurde somit – zugespitzt formuliert – zur Kunst fr alle erhoben: „Nur so ist Kçrperkultur Vergeistigung der Leiblichkeit. Alles Rekordwesen bringt dagegen wieder rein ußere Zweck- und Ntzlichkeitsgedanken in diese, in einem hçheren Sinn zwecklose, d. h. in sich selbst befriedigende Bettigung hinein.“41 38 Dieser Widerspruch ist bis heute nicht gelçst. Whrend Sport auf der einen Seite als integraler Bestandteil einer gesundheitsbewussten Lebensfhrung gilt, eine berzeugung, die beispielsweise darin ihren Ausdruck findet, dass Krankenkas sen Fitness Kurse bezahlen, ist auf der anderen Seite ebenso deutlich, dass Sport zahlreiche Risiken birgt, die umgekehrt die Frage aufwerfen, ob die Kranken kassen fr die Kosten von Sportunfllen aufkommen sollten. 39 Gaulke, Zur Kçrperkultur, S. 8. 40 Vgl. z. B. Gaulke, Zur Kçrperkultur, S. 8. Diese geistige Aufladung der Kçr perpraxis hat Musil in seinen Essays mehrfach satirisch kritisch analysiert. 41 Max Seber: Die kulturellen Grundlagen, in: Die Wahrheit um den Kçrper. Ein Aufruf zur Selbstbesinnung! Unter Mitwirkung fhrender Persçnlichkeiten hg. von Manfred Berg, Stuttgart 1927, S. 17 23, hier S. 22.

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Vor allem aber wurde gegen den Vorwurf der Geistlosigkeit angefhrt, dass harmonische Kçrperkultur die Menschen nicht von geistiger Bettigung und Beschftigung abhalte, da sie ja seiner Strkung gelte. „Sie ist ganz im Gegenteil ein mchtiges Auffrischungsmittel auch fr den Geist, sie schafft neben der kçrperlichen auch eine geistig-sittliche Lockerung […].“42 Ein anderer Autor rumte ein, dass die berechtigte Kritik an einer bloß intellektuellen Erziehung in das andere Extrem umgeschlagen sei, die nun zu einer ebenso strflichen Vernachlssigung allen geistigen Lebens fhre. Neben dem Streben nach Rekorden im Sport wurde als Beispiel die berbetonung des Kçrpers in der Nacktkultur genannt,43 die sich aus den Lichtluftbdern der Jahrhundertwende entwickelt hatte.44 Wo aber die Grenze zwischen einseitiger und ausgleichender Kçrperbung verlief, blieb unklar.45 Auch ein Arzt wie Marcuse, der eine sehr differenzierte Position in dieser Diskussion einnahm und im Gegensatz zu weiten Teilen der Kçrperkulturbewegung, die das Konkurrenzprinzip ablehnten,46 beispielsweise Ehrgeiz und Wetteifer als Antrieb fr sportliche Leistungen anerkannte, konnte letztlich nur zum Maßhalten anregen. Whrend Sport fr ihn ein Anwachsen der Muskulatur, Strkung des Herz-Lungen-Kreislaufs und ein ben des Nervensystems bedeutete,47 42 Seber, Die kulturellen Grundlagen, S. 22 43 Vgl. Therese Mlhause Vogeler: Der erzieherische Wert, in: Die Wahrheit um den Kçrper. Ein Aufruf zur Selbstbesinnung! Unter Mitwirkung fhrender Persçnlichkeiten hg. von Manfred Berg, Stuttgart 1927, S. 39 43, hier S. 40. 44 Vgl. J.M. Seitz: Die Nacktkulturbewegung. Ein Buch fr Unwissende und Wissende, Dresden 1923 (= Bcherei der Schçnheit, Bd. 6); vgl. neben der grundlegenden Arbeit von Mçhring, Marmorleiber; Giselher Spitzer: Der deutsche Naturismus. Idee und Entwicklung einer volkserzieherischen Bewegung im Schnittfeld von Lebensreform, Sport und Politik, Ahrensburg 1983; Oliver Kçnig: Nacktheit. Soziale Normen und Moral, Opladen 1990; Kerstin Gernig (Hrsg.): Nacktheit: sthetische Inszenierungen im Kulturvergleich, Kçln, Wei mar, Wien 2002. 45 Die Widersprchlichkeit, die die Position der Hygieniker charakterisiert, hat auch Sarasin hervorgehoben: „Regelmßige kçrperliche bungen, aber nicht ber die Schwelle der Ermdung hinaus, das heißt ohne wirklich außer Atem zu geraten und in Schweiß auszubrechen, auf der einen Seite und andrerseits das Wissen, dass systematisches Training die Schwelle der Ermdung hinauszu schieben vermag. Es blieb eine offene Frage, was genau ,Ermdung‘ sei und ab welchem Grad sie der kçrperlichen Ttigkeit Einhalt gebiete […].“ (Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 335.) 46 Vgl. Wedemyer Kolwe, „Der neue Mensch“, S. 426 f. 47 Vgl. Marcuse, Kçrperpflege, S. 121 f.

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geißelte er jegliche bertreibung dieses Trainings als bloße „Rekordschinderei“48. Vor diesem Hintergrund kam auch Marcuse zu dem Schluss, dass Kçrperkultur die „geistige Aufsicht“ ber die Form der Bewegung und die Verwirklichung des Schçnen am eigenen Kçrper sei.49 Letztlich ist damit aber ein nicht zu lçsender Widerspruch formuliert, denn – wie bis heute das Thema Doping zeigt – lassen sich Leistungssteigerung und Selbstbeschrnkung kaum miteinander vereinbaren.50 Besonders deutlich traten die Widersprche zwischen Sport und Kçrperkultur im Verkehrssport hervor. Ende des 19. Jahrhunderts kam in weiten Teilen der Bevçlkerung das Fahrradfahren in Mode.51 Die Kçrperkultur begrßte das Radfahren, weil es „Tausenden von geplagten Großstadtmenschen“ die Mçglichkeit erçffnet habe, „[…] sich die Natur zurckzuerobern und den von einer einseitigen Berufsarbeit erschlafften Kçrper neu zu beleben.“52 Besonders das Wanderfahren wurde empfohlen, weil es alle Vorzge von Bewegung an der frischen Luft mit neuen Erlebnissen verband: „Namentlich fr junge Leute gibt es kaum etwas Ntzlicheres und Segensvolleres als die Lust am Wanderfahren. Sie verleiht ihnen Mut und Spannkraft, hlt sie von anderen, weniger ntzlichen Zerstreuungen zurck, erweitert den Blick und den geistigen Gesichtskreis und bereichert sie durch Erfahrung und Anschauung um tausenderlei wertvolle Kenntnisse.“53 Charakteristisch fr die Kçrperkultur ist in dieser Beschreibung des Radwanderns die Verbindung von Ntzlichem und Angenehmen, das dem Zusammenspiel von kçrperlichem und geistigem Erleben korrespondiert.54 Schon in der Einleitung zum Kom48 Marcuse, Kçrperpflege, S. 121. 49 Vgl. Marcuse, Kçrperpflege, S. 123. 50 Vgl. John Hoberman: Doping im Sport. Historische und kulturelle Kontexte, in: Kristiane Hasselmann, Sandra Schmidt, Cornelia Zumbusch (Hrsg.): Utopische Kçrper. Visionen knftiger Kçrper in Geschichte, Kunst und Gesellschaft, Mnchen 2004, S. 193 209. 51 Vgl. Moderne Kçrperkultur, S. 557 584; vgl. außerdem Rdiger Rabenstein: Radsport und Gesellschaft. Ihre sozialgeschichtlichen Zusammenhnge in der Zeit von 1867 bis 1914, Hildesheim, Mnchen, Zrich 1991; Gudrun Maier hof/Katinka Schrçder: Sie radeln wie ein Mann, Madame! Wie die Frauen das Rad eroberten, Dortmund 1992. 52 Gaulke, Zur Kçrperkultur, S. 7. 53 Moderne Kçrperkultur, S. 565. 54 Neben dem Radwandern erfreute sich auch das Wanderrudern einiger Beliebt heit: „Wer glckliche, anregende Wochen verleben will, nehme sich ein Boot und rudere durch Deutschland.“ (Marie von Bunsen: Im Ruderboot durch Deutschland. Havel, Werra, Weser und Oder. Berlin 1914, S. 351.) Die Auf

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pendium Moderne Kçrperkultur hatte es geheißen: „Losgelçst sein von der Gedankenlast, in holdseligem Stumpfsinn ber Flsse und Seen rudern, ber Berg und Tal wandern, dafr liebevoll und interessiert tausend Dinge schauen, die man sonst in nervçser Hast bersieht, das ist die kçstlichste Gabe des Sports, das wichtigste von seinen hygienischen Mitteln.“55 Dagegen kritisierte der Ratgeber Kçrperkultur, aber wie und warum?, dass sich das Tourenfahren rasch zur „Kilometerfresserei“, zu einer „Hetzjagd auf der Landstraße“ um ihrer selbst willen entwickelt habe.56 Offenbar wurde also auch das erfrischende Radfahren von der Steigerungsbewegung erfasst, die das harmonische Gleichgewichtsstreben der Kçrperkultur in Frage stellt. Die extremen Belastungen, denen sich die Radrennfahrer aussetzten, machten darber hinaus um 1900 gerade die Radrennbahnen zu Freiluftlaboratorien der ersten Sportphysiologen, die sogar vor den gesundheitlichen Schden dieser Rennen warnten.57 Die Bewegung der Temposteigerung setzte sich im schnelleren Automobil fort, welches das Radfahren degradierte und neue Geschwindigkeiten zum Ideal erhob. „Der Rest des Naturempfindens, den der moderne Mensch sich noch erhalten hat, wird ihm dank der Geschwindigkeit des Fahrzeugs vollkommen ausgetrieben.“58 Die erhçhte Geschwindigkeit wurde in den Augen ihrer Kritiker zum Mittel der Entpersçnlichung, weil die Natur auf diese Weise nicht (mehr) erlebt werden konnte. Das Tempo moderner Bewegung widersprach der Konstruktion von Natur, auf der die gesamte Kçrperkultur basierte. Dieses

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zeichnungen von Marie von Bunsen sind ein aufschlussreiches Beispiel fr die noch unbestimmten Grenzen im Zusammenspiel von Sport und Kçrperkultur. Denn whrend die Autorin weder kçrperliche Anstrengung noch witterungsbe dingte Hindernisse scheut und sich selbst eindeutig zu den ,Sportsleuten‘ zhlt, besteht sie darauf, dass ihre Fahrten Wanderungen sind, gibt umfangreiche Schilderungen aller Sehenswrdigkeiten unterwegs und kritisiert die mangelnde Aufmerksamkeit derjenigen, denen es bloß um ihre „Tour“ gehe. Vgl. von Bunsen, ebd., S. 12. Vgl. Moderne Kçrperkultur, Zur Einleitung, S. 3. Vgl. Gaulke, Zur Kçrperkultur, S. 7. Vgl. Hoberman, Sterbliche Maschinen, S. 98 101. Die Spannweite des Rad sports zwischen dem Kraft und Frische spendenden Radfahren und dem Extrem des Rekordstrebens hat auch Eduard Bertz in seiner Philosophie des Fahrrads hervorgehoben. Vgl. Eduard Bertz: Philosophie des Fahrrads [1900]. Mit einem Anhang neu herausgegeben von Wulfhard Stahl, Paderborn 1997, bes. S. 91. Gaulke, Zur Kçrperkultur, S. 7. Zur Kritik des Rennfahrens vgl. auch Marcuse, Kçrperpflege, S. 110.

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Naturerlebnis aber war Teil der Persçnlichkeitsbildung, die die Kçrperkulturbewegung propagierte.59 Zusammenfassend lsst sich die widersprchliche Position der Kçrperkultur folgendermaßen skizzieren: Die mçglichst umfassende Bewegung des Kçrpers wurde als wirksamer Ausgleich, wenn nicht gar als Befreiung von den Belastungen der Arbeit und des Großstadtlebens gesehen. Die bungen bestanden vorwiegend aus rhythmischer Gymnastik, asiatischen Kçrperbungen sowie Bodybuilding.60 Dieses Programm basierte auf einem modernen Kçrperverstndnis, das von der selbstbestimmten Gestaltbarkeit des eigenen Kçrpers ausging. Ihm korrespondierte die pharmazeutische Entwicklung von Kosmetik und knstlichen Kraft- und Ernhrungsmitteln.61 Die proklamierte Befreiung legte dem Einzelnen daher praktisch neue Zwnge und verstrkte Selbstkontrolle auf.62 Seitdem gilt, dass sich jeder Gesundheit und Schçnheit selbst erarbeiten kann, eine Haltung, die vor allem die Angestelltenkultur charakterisiert. Irmgard Keun (1909 – 1982) hat diese Einstellung in ihrem Roman Gilgi – eine von uns (1931) treffend auf den Punkt gebracht: „Ein gepflegtes Gesicht. Gepflegt ist mehr als hbsch, es ist eignes Verdienst.“63 Programmatisch setzt der Text mit Gilgis Morgengymnastik ein, die den Beginn jedes Arbeitstages markiert: „Halbsieben Uhr morgens. Das Mdchen Gilgi ist aufgestanden. Steht im winterkalten Zimmer, reckt sich, dehnt sich, reibt sich den Schlaf aus den blanken Augen. Turnt vor dem weitgeçffneten Fenster. Rumpfbeuge: auf – nieder, auf – nieder. Die Fingerspitzen berhren den Boden, die Knie bleiben gestreckt. So ist es richtig. Auf – nieder. Auf – nieder.“64 Gegenber diesem Programm der selbsttechnischen Arbeit wurden der sportliche Wettkampf sowie die mit ihm verbundene Steigerung von 59 Musil wird dagegen den Geschwindigkeitsrausch als gesteigerte Erfahrung deuten und zu einer anderen Schlussfolgerung gelangen. Fr ihn ist Beschleunigung zentraler Bestandteil seines Konzepts der Entrckung, das zur Individualisierung beitrgt. Auf diesen Zusammenhang werde ich im Kapitel: Der Kçrper im Sport: Kunst und Moral des Crawlens genauer eingehen. 60 Vgl. Wedemeyer Kolwe, „Der neue Mensch“, S. 426. 61 Vgl. dazu Heiko Stoff: Ewige Jugend und Schçnheit. Veraltete und verjngte Kçrper zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Kristiane Hasselmann, Sandra Schmidt, Cornelia Zumbusch (Hrsg.): Utopische Kçrper. Visionen knftiger Kçrper in Geschichte, Kunst und Gesellschaft, Mnchen 2004, S. 41 60. 62 Vgl. Siemens, Neue Literatur zur Kçrpergeschichte, S. 646. 63 Irmgard Keun: Gilgi eine von uns [1931], Hildesheim 1993, S. 7. 64 Keun, Gilgi, S. 5.

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Leistung und Geschwindigkeit als „Selbstzweck“ diskreditiert.65 Dass sich zu exzessives Training gesundheitsschdigend auswirkt, kam erschwerend hinzu. Auch aus diesem Grund widersprach der Leistungssport dem gesundheitsfçrdernden Programm der Kçrperkultur, die ihrerseits auf eine Steigerung von Schçnheit und Gesundheit zielte und damit die vielbeschworene Natrlichkeit ihrer Praktiken letztlich als Konstrukt entlarvte. Um diesen Widerspruch moderner Bewegung zu verdecken, machten die Anhngerinnen und Anhnger der Kçrperkultur Front gegen den Leistungssport und die berbetonung des Kçrpers, die das Ideal der Mßigung und das angestrebte Gleichgewicht von Geist und Kçrper bedrohte, ein Szenario, das auch die in ihren Schriften mehrfach angefhrten Schulmeister und Altphilologen beklagten.66 Dass ausgerechnet die Altphilologen fr das Gleichgewicht von Geist und Kçrper herhalten mussten, verweist aber noch auf einen weitergehenden Konflikt: Im Gegensatz zum maßvollen, bildungsbrgerlichen Verstndnis antiker Schçnheit folgte das Kçrperkonzept im parallel entstehenden Leistungssport dem physiologischen Modell des Kçrpers als Maschine, dessen Bewegung auf experimentell bewiesenen Naturgesetzen beruht. Der Konflikt zwischen Kçrperkultur und Sport ist daher auch als Reflex auf den modernen Streit zwischen Geistes- und Naturwissenschaften ber die Deutungshoheit des Menschen zu verstehen.67 Da sich dieser Konflikt nicht lçsen ließ, prgten Grenzziehungsfragen zwischen Sport und Kçrperkultur die Diskussion noch whrend der zwanziger Jahre. Parallel dazu vollzog sich durch die allgemeine Durchsetzung moderner Trainingsmethoden eine weitgehende Amalgamierung von Kçrperkultur- und Sportbewegung.68 Im Sport wurde das Verhltnis der Kçrperkultur zur modernen Welt virulent, das mit dem Verweis auf die griechische Antike nicht mehr allein geklrt werden konnte. Gleich65 Vgl. Gaulke, Zur Kçrperkultur, S. 7. 66 So weist Johannes Gaulke die vermeintliche Sorge der Altphilologen zurck, der Sport fhre zum Untergang der Kultur, zum Rckfall in die Barbarei und mache bald „Theatern und anderen Sttten geistiger Erholung und Erbauung“ Kon kurrenz. Vgl. Gaulke, Zur Kçrperkultur, S. 6. 67 Zum „Grenzziehungskonflikt“ zwischen Geistes und Naturwissenschaften vgl. Constantin Goschler: Rudolf Virchow. Mediziner Anthropologe Politiker, Kçln, Weimar, Wien 2002, S. 392 f. Dieser Konflikt spielt auch in der Biografie des Physiologen Emil du Bois Reymond eine wichtige Rolle. Vgl. Sven Dierig: Wissenschaft in der Maschinenstadt. Emil Du Bois Reymond und seine Labo ratorien in Berlin, Gçttingen 2006, S. 268 f. 68 Vgl. Wedemeyer Kolwe, „Der neue Mensch“, S. 427.

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zeitig muss bereits die Entwicklung einer spezifischen Kçrperkultur als durch und durch moderner Versuch individueller Selbstbehauptung gegenber dem rapiden gesellschaftlichen Wandel, der Industrialisierung und Urbanisierung und damit verbunden den Vernderungen der ußerlichen Kultur interpretiert werden, wie ihn beispielsweise Simmel als „Kampf um die leibliche Existenz“ zu Beginn seiner Vorlesung ber Die Großstdte und das Geistesleben beschrieben hat.69

3. Physiologie des Sports Der Entwicklung von Hochleistungen im entstehenden Wettkampfsport brachten die modernen Naturwissenschaften schon im 19. Jahrhundert reges Interesse entgegen. Die sich ausdifferenzierenden Disziplinen Biologie, Chemie, Physik und Physiologie nherten sich der Erforschung des bewegten Kçrpers auf experimenteller Basis an. Die Physiologie setzte sich zum Ziel, die Organfunktionen des Kçrpers mit physikalischen und chemischen Methoden zu untersuchen und auf entsprechende Gesetzmßigkeiten zurckzufhren. Die Erklrung kçrperlicher Funktionen durch Naturgesetze, die experimentell exakt nachgewiesen werden konnten, drngte das Konzept der ,Lebenskraft‘ als Erklrungsmodell zurck. Damit setzte sich ein mechanistisches Verstndnis des Kçrpers durch, das Hand in Hand mit der technischen Entwicklung im Zuge der Industrialisierung ging. Mit Energie und Muskelkraft wurde – vor allem vorangetrieben durch die Arbeiten von Emil du Bois-Reymond (1818 – 1896) und Hermann von Helmholtz (1821 – 1894) – ein thermodynamisches Kçrpermodell leitend. Es trug wesentlich zur Wahrnehmung eines neuen, modernen Kçrpers bei, dessen Leistungen messbar waren.70 In den Leibesbungen erkannten die Physiologen ein geeignetes Untersuchungsfeld fr die Analyse kçrperlicher Bewegung, bung und kçrperlicher Funktionen unter Hochbelastung.71 Mit ihrer Abgrenzung

69 Vgl. Georg Simmel: Die Großstdte und das Geistesleben, in: Georg Simmel Aufstze und Abhandlungen 1901 1908, Bd. 1, hg. von Rdiger Kramme, Angela Rammstedt u. Otthein Rammstedt, Frankfurt/Main 1995 (= Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 7), S. 116 131, hier S. 116. 70 Vgl. Peter W. Ruff: Emil du Bois Reymond, Leipzig 1981, S. 39 58; Rabin bach, Motor Mensch, bes. S. 67 84; Sarasin/Tanner, Einleitung, S. 12 43. 71 In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass du Bois Reymond selbst ein erfahrener Turner war, der regelmßig Leibesbungen absolvierte. Vgl. Emil du

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von der weiblich codierten Lebenskraft schufen die physiologischen Arbeiten gleichzeitig die Grundlage fr ein spezifisch mnnliches Kçrperideal,72 das im trainierten, muskelgesthlten Kçrper des Sportlers Ende des 19. Jahrhunderts Gestalt annehmen sollte. Um die Jahrhundertwende bildete der Sport neben industrieller Arbeit und militrischem Dienst einen dritten Bereich kçrperlicher Bettigung, der der wissenschaftlichen Beobachtung relativ leicht zugnglich war. Das sportliche Training erlaubte eine regelmßige Messung und Wiederholung bestimmter Bewegungsablufe, die an die Grenze der menschlichen Leistungsfhigkeit reichten. Allgemein wurde unter ,Training‘ im 19. Jahrhundert die Einbung von Methoden verstanden, die dazu befhigten, große kçrperliche Anstrengungen zu berstehen.73 Bezogen auf die Geschichte und die sportliche Bedeutung des Begriffs hieß es 1897 in einer Arbeit zum militrischen Training: Training kommt bekanntlich vom englischen to train (trahere) = abrichten und bezog sich im Mutterlande des sportlichen Wettkampfes ursprnglich auf den Turf oder Rennplatz. Es bedeutete hier die planmssige Vorbereitung und Erziehung von Pferd und Reiter zu hohen und ausdauernden Kraftleistungen durch eine systematische, allmhlich sich steigernde Kçrperbung und durch besondere ditetische Massregeln.74

Als kçrperliche bung war ,Training‘ selbstverstndlicher Bestandteil der Ertchtigung von Soldaten.75 Hinzu kamen gezielte bungen zur Er-

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Bois Reymond: Ueber das Barrenturnen und ber die sogenannte rationelle Gymnastik, Berlin 1862, S. 1 u. 8. Vgl. dazu unter Rckgriff auf Helmholtz’ Gesetz der Energieerhaltung Maria Osietzki: Kçrpermaschinen und Dampfmaschinen. Vom Wandel der Physiologie und des Kçrpers unter dem Einfluß von Industrialisierung und Thermodynamik, in: Philipp Sarasin/Jakob Tanner (Hrsg.): Physiologie und industrielle Gesell schaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Kçrpers im 19. und 20. Jahr hundert, Frankfurt/Main 1998, S. 313 346, bes. S. 321 332. Philipp Sarasin zufolge findet sich der Begriff des Trainings zum ersten Mal 1823 in den Principes d’Hyginene von Louis Odier einer Zusammenfassung der Studie Code of Health and Longevity von John Sinclair (1807). Vgl. Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 330. [Anton] Leitenstorfer: Das militrische Training auf physiologischer und prak tischer Grundlage. Ein Leitfaden fr Offiziere und Militrrzte, Stuttgart 1897, S. 1 [Herv. von mir]. Der enge Zusammenhang von Physiologie und Militr zeigt sich auch daran, dass du Bois Reymond seine zentrale Abhandlung ber die bung am 2. August 1881 zunchst als Rede zur Stiftungsfeier der militrrztlichen Bildungsanstalten vor getragen hat. Vgl. Emil du Bois Reymond: ber die bung, in: Reden von Emil

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hçhung der Marschfhigkeit.76 So sah die Marschvorschrift der deutschen Felddienstordnung vom 1. Januar 1900 eine allmhliche Steigerung der Marschleistung vor: Die Marschausbildung des Rekruten beginnt frhzeitig und ist schrittweise so zu steigern, dass er allmhlich an die volle Kriegsausrstung gewçhnt wird. Hierzu gehçrt ein wohl durchdachtes, den besonderen Umstnden (Dienstperioden, Witterung, Gelndeverhltnisse u. s. w.) von Fall zu Fall angepasstes Fortschreiten.77

Wie bereits dieser Dienstvorschrift zu entnehmen ist, zielte weder das militrische noch das sportliche Training auf die berschreitung kçrperlicher Leistungsgrenzen. Vielmehr galt es unter großer Vorsicht die Grenzen der kçrperlichen Erschçpfung erst einmal festzustellen. Der Militrarzt Leitenstorfer beispielsweise betonte mehrfach, dass gutes Training nicht zur Erschçpfung fhre und nicht gesundheitsschdigend sei. Die Gemeinsamkeit von militrischem und sportlichem Training bestand fr ihn in der „Erziehung des Kçrpers zur grçssten Leistungsfhigkeit und Ausdauer mittels systematischer Leibesbung und unter Vermeidung von Gesundheitsschdigung […].“78 Und noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellten Nathan Zuntz (1847 – 1920) und Wilhelm Schumbug in ihren Studien zu einer Physiologie des Marsches nach einem ausfhrlichen Referat des Forschungsstandes fest: „Nur eine Frage bleibt bei allen Autoren wissenschaftlich und namentlich zahlenmssig unbeantwortet, das ist diejenige nach der Grenze der Leistungsfhigkeit des Soldaten auf dem Marsche.“79 Um diese Frage zu beantworten, erforschten Physiologen beispielsweise auch Bewegungen unter Hochbelastung in den Bergen, die Bedeutung der Flssigkeitszufuhr oder die Auswirkungen einer spezifischen Ernhrung auf die sportliche Leistung.80 Die entsprechenden Experimente standen im Zusammenhang mit der Entwicklung einer neuen

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du Bois Reymond in zwei Bnden, hg. von Estelle du Bois Reymond, Leipzig 1912, Bd. 2, S. 99 140. Vgl. Leitenstorfer, Das militrische Training, S. 67. Zitiert nach Nathan Zuntz/Wilhelm Ernst August Schumbug: Studien zu einer Physiologie des Marsches, Berlin 1901 (= Bibliothek von Coler. Sammlung von Werken aus dem Bereiche der medicinischen Wissenschaften mit besonderer Bercksichtigung der militrmedicinischen Gebiete, hg. von O. Schjerning, Bd. 6), S. 21. Leitenstorfer, Das militrische Training, S. 71. Zuntz/Schumbug, Physiologie des Marsches, S. 22 [Herv. i. Org.]. Vgl. Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 331.

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Wissenschaft vom Menschen, fr die sportliche Leistungen eines von verschiedenen Untersuchungsgebieten darstellten.81 Politisch waren diese Maßnahmen vor allem hinsichtlich der Wehrfhigkeit, der allgemeinen Gesundheitspflege und der reproduktiven Kapazitt der nationalen Gemeinschaft von Interesse.82 In Großbritannien wurden Vorstellungen ber die „nationale Effizienz“ auf den kçrperlichen Zustand der Industriearbeiter bertragen; der franzçsische Arzt Philippe Tissi, der sich als einer der ersten Mediziner intensiv mit dem entstehenden Sport beschftigte, setzte sich beispielsweise fr den Breitensport zur allgemeinen Gesunderhaltung ein.83 Gleichzeitig warnte Tissi, der das in Frankreich besonders beliebte Radfahren untersucht hatte, sehr frh vor den Gefahren des Leistungssports und wurde vor diesem Hintergrund ein Widersacher von Pierre de Coubertin (1863 – 1937), dem Begrnder der Olympischen Spiele der Neuzeit.84 Beide wollten Frankreich nach der Niederlage im DeutschFranzçsischen Krieg 1871 durch Leibesbungen wieder ,auf die Beine‘ bringen.85 Tissi ging es aber nicht in erster Linie um den Wettkampf, sondern um die Fçrderung der allgemeinen Gesundheit durch Sport im Sinne der Hygiene.86 Wie John Hoberman in seiner grundlegenden Untersuchung zum Doping und der Geschichte des Hochleistungssports herausgearbeitet hat, verfolgten die frhen physiologischen Untersuchungen zum Ablauf sportlicher Bewegungen lange ein vorwiegend diagnostisches Anliegen, das dem Verstndnis der Bewegung diente. Die Feststellung leistungsrelevanter Faktoren war nicht primr von leistungssteigernden Interessen geleitet, die berschreitung der kçrperlichen Leistungsgrenze galt – wie die Beispiele aus dem militrischen Bereich gezeigt haben – sogar als schdlich.87 Entsprechend sahen die Physiologen ihre Aufgabe keineswegs 81 Vgl. John Hoberman, Sterbliche Maschinen. Doping und die Unmenschlichkeit des Hochleistungssports, Aachen 1994 [New York 1992], S. 14 f. 82 Vgl. Hoberman, Sterbliche Maschinen, S. 16. 83 Vgl. Hoberman, Sterbliche Maschinen, S. 16. 84 Vgl. Thomas Alkemeyer: Kçrper, Kult und Politik. Von der „Muskelreligion“ Pierre de Coubertins zur Inszenierung von Macht in den Olympischen Spielen 1936, Frankfurt/Main 1996; Horst Ueberhorst: Die Olympischen Spiele der Neuzeit. Eine kleine Chronologie, in: Hans Sarkowicz (Hrsg.): Schneller, hçher, weiter. Eine Geschichte des Sports, Frankfurt/Main 1999, S. 96 112. 85 Vgl. Hoberman, Sterbliche Maschinen, S. 99. 86 Zur Auseinandersetzung zwischen Coubertin und Tissi vgl. ausfhrlicher Ho berman, Sterbliche Maschinen, S. 101 103. 87 Vgl. dazu auch Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 321.

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in der Produktion kçrperlicher Sensationen, sondern zunchst einmal nur in ihrer Messung und Untersuchung.88 Die Quantifizierung sportlicher Leistungen und die Anwendung physiologischer Erkenntnisse auf den Sport begannen erst Ende des 19. Jahrhunderts.89 Dagegen wurden quantifizierte Maßnahmen zur Leistungssteigerung in Großbritannien schon seit dem 17. Jahrhundert durch Zucht und Training bei Rennpferden erprobt. In der physiologischen Forschung des 19. Jahrhunderts spielten Tierversuche vor allem fr das Bewegungsstudium eine wichtige Rolle. So wurden der Energieverbrauch von Sugetieren oder der Gang von Pferden untersucht. Auch die ersten Versuche zum Doping (u. a. mit Alkohol und Opiaten) wurden mit Rennpferden gemacht, um die gewinntrchtige Leistungssteigerung nicht allein den Zchtern zu berlassen. Umgekehrt kam es vor, dass Pferde mit Kokain behandelt wurden, um ihre Leistung einzuschrnken und damit den Ausgang von Wetten zu beeinflussen.90 Erst Ende des 19. Jahrhunderts – vor allem begnstigt durch neue Instrumente – wurden auch Menschen in Bewegung vermessen, wobei eine große Spannbreite von Leistungen untersucht wurde, um die ihnen gemeinsame physiologische Norm zu ermitteln.91 Das Ziel dieser Versuche bestand in der physiologischen Kontrolle des menschlichen Organismus, um Messverfahren fr Leistung und Eignung entwickeln zu kçnnen. Die Physiologen folgten ihren Probanden auf lange Mrsche, die Berge hinauf und auf die ersten Radrennbahnen.92 Gleichzeitig entwickelten sie immer ausgefeiltere Instrumente, mit denen sie die verschiedenen Belastungen und Bewegungen messen und berechnen konnten. Ein Pionier auf diesem Gebiet war der Pariser Arzt und Physiologe, Erfinder und Kinopionier Etienne-Jules Marey (1830 – 1904), dessen Lebenswerk das Studium der Bewegung bildete. Der Kçrper stand im 88 Vgl. Hoberman, Sterbliche Maschinen, S. 17.. 89 Vgl. Hoberman, Sterbliche Maschinen, S. 14. 90 Vgl. Hoberman, Sterbliche Maschinen, S. 108 f., S. 117; zur Entwicklung der Parallelen im Hochleistungssport zwischen Pferden und Menschen, vgl. Hober man, Kap. 8: Pferde und Menschen. Pferdeleistungen und die Zukunft des Sports, S. 311 335. Vor diesem Hintergrund ist es mehr als folgerichtig, dass es in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften ein geniales Rennpferd ist, welches Ulrich bei seinem Versuch, ein bedeutender Mann zu werden, zuvor kommt. 91 Vgl. Hoberman, Sterbliche Maschinen, S. 82 f. 92 Vgl. Zuntz/Schumbug, Physiologie des Marsches; Philipp Felsch: Mde Augen. Physiologische Alpenreisen im fin de sicle, Berlin 2004 (= Max Planck Institut fr Wissenschaftsgeschichte, Preprint 280).

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Mittelpunkt seines Schaffens, das sich mit der wissenschaftlichen Auflçsung des Raum-Zeit-Kontinuums befasste und damit zu einer Schnittstelle zwischen sthetischer und technischer Moderne wurde.93 An dieser Schnittstelle wurde in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Figur des Sportlers erstmals medienwirksam in Szene gesetzt. In diesem Zeitraum entwickelte Marey die Technik der „Chronophotographie“,94 ein Verfahren, das es erlaubte, Bewegungen mit Hilfe einer Kamera und eines Aufzeichnungsapparates festzuhalten.95 Seinem photographischen Verfahren waren unter anderem Untersuchungen zur Gangart von Pferden vorausgegangen, durch die Marey in Kontakt mit Eadweard Muybridge (1830 – 1904) kam, der sich in Kalifornien bereits einen Namen durch Bewegungsaufnahmen von Pferden gemacht hatte und als Begrnder der Bewegungsphotographie gilt.96 Durch die intensive Auseinandersetzung mit Muybridge gelang es Marey, die Chronophotographie zu entwickeln, die nicht auf die Zerlegung von Bewegung in der Zeit, sondern auf die Zerlegung der Zeit in Bewegungen zielte.97 Die 93 Zur Darstellung des Lebensweges und der wichtigsten Werke Mareys unter dem Gesichtspunkt der von ihm entwickelten Aufzeichnungs und Aufnahmever fahren vgl. Marta Braun: Picturing Time. The Work of Etienne Jules Marey (1830 1904), Chicago and London 1992; in Hinblick auf seine Konzeption des Kçrpers vgl. Rabinbach, Motor Mensch, S. 101 146. Rabinbach charakterisiert Marey als „Ingenieur des Lebens“ (vgl. ebd., S. 105). Wie Sigfried Giedion betont hat, wurden Mareys Bewegungsstudien als Ausdruck und Problem des modernen Zeitalters ebenso zum Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Be triebsfhrung wie der modernen Kunst. Vgl. Sigfried Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung: ein Beitrag zur anonymen Geschichte [Orig.: Mechaniza tion Takes Command, Oxford 1948], mit einem Nachwort von Stanislaus von Moos, hg. von Henning Ritter, Sonderausgabe, Frankfurt/Main 1987, S. 37, S. 126 132. 94 Vgl. E.J. Marey: Die Chronophotographie. Aus dem Franzçsischen bersetzt von Dr. A. von Heydebreck, Berlin 1893. Reprint Deutsches Filmmuseum Frankfurt 1985 (= Kinematograph Nr. 2). 95 Dabei bediente sich Marey zunchst einer beweglichen, spter einer stationren Kamera. Ende der achtziger Jahre begann er außerdem mit den ersten Film streifen zur Bewegungsaufnahme zu experimentieren. Vgl. zu seinen Verfahren ausfhrlich Rabinbach, Motor Mensch, S. 122 127; Ute Holl: Kino, Trance und Kybernetik, Berlin 2002, S. 210 220. 96 Vgl. Rabinbach, Motor Mensch, S. 119. Zur Bewegungsphotographie vgl. Marlene Schnelle Schneyder: Photographie und Wahrnehmung am Beispiel der Bewegungsdarstellung im 19. Jahrhundert, Marburg 1996. 97 Vgl. Rabinbach, Motor Mensch, S. 122; Giedion, Herrschaft der Mechanisie rung, S. 41 f. An Mareys Bewegungsstudien konnte im 20. Jahrhundert der amerikanische Betriebsingenieur Frank B. Gilbreth anknpfen (vgl. Giedion,

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Abfolge der Bilder ermçglichte es den Betrachterinnen und Betrachtern, Bewegungen in ihrem genauen zeitlichen Ablauf zu rekonstruieren. Diese Rekonstruktion erschloss die Wahrnehmung von Bewegungen, die vorher unmçglich gewesen war. Mareys Aufnahmen schufen ein Wissen ber den Bewegungsablauf, das es erlaubte, Bewegungen zu przisieren und zu optimieren.98 Marey, der vor allem an der dokumentarischen Qualitt seiner Arbeit interessiert war, erkannte schnell, welche Chancen sein Verfahren fr die Entwicklung des Sports barg. Er schlug daher vor, Aufnahmen bei Wettkmpfen zu machen, da die Bilder Erfolgsgeheimnisse lften kçnnten, die den Sportlern nicht bewusst seien.99 In der Folge kombinierte er die Chronophotographie mit einem Gert zur Kraftaufzeichnung, so dass er den maximalen Krafteinsatz mit optimal ausgefhrten Bewegungen koppeln konnte. Auf Grundlage dieses Verfahrens konnten Sportler beraten werden, um hçher oder weiter zu springen.100 Bei den Olympischen Spielen 1900 machte er filmische Aufnahmen und studierte anhand dieses Materials die technischen Unterschiede zwischen franzçsischen und amerikanischen Sportlern z. B. im Diskuswerfen und Hochsprung. Filming the athletes was an ingenious way of studying a problem, since each movement could be analyzed in the most profound detail, phase by phase in slow motion. Modern video cameras have taken up this task; today no athlete would do without the assistance of what the camera reveals, both in assessing his or her own performance and in analyzing the strengths and weaknesses of competitors.101

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Herrschaft der Mechanisierung, S. 126 130), die Aufnahmen inspirierten aber auch die Knstler der Avantgarde (vgl. Holl, Kino, S. 212). Da er seine Studien nach eigener Aussage „zur Verbesserung der Kondition der Soldaten oder zur Verbesserung der Methoden der Leibeserziehung“ (Marey zi tiert nach Hoberman, Sterbliche Maschinen, S. 85) durchfhrte, forderte er immer wieder die franzçsische Regierung dazu auf, seine Arbeit zu unterstt zen. 1881 stellte ihm schließlich das franzçsische Kriegsministerium ein Gelnde zur Verfgung, auf dem er eine Rennbahn zu Forschungszwecken, eine Art Labor unter freiem Himmel einrichtete. Vgl. Hoberman, Sterbliche Maschinen, S. 97; Rabinbach, Motor Mensch, S. 123; Philipp Sarasin: Der çffentlich sichtbare Kçrper. Vom Spektakel der Anatomie zu den ,curiosits physiologiques‘, in: ders./Jakob Tanner (Hrsg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Kçrpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/ Main 1998, S. 419 452, hier S. 437 f. Vgl. Hoberman, Sterbliche Maschinen, S. 95. Vgl. Hoberman, Sterbliche Maschinen, S. 96. Braun, Picturing Time, S. 212.

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Mareys Untersuchungen bildeten insgesamt die am weitesten fortgeschrittene Sportphysiologie seiner Zeit; seine Erkenntnisse lieferten nicht nur einen wichtigen Baustein zu den Anfngen der Arbeitsphysiologie,102 sondern auch zur Geschichte des Films. Darber hinaus trugen seine Studien unter freiem Himmel ebenso wie seine fotografischen und frhen filmischen Aufnahmen zu einer çffentlichen Inszenierung des Kçrpers bei, die an die traditionelle Zurschaustellung des Kçrpers auf Festen und Jahrmrkten ebenso anknpfen konnte wie an die auf dem Kontinent zunehmend populrer werdenden Pferde- und sonstigen Wettrennen, eine Inszenierung, die sich auch als ,physiologisches Theater‘ charakterisieren lsst.103 ber Jahre hinweg boten die Leistungen der Wettkampfsportler den Wissenschaftlern faszinierendes Anschauungsmaterial fr die Vernderungen des Kçrpers unter harten bungsbedingungen, das dem Verstndnis der Bewegungsgesetze und der Erkenntnis der Ermdungsgrenzen des Kçrpers diente. Der Gedanke der Leistungssteigerung entstand daher nicht im Labor, sondern bei Sportlern und Trainern, die dafr medizinische Untersttzung beanspruchten.104 In den Anfngen dieser Zusammenarbeit liegen auch die Anfnge des Dopings, dessen Mçglichkeiten nach Experimenten an Tieren nun an Sportlern, insbesondere den Fahrern des Sechstagerennens, ausprobiert wurden.105 Umgekehrt gab es aber auch einige rzte wie zum Beispiel Tissi, der aus Sorge um die berlastung der Fahrer im Sport aktiv war. Durch die enge 102 Vgl. Hoberman, Sterbliche Maschinen, S. 97; Sarasin, Reizbare Maschinen, S. 327 f. 103 Sarasin kennzeichnet diese Sichtbarmachung des Kçrpers als „Doppelbewegung von Wissenschaft und Populrkultur“ (Sarasin, Der çffentlich sichtbare Kçrper, S. 441). Darber hinaus bildete Mareys fotografische Technik die Grundlage fr die entstehende Sportpresse, die das çffentliche Sportgeschehen von Anfang an begleitete. Vgl. Hoberman, Sterbliche Maschinen, S. 97. 104 Vgl. Hoberman, Sterbliche Maschinen, S. 21. Damit entstand die moderne Sportmedizin, die gleichzeitig dazu fhrte, dass sportliche Hçchstleistungen ohne die Untersttzung der Hochleistungsmedizin gar nicht mehr denkbar sind. 105 Die Fahrer wurden zu Versuchsobjekten fr leistungssteigernde Prparate, die heute smtlich auf der Liste verbotener Dopingmittel stehen wie Koffein, Al kohol, Opium oder Kokain. Es ist vor diesem Hintergrund naiv, die Anfnge des Wettkampfsports mit dem Amateurideal des fair play in Verbindung zu bringen. Vgl. Hoberman, Doping im Sport, S. 200. Zum Doping vgl. ferner Karl Heinrich Bette/Uwe Schimank: Anpassung durch Abweichung. Doping im Hochleistungssport, in: Hans Sarkowicz (Hrsg.): Schneller, hçher, weiter. Eine Geschichte des Sports, Frankfurt/Main 1999, S. 420 431; Michael Gamper: Doping: Spitzensport als gesellschaftliches Problem, Zrich 2000.

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Zusammenarbeit mit einem Radfahrer wurde Tissi nicht nur das zuknftige Potenzial der physiologischen Leistungssteigerung bewusst, er erkannte auch die Gefahren dieser Entwicklung, vor dessen Auswirkungen er seit der Jahrhundertwende nachdrcklich warnte.106 Aus medizinischen Grnden warnten auch die Militrrzte vor einer berlastung der Rekruten, die dem Leitbild der Ermdung zuwider lief. Sie verwahrten sich darber hinaus explizit gegen ein Sportverstndnis, das aus „jedem Vergngen einen Wettkampf“ macht.107 In der Frhphase arbeitswissenschaftlicher Studien wurde der Kçrper des Sportlers zum Vorbild des industriellen Leistungskçrpers. Im Unterschied zum Arbeiter verband die Figur des Sportlers Ausdauer, Kraft und Belastbarkeit mit Disziplin und Willen zum Erfolg. Im Unterschied zu den ,starken Mnnern‘ auf den Jahrmrkten verfolgte der Sportler darber hinaus festgesetzte Ziele, die die Bewunderung der Wissenschaftler erweckten. Anders als der sich abmhende, schmutzige Arbeiterkçrper konnte der glnzende Maschinenkçrper des Sportlers zu einem Sinnbild fr kontrolliertes Leistungsstreben und Erfolg werden.108 Vor dem Hintergrund brgerlicher Vorstellungen von der ,Natur‘ der Frau und der Geschlechtscharaktere muss dieses Kçrperideal darber hinaus als Mnnlichkeitsentwurf verstanden werden, dessen Geltungsanspruch auf naturwissenschaftlicher Grundlagenforschung basierte.109 Mit dem Siegeszug der modernen Naturwissenschaften im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde damit der Knstler und Universalgelehrte als brgerliches Mnnlichkeitsideal zugunsten des Sportlers abgelçst. Dieser Paradigmenwechsel spielt auch in der Identittssuche von Musils Protagonist Ulrich im Mann ohne Eigenschaften eine zentrale Rolle. In diesem Prozess der Modernisierung entwickelte sich der Sportler sowohl fr die beteiligten Wissenschaftler als auch fr die modernen Unternehmer, mit denen diese in den verschiedenen naturwissenschaftlich-technischen Gesellschaften und Vereinen zusammentrafen, zu einer

106 107 108 109

Vgl. Hoberman, Sterbliche Maschinen, S. 17. Vgl. Leitenstorfer, Das militrische Training, S. 1. Vgl. Sarasin, Der çffentlich sichtbare Kçrper, S. 445. Constantin Goschler hat in Bezug auf Rudolf Virchow sehr deutlich herausge arbeitet, wie sich Geschlechtsidentitt und professionelle Identitt vor dem Hintergrund des brgerlichen Geschlechterdiskurses zu einem Bild des Natur wissenschaftlers als „Super Mann“ verdichten. Vgl. Goschler, Rudolf Virchow, S. 379 f.

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Idealfigur der Leistungskraft.110 Am bergang zur Moderne wirkte der Sportler als positives und zukunftsweisendes Vorbild fr brgerliche Mnner, auf das nach 1900 auch die Knstler der Avantgarde zurckgriffen.111 Unterstrichen wurde dieses moderne Mnnlichkeitsideal durch die mechanische Vorstellung von Muskelkraft als Antrieb des „menschlichen Motors“, das im Gegensatz zur verschwenderischen Lebenskraft konstant Kraft in Arbeit verwandelte.112 Im mnnlichen Maschinenkçrper verbanden sich schließlich sogar brgerliche und proletarische Kçrperbilder, eine Verbindung, die die Figur des Sportlers, wie Philipp Sarasin hervorgehoben hat, zum eigentlichen „Fluchtpunkt der Verbesserung des Kçrpers“ gemacht hat.113

4. Taylorismus Der enge Zusammenhang zwischen Sport und industrieller Arbeit trat im System der wissenschaftlichen Betriebsfhrung, das Taylor Ende des 19. Jahrhunderts in den USA entwickelte, besonders deutlich hervor. Die wissenschaftliche Betriebsfhrung zielte ausgehend von der wissenschaftlich kontrollierten Normierung von Bewegungen auf die Rationalisierung des Kçrpers zum Zwecke der Leistungssteigerung. Dieses Verfahren wurde durch experimentelle Forschung im Betrieb gesttzt, die Ergebnisse schriftlich festgehalten.

110 Dass sich die Mnnlichkeit des Sportlers auf hnliche Eigenschaften bezog wie des Geschftsmannes hat auch Ernst Hanisch betont. Vgl. Hanisch, Mnnlich keiten, S. 388. Im Gegenzug kann der Ermdungs Diskurs des 19. Jahrhunderts als Ausdruck fundamentaler Verunsicherung der Konstruktion von Mnnlichkeit verstanden werden. Vgl. Dahlke, Jnglinge der Moderne, S. 76. 111 Dieses Zusammentreffen zeigt sich exemplarisch in der Person Werner von Siemens’ (1816 1892), der eine naturwissenschaftlich technische Ausbildung und modernes Unternehmertum verband und u. a. zu den Begrndern der Berliner „Physikalischen Gesellschaft“ gehçrte. Vgl. Jrgen Kocka: Unterneh mensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1874 1914. Zum Verhltnis von Kapitalismus und Brokratie, Stuttgart 1970 (= Schriftenreihe des Arbeitskreises fr moderne Sozialgeschichte, Bd. 11), bes. S. 51 56. Die Zusammenarbeit von Naturwissenschaftlern, Ingenieuren und Unternehmern fhrte liberale Berliner Kreise zusammen, die im Zeichen des „Fortschritts“ auch Politik machten. Vgl. dazu Goschler, Rudolf Virchow, S. 219 224. 112 Vgl. Osietzki, Kçrpermaschinen und Dampfmaschinen, S. 326. 113 Sarasin, Reizbare Mschinen, S. 325.

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Die Rationalisierung des Kçrpers konnte auf eine lange Geschichte institutioneller Praktiken der Disziplinierung und berwachung auf der einen sowie auf individuelle Praktiken einer methodischen, brgerlichen Lebensfhrung auf der anderen Seite zurckgreifen.114 Diese beiden miteinander vielfach verflochtenen Linien in der Geschichte der Rationalisierung trafen Ende des 19. Jahrhunderts in den kçrperbezogenen Selbsttechniken von Sport und Kçrperkultur sowie der sich weitgehend parallel formierenden Industriearbeit zusammen. Joachim Radkau spricht in seiner Technikgeschichte von einem „[…] ungewçhnlich markante[n] Zusammenhang zwischen der Industrie- und Technikgeschichte und der Kçrpermotorik. Es handelte sich dabei um keine bloße Modeerscheinung, sondern um eine epochale Wende in der Geschichte der Mentalitt, der Produktionsweise und der Arbeit.“115 Dieses Zusammentreffen markiert, dass die Rationalisierung in der Moderne smtliche Lebensbereiche zu umfassen beginnt. Zu ihrem Siegeszug trug der Sport erheblich bei, da er zum einen die Rationalisierung des Kçrpers in den Freizeit- und Privatbereich fortsetzte, eine Bewegung, die frh schon von verschiedenen Unternehmen aufgegriffen und gefçrdert wurde, um die Konstitution ihrer Arbeiter zu strken. Zum anderen steigerte er traditionelle Formen der Unterhaltung zu Veranstaltungen moderner Massenkultur, die selbst der Rationalisierung oblagen. Damit kann gleichzeitig die These Sarasins besttigt werden, dass mit dem Taylorismus und der europischen Arbeitsphysiologie eine spezifische „Rationalisierungskultur“ entsteht, „[…] in der nicht die Gesunderhaltung des Kçrpers, sondern die Normierung der Bewegungen zur Steigerung der produktiven kçrperlichen Leistungen zum vordringlichen Problem erklrt wurde.“116 114 Zu den Grundlagen dieser Geschichte vgl. Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Vollstndige Ausgabe, hg. u. eingel. von Dirk Kaesler, Mnchen 2004; Michel Foucault: berwachen und Strafen. Die Geburt des Gefngnisses, Frankfurt/Main 1977 [Orig.: Surveiller et punir. La naissance de la prison (1975)]. Zum Zusammenhang von klçsterlicher Lebensfhrung und Fabrikarbeit vgl. Hubert Treiber/Heinz Steinert: Die Fabrikation des zuverls sigen Menschen. ber die ,Wahlverwandtschaft‘ von Kloster und Fabrikdiszi plin, Mnchen 1980. 115 Radkau, Technik in Deutschland, S. 226. 116 Sarasin, Die Rationalisierung des Kçrpers, S. 83. In der Rationalisierung des Kçrpers treffen sich damit auch europische Arbeitsphysiologie und amerikani sche Arbeitwissenschaft: „Die Rationalisierung der Produktion basierte auf der Rationalisierung des Kçrpers.“ (Rabinbach, Motor Mensch, S. 282.)

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Die Rationalisierung von Bewegungsablufen war insofern ebenso wenig wie die Zeitmessung eine Erfindung des Taylorismus.117 Die entscheidende Neuerung von Taylor bestand im Prinzip der wissenschaftlichen Systematisierung von Zeit- und Bewegungsablufen, um ein Optimum an Leistungskraft zu errechnen. Taylor beanspruchte mit seinem Scientific Management, den Arbeitsvorgang nach streng wissenschaftlichen Grundstzen organisieren zu kçnnen.118 Analog zur Bestimmung der menschlichen Leistungsgrenze im Sport, die die physiologischen Untersuchungen der frhen Sportmediziner geleitet hatte, ging es auch Taylor erst einmal um die Beschreibung der tatschlichen Arbeitsleistung. Durch Systematisierung der Ergebnisse erfolgte in einem zweiten Schritt die Bestimmung der mçglichen Leistungssteigerung bzw. Optimierung der Leistung. Diese Bestimmung betraf sowohl den Bewegungsablauf als auch das Zeitstudium, wobei die Messung der Zeit den Fokus des Taylor-Systems bildete.119 Neu an Taylors Zeitstudien war vor allem die Festsetzung der fr eine bestimmte Arbeit nçtigen Zeit, die dann der genauen Planung des Betriebsablaufs zugrunde gelegt wurde.120

117 Vgl. Sarasin, Rationalisierung des Kçrpers, S. 82. 118 Zu Taylor und dem Taylorismus vgl. Rabinbach, Motor Mensch, S. 277 f. Taylor selbst sah in der wissenschaftlichen Grundlage seines Systems nicht nur eine mçgliche Strategie der Unternehmensfhrung, sondern eine „geistige Revoluti on“. Vgl. Daniel A. Wren: Frederick W. Taylor: Mythos und Wirklichkeit, in: Kommentarband zum Faksimile Nachdruck der 1911 erschienenen Ausgabe von Frederick W. Taylor: The Principles of Scientific Management, Dsseldorf 1996, S. 49 75, hier S. 75. Tatschlich bildete seine systematische Zeit und Kçrper analytik den Ausgangspunkt der gesamten Rationalisierungsbewegung. Vgl. Sa rasin, Rationalisierung des Kçrpers, S. 84. 119 Vgl. Wren, Frederick W. Taylor, S. 57. 120 Vgl. I.M. Witte: Kritik des Zeitstudienverfahrens. Eine Untersuchung der Ur sachen, die zu einem Mißerfolg des Zeitstudiums fhren, Berlin 1921, S. 13. Fortgesetzt wurden Taylors Zeitstudien durch den amerikanischen Betriebsin genieur Frank B. Gilbreth, der sich vor allem dem Studium von Bewegungen verschrieb und dabei auf die kinematographische Bewegungsaufzeichnung zu rckgriff. Von ihm stammt der Begriff „Bewegungsstudie“ (vgl. Wren, Frederick W. Taylor, S. 58). Vgl. auch Frank B. Gilbreth und L.M. Gilbreth: Erm dungsstudium. Eine Einfhrung in das Gebiet des Bewegungsstudiums. Be rechtigte bertragung ins Deutsche von I.M. Witte, mit einer Einfhrung von W. Hellmich, Berlin 1921.

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Im Mittelpunkt seines Hauptwerks The Principles of Scientific Management (1911)121 stand die Steigerung der Effizienz der Arbeitsleistung, die auf eine optimale Ausnutzung der Arbeitskraft zielte, ohne gleichzeitig die Belastung der Arbeiter wesentlich zu erhçhen.122 Vielmehr versuchte Taylor zunchst, mit Hilfe von Zeitmessungen eine angemessene Tagesarbeitsleistung zu berechnen, da er der Ansicht war, dass die Arbeiter bewusst unter ihren kçrperlichen Mçglichkeiten blieben. Zudem war Taylor davon berzeugt, dass wissenschaftliche Organisation jeden Mitarbeiter an den fr sein Leistungsvermçgen geeigneten Platz stellen wrde. Die Grundlage dieses Programms bildete Taylors gegen die Gewerkschaften gerichtete berzeugung,123 dass sich Arbeiter und Unternehmensleitung in gegenseitigem Einvernehmen um das hçchstmçgliche Wohlergehen beider Seiten bemhen kçnnten, da „grçßte Prosperitt“ ihr gemeinsames Interesse sei.124 Gefçrdert werde das dafr nçtige Vertrauen 121 Frederick Winslow Taylor: The Principles of Scientific Management, New York and London 1911. Die Arbeit erschien schon 1913 in deutscher bersetzung von Rudolf Roesler unter dem Titel: Die Grundstze wissenschaftlicher Betriebs fhrung, Mnchen, Berlin 1913. Sie wurde außerdem rasch in fast alle euro pischen Sprachen sowie ins Japanische und Chinesische bersetzt. Vgl. Martin Lohmann: Zur Biographie von Frederick W. Taylor, in: Kommentarband zum Faksimile Nachdruck der 1911 erschienenen Ausgabe von Frederick W. Taylor: The Principles of Scientific Management, Dsseldorf 1996, S. 95 109, hier S. 106. Dieser Aufsatz erschien erstmals in: Annalen zur Betriebswirtschaft 1 (1927), S. 270 279. 122 Vgl. Walter Volpert: Von der Aktualitt des Taylorismus. Einleitung zum Neu druck von F.W. Taylors „Grundstzen wissenschaftlicher Betriebsfhrung“, in: Frederick Winslow Taylor: Die Grundstze wissenschaftlicher Betriebsfhrung, neu hrsg. u. eingeleitet v. Walter Volpert u. Richard Vahrenkamp, Weinheim und Basel 1977, S. IX LI, hier S. XII. 123 Taylor geriet immer wieder in scharfe Auseinandersetzungen mit den Gewerk schaften, die er fr die „Wurzel allen bels“ in den Betrieben hielt. Vgl. Loh mann, Zur Biographie, S. 107; zu Taylors Konflikt mit den Gewerkschaften vgl. auch Herbert Hax: Zum Geleit, in: Kommentarband zum Faksimile Nachdruck der 1911 erschienenen Ausgabe von Frederick W. Taylor: The Principles of Scientific Management, Dsseldorf 1996, S. 5 10, hier S. 8. 124 Vgl. Frederick Winslow Taylor: Die Grundstze wissenschaftlicher Betriebsfh rung, neu hrsg. und eingel. von Walter Volpert und Richard Vahrenkamp, Nachdruck der autoris. Ausgabe von 1913, Mnchen, Weinheim, Basel 1977, S. 7. Vgl. zu den gemeinsamen Interessen zwischen Unternehmen und Arbeitern sowie Taylors Arbeitnehmerverstndnis Eduard Gaugler „The Principles of Management“ Bedeutung und Nachwirkungen, in: Kommentarband zum Faksimile Nachdruck der 1911 erschienenen Ausgabe von Frederick W. Taylor:

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durch die wissenschaftliche Festlegung von Erfordernissen und Bedingungen der Arbeitsttigkeit: „[…] die grçßte Prosperitt ist das Resultat einer mçglichst çkonomischen Ausnutzung des Arbeiters und der Maschinen, d. h. Arbeiter und Maschine mssen ihre hçchste Ergiebigkeit, ihren hçchsten Nutzeffekt erreicht haben.“ 125 Das Zentrum der neuen Arbeitsorganisation bildeten Zeit- und Bewegungsstudien, die entscheidend fr die Geschwindigkeit des Arbeiters waren. Hinzu kamen die sorgfltige Auswahl und Anlernung der Arbeitenden an ihrem jeweiligen Arbeitsplatz sowie die Befçrderung von Arbeitsmotivation und -zufriedenheit durch eine leistungsbezogene Entlohnung. Mit diesen Instrumenten trug der Taylorismus dazu bei, den Widerstand der Arbeiter gegen den technischen Fortschritt in der Produktion zu brechen und ungelernte Arbeitskrfte in großem Ausmaß zu beschftigen.126 Taylors Arbeitsstudien setzten an der Trennung von Hand- und Kopfarbeit und der Zerlegung von Bewegungen in einzelne Teilstrecken an, die durch wissenschaftliche Systematisierung zunehmend normierbar wurden.127 Der Optimierung einer Bewegungsfolge und der ihr entsprechenden Zeit- und Kraftausnutzung galt sein Hauptinteresse („onebest-method“).128 Diese Methode war, wie Taylor am Ende seiner Einleitung betont, letztlich auf jede menschliche Ttigkeit anwendbar. Sein großes Vorbild war der Sport. Denn im Sport trafen Motivation und Zeitçkonomie zum Zwecke der Ausdauer- und Leistungssteigerung zusammen. Fr Taylor, der selbst ein begeisterter Sportler war, bedeutete die Rationalisierung eine Versportlichung der Arbeit.129 Er bte – wie es dem amerikanischen Ausbildungssystem des 19. Jahrhunderts entsprach130 –

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The Principles of Scientific Management, Dsseldorf 1996, S. 25 47, hier S. 31 37. Taylor, Die Grundstze wissenschaftlicher Betriebsfhrung, S. 10 [Herv. i. Orig.]. Vgl. Rabinbach, Motor Mensch, S. 278. Diese Systematisierung trug zur Verschrfung der Normierung von Ablufen bei. Die Verwirklichung der Fließband Arbeit, in der sich das abstrakte Gesetz der Optimierung gegenber dem Einzelnen materialisiert, ist hingegen Henry Ford zuzuschreiben. Vgl. Volpert, Aktualitt des Taylorismus, S. XXVII. Vgl. Gaukler, „The Principles of Scientific Management“, S. 27. Vgl. Volpert, Aktualitt des Taylorismus, S. XXVII. Hugo Mnsterberg hat in seiner Darstellung des Lebens in Amerika die Be deutung des Sports auf den Gleichheitsgrundsatz der amerikanischen Gesell schaft zurckgefhrt, der Menschen „ohne Rcksicht auf Stellung, Besitz und

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schon als Kind verschiedene Sportarten aus und spielte mit Leidenschaft Kricket und Tennis. Parallel zu seiner aufwndigen Ausbildung trainierte er fr die amerikanischen Tennis-Meisterschaften und gewann 1882 den Meistertitel der Vereinigten Staaten.131 Taylor sah im Sport wichtige erzieherische Funktionen erfllt und soll spter versucht haben, seine Sçhne zu Sportlerlaufbahnen zu drngen.132 Mit der Durchrationalisierung smtlicher Lebensbereiche machte Taylor auch in seinem Privatleben Ernst. So gehçrte zu seinem Anwesen ein Golfplatz, den er in eine Musteranlage zu verwandeln suchte. Er spielte nicht nur regelmßig Golf, er betrieb auch ber mehrere Jahre hinweg Studien, die darauf zielten, den richtigen Boden zur raschen Herstellung der fr das Golfspiel geeigneten Grasnarbe zu finden.133 Von Anfang an war er auch beim Sport Anhnger strenger, wissenschaftlicher Regeln und Vorgehensweisen und machte sich noch als berhmter Mann durch Versuche ber den effizientesten Golfschlag zum Gespçtt seiner Mitspieler. Den erstaunten Mitgliedern des Parlamentsausschusses berichtet er 1912, es gbe scientific management bereits seit langem, nmlich beim Profi-Baseball. (Er meinte damit vor allem die Methoden der Spiel- und Trainingsplanung sowie der Selektion […].)134

Damit griff Taylor auf den Sportler als Idealfigur methodischer Lebensfhrung und disziplinierter Leistung zurck. Entscheidend fr die Vorbildfunktion des Sports aber war in Taylors Augen, dass im Sport Ausdauer, maximaler Krafteinsatz und die Bereitschaft zur Leistungssteigerung nicht nur eine Selbstverstndlichkeit darstellten, sondern auch – im Unterschied zur Arbeitsleistung im Betrieb – als Imperative individuellen wie gemeinschaftlichen Verhaltens Anerkennung erfuhren. Durch die selbstverstndliche Wertschtzung der Leistungsbereitschaft der Sportler wurde fr ihn der Sport zum Vorbild

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Kultur“ verbinde: „Hier liegt der Grund fr die unvergleichliche Bedeutung, die der Sport fr das amerikanische Leben besitzt. Der Amerikaner liebt den Sport jeder Art, in erster Linie das Sportspiel, wie Fußball und Schlagball, Rudern und Ringen, Tennis und Golf, Polo und Trabfahrt, wo die Leibesbung im Dienste des Wettkampfs steht; in zweiter Linie erst Jagen und Fischen, Jachten und Reiten, Turnen und Schwimmen.“ (Hugo Mnsterberg: Die Amerikaner, Bd. 2: Das geistige und soziale Leben, Berlin 1904, S. 239.) Vgl. Lohmann, Zur Biographie, S. 97. Vgl. Volpert, Aktualitt, S. XXVIIf. Diese Versuche sind in dem Aufsatz „The operating of a putting green“ doku mentiert, der nach Taylors Tod verçffentlicht wurde. Vgl. Lohmann, Zur Bio graphie, S. 102. Volpert, Aktualitt, S. XXVIII.

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fr das Arbeitsleben.135 Dass sich die Arbeiter im Betrieb um die Arbeit herumdrckten und die Zeit verbummelten, war fr Taylor ausgemachter Grund mangelnder çkonomischer Rentabilitt. So kommt er schon im ersten Kapitel seiner Schrift Die Grundstze wissenschaftlicher Betriebsfhrung auf das Vorbild des Sports zu sprechen, um zu begrnden, dass es nicht nur dem Unternehmen, sondern auch dem Arbeiter zugute komme, „im schnellsten Tempo und in wohlberechneter Ausnutzung seiner Krfte“136 erstklassige Arbeit zu verrichten: Diese Prinzipien scheinen so selbstverstndlich, daß mancher es fr berflssig halten mag, sie besonders hervorzuheben. Betrachten wir immerhin einmal die tatschlichen Verhltnisse in Amerika und in England. Wer das Leben in diesen Lndern kennt, wird wissen, daß die Liebe zum Sport unter den Arbeitern gerade so groß ist wie bei jeder anderen Klasse der Bevçlkerung. Wenn nun ein amerikanischer Arbeiter sein ,Baseball‘ oder ein englischer Arbeiter ,Cricket‘ spielt, so wird er alle seine Krfte anspannen, um seiner Partei zum Siege zu verhelfen; er tut sein Allerbestes, so viele ,Lufe‘ als mçglich zu machen. Das Gefhl der Solidaritt ist so stark entwickelt, daß einer, der nicht alles hergibt, was an Leistungsfhigkeit in ihm steckt, als ,Kneifer‘ gebrandmarkt und mit allgemeiner Verachtung gestraft wird. Am nchsten Tage kehrt derselbe Arbeiter zu seiner Arbeit zurck. Statt nun auch hier alle Krfte anzustrengen, um mçglichst viel zu leisten, wird er in den meisten Fllen mit dem Vorsatz beginnen, so wenig zu tun, als er, ohne aufzufallen, tun kann bei weitem weniger, als er ohne besondere Mhe imstande wre in vielen Fllen nicht mehr als 1/3 oder hçchstens die Hlfte einer ehrlichen Tagesleistung. Wenn er aber tatschlich sein Bestes tun wollte, um die grçßtmçgliche Tagesleistung zu erreichen, so wrde er von seinen Mitarbeitern noch schlimmer behandelt, als wenn er sich beim Baseball als Kneifer gezeigt htte.137

Die mangelnde Motivation der Arbeiter suchte Taylor durch eine relativ großzgige Entlohnung der Arbeiter zu heben, die sich an der durch Zeitund Bewegungsanalyse ermittelten, optimalen Tagesleistung orientierte. Daneben war die Auswahl geeigneter Bewerber fr den jeweiligen Arbeitsplatz ein weiterer wesentlicher Aspekt der wissenschaftlichen Betriebsfhrung. Dazu gehçrte auch die Festlegung genauer Instruktionen, um das vorgegebene Lernziel, nmlich den optimalen Arbeitsablauf, zu erreichen.138 135 136 137 138

Vgl. Volpert, Aktualitt, S. XXVIIf. Taylor, Die Grundstze wissenschaftlicher Betriebsfhrung, S. 11. Taylor, Die Grundstze wissenschaftlicher Betriebsfhrung, S. 11 f. Vgl. Volpert, Aktualitt, S. XXXII.

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Taylors Vorstellungen auf diesem Gebiet wurden allerdings bald durch die sich parallel entwickelnde angewandte Psychologie einer Revision unterworfen. Hugo Mnsterberg (1863 – 1916) – einer ihrer Begrnder – erkannte die wissenschaftlichen Fortschritte des Taylorsystems zwar an, hielt aber seine psychologische Seite fr „dilettantischen Impressionismus“139. Mnsterbergs Prinzip zielte auf die Ausgrenzung von Auswahl und Instruktion aus dem Arbeitsbetrieb durch die Entwicklung spezieller Verfahren der Eignungsdiagnostik und der Vermittlung nçtiger Fhigkeiten. Damit sollten diese wichtigen Bereiche nicht lnger dem Selbstlauf des Scientific Management, sondern der psychologischen Wissenschaft berantwortet sein.140 Bis heute verbindet sich mit dem Namen Taylor das Prinzip der rationalen Gestaltung des Arbeitsplatzes auf Grundlage der wissenschaftlichen Betriebsfhrung. Wirtschaftlich war Taylor selbst nur bedingt erfolgreich, da die Einfhrung seines Systems das eigene Unternehmen durch Brokratie berlastete. So beschftigte seine kleine Musterfabrik Tabor Manufacturing Comp. bei insgesamt 73 Mitarbeitern 28 Beamte und 45 Arbeiter, was ein groteskes Missverhltnis bedeutete. Zudem war die Umstellung eines Betriebs auf das Taylorsystem beraus langwierig. Sie konnte Jahre dauern, da jeder kleinste Handgriff genau protokolliert wurde und daraufhin untersucht wurde, wie er ,am Besten‘ gestaltet werden kçnnte. In der amerikanischen Großindustrie wurde Taylors System nirgends eingefhrt.141 In Deutschland griffen vor allem jene Zweige der Industrie das Taylorsystem auf, deren Produkte mit der amerikanischen Warenproduktion konkurrierten. So bernahmen vor dem Ersten Weltkrieg die Elektrobetriebe Borsig, Bosch und SiemensHalske sowie Daimler-Benz Taylors Prinzipien.142 139 Vgl. Hugo Mnsterberg: Grundzge der Psychotechnik, 2. mit ergnztem Li teraturverzeichnis versehene Aufl. Leipzig 1920, S. 419. 140 Zum Verhltnis von Taylor und Hugo Mnsterberg, dem Begrnder der Be triebspsychologie vgl. auch Wren, Frederick W. Taylor, S. 63. Kritik an der ,Wissenschaftlichkeit‘ von Taylors Verfahren bte auch die europische Ar beitsphysiologie, die aber seinen Prinzipien der Analyse von Bewegung und systematischer Personenauswahl grundstzlich zustimmte. Vgl. Sarasin, Ratio nalisierung des Kçrpers, S. 97. 141 Vgl. Richard Vahrenkamp: Frederick Winslow Taylor. Ein Denker zwischen Manufaktur und Großindustrie, in: Frederick Winslow Taylor: Die Grundstze wissenschaftlicher Betriebsfhrung, neu hrsg. u. eingeleitet v. Walter Volpert u. Richard Vahrenkamp, Weinheim, Basel 1977, S. LII IXC [sic!], hier S. LXIIf. 142 Vgl. Rabinbach, Motor Mensch, S. 294. Musil nennt in seinem Aufsatz Psy chotechnik und ihre Anwendungsmçglichkeiten im Bundesheere die Betriebe

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Fr den Erfolg des Taylorismus sind, so die weitgehend einhellige Meinung der Forschung,143 weniger seine konkrete Umsetzung als vielmehr die durch ihn angestoßenen Fragen und Aufgaben von Bedeutung. Taylor wandte erstmalig Methoden der Naturwissenschaften auf industrielle Arbeitsprozesse an; seine Studien bildeten den Ausgangspunkt fr die Erforschung der industriellen Produktion mit wissenschaftlichen Methoden.144 Diese zielte auf eine zeit- und kraftsparende Gestaltung der menschlichen Arbeitsttigkeit, der eine Zergliederung der Arbeitsbewegung voraus ging. Obwohl durch die Arbeitsteilung im Einzelfall tatschlich verbesserte Arbeitsbedingungen erreicht wurden, trug das TaylorSystem durch Geschwindigkeitssteigerung und berwachung insgesamt zur Erhçhung des Arbeitsdrucks bei, fr den erhçhte Lçhne oder Bonuszahlungen keinen adquaten Ausgleich boten.145 Mit der Taylorisierung begannen wissenschaftliche Systematisierung und Standardisierung die Arbeitswelt und damit den fr alle Bevçlkerungsschichten zentralen Lebensbereich zu durchdringen. Das Erfahrungswissen der Arbeiter wurde zugunsten von wissenschaftlich begrndeten Verfahren aufgegeben, die ein Wissen herstellten, das, wie schon Taylor selbst erkannte, nur mehr Experten zur Verfgung stand.146 Indem Arbeiterinnen und Arbeitern die Einsicht in ihre Ttigkeit systematisch entzogen wurde, wandelte sich Herrschaft in Kontrolle. Dies fhrte zu einer Konzentration von Macht, die fr Sarasin – unter Bezugnahme auf

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A.E.G., Siemens und Halske, Bosch und Loewe. Vgl. Robert Musil: Psycho technik und ihre Anwendungsmçglichkeiten im Bundesheere, in: ders.: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs und Studien zur Technik und Psychotechnik, Reinbek 1980, S. 179 200, hier S. 182. Vgl. Rabinbach, Motor Mensch, S. 279; vgl. Gaugler, „The Principles of Scientific Management“, S. 40 f. Schon 1924 sah Irene Margarete Witte in ihrem Vergleich der amerikanischen und europischen Arbeitswissenschaft das Ver dienst Taylors zum einen in der Erkenntnis, dass die „Vorherbestimmung der fr eine Arbeit gebrauchten Zeit mçglich sei“ und zum anderen in dem „Interesse“, das er auch in der breiten ffentlichkeit fr das System wissenschaftlicher Be triebsfhrung weckte. Vgl. I.M. Witte: Taylor, Gilbreth, Ford. Gegenwartsfragen der amerikanischen und europischen Arbeitswissenschaft, Mnchen, Berlin 1924, S. 28. Vgl. Hax, Zum Geleit, S. 10. Vgl. Rabinbach, Motor Mensch, S. 280. Detlev Peukert bemerkt in diesem Zusammenhang zu Taylor: „Als htten er und seine Anhnger in aller Welt Michel Foucault gelesen, prognostizierte er einen skularen Wandlungsprozeß der Macht. Aus der Herrschaft von Menschen ber Menschen wrde die disziplinierte Verwaltung von sachlichen Prozessen durch Fachleute.“ (Peukert, Max Webers Diagnose, S. 74.)

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Max Weber (1864 – 1920) – den Kern der Disziplinierung bildet: „Wenn Wissen und Macht auf Seiten der ,Leitung‘ vereint sind, kann sich die Macht darauf beschrnken, als Wissen zu erscheinen und im Namen der Vernunft die Kçrper und Gesten der Arbeitenden zu formen.“147 Wie Taylor selbst unmissverstndlich deutlich gemacht hatte, ging es ihm um die Organisation des Ganzen, nicht um den einzelnen Menschen: „Bisher stand die ,Persçnlichkeit‘ an erster Stelle, in Zukunft wird die Organisation und das System an erste Stelle treten.“ 148 In diesem Zukunftsentwurf zeigt sich darber hinaus der zentrale Unterschied zwischen Taylors System und demjenigen Henry Fords (1863 – 1947). Diente Taylor das Prinzip systematischer Organisation zur Begrndung und Kontrolle der kçrperlichen Leistungssteigerung, ersetzte Ford diesen brokratischen Apparat durch die Maschine. Der Kçrper des Arbeiters wurde ihm gar nicht zum Problem, denn Ford setzte direkt bei der maschinellen Produktion an: Optimiert wurde nicht die Bewegung, sondern die Passgenauigkeit der zu montierenden Teile, um eine stçrungsfreie, zgige Montage am Fließband zu ermçglichen.149 Ford brauchte keine ,wissenschaftliche‘ Begrndung der Produktionssteigerung, da in seinen Werken der Rhythmus des Fließbands den Arbeitsprozess bestimmte.150 Auch hinsichtlich des Sports machte sich der un147 Sarasin, Rationalisierung des Kçrpers, S. 88. Im Gegensatz dazu hatte Leitens torfer fr das Militr unter der berschrift „Geistiges Training“ betont: „Nichts trgt zur Fçrderung der Lust an der Arbeit und selbst an der Anstrengung so sehr bei als die Hebung des Verstndnisses fr den Zweck derselben und die Ein weihung ber das Endziel all der verschiedenen, ohne Belehrung unverstandenen und selbst missdeuteten Plagen und Mhsalen des militrischen Dienstlebens im kleinen wie im grossen. Es wchst mit der Aufgabe die Kraft, aber nur unter der Voraussetzung, dass die Aufgabe auch erfasst und das Motiv fr die geforderte hçhere und hçchste Kraftusserung einen Widerhall im Gehirn des Individuums findet.“ (Leitenstorfer, Das militrische Training, S. 99 [Herv. i. Orig.].) 148 Taylor, Grundstze wissenschaftlicher Betriebsfhrung, S. 4 [Herv. i. Orig.]. 149 Vgl. Henry Ford: Mein Leben und Werk, Leipzig 1924, S. 93 f. Vgl. dazu Albrecht Bronner: Handbuch der Rationalisierung, 2. neu bearb. Aufl. Ren ningen 2003, S. 32. Erfunden hat Ford das Fließband freilich nicht. Automati sche Montagebnder gab es sogar schon vor dem Ersten Weltkrieg. Eines der ersten Fließbnder wurde 1905 in der Keksfabrik von Bahlsen in Hannover eingesetzt. Vgl. Radkau, Technik in Deutschland, S. 277. 150 Zu den Bezgen zwischen Taylorismus und Fordismus vgl. Gaugler, „The Principles of Scientific Management“, S. 41; Wren, Frederick W. Taylor, S. 74; Sarasin, Rationalisierung des Kçrpers, S. 90 f. Die wissenschaftliche Differenz zeigt sich beispielsweise auch darin, dass Fords Fließbnder fr ,optimale‘ Be wegungen zu hoch angebracht waren, wie schließlich Gilbreths Studien zeigten.

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terschiedliche Ansatz von Taylor und Ford bemerkbar. Da es Ford nicht um die Rationalisierung des Kçrpers ging, spielte der Sport als Ausdruck von Kraft, Ausdauer und Leistungsbereitschaft in seinen berlegungen keine Rolle.151

5. Psychotechnik Parallel zur Entstehung der amerikanischen Arbeitswissenschaft  la Taylor, die auf der Rationalisierung des Kçrpers basierte, entwickelte sich in Deutschland mit der angewandten Psychologie eine experimentelle Forschungsrichtung, die an den psychischen Unterschieden der Menschen ansetzte. Durch umfangreiche Datenerhebungen sollte diese psychologische Vermessung und Rationalisierung vor allem die Anpassung der Menschen an ihre komplexer werdende Umgebung erleichtern. Der durch Industrialisierung und Urbanisierung bedingte Wandel der Lebenswelt forderte den Menschen eine erhçhte Aufmerksamkeit ab, die Simmel als „Steigerung des Nervenlebens“ charakterisiert hat.152 ,Nervositt‘ wurde zu einem Schlagwort, das die Auswirkungen des rapiden gesellschaftlichen Umbruchs zu fassen suchte.153 Auch der entstehende Sport wurde als Steigerung des Nervenlebens erfahren. Zur Bewltigung dieser Umwlzung erfuhren psychologische Anstze um 1900 breiten çffentlichen Zuspruch. Die Psyche des Menschen erschien als ein Grenzbereich, in dem die Anforderungen von Innenleben und Außenwelt neu austariert werden mussten. Sie markierte die Grenze zwischen der fragilen Konzeption autonomer Subjektivitt und der entstehenden Massengesellschaft.154 Vor diesem Hintergrund kann angewandte Psychologie als Wissenschaft verstanden werden, die sich mit den Lebensbedingungen des modernen Subjekts beschftigt. Dies betraf in erster Linie den Ausbildungs- und Arbeitsbereich beispielsweise in Fragen individueller Begabung oder Eignung fr eine bestimmte Ttigkeit. Doch gewannen individuelle Unterschiede nicht nur an Bedeutung fr die Optimierung von 151 Vgl. Ford, Mein Leben und Werk. 152 Vgl. Simmel, Die Großstdte und das Geistesleben, S. 116. 153 Vgl. Willy Helpach: Nervositt und Kultur, Berlin 1902 (= Kulturprobleme der Gegenwart, hg. von Leo Berg, Bd. 5); Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervositt. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, Darmstadt 1998. 154 Vgl. Dominik Schrage: Psychotechnik und Radiophonie. Subjektkonstruktionen in artifiziellen Wirklichkeiten 1918 1932, Mnchen 2001, S. 54

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Arbeitsablufen. Statistisch erfasst wurden sie in den zwanziger Jahren zur Grundlage der psychotechnischen Normalisierung des Menschen und der Organisation der zuknftigen Gesellschaft. a) Angewandte Psychologie Die Forderung nach angewandter Psychologie und mit ihr der Begriff ,Psychotechnik‘ gehen auf den Psychologen William Stern (1871 – 1938) zurck, der 1900 mit seiner Schrift ber Psychologie der individuellen Differenzen (Ideen zu einer differentiellen Psychologie) fr Aufsehen sorgte und die differentielle Psychologie begrndete.155 Wegweisend war vor allem Sterns Ansatz zur Erforschung individueller Unterschiede, die er durch formale und inhaltliche Gesetzmßigkeiten zu erklren versuchte.156 Stern unterschied zwischen ,Individuum‘ und ,Merkmal‘ und entwickelte auf dieser Basis genaue Methoden fr die statistische Grundlegung der psychologischen Forschung.157 Dazu gehçrten auch weiterfhrende Arbeiten zur Intelligenzprfung und -diagnostik einschließlich des nach ihm benannten Intelligenzquotienten (IQ).158

155 An Stelle einer zweiten Auflage dieser Arbeit erschien 1911 unter dem Titel Die Differentielle Psychologie in ihren methodischen Grundlagen die Grundlegung der von Stern begrndeten Forschungsrichtung als wissenschaftliche Disziplin. Vgl. William Stern: Die Differentielle Psychologie in ihren methodischen Grundla gen, hg. von Kurt Pawlik, Nachdruck der 2. Aufl. Leipzig 1911, Bern, Gçttin gen, Toronto, Seattle 1994, S. III. 156 Kurt Pawlik: Einleitung, in: William Stern: Die Differentielle Psychologie in ihren methodischen Grundlagen, hg. von Kurt Pawlik, Nachdruck der 2. Aufl. Leipzig 1911, Bern, Gçttingen, Toronto, Seattle 1994, S. xiii xxi, hier S. xiv. Neben Sterns Arbeit als Psychologe ist seine hochschulpolitische Ttigkeit in Hamburg von Bedeutung, denn als Ordinarius trug er wesentlich zum Beschluss der Hamburger Brgerschaft von 1919 bei, eine Universitt zu grnden. Er entwickelte nicht nur das Fach Psychologie in seiner ganzen Breite, er setzte sich auch wesentlich fr die Berufung des Philosophen Ernst Cassirer nach Hamburg ein. Beider Institute waren schließlich durch eine gemeinsame Bibliothek mit einander verbunden. Sterns vielseitige Ttigkeit wurde 1933 jh unterbrochen. Bereits im April 1933 wurde er auf Grundlage des „Gesetzes zur Wiederher stellung des Berufsbeamtentums“ vom Dienst suspendiert, im Oktober 1933 als Professor offiziell entlassen. Vgl. dazu ausfhrlicher Pawlik, Einleitung, S. xvii xix. 157 Vgl. Pawlik, Einleitung, S. xvf. 158 Vgl. Pawlik, Einleitung, S. xix.

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Die Forderung nach angewandter Psychologie zielte bei Stern zum einen auf die Menschenkenntnis, die Psychodiagnostik, und zum anderen auf die Menschenbehandlung, die Psychotechnik, die noch nicht auf arbeitspsychologische Fragen eingeschrnkt war, sondern „die praktische Einwirkung von Mensch auf Mensch“ zum Gegenstand hatte.159 Am Beispiel von Erziehung und Schulunterricht fhrte Stern aus, dass die Psychotechnik ohne fundiertes Wissen ber individuelle Unterschiede der Auffassung oder Verarbeitung von Unterrichtsstoff nicht weiter komme, wenn sie einseitige Unterrichtsmethoden vermeiden und individuelle Leistungen einzelner Schler wrdigen wolle.160 Nur auf Grundlage dieser „Menschenkenntnis“ kçnne die Psychotechnik ein differenziertes Instrumentarium entwickeln, um der individuellen Disposition der Menschen gerecht zu werden. Damit ging es nicht lnger um die Grenze zwischen „Normalitt und Abnormitt“, sondern vielmehr um die Variationen von Individualitt innerhalb der Normalitt selbst, die erst eine begrndete Beurteilung und Fçrderung von Menschen erlaube.161 Ziel sei es, „das seelische Verhalten von Menschen im praktischen Leben zu verstehen und zu bewerten, zu leiten und zu beeinflussen“, und damit eine Brcke zwischen Wissenschaft und Alltag zu schlagen.162 Mit diesem Programm stellte Stern seine Erhebungen ausdrcklich in den Kontext von Schul- und Strafrechtsreform sowie der Emanzipation der Frauen.163 Dementsprechend setzte er es sich – in Abgrenzung zum damaligen Stand

159 Vgl. Stern, Differentielle Psychologie, S. 9. Der Begriff Psychotechnik soll von Gustav Theodor Fechner geprgt und von Stern 1903 erstmals definiert worden sein. Zur Geschichte und weiteren Entwicklung dieses Begriffes vgl. Franziska Baumgarten: Die Berufseignungsprfungen. Theorie und Praxis, Mnchen, Berlin 1928, S. 21 f. Zur Begrndung der Psychotechnik vgl. auch Siegfried Jaeger/Irmingard Staeuble: Die Psychotechnik und ihre gesellschaftlichen Ent wicklungsbedingungen, in: Kindlers „Psychologie des 20. Jahrhunderts“, Bd. 1: Arbeit und Beruf, hg. von FranÅois Stoll, Weinheim, Basel 1983, S. 49 91. 160 Vgl. Stern, Differentielle Psychologie, S. 9. 161 Vgl. Stern, Differentielle Psychologie, S. 8. 162 Stern, Differentielle Psychologie, S. 5. 163 So ging es ihm beispielsweise darum, die Grundlage dafr zu schaffen, die Gliederung des Schulwesens nicht lnger nach stndischen Rcksichten, sondern nach der Begabung der Schler zu organisieren. Im Strafrecht ging es bei spielsweise um die Bercksichtigung psychischer Faktoren bei der Bestimmung des Strafmaßes. Psychologische Fragen spielten schließlich auch bei der Ausbil dung und Berufseignung von Mdchen und Frauen eine wichtige Rolle. Vgl. Stern, Differentielle Psychologie, S. 7.

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der allgemeinen Psychologie – zum Ziel, auf empirischer Basis „das Bild einer tatschlich vorhandenen Individualitt“ darzustellen.164 Wie Dominik Schrage herausgearbeitet hat, gewann die differentielle Psychologie durch die Integration psychologischer Wissensbestnde in sozialpolitische Projekte besondere Bedeutung. Whrend es Stern um das Allgemeinwohl und die Emanzipation des Individuums ging, ermçglichte die breite empirische Basis der differentiellen Psychologie gleichzeitig ihre Anwendung auf grçßere Gruppen, die durch die statistische Streuung von Merkmalen zu psychologischen Typen gebndelt wurden: „Nicht die Gesamtheit des Seelenlebens einer Person, sondern einzelne, elementare psychische Eigenschaften werden erhoben. Sie stellen die empirischen Objekte differentieller Psychologie dar.“165 Damit begann sich unter psychologischen Vorzeichen abzuzeichnen, was sich parallel dazu auch an Taylors Zeitstudien zeigte: Die menschliche Erfahrung trat zugunsten statistischer Messungen in den Hintergrund, denn die Individuen waren zwar Ausgangspunkt dieser Forschung, aber nicht ihr eigentlicher Gegenstand, da sich die Ergebnisse statistischer Streuung von Merkmalen oder Eigenschaften nicht in Reinform an einem bestimmten Individuum zeigen ließen, sondern immer nur fr grçßere Gruppen Geltung beanspruchen konnten.166 Nicht der Mensch im emphatischen Sinne, sondern die regulative Humanisierung der gesellschaftlichen Verhltnisse stand fortan auf der sozialpolitischen Agenda.167 Diese Entwicklung fhrte zu einem statistisch errechneten psychologischen Wissen ber Individualitten, das – den Taylorschen Prinzipien durchaus vergleichbar – einerseits eine individuellere Bewertung von Leistungen erlaubte, andererseits aber auch vermittelt werden musste, um bestimmte praktische Ziele zu erreichen. Damit stellte sich gleichzeitig die Frage, wie die menschliche Psyche im Zuge dieser Lernprozesse so gelenkt werden kçnnte, dass ein effizienterer Zugriff im Sinne dieser Zielsetzungen mçglich wird. Indem er Taylors Verfahren mit der angewandten Psychologie verband, gab der deutsche Psychologe Hugo 164 Stern, Differentielle Psychologie, S. 16. Oder anders ausgedrckt: „Und so endet der von unten kommende Weg der Empirie dort, wo der von oben beginnende Weg der Philosophie beginnt: bei der individuellen Einheit der Persçnlichkeit.“ (Stern, Differentielle Psychologie, S. 28.) 165 Schrage, Psychotechnik und Radiophonie, S. 74. 166 Vgl. Schrage, Psychotechnik und Radiophonie, S. 74. 167 Vgl. Schrage, Psychotechnik und Radiophonie, S. 76.

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Mnsterberg noch vor dem Ersten Weltkrieg in seinem Labor in Harvard eine Antwort.168 b) Industrielle Psychotechnik In unmittelbarer Auseinandersetzung mit dem Wirken Taylors entwickelte Mnsterberg in Harvard, wo er seit 1892 lehrte, eine psychologisch fundierte Arbeitswissenschaft, die industrielle Psychotechnik. Die experimentelle Psychologie hatte Mnsterberg, ein Schler Wilhelm Wundts (1832 – 1920), in dessen experimentalpsychologischen Laboratorium in Leipzig kennengelernt. Mit der Grndung dieses Laboratoriums 1879 hatte Wundt den Anspruch der Psychologie bekrftigt, als empirisch begrndete Erfahrungswissenschaft erkenntnistheoretisches Fundament aller Wissenschaften zu sein.169 Mnsterbergs Berufung nach Harvard durch William James (1842 – 1910) war eine Kontroverse mit Wundt ber die Stellung der Psychologie vorausgegangen. Den Hauptkonflikt bildete die Frage, wie das Verhltnis von Psychologie und Physiologie beschaffen sei und wem das Primat in der Erklrung psychischer Erscheinungen zukomme. In Mnsterbergs Worten: Wenn die physischen und psychischen Erscheinungen nun aber einerseits zusammenhngend gedacht werden mssen, andererseits ihr Zusammenhang nicht prstabiliert angenommen werden kann, so bleiben nur zwei Mçglichkeiten brig. Entweder ist der Ablauf der psychischen Erscheinungen die Bedingung fr das Auftreten der physischen, oder umgekehrt die physischen folgen ihrem eignen Gesetz und die psychischen sind von ihnen abhngig.170 168 Zu dieser „Synthese“ von wissenschaftlichem Geist und praktischem Sinn vgl. auch Baumgarten, Die Berufseignungsprfungen, S. 10 f. 169 „Aus dieser Perspektive erscheint die bis in die 1920er Jahre hinein gltige in stitutionelle Eingliederung der Psychologie in die Philosophie nicht als zu berwindendes Hindernis auf dem Wege einer Emanzipation der Psychologie, sondern ganz im Gegensatz als Garantie einer Einheit der Wissenschaft [von Geistes und Naturwissenschaften, A.F.] auf der systematischen Grundlage der Philosophie, der allerdings wiederum eine psychologische Erkenntnistheorie vorausgeht.“ (Schrage, Psychotechnik und Radiophonie, S. 47.) Das Leipziger Institut brachte eine neue Generation von Psychologen hervor, die sich wie Mnsterberg vor allem fr die experimentelle Seite der Psychologie interes sierten. Retrospektiv lassen sie Wundt als „Begrnder der modernen Psychologie“ erscheinen. Vgl. Schrage, ebd., S. 49. 170 Hugo Mnsterberg: Beitrge zur Experimentellen Psychologie, Freiburg 1889, Heft 1, in: ders.: Frhe Schriften zur Psychologie, eingeleitet, mit Materialien

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Whrend Wundts Lehre auf einer klaren Trennung von Reflex (Physiologie) und bewusster Handlung (Psychologie) aufbaute, stellte Mnsterberg diese Abgrenzung in Frage.171 Fr ihn war die Psychologie abhngig von der Physiologie, weshalb er sie im Gegensatz zu Wundt zu den Naturwissenschaften rechnete. Denn die Reichweite seelischer Erscheinungen sei grçßer als die des Bewusstseins und kçnne daher nur physiologisch erklrt werden. Nicht die Willensttigkeit des Bewusstseins, sondern evolutionstheoretisch begrndete Zeichen von Bewusstsein, die sich als Sinnesempfindungen aus den Reflexen ableiten ließen, waren demnach handlungsbestimmend. Damit ordnete Mnsterberg Prozesse der Apperzeption den Reflexen unter.172 Wichtig fr das Verstndnis des spteren Psychotechnikers Mnsterberg ist in diesem Zusammenhang zudem, dass er schon in seiner Dissertation auf das Konzept des Sozialdarwinismus einging, dessen Annahme eines natrlichen Ausleseprozesses das Bewusstsein letztlich berflssig machte. In Verbindung mit einem konservativen, organischen Staatsverstndnis wurde die Evolutionstheorie bei ihm zum Ausgangspunkt fr die beste Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens.173 Sein psychotechnisches Programm wurde auf dieser Grundlage nicht nur zu einem integralen Bestandteil der industriellen zur Rezeptionsgeschichte und einer Bibliographie versehen von Helmut Hilde brandt und Eckart Scheerer, Reprintausgabe, Berlin, Heidelberg, New York u. a. 1990, S. 101 298, hier S. 120. 171 Vgl. Schrage, Psychotechnik und Radiophonie, S. 77. 172 Vgl. Schrage, Psychotechnik und Radiophonie, S. 77. Fr Musils Verstndnis von Bewegung sind Mnsterbergs psychophysiologische Experimente zum Zu sammenhang von Aufmerksamkeit und Bewegung von Bedeutung, weil Mns terberg von der Adquatheit unbewussten Verhaltens ausgeht. Vgl. Helmut Hildebrandt/Eckart Scheerer: Einleitung, in: Hugo Mnsterberg: Frhe Schriften zur Psychologie, eingeleitet, mit Materialien zur Rezeptionsgeschichte und einer Bibliographie versehen von Helmut Hildebrandt und Eckart Scheerer, Reprintausgabe, Berlin, Heidelberg, New York u. a. 1990, S. 11 48, hier S. 30. Diese Annahme ist wichtig fr das Verstndnis der Einbung von Bewegungs und Reaktionsablufen. Zur Bedeutung Mnsterbergs fr Musil vgl. Elena Calamari: Hugo Mnsterberg nell’opera di Musil, in: Studi tedeschi 23 (1980), S. 287 313; Hoffmann, Dichter am Apparat. 173 Seine Dissertation trgt den Titel „Die Lehre von der natrlichen Anpassung in ihrer Entwickelung“ (Leipzig 1887). Zum intellektuellen Werdegang des jungen Mnsterberg vgl. ausfhrlich Hildebrandt/Scheerer: Einleitung, hier bes. S. 36 38, 42 45. Allerdings folgt Mnsterberg vermutlich aufgrund seiner jdischen Herkunft an keiner Stelle den rassetheoretischen Implikationen dieser Staats lehre. Zur Entwicklung Mnsterbergs vgl. außerdem Matthew Hale: Human Science and Social Order. Hugo Mnsterberg and the Origins of Applied Psy chology, Philadelphia 1980, hier bes. S. 9 f.

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Rationalisierung,174 sondern auch zu einem ordnungspolitischen Gesellschaftsentwurf. hnlich wie fr Taylor, mit dessen Schriften sich Mnsterberg intensiv auseinandersetzte,175 bildeten Messbarkeit und Steigerung der menschlichen Leistung fr ihn die Grundlage, um die Produktivitt des großindustriellen Wirtschaftslebens zu fçrdern. Auch Mnsterberg war prinzipiell davon berzeugt, dass sich sein Programm auf die Optimierung der gesamten Gesellschaft anwenden ließ. Im Unterschied zum Taylorismus ging es ihm jedoch nicht in erster Linie um die Frage, wie Arbeiter zu Hçchstleistungen getrieben oder auch motiviert werden kçnnten, sondern darum, das menschliche Verhalten zu analysieren und daraus beispielsweise Schlsse fr die Wahl, Anlernung und Einrichtung des jeweiligen Arbeitsplatzes zu ziehen.176 In seinem Hauptwerk Grundzge der Psychotechnik (1914) definiert Mnsterberg Psychotechnik in Anschluss an Stern als Form angewandter Psychologie: „Die Psychotechnik ist die Wissenschaft von der praktischen Anwendung der Psychologie im Dienste der Kulturaufgaben.“177 Gesttzt auf die Forschungen in seinem Labor in Harvard entwirft Mnsterberg die Psychologie als wertfreie und technisch-funktionale Wissenschaft, die in der menschlichen Psyche einen Gegenstand der zu optimierenden gesellschaftlichen Verhltnisse erkennt und der praktischen Gestaltung des Lebens und zuknftiger Ziele dient.178 Die Psychotechnik erscheint als wertfreie Zukunftswissenschaft, wobei offen bleibt, wer die von ihr zu lçsenden Zukunftsaufgaben festlegt.179 Mnsterberg betont nmlich, dass es nicht die Aufgabe der Psychotechnik sein kçnne, Zielvorgaben zu prfen, sondern dass es vielmehr ihre Aufgabe sei, den Weg zu bestimmen, um diese Ziele zu erreichen: 174 Vgl. Peter Hinrichs: Um die Seele des Arbeiters. Arbeitspsychologie, Industrie und Betriebssoziologie in Deutschland, Kçln 1981, S. 208 225; Schrage, Ra diophonie und Psychotechnik, bes. S. 80 82. 175 Vgl. Hale, Human Science, S. 148 163. 176 In diesem Bereich arbeitete Mnsterberg mit dem amerikanischen Betriebsin genieur Frank B. Gilbreth zusammen, der ebenfalls die Ungenauigkeit von Taylors Zeitstudien kritisiert hatte und sich stark fr psychologische Fragen in teressierte. Untersttzt wurde er dabei von seiner Frau Lillian Gilbreth, die als Psychologin ttig war. Zu Gilbreth vgl. Witte, Taylor, Gilbreth, Ford, S. 31 35; Giedion, Herrschaft der Mechanisierung, S. 128 130. 177 Hugo Mnsterberg: Grundzge der Psychotechnik, zweite mit ergnztem Lite raturverzeichnis versehene Auflage Leipzig 1920, S. 1. 178 Vgl. Mnsterberg, Grundzge der Psychotechnik, S. 6. 179 Vgl. dazu kritisch Jaeger/Staeuble, Psychotechnik, S. 62.

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Der Physiker kann dem Ingenieur auch nur sagen, daß, falls ein Gebude oder eine Brcke oder eine Eisenbahn an dieser Stelle wnschenswert ist, diese oder jene technischen Mittel nçtig sind, um den Plan auszufhren. Aber der Physiker kann von seinem Standpunkte aus unmçglich sagen, ob es recht ist, die Eisenbahn oder die Brcke oder das Gebude hier zu bauen.180

Der Psychotechniker als Ingenieur hat es nicht nur mit technischen Konstrukten, z. B. den Anforderungen verschiedener Arbeitspltze, sondern vor allem mit menschlichen Konstrukten zu tun, deren einzelne Teile untersucht und in Hinblick auf bestimmte Anforderungen geformt und verbessert werden sollen. So unternahm es Mnsterberg in seinen Laboruntersuchungen beispielsweise, anhand von gut 300.000 gemessenen Bewegungen fr jede Muskelgruppe das jeweilige „Schnelligkeitsoptimum fr grçßtmçgliche Genauigkeit“ zu bestimmen.181 Er errechnete Erholungspausen, um die Ermdung in den Griff zu bekommen und das Unfallrisiko zu mindern, und glaubte – hierin Taylor vergleichbar –, die Arbeitsbedingungen wissenschaftlich verbessern und gleichzeitig die Produktivitt steigern zu kçnnen.182 Zur Verfeinerung seines Programms legte Mnsterberg großen Wert auf die individuellen Unterschiede zwischen den Arbeiterinnen und Arbeitern. An diesem Punkt kam nun Faktoren wie Ermdung, praktische Begabung, Auffassungsgabe oder Intelligenz entscheidende Bedeutung zu.183 ber die bloße Optimierung von Bewegungsablufen hinaus zielten Mnsterbergs psychotechnische Verfahren vor allem auf die Auswahl geeigneter Bewerberinnen und Bewerber fr verschiedene Arbeitsstellen. Umgekehrt galt es, fr verschiedene Arbeitspltze und Einstze ein entsprechendes Anforderungsprofil zu entwickeln.184 Die rein funktionale

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Mnsterberg, Grundzge der Psychotechnik, S. 40. Vgl. Mnsterberg, Grundzge der Psychotechnik, S. 389. Vgl. Mnsterberg, Grundzge der Psychotechnik, S. 393 395. Vgl. Mnsterberg, Grundzge der Psychotechnik, S. 403. Walter Benjamin sprach in den zwanziger Jahren von den zwei Seiten der Ar beitswissenschaft: „Die Arbeitswissenschaft hat ja zwei Seiten: auf der einen studiert sie den Einzelmenschen, ermittelt, zu welchem Beruf er sich am besten schickt; auf der anderen aber geht sie an den Beruf selbst heran und stellt fest: welchen verborgenen und darum strksten Trieben im Menschen kommen die einzelnen Berufe am besten entgegen? Vor allem aber: wie formt und wie ver wandelt der Beruf nicht nur die Arbeitsleistung selber, sondern das Milieu, in dem sie sich abspielt, die bertragung der Berufsgewohnheiten auf das husliche Leben und die Eigenart der Berufskollegen , wie verwandelt und formt das alles den Menschen?“ (Walter Benjamin: Karussell der Berufe [1930], in: Walter

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Auffassung des Menschen erlaubte es, die geforderten Persçnlichkeitsmerkmale in entsprechenden Eignungstests zu ermitteln.185 Seit dem Ersten Weltkrieg rckten Strategien zur Optimierung der Eignung in den Mittelpunkt des Interesses.186 In Deutschland wurde die Psychotechnik erst nach dem Ersten Weltkrieg in Form eigenstndiger Institute etabliert. Diese Institute gingen teilweise auf Versuche mit Hirnverletzten im Krieg zurck, wie das 1919 von Wolfgang Poppelreuter begrndete psychotechnische Institut in Kçln und dasjenige in Halle, welches 1920 von Fritz Giese (1890 – 1935) ins Leben gerufen wurde. Andere wurden an Technischen Hochschulen aus Mitteln der Industrie aufgebaut wie das 1918 von Georg Schlesinger (1874 – 1949) gegrndete Institut an der TU Charlottenburg, das in den zwanziger Jahren von Walther Moede (1888 – 1958) geleitet wurde.187 Psychotechnische Prfstellen in Industriebetrieben gab es 1918 nur bei der AEG, bei Loewe und bei Zeiss-Jena.188 Doch wurden von Staat und Industrie schon whrend des Krieges psychotechnische Verfahren zur Mobilisierung aller Krfte genutzt. Dies betraf zum einen den Nachschub fr die industrielle Produktion, wo beispielsweise Eignungsuntersuchungen fr Gewehrlaufprferinnen durch-

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Benjamin. Gesammelte Schriften, Bd. II, 2, hg. von Rolf Tiedemann u. Her mann Schweppenhuser, Frankfurt/Main 1977, S. 667 676, hier S. 669.) ,Eignung‘ bedeutet in der angewandten Psychologie den Nachweis einer Reihe fixierter Persçnlichkeitsmerkmale. Es gehçrt nicht zu den Aufgaben der Eig nungsdiagnostik, diese Merkmale zu verndern. Gleichwohl haben manche Eignungstests auch eine eugenische Komponente, da viele Untersuchungen nach der Vererbung von mentalen und kçrperlichen Fhigkeiten forschen; ein Beispiel fr diese Verbindung ist die Vorstellung von der „athletischen Kapazitt“ des Eugenikers Karl Pearson, die auf einer Kombination von Interesse, Eignung und ausreichender bung basiert. Vgl. Hoberman, Sterbliche Maschinen, S. 187. Pearson wiederum hat Ernst Mach seine Arbeit ber Die Analyse der Empfin dungen (1885) „als Zeichen der Sympathie und Hochachtung“ gewidmet. Vgl. Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhltnis des Physischen zum Psychischen, 5. vermehrte Auflage Jena 1906, S. III. So wurden die ersten umfangreichen eignungsdiagnostischen Untersuchungen im Ersten Weltkrieg in der US Armee durchgefhrt. Vgl. Volpert, Aktualitt, S. XXXIII. Vgl. Schrage, Psychotechnik und Radiophonie, S. 109. Zum Charlottenburger Institut vgl. auch Hinrichs, Um die Seele des Arbeiters, der das Institut einen „Wallfahrtsort“ fr Ingenieure und Industrielle nennt. Vgl. Hinrichs, ebd., S. 226. Anders als die strker fachwissenschaftlich ausgerichteten Institute stand das von der Industrie maßgeblich finanzierte Institut in Charlottenburg auch direkt in ihrem Dienst. Vgl. Schrage, Psychotechnik und Radiophonie, S. 109.

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gefhrt wurden,189 zum anderen den Einsatz im Kriegsdienst selbst, der je nach Truppenteil und Aufgabenstellung unterschiedlichste Anforderungen an die Soldaten stellte: Der Spezialist, der dank seiner Sonderbegabung nach einigen Minuten Anhçrens alle chiffrierten Funktelegramme sowie sonstigen Chiffremeldungen richtig erfaßt und den Kommandostellen weitergibt und der beim Wechsel der Chiffre sofort auch die neuen Geheimzeichen entziffert, kann der Leitung wertvollere Dienste leisten als eine wohlausgebildete und schlagfertige Armee.190

Die zunehmende Technisierung aller militrischen Kampfhandlungen fhrte zu einem steigenden Bedarf an solchen Spezialisten in den verschiedenen Einsatzbereichen. So wurden psychotechnische Methoden angewandt, um Flieger, Flugzeugbeobachter, Funker oder Kraftwagenfhrer ber die allgemeine Tauglichkeitsprfung hinaus gezielt fr den Kriegsdienst auswhlen zu kçnnen.191 ber die grçßte Prfstelle im deutschen Heer verfgten laut Moede die Kraftfahrtruppen.192 Nach dem Krieg lagen allein in Deutschland mehr als fnfundzwanzig einschlgige Untersuchungen von Psychologen im Kriegsdienst vor.193 Eine wesentliche Aufgabe der neuen Psychotechnischen Institute bestand nun in der Eingliederung von traumatisierten und kriegsversehrten Mnnern in die Industrieproduktion.194 c) Arbeitswissenschaft in den zwanziger Jahren Der Erste Weltkrieg stellte den Anhngern arbeitswissenschaftlicher Verfahren in Europa ein weitlufiges Laboratorium zur Verfgung und schaffte in der Praxis Akzeptanz fr vordem umstrittene Methoden. So 189 Vgl. Edelgard Daub: Franziska Baumgarten. Eine Frau zwischen akademischer und praktischer Psychologie, Frankfurt/Main, Berlin, Bern u. a. 1996 (= Beitrge zur Geschichte der Psychologie, hg. von Helmut E. Lck, Bd. 12), S. 32. 190 Walther Moede: Lehrbuch der Psychotechnik, Bd. 1, Berlin 1930, S. 430. 191 Zu den einzelnen Tests und Feststellungsmethoden im deutschen Heer vgl. Moede, Lehrbuch der Psychotechnik, S. 429 433. Vgl. außerdem Rabinbach, Motor Mensch, S. 304; Hoffmann, „Dichter am Apparat“, S. 235; vgl. auch Musil, Psychotechnik und ihre Anwendungsmçglichkeit im Bundesheere, S. 182. 192 Vgl. Moede, Lehrbuch der Psychotechnik, S. 431. 193 Vgl. Hoffmann, „Dichter am Apparat“, S. 235. 194 Diese große, gesellschaftliche Aufgabe fhrte auch zur Zusammenarbeit ver schiedener Institutionen. So kooperierten in Berlin das Kaiser Wilhelm Institut fr Arbeitsphysiologie und das Charlottenburger Institut fr Psychotechnik.

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spielten die Verfechter des Taylor-Systems eine wichtige Rolle bei der Neuorganisation der deutschen Kriegswirtschaft.195 An der Front fanden Psychologen in der Analyse und Behandlung psychischer Stçrungen ein breites Bettigungsfeld.196 Insgesamt habe der Krieg, so Anson Rabinbach, „die Anwendung der in Friedenszeiten im Labor entwickelten Einsichten und Techniken auf die Erfordernisse des Kampfes“197 beschleunigt und eine Verbindung von Taylorismus, Arbeitsphysiologie und psycho-physischen Eignungsprfungen antizipiert, die kennzeichnend fr die zwanziger Jahre wurde. Der wesentliche Unterschied zwischen der europischen Arbeitswissenschaft und der wissenschaftlichen Betriebsfhrung  la Taylor bestand darin, dass die europischen Studien auf Labor-Experimenten von Physiologen, Psychologen und Medizinern beruhten, whrend die amerikanische Arbeitsforschung auf das Fachwissen von Ingenieuren vertraute.198 Dennoch trafen sich beide Ausrichtungen der Arbeitswissenschaft in der rationalen Bestimmung der optimalen Leistungsfhigkeit von Arbeit und Kapital, d. h. der Messung und Steigerung der Arbeitsproduktivitt und der Ertragsmaximierung.199 Gerade in Deutschland versprach die bernahme der amerikanischen Methoden nach dem Krieg eine rasche Erholung der Wirtschaft: „Der Taylorismus als eine Sammelbezeichnung fr Methoden der objektiven Leistungszumessung wurde auf diesem Wege zu einem selbstverstndlichen Pendant der mechanisierten Großindustrie.“200 1924 fand der erste internationale Kongress fr wissenschaftliche Betriebsfhrung in Prag statt, dem schon ein Jahr spter Versammlungen in Brssel (1925) und Paris (1926) folgten.201 Auf der durch Taylor angestoßenen Rationalisierung basierte schließlich die gesamte Rationalisierungsbewegung der 195 In diesem Zusammenhang ist vor allem Walther Rathenau, der Vorstand der A.E.G., zu nennen, der die Materialversorgung der Militrindustrien aufrecht zu erhalten suchte. Vgl. Rabinbach, Motor Mensch, S. 301. 196 Vgl. dazu ausfhrlich Rabinbach, Motor Mensch, S. 305 310. 197 Rabinbach, Motor Mensch, S. 311. 198 Vgl. Rabinbach, Motor Mensch, S. 281. Zu weiteren grundstzlichen Unter schieden zwischen europischer und amerikanischer Arbeitswissenschaft vgl. die instruktive, zeitgençssische Studie von Irene Margarete Witte: Taylor, Gilbreth, Ford. Gegenwartsfragen der amerikanischen und europischen Arbeitswissen schaft, Mnchen, Berlin 1924. 199 Vgl. Rabinbach, Motor Mensch, S. 283. 200 Vahrenkamp, Taylor, S. LXXXVI. 201 Vgl. Wren, Frederick W. Taylor, S. 65.

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zwanziger Jahre.202 Rationalisierung wurde in Deutschland nicht nur zum Leitbild der Unternehmensfhrung,203 sondern auch Anlass großer, gesellschaftlicher Debatten, die nichts von ihrer Aktualitt verloren haben.204 Der Erfolg des Taylorismus nach dem Ersten Weltkrieg strkte die Rolle der Ingenieure in der Organisation und Verwaltung grçßerer Betriebe. Damit gewann das Prinzip der wissenschaftlichen Betriebsfhrung an Bedeutung, das ber den eigentlichen Betrieb hinaus auch auf die Verwaltung, die Technik und die Sozialleistungen des Unternehmens ausgedehnt wurde.205 Gleichzeitig verschob sich durch den Erfolg der Eignungsprfungen im Ersten Weltkrieg das Interesse der Arbeitswissenschaft immer strker von physiologischen zu psychologischen Fragen und begrndete damit die „ra der Psychotechnik“ in Deutschland bzw. Europa.206 Die Psychotechnik entwickelte – hufig in Anschluss an ihre Arbeit im Krieg – eine Vielzahl von Tests, um die physische und geistige Eignung von Berufsanwrterinnen und Berufsanwrtern zu bestimmen. 202 Vgl. Sarasin, Rationalisierung des Kçrpers, S. 84. 203 Vgl. Tobias Sander: Die doppelte Defensive. Lage, Mentalitten und radikal konservative Politik der Diplom Ingenieure in Deutschland 1900 1933, in: Zeitschrift fr Geschichtswissenschaft 53 (2005), H. 4, S. 301 322, hier S. 304. 204 Vgl. Radkau, Technik in Deutschland, S. 269. Befrwortern der amerikanischen Methoden, die beispielsweise von der Herabsetzung der Produktionskosten so ziales Entwicklungspotenzial im Bereich Bauen und Freizeit erwarteten, standen ihre Gegner gegenber, die auf die europische Tradition der Arbeit als Le bensinhalt verwiesen. Sie sahen in der Rationalisierung eine „Entseelung“ der Arbeit am Werk, die vom Lebenssinn des Menschen abgelçst sei und nur mehr dazu diene, einen Lebensinhalt außerhalb der Arbeit zu finanzieren. Vgl. zu diesen Positionen die Vortrge von Hugo Borst: Mechanisierte Industriearbeit, muß sie im Gegensatz zu freier Arbeit Mensch und Kultur gefhrden?, in: Das Problem der Industriearbeit. Zwei Vortrge gehalten auf der Sommertagung 1924 des Deutschen Werkbundes, Berlin 1925, S. 1 37, und Willy Helpach: Die Erziehung der Arbeit, in: Das Problem der Industriearbeit, ebd., S. 39 70. Vgl. zu dieser Diskussion mit positivem Bezug auf Hellpach unter der ber schrift „Der zuknftige Weg europischer Arbeitswissenschaft?“ auch die Schlussbemerkungen von Witte, Taylor, Gilbreth, Ford, S. 70 74. 205 Vgl. Rabinbach, Motor Mensch, S. 330. 206 Vgl. Rabinbach, Motor Mensch, S. 331 334. Zu Beginn der Weimarer Repu blik entstanden zahlreiche psychotechnische Prfstellen in Betrieben und meh rere psychotechnische Institute bzw. Lehrsthle an Universitten. Unterhielten 1917 immerhin drei deutsche Unternehmen industrielle Prfstellen, waren es 1922 schon 170 Firmen. Vgl. Hinrichs, Um die Seele des Arbeiters, S. 225. Zu den Universitten vgl. Rabinbach, Motor Mensch, S. 333.

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Dazu schrieb Robert Werner Schulte (1897 – 1933) in Psychotechnik und Polizei: Eignungsprfungen sind insbesondere vorgenommen worden im Kriege bei den Armeen fast aller kriegfhrenden Nationen. Die Amerikaner haben in groß angelegtem Maße durch Prfungen ihr gesamtes Heer, 1 34 Millionen Mann, psychologisch untersucht und mit diesen Feststellungen gute Erfolge erzielt. In Frankreich, Deutschland usf. wurden insbesondere technische Truppenteile, so die Flieger, Kraftfahrer, das artilleristische Meßpersonal, Maschinengewehrschtzen in bezug auf ihre Eignung fr die betreffende Truppengattung untersucht. Nach dem Kriege haben die Untersuchungen auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens außerordentlich großen Umfang erlangt. Vor allem bedient sich die moderne Großindustrie in Deutschland und den meisten Kulturstaaten in ausgedehntem Maße der Methoden der Psychotechnik. Es gibt in Deutschland nur noch wenige çffentliche oder industrielle Großbetriebe, die nicht in irgendeiner Weise bei der Einstellung und Ausbildung ihrer Berufsanwrter psychotechnische Verfahren zu Hilfe nehmen. Die Ministerien haben durch gemeinsamen Erlaß vom Mrz 1918 die Einfhrung psychologischer Eignungsprfungen bei der Berufsberatung gefordert. Eisenbahn, Straßenbahn, Post, Handwerk, Behçrden bedienen sich heute mit gutem Nutzen der von der praktischen Psychologie ausgearbeiteten Prfverfahren.207

Der Erfolg der Psychotechnik verdankte sich vor allem der Umstrukturierung des Arbeitsmarktes nach dem Krieg, ihren Erfolgen bei der Wiedereingliederung von Kriegsverletzten und ihrer positiven Aufnahme seitens der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie, die in psychotechnischen Eignungstests die Chance sahen, berufliche Positionen unabhngig von stndischen Rcksichten zu vergeben, wie es etwa bei Offiziersanwrtern von Heer und Marine im Ersten Weltkrieg der Fall gewesen war.208 Walter Benjamin (1892 – 1940) nannte das System der Tests und die Methoden ihrer Auswertung „das gewaltige Laboratorium, das eine neue Wissenschaft: die Wissenschaft von der Arbeit, gerade in Deutschland sich in kurzer Zeit erstellt hat […].“209 Die Psychotechnik beanspruchte fr sich sowohl die Exaktheit und Rationalitt von Wissenschaft als auch die Objektivitt und Unparteilichkeit der Technik.210 Sie entwickelte einen abstrakten Leistungsbegriff, der von seinem gesellschaftlichen oder çkonomischen Gehalt losgelçst 207 Robert Werner Schulte: Psychotechnik und Polizei. Probleme, Methoden und Erfahrungen, Oldenburg 1926, S. 17 f. [Herv. i. Orig.]. 208 Vgl. Rabinbach, Motor Mensch, S. 332. 209 Benjamin, Karussell der Berufe, S. 669. 210 Vgl. Schrage, Psychotechnik und Radiophonie, S. 110.

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und damit universell einsetzbar war.211 Ihre Zielsetzung hat Musil als „Normung des Geistes“ beschrieben.212 In Mnsterberg war der Psychologe als Ingenieur erschienen, der nur der Lçsung praktischer Aufgaben dienen wollte.213 Sein Werk Grundzge der Psychotechnik wurde in der Hochzeit der angewandten Psychologie Mitte der zwanziger Jahre zur programmatischen Berufungsinstanz.214 So lauten die ersten beiden Stze aus Gieses Buch Psychotechnik: „Psychotechnik heißt ,Angewandte Psychologie‘. So hat Mnsterberg das Wort ursprnglich definiert.“215 Giese, der einer der fhrenden Vertreter der Psychotechnik in der Weimarer Republik war und mit einer Vielzahl fachlicher und populrwissenschaftlicher Publikationen an die ffentlichkeit trat, greift in seiner Abhandlung sowohl auf die Gestaltpsychologie als auch auf die von Stern entwickelte Differentielle Psychologie zurck.216 Die Psychologie wird bei ihm hnlich wie bei Mnsterberg zur Grundlagenwissenschaft fr Naturund Geisteswissenschaften. Denn sie komme zwar nicht ohne technischphysikalisches Verstndnis aus, sei aber zum Scheitern verdammt, wenn sie nicht knstlerisch-seelisch und einfhlsam agiere.217 So hebt er schon 211 Vgl. Hinrichs, Um die Seele des Arbeiters, S. 212. 212 Vgl. Robert Musil: Normung des Geistes [1927 oder spter], GW II, S. 799/ 800. So hatte Fritz Giese beispielsweise schon 1920 ein Buch ber die „Normen der Psyche in Grundschule und Berufsberatung“ herausgebracht. Vgl. Fritz Giese: Handbuch psychotechnischer Eignungsprfungen, Halle 1925 (= 2. erw. u. vernd. Aufl. der „Eignungsprfungen an Erwachsenen“), Vorwort zur zweiten Auflage, S. 17. 213 Vgl. Schrage, Psychotechnik und Radiophonie, S. 75. 214 Vgl. Schrage, Psychotechnik und Radiophonie, S. 75. Doch gerade vor dem Hintergrund der schon von Mnsterberg postulierten Neutralitt stellte sich die Frage, welchen Interessen die Psychotechnik diente. Sie war Teil eines Akzep tanzproblems der Psychotechnik in wissenschaftlichen Kreisen, die Ende der zwanziger Jahre zu einer Krise der Psychotechnik fhrte. Eine der ersten, die diese Frage berhaupt offen stellte, war Franziska Baumgarten, die in einem Vortrag die Abhngigkeit der Psychotechnik von ihren Auftraggebern thematisierte. Vgl. Daub, Franziska Baumgarten, S. 85. Tatschlich fhrte die vermeintliche Wert neutralitt der Psychotechnik einige ihrer wichtigsten Vertreter direkt auf den Weg der Nationalsozialisten. So rhmte sich Giese, als erster deutscher Dozent eine Einfhrung in die politische Psychologie anhand Hitlers Mein Kampf ge geben zu haben. Hitler soll dafr jedem Hçrer ein Exemplar als Geschenk ge schickt haben. Vgl. Eerke Hamer: Die politische Erfllung Nietzsches im Na tionalsozialismus in der Deutung von Fritz Giese, in: Sportunterricht 22 (1973), S. 206 211, hier S. 207. 215 Fritz Giese: Psychotechnik, Breslau 1928, S. 7. 216 Vgl. Giese, Psychotechnik, S. 41. 217 Vgl. Giese, Psychotechnik, S. 46.

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in der Einleitung hervor, dass Psychotechnik alle Gebiete der Kultur gestalten kçnne.218 In diesem Zusammenhang ist es von besonderem Interesse, dass sich einige der deutschen Psychotechniker – neben Giese ist hier vor allem Robert Werner Schulte zu nennen – intensiv mit sportwissenschaftlichen Fragen, mit der Eignung im Sport und dem Geist des Sports generell befassten.219 Die Sportpsychologie erlebte gerade in der Weimarer Republik eine Blte, die auf den Leistungen deutscher Forscher in Physiologie und Psychologie aufbaute und sich mit dem Aufstieg des Sports zur Massenkultur verband.220 Schon 1921 hatte Schulte den Kçrper im Sport als Muster vollkommener Arbeitsleistung und zugleich als entzckend schçnen Anblick gerhmt: Besonders schçn kann man Hçchstleistungen auf diesem Gebiet beobachten beim Tennis-, Schlagball-, Faust- oder Fußballspiel, wenn es gilt, den Impuls (die Kraftmenge) schnell und genau den Umstnden anzupassen und der Kçrperarbeit jene elegante und leicht spielerische Linie zu verleihen, die uns an technisch geschulten Sportsleuten immer wieder entzckt.221

An der neu gegrndeten Hochschule fr Leibesbungen in Berlin unter der Leitung von Carl Diem (1882 – 1962) richtete Schulte ab 1920 das erste sportpsychologische Laboratorium in Deutschland ein, wo er in enger Zusammenarbeit mit dem medizinischen Laboratorium der Hochschule die Probleme der Leistungssteigerung in allen mçglichen Bereichen der Leibesbungen systematisch untersuchte.222 Als 1922 die Eignungsprfung fr Kriminaldienstbewerber durch Verfgung des Preußischen Ministeriums des Innern obligatorisch wurde, erhielt Schulte 218 Vgl. Giese, Psychotechnik, S. 7. 219 Vgl. u. a. Fritz Giese: Kçrperseele. Gedanken ber persçnliche Gestaltung, Mnchen 1924; ders.: Geist im Sport. Probleme und Forderungen, Mnchen 1925; ders.: Girlkultur. Vergleiche zwischen amerikanischem und europischen Rhythmus und Lebensgefhl, Mnchen 1925; Robert Werner Schulte: Eig nungs und Leistungsprfung im Sport. Die psychologische Methodik der Wissenschaft von den Leibesbungen, Berlin 1925; ders.: Die Psychologie der Leibesbungen. Ein berblick ber ihr Gesamtgebiet, Berlin 1928 (= Beitrge zur Turn und Sportwissenschaft, Heft 17). 220 Vgl. Hoberman, Sterbliche Maschinen, S. 206. 221 Robert Werner Schulte: Leib und Seele im Sport (Einfhrung in die Psychologie der Leibesbungen). Eine Vortragsreihe, Charlottenburg 1921, S. 7. 222 Vgl. Helmut E. Lck: „… Und halte Lust und Leid und Leben auf meiner ausgestreckten Hand“. Zu Leben und Werk des Psychologen Robert Werner Schulte, in: Horst Gundlach (Hrsg.): Arbeiten zur Psychologiegeschichte, Gçt tingen, Bern, Toronto, Seattle 1994, S. 39 48, hier S. 40.

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parallel dazu den Auftrag des Ministeriums, fr die gesamte Schutzpolizei Prfmethoden zu entwickeln und einzufhren.223 Zu diesem Zweck wurde in der Preußischen Polizeischule fr Leibesbungen in Spandau die „Psychotechnische Hauptprfstelle fr Sport und Berufskunde“ geschaffen,224 wo „ausgedehnte Untersuchungen an Sportlern und ber die Beziehungen zwischen sportlicher und dienstlicher Leistung angestellt“ wurden.225 Im Unterschied zu den sportphysiologischen Untersuchungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts war die Leistungssteigerung nun erklrtes Ziel in allen Bereichen des tglichen und beruflichen Lebens.226 Fr den Sport hieß das: „Das Ziel der Leibesbungen im Sport ist der Wettkampf, der Sieg, die Hçchstleistung.“227 Gleichzeitig blieb der Zusammenhang zwischen industrieller Arbeit, militrischem Training und Sport gegeben, der in der bung bzw. dem Drill, wie es bei Giese hieß, bestand. ,bung‘ wurde damit auch zu einem psychologischen Instrument der sportlichen Leistungssteigerung. Entsprechend zielte Schultes Sportpsychologie auf die „mçglichst restlose wirkliche geistige Durchdringung des Gebietes der Leibesbungen vom Gesichtspunkte der wissenschaftlich-psychologischen Betrachtungsweise aus“228. Umgekehrt zeigten sich Anerkennung und Durchsetzung der Psychotechnik im Sport darin, dass in einem Handbuch der Athletik der „Eignung im Sport“ ein eigenes Kapitel gewidmet ist.229 Sport und Rationalisierung blieben also auch unter psychologischen Vorzeichen eng aufeinander bezogen. Damit konnte der Sport seine Position an der Schnittstelle von Arbeit und „Kulturaufgaben“ (Mnsterberg) in den zwanziger Jahren weiter ausbauen.

223 Vgl. Schulte, Polizei und Psychotechnik, Vorwort, S. 9 16, hier S. 9 f. 1919 war erstmals eine Auswahl von Kriminalanwrtern nach psychotechnischem Verfah ren in Stuttgart, 1920 bei der Kriminalpolizei Berlin getroffen worden (vgl. Schulte, ebd., S. 9). 224 Vgl. Schulte, Polizei und Psychotechnik, S. 10. 225 Vgl. Schulte, Polizei und Psychotechnik, S. 11. 226 Vgl. Schulte, Polizei und Psychotechnik, S. 17. 227 Schulte, Eignungs und Leistungsprfung im Sport, S. 202 [Herv. i. Orig.]. 228 Schulte, Die Psychologie der Leibesbungen, S. 8. 229 Es handelt sich nebenbei um das lngste Kapitel des gesamten Bandes, was nicht nur der eigenen Herausgeberttigkeit geschuldet sein drfte. Vgl. Carl Krmmel: Eignungslehre, in: ders. (Hrsg.): Athletik. Ein Handbuch der lebenswichtigen Leibesbungen, Mnchen 1930, S. 84 123. Zu Krmmel vgl. auch Hoberman, Sterbliche Maschinen, S. 212.

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6. Sport als moderne Lebensform Die zentrale Stellung des Sports zwischen Arbeit und Freizeit begrndet seine kaum zu berschtzende Bedeutung fr die Formation des Subjekts und die Organisation der kulturellen Moderne. Durch die Verbindung von Technik, Naturwissenschaften und Massenkultur vernderten sich zugleich die Bedingungen dessen, „was es heißt, ein modernes Subjekt zu sein.“230 Diesen Zusammenhang thematisiert auch der populre Ufa-Film Wege zu Kraft und Schçnheit (Regie: Wilhelm Prager (1867 – 1955), Buch: Dr. Nicholas Kaufmann) von 1925, der das sportliche Kçrperideal der zwanziger Jahre in Szene setzt. Dazu heißt es in einer Werbeanzeige: „Dieser Film zeigt die Wege, Kinder zu gesunden, blhenden Menschen zu erziehen, Kçrper und Geist gesund und arbeitsfhig zu erhalten und zu sportlichen Hçchstleistungen zu befhigen.“231 Das hier annoncierte Zusammenspiel von Gesundheitsfrsorge, Leistungsorientierung und Lebensfreude verdeutlicht, dass Sportlichkeit, Fitness und Bewegung in der freien Natur zu einem gesellschaftlichen Leitbild stilisiert wurden, das sthetische und technische Normen verband und die Subjekte an die Widersprche der Moderne anpassen sollte. Als kçrperbezogene Selbsttechnik erfllte die Sportpraxis eine doppelte Funktion: sie diente einerseits der Reproduktion des Arbeitslebens und andererseits der Entlastung.232 Der Sport erschien als Kçnigsweg individueller Gesundheitspflege und wurde gleichzeitig in das brgerliche Konzept methodischer Lebensfhrung eingepasst, das die Grundlage gesellschaftlicher Rationalitt und Modernisierung bildete.233 Den Widerspruch zwischen Gesundheitspflege und Leistungssteigerung vermittelte die Kçrperkulturbewegung der zwanziger Jahre, die entscheidend zur zeitgençssischen Konstruktion des Neuen Menschen beitrug.234 Sie spielte auch in Wege zu Kraft und Schçnheit die zentrale Rolle und unterstrich dadurch, dass Kçrperkultur und Sport aufgrund 230 231 232 233

Vgl. Reckwitz, Das hybride Subjekt, S. 275. So eine Werbeanzeige der Ufa in: Die Kçrperkultur im Film, o. S. Vgl. Mller, Bizepsaristokraten, S. 45 f. Zum Bruch mit der brgerlichen Innerlichkeit bei gleichzeitiger bernahme brgerlicher „Sinnfundamente“ in der organisierten Moderne vgl. Reckwitz, Das hybride Subjekt, S. 282 f. 234 Vgl. Wedemeyer Kolwe, „Der Neue Mensch“, S. 429; vgl. auch: Der Neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts, hg. von Nicola Lepp, Martin Roth, Klaus Vogel, Katalog zur Ausstellung im deutschen Hygienemuseum Dresden vom 22. April bis 8. August 1999, Ostfildern Ruit 1999.

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der trainingswissenschaftlichen Entwicklung kaum mehr unterscheidbar waren.235 Die psychotechnisch untermauerte Verbindung von Arbeits- und Freizeitkultur machte Kçrperkultur und Sport zum zentralen Instrument der Formierung des Subjekts. In diesem Zusammenhang erfuhr auch der Betriebssport eine neue Ausrichtung und Bedeutung, wie Carola Sachse am Beispiel von Siemens gezeigt hat.236 Im effektiven Zusammenwirken von betrieblicher und familialer Sphre sollten die Menschen physisch und psychisch an die rationalisierten Arbeitsprozesse angepasst werden, um dadurch den Produktionsprozess zu optimieren. So ließen es sich moderne Unternehmen angelegen sein, auch den Freizeitbereich der Betriebsangehçrigen rational zu planen und durch entsprechende Angebote zu gestalten.237 Hygiene, Bewegung und Leistungssteigerung waren – neben dem Gemeinschaftsgefhl der Betriebszugehçrigkeit – die wichtigsten Ziele des betrieblich organisierten Sports. Im Rahmen der betrieblichen Angebote zeigten sich allerdings geschlechtsspezifische Unterschiede, die einmal mehr den Sportler als Mnnlichkeitsideal profilierten. So sollten sich Frauen nicht primr an sportlicher Leistung, sondern eher an ,Kçrperpflege‘ orientieren.238 Auch 235 Vgl. Wedemeyer Kolwe, „Der Neue Mensch“, S. 427. Der Sportpsychologe Robert Werner Schulte schreibt im Vorwort seiner Abhandlung zur Kçrperkultur verheißungsvoll, dass die Wissenschaft die Kçrperkultur zuknftig immer weiter befruchten werde. Vgl. Robert Werner Schulte: Kçrperkultur. Versuch einer Philosophie der Leibesbungen, Mnchen 1928, Vorwort, S. 10. Auch die Ar beiterbewegung schloss sich mit ihrem Programm des Neuen Menschen an die Kçrperkulturbewegung an. Die Arbeitersportfachverbnde der Weimarer Repu blik organisierten sich nmlich nicht im Deutschen Reichsausschuss fr Lei besbungen (DRA), sondern in der Zentralkommission fr Arbeitersport und Kçrperpflege (ZK). Vgl. Erik Eggers: Fußball in der Weimarer Republik, Kassel 2001, S. 29. 236 Vgl. Carola Sachse: Siemens, der Nationalsozialismus und die moderne Familie. Eine Untersuchung zur sozialen Rationalisierung in Deutschland im 20. Jahr hundert, Hamburg 1990. Waren die verschiedenen Werkssportgruppen seit der Jahrhundertwende vor allem gegrndet worden, um die Arbeiter von der Or ganisation in den Sportvereinen der Arbeiterbewegung abzuhalten, ging es nun nicht in erster Linie um Fragen politischer Organisation, sondern darum, un kontrolliertes Rekordstreben zu vermeiden und einen Ausgleich von Sport und Arbeit zu erreichen, der wiederum der Leistungssteigerung in der Firma diente. Vgl. Sachse, ebd., S. 31. 237 Vgl. Sachse, Siemens, S. 27 f. 238 Vgl. Sachse, Siemens, S. 32. In diesem Zusammenhang ist auch noch einmal an das Programm von Keuns Protagonistin Gilgi zu erinnern.

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Giese wies den weiten Bereich der Kçrperkultur den Frauen, den Sport als Tathandlung tendenziell den Mnnern zu.239 In Hinblick auf die Gesunderhaltung der Beschftigten sollten insbesondere Frauen in den Genuss moderner Maßnahmen zur allgemeinen Hebung der Volksgesundheit gelangen. Gezielt gefçrderte Spitzenleistungen einzelner (mnnlicher) Sportler demonstrierten dagegen nach außen die Leistungsfhigkeit des Unternehmens.240 Obwohl die betriebliche Freizeitgestaltung alle Gruppen von Betriebsangehçrigen mit eigens auf sie zugeschnittenen Freizeitangeboten umfasste, erreichte Siemens vornehmlich die Angestellten, da die Arbeiter strker in Arbeitersportvereinen aktiv waren und die Gewerkschaften den Betriebssport bekmpften. Das moderne Subjekt lsst sich daher mit Siegfried Kracauer (1889 – 1966) auch als Angestellten-Subjekt bezeichnen.241 Dennoch gab es seitens der Unternehmensfhrung keinen Konflikt mit den Gewerkschaften, solange sich alle kçrperlich fit hielten.242 Kracauer hat in seiner Studie ber Die Angestellten (1929) daher die Frage gestellt, ob es wirklich um die Durchbildung des Kçrpers gehe oder ob dem Sport nicht darum „[…] ein so ausgezeichneter Platz in der Hierarchie der Kollektivwerte angewiesen wird, weil er den Massen die willkommene und von ihr voll ausgenutzte Mçglichkeit der Zerstreuung bietet.“243 Entsprechend galten ihm die Sportangebote der Unternehmen als ein „Hauptmittel der Entpolitisierung“244, was die freundliche Zurckhaltung einer Firma wie Siemens gegenber den Gewerkschaften durchaus erklren kçnnte. So hatte das Unternehmen bewusst versucht, den Freizeitsport nicht zur bloßen Steigerung der Leistungsfhigkeit zu instrumentalisieren, sondern Gesundheit, Sportlichkeit und Wettkampffreude als Ausdruck einer modernen Lebenseinstellung und individueller 239 Vgl. Giese, Geist im Sport, S. 16; zur „Verniedlichung“ ,mnnlicher‘ Sportarten durch die Frauen, Giese, ebd., S. 82. Auffllig ist auch, dass es zwar betriebliche Angebote fr Frauen gab, ,Freizeit‘ an sich aber berwiegend den Mnnern zugebilligt wurde. Vgl. Sache, Siemens, S. 252. Zur Mnnlichkeitskonstruktion des Sportlers als Tatmenschen und der mit ihr verbundenen geschlechterspezi fischen Rollenverteilung in der Kultur der zwanziger Jahre vgl. auch Jens Schmidt: „Sich hart machen, wenn es gilt“: Mnnlichkeitskonzeptionen in Il lustrierten der Weimarer Republik, Mnster 2000, hier bes. S. 84 f. 240 Vgl. Sachse, Siemens, S. 204 f. 241 Vgl. Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland [1929], Frankfurt/Main 1971; vgl. dazu Reckwitz, Das hybride Subjekt, S. 282. 242 Vgl. Sachse, Siemens, S. 198. 243 Vgl. Kracauer, Die Angestellten, S. 99. 244 Vgl. Kracauer, Die Angestellten, S. 100.

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Persçnlichkeit zu propagieren.245 Sportlichkeit war ein positives Symbol der Modernitt, das gezielt eingesetzt wurde, um die Kompensationsfunktion des Sports zu betonen. Dabei schien die psychotechnische Vision auf, das Allgemeine zu individualisieren, um dem Durchschnitt individueller Verschiedenheit gerecht zu werden.246 Fr Kracauer bestand die Absicht dieser Maßnahmen folglich darin, „[…] sich die Massenseele dienstbar zu machen.“247 Den engen Zusammenhang von Sport und Rationalisierung hat auch Giese reflektiert. Fr ihn bedeutete Sport eine „lebenssteigernde Notwendigkeit“,248 durch die sich Arbeit und Freizeit verknpfen. Darin manifestierte sich gleichzeitig der smtliche Lebensbereiche umfassende Anspruch der Rationalisierungskultur, die im Sport hervorragenden Ausdruck fand. In seinem Buch Geist im Sport (1925) hat Giese die verschiedenen Ausrichtungen des Sports zu typologisieren versucht. Dabei ging es ihm nicht um das Fr und Wider des Sports, sondern schlicht um den „Fortschritt an sich“.249 Giese konzipierte den Sport als Ausgleich fr die Beanspruchungen durch das Arbeitsleben, der selbst „aus dem Geiste unserer Zeit“ geformt sei.250 Die Gegenwart zeichne sich durch Arbeit und Konkurrenzkampf aus, durch Teilarbeit, Spezialisierung und unerhçrte „Steigerungsformen auf technisch-wirtschaftlichem Gebiete“.251 Der Sport diente also als Ausgleich und Steigerungsform in einem. Damit versuchte Giese den Widerspruch zwischen Affirmation und Kompensation aufzulçsen, den er gleichzeitig voran trieb: „Je mehr wir der Industrialisierung entgegengehen, um so mehr ist Sport nçtig, um so erheblicher rckt die Gefahr heran, aus den Sportlern Industriege245 Carola Sachse hat ausgefhrt, dass dieses Konzept in den dreißiger Jahren zu Unstimmigkeiten mit den Betriebssportvorstellungen der Nationalsozialisten fhrte. Vgl. Sachse, Siemens, S. 208 f. 246 Vgl. Giese, Psychotechnik, S. 55. 247 Vgl. Kracauer, Die Angestellten, S. 75. 248 Vgl. Giese, Geist im Sport, S. 105. 249 Vgl. Giese, Geist im Sport, S. 9. Dieser Fortschritt ist an die industrielle Ent wicklung gebunden: „Die Industrie, die Technik und die Wirtschaft beginnen unsere Politik, unsere persçnliche Freiheit und unsere Entwicklungsmçglich keiten zu beeinflussen. […] Wer heute sich gegen die Idee der Industrie wehrt, ist verloren, denn er gibt seine Zeitungemßheit zu.“ (Giese, Geist im Sport, S. 95.) Vor diesem Hintergrund fordert der Autor eine weltanschauliche Haltung des Sports, zu der sein Essay ein erster Beitrag sein soll. Vgl. Giese, ebd., S. 98. 250 Vgl. Giese, Geist im Sport, S. 162. 251 Vgl. Giese, Geist im Sport, S. 162.

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schçpfe werden zu lassen, wenn nicht sehr große Vorsicht gebt wird.“252 Seine „Philosophie des Sports“ lautete daher: „Anpassung und Ertchtigung der modernen Menschen auf diese Lebensbedingungen. Schulung der knftigen in diesem Sinne, um ein Gebude neuartiger Werte zu bekommen […].“253 Mit diesem Zukunftsentwurf schrieb Giese dem Sport im Prinzip die Aufgaben psychotechnischer Organisation zu. Entsprechend hat er den Sport als „Lebensform des modernen Menschen“ bestimmt, d. h. als zeitgemße Form des Subjekts in der organisierten Moderne.254 Auch Kracauer charakterisierte den Sport als „Hauptform“ der Existenz der Masse und gestand ihm zu, „das lebensnotwendige Gegengewicht gegen die vermehrten Anforderungen der modernen Wirtschaft herzustellen.“255 Anders als fr Giese war diese Diagnose fr Kracauer aber kein Grund zur Euphorie, sondern Ausdruck eines sinnentleerten Daseins, das „[…] dem Bewußtsein der Zusammenhnge entrinnen mçchte, in denen es steht.“256 Darum versuchte er den Sinn, den die Kçrperkultur verspricht, zu entlarven: Der nackte Kçrper wchst zum Sinnbild des aus den herrschenden gesellschaftlichen Zustnden befreiten Menschen heran, und dem Wasser wird die mythische Kraft zugeschrieben, den Schmutz des Betriebes abzuwaschen. Es ist der hydraulische Druck des Wirtschaftssystems, der unsere Schwimmanstalten bervçlkert. Aber das Wasser reinigt in Wirklichkeit nur noch die Kçrper.257

Als Lebensform des modernen Menschen fllt der Sport die Leere, die die gesellschaftliche Rationalisierung in Gestalt ihres Fortschrittsversprechens hinterlsst.258 Musil sprach von einem „Vakuum, in das sich der Sport strzt“.259 Es sind die Widersprche der Moderne selbst,260 die im Sport 252 253 254 255 256 257 258

Giese, Geist im Sport, S. 114. Giese, Geist im Sport, S. 162. Vgl. Giese, Geist im Sport, S. 20. Kracauer, Die Angestellten, S. 99. Kracauer, Die Angestellten, S. 100. Kracauer, Die Angestellten, S. 101. In seiner Rezension von Wege zu Kraft und Schçnheit hat Kracauer die Setzung des Kçrpers als Grundlage alles Hçheren als Konfusion bezeichnet: „Der Geist sprießt nicht aus dem Kçrper wie ein Gewchs hervor.“ (Siegfried Kracauer: Wege zu Kraft und Schçnheit (II. Fassung), in: ders.: Kleine Schriften zum Film, Bd. 6.1, 1921 1927, hg. von Inka Mlder Bach, Frankfurt/Main 2004, S. 253 255, hier S. 255.) 259 Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 691.

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zutage treten und seine zentrale Stellung im Schnittfeld von Individualisierung und Normierung, von Rationalisierung und sthetisierung begrnden.

260 Diese Widersprche kennzeichnen auch das Neue Bauen, das die Rationalitt der technisch industriellen Moderne und die Ansprche des Individuums vereinen wollte. Vgl. dazu am Beispiel von Giedions Buch „Befreites Wohnen“ Stanislaus von Moos: Nachwort, in: Sigfried Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung: ein Beitrag zur anonymen Geschichte, Frankfurt/Main 1987, S. 781 816, hier S. 785 787; zu Giedion und den notwendigen Widersprchen dieser Moderne Konzeption vgl. auch Brggemann, Architekturen des Augenblicks, S. 280 321.

III. Training fr die Wirklichkeit Die Avantgarde der Sportkultur: Der Querschnitt Die gesellschaftliche Bedeutung des Sports machte sich in den zwanziger Jahren vor allem in zwei Bereichen des kulturellen Lebens bemerkbar. Zum einen prgte sie den Entwurf eines zuknftigen Neuen Menschen, der die Sport- und Kçrperkulturbewegung mit der Avantgarde verband.1 Zum anderen zeigte sie sich in der Herausbildung einer spezifischen Sportkultur, die zur Professionalisierung des Sports und seiner Medialisierung und Kommerzialisierung als Ereignis fr zahlende Zuschauer fhrte.2 In diesem Klima konnten einzelne Sportler zu Prominenten im gesellschaftlichen Leben werden, pflegten Knstler Kontakte zu Sportstars, die – wie der Wiener Fußballer Josef Uridil (1895 – 1962) oder der Boxer Max Schmeling (1905 – 2005) – sogar fr den Film entdeckt wurden.3 Die Avantgarde setzte die Figur des Sportlers als Vorbild des Neuen Menschen in Szene und leistete damit einen programmatischen Beitrag zur Verbindung von Kunst und Lebenspraxis.4 Der fließende 1

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Dass sich die Wege zur Verwirklichung dieses Neuen Menschen teilweise er heblich unterschieden, tut dieser Feststellung keinen Abbruch, im Gegenteil. Der Sport erweist sich gerade in seiner Unbestimmtheit als wirkungsvolle Klammer verschiedener Konzepte. sterreich hatte 1924 als erstes Land auf dem Kontinent den Professionalismus im Fußball eingefhrt. In der Folge trennte sich der medienorientierte und kapitalabhngige Hochleistungssport vom Arbeiter , Betriebs und Freizeitsport. Diese umstrittene Entwicklung bildet auch die Grundlage fr den von Willy Meisl (1895 1968) herausgegebenen Band Der Sport am Scheidewege (1928), der neben dem Querschnitt als Beispiel fr den intellektuellen Sportdiskurs der zwanziger Jahre gelten kann und Beitrge von Egon Erwin Kisch, Bertolt Brecht, Frank Thieß, Arnolt Bronnen und Carl Diem versammelt. Zu Josef Uridil genannt „der Tank“ oder „Uridil“ als „Star“ der frhen zwanziger Jahre in Wien vgl. Roman Horak/Wolfgang Maderthaner: Mehr als ein Spiel. Fußball und populare Kulturen im Wien der Moderne, Wien 1997, S. 97 111. Zu den Zielsetzungen der historischen Avantgarde vgl. Walter Fhnders: Avantgarde und Moderne 1890 1933, Stuttgart, Weimar 1998, S. 199 207; Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, sthetik, Dichtung im 20. Jahrhundert, Mnchen 2004, S. 240 249.

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bergang zwischen Sport, Kunst und Kommerz verdeutlicht, dass gerade der professionell betriebene Sport zu einem festen Teil der entstehenden Massenkultur wurde. Obwohl sich die Sportausbung um die Jahrhundertwende zunchst als Vergngen der gesellschaftlichen Eliten etabliert hatte und auch in der Zwischenkriegszeit weitgehend von brgerlichen Schichten getragen wurde, deutete die Avantgarde den Sport zu einem anti-brgerlichen Projekt um. Zentral fr diese Neuinterpretation war der Kçrper des Sportlers, der als Sinnbild der Rationalitt der technisch-naturwissenschaftlichen Moderne erschien.5 Insbesondere die maskuline Figur des Boxers wurde zur Ikone der anti-brgerlichen Haltung der internationalen Avantgarde. Im Zuge der breit gefhrten Rationalisierungsdebatte meldeten sich Knstler und Schriftsteller des Bauhauses und der Neuen Sachlichkeit zu Wort, fr die der Sport tatschlich eine neue Kultur ,verkçrperte‘.6 Der Massenzulauf, den Boxkmpfe, Fußballspiele oder das Sechstagerennen in Berlin erhielten, lieferte ihnen weitere Argumente. ,Sportlichkeit‘ wurde als Element neusachlicher sthetik propagiert, galt darber hinaus aber auch als Ausdruck eines modernen Lebensgefhls, das sich beispielsweise im Entwurf der Neuen Frau nieder schlug.7 Die vielzitierte Sportbegeisterung der zwanziger Jahre lsst sich daher von der 5 6

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Vgl. Michael Cowan/Kai Marcel Sicks (Hrsg.): Leibhaftige Moderne. Kçrper in Kunst und Massenmedien 1918 1933, Bielefeld 2005. Wie auch Der Querschnitt zeigt, entwickelten sich einige deutsche Knstlerinnen und Knstler der Avantgarde Richtung Neue Sachlichkeit. Vgl. Walter Fhnders: Avantgarde und Moderne 1890 1933, Stuttgart, Weimar 1998, S. 201. Zum Zusammenhang von Kunst und wissenschaftlich begrndeter Rationalisierung in der russischen Avantgarde vgl. Margarete Vçhringer: Avantgarde und Psycho technik. Wissenschaft, Kunst und Technik der Wahrnehmungsexperimente in der frhen Sowjetunion, Gçttingen 2007. Vgl. Katharina Sykora, Annette Dogerloh, Doris Noell Rumpeltes u. Ada Raev (Hrsg.): Die Neue Frau. Herausforderung fr die Bildmedien der Zwanziger Jahre, Marburg 1993; Gesa Kessemeier: Sportlich, sachlich, mnnlich: Das Bild der ,Neuen Frau‘ in den Zwanziger Jahren. Zur Konstruktion geschlechtsspezi fischer Kçrperbilder in der Mode der Jahre 1920 1929, Dortmund 2000; Burgu Dogramci: Mode Kçrper. Zur Inszenierung von Weiblichkeit in Mode grafik und fotografie der Weimarer Republik, in: Michael Cowan/Kai Marcel Sicks (Hrsg.): Leibhaftige Moderne. Kçrper in Kunst und Massenmedien 1918 1933, Bielefeld 2005, S. 119 135; Heide Volkening: Kçrperarbeiten. Das Working Girl als literarische Figur, in: Michael Cowan/Kai Marcel Sicks (Hrsg.): Leibhaftige Moderne. Kçrper in Kunst und Massenmedien 1918 1933, Biele feld 2005, S. 136 151.

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medialen Inszenierung des Sports in Gestalt von sportlichen Großereignissen und der Inszenierung von Sportlichkeit in Werbung, Mode und Kunst kaum trennen. Gleichzeitig sagt sie nichts ber die praktische Sportausbung der Bevçlkerung aus. Zwar stieg die Mitgliederzahl von Sportvereinen, Gruppierungen der Kçrperkulturbewegung und Betriebssportvereinigungen weiter an, doch blieb der Sport eine mnnliche und weitgehend brgerliche Praxis. Der eigentliche Durchbruch zum ,Massensport‘ gelang erst nach dem Zweiten Weltkrieg.8 Die Sportkultur der Avantgarde schuf sich in dem von Alfred Flechtheim (1878 – 1937) begrndeten Magazin Der Querschnitt (1921 – 1936) ihr zentrales Forum. Der Querschnitt nimmt im neusachlichen Sportdiskurs aus mehreren Grnden eine herausragende Stellung ein: Eine professionelle Sportkritik war Anfang der zwanziger Jahre noch im Entstehen begriffen, eine eher feuilletonistische Sportberichterstattung musste sich im Laufe dieser Jahre berhaupt erst herausbilden. Die Sportdarstellung des Querschnitt verband Schrift und Bild zu einer Inszenierung des Sportgeschehens, die hçchsten sthetischen Ansprchen gengte. Gleichzeitig wurde das Magazin damit der Visualitt und Theatralitt des Sports als Ereignis in besonderer Weise gerecht. Es machte die neue, moderne Kultur, fr die der Sport stand, allererst sichtbar. In der bewussten Engfhrung von Kunst und Sport trug das Magazin damit programmatisch zu einer Erneuerung der Kultur bei. Trotz der unbestritten großen Bedeutung des Querschnitt fr das kulturelle Leben der Zwischenkriegszeit steht eine umfassende Wrdigung dieses Magazins seitens der Forschung noch aus. Im Zuge der publizistischen Forschung der siebziger Jahre erschienen verschiedene Aufstze, die jeweils als berblick ber Geschichte, Autoren, Themen, Gestaltung und Zielsetzung des Querschnitt angelegt sind.9 Die Inszenierung 8

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Einen ausfhrlichen berblick ber verschiedene Sportarten, Mitgliederzu wchse der Vereine, soziale Zugehçrigkeit und Geschlecht der Mitglieder in der Weimarer Republik gibt Christiane Eisenberg: Massensport in der Weimarer Republik. Ein statistischer berblick, in: Archiv fr Sozialgeschichte 33 (1993), S. 137 177. Vgl. Christine Schulze: Der Querschnitt (1921 1936), in: Heinz Dietrich Fi scher (Hrsg.): Deutsche Zeitschriften des 17. bis 20. Jahrhunderts, Pullach bei Mnchen 1973, S. 379 391; Werner Helwig: „Der Querschnitt“. Eine Auslese in Facsimile aus allen seinen Jahrgngen (1921 1936). Veranstaltet von Wil mont Haacke und Alexander von Bayer, Berlin 1978, in: Criticn 49 (1978), S. 253 255; Christian Ferber: Rckblick auf einen Siegeszug, in: Der Quer schnitt. Das Magazin der aktuellen Ewigkeitswerte 1924 1933, zusammenge stellt und hg. von Christian Ferber, Frankfurt/Main, Berlin 1981, S. 9 15;

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und Reflexion des Sports als programmatisches Anliegen des Querschnitt hat erstmals Kai Marcel Sicks in einem Aufsatz gewrdigt. Durch eine Analyse des umfangreichen Bildprogramms des Magazins kann Sicks zeigen, wie im Rahmen eines sthetischen Gesamtkonzepts der Sportlerkçrper – vor allem der Kçrper des Boxers – als Kunstideal in Szene gesetzt wird.10 Doch nicht nur die Aufarbeitung des Querschnitt, auch die Geschichte der Sportberichterstattung und die Darstellung des Sports in der illustrierten Presse mssen als empfindliche Lcke der Forschung gelten. Eine Monografie zu diesem umfangreichen Themenkomplex steht noch aus.11 Wilmont Haacke: Alfred Flechtheim und „Der Querschnitt“, in: Alfred Flechtheim: Sammler. Kunsthndler. Verleger. Katalog zur Ausstellung im Kunstmuseum Dsseldorf, 20. September bis 1. November 1987; Westflisches Landesmuseum fr Kunst und Kulturgeschichte Mnster, 29. November 1987 bis 17. Januar 1988, hg. von Hans Albert Peters, Dsseldorf 1987, S. 13 19. ber diese Arbeiten geht auch der 1998 im Rahmen einer Zeitschriftenausstel lung erarbeitete Beitrag von Bettina Deininger und Ulrike Felger nicht hinaus. Vgl. Bettina Deininger/Ulrike Felger: „Der Stoff liegt auf der Straße“ Der Querschnitt, in: Moderne Illustrierte Illustrierte Moderne. Zeitschriftenkon zepte im 20. Jahrhundert, hg. von Patrick Rçssler, Katalog zur Ausstellung in der Wrttembergischen Landesbibliothek vom 17. Juni bis 1. August 1998, Stuttgart 1998, S. 26 37. 10 Vgl. Kai Marcel Sicks: „Der Querschnitt“ oder: Die Kunst des Sporttreibens, in: Michael Cowan/ders. (Hrsg.): Leibhaftige Moderne. Kçrper in Kunst und Massenmedien 1918 1933, Bielefeld 2005, S. 33 47. 11 Eine Ausnahme bildet die Arbeit von Jens Schmidt, der sich mit der Darstellung des Sports als Mnnlichkeitskonzeption in ausgewhlten Illustrierten der Wei marer Republik (Berliner Illustrierte Zeitung, Arbeiter Illustrierte Zeitung, Deutsche Illustrierte) beschftigt hat. Die Illustrierten selbst interessieren ihn aber nur am Rande. Vgl. Schmidt, „Sich hart machen“. Zur Kritik der sprlichen Forschung vgl. Bernd Weise: Pressefotografie I. Die Anfnge in Deutschland ausgehend von einer Kritik bisheriger Forschungsanstze, in: Fotogeschichte 9 (1989), H. 31, S. 15 40, bes. S. 15 19; mangelndes Interesse der Forschung an den Illustrierten beklagt auch Sophie von Stackelberg, die einen ersten Beitrag zum Magazin Uhu (ebenfalls Ullstein) vorgelegt hat. Vgl. Sophie von Stackel berg: Illustrierte Magazine als Zeitschriftentyp und historische Quelle. Der „Uhu“ als Beispiel, in: Diethart Kerbs/Walter Uka (Hrsg.): Fotografie und Bildpublizistik in der Weimarer Republik, Bçnen/Westfalen 2004, S. 133 149. Zur Geschichte der Pressefotografie vgl. Weise, Pressefotografie I; sowie Pres sefotografie II. Fortschritte der Fotografie und Drucktechnik und Vernde rungen des Pressemarktes im Deutschen Kaiserreich, in: Fotogeschichte 9 (1989), H. 33, S. 27 62; vgl. zu den Vorlufern der Fotografie Diana Lenz Weber: Die bildliche Darstellung des Sports in der Unterhaltungspresse des 19. Jahrhunderts. Interpretationen und soziokulturelle Analysen, Heidelberg 1994.

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Die folgenden Ausfhrungen basieren auf der Auswertung smtlicher Jahrgnge des Querschnitt bis 1933. Auf dieser Grundlage werden nach einem berblick ber die Entwicklung der Sportpresse die zentralen Aspekte der avantgardistischen Sportdebatte entfaltet. Sie legt gleichzeitig den Kontext von Musils großen Sport-Essays – Als Papa Tennis lernte (1931) und Kunst und Moral des Crawlens (1932) – dar, die beide in Der Querschnitt erschienen sind. Musil war nicht nur Leser des Querschnitt, sondern durch seine enge Freundschaft mit Franz Blei (1871 – 1942), einem regelmßigen Mitarbeiter der Zeitschrift, sicher auch mit Interna aus dem engeren Umkreis der Redaktion vertraut. Zudem war er persçnlich mit Victor Wittner (1896 – 1949) bekannt, der 1929 Chefredakteur des Magazins wurde.

1. Sportpresse und Sportkultur Als 1921 die ersten Hefte des Querschnitt erschienen, war die tgliche Sportberichterstattung in der Presse zwar etabliert, der Sportjournalismus aber noch im Entstehen begriffen. Rundfunk und Film spielten zu diesem Zeitpunkt im journalistischen Tagesgeschft noch keine Rolle. Auch die verschiedenen Formen der Berichterstattung, sei es in Gestalt einer ausfhrlichen Darstellung des eigentlichen Wettkampfs durch den Sachverstndigen, eines Kommentars oder der eher feuilletonistischen Wrdigung des Ereignisses mit Hinweisen auf Atmosphre und Publikumsreaktionen durch den Kritiker, bildeten sich erst heraus. Die Redaktion des Querschnitt beschritt also weitgehend unbekanntes Terrain, als sie begann, Berichte, Glossen, Essays und literarische Texte ber den Sport zu verçffentlichen. Als Begrnder des Sportjournalismus in Deutschland gilt Kurt Doerry (1874 – 1947), der 1904 Chefredakteur der ersten deutschsprachigen Sportzeitschrift Sport im Bild wurde. 1910 war er maßgeblich an der Grndung der ersten Berufsorganisation der Sportjournalisten in Berlin beteiligt.12 Die Verbreitung des Sports war und ist – wie die 12 Vgl. Eisenberg, „English Sports“, S. 223. 1930 publizierte Doerry einen ber blick ber die Entwicklung der deutschen Sportberichterstattung; zu diesem Zeitpunkt war er Prsident des Verbandes der Deutschen Sportpresse. Vgl. Kurt Doerry: Sportpresse und Sportberichterstattung, in: Carl Krmmel (Hrsg.): Athletik. Ein Handbuch der lebenswichtigen Leibesbungen, Mnchen 1930, S. 573 586.

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Entwicklung der Bewegungsdarstellung und die Geschichte der Radrennen gezeigt hat – immer an verschiedene Inszenierungsformen geknpft, die auf einer Zurschaustellung der Kçrper beruhen, die gleichzeitig Teil einer Medialisierung der Lebenswelt sind. Umgekehrt gilt, dass die Geschichte des Sports auch die seiner medialen Inszenierungen ist. Dass in diesem Zusammenhang dem Einsatz neuester Bildtechniken ebenso wie dem Zuschauen entscheidende Bedeutung zukommt, macht nicht zuletzt der Titel der ersten Sportzeitschrift im Kaiserreich – Sport im Bild – unmissverstndlich deutlich.13 Sport im Bild war eine der ersten Zeitschriften, die nicht mit Zeichnungen, sondern durchweg mit Fotografien ausgestattet erschien.14 Diese an englischen Vorbildern orientierte Illustrierte richtete sich – wie bereits an ihren Untertiteln: Illustrierte Zeitschrift fr alle Sportzweige, Illustrierte Wochenschrift fr Sport, Gesellschaft, Theater, verbunden mit Roß und Reiter sowie schließlich Das Blatt der guten Gesellschaft abzulesen ist15 – an die gesellschaftlichen Eliten, die ber das Jagdgeschehen ebenso wie ber Pferderennen, Reisen und Mode informiert werden wollten. Eisenberg hat betont, dass Sport im Bild nicht nur dazu beitrug, „[…] daß Disziplinen wie Lawn Tennis, Golf, Fußball, Hockey und Leichtathletik einem breiteren Publikum zum Begriff wurden. Sie machte diese ,sports‘ zugleich im wahrsten Sinn des Wortes salonfhig.“16 Doch da der Sport in Deutschland um 1900 noch kaum entwickelt war, blieb diese mondne 13 Sport im Bild wurde von dem Schotten Andrew Pitcairn Knowles gegrndet, der in Freiburg und Wien Chemie studiert hatte, wobei sein Schwerpunkt auf Fo tochemie lag. Das Examen legte er an der TH Charlottenburg ab, wo er ein neues fotografisches Reproduktionsverfahren kennen lernte, die sog. Autotypie, die durch ein Rasterverfahren eine adquate Wiedergabe von Halb und Zwi schentçnen ermçglichte. Die Autotypie lçste den Holzschnitt ab und stand damit Ende des 19. Jahrhunderts am Beginn der Pressefotografie fr den Zeitungs druck. Zur Autotypie vgl. Weise, Pressefotografie I, S. 20. Zu Sport im Bild vgl. Eisenberg, „English Sports“, S. 156. Pitcairn Knowles kann damit als ein weiteres Beispiel fr das enge Zusammenspiel von naturwissenschaftlichem und sportli chem Interesse gelten, das die kulturelle Moderne konstituierte und den Sport als Teil dieser Kultur in Szene bzw. ins Bild setzte. 14 Vgl. Eisenberg, „English Sports“, S. 156. Chemigraphische Betriebe stellten die Autotypien her; 1896 richtete Ullstein als erster Verlag eine eigene chemigra phische Abteilung fr die Berliner Illustrierte Zeitung ein. Vgl. Weise, Pressefo tografie I, S. 20. In der tglichen Berichterstattung der Printmedien setzte sich die Fotografie hingegen erst Ende der zwanziger Jahre gegen die Pressezeichnung durch. 15 Vgl. Fischer, Sport als Literatur, S. 58. 16 Eisenberg, „English Sports“, S. 156.

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Gesellschaftszeitschrift ein Zuschussgeschft. Andrew Pitcairn-Knowles (1871 – 1956) verkaufte seine Zeitschrift 1904 an den Berliner Verleger August Scherl (1849 – 1921), der Doerry, einen der bisherigen Mitarbeiter, zum Chefredakteur befçrderte.17 In den zwanziger Jahren lag ein weiterer Schwerpunkt von Sport im Bild auf Automobilrennen, wofr zwischen 1925 und 1928 Erich Maria Remarque (1898 – 1970) als Redakteur verpflichtet war. Regelmßig wurde das Thema Sport auch aus der Perspektive von Kunst und Literatur beleuchtet.18 Musil publizierte 1928 seinen Text Tren und Tore in Sport im Bild. 19 Wie die Entdeckung des Sports durch die frhe Werbeindustrie eindrucksvoll belegt,20 ließen sich mit der Inszenierung des Sports lukrative Geschfte machen, Geschfte, die wiederum die Medialisierung von Sport und Alltagswelt vorantrieben. Brgerliche Unternehmer entdeckten schon Ende des 19. Jahrhunderts im entstehenden Sport ein lohnendes Bettigungsfeld und errichteten Pferderennbahnen, Rollschuhund Eislaufbahnen oder Schwimmbder. Auch der berhmte Berliner Sportpalast, eine ebenso als Kino nutzbare Mehrzweckhalle, wurde bereits 1910 erçffnet.21 Parallel zu dieser Entwicklung wurde der Sport zwischen 1905 und 1910 zum Gegenstand regelmßiger Berichterstattung in der Tagespresse. Zunchst schrieben vor allem die Lokalredakteure ber Sportereignisse, erst mit dem wachsenden Bedarf an Sportnachrichten entstand der eigentliche Sportberichterstatter.22 So hob Doerry hervor, dass er als aktiver 17 Vgl. Eisenberg, „English Sports“, S. 157 f. Die Zeitschrift erschien bei Scherl bis 1934. 18 Eine genauere bersicht ber Themen und Autoren sowie Reproduktionen ei niger Titelbilder von Sport im Bild gibt Nanda Fischer. Vgl. Fischer, Sport als Literatur, S. 58 62. 19 Der Text erschien am 28. September 1928. Vgl. Musil, Tren und Tore, GW II, S. 608 610. Am 10. Februar 1929 erschien er auch in der Prager Presse, am 31. Mai 1931 in Der Wiener Tag. Vgl. Musil, GW II, S. 1759. Spter nahm Musil den Artikel in seinen Band Nachlaß zu Lebzeiten auf. Vgl. Musil, Tren und Tore, GW II, S. 504 506. 20 So warb beispielsweise die Firma Junkers mit Sportaktivitten fr ihre Gasba deçfen, indem sie fr die Sporthygiene ein warmes Bad empfahl. Und die Werbung fr „Kçlnisch Wasser“ behauptete, dass die Tennis Meisterin zwei Dinge brauche: unablssiges Training und „4711“, um mit einigen Tropfen wrzigen Dufts die Mdigkeit zu bannen. Vgl. Fischer, Sport als Literatur, S. 55. 21 Vgl. Eisenberg, „English Sports“, S. 220. Zur Geschichte und Entwicklung des Berliner Sportpalastes vgl. Alfons Arenhçvel (Hrsg.): Arena der Leidenschaften. Der Berliner Sportpalast und seine Veranstaltungen 1910 1973, Berlin 1990. 22 Vgl. Doerry, Sportpresse, S. 575.

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Teilnehmer der ersten Olympischen Spiele der Neuzeit 1896 in Athen gleichzeitig der einzige deutsche Sportjournalist gewesen sei, wohingegen 1912 in Stockholm bereits 42 Kollegen aus Deutschland angereist seien.23 Mit der wachsenden Berichterstattung wuchs auch der kritische Sachverstand der Leserinnen und Leser, die nach einer differenzierten Darstellung und Bewertung des Sportgeschehens verlangten.24 Als stilbildend gelten die Reportagen von Willy Meisl (1895 – 1968), der 1924 auf vçllig neuartige Weise von den Olympischen Spielen in Paris berichtete und damit den deutschen Sportjournalismus revolutionierte.25 In Berlin lieferten sich die Verleger Scherl und Ullstein mit dem Berliner Lokalanzeiger und der B.Z. am Mittag einen erbitterten Konkurrenzkampf. Whrend die ersten Sportjournalisten – wie die Beispiele Doerry und Meisl zeigen – in der Regel ehemalige Sportler waren,26 fhrte die Expansion der Sportpresse dazu, dass die großen Zeitungen zahlreiche – von Musil, Joseph Roth und anderen verspottete – „Sportschriftsteller“ beschftigten, die fr Sensationen sorgen und Aktualitt gewhrleisten sollten. In Als Papa Tennis lernte konstatiert Musil vermutlich zutreffend, dass „[…] alle am Sport Beteiligten, mit Ausnahme von ganz wenigen, fr ihre Person keinen Sport ausben, ja ihn mçglicherweise sogar verabscheuen.“27 Und Doerry urteilte: Es macht sich ein sportliches Literatentum breit, das den Mangel an Sachkenntnis durch mehr oder weniger blhenden Stil zu verdecken sucht. Und Kritik wird von Leuten gebt, denen, weil sie den in Frage kommenden Sport niemals praktisch betrieben haben, jegliche Fhigkeit zur kritischen Wrdigung sporttechnischer Leistungen abgeht.28 23 Vgl. Doerry, Sportpresse, S. 574 576. 24 Vgl. Doerry, Sportpresse, S. 576. 25 Nach seiner Rckkehr aus Paris erhielt Willy Meisl von Ullstein das Angebot, ein anspruchsvolles Sportressort fr die Vossische Zeitung aufzubauen. Meisl leitete dieses Ressort bis Ende 1933 und emigrierte Anfang 1934 nach London. In seiner Jugend war Meisl in verschiedenen Sportarten aktiv gewesen, u. a. im Wasserball und als Fußballtorwart der „Wiener Amateure“. Er war der Bruder von Hugo Meisl, dem Trainer des legendren çsterreichischen „Wunderteams“. Beide Brder sind darber hinaus ein Beispiel fr das große Engagement des jdischen Wiener Brgertums im Sport. Vgl. Erik Eggers: Willy Meisl der „Kçnig der Sportjournalisten“, in: Dietrich Schulze Marmeling (Hrsg.): Da vidstern und Lederball. Die Geschichte der Juden im deutschen und interna tionalen Fußball, Gçttingen 2003, S. 288 318, hier S. 288 290. 26 Vgl. Doerry, Sportpresse, S. 576. 27 Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 691 [Herv. i. Orig.]; vgl. auch Eisen berg, „English Sports“, S. 221. 28 Doerry, Sportpresse, S. 584.

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Festzuhalten ist, dass die Entwicklung der Presse – mit einem eigenen Sportteil in den Tageszeitungen und der Grndung sportlicher Fachzeitschriften29 – und die Entwicklung des Sports zum Massenspektakel Hand in Hand gingen.30 Seine Bedeutung als Massenphnomen war in den zwanziger Jahren unbestritten, Doerry etwa schtzte die Zahl der „sportlich interessierten Menschen“ in Deutschland sogar „auf etwa 20 Millionen“.31 Zur Prsentation und Kommentierung des Sportgeschehens standen durch immer neue Zeitungen, Illustrierte und Fachzeitschriften, spter auch Kino und Rundfunk, eine Vielzahl zumal neuer Medien zur Verfgung. Dennoch blieb die Darstellung des sportlichen Wettkampfs eine Leerstelle, die hufig durch Reportagen aus den Stadien, Erçrterungen ber das Fr und Wider des Sports sowie Berichte ber das Privatleben der Sportstars berdeckt wurde.32 Diesen Prozess der Bedeutungsgenerierung hat Roth in seinem brillanten Artikel Der Sport-Schmock (1930) satirisch unter die Lupe genommen und sich gegen die „genauen Schilderungen der Klosettbesuche unserer Boxer“ mit großem Nachdruck verwahrt.33 Gleichzeitig garantierte gerade die besondere Medialitt des Sports seinen Erfolg, der unter teils skeptischen, teils emphatischen Vorzeichen zu seiner Anerkennung als Teil der modernen Kultur fhrte. Dieser Sport war Publikumsereignis, Lebensgefhl und Deutungsangebot fr eine sich wandelnde Gesellschaft. Whrend die Inszenierung des Sports einerseits dazu beitrug, dieses Vakuum zu fllen, wurde es andererseits durch das stndige Besprechen dessen, was der Sport ist oder sein kçnnte, berhaupt erst sichtbar. 29 So wurden 1920 beispielsweise die Fußballzeitschrift Kicker und die Zeitschrift Der Boxsport gegrndet. 30 Vgl. Doerry, Sportpresse, S. 577; zu diesem Zusammenspiel auch Karin Rase: Kunst und Sport. Der Boxsport als Spiegelbild gesellschaftlicher Verhltnisse, Frankfurt/Main, Bern, New York u. a. 2003, S. 134. 31 Vgl. Doerry, Sportpresse, S. 577. 32 Diana Lenz Weber hat fr die Illustrationen des 19. Jahrhunderts herausgear beitet, dass bildliche Darstellungen der sportlichen Handlung hufig durch landschaftliche oder gesellschaftliche Motive ergnzt wurden. Dies deutet sie als Beweis fr den Unterhaltungscharakter des Sportgeschehens, der auch in den zugehçrigen Artikeln der von ihr untersuchten Zeitschriften die Hauptrolle spielt; rein informative Berichte seien demgegenber in der Minderzahl. Vgl. Lenz Weber, Bildliche Darstellung des Sports, S. 163. 33 Joseph Roth: Der Sport Schmock [1930], in: Joseph Roth Werke, hg. von Klaus Westermann, Bd. 3: Das journalistische Werk 1929 1939, Kçln 1991, S. 234 236, hier S. 235.

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Karl Ludwig Pfeiffer hat daher Sport und Medien in einen Zusammenhang gerckt, der zwischen individueller Leistung und vergesellschaftbaren Erfolg kaum noch Unterschiede macht: Moderner Sport resultiert aus moderner Systembildung. […] Weil der Sport ein attraktiveres, kçrpernheres und Leistungen besser visibilisierendes ,System‘ ist als die meisten anderen, erheblich (auch) auf die Invisibilisierung effektiver Prozesse abstellenden sozialen Systeme, ist seine ,Resonanzfhigkeit‘ im Blick auf die sogenannten Massenmedien hçher. Dies gilt aber nur so lange, als der performative Appeal, das von den Systemen nicht Integrierbare des Sports ,selbst‘, den Systemverschleiß bersteht. Die Massenmedien sind die quasi naturwchsige Verlngerung des Sports; gleichzeitig sind sie, im Prinzip, vçllig irrelevant.34

Besondere Aufmerksamkeit in der Presse erfuhr der professionelle Zuschauersport, der in den zwanziger Jahren anders als Opern- oder Theaterauffhrungen, anders auch als das allabendlich spielende Kino, Tausende von Zuschauern zu einzelnen Veranstaltungen zog. Dabei erfreuten sich Fußballspiele, Boxwettkmpfe und Sensationen wie das Sechstagerennen besonderer Beliebtheit. Durch die Professionalisierung des Sports spitzte sich die Sportdebatte zu. Fr Meisl stand der „Sport am Scheidewege“ zwischen profitorientierter, sensationslsterner „Massenschau“ und Amateursport, der zu einer fortschrittlichen Kultur beitragen sollte.35 Zu betonen ist in diesem Zusammenhang, dass das Interesse am Sport von Anfang an auch seiner Attraktivitt als Publikumsereignis galt. Zu seiner Inszenierung trugen die Zeitschriften seit der Jahrhundertwende bei, indem sie selbst die Stelle des Publikums einnahmen. Ihre Berichte dienten zudem der Erziehung des Publikums und der Erklrung der Regeln.36 Insofern konnte die Sportdebatte der zwanziger Jahre auf einige Argumente der Vorkriegszeit zurckgreifen. Neu war hingegen das Ausmaß der Kommerzialisierung des Sports, das unmittelbar mit dessen Professionalisierung zusammenhing.37

34 K. Ludwig Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginre. Dimensionen kulturan thropologischer Medientheorie, Frankfurt/Main 1999, S. 468. 35 Vgl. Willy Meisl: Der Sport am Scheidewege, in: ders.: Der Sport am Schei dewege, Heidelberg 1928, S. 19 131, hier S. 121 f. 36 Vgl. Doerry, Sportpresse, S. 156 f.; Eisenberg, „English Sports“, S. 158. 37 Mller betont die Kontinuitt zum Kaiserreich strker und sieht keinen Grund dafr, der Sportdebatte der zwanziger Jahre einen „Sonderstatus“ einzurumen. Vgl. Mller, „Bizepsaristokraten“, S. 33.

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Selbst Autoren, die in dezidiert kulturkritischer Absicht schrieben, trugen letztlich durch ihre lebhafte Anteilnahme an Sportereignissen zu deren Anerkennung bei. Sportlich mehr oder minder versierte Kritiker kommentierten Boxkmpfe, das Sechstagerennen oder einzelne Sportprofis wie vordem Theaterabende und Schauspielergrçßen. Dass sich die entstehende Sportkritik bisweilen direkt bei Kollegen anderer Disziplinen bediente, macht eine hçchst amsante Gegenberstellung von zwei Ihering-Kritiken und einer Fußball-Kritik deutlich, die 1925 unter der berschrift „Herbert Ihering befruchtet die Fußballkritik“ im Querschnitt erschien. Der Verfasser der Spielbesprechung hatte mehrere Passagen aus zwei Rezensionen des Berliner Theaterkritikers fast wçrtlich bernommen. So hieß es bei Ihering: Die Auffhrung stand unter dem Bann der phnomenalen Leistung von Walter Franck als Grand. Franck hat das brutale ußere fr diese Figur. Aber wie er nie mit seinem ußeren protzte, wie er seine Physis gestaltete, wie er Tcke und Humor, Zynismus und elementare Wut, Pfiffigkeit und Dumpfheit mischte, wie er ausbrach und wieder verstummte grandios.38

Die entsprechende Passage lautete in der Fußballkritik: Das Hamburger Spiel stand unter dem Bann der phnomenalen Leistung Harders als Mittelstrmer. Harder hat das brutale ußere fr diese Figur. Aber wie er nie mit seinem ußeren protzt, wie er mit elementarer Wucht und Pfiffigkeit den Ball vorstieß und vorlief, wie er ausbrach und wieder stoppte grandios.39

Die Gegenberstellung der beiden Kritiken liefert ein Beispiel fr die These, dass die medialen Erzhlungen ber den Sport bestehenden gattungspoetischen Mustern folgen, die aus der Geschichte des Epos und des Dramas stammen.40 Dies gilt offenbar selbst fr die Kritik des Sports. 38 Herbert Ihering: Anarchie in Sillian. Matinee der Jungen Schaubhne Berlin (7. April 1924), in: Herbert Ihering: Von Reinhardt bis Brecht. Eine Auswahl der Theaterkritiken 1909 1932, mit einem Vorwort hg. von Rolf Badenhausen, Reinbek 1967, S. 165 167, hier S. 166. Vgl. Herbert Ihering befruchtet die Fußballkritik, in: Der Querschnitt 5 (1925), H. 8, S. 742/43, hier S. 742. 39 F. Richard zitiert nach: Herbert Ihering befruchtet die Fußballkritik, S. 742. Die Zitate sind nur ein Beispiel fr weitere wçrtliche bernahmen. Der Fußball berichterstatter verarbeitet in seinem Artikel zwei Kritiken von Ihering. 40 Vgl. Gunter Gebauer/Gerd Hortleder: Die knstlichen Paradiese des Sports. Zur Einfhrung, in: dies. (Hrsg.): Sport Eros Tod, Frankfurt/Main 1986, S. 7 21, hier S. 15. Roland Barthes hat diesen Zusammenhang in seinem Essay Die Tour de France als Epos ausgefhrt. Vgl. Roland Barthes: Die Tour de France als Epos, in: Gunter Gebauer/Gerd Hortleder (Hrsg.): Sport Eros Tod,

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Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit dem Sport stand fr viele Schriftsteller die entstehende Massenkultur, durch die sich viele Autoren bedroht bzw. in ihrer Arbeit entwertet sahen. Dagegen traten die Sportveranstaltungen und Wettkmpfe selbst in den Hintergrund. Insofern ging es auch hier weniger um das Sportgeschehen, sondern um die Kritik leicht zu konsumierender Ereignisse, die ohne Anstrengung in den Bann schlugen. Durch die damit verbundene Theatralisierung, Kommerzialisierung und ,Amerikanisierung‘ der Kultur wurde der Erfolg von Sportveranstaltungen neben Kino, Rundfunk oder Tanzmusik fr die mangelnde Nachfrage an schçngeistiger Arbeit und deren materieller Abwertung verantwortlich gemacht, die die Existenz des freien Schriftstellers zunehmend in Frage stellte. Im Kampf gegen diese Entwicklung traten viele Autoren selbst in einen Wettkampf um die Aufmerksamkeit des Publikums.41 Seit etwa Mitte der zwanziger Jahre bildete sich daher eine literarisch ambitionierte Sport-Essayistik heraus, die versuchte, das Phnomen des Sports zu ,deuten‘, und in verschiedenen Zeitschriften einen publizistischen Sportdiskurs etablierte.42 Die Arbeit fr Zeitschriften, Zeitungen oder den Rundfunk erschloss den Autorinnen und Autoren eine neue Einnahmequelle. Gleichzeitig waren sie dadurch den Gesetzen des Marktes direkt unterworfen. Mit der Vermarktung der literarischen Arbeit ging ein hufig als schmerzlich empfundener Prestigeverlust der Schriftsteller einher.43 Dennoch konnte, wer sich am Sportdiskurs der Medien beteiligte, bei aller Kritik an der entstehenden Massenkultur wenigstens durch kleine Beitrge von der Entwicklung profitieren. Wurde die Bedeutung, die plçtzlich Sportereignisse fr sich beanspruchten, von vielen Autoren auch mit ironischer Frankfurt/Main 1986, S. 25 36. Das Original erschien unter dem Titel Le Tour de France comme pope in der franzçsischen Ausgabe von Roland Barthes: My then des Alltags, Frankfurt/Main 1964 [Orig.: Mythologies, Paris 1957]. Die deutsche Ausgabe enthlt nur eine Auswahl, gerade die Texte zum Sport fehlen. Sie finden sich seit kurzem in folgendem Band: Roland Barthes: Was ist Sport? Berlin 2005. 41 Zu diesem Zusammenhang vgl. auch Gamper, Im Kampf um die Gunst der Masse, bes. S. 135 f. 42 Vgl. dazu auch Gamper, Ist der neue Mensch ein „Sportsmann“?, S. 36; Mller, „Bizepsaristokraten“, S. 22. 43 Zur Situation der Schriftsteller in der Weimarer Republik vgl. ausfhrlich Anton Kaes: Schreiben und Lesen in der Weimarer Republik, in: Literatur der Wei marer Republik 1918 1933, hg. von Bernhard Weyergraf, Mnchen, Wien 1995 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, begr. von Rolf Grimminger, Bd. 8), S. 38 64.

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Distanz behandelt, so zogen sie aus diesem „Geist des Sports“ (Musil) doch Vorteile. Zugespitzt lsst sich formulieren, dass die vielfach konstatierte ,Krise‘ der geistigen Kultur, des Theaters, des Romans etc. zugleich eine beeindruckende neue Produktivitt vieler Schriftsteller freisetzte.44 Insofern wurde das Vakuum des Sports, von dem Musil am Ende seines Essays Als Papa Tennis lernte spricht, fr einige Autorinnen und Autoren sogar zu einer Chance. Gerade der Sport machte in der ihm eigenen Offenheit und Gegenwartsbezogenheit vielfltige Angebote, um die Widersprche der Zeit zu thematisieren. Diese Mçglichkeit haben, wie das Beispiel des Querschnitt im Folgenden zeigt, Knstler der Avantgarde schon frh erkannt und genutzt.

2. Der Querschnitt Das Magazin Der Querschnitt hatte in der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Sport eine Schlsselstellung inne, weil es als erstes Zeitschriftenprojekt den Sport als Teil der neuen Kultur der zwanziger Jahre ernst nahm. Darber hinaus nobilitierte Der Querschnitt den Sport, indem er unter sthetischen Gesichtspunkten enge Korrespondenzen zwischen Kunst und Sport herstellte. Mit diesem avantgardistischen Programm setzte Der Querschnitt neue Maßstbe fr die Wahrnehmung und Reflexion des Sports, die mit der tglichen Sportberichterstattung nicht zu vergleichen waren. Seine Beitrge kçnnen als „Meta-Texte“ zum Thema Sport gelten,45 auf die sich Knstler und Intellektuelle in anderen Zeitschriften immer wieder bezogen. Damit leistete er einen bis heute unerreichten Beitrag zur Verbindung von Kunst und Leben im Sinne der Avantgarde. Das Magazin ging auf die Initiative des Dsseldorfer Galeristen Alfred Flechtheim zurck und bestand zunchst nur aus Heften, die die Kataloge der Galerie durch Mitteilungen aus der aktuellen Kunstszene ergnzen sollten. Flechtheim engagierte sich vor allem fr die neueste franzçsische Malerei und zeitgençssische, junge deutsche Knstlerinnen 44 Zur Kritik des Krisenbegriffes in der Forschung zur Weimarer Republik und seinen Implikationen vgl. den instruktiven Band: Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, hg. von Moritz Fçllmer/Rdiger Graf, Frankfurt/Main, New York 2005, hier bes. die Einleitung von Moritz Fçllmer, Rdiger Graf, Per Leo: Die Kultur der Krise in der Weimarer Republik, ebd., S. 9 41. 45 Vgl. Fischer, Sport als Literatur, S. 57.

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und Knstler.46 Doch ließen Flechtheims breit gestreute Interessen, insbesondere seine Liebe zum Boxsport, und seine vielfltigen, internationalen Kontakte die Mitteilungen bald zu einer zeitschriftenhnlichen Publikation anwachsen. Ende 1920 entschloss sich Flechtheim daher, seine Mitteilungen tatschlich als Zeitschrift herauszugeben.47 Unter dem Titel Der Querschnitt. Marginalien der Galerie Flechtheim erschienen 1921 die ersten sechs Nummern, die sich an Freunde und Interessierte aus dem Umkreis der Galerie richteten.48 Auch in den beiden folgenden Jahren erschienen die Querschnitt-Hefte in loser Folge. 1924 kamen vier Hefte im mittlerweile gegrndeten Querschnitt-Verlag heraus. Im letzten Quartal des Jahres bernahm Ullstein die Zeitschrift,49 die bis April 1933 im Propylen-Verlag als Monatsschrift erschien. Bis 1936 versuchten noch mehrere Verlage den Querschnitt herauszubringen. Am 11. Oktober 1936 wurde er verboten.50 Schon in einer Notiz des Herausgebers vom Mrz 1922 hieß es: „Instndige Bitten verstndiger Leser des ,Querschnitts‘ veranlassen uns, denselben weiter herauszugeben; wir tun es ungern, da er uns Zeit und Geld kostet. Er wird unregelmßig erscheinen und nur dann, wenn etwas zu sagen ist. […] Den Preis des ,Querschnitts‘ werden wir niedrigst bemessen, da wir ihn nicht als Milchkuh betrachten.“51 Diese leicht sarkastische Bemerkung wirft ein bezeichnendes Licht auf die Haltung des Herausgebers und erfolgreichen Kunsthndlers, der wusste, dass er mit Kulturkritik, zumal in Form von ,Marginalien‘, nicht viel verdienen konnte, aber sein Geschft aus Vergngen und berzeugung betrieb. Vor 46 Er prsentierte der deutschen ffentlichkeit u. a. Werke von Braque, Derain, Matisse, Lger und Picasso. Zu einzelnen Ausstellungen vgl. Rase, Kunst und Sport, S. 112 f.; Haacke, Alfred Flechtheim, S. 17. 47 Vgl. Ferber, Rckblick auf einen Siegeszug, S. 9. Der Querschnitt entstand aber auch aus Protest gegen das rheinlndische Luxussteuergesetz. Wie andere Gale risten im Rheinland verzichtete Flechtheim auf Ausstellungsprogramm und Kataloge und gab stattdessen den Querschnitt heraus. Vgl. Mitteilungen der Galerie Flechtheim, H.1, S. 12; dazu Rase, Kunst und Sport, S. 115. 48 Im selben Jahr, am 1. Oktober 1921, erçffnete Flechtheim eine Filiale seiner Galerie in Berlin, Am Ltzowufer 13. 49 1924 kam eine Reihe neuer Illustrierten auf den Markt; darunter auch das thematisch verwandte, aber an das breite Publikum gerichtete Ullstein Magazin Uhu. Vgl. von Stackelberg, Illustrierte Magazine, S. 135. 50 Zu den Jahren 1933 1936 vgl. Schulze, Der Querschnitt, S. 389 391; Dei ninger/Felger, „Der Stoff liegt auf der Straße“, S. 37. 51 Alfred Flechtheim/Wilhelm Graf Kielmannsegg: Notiz des Herausgebers, in: Der Querschnitt 2 (1922), S. 13.

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dem Hintergrund der seit Mitte der zwanziger Jahre leidenschaftlich gefhrten Diskussion um die Professionalisierung des Sports kann Flechtheims Querschnitt als Amateurprojekt charakterisiert werden, das von Liebhaberei und Sportsgeist angetrieben wurde. Diese Haltung charakterisierte auch Hermann von Wedderkop (1875/1876?-1955), der schon 1921 als Herausgeber des Querschnitt ttig zu werden begann.52 Von Wedderkop war Regierungsassessor aus Mecklenburg und Kunstliebhaber, den Flechtheim bereits 1907 in Paris kennen gelernt hatte.53 Die Zeitschrift wurde sein Hauptbettigungsfeld und er begrndete schnell den legendren Ruf des Magazins, der ihn schon 1924 vom „Siegeszug des Querschnitt“ sprechen ließ.54 Dennoch erreichte Der Querschnitt nie ein großes Publikum. Whrend die Auflage der ersten Hefte unter 1000 Stck lag, stieg sie in den besten Jahren auf etwa 20.000 Exemplare.55 Gewinne wurden mit dem Querschnitt vermutlich nie erzielt; Anspruch und finanzielles Risiko der Zeitschrift waren eng verbunden. Hermann von Wedderkop war bis April 1931 als Herausgeber ttig, seit 1929 arbeitete Victor Wittner an seiner Seite als Chefredakteur.56 Von Wedderkops gestalterische und programmatische Klarheit hatte den Querschnitt geprgt, das als „Magazin der aktuellen Ewigkeitswerte“ fr Furore sorgte. In Analogie dazu hat Musil in einem Brief an Blei vom 52 ber Hermann von Wedderkop ist wenig bekannt. Er schrieb in den zwanziger Jahren neben Reisebchern in der Reihe „Wie es nicht im Baedeker steht“ auch den satirisch unterhaltsamen Roman Adieu Berlin, der vom gesellschaftlichen Treiben im sommerlichen Westerland berichtet, das durch ein amazonenhaft sachliches Sportgirl auf Trab gebracht wird. Ton und Haltung des Romans er innern stark an den Querschnitt; der Umschlag zeigt eine Robbe aus der Feder von Rene Sintenis, die mit ihren Arbeiten ebenfalls regelmßig im Querschnitt vertreten war. Vgl. Hermann von Wedderkop: Adieu Berlin, Berlin 1927. Zu Adieu Berlin vgl. Fischer, Sport als Literatur, S. 92 94; zu von Wedderkop vgl. Schulze, Der Querschnitt, S. 382 f.; Ferber, Siegeszug, S. 10. 53 Vgl. Schulze, Der Querschnitt, S. 383. Christian Ferber gibt 1909 als Jahr des Kennenlernens in Paris an. Vgl. Ferber, Siegeszug, S. 10. 54 Vgl. Hermann von Wedderkop: Der Siegeszug des „Querschnitt“, in: Der Querschnitt 4 (1924), H. 2, S. 90 92. 55 Vgl. Bettina Deininger/Ulrike Felger: „Der Stoff liegt auf der Straße“ Der Querschnitt, in: Moderne Illustrierte Illustrierte Moderne. Zeitschriftenkon zepte im 20. Jahrhundert, hg. von Patrick Rçssler. Katalog zur Ausstellung in der Wrttembergischen Landesbibliothek vom 17. Juni bis 1. August 1998, Stuttgart 1998, S. 26 37, hier S. 30; vgl. Ferber, Siegeszug, S. 9. 56 Vgl. Schulze, Der Querschnitt, S. 385; Ferber, Siegeszug, S. 9.

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Querschnitt als „Rasende Schnecke“ gesprochen.57 Geist und Zielsetzung des Magazins reflektierte der Herausgeber in kulturtheoretischen Beitrgen, die als sthetisches Programm des Querschnitts verstanden werden kçnnen. Von Wedderkops Artikel liefern darber hinaus richtungsweisende Positionsbestimmungen in der Auseinandersetzung um die Programmatik der Neuen Sachlichkeit. Der Name der Zeitschrift war Programm,58 ein bewusst gesetzter Schnitt quer durch die verschiedenen Zeitstrçmungen und Tendenzen, der insbesondere im Bildmaterial beeindruckenden Ausdruck fand. Der Querschnitt war ein Magazin der Gegenwart, das die „geistigen Strçmungen und Leidenschaften der Zeit“ vorbehaltlos auf den Prfstand stellte.59 Man sieht sich um und langweilt sich. So entstand der ,Querschnitt‘. Wir haben die beste Absicht, Leben in die dehnende Gleichfçrmigkeit zu bringen. Der Stoff liegt auf der Straße, ein glcklicher Startmoment fr eine Zeitschrift, die nicht in dem trgen Strom mittreiben will, die nicht traurigen Gruß versendet, den sich Wrde schuldig zu sein glaubt.60

,Querdenker‘ wie Blei oder Carl Sternheim gehçrten zu seinen ersten Autoren. Hinzu kamen neben vielen anderen Walter Benjamin, Alfred Dçblin, George Grosz, Kurt Pinthus, Alfred Polgar, Ernst Rowohlt und am Ende der zwanziger Jahre Robert Musil. Auch Autorinnen wie Marieluise Fleißer, Mascha Kaleko, Gertrude Stein oder die Rennfahrerin Claereonore Stinnes waren im Querschnitt vertreten. Die Themen der Zeitschrift reichten von den neuen, aus Amerika importierten Tnzen wie Shimmy oder Charleston ber Jazzmusik, Revue, Theater, Film bis hin zur internationalen Avantgarde der bildenden Kunst, die Flechtheim in Deutschland vertrat. Daneben standen Reiseberichte, Eindrcke aus dem Berliner Zoo, populrwissenschaftliche Artikel ber medizinische Errungenschaften, das Fr und Wider der Rohkost, das Leben der Kassenrzte oder die High Society. Eines der wichtigsten Themen des Querschnitt bildete der Sport, vor allem der BoxSport. Das internationale Sportgeschehen der zwanziger Jahre brachte den 57 Vgl. Robert Musil an Franz Blei, 22. Mrz 1931, in: Musil, Briefe, Bd. I, S. 506. 58 Er geht auf Ottomar Starke, Freund Flechtheims, Graphiker, Bhnenbildner und Autor, zurck, der unter den weniger hufigen Buchstaben des Alphabets suchte und den Titel erfand. Vgl. Haacke, Alfred Flechtheim, S. 15. 59 Hermann von Wedderkop: Standpunkt, in: Der Querschnitt 3 (1923), S. 1 6, hier S. 3; vgl. auch Ferber, Siegeszug, S. 12. 60 Wedderkop, Standpunkt, S. 2.

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auf die lebendige Gegenwart bezogenen Geist des Querschnitt am deutlichsten zum Ausdruck. Der Internationalitt der Avantgarde in Kunst und Sport verpflichtet, beschrnkte sich auch der Gegenwartsanspruch des Querschnitt keineswegs nur auf Deutschland. Das Japanische Theater fand in ihm ebenso Platz wie die Russische Revolution, die Tnzerinnen von Tunis oder Oliven aus Mallorca. Dass auf ein internationales Themen- und Meinungsspektrum grçßter Wert gelegt wurde, fllt vor allem an den Beitrgerinnen und Beitrgern der Zeitschrift auf. Autoren wie Andr Gide, Ernest Hemingway, D.H. Lawrence, Ezra Pound, Paul Valry oder Tristan Tzara waren neben den bildenden Knstlern, die im Querschnitt zu Wort kamen, wie Juan Gris oder Fernand Lger, regelmßig vertreten. Allein durch dieses internationale Profil hob sich Der Querschnitt deutlich von anderen deutschsprachigen Zeitschriften der zwanziger Jahre ab. Die weitverzweigten Kontakte Flechtheims, die ber Paris, Madrid und Rom bis nach New York und Moskau reichten, waren hier von großer Bedeutung.61 Die Herausgeber selbst verstanden sich als Kosmopoliten, die auch schon einmal franzçsische Artikel ohne bersetzung druckten.62 Dem kulturellen Leben in Deutschland hatte Flechtheim 1924 in seinem Artikel Vom Ballett zur Revue folgende Diagnose gestellt: Deutschland leidet heute noch an der Blockade. Zehn Jahre vom Ausland abgeschlossen, hat es endlich nçtig, frei zu atmen und zu wissen, was alles in den langen zehn Jahren in der Welt sich ereignete, nicht allein in Wissenschaften, Ford, Wembley, Kinos, Apachentchern, Erfindungen, Joice, Nurmi, Vogue, Picasso, Radio, Pagenkçpfen, Dempsey, Aeroplanen, sondern auch in Dingen, die das Leben von der leichten Seite nehmen.63

Diese Aufzhlung liest sich nicht nur wie ein Querschnitt durch den Querschnitt, sondern geradezu wie sein Programmentwurf. An den Revuen von Erik Charell (1894 – 1974) lobte Flechtheim vor allem, dass sie „zeitgemß“ sind, zeitgemß „wie Mozart und das Kleinauto“64, wie Strawinsky, Braque, Marie Laurencin und Picasso.65 Ihre Strke bestehe in 61 Vgl. Deininger/Felger, „Der Stoff liegt auf der Straße“, S. 28. 62 Vgl. Ferber, Siegeszug, S. 11. 63 Alfred Flechtheim: Vom Ballett zur Revue, in: Der Querschnitt 4 (1924), S. 199 202, hier S. 201. 64 Flechtheim, Vom Ballett zur Revue, S. 201. 65 Vgl. Flechtheim, Vom Ballett zur Revue, S. 202. Dem Revuetheater widmete Der Querschnitt noch weitere Artikel. Vgl. z. B. Walter Benjamin/Bernhard Reich: Revue oder Theater, in: Der Querschnitt 5 (1925), S. 1039 1043; Karl Wolfs kehl: Revue von der Kehrseite, in: Der Querschnitt 8 (1928), H. 3, S. 177 179.

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ihrer Leichtigkeit, im flchtigen Vergehen, sie seien Flitter und Genuss fr den Augenblick, der „Weltluft“ atme: „[…] jede Szene ein Kunstwerk“.66 Flechtheims Beschreibung erinnerte nicht nur an Baudelaires Definition von Modernitt, er behauptete damit auch die Anschlussfhigkeit der Revue an die erste Liga der internationalen Moderne.67 Was Flechtheim fr Charells Revuen reklamierte, lsst sich auf den Querschnitt durchaus bertragen. Denn das Magazin nahm das Prinzip der Revue als Gestaltungsprinzip auf. Der Querschnitt prsentierte einzelne Szenen, Texte oder Bilder in loser Reihung, die berblick, Anregung und Vergngen gewhren und stakkatohaft Tempo und Rhythmus der Zeit widerspiegeln. Von Wedderkop sprach ironisch vom „Durcheinander des Salat-Prinzips“ als Grundsatz der Zeitschrift.68 Die Gesamtheit dieser Nummern bestimmte schließlich analog zu einem RevueAbend die Dramaturgie des jeweiligen Heftes. So wurde das Magazin, das der Avantgarde Raum geben wollte, durch seine Konzeption selbst Teil der Avantgarde.69 Den Zusammenhang zwischen dem Querschnitt und der Revue stellte Flechtheim selbst folgendermaßen her: „,Revue‘ heißt auf Deutsch 66 Flechtheim, Vom Ballett zur Revue, S. 201. 67 International ist auch die Geschichte der Revue selbst, die eine Pariser Institution des spten 19. Jahrhunderts ist. Auch in Metropolen wie Wien, London und New York fanden schon um 1900 Revue Darbietungen statt. In Deutschland bezeichnet die Revue eine vor allem auf die Ausstattung konzentrierte Bhnen prsentation, die ihren Hçhepunkt in Berlin Mitte der zwanziger Jahre erreichte. Zum Berliner Revuebetrieb vgl. Walter Kaul: Die Berliner Theater Revuen: Bilderflut und Tempo, in: Wir tanzen um die Welt. Deutsche Revuefilme 1933 1945, zusammengestellt v. Helga Belach, Mnchen 1979, S. 87 93; Wolfgang Jansen: Glanzrevuen der zwanziger Jahre, Berlin 1987; Rolf Schneider: Der Engel Tingel Tangel, in: Friedrichstadtpalast Berlin. Europas grçßtes Revue Theater, hg. von Rolf Hosfeld u. a., Hamburg 1999, S. 55 59; Anne Fleig: Tanzmaschinen. Die Girls im Revuetheater der Weimarer Republik, in: Sabine Meine/Katharina Hottmann (Hrsg.): Puppen Huren Roboter. Kçrper der Moderne in der Musik zwischen 1900 und 1930, Schliengen 2005, S. 102 117. 68 Von Wedderkop, Standpunkt, S. 5. 69 Vgl. Deininger/Felger, „Der Stoff liegt auf der Straße“, S. 34. An die Seite stellen lsst sich dem Querschnitt nur die konstruktivistische Zeitschrift G einer Gruppe von Knstlern rund um den schwedischen Filmemacher Viking Eggeling, zu denen u. a. Hans Arp, Theo van Doesburg, Mies van der Rohe, El Lissitzky, Man Ray gehçrten. Einige Autoren von G schrieben auch fr den Querschnitt, so etwa Walter Benjamin. Vgl. dazu Eckhart Kçhn: „Nichts gegen die Illustrierte!“ Benjamin, der Berliner Konstruktivismus und das avantgardistische Objekt, in: Detlev Schçttker (Hrsg.): Schrift Bilder Denken. Walter Benjamin und die Knste, Berlin, Frankfurt/Main 2004, S. 48 69.

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,Rundschau‘. Es gibt eine ,Revue des deux mondes‘, es gibt den ,Mercure de France‘ und die ,Nouvelle Revue franÅaise‘, es gibt die ,Neue Rundschau‘ und die ,Sddeutschen Monatshefte‘ und – den ,Querschnitt‘. Charell’s Revue will der Querschnitt unter den Revuen sein.“70 Auch die Rheinische Rundschau griff auf das Genre der Revue zurck, um den Querschnitt in einer Rezension zu charakterisieren: Der Querschnitt. Sie ist die faulste, schnellste, witzigste und frechste Revue in ganz Deutschland. Ihre Mitarbeiter sind Bonvivants, Telefonmdchen, Rennfahrer, Boxer; Franz Blei, Carl Sternheim und Konsorten. […] Sie bringt Momentbilder aus Boxmatschs neben Reproduktionen nach Rene Sintenis, Gris, Laurencin, Derain und vielen anderen guten Malern. Man schreibt darin auch ber das Billardspiel, den Spießer, ber Picasso und Lenin, alles fabelhaft amsant. Der verkitschte deutsche Film und einige andere literarische Grçßen mssen sich dort manches harte Wort sagen lassen. […] Der Herausgeber ist H. v. Wedderkop, ein gar kluger Mann. Die Erfindung dieser Hefte stammt von Alfred Flechtheim, der in seinen Galerien die besten Bilder in Deutschland ausstellt.71

Entscheidende sthetische Neuerung und Garant fr das theatrale RevueKonzept des Querschnitt war sein Bildprogramm, das durch die Fortschritte in der Drucktechnik zu Beginn des 20. Jahrhunderts ermçglicht worden war. Vollkommen zu Recht stellte von Wedderkop schon 1924 fest: „Spezialitt des ,Querschnitt‘ ist sein reiches Abbildungsmaterial. Neben regelmßigen Illustrationen aus dem Gebiete der alten und neuen Kunst bringen wir ein reiches aktuelles Material, das die Zeit und ihren augenblicklichen Gehalt schlagend illustriert. Die letzten Nummern brachten jedes Mal an hundert und mehr Illustrationen.“72 Eine beeindruckende Vielzahl an Grafiken auf den Textseiten wurde durch acht Bildblçcke vier Hochglanzseiten ergnzt, die die unterschiedlichsten Fotografien enthielten.73 Entscheidend fr die Ausstrahlung des Querschnitts war die Anordnung dieser Fotografien, die in der 70 Flechtheim, Vom Ballett zur Revue, S. 202 [Herv. i. Orig.]. Nach den Kriterien der Publizistik ist Der Querschnitt allerdings keine Revue, sondern ein Magazin. Vgl. dazu eingehend Wilmont Haacke: Publizistik und Gesellschaft, Stuttgart 1970; Kapitel: Der Zeitschriftentypus „Revue“, S. 195 219; Kapitel: Der Zeitschriftentypus „Magazin“, S. 220 242; zum Querschnitt vgl. bes. S. 233 235. 71 ber den Querschnitt (Rheinische Rundschau), zitiert nach Der Querschnitt 1923, S. 198. 72 Von Wedderkop, Der Siegeszug, S. 91 [Herv. i. Orig.]. 73 Vgl. Deininger/Felger, „Der Stoff liegt auf der Straße“, S. 33.

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Regel zu markanten Gegensatzpaaren gruppiert waren, die den Untertitel der Zeitschrift aufgriffen und ironisch in Szene setzten. Diese Bildpaare fhrten zu erstaunlichen, mitunter auch komischen Einsichten in Bewegungsablufe und Posen. So zeigten die Fotografien beispielsweise hnliche Bewegungsformen, wohingegen sich der Kontrast in der Anordnung durch die Gegenberstellung von Mensch und Tier, Mensch und Maschine, Einzelnem und Masse ergab. Ein anderes Anordnungsprinzip bestand darin, Fotografien mit hnlichen Themen auszuwhlen, deren Auffassung sich aber vollkommen unterschied. Hinzu traten Bildber- bzw. Unterschriften, die die Ironie der Darstellung noch unterstrichen. Die Bildauswahl ergnzte wiederum augenzwinkernd die verschiedenen Artikel, die hufig ebenfalls einem Kontrastprogramm folgten. So rundeten sich die Hefte immer wieder zu verblffenden ,Gesamtkunstwerken‘. Darber hinaus gab es ausgesprochene Themenhefte zum Beispiel zum „Theater“ (6/1926, H. 1), zum „Film“ (11/1931, H. 1), aber auch zum Thema „Hunde“ (7/1927, H.10), „ER und SIE“ (11/1931, H. 11) oder „Junge Mdchen heute“ (12/1932, H. 4). In den Jahren der Chefredaktion Wittners dominierten themenspezifische Hefte sogar. Zum Sport brachte die Zeitschrift im Laufe der Jahre drei Themenhefte heraus (1926, H. 5; 1928, H. 8; 1932, H. 6). Insgesamt war Der Querschnitt im besten Sinne ein Zeitgeist-Magazin: Sein Ziel bestand darin, durch die Kontroverse Ansichten und Einsichten in das gegenwrtige Leben zu vermitteln, dessen Modernitt allererst verstanden werden musste.

3. sthetik der Lebendigkeit Den Erfolg der Zeitschrift Der Querschnitt erklrte ihr Herausgeber von Wedderkop 1924 mit der „Breite ihrer Basis“ und der „Lebendigkeit ihrer Anschauung“.74 „Fr kein Thema, sei es noch so bedeutend oder unbedeutend, ist an sich der ,Querschnitt‘ verschlossen. Voraussetzung ist lediglich die Strke seiner Beziehungen zur heutigen Zeit.“75 Mit Lebendigkeit wurde hier das Interesse bezeichnet, dem Gesicht der Zeit ins Auge zu blicken. Diese Gegenwart erschien nicht lnger in Gestalt einer Erzhlung, sondern als Abfolge von Bildern, vor allem von Fotografien. 74 Von Wedderkop, Der Siegeszug, S. 90. 75 Von Wedderkop, Der Siegeszug, S. 90.

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„Lebendigkeit der Anschauung“ meinte die partizipatorische Auseinandersetzung mit der Gegenwart der Dinge, den Tatsachen. Diese Haltung kennzeichnete gleichzeitig das Sportpublikum. Ihr setzte von Wedderkop jene intellektuellen ,Geistigkeit‘ entgegen, die der Zeit nur mehr hilflos und verwirrt gegenber stand und nichts als „Gerede“ hervorgebracht hatte: Aus dem Gerede, das nunmehr lnger als ein Jahrzehnt angedauert hat, wnschen wir endlich wieder zu den Tatsachen zurckzukommen. Wir werden uns daher, soweit es sich fr uns um wissenschaftlich feststellbare Dinge handelt, an die Gelehrten halten, die nach den alten Methoden der Sachlichkeit und Exaktheit verfahren. Wir mçchten statt Ansichten Wissen und Tatsachen, indem wir auf die Sensation des heute blichen spekulativen Gelehrtentums mit Vergngen verzichten. […] Imagination schtzen wir bei Knstlern, aber wir stehen auf dem Standpunkt, daß der deutsche Geist, ohne sich dessen immer bewußt zu sein, von den Tatsachen des heutigen Lebens sich weit entfernt hat, daß er, der sich an Exotismus berauscht, ohne jemals die deutschen oder die europischen Grenzen verlassen zu haben, zweckdienlich handelt, wenn er sich zunchst einmal mit den Dingen selbst bekannt macht.76

Dieses Programm der Tatsachenberichterstattung kann als Kern der sthetik der Neuen Sachlichkeit gelten.77 Die Tatsachenorientierung implizierte eine Neutralitt, die der proklamierten wissenschaftlichen Verfahrensweise korrespondierte. Gleichzeitig waren die Begriffe Tatsache, Sachlichkeit und Exaktheit nicht nur symptomatisch fr den literarischen bzw. sthetischen Diskurs der Neuen Sachlichkeit, sondern auch gesamtgesellschaftlich relevant.78 Sie leisteten – wie am Beispiel Sport besonders sinnfllig wird – eine Vermittlung zwischen Knsten, Massenkultur und Wissenschaft. Dass jeder spekulative Ballast abgeworfen wird, wurde zur Voraussetzung jener lebendigen Anschauung, in der auch die subjektive Wahrnehmung wieder Raum erhielt. Diese Wahrnehmung war im Gegensatz zum gelehrten Weltbezug sachlich, konkret und unmittelbar, sie wirkte zugleich ironisch, komisch und entlarvend.79

76 Von Wedderkop, Der Siegeszug, S. 91 [Herv. i. Orig.]. 77 Vgl. Sabina Becker: Neue Sachlichkeit, Kçln, Weimar, Wien 2000, Bd. 1: Die sthetik der neusachlichen Literatur (1920 1933), S. 205. 78 Vgl. Becker, Neue Sachlichkeit, Bd. 1, S. 206. 79 „Wir beugen uns dem obwaltenden Geisteszustand und werden eine Blçdsinn zentrale sein. Dies der liebenswrdige Ausdruck der unterminierenden Aufbau ttigkeit, die wir zwecks Abbruch der riesigen Klamottenfelder ausben werden:

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Darber hinaus lsst sich das Programm der Tatsachennhe als Absage an den Expressionismus verstehen, den von Wedderkop schon 1922 als „Dauerkrampf“80 klassifizierte und in immer neuen Artikeln fr den Querschnitt leidenschaftlich bekmpfte.81 Diesem Kampf korrespondierte ein wiederholtes Pldoyer fr die Nhe zur Wirklichkeit und den Tatsachen des Lebens; die Nhe zur Wirklichkeit sollte sich auch in einer „Literatur des Lebens“ niederschlagen.82 Um den vielfltigen Erscheinungen des Leben unvoreingenommen begegnen zu kçnnen, verstand sich Der Querschnitt – hnlich wie die 1925 gegrndete Literarische Welt, in der auch Musil regelmßig publizierte – als untendenziçs und von Parteipolitik unabhngig.83 Leben und Lebendigkeit waren auch in von Wedderkops Jahresbilanz im Mrz 1925 die zentralen Stichworte. Er zielte auf eine sthetik des Lebendigen, d. h. auf eine sthetik, die „die heterogensten Tatbestnde“ bejaht,84 ohne sie zu mumifizieren oder festzuschreiben, mit anderen Worten: ohne sie zum System zu machen oder auf den Sockel ewiger Werke zu heben, denn: „Ruhm hlt bei uns vor.“85 Entsprechend verstand sich Der Querschnitt als „Magazin der aktuellen Ewigkeitswerte“. Denn Lebendigkeit ist „undefinierbar, da Denken und Leben eins ist“86 und entzieht sich der Ordnung: „Diese sthetik des Lebendigen ist fr das reich, aber unverdaulich genhrte deutsche Gemt zu einfach, auch zu klammer- und sttzpunktlos.“87 Ironisch pldierte er fr „Weltanschauungen, die Fußball sind, hohl, aber elastisch“88, womit er sich implizit auf die Aktivitten des Berliner Dadaismus und die Zeitschrift

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,Enzyklopdie zum Abbruch der brgerlichen Ideologie‘ faßt es Carl Sternheim.“ (Von Wedderkop, Standpunkt, S. 3.) „Inzwischen begreift die Welt eins vor allem nicht, was nmlich Einfachheit ist, den Wert der Einfachheit. Inzwischen ist in gewissen Literaturkreisen Krampf Trumpf. Expressionismus ist Dauerkrampf.“ (Hermann von Wedderkop: Quer schnitt durch 1922, in: Der Querschnitt 2 (1922), H. 1, o. S.) Zu von Wedderkops Engagement vgl. auch Becker, Neue Sachlichkeit, Bd. 1, S. 103 f. Vgl. von Wedderkop, Der Siegeszug, S. 91. Vgl. Becker, Neue Sachlichkeit, Bd. 1, S. 194. Vgl. Hermann von Wedderkop: Jahresbilanz, in: Der Querschnitt 5 (1925), H. 3, S. 193 197, hier S. 195. Von Wedderkop, Jahresbilanz, S. 196. Von Wedderkop, Jahresbilanz, S. 197. Von Wedderkop, Jahresbilanz, S. 197. Von Wedderkop, Jahresbilanz, S. 194.

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Jedermann sein eigener Fußball aus dem Malik-Verlag zu beziehen scheint.89 Schon 1926 glaubte von Wedderkop Wandlungen des Geschmacks feststellen zu kçnnen, fr die ein verndertes Verhltnis von Kunst und Publikum ausschlaggebend war. Denn die Hinwendung zu den Dingen verlangte nach einer visuell geprgten sthetik, die das technische Wissen der Zeit einbezog. Im 7. Heft des Querschnitt 1926 schrieb von Wedderkop dazu: Die Elemente der neuen Aesthetik sind dieselben wie beim Sport, bei Technik, Zeitung, Kino. Damit ist die Kunst von der Gçtter- und Ausnahmestellung herabgestiegen, sie hat sich nunmehr mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen. […] Der Zurckbleibende jammert ber die neuen Einrichtungen, die die Gediegenheit zertrmmern, die die Oberflchlichkeit großziehen. Der Lebendige beklagt sich, wenn die Zeitung nicht noch zeitungsmßiger, wenn die Ereignisse nicht noch wirbelhafter darin eingefangen sind, wenn das Kino nicht kinomßig genug, d. h. wenn es statt des schlagenden Moments noch die alte, vergilbte Psychologie bringt oder liebevolle Weitschweifigkeiten.90

Die Wirklichkeit, auf die von Wedderkop zielt, wurde – wie die angefhrten Beispiele zeigen – vom Massenpublikum konstituiert: „Beweis fr die Richtigkeit der Zeitung ist, daß man sie kauft.“91 Die Wirklichkeit der Masse aber war heterogen, Zerstreuung an der Oberflche der Dinge. Wo die Knste Elemente dieser Massenkultur aufnahmen, konnten sie sich im Sinne der proklamierten Lebendigkeit als „Ausdruck des Zeitgeschehens“ verwirklichen.92 Diesem Ziel hatte sich namentlich die historische Avantgarde verschrieben und versucht, Kunst und Massenkultur zu verbinden. Dabei war das Pldoyer fr die Masse zugleich als Absage an das vornehmlich bildungsbrgerlich geprgte Kunstideal zu verstehen, das dem heroisierten Einzelschicksal huldigte. Die Betonung der visuellen Elemente der neuen sthetik, fr die Der Querschnitt eintrat, insbesondere die Aufwertung des Kinos, ging mit 89 Vgl. Helen Adkins: „Die Zeit der Kohlrbe in Deutschland“, in: George Grosz. Berlin New York, Katalog zur Ausstellung in Berlin, Neue Nationalgalerie, 21. Dezember 1994 17. April 1995, Dsseldorf, Kunstsammlung Nordrhein Westfalen, 6. Mai 30. Juli 1995, hg. von Peter Klaus Schuster, Berlin 1994, S. 133 145. Der Malik Verlag hatte 1924 in Berlin eine eigene Buchhandlung samt Galerie Grosz erçffnet. 90 Von Wedderkop: Wandlungen des Geschmacks, in: Der Querschnitt 6 (1926), H. 7, S. 497 502, hier S. 497. 91 Von Wedderkop, Wandlungen des Geschmacks, S. 498. 92 Vgl. von Wedderkop, Wandlungen des Geschmacks, S. 498.

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einer deutlichen Kritik an der deutschsprachigen Literatur einher, die von Wedderkop in einer Reihe von Artikeln zur literarischen Neuen Sachlichkeit im Querschnitt ausgefhrt hat.93 In den Mittelpunkt des Magazins rckten daher die Errungenschaften der urbanen, modernen Kultur wie Jazz, Kino, Revue und eben Sport, bekannte und unbekannte Gesichter, der Ausdruck der unverklrten Wirklichkeit. Dieser Auffassung kam das Kino besonders entgegen, weil seine Bilder, so von Wedderkop, das Zeitgeschehen frisch und unverflscht auf der Leinwand zusammendrngten.94 Der Querschnitt-Herausgeber zielte auf eine sthetik der Prsenz, die auf dem Ereignis des Augenblicks basiert. Fr von Wedderkop zhlte – mçglicherweise vom Boxkampf inspiriert – „die Frische des Ereignisses, das im nchsten Augenblick zusammensinkt. Der Moment ist ausschlaggebend, er will Perspektive weder nach vorn noch nach hinten, sondern gengt an sich.“95 Die „wirklichkeitsnchste“ Kunst in diesem Sinne war die Musik, und zwar die Musik der Namenlosen, der breiten Masse,96 womit erneut die produktionssthetische Bedeutung des Massenpublikums herausgestellt wurde, das die Wirklichkeit im Jazz bestimmte. Im Jazz sprach sich fr von Wedderkop das Zeitgeschehen am unmittelbarsten und erbarmungslosesten aus. Schon 1921 hatte er die „streng rhythmisch daherbrausende Gegenwart“ mit einer Jazzband verglichen.97 Denn das neue großstdtische Publikum liebte „das Wesentliche, die Abkrzung, die Bewegung“,98 was auch den Erfolg des Zuschauersports 93 Sein zentraler Vorwurf lautet, dass es der Literatur nicht gelungen sei, einen Stil oder Ausdruck zu finden, der der Zeit entspricht. Vgl. Hermann von Wedder kop: En avant, die Literaten!, in: Der Querschnitt 7 (1927), H. 4, S. 247 251; ders.: Inhalt und Technik des Romans, in: Der Querschnitt 7 (1927), H. 6, S. 423 429. 94 Vgl. von Wedderkop, Wandlungen des Geschmacks, S. 498. Es scheint aber nicht zutreffend, dass der Film erst zu diesem Zeitpunkt in das sthetische Programm des Querschnitt aufgenommen wurde. Vom Film ist schon in der ersten Herausgebernotiz von Alfred Flechtheim die Rede. Der Film war nur auch in vielen anderen Zeitschriften Thema und daher im Querschnitt nicht so pro minent vertreten im Unterschied etwa zum Sport. Vgl. dagegen Kçhn, „Nichts gegen die Illustrierte“, S. 55. 95 Vgl. von Wedderkop, Wandlungen des Geschmacks, S. 498. 96 Vgl. von Wedderkop, Wandlungen des Geschmacks, S. 498. 97 Hermann von Wedderkop: Shimmi greift ein in: Der Querschnitt 1921, H. 2/3, S. 89/90, hier S. 90. 98 Von Wedderkop, Wandlungen des Geschmacks, S. 499.

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erklrt. Diese Vorlieben waren hingegen ein Problem fr die Literatur und bisweilen auch fr das Theater, obwohl letzteres nach von Wedderkops Dafrhalten eigentlich die besten Voraussetzungen dafr bot, Bhne und Publikum direkt miteinander in Austausch treten zu lassen und den „Idealausdruck der Zeit“ zu schaffen.99 Mit dieser Einschtzung befand sich von Wedderkop in bereinstimmung mit der Theateravantgarde, die den Zuschauer ins Zentrum ihrer Erneuerung des Theaters gerckt hatte.100 Das Publikum bildete die Grenze von Kunst und Leben, die durch die Theatralisierung der Kunst in Frage gestellt wurde.101 Das Problem einer solchen sthetik der Prsenz bestand in der Schwierigkeit, die Wirklichkeit einzufangen und knstlerisch zu prsentieren, denn: „Wirklichkeit ist Synonym fr Echtheit, Erlebnis, Lebendigkeit.“102 Von Wedderkop sah sowohl eine Gefahr im Naturalismus als auch in der bersteigerung der Wirklichkeitswahrnehmung, die Tempo um jeden Preis suchte und lediglich Rekorde der Hochstapelei, der Liebschaften, der Flge und PS-Zahlen in Szene setzte.103 Um die Wirklichkeit nicht zur „Konfektionsware“ zu degradieren, schlug von Wedderkop eine bewusste Konzentration auf das Wesentliche sowie die Kombination von Gegenstzen vor, ein Grundsatz, der ja auch das Bildprogramm des Querschnitt leitete. Analog zum Lob der Zeitung ging es ihm darum, die Wirklichkeit als Kaleidoskop zu erfassen.104 „Es gibt kein fertiges Rezept, keine Formel fr das, was not tut. Am besten spricht man noch von Lebendigkeit, weil sich dabei am meisten denken lßt.“105 Fr dieses auf den Moment bezogene Programm forderte von Wedderkop Beweglichkeit, denn die Wirklichkeit begegnet „in tausenderlei Gestalt“. Um ihr adquat begegnen zu kçnnen, msse man sich auf 99 Vgl. von Wedderkop, Wandlungen des Geschmacks, S. 500. 100 Vgl. dazu Erika Fischer Lichte: Die Entdeckung des Zuschauers: Paradigmen wechsel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts, Tbingen, Basel 1997. 101 Die hier verfochtene sthetik der Prsenz betont die Interaktion von Bhne und Zuschauern in der gemeinsamen Anwesenheit, in ihrer leiblichen Ko Prsenz. Zur Ko Prsenz von Akteuren und Zuschauern als wesentlichem Element einer sthetik des Performativen vgl. Fischer Lichte, sthetik des Performativen, S. 58 126. 102 Vgl. von Wedderkop, Wandlungen des Geschmacks, S. 502. 103 Vgl. Hermann von Wedderkop: Inhalt und Technik des Romans, in: Der Querschnitt 7 (1927), H. 6, S. 423 429, hier S. 423. 104 Vgl. von Wedderkop, Inhalt und Technik des Romans, S. 426. 105 Vgl. von Wedderkop, Wandlungen des Geschmacks, S. 502.

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sie „trainieren“, d. h. ihre verschiedenen Erscheinungsformen gezielt einben.106 Lebendigkeit, Konzentration und Beweglichkeit lauten die Stichworte, mit denen sich das sthetische Programm der Avantgarde im Querschnitt als Training fr die Wirklichkeit charakterisieren lsst. Schon die Theateravantgarde des frhen 20. Jahrhunderts hatte den TrainingsBegriff aufgegriffen, um das Ziel einer systematischen, przisen Kçrperarbeit zu formulieren. Nach dem Ersten Weltkrieg griff George Grosz (1893 – 1959) auf den Begriff ,Training‘ zurck, um den Arbeitsprozess zu akzentuieren. In seinem Text Zu meinen neuen Bildern (1920), der sich auf eine Reihe von Arbeiten zu Beginn der zwanziger Jahre bezieht, die gesichtslose Gliederpuppen in Gestalt von Sportlern oder Ingenieuren zeigen,107 heißt es: „Meine Arbeiten sind als Trainings-Arbeiten zu erkennen – ein systematisches Arbeiten am Ball – ohne Ausblick ins Ewige!“108 Indem Grosz Prozesshaftigkeit und Zweckmßigkeit seiner Arbeit betonte, richtete er sich explizit gegen die brgerliche Kunstauffassung. Mit der Figur des Ingenieurs betonte er das Handwerkliche seiner Arbeit, die fr alle verstndlich sein sollte: „Die Sachlichkeit und Klarheit der Ingenieurzeichnung ist ein besseres Lehrbild als das unkontrollierbare Geschwafel von Kabbala und Metaphysik und Heiligenekstase“.109 Grosz’ mechanische Gliederpuppen kçnnen daher, wie Michael Mackenzie gezeigt hat, auch als programmatischer Selbstentwurf verstanden werden: der Knstler als Ingenieur.110 106 Vgl. von Wedderkop, Inhalt und Technik des Romans, S. 423. 107 Die Gliederpuppen gehen auf Grosz’ Auseinandersetzung mit der Pittura me tafisica von Carlo Carr und Giorgio de Chirico zurck. Vgl. dazu Roland Mrz: Republikanische Automaten. George Grosz und die Pittura Metafisica, in: Ge orge Grosz. Berlin New York, Katalog zur Ausstellung in Berlin, Neue Na tionalgalerie, 21. Dezember 1994 17. April 1995, Dsseldorf, Kunstsammlung Nordrhein Westfalen, 6. Mai 30. Juli 1995, hg. von Peter Klaus Schuster, Berlin 1994, S. 146 156. 108 George Grosz: Zu meinen neuen Bildern, in: Das Kunstblatt 5 (1921), S. 11 16, hier S. 14 [Herv. i. Orig.]. 109 Grosz, Zu meinen neuen Bildern, S. 14. 110 Vgl. Michael Mackenzie: Maschinenmenschen, Athleten und die Krise des Kçrpers, in: Moritz Fçllmer/Rdiger Graf (Hrsg.): Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt/Main, New York 2005, S. 319 345, hier S. 333. hnlich wie fr den Sport gilt auch fr die Rede vom Ingenieur, dass sie mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun hatte. Der Ingenieur mochte zwar der Avantgarde als fortschrittliches Vorbild dienen, realpolitisch waren viele Ingenieure konservativ. Diese Erfahrung muss auch Musils Mann ohne Eigenschaften bei seinem zweiten Versuch, ein bedeutender Mensch zu

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Die Rede vom Training unterstrich den systematischen Gegenwartsbezug seiner Arbeit, die sich gegen das brgerliche Individuum richtete und auf den kollektivistischen, mechanischen Menschen der modernen Massengesellschaft zielte, ein Ziel, dessen Verwirklichung allerdings – wie die Figur des Boxers verdeutlicht – mit Kmpfen verbunden ist. Fr diesen Kampf brachte jeder Tag „im Training“ neue Orientierungen.111 Vor dem Hintergrund des Kçrperdiskurses der Weimarer Republik, und zwar insbesondere dem der Sportphysiologie, ist daher mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass die Figuren von Grosz nicht als Anklage oder Ausdruck der Entfremdung zu verstehen sind, sondern vielmehr den Entwurf eines neuen Idealtyps beinhalten.112 Die sportlichen Maschinenmenschen verkçrpern somit den rationalen, neuen Menschen der Zukunft. Von hier aus lsst sich zum einen das Engagement des Querschnitt fr das Boxen begreifen: Denn der sportliche Wettkampf lieferte nicht nur die gewnschte Ereignishaftigkeit des Augenblicks, das Erscheinen der Gegenwart in der Ko-Prsenz von Akteuren und Zuschauern, sondern dem Boxer begegnete die Wirklichkeit tatschlich in „tausenderlei Gestalt“,113 die er durch systematisches Training konzentriert zu bewltigen suchte. Darber hinaus wurde die Mechanisierung der Kçrper zum Sinnbild der technisch-wissenschaftlich bestimmten Moderne, deren sportpsychologische Erkenntnisse zumindest partiell auch ein Forum im Querschnitt fanden.114 Zum anderen macht das skizzierte sthetische Programm den Bezugsrahmen von Musils Schreiben sichtbar, das ebenfalls Zge systematischer Trainingsarbeiten trgt. Den Begriff des ,Trainings‘ hat Musil selbst benutzt und beispielsweise ber sich gesagt, dass sein Verstand „das

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werden, machen. Der euphorischen Technikrezeption in der Kunst stand au ßerdem die immer noch weitverbreitete Technikfeindlichkeit der çffentlichen Verwaltung und des Beamtenapparates, die auf bildungsbrgerlichen Vorurteilen basierten, gegenber. Vgl. dazu Sander, Die doppelte Defensive, S. 302. Vgl. Grosz, Zu meinen neuen Bildern, S. 14. Auf diesen Umstand weist auch Mackenzie explizit hin. Vgl. Mackenzie, Ma schinenmenschen, S. 337. Von Wedderkop, Inhalt und Technik des Romans, S. 423. Vgl. Carl Krmmel: Der Kugelstoßer Hirschfeld, in: Der Querschnitt 8 (1928), H. 8, S. 563 565. Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Bericht von Poli zeileutnant W. K.: Sport bei der Polizei Polizei beim Sport, in: Der Querschnitt 8 (1928), H. 8, S. 537 541. Psychotechnische Methoden wurden wie im vorigen Kapitel erwhnt 1922 bei der Polizei eingefhrt.

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wissenschaftliche Training“ genossen habe.115 ,Training‘ bezeichnet fr ihn also die bung gedanklicher und kçrperlicher Przision. Damit kann Musil an die Programmatik der Neuen Sachlichkeit anknpfen, die fr seine Arbeiten in den zwanziger Jahren von erheblicher Bedeutung ist, obschon er ein anderes Ziel verfolgt.116 Bezugspunkte liegen in Aktualitt und Gegenwartsbezug, wissenschaftlicher Exaktheit und der Ablehnung jeder sentimentalen bertreibung zugunsten der von von Wedderkop proklamierten Lebendigkeit des Denkens, das sich den Tatsachen stellt und als Training beschrieben werden kann.

4. sthetisierung des Boxens Flechtheim war in seinem Freundes- und Bekanntenkreis als Liebhaber von Boxkmpfen bekannt. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte er in Paris zusammen mit dem Bildhauer Ernesto de Fiori (1884 – 1945) die ersten Erfolge des franzçsischen Boxers Georges Carpentier (1894 – 1975) erlebt.117 Mit dem Magazin Der Querschnitt schuf er eine Plattform, die es erlaubte, seine beiden Leidenschaften – Kunst und Boxen – auf vielfltige Weise miteinander in Beziehung zu setzen und die Grenze zwischen Kunstgenuss und Massenunterhaltung in Frage zu stellen.118 Bereits die ersten Hefte des Querschnitt machten Flechtheims besonderes Interesse am Boxen augenfllig. Es durchzog den Jahrgang 1921 wie ein roter Faden und çffnete damit den Blick fr die Boxer-Mappe mit 115 Vgl. Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 527. 116 Vgl. zu Musil im Kontext der Neuen Sachlichkeit Sabina Becker: Von der „Trunksucht am Tatschlichen“: Robert Musil und die neusachliche Moderne, in: Musil Forum. Studien zur Literatur der klassischen Moderne 29 (2005/ 2006), S. 140 160. 117 Vgl. Rase, Kunst und Sport, S. 114. 118 Dass Flechtheim eine Vorreiterrolle bernahm, wird auch daran deutlich, dass die erste Fachzeitschrift zum Boxen, nmlich Der Box Sport, aus der Der Quer schnitt manchmal zitierte, erstmals 1920, also unmittelbar vor Flechtheims Heften, erschienen war. Vgl. Rase, Kunst und Sport, S. 134. So ging es im Querschnitt zu Beginn auch explizit darum, Werbung fr das Boxen zu machen, was etwa im Artikel „Wie gewinnt der Boxsport das Allgemein Interesse?“ (Der Querschnitt 1921, H. 6, S. 218 221) deutlich wird. Und die Herausgeber fgen hinzu: „Der Querschnitt hlt es fr seine Pflicht, den Boxsport auch in den deutschen Knstlerkreisen populr zu machen. In Paris sind Braque, Derain, Dufy, Matisse, Picasso, de Vlaminck begeisterte Anhnger, und Rodin fehlte in kaum einem Kampf.“ (Der Querschnitt 1921, H. 6, S. 221.)

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Lithographien von Rudolf Großmann (1882 – 1941), die Flechtheim im Dezember 1921 herausgab. Wie Rezensionen belegen, wurde die BoxerMappe schnell als wichtiges Dokument modernen Lebens erkannt.119 Die knstlerische Darstellung des Boxens im Querschnitt konfrontierte Sport und Kunst miteinander und hob darber hinaus den Sport selbst in den Rang einer Kunst. So wurde der Boxer Hans Breitenstrter (1897 – 1972), der im Querschnitt ber seinen ersten Sieg berichtete,120 nach seinem Mitwirken an der Boxer-Mappe sogar als „Mitarbeiter“ der Zeitschrift bezeichnet.121 Auch andere Boxer schrieben regelmßig fr den Querschnitt. Unter dem Titel „Die Psychologie des Boxens“ erschien beispielsweise ein Auszug aus dem Buch Meine Methode des Boxens von Carpentier.122 Zu Festen der Galerie Flechtheim oder auch privaten Anlssen wurden Boxer eingeladen, die – wie Max Schmeling – als „Paradestck“ dieser Abende galten.123 Knstler ließen sich mit den Meistern des Boxens fotografieren und wurden zur knstlerischen Auseinandersetzung mit dem Boxen angeregt. „Flechtheim machte die Boxidole und ihren Sport nicht nur in der brgerlichen Gesellschaft salonfhig, sondern er animierte seine Knstler mit Erfolg, die großen Boxer jener Jahre zum Thema ihres Schaffens zu machen.“124 Schon die bereits zitierte Notiz des Herausgebers von 1922 hatte die programmatische Verbindung von Sport und Kunst als Novum des Querschnitt hervorgehoben: „Er wird Aufstze ber Kunst bringen, ber Tanzen und Sport und so weiter; ber Schauspielerei und Film wird er wenig sagen, da hierber schon genug in den Tageszeitungen er119 Einige dieser Rezensionen sind in: Der Querschnitt 2 (1922), S. 67 f., S. 144 abgedruckt. Noch einige Jahre spter war Großmann mit der Boxer Mappe auf der Gesolei (1926) in Dsseldorf vertreten. Zu Großmanns spezifischer Figu renauffassung und Technik in den Boxdarstellungen vgl. Rase, Kunst und Sport, S. 153 155. 120 Vgl. Hans Breitenstrter: Mein erster Sieg, in: Der Querschnitt 1921, H. 4/5, S. 144 146. Bezeichnenderweise lernte Breitenstrter das Boxen als englischer Kriegsgefangener. 121 Vgl. Der Querschnitt 3 (1923), H. 1, S. 91. Zu Breitenstrter vgl. auch Hermann von Wedderkop: Hans Breitenstrter, in: Der Querschnitt 1921, H. 4/5, S. 136 141; Manfred Luckas: „Solange du stehen kannst, wirst du kmpfen.“ Die Mythen des Boxens und ihre literarische Inszenierung, Berlin 2002, S. 66. 122 Vgl. Georges Carpentier: Die Psychologie des Boxens, in: Der Querschnitt 6 (1926), H. 5, S. 383/84. 123 Vgl. Schmeling, Erinnerungen, S. 87. 124 Rase, Kunst und Sport, S. 115.

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scheint.“125 Whrend ,Sport‘ in den ersten Jahrgngen des Querschnitt vor allem ein Synonym fr ,Boxen‘ war, fanden ab Mitte der zwanziger Jahre auch andere Sportarten regelmßige Beachtung. Die ersten Querschnitt-Artikel zum Boxen stammten – abgesehen von den Bemerkungen der Herausgeber – aus der Fachzeitschrift Der BoxSport oder Tageszeitungen wie der B.Z. am Mittag. Eine eher feuilletonistische Aufarbeitung des Sportgeschehens war zu Beginn der zwanziger Jahre im deutschsprachigen Raum noch weitgehend unbekannt. Auch daran wird deutlich, dass die Querschnitt-Macher in ihrem Fach Pioniere – im eigentlichen Wortsinn also Avantgardisten – waren. Dass Sport in einem Kunst- und Kulturmagazin behandelt wurde, bedeutete eine Innovation, fr die nicht nur geworben werden musste, sondern fr die zunchst offenbar auch kaum Autoren in Frage kamen. Als Konkurrenz zur Tagespresse verstand sich Der Querschnitt allerdings nicht, wie Flechtheim anlsslich des Europameisterschaftskampfes zwischen Breitenstrter und Paolino in seinem Artikel Gladiatoren hervorgehoben hat: „ber die Einzelheiten des Kampfes hier zu schreiben, hieße Eulen nach Berlin tragen. Die Querschnittler wissen, was ein Boxkampf ist und haben in der ,B. Z.‘ und im ,Acht-Uhr-Abendblatt‘ alle Phasen dieses großen Ereignisses miterlebt.“126 Der Querschnitt wurde vielmehr zu einem der Wegbereiter des Sports als Gegenstand des sthetischen Diskurses der zwanziger Jahre. Entscheidend fr die Prsenz des Sports im Querschnitt war das reiche Bildmaterial, das die Zeitschrift auszeichnete. ,Sport‘ bildete das Motiv zahlreicher Abbildungen, die knstlerische Arbeiten reproduzierten, die berhmte Sportler portrtierten oder Sportler – und gelegentlich auch Sportlerinnen – in einen spezifischen Bewegung oder Pose darstellten. Am strksten war der Sport im Querschnitt durch das Medium der Fotografie vertreten, deren Entwicklung mit der wissenschaftlichen Erforschung und der Inszenierung des Sports eng verbunden ist. Der Querschnitt kann insofern auch als avantgardistische Fortsetzung der fotografisch ebenfalls hochambitionierten Zeitschrift Sport im Bild gelten. Die gewagten und aufwndigen Anordnungsprinzipien der Querschnitt-Redaktion erlaubten es, Portrts von Knstlern und Sportlern 125 Alfred Flechtheim/Wilhelm Graf Kielmannsegg: Notiz des Herausgebers, in: Der Querschnitt 2 (1922), S. 13. Literatur hatte im Rahmen des avantgardisti schen Querschnitt Konzepts keinen eigenen Platz. 126 Alfred Flechtheim: Gladiatoren, in: Der Querschnitt 6 (1926), H. 1, S. 48/49, hier S. 49.

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nebeneinander und damit visuell auf eine Stufe zu stellen.127 Die Inszenierung mçglicher Gemeinsamkeiten von Kunst und Sport wurde darber hinaus durch Textbeitrge unterstrichen, in denen Knstlerwettbewerbe als sportliche Herausforderung erschienen oder Knstlerschulen mit Boxvereinen in einem Atemzug genannt wurden. Die sthetischen Kriterien, die eine Engfhrung von Kunst und Sport erlaubten, waren Konzentration, Przision und Kraft.128 Dies waren gleichzeitig die Stichworte fr die Technikbegeisterung der neusachlichen sthetik. Dahinter verbirgt sich das Ideal des Maschinenkçrpers, der nicht nur an die Anforderungen der neuen Zeit angepasst ist, sondern den Kampf mit ihr auch aufzunehmen vermag. Hinzu trat gerade beim Boxen ein Hauch von Anrchigem und Verbotenem, der im Gegensatz zu Sportarten wie Reiten oder Tennis den unteren sozialen Schichten und dem Milieu von Gaunern und Kriminellen zugerechnet wurde.129 Dadurch wurde aber gerade das Boxen zum Sinnbild des modernen Lebenskampfes par excellence. Zu Beginn der zwanziger Jahre bildete der Kçrper des Boxers darber hinaus fr einige Knstler – wie beispielsweise fr Grosz, der selbst boxte – die Verkçrperung des Neuen Menschen, dessen Kçrper einer Maschine gleicht. Sowohl die Figur des Boxers als auch die Figur des Maschinenmenschen waren auf den Kampf mit der Wirklichkeit eingestellt; sie brachten damit eine Bejahung der technischen Moderne zum Ausdruck, die sich nicht nur gegen bildungsbrgerlich geprgte Formen von Subjektivitt richtete, sondern auf eine kollektive Erneuerung der Gesellschaft zielte, wie sie auch der Querschnitt vertrat. So wollte Grosz das berhmte, durch Flechtheim vermittelte Portrt Max Schmelings nicht als individuelles Portrt verstanden wissen, sondern als Ausdruck dieses Kampfes. Ihm ging es darum, Schmeling als Typus des Kmpfers darzustellen. In seinen Erinnerungen schrieb der Boxer diesbezglich: „,Ich mçchte Sie allerdings nicht so sehr als Max 127 Zu diesem Konzept vgl. Sicks, „Der Querschnitt“, S. 37. 128 Vgl. Sicks, „Der Querschnitt“, S. 38. 129 George Grosz schrieb in seiner Autobiographie, dass Boxkmpfe vor dem Ersten Weltkrieg „aus humanitren Grnden verboten oder nur in privaten, fast ge heimen Klubs gestattet“ gewesen seien. Grosz zitiert nach Wolfgang Cilleßen: „Sich pflegen, bringt Segen!“ Der Dandy und die Mode, in: George Grosz. Berlin New York, Katalog zur Ausstellung in Berlin, Neue Nationalgalerie, 21. Dezember 1994 17. April 1995, Dsseldorf, Kunstsammlung Nordrhein Westfalen, 6. Mai 30. Juli 1995, hg. von Peter Klaus Schuster, Berlin 1994, S. 263 275, hier S. 268.

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Schmeling portrtieren‘, sagte er zu meiner Verblffung, ,sondern als den Typus des Faustkmpfers. Was mir vorschwebt, ist ein Bild, das Sie als Kmpfer zeigt oder, noch richtiger, ein Bild, das die Idee des Mannes im Ring zeigt. Daher mçchte ich Sie in Kampfpose malen.‘“130 Das Interesse am Kçrper des Boxers verdeutlichen insbesondere die zahlreichen Aktfotos, die im Querschnitt publiziert worden sind. In ihrer Inszenierung mnnlicher Nacktheit unterschieden sie sich deutlich von den Darstellungen des Boxers in der Presse, die in der Regel nicht den unverhllten Kçrper zeigten. Der glnzende, muskulçse, nackte Kçrper des Boxers brachte die schon zitierten Werte der Neuen Sachlichkeit wie Hrte, Kraft und Przision auf eine Weise zur Anschauung, die zugleich als spezifisch mnnliche Reaktion auf die Herausforderungen der neuen Zeit gelten muss. Der Boxer-Kçrper stellte den Wandel der Mnnlichkeitsvorstellungen aus und reprsentierte ein neues Idealbild moderner Mnnlichkeit.131 Entgegen traditionell brgerlicher Mnnlichkeitsvorstellungen, zu denen Pflichtbewusstsein, Verantwortlichkeit, Familiensinn und Frsorge gehçrten, beruhte die Mnnlichkeit des Boxers vor allem auf physischer Kraft und Leistungsbereitschaft,132 eine Vorstellung, die dem wissenschaftlichen Paradigmenwechsel des 19. Jahrhunderts korrespondierte. Whrend traditionelle Unterschiede in den Geschlechterrollen durch den Wandel der modernen Gesellschaft und ihrer Lebensbedingungen zunehmend negiert wurden, besttigte das Boxen die mnnliche Identitt durch kçrperliche berlegenheit, in der Mut und Strke attraktiv zur

130 Schmeling, Erinnerungen, S. 89. Mit der Darstellung eines Typs anstelle eines individuellen Helden erfllte Grosz gleichzeitig eine der Forderungen der Neuen Sachlichkeit. Zu Grozs’ Schmeling Darstellung vgl. auch David Bathrick: Max Schmeling on the Canvas: Boxing as an Icon of Weimar Culture, in: New German Critique 51 (1990), S. 113 136. In die Richtung des ehrlichen, ,mnnlichen‘ Kampfes weist auch Brechts Verteidigung des K.o. gegenber dem Punktverfahren im Boxen, das er fr eine knstliche Erfindung hielt: „Ein Boxer, der seinen Gegner nicht niederschlagen kann, hat ihn natrlich nicht besiegt. Sehen Sie sich zwei Mnner an einer Straßenecke oder in einem Lokal einen Kampf liefern. Wie stellen Sie sich hierbei einen Punktsieg vor?“ (Brecht, Die Todfeinde des Sportes, S. 225.). 131 Vgl. Luckas, „So lange du stehen kannst“, S. 76; Rase, Kunst und Sport, S. 120. Zum Boxen als „Freude an echtem, wahren Mnnersport“ vgl. F.O.: Ist der Boxsport ro [sic!], in: Der Querschnitt 1921, H. 6, S. 221 223, hier S. 223. 132 Vgl. Luckas, „So lange du stehen kannst“, S. 294.

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Erscheinung kamen.133 Dieses Mnnlichkeitsideal gewann seine berzeugungskraft aus der Bereitschaft zu permanentem Kampf. Dazu gehçrte auch die Fhigkeit, die Schlge des Gegners einzustecken und ,Nehmerqualitten‘ zu beweisen.134 Schonungslose Einsatz- und Risikobereitschaft galten als mnnliche Tugenden und machten den Boxer begehrenswert. Das maskuline Stereotyp des Kmpfers wurde durch ihn aktualisiert und sthetisiert zugleich. Diese Bereitschaft zum Kampf ist – wie noch genauer zu zeigen sein wird – auch Teil der Mnnlichkeitskonstruktion von Musils Protagonist Ulrich im Mann ohne Eigenschaften, der sich ebenfalls am Ideal des Boxers orientiert.135 Franz Blei, Freund Musils und Querschnitt-Autor, hat dieses Ideal in einem Text, der bezeichnenderweise Bildnis eines Boxers heißt, festgehalten: Im gelufigen Sinn heutiger ganz femininer Kultur ist dieser Boxer so sehr ein Mann, daß ihn die Empfindsamen, die Schwrmer, die Intellektuellen und die Frauenspersonen diese mit einem kleinen halben Lustschrei ein schçnes, aber doch ein Tier nennen werden. Wo er nichts ist als ein Mann, ein heute allerdings seltenes Exemplar, nmlich ein mnnischer Mann.136

Bleis Boxer vereinigt eine Vielzahl der zeitgençssischen Mnnlichkeitszuschreibungen auf sich. Dabei geht die Aufwertung viriler Mnnlichkeit mit deutlicher Abgrenzung von der weiblich codierten Kultur der Gegenwart einher.137 Der erfolgreiche Boxer galt als self-made-man, ein Mann, der sich alleine von ganz unten in die Kreise der besseren Gesellschaft empor gekmpft hat. Bei Blei heißt es beispielsweise, dass der Boxer „aus muf133 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: 1926. Ein Jahr am Rande der Zeit, Frankfurt/ Main 2001, S. 70; vgl. Gnter Berg: „Die Mnner boxen im Salatgarten“. Bertolt Brecht und der Faustkampf, in: Brecht Jahrbuch 18 (1993), S. 1 23, hier S. 6. 134 Vgl. Luckas, „So lange du stehen kannst“, S. 275 277. 135 berlegungen zum Boxen finden sich auch in den verschiedenen Sport Essays Musils. In den Tagebchern ist außerdem die Skizze zu einem satirischen Boxerdrama berliefert, das sich auf den Kontext der Neuen Sachlichkeit bezieht. Vgl. dazu in der vorliegenden Arbeit das Kapitel: Der Kçrper im Sport: Kunst und Moral des Crawlens. 136 Franz Blei: Bildnis eines Boxers, in: ders.: Mnner und Masken, Berlin 1930, S. 213 219, hier S. 218. 137 Zur Aufwertung des maskulinen Stereotyps des Kmpfers bei gleichzeitiger Abgrenzung von der Verweiblichung der Gesellschaft vgl. auch Schmidt, „Sich hart machen“, S. 38.

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figer Hinterwohnung, aus Feuchtpilz und Mauerkrtze“138 kommt. Teil dieses Mnnlichkeitsbildes war die Singularitt des Boxers, mitunter auch der einsame Kampf. Der Boxer verkçrperte – hier lag ein mçgliches Identifikationsangebot fr den Knstler – den Einzelgnger und gesellschaftlichen Außenseiter. Die mnnlichen Aktdarstellungen und Boxerportrts zeigen entsprechend immer den einzelnen Boxer und seinen individuellen Kçrper. Die Stilisierung zum Helden wird auch daran sichtbar, dass der Kçrper des Boxers stets idealisiert und unverletzt dargestellt wird.139 Wo es um die Darstellung des nackten und technisch versierten Sport-Kçrpers geht, wird in der Forschung hufig auf die Revue-Girls als gleichsam weibliches Pendant hingewiesen.140 Doch lassen sich der Nacktheit des mnnlichen Individuums die nackten Kçrper der Girls nicht einfach an die Seite stellen, da die Geschlechterdifferenz selbst die Maschinenmenschen unterscheidet: Whrend der mnnliche Boxer als heroische Kampfmaschine erscheint, werden die Frauen als Verbund von Teilen, als Fließbandreihe wahrgenommen.141 Ihre Nacktheit trgt keine individuellen Zge, sondern unterstreicht vielmehr ihre Inszenierung als weiblich codierte Masse. Vor diesem Hintergrund kçnnen sich die boxbegeisterten, intellektuellen Mnner fr den Sport als Teil der modernen, 138 Blei, Bildnis eines Boxers, S. 214. 139 Vgl. Rase, Kunst und Sport, S. 200. 140 Vgl. in diesem Zusammenhang z. B. Luckas, „Solange du stehen kannst“, S. 73; Rase, Kunst und Sport, S. 200. 141 So schrieb Siegfried Kracauer 1931 ber die Tiller Girls: „Sie waren nicht nur amerikanische Produkte, sie demonstrierten zugleich die Grçße amerikanischer Produktion. […] Wenn sie eine Schlange bildeten, die sich auf und nieder bewegte, veranschaulichten sie strahlend die Vorzge des laufenden Bands; wenn sie im Geschwindtempo steppten, klang es wie: Business, Business; wenn sie die Beine mathematisch genau in die Hçhe schmetterten, bejahten sie freudig die Fortschritte der Rationalisierung; und wenn sie stets wieder dasselbe taten, ohne daß ihre Reihe abriß, sah man innerlich eine ununterbrochene Kette von Autos aus den Fabrikhçfen in die Welt gleiten und glaubte zu wissen, daß der Segen kein Ende nehme.“ (Siegfried Kracauer: Girls und Krise [1931], in: Siegfried Kracauer Aufstze 1927 1931 (= Schriften, Bd. 5/2, hg. von Inka Mlder Bach, Frankfurt/Main 1990, S. 320 322, hier S. 321). Zum Phantasma der Fabrik als Gebrmaschine vgl. Erhard Schtz: Fließband Schlachthof Hol lywood. Literarische Phantasien ber die Maschine USA, in: ders. (Hrsg.) unter Mitarbeit von Norbert Wehr: Willkommen und Abschied der Maschinen. Li teratur und Technik Bestandsaufnahme eines Themas, Essen 1988, S. 122 143, bes. S. 127.

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anti-brgerlichen Massenkultur aussprechen und gleichzeitig an einer immer schon als mnnlich verstandenen Individualitt festhalten. Bereits die Vielzahl der Boxdarstellungen in Kunst und Literatur deutet auf die Begeisterung fr das Boxen in den zwanziger Jahren hin. Nicht nur in Berlin, auch in Paris erfreuten sich Boxkmpfe großer Beliebtheit. Maurice Maeterlinck stieg zu einem Schaukampf mit Georges Carpentier in den Ring und Ezra Pound ließ sich in Paris von Ernest Hemingway im Boxen unterweisen.142 In der deutschen Hauptstadt war Boxen seit Mitte der zwanziger Jahre die große Mode, Boxveranstaltungen im Sportpalast zogen Zehntausende von Besuchern an. Eine ironische Schilderung dieser Euphorie gibt Joseph Roth in seiner Glosse Kampf um die Meisterschaft: Ich werde diesen Abend nie vergessen, an dem der Kampf um den Lorbeer des deutschen Meisterboxers ausgefochten wurde. Auch Berlin wird, so schnellebend es ist, diesen Abend nicht vergessen. Greise krochen humpelnd aus dem Dmmer ihres Lebensabends in die strahlende Helle des Kampfabends. Kinder fhrten ihre Mtter an den Schrzen zum Sportpalast und schrien Hurra. Das Volk benahm sich spartanisch und drngte sich nach antiken Mustern im großen Hof und in der Straße vor dem Palast. Klassische Rufe wie: „Ick hau Dir eene!“ erfllten die Luft, in der alle guten Olympiadengeister schwebten.143

Boxen avancierte neben dem Sechstagerennen zu einem der großen Publikumsmagneten im Berlin der zwanziger Jahre. Zum deutschen Meisterkampf um den Titel im Schwergewicht zwischen Schmeling und Franz Diener 1928 steuerten Autoren wie Herbert Ihering, Leopold Jeßner, Egon Erwin Kisch, Leo Lania und Kurt Pinthus, die sonst nur fr große

142 Vgl. Gnter Berg/Uwe Wittstock: „Let’s get ready to rumble!“ Von Boxern und Schriftstellern, in: dies. (Hrsg.): Harte Bandagen. Eine literarische Anthologie in 12 Runden nebst 11 Ringpausen und einer Siegerehrung, Mnchen 1997, S. 7 13, hier S. 8. 143 Joseph Roth: Kampf um die Meisterschaft, in: Joseph Roth Werke, hg. von Klaus Westermann, Bd. 2: Das journalistische Werk 1924 1928, Kçln 1990, S. 72 74, hier S. 72 [Herv. i. Orig.]. Roth hat sich wiederholt mit dem Boxen auseinandergesetzt. Vgl. auch Der Boxer, in: Joseph Roth Werke, hg. von Klaus Westermann, Bd. 1: Das journalistische Werk 1915 1923, Kçln 1989, S. 142 144; Training, in: Werke, Bd. 1, S. 769 771; Der Bizeps auf dem Katheder, in: Werke, Bd. 2, S. 55 57; Der Boxer in der Soutane, in: Joseph Roth Werke, Bd. 3: Das journalistische Werk 1929 1939, Kçln 1991, S. 185 187.

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Bhnen schrieben, Beitrge zum offiziellen Programmheft des Sportpalastes bei.144 Berliner Zeitungen warben dafr, selbst Boxunterricht zu nehmen, und veranstalteten „Lehrgnge fr Einzel- und Massenausbildung“, fr die zahlreiche bungsleiter ausgebildet wurden.145 Sogar das Amateurboxen zog nun Zuschauermassen an. In der Sportakademie trafen sich Boxer aller Leistungsklassen. Und nicht nur Mnner, auch Frauen begannen zu boxen. So nahmen etwa Vicki Baum, Marlene Dietrich und Carola Neher Boxstunden im Sportpalast bei dem berhmten Trainer Sabri Mahir.146 Die aggressive Abwehr, die diese Frauen teilweise erfuhren, zeigt allerdings, dass ihr Unterricht eine Grenzberschreitung bedeutete, die das mnnliche Ideal des Boxers empfindlich in Frage stellte. So bemerkte Giese in seinem Band Geist im Sport herablassend, dass sich neuerdings die Filmsterne „beboxen“ und warnte gar vor einer „Verniedlichung“ des Sports.147 Und Brecht, einer der bekanntesten Anhnger des Boxens, der mit der Schauspielerin Carola Neher (1900 – 1942) gut befreundet war, ließ verlauten: „Ich weiß sehr gut, warum die Damen der Gesellschaft heute Sport treiben: weil ihre Mnner in ihrem erotischen Interesse nachgelassen haben. Ohne diesen Damen besonders wohl zu wollen – je 144 Vgl. Schmeling, Erinnerungen, S. 111. Schmeling schreibt, dass die allgemeine Erwartung bezglich dieses Kampfes so groß war, dass ein Berliner Theaterdi rektor „[…] um seine Premiere frchtete und sie kurzerhand verschob.“ (Schmeling, ebd., S. 109.). 145 Vgl. Schmeling, Erinnerungen, S. 86. 146 Vicki Baum rhmt in ihren Erinnerungen insbesondere das Durchhaltevermçgen von Marlene Dietrich. Vgl. Freunde der Deutschen Kinemathek (Hrsg.): Inter nationale Sportfilmtage Berlin ’93. Filmretrospektive. Sport, Kçrper, Bewegung, Berlin o. J., S. 65; vgl. Luckas, „Solange du stehen kannst“, S. 69. Katharina von Ankum deutet das Box und Fitnesstraining von Vicki Baum als Rollenerfllung im Rahmen des Konzepts ,Neue Frau‘. Vgl. Katharina von Ankum: Rckblick auf eine Realistin, in: Apropos Vicki Baum Stern. Mit einem Essay von Ka tharina von Ankum, Frankfurt/Main 1998, S. 7 45, hier S. 22. Max Schmeling schildert in seinen Erinnerungen leicht verwundert den „Ernst“, mit dem die Knstlerinnen im Ring standen. Vgl. Schmeling, Erinnerungen, S. 99. Zum Thema Frauen und Boxen vgl. auch Djuna Barnes: Meine Schwestern und ich bei einem Preisboxkampf [1914], in: dies.: New York Geschichten und Re portagen aus einer Metropole, Berlin 1987, S. 141 146; Dempsey begrßt die Freundinnen des Boxsports [1921], in: dies.: Portraits, Berlin 1985, S. 131 134. 147 Vgl. Giese, Geist im Sport, S. 82 f.

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mehr sie Sport treiben, desto mehr werden diese Herren nachlassen.“148 Die Reduktion und unverhohlene Abwehr der boxenden Frauen lsst darauf schließen, dass das Boxen als modernes Refugium der Mnnlichkeit betrachtet wurde. Indem sie sich als Schriftstellerinnen oder Schauspielerinnen selbstbewusst in der ffentlichkeit bewegten, stellten diese ,neuen Frauen‘ auch den exklusiv mnnlichen Kunstanspruch in Frage. Boxende Knstlerinnen mssen daher als Grenzberschreiterinnen im doppelten Sinne gelten. Dagegen lsst sich die Figur des Boxers auch als zeitgemße Verkçrperung eines Knstlerideals verstehen, dessen Einzigartigkeit immer schon auf dem Ausschluss von Frauen basierte. Dieser Ausschluss wurde durch den anti-brgerlichen Gestus des Boxer-Knstlers nicht in Frage gestellt, im Gegenteil, er ermçglichte einen erneuerten, avantgardistischen Mnnlichkeitsentwurf fr die kulturelle Moderne.149

5. Sport und Theater Die Bemhungen um eine neue Kultur, fr die auch Der Querschnitt eintrat, und die zeitgençssische Begeisterung fr das Boxen hingen unmittelbar mit den verschiedenen avantgardistischen Anstzen fr eine radikale Vernderung des Theaters zusammen. Schon um die Jahrhundertwende hatten einige Knstler das Ende des naturalistischen Theaters beschworen und eine Re-Theatralisierung des Theaters gefordert. Mit dieser Forderung ging eine Absage an das brgerliche Illusionstheater und das vor der Guckkastenbhne weitgehend passiv verharrende Publikum einher. Die angestrebte Revolution des Theaters sollte das Publikum aktiv einbeziehen, den Inszenierungscharakter des Theaters betonen und Elemente anderer Knste ebenso wie der Populrkultur (z. B. aus Zirkus oder Varit) aufnehmen. Dazu gehçrte auch die Betonung der Aktivitt des Schauspielerkçrpers. Dieses Programm lsst sich als „Entliterarisierung

148 Bertolt Brecht: Die Krise des Sportes [1928], in: Bertolt Brecht Schriften I (= Bertolt Brecht Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus Detlef Mller, Bd. 21), Berlin, Frankfurt/Main 1992, S. 222 224, hier S. 224. Der Text ist in Willy Meisls Band Der Sport am Scheidewege (1928) erschienen. 149 Zum boxenden Dichter als Aktualisierung des Geniekults vgl. Kai Marcel Sicks: Sollen Dichter boxen? Brechts sthetik und der Sport, in: Hofmannsthal. Jahrbuch zur europischen Moderne 12 (2004), S. 365 404, hier S. 391.

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des Theaters“ beschreiben.150 Vor dem Ersten Weltkrieg hatte sich im deutschsprachigen Raum vor allem Max Reinhardt (1873 – 1943) in seinen Inszenierungen darum bemht, den Auffhrungscharakter seiner Theaterabende – gegenber der bloßen Tradierung von Literatur – zu betonen.151 Dadurch wurde der sportliche Wettkampf auf der einen Seite zum Konkurrenten des brgerlichen Theaters, auf der anderen Seite aber auch zum theatralischen Vorlufer einer „Schaubhne der Zukunft“152. Das Interesse am Kçrper des Boxers ebenso wie die Agonalitt des Boxens und die Faszination des Kampfes machten das Boxen als Inszenierung interessant, die sich in der Bewegung unmittelbar ereignete und damit der Reprsentationsfunktion der Bhne entzogen war. Sowohl die Betonung und Wahrnehmung des Kçrpers als auch die Orientierung am Kampf als nicht-mimetische Handlung, die sich vor einem Publikum vollzog, das das Geschehen auch zu beurteilen vermochte, erfllten wichtige Forderungen der Theateravantgarde fr eine Revolution des Theaters, die ber das Publikum hinaus auf den Kçrper des Schauspielers und damit gleichzeitig auf Vernderungen im Verhltnis von Bhne und Publikum zielte. Ihr lag die berzeugung zugrunde, dass es sich um eine kollektiv produzierte und rezipierte Kunst handelte, die sich „als Aktion, als Ereignis“ realisiert.153 So definierte Georg Fuchs (1868 – 1949) – beeinflusst durch die Kçrperkulturbewegung der Jahrhundertwende – die dramatische Kunst als Bewegung im Raum: „Die dramatische Kunst ist ihrem Wesen nach rhythmische Bewegung des menschlichen Kçrpers im Raume, ausgebt in der Absicht, andere Menschen in dieselbe Bewegung zu versetzen, hinzureißen, zu berauschen.“154 Die Spannung des theatralen Ereignisses sollte sich rauschhaft auf die Anwesenden bertragen und die Darbietung dadurch zum Gemeinschaftserlebnis machen. Sptestens seit den zwanziger Jahren befanden sich die Theater nicht nur knstlerisch in einer Umbruchssituation, sondern auch çkonomisch: auf der einen Seite bedrohten Kino, Revue und die Angebote der groß-

150 Vgl. Erika Fischer Lichte: Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tbingen, Basel 1993, S. 263. 151 Zu Max Reinhardt vgl. Fischer Lichte, Kurze Geschichte, S. 266 268. 152 So der einschlgige Titel des 1905 erschienenen Buches von Georg Fuchs fr eine neue Ordnung des Theaters. Vgl. Georg Fuchs: Die Schaubhne der Zukunft, Berlin, Leipzig o. J. (= Das Theater, Bd. XV). 153 Fischer Lichte, Kurze Geschichte, S. 270. 154 Fuchs, Schaubhne der Zukunft, S. 35 f. [Herv. i. Orig.].

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stdtischen Vergngungsindustrie die Existenz der Bhnen.155 Auf der anderen Seite bekamen die gerade erst von Hofbhnen in Staats- oder Landestheater umgewandelten Huser Konkurrenz durch eine Vielzahl neugegrndeter Privattheater. Mit dem Wettbewerb der Theaterbetriebe zog der Kapitalismus auch in die Welt des Theaters ein.156 An der Diskussion ber die Krise des Theaters beteiligte sich auch Der Querschnitt; das erste Heft des Jahrgangs 1926 widmete sich sogar ausschließlich dem Theater. In einem Artikel fr dieses Heft konzedierte Blei dem zeitgençssischen Theater vollkommene Gegenwartsferne, da es weder der Form noch den Anschauungen des gegenwrtigen Lebens entspreche: „Die Idee, daß einer in zweieinhalb Stunden theatralisch etwas durch die Schauspieler Tiefsinniges und Bedeutungsvolles mitteilen kçnne, das den heutigen Menschen ins Herz trifft, ist eine Idee von Pedanten und Gymnasiasten.“157 Blei hielt das Theater fr eine Zurschaustellung von ,Kultur‘, die niemand mehr besitzt, mithin fr eine berkommene Form der Hofhaltung.158 Gegenber diesem Theater der Reprsentation imaginierte er ein Theater, das „oberflchlich, absurd, spielerisch, unproblematisch, weltfern“ ist, das akrobatische Tollheiten und Unsinn treibt. Damit richtete sich Blei grundstzlich gegen das auf Nachahmung basierende, brgerliche Illusionstheater, das allein durch ein gewandeltes Kostm, auch „wenn es kniefrei ist“, nicht zeitgemßer werde.159 Schließlich erteilte er dem zeitgençssischen Theater eine klare Absage: Das heute gespielte Theater drckt nichts mehr aus als seine eigene parodierende Grimasse. Weder unser Leben noch unsere Anschauungen, weder unsern Zustand noch unsere Erkenntnisse, weder unsere Gegenwart noch unsere Erwartungen, weder unsere Liebesaffren noch unsere Geschfte. Das 155 Vgl. dazu Karl Christian Fhrer: „Kulturkrise“ und Nationalbewusstsein. Der Niedergang des Theaters in der spten Weimarer Republik als brgerliche Identittskrise, in: ders./Karen Hagemann/Birthe Kundrus (Hrsg.): Eliten im Wandel. Gesellschaftliche Fhrungsschichten im 19. und 20. Jahrhundert, Mnster 2004, S. 155 178. 156 Vgl. Dietrich Kreidt: Gesellschaftskritik auf dem Theater, in: Literatur der Weimarer Republik 1918 1933, hg. von Bernhard Weyergraf, Mnchen 1995 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, begrndet von Rolf Grimminger, Bd. 8), S. 232 265, hier S. 236 f. 157 Franz Blei: Bemerkungen zum Theater, in: Der Querschnitt 6 (1926), H. 1, S. 11 13, hier S. 13. 158 Vgl. Blei, Bemerkungen zum Theater, S. 12. 159 Vgl. Blei, Bemerkungen zum Theater, S. 13.

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Theater tritt als knstlerischer Ausdruck in die letzte Reihe, wo es schon dunkel zu werden beginnt.160

Um der Forderung nach Gegenwart und Lebensnhe gerecht zu werden, nahmen viele Theatermacher das Publikum ins Visier. Gleichzeitig bildete das Publikum die entscheidende Grçße im Vergleich von Theaterund Sportereignissen. So stellte Flechtheim im Theaterheft des Querschnitt, in dem auch Bleis Artikel erschien, unter der berschrift „Gladiatoren“161 den Bezug zwischen Theaterkrise und Boxen ber den Publikumszulauf her: „Obwohl ber jede Berliner Premiere die Spalten der Tagespresse von hinten bis vorn gefllt sind, sind die Theater leer. […] Zum Kampf Hans Breitenstrters mit Pablo Uzcudun waren acht Tage vorher die 15.000 Pltze des Sportpalastes restlos ausverkauft.“162 Der breite Publikumszuspruch war fr Flechtheim eines der zentralen Argumente fr die zeitgemße sthetik des Boxens: „Denn das Publikum des Sportpalastes rekrutiert sich nicht allein aus Bierkutschern und Chauffeuren; – die ganze gute berlinische Gesellschaft ist da, Prinzen und Prinzessinnen, Maler und Bildhauer, Literatur und Haute Banque und alle an diesem Abend beschftigungslosen Schauspieler.“163 Zeitgemß war das Sportereignis, weil es im Gegensatz zum Theater anti-mimetisch funktionierte: Flechtheim beschrieb den Boxkampf als ein „wirkliches Drama“, das sich direkt vor den Augen der aufgeregten Zuschauer abspiele. Es sei reiner Handlungsvollzug, „Energie in hçchster Potenz“:164 Der Boxer im Ring gebe „sein Letztes“, er tue nicht so als ob.165 Die Spannung dieser Auseinandersetzung bertrage sich auf das Publikum, das dadurch am Geschehen beteiligt sei: der Kampf ist nicht Illusion, sondern „unerhçrtes Ereignis“.166 Damit betonte der Kunst160 Blei, Bemerkungen zum Theater, S. 13. 161 Es handelt sich dabei vermutlich um einen Verweis auf den Artikel „Gladiators“, der 1921 im Querschnitt erschien und den Boxkampf zwischen Jack Dempsey und Georges Carpentier schildert. Vgl. Scofield Thayer: Gladiators, in: Der Querschnitt 1921, H. 4/5, S. 142 144. 162 Flechtheim, Gladiatoren, S. 48. 163 Flechtheim, Gladiatoren, S. 48. 164 Vgl. Flechtheim, Gladiatoren, S. 49. 165 Michael Ott hat darauf hingewiesen, dass umgekehrt die Theatralik des Als ob in der Logik des Sports vollkommen negativ besetzt ist: wird der Kampf etwa aufgrund von Absprachen nur ,gespielt‘, ist er sportlich gesehen ungltig. Vgl. Ott, ber Sport, Theatralitt und Literatur, S. 472. 166 Vgl. Flechtheim, Gladiatoren, S. 49. Flechtheim scheint damit beinah zum Stichwortgeber fr Joyce Carol Oates geworden zu sein, die Boxen „ein einzig artiges und bis zum ußersten verdichtetes Drama ohne Worte“ genannt hat.

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hndler die Prsenz des Boxkampfes als entscheidendes Kriterium fr seine theatralische Attraktivitt. Die „Produktion von Prsenz“ hat auch Hans Ulrich Gumbrecht ins Zentrum einer sthetik des Sports gerckt.167 Mit dem Hinweis auf die „beschftigungslosen Schauspieler“ machte Flechtheim darber hinaus deutlich, dass der Boxkampf durch seine spezifische Ereignishaftigkeit die Stelle des traditionellen Theater einnahm.168 Im Boxkampf sah er „Kraft, Geist und Erfahrung“ vereint, den Kampf des Boxers Breitenstrter nannte er „kokoschkaesk“.169 Flechtheim stellte Boxen und Theater auf eine Stufe, wobei das Boxen dem Theater sogar berlegen schien, und griff damit die Forderung der Avantgardisten auf, Kunst und Leben als Einheit zu denken. Diese Einheit vollzog sich im sportlichen Wettkampf als reine Handlung. Dabei blieb das Publikum nicht bloß externer Beobachter, sondern wurde durch die Spannung des Wettkampfs zum aktiven Teilnehmer des Geschehens. Rezeptionssthetisch gesehen wirkt das Publikum als Produzent des Ereignisses, dessen Bedeutung im Vollzug von Handlungen besteht, die – wie das Beispiel des K.o. in Reinform zeigt – durch sich selbst unmittelbar evident sind: der Boxer, der am Boden liegt, setzt seine Niederlage nicht in Szene, sondern hat den Kampf tatschlich verloren. Da die sportliche Leistung des Wettkampfs dem Publikum direkt ins Auge springt,170 kçnnen die Zuschauer als Fachpublikum agieren, das nicht auf die Deutung des Geschehens angewiesen ist, sondern vielmehr selbst als Expertengremium fungiert. Durch eine Rezeptionshaltung, die der Gutachterttigkeit von Fachleuten entspricht, wird die Einfhlung des Publikums zugunsten der kompetenten Beobachtung ersetzt.171 An

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Joyce Carol Oates: ber Boxen. Ein Essay, Zrich 1988 [Orig.: On Boxing (1987)]. Vgl. Gumbrecht, Die Schçnheit des Mannschaftssports, S. 209 f. Doch nicht nur die sthetik der Prsenz, auch mediale Inszenierung und Ver marktung tragen zur Ereignishaftigkeit des Wettkampfs bei. So macht Risse fr den großen Publikumszuspruch beim Boxen auch die Hçhe der Gagen verant wortlich. Denn die eingesetzten Summen, die viel grçßer sind als die Gagen von Knstlern, und die Platzkarten, die teurer sind als im Theater, steigern ebenfalls die theatralische Attraktivitt eines Boxkampfs. Vgl. Risse, Soziologie des Sports, S. 69. Vgl. Flechtheim, Gladiatoren, S. 49. Vgl. Landmann, Heroenkult, S. 150. Vgl. Frank Becker: Die Rechtfertigung des Sports als sthetischen Phnomens durch die Neue Sachlichkeit, in: Zeitschrift fr sthetik und allgemeine Kunstwissenschaft 39 (1994), H. 1, S. 55 77, hier S. 74.

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die Stelle eines bildungsbrgerlichen Deutungshorizonts tritt die Kenntnis der Regeln des Wettkampfs, die eine selbststndige Beurteilung der sportlichen Leistung erlaubt. Die Urteilsfhigkeit des Publikums auf der Basis von Regeln hat Giese am Sport hervorgehoben. Wer die Tennisregeln nicht kennt, wer von Rugby nichts weiß, hat als Zuschauer wenig davon. Und hieraus erklrt sich auch die außerordentliche Resonanz der Menge fr solche Sports, die allgemeinverstndlich sind, deren formaler Erkennungswert sinnfllig vor Augen tritt. […] Daher ist als Kraftsport wenigstens fr den naiveren Zuschauer der Boxkampf einleuchtend. Nicht die feineren sportlichen Griffe berschaut der Mensch, sondern das Kraftresultat […]. Deshalb ist der Autorennsport so eindrucksvoll, denn Tempo begreift jedermann.172

Diese Einschtzung teilt er mit Brecht, der die engagierte und fachlich fundierte Haltung des Sportpublikums ebenfalls besonders betont hat. 1926 forderte Brecht daher – in direktem Anschluss an Flechtheims Querschnitt-Artikel – Mehr guten Sport im Theater: „Unsere Hoffnung grndet sich auf das Sportpublikum. Unser Auge schielt, verbergen wir es nicht, nach diesen ungeheuren Zementtçpfen, gefllt mit 15.000 Menschen aller Klassen und Gesichtsschnitte, dem klgsten und fairsten Publikum der Welt.“173 Im Unterschied zum Sport verhielten sich weder die Akteure noch die Zuschauer des Theaters verantwortlich oder kompetent: Die Verderbtheit unseres Theaterpublikums rhrt daher, daß weder Theater noch Publikum eine Vorstellung davon haben, was hier vor sich gehen soll. In den Sportpalsten wissen die Leute, wenn sie ihre Billette einkaufen, genau, was sich begeben wird; und genau das begibt sich dann, wenn sie auf ihren Pltzen sitzen: nmlich, daß trainierte Leute mit feinstem Verantwortungsgefhl, aber doch so, daß man glauben muß, sie machten es hauptschlich zu ihrem eigenen Spaß, in der ihnen angenehmsten Weise ihre besonderen Krfte entfalten.174

Mit einem alle Schichten bergreifenden, selbststndigen Publikum empfing der Sport von Anfang an einen Zuspruch, von dem avantgardistische Theatermacher nur trumen konnten. Dazu besaß er die nçtigen Rumlichkeiten, nmlich Arenen und Stadien, die das Spielfeld umgaben 172 Giese, Geist im Sport, S. 62 f. 173 Bertolt Brecht: Mehr guten Sport [1926], in: Bertolt Brecht Schriften I (= Bertolt Brecht Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus Detlef Mller, Bd. 21), Berlin, Frankfurt/Main 1992, S. 119 122, hier S. 119. 174 Brecht, Mehr guten Sport, S. 120.

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und damit von vornherein die Bewegung der Kçrper in den Mittelpunkt der Betrachtung rckten. Denn obwohl Sport und Theater das „Leibapriori“ (Erika Fischer-Lichte) ihrer Darbietungen teilen, galt der Dramentext lange als der eigentliche Bedeutungsgarant auf der Bhne. Die modernen Theaterknstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben daher keineswegs zufllig immer wieder auf Sportveranstaltungen zurckgegriffen, um ihre Vorstellungen und Erwartungen an Theaterbauten, Inszenierungen und das Publikum zu przisieren. So strebte beispielsweise Reinhardt ein „Volkstheater“ mit Arenabhne an, fr das der Architekt Hans Poelzig (1869 – 1936) den Berliner Zirkus Schumann umbaute. Walter Gropius (1883 – 1969) entwarf fr Erwin Piscator (1893 – 1966) ein „Totaltheater“, das in sich vollkommen variabel war, da sich Bhne und Zuschauerraum ineinander verschieben ließen.175 Auch fr Brecht bestand einer der Hauptpunkte seiner Kritik darin, dass das Theater den Bezug zu seinem Publikum verloren habe: „Ein Theater ohne Kontakt mit dem Publikum ist ein Nonsens. Unser Theater ist also ein Nonsens.“176 Denn ein Theater ohne Publikum musste den Bezug zur Gegenwart verlieren. Brecht kritisierte, dass das alte Theater „kein Gesicht mehr“ habe,177 und brachte damit zum Ausdruck, dass sein Programm austauschbar geworden war. Blei hat in diesem Zusammenhang von der „parodierende[n] Grimasse“ des Theaters gesprochen.178 Da Sportereignisse gerade von ihrem Publikum leben, machte Brecht die Theater umgekehrt nicht allein fr ihre Misere verantwortlich: Man kçnnte natrlich sagen, daß es auch noch Publikum gbe, das im Theater was anderes als ,Sport‘ wolle. Wir haben aber einfach in keinem einzigen Falle bemerkt, daß das Publikum, das heute die Theater fllt, irgend etwas will. Das sanfte Widerstreben des Publikums, seine alten vom Großvater vererbten Theatersitze aufzugeben, sollte man nicht zu einer frischen Willenskundgebung umschminken wollen.179

Damit nahm Brecht noch einmal die Kritik an der Passivitt des Publikums auf, das zudem nur aus Familientradition ins Theater zu gehen schien, ein Vorwurf, mit dem Avantgardisten wie Fuchs oder Wsewolod

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Vgl. Fischer Lichte, Die Entdeckung des Zuschauers, S. 16. Brecht, Mehr guten Sport, S. 121. Vgl. Brecht, Mehr guten Sport, S. 120. Vgl. Blei, Bemerkungen zum Theater, S. 13. Brecht, Mehr guten Sport, S. 120.

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Meyerhold (1874 – 1940) ihre Kritik am etablierten Theaterbetrieb eingelutet hatten.180 Brecht hat selber aus seinen Beobachtungen zum Sport im Theater die Konsequenz gezogen, seine Theaterbhne wie einen Boxring einzurichten.181 Denn Sport im Theater war fr Brecht ein Synonym fr Aktualitt und gelungene Unterhaltung des Publikums, mehr Sport bedeutete daher auch mehr „Spaß“.182 Darber hinaus ging es Brecht – wie unter anderem der Hinweis auf die Theatersitze zeigt – um eine Infragestellung des Theaterbetriebs als brgerlicher Institution, mithin um dessen Selbstinszenierung als Kunsttempel. Schon Anfang 1920 hatte Brecht in dem Text Das Theater als sportliche Anstalt mit Bezug auf theatrale Neuerungen aus dem Bereich des Varits festgestellt, dass das Theater das Publikum auch aufgrund seiner Konventionen am Spaß hindere. Was im Zirkus gute Unterhaltung sei, sei nicht automatisch gute Unterhaltung in den heiligen Hallen des Theaters: „In der Kirche haben wir keinen Spaß an so was.“183 Daran anknpfend hieß es im selben Jahr in Das Theater als Sport: „Wenn man ins Theater geht wie in die Kirche oder in den Gerichtssaal, oder in die Schule, das ist schon falsch. Man muß ins Theater gehen wie zu einem Sportsfest.“184 Mit der Vorstellung vom Theater als Fest griff Brecht auf berlegungen zurck, die die Erneuerer des Theaters seit der Jahrhundertwende verfolgten und auch in den zwanziger Jahren immer wieder neu auflegten, um in Opposition zum Bildungsanspruch des Theaters eine Einheit von Kunst und Leben zu stiften, die zugleich frei von brgerlichen Konventionen war.185 180 Vgl. Fischer Lichte, Die Entdeckung des Zuschauers, S. 9. 181 Vgl. Gnter Berg: „Die Mnner boxen im Salatgarten“. Bertolt Brecht und der Faustkampf, in: Das Brecht Jahrbuch 18 (1993), S. 1 23, hier S. 12. 182 Vgl. Brecht, Mehr guten Sport, S. 121. 183 Bertolt Brecht: Das Theater als sportliche Anstalt [1920], in: Bertolt Brecht Schriften I (= Bertolt Brecht Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus Detlef Mller, Bd. 21), Berlin, Frankfurt/Main 1992, S. 55/56, hier S. 56. 184 Bertolt Brecht: Das Theater als Sport [1920], in: Bertolt Brecht Schriften I (= Bertolt Brecht Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus Detlef Mller, Bd. 21), Berlin, Frankfurt/Main 1992, S. 56 58, hier S. 57. 185 Im Einzelnen verbanden sich mit dem Konzept von Theater als Fest allerdings sehr unterschiedliche Zielrichtungen. Vgl. dazu ausfhrlich Fischer Lichte, Kurze Geschichte, S. 272 282. Wie Kai Marcel Sicks herausgearbeitet hat, ist das ,neue‘ Theater aus dieser Sicht eigentlich ein ,altes‘, nmlich eines, das Unvor eingenommenheit und Selbststndigkeit in der Urteilsfindung des Zuschauers

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Der durch neue Bhnenrume, Theaterformen und Festelemente vernderten Haltung des Publikums und der dadurch ermçglichten neuen Wahrnehmung des Bhnengeschehens korrespondierte die Betonung des Schauspielerkçrpers, die das Theater der Avantgarde ebenfalls eng mit dem Sport verband. Schauspielerinnen und Schauspieler fungierten in diesem Theater nicht mehr primr als Darsteller von psychologisch bestimmten Individuen, deren gestisches, mimisches und stimmliches Repertoire das Publikum aufgrund seiner Alltagserfahrung erkennen und verstehen konnte, sondern verwandten ihren Kçrper als Material, aus dem sich neue Bewegungsablufe und Ausdrucksmçglichkeiten formen ließen.186 Ziel war die lebendige Handlung, eine Handlung mit einer bestimmten Funktion oder einem bestimmten Ziel.187 Dafr griffen die franzçsischen Theaterknstler Etienne-Marcel Decroux (1898 – 1991) und Jacques Copeau (1879 – 1949) wie auch Meyerhold auf das Vorbild des Boxens fr ihre Vorstellungen vom Schauspielerkçrper zurck. Ihre Bewunderung galt dem Boxer Georges Carpentier. Sie nahmen sich den Stil dieses Boxers als Vorbild fr das von ihnen initiierte Studium des Mime Corporel und engagierten den franzçsischen Marineoffizier und Trainer Georges Hbert, der 1910 die sogenannte ,natrliche‘ Methode der Leibeserziehung begrndet hatte, an der 1920/ 21 von Copeau begrndeten Schule fr Mimik.188 Seine Methode war auf ußerste konomie konzentriert und bestand in der entsprechend przisen Ausfhrung bestimmter Aufgaben; sie war weder Selbstzweck noch Dekor.189 Um die Leistungsfhigkeit des Kçrpers zu entwickeln und fr die unterschiedlichsten Bewegungen verfgbar zu machen, entwickelte Meyerhold das Konzept der Biomechanik, das der bestmçglichen „Organisation“ des kçrperlichen Materials dienen sollte. Meyerholds Konzept liegt die Vorstellung eines Maschinenkçrpers zugrunde, dessen Bewegungsablufe durch Training optimiert werden. Fr dieses Training von Muskeln und Reflexen hatte Meyerhold sportliche bungen entwickelt,

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fordert. Inwiefern aber auch diese Lesart letztlich Theatertheorie bleibt, mçge hier dahingestellt bleiben. Vgl. Sicks, Sollen Dichter boxen?, S. 378. Vgl. ausfhrlicher Fischer Lichte, Die Entdeckung des Zuschauers, S. 26 31. Vgl. Franco Ruffini: Mime, Schauspieler Action: Die Kunst des Boxens, in: Flamboyant. Schriften zum Theater (1995), H. 2, S. 8 23, hier S. 8; S. 19. Vgl. Ruffini, Mime, Schauspieler, S. 13; vgl. Christel Weiler: Theater als sportliche Anstalt, in: Sport, Inszenierung, Ereignis, Kunst, hg. vom Forum der Muthesius Hochschule, Kiel 2004, S. 49 55, hier S. 50. Hberts Methode wurde außerdem offiziell von der franzçsischen Marine bernommen. Vgl. Ruffini, Mime, Schauspieler, S. 13.

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Die Avantgarde der Sportkultur: Der Querschnitt

die ihrerseits auch im Bereich der Arbeitswissenschaft Verwendung fanden.190 Schon Fuchs hatte in der Schaubhne der Zukunft wissenschaftliche Exaktheit und medizinische Kontrolle im Umgang mit dem Kçrper gefordert. Seine Schrift belegt damit den engen Zusammenhang von avantgardistischer Kunst und wissenschaftlicher Erkenntnis, der ihre spezifische Modernitt begrndet. Auch Fuchs sprach bezeichnenderweise von ,Organisation‘: so wollte er die „bei allen jungen Menschen lebendige Neigung zum Sport, […] organisieren“191, um den „unermeßlich gesteigerten Anforderungen an Ausdrucksfhigkeit“192 der Schauspielerinnen und Schauspieler nachzukommen. Parallel zur Rede vom Gesichtsverlust des Theaters bestimmte auch Fuchs den Kçrper des Schauspielers zum wichtigsten Ausdrucksmittel der zuknftigen Schaubhne.193 Das Theater blieb Bildungsanstalt, vollzog aber gleichzeitig den Paradigmenwechsel der Moderne mit, indem es von der moralischen Anstalt zur sportlichen, und das heißt hier zu einer naturwissenschaftlich begrndeten Anstalt wurde, die nicht auf Nachahmung, sondern Exaktheit beruhte: es sollte neue Menschen bilden und zielte daher auf den ganzen Kçrper.194 Der trainierte Schauspielerkçrper erschien als Vorbild des medizinisch kontrollierten, neuen Menschen: Die jungen Damen und Herren werden bei der Schaubhne der Zukunft alles bereit finden, was dazu tauglich und nçtig ist, den Kçrper zu seiner ußerst erreichbaren Schçnheit und Ausdrucksfhigkeit zu entwickeln. Aesthetisch gebildete Aerzte und Aerztinnen werden ihre kçrperliche Verfassung unausgesetzt kontrollieren und werden ihnen die erforderlichen Ratschlge fr Dit, Trainage, Massage, Gymnastik, Haut- und Haarpflege usw. geben.195

An diesem Zukunftsentwurf wird noch einmal zweierlei deutlich: Kçrperkulturbewegung und Kunstavantgarde trafen sich im Entwurf des Neuen Menschen durch ihre gemeinsame Bezugnahme auf den Sport, dessen Entstehung unmittelbar mit der Verwissenschaftlichung des Kçrpers verbunden war. Diese Verwissenschaftlichung machte den Sport in den zwanziger Jahren zur willkommenen Folie der neusachlichen 190 Zu diesem Zusammenhang vgl. Fischer Lichte, Die Entdeckung des Zuschauers, S. 29. 191 Fuchs, Schaubhne der Zukunft, S. 68 [Herv. i. Orig.]. 192 Fuchs, Schaubhne der Zukunft, S. 68. 193 Vgl. Fuchs, Schaubhne der Zukunft, S. 65. 194 Vgl. Fuchs, Schaubhne der Zukunft, S. 65. 195 Fuchs, Schaubhne der Zukunft, S. 71.

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Przisions- und Tatsachensthetik und fand in vielen Autoren des Querschnitt lebhafte Frsprecher.

6. Der Siegeszug des Sports 1932 erçffnete Der Querschnitt sein drittes Themenheft zum Sport mit einem Beitrag von Hans Seiffert unter dem Titel „Weltreligion des 20. Jahrhunderts“.196 Dieser Beitrag bezog den Siegeszug des Sports im frhen 20. Jahrhundert auf einen weiten kulturellen Rahmen. Aus der ironisch rckblickenden Perspektive des 120. Jahrhunderts teilt der Autor neue Forschungsergebnisse zum „europisch-amerikanischen Kulturkreis“ mit: Nicht das Christentum sei, wie bislang angenommen, das beherrschende Religionssystem gewesen, sondern der Sport.197 Nun ist es beraus interessant zu beobachten, wie das noch im ganzen neunzehnten Jahrhundert herrschende Kreuz-Symbol mehr und mehr verschwindet, wie auch die fr kurze Zeit in einigen Gegenden zur Blte gelangten Symbole Sichel, Hammer, Hakenkreuz sich nicht lange behaupten, sondern einem neuen Symbol weichen mssen. Dieser neue Gegenstand des Kults und der Verehrung ist der Ball. In seiner Kugelgestalt galt er offenbar als Sinnbild des im Endlichen beschlossenen Unendlichen, als Sinnbild auch einer vollkommenen Form, der um einen damals hufig verwendeten Ausdruck zu gebrauchen Hçchstform. In ihrer absoluten Formgeschlossenheit beweist die Kugelgestalt des Balles, des hauptschlichsten Kultgegenstandes, ebenso auch den durchaus diesseitigen Charakter der SportReligion.198

Der Text beschreibt das Ballspiel als Kulthandlung, wobei verschiedene Sport-Sekten unterschieden und die Hypothese aufgestellt wird, dass sich die Exklusivitt der Sekte an der Grçße des Balles erkennen ließe: je kleiner, desto feiner. Hilfsgerte wie Stçcke oder Schlger htten der Verfeinerung der Zeremonie gedient und verhindert, dass der Ball – anders als bei den primitiveren Sekten – in direkten Kçrperkontakt ge196 Vgl. Hans Seiffert: Weltreligion des 20. Jahrhunderts. Aus einem Werk des 120. Jahrhunderts, in: Der Querschnitt 12 (1932), H. 6, S. 385 387. 197 Vgl. Seiffert, Weltreligion, S. 385. Seiffert greift mit dieser Rckschau mçgli cherweise auf Meisls Sport am Scheidewege zurck, dessen Essay ebenfalls einen Abschnitt aufweist, die aus der rckblickenden Perspektive eines Forschers des dritten Jahrtausends verfasst ist, der sich mit dem Sport beschftigt. Vgl. Meisl, Sport am Scheidewege, S. 76 103. 198 Seiffert, Weltreligion, S. 385 [Herv. i. Orig.].

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raten sei.199 Schließlich geht Seiffert auf das Phnomen des Zuschauersports ein: Bei allen Sekten, populren wie exklusiven, bestand der Grundsatz des allgemeinen Priestertums: jeder Glubige konnte dem Dienst am Ball huldigen. In der Praxis jedoch wurde dieser Grundsatz meist verlassen. Nur eine auserwhlte Schar einheitlich gekleideter Priester diente dem Ball nach strengen Regeln, deren strikte Befolgung ein amtierender Oberpriester (Schiedsrichter) berwachte. Die Massen der Glubigen schauten dem Mysterium zu und brachen des çfteren in eine Art kurzer Chorgesnge und Responsorien aus, wenn die zelebrierenden Priester […] ihr verantwortungsreiches Werk vollbrachten. Von der geradezu fanatischen Inbrunst dieser Sport-Kulthandlungen geben viele aufgefundene Berichte beredtes Zeugnis; […] wir lesen auch, daß manche Priester und Priesterorden der Sport-Religion sich besonderer Beliebtheit erfreuten und oftmals hunderttausend Glubige gleichzeitig um sich versammelten.200

Auch der Titel dieses Heftes – „Fug und Unfug des Sports“ – verweist auf die Entwicklung des Sports und stellt vorsichtig die Frage, worauf die kollektive Begeisterung fr den Sport grndet. Denn einerseits lag ja gerade in diesem Unfug, im „Mysterium“ des Spiels, der Schlssel zu seinem Erfolg, andererseits war bloßes Vergngen in Anbetracht der zahllosen sozial- und parteipolitischen Beanspruchungen des Sports als Antwort mçglicherweise nicht mehr ausreichend. Die Entwicklung des Querschnitt lsst nicht nur die zentralen Aspekte des avantgardistischen Sportdiskurses hervortreten, dessen Engfhrung von Sport und Kunst sich als Trainingsprogramm fr den Neuen Menschen beschreiben lsst. Sie verdeutlicht auch die Entwicklung der in der publizistischen ffentlichkeit ausgetragenen Debatte ber den Sport in der Zwischenkriegszeit. Hierfr lassen sich im Wesentlichen zwei Strnge benennen: Zum einen ging es um die Sportausbung, vor allem ihren Nutzen fr Gesundheit, Hygiene, Erholung und Gemeinschaftssinn. In diesem Zusammenhang spielten auch die Gefahren des Sports durch bertreibung und Rekordstreben eine Rolle. Zum anderen ging es um den Zuschauersport und sein Verhltnis zur zeitgençssischen Kultur, zu Theater, Medien, Literatur und Sprache.

199 Vgl. Seiffert, Weltreligion, S. 386. 200 Seiffert, Weltreligion, S. 387.

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Die Sportbegeisterung mancher Intellektueller, zumal ihre Begeisterung fr das Boxen,201 deutet darauf hin, dass der Boxkampf ein spezifisches Lebensgefhl zum Ausdruck brachte. Whrend einige Autoren das Boxen wie den Sport insgesamt lediglich als Beitrag zur gesellschaftlichen Erneuerung im Sinne der Kçrperkulturbewegung auffassten, wie es etwa bei Frank Thieß der Fall war,202 vertrat ein Autor wie Brecht die Ansicht, dass das Boxen gerade nicht Teil einer kçrpergymnastischen Kultur sein sollte: „Selbstverstndlich ist Sport, nmlich wirklicher passionierter Sport, riskanter Sport, nicht gesund. […] Boxen zu dem Zweck, den Stuhlgang zu heben, ist kein Sport.“203 Diesem heiligen Ernst standen wiederum solche Beitrge gegenber, die die kollektive Boxeuphorie mit ironischer, bisweilen auch sarkastischer Kritik begleiteten, wofr die zahlreichen Artikel zum Boxen von Joseph Roth ein Beispiel sind. Gemeinsam war vielen Autoren, dass der Boxkampf als Metapher des gesellschaftlichen Lebens gelesen wurde, die ber den bloßen Wettkampfgedanken hinaus ging. So vermitteln viele Boxkampfdarstellungen einen positiv aufgefassten Leistungsgedanken, der kennzeichnend fr die neue großstdtische, industrialisierte Gesellschaft war. Vor diesem Hintergrund wurde der Boxkampf zum Sinnbild des tglichen Lebens-

201 Rase spricht von der „teilweise frappierenden Begeisterung der Intelligenz und Kunstschaffenden“ fr das Boxen (Rase, Kunst und Sport, S. 199); Luckas nennt sie „befremdlich“ (Luckas, „Solange du stehen kannst“, S. 70). 202 Vgl. Frank Thieß: Die Geistigen und der Sport, in: Die Neue Rundschau 1927, Bd. 1, S. 293 305 [zuerst verçffentlicht 1926 im Uhu]. 203 Vgl. Bertolt Brecht: Die Todfeinde des Sportes [um 1928], in: Bertolt Brecht Schriften I (= Bertolt Brecht Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus Detlef Mller, Bd. 21), Berlin, Frankfurt/Main 1992, S. 224/25, hier S. 224. Und in direkter Replik auf den Artikel von Thieß schrieb Brecht: „Ich muß zugeben, daß ich die These, Kçrperkultur sei die Voraussetzung geistigen Schaffens, nicht fr sehr glcklich halte. Es gibt wirklich, allen Turnlehrern zum Trotz, eine beachtliche Anzahl von Geistesprodukten, die von krnklichen oder zumindest kçrperlich stark verwahrlosten Leuten hervorgebracht wurden, von betrblich anzusehenden menschlichen Wracks, die gerade aus dem Kampf mit einem widerstrebenden Kçrper einen ganzen Haufen Gesundheit in Form von Musik, Philosophie oder Literatur gewonnen haben.“ (Bertolt Brecht: Sport und geistiges Schaffen [um 1926], in: Bertolt Brecht Schriften I (= Bertolt Brecht Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus Detlef Mller, Bd. 21), Berlin, Frankfurt/Main 1992, S. 122/23, hier S. 122 f.)

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kampfes.204 Das Boxen verkçrperte den Zeitgeist nicht nur, es verstrkte ihn auch: Damit wurde der Boxkampf selbst Teil der Steigerungsbewegung, die ihn vorantrieb. Zu Beginn der zwanziger Jahre war der Sport dagegen, wie die Anfnge seiner Darstellung im Querschnitt gezeigt haben, noch keineswegs anerkannter Teil des kulturellen Lebens. Die Herausgeber scheuten sich nicht, fr den Sport, und hier besonders das Boxen, zu werben, und wurden nicht mde, die Sportbegeisterung der modernen, franzçsischen Knstlerinnen und Knstler hervorzuheben. Der Querschnitt brachte insgesamt drei dem Sport gewidmete Themenhefte heraus, die anlsslich der Gesolei – der Dsseldorfer Ausstellung fr Gesundheitspflege, Soziale Frsorge und Leibesbungen – (1926, H. 5), der Olympischen Spiele in Amsterdam (1928, H. 8) sowie der Olympischen Spiele in Los Angeles (1932, H. 6) erschienen.205 Diese Hefte griffen, wenn auch mit der fr den Querschnitt spezifischen Ironie und Sffisanz, Themen auf, die fr die Sportdebatte der Zeit charakteristisch waren. So ging es im Kontext der Gesolei um verschiedene Formen kçrperlicher Bewegung, um Sport und Gymnastik ebenso wie um den neuen Tanz. Klara Heydt schrieb ber Reine Kçrperformen durch Atemtechnik, Gymnastik und Dit,206 whrend Marie von Bunsen direkt im Anschluss die Reinlichkeit selbst in den Mittelpunkt rckte. Dabei stellte sie einen ironisch-geistreichen Zusammenhang zwischen hygienischer Entwicklung und sportlichem Erfolg verschiedener Nationen her, der Englands fhrende Stellung in Frage stellte.207 Die Themen Ernhrung und Gesundheit kamen 1928 in dem Briefwechsel von Augusta von Oertzen und Marie Zabler ber das Fr und gegen die Rohkost zur Sprache.208 Insgesamt lag der Akzent der beiden Olympia-Hefte aber strker auf dem sportlichen Wettkampf und seinen 204 Vgl. Rase, Kunst und Sport, S. 201; vgl. Cilleßen: „Sich pflegen, bringt Segen!“, S. 269. 205 Von den Olympischen Spielen in Antwerpen (1920) und in Paris (1924) blieb Deutschland aufgrund der Auswirkungen des Ersten Weltkriegs ausgeschlossen. Erst die whrend des Krieges neutralen Niederlande ermçglichten 1928 Deutschland wieder die Teilnahme. 206 Vgl. Klara Heydt: Reine Kçrperformen, in: Der Querschnitt 6 (1926), H. 5, S. 374 377. 207 Vgl. Marie von Bunsen: Reinlichkeit, in: Der Querschnitt 6 (1926), H. 5, S. 378 382. 208 Vgl. Augusta von Oertzen/Marie Zabler: Fr und gegen die Rohkost, in: Der Querschnitt 8 (1928), H. 8, S. 552 557.

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gesellschaftlichen Folgen als auf Fragen der Kçrperkultur. So schrieb der Mediziner Julius Tandler 1932 ber das Verhltnis von Sport und Arzt und fragte, wo die „Grenze zwischen Gesundheitsfçrderung und Gesundheitsgefhrdung“ liegt,209 eine Frage, die die Entstehung des Wettkampfsports von Anfang an begleitet hatte. Vor dem Hintergrund der Gefhrdungen durch den Massensport kamen dem Arzt allerdings neue Aufgaben zu. Tandler sprach vom „Mitbestimmungsrecht des Arztes“ bei der Eignungsprfung und ging angesichts moderner Trainingsmethoden selbstverstndlich von einer Zusammenarbeit zwischen Arzt und Trainer aus.210 Sportrztliche Ttigkeit sei zu einer Notwendigkeit geworden, die neue Wissensgebiete erschließe, „[…] denn aus der Bekmpfung der akuten Epidemien sind wir zur Fçrderung und Eindmmung, zur Regulierung der Sport-Epidemie gekommen.“211 Auch das Geschft des Sports war in den Heften von 1928 und 1932 Thema. Carl Gutmann beklagte die sensationslsterne Geschftemacherei beim Boxen, die auf Kosten der echten Kçnnerschaft gehe.212 Die Unsummen, die ein amerikanischer Baseballstar verdiente,213 wurden 1932 durch die Frage: „Was verdienen Amateure?“ noch unterstrichen.214 Dennoch verurteilte der Artikel den professionellen Sport keineswegs, sondern nahm, ganz im Gegenteil, die Heuchelei im Amateursport aufs Korn und griff die Klubs und Verbnde an, die sich auf Kosten ihrer Spitzenkrfte bereicherten.215 Mit „Fug und Unfug des Sports“ setzten sich in Anschluss an Seifferts „Weltreligion des 20. Jahrhunderts“ Tibor Dry (1894 – 1977) und Musil kritisch auseinander. Alfred Polgar (1873 – 1955) erklrte sich im selben Heft die „tiefgehenden intellektuellen Vernderungen“ an den Sportbegeisterten damit, dass ihr Rekordstreben den unangefochtenen Leistungen der Tiere im Laufen, Schwimmen oder Fliegen Konkurrenz mache: „Man schwimmt nicht wie ein Fisch und luft nicht wie ein Wiesel, ohne 209 Julius Tandler: Sport und Arzt, in: Der Querschnitt 12 (1932), H. 6, S. 397 399, hier S. 397. 210 Vgl. Tandler, Sport und Arzt, S. 398 f. 211 Tandler, Sport und Arzt, S. 399 [Herv. i. Orig.]. 212 Vgl. Carl Gutmann: Boxen als Geschft und als Sport, in: Der Querschnitt 8 (1928), H. 8, S. 560 563. 213 Vgl. Peter Amondo: Der beleidigte Baseballgott, in: Der Querschnitt 12 (1932), H. 6, S. 405 407. 214 Vgl. Heinz Alexander: Was verdienen Amateure?, in: Der Querschnitt 12 (1932), H. 6, S. 409 411. 215 Vgl. Alexander, Was verdienen Amateure, bes. S. 409 und S. 411.

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etwas spezifisch Fischiges bzw. Wiesliges erworben, und dafr etwas spezifisch Menschliches abgegeben zu haben.“216 Gleichzeitig behielt Der Querschnitt sein Gegensatz- und Kontrastprinzip bei, das die stets ,elastische‘ Haltung der Herausgeber dokumentierte. So folgte auf Musils Essay Kunst und Moral des Crawlens beispielsweise direkt ein Artikel von Johnny Weißmller (1904 – 1984) – dem fnffachen Olympiasieger und nachmaligen Tarzan-Helden – mit dem Titel „Mein Kçrper“.217 Breitenstrter erçrterte vçllig ironiefrei die Frage – „Soll ein Sportsmann heiraten?“ – und kontrastierte damit einen witzigen Artikel von Janice Taylor, die sich ber die Eigenliebe der „Herren Athleten“ ausließ und genau zu dem gegenteiligen Schluss kam: Ein baumlanger Ruderer, Tormann oder Hochspringer geben einen hbschen Rahmen ab fr ein Mdel und passen gut zu einem Pelzmantel oder einem neuen Hut; aber zum Hausgebrauch sehe ich meine klgeren Mitschwestern sich irgendeinen gerissenen kleinen Kerl anlachen, der nicht im Training ist, seine freie Zeit nicht dazu verwandt hat, sich auf eine ausgestopfte Stoffpuppe zu strzen, im Kreis herumzurasen oder Freibungen zu machen, und der nicht dauernd mde ist, sondern Zeit hat, sich darber zu unterrichten, was in der Welt gespielt wird.218

Insgesamt zeigen diese Querschnitt-Hefte, dass sich die vielzitierte Sportbegeisterung der zwanziger Jahre erst allmhlich entwickelte. Sie leitet sich vor allem aus dem Massenzulauf bei sportlichen Großveranstaltungen in Berlin oder anderen Großstdten ab und kann im Wesentlichen als Phnomen der ausgehenden zwanziger Jahre gelten. Erst seitdem wurde der Sport in grçßerem Umfang als Ausdruck zeitgençssischen Lebens reflektiert und seitens Intellektueller der Kritik unterzo-

216 Alfred Polgar: Der Sport und die Tiere, in: Der Querschnitt 12 (1932), H. 6, S. 392/93, hier S. 393. 217 Vgl. Johnny Weißmller: Mein Kçrper, in: Der Querschnitt 12 (1932), H. 6, S. 417 419. Weißmller entwickelte die Crawl Technik, die auch Musil er lernte, und siegte mit ihr bei den Olympiaden 1924 und 1928, bevor er zum Helden des Dschungels wurde. Seine Laufbahn ist das prominenteste der frhen Beispiele fr den Aufstieg vom Sportler zum Leinwandstar. Vgl. dazu Sabine Horst: Vom Champion zum Filmstar. Johnny Weissmuller, in: Hans Sarkowicz (Hrsg.): Hçher, schneller, weiter. Eine Geschichte des Sports, Frankfurt/Main 1999, S. 292 305. 218 Janice Taylor: Die Herren Athleten, in: Der Querschnitt 12 (1932), H. 6, S. 400 402, hier S. 402.

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gen,219 auch wenn sie – wie Musil und viele andere – selbst sportbegeistert waren. Dies gilt auch fr Sport und Kçrperkultur als Thema des neusachlichen Romans. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang neben Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32) beispielsweise Kasimir Edschmids Sport um Gagaly (1928), Hermann von Wedderkops Adieu Berlin (1928), Irmgard Keuns Gilgi – eine von uns (1931), Marieluise Fleißers Mehlreisende Frieda Geier, Hans Falladas Kleiner Mann – was nun? (1932), Martin Kessels Herrn Brechers Fiasko (1932) sowie Friedrich Torbergs Die Mannschaft (1935), die hnlich wie Musils Roman auf den publizistischen Sportdiskurs und den Sport als Teil der Massenkultur reagierten.

219 Zu nennen sind in diesem Zusammenhang neben Musil, Polgar oder Roth auch Autoren wie Hermann Kasack, Martin Kessel, Paul Kornfeld, Heinrich Mann, Kurt Pinthus und Frank Thieß, die zum Teil auch im Querschnitt publizierten.

IV. Sport als Medium der Kulturkritik: Als Papa Tennis lernte (1931) Der Essay Als Papa Tennis lernte umfasst den Zeitraum von etwa 1890 bis zur Publikation des Textes und beschreibt den historischen Wandel des Sports von einem geselligen Vergngen zu einem publikumswirksamen Massenspektakel. Sein besonderes Augenmerk gilt den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg, die zugleich das Fundament von Musils gesamtem Werk bilden.1 Ausgangspunkt des Essays ist der von der regierenden Wiener Sozialdemokratie 1927 beschlossene Bau eines olympischen Stadions aus Anlass der Zweiten Arbeiterolympiade.2 Das mitten im Prater gelegene Stadion sollte zum einen der machtvollen Selbstinszenierung der Arbeitersportbewegung und zum anderen der kollektiven Wiener Fußballleidenschaft der Zwischenkriegszeit Ausdruck verleihen. Der Stadionbau bildete den Hçhepunkt des kommunalen Sportanlagenbaus in Wien und galt als wichtiger Beitrag zur sozialen Modernisierung der Gemeinde und der Zivilisierung des Massenpublikums, die an den Prinzipien Rationalitt, Berechenbarkeit, technischer Optimierung und Fortschritt ausgerichtet waren.3 Musils Kritik zielt auf die Institutionalisierung und Kommerzialisierung des Sports sowie auf die ge-

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Vgl. Alexander Kluge: Wchter der Differenz. Rede zur Verleihung des Kleist Preises, in: Kleist Jahrbuch 1986, S. 25 37, hier S. 26. Fr den Bau des olympischen Stadions lagen schon seit dem Ersten Weltkrieg Plne vor. Den Anstoß zur Realisierung gab schließlich die Vergabe der Zweiten Arbeiterolympiade an sterreich, die auf dem vierten Kongress der Sozialisti schen Arbeitersport Internationale in Helsinki 1927 beschlossen wurde. Mit dem Bau wurde 1929 anlsslich des zehnten Jubilums der Republik begonnen. Zur Geschichte der Plne fr dieses Stadion vgl. Horak/Maderthaner, Mehr als ein Spiel, bes. S. 37. Vgl. Horak/Maderthaner, Mehr als ein Spiel, S. 35. Zum Verhltnis von Mo derne und Modernitt sowie der Wiener Moderne und der Moderne in Wien vgl. auch die verschiedenen Diskussionsbeitrge in: Roman Horak, Wolfgang Ma derthaner, Siegfried Mattl, Gerhard Meißl u. a. (Hrsg.): Metropole Wien. Tex turen der Moderne, Wien 2000 (= Wiener Vorlesungen, Konservatorien und Studien, Bd. 9), Bd. 2.

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sellschaftlich verordnete Sportbegeisterung, die als Versportlichung des Alltags erscheint. Der Essay erschien drei Monate vor der offiziellen Einweihung des Stadions am 11. Juli 1931 im Aprilheft des Querschnitt 4 und zeichnet den skizzierten Modernisierungsprozess nach. Am Beispiel von Tennis und Fußball reflektiert er die Vernderungen in der Wahrnehmung und Zurschaustellung des Kçrpers sowie die zunehmende wissenschaftliche Durchdringung aller Lebensbereiche.5 Den widersprchlichen bergang in die Moderne spiegelt Als Papa Tennis lernte in der Geschichte des Praters, die mit dem skizzierten Wandel in mehrfacher Hinsicht verknpft ist. Der Prater diente seit Mitte des 16. Jahrhunderts als kaiserliches Jagdrevier und blieb der Bevçlkerung daher strikt verschlossen. Seit seiner ffnung durch den aufgeklrten Kaiser Joseph II. fungierte der Park als Spielsttte und Schauplatz frher Formen sportlicher Unterhaltung.6 Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden eine Pferde- und eine Trabrennbahn angelegt, weitere Sportpltze und Straßen folgten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts vergrçßerte sich der Bereich der Sportanlagen auf Kosten der Praterwiesen zusehends. Diese Entwicklung lsst Musil im Stadionbau kulminieren, der die Zerstçrung des Praters und das Ende des brgerlichen Zeitalters zu besiegeln scheint. Sein Essay erinnert dagegen die Parklandschaft als einen Freiraum in der Stadt, einen Raum des Dazwischen von Stadt und Vorstadt, Peripherie und Zentrum, die im brigen Stadtraum bereits getrennt sind.7 Als 4 5

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Vgl. Musil, Als Papa Tennis lernte, in: Der Querschnitt 11 (1931), H. 4, 247 252. Damit whlt er, wie die grundlegende Arbeit von Christiane Eisenberg zur Ge schichte des modernen Sports verdeutlicht, zwei fr die Sportgeschichte beson ders signifikante Beispiele. Tennis, Fußball und Pferderennen sind die Sportar ten, die Eisenberg fr Fallstudien zum Wandel des Sportgeschehens und der Interaktion von Angebot und Nachfrage ausgewhlt hat. Ein Bericht ber ein Pferderennen wird in Der Mann ohne Eigenschaften den Verlauf des Romans bestimmen. Vgl. Eisenberg, „English Sports“, S. 178 209. Vgl. Buchmann, Der Prater, S. 61. Die Anlage der Ringstraße in der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts fhrte zu einem grundlegenden Wandel der sozialrumlichen Verhltnisse in Wien und verstrkte die Kluft zwischen aristokratisch brgerlichem Zentrum und den konflikttrchtigen Arbeiterquartieren in den Außenbezirken. Vgl. Musner/Ma derthaner, Die Anarchie der Vorstadt, S. 53 56. Zum Wien der Ringstraße vgl. Carl E. Schorske: Wien. Geist und Gesellschaft des Fin de Sicle, Frankfurt/ Main 1982. Zu den hier angedeuteten Reibungsflchen und der spezifischen

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Raum des Dazwischen, der mehrere gesellschaftliche Orte gleichzeitig reprsentiert, kann diese Vorstellung des Praters auch als „Heterotopie“ (Michel Foucault) charakterisiert werden. Die Heterotopie bildet ein „Widerlager“, eine realisierte Utopie, in der „die wirklichen Pltze innerhalb der Kultur gleichzeitig reprsentiert, bestritten und gewendet sind“8. Sie manifestiert sich in Musils sthetischem Interesse am Prater als Ort individuellen Vergngens, insbesondere im Erleben des sportlich bewegten Kçrpers. Die çffentliche Zugnglichkeit der Wiener Parklandschaft verdankt sich jenem Geist der Aufklrung, der sowohl den Fortschritt der Wissenschaften als auch die brgerliche Vorstellung von Individualitt hervorgebracht hat, die sich im Sport verbinden. Er prgt nicht nur die Sportpraxis als intensive Selbsterfahrung, sondern auch die entstehende Massenkultur und die ihr zugrundeliegende Rationalisierung. Musils kritische Bewertung des Sports kennzeichnet daher nicht nur sein ambivalentes Verhltnis zur Moderne, sondern vermag auch Aufschluss ber die Widersprche der Moderne selbst zu geben.

1. Denken der Bewegung – Simmel und Musil Der Bezug auf den Prater in Als Papa Tennis lernte geht der Geschichte der modernen Zuschauerkultur buchstblich nach und beschreibt zugleich einen Umweg, der sich der Rationalisierungsbewegung der Moderne spielerisch widersetzt. Dadurch gert der diagnostizierte kulturelle Wandel in der Form des Essays selbst in Bewegung, was die Perspektive der Erinnerung ebenso unterstreicht wie die ironische Selbstinszenierung des essayistischen Ich.9 Zu Beginn spricht es von sich selbst in der 3.

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Modernitt Wiens vgl. Emil Brix/Patrick Werkner (Hrsg.): Die Wiener Mo derne: Ergebnisse eines Forschungsgesprches der Arbeitsgemeinschaft Wien um 1900 zum Thema „Aktualitt und Moderne“, Wien und Mnchen 1990. Vgl. Michel Foucault: Andere Rume, in: Karl Heinz Barck (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen sthetik, Leipzig 1990, S. 34 46, hier S. 39. Im Kontext des Praters und in Bezug auf Musil ist ferner von Bedeutung, dass Foucault den Garten fr eine der ltesten Heterotopien hlt: „Der Garten ist die kleinste Parzelle der Welt und darauf ist er die Totalitt der Welt. Der Garten ist seit dem ltesten Altertum eine selige und universali sierende Heterotopie […].“ (Foucault, Andere Rume, S. 43.) Das essayistische Ich als Subjekt der Aussage wird hier als textinterne Funktion der essayistischen Denkbewegung verstanden. Dieses Subjekt und der textexterne Autor des Essays sind nicht identisch. Bei Musil wird die Aussage des Essays

Denken der Bewegung

Musil und Simmel

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Person, so dass es sich auch selbst gleichsam umgeht. Musils essayistische Reflexion wird auf diese Weise in Als Papa Tennis lernte thematisch und trgt gleichzeitig Zge poetologischer Selbstreflexion. Dies gilt auch fr den inszenierten Briefwechsel und den Adressatenbezug in Kunst und Moral des Crawlens. Musils Essayismus erscheint als Bewegung, die das Tennisspiel als Gedankenspiel und den Gang durch den Prater als Gedankengang versteht: Das Denken von Bewegung und das Denken als Bewegung gehen dabei eine enge Verbindung ein. Diese produktive Verschrnkung macht den Sport geradezu zum Muster essayistischer Selbstreflexion. Darber hinaus ist der Sport, den Musil in Als Papa Tennis lernte verteidigt, in einem Spannungsfeld situiert, das sich zwischen der Perspektive des essayistischen Ich und der entstehenden Massenkultur, zwischen Schrift- und Zuschauerkultur sowie zwischen Sportpraxis und Sportdiskurs entfaltet, ein Spannungsfeld, das der Wandel des Praters selbst versinnbildlicht. In Als Papa Tennis lernte wird daher Musils Auseinandersetzung mit dem Sport als Gegenstand der Kulturkritik und als Medium essayistischer Selbstreflexion besonders deutlich. Die inhaltliche und formale Verknpfung dieser Gegenstze im Denken der Bewegung rckt Musils Sportessays in unmittelbare Nhe zum kulturkritischen Gehalt der Soziologie Simmels – vor allem seiner Soziologie der Geselligkeit (1910) und den Essays in seinem Band Philosophische Kultur (1911) –, die gleichfalls als Kulturpoetik der Moderne verstanden werden kçnnen.10 Simmel verbindet mit Musils Modernekritik nicht nur das Interesse an Kultur als einem wechselseitigen Verhltnis von Menschen und Dingen, das den Idealismus hinter sich lsst und einen modernen Kulturbegriff voraussetzt,11 sondern auch das gelegentlich sogar auf verschiedene Figuren aufgeteilt. Vgl. Nbel, Robert Musil, S. 80 f. und ausfhrlicher S. 202 216. 10 Ob Musil und Simmel sich gekannt haben, ist nicht mit Sicherheit festzustellen. Es spricht aber viel dafr, dass Musil whrend seines Studiums an der Friedrich Wilhelms Universitt in Berlin neben Bla Bal zs, Ernst Cassirer, Friedrich Gundolf, Siegfried Kracauer, Ernst Bloch und Georg Luk cs Philosophie Vorlesungen bei Simmel gehçrt hat, der dort bis zu seiner spten Berufung nach Straßburg 1914 als Privatdozent und außerplanmßiger Professor vor einer großen Zuhçrerschaft ttig war. Vgl. Nbel, Robert Musil, S. 91. Welche Ver anstaltungen Musil whrend seines Berliner Studiums genau besucht hat, lsst sich nicht rekonstruieren, da Studienbcher, Vorlesungsmitschriften etc. nicht erhalten sind. Vgl. Corino, Robert Musil, S. 222. 11 Vgl. Theodor W. Adorno: Henkel, Krug und frhe Erfahrung, in: Noten zur Literatur, 7. Aufl. Frankfurt/Main 1998 [1974], S. 556 566, hier S. 558; vgl.

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Denken dieser Wechselwirkung, die verschiedene Phnomene durch die „Einheit der Denkbewegung“12 verknpft. Denn eine moderne philosophische Kultur, so Simmel weiter, bestehe in der „intellektuellen Bewegtheit“ als durchgehender geistiger Haltung zu allem Dasein.13 Dieses Denken hat seinen Grund in der sinnlichen Erfahrung des Kçrpers, die als Reflexion der Bewegung bzw. Bewegtheit beschreibbar wird.14 Simmel trieb wie Musil regelmßig Sport und kultivierte ihn als Bestandteil der neuen, modernen Kultur. So erinnert sich Edith Landmann, dass er „per Velo, das damals neu erst aufkam und fr anstndige Leute umstritten war, und in Kniehosen ins Kolleg zu kommen“ pflegte.15 Wie in weiten Teilen des Großbrgertums um die Jahrhundertwende wurde außerdem im Hause Simmel mit Eifer Tennis gespielt.16 Simmel ließ in seinem Garten einen Tennisplatz anlegen und gehçrte damit in Berlin zu den Pionieren einer huslichen Sportgeselligkeit.17

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auch Paul Nolte: Georg Simmels Historische Anthropologie der Moderne. Re konstruktion eines Forschungsprogramms, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 225 247, hier S. 235 f. Georg Simmel: Einleitung, in: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais [1911] (= Georg Simmel Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt, Bd. 14, Frankfurt/Main 1996, S. 159 459), S. 162 167, hier S. 165. Simmel, Einleitung, S. 165. Diese Haltung entspricht der „Bewegtheit des phi losophischen Lebens“ selbst. (Simmel, Einleitung, S. 164.) Arthur Stein hat in einem Gesprch mit Michael Landmann von Simmel ge sprochen und ber dessen Vorlesungen festgehalten, dass sich die Intensitt seines Denkens bis in die Motorik seines Kçrpers hinein fortsetzte „,Schwimmen mçchte ich ihn sehen‘, sagte einmal einer maliziçs […].“ (Michael Landmann: Arthur Steins Erinnerungen an Georg Simmel, in: sthetik und Soziologie um die Jahrhundertwende: Georg Simmel, hg. von Hannes Bçhringer und Karlfried Grnder, Frankfurt/Main 1976, S. 272 276, hier S. 272.) Vgl. Edith Landmann, Erinnerungen an Simmel, in: Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Zu seinem 100. Geburtstag am 1. Mrz 1958 hg. von Kurt Gassen und Michael Landmann, Berlin 1958, S. 208 211, hier S. 208. Zu Simmels Beteiligung an den sozialen Reformbe wegungen der Jahrhundertwende und ihrer Bedeutung fr Simmels Essay sammlung Philosophische Kultur vgl. Kçhnke, Der junge Simmel, S. 467 f. Auch diese praktischen Erfahrungen verbinden ihn mit Musil, der wie seine kul turkritischen Essays zeigen mit Fragen der Reform der Mode, der Kçrperkultur oder der Geschlechterverhltnisse ebenfalls bestens vertraut war. Vgl. Hans Simmel: Auszge aus den Lebenserinnerungen, in: Hannes Bçhrin ger/Karlfried Grnder (Hrsg.): sthetik und Soziologie um die Jahrhundert wende: Georg Simmel, Frankfurt/Main 1976, S. 247 271, hier S. 255. Vgl. Eisenberg, „English Sports“, S. 195 f. Im Sommer fuhren Simmels regel mßig zum Wandern und auch Bergsteigen in die Schweiz. Vgl. Simmel, Aus zge aus den Lebenserinnerungen, S. 249.

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ber das Denken der Bewegung, das Musil und Simmel verbindet, heißt es in Simmels Essay ber Die Mode (1911)18 programmatisch: Und erst insofern jede innere Energie ber das Maß ihrer sichtbaren ußerung hinausdrngt, gewinnt das Leben jenen Reichtum unausgeschçpfter Mçglichkeiten, der seine fragmentarische Wirklichkeit ergnzt; erst damit lassen seine Erscheinungen tiefere Krfte, ungelçstere Spannungen, Kampf und Frieden umfnglicherer Art ahnen, als ihre unmittelbare Gegebenheit verrt. Dieser Dualismus kann nicht unmittelbar beschrieben, sondern nur an den einzelnen Gegenstzen, die fr unser Dasein typisch sind, als ihre letzte, gestaltende Form gefhlt werden. Den ersten Fingerzeig gibt die physiologische Grundlage unseres Wesens: dieses bedarf der Bewegung wie der Ruhe, der Produktivitt wie der Rezeptivitt. Dies in das Leben des Geistes fortsetzend, werden wir einerseits von der Bestrebung nach dem Allgemeinen gelenkt, wie von dem Bedrfnis, das Einzelne zu erfassen; jenes gewhrt unserm Geist Ruhe, die Besonderung lßt ihn von Fall zu Fall sich bewegen. 19

Das Denken der Mçglichkeit stellt Simmel in dieser Passage explizit als Wechselspiel von Ruhe und Kraft, von geistiger und kçrperlicher Bewegung heraus, ein Wechselspiel von Gegenstzen und Spannungen, die sich auch als Kampf bestimmen lassen. Dass das Denken selbst zum Kampf wird, rckt Simmels essayistische Form des Philosophierens in unmittelbare Nhe zu Musils sthetischer Wahrnehmung und Deutung des Sports, der ebenfalls als Kampf und – wie noch genauer zu zeigen sein wird – als Wechselspiel von Aktivitt und Hingabe erscheint.

2. „Geist des Sports“ Bezogen auf die laute Erneuerungsrhetorik der Zwischenkriegszeit, den kollektiven Traum von einer neuen Zeit und einem befreiten, neuen Menschen, der die knstlerische Avantgarde mit der politischen Linken 18 Der Text erschien zuerst 1905 unter dem Titel Philosophie der Mode als elfter Band in der von Hans Landsberg herausgegebenen Reihe Moderne Zeitfragen im Pan Verlag und wurde 1911 von Simmel mit dem leicht vernderten Titel Die Mode in seinen Band Philosophische Kultur. Gesammelte Essais aufgenommen. Vgl. Georg Simmel: Philosophie der Mode, in: Georg Simmel Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt, Bd. 10, Frankfurt/Main 1995, S. 7 37; Georg Sim mel: Die Mode, in: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais [1911] (= Georg Simmel Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt, Bd. 14, Frankfurt/Main 1996, S. 159 459), S. 186 218. 19 Simmel, Die Mode, S. 186 [Herv. i. Orig.].

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und der Arbeiterbewegung verband, deutet bereits der beinah mrchenhaft klingende Titel von Musils Essay Als Papa Tennis lernte leisen Widerspruch an. Vor dem Hintergrund der Professionalisierung des Sports richtet die berschrift ihre Aufmerksamkeit auf die Anfnge der Sportmode und die individuelle Perspektive eines Sportlers, nmlich den Tennis spielenden Vater, und nicht etwa auf einen in der ffentlichkeit stehenden Tennis-, geschweige denn Box- oder Fußballprofi. Die vertrauliche Anrede „Papa“ unterstreicht die private Seite, die die Sportausbung zum Teil der Familiengeschichte macht. Whrend diese scheinbar familire Sicht aus der Perspektive eines Magazins wie Der Querschnitt hoffnungslos antiquiert wirken muss, offenbart sich gerade darin die ironische Haltung des Essays, der in der Tat aus der Perspektive der Erinnerung spricht.20 Ihr korrespondiert der januskçpfige Begriff des Geistes, den Musil hier wie in vielen seiner Essays verwendet. Dabei unterscheidet Als Papa Tennis lernte zwischen dem Geist des Sportmanns und dem Geist des Sports.21 Die Figur des Tennis spielenden Vaters, der als Sportsmann und Pionier modernen Lebens erscheint, besitzt als Vertreter brgerlicher Individualitt wie selbstverstndlich Geist. Er genießt den Sport als unkonventionelles und zugleich geselliges Vergngen, das verschiedene sthetische Reize bereit hlt. Dazu gehçrt auch die Freude an der eigenen Bewegung, die sich im Gegensatz zum Reglement des brgerlichen Lebens zwanglos und unkontrolliert einstellt. In der Unbestimmtheit der Bewegung des frhen Tennisspiels, das auf „romantischen Tenniswiesen“ stattfand,22 sind Entdeckungen mçglich, die die Eltern im „Spiegel der Geschichte“ als „Urgenies der Tennisschlge“ erscheinen lassen,23 wie der Erzhler mit ironischem Verweis auf den inflationren Gebrauch des Genie-Begriffs vermerkt.24 20 Die Perspektive der Erinnerung hat sich auch Tibor Dry zu eigen gemacht, der offenbar inspiriert durch Musil im nchsten Jahrgang des Querschnitt unter der nach Poesiealbum klingenden berschrift „Zur freundlichen Erinnerung“ ebenfalls an die Anfnge des Sports im ausgehenden 19. Jahrhundert zurck dachte. Vgl. Tibor Dry: Zur freundlichen Erinnerung, in: Der Querschnitt 12 (1932), H. 6, S. 388/389. 21 Vgl. Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 691. 22 Vgl. Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 686. 23 Vgl. Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 686. 24 Auf das Genie von Sporthelden und Musils Auseinandersetzung mit dem zeit gençssischen Genie Diskurs werde ich in meiner Analyse des Mann ohne Ei genschaften nher eingehen.

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In dieser Bemerkung deutet sich bereits die Kritik an, die der Essay formulieren wird. Denn der Reiz des Sports liegt im sthetischen Erleben der Bewegung und der Natur, whrend der ,Geist des Sports‘ dem sportlichen Geschehen Bedeutung von außen beimisst. Zu dieser Entwicklung trgt Musil zufolge die Rationalisierung der Bewegung bei, die sich in der Normierung von Sportpltzen, Gerten und Kçrpertechniken niederschlgt. So wurden die improvisierten Tenniswiesen aufgrund ihrer mangelnden Rasenqualitt vom modernen Hartplatz abgelçst: „O, rhrende Frhzeit, als man noch nicht wußte, daß auf kontinentalen Tennispltzen kein Gras gedeiht! Man behandelte es vergeblich mit der Sorgfalt eines Friseurs, der an einem an Haarausfall leidenden Kunden alle seine Mittel versucht.“25 Die Errichtung von Tennisanlagen wiederum fhrte zu einer Steigerung der Wucht der Schlge und beschleunigte den Ballwechsel. Dadurch kam, wie das essayistische Ich treffend bemerkt, „ein ernster Zug in den Sport“26 : Die Figuren verschwanden, die man anfangs hatte sehen kçnnen, wie sie, scharf visierend, mit turnerischer Geschicklichkeit das Racket einem Flugball entgegenstießen und es bildeten sich berraschend schnell die Schlge aus, die heute noch gebraucht werden, mit ganz wenigen Ausnahmen, die erst spter dazu gekommen sind. Auch die Listen waren bald beisammen und fertig; nur nannte man sie damals noch nicht Taktik und Strategie, wahrscheinlich, weil man vor Leutnants und geistigen Leistungen zu großen Respekt hatte.27

Doch bildet die Standardisierung der Ablufe nicht nur die Voraussetzung des organisierten Wettkampf- und Zuschauersports, der auf der Vergleichbarkeit des sportlichen Geschehens beruht. Sie greift auch in die Sprache ein, die nicht mehr auf die eigentliche Bewegung zielt, sondern, im Gegenteil, vom Kçrper abstrahiert. So werden aus individueller Geschicklichkeit Schlagtechniken, aus spielerischen Tricks Strategien: Seit Papa Tennis lernte, hat sich also immerhin einiges gendert, aber es betrifft mehr die Bewertung der Leibesbungen als diese selbst. Wohl gab es 25 Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 686. Tatschlich wurde der Hartplatz 1898 in Deutschland aufgrund der schlechten Qualitt des Rasens erfunden. Vgl. Von den Anfngen bis 2002. Zum 100 jhrigen Bestehen des Deutschen Tennis Bundes, hg. vom Deutschen Tennis Bund e.V., Berlin 2002, S. 23. 26 Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 686. 27 Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 686. Zudem verweist der Essay hier auf den Zusammenhang von Sport und Militr, deren gemeinsame Bezugspunkte die hçfisch militrische Tradition und die zunehmende Verwissenschaftlichung und Rationalisierung der sportlichen bungen sind.

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noch nicht die Verbindungen von Motortechnik mit menschlicher Kaltbltigkeit, aber von den eigentlichen ,Kçrper-Sporten‘ standen die Wesenszge schon fest, mit wenigen Ausnahmen wie Golf und Hockey, die man noch nicht kannte, und abgesehen von der technischen Durchbildung, die aber ziemlich stetig erfolgte; denn von ,revolutionierenden‘ Stilnderungen fielen die der Reit-, Lauf- und Sprungtechnik schon in jene Zeit und sogar die Crawlmethode des Schwimmens, die erst spter importiert worden ist, unterschied sich in der Arm- und Atemtechnik weniger von dem damals gebten Schnellschwimmen als dieses vom gemchlichen Mißbrauch des Wassers zur Großvaterzeit.28

Aus diesen Beobachtungen zieht das essayistische Ich den Schluss: „Was den Sport zum Sport gemacht hat, ist also nicht so sehr der Kçrper als der Geist.“29 So entwickelt sich aus sportlichem Treiben der Sportbetrieb, dessen Rationalisierung sich in der Sportberichterstattung fort setzt. Der Sport wird zum System, der Erfolge an fr allgemein gltig erklrten Maßstben und nicht an der einzelnen Leistung misst. Dieser Geist des Sports entfaltet sich in verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen und wird gleichzeitig durch sie hervorgebracht. Er produziert eine spezifische Form von Wissen, das den Sport zu einer gesellschaftlichen, politischen und çkonomischen Macht werden lsst. So entsteht der Geist des Sports. Er entsteht aus einer umfangreichen Sportjournalistik, aus Sportbehçrden, Sportschulen, Sporthochschulen, Sportgelehrsamkeit, aus der Tatsache, daß es Sportminister gibt, daß Sportleute geadelt werden, daß sie die Ehrenlegion bekommen, daß sie immerzu in den Zeitungen genannt werden, und aus der Grundtatsache, daß alle am Sport Beteiligten, mit Ausnahme von ganz wenigen, fr ihre Person keinen Sport ausben, ja ihn mçglicherweise sogar verabscheuen.30

Das Zitat stellt den Unterschied zwischen Sportdiskurs und Sportpraxis, der die kritische Perspektive des Essays kennzeichnet, deutlich heraus. Der Geist des Sports verwaltet den Sport und rechtfertigt diesen Aufwand dadurch, dass er ihm beispielsweise hygienische, pdagogische, moralische, politische oder nationale Bedeutung zuspricht, Bedeutung, die er als spielerisches Vergngen gerade nicht hat. Daher setzen sich Musils SportEssays smtlich dagegen zur Wehr, im Sport hçhere Werte oder Fhigkeiten zu suchen und ihn durch Moral zu vereinnahmen:31

28 29 30 31

Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 687. Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 687. Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 691 [Herv. i. Orig.]. Vgl. Musil, Kunst und Moral des Crawlens, GW II, S. 698.

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Es ist einseitig, wenn man immer nur schreibt, daß der Sport zu Kameraden mache, verbinde, einen edlen Wetteifer wecke; denn ebenso sicher kann man auch behaupten, daß er einem weit verbreiteten Bedrfnis, dem Nebenmenschen eine aufs Dach zu geben, oder ihn umzulegen entgegenkommt, dem Ehrgeiz, der berlegene zu sein, und berhaupt eine grandiose Arbeitsteilung zwischen Gut und Bçs der Menschenbrust bedeute. Es mag schon so sein, daß zwei Boxer, die sich gegenseitig wund schlagen, dabei freinander Kameradschaft empfinden, aber das sind zwei, und Zwanzigtausend schauen zu und empfinden ganz etwas anderes dabei.32

Gleichzeitig verbindet sich Musils Kritik am vermeintlichen Wert des Sports mit einer Kritik an der Beliebigkeit dieser Rede. Denn die „Schçpfungskraft“ der Sportsprachen,33 die Musil vor allem in Der Praterpreis (1925/26 oder spter) aufs Korn nimmt, ist in doppelter Hinsicht problematisch: Sie geht zum einen an der Sache des Sports vorbei, weil die Sportberichterstatter kaum Sport treiben. Sie ermçglicht keine konkrete Vorstellung vom Sport, spricht aber stets rekordverdchtig zu „Millionen Zeitungslesern, die seit einigen Jahren in allen Sprachen des babylonischen Sportturms reden lernen.“34 Zum anderen verfhrt sie den Sportjournalisten, dem fr Fußballberichte „mehr Raum zur Verfgung steht, als allen Knsten u[nd] Wissenschaften zusammen“, dazu, „vom genialen Ferdl Swatosch zu schreiben oder die Heroen des Radrennens aufzuzhlen. Irgendwo hat er natrlich heute noch das Gefhl, daß das nicht ganz wçrtlich zu nehmen sei, aber wenn es so weitergeht, wird er ein Bahnbrecher neuen Geistes gewesen sein.“35 Mit der Ausweitung der Sportberichterstattung geht nicht nur ein Verlust an sprachlichem Unterscheidungsvermçgen einher, sondern auch eine Abwertung intellektueller Leistungen, die Musil der durch den Sportgeist reprsentierten Massenkultur anlastet. Er teilt damit die Kritik vieler Intellektueller am Journalismus, der sich an Verkaufszahlen orientiert und die Bedrfnisse der populren Kultur bedient.36 Die Sprache des Sports spricht in Superlativen, die den Dingen ußerlich bleibt, weil sie 32 Musil, Durch die Brille des Sports, GW II, S. 794 f. 33 Vgl. Musil, Der Praterpreis [1925/26 oder spter], GW II, S. 798/99, hier S. 798. 34 Musil, Der Praterpreis, GW II, S. 798. 35 Musil, Der Praterpreis, GW II, S. 799. Ferdl Swatosch (1894 1974): Wiener Fußball , çsterreichischer Nationalspieler; vgl. auch Musil, GW II, S. 1778. 36 Vgl. John Carey: Haß auf die Massen. Intellektuelle 1880 1939, Gçttingen 1996 [London 1992], S. 17. Wie Musil zeigen auch Schriftsteller, die sich selbst mit Zeitungsartikeln ihr Einkommen aufbessern, Herablassung gegenber den Zeitungen. Vgl. Carey, Haß auf die Massen, S. 18.

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abstrakt ist. Diese Sprache sickert, so Musils Befrchtung, die die Kritik der Frankfurter Schule an der Massenkultur in Anstzen vorwegnimmt, durch die Zeitungslektre ins allgemeine Bewusstsein und verndert sukzessive die Wertmaßstbe.37 Darber hinaus macht die babylonische Sprachverwirrung das Sportgeschehen und seine Medialisierung quasi ununterscheidbar. Auch die Literatur bleibt von diesem „Strukturwandel der ffentlichkeit“ (Jrgen Habermas) nicht unberhrt.38 Denn Literaturkritik bestehe immer weniger in der Kritik von Bchern, sondern darin, sie durch Rekorde zu empfehlen. In der Glosse Eine Kulturfrage thematisiert Musil die Bestimmung des Dichters: „Kçnnen Sie angeben, was ein Dichter ist?“39 fragt das essayistische Ich und schlgt vor, eine der beliebten Zeitungsumfragen zu diesem Thema zu starten: Es ist aber nicht zu erwarten, daß eine Zeitung ohneweiters auf diesen Vorschlag einginge, und wenn sie es tte, so wrde sie ihm eine ansprechendere Form geben. Zumindest die: „Wer ist Ihr Lieblingsdichter?“ Aber auch die Fragen: „Wen halten Sie gegenwrtig fr den grçßten Dichter?“ und „Welches ist das beste Buch dieses Jahres (auch: „Monats“) gewesen?“ scheinen sich durch ihre anregende Wirkung zu empfehlen. Daraus erfhrt der Mensch von Zeit zu Zeit, welche Arten von Dichtern es gibt, und es sind immer grçßte, bedeutendste, echteste, anerkannteste und gelesenste. Aber was der Dichter ohne Beiwaage sei, wann ein schlicht schreibendes Geschçpf Dichter sei, und nicht „der bekannte Autor von…“, diese Frage ist seit Menschengedenken berhaupt nicht gestellt worden.40

Dieser Mangel an Reflexion betrifft aber auch den Sport selbst, denn die Sportkritik sieht vom schlicht kçrperlichen Erleben ab. Statt dessen sieht sie ihm zu und richtet Bedeutungsattrappen auf, die dem eigentlichen Geschehen immer schon voraus gehen und damit die Wahrnehmung steuern. Diese Perspektive entspricht der Perspektive der Sportzuschauer: Aber wozu noch lnger vom Geist des Sportsmanns reden, besteht doch das ganze Geheimnis darin, daß der Geist des Sports nicht aus der Ausbung, 37 Zu den bereinstimmungen zwischen Musils Kritik der Massenkultur und der Frankfurter Schule vgl. Willemsen, Das Existenzrecht der Dichtung, S. 193. 38 Vgl. Jrgen Habermas: Strukturwandel der ffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der brgerlichen Gesellschaft, Darmstadt und Neuwied 1962. 39 Robert Musil: Eine Kulturfrage [1935], GW II, S. 511 513, hier S. 511. Der Text erschien in frheren Fassungen 1931, also im selben Jahr wie Als Papa Tennis lernte, in der BZ am Mittag unter dem Titel Was ist ein Dichter? (3. August 1931) und in der Prager Presse unter der berschrift Eine unzeitgemße Frage (8. Ok tober 1931). Vgl. Musil, Was ist ein Dichter?, GW II, S. 618/19; Eine unzeit gemße Frage, GW II, S. 620 622. 40 Musil, Eine Kulturfrage, GW II, S. 511.

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sondern aus dem Zusehen entstanden ist! Jahrelang haben sich in England Mnner vor einem kleinen Kreis von Liebhabern mit der nackten Faust Knochen gebrochen, aber das war so lange kein Sport, bis der Boxhandschuh erfunden worden ist, der es gestattete, dieses Schauspiel bis auf fnfzehn Runden zu verlngern und dadurch marktfhig zu gestalten.41

Durch die Organisation des Sportbetriebs wird die Prgelei zum Sport, der auf festgelegten Regeln basiert und damit zugleich den Gesetzen des Marktes folgt. Die Vergleichbarkeit der Leistung geht ihrer Vermarktung voraus. Sie ist auch die Bedingung fr den Professionalismus im Sport, der im Fußball von sterreich bereits in der Zwischenkriegszeit eingefhrt wurde: „Zweiundzwanzig Mnner kmpfen mit der Mßigung von Berufsmenschen um einen Fußball und einige Tausende, von denen die meisten einen solchen Ball niemals berhrt haben, geraten in die Leidenschaft, die sich die Ausbenden ersparen.“42 Das Sportspektakel wird zur Sensation, gerade weil es sich nicht lnger im kleinen Kreis – wie es auch der Geselligkeit beim Tennis entsprach –, sondern vor den Augen des Massenpublikums vollzieht: „Wahrscheinlich ist aber gerade das Zuschauen von einem Sitzplatz aus, whrend andere sich plagen, die wichtigste Definition der heutigen Sportsliebe, und diese wird immer vernachlssigt.“43 Der professionelle Sport treibt damit die Verkehrung des Sporterlebnisses, die Musil kritisiert, auf die Spitze. Fr Musil dagegen liegt die Bedeutung des Sports ausschließlich im eigenen Erleben. Dieses Erlebnis gewhrt sthetische Anregungen, die sich gerade durch Geistesabwesenheit auszeichnen: Ich war fast ganz und gar ungeistig, nur um am nchsten Tag geistig frisch zu sein. Es kam mir beim Ringen wenig Seelisches in den Sinn, und wenn ich mich wie ein Tier betrug, so war mir eben gerade das erwnscht. Ich bin heute noch der Meinung, daß Geistesabwesenheit außerordentlich gesund ist, wenn man Geist besitzt, unter anderen Voraussetzungen jedoch auf die Dauer recht gefhrlich!44

41 Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 691 [Herv. i. Orig.]. Mit der Ein fhrung der Boxhandschuhe, die als Domestizierung des Kampfes galten, gingen vernderte Anforderungen an Technik und Taktik sowie eine Beschleunigung der Bewegungen einher. Vgl. Luckas, „So lange du stehen kannst“, S. 27. Heute sind bei Titelkmpfen nicht mehr fnfzehn, sondern zwçlf Runden obligatorisch. 42 Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 691. 43 Musil, Durch die Brille des Sports, GW II, S. 795. 44 Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 690 f. Vgl. dazu auch folgende Be merkung aus dem Nachlass: „Das Dumm sein drfen ist berhaupt ein Reiz des Sports; aber es ist nur Klugen zutrglich.“ (Musil, Nachlass, Mappe III/4/16.)

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Das spielerische Moment des Sports bedeutet eine Befreiung, die der gesellschaftliche Verkehr zumal dem brgerlichen Menschen nicht erlaubt. Daher erscheint es auch ,verrckt‘, ihn zu einer Berufsttigkeit zu erheben. Mit dieser Betonung der Ungeistigkeit rckt Musils Sportbetrachtung in die Nhe von Simmels Soziologie der Geselligkeit (1910): Das Befreiende und Erleichternde aber, das gerade der tiefere Mensch in der Geselligkeit findet, ist: daß das Zusammensein und der Einwirkungstausch, in denen die ganzen Aufgaben und die ganze Schwere des Lebens sich vollzieht, hier in gleichsam artistischem Spiel genossen werden, in jener gleichzeitigen Sublimierung und Verdnnung, in der die inhaltbegabten Krfte der Wirklichkeit nur noch wie aus der Ferne anklingen, ihre Schwere in einen Reiz verflchtigend.45

Diesen Reiz des Flchtigen besitzt fr Musil auch der Sport, ein Reiz, der seiner Geistesabwesenheit vorausgeht. Statt im Sport den Ernst des Lebens zu beschwçren, soll er Spiel bleiben, der sthetisch genossen wird.46 Dieser Genuss stellt sich nur fr Augenblicke ein und wird durch zu starke Leidenschaften nicht befçrdert, sondern gestçrt. Auch daher erscheint der Zuschauersport als Verkehrung des von Musil intendierten Erlebnisses. Denn ihm geht es darum, im sportlichen Erleben einen Schwebezustand zu realisieren, der an den Kçrper als „Zaubersack“ gebunden ist, der Hingabe und Ausdauer verlangt: Man erwirbt Bekanntschaft mit den Fehlleistungen, welche der wahrnehmbaren Mdigkeit voranschleichen; man lernt das eigentmliche Schweben zwischen zuviel und zuwenig Fleiß kennen, die beide schdlich sind, den gewçhnlich ungnstigen Einfluß der Affekte auf die Leistung und andererseits die beinahe mirakulçse Natur des besonders guten Gelingens, wo der Erfolg sozusagen schon vor der Anstrengung da ist.47

Das „Wunder“ des gelingenden, nicht voraussehbaren Augenblicks liegt Musils sportlicher Faszination zugrunde und steht dem scharf kritisierten Geist des Sports entgegen. Dieser Augenblick kann nur individuell erlebt werden. Wie Rausch- oder Entrckungserfahrungen lsst er sich nicht – und schon gar nicht massenhaft – organisieren.48 In der Balance von

45 46 47 48

Dass Musil das sthetische Erleben in den Mittelpunkt rckt, unterscheidet ihn maßgeblich von der erklrten Sportfeindschaft der Frankfurter Schule. Simmel, Soziologie der Geselligkeit, S. 193. Zum Widerspruch zwischen brgerlicher Professionalisierung des Sports und dem Ideal der Zweckfreiheit vgl. auch Mller, „Bizepsaristokraten“, S. 41 f. Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 689 f. Vgl. dazu auch Volker Caysa: Stufen der Rauschinszenierung im Sport, in: Sport Inszenierung Ereignis Kunst, hg. vom Forum der Muthesius Hochschule, Kiel 2004, S. 138 149.

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zuviel und zuwenig Fleiß, von Anstrengung und Loslassen kndigt sich jenes „eigentmliche Schweben“ an, das sich nur schwer fassen lsst und dessen Wirkung verblasst, wenn es inhaltlich zu sehr aufgeladen wird. Dieser Schwebezustand charakterisiert nicht nur das sportliche Erlebnis, sondern auch das essayistische Denken, das Musil im Mann ohne Eigenschaften als „Bewegung der Bewegten“ umschrieben hat.49

3. Sport und Mode Bereits der erste Satz des Tennis-Essays thematisiert das allmhliche Sichtbarwerden des Kçrpers im Sport: „Als Papa Tennis lernte, reichte das Kleid Mamas bis zu den Fußknçcheln.“50 Die Zeitform der Vergangenheit verdeutlicht, dass das Tennisspiel mehr in Bewegung gebracht hat, als es der Satz im ersten Moment verrt. Den Leserinnen und Lesern von 1931 stehen nicht nur die mit der Zeit immer krzer gewordenen Rçcke vor Augen, sondern auch die beginnende Emanzipation der Frauen, die sich in Sport und Mode ausdrckt. Der Auftakt des Essays inszeniert damit den Auftakt jener gesellschaftlichen Modernisierungsbewegung, die zum einen vom Sichtbarwerden zur Zurschaustellung des bewegten Kçrpers reicht, wie sie sich auch im modernen Tanz, der Freikçrperkultur oder im Kino zeigt. Zum anderen impliziert er einen Wandel der Geschlechterordnung, der untrennbar mit den Moderne-Diskussionen des ausgehenden 19. Jahrhunderts verbunden ist. Die Zeitgenossenschaft des essayistischen Ich – im Gewand des erzhlenden Vaters, der sich an seine fiktiven Kinder richtet – konstituiert sich damit im Rckblick als Wechsel der Moden, als Kontinuitt des Wandels, die als wesentliches Merkmal der Moderne gelten kann.51

49 Vgl. Musil, MoE, S. 254. 50 Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 685. 51 Vgl. Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, S. 226; vgl. dazu auch Julia Bertschik: Mode und Moderne. Kleidung als Spiegel des Zeitgeistes in der deutschsprachigen Literatur (1770 1945), Kçln, Weimar, Wien 2005, S. 7 17; mit Bezug auf Musil vgl. Thomas Hake: „Gefhlserkenntnisse und Denker schtterungen“. Robert Musils Nachlaß zu Lebzeiten, Bielefeld 1998, S. 344. Die Bedeutung des Wechsels wird zudem im Spiel mit der Perspektive des Essays thematisch, da zunchst der Eindruck entsteht, dass der Text aus der Perspektive der fiktiven Kinder verfasst ist, wie es auch die berschrift nahe legt.

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Als Paar sind die Eltern durch die klassische Zuweisung eines aktiven und eines passiven Parts charakterisiert. So wird „Papa“ handelnd eingefhrt, whrend „Mama“ durch ihr Kleid vertreten wird, das die Frau zunchst als am Geschehen Unbeteiligte zeigt. Sie ist aber auf dem sich erçffnenden Schauplatz des Textes immerhin schon anwesend, sie ist mçglicherweise die erste, die „Papa“ beim Tennis zuschaut. Damit weist Musil darauf hin, dass Frauen Ende des 19. Jahrhunderts zunchst vor allem als Ehefrauen oder Tçchter Zugang zum Sport erhalten, ein Zugang, der ihnen – wie die Geschichte des Tennis deutlich zeigt – neue Bewegungsspielrume erçffnet hat.52 Die Vernderungen der Mode um die Jahrhundertwende, insbesondere die der Damenmode, hingen unmittelbar mit den Anforderungen zusammen, die der Sport an die Bekleidung richtete.53 So eroberten die Frauen der brgerlichen Schichten seit Ende des 19. Jahrhunderts das Fahrrad und den Tennisplatz. Das Radfahren fhrte zu einer ersten Anpassung der weiblichen Bekleidung, indem sich die Rocksume hoben und die Beine gefahrfreie Bewegung erhielten.54 Diese Vernderung war von aufgeregten moralischen Diskussionen begleitet, denn bis dahin waren nur die Beine von Tnzerinnen oder Unterhaltungsknstlerinnen sichtbar gewesen.55 Die neue, sportlichere Mode wurde als Symbol fr den grundstzlich erweiterten Aktionsradius der Frauen betrachtet. Mit der Mode stand daher auch die Geschlechterfrage auf der Agenda. Auch in Als Papa Tennis lernte gert die zu Beginn deutlich ausgestellte Geschlechterdifferenz mit dem Sport in Bewegung. Das zweiteilige Kleid der Mutter besteht aus einem Glockenrock, einem Grtel und einer Bluse, die „einen hohen, engen Umlegekragen hatte als Zeichen einer Gesinnung, die bereits anfing, sich von den Fesseln zu befreien, die dem Weibe auferlegt sind.“56 Der vergleichsweise schlichte Glockenrock war 52 Vgl. Eisenberg, „English Sports“, S. 50; zur Geschichte des Tennis vgl. Heiner Gillmeister: Kulturgeschichte des Tennis, Mnchen 1990. 53 Der Sport hat die Mode im engeren Sinne wahrscheinlich wie kein anderer Faktor beeinflusst und verndert, ein Prozess, der bis heute nicht abgeschlossen ist. Vgl. dazu in Anstzen Gabriele Splett: Sport und Mode. Eine Untersuchung ber den Zusammenhang zwischen Kçrperlichkeit und Bekleidung unter be sonderer Bercksichtigung der weiblichen Kçrperproblematik, Mnster, Ham burg 1993. 54 Vgl. Bertschik, Mode und Moderne, S. 111 117. 55 Vgl. Anne Fleig: Sinnliche Maschinen. Reprsentationsformen der Beine in der Moderne, in: Claudia Benthien/Christoph Wulf (Hrsg.): Kçrperteile. Eine kul turelle Anatomie, Reinbek 2001, S. 484 499, hier S. 490. 56 Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 685.

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im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts en vogue und markierte – an den Hften glatt anliegend und in glockiger Weite zu Boden fallend – den Abschied von Stoffdrapierungen, Raffungen und Polsterungen.57 Er wurde wie bei Musil, aber etwa auch in den Tennisdarstellungen von Max Liebermann (1847 – 1935) deutlich wird, gerne von Frauen beim Tennis getragen, denn der weite Rock garantierte Bewegungsfreiheit. Dennoch verlangt auch der Glockenrock, wie der Hinweis auf den Grtel deutlich macht, nach einem Schnrmieder. Der Verzicht auf die Faltungen am Rock wird dagegen durch den Kragen der Bluse unterstrichen. Denn der hohe Kragen ist ein mnnlich konnotiertes Accessoire, das aus der Tradition der Uniform stammt. So hlt der Aufzug der Mutter gekonnt die Balance zwischen Aufbruch und Traditionsbewusstsein. Darber hinaus ist der hohe Kragen ein Zeichen vornehmer Kultiviertheit, den auch der Vater beim Tennis trgt, obwohl er ihn „am Atmen hinderte“.58 In einer spten Tagebuchnotiz hat Musil diesen Stehkragen als groteskes Zeichen der Mode um 1900 gedeutet, die das Gesicht vom Kçrper isolierte.59 Dagegen wurde der flache Umlegekragen, wie Musil abschtzig vermerkt, von „Turnern, Moralisten u. .“ getragen. „Er hatte den demonstrativen Charakter der natrlichen Lebensweise, Schlichtheit, Ablehnung des gesellschaftlich Vornehmen, u. nicht den des sportlichen Schicks. Der Formeinfall hat ihm noch gefehlt. Er ist dem des flachen umgelegten Kinderkragens nachgebildet gewesen.“60 Damit erscheint der Stehkragen als Symbol fr Musils ambivalente Beurteilung der Moderne: der hohe

57 Vgl. Uta Bernsmeier: Im Gewand der Zeit. Moden der Jahrhundertwenden 1800 1900 2000, Katalog zur Ausstellung im Bremer Focke Museum Bremen 26. November 2000 bis 18. Februar 2001, Bremen 2000, S. 61. 58 Vgl. Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 685. Auch der Mediziner Robert Hessen kritisierte, dass der hohe Stehkragen beim Tennis getragen wurde, und sah darin eine Konvention, die auf „Zurckgebliebenheit“ deute und in England undenkbar sei. Vgl. Hessen, Der Sport, S. 47. Auch Der Querschnitt ging spter dem hohen Kragen nach. Vgl. Ernst Lorsy: Der Mann, der den Stehumlege kragen erfand, in: Der Querschnitt 12 (1932), H. 2, S. 142/43. 59 Vgl. Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 925. 60 Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 925 f. Musil rckt den flachen Umlegekragen der Turner hier in den Kontext der Reformbewegungen der Jahrhundertwende. Thomas Mann erinnert sich in Meine Zeit daran, dass er den Turnunterricht der 1880er Jahre „unglaublicherweise“ im „steifen Kragen und womçglich mit ge steifter Hemdbrust“ absolvierte. Vgl. Thomas Mann: Meine Zeit, in: ders: Gesammelte Werke, Bd. 11(= Reden und Aufstze, 3), Frankfurt/Main 1990, S. 302 324, hier S. 309.

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Kragen ist unpraktisch, bewahrt aber gegenber einer Mode, die auch Kinder tragen kçnnten, demonstrativ Haltung. Aufbruchsstimmung und Beharrlichkeit bestehender Konventionen zeigen sich in Als Papa Tennis lernte noch bis zum Grund des elterlichen Schuhwerks: „An den Fßen schleppten beide nicht selten hohe braune Lederschuhe mit zolldicken Gummisohlen, und ob Mama außerdem noch ein Korsett zu tragen htte, das bis an die Achselhçhlen reichte, oder sich mit einem krzeren begngen drfte, war damals eine umstrittene Frage.“61 Vor dem Hintergrund der Ersten Frauenbewegung galten Sport und Mode als Gradmesser der Emanzipation der Frauen und der sich wandelnden Geschlechterverhltnisse. Gleichzeitig machten diese gesellschaftlichen Vernderungen den Kçrper auch in der Geschlechterfrage zum Austragungsort und Schauplatz der Modernisierung. Whrend die Mode seit dem 19. Jahrhundert ,weiblich‘ konnotiert war,62 galt der Sport nicht zuletzt aufgrund seiner hçfisch-militrischen Tradition als ,mnnliches‘ Bettigungsfeld. Diese Zuschreibung wurde 61 Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 685 f. Musil bezieht sich hier auf die Auseinandersetzungen um die ,Reformmode‘, die im Zuge von Frauenbewegung auf der einen und Lebensreformbewegung auf der anderen Seite ein viel und kontrovers diskutiertes Thema darstellte. Whrend standesbewusste Ratgeber wie das bekannte Brevier der Damen den Frauen rieten, noch im Neglig nicht auf das Korsett zu verzichten, warnten rzte um 1900 energisch vor den gesundheits schdigenden Folgen des Schnrmieders. Vgl. Bernsmeier, Im Gewand der Zeit, S. 63 f. Die Frauenbewegung wiederum sah in der Befreiung vom Korsett dar ber hinaus eine Zugangsmçglichkeit zu mnnlich bestimmten Ttigkeitsfeldern im Berufsleben ebenso wie auf Reisen mit Bus oder Bahn und damit auch eine Demonstration der Unabhngigkeit von den familiren bzw. sexuellen Aufgaben der Frauen, die die Kleidung mit ihrer Betonung von Hft und Brustbereich bis dato deutlich akzentuierte. Vgl. Hollander, Anzug und Eros, Kapitel ,Moderne‘, hier bes. S. 197 225; vgl. auch Emanuela Veronica Fanelli: Die Frau gestern und morgen. Anamnese und Diagnose eines aktuellen Ph nomens, in: Marie Louise Roth (Hrsg.): Neue Anstze zur Robert Musil For schung, Bern, Berlin, Frankfurt/Main 1999, S. 137 194, hier S. 143. 62 Die Anfnge der Mode liegen im spten Mittelalter, als Mitglieder der hçfischen Gesellschaft begannen, sich durch ihre Kleidung stndisch zu unterscheiden. Seit dem 16. Jahrhundert dient die Kleidermode Aristokraten und Brgern außerdem dazu, sich individuell abzugrenzen. Deutlich ausgeprgt findet sich diese Struktur und mit ihr der Wunsch nach unverwechselbarem, individuellem Ausdruck im verbrgerlichten 19. Jahrhundert, in dem auch die Haute Couture entsteht. Mit ihr beginnt die Mode im engeren Sinn, die zugleich geschlechtsspezifisch deut lich unterschieden ist. Vgl. dazu Gertrud Lehnert: Mode, Weiblichkeit und Modernitt, in: dies. (Hrsg.): Mode, Weiblichkeit und Modernitt, Dortmund 1998, S. 7 19, hier S. 9 12.

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durch die zunehmende Leistungsorientierung im Sport noch unterstrichen. So mehrten sich in den zwanziger Jahren im Zuge der Verbreitung des Sports und der betont sportlichen Mode die Stimmen, die die Vermnnlichung der Frauen spçttisch beugten oder vehement kritisierten. Diese Debatte schlgt sich auch in Musils Texten nieder, der sich mit Modefragen eingehend befasst hat.63 Die Nivellierung der Geschlechterdifferenz durch den Sport klingt etwa in Der bedrohte dipus (1931) an, wobei die Sportmode hier in ironischer Wendung dazu dient, ein zentrales Argumentationsmuster der Psychoanalyse zu trivialisieren.64 Die çdipale Vorstellung, in den Schoß der Mutter zurckzukehren, wird als Mnnerphantasie vorgefhrt, der zufolge die Falten der Kleider und Rçcke ein „geheimnisvolles Nest“ bilden. Auch die Psychoanalyse ist damit nur eine Frage der Mode und kein komplexes System der Weltdeutung: In diesem Sinn stammen die grundlegenden Erlebnisse der Psychoanalyse bestimmt von der Kleidung der siebziger und achtziger Jahre ab, und nicht vom Skikostm. Und nun gar bei Betrachtung im Badetrikot: wo ist heute der Schoß? Wenn ich mir die psychoanalytische Sehnsucht, embryonal zu ihm zurckzufinden, an den laufenden und crawlenden Mdchen- und Frauenkçrpern vorzustellen versuche, die heute an der Reihe sind, so sehe ich, bei aller Anerkennung ihrer eigenartigen Schçnheit, nicht ein, warum die nchste Generation nicht ebensogern in den Schoß des Vaters wird zurckwollen.65

Der Sport hat aber nicht nur die Mode im engeren Sinne beeinflusst, der Ausdruck ,Sportmode‘ impliziert auch, dass der Sport seit der Jahrhundertwende selbst zur Mode geworden ist. So lassen sich die wesentlichen

63 Sport und Mode sind die beiden Bereiche des alltglichen Lebens, die Musils besonderes Interesse gefunden haben. Modefragen beschftigen ihn schon in seinen frhen Essays Erinnerung an eine Mode und Penthesileiade (beide 1912), dem spteren Essay Die Frau gestern und morgen (1929) und den etwa zeitgleich entstandenen Fragmenten F.F.Bl./Frauenlob (1927 oder spter) und Mode (um 1930?) sowie einigen Texten aus dem Nachlaß zu Lebzeiten (1935) wie Trirdere, Tren und Tore, Kunstjubilum, Der bedrohte dipus und Eine Geschichte aus drei Jahrhunderten. 64 Vgl. Robert Musil: Der bedrohte dipus [1931], GW II, S. 530. Der Text erschien 1931 zuerst in Der Querschnitt und wurde von Musil leicht bearbeitet in den Nachlaß zu Lebzeiten (1935) aufgenommen. 65 Musil, Der bedrohte dipus, GW II, S. 530. Und er stellt die ironische Frage, ob dann die Psychoanalyse ihre „segensreiche Wirkung“ wird einstellen mssen. (Ebd.)

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Merkmale der Mode, die Simmel in seinem Essay Die Mode (1911) herausgestellt hat, auf die Mode des Sports bertragen. Die Mode wird Simmel zufolge durch einen zentralen Widerspruch bestimmt. Sie erlaubt es den Menschen, sich im allgemeinen Verhalten aufgehoben zu fhlen, ermçglicht es ihnen aber gleichzeitig, sich von den anderen zu unterscheiden: „So ist die Mode nichts anderes als eine besondere unter den vielen Lebensformen, durch die man die Tendenz nach sozialer Egalisierung mit der nach individueller Unterschiedenheit und Abwechslung in einem einheitlichen Tun zusammenfhrt.“66 Was die Einzelnen scheidet, verbindet sie zugleich. Mit anderen Worten: Das Individuum macht, was die anderen machen, um anders zu sein.67 Die Spannung zwischen Anpassung und Unterscheidung bewahrt die Mode, Simmel zufolge, durch den Wechsel ihrer Inhalte und durch ihren Klassencharakter, der dazu fhrt, dass Moden von den hçheren Schichten aufgegeben werden, sobald sich eine sozial tiefer stehende Schicht ihrer annimmt. Dieses Prinzip der Mode zeigt sich nicht nur an der Wahl der Garderobe, sondern auch in anderen Bereichen modernen Konsums wie der Wahl von Ferienorten oder Sportarten. Dieses Phnomen hat Musil in verschiedenen Texten erçrtert. Whrend um 1900 das Tennisspiel zur Mode wird, machen sich nach dem Ersten Weltkrieg, wie er in seinem Essay Als Papa Tennis lernte zeigt, Sportarten wie Fußball oder Boxen strker bemerkbar. Dass die ehemals fhrenden Kreise im gesellschaftlichen Leben der Zwischenkriegszeit nicht mehr tonangebend sind, wird nicht zuletzt an ihrer beinah altmodischen Sportbekleidung sichtbar.68 Insgesamt bedeutet der Erfolg einer Mode zugleich ihr Ende, denn irgendwann ist der Punkt erreicht, wo sie keine spezifische Lebensform mehr, sondern, so Simmel, eine alltgliche Erscheinung ist. Der Mode ist dadurch der Selbstwiderspruch eingeschrieben, auf Verbreitung zu zielen und sich damit selber zu zerstçren: Jedes Wachstum ihrer treibt sie ihrem Ende zu, weil eben dies die Unterschiedlichkeit aufhebt. Sie gehçrt damit dem Typus von Erscheinungen an, deren Intention auf immer schrankenlosere Verbreitung, immer vollkommenere Realisierung geht aber mit der Erreichung dieses absoluten Zieles in Selbstwiderspruch und Vernichtung fallen wrde.69 66 Simmel, Die Mode, S. 189. 67 Vgl. Elena Esposito: Die Verbindlichkeit des Vorbergehenden: Paradoxien der Mode, Frankfurt/Main 2004, S. 13 68 Vgl. Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 686 f. 69 Simmel, Die Mode, S. 196.

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Die Macht der Mode, die vor allem soziale Bedrfnisse erfllt, zeigt sich fr Simmel daran, dass sie als Form gleichgltig gegenber den praktischen Anforderungen des Lebens ist.70 In diesem Sinne ist die Mode abstrakt. Ihr sthetischer Reiz ergibt sich gerade aus dem Abstand zur inhaltlichen Bedeutung und Verwendung der Dinge.71 Wie Musil – in bereinstimmung mit Simmels Bestimmung der Mode – in seinem Fragment Mode (um 1930) am Beispiel der kurzen Frauenrçcke analysiert, ist das Argument des Praktischen hçchstens selbst Teil der modischen Form, das sie propagiert: Daß diese kniefreien Rçcke praktisch waren, hat nicht gehindert, daß sie sich seither wieder ins Unpraktische verlngerten, und alles was man von der Bewegungsfreiheit der neuen ttigen Frau schrieb u[nd] sprach, war nur Zeitgeklapper: in Wahrheit spielt das Praktische in der Mode eine ebenso untergeordnete Rolle wie das Schçne, und nichts steht dafr gut, daß wir nicht noch einmal Vatermçrder und Schnrstiefel tragen werden.72

Auch fr den Sport gilt also, dass praktische Argumente fr dessen Ausbung nur seiner Rechtfertigung dienen, sein eigentlicher Reiz aber auf der Ebene des sthetischen liegt. So heißt es ber sportliche Tugenden wie „Mut, Ausdauer, Ruhe, Sicherheit“ in Als Papa Tennis lernte ironisch:73 „Und obwohl man alles das auch bei anderen Gelegenheiten, etwa beim Kartoffelgraben, kennenlernen kann, so faßt es der Sport doch in einer beraus zugnglichen und reizvollen Weise zusammen […].“74 Die Analogie zwischen Sport und Mode bedeutet aber auch eine Gefahr, da der Mode die Tendenz zur Nivellierung inhrent ist. Wo der Sport als Mode erscheint, bedeutet das Kritik am ,modischen‘ Sportdiskurs. In dem Fragment gebliebenen Text Durch die Brille des Sports (1925/26 oder spter) wird dieser Zusammenhang besonders deutlich: Der Sport ist bei uns ungefhr zur gleichen Zeit Mode geworden wie die große Hornbrille. Ich will nichts gegen die Hornbrille sagen, sie ist kleidsam, hat dadurch Unzhligen den Mut zu ihrer Kurz- oder Weitsichtigkeit gegeben und verleiht ihren Trgern eine gewisse Liebe zur Intelligenz, was nach Platon der erste Schritt zu deren Erwerb ist.75 70 Vgl. Simmel, Die Mode, S. 190. 71 Vgl. David P. Frisby: Georg Simmels Theorie der Moderne, in: Heinz Jrgen Dahme/Otthein Rammstedt (Hrsg.): Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen und Materialien, Frankfurt/Main 1995, S. 9 79, hier S. 62. 72 Musil, Mode, GW II, S. 806. 73 Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 689. 74 Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 690. 75 Musil, Durch die Brille des Sports, GW II, S. 792.

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Durch diese Engfhrung bringt das essayistische Ich zum Ausdruck, dass der professionelle Sport und die Hornbrille Erscheinungen einer Zeit sind, in denen sich ,Geist‘ in modischen Accessoires zeigt, whrend umgekehrt dem Sport die wrdigen Qualitten der Brille zugeschrieben werden, zu denen Durchblick, Hellsichtigkeit und andere geistige Tugenden zhlen. Ich will ja aber auch gar nichts gegen den Sport sagen; die folgenden Bemerkungen sollen im Gegenteil einem gewissen Zusammenhang zwischen Sport und Brille dienen und verstehen lassen, daß sich der Sport heute bei uns schon der Wrde der Brille nhert. (Whrend er sich auf der anderen Seite fest im Ernst des Geschfts verankert.)76

Die Verknpfung von Sportmode und Hornbrille ist als Kritik an einer Zeit zu verstehen, die bedenkenlos vom ,Geist‘ des Sports spricht und ihm eine erzieherische Funktion beimisst, ohne seine befreiende Wirkung zu beachten. Auch Kracauers Essay Sie sporten stellt Sportmode, ,Sportsgeist‘ und Hornbrille in einen vergleichbaren Zusammenhang: „Der erst achtzehnjhrige Tanzsportler H. verzieht whrend der Ausbung des Charlestons niemals den Mund zum Lcheln. […] Er lebt unter einer Hornbrille seinem Beruf. Was haben die Menschen frher gemacht?“77 Musils ironische Wendung von der „Wrde der Brille“ verdeutlicht, dass die Mode des Sports die brgerliche Kultur verrt, weil sie sich Geist wie eine Brille aufsetzt. Dies lastet der Text aber nicht dem Sport an, sondern der mangelnden Einsicht der Menschen in die Mçglichkeiten individuellen, sthetischen Erlebens, die Musils Interesse am Sport begrnden. Seine Kritik der Sportmode zielt darauf, dass die Menschen sich lediglich in das Gewand des Sports hllen, ohne selbst sportlich zu sein oder Erfllung im Sport zu suchen – analog zur Hornbrille, die auch nur Intelligenz ,verleiht‘.

4. Tennis als Koketterie und Abenteuer Der erste Satz des Essays – „Als Papa Tennis lernte, reichte das Kleid Mamas bis zu den Fußknçcheln.“78 – ist nicht nur in Hinblick auf den Wechsel der Moden aufschlussreich, der die Figur des Weiblichen ins Spiel bringt. Indem der Blick vom Tennis spielenden „Papa“ auf die 76 Musil, Durch die Brille des Sports, GW II, S. 792. 77 Kracauer, Sie sporten, S. 15. 78 Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 685.

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verhllten Frauenbeine fllt, vollzieht der Einstieg darber hinaus einen unerwarteten Richtungswechsel. Dadurch bleibt das Zentrum des Satzes in der Schwebe. Zwar scheint Papa im Tennisspiel – wie zumal der Titel des Essays deutlich macht – die Hauptperson zu sein, das Subjekt des ersten Hauptsatzes aber bildet das Kleid Mamas. Die Perspektive des Textes ist damit vom ersten Moment an durch eine Bewegung charakterisiert, die sich als Blickwechsel konstituiert, der einen Kleiderwechsel ebenso wie einen Ballwechsel nach sich ziehen kçnnte. Damit rekurriert der Text auf die Begegnung der Geschlechter im sportlichen Spiel, das vçllig neue Umgangsformen erlaubte, die wesentlich zum Reiz des Tennis beigetragen haben drften. So konnten sich junge Frauen und Mnner in der aus Amerika und Großbritannien importierten Kunst des Flirts ben, die eine in der brgerlichen Gesellschaft nur selten gegebene Gelegenheit zu relativ zwanglosem, nherem Kennenlernen bedeutete.79 Musil bezeichnet das Tennisspiel vor diesem Hintergrund als „Abenteuer“,80 als dessen Grundform Simmel zufolge das erotische Abenteuer gelten kann.81 Die Geselligkeit im Sport ermçglichte durch ihren spielerischen Charakter eine Form der Vergesellschaftung, die die Balance zwischen gesellschaftlichen und individuellen Anforderungen hielt: „Das Gesellschaftsspiel hat den tieferen Doppelsinn, daß es nicht nur in einer Gesellschaft als seinem ußeren Trger gespielt wird, sondern daß mit ihm tatschlich ,Gesellschaft‘ ,gespielt‘ wird.“82 Ihm entspricht, so Simmel, auf der Ebene der Geschlechterverhltnisse die Koketterie, deren Spiel sich hufig innerhalb dieser Geselligkeit vollziehe.83 Tatschlich lsst sich

79 Vgl. Eisenberg, „English Sports“, S. 201; Mller, „Bizepsaristokraten“, S. 94. 80 Vgl. Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 686. 81 Vgl. Georg Simmel: Das Abenteuer, in: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais [1911] (= Georg Simmel Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt, Bd. 14, Frankfurt/Main 1996, S. 159 459), S. 168 185, hier S. 177. Der Text erschien erstmals unter dem Titel „Philosophie des Abenteuers“ am 7./8. Juni 1910 in Der Tag. Vgl. Georg Simmel: Philosophie des Abenteuers, in: Georg Simmel Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt, Bd.12, Frankfurt/Main 2001, S. 97 110; vgl. zum „Abenteurer“ in Simmels Soziologie auch S. 507. 82 Georg Simmel: Soziologie der Geselligkeit [1910], in: Georg Simmel Gesamt ausgabe, hg. von Otthein Rammstedt, Bd.12, Frankfurt/Main 2001, S. 177 193, hier S. 185. 83 Vgl. Simmel, Soziologie der Geselligkeit, S. 185 f.

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Simmels Essay ber Die Koketterie als Beschreibung – wenn nicht gar Anleitung – des Tennisspiels verstehen.84 Simmel bestimmt die Koketterie durch die „Gleichzeitigkeit von Entgegenkommen und Versagen“, durch „Geben und Nichtgeben“, die sie gegeneinander spannt, indem sie sie „wie mit einem Schlage“ fhlbar werden lsst.85 Der Koketterie ist der Blick aus dem Augenwinkel heraus, mit halbabgewandtem Kopfe, charakteristisch. In ihm liegt ein Sich-Abwenden, mit dem doch zugleich ein flchtiges Sich-Geben verbunden ist, ein momentanes Richten der Aufmerksamkeit auf den Anderen, dem man sich in demselben Momente durch die andere Richtung von Kopf und Kçrper symbolisch versagt. Dieser Blick kann physiologisch nie lnger als wenige Sekunden dauern, so daß in seiner Zuwendung schon seine Wegwendung wie etwas Unvermeidliches prformiert ist.86

Als flchtigem Blickwechsel im Spiel mit dem Gegenber ist der Koketterie die Bewegung der Kçrper eingeschrieben, die sich auf den Ballwechsel bertragen lsst.87 Dem entspricht auch das Tempo der Bewegung, die bereits aus physiologischen Grnden die Aufmerksamkeit begrenzt. Diese Bewegung hat Simmel sogar noch przisiert: In derselben Oberschicht koketter Effekte liegt das Wiegen und Drehen in den Hften, der ,schwnzelnde‘ Gang. Nicht nur, weil er durch die Bewegung der sexuell anregenden Kçrperteile sie anschaulich betont, whrend zugleich doch Distanz und Reserve tatschlich besteht sondern weil dieser Gang das Zuwenden und Abwenden in der spielenden Rhythmik fortwhrender Alternierung versinnlicht.88

Diese rhythmische „Alternierung“ kann auch als Bewegung des Tennisspiels entziffert werden. Darber hinaus macht sie als sexuell anregende Bewegung das Tennis zum erotischen Geschlechterspiel, ein Aspekt, den auch Musil deutlich akzentuiert hat. So heißt es zu Beginn des Fragment gebliebenen Textes Randglossen zu Tennispltzen (1925/26 oder spter): 84 Vgl. Georg Simmel: Die Koketterie, in: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais [1911] (= Georg Simmel Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt, Bd. 14, Frankfurt/Main 1996, S. 159 459), S. 256 277. Der Text erschien erstmals unter dem Titel „Psychologie der Koketterie“ am 11./12. Mai 1909 in Der Tag. Vgl. Georg Simmel: Psychologie der Koketterie, in: Georg Simmel Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt, Bd.12, Frankfurt/Main 2001, S. 37 50; vgl. dazu auch S. 500 f. 85 Simmel, Die Koketterie, S. 257. 86 Simmel, Die Koketterie, S. 257 f. 87 Vgl. auch Eisenberg, „English Sports“, S. 201. 88 Simmel, Die Koketterie, S. 258.

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Wie lange mag es her sein, daß dieser Sport sich einzubrgern begann? Vielleicht 25 Jahre. Damals galt es fr etwas sehr Gewagtes, daß die jungen Mdchen stundenlang allein mit den jungen Mnnern spielten. Die jungen Mnner waren in Hemdsrmeln, manche trugen sogar keine Krawatte und erlaubten sich den obersten Hemdknopf zu çffnen, so daß man nicht sicher war auf den Anblick von Brusthaaren zu stoßen. Die jungen Mdchen behaupteten, daß man im Mieder schlecht spiele, weigerten sich, mehr als einen Unterrock zu tragen und behaupteten in ihrem Eifer, daß ihre Gegner auf den Ball achten wrden, aber nicht auf ihre beim Lauf schwankenden Brste.89

Doch die „Gegner“ achteten keineswegs nur auf den Ball. Auch Hessen erçrterte „das Phnomen des Baumelns oder Schlenkerns“ der Brste, „das wir als unschçn empfinden, abgesehen davon, daß es den Betroffenen hçchst lstig ist.“90 Der Mediziner empfahl den Mdchen, frh mit der bung zu beginnen, um die „muskulçse Unterlage“ der Brste zu strken, da sich sonst „eigentlich nur magere Tennisspielerinnen das Vorspringen zum Netz gestatten“ drften.91 Tibor Dry verglich „Mdchenbrste mit Tennisbllen“.92 Und Simmel schien es „sozusagen eine optische Unvermeidlichkeit“, dass sich „die Gleichzeitigkeit des Ja und des Nein, die Formel der Koketterie“93 in der Bekleidung spiegelt. Musil hat schließlich die sportliche Bewegung als Enthllung des weiblichen Kçrpers betrachtet: berhaupt kommt der unsportliche Beobachter beim Spiel der Damen zu lohnenden Eindrcken. Diese heftigen Bewegungen, welche ein scharfer Schlag, gespannte Aufmerksamkeit u. rascher Start der Beine hervorrufen entkleiden den Kçrper sozusagen durch Betonung seiner Kinetik und Vorfhrung seiner anatomischen Funktion. […] Dennoch ist die Dezenz der Kleidung fast ebenso stark, und das Kompromiß, welches entsteht, ist voll spannender Andeutung und das Herz qulender Verschleierung.94

Die ,spannende Andeutung‘, die aus dem Wechselspiel von Enthllung und Verhllung resultiert, vermag die Aufmerksamkeit noch zu steigern und entspricht der Wirkung der Koketterie. Auch der Essay Als Papa Tennis lernte hatte schon im ersten Satz das Spiel der Geschlechter thematisiert und ihre wechselseitige Bezugnahme kokett in Szene gesetzt. 89 Musil, Randglossen zu Tennispltzen, GW II, S. 795. 90 Hessen, Der Sport, S. 60. 91 Hessen, Der Sport, S. 60 f. Das Spiel im Korsett lehnte er hingegen als „un sportmßig“ ab. Vgl. Hessen, Der Sport, S. 61. 92 Dry, Zur freundlichen Erinnerung, S. 388. 93 Simmel, Die Koketterie, S. 260. 94 Musil, Randglossen zu Tennispltzen, GW II, S. 796.

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Denn die spielerische Wechselwirkung macht, so Simmel, den Reiz der Koketterie aus, indem die „Passivitt des Hinnehmens“ und die „Aktivitt des Erringens“ eine Einheit bilden.95 Der Koketterie eignet das „Cachet des Vorlufigen, des Schwebens und Schwankens“,96 die „Chance des Vielleicht“,97 die von der „Schwere einer Entscheidung“ entlastet und auf den Augenblick bezogen ist.98 Diese „Chance des Vielleicht“, die das Spiel oder den Gedanken in einem gespannten Schlag zusammenfasst, bildet nicht nur den Reiz des Sports, sondern auch die Methode der essayistischen Erkenntnis, die ihre Aufmerksamkeit im Wechselspiel verschiedener Alltagserscheinungen und der Wissenschaften bndelt.99 Dabei zeigt sich der bestndige Wechsel zwischen Ja und Nein, der die Koketterie prgt und den „Charakter der Gleichzeitigkeit“ trgt, gerade im alltglichen Leben, weil hinter jeder Entscheidung die jeweils andere als Mçglichkeit aufscheint.100 Dieses Denken der Mçglichkeit bildet das Denken des Essayismus, das in deutlicher Anspielung auf Simmel auch Musils Protagonisten Ulrich auszeichnet.101 Kann Simmels Koketterie-Essay als poetologische Selbstreflexion des Essayismus verstanden werden, der Nbel zufolge bereits zentrale Elemente der Essaytheorien von Georg Luk cs, Max Bense und Theodor W. Adorno antizipiert,102 gilt umgekehrt fr Musils Schilderungen des Tennisspiels, dass sie im Rekurs auf die Koketterie eine Selbstreflexion des Essays ermçglichen, die seinem Interesse am Sport korrespondiert. Auch die Charakterisierung des elterlichen Tennis als „Abenteuer“ kann in diesem Zusammenhang als Hinweis auf den Simmelschen Essayismus gelesen werden, der selbst mit der Bewegung des Tennis spielt. Es ist die Form, in der die Unentschiedenheit des Lebens zu einem ganz positiven Verhalten kristallisiert ist, und die aus dieser Not zwar keine Tu95 96 97 98 99

Simmel, Die Koketterie, S. 267. Simmel, Die Koketterie, S. 268. Simmel, Die Koketterie, S. 267. Vgl. Simmel, Die Koketterie, S. 271. Birgit Nbel hat das kokette Spiel mit Wirklichkeit und Mçglichkeit als Er kenntnismethode des Essays charakterisiert. Vgl. Nbel, Robert Musil, S. 95. 100 Vgl. Simmel, Die Koketterie, S. 279. 101 Klaus Christian Kçhnke liest das 62. Kapitel des Mann ohne Eigenschaften: „Auch die Erde, namentlich aber Ulrich huldigt der Utopie des Essayismus“ als bewusste Interpretation des Simmelschen Essayismus. Vgl. Kçhnke, Der junge Simmel, S. 470. 102 Vgl. Nbel, Robert Musil, S. 93.

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gend, aber eine Lust macht. Mit jenem spielenden, obgleich keineswegs immer von der Stimmung des ,Spieles‘ begleiteten Sich-Nhern und SichEntfernen, Ergreifen, um wieder fallen zu lassen, Fallenlassen, um wieder zu ergreifen, dem gleichsam probeweisen Sich-Hinwenden, in das schon der Schatten seines eigenen Dementis fllt hat die Seele die adquate Form fr ihr Verhltnis zu unzhligen Dingen gefunden.103

Abenteuer und Koketterie weisen wichtige Gemeinsamkeiten auf. Mit der Kunst und – so ist nun zu ergnzen – mit dem Sport teilen sie das „Abgeschnittensein von der Kontinuitt der Lebensreihe“104, den starken Gegenwartsbezug105 und das deutliche Ende dieses Erlebens.106 Ebenso gewinnt das Abenteuer seine Form durch das Spiel zwischen Aktivitt und Passivitt, „zwischen dem, was wir erobern, und dem, was uns gegeben wird.“107 Erst diese Spannung hebt es aus dem Lebenszusammenhang heraus. Diese Spannung freilich, die sich im Erleben des Sports zeigt, droht durch den Siegeszug des ,Sportgeists‘ verloren zu gehen. Auch deshalb reflektiert Musil in Als Papa Tennis lernte den kulturellen Wandel in der Form des Essays selbst. Dabei steht die kokette Poetik der Verhllung, die sich im Tennis zeigt, der Zuschauerkultur gegenber, die sich an den bloßen Tatsachen der Nacktheit erfreut. Zwar attestiert er dem Tennis, lange „gewisse Spuren der ursprnglichen Moral“ bewahrt zu haben,108 in der Gegenwart des Textes gehçren aber auch sie der Vergangenheit an. Die Perspektive des Rckblicks reflektiert einen grundstzlichen Verlust an Formen mçglichen Erlebens, die sowohl sthetisch als auch moralisch begrndet sind. Dieser Verlust zeigt sich, wie schon zu Beginn des Textes deutlich wurde, an der Kleidung: Wenn man von einer anderen Sportsttte auf einen Tennisgrund kam, so war das, sofern man einen empfnglichen Blick fr Kleidung hatte, nicht anders, als ob man von einem hellen, offenen Platz in einen hochstmmigen Wald trte. Hier reichten die Rçcke noch bis zur halben Wade und die Taille bis zu 103 Simmel, Die Koketterie, S. 276. 104 Simmel, Die Koketterie, S. 269. ber das Abenteuer sagt Simmel, dass es „au ßerhalb der sonstigen Kontinuitt dieses Lebens“ verluft. Simmel, Das Aben teuer, S. 168. 105 Vgl. Simmel, Das Abenteuer, S. 171. 106 Vgl. Simmel, Das Abenteuer, S. 169. 107 Simmel, Das Abenteuer, S. 173. Koketterie und Abenteuer beziehen damit beide zudem die Spannung der Geschlechterdifferenz ein, die den Schwebezustand des Vorlufigen und Mçglichen einmal in weiblich kodiertem und einmal in mnnlich kodiertem Gewand erscheinen lsst. 108 Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 686.

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den Handgelenken, als sich der Dreß anderswo lngst schon auf die Grçße eines Bogens Briefpapier, wenn nicht gar einer Eintrittskarte zusammengezogen hatte; ja, was die Herren angeht, so stecken sie bekanntlich heute noch in weißen Futteralen, und nur die Damen verlieren von den Armen und Beinen aus zusehends ihre Kleidung.109

Unterscheidet sich die ,Sportsttte‘ als Raum des Flchtigen bereits deutlich vom soliden ,Tennisgrund‘, so symbolisiert der offene, helle Platz die Kultur der Sichtbarkeit, die an den stdtischen Raum gebunden ist, whrend der Wald wie ein Vorhang wirkt, der die Blicke der Zuschauer verweigert und die Spieler ihrem eigenen Vergngen berlsst. Die hochstmmigen Bume haben ihre Wurzeln im Tennisgrund, eine Verankerung, die dem bewussten Spiel, das aus dem Leben ausbricht, voraus geht. Insofern steht der Wald auch fr einen Einklang von Spiel und Umgebung, er erscheint als Mitspieler, der durch den Sport als Massenspektakel gestçrt wird. Dagegen fhrt die Professionalisierung des Sports zu einer çffentlichen Zurschaustellung und Vermarktung der Kçrper auf einem offenen Platz, mithin dem Stadion. Ausgehend vom Tennis wird das Maß der Bekleidung zum Gradmesser des kulturellen Wandels. Die Entblçßung des Kçrpers beschreibt den bergang von der brgerlichen Geisteskultur zur modernen Zuschauerkultur, den der Essay sinnfllig in Szene setzt: Der Brief als Grndungsdokument der brgerlichen Kultur, Sinnbild der Selbstreflexion ebenso wie des geselligen Austauschs, ist nur noch ein Blatt Papier, das durch die Eintrittskarte abgelçst wird. Damit steht der nackte Kçrper zur Schau, dessen Entblçßung die Fiktion der Verhllung und damit den Reiz des Spiels obsolet macht.110 Denn die Nacktheit kann die Aufmerksamkeit nicht 109 Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 686 f. 110 Die Nacktheit der Frau im Sport hat Musil mehrfach thematisiert. In seinem Artikel F.F.Bl./Frauenlob (1927 oder spter) hat Musil die sportliche Nacktheit der Frau als einen „der originellsten Abschnitte in den Beziehungen zwischen Frau u[nd] Mann“ bezeichnet. „Sein wichtigstes ußeres Zeichen ist nicht die Annherung der weiblichen Tracht an den Mann, sondern die Entkleidung der Frau durch den Sport.“ (Musil, F.F.Bl./Frauenlob, GW II, S. 804.) Whrend Musil die sachliche, sportliche Sprçdheit der jungen Frauen in Die Frau gestern und morgen gut heißt, vertritt er in Frauenlob dezidiert die Ansicht, dass mit der Nacktheit die Erotik verloren gehe, wenngleich ihr eine Reihe wrdevollerer Motive gegenberstnden, „die von Gleichberechtigung bis zu Volksgesundheit u[nd] gesunder Unbefangenheit gegenber der Natur reichen.“ (Musil, F.F.Bl./ Frauenlob, GW II, S. 804.)

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steigern,111 weil ihr der Reiz der berraschung fehlt, whrend die Hlle immer auf das Geheimnis verweist, das sie birgt.112 Die Spielbewegungen der Mnner im Futteral lassen sich in diesem Zusammenhang als Schriftzge deuten, die an der Poesie der Verhllung teilhaben, insofern Fiktion immer auch eine Verkleidung der Wirklichkeit ist.113 Dagegen bildet die Nacktheit ein „Geheimnis des Garderobeschranks, das man nur selten tragen darf, weil es immer das gleiche bleibt.“114 Whrend noch die Mode der Jahrhundertwende der gekonnten Verhllung des Kçrpers diente, eine Bedeutung, die zu Beginn des Essays im beinah bodenlangen Kleid der Mutter mitschwingt, macht die Mode des Sports den nackten Kçrper selbst zur Mode. Diese Nacktheit ist kein Geheimnis mehr, weil sie, von jedem individuellen Reiz entkleidet, die Lust der Zeit an bloßen Tatsachen zum Ausdruck bringt. In diesem Sinne bildet der organisierte Wettkampfsport in Gestalt messbarer Ergebnisse selbst eine Form von Nacktheit. Daher bedeutet der Erfolg der Zuschauerkultur fr Musil gleichzeitig den Sieg der Wirklichkeit ber die Mçglichkeit.

5. Der Prater als Passage der Erinnerung Musils mehrfacher Bezug auf den Prater in Als Papa Tennis lernte lsst sich als essayistisches Umkreisen von Gedanken und Empfindungen beschreiben, welches das Sportgeschehen aus verschiedenen Perspektiven, auf Umwege abschweifend in den Blick nimmt. Diese Umwege schreiben dem Siegeszug des Sports ein retardierendes Moment ein. So heißt es in seinem Essay beispielsweise: „Ehe ich aber von diesem berhmten Geist beginne, muß ich eine Geschichte erzhlen, die weitab davon anfngt, jedoch bald dahinfhrt.“115 Damit stellt Musil seine These in der Strategie des Essays aus und konfrontiert den publizistischen Sportdiskurs mit einigen der von ihm ausgeschlossenen Elemente, vor allem mit der Natur

111 Vgl. Simmel, Die Koketterie, S. 260 f. 112 Zu diesem Wechselspiel vgl. auch Gert Mattenklott, Der bersinnliche Leib. Beitrge zur Metaphysik des Kçrpers, Reinbek 1982, S. 15 f. 113 Dass hier gerade der mnnliche Dress mit der Schriftkultur assoziiert wird, setzt die traditionelle Geisteskultur einmal mehr gegen die ,weiblich‘ kodierte Mas senkultur ab. 114 Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 687. 115 Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 687.

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als Raum der sportlichen Bettigung.116 Dass die Lust an der Bewegung mit der Entdeckung der Natur im 18. Jahrhundert einher geht, auf die sich Musil mit der Geschichte des Praters explizit bezieht, ist in dem Ausdruck ,lustwandeln‘ noch deutlich erkennbar.117 Die bewusste Hinwendung zur Natur setzt voraus, dass ihre Wahrnehmung aus den praktischen Lebensvollzgen gelçst ist. Daher ist im Folgenden mit ,Natur‘ immer die kulturell berformte Natur gemeint, die als ,freie Natur‘ imaginiert wird. Diese Wahrnehmung von Natur spielt in Musils Werk eine wichtige Rolle, weil sie Erfahrungen ermçglicht, die die alltgliche Lebenswelt berschreiten. Dabei geht es nicht um die naive Aneignung von Natur oder unmittelbare Naturanschauung, sondern um die Selbsterfahrung des Individuums in der Bewegung, die sich als Grenzberschreitung der Natur des Kçrpers in der Natur der Umgebung spiegelt. Auf der Ebene der Selbstreflexion erscheint die Natur in diesem Zusammenhang gleichsam als Gegenber, das den Gedankenaustausch ermçglicht. Dieses Naturverstndnis kommt auch in der Entstehung der englischen Landschaftsgrten und der ffnung der feudalen Park- und Gartenanlagen – wie dem Prater – zum Ausdruck. Der allgemeinen Erschließung dieser Rume korrespondiert die Herausbildung des Spaziergangs als brgerliche Bewegungsform. Gleichzeitig entsteht in der Literatur seit Mitte des 18. Jahrhunderts eine Poetik des Spaziergangs, die die Naturbegegnung als Mittel der Menschwerdung feiert. Diese literarische Tradition ist in Musils Essay Als Papa Tennis lernte noch prsent und wird in Musils Kritik an der Zerstçrung des Praters durch die modernen Sportanlagen gespiegelt, die der individuellen Entfaltung im Prater buchstblich im Wege stehen. Mit dem Stadionbau thematisiert Musil in Als Papa Tennis lernte daher nicht nur die Rationalisierung und Professionalisierung des Sports, sondern auch den Wandel im Verhltnis zur Natur, der mit diesen Vernderungen einher geht.

116 Vgl. Gamper, Ist der neue Mensch ein „Sportsmann“?, S. 36; ders., Im Kampf um die Gunst der Masse, S. 145 f. 117 Auch in dem sich im 18. Jahrhundert strker durchsetzenden Verb ,spatzieren‘ (von lateinisch spatium = Raum) ist die rumliche Dimension von Bewegung enthalten. Zur Wortgeschichte vgl. Gudrun Kçnig: Eine Kulturgeschichte des Spaziergangs. Spuren einer brgerlichen Praktik 1780 1850, Wien, Kçln, Weimar 1996, S. 24 26.

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a) Landschaft fr berraschungen Der Prater wird in Als Papa Tennis lernte als ,Landschaft‘ eingefhrt, die fr berraschungen gut ist: er erscheint als Ort mçglicher Naturbegegnungen, die nicht mehr selbstverstndlich sind, denn „diese Natur war um gut hundert Jahre lter, als es die Natur ist, in deren Gesicht wir sonst blicken“,118 d. h. als die Boulevards der Ringstraße – der Wiener Flaniermeile – mit ihren Palsten und Grnanlagen. Indem Musil den Prater als „Landschaft“ deklariert, „in der man sich als Mensch nur zu Gast fhlte“,119 beschreibt er das Verhltnis zur Natur als eines der respektvollen Distanz: Wo der Mensch sich nur zu Gast fhlt, ist er nicht zu Hause, sondern fremd. Die Distanz zwischen Mensch und Natur geht der Wahrnehmung von Landschaft voraus, insofern die Rede von Landschaft die sthetisch betrachtete Natur meint, die als solche erst zur Landschaft wird. Diesen Vorgang haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts Rainer Maria Rilke (1875 – 1926) und Simmel in Hinblick auf die Landschaftsmalerei reflektiert. In seinem von Musil sehr geschtzten Buch ber Worpswede (1903) hat Rilke die Fremdheit der Natur betont und sich damit gegen die Romantisierung und Vereinnahmung der Natur gerichtet.120 Bei Rilke findet sich auch das Bild des Gast-Seins in der Natur. So schreibt er, dass wir der Natur „mit einer gewissen Verlegenheit, wie zufllig kommende Gste, die eine andere Sprache sprechen, zusehen.“121 Simmel hat in seinem Essay Philosophie der Landschaft (1913) herausgearbeitet, „[…] daß Landschaft noch nicht damit gegeben ist, daß allerhand Dinge nebeneinander auf einem Stck Erdboden ausgebreitet sind und unmittelbar angeschaut werden.“122 Vielmehr msse ein Aus118 Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 688. 119 Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 688. 120 Vgl. Rainer Maria Rilke: Worpswede [1903], in: Rainer Maria Rilke Smtliche Werke, hg. vom Rilke Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber Rilke, Bd. 5, Frankfurt/Main 1965, S. 7 134; zur Landschaft vgl. bes. die Einleitung, S. 9 34. Musil hat in seinem Verhltnis zu Rilke das Worpswede Buch als „erste Liebe“ bezeichnet. Vgl. Musil, Tagebcher, Bd. I, 680. Thomas Hake sieht in Rilkes Worpswede Buch einen Schlsseltext fr Musils Konzeption literarischer ,Bilder‘ und mçglicherweise sogar fr sein Naturverstndnis. Vgl. Hake, Ge fhlserkenntnisse, S. 213. 121 Rilke, Worpswede, S. 11. 122 Vgl. Georg Simmel: Philosophie der Landschaft [1913], in: Georg Simmel. Aufstze und Abhandlungen 1909 1918, Bd.1, hg. von Rdiger Kramme u.

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schnitt aus der Natur individuell bewusst als Ganzes erlebt werden. Durch diesen Prozess wird die Natur als sthetische Erscheinung zum Gegenber des Menschen, das ihn atmosphrisch, geistig und emotional anregt. Gerade in der Distanz ermçglicht sie Erfahrungen, die ber den Alltag hinausweisen, ohne sich in falscher Vertraulichkeit zu verlieren.123 Auch die Natur des Praters erscheint in Als Papa Tennis lernte immer schon als Produkt geistiger Auseinandersetzung, wobei im Prater auch in diesem Sinne „Ideal und Wirklichkeit“ ausnahmsweise noch „im Einklang“ waren: „Denn das war, eng an ja in die Großstadt geschlossen, ein stundenweiter Naturpark mit herrlichen alten Wiesen, Bschen und Bumen […].“124 Der Prater bildet einen gewachsenen Teil der Großstadt, deren Entwicklung gleichzeitig zur Herausbildung der skizzierten Naturbetrachtung und mit ihr der Parks und Landschaftsgrten erheblich beigetragen hat. Diesem Naturverstndnis liegt ein sthetisches Ideal von Harmonie zugrunde, das in dem Adjektiv „stundenweit“ deutlich zum Ausdruck kommt und den Park als Teil der Stadtlandschaft erkennt. „Stundenweit“ meint darber hinaus ein Gleichgewicht zwischen Raum und Zeit im individuellen Erleben,125 das mit dem Gang der Geschichte bereinstimmt. Dieses Gleichgewicht wird durch die Fortschritte der Naturwissenschaften in der Bestimmung der menschlichen Empfindungen als Reiz-Reaktion und durch den technischen Fortschritt in Gestalt von Sport oder Autoverkehr gestçrt, die die Wahrnehmung als historisch bedingtes Verhalten verndern. Das Gleichgewicht von Raum und Zeit, das einem inneren Erleben korrespondiert,126 lçst sich ebenso auf wie das klassische Empfinden als Naturempfindung.127 Der Gang durch den Prater wird dadurch auch zum Gang durch das 19. Jahrhundert, der als

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Angela Rammstedt (= Gesamtausgabe Bd. 12), Frankfurt/Main 2001, S. 471 482, hier. S.471. Vgl. dazu auch Hake, Gefhlserkenntnisse, S. 216. Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 688. Fr eine weniger ausgeglichene Persçnlichkeit wie Moosbrugger wird allerdings ausgerechnet ein „stundenweiter Park“, als er ihn an „seiner schmalsten Stelle“ durchqueren muss, zum Angstraum, der nicht Glck verheißt, sondern Panik verursacht. Vgl. Musil, MoE, S. 73. Vgl. zum Raumideal der Zeit auch Markus Fauser: Die Promenade als Kunst werk. Karl Gottlieb Schelle: Die Spatziergnge oder die Kunst spatzieren zu gehen (1802), in: Euphorion 84 (1990), S. 147 162, hier S. 154. Vgl. Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt/Main 2002 [Cambridge und London 1999], S. 31 f.

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Verrumlichung der Zeit erscheint, wie das metaphorische „stundenweit“ zum Ausdruck bringt.128 Diesem Wandel der Empfindungen steht das Tennisspiel der Eltern als anregendes Naturerlebnis gegenber. Sie spielen nicht nur miteinander, sondern auch mit den ,natrlichen‘ Gegebenheiten ihrer Umgebung wie unebenen Wiesen und Maulwurfshgeln. Die bewusste Wahrnehmung der sie umgebenden Natur erlaubt es in bereinstimmung mit dem Spazierengehen, auch ihr Spiel als geistige Auseinandersetzung zu interpretieren. Denn nur das Verstndnis der Natur als Gegenber, das aus der freien Bewegung heraus entsteht, ermçglicht die zentrale Erkenntnis, „[…] daß es doch noch etwas anderes als Kugelstoßen oder Autofahren bedeute, wenn sich der Mensch langsam, ja sogar oftmals stehenbleibend oder sich setzend, in einer Umgebung bewegt, die ihm Empfindungen und Gedanken eingibt, fr die sich nicht leicht ein Ausdruck finden lßt.“129 Diese Empfindungen und Gedanken gehen ber die vorgeprgten Muster der Sprache und der Alltagswelt, die konventionalisierten Redeweisen und Verhaltensmuster hinaus; sie werden erst durch jene ,Landschaft fr berraschungen‘ ausgelçst, die Musil im Prater sieht und bewahrt wissen mçchte. Das Moment der berraschung, der Kontingenz und plçtzlichen Erkenntnis bildet die Brcke zu Musils sthetischem Interesse am Sport, das im mçglichen Ausbruch aus der Welt der Gewohnheit besteht. Dieser Ausbruch vollzieht sich augenblickshaft und ermçglicht analog zur stimulierenden Naturerfahrung das Erleben gesteigerter Subjektivitt, ein Erleben, das sich tatschlich „nicht leicht“ in Worte fassen lsst, aber dadurch die Kraft hat, den Menschen zu verndern.130 Vor diesem Hintergrund erscheint das frhe Tennisspiel der Eltern lediglich als moderne Variante des Spaziergangs, der das Grundmuster der brgerlichen Bewegung im Freien als Naturbegegnung bereit hlt. Mit der brgerlichen Praktik des Spaziergangs ruft Musil, der selbst ein eifriger Spaziergnger war,131 die vor allem literarisch geformte Vorstellung von Persçnlichkeitsbildung als Begegnung mit der Natur auf, die als Landschaft erscheint, in der sich das Ich in Harmonie mit seiner 128 Zur Verrumlichung der Zeit am Beispiel der Pariser Passagen des 19. Jahr hunderts vgl. Brggemann, Architekturen des Augenblicks, S. 345. 129 Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 688. 130 Vgl. auch Baur, Sport und subjektive Bewegungserfahrung, S. 105. 131 Vgl. Paul Roessler: Durchstreichung. Auf Musils Spuren im heutigen Wien, in: Lucas Cejpek (Hrsg.): Nach Musil: Denkformen, Wien, Berlin 1992, S. 180 192.

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Umgebung selbst erlebt und Kçrper und Geist zwanglos zusammenspielen. In einem Brief vom Wçrther See hat Musil davon geschwrmt, dass er „spazieren schwimmt“ und den „herrliche[n] See“ gelobt.132 In der literarischen Tradition steht daher gerade der Spaziergang fr die Menschwerdung in jenem emphatischen Sinn, die den Brger zum Menschen macht.133 Jean Paul (1763 – 1825) entwarf in seinem ersten Roman Die unsichtbare Loge eine Typologie des Spaziergngers, den er „wie die Ostindier“ in vier Kasten einteilt, die einer zunehmenden Verinnerlichung der Bewegung entsprechen und vom Gang aus Mode und Eitelkeit ber die bloße Motion bis hin zur heiligen Anschauung der Natur derjenigen reichen, die nicht nur mit dem Auge, sondern „mit dem Herzen spazieren gehen“.134 Dieser Bewegung korrespondiert die Entfaltung des Subjekts aus seinem Inneren heraus, die jene Andacht ermçglicht, die die bestehende Ordnung transzendiert und nicht zuletzt an die „Heiligen Gesprche“ von Ulrich und Agathe im Mann ohne Eigenschaften erinnert, die sie vorwiegend beim Gang durch den Garten fhren.135 132 Musil an Oskar Maurus Fontana (13. 6. 1925). Vgl. Musil, Briefe, Bd. I, S. 384 f. 133 Zum literarischen Spaziergang vgl. Kurt Wçlfel: Kosmopolitische Einsamkeit. ber den Spaziergang als poetische Handlung, in: Jahrbuch der Jean Paul Ge sellschaft 15 (1980), S. 28 54; ders.: Andeutende Materialien zu einer Poetik des Spaziergangs. Von Kafkas Frhwerk zu Goethes „Werther“, in: Theo Elm/ Gerd Hemmerich (Hrsg.): Zur Geschichtlichkeit der Moderne. Der Begriff der literarischen Moderne in Theorie und Deutung. Ulrich Flleborn zum 60. Ge burtstag, Mnchen 1982, S. 69 90; Thomas Koebner: Versuch ber den lite rarischen Spaziergang, in: Wolfgang Adam (Hrsg.): Das achtzehnte Jahrhundert. Facetten einer Epoche. Festschrift fr Rainer Gruenter, Heidelberg 1988, S. 39 76. Doch macht der Spaziergang nicht nur den Brger zum Menschen, sondern umgekehrt auch den Menschen zum Brger, wie Gudrun Kçnig in Auseinan dersetzung mit den Arbeiten Kurt Wçlfels formuliert hat. Das Spazierengehen drckt nmlich das deutlich sichtbare Privileg aus, nicht arbeiten zu mssen und die freie Zeit zum Vergngen anzuwenden. Vgl. Kçnig, Kulturgeschichte des Spaziergangs, S. 33. Auch hier ergibt sich der Bezug zum Sport: Spazierengehen oder Tennisspielen fllen die Zeit sinnvoll aus, sie sind keine Zeitvergeudung oder reiner Mßiggang. 134 Jean Paul: Die Unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung [1793], in: Jean Paul. Werke in drei Bnden, hg. von Norbert Miller, Mnchen 1976, Bd. 1, S. 7 352, hier S. 304 f. Zum Verinnerlichungsprozess dieses Systems vgl. ausfhrlich Wçlfel, Kosmopolitische Einsamkeit, S. 37 45. 135 Auch das vorlufig letzte Kapitel des Romans „Atemzge eines Sommertags“ ist ein ,Gartenkapitel‘. In Musils Schweizer Exil ist es am Ende der Garten seiner letzten Behausung in Genf neben der gartenhnlichen Landschaft am Genfer See , der Erlebnisse des ,anderen Zustands‘ aufscheinen lsst, die der Autor in

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In der Tradition des literarischen Spaziergangs erlebt sich der Einzelne als Teil eines Ganzen, das er in der Natur erfhrt, whrend er sich in Gesellschaft vereinzelt oder isoliert fhlt. Daher ist der Spaziergang weit mehr als Freizeitvergngen oder Erholung eine Handlung von Bedeutung und geistiger Dignitt.136 Doch geht es bei Jean Paul – ebenso wie spter bei Musil – nicht um die Mystifikation von Naturerlebnissen, sondern um ein Gefhl von Andacht und Hingabe, das auf einem Erleben basiert, das sich von der ihm vorausgehenden Wahrnehmungsleistung gar nicht trennen lsst. In Musils Konzeption des ,anderen Zustands‘ geht dieses sthetische Erleben dem verlorenen Gefhl mystischer Partizipation stets voraus.137 Durch ihr besonderes Vermçgen zur Ausbildung einer selbstbestimmten Identitt erscheint die Natur seit dem 18. Jahrhundert darber hinaus prdestiniert fr die Selbstvergewisserung des poetischen Subjekts, dessen Gang ins Freie zugleich eine Abgrenzung von den Konventionen des gesellschaftlichen Lebens bedeutet. Damit trgt der Spaziergang als literarische Figuration zur Ausprgung jenes Bildes bei, das den modernen Knstler am Rand der Gesellschaft zeigt: er erscheint dadurch als ihr Zuschauer und Kritiker, nicht aber losgelçst von ihr,138 kehrt doch der Spaziergnger, anders als der Wanderer, immer wieder nach Hause, d. h. in das gesellschaftliche Leben zurck.139 Diese Konstellation ist gerade in der Moderne durch Melancholie geprgt, wie sich insbesondere bei Franz Kafka (1883 – 1924) oder Robert Walser (1878 – 1956), in Anstzen aber auch bei Musil zeigt, dessen Spaziergang einen Erinnerungsraum erschließt. Der Spaziergnger entfernt sich, wie Thomas Koebner formuliert hat, von „seinem sozialen Ankergrund“, whrend die Konturen einer anderen Lebensweise sichtbar werden: „So erreichen ihn immer wieder leise Schauer des Glcks – und, je nher er wieder seinem Ausgangspunkt kommt, auch die Trauer ber das Vergngliche dieser subtilen Abenteuer.“140 Doch schon bei Jean Paul wird deutlich, dass das augenblickliche Glck in der Natur dem brgerlichen Dasein entgegen gesetzt ist, dessen

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seinen Tagebchern in Worte zu fassen gesucht hat. Vgl. Rolf Kieser: Grten, Vçgel, Kinder: Robert Musil im Genfer Exil, in: Gudrun Brokoph Mauch (Hrsg.): Beitrge zur Musil Kritik, Bern, Frankfurt/Main 1983, S. 321 345. Vgl. Wçlfel, Kosmopolitische Einsamkeit, S. 30. Vgl. Bruno Hillebrand: sthetik des Augenblicks. Der Dichter als berwinder der Zeit von Goethe bis heute, Gçttingen 1999, S. 120. Vgl. Wçlfel, Kosmopolitische Einsamkeit, S. 51. Vgl. Wçlfel, Poetik des Spaziergangs, S. 72 Koebner, Versuch, S. 40.

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Gewinnstreben sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert eben auch im Sport manifestiert – ein Widerspruch, der bei Musil wieder auftaucht, wenn er die Lust an der Bewegung, das sportliche Spiel als Abenteuer, der Professionalisierung und Kommerzialisierung des organisierten Sports gegenber stellt. Damit nimmt Musil eine deutliche Unterscheidung zwischen dem utopischen Potenzial des Sports im individuellen Erleben und der Wirklichkeit der Sportkultur als Teil der Massenkultur vor. b) Passagen im Prater Indem Musil den Prater als Erinnerungsraum beschreibt, bezieht er sich auf den Prater als Schwellenraum der Moderne, als Raum zwischen Stadt und Vorstadt und als Raum der bergnge, der beispielsweise mit Sport und Kino auch die volkstmliche Tradition kçrperlicher Sensationen und Zurschaustellungen aufnimmt und modernisiert. Damit steht Musil nicht allein, denn nach dem politischen Umbruch und dem Ende des Habsburgerreiches wird der Prater als Raum verschiedenster kultureller Traditionen und Bevçlkerungsschichten wahrgenommen, der Widersprche und Differenzen, Altes und Neues in sich vereint. Dadurch wird der Prater zur Projektionsflche fr eine Vielzahl unterschiedlicher Zuschreibungen, die ihn im Feuilleton als „Verdichtungspunkt der Wienwahrnehmung“141 und als Raum des ,Dazwischen‘ erscheinen lassen. Das literarische Praterbild der Zwischenkriegszeit zeigt den Prater als Ort stilvoll improvisierter Lebenskunst, der Raum fr Individualisten bietet.142 So schrieb Karl Lahm in der Vossischen Zeitung 1925: Des Praters liebste, vorzglichste Eigenschaft vor anderen hauptstdtischen Parks ist seine glckliche Unerzogenheit. Er hat nichts von Dressur; Grtner kmmern sich nicht um ihn, weder englische noch franzçsische. Fr einen Wald hat er zu edle Bume, fr einen Park allzu ,schlamperte‘ Wiesen. ,Es ist verboten‘ spielt keine Rolle; nur die Hauptallee geht kerzengerade und hat ihre Polizei. Sonst legt sich ins Grne, in Sonne oder Schatten, wem es gefllt. Der Prater ist der Wiener, in die Hortikultur bertragen. Es geht auch so und wre hier anders gar nicht schçn.143 141 Christian Jger/Erhard Schtz: Stdtebilder zwischen Literatur und Journalis mus. Wien, Berlin und das Feuilleton der Weimarer Republik, Wiesbaden 1999, S. 44. 142 Vgl. Jger/Schtz, Stdtebilder, S. 45. 143 Karl Lahm: Kraft und Schçnheit im Wiener Prater, in: Vossische Zeitung, 16. Juni 1925.

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Dass der Prater darber hinaus als fester Bestandteil Wiener Identitt angerufen wird, zeigt sich auch in Als Papa Tennis lernte: „Der Prater gehçrt zu den sieben Weltwundern, die ein im Ausland lebender Wiener aufzuzhlen beginnt, wenn er Heimweh hat; sie heißen: Wiener Hochquellenwasser, Mehlspeisen, Backhendeln, die blaue Donau, der Heurige, die Wiener Musik und der Prater.“144 Whrend der Essay den Wert dieser Wiener Errungenschaften allerdings ironisch in Zweifel zieht, da „die Donau nicht blau, sondern lehmbraun, und das Wiener Trinkwasser beraus kalkhaltig“ sei, behauptet er, dass „beim Prater […] ausnahmsweise Ideal und Wirklichkeit im Einklang“ waren.145 Als Ort des bergangs weist der Prater darber hinaus einige Eigenschaften der Passagen des 19. Jahrhunderts auf. Er vereint noch Peripherie und Zentrum, Gaukler, Knstler und Sportler, doch ist sein Ende nah, wie die melancholische Perspektive des Rckblicks in Musils Essay deutlich macht. „Passage wird rite de passage, wird Chronotopos der Schwelle, des erinnernden Gangs durch diesen Raum der Vergangenheit, durch das 19. Jahrhundert, seine Dinge und Geister, durch das Pandmonium des brgerlichen Zeitalters.“146 Der Klage ber die Zerstçrung des Praters durch den Stadionbau ist daher die Klage ber diesen verlorenen Spiel- und Zwischenraum eingeschrieben. Hatte die ffnung des Praters den Einzug brgerlicher Freiheiten und den Beginn des brgerlichen Zeitalters eingelutet, bedeutet der Siegeszug des Sports, der sich im Stadionbau manifestiert, dessen Ende. Diese Diagnose verbindet Musils Betrachtungen auf bemerkenswerte Weise mit dem nur ein Jahr zuvor erschienenen Text Abschied von der Lindenpassage (1930) von Kracauer, in dem er das Ende der Passagen konstatiert. Dort heißt es ber seinen letzten Besuch der Berliner Lindenpassage, in der er „vor kurzem“ wieder einmal „lustwandelte wie so oft in den Jahren vor dem Krieg“,147 dass sie keinen Durchblick mehr gewhrt, da ein monumentales Glasdach und Marmorplatten die Pfeiler zwischen den Geschften verdecken.148 „Sie war das Werk einer Zeit, die mit ihm zugleich einen Vorboten ihres Endes schuf.“149 Was fr Musil der 144 145 146 147

Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 687 f. Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 688. Brggemann, Architekturen des Augenblicks, S. 345. Siegfried Kracauer: Abschied von der Lindenpassage [1930], in: ders.: Straßen in Berlin und anderswo. Mit einem Essay von Gerwin Zohlen, Berlin 1987, S. 24 29, hier S. 24. 148 Vgl. Kracauer, Abschied von der Lindenpassage, S. 24. 149 Kracauer, Abschied von der Lindenpassage, S. 28.

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Stadionbau im Prater, ist fr Kracauer das Glasdach ber der Passage, das er als „Werk der Vernichtung“ beschreibt.150 Das Glasdach folgt derselben Logik wie der von Musil gegeißelte Geist der Nacktheit, der dem Prater seine Geheimnisse entreißt und die Gaukler vertreibt. Denn die Befriedigung der Schaulust unterwirft die Kçrper – der Akteure und ihrer Zuschauer – dem Zugriff der Rationalisierung. Dagegen war im unbestimmten Raum der Parklandschaft ein friedliches Nebeneinander verschiedener Erscheinungen mçglich, das erst die Organisation der Masse im Stadion aufhebt: „Jahrhundertelang haben sich Leute als Schnell- und Dauerlufer, Springer und Reiter sehen lassen, aber sie sind ,Gaukler‘ geblieben, weil ihre Zuschauerschaft nicht sportlich ,durchorganisiert‘ gewesen ist.“151 Musils Hauptkritik besteht daher in der Abgrenzung des Stadions gegen seine Umgebung, die es mit dem Umbau der Lindenpassage teilt. Das riesige Stadion zerstçrt den Prater nicht nur, indem es seine letzten unbelassenen Flchen okkupiert, sondern erhebt sich ber sie, weil es sich gegen seine Umgebung verschließt und die Aufmerksamkeit in sich selbst konzentriert. Dadurch wird noch einmal deutlich, dass Musils Kritik weniger dem Zuschauen gilt als vielmehr dem Geist der rationalen Organisation.152 Die Abgrenzung der Sportarena hat auch Elias Canetti (1905 – 1994) betont. Er sieht sie durch die doppelt geschlossene Masse – in sich selbst und nach außen – begrndet: Die Arena ist nach außen hin gut abgegrenzt. Sie ist gewçhnlich weithin sichtbar. […] Nach außen, gegen die Stadt, weist die Arena eine leblose Mauer. Nach innen baut sie eine Mauer von Menschen auf. Alle Anwesenden kehren der Stadt ihren Rcken zu. Sie haben sich aus dem Gefge der Stadt, ihren Mauern, ihren Straßen herausgelçst. Fr die Dauer ihres Aufenthalts in der Arena scheren sie sich um nichts, was in der Stadt geschieht. 150 Kracauer, Abschied von der Lindenpassage, S. 24. 151 Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 691. 152 Bei Kracauer stehen den Reisen in der Phantasie die neuen Reisebros am Ausgang der Passage gegenber, die mit modernem Tourismus ihr Geschft machen, der als Teil der Massenkultur, so der Verdacht des Autors, auch keine echte Begegnung mit Natur und Fremde (mehr) erlaubt. Diese Kritik an der rationalen Organisation von Vergngen verbindet Kracauer und Musil und unterstreicht Musils Nhe zur Frankfurter Schule. Darber hinaus zeigt sich die bereinstimmung zwischen beiden Autoren in den Protagonisten der Romane Ginster und Mann ohne Eigenschaften. Vgl. dazu Hildegard Hogen: Die Mo dernisierung des Ich. Individualittskonzepte bei Siegfried Kracauer, Robert Musil und Elias Canetti, Wrzburg 2000.

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Sie lassen das Leben ihrer Beziehungen, ihrer Regeln und Gewohnheiten zurck. Ihr Beisammensein in großer Zahl ist fr eine bestimmte Zeit gesichert, ihre Erregung ist ihnen versprochen worden aber unter einer ganz entscheidenden Bedingung: Die Masse muß sich nach innen entladen.153

Korrespondiert die Abgrenzung nach außen auch einer ffnung nach innen, so bleibt doch fr berraschungen und bergnge kein Raum. Wenn das essayistische Ich die Abgeschlossenheit der Stadionarchitektur kritisiert, kritisiert es damit zugleich jenen ,Geist des Sports‘, der buchstblich keinen Spielraum fr unterschiedliche Erfahrungen und Gefhle lsst, die nur als Hingabe an ein Gegenber denkbar sind. Der Stadionbau erscheint damit gleichzeitig als Hçhepunkt einer Bewegung, die den Sport vom Rand ins Zentrum rckt: Whrend sich Als Papa Tennis lernte zufolge selbst die ersten aristokratisch dominierten Vereine wie der Jockeiclub oder der Trabrennverein mit Grundstcken am Rand des Praters begngen mussten, steht das Stadion nun mittendrin. Ja, der Prater ist, wie das essayistische Ich sarkastisch bemerkt, durch Sportsttten ersetzt worden: An seine Stelle sind Sportpltze verschiedenster Art getreten, die von Zunen und Eintrittsschranken umgeben sind, und es ist das gerade so, wie es sein mußte, denn man htte dafr weit geeignetere Gegenden finden kçnnen, aber keine so vornehmen, keine solchen Siegespltze ber die Natur, nichts, wo sich der lcherliche Anspruch der Leibesbungen, eine Erneuerung des Menschen zu sein, so naiv, so protzig, so instinktsicher ausdrcken kçnnte wie in diesem Zusammenhang.154

c) Siegespltze ber die Natur Die Sportpltze werden zu Siegespltzen ber die Natur, weil sie die Natur als Raum von Grenzerfahrungen zerstçren, dies aber naiv und protzig zugleich als Naturerlebnis ausgeben. So wird die Unterwerfung der Natur als Annherung an die Natur gefeiert. Gegen diese irrationale Natursehnsucht der Moderne und ihre zahllosen Rckkehrversuche in ein naturgemßes Leben hat sich Musil streng verwahrt. Auch die auf den Sport projizierte, programmatische Rhetorik von „Kraft und Schçn-

153 Elias Canetti: Masse und Macht [1960], Frankfurt/Main 1980, S. 29 [Herv. i. Orig.]. 154 Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 688.

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heit“155 neuer, kçrpergesthlter Menschen, die die vorwiegend brgerlichen Anhnger der Kçrperkulturbewegung mit den Funktionren der Arbeitersportvereine verband, war Musil verhasst. Diese Formel liefert zugleich ein besonders prominentes Beispiel fr die von ihm kritisierte Bedeutungszuschreibung. Im Gegensatz zur verordneten Naturbegeisterung zielt seine Auseinandersetzung mit der Natur auf das reflektierte Naturerleben.156 In der Zwischenkriegszeit begrndete vor allem die Arbeitersportbewegung die propagierte Befreiung des Kçrpers mit der Kraft der freien Natur; die Schçnheit des nackten, unverbildeten, aber sportlich gestrkten Kçrpers sollte aus der kraftvollen Schçnheit der Natur erwachsen. Aus diesen Krften steige dann, so der programmatische Artikel Kçrperbefreiung durch Sport (1929),157 „[…] der neue, neugefundene, schçne Mensch empor.“158 Der Sport avanciert so zum Befreier des Kçrpers, der eine naturnahe Lebensfhrung garantiert.159 Damit wird ,die‘ Natur fr ein politisches Programm beansprucht. Der Austromarxismus reklamierte fr die Befreiung des Kçrpers einen originren Anspruch des Sozialismus, fr den die befreite Kçrperkultur ein Teilstck auf dem Weg zum ,neuen Menschen‘ darstellte.160 Die Kraft der Natur 155 So der Titel einer frhen Zeitschrift zur Kçrperkultur (1901 1927; zuerst mit dem Untertitel: Zeitschrift fr vernnftige Leibeszucht, dann: Monatsschrift fr moderne Kçrperkultur) und des populren Sportfilms „Wege zu Kraft und Schçnheit“ (Regie: Wilhelm Prager, Deutschland 1924/25). 156 Auch im Mann ohne Eigenschaften hat sich Musil mit der modernen Natur sehnsucht auseinandergesetzt. Fr Ulrich ist dieses natrliche Empfinden „mo derner Rousseauismus“, den er fr sentimental hlt. Dessen Grenzen spielt der Roman ausgerechnet am Beispiel einer jungen Wissenschaftlerin, Frulein Dr. Strastil, durch, die strenge Begriffe des Denkens, aber keinen Seelenverstand besitzt, wie Urich meint, als er sie auf dem Weg ins Gebirge trifft. Dort will sie „ausspannen“, ein Wort, das seiner Ansicht bereits die Vergeblichkeit ihrer Be mhungen bezeichnet. Vgl. Musil, MoE, S. 865 867. 157 Der Artikel erschien im ersten Heft von Der Volkssport, dem zentralen Organ der proletarischen Sportbewegung, das 1929 nach langen Auseinandersetzungen zwischen den Dachorganisationen der verschiedenen Sportarten innerhalb der Arbeitersportbewegung als zentrales, spartenbergreifendes Publikationsorgan etabliert wurde. Vgl. Marschik, „Wir spielen nicht zum Vergngen“, S. 106. 158 Alfred Colerus: Kçrperbefreiung durch Sport, in: Der Volkssport (Offizielles Organ des ASK und seiner Verbnde) 1 (1929), H. 4, S. 1 f., hier S. 1. 159 Vgl. Marschik, „Wir spielen nicht zum Vergngen“, S. 29. 160 Wie beim Sport ging es auch bei der Eroberung des Kçrpers durch die Arbei terbewegung darum, brgerliche Domnen aufzubrechen, um auf diesen Be sitzstnden aufbauend eine neue Gesellschaft zu begrnden. Zugleich waren

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gerinnt zur Formel, die den Menschen formt, der als Kollektivwesen imaginiert wird. Diese Natur soll gar keine individuellen Erfahrungen oder Empfindungen ermçglichen, denn die angestrebte Neuordnung entsteht nicht aus den Individuen heraus, sondern als kollektiver Erziehungsprozess, der von oben gesteuert wird.161 In Musils Wahrnehmung ist die Natur besiegt, weil ihr genau diese Freiheit individueller, nicht-verordneter Begegnung abgesprochen wird. Die Natur wird durch dieses Programm vereinnahmt und zu einem funktionalen Alltagsraum erhoben, dessen Vorzug seine Rationalitt ist. Dies wird in dem zitierten Artikel besonders deutlich, als der Blick aus dem Fenster der Großstadtsiedlung fllt: „Blickt hinaus ins Weite, Freie! Aus schçnen, lichterfllten Wohnburgen strçmt’s, Sonne lacht auf grne Flchen Rasens, da jagen sie dem runden Ball nach, die sehnigen Gestalten schnellen durch die Luft, wie der ganze Kçrper lebt und kndet: Gesundheit, Freude.“162 Der begeisterte Autor erweist sich als kundiger Zuschauer, der die Botschaft des sportlichen Treibens bereits vernommen hat,163 whrend die freie Natur der Wohnburg als Rasenflche zu Fßen liegt. Vor diesem Hintergrund gewinnt Musils vehemente Kritik am Geist des Sports noch einmal an Profil: Statt bestehende Wahrnehmungsmuster aufzubrechen, wird eine programmatisch festgelegte Bedeutung in die spielenden Kçrper hineingesehen, die die Mçglichkeit eigenen Empfindens ebenso verstellt wie die Burgen und Stadionmauern das Empfinden der Natur. Der Gang ins Freie – als Sinnbild zwangloser, zweckfreier Bewegung – kann unter dem Diktat von Ntzlichkeitserwgungen und Zuschauerblicken nicht stattfinden. Auch darum ist die Erneuerung des Menschen protzig und naiv zugleich, weil sie als Programm auftritt, das sich die Natur unterwirft. In dieser Natur ist der Mensch nicht nur zu Gast – diese Natur gehçrt ihm, er hat sie gemietet und er hat sie sich verdient: sie schließt unmittelbar an sein Zuhause an. Und so dient sie ihm als Sonne oder als ,frische Luft‘ zur inneren Belebung – sie ist ihm immer

gute Gesundheit, Hygiene und Leibesertchtigung die Basis fr den ,neuen‘ Menschen. Vgl. Marschik, „Wir spielen nicht zum Vergngen“, S. 30 f. 161 Vgl. Marschik, „Wir spielen nicht zum Vergngen“, S. 29. 162 Colerus, Kçrperbefreiung durch Sport, S. 2. 163 Grundstzlich war die Arbeitersportbewegung nmlich nicht fr den Zuschau ersport, sondern fr die eigene Leibesertchtigung.

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Mittel und nicht einfach nur Gabe.164 Die Naturbeherrschung ist Ausdruck der Rationalitt der Moderne, die, wie das Beispiel der Wohnburg zeigt, nicht nur die Gestaltung von Freizeit, sondern auch drngende soziale Fragen wie Gesundheit, Hygiene und Wohnungsbau lçsen soll. Anders als die geistige Anregung, die Musils Essayismus umkreist und die der Sport ebenso wie die Naturbegegnung als Oszillieren zwischen sinnlichem Erleben und Reflexion gewhren, als Anregung, die sich aus der Bewegung oder Stimmung selbst ergibt, erscheint dieser Geist des Sports von außen aufgesetzt, als Freude, die bloß Nutzen ist, als Gerede, das seine Bedeutung selbst erzeugt. Die Publizistik, die die Ausbreitung des Sports begleitet, lsst damit keinen Raum fr jene Erfahrungen, die der Sprache vorgnglich sind und „fr die sich nicht leicht ein Ausdruck finden lßt“, die aber gerade Musils Interesse am Sport begrnden und ihn daher auch zu einem seiner schrfsten Kritiker werden lassen. Mit dem Geist des Sports und seiner Indienstnahme der Natur kritisiert Musil daher die Rationalitt der Moderne, die nicht die alten Formeln der Erfahrung sprengt, die Denken und Fhlen bestimmen,165 sondern lediglich neue Formeln erfindet. Wie eng dabei der Zusammenhang von Befreiung und Standardisierung des ,neuen‘ Menschen ist, zeigt sich im Sportprogramm ebenso wie beispielsweise in den Utopien der Architekten166 und Wohnungsplaner, die das Doppelgesicht der Moderne deutlich hervor treten lassen.167

164 Dieses instrumentelle Verhltnis zur Natur hat Musil außerdem im Nachlaß zu Lebzeiten zum Thema gemacht. So ist in Hier ist es schçn die Natur immer schon Mittel in diesem Fall zu Erholungszwecken im Urlaub, von dem schon vorab feste Vorstellungen existieren, die sich entsprechend auch in sprachlichen Scha blonen niederschlagen, die die Naturbetrachtung verstellen. Vgl. Musil, Hier ist es schçn [1935], GW II, S. 523/24. Der Text erschien zuerst 1926 im Berliner Tageblatt und 1927 in Der Tag. Vgl. dazu Musil, GW II, S. 1752 f. 165 Vgl. Monika Meister: Der „andere Zustand“ in der Kunstwirkung, in: Gudrun Brokoph Mauch (Hrsg.): Beitrge zur Musil Kritik, Bern, Frankfurt/Main 1983, S. 237 255, hier S. 247. 166 So heißt es in Musils Artikel Quer durch Charlottenburg (1932) ber das Fa brikgebude der Siemensstadt, dass es „seinen athletisch ebenmßigen Leib dem Himmel“ zeige (vgl. Musil, GW II, S. 656). 167 Vgl. Adelheid von Saldern: „Statt Kathedralen die Wohnmaschine“. Paradoxien der Rationalisierung im Kontext der Moderne, in: dies.: Politik Stadt Kultur: Aufstze zur Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, hg. von Inge Marßolek u. Michael Wildt, Hamburg 1999, S. 105 120. Dort auch weitere Literatur zu den Widersprchen der Moderne aus historischer Perspektive.

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Gegenber der literarischen Tradition, auf die Als Papa Tennis lernte Bezug nimmt, die ein anderes Naturverstndnis birgt und erinnert, ist der Sportdiskurs der Funktionre weitgehend immun. Seine Proklamation des Naturerlebnisses basiert auf einem Naturverlust, den er „zu bilanzieren vergisst“.168 Die sthetische Erfahrung der Natur wird hier durch ein Verstndnis von Natur abgelçst, die analog zum Sportkçrper zunehmend entblçßt, als nacktes Draußen erscheint. Das Stadion im Prater erscheint als moderne Zurichtung und Zivilisierung der Landschaft, deren instrumentell verstandene ,Natur‘ sich in der Vorstellung eines kollektiv gelenkten und disziplinierten ,neuen‘ Menschen spiegelt. So feierte die Arbeiter-Sportzeitung das Wiener Stadion als „Burg der Zivilisation inmitten blhender Urwaldromantik“,169 was angesichts der Tradition des Landschaftsgartens eine geradezu groteske Umkehrung der Verhltnisse bedeutet.170 Dass der Prater zugrunde geht, seitdem „wir uns selbst berlassen sind“,171 muss vor dem Hintergrund der literarischen Tradition des Spaziergangs als weiterer Hinweis darauf verstanden werden, dass es die entstehende Massenkultur der Zwischenkriegszeit ist, die nicht zuletzt dem poetischen Subjekt selbst, dem Dichter, die Anerkennung verweigert. Indem sie Empfindungen negiert, die sich nicht leicht ausdrcken lassen, wird auch die Konkurrenz deutlich, in der sich Musil als Dichter sieht. Die Kritik am Sportbetrieb lsst sich in diesem Zusammenhang auf die Kritik des Autors am Literaturbetrieb bertragen. Gleichzeitig setzt sich das essayistische Ich im melancholischen Rckblick auf verhangene Tennispltze und Praterwiesen bewusst als empfindungsfhig in Szene, was durchaus ironische Zge trgt. Auch dadurch grenzt es sich vom Vergngen der Masse ab, das immer nur aus der Außenperspektive wahrgenommen wird.172 168 Gamper, Im Kampf um die Gunst der Masse, S. 146. 169 AZ, 2. Juli 1931, zitiert nach Horak/Maderthaner, Mehr als ein Spiel, S. 35. 170 In diesem Zusammenhang erhlt auch Musils Text Wer hat dich, du schçner Wald…?, die sarkastisch das feine Naturgefhl der Fçrster lobt und Urwldern „etwas hçchst Unnatrliches und Entartetes“ attestiert, ein neues Gesicht. Als Satire ist sie vor diesem Hintergrund allerdings kaum noch zu erkennen. Musil, Wer hat dich du schçner Wald…? [1935], GW II, S. 527. Der Text erschien unter verschiedenen berschriften 1927 und 1928 in mehreren Zeitungen. Vgl. dazu Musil, GW II, S. 1758 f. Vgl. auch Ulrichs berlegung, dass dicht neben den Straßen der Großstadt der Urwald beginnt (Musil, MoE, S. 27). 171 Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 688. 172 Zu Musils Außenseiter Blick auf die Masse vgl. auch Stefan Howald: Berh rungsfurcht. Die Auseinandersetzung mit der Masse bei Musil und Canetti, in:

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Da er diese brgerliche Position vor allem hinsichtlich seiner Identitt als Dichter nicht aufgibt, thematisiert Musil an keiner Stelle, inwiefern das Zuschauen auch Teilhabe an einem zweckfreiem Vergngen bedeuten kçnnte, das die Wahrnehmung der Wirklichkeit verndert. Dem organisierten Zuschauersport ist die feste Bedeutungszuschreibung seiner Ansicht nach immer schon inhrent, die durch Rationalisierung sogar noch gesteigert werden kann. Seine Sportkritik gilt somit der modernen Massenkultur, deren Grenzen er durch ein sthetisches Erleben aufweichen will, das die Moderne erst hervorgebracht hat.

Musil Forum 15 (1989), S. 173 191. Zur brgerlichen Haltung des sich selbst isolierenden Zuschauers vgl. Crary, Aufmerksamkeit, S. 290.

V. Der Kçrper im Sport: Kunst und Moral des Crawlens (1932) Musils zweiter Sport-Essay Kunst und Moral des Crawlens setzt sich vor allem mit dem bewegten Kçrper im Sport auseinander. Die sportliche Praxis ermçglicht ein technisch gesteigertes Erleben, das Musil in seinem Tagebuch folgendermaßen beschrieben hat: „Automobilrasen, Fliegen[,] aller Sport, das war im Gegenteil konzentrierteste Lebendigkeit.“1 Der Sport verkçrpert den technischen Fortschritt und macht ihn zu einer sinnlichen Erfahrung, die neue Erlebnisformen und – wie zumal die Beispiele „Automobilrasen“ und „Fliegen“ verdeutlichen – menschliche Grenzberschreitungen verheißt.2 Der Kçrper des Sportlers erscheint in den Essays ebenso wie im Mann ohne Eigenschaften durch systematisches Training bestimmt, das auf das przise Zusammenspiel von Aufmerksamkeit und Bewegung, von Muskeln und Nerven zielt. Mit dieser Konzeption knpft Musil, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, unmittelbar an die Ergebnisse von Physiologie und experimenteller Psychologie an, wonach bungen des Kçrpers „sowohl Nerven- wie Muskelgymnastik“3 sind. In Bezug auf die psychotechnischen Verfahren zur Leistungssteigerung geht er ber diesen Befund sogar hinaus, indem er in seinem von der Forschung bisher kaum gewrdigten Aufsatz Psychotechnik und ihre Anwendungsmçglichkeit im Bundesheere (1922) als erster Autor explizit den Zusammenhang zwischen Psychotechnik und Sport herstellt.4 1 2 3 4

Musil, Tagebcher, S. 350. Zum Zusammenhang von Technik und Sport als Grenzerfahrung vgl. Gunter Gebauer, Stefan Poser, Stefan Schmidt (Hrsg.): Kalkuliertes Risiko. Technik, Spiel und Sport an der Grenze, Frankfurt/Main, New York 2006. Du Bois Reymond, ber die bung, S. 111. Christoph Hoffmann zufolge besteht der Aufsatz weitgehend aus einer Kompi lation der angegebenen Quellen, er lobt aber Musils „originelle Ideen“ in Hin blick auf militrische Aufgaben. Vgl. Hoffmann, Dichter am Apparat, S. 237. Ausfhrlicher geht Stefan Rieger in einer auf Foucault zugespitzten Lesart auf den Text ein. Vgl. Rieger, Die Individualitt der Medien, S. 157 160; S. 164 170.

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Training fhrt zu einer Technisierung des Kçrpers, die an die mechanische Einbung von Bewegungsmustern gebunden ist. Erst ihr automatischer Ablauf ermçglicht die von Musil beschriebene „konzentrierteste Lebendigkeit“. Dieser Erfahrung von Lebendigkeit gehen daher jene „Techniken des Kçrpers“ (Marcel Mauss) voraus,5 die als Selbsttechnik gefasst werden kçnnen: Es ist das Training, das den Kçrper zum Sport- und Leistungskçrper macht und ihn damit im Spannungsfeld von Individualisierung und Normierung situiert.6 Whrend Musils Kritik am Sport auf die einseitige Auflçsung dieser Spannung zugunsten der Rationalisierung zielt, die smtliche Lebensußerungen auf mathematische Berechnungen und funktionale Werte zurckfhrt, liefert sein Essay Kunst und Moral des Crawlens in ironisch verkleideter Form selbst ein Beispiel fr den Zusammenhang von Bewegung und Berechnung, das den Kçrper zum physiologischen Forschungsobjekt macht. Diese Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften kann auch als „essayistische Versuchsanordnung“ verstanden werden.7 Auf die briefliche Anfrage eines jungen Mannes, ob Kraulen eine Kunst oder eine Wissenschaft sei, antwortet das essayistische Ich: Das Paradoxon des Crawlens heißt: a grçßer als.) In Worten: Du schwimmst mit den Beinen allein oder mit den Armen allein in der Art der Crawlbewegung schlechter als in der gewçhnlichen, trotzdem mit Armen und Beinen zusammen viel schneller.8

Der Versuch, die in Teilakte zerlegte Bewegung zu berechnen, betont die individuelle Erfahrung der Bewegung, die sich nicht berechnen lsst. Mit dem Paradox des Kraulens folgt Musil der in seinem Essay Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) formulierten Haltung, dass es die Aufgabe

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6 7 8

Marcel Mauss versteht unter den Techniken des Kçrpers zunchst die Weisen, in denen sich Menschen traditionell ihres Kçrpers bedienen. Er arbeitet heraus, dass zum Verstndnis der Bewegung nicht nur mechanische, sondern auch physio logische, psychologische und soziologische Aspekte nçtig sind. Dominant sei der Einfluss der Erziehung, die diese Techniken berliefere, klassifiziere und vor fhre. Vgl. Mauss, Die Techniken des Kçrpers, S. 199 203. Vgl. aus sportphilosophischer Perspektive eingehend Caysa, Kçrperutopien, S. 162 181. Vgl. Nbel, Robert Musil, S. 164. Musil, Kunst und Moral des Crawlens, GW II, S. 694.

Geschichte des Schwimmens

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des Dichters sei, sich mit jenen Gleichungen zu befassen, die nicht einfach aufgehen.9

1. Geschichte des Schwimmens Musils Paradox des Kraulens basiert auf einer Zerlegung der Schwimmbewegung in ihre einzelnen Teile, deren Grundmuster weit in die Geschichte des Schwimmens zurckreicht. Ende des 18. Jahrhunderts nahmen die deutschen Philanthropen im Anschluss an Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) das Schwimmen in ihr Programm der Leibesbungen auf. Der erste deutsche Schwimmpdagoge war Johann Christoph Friedrich GutsMuths (1759 – 1839), bei dem der preußische Offizier Ernst von Pfuel (1779 – 1866) schwimmen lernte.10 Von Pfuel entwickelte dessen Methode weiter und entwarf Plne fr das Schwimmen als Teil der militrischen Grundausbildung. Der preußische Offizier begrndete die erste Militrschwimmschule sterreichs an der Moldau (Prag 1810), gefolgt von der Militrschwimmschule im Wiener Prater (1812).11 9 Vgl. Robert Musil: Skizze der Erkenntnis des Dichters [1918], GW II, S. 1026 1030, hier S. 1029. Vgl. in diesem Zusammenhang auch das Vorwort von Martin Buber zu den Ekstatischen Konfessionen: „Ich bin die dunkle Seite des Mondes; ihr wisset um mein Dasein, aber was ihr fr die helle festsetzet, gilt fr mich nicht. Ich bin der Rest der Gleichung, der nicht aufgeht; ihr mçgt mich mit einem Zeichen belegen, aber auflçsen kçnnt ihr mich nicht.“ (Martin Buber: Ekstatische Konfessionen, Leipzig 1923, Vorwort, S. 5 10, hier S. 5.) 10 Es handelt sich um den Freund Heinrich von Kleists, dessen schçnen, trainierten Kçrper Kleist beim Baden in der Schweiz bewunderte. Am 7. Januar 1805 schrieb Kleist an Ernst von Pfuel: „Ich habe Deinen schçnen Leib oft, wenn Du in Thun vor meinen Augen in den See stiegest, mit wahrhaft mdchenhaften Gefhlen betrachtet. Er kçnnte wirklich einem Knstler zur Studie dienen. […] Dein kleiner, krauser Kopf, einem feisten Halse aufgesetzt, zwei breite Schultern, ein nerviger Leib, das Ganze ein musterhaftes Bild der Strke, als ob Du dem schçnsten, jungen Stier, der jemals dem Zeus geblutet, nachgebildet wrest.“ (Heinrich von Kleist. Smtliche Werke und Briefe, Bd. 4: Briefe von und an Heinrich von Kleist, hg. von Klaus Mller Salget u. Stefan Ormanns, Frankfurt/ Main 1997, S. 336.) Zu von Pfuels militrischem Schwimmunterricht vgl. auch Wolf Kittler: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege, Freiburg, 1987, S. 337 340. 11 Die erste Militrschwimmschule Preußens entstand hingegen erst 1817 in Berlin an der Oberbaumbrcke. Vgl. Martin Krauß: Schwimmen. Geschichte, Kultur, Praxis, Gçttingen 2002, S. 25.

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Interessant in Hinblick auf Musils Versuchsanordnung ist vor allem, dass von Pfuels Lehrmethode auf Trockenbungen basierte, deren Bewegungen durch Abzhlen in einzelne Bewegungsabschnitte zerlegt wurden.12 Damit kann gerade das Schwimmen als frhes Beispiel wissenschaftlichen Bewegungsstudiums gelten. Der Einfluss dieser Methode war noch bis ins 20. Jahrhundert hinein in Deutschland und sterreich wirksam.13 Aufgrund ihrer besonderen militrischen Tradition spricht alles dafr, dass auch Musil auf diese Weise schwimmen gelernt hat. Erst 1924 trat der Leipziger Schwimmlehrer Kurt Wießner mit einer grundstzlich anderen Lehrmethode hervor, die das Schwimmen auf die Wassergewçhnung aufbaute, die Zerlegung der Bewegungen aufgab und auf den spielerischen Umgang mit dem nassen Element setzte.14 Die Technik des Kraulens, das erheblich schneller als das Brustschwimmen war, wurde erstmalig 1906 durch den Australier Cecil Healy (1882 – 1918) – einem Soldaten – beim Hamburger Schwimmfest vorgefhrt; sie wurde vor allem durch Weißmller perfektioniert und populr gemacht. Musil, der ein passionierter Schwimmer war,15 lernte das Kraulen im Sommer 1925 bei einem Wettschwimmen am Wçrther See kennen und nahm nach seiner Rckkehr Trainerstunden in Wien.16 Insgesamt verbreitete sich das Kraulschwimmen vor allem in den angelschsischen Lndern, whrend es in Deutschland und sterreich auf Ablehnung stieß.17 12 Vgl. Ernst Gerhard Eder/Andrea Treude: Zur Geschichte des Wassersports in sterreich: Schwimmen, Rudern, Segeln, in: Ernst Bruckmller/Hannes Strohmeyer (Hrsg.): Turnen und Sport in der Geschichte sterreichs, Wien 1998, S. 133 155, hier S. 136; vgl. auch Krauß, Schwimmen, S. 25. 13 Vgl. Eder/Treude, Zur Geschichte des Wassersports in sterreich, S. 136. In Vicki Baums Roman Hell in Frauensee (1927) ist es bezeichnenderweise ein Ingenieur, der Schwimmunterricht erteilt. Vgl. Vicki Baum: Hell in Frauensee, Berlin 1927. 14 Mit diesem ,natrlichen‘ Schwimmunterricht wollte er sich bewusst vom sog. ,Sporttaylorismus‘ absetzen. Vgl. Krauß, Schwimmen, S. 125. 15 Vgl. den schon zitierten Brief an Oskar Maurus Fontana vom Wçrther See, in dem er beklagt, dass das Baden ihn vom Arbeiten abhalte, da „man nicht das Manuskript mit ins Wasser nehmen kann.“ Dagegen helfe auch kein Medika ment: „Gegen Baden und Rudern gibt es leider nichts.“ (Musil, Briefe, Bd. I, S. 384 f.) 16 Vgl. Corino, Musil, S. 812 f. 17 Der Begriff sei gemieden worden, man habe von ,Pudeln‘ oder ,Hundstral‘ ge sprochen; Kraulen habe als Zerstçrung des Kçrpers gegolten, das von Ameri kanern und Australiern nur zum Zweck des Hochleistungssports erfunden worden sei. Vgl. Eder/Treude, Zur Geschichte des Wassersports in sterreich,

Sport als psychotechnisches System

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In Kunst und Moral des Crawlens konstatiert das essayistische Ich, dass in der Geschichte des Schwimmens auf den ersten Blick „eine steigende Stufenleiter der Schwierigkeit“ wahrzunehmen sei, dass aber „nicht etwa das Erlernen, wohl aber merkwrdigerweise das Begreifen des Erlernten schwerer wird.“18 Whrend das Brustschwimmen noch „ein ganz verstndiges Sich-einen-Weg-durchs-Wasser-Bahnen“ gewesen sei, lasse sich das Kraulen in seinem Ablauf nicht ohne weiteres erfassen. Mit der Entwicklung des Sportschwimmens geht daher nicht nur die Normierung der Schwimmtechniken einher, sondern auch ihre Beschleunigung und Differenzierung, die zu einer Komplexittssteigerung fhrt, die sich selbst dem verstndigen Betrachter entzieht. Diese fr den modernen Sport so charakteristischen Vernderungen hat Musil am Beispiel der Normierung von Schlagtechniken und der Beschleunigung der Blle auch in seinem Essay Als Papa Tennis lernte herausgestellt.

2. Sport als psychotechnisches System Genaue Messbarkeit, Vergleichbarkeit und damit Steigerung der menschlichen Leistung charakterisieren also den modernen Sport ebenso wie den Taylorismus und die Psychotechnik. Die Grundlage der wissenschaftlichen Betriebsfhrung, die an der Rationalisierung des Kçrpers ansetzte, bildete die Zerlegung eines Bewegungsablaufs in ihre Teilakte, wie sie Musils ,Kraulformel‘ impliziert. Nach dem Ersten Weltkrieg bildete die Steigerung der industriellen Produktion und die gleichzeitige Integration der heimkehrenden Soldaten und Kriegsversehrten die wichtigste Aufgabe der sich ausweitenden Psychotechnik. Whrend die deutsche Industrie an den Einsatz psychotechnischer Methoden im Militr und der zentral geregelten Kriegsproduktion anschließen konnte, war diese Entwicklung an sterreich und seiner Armeefhrung weitgehend vorbergegangen. 1920 erhielt Musil als Fachbeirat im çsterreichischen Bundesministerium fr Heerwesen die Aufgabe, „das Offizierskorps in die Methoden der Geistes- und Arbeitsausbildung einzufhren“ und „an Ort und Stelle Offizieren, Unteroffizieren und Wehrmnnern Vortrge ber Aufgaben, Ziele und Arbeitsmethodik S. 142 f. Bis heute wird im deutschen Schwimmunterricht hufig mit dem Brustschwimmen begonnen. 18 Musil, Kunst und Moral des Crawlens, GW II, S. 695.

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der geplanten Ausbildungszweige“ zu halten.19 Er war – wie er selbst einrumte – zwar kein ausgewiesener Experte in Sachen Psychotechnik, aber sein Fachwissen als Ingenieur kam ihm bei diesem Auftrag sicher ebenso zugute wie seine Studien in experimenteller Psychologie bei Carl Stumpf (1848 – 1936) in Berlin.20 Den Ertrag seiner Ttigkeit hat Musil in dem Aufsatz Psychotechnik und ihre Anwendungsmçglichkeit im Bundesheere (1922) zusammengefasst.21 Der Aufsatz gliedert sich in drei Abschnitte: 1. Psychologie und Psychotechnik, 2. Erklrung der psychotechnischen Methodik und 3. Anwendungsmçglichkeit im Bundesheer. Unter „Psychotechnik“ versteht Musil in direktem Anschluss an Hugo Mnsterberg zunchst allgemein „die Anwendung der wissenschaftlichen Psychologie, zur Erreichung praktischer Zwecke; ihr Verhltnis zu dieser ist etwa das gleiche, wie das der technischen Wissenschaften zu den ihnen zugrundeliegenden Naturwissenschaften.“22 Entsprechend kçnne die Psychologie selbst als experimentelle Naturwissenschaft betrachtet werden.23 Musil betont ihre Bedeutung als selbststndige Wissenschaft, um bedauernd festzustellen: Oesterreich besitzt leider kein einziges auf der Hçhe stehendes Institut; kleinere bestehen in Graz, Innsbruck und Wien. In seinem Aussehen ist ein solches Institut nicht unhnlich einem physikalischen; um ein Bild von der Przision der Arbeitsweise zu geben, sei bloß angefhrt, daß als Maßeinheiten hufig die Tausendstelsekunde und der Millionstelmillimeter zur Anwendung gelangen.24

Von den technischen Mçglichkeiten und der Messgenauigkeit zeigt Musil sich hier fasziniert und begeistert. Im Folgenden gibt er einen berblick ber den Entwicklungsstand solcher Forschungsinstitute in Deutschland 19 sterreichisches Staatsamt fr Heereswesen Brief an Robert Musil vom 2. 9. 1920, Briefe, Bd. I, S. 205. ber Musils Ttigkeit im Ministerium ist insgesamt relativ wenig bekannt. Vgl. Corino, Robert Musil, S. 605. 20 Vgl. Corino, Musil, S. 237; vgl. auch Musils Briefe an das Bundesministerium fr Heereswesen vom 1. Mrz 1922, Briefe, Bd. I, S. 256, und vom 13. Juli 1922, Briefe, Bd. I, S. 264. Zu Musils Berliner Studienjahren vgl. Corino, Robert Musil, S. 219 234; Hoffmann, Dichter am Apparat, S. 64 77. 21 Es handelt sich genau genommen um einen Vortrag, den Musil am 10. Mrz 1922 in Wien gehalten hat. Vgl. Manfred Moser: Ing. Dr. phil. Robert Musil: Ein Soldat erzhlt, in: Friedrich A. Kittler/Georg Christoph Tholen (Hrsg.): Arsenale der Seele. Literatur und Medienanalyse seit 1870, Mnchen 1989, S. 97 115, S. 98. 22 Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 179. 23 Vgl. Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 179. 24 Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 181.

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und Amerika, „dem Mutterland der wissenschaftlichen Betriebsfhrung oder des Taylorismus“. Aus der industriellen Praxis hervorgegangen bediene sich die angewandte Psychologie heute wissenschaftlich geschulter Psychologen, sogenannter „Leistungsingenieure“.25 In der Industrie htten Betriebe wie A.E.G., Siemens und Halske sowie Bosch und Loewe psychotechnische Untersuchungsmethoden eingefhrt.26 Im Krieg sei die Psychotechnik auch auf militrische Probleme angewandt worden: Zur Durchfhrung gelangten hauptschlich sogenannte Eignungsprfungen fr den Dienst als Flugzeugfhrer und Flugzeugbeobachter, als Kraftwagenfhrer und Funker. Auch die Eignung zum Schallmeßdienst wurde psychotechnisch erhoben u. zw. all das nicht etwa zu privaten Forschungszwecken, sondern in offiziellem Auftrag.27

Die Schlussfolgerung, die Musil aus dieser bersicht zieht, lsst bei aller Vorsicht vor allem Faszination anklingen: „Es drften schon diese Angaben fhlen lassen, daß man in der Psychotechnik eine zwar neue und unvollendete, aber wissenschaftlich wie praktisch vollkommen ernst zu nehmende Erscheinung grçßter Wichtigkeit vor sich hat.“ 28 Diese „Wichtigkeit“ liegt in der Verbindung von Wissenschaft und Lebenswelt, die den Alltag zum Testfall macht. So unterschiedlich die Anwendungsgebiete der Psychotechnik auch sind, ihren Ausgangspunkt bildet, wie Musil im zweiten Teil seines Aufsatzes ausfhrt, immer die Praxis, welche eine Aufgabe stellt, die psychologische Komponenten enthlt und psychotechnisch gelçst werden soll. Diese Komponenten kçnnen sich auf die „Eigenschaften eines Menschen“ beziehen, die untersucht oder beeinflusst werden sollen, oder auf die „Ermittlung der psychologisch gnstigsten Form einer menschlichen Leistung und des dazu bentzten Werkzeugs“.29 Der Psychotechniker werde diese Komponenten auf „psychophysische Teilakte“ zurckfhren, um sie wissenschaftlich zu kontrollieren oder zu beeinflussen. Je besser dies gelinge, desto grçßer sei der Erfolg.30 Die Bedeutung einer solchen Zerlegung von Bewegung zeigt Musil am Beispiel der Eignungsprfungen fr die Telefonistinnen der amerikanischen Bell Telephone Company auf. Er hebt besonders hervor, dass die 25 26 27 28 29 30

Vgl. Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 182. Vgl. Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 182. Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 182. Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 182 [Herv. i. Orig.]. Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 183. Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 183.

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Teilakte nichts mehr mit der ursprnglichen Bewegung des Telefonierens zu tun haben: „Niemals verwendet die Psychotechnik etwa Modelle, welche den zu untersuchenden Vorgang im kleinen wiedergeben, sie wrde damit ja nicht das geringste an Sicherheit und Schnelligkeit gegenber der praktischen Erfahrung gewinnen.“31 Die Eignungstests, die unter wissenschaftlicher Anleitung und experimentellen Bedingungen erhoben wurden, setzten die Menschen der Apparatur der Tests aus, die die alltgliche Erfahrung z. B. des Telefonierens radikal entwerteten.32 Schon Taylor hatte festgestellt, dass die wissenschaftliche Betriebsfhrung das Erfahrungswissen dezimiert. Individuelle Lernerfolge und das eigene Verfgen ber bestimmte Eigenschaften werden dadurch ebenso in Frage gestellt wie der Realittsgehalt der Lebenswelt. Allerdings bemerkt Musil einschrnkend, dass sich psychologische Gesetzmßigkeiten nicht so klar feststellen lassen wie physikalische. Psychologische Arbeiten bruchten daher viel Takt und die einfach wirkenden Tests mssten von „geschulten Fachmnnern“ durchgefhrt werden, „wenn sie nicht Unsinn oder Unheil stiften sollen!“33 Im dritten und lngsten Abschnitt geht Musil ausfhrlich auf die Anwendungsmçglichkeiten fr psychotechnische Lçsungen im Heer ein. Die Schwierigkeit, dass er damit nach eigener Aussage „Neuland“ zu betreten hat, versucht er dadurch aufzufangen, dass er zunchst auf Anwendungen der Psychotechnik im Schulwesen und in Gewerbe, Landwirtschaft und Berufsberatung eingeht. Im Unterschied zum Militrwesen lagen ihm fr diese Bereiche mit Mnsterbergs umfangreichem Werk Grundzge der Psychotechnik Untersuchungen und Anwendungsbeispiele in reichem Ausmaß vor. Als Ziel der Psychotechnik bestimmt Musil einerseits die „Steigerung der Leistungsfhigkeit durch Rationalisierung des Arbeitsvorganges“34 und andererseits die „Steigerung der Leistungsfhigkeit durch Rationalisierung der Werkzeuge und Maschinen“.35 Bemerkenswerterweise hlt er 31 32 33 34 35

Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 184 [Herv. i. Orig.]. Vgl. Rieger, Die Individualitt der Medien, S. 135. Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 184. Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 190. Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 190. Damit trifft er eine Unterschei dung, die Giese 1928 in Subjekt und Objektpsychotechnik fassen sollte. Zum Bereich der Subjektpsychotechnik, die versucht das Subjekt, also den Menschen, an die Wirklichkeit anzupassen, zhlen die Eignungsprfungen und die jeweili gen Anlernverfahren fr Maschinen, Arbeitspltze oder Arbeitsablufe. Zum Bereich der Objektpsychotechnik gehçren umgekehrt die Anpassung von

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eigens fest, dass die Steigerung der Leistungsfhigkeit im gesamtgesellschaftlichen Interesse liege. Die Kritik der Gewerkschaften an der Einfhrung psychotechnischer Verfahren, die darin eine zustzliche Belastung der Arbeiterschaft erkannten, bersieht Musil zwar nicht, aber schließlich lasse sich auch dieses Problem psychotechnisch lçsen. Denn fr das „seelische Befinden des ,taylorisierten‘ Arbeiters“ biete die angewandte Psychologie „abermals wertvolle Hilfen“.36 Mit anderen Worten: Die Psychotechnik lçst sogar die Probleme, die sie selbst geschaffen hat. Dagegen scheint Musil zunchst ausgerechnet das Militr von der universellen Reichweite der Psychotechnik ausnehmen zu wollen: „Man darf dem Psychotechniker dabei [beim Militr] jedoch nicht etwa den Glauben unterschieben, daß er gekommen sei, und nun werde alles anders werden.“37 Denn, so Musils Pointe, dass Militr verfge bereits in seiner gewçhnlichen Praxis ber psychotechnische Elemente, die es nur noch genauer herauszuarbeiten gelte. Ich glaube nun sagen zu drfen, daß es gerade in der Tradition des militrischen Dienstes liegt, ganz von selbst eine Art Psychotechnik zu werden, und daß da außerordentlich wertvolle Erfahrungen in einer Art Ueberlieferung bereits vorliegen; die gesamte Ausbildung, vor allem die technische, mit dem Streben nach grçßter Raschheit, Exaktheit, Verlßlichkeit, Erlernbarkeit usw. stellt ein kleines psychotechnisches System fr sich dar.38

Als Beispiel nennt Musil die „Bedienungsgriffe der verschiedenen Kampfmittel“, die stets nach tayloristischen Gesichtspunkten gebt worden seien.39 In diesem Zusammenhang erlutert er außerdem, inwiefern Sportleistungen ein Vorbild fr die Leistungssteigerungen in rationalisierten Arbeitsvorgngen sein kçnnen.40 Es gehe nicht darum, eine Bewegung in immer schnellerem Tempo auszufhren, sondern – ganz im Sinne des Scientific Management – „die maximale Geschwindigkeit von

36 37 38

39 40

Werkzeugen, Maschinen oder Reklamemitteln an die Anforderungen des Men schen, ein Bereich, der noch weniger entwickelt sei. Vgl. Giese, Psychotechnik, S. 8. Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 190. Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 194. Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 194. Tatschlich zeigen schon frh neuzeitliche Drillbcher, dass es gerade im Militr auf automatische Bewe gungsablufe ankommt, die die Soldaten durch bung lernen. Vgl. Arnd Beise: ,Kçrpergedchtnis‘ als kulturwissenschaftliche Kategorie, in: Bettina Bannasch/ Gnter Butzer (Hrsg.): bung und Affekt. Formen des Kçrpergedchtnisses, Berlin, New York 2007, S. 9 25, hier S. 15. Vgl. Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 195. Vgl. Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 195.

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Anfang an durch die Einbung bestgewhlter Bewegungen“41 zu ermçglichen. Musil zitiert hier Mnsterberg, der zur Anordnung von Bewegungen folgendes ausgefhrt hatte: Ganz besonders wichtig aber ist es, daß, sobald bestimmte Bewegungskombinationen als die wirtschaftlich zweckmßigsten einmal festgestellt sind, der Lernende sofort gençtigt wird, ausnahmslos diese mustergltige Methode zu verwenden, so daß von Anfang an diejenigen Impulse eingebt werden, die allmhlich zur schnellsten und wirtschaftlich besten Leistung fhren mssen. Das Verfahren wendet sich also aufs schrfste gegen diejenige Gewohnheit, die den Lernenden zunchst anleitet, irgendwie mçglichst korrekte Arbeit zu leisten, und dann, nachdem sich schon zufllige Bewegungskombinationen herausgebildet haben, erst nachtrglich zu schnellerem Tempo hindrngt. Die maximale Geschwindigkeit muß von Anfang an durch die Einbung der bestgewhlten Bewegungen vorbereitet sein. 42

Gegenber der schrittweisen Kombination von Teilakten der Bewegung favorisiert Musil mit Mnsterberg das Erlernen des gesamten Bewegungsablaufs. Diese „Bewegungsanordnungen“ entsprchen – wie sich im Sport zeige – zwar nicht immer dem natrlichen Bewegungsablauf, steigerten aber die Leistung erheblich.43 Auch bei der Auswahl von Spezialisten durch Eignungsprfungen seien die Erfahrungen aus dem „Gebiet der Kçrperleistungen“ und dem „Sportgebiet“ hilfreich.44 Dazu zhlt Musil neben Ermdung und bung beispielsweise Experimente zum Verhltnis zwischen Steigerung der Kraftleistung und Ausdauer oder zwischen Kraftleistung und Schnelligkeit der Bewegung. Besondere Versuche zeigten, daß auch Ttigkeiten, die einander widersprechen, bei entsprechender Anlage der Uebung gesteigert werden kçnnen. Auch der Einfluß von Uebungsunterbrechungen ist geprft worden. Bei der eben erwhnten Untersuchung des Ballspiels ergab sich, daß einmonatige Unterbrechungen die Leistungen steigerten, u. zw. ganz ohne Zwischensenkung.45

Damit hat Musil als erster den Zusammenhang von psychotechnischen Verfahren und Sport benannt. Sein Gewhrsmann Mnsterberg jedenfalls hat – anders als Taylor – auf seinen weit ber 700 Seiten die Bedeutung 41 42 43 44 45

Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 195. Mnsterberg, Grundzge der Psychotechnik, S. 391 [Herv. von mir, A.F.]. Vgl. Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 195. Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 197. Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 198.

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des Sports oder der Sportausbung nicht einmal erwhnt.46 Musils Beispiele belegen, dass das Rekordstreben den Sport zum Testfall macht. Als psychotechnisches System zielt der Sport auf hçchste Exaktheit und Leistungssteigerung. Damit verndert sich auch die Kultur des Sports, die Musil in Als Papa Tennis lernte kritisch beleuchtet hat. Denn gegenber dem Moment von Kampf und Spiel tritt im Sport die Bedeutung des Messens hervor, die den Mensch in Konkurrenz zur Apparatur treten lsst. Den Zusammenhang zwischen Sport und Psychotechnik haben nach Musil Benjamin und Ernst Jnger (1895 – 1998) prgnant hervorgehoben. Beide haben die Messung der sportlichen Leistung in den Kontext der Eignungsprfungen und der Industriearbeit gestellt.47 Benjamin hat darber hinaus den Sport als psychotechnisches System reflektiert: Grundlage des Sports bildet ein System von Vorschriften, das menschliche Verhaltungsweisen in letzter Instanz der Messung durch die elementaren physikalischen Maßstbe zufhrt: der Messung nach Sekunden und Zentimetern. Es sind diese Messungen, die den sportlichen Rekord etablieren. Die alte agonale Form verschwindet zusehends aus der modernen Sportbung. Diese entfernt sich von Konkurrenzen, die den Menschen am Menschen messen. Nicht umsonst hieß es von Nurmi, daß er gegen die Uhr lief. Damit ist der zeitgemße Standort der Sportbung festgestellt. Er lçst sich vom agonalen ab, um die Richtung des Tests einzuschlagen. Dem Test in seiner modernen Gestalt ist nichts gelufiger, als den Menschen an einer Apparatur

46 Auch das „Kriegswesen“ bleibt bei Mnsterberg vollkommen außen vor, obwohl es zahlreiche „Berhrungspunkte mit dem Heeresdienst und dem Krieg“ gebe, wie er am Ende seines Buches extra betont. Doch habe er zunchst die Bedeutung der Psychotechnik fr die Kulturaufgaben hervorheben wollen. Vgl. Mnster berg, Grundzge der Psychotechnik, S. 732. 47 Vgl. Ernst Jnger: ber den Schmerz [1934], in: Ernst Jnger. Smtliche Werke, Bd. 7 (= Essays I: Betrachtungen zur Zeit), Stuttgart 1980, S. 145 191, hier bes. S. 185 188; Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner techni schen Reproduzierbarkeit [Erste Fassung, 1935], in: Walter Benjamin. Gesam melte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhuser, Frankfurt/Main 1974, Bd I, 2, S. 431 469, bes. S. 449 f. Zu weiteren Bezgen zwischen Musil und Jnger vgl. Hoffmann, Dichter am Apparat, S. 263 269; Kmmel, Das MoE Programm, S. 197 201. Zu Jnger und Benjamin vgl. Bernhard Siegert: Ein hçheres Walten des Wortes. Fußballreportagen im deut schen Radio 1923 1933, in: Matias Martinez: Warum Fußball? Kulturwis senschaftliche Beschreibungen eines Sports, Bielefeld 2002, S. 125 144, hier S. 136.

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zu messen. Gemessen an der Apparatur der Tests ist die sportliche ungemein primitiv.48

3. Stil und Normierung In Kunst und Moral des Crawlens ist es das Kraulschwimmen, das auf den ersten Blick nicht dem natrlichen Bewegungsablauf zu entsprechen scheint. Vielmehr lasse es sich durch einen „Bewegungswiderspruch“ beschreiben, wie das essayistische Ich dem fingierten Briefpartner erlutert.49 Das Paradox des Kraulens besagt, dass die in Abschnitte geteilte Bewegung nur in der Summe der Teile das Maximum mçglicher Leistungskraft erreicht. Damit liefert das Kraulschwimmen ein Beispiel fr „Ttigkeiten, die einander widersprechen, bei entsprechender Anlage der Uebung gesteigert werden kçnnen“, wie Musil im Bundesheer-Aufsatz ausgefhrt hatte.50 Diese Steigerung besttigt gleichzeitig die Mnsterbergsche Annahme, dass es von vornherein auf die „bestgewhlten Bewegungen“ ankomme. Damit lsst sich der Erfolg der komplexen Kraulbewegung zwar experimentell belegen, verstehen aber lsst sich der ihr eigene Widerspruch nicht. Mathematisch gesehen ist das Paradox des Kraulens Unsinn und vielleicht ist der Text deshalb in einem Heft mit dem Titel „Fug und Unfug des Sports“ erschienen.51 So orakelt das essayistische Ich, dass die Entwicklung der Schwimmtechniken, und vollends das Crawlen, „in ihrer Wirkung hydrodynamische Geheimnisse“ seien.52 Um sie zu lften, mßte man wohl Stromlinien, Wirbel, Druckgeflle, Gleitwiderstnde und andere Plagen der Theorie der Bewegung eines festen Kçrpers in Flssigkeiten aus dem Schiffs-, Turbinen- und Flugzeugbau heranziehn, um erst am Ende auf den naheliegenden Gedanken zu kommen, daß der Kçrper, mit dem man es zu tun habe, gar kein fester, sondern ein elastischer und in sich vernderlich bewegter sei.53 48 Walter Benjamin: Paralipomena, Varianten und Varia zur ersten Fassung von Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhuser, Frankfurt/ Main 1974, Bd. I, 3, S. 1039. 49 Vgl. Musil, Kunst und Moral des Crawlens, GW II, S. 695. 50 Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 198. 51 So der Titel des Sport Heftes im Querschnitt 1932. Vgl. Der Querschnitt 12 (1932), H. 6. 52 Musil, Kunst und Moral des Crawlens, GW II, S. 695. 53 Musil, Kunst und Moral des Crawlens, GW II, S. 695.

Stil und Normierung

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Ebenso ironisch bemht das essayistische Ich die Perspektive biomechanischer Anstze, die aufgrund des Kçrperbaus das Schwimmen der Menschen mit dem der Tiere vergleichen.54 Muss das Kraulen in dieser Sicht als „abgefeimtes Nichtschwimmen“ erscheinen, „das allerdings auch mit allerhand Bewegungselementen versetzt ist, die dem Kçrper von Robben, Seehunden und sdlicheren Meisterschwimmern abgeguckt sind“,55 so ist das Brustschwimmen immerhin als „Versuch“ einzuordnen, „besser zu schwimmen, als es einem von Natur gegeben ist, der sich scheinbar nach irgendwelchen rudernden Wassertieren, Kfern, Krçten oder hnlichen, gerichtet hat.“56 Da der Frosch lange als Vorbild fr das Brustschwimmen galt, ist Musils Vermutung sogar richtig, dass das Brustschwimmen Krçten oder hnlichen abgeschaut sei.57 Gleichwohl lasse sich die Frage nach den wissenschaftlichen Grundlagen des Kraulens so noch nicht eindeutig beantworten, wie das essayistische Ich dem Briefpartner zugibt, wenngleich es sich zuversichtlich zeigt, dass diese mit der Zeit noch geklrt wrden.58 Da aber bislang keine einzige Abhandlung zu diesem Thema vorliege, sei das Kraulen wohl doch keine Wissenschaft. Die Antwort auf die Frage „Kunst oder Wissenschaft“ msse daher „im Bereich der Kunst und der Persçnlichkeit“59 gesucht werden, der – ebenso wie das Kraulschwimmen – mit dem Problem des Stils verbunden sei. Damit erweist sich der Sport einmal mehr als Muster der essayistischen Selbstreflexion, whrend der wissenschaftliche Diskurs fr den Essayismus, wie der Briefwechsel ironisch vorfhrt, unbersetzbar bleibt.60 ber den ,Stil‘ hat Musil in verschiedenen Zusammenhngen, vor allem aber in Hinblick auf den raschen Wechsel der Kunststile, geschrieben und nachgedacht. In Kunst und Moral des Crawlens heißt es ber den Stil knapp: „Von Stil spricht man immer dort, wo eine Leistung nicht eindeutig abgefordert ist, wo ein gewisses arbitrres Verhltnis 54 55 56 57

Vgl. Musil, Kunst und Moral des Crawlens, GW II, S. 695. Musil, Kunst und Moral des Crawlens, GW II, S. 696. Musil, Kunst und Moral des Crawlens, GW II, S. 696. Der Beinschlag beim Brustschwimmen wurde auch ,Froschstoß‘ genannt; dem Handbuch fr Schwimmlehrer von 1852 zufolge wurden Frçsche beim Militr als lebende Anschauungsobjekte im Schwimmunterricht eingesetzt. Vgl. Krauß, Schwimmen, S. 26. 58 Vgl. Musil, Kunst und Moral des Crawlens, GW II, S. 697. 59 Musil, Kunst und Moral des Crawlens, GW II, S. 696. 60 Zum Verhltnis von wissenschaftlichem und essayistischem Diskurs vgl. Nbel, Robert Musil, S. 158 f.

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zwischen Aufgabe und Lçsung herrscht.“61 Whrend es gewisse Eigentmlichkeiten gebe, die alle Arten des Kraulens gemeinsam htten, gingen die Meinungen „zum Beispiel ber die Zahl und Skandierung der Fußschlge im Verhltnis zum Armtempo, ber den Weg des Arms, ber den Grad der Kçrperstreckung und vor allem ber das Zusammenwirken dieser Einzelheiten“62 auseinander. Beim Kraulen sei der Stil daher die Kunst, jene Lcke auszufllen, die die Unwissenheit ber „die rationellen Bedingungen des Schwimmens“63 bislang hinterlasse. Das Phnomen des Stils ist demnach als individuelle Arbeit am Kçrper zu bewerten, die an die Stelle einer wissenschaftlich nachprfbaren Lçsung tritt. Fr Carl Krmmel (1895 – 1942) ist der Stil sogar eines der Hauptelemente des Trainings: Er charakterisiert den Stil als persçnliche Bestform, durch die sich der Mensch von den anderen unterscheide.64 Im Sinne dieser Bestform hat Musil in seinem berhmten Interview mit Oskar Maurus Fontana (1889 – 1969) den Stil als die „exakte Herausarbeitung eines Gedankens“ bezeichnet.65 Wo aber die Ziele geistigen Trainings nicht klar sind, folgt der Stil dem Wechsel der Moden und der Pluralisierung der Lebenswelt. Sein begriffliches oder sthetisches Unterscheidungsvermçgen wird nivelliert: Wir scheinen die merkwrdige Eigenschaft zu haben, daß wir, wenn wir einmal etwas wollen, es so lange weiter wollen kçnnen, bis nichts mehr zu wnschen brig bleibt, daß wir aber im Ganzen nicht wissen, was wir wollen sollen. So verhlt es sich ja meistenteils auch in der Kunst, wo die Stile aufblhn, in sich dicht werden und vermorschen wie die Bume. Und so kann man sogar von Stilen der Moral reden, was verrt, daß diese nicht so sicher ist, wie sie selbstsicher tut.66

61 62 63 64

Musil, Kunst und Moral des Crawlens, GW II, S. 697. Musil, Kunst und Moral des Crawlens, GW II, S. 696. Musil, Kunst und Moral des Crawlens, GW II, S. 697. Vgl. Carl Krmmel: Eignungslehre, In: ders. (Hrsg.): Athletik. Handbuch der lebenswichtigen Leibesbungen, Mnchen 1930, S. 84 123, hier S. 101; vgl. zum Stil auch den Querschnitt Artikel des Verfassers, Der Kugelstoßer Hirschfeld, S. 564. 65 Was arbeiten Sie? Gesprch mit Robert Musil [30. April 1926], GW II, S. 939 942, hier S. 942. Schon bei Nietzsche findet sich die Bemerkung, dass den „Stil verbessern“, „den Gedanken verbessern“ heißt. Vgl. Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch fr freie Geister (= Kritische Stu dienausgabe, Bd. 2, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Neuausgabe Mnchen 1999 [2. durchges. Aufl. 1988]), Bd. II, S. 610. 66 Musil, Kunst und Moral des Crawlens, GW II, S. 697.

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Das Problem des Stils hngt daher mit Fragen der Orientierung und der Zukunftsfhigkeit der Gesellschaft zusammen. Diese Fragen sind fr Musil direkt mit dem Problem einseitiger Rationalitt verknpft, das er in seinen Essays immer wieder thematisiert hat. Die Widersprche der modernen Rationalitt werden in den Essays ebenso wie im Mann ohne Eigenschaften durch die Figur des Mathematikers deutlich, dessen leidenschaftliches Denken utopisches Potenzial besitzt. Gleichzeitig beklagt Musil in Der mathematische Mensch, dass die Abenteuer des Denkens zugunsten des Tatsachenwissens und statistischer Berechnungen immer strker zurcktreten: „Das ist Triumph der geistigen Organisation. Das ist die alte Landstraße mit Wettergefahr und Ruberunsicherheit ersetzt durch Schlafwagenlinien. Das ist erkenntnistheoretisch betrachtet konomie.“67 Dass die Mathematik den Bezug zum Leben des modernen Menschen zu verlieren droht, macht nicht zuletzt die Formel deutlich, die das Paradox des Kraulens auf den Punkt bringt.68 Dennoch ist es die Exaktheit mathematischen Denkens, das mittels Logik und Przision Ansprche auf „Tiefe, Khnheit und Neuheit“ machen darf, und damit, so Musils Zukunftshoffnung, nicht nur das Rationale, sondern auch das Gefhl erfassen kann.69 Die exakte Herausarbeitung eines solchen Gedankens ist dann allerdings die „Sache der Dichter“70. Nach dem Ersten Weltkrieg sieht Musil die zuknftige Perspektive allerdings weit skeptischer: „Wir haben nicht zuviel Verstand und zu wenig Seele, sondern wir haben zuwenig Verstand in den Fragen der Seele.“71 Bereits Der mathematische Mensch hatte konzediert, dass das Gefhl gegen den Intellekt ausgespielt werde, die Rationalitt als Zweckrationalitt erscheine oder als Rationalismus geschmht werde.72 67 Musil, Der mathematische Mensch, GW II, S. 1005. 68 Vgl. Robert Musil: Der mathematische Mensch [1913], GW II, S. 1004 1008, S. 1006. 69 Vgl. Musil, Der mathematische Mensch, GW II, S. 1007. 70 Musil, Der mathematische Mensch, GW II, S. 1008. 71 Robert Musil: Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste [1922], GW II, S. 1075 1094, hier S. 1092. Vgl. dazu Marie Luise Roth: Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste. Versuch einer In terpretation, in: Jirˇ Munzar/Frantisˇek Herman (Hrsg.): Robert Musil. Ein Mitteleuroper, Brnn 1994, S. 11 23; David R. Midgley: „Das hilflose Eu ropa“: Eine Aufforderung, die politischen Essays von Robert Musil neu zu lesen, in: The German Quarterly 67 (1994), S. 16 26. 72 „Wir andern haben nach der Aufklrungszeit den Mut sinken lassen. Ein kleines Mißlingen gengte, uns vom Verstand abzubringen, und wir gestatten jedem

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Die Rationalitt der Gegenwart ist einseitig, weil sie den einzelnen Menschen nicht einbezieht, sondern von ihm abstrahiert. Mangelnde Erfahrung und Selbstreflexion fhren praktisch zu Orientierungslosigkeit, die sich im wechselnden Gewand der jeweils fhrenden Stile und ihrer Tonangeber nur notdrftig versteckt, und angesichts der großen Herausforderungen der Zeit katastrophale Folgen hat: „Muß man durch irgendwelche Umstnde mehrmals den Lehrer wechseln, so gert man unweigerlich in die Gefahr des Ertrinkens. So zeigt sich der Stil.“73 Dennoch ist der Stil keineswegs willkrlich, sondern lsst sich sogar „vervollkommnen“, „bis ein Punkt erreicht wird, wo es so nicht weitergeht.“74 Der Stil fllt damit die Lcke, die zwischen Lebenswelt und Wissenschaft klafft. Denn trotz der Fortschritte, die die angewandte Psychologie durch den Ersten Weltkrieg gemacht habe, muss Musil in seinem Bundesheer-Aufsatz bedauernd feststellen, dass die wissenschaftliche Verarbeitung der Ergebnisse nicht immer habe Schritt halten kçnnen.75 Dem Militr selbst hatte Musil viele Eigenschaften zugestanden, die analog zum Sport auf bung und Erfahrung beruhen und psychotechnische Zge tragen: So falsch es wre, das nicht zu erkennen und zu bentzen, so falsch wre es aber auch, zu glauben, daß durch bewußte wissenschaftliche Anwendung eines Gesichtspunktes, der bisher jedenfalls ohne Methode angewendet worden ist, nicht doch noch wesentliche Vorteile zu gewinnen wren. Es wird sich zunchst vielleicht nur darum handeln, einen sozusagen arbitrren Zustand in einen systematischeren zu berfhren. Es wrde aber allen bisher gemachten Erfahrungen widersprechen, wenn sich dabei nicht auch in vielen Punkten verbesserte Praktiken ergeben sollten.76

Die Definition des Stils, die Musil in Kunst und Moral des Crawlens geliefert hat, lag also schon seiner Beschreibung der Psychotechnik im

73

74 75 76

çden Schwrmer, das Wollen eines d’Alembert oder Diderot eitlen Rationalismus zu schelten. Wir plrren fr das Gefhl gegen den Intellekt und vergessen, daß Gefhl ohne diesen abgesehen von Ausnahmefllen eine Sache so dick wie ein Mops ist. Wir haben damit unsre Dichtkunst schon so weit ruiniert, daß man nach je zwei hintereinander gelesenen deutschen Romanen ein Integral auflçsen muß, um abzumagern.“ (Musil, Der mathematische Mensch, GW II, S. 1007.) Vgl. Musil, Kunst und Moral des Crawlens, GW II, S. 696. Zu Musils Kritik am Anti Rationalismus als Leitmotiv seiner Essays vgl. Barbara Neymeyr: Musils skeptischer Fortschrittsoptimismus. Zur Ambivalenz der Gesellschaftskritik in seinen Essays, in: Zeitschrift fr deutsche Philologie 115 (1996), H. 4, S. 576 607, hier S. 591 f. Musil, Kunst und Moral des Crawlens, GW II, S. 696 [Herv. i. Orig.]. Vgl. Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 181. Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 194.

Stil und Normierung

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Bundesheer-Aufsatz zugrunde. Die Psychotechnik setzt damit an der Rationalisierung des Kçrpers an, der zum wissenschaftlichen Experimentierfeld der angewandten Psychologie wird. Dabei spielen, wie Musil klar erkennt, der militrische Dienst mit seiner Zurichtungspraxis und der Kçrper im Sport die entscheidende Rolle. Im Unterschied zu den militrischen Trainingsvorschriften des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die das „Recht der Individualisierung“ der Rekruten nicht nur kannten, sondern sogar empfahlen, um einer „schablonenhaften Anwendung des Turnens“ vorzubeugen,77 glaubt Musil zwar in seinem Bundesheer-Aufsatz, „psychotechnische Individualisierungen“ von einem „utopischen Zukunftsoffizier“ nicht verlangen zu kçnnen, „wohl aber kann die Vorschrift, die man ihm an die Hand gibt, so gehalten sein, daß sie das wichtigste auch aus diesem Gebiet bercksichtigt und dennoch in ihrem Ergebnis faßlich, einfach und unzweideutig, kurz elementar bleibt.“78 Die Frage der Individualisierung spielte in den militrischen bungs- und Ausbildungsbestimmungen eine wichtige Rolle. An diese Tradition knpft Musil – wie spter Foucault – unmittelbar an.79 So schrieb der Militrarzt Leitenstorfer: Es ist eine Grundbedingung fr ein erspriessliches militrisches Training, dass der Trainer die kçrperliche Beschaffenheit des ihm zur Abrichtung bergebenen Rekrutenmaterials kennt. Gerade zum Zwecke des Individualisierens muss er sich sowohl von den mitgebrachten Vorzgen als auch von den ungnstigen kçrperlichen Eigentmlichkeiten der Einzelnen Kenntnis verschaffen. Es gengt nicht, dass der Arzt der Truppe alle diese Einzelheiten kennt […]; gerade der Abrichter und sein Hilfspersonal mssen ber die individuellen Schwchen und Vorzge des ihnen anvertrauten Materials, die nur im unbekleideten Zustande der Leute gesehen werden kçnnen, informiert werden.80

Die Technik des Individualisierens kann mit Foucault als Ausdruck einer Macht beschrieben werden, die die Individuen als Objekte und Instrumente behandelt. Zu ihren Einsatzmitteln gehçrt, wie das Beispiel 77 Leitenstorfer, Das militrische Training, S. 66. 78 Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 196. 79 Die Rede von der Individualisierung drfte daher kaum auf Musil selbst zu rckzufhren sein, wie dies Stefan Rieger nahe legt. Vgl. Rieger, Individualitt der Medien, S. 157. Zu Musil und Foucault vgl. auch Friedrich Balke: Auf der Suche nach dem ,anderen Zustand‘. Robert Musils nominalistische Mystik, in: Moritz Baßler/Hildegard Chtellier (Hrsg.): Mystique, mysticisme et modernit en Allemagne autour de 1900, Straßburg 1998, S. 307 316. 80 Leitenstorfer, Das militrische Training, S. 67. Der Arzt kommt im Laufe seiner Ausfhrungen noch mehrfach auf die Frage des Individualisierens zurck.

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deutlich macht, der hierarchische Blick des Arztes und des Abrichters, kurz der „Zuchtgewalt“.81 Die Disziplinarmacht „verfertigt“ Individuen und setzt dafr an ihrem Kçrper an: „Die am Kçrper angewendete Disziplinartechnik hat zwei Effekte: eine Seele, die zu erkennen, und eine Unterwerfung, die zu vertiefen ist.“82 Foucaults Untersuchung endet nicht zufllig mit der Entstehung der Psychologie Mitte des 19. Jahrhunderts, da sich mit ihrer Entwicklung das Instrumentarium der Disziplinarmacht erheblich verfeinerte. Fr Musil lag deren Zukunft in einer Kombination von Disziplin und Psychotechnik: „Es lßt sich behaupten, daß die Art der Gewehrgriffe und die Art der Disziplin in einem Heer in einem Zusammenhang stehen. Wo also traditionelle Disziplinformen wieder hergestellt werden oder durch andere ersetzt werden sollen, vermag die angewandte Psychologie manchen wertvollen Fingerzeig zu geben […].“83 Mit dem wissenschaftlichen Fortschritt wird an die Stelle individueller Stile die psychotechnische Optimierung der Individuen treten, die nicht nur einzelne Bewegungen, sondern die ganze Persçnlichkeit erfasst: „Dann wird es nur noch soweit Stil geben, als die verschiedenen Arten der kçrperlichen Anlage verschiedene Ausnutzung verlangen, und etwa noch soviel wie bei einem Rennboot, das doch immer eine Individualitt ist, wenn es auch nach noch so genauen Formeln gebaut wird.“84 Die wissenschaftliche Zukunft des Menschen bildet auch das Thema von Musils kurzem, Fragment gebliebenen Text Normung des Geistes, der einen Blick in die Zeit wirft, „wo die Normungsbewegung nicht nur das Produkt, sondern auch den Menschen ergriffen haben wird.“85 Und voll ironischer berzeugung hlt Musil zum praktischen Nutzen dieser Optimierung fest: „Es kann ja gar kein Zweifel darber bestehn, daß der genormte Mensch große Vorteile gegenber dem ungenormten bieten wird […].“86 Denn der genormte Mensch wird perfekt in die von der Industrie festgelegte Ordnung eingepasst, deren geistige Wucht „der Renaissance nichts nachgeben wird“.87 Diese Bewegung greift den Menschen zunchst von außen an, weshalb Musil diesem ein vollkommen standardisiertes Erscheinungsbild prophezeit: „Er wird auswechsel81 82 83 84 85 86 87

Vgl. Foucault, berwachen und Strafen, S. 220. Foucault, berwachen und Strafen, S. 381. Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 200. Musil, Kunst und Moral des Crawlens, GW II, S. 697. Musil, Normung des Geistes [1927 oder spter], GW II, S. 799/800, hier S. 800. Musil, Normung des Geistes, GW II, S. 800. Vgl. Musil, Normung des Geistes, GW II, S. 800.

Stil und Normierung

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bar sein.“88 Zu dieser Standardisierung tragen Sport und Ernhrungsphysiologie bei, die zu verschiedenen Typisierungen fhren: „[…] die Japaner erzeugen heute schon durch bestimmte Ftterung große fette Ringkmpfertypen neben dem trocken-breit-kleinen Dschiudschitsutypus.“89 Auch das Innere des Menschen wird von der gesellschaftlichen Entwicklung nicht unberhrt gelassen, so dass die Bewegung der Normung und Optimierung selbst die Einstellungen der Menschen erfasst. Von hier aus wird ein weiteres Problem deutlich, welches sich fr Musil hinter der Frage des Stils verbirgt und das Verhltnis von innerer und ußerer Welt, von Ich und Gesellschaft betrifft. Dieses Verhltnis ist durch die statistische Reduktion des Denkens zu bloßen Formeln oder Schlagworten geronnen, die der Komplexitt der Wirklichkeit nicht gerecht werden.90 So gibt es, Musil zufolge, Stile des Schwimmens, Stile der Kunst und sogar Stile der Moral, „aber das Wesentliche daran ist nicht etwa, daß der Geschmack ein anderer wird, sondern daß er der gleiche bleibt, nmlich ein Etwas, dem es im Grunde nie klar ist, was es will.“91 Dass sich der Geschmack nicht ndert, zeigt, dass die Menschen nicht wissen, was sie wollen: „Stil wird immer von den Nachlufern gemacht; wenn sie ganz weit hinterdrein laufen, so daß sie die Spitze nicht mehr sehen, werden sie Vorlufer.“92 Im Unterschied zum Stil als persçnlicher Bestform – sei sie sportlich oder intellektuell – besteht der Stil wechselnder Moden in der Nachahmung. Diese Moden wechseln, wie schon Simmel festgestellt hatte, immer schneller und verweisen damit auf die verlorene Geltungsmacht echter berzeugungen.93 Fr Musil bedeutet das, dass die Menschen in Gestalt der wechselnden Stile das Geschft der Normung selbst betreiben. Der Stil als Psychotechnik des Alltags fhrt zu einer Nivellierung individueller Unterschiede, die deutlich macht, dass die 88 Musil, Normung des Geistes, GW II, S. 800. 89 Musil, Normung des Geistes, GW II, S. 800. 90 Richard Reichensperger spricht in diesem Zusammenhang davon, dass das Problem eines „Gefhlsgleichgewichts“ ungelçst sei. Vgl. Richard Reichensper ger: Sprache als Gesellschaftskritik in Musils Nachlaß zu Lebzeiten, in: Neue Anstze zur Robert Musil Forschung, hg. von Marie Luise Roth, Berlin, Bern, Frankfurt/Main 1999, S. 79 108, hier S. 85. 91 Musil, Kunst und Moral des Crawlens, GW II, S. 697. 92 Musil, Stilgeneration oder Generationsstil [14. Mai 1921], GW II, S. 663. Vgl. dazu Alexander Honold: Die Wiener Dcadence und das Problem der Gene ration, in: DVjs 70 (1996), S. 644 669. 93 Vgl. Simmel, Die Mode, S. 197 f.

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„Disziplinarmacht“ (Michel Foucault) der Institutionen in der Lebenswelt der Menschen angekommen ist: Aber sind der gute, der moralische, der normale, der verwendbare Mensch [,] sind der ideale Patriot, der disziplinierte Parteignger, der vollkommene Staatsbrger nicht schon genormte Menschen? Hier çffnen sich Zukunftsblicke fr alle normativen Institutionen. Was sie immer getan haben, werden sie nun mit den Hilfsmitteln u[nd] der unbestrittenen Autoritt der Wissenschaft u[nd] Technik tun. Der Strom der Zeit hat eine ihnen gnstige Richtung, die individuellen Reste, die er mit sich fhrt, schleifen sich ab.94

4. Die Zukunft des Menschen – Denk, Unhold und Faust Magenschlag Die eben zitierten „Zukunftsblicke“ hat Musil selbst in einer Skizze fr eine dramatische Satire „auf Zustnde, die kommen werden“ geworfen.95 In diesem Text, der sich in seinen Tagebchern findet und etwa zeitgleich mit dem Bundesheer-Aufsatz entstanden ist,96 schlgt sich Musils intensive Auseinandersetzung mit den Arbeiten Mnsterbergs in literarischer Form nieder. Eine genaue Analyse des Fragments steht noch aus. Es ist bislang als Beleg fr Musils Beschftigung mit Mnsterberg herangezogen worden,97 kann aber auch als Abrechnung mit der literarischen ffentlichkeit der zwanziger Jahre interpretiert werden.98 Gegenstand der Satire ist das psychotechnisch, und das heißt hier auch: eugenisch, optimierte Staatswesen. Die Volksvertreter werden von Gelehrten durch „Eignungsprfung“ bestimmt. Dazu gehçren beispielsweise die „Grçße der Mundhçhle“, die „Elastizitt der Stimmbnder“, ein „[g]utes Gedchtnis, langsame Auffassung“99. Politische Eignung besteht 94 Musil, Normung des Geistes, GW II, S. 800. Zu den Konsequenzen der Stan dardisierung vgl. auch Stefan Rieger: Man Without Qualification. Robert Musil and the Psychotechnics of Profession, in: Jrgen Schlaeger (Hrsg.): The An thropological Turn in Literary Studies, Tbingen 1996, S. 257 274, hier S. 267. 95 Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 553 568, hier S. 553. 96 Der Entwurf beschließt Heft 19 (1919 1921) der Tagebcher und lsst sich zudem aufgrund vorhergehender Eintragungen auf 1921 datieren. Auch Hoff mann gibt 1921 als Entstehungszeit der Satire an; vgl. Hoffmann, Dichter am Apparat, S. 249. 97 Vgl. Hoffmann, Dichter am Apparat, S. 249 253; Rieger, Individualitt der Medien, S. 176 f. 98 Vgl. Leis, Sport in der Literatur, S. 114 f. 99 Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 565.

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also demnach vor allem in einer bestimmten psychophysiologischen Ausstattung des Menschen. „Grundstze werden wissenschaftlich vereinfacht und gestempelt. Alle Parteien haben die gleichen. Das altsprachliche Programm soll Stze ber Kultur enthalten.“100 Musils Skizze rckt den satirischen Zukunftsentwurf in den Kontext der Neuen Sachlichkeit und der Sportbegeisterung der zwanziger Jahre, vor allem der feuilletonistischen Vorliebe fr das Boxen. Die Hauptfiguren sind „die Zeit“ in Gestalt von Tempora Maier und Faust Magenschlag, Weltmeister im Boxen. Die sachliche und banale Zeit der Maiers liebt Boxer – „mit nicht ganz gutem Gewissen“101 – und Ingenieure.102 Ihre Gegenspieler sind die Satyre Denk und Unhold, die Reprsentanten des Geistes. Whrend der I. Akt in einem Park in der Nhe einer Zukunftsgroßstadt spielt, ist der II. Akt in einem psychotechnischen Zukunftsinstitut angesiedelt. Aufschlussreich ist der weit ausgefhrte Dialog zwischen Tempora und Faust im I. Akt ber Geist und Geld. Faust mokiert sich ber die lcherlichen zweitausend Mark, die der Schillerpreistrger fr das beste Feuilleton der letzten zwei Jahre erhalten wird, whrend seine Hand bereits in der Minute 25 000 Mark wert sei. Tempora, die ,Kraft und Schçnheit‘ des Boxers bewundert, bemht sich mit Allgemeinpltzen, den Geist gegen Fausts Schlge zu verteidigen – „Sie mssen wissen, daß Geist nicht mit Geld aufzuwiegen ist“103 – gibt damit aber nur um so deutlicher zu erkennen, dass die Debatten im Feuilleton zu leeren Formeln erstarrt sind. Besonders einfltig wirkt in diesem Zusammenhang ihr Vorschlag, Faust solle whrend des Trainings „die Augen empor heben und etwas Tiefes ber die hellenische Kultur denken.“104 Mit der mnnlichen Figur des Boxers und Tempora 100 Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 565. Zur Differenz zwischen der Kultur der Antike und moderner Standardisierung schrieb Giese: „Amerika ist bestrebt, in den breiten Schichten eugenisch zu wirken und gerade die Massen zu treffen. Es ist das Land uniformierter Geister, ohne starke Individualitt, ohne Hochgipfel menschlichen Vermçgens. Aber von ausgezeichneter Standardgte des Mittel menschen. Das verbindet sich dort mit der Sportkultur und das unterscheidet es auch schon ußerlich von griechischen Vorbildern.“ (Giese, Geist im Sport, S. 21.) 101 Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 553. 102 Zum Ingenieur als literarischem Prototyp der Neuen Sachlichkeit vgl. Carl Wege: Buchstabe und Maschine. Beschreibung einer Allianz, Frankfurt/Main 2000. 103 Musil, Tagebcher, Bd I, S. 555. 104 Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 557.

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Maier als satirisch berzeichneter Anhngerin kulturbeflissenen „Kçrpergeistes“ parodiert Musil die kçrperbetonte Kultur der Gegenwart auch in geschlechtsspezifischer Hinsicht.105 Selbst die Dichter Brunnenmaul und Blechklang erscheinen als Teilnehmer eines Wettkampfs, nmlich der durch Faust Magenschlag lcherlich gemachten Verleihung des Schillerpreises.106 Tempora hat ihre Sensationen im Feuilleton; das „Volk hat Sportsensationen und Neuigkeiten; die Technik der Neuigkeiten ist aufs hçchste ausgebildet.“107 Diese automatisierte Sensationslust macht den Unterschied zwischen Dicht- und Boxkunst tatschlich marginal. Genau in dieser Nivellierung liegt fr Faust moderner Geist: „Blechklang hat bei meinem Kampf um die Weltmeisterschaft von mir geschrieben, daß meine Stçße eine reichere Intuition verraten als die Gedichte Gçthes […]. Er hat modernen Geist. Im brigen sind das alles nur reproduktive Menschen, die bloß Worte ber die Taten anderer machen.“108 Damit bezieht er sich nicht nur positiv auf die leeren Schlagworte der Sportsprache in der Presse, sondern auch auf die Tatsachensthetik der Neuen Sachlichkeit, die ja gerade in der bewussten Aufhebung der Unterschiede zwischen Literatur und Journalismus bestand. Entsprechend vertritt der Boxer die Auffassung, dass der Geist an der Universitt in Ordnung gebracht werden solle – da gehçre er hin wie die Leiche in die Anatomie, denn: „Lebendig ist nur die Tat; ohne Gedanken!“109 Whrend des Gesprchs erwarten Tempora und Faust einen Angriff der Satyre, die, wie es in der Skizze heißt, frher einmal „fr Dichter 105 Diese Parodie kehrt im Mann ohne Eigenschaften beispielsweise im satirisch berspitzten Idealismus der Salondame Diotima wieder. 106 Blechklang und Brunnenmaul kçnnen als Vorlufer des Dichters Feuermaul aus dem Mann ohne Eigenschaften betrachtet werden. Vgl. Hoffmann, Dichter am Apparat, S. 252. 107 Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 565. 108 Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 565. Eine ironische Reminiszenz an Goethes Faust ist außerdem darin zu sehen, dass Faust um Tempora Maier das sachlich gewordene Gretchen wirbt und in diesem Zusammenhang fragt: „Darf ich um Ihren Arm bitten?“, was sie pflichtschuldig zurckweist, um dann doch mit ihm in den Wald zu gehen (Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 558). Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Texte, hg. von Albrecht Schçne, Frankfurt/Main 1994, hier Faust I, V. 2605 f., S. 112. Auch Joseph Roth hat in seinem Lobgedicht auf den Sport (1924) Goethe und die Faust des Boxers in einen Zusammenhang gerckt. Vgl. dazu Leis, Sport in der Literatur, S. 114. 109 Musil, Tagebcher, Bd. I, S.555.

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gegolten haben“110 und sich in den Wald geflchtet haben. In der Zukunft, die Musil ausmalt, leben demnach die Dichter wie die Affen auf den Bumen, womit die anti-zivilisatorische Perspektive dieser Zukunftsgesellschaft unterstrichen wird. Darber hinaus verstrken die Satyre (von griech. satyros = Waldgottheit) das Verkehrte-Welt-Motiv innerhalb des Textes. Sie bilden die Gegenstrçmung zur psychotechnischen Normierung. Der Boxer betrachtet umgekehrt die Dichter als abscheuliche „berbleibsel“ einer „unzivilisierten Vergangenheit“,111 die ihm als ordnungslose Vergangenheit erscheint. Er will die Schçngeister daher vor den Eugenischen Medizinalgerichtshof stellen, wo er Sachverstndiger ist: „Es wird nicht viele Leute bei uns geben, die in der Frage einer gesunden Nachkommenschaft kompetenter sind.“112 Auf die Frage, was denn unsittlich und ungesund sei, antwortet Faust, „das was weder sittlich noch gesund ist“113 und als solches jhrlich vom Parlament festgelegt werde. „Und sittlich ist doch gerade das, worber man als gesunder Mensch nie nachzudenken braucht.“114 Zugespitzt ließe sich also formulieren, dass gesunde Menschen berhaupt nicht nachzudenken brauchen. Dafr gibt es Parlamentsbeschlsse, die sich mit der psychotechnischen Formierung der Gesellschaft decken. Bei Mnsterberg heißt es in einem vergleichbaren Zirkelschluss, dass alle Aufgaben der Psychotechnik dem Wohle der Gesellschaft dienen sollen. Ihre erste Aufgabe sei es daher, die Gesellschaft entstehen zu lassen.115 Als Abweichler von der gesellschaftlichen Norm sollen die ehemaligen Dichter in Musils Satire ebenso wie Raubmçrder, Sufer und unheilbar Kranke von der Nachkommenschaft ausgeschlossen werden. Sie werden durch Denk und Unhold reprsentiert, die ber ihre Lage rsonnieren. Als Relikt „frherer Geistigkeit“ versuchen die beiden, gegen die moderne Zeit aufzubegehren, haben aber offenbar selbst ihre besten Jahre schon hinter sich.116 Resigniert geben sie die Zeitschriften „Das Baumkloster“ und „Der Wipfel“ heraus, in denen sie, wie Unhold sar-

110 111 112 113 114 115 116

Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 556. Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 557. Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 556. Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 557. Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 557. Vgl. Mnsterberg, Grundzge der Psychotechnik, S. 192. Vgl. Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 556.

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kastisch bemerkt, „heftig ber den Sinn der Welt“ streiten.117 Sie haben keine Funktion und kein Einkommen und „werden seit hundert Jahren in allen çffentlichen Angelegenheiten wie Vakuum behandelt“,118 was als harsche Kritik Musils auch am zeitgençssischen Literaturbetrieb verstanden werden muss. Denk und Unhold versuchen sich auf ein gemeinsames Vorgehen zu einigen und einen Angriff der Geisteskraft zu planen, doch sie werden entdeckt und von Faust gefesselt. Da sie jede Frage mit dem „Herausstrecken der Zunge“ beantworten, werden sie dem Psychotechnischen Zukunftsinstitut zur Untersuchung bergeben. Whrenddessen berfllt der Geist die Stadt in Form einer „Epidemieerregung“,119 wodurch betrchtliche Unruhe entsteht und das Krankhaft-Gefhrliche der Geistesvertreter satirisch berzeichnet hervortritt. ber das Zukunftsinstitut ist zu Beginn des Entwurfs des II. Akts zu erfahren: Das Psych. Inst. befindet sich selbstverstndlich im Regierungsgebude. Daher dort auch Hauptquartier der Polizeiabwehr. Man erfhrt aus den einstrmenden Berichten in dramatischer Steigerung […] was sich draußen begiebt. Die Ordnung ist im Unterliegen. Abordnungen der politischen Parteien erscheinen unter der Devise: Was, das von uns gepredigte Leben soll kein Leben sein?! Rettende Idee des Polizeiprsidenten, die Dichter gegen die Eindringlinge loszulassen. Diese Schwtzer verwirren die Zuhçrer, der angreifende Geist ist auch nicht gengend organisiert u. so bricht der Angriff zusammen, die Satyrn werden gefangen.120

Schließlich wendet sich der Direktor des Psychischen Instituts an Unhold, der sich zum Sprecher der Angreifer gemacht hat, um ihm zu verdeutlichen, dass die neuen Methoden auch dem Geist nutzen kçnnten, da sie 117 Vgl. Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 559. Unhold kann als ein frher Entwurf der Ulrich Figur aus dem Mann ohne Eigenschaften gesehen werden, der zu Beginn der zwanziger Jahre der Phase des Spion Projekts erst Alexander Unrod oder Unold heißen sollte. Vgl. Musil, Tagebcher, Bd. II, S. 91. Hoffmann spricht von „Alexander Unrod oder Unhold“; vgl. Hoffmann, Dichter am Apparat, S. 253. Zu den Entstehungsphasen des Romans vgl. Walter Fanta: Die Entste hungsgeschichte des „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil, Wien, Kçln, Weimar 2000, hier S. 123 138. Einen weiteren Hinweis auf den Roman gibt Unholds Bekleidung: „Phantastisch gewrfelte Kleidung“ (Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 559), die auf das Pierrotkleid der Geschwister verweist, das „Streifen und Wrfel“ hat (Musil, MoE, S. 676). 118 Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 560. 119 Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 564. 120 Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 564.

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an sich vçllig wertfrei seien und auf Setzungen von außen beruhten.121 Von hier aus lsst sich noch einmal der Bogen zu Mnsterberg schlagen, der ja genau diese Wertfreiheit fr sein System postuliert hatte, das auf smtlichen gesellschaftlichen Gebieten schlicht die grçßtmçgliche Leistung verspricht. Daher ist es ihm auch mçglich, Grundzge der Psychotechnik fr die Kunst zu skizzieren, deren wesentliche Aufgabe in der Fçrderung des Genusses besteht.122 Musil formuliert dagegen eine scharfe Kritik an der Korruption des Geistes auf der einen und der mangelnden Gegenwehr der Intellektuellen und Schriftsteller auf der anderen Seite, die diesem modernen ,Ungeist‘ unreflektiert das Wort reden.

5. Psychotechnik der Transzendenz Musils nachhaltige Beschftigung mit dem Thema Sport hngt unmittelbar mit der fr die Moderne charakteristischen Spannung zwischen Individualisierung und Normierung bzw. Rationalisierung zusammen. Der Sport erscheint bei Musil als psychotechnisches System, das neue Mçglichkeiten subjektiven Erlebens erçffnet. Er leistet zudem der experimentell begrndeten Formierung des Menschen Vorschub, die auf der Basis von in Einzelteile zerlegten Bewegungen das Erfahrungswissen zur Disposition stellt.123 Die sportliche Praxis und die rationalen Grundlagen des Trainings basieren auf bung und Steigerung, die den Menschen durchformen. Gleichzeitig stellt der Sport damit – Musil zufolge – das Instrumentarium bereit, um den zur Formel geronnenen Erfahrungen und Zurichtungen der modernen Lebenswelt zu entkommen. Der perfekt koordinierte Ablauf der sportlichen Bewegung entzieht sich der bewussten Kontrolle und gibt dadurch neuen, anderen Formen der Erlebens Raum. In dieser Doppelsinnigkeit liegt fr Musil die besondere Faszination des Sports. Der Entzug von Kontrolle bildet die Lcke zwischen Arbitraritt und Systematisierung, die nicht exakt beschreibbar ist. Er markiert die Grenze zwischen Stil und Normierung, die nur unbewusst wahrgenommen werden kann. An dieser Grenze wird die Technisierung des Kçrpers zur

121 Ulrich, der wie Denk und Unhold auf der Suche nach dem richtigen Leben ist, wird schließlich die Psychotechnik auf sich selbst anzuwenden versuchen. 122 Vgl. Mnsterberg, Grundzge der Psychotechnik, S. 602. 123 Vgl. Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 184.

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Voraussetzung subjektiven Erlebens, die rationale Durchdringung der Lebenswelt zur Voraussetzung fr ihre Vernderung. Das gesteigerte, kçrperliche Erleben im Sport erscheint als Fluchtpunkt einer „Bewegungsanordnung“, die sich in ihrer Komplexitt zwar „erlernen“, nicht aber „begreifen“ lsst, wie Musil in Hinblick auf die Geschichte der Schwimmtechniken formuliert.124 Dieses Begreifen schließt eine sinnliche Wahrnehmung des Vorgangs ein, die sich nicht rational herbeifhren oder gar erzwingen lsst, sondern die sich vielmehr als Konvergenz von Erleben und Handeln ereignen muss. Ihr liegen Selbstgewissheit und bereinstimmung mit sich zugrunde, ein entspanntes Zusammenspiel von Aufmerksamkeit und Kraft, das Musil zufolge „jenes sichere Verhltnis zur Natur“ einschließt, „das sich in dem Gefhl ußert, man kçnnte Bume ausreißen.“125 Diese Vernderung der Wahrnehmung macht Musil zum einen an der Wirkung systematischen Trainings und zum anderen an der Beschleunigung der Bewegung fest. In der sportlichen Wettkampfsituation kçnnen Training und Beschleunigung der Ablufe ihrerseits konvergieren, so dass sich ihr Effekt noch einmal verstrkt. Musils Beschreibungen dieser Vernderungen decken sich mit physiologischen und psychologischen Erkenntnissen zum Verhltnis von Aufmerksamkeit und Bewegung, das an die Reizung des Muskelsinns und das Zusammenspiel von Nerven und Muskeln gebunden ist.126 Einige dieser Untersuchungen kannte er aus seiner Studienzeit127, sie liegen vermutlich auch seinen Bemerkungen zum Sport im Bundesheer-Aufsatz zugrunde. Auch fr die entstehende Sportpsychologie der zwanziger Jahre blieb das Verhltnis von Aufmerksamkeit und Bewegung bestimmend. So nennt beispielsweise Krmmel im Handbuch der lebenswichtigen Leibesbungen (1930) drei große Gruppen von Reizen, die fr die athletische

124 Vgl. Musil, Kunst und Moral des Crawlens, GW II, S. 695. 125 Musil, Kunst und Moral des Crawlens, GW II, S. 698. 126 Vgl. Helmut Hildebrandt/Eckart Scheerer: Einleitung, in: Hugo Mnsterberg: Frhe Schriften zur Psychologie, eingeleitet, mit Materialien zur Rezeptionsge schichte und einer Bibliographie versehen von Helmut Hildebrandt und Eckart Scheerer, Reprintausgabe, Berlin, Heidelberg, New York u. a. 1990, S. 11 48, hier S. 31. 127 Eine Literaturliste verzeichnet neben Titeln von Ernst Mach und Wilhelm Wundt beispielsweise auch Du Bois Reymonds Rede ber die bung. Vgl. Musil, Tagebcher, Bd. II, S. 832.

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Kçrpererziehung von Bedeutung sind: Kraft, Ausdauer und Schnelligkeit.128 Fr Musils Verstndnis von Bewegung drften vor allem Mnsterbergs frhe psychophysiologische Experimente zum Zusammenhang von Aufmerksamkeit und Bewegung von besonderer Bedeutung sein, weil dieser von der Adquatheit unbewussten Verhaltens ausgeht.129 Diese Annahme ist zentral fr das Verstndnis der Einbung von Bewegungsund Reaktionsablufen. In Musils Konzeption des Sports als Form anderen Erlebens spielt die Ausschaltung des Bewusstseins, die gleichzeitig integraler Bestandteil eines hçchst konzentrierten Bewegungsablaufs ist, die Hauptrolle. Die unbewusste Ausfhrung komplexer Bewegungen erscheint nmlich als Erweiterung bewusster Mçglichkeiten, die an die berschreitung der Bewusstseinsgrenze gebunden ist. Dieser mçgliche Erlebnishorizont ist aber, wie Musil in Kunst und Moral des Crawlens betont, nicht mit der Ausbildung hçherer geistiger Fhigkeiten zu verwechseln: Sondern was bei Tier und Mensch stattfindet, ist bei schnellen Handlungen ein geschichtetes Ineinandergreifen von artmßig und persçnlich festgelegten Verhaltensweisen, die beide fast mechanisch auf ußere Reize ,ansprechen‘, dazu eine vorausgestreckte Aufmerksamkeit, die auf hnliche Weise das schon bereitstellt, was in der nchsten Phase in Anspruch genommen werden wird, und schließlich ein dauerndes, vçllig unbewußtes Anpassen der vorgebildeten Reaktionsformen an das augenblicklich Erforderliche: auch ein Mensch vollfhrt die verwickeltesten Handlungen ohne Bewußtsein, ohne Geist, woraus man ja vielleicht auch schließen darf, daß die Rolle des Geistes nicht die ist, eine im Sport zu spielen.130

Die „vorausgestreckte Aufmerksamkeit“ entsteht durch das Training, das schließlich die mechanische Ausschaltung des Bewusstseins ermçglicht. Dadurch wird der Mensch mit dem Tier vergleichbar, das ebenfalls ohne Bewusstsein, nmlich instinktiv, handelt. Diese Form motorischer Ekstase hat Musil in einer Notiz zum ,anderen Zustand‘ in seinen Tagebchern als Auflçsung der Persçnlichkeit in „das Tun ihrer Muskeln“ beschrieben.131 Die mechanisch-animalische Seite des Sporterlebnisses wird auch 128 129 130 131

Vgl. Krmmel, Eignungslehre, S. 99. Vgl. Hildebrandt/ Scheerer, Einleitung, S. 30. Musil, Kunst und Moral des Crawlens, GW II, S. 698 [Herv. i. Orig.]. Vgl. Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 659 f. Die motorische Ekstase spielt auch in Musils Kriegsprosa eine wichtige Rolle. Diesem Zusammenhang wre noch ge nauer nachzugehen. Vgl. Robert Musil: Aus der Geschichte eines Regiments, mit einem Kommentar von Karl Corino, in: Studi Germanici 1 2 (1973), S. 109

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noch in einer weiteren Tagebuchnotiz deutlich. Dort beschreibt Musil das vielfltige Sporttreiben junger Leute im Berliner Grunewald folgendermaßen: „Es ist wie wenn man Stadthunde ins Freie hinauslsst, ein ausbrechender sinnloser Bewegungsdrang; ganz blçdsinnig glcklich, was sie treiben.“132 Fr die psychophysische Forschung stand fest, dass große Kraft- und Muskelleistungen vor allem aufgrund der Anstrengung der Nerven zustande kamen.133 Schon du Bois-Reymond hatte 1881 in seiner Rede ber die bung ausgefhrt, dass die Leibesbungen vor allem bungen des Zentralnervensystems sind.134 Unter Bezugnahme auf diesen Text stellte der Mediziner Marcuse 1908 fest: In der Tat ist bung des Nervensystems, das heißt, der Sinnesorgane, des Gehirns, des Rckenmarks, die wichtigste Fçrderung des Organismus durch den Sport, und darum werden stets diejenigen Leibesbungen die wertvollsten sein, welche neben einer sichtbaren Anregung von Atmung und Herz die nervçsen Apparate treffen, und zwar in einem Maße, das die hçchsten psychischen Funktionen zu sthlen vermag.135

Interessant in Hinblick auf Musils eigene Sporterfahrungen ist in diesem Zusammenhang, dass Marcuse Fechten, Tennis und Alpinistik zu den Sportarten zhlt, die das Zusammenspiel von Auge und Muskelsinn besonders fçrdern.136 Fr Marcuse weisen diese Sportarten bezogen auf Kçrper und Nervensystem vor allem eine wichtige Gemeinsamkeit auf, und das ist die Koordination der Bewegungen. „Man versteht darunter das Vermçgen, alle zu dem Zustandekommen einer bestimmten Bewegung nçtigen Muskeln in der zweckmßigsten Weise zusammenwirken zu lassen.“137 Mehrfach nennt Marcuse gerade das Fechten als Beispiel, um Geistesgegenwart und Schlagfertigkeit zu trainieren. Diese Fhigkeiten spielen auch in Musils Darstellung des sportlichen Wettkampfs in den Essays und im Mann ohne Eigenschaften eine wichtige Rolle. Da Musil als junger Mann selbst ein guter Fechter war, ist davon auszugehen, dass Musil bei seinen Beschreibungen des Sporterlebens in besonderem Maße auf eigene Erfahrungen zurckgreifen konnte.

132 133 134 135 136 137

115; Paul Zçchbauer: Der Krieg in den Essays und Tagebchern Robert Musils, Stuttgart 1996. Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 297. Vgl. Hoberman, Sterbliche Maschinen, S. 198. Vgl. du Bois Reymond, ber die bung, S. 113. Marcuse, Kçrperpflege, S. 118. Vgl. Marcuse, Kçrperpflege, S. 118. Vgl. Marcuse, Kçrperpflege, S. 119.

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Die Koordination der Bewegungen entsteht Marcuse zufolge durch das Training, das darauf ziele, eine bestimmte bung mit immer geringerem Kraftaufwand auszufhren, bis eine Grenze erreicht werde, wo der Kraftaufwand konstant bleibt. An diesem Punkt sei das zweckmßigste Zusammenwirken von Muskeln und Nerven erreicht. Die „Bewegungsform“ ist dann so hufig gebt worden, „daß die bewußte Aufmerksamkeit unnçtig wird.“138 Damit ist die Grenze benannt, der auch Musils Interesse am Sport gilt. Denn sie markiert den Zeitpunkt, an dem sich das Bewusstsein zugunsten einer anderen, nmlich unkontrollierten und zugleich konzentrierten Form sinnlicher Wahrnehmung verndert, die Musil in Durch die Brille des Sports als „Durchbruch durch die bewußte Person“ charakterisiert hat.139 Fr Krmmel besteht sogar die gesamte „Sportpsychologie und -pdagogik“ darin, „einen Menschen dazu zu erziehen, in einem gegebenen Augenblick ber sich hinaus wachsen zu kçnnen.“140 Jener Augenblick lsst sich mit du Bois-Reymond auch als „Verdoppelung des Ich“ fassen.141 In dieser sthetischen Erfahrung – und nicht im bloßen Leistungsstreben – liegt auch fr Musil die eigentliche Bedeutung des Sports, die zugleich die Qualitt gegenber der Quantitt im Sport betont.142 Dass systematisches Training als Durchformung des gesamten Menschen verstanden werden muss, die psychotechnischen Charakter hat, macht Marcuses Beschreibung eines vollkommen trainierten Menschen deutlich: Das Erinnerungsbild einer oft gebten Muskelttigkeit prgt sich uns derartig ein, daß der Wille hierzu schon gengt, um die ganze Reihenfolge der Bewegungen in zweckmßigster Weise sich abspielen zu lassen, ohne daß wir unsere Aufmerksamkeit auf dieselbe zu konzentrieren brauchen. So wird die betreffende sportliche Leistung allmhlich zu einer halbautomatischen oder automatischen. Die zweckmßige Ausfhrung einer bestimmten Art von Muskelbewegungen ist das erste Ziel, welches wir durch Koordinationsbungen zu erreichen suchen, bedeutungsvoller aber ist noch ein zweites. Es ist das Bestreben, auch unter den mannigfaltigsten Bedingungen die Bewegungen seines Kçrpers derart zu beherrschen, daß auf jeden ußern Anstoß mit der grçßten Promptheit und Schnelligkeit die geeignete Koordination 138 139 140 141 142

Marcuse, Kçrperpflege, S. 119. Vgl. Musil, Durch die Brille des Sports, GW II, S. 793. Krmmel, Eignungslehre, S. 101. Du Bois Reymond, ber die bung, S. 119. Praktisch ließ sich allerdings diese Wertschtzung des Sports mit dem interna tionalen Leistungskult der zwanziger Jahre nicht vereinbaren. Vgl. Hoberman, Sterbliche Maschinen, S. 210.

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erfolgt. Hier zeigt sich die Schulung des Nervensystems in ihrer grçßten Ausbildung. Einen derartig trainierten Menschen wird man in allen Lebenslagen von dem untrainierten unterscheiden kçnnen. Plçtzlich eintretenden gefhrlichen Situationen gegenber wird der Untrainierte, vor Schrecken starr, unfhig sein, seine Glieder zu bewegen, oder er wird im besten Falle zweckmßige Abwehrbewegungen mit einer Unzahl unzweckmßiger Mitbewegungen kombinieren. Der Gebte dagegen, durch langdauerndes Training seines Nerven- und Muskelsystems wetterfest gemacht, wird in Erfassung der Situation mit berraschender Sicherheit die fr den Moment erforderlichen Bewegungen ausfhren. Zahllose Beispiele aus dem Alltags- wie Sportleben erweisen die Probe auf das Exempel, ja man kann schon im gesamten Auftreten eines Menschen, in seinem Verhalten gegenber den unbedeutendsten Affren des Lebens erkennen, ob er Training genossen hat oder nicht.143

Geistesgegenwart und Schnelligkeit auf Grundlage automatisierter Bewegungsablufe kçnnen als die hier formulierten Trainingsideale gelten. Dies sind gleichzeitig wichtige Ziele der Psychotechnik, wie sie Musil in seinem Beitrag fr das Bundesheer formuliert hat.144 Darber hinaus ermçglicht das dauernde Training jene „berraschende Sicherheit“, die als Selbstgewissheit in „plçtzlich eintretenden Situationen“ erlebbar ist und als „Brcke“145 in einen Zustand der Konvergenz von Handeln und Erleben fungiert. Diese Konvergenz beschreibt Krmmel als Moment des Gelingens „hçchster Vollendung und Leichtigkeit“, „was himmelweit entfernt ist von reiner Kraft, die […] eine belanglose Selbstverstndlichkeit ist.“146 Außer durch Training lsst sich diese Erfahrung Musil zufolge auch durch die Kraft der Beschleunigung der modernen Technik erzielen. In beiden Fllen geht es um die Kopplung von Kraft und Tempo. Dazu heißt es in Durch die Brille des Sports: Wenn der Mensch am Steuer eines sehr schnell fahrenden Kraftwagens sitzt, wenn er scharfe Flugblle placiert oder ein Florett fhrt, hat er in einem kleinsten Zeitraum u. mit einer Schnelligkeit, wie sie im brgerlichen Leben sonst nirgends vorkommt, so viele genau aufeinander abgestimmte Akte der Bewegung und Aufmerksamkeit auszufhren, daß es ganz unmçglich wird, sie mit dem Bewußtsein zu beaufsichtigen.147 143 144 145 146 147

Marcuse, Kçrperpflege, S. 119 f. [Herv. i. Orig.]. Vgl. Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 184. Vgl. zum Bild der Brcke Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1154. Krmmel, Der Kugelstoßer Hirschfeld, S. 564. Musil, Durch die Brille des Sports, GW II, S. 793. Vgl. auch Ulrichs Bemer kung, dass er die Wege der Mystik mit einem „Kraftwagen“ befahren wolle (Musil, MoE, S. 751).

Psychotechnik der Transzendenz

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Die Beschleunigungsbewegung der Moderne zwingt den Menschen zur Aufgabe der Kontrolle und fhrt damit quasi automatisch zur berschreitung der Bewusstseinsgrenze. Diese berschreitung bedeutet fr Musil freilich keinen Verlust, sondern einen Gewinn an Mçglichkeiten. Diesen Zusammenhang hat auch Stefan Rieger betont, fr den hier „die Kontrolltechniken auf eine sehr produktive Weise kapitulieren.“148 Schon in seinem Aufsatz ber die Anwendungsmçglichkeiten der Psychotechnik hatte Musil die Kontrollmçglichkeiten von beschleunigten Bewegungsablufen explizit unter Rckgriff auf den Sport ausgefhrt: Es seien hier bloß einige Beispiele angefhrt: Zwischen dem Wachstum der maximalen Kraftleistung und dem der Ausdauer besteht eine positive Zuordnung; ebenso zwischen der Schnelligkeit und Sicherheit der Bewegungen einerseits und der Kraftleistung andererseits. Liegt aber die Schnelligkeit sehr rascher Zielbewegungen an der Grenze der willkrlichen Beherrschung, so erweist sich die Uebung als einflußlos. […] Ebenso ergab sich auch im Experiment die bekannte Tatsache, daß zu gespannte Aufmerksamkeit den Erfolg beeintrchtigt.149

Wird eine Bewegung zu schnell, entzieht sie sich der bewussten Kontrolle. Dieser Entzug kann auch durch bung oder Training nicht eingeholt werden. In Durch die Brille des Sports heißt es genau zu diesem Problem: „Im Gegenteil, man muß einige Tage vor dem Wettkampf sogar das Training einstellen, u. das geschieht aus keinem anderen Grund, als um den Muskeln u[nd] Nerven die letzte Verabredung untereinander zu ermçglichen, ohne daß sie von Wille, Absicht u[nd] Bewußtsein dabei gestçrt werden.“150 Im Kontrollverlust, der den Menschen zur Aufgabe der Reflexion zwingt, liegt fr Musil der Reiz des Sports: Im Augenblick der Ausfhrung springen u[nd] fechten dann die Muskeln u[nd] Nerven mit dem Ich, nicht dieses mit ihnen, u[nd] sowie nur ein etwas grçßerer Lichtstrahl von berlegung in dieses Dunkel gert, fllt man schon aus dem Rennen. Das ist aber nichts anderes als ein Durchbruch durch die bewußte Person, eine Entrckung.151

Musils berlegungen haben in der Literaturgeschichte einen berhmten Vorlufer – nmlich Kleists Aufsatz ber das Marionettentheater (1810).152 Bei Kleist ist es der fechtende Br, der von den raffinierten 148 149 150 151 152

Rieger, Individualitt der Medien, S. 159. Musil, Psychotechnik im Bundesheere, S. 197. Musil, Durch die Brille des Sports, GW II, S. 793. Musil, Durch die Brille des Sports, GW II, S. 793. Auf diese Bezge zu Kleist hat bereits Hajo Bernett aufmerksam gemacht. Vgl. Bernett, Musils Deutung des Sports, bes. S. 149 f.

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Winkelzgen seines menschlichen Gegenbers unbeeindruckt – „mechanisch“ wie Musil in Kunst und Moral des Crawlen ber „Tier und Mensch“ schreibt153 – die Stçße pariert. Zwar sind Tier und Mensch fr Kleist wie fr Musil durch den Akt der Reflexion klar unterschieden. Dennoch scheint gerade im bewusstlosen, mechanischen Ablauf der tierischen Bewegung ein sthetisches Potenzial auf, das bei Kleist auch der Anmut der Marionetten eignet. Dadurch gewinnt der Zustand der Reflexionslosigkeit utopische Bedeutung. Er verleiht dem Sport eine sthetische Qualitt, die aus dem sportlichen Testfall einen ,Grenzfall‘ macht, der das Individuum der Konkurrenz von Apparatur und wissenschaftlicher Exaktheit enthebt. Diese Grenzberschreitung verndert zugleich die individuelle Wahrnehmung und lsst den Sport in den Bereich der Kunst ,fallen‘. Im Begriff der Entrckung bringt Musil seine doppelsinnige Perspektivierung des modernen Sports auf den Punkt. Dieser Erfahrung „konzentriertester Lebendigkeit“ stehen rationales Training und Beschleunigung nicht entgegen, sie gehen ihr vielmehr voraus.154 Das Erlebnis der Entrckung beruht auf einer sich unbewusst einstellenden Verbindung von Innen- und Außenwelt, von Handeln und Erleben, die der Sport dem Einzelnen durch systematische Anleitung und gezieltes Training ermçglicht. In diesem Sinne definiert Krmmel das Trainingsziel beim Kugelstoßen als „Kunst, mit losgelassenem und entspannten Kçrper zu stoßen“.155 Durch eine „Fallbewegung“ [sic!] komme der Kçrper in Schwung, diesen so lange wie mçglich zu untersttzen, sei das „Geheimnis“ des Kugelstoßens.156 In der Erfahrung dieser spezifischen Verknpfung von Leistung und Gelingen liegt die Utopie des Sports, der – wie bereits der Titel des Essays Kunst und Moral des Crawlens verheißt – ethische und sthetische Aspekte in sich vereint.

153 Musil, Kunst und Moral des Crawlens, GW II, S. 698. 154 Vgl. dagegen Baur, Sport und subjektive Bewegungserfahrung, S. 108. 155 Krmmel, Der Kugelstoßer Hirschfeld, S. 564. Plessner nennt diese Ent spanntheit des Leibes „Grazie“. Vgl. Plessner, Lachen und Weinen, S. 44. 156 Krmmel, Der Kugelstoßer Hirschfeld, S. 564.

VI. Genie der Norm: Der Mann ohne Eigenschaften Das Leben selbst ist ein Kampf mit dem Schicksal; und es verhlt sich auch mit dem Handeln wie mit dem Ringen. Der Athlet kann, in dem Augenblick, da er seinen Gegner umfaßt hlt, schlechthin nach keiner anderen Rcksicht, als nach bloßen augenblicklichen Eingebungen verfahren; und derjenige, der berechnen wollte, welche Muskeln er anstrengen, und welche Glieder er in Bewegung setzen soll, um zu berwinden, wrde unfehlbar den Krzeren ziehen und unterliegen. Aber nachher, wenn er gesiegt hat oder am Boden liegt, mag es zweckmßig […] sein, zu berlegen, durch welchen Druck er seinen Gegner niederwarf, oder welch ein Bein er ihm htte stellen sollen, um sich aufrecht zu erhalten. Wer das Leben nicht wie ein solcher Ringer, umfaßt hlt, und tausendgliedrig, nach allen Windungen des Kampfs […] empfindet und sprt: der wird, was er will, in keinem Gesprch durchsetzen; vielweniger in einer Schlacht. Heinrich von Kleist 1

Nachdem ein Rennpferd Ulrich, der Hauptfigur von Musils unvollendetem Roman, bei dem Versuch zuvor gekommen ist, ein Genie zu werden, beschließt er, sich ein Jahr Urlaub von seinem Leben zu nehmen, um ber eine angemessene Anwendung seiner Fhigkeiten nachzudenken. Die fr die Konzeption des Romans zentrale Idee des ,Urlaubs vom Leben‘ hngt also mit der Entstehung des modernen Sports direkt zusammen. Diesem Zusammenhang werde ich im Folgenden vor allem in Hinblick auf den Entwurf des Protagonisten nachgehen. Dabei stehen die Mnnlichkeits- und Genie-Problematik sowie das Verhltnis von Sport und Mystik im Mittelpunkt der Betrachtung. Ihren gemeinsamen Fluchtpunkt bildet Ulrichs essayistisch-ironische Lebenshaltung und seine Suche nach dem ,anderen‘ Zustand. Der Sport erscheint im Mann ohne Eigenschaften – ebenso wie in Musils Essays – als Praxis des bewegten Kçrpers und als Medium der Reflexion. Ihr Scharnier bildet die Kipp-Figur des Trainings,2 der 1 2

Heinrich von Kleist: Von der berlegung. Eine Paradoxe, in: Smtliche Werke und Briefe in vier Bnden, Bd. 3: Erzhlungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften, hg. von Klaus Mller Salget, Frankfurt/Main 1990, S. 554 f. Vgl. Christoph Menke: Zweierlei bung. Zum Verhltnis von sozialer Diszi plinierung und sthetischer Existenz, in: Axel Honneth/Martin Saar (Hrsg.):

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gleichzeitig eine Duplizitt der Wahrnehmung eingeschrieben, die sich im Anschluss an die Experimente Erich von Hornbostels (1877 – 1935) auch als Inversion kennzeichnen lsst.3 So bringt die Sportpraxis im Roman auf der einen Seite die wissenschaftliche Rationalitt der modernen Lebenswelt zum Ausdruck, die durch die Normalisierungstendenzen der entstehenden Massenkultur und die mit ihr verbundene Entwertung subjektiver Erlebnisse geprgt ist. Verstrkt wird diese Entwicklung durch die journalistische Aufwertung des Sportgeschehens, das gleichzeitig jenes Bedeutungsvakuum zu fllen scheint, das sich aus dem Verlust traditioneller Wert- und Bildungsmaßstbe ergeben hat und in der Rede vom genialen Rennpferd wiederkehrt. Auch Ulrich hat sich einem regelmßigen Training unterzogen, um seine Mnnlichkeit zu sthlen und an die Anforderungen des „Seinesgleichen“ anzupassen. Auf der anderen Seite drckt der selbsttechnische Sport eine kmpferische und erkenntniskritische Haltung gegenber der Wirklichkeit aus. Diese Haltung erlaubt es, Ulrich als Reflexionsfigur und Sportler im Geiste zu charakterisieren, dessen Training schließlich vor allem in geistiger bung besteht und auf die Vernderung der Wirklichkeit zielt. Dem entspricht der Urlaub vom Leben, der als Vorbereitung fr den ,anderen‘ Zustand fungiert. In der Reflexion sportlichen Erlebens, das Ulrich teilweise explizit mit mystischem Erleben in Verbindung bringt, erweist sich somit das sthetische Programm des Romans. Ulrichs Urlaub vom Leben kann daher zum einen als Reaktion auf die vernderte Lebenswelt der Moderne verstanden werden. Er ist gleichzeitig Ausdruck der radikalen Modernitt des Romans, insofern die Suche nach der angemessenen Anwendung eigener Fhigkeiten bereits psychotechnisch durchformt ist. Zum anderen versucht der Urlaub vom Leben die raum-zeitliche Kontinuitt auszusetzen und zielt damit auf den Durchbruch durch die bewusste Person, auf die berwindung des normalen Bewusstseinszustands zugunsten eines ,anderen‘ Zustands. Dieser ußerst reflektierte und zugleich ironische Versuch der Grenzberschreitung entspricht den zwei Seiten des Trainings, das im Spannungsfeld von Rationalisierung und „sthetischer Existenz“4 situiert ist. Diese Spannung charakterisiert auch das Verhltnis von Wirklichkeit und Mçglichkeit, die sowohl in der Formel des ,genialen Rennpferds‘ als

3 4

Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault Konfe renz 2001, Frankfurt/Main 2003, S. 283 299, hier S. 285. Vgl. Renate von Heydebrand: Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“, Mnster 1966, S. 101. Menke, Zweierlei bung, S. 283.

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auch der des ,Mann ohne Eigenschaften‘ aufscheint. Der Sport erlaubt es, die die menschliche Wahrnehmung strukturierenden Gegenstze von Geist und Kçrper, Innen und Außen, Ich und Welt im Horizont der Mçglichkeit einer anderen Wirklichkeit aufzuheben.5 Durch diese Konzeption ist der Sport, und zwar als Praxis des bewegten Kçrpers und als Medium der Reflexion, am zentralen Thema des Romans – der berwindung des normalen Bewusstseinszustands zugunsten eines ,anderen‘ Zustands – direkt beteiligt.6 Der Gegenberstellung von Wirklichkeit und Mçglichkeit entspricht die Teilung der Welt in einen ,ratioden‘ und ,nicht-ratioden‘ Bereich, wie sie Musil in seinem Essay Skizze der Erkenntnis des Dichters beschrieben hat.7 Sein Roman versucht diese beiden Bereiche zu verbinden, ein Versuch, dem die Formel von Ratio und Mystik eingeschrieben ist, die auch die Sportpraxis charakterisiert.8 Da es im Ersten Buch des Mann ohne Eigenschaften vor allem um den Bereich der Ratio geht, whrend sich das Zweite Buch vorwiegend auf den Bereich der Mystik konzentriert,9 ist der Sport im Ersten Buch von wesentlich grçßerer Bedeutung. Dennoch kann er nicht einfach der Ratio zugeschlagen werden, da Ratio und Mystik keinen Gegensatz, sondern Pole eines Spannungsverhltnisses bilden. Als Ausdruck von Abstraktion, als Ausdruck einer Spannung treffen sie sich in der gemeinsamen Bewegung von Kçrper und Geist. Dieses sinnliche Erlebnis ist als Teil der Lebenswirklichkeit Bedingung der Entrckung.10 Die individuelle Sportpraxis trgt somit zur „Durch5 Zum utopischen Gehalt des Romans als Mçglichkeitsdichtung vgl. Albrecht Schçne: Zum Gebrauch des Konjunktivs bei Robert Musil, in: Euphorion 55 (1961), S. 196 220; Matthias Luserke: Wirklichkeit und Mçglichkeit. Modal theoretische Untersuchung zum Werk Robert Musils, Frankfurt/Main, Bern, New York, Paris 1987. 6 Vgl. Ulrich Karthaus: Der andere Zustand. Zeitstrukturen im Werk Robert Musils, Berlin 1965. 7 Vgl. Musil, Skizze der Erkenntnis des Dichters, GW II, bes. S. 1026 f. Vgl. dazu Claudia Monti: Musils „ratiod“ oder Wissenschaft als Analogie der Ratio, in: Gudrun Brokoph Mauch (Hrsg.): Beitrge zur Musil Kritik, Bern, Frankfurt/ Main 1983, S. 205 235. 8 Vgl. Albertsen, Ratio und Mystik, S. 27 29. 9 Vgl. Dietmar Goltschnigg: Mystische Tradition im Roman Robert Musils. Martin Bubers „Ekstatische Konfessionen“ im „Mann ohne Eigenschaften“, Heidelberg 1974, S. 46. 10 Zur Bedeutung der sinnlichen Erfahrung vor dem Hintergrund von Musils Auseinandersetzung mit Ernst Mach, vgl. Cornelia Blasberg: Krise und Utopie der Intellektuellen. Kulturkritische Aspekte in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“, Stuttgart 1984, S. 125 134.

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geistigung der Sinnlichkeit“11 bei und leistet dadurch einen Beitrag zur Kritik einseitiger Rationalitt, deren andere Seite im Zweiten Buch des Romans als „taghelle Mystik“ momenthaft aufscheint.12 Auch Musils Protagonist ist von Anfang an durch die Spannung zwischen Wirklichkeit und Mçglichkeit bestimmt. Sie kommt bereits bei seiner ersten Erwhnung durch einen krftigen Schlag gegen seinen vielleicht markantesten Arbeits- und Einrichtungsgegenstand – einen Punchingball – zum Ausdruck. Dieser Ball zitiert die zeitgençssische Mode des Boxens und damit das alltgliche Leben, die Welt des „Seinesgleichen“. Gleichzeitig bringt er Angriffslust gegenber diesem Leben zum Ausdruck.13 Diese Konstellation verdeutlicht die ironische Grundhaltung des Romans, die zugleich der Erkenntnishaltung ihres Protagonisten entspricht. Denn Ironie ist im Mann ohne Eigenschaften nicht nur eine Darstellungstechnik, sondern wie anhand des Punchingballs anschaulich wird, zugleich eine Haltung zur Welt, die als „Erkenntnisbewegung“14 charakterisiert werden kann. „Man kann tun, was man will;“ sagte sich der Mann ohne Eigenschaften achselzuckend „es kommt in diesem Gefilz von Krften nicht im geringsten 11 „In der Durchgeistigung der Sinnlichkeit selbst (nicht in ihrer geistreichen Be grndung und Verbrmung) ist aber noch wenig geleistet worden.“ (Musil, Ta gebcher, Bd. I, S. 140) Zur geistigen Bewltigung sinnlicher Erfahrung vgl. auch Kai Neubauer: „Die Leiblichkeit des Gesprchs“. Zum Zusammenhang von Sinnlichkeit und Sprachkrise bei Robert Musil, in: Musil Forum 25/26 (1999/ 2000), S. 101 127, hier S. 120. 12 Vgl. Blasberg, Krise und Utopie der Intellektuellen, S. 176; S. 217. Vgl. dazu auch Martin Menges: Abstrakte Welt und Eigenschaftslosigkeit: eine Interpre tation von Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften unter dem Leitbegriff der Abstraktion, Frankfurt/Main, Bern 1982, S. 62. 13 Dazu schrieb Bertolt Brecht: „Vor einiger Zeit habe ich mir einen Punchingball gekauft, hauptschlich weil er, ber einer nervenzerrttenden Whiskyflasche hngend, sehr hbsch aussieht und meinen Besuchern Gelegenheit gibt, meine Neigung zu exotischen Dingen zu bekritteln, und weil er sie zugleich hindert, mit mir ber meine Stcke zu sprechen. Ich habe nun gemerkt, daß ich immer, wenn ich (nach meiner Ansicht) gut gearbeitet habe (brigens auch nach Lektre von Kritiken), diesem Punchingball einige launige Stçße versetze, whrend ich in Zeiten der Faulheit und des kçrperlichen Verfalls gar nicht daran denke, mich durch anstndiges Training zu bessern.“ (Brecht, Sport und geistiges Schaffen, S. 123.) 14 Ingrid Honnef Becker: „Ulrich lchelte“. Techniken der Relativierung in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“, Frankfurt/Main, Bern, New York, Paris 1991, S. 142.

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darauf an!“ Er wandte sich ab wie ein Mensch, der verzichten gelernt hat, ja fast wie ein kranker Mensch, der jede starke Berhrung scheut, und als er, sein angrenzendes Ankleidezimmer durchschreitend, an einem Boxball, der dort hing, vorbeikam, gab er diesem einen so schnellen und heftigen Schlag, wie es in Stimmungen der Ergebenheit oder Zustnden der Schwche nicht gerade blich ist. (MoE, S. 13)

Ulrichs Schlag drckt den Sinn fr die Mçglichkeit aus, „der die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung betrachtet“ (MoE, S. 16). Schon in einem Schulaufsatz hatte Ulrich geschrieben, dass Gott die Welt macht und dabei denkt, „es kçnnte ebenso gut anders sein“ (MoE, S. 19).15 Dem entspricht der Anfang des Romans, der durch die Paradoxie eines „entschiedenen Nicht-Beginnens“ bzw. eines „nicht-erzhlenden Erzhlens“ charakterisiert ist.16 Der Roman wird dadurch selbst zu einem ironischen Darstellungsmittel, in dem Erzhlung und Reflexion eng miteinander verknpft sind.17

1. Mnner und Masken Auf den ersten Blick wirkt Musils Protagonist wie ein junger Mann, der den gesellschaftlichen Erwartungen vollkommen entspricht: er ist gebildet und bt einen akademischen Beruf aus, er besitzt ein reprsentatives Haus, ein attraktives ußeres und macht damit besonders auf Frauen großen Eindruck.18 Ulrichs Erfolg als Verfhrer verdankt sich vor allem seiner schlanken, trainierten und sportlichen Erscheinung, die „[…] den Frauen eine gangbare Mnnlichkeit vorspiegelte, fr die Ulrich zuviel Geist und innere Widersprche besaß.“ (MoE, S. 285) Das Zitat macht ,Mnnlichkeit‘ als eine Konstruktion kenntlich, deren Erscheinung wesentlich durch sportliches Training bestimmt wird. Bezogen auf sein Inneren bedeutet sie eine Reduktion. Insofern bleibt Ulrich seine Mnnlichkeit ußerlich, sie entsteht erst im bewundernden Blick der anderen.

15 So sollte Ulrich ja auch zunchst ,Anders‘ heißen. Die Formel ,Mann ohne Eigenschaften‘ hat das Anders Sein ersetzt. Vgl. Fanta, Entstehungsgeschichte, S. 307. 16 Vgl. Honold, Die Stadt und der Krieg, S. 36. 17 Vgl. Honnef Becker, „Ulrich lchelte“, S. 143. 18 Stefan Hajduk spricht in diesem Zusammenhang von perfekter, sozialer „Mi mikry“. Vgl. Stefan Hajduk: Die Figur des Erhabenen. Robert Musils sthetische Transgression der Moderne, Wrzburg 2000, S. 172.

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Dies gilt sowohl fr Frauen als auch fr Mnner, wie etwa Ulrichs Freund Walter, der sich ihm dadurch unterlegen fhlt.19 Mehrfach werden im Roman Mnnlichkeit und Sportlichkeit im Zeichen eines Erscheinungsbildes verknpft, das den zeitgençssischen Anforderungen an mnnliche Attraktivitt und Heldenhaftigkeit entspricht.20 So hat Ulrich seine mnnliche Erscheinung durch athletische bungen hergestellt, whrend Walter dezidiert als unsportlich und weiblich charakterisiert wird. Seine Beine „hatten die unschçne Form weicher Mdchenbeine“ (MoE, S. 217), er ist „klein und eher weichlich als zart gebaut“ (MoE, S. 64) und hat „krftig weibliche Lippen“ (MoE, S. 64). Reformorientierte Mnner ,mit Eigenschaften‘ wie Arnheim oder Hagauer spielen hin und wieder Tennis, um sich in diesem ,Spiel der Gesellschaft‘ der neuen Zeit und ihrer Rollen zu vergewissern.21 Ulrichs Sportausbung ist demgegenber als bestndiges, systematisches Training zu verstehen, zu dem morgendliche Gymnastik und gelegentliches Boxen beitragen. Seine bewusst kultivierte Erscheinung drckt eine rebellische Haltung zur Welt aus, die dem gelebten Widerspruch zwischen Innen und Außen korrespondiert: Er war glatt rasiert, groß, durchgebildet und biegsam muskulçs, sein Gesicht war hell und undurchsichtig; mit einem Wort, er kam sich manchmal selbst wie ein Vorurteil vor, das sich die meisten Frauen von einem eindrucksvollen noch jungen Mann bilden, und hatte bloß nicht immer die Kraft, sie rechtzeitig davon abzubringen. (MoE, S. 93)

Ulrich hat seinen Kçrper mit „der Maske des Sports“ bedeckt, „die ihm das Aussehen der Stunden gibt, wo er sich auf Urlaub von sich selbst befindet“ (MoE, S. 285). Diese Formulierung bringt den sowohl Ulrich als auch den Roman bestimmenden Widerspruch zwischen Innen und Außen zum Ausdruck, den das zeitgençssische Bild der Mnnlichkeit nur verdeckt. Ihm entspricht auf der Ebene des Romans das gegenlufige Konzept des Urlaubs vom Leben, das diese Vorurteile außer Kraft setzen 19 Zur Inszenierung von Mnnlichkeit als Objekt verschiedener Blicke in der bil denden Kunst vgl. Mechthild Fend/Marianne Koos (Hrsg.): Mnnlichkeit im Blick. Visuelle Inszenierungen in der Kunst seit der Frhen Neuzeit, Kçln, Weimar, Wien 2004. 20 Vgl. dazu auch Baur, Sport und subjektive Bewegungserfahrung, S. 105. 21 Vgl. Musil, MoE, S. 385. Dass sie dabei der Mode des Sports folgen, wird an Agathes Bemerkung deutlich, dass Hagauer mit der Zeit ein Fhrer geworden ist, „indem er als einer der ersten hinter ihr drein ging“ (MoE, S. 681). Vgl. dazu auch Musils Glosse Stilgeneration oder Generationsstil, GW II, S. 663.

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soll und der Identittssuche des Protagonisten gilt. Denn Ulrich fhlt sich in dem von ihm „geschaffenen Kçrper nicht zu Hause“ (MoE, S. 286): Er war mitunter geradezu auf seine Erscheinung wie auf einen mit billigen und nicht ganz lauteren Mitteln arbeitenden Rivalen eiferschtig, worin Widerspruch zutage trat, der auch in anderen vorhanden ist, die ihn nicht fhlen. Denn er war es selbst, der diesen Kçrper mit athletischen bungen pflegte und ihm die Gestalt, den Ausdruck, die Handlungsbereitschaft gab, deren Wirkung nach innen nicht zu gering ist […].“ (MoE, S. 285)22

Das Wohlgefallen, das seine Erscheinung regelmßig erregt, wird ihm mit der Zeit ebenso zuwider wie die sich automatisch nach dem Muster von Jagd und Eroberung einstellenden Liebesaffren. Als Ulrich Urlaub vom Leben nimmt, um sich dieser vorgeprgten Muster zu entziehen, stellt er daher auch sein tgliches Training ein. Dies ist als Versuch zu werten, seine Mnnlichkeit zu hinterfragen und die Sportpraxis als Bestandteil der Lebenswelt außer Kraft zu setzen. Als Medium der Kulturkritik und der essayistischen Selbstreflexion bleibt der Sport aber im Text prsent. So wird im Roman zwar ber Sport nachgedacht, praktisch aber kein Sport mehr ausgebt. Ulrichs sportive Mnnlichkeit kann als eine Form der Maskerade gedeutet werden, die seine inneren Widersprche kaschiert, um eine „gangbare Mnnlichkeit“ in Szene zu setzen. Die Wahl dieser performativen Strategie begleitet das Scheitern seiner Versuche, ein bedeutender Mann zu werden, und verdeutlicht, dass berzeugende Mnnlichkeitsentwrfe fr Ulrich nicht mehr verfgbar sind.23 22 Bei aller Distanz zu seinem eigenen Erscheinungsbild liebt Ulrich seine Haut (vgl. Musil, MoE, S. 676). Diese Liebe ist aufschlussreich, denn die Haut be zeichnet die Grenze zwischen Innen und Außen, die eng mit der eigenen Iden titt verbunden ist und das Ich in sich schließt. Vgl. Claudia Benthien: Haut. Literaturgeschichte Kçrperbilder Grenzdiskurse, Reinbek 1999, S. 25. Auch in anderen Texten Musils spielt die Haut eine große Rolle. Vgl. Benthien, Haut, bes. S. 248 253. 23 Dass nicht nur Weiblichkeit, sondern auch Mnnlichkeit historisch konstruiert und performativ hergestellt wird, ist in den letzten Jahren vermehrt Gegenstand kulturwissenschaftlicher Forschungen geworden. Einen berblick ber die For schung gibt Inge Stephan: Im toten Winkel. Die Neuentdeckung des ,ersten Geschlechts‘ durch men’s studies und Mnnlichkeitsforschung, in: Claudia Ben thien/Inge Stephan (Hrsg.): Mnnlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenie rungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Kçln, Weimar, Wien 2003, S. 11 35; vgl. außerdem Martin Dinges (Hrsg.): Mnner Macht Kçrper. Hege moniale Mnnlichkeiten vom Mittelalter bis heute, Frankfurt/Main, New York 2005; Martina Kessel (Hrsg.): Kunst, Geschlecht, Politik. Geschlechterentwrfe

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In diesem Zusammenhang kommt auch dem Titel des Romans zentrale Bedeutung zu. Denn Ulrichs Mnnlichkeitskonstruktion hngt unmittelbar mit dem Programm der Eigenschaftslosigkeit zusammen.24 Als ,Mann ohne Eigenschaften‘ muss er sich zumindest als ,Mann‘ eine klare Gestalt geben. Diese Gestalt gewinnt er durch einen trainierten Kçrper, der ihn handlungsbereit und aktiv wirken lsst. Im Gegenzug impliziert die Konstruktion von Geschlecht, d. h. die Performanz der Geschlechterrolle im Sinne der Unterscheidung von sex und gender, dass ein Mann ohne Eigenschaften ein Mann ohne feste Geschlechtsidentitt ist. Ulrichs Maskerade dient daher auch dazu, diese Leerstelle zu verdecken. Whrend die Wirklichkeit eine klare Geschlechtsidentitt verlangt, ist Ulrichs Identitt im Inneren widersprchlich, was schon sein frher Wunsch, ein Mdchen zu sein, verdeutlicht. Als Protest gegen feste Rollen und Konventionen des gesellschaftlichen Lebens richtet sich das Programm der Eigenschaftslosigkeit damit auch gegen die verfestigten Geschlechterrollen. Die utopische Existenz der Eigenschaftslosigkeit impliziert die Aufhebung der kulturell und sozial berformten Geschlechterdifferenz, die nicht zuletzt neue erotische Mçglichkeiten erçffnet.25 in der Kunst des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, Frankfurt/Main, New York 2005; Fend/Koos (Hrsg.), Mnnlichkeit im Blick; Therese Steffen (Hrsg.): Masculinities Maskulinitten: Mythos Realitt Reprsentation Rollen druck, Stuttgart, Weimar 2002; Walter Erhart/Britta Hermann (Hrsg.): Wann ist der Mann ein Mann? Zur Geschichte der Mnnlichkeit, Stuttgart, Weimar 1997; zum Konzept der Maskerade vgl. Liliane Weissberg (Hrsg.): Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt/Main 1994, Elfi Bettinger/Julika Funk (Hrsg.): Maskera den. Geschlechterdifferenz in der literarischen Inszenierung, Berlin 1995; zu Mnnlichkeit als Maskerade vgl. Walter Erhart/Britta Hermann: XY ungelçst: Mnnlichkeit als Performance, in: Therese Steffen (Hrsg.): Masculinities Maskulinitten: Mythos Realitt Reprsentation Rollendruck, Stuttgart, Weimar 2002, S. 33 53 sowie Claudia Benthien/Inge Stephan (Hrsg.): Mnn lichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Ge genwart, Kçln, Weimar, Wien 2003. 24 Schon Unhold einer der mçglichen Vorlufer Ulrichs hatte in der Skizze fr ein satirisches Boxerdrama behauptet: „Mir liegt gar nichts daran, wenn man mich entmannt.“ (Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 560.) 25 ber diese Mçglichkeiten hat Musil teilweise unter Rckgriff auf das Ama zonenmotiv auch in verschiedenen Essays nachgedacht. Vgl. Musil, Erinnerung an eine Mode, Penthesileiade und Die Frau gestern, heute und morgen. Dass die Mçglichkeit neuer Beziehungskonstellationen Musil nachhaltig beschftigt hat, zeigt das Konzept der Geschwisterliebe ebenso wie die Tatsache, dass selbst Ul rich und Agathe am Ende das Problem haben, ihre Beziehung nicht in Wie derholung und Langeweile ersticken zu lassen. Vgl. Menges, Abstrakte Welt und Eigenschaftslosigkeit, S. 249.

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Schließlich ist seine Maskerade auf der Ebene des Textes auch als performative Selbstinszenierung zu deuten, die der sthetischen Selbstreflexion des Essayismus korrespondiert. Auf der Ebene der Gattung erscheint Ulrichs Maskerade darber hinaus als Spiel mit der Tradition des Bildungsromans und seinem Entwurf selbstbewusster Mnnlichkeit, die sich in der Literatur der Moderne als Ablçsung der Kategorie Geschlecht von ,sex‘ bemerkbar macht und explizit als sthetisches Spiel mit Geschlechtercodes verhandelt wird.26 Ulrich ist daher auch unter dem Aspekt der Geschlechterzuschreibung eine ,Kunstfigur‘. Das Ende des Bildungsromans – und die Entstehung des Großstadtromans – sind als Antwort auf diesen Ab- und Auflçsungsprozess zu verstehen. a) Krise der Mnnlichkeit Das Konzept der Maskerade geht auf Joan Rivires Aufsatz Weiblichkeit als Maskerade (1929)27 zurck und ist in der kulturwissenschaftlichen Forschung vor allem in Hinblick auf die Inszenierung von Weiblichkeit diskutiert worden.28 Whrend Rivires Studie eine beruflich erfolgreiche Frau in den Mittelpunkt rckt, die ihre ,mnnliche‘ Intellektualitt hinter stark ausgestellten ,weiblichen‘ Verhaltensformen zu verbergen sucht, ließe sich fr Ulrich die These formulieren, dass die betont mnnliche Maske des Sports seine erschtterte, mnnliche Identitt kaschieren soll. In Rivires Beispiel geht es darum, die Angst vor der berschreitung der eigenen Geschlechterrolle und der Vergeltung durch mnnliche Konkurrenten abzuwehren, indem die Frau durch betont kokettes Verhalten 26 Vgl. Urte Helduser: Geschlechterprogramme. Konzepte der literarischen Mo derne um 1900, Kçln, Weimar, Wien 2005, S. 328. 27 Der Aufsatz erschien unter dem Titel „Womanliness as a Masquerade“ im In ternational Journal of Psychoanalysis. Er kann als Reflex auf die modernen Ge schlechterdiskurse gedeutet werden und erscheint nicht zufllig zeitgleich mit Musils Roman. Im Zuge der Diskussionen um Weiblichkeits Inszenierungen innerhalb der feministischen Literaturwissenschaft und der Gender Studies ist der Text neu verçffentlicht worden. Vgl. Joan Rivire: Weiblichkeit als Maske rade, in: Liliane Weissberg (Hrsg.): Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt/Main 1994, S. 34 47. 28 Vgl. dazu Claudia Benthien: Das Maskerade Konzept in der psychoanalytischen und kulturwissenschaftlichen Theoriebildung, in: dies./Inge Stephan (Hrsg.): Mnnlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Kçln, Weimar, Wien 2003, S. 36 59.

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versucht, sexuelle Beachtung zu erfahren.29 Ulrichs Verhalten zielt demgegenber darauf, die krisenhafte eigene Identitt zu verdecken und sich als Mann zu beweisen. In beiden Fllen wird die Kompensation im Bereich heterosexueller Attraktivitt gesucht, so dass konventionelle Erwartungen an die eigene Geschlechtsidentitt erfllt werden. In beiden Fllen spielen darber hinaus die Macht und die Selbstgewissheit des Vaters eine wichtige Rolle im jeweiligen Verhalten.30 Die Erfllung dient der Stabilisierung: Rivire analysiert, wie sich die selbstbewusste Frau erobern lsst, whrend Musil den melancholischen und in seinem Selbstbewusstsein erschtterten ,Mann ohne Eigenschaften‘ den berlegenen Eroberer geben lsst. Ohne den Vergleich berzustrapazieren, kann festgehalten werden, dass sich Ulrichs sportliche Erscheinung und die damit verbundenen Zuschreibungen des Kmpfers und Eroberers als Maskerade im Anschluss an Rivire analysieren lassen.31 Wie das Beispiel des Sportkçrpers im Mann ohne Eigenschaften zeigt, verweist das Konzept der Maskerade auf einen Mangel, auf Selbstzweifel und Identittsprobleme. Diesen Mangel kompensiert Ulrich durch eine forciert mnnliche Erscheinung, die auf gesteigerter physischer Prsenz beruht. Diese Prsenz basiert auf langjhrigem Training, das seine physische Kraft gesteigert und seine Aufmerksamkeit gespannt hat.32 Die Steigerung von Kraft und Nerven ist dem kulturellen Wandel inhrent, der durch Naturwissenschaften und Technik hervorgebracht wurde und in der Figur des Athleten seinen idealtypischen Ausdruck fand. So ist es nur folgerichtig, dass auch Ulrich einem athletischen Kçrperideal – schlank, beweglich, muskulçs – folgt. Damit weist die Maskerade des Mannes ohne Eigenschaften auf einen Umbruch im Mnnlichkeitsideal hin, der als Krise der Mnnlichkeit interpretiert werden muss. Als Reaktion auf diese Krise setzt sie einen betont mnnlichen Kçrper in Szene, der die Selbstzweifel des Protagonisten kaschiert.

29 Vgl. Rivire, Weiblichkeit als Maskerade, S. 36. 30 Vgl. Rivire, Weiblichkeit als Maskerade, S. 37. 31 Dabei geht es nicht um eine schlichte bertragung des Maskerade Modells auf die Konstruktion von Mnnlichkeit, da Weiblichkeit und Mnnlichkeit unter schiedliche Positionen in der Geschlechterordnung besetzen. Vgl. dazu auch die berlegungen von Erhart/Hermann, XY ungelçst, bes. S. 36 f., und Benthien, Das Maskerade Konzept, S. 54 58. 32 Vgl. Musil, MoE, S. 46.

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Die Infragestellung hegemonialer Mnnlichkeit,33 die Musils Roman verhandelt, zeigt sich auch in Ulrichs verschiedenen Versuchen, ein bedeutender Mensch zu werden, fr die er wiederum ausgesprochen ,mnnlich‘ konnotierte Berufsfelder whlt. Der Formulierung ,bedeutender Mensch‘ haftet die sich universell verstehende Auffassung des Mnnlichen an, deren Universalitt bereits durch seine Versuche in Frage gestellt wird. Sie kçnnen nur mehr als Satire auf das faustische Streben, Mensch zu werden, verstanden werden.34 Als Ausdruck der tiefgreifenden Diskrepanz zwischen Ulrichs Innerem und ußeren verweisen sie darber hinaus auf die problematisch gewordene Ich-Identitt, die symptomatisch fr die Moderne und das Ende des brgerlichen Zeitalters ist. Dieses Zeitalter verkçrpert Ulrichs Vater, ein „Mann mit Eigenschaften“, der fr den „Geist des aufstrebenden Brgertums“ (MoE, S. 15) steht und als angesehener Jurist gleichzeitig die normative Ordnung in Gestalt der Gesetze bestimmt. Das unstete Leben seines Sohnes sieht er mit durchaus gemischten Gefhlen und er ist es auch, der Ulrich ungebeten an die Parallelaktion empfiehlt, damit er eine Aufgabe hat. Zwischen diesen beiden Generationen vollzieht sich der historische Wandel der Mnnlichkeits- und damit auch der Gesellschaftsvorstellungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Dieser Wandel ist im Roman selbst auf vielfltige Weise virulent, denn es ist noch gar nicht lange her, daß man sich unter einem bewunderungswrdigen mnnlichen Geist ein Wesen vorgestellt hat, dessen Mut sittlicher Mut, dessen Kraft die Kraft einer berzeugung, dessen Festigkeit die des Herzens und der Tugend gewesen ist, das Schnelligkeit fr etwas Knabenhaftes, Finten fr etwas Unerlaubtes, Beweglichkeit und Schwung fr etwas der Wrde Zuwiderlaufendes gehalten hat. (MoE, S. 44 f.)

Doch die brgerliche Welt fester berzeugungen, die „Welt der Sicherheit“, die Stefan Zweig (1881 – 1942) in seinen Erinnerungen auch als

33 Das Konzept der ,hegemonialen Mnnlichkeit‘ geht auf die Arbeiten von Robert William Connell zurck. Im deutschsprachigen Raum wurde vor allem die bersetzung seiner Studie Masculinities (1995) rezipiert. Vgl. Robert William Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Mnnlichkeiten, Opladen 1999. Fr eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Konzept vgl. Martin Dinges: „Hegemoniale Mnnlichkeit“ Ein Konzept auf dem Prfstand, in: ders. (Hrsg.): Mnner Macht Kçrper. Hegemoniale Mnnlichkeiten vom Mittelalter bis heute, Frankfurt/Main, New York 2005, S. 7 33. 34 Vgl. Honold, Die Stadt und der Krieg, S. 213.

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„Welt von Gestern“ beschrieben hat,35 ist im Umbruch begriffen. Ihr Ende wird durch den Tod des Vaters besiegelt. Sein Tod ermçglicht zugleich die Begegnung der Geschwister und macht den Weg fr ihre „Reise an den Rand des Mçglichen“ (MoE, S. 761) frei. Der gesellschaftliche Wandel wird vor allem durch den Fortschritt in Naturwissenschaften und Technik vorangetrieben. Ihr Siegeszug, an dem auch Ulrich beteiligt ist, stellt den Geistesaristokraten, den freischaffenden Knstler, Gelehrten und Intellektuellen als brgerliches Mnnlichkeitsideal zunehmend in Frage.36 Die Abwertung geistiger Leistungen – im Sinne des Bildungsbrgertums – wird im Mann ohne Eigenschaften explizit als Teil einer Krise der Mnnlichkeit verhandelt. Dass Ulrich von einer ganzen Reihe mnnlicher Figuren umgeben ist, die die Kraft dieses Geistes geradezu emphatisch beschwçren, ndert daran nichts. Im Gegenteil, ihr Beharren auf einem leeren Idealismus einerseits und ihr kulturpessimistischer Gestus andererseits heben die krisenhafte Situation umso schrfer hervor. So ist der vielbeschworene mnnliche Geist, wie der Erzhler ironisch bemerkt, „zu einem ideologischen Gespenst“ (MoE, S. 45) geworden, weshalb sich „das Leben“ ein neues „Bild der Mnnlichkeit“ suchen musste: Da es [das Leben, A.F.] sich danach umsah, machte es aber die Entdeckung, daß die Griffe und Listen, die ein erfinderischer Kopf in einem logischen Kalkl anwendet, wirklich nicht sehr verschieden von den Kampfgriffen eines hart geschulten Kçrpers sind, und es gibt eine allgemeine seelische Kampfkraft, die von Schwierigkeiten und Unwahrscheinlichkeiten kalt und klug gemacht wird, ob sie nun die dem Angriff zugngliche Seite einer Aufgabe oder eines kçrperlichen Feindes zu erraten gewohnt ist. (MoE, S. 45)

Diese Engfhrung von geistiger und kçrperlicher Kraft veranschaulicht einen Paradigmenwechsel, dessen Ambivalenz Musil bestndig beschftigt hat. Im Zuge dieses Umbruchs treten die Reprsentanten einer durch 35 Vgl. Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europers [1942], 34. Aufl. Frankfurt/Main 2003 [1. Aufl. 1970], Kapitel „Die Welt der Sicher heit“, S. 15 44. ber diese Welt schreibt Tibor Dry: „Sport galt um diese Zeit als gefhrlich. Gute Turner hatten einen schlechten Leumund beim Lateinpro fessor, und wer Bock und Reck beherrschte, galt fr verrucht. Fußball war fast gleichbedeutend mit Kartenspiel oder verbotener Liebe; nur die Schlechtesten in der Klasse waren gelenkig. Der Turnlehrer grßte die Herren Kollegen weit vorgebeugt mit inferiorem Hutschwung. Er war der einzige unter ihnen, der keinen Bart trug.“ (Dry, Zur freundlichen Erinnerung, S. 388.) 36 Zu diesem Umbruch vgl. auch Helduser, Geschlechterprogramme, S. 85.

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geistige Werte geleiteten Kultur allmhlich zugunsten der Figur des Sportlers zurck, der den Anforderungen der nationalen Wehrhaftigkeit ebenso gengt wie denen des technischen Fortschritts und damit als privilegierter Protagonist von Disziplin, Leistung und Genauigkeit erscheint. Diesen Paradigmenwechsel, der „die veralteten Begriffe von Genie“ (MoE, S. 45) zu verabschieden beginnt, hat Musil in der Identittssuche seines Protagonisten hçchst anschaulich zur Darstellung gebracht: „Es war ihm zuweilen geradeso zumute, als wre er mit einer Begabung geboren, fr die es gegenwrtig kein Ziel gab.“ (MoE, S. 60) Aufgrund dieser Ziellosigkeit folgt er den Verheißungen des Sports, die den Kçrper sthlen und „nach hçchsten Rekorden“ (MoE, S. 285) aussehen lassen. Dass Ulrich seine Mnnlichkeit – und die daran geknpfte Zielstrebigkeit – mittels Sport nur vorspiegelt, verdeutlicht die Diskrepanz zwischen seinem Innerem und dem positiven Vorurteil, das sein ußeres bedient. Gleichzeitig erlaubt ihm diese Erfllung gesellschaftlicher Normen innerlich Distanz zu der ihn umgebenden Welt. Dennoch entwickelt Ulrich schließlich solchen berdruss gegen die Maskierung seines Ich, dass er Urlaub von seinem Leben nimmt. Die Krise der Mnnlichkeit, auf die das Konzept der Maskerade verweist, ist Teil jener Krise der Moderne, deren vielfltige Erscheinungen Musils Roman bestimmen. Diese Krisendiskurse sind von einer geschlechterspezifischen Rhetorik durchzogen, die verdeutlicht, dass sich hinter der Identittsproblematik des modernen Menschen durchaus unterschiedliche Krisen von Frauen und Mnnern verbergen.37 Obwohl das Thema der Identittssuche eines der zentralen Probleme von Musils Roman ist, das ex negativo bereits im vielsagenden Titel des Romans anklingt, ist der Zusammenhang von Mnnlichkeitskrise und Eigenschaftslosigkeit noch ein Desiderat der Forschung. Zwar hat Barbara Neymeyr Ulrichs Identittsproblematik zum Ausgangspunkt einer neuen Interpretation des Textes gewhlt,38 als spezifisch mnnliche Krise gert sie ihr aber nicht in den Blick. Doch sind die vielzitierte Krise des Ich, die Infragestellung des Subjekts und der Verlust der Persçnlichkeit,

37 Vgl. dazu Stefanie von Schnurbein: Krisen der Mnnlichkeit. Schreiben und Geschlechterdiskurs in skandinavischen Romanen seit 1890, Gçttingen 2001, S. 8 f. 38 Vgl. Barbara Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epochenroman Der Mann ohne Eigenschaften, Heidelberg 2005, S. 13 f.

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die die moderne Literatur und auch Musils Roman konstituieren, in erster Linie die Probleme mnnlicher Subjekte.39 b) Maske des Sports: Dandy und Boxer Ulrichs systematisches Training demonstriert anschaulich, dass die Krisenerfahrungen der Moderne mit einem ausgeprgten Interesse am Kçrper einher gehen. Gabriele Brandstetter hat in diesem Zusammenhang von einem „herausgehobenen Kultwert“ des Kçrpers gesprochen, der zu einem Ort der Selbstvergewisserung und zu einem Schauplatz der Krise wird.40 Diese Beschreibung trifft auch auf Ulrichs Wahrnehmung und Inszenierung seines Kçrpers zu. Der sportlich trainierte Kçrper bildet somit die Bhne, auf der er ,gangbare‘ Vorstellungen von Mnnlichkeit hervorragend in Szene setzen kann. Die ,Maske des Sports‘ stellt daher einen wichtigen Versuch dar, an der kulturellen Moderne teilzuhaben. Sie ermçglicht es, der Mode des Sports zu folgen, da die Modevorbilder „aus den Journalen der großen und schçnen Welt“ (MoE, S. 285) die Muster liefern, die die Kçrper und damit die Menschen formen. Denn „daß der Ausdruck des Daseins das erst erzeugt, was seine Form annimmt; daß Kleider Leute machen, ist ein bis in die Elemente geltender Satz.“41 Der technische und profitorientierte Charakter des Sportgeschehens wird im Roman dadurch unterstrichen, dass Tennis und Fußball als „einflußreiche Industrien“ (MoE, S. 399) ironisiert werden. Gleichzeitig ermçglicht gerade die Sportausbung durch die Verbindung von hçfisch-militrischer Tradition, moderner Rationalitt und der Authentizitt des Kampfes eine effektvolle Re-Inszenierung mnnlicher Werte und Vorstellungen. Einen Vorlufer dieser Maskerade bildet die Maske des Dandys, die auch in Franz Bleis Band Mnner und Masken (1930) die Hauptrolle spielt.42 Die Entwicklung des Dandytums in den englischen Salons an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert und die Herausbildung der modernen sports hngen unmittelbar miteinander zusammen. Als ,Dandy‘ 39 Vgl. von Schnurbein, Krisen der Mnnlichkeit, S. 10. 40 Vgl. Brandstetter, Einfhrung, S. 441. 41 Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1148. Vgl. dazu auch Kmmel, MoE Programm, S. 144. 42 Blei geht auf einige der bekanntesten Dandys des 19. Jahrhunderts ein, so z. B. auf Beau Brummel, Baudelaire, Alexander von Villers, Aubrey Beardsley und Oscar Wilde.

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wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts jene exklusiven Mßiggnger bezeichnet, die in allen Fragen der Mode, der Eleganz oder des extravaganten Zeitvertreibs tonangebend waren. Vorwiegend aus adligem oder reich gewordenem brgerlichen Hause stammend, verwandten sie vor Antritt ihrer eigentlichen Laufbahn zumindest einen Teil ihres ererbten Vermçgens fr einen aufwndigen Lebensstil, das Glcksspiel oder Pferderennen.43 Sie hatten damit Teil an jener conspicious consumption (Thorstein Veblen), zu der im Laufe des 19. Jahrhunderts auch der Sportkonsum zhlte.44 Das Dandytum und der Sport verbreiteten sich als exklusive Moden von England aus auf den Kontinent. Die Maske des Sports erscheint als sthetisierung des Kçrpers mit modernen Mitteln und kann als Radikalisierung des Dandytums gelten, insofern sich die sportliche Selbststilisierung nicht in der Bekleidung, sondern am Kçrper selbst zeigt. Schon Baudelaire hatte in seiner Charakteristik des Dandys den Sport als Teil jener Disziplinierung gewertet, der sich der Dandy unterwirft: Wenn er ein Verbrechen beginge, so wre das vielleicht noch keine Einbuße; sollte dieses Verbrechen jedoch einen trivialen Grund haben, so verfiele er auf ewig der Schande. Der Leser mçge an dieser ernsthaften Behandlung des Frivolen keinen Anstoß nehmen, er mçge sich vielmehr vergegenwrtigen, daß in jeder Narrheit eine Grçße und in jeder bertreibung eine gewisse Kraft steckt. Seltsamer Spiritualismus! Denjenigen, welche sowohl seine Priester wie seine Opfer sind, gelten all die umstndlichen materiellen Bedingungen, denen sie sich unterwerfen (von der untadeligen Toilette zu jeder Stunde des Tages und der Nacht bis zu den gefhrlichsten sportlichen Bravourakten), nur als eine tgliche bung zur Strkung der Willenskraft und zur Zucht der Seele.45

43 Vgl. Gnter Erbe: Dandys Virtuosen der Lebenskunst. Eine Geschichte des mondnen Lebens, Kçln, Weimar, Wien 2002, S. 9. Zum Dandy vgl. auch Hiltrud Gng: Kult der Klte. Der klassische Dandy im Spiegel der Weltliteratur, Stuttgart 1988. 44 Vgl. Thorstein Veblen: Theorie der feinen Leute. Eine çkonomische Untersu chung der Institutionen, Mnchen 1981 [Orig.: The Theory of the Leisure Class. An economic Study of the Evolution of Institutions, New York 1899]. Der Sport spielt in Veblens Untersuchung eine wichtige Rolle. Er ist nicht nur Teil des demonstrativen Mßiggangs, er liefert auch einen Vorwand fr den Wettbewerb und stiftet Prestige. In London schuf sich die „Eleganzelite“ mit dem Jockeyclub ein Refugium gegen das Dandytum der Knstlerbohme. Vgl. Erbe, Dandys, S. 15. 45 Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, S. 243.

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Diese tgliche bung lsst den Dandy auch geistig berlegen erscheinen, ein Muster an Selbstzucht, ein Ritter des modernen Lebens.46 Diese und weitere Merkmale teilt er mit Ulrich, dessen dandyhafte Attitde schon mehrfach festgestellt wurde.47 Der Dandy kann analog zu Ulrichs Haltung als Sportler durch die konsequente Verbindung von tadelloser Erscheinung und innerem Widerspruchsgeist charakterisiert werden. Fr Baudelaire ist der Dandy wesentlich durch Widerspruch und Auflehnung bestimmt, „alle sind Vertreter dessen, was das Beste am menschlichen Stolz ist, des bei den Heutigen allzu seltenen Bedrfnisses, die Trivialitt zu bekmpfen und sie zu vernichten.“48 Auch Ulrichs Training hngt mit seiner kmpferischen Einstellung zum Leben direkt zusammen, die dem Denken der Mçglichkeit als berschreitung der Wirklichkeit vorausgeht. In seinen „Grundzgen“ beschreibt ihn der Erzhler folgendermaßen: Mit der seelischen Beweglichkeit, die einfach eine sehr mannigfaltige Anlage zur Voraussetzung hat, verbindet sich bei ihm noch eine gewisse Angriffslust. Er ist ein mnnlicher Kopf. […] Denn es hat sich mit der Zeit eine gewisse Bereitschaft zur Verneinung in ihm entwickelt, eine biegsame Dialektik des Gefhls, die ihn leicht dazu verleitet, in etwas, das allgemein gut geheißen wird, einen Schaden zu entdecken, dagegen etwas Verbotenes zu verteidigen und Pflichten mit dem Unwillen abzulehnen, der aus dem Willen zur Schaffung eigener Pflichten hervorgeht. Trotz dieses Willens berlßt er aber seine moralische Fhrung, mit gewissen Ausnahmen, die er sich gestattet, einfach jenem ritterlichen Anstand, der in der brgerlichen Gesellschaft so ziemlich alle Mnner leitet, solange sie in geordneten Verhltnissen leben […]. (MoE, S. 151)

Diese Beschreibung Ulrichs weist deutliche Bezge zur Charakteristik des Dandys auf. So steht Ulrich noch in der Tradition aristokratischer Lebensentwrfe, deren Geltungsanspruch aber bereits in Frage gestellt ist; mit den herrschenden Normen stimmt er nicht berein. Wie seine Versuche, ein bedeutender Mann zu werden, belegen, ist er Individualist und strebt nach Originalitt.49 Gleichzeitig weiß er um die Fragwrdigkeit und Vergeblichkeit seiner Bemhungen. So passt er sich der Mode des Sports bewusst an, um gegen die falschen Einteilungen des Lebens und 46 Vgl. Erbe, Dandys, S. 15. 47 Vgl. Lenk, Wie Georg Simmel die Mode berlistet hat, S. 428 430; Neymeyr, Psychologie als Kulturdiagnose, S. 50 f., die allerdings Ulrichs innere Haltung von der ußerlichen Attitde des Dandys unterschieden wissen will. 48 Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, S. 244. 49 Vgl. dazu Erbe, Dandys, S. 16 f.

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den tçrichten „Wachtraum des Aussehenwollens“ (MoE, S. 285) zu protestieren.50 Die Bezugnahme auf die Tradition adligen Lebens zeigt sich bei Ulrich zunchst in seinem „Schlçßchen“ (MoE, S. 12), das Teil seiner Maskerade und gleichzeitig Ausdruck jener aristokratischen Herrschaft ist, die allmhlich abgelçst wird. Die Fassade „war im 19. Jahrhundert erneuert und etwas verdorben worden, das Ganze hatte also einen etwas verwackelten Sinn“ (MoE, S. 12). Darber hinaus wird auf aristokratische Entwrfe durch den Verweis auf den ritterlichen Anstand Bezug genommen, der hier zugleich als Adel der Mnnlichkeit erscheint.51 Diese Haltung ist durch traditionelle Vorstellungen mnnlicher Ehre ebenso geprgt wie durch das damit untrennbar verbundene ritterliche Turnier und die ihm vorausgehenden Exerzitien, die auch als frhe Formen sportlichen Wettkampfs gedeutet werden kçnnen.52 Ritterliche Turniere dienten dazu, Hingabe und Selbstbehauptung der Teilnehmer nach festgelegten Regeln auf spielerisch-demonstrative Weise auszudrcken. Tapferkeit und Geschicklichkeit trugen unter den Augen des zahlreich 50 Vgl. Lenk, Wie Georg Simmel die Mode berlistet hat, S. 431. Als reales Beispiel fr die Maske des Boxer Dandys sei hier George Grosz genannt. Wolfgang Cilleßen deutet Grosz’ Dandytum als Verbindung zwischen europischer Tra dition und amerikanischer Modernitt. Vgl. Cilleßen, „Sich pflegen bringt Segen!“, S. 266 f. 51 „Mann zu sein heißt, von vornherein in eine Position eingesetzt zu sein, die Befugnisse und Privilegien impliziert, aber auch Pflichten, und alle Verpflich tungen, die die Mnnlichkeit als Adel mit sich bringt.“ (Pierre Bourdieu: Die mnnliche Herrschaft, in: Irene Dçlling/Beate Krais (Hrsg.): Ein alltgliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frankfurt/Main 1997, S. 153 217, hier S. 188.) 52 Um in der hçfisch geprgten Kultur der Reprsentation eine gute Figur zu machen, entwickelte der Adel in der Frhen Neuzeit ein eigenstndiges Bil dungsideal fr seine mnnlichen Angehçrigen, zu dem neben der geistigen Ausbildung auch die kçrperliche Schulung zhlte. Erfuhr dieses Ideal auch ver schiedene nationale Ausprgungen, so zhlte immer die souverne Beherrschung der Exerzitien zu seinen unabdingbaren Voraussetzungen. Neben dem Unterricht in verschiedenen Fremdsprachen, Mathematik, Geschichte sowie çkonomischen, juristischen und militrischen Fragen, erhielten Tanzen, Reiten, Fechten und andere kçrperliche bungen großes Gewicht. Da diese Erziehung durch per sçnliche Hofmeister nur fr den vermçgendsten Teil des Adels in Betracht kam, grndeten sich in Europa verschiedenste Unterrichtsanstalten zur gemeinschaft lichen, adligen Erziehung, in deren Lehrplnen ebenfalls Tanzen, Reiten und Fechten fest verankert waren. In dieser Tradition steht auch das Gymnasium, das Ulrich besucht hat. Vgl. Strohmeyer, Beitrge zur Geschichte des Sports, S. 218 221.

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versammelten Publikums den Sieg davon, gekmpft wurde nicht gegeneinander, sondern um Ruhm und Ehre, die es zu verteidigen und zu vermehren galt.53 Ein ,Ritter‘ zeichnet sich demnach durch geistige und kçrperliche Geschicklichkeit aus; „ritterlicher Anstand“ ist die brgerliche Schwundform, die dem „Schlçßchen“ korrespondiert. Ulrich drfte diese adlige Tradition vor allem deshalb gegenwrtig sein, weil er auf „dem vornehmen Gymnasium der Theresianischen Ritterakademie“ (MoE, S. 19) erzogen wurde und anschließend eine Laufbahn als Kavallerist einschlug.54 Seine Entwicklung spiegelt damit auch die Herausbildung des Sports wider, die als Modernisierung bzw. Zivilisierung kriegerischer Mnnlichkeit interpretiert werden kann,55 ein Wandel, fr den auch das Boxen steht.56 Als Dandy und als „noch“ junger Mann57 erscheint Ulrich daher sowohl bezogen auf die historische Entwicklung der modernen Kultur als auch in Hinblick auf das sthetische Programm des Romans als Figur des bergangs. Das dezidiert mnnlich konnotierte Zusammenspiel von kçrperlicher und geistiger Beweglichkeit, in dem die „biegsame Dialektik des Gefhls“ seiner „biegsam“ muskulçsen Gestalt nicht nachsteht,58 bildet darber hinaus die Grundlage fr Ulrichs unkonventionelles und angriffslustiges Verhalten. Sie kennzeichnet gleichzeitig die Haltung des Essayismus, der in Ulrich als Verbindung von Reflexionslust und kçr53 Vgl. Ute Frevert: Ehrenmnner. Das Duell in der brgerlichen Gesellschaft, Mnchen 1991, S. 21 f. Veblen behandelt den Sport unter der ironischen berschrift „berreste der Tapferkeit im modernen Leben“; vgl. Veblen, Theorie der feinen Leute, S. 182 204. 54 Musil war diese Tradition im brigen durch seine eigene Militrschullaufbahn bekannt. Dabei zeigt sich beispielsweise in seiner sportlichen Schulung, wie das feudale Fechten vermittelt durch einzelne Fechtmeister im 19. Jahrhundert in die (beinah ebenso feudale) moderne Sportbewegung berging. Vgl. Strohmeyer, Beitrge zur Geschichte des Sports, S. 221. 55 Vgl. Norbert Elias: Einfhrung, in: Norbert Elias/Norbert Dunning: Sport und Spannung im Prozeß der Zivilisation (= Norbert Elias Gesammelte Schriften, Bd. 7), Frankfurt/Main 2003, S. 42 120, bes. S. 66 68. 56 Zum Zusammenhang von Kampf und Sport vgl. auch die genauen, zeitgençs sischen Beobachtungen von Alfred Peters: Psychologie des Sports. Seine Kon frontierung mit Spiel und Kampf, Leipzig 1927, S. 57 63. Peters wirft dem Sport allerdings vor, im Unterschied zum Krieg keinen Gehalt zu haben, sondern den Kampf zugunsten des individuellen Erlebens zu sthetisieren und zu ratio nalisieren. 57 Vgl. Musil, MoE, S. 93. 58 Vgl. Musil, MoE, S. 93.

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perlicher Beweglichkeit erscheint und damit seiner selbstreflexiven Erscheinung als sportlicher Dandy korrespondiert. Canetti zufolge soll sich auch Musil selbst durch diese bereinstimmung von Geist und Kçrper ausgezeichnet haben.59 Seine Kçrperbeherrschung entsprach der Przision seiner Gedanken und seiner Haltung zum Leben: Man verringert nicht seine Bedeutung, wenn man das Agonale an ihm betont. Seine Haltung zu Mnnern war eine des Kampfes. Er fhlte sich im Krieg nicht fehl am Platz, er sah darin eine persçnliche Bewhrung. Er war Offizier und versuchte, durch Sorge um seine Leute gutzumachen, was ihn als Brutalisierung des Lebens bedrckte. Er hatte eine natrliche oder sagen wir traditionelle Einstellung zum berleben und schmte sich ihrer nicht. Nach dem Krieg trat der Wettbewerb an dessen Stelle, darin war er wie ein Grieche.60

Mit Fleißer lsst sich diese Einstellung auch als „Sportgeist“ charakterisieren: „Genau gedacht ist das Wesentliche des Sportsmannes, das, was ihn vom gedrillten Rekruten unterscheidet und ihm den großen Zug gibt, sein Sportgeist, eine bestimmte Kampfeinstellung des Lebensgefhls.“61 hnlich wie Musil beschreibt Fleißer mit dem ,Sportsmann‘ den Wandel des Mnnlichkeitsbildes durch die Moderne: Wenn es wahr ist, daß dieser Sportgeist in seiner entschlossenen und zielbewußten Aktivitt die Spitze des heutigen Zeitgefhls enthlt, so ist doch kein Grund dafr vorhanden, ihn einseitig in der Richtung auf den Kçrper wirken zu lassen. Vielleicht kann der Mann der geistigen Arbeit von den Methoden, die der Sportsmann durchfhrt, lernen.62 59 Vgl. Elias Canetti: Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931 1937, Frankfurt/ Main 1988 (14. Aufl. 2002), S. 158. Sehr hnlich hat auch Blei seinen Freund beschrieben. Vgl. Blei, Erzhlung eines Lebens, S. 420 f. Damit soll nicht vor schnell vom Autor auf seinen Protagonisten geschlossen werden. Musil selbst hat in Aufzeichnungen zur Spion Fassung, in der Ulrich immerhin Achill heißen sollte, sowohl den beschriebenen Zusammenhang zwischen Kçrper und Ge danken als auch den zwischen seiner Figur und sich explizit hergestellt, wollte ihr allerdings mehr Freiheiten zugestehen als sich selbst. Vgl. Fanta, Entstehungs geschichte, S. 141. 60 Canetti, Das Augenspiel., S. 158. Dass Musil sich gegenber anderen in einer Situation des Wettkampfs wahrnahm, macht Canetti auch am Beispiel einer Lesung deutlich. Vgl. Canetti, Das Augenspiel, S. 186. 61 Marieluise Fleißer: Sportgeist und Zeitkunst. Essay ber den modernen Men schentyp [1929], in: Marieluise Fleißer. Gesammelte Werke, hg. von Gnther Rhle, Frankfurt/Main 1994, Bd. 2, S. 317 320, hier S. 317. 62 Vgl. Fleißer, Sportgeist, S. 317.

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Dieses Bild moderner Mnnlichkeit wird, wie die zahlreichen Artikel ber das Boxen in den zwanziger Jahren und die sthetisierung des Boxers im Querschnitt gezeigt haben, idealtypisch durch die Figur des Boxers verkçrpert. Es ist daher nicht berraschend, dass auch Ulrich boxt. Dennoch kann Ulrich nicht eigentlich als Boxer bezeichnet werden, da der Kampf mit der Wirklichkeit, der zentral fr die Figur des Boxers ist, fr Ulrich vor allem Ausdruck der Mçglichkeit ist. Dies wird zu Beginn des Romans an seinem Schlag gegen den Punchingball deutlich. Ulrich ist gewissermaßen ein Boxer im Geiste, wenngleich er sich den berfllen der Wirklichkeit durchaus sportlich zu erwehren weiß. Auch seine zahllosen Auseinandersetzungen im Zuge der Parallelaktion tragen hufig den Charakter von Wortgefechten, die er nach sportlichen Gesichtspunkten bewertet. Literaturgeschichtlich betrachtet vollzieht Musil damit eine doppelte Bewegung, die seine ambivalente Position gegenber dem modernen Fortschrittsoptimismus erneut deutlich macht: Durch das Boxen rckt Musil seinen Protagonisten eindeutig in den literarischen Diskurs der Neuen Sachlichkeit ein – und nimmt ihn gleichzeitig auch wieder heraus, da Ulrich vor allem verbal in den Ring tritt. Das Boxen ist hier gerade nicht Synonym einer unverstellten, rauen Mnnlichkeit und der – damit unmittelbar verbundenen – ungeknstelten, tatsachenbezogenen Wahrnehmung der Wirklichkeit, sondern bildet, im Gegenteil, die Grundlage einer Maskerade der Mnnlichkeit. So schlgt Ulrich, als er zu Beginn des Romans von drei Mnnern berfallen wird, zwar zurck, denkt aber zu lange nach, um noch mit heiler Haut zu entkommen. Bezogen auf den Diskurs der Neuen Sachlichkeit kann diese Konstruktion als ironische Kritik an einem zu schlichten Tatsachenbezug gelesen werden, der Modernitt nur behauptet, aber nicht hinterfragt. Musil hlt dagegen der Moderne – und der modernen Literatur – ihren Spiegel vor. In diesem Zusammenhang ist noch einmal Bleis Text Bildnis eines Boxers heranzuziehen, und zwar nicht nur, weil Ulrich einige Charakteristika von Bleis Boxer – animalisches Wesen, forcierte Mnnlichkeit und Disziplin – aufweist,63 sondern weil der Text darber hinaus Teil einer Essay-Sammlung von Blei ist, die den markanten Titel Mnner und Masken trgt und im selben Jahr wie das erste Buch von Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften erscheint.64 Dieses Zusammenspiel unter63 Vgl. Blei, Bildnis eines Boxers, S. 218. 64 Zu den vielfltigen Facetten der engen Zusammenarbeit zwischen Robert Musil und Franz Blei als wechselseitige Textassimilation und als Spiel der Kritik vgl.

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streicht die bewusste Wahl des Maskerade-Konzepts auf Seiten Musils. Darber hinaus kann Ulrichs Maskerade als essayistische Strategie interpretiert werden, die als intertextuelles Darstellungsverfahren einen weiteren Schauplatz fr mnnliche Selbst-Inszenierungen erçffnet: im selben Jahr kommt nmlich auch Bleis autobiografische Erzhlung eines Lebens (1930) heraus, deren 57. Kapitel explizit auf Musils Roman verweist und die Maskerade in vielfacher Weise weitertreibt.65 So schreibt Blei ber Musil, dass er seinen Kçrper sportlich bte „bis in den kleinsten Muskel“: „Dieser vollkommene Leib setzte das Hirn nicht in den Fall, Ressentiments auszubilden. Und dieses Hirn hinderte den Leib daran, ein bloßer Athlet zu sein.“66 Diese Formulierung erinnert wiederum an Ulrich, der eine sportliche Mnnlichkeit vorspiegelt, fr die er „zuviel Geist und innere Widersprche besaß“ (MoE, S. 285).67 Die Maske des Sports ist also keine Verkleidung, die je nach Situation gewechselt werden kann. Sie ist als kçrperbezogene Selbsttechnik vielmehr wesentlicher Bestandteil einer durch bung und Wiederholung habitualisierten Hervorbringung von Geschlecht, die die Geschlechterdifferenz als ,Natur‘ erscheinen lsst. Um als ,mnnlicher‘ Mann wahrgenommen zu werden, muss der naturalisierte Geschlechterunterschied hervorgehoben werden. Gerade die Sportausbung verdeutlicht, dass diese spezifische Verkçrperung der Differenz nur als aktive Aneignung vorgeprgter Muster mçglich ist.68 Mit der „Maske des Sports“ (MoE, S. 285) bezeichnet Musil daher eine performative Strategie, die auf die Herstellung und Inszenierung mnnlicher Geschlechtsidentitt zielt und diese zugleich unterluft.

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eingehend Nbel, Robert Musil, S. 274 388; zur Beziehung zwischen Musil und Blei vgl. auch Dagmar Barnouw: Literat und Literatur: Robert Musils Be ziehung zu Franz Blei, in: Modern Austrian Literature 9 (1976), S. 168 199; Silvia Bonacchi/Emanuela Veronica Fanelli: „Ein nie gesttigtes Verlangen nach Geist…“: Zur Beziehung zwischen Franz Blei und Robert Musil, in: Dietrich Harth (Hrsg.): Franz Blei. Mittler der Literaturen, Hamburg 1997, S. 108 138. Vgl. Franz Blei: Erzhlung eines Lebens [1930], mit einem Nachwort hg. von Ursula Pia Jauch, Wien 2004, S. 378. Blei, Erzhlung eines Lebens, S. 420 f. Schließlich steht ausgerechnet an einem „Augusttag“ am fiktiven Sterbebett des Erzhlers neben anderen „Musil: wie durch eine die brennende Intensitt dieses Antlitz verschleiernde Maske, aus einer hauchzarten Alge gebildet, blickte das halbgeschloßne Auge ihn an, çffnete sich leicht der Mund.“ (Blei, Erzhlung eines Lebens, S. 455.) Zum Aspekt der aktiven Aneignung und Darstellung vgl. auch Erhart/Herr mann, XY ungelçst, S. 36.

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Als eine Form der Reprsentation verweist sie nmlich auf ein mnnliches Idealbild, dessen bewusste Aneignung auch die Kritik dieses Ideals ermçglicht. Zwischen Prsentation und Reprsentation liegt die Mçglichkeit, die bestimmenden Konventionen der Wirklichkeit zu hinterfragen. An Ulrich wird deutlich, dass die ußerlich gelungene Nachahmung des Idealbilds noch keine bereinstimmung im Inneren bedeuten muss, auch wenn sie dort Spuren hinterlsst. Die Kluft zwischen der Wahrnehmung durch die Anderen und der Selbstwahrnehmung, die gleichzeitig Ausdruck von Ulrichs zwiespltiger Wahrnehmung der Welt ist, findet im Konzept von Mnnlichkeit als Maskerade berzeugenden Ausdruck. Sie fhrt den modernen Riss der Selbsterkenntnis vor, den der Roman, aber auch die Sportessays thematisieren, die Lcke, die – wie Musil zeigt – gerade nicht durch bloßes Nachdenken geschlossen werden kann. Als selbstreflexive Strategie auf der Ebene des Textes ermçglicht diese Maskerade darber hinaus die kritische Aneignung zeitgençssischer literarischer Muster mit dem Ziel, sie zu verndern. c) Sport im Spiegel: Die Schwester Ulrichs Behauptung seiner Mnnlichkeit ist als performative Strategie der Herstellung von Geschlecht kenntlich: Er besitzt keine sichere Identitt, sondern setzt nur seine mnnliche Erscheinung in Szene. Mit dieser Inszenierung verdeckt Ulrich nicht nur den ihn bestimmenden Widerspruch zwischen Innen und Außen, zwischen Wirklichkeit und Mçglichkeit, sondern auch den Widerspruch zwischen Mnnlichkeit und Weiblichkeit. Das Wiedersehen mit seiner Schwester Agathe setzt diese Strategie sofort außer Kraft, wie schon ihre erste Begegnung unmittelbar deutlich macht. Als sie sich im gleichen androgynen Pierrotkleid gegenber stehen, stellt Agathe erheitert fest: „Ich wußte nicht, daß wir Zwillinge sind!“ (MoE, S. 676) Dieser Ausruf hlt die geschlechtliche Fixierung der Zwillinge bewusst in der Schwebe. Durch ihre hnlichkeit fungiert Agathe als Spiegel fr Ulrich, in dem er sich als anderer sieht (er sollte ja auch zunchst „Anders“ heißen). Am Ende dieser Begegnung reflektiert Ulrich die geschlechtliche Zwiespltigkeit, Fremdheit und gleichzeitige

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Vertrautheit der Schwester, „die so ganz anders war als mit einer Frau, fr die er ein Mann wre“ (MoE, S. 686).69 Dieser Eindruck wird durch das weich fallende, lockere Pierrotkleid unterstrichen, das seine antrainierte Mnnlichkeit verdeckt. Aufgrund seiner Herkunft aus der commedia dell’ arte bleibt das Pierrotkleid aber auf den Kontext von Maskerade und Selbstinszenierung bezogen. Es wird im Text auch als „Narrenanzug“ (MoE, S. 722) und „Clownskittel“ (MoE, S. 863) bezeichnet. Darber hinaus kann die Figur des Pierrot durch seine Wandlungsfhigkeit, wie Julia Bertschik gezeigt hat, auch als Inkarnation des Dandys interpretiert werden. Insbesondere in der Literatur der Wiener Moderne finden sich dafr neben der franzçsischen Literatur zahlreiche Beispiele.70 Die an die geschlechterambivalente Figur des Pierrot gebundene berschreitung sozialer Rollen ist Ulrich auch am nchsten Morgen noch prsent, als er sich an seine kindliche Neigung zum Zirkus erinnert.71 Im Zuge dieser Kindheitserinnerungen steigt sein alter Wunsch, ein Mdchen zu sein, wieder in ihm auf, der seinerseits als Maskerade erscheint: Und nun erinnerte sich Ulrich so deutlich, als stnde das Bild im Kreis eines Fernrohrs, das durch die Jahre schaute, an einen Abend, wo Agathe fr ein Kinderfest angekleidet wurde. Sie trug ein samtenes Kleid, und ihre Haare flossen wie Wellen von hellem Samt darber, so daß er sich plçtzlich bei ihrem Anblick, obgleich er selbst in einem erschrecklichen Ritterkostm steckte, ganz in der gleichen unsagbaren Weise wie nach den Tieren auf den Ankndigungen des Zirkus danach sehnte, ein Mdchen zu sein. (MoE, S. 690)

Die Szene ist ein treffendes Beispiel fr die soziale Herstellung von Geschlecht, die schon im Kindesalter als Maskerade begegnet. Dabei steht dem samtenen Kleid das Ritterkostm gegenber, das als frhes ,Mnnlichkeits-Training‘ erscheint und eine logische Fortsetzung im Gymnasium der Theresianischen Ritterakademie findet. Dass diese Erinnerungen aber erst im Zusammenspiel mit seiner Schwester auftauchen, deutet auf eine Leerstelle hin, die Ulrich im Ersten Buch noch durch seine gesellschaftskonforme Mnnlichkeitsmaske verdeckt. Erst nach dem Tod des Vaters versucht er, seine Identitt bewusst im Spiegelbild der Schwester aufzulçsen. Diesem Prozess korrespondiert 69 Umgekehrt findet er Agathe, als er sie erstmals als Frau gekleidet sieht, prompt „verkleidet“ (MoE, S. 694). 70 Vgl. Bertschik, Mode und Moderne, S. 154 167. 71 Zum Bedeutungshorizont der Pierrotfigur vgl. auch Neymeyr, Psychologie als Kulturdiagnose, S. 305 f.

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im Zweiten Buch sein Rckzug aus der Gesellschaft der Parallelaktion.72 In ihrer Funktion als Spiegel nimmt Agathe die narzisstisch besetzte Stelle des Sports ein, die Ulrichs widersprchliches Selbstverhltnis begrndet.73 Ihre androgyne Erscheinung hebt Ulrichs mnnliche Maskerade auf. Dieser Zusammenhang wird auch durch die erste Frage unterstrichen, die Ulrich an seine Faulheit und Mdigkeit bekundende Schwester richtet: „Du treibst gar keinen Sport?“ (MoE, S. 676) Agathe antwortet, dass sie ein wenig Tennis spiele, aber Sport verabscheue.74 Damit wird zum einen der Unterschied zwischen Spiel und Sport noch einmal akzentuiert, zum anderen die Verknpfung von Mnnlichkeit und Sportlichkeit ex negativo besttigt. Diese Negation verweist darauf, dass Agathe Ulrichs alte Sehnsucht, ein Mdchen zu sein, erfllt. Doch bildet die Schwester nicht einfach nur sein weibliches Komplement; sie ist vielmehr genauso androgyn wie Ulrich selbst. Mit Agathe beginnt schließlich die Suche nach dem ,anderen Zustand‘, der als Zustand der Auflçsung auch die Geschlechterdifferenz mit einschließt. Die Kostmszene zeigt zudem, dass gerade Kindheitserinnerungen als Vorform des ,anderen Zustands‘ verstanden werden kçnnen, da im kindlichen Erleben Inneres und ußeres, Wirklichkeit und Mçglichkeit noch nicht getrennt sind. Die Unbeschreiblichkeit dieser Empfindungen wird in Erinnerungsbilder gefasst, die in die Vergangenheit gewendete Utopien andeuten und sprachlich unbestimmt bleiben.75 Whrend der Sport Leistung und Ausdauer als Ideale der Tatkraft prsentiert hatte, erscheint Agathe entspannt und mde – damit steht sie dem Ideal des mnnlich besetzten Sportkçrpers diametral entgegen. Sie trgt physiologisch gesehen Zge der verschwenderischen und hinge72 Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Detlef Kremer: Parallelaktion. Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“, in: Hans Georg Pott (Hrsg.): Robert Musil Dichter, Essayist, Wissenschaftler, Mnchen 1993, S. 22 44. 73 Als Spiegel Ulrichs besitzt Agathe nicht nur eine androgyne Erscheinung (vgl. Musil, MoE, S. 898), sondern auch Kampfgeist: Wenn sich ihr Gesicht erregt, bekommt es keine Falten, „sondern wurde von dem, was dahinter vorging, zu noch grçßerer Gltte gespannt, wie ein Handschuh, in dem sich die Faust ballt.“ (MoE, S. 685) Diese Beschreibung kann als Inversion von Ulrichs Schlag zu Beginn des Romans interpretiert werden. Zu Ulrichs narzisstischem Verhalten vgl. Hartmut Bçhme: Der Mangel des Narziß. ber Wunschstrukturen und Leiberfahrungen in Robert Musils ,Der Mann ohne Eigenschaften‘, in: Dieter P. Farda/Ulrich Karthaus (Hrsg.): Sprachsthetische Sinnvermittlung. Robert Musil Symposium Berlin 1980, Frankfurt/Main, Bern 1982, S. 45 85. 74 Vgl. Musil, MoE, S. 676. 75 Vgl. Honnef Becker, „Ulrich lchelte“, S. 82 f.

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bungsvollen Lebenskraft, die durch das Konzept des menschlichen Motors berwunden werden sollte.76 Darber hinaus kann die Tatsache, dass Agathe keinen Sport treibt, als Ausdruck ihrer Selbstgewissheit interpretiert werden. Sie ist zwar auch auf der Suche nach dem Sinn ihres Lebens, sie hat aber in ihrer stark ausgeprgten Bereitschaft zur Hingabe an ihre Umgebung keine Identittskrise wie Ulrich, die dadurch einmal mehr als Krise der Mnnlichkeit erscheint. Dass sie hin und wieder Tennis spielt und ihrem Gatten dabei sogar berlegen ist, steht dazu nicht im Widerspruch, sondern besttigt Musils These, dass der Sieg vor allem eine psychologische Frage ist.77 Als dandyhafte Maskerade der Mnnlichkeit ist Ulrichs Sportausbung Teil eines in sich widersprchlichen Spiels mit sthetischen Geschlechtercodes. Sie ersetzt im ersten Buch des Romans seine mangelnde Eigenliebe, die im zweiten seine ,Zwillingsschwester‘ Agathe vertritt. Auch dieser Aspekt schwingt in der Frage an Agathe, ob sie keinen Sport mache, mit. Der Sport kann daher als Ersatz fr mystische Bedrfnisse gedeutet werden, die beide gemeinsam im Konzept der Geschwisterliebe zu befriedigen hoffen. Seine Doppelsinnigkeit hat Ulrich eine Selbstbegegnung ermçglicht, an deren Stelle nun die Begegnung mit der Schwester tritt. Agathe ergnzt sein ungeliebtes Selbst und bietet ihm daher eine Mçglichkeit, mit der Welt bereinzustimmen.78 Die Maske des Sports verdeckt also nicht nur eine krisengeschttelte Identitt, sondern bringt auch den Widerstreit zwischen Mnnlichkeit und Weiblichkeit in Ulrich zum Ausdruck, ein Widerstreit, der als kmpferische Haltung gegenber dem Leben hervortritt. Whrend sich in Streit, Kampf oder Wortgefecht seine aktive Seite zeigt, die durch seinen großen, festen und muskulçsen Kçrper symbolisiert wird, beschreibt der Erzhler ihn in Zustnden der Ergriffenheit oder der Hingabe als dunkel, zart und weich „wie eine im Wasser schwebende Meduse“ (MoE, S. 159). Dieses ungewçhnliche Bild taucht im 62. Kapitel „Auch die Erde, namentlich aber Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus“ noch einmal auf: Der Versuch, dem Essayismus Inhalt zu geben, bedeute, ihn aus seinem schillernden Schwebezustand zu reißen, denn dann bleibe von ihm ungefhr noch soviel brig „wie von dem zarten Farbenleib einer Meduse, nachdem man sie aus dem Wasser gehoben und in Sand gelegt 76 Vgl. das Kapitel: Die Kultur der Rationalisierung Sport, Technik und Na turwissenschaften. 77 Vgl. Musil, Randglossen zu Tennispltzen, GW II, S. 797. 78 Vgl. von Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs, S. 146.

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hat“ (MoE, S. 254). Gegenber der ,mnnlich‘ zugreifenden Ratio evoziert die Meduse verschiedene Bilder von Weiblichkeit, die mit dem Wasser als Raum der Entgrenzung unmittelbar verbunden sind.79 Ihr schillerndes Schweben im Wasser ermçglicht die Aufhebung der Spannung zwischen Aktivitt und Passivitt sowie Mnnlichkeit und Weiblichkeit, die mit den Polen Ratio und Mystik benannt ist und dem Essay als Schwebezustand korrespondiert.80

2. Das Genie der Rennpferde Ulrichs widersprchliche Selbstinszenierung hngt mit seinen verschiedenen Versuchen, ein bedeutender Mensch zu werden, eng zusammen. Doch erst ein zufllig aufgegriffener Zeitungsbericht ber einen Rennbahnerfolg stellt Ulrich das Scheitern seiner bisherigen Lebensentwrfe vor Augen. Diese waren einem Konzept von Persçnlichkeit verpflichtet, das Ulrichs Vater durch seine erfolgreiche, brgerliche Laufbahn beispielhaft verkçrperte. Gleichzeitig waren sie aber in ihrem expliziten Anspruch, bedeutend zu sein, bereits von der modernen Verunsicherung der Werte und der Persçnlichkeit gekennzeichnet. Die Leistung des ,genialen‘ Rennpferdes fhrt Ulrichs Anstrengungen, denen selbst das Etikett des Genialen anhaftet, endgltig ad absurdum. Das Rennpferd verdeutlicht ihm nicht nur, dass er sich im Kreis gedreht hat. Mit dem Pferd berholt ihn das Tier, auf das er selbst gesetzt hat. Da Ulrich „alle von seiner Zeit begnstigten Fhigkeiten und Eigenschaften“ (MoE, S. 47) besitzt, beschließt er, ein Jahr Urlaub vom 79 Zum Wasser als Raum der Weiblichkeit vgl. Anna Maria Stuby: Liebe, Tod und Wasserfrau. Mythen des Weiblichen in der Literatur, Opladen 1992; Inge Ste phan: Weiblichkeit, Wasser und Tod bei Eichendorff und Fouqu , in: Renate Berger/dies. (Hrsg.): Weiblichkeit und Tod in der Literatur, Kçln 1987, S. 117 139; zur Angst vor den Medusen vgl. auch Inge Stephan: Musen und Medusen. Mythos und Geschlecht in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Kçln, Weimar, Wien 1997, S. 11; zum Wasserbild bei Musil vgl. Menges, Abstrakte Welt, S. 219 230. Mçglicherweise impliziert das ,weiblich‘ konnotierte Wasser als Raum der Entgrenzung oder Auflçsung auch einen Hinweis Musils auf Otto Weiningers populre Studie Geschlecht und Charakter (1903), der zufolge die Auflçsung des Ichs unmnnlich ist, da die Frau kein Ich hat. Die Annahme zweier Seelen oder Psychologien hat Musil allerdings als problematisch zurck gewiesen. Vgl. Robert Musil: Zur Mnner und Frauenfrage [1935], GW II, S. 815. 80 Vgl. Menges, Abstrakte Welt, S. 230.

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Leben zu nehmen, um seine „Eigenheit“ zu retten.81 Diese ,Rettung des Ich‘ negiert die brgerlichen Vorstellungen einer ewig strebenden, selbstgewissen Persçnlichkeit auf provozierende Weise. Sie kann zugleich als Einspruch gegen die von Ernst Mach (1838 – 1916) in Frage gestellte Einheit des Ich interpretiert werden,82 insofern sie auf einen Ausgang aus der Krise setzt. Analog zum Problem des Stils zeigt sich hier, dass Eigenheit unter den psychotechnischen Bedingungen der Moderne nur in der bestmçglichen Anwendung der eigenen Fhigkeiten bestehen kann. Die Frage, wie eine Hauptfigur, die sich in Eigenschaftlosigkeit auflçst, berhaupt darstellbar ist,83 verweist darber hinaus noch einmal auf den ungesicherten Status des modernen Romans. a) Ulrichs Versuche, ein bedeutender Mann zu werden Wie problematisch dieses Konstrukt ist, wird an Ulrichs verschiedenen Lebensentwrfen deutlich, die durch die Spannung von Individualisierung und Normalisierung geprgt sind. Ulrich „konnte sich keiner Zeit seines Lebens erinnern, die nicht von dem Willen beseelt gewesen wre, ein bedeutender Mensch zu werden; mit diesem Wunsch schien Ulrich geboren worden zu sein.“ (MoE, S. 35) Doch taugt ein solcher Wunsch kaum zu individueller Selbstbestimmung, die ironische Distanznahme des Erzhlers entlarvt vielmehr die gesellschaftliche Prgung noch der vermeintlich eigensten Ideen. Die Rede vom ,bedeutenden Menschen‘ kaschiert die mangelnde Orientierung, entpuppt sich aber als leere, sprachliche Hlle.84 Sie ist insofern selbst Teil der Formelhaftigkeit der Welt, gegen die der Urlaub vom Leben gerichtet ist. 81 Im Nachlass heißt es dazu: „Er kann tchtig sein. Er ist mit seinem Sport, seiner Art die Wiss. zu betreiben usw. ein Produkt der Zeit, aber was die Zeit treibt, wird ihm zuviel. Es fehlt diesen Eigenschaften die Einheit (der Sinn) u[nd] deshalb hat er Urlaub beschlossen.“ (Musil, Nachlass, Mappe VII/3/121). 82 Vgl. Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhltnis des Phy sischen zum Psychischen, 5. verm. Aufl. Jena 1906 [1. Aufl. 1885], bes. S. 18 23; vgl. dazu Hildegard Hogen: Die Modernisierung des Ich. Individualitts konzepte bei Siegfried Kracauer, Robert Musil und Elias Canetti, Wrzburg 2000. 83 Vgl. Dietmar Goltschnigg: Die Bedeutung der Formel „Mann ohne Eigen schaften“, in: Uwe Baur/ders. (Hrsg.): Vom „Tçrless“ zum „Mann ohne Ei genschaften“. Grazer Musil Symposium 1972, Mnchen, Salzburg 1973, S. 325 347, hier S. 327. 84 Vgl. Bçhme, Anomie und Entfremdung, S. 234.

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Gegenber Ulrichs Sinn- und Orientierungssuche wirkt sein beruflicher Werdegang wie ein Testverfahren im Geist der psychotechnischen Berufseignungsprfungen. Ulrich wendet sich zunchst dem Militr zu, weil er whrend seiner Schulzeit Napoleon fr den Inbegriff eines bedeutenden Menschen hielt. Seine Napoleon-Begeisterung steht ausdrcklich im Gegensatz zur Lehrmeinung der Schule, der Napoleon als „gewaltigste[r] beltter der Geschichte“ (MoE, S. 35) gilt. Ulrichs konventionelle Berufsentscheidung trgt dadurch auch unorthodoxe Zge.85 So wird er Fhnrich in einem Reiterregiment und gibt sich der „leidenschaftlichen Erinnerung“ an heroische Zeiten, Gewalt und Stolz hin, die mit der Realitt des Exerzierplatzes nicht annhernd bereinstimmen.86 Er ritt Rennen, duellierte sich und unterschied nur drei Arten von Menschen: Offiziere, Frauen und Zivilisten; letztere eine kçrperlich unentwickelte, geistig verchtliche Klasse, der von den Offizieren die Frauen und Tçchter abgejagt wurden. Er gab sich einem großartigen Pessimismus hin: es schien ihm, da der Soldatenberuf ein scharfes und glhendes Instrument ist, msse man mit diesem Instrument die Welt zu ihrem Heil auch brennen und schneiden. (MoE, S. 36)

Kçrperliche Strke und Kampfgeist spielen in diesem Entwurf eine zentrale Rolle und unterstreichen in ihrer „Theatralik“87 dessen maskenhaften Charakter. Doch schon das klgliche Scheitern erster erotischer Avancen stellt ihm vor Augen, dass das Leben keine Bhne ist, auf der er den khnen, jugendlichen Held geben kann. Da sich die Wirklichkeit nicht mit den von ihm imaginierten großartigen Mçglichkeiten deckt, 85 Im Laufe des Romans wird noch mehrmals auf Napoleon Bezug genommen. Whrend Ulrichs jugendliche Begeisterung einerseits als unreif klassifiziert wird, bleibt Napoleon andererseits in verschiedenen Kontexten als Ausnahmegestalt prsent. Dabei kann Musil auf den breit entfalteten Genie Diskurs des 19. Jahrhunderts zurckgreifen, in dem die Figur Napoleons eine zentrale Rolle spielt. Fr viele Autoren verkçrperte Napoleon den jugendlichen Traum von Grçße und schçpferischer Kraft. Vgl. dazu Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750 1945, 3. verb. Aufl. Heidelberg 2004 [Darmstadt 1985], Bd. 2: Von der Ro mantik bis zum Ende des Dritten Reiches, S. 63 83. Zum literarischen Napo leon Mythos vgl. Barbara Beßlich: Der deutsche Napoleon Mythos. Literatur und Erinnerung 1800 bis 1945, Darmstadt 2007. Beßlich geht allerdings nicht auf Musil ein. Zu Napoleon im Mann ohne Eigenschaften vgl. Neymeyr, Psy chologie als Kulturdiagnose, S. 150 f. 86 Vgl. Musil, MoE, S. 36. 87 Vgl. Bçhme, Anomie und Entfremdung, S. 235.

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beendet er die Offizierslaufbahn, „in der er es soeben bis zum Leutnant gebracht hatte“ (MoE, S. 36), in der er also nur ,Ersatzmann‘ – nmlich Stellvertreter des Hauptmanns – geworden war, was die Kluft zwischen Realitt und ertrumtem Heldentum noch unterstreicht. Auch Ulrichs zweiter Versuch ist von dieser Diskrepanz bestimmt: „Aber Ulrich wechselte nur das Pferd, als er von der Kavallerie zur Technik berging; das neue Pferd hatte Stahlglieder und lief zehnmal so schnell.“ (MoE, S. 36) Durch die technische Entwicklung stimmen Gefhle und Wahrnehmung nicht mehr mit den Leistungen des Verstandes berein.88 Ulrich wird dagegen von den Mçglichkeiten der Technik augenblicklich in den Bann geschlagen und fhlt sich dadurch nicht nur den Normen klassischer sthetik, sondern auch denen des alltglichen Lebens berlegen.89 Seine „kraftvolle Vorstellung vom Ingenieurwesen“ (MoE, S. 37) erscheint als kçrpergewordener Traum des technischen Fortschritts, der auch sportliche Zge trgt. Ulrich imaginiert sich als „Mann mit entschlossenen Zgen […], der eine Shagpfeife zwischen den Zhnen hlt, eine Sportmtze aufhat und in herrlichen Reitstiefeln zwischen Kapstadt und Kanada unterwegs ist […]“ (MoE, S. 37). Doch die Ingenieure, die Ulrich kennenlernt, verstehen sich kaum als Vertreter der Zukunft: Sie zeigten sich als Mnner, die mit ihren Reißbrettern eng verbunden waren, ihren Beruf liebten und in ihm eine bewundernswerte Tchtigkeit besaßen; aber den Vorschlag, die Khnheit ihrer Gedanken statt auf ihre Maschinen auf sich selbst anzuwenden, wrden sie hnlich empfunden haben wie die Zumutung, von einem Hammer den widernatrlichen Gebrauch eines Mçrders zu machen. (MoE, S. 38)

Die Ungleichzeitigkeit, die der Roman festhlt, ist sozialhistorisch fundiert, da sich viele Ingenieure als Vertreter des Neuen bewusst an die berlieferte Kultur des Bildungsbrgertums hielten, um den Vorwurf der Kulturlosigkeit abzuwehren.90 In einem solchen epochalen ,Dazwischen‘ kann lediglich kritische Selbstreflexion den Schlssel zu einer Vernderung des Lebens bieten. Sie bildet gleichzeitig den Ansatzpunkt „zu einer Moral des Mannes ohne Eigenschaften“, wie es in der berschrift des 88 Vgl. Musil, MoE, S. 37. Mit dem Pferd aus Stahlgliedern zitiert Musil die Bildsprache des Futurismus, was die Ungleichzeitigkeit von technisch bestimmter Lebenswelt und der Sprache der Wahrnehmungen und der Gefhle noch un terstreicht. Vgl. Brggemann, Architekturen des Augenblicks, S. 518. 89 Vgl. dazu auch Gnam, Bewltigung der Geschwindigkeit, S. 41. 90 Zu der Gespaltenheit im Selbstbild der Ingenieure vgl. Wege, Buchstabe und Maschine, S. 9 f.

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Kapitels heißt.91 Allerdings muss der Erzhler unter ironischer Anspielung auf Immanuel Kants Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklrung? (1784) einrumen, dass das Gefhl der Menschen noch nicht gelernt habe, „sich ihres Verstandes zu bedienen“ (MoE, S. 37).92 Vor diesem Hintergrund kçnnen die „Anstze zu einer Moral des Mannes ohne Eigenschaften“ auch als Ausgang aus der „selbst verschuldeten Unmndigkeit“ (Kant) gedeutet werden. In der Folge wird es Ulrich stets darum gehen, die Kluft zwischen Verstand und Gefhl, zwischen „Genauigkeit und Seele“ (MoE, S. 597) zu schließen.93 Ulrich entschließt sich daher, Mathematiker zu werden, um das „Khne und Neue“ (MoE, S. 39) der Technik auf sich selbst anwenden zu kçnnen. Die Mathematik ist fr ihn „die neue Denklehre selbst, der Geist selbst“, der den „Ursprung einer ungeheuerlichen Umgestaltung“ (MoE, S. 39) bildet. Sie bedeutet die Verwirklichung von „Urtrumen“, denn noch die erstaunlichsten Leistungen der Forschung seien von der „messerkhlen“ Denklehre der Mathematik durchdrungen. Doch haben die Menschen im Zuge der technischen Entwicklung „Wirklichkeit gewonnen und Traum verloren“ (MoE, S. 39), ein Verlust, den viele Zeitgenossen der Mathematik anlasten: Die innere Drre, die ungeheuerliche Mischung von Schrfe im Einzelnen und Gleichgltigkeit im Ganzen, das ungeheure Verlassensein des Menschen in einer Wste von Einzelheiten, seine Unruhe, Bosheit, Herzensgleichgltigkeit ohnegleichen, Geldsucht, Klte und Gewaltttigkeit, wie sie unsre Zeit kennzeichnen, sollen nach diesen Berichten einzig und allein die Folge der Verluste sein, die ein logisch scharfes Denken der Seele zufgt! (MoE, S. 40)

Mit dieser beißenden Kritik am Irrationalismus der Gegenwart nimmt das Kapitel ber den – laut berschrift – „wichtigste[n] Versuch“ (MoE, S. 38) eines der Hauptprobleme von Musils Essayismus auf. Spçttisch 91 Vgl. Musil, MoE, S. 36. 92 Vgl. Immanuel Kant: „Aufklrung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmndigkeit. Unmndigkeit ist das Unvermçgen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmndigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen.“ (Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Auf klrung? [1784], in: Werkausgabe Bd XI, hg. von Wilhelm Weischedel, Frank furt/Main 1977, S. 53 61, hier S. 53 [Herv. i. Orig.].) 93 Er macht Ernst mit dem Diktum, dass die Menschen zu wenig Verstand in Fragen der Seele haben. Vgl. Musil, Das hilflose Europa, GW II, S. 1092.

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geht der Erzhler mit jenen Schçngeistern ins Gericht, die den Untergang der europischen Kultur predigen und dafr die Mathematik verantwortlich machen. Diese Leute seien in ihrer Schulzeit bloß „schlechte Mathematiker“ gewesen: „Damit war spter fr sie bewiesen, daß die Mathematik, Mutter der exakten Naturwissenschaft, Großmutter der Technik, auch Erzmutter jenes Geistes ist, aus dem schließlich Giftgase und Kampfflieger aufgestiegen sind.“ (MoE, S. 40)94 Ulrich liebt dagegen die Mathematik gerade wegen der Menschen, die sie nicht ausstehen kçnnen. Vor allem liebt er ihre grundstrzende Kraft, die „wie eine Himmelsleiter in die Hçhe“ (MoE, S. 41) fhrt. Durch das Bild der Himmelsleiter, die in unbekannte und letztlich unendliche Hçhen hinauf ragt, verbindet sich die weite, offene Metaphorik des Himmels mit einem Werkzeug, das phantastische, mrchenhafte Welten erçffnet.95 Gleichzeitig erfordert selbst eine „Himmelsleiter“ gewissenhaftes und konzentriertes Klettern, um voranzukommen. Diese fortschreitende Bewegung entspricht dem Gang wissenschaftlicher Erkenntnis ebenso wie der Leistungssteigerung im Sport. Ulrichs Einstellung ist durch die Analogie von Denken und Training charakterisiert: „Denn gerade in dieser Art, bei der man seinen Rekord um einen Sieg, einen Zentimeter oder ein Kilogramm vermehrt, hatte er die Wissenschaft betrieben.“ (MoE, S. 45)96 Dabei spricht Ulrich der Mathematik genau jene Eigenschaften zu, die auch dem Sport zukommen: Ihr Denken ist hart, mutig, beweglich und messerscharf, die perfekte Kombination von Kraft, Verstand und Geistesgegenwart. Als er sich noch einmal seine letzte Untersuchung vornimmt, heißt es: „Die Genauigkeit, Kraft und Sicherheit dieses Denkens, die nirgends im Leben ihresgleichen hat, erfllte ihn fast mit Schwermut.“ (MoE, S. 111) Gleichzeitig fhlt er sich wie ein „Akrobat“, der einer Runde von Kennern „gefhrliche neue Sprnge vorfhrt“ (MoE, S. 111). Damit deutet sich erneut erste Distanz zu sich selbst an. Denn diese Sprnge korrespondieren zwar der ,Gefhrlichkeit‘ des mathematischen Verstandes, sind

94 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Musils Kritik an Oswald Spengler in seinem Essay Geist und Erfahrung. Anmerkungen fr Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind [Mrz 1921], GW II, S. 1042 1059. 95 „Es geht in der Wissenschaft so stark und unbekmmert und herrlich zu wie in einem Mrchen.“ (MoE, S. 41) 96 Vgl. dazu auch Albertsen, Ratio und Mystik, S. 28.

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aber bloß eine Vorfhrung technischen Kçnnens und keine bewegende Kraft.97 Dagegen drckt das Bild der „Himmelsleiter“ die Hoffnung auf das utopische Potenzial kritischer Rationalitt aus, denn in ihr finden Genauigkeit und Seele zusammen, um bestehende Gewohnheiten und berzeugungen zu verndern: „Und Ulrich fhlte: die Menschen wissen das bloß nicht; sie haben keine Ahnung, wie man schon denken kann; wenn man sie neu denken lehren kçnnte, wrden sie auch anders leben.“ (MoE, S. 41). Die Himmelsleiter erçffnet neue Mçglichkeiten, die an den ,anderen Zustand‘ heranreichen. Sie ist daher mit jener Brcke vergleichbar, von der es in dem Essay Anstze zu neuer sthetik heißt, dass sie „im Imaginren ein Widerlager besitzt“.98 An die Stelle des Imaginren tritt hier der Himmel, der im Roman vom ersten Kapitel an Verstand und Gefhl verbindet und von Ulrich auch als „Himmel der Vernunft“ (MoE, S. 219) apostrophiert wird. Ulrichs Anstrengungen, sich mit ganzer Kraft der Sache der Mathematik zu widmen, werden eines Tages dadurch torpediert, dass er in einer Zeitung von einem genialen Rennpferd liest. Es hatte damals schon die Zeit begonnen, wo man von Genies des Fußballrasens oder des Boxrings zu sprechen anhub, aber auf mindestens zehn geniale Entdecker, Tençre oder Schriftsteller entfiel in den Zeitungsberichten noch nicht mehr als hçchstens ein genialer Centrehalf oder großer Taktiker des Tennissports. Der neue Geist fhlte sich noch nicht ganz sicher. Aber gerade da las Ulrich irgendwo, wie eine vorverwehte Sommerreife, plçtzlich das Wort „das geniale Rennpferd“. Es stand in einem Bericht ber einen aufsehenerregenden Rennbahnerfolg, und der Schreiber war sich der ganzen Grçße des Einfalls vielleicht gar nicht bewußt gewesen, den ihm der Geist der Gemeinschaft in die Feder geschoben hatte. Ulrich aber begriff mit einemmal, in welchem unentrinnbaren Zusammenhang seine ganze Laufbahn mit diesem Genie der Rennpferde stehe. Denn das Pferd ist seit je das heilige Tier der Kavallerie gewesen, und in seiner Kasernenjugend hatte Ulrich kaum von anderem sprechen hçren als von Pferden und Weibern und war dem entflohn, um ein bedeutender Mensch zu werden, und als er sich nun nach wechselvollen Anstrengungen der Hçhe seiner Bestrebungen vielleicht htte nahefhlen kçnnen, begrßte ihn von dort das Pferd, das ihm zuvorgekommen war. (MoE, S. 44)

Als Auslçser fr Ulrichs Urlaub vom Leben, der den Roman zur Versuchsanordnung macht, kommt dem ,genialen Rennpferd‘ eine Schls97 Zum Unterschied zwischen Sport und Akrobatik vgl. Seel, Ethisch sthetische Studien, S. 197. 98 Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1154.

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selrolle zu.99 Rckblickend erzhlt, liegt diese Episode dem eigentlichen Romangeschehen voraus; sie kann damit konstitutive Bedeutung fr den Text beanspruchen. Als traditionsreiches Symbol der Bedeutung des Militrs und des Adels sowie der Herrschaft der Habsburger auf der einen und des modernen Wettkampfsports auf der anderen Seite steht das Pferd daher in mehrfacher Hinsicht in Zusammenhang mit Ulrichs ,Laufbahn‘ – und zwar sowohl auf der Ebene der Gattung als auch auf der Ebene von Ulrichs Lebensentwrfen, die beide unmittelbar miteinander verschrnkt sind. Dass Ulrich sich schon zu Beginn des Romans das Scheitern seiner Plne eingestehen muss, wirft auch ein Schlaglicht auf die Unmçglichkeit des Romanprojekts selbst, das wie Ulrichs Urlaub vom Leben ein Versuch bleibt. Die radikale Infragestellung von Ulrichs bisherigem Lebensentwurf, die sich im Urlaub vom Leben manifestiert, bedeutet auf der Ebene der Gattung das Ende des Bildungsromans, der sich mit dem brgerlichen Geniegedanken entwickelt hat. Der Artikel ber das Rennpferd stellt den Status des Romans selbst aus mehreren Grnden in Frage. Das Rennpferd konterkariert das Muster des Entwicklungs- oder Bildungsromans, der ein selbstgewisses Individuum hervorzubringen versucht, ein Versuch, der allerdings schon bei Goethe mit großen Schwierigkeiten behaftet ist.100 Sein ,berholmançver‘ zieht das ,mnnlich‘ konnotierte Entwicklungsschema einer Laufbahn, das auch fr den Bildungsroman von Bedeutung ist, endgltig in Zweifel. Die ,Genialitt‘ des Rennpferds impliziert 99 Vgl. Honold, Die Stadt und der Krieg, S. 372. Große Teile der Forschung sehen allerdings in der Formel vom ,genialen Rennpferd‘ vor allem eine ironische Zutat, die sich zum einen auf die Ironisierung des Pferdes als lebensgeschicht liches Motiv, zum anderen auf die sprachkritische, inflationre Verwendung des Genie Begriffs bezieht. Vgl. so z. B. Blasberg, Krise und Utopie der Intellektu ellen, S. 232; Kordula Glander: ,Leben, wie man liest.‘ Strukturen der Erfahrung erzhlter Wirklichkeit in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaf ten“, St. Ingbert 2005, S. 186. Dass diese Formel bloße Ironie sei, hat zuletzt Hans Ulrich Gumbrecht zurckgewiesen, der die Faszination des Erzhlers be tont. Vgl. Gumbrecht, Lob des Sports, S. 24. Nicht als Zutat, sondern als iro nische Figur, die im Rahmen ironischen Erzhlens Symptom einer durch Be liebigkeit bestimmten Wirklichkeit sei, deutet Peter Andr Alt die Formel vom ,genialen Rennpferd‘. Ihm setze Musil den Sport als Wunschbild der Sachlichkeit entgegen, das aber an der Benennung scheitere. Vgl. Peter Andr Alt: Ironie und Krise. Ironisches Erzhlen als Form sthetischer Wahrnehmung in Thomas Mann Der Zauberberg und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, Frankfurt/ Main, Bern, New York 1985, S. 376 f. 100 Vgl. Uwe Steiner: Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: Goethe Handbuch, hg. von Bernd Witte, Bd. 3, Stuttgart 1997, S. 113 152.

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zudem eine Kritik sthetischer Normen, da sie kein knstlerisches Produkt, sondern bloße Bewegung ist.101 Der zufllig zur Kenntnis genommene Zeitungsartikel stellt den Status des Romans schließlich auch deshalb in Frage, weil er als erster Einbruch von Kontingenz in Ulrichs Leben erscheint, ein Einbruch, der sich berdies der modernen Medienkonkurrenz verdankt. Der Sportbericht bettigt insofern, dass die literarische Darstellung und Kritik des Sports eine Reaktion auf den medialen Sportdiskurs der zwanziger Jahre ist.102 Der sich hier andeutende ,Wettkampf‘ zwischen literarischer Tradition und technisch-wissenschaftlicher Moderne kann im traditionellen Schema des Entwicklungsromans nicht gelçst werden.103 Die Heraufkunft der Moderne setzt der brgerlichen Gesellschafts- und Geschlechterordnung ein Ende, das die Gattung des Romans, die diese Ordnung diskursiv wesentlich mitgeprgt hat, nicht unberhrt lsst. Mit dem Urlaub vom Leben, den das geniale Rennpferd auslçst, wird das Ende des Bildungsromans an den Anfang des Mann ohne Eigenschaften gestellt, der nicht zuletzt durch seinen Titel als Verkehrung des klassischen Romanprogramms gelesen werden kann.104 Der Einbruch der Kontingenz, fr den der Verkehr und die modernen Massenmedien stehen, verknpft das in seiner Negation prsente Muster des Bildungsromans mit dem des Großstadtromans, dessen Perspektive in den ersten Kapiteln des Mann ohne Eigenschaften ebenso programmatisch in Szene gesetzt wird.105 Fr Ulrich bedeutet die Erfahrung der Kontingenz eine plçtzliche Selbsterkenntnis.106 Sie wirkt besonders schlagend, weil sie bereits durch

101 Vgl. Gumbrecht, Lob des Sports, S. 24. 102 Vgl. Gamper, Im Kampf um die Gunst der Masse, S. 149. 103 Zur Medienkonkurrenz vgl. auch Christian Jrgens: Literatur im Zeitalter des Kinos II: Das „Man“ ohne Eigenschaften oder: Fluchtlinien literarischer Auf schreibesysteme, in: Harro Segeberg (Hrsg.): Die Perfektionierung des Scheins: das Kino der Weimarer Republik im Kontext der Kino (= Mediengeschichte des Films, Bd. 3), Mnchen 2000, S. 275 296. 104 Vgl. dazu auch Precht, Die gleitende Logik der Seele, S. 240. 105 Vgl. Honold, Die Stadt und der Krieg, S. 58. Zum Verhltnis von Bildungs und Großstadtroman vgl. auch Susanne Ledanff: Bildungsroman versus Großstadt roman. Thesen zum Konflikt zweier Romanstrukturen, dargestellt am Beispiel von Dçblins Berlin Alexanderplatz, Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und Musils Mann ohne Eigenschaften, in: Sprache im technischen Zeitalter 1981, H. 78, S. 85 114. 106 Alexander Honold spricht in diesem Zusammenhang von einem „Epiphanie Erlebnis“. Vgl. Honold, Die Stadt und der Krieg, S. 373. Dies ist auch in

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die selbstkritische Reflexion seines beruflichen „Vorwrtskommens“ vorbereitet war. Diese ,Vorbereitung‘ entspricht dem Muster der Aufmerksamkeitskonzentration, wie sie Musil fr den Sport beschrieben hat. Das Training bedeutet eine Vorbereitung des Aufmerksamwerdens, die eingebt werden kann. Umgekehrt wird hier noch einmal deutlich, dass die gespannte Aufmerksamkeit sportlicher Leistungen eine Vernderung des Verhaltens im Sinne eines Aufmerksamwerdens impliziert.107 Dem Eingestndnis des Scheiterns seiner hochfliegenden Plne in Anbetracht des ,genialen Rennpferds‘ war die Einsicht vorausgegangen, das er vorlufig geblieben war, „was man eine Hoffnung nennt“ (MoE, S. 44). Zu dieser Erfahrung gesellen sich zu Beginn des Romans weitere Beispiele fr Kontingenz, so der Unfall, den Ulrich durch das Fenster beobachtet, und die Schlgerei, in die er verwickelt wird. Die Erfahrung der Kontingenz ist fr die Beschreibung moderner Individualitt zentral, weil sie die eigenen Versuche der Selbstbestimmung torpediert und die Abhngigkeit des Menschen von gesellschaftlicher Ordnung und Organisation betont. Ulrich wird plçtzlich klar, dass die Rede vom bedeutenden Menschen genauso formelhaft ist wie die Rede vom genialen Rennpferd. Doch erst der Artikel ber das Pferderennen provoziert ihn dazu, die Khnheit mathematischer Gedanken tatschlich auf sich selbst anzuwenden und die traditionell mnnlich bestimmten Vorstellungen eines Strebens nach Genialitt und Grçße umzuwerfen. Gleichzeitig deutet sich hier indirekt eine Konkurrenz der Geschlechter an, die auf die Krise der Mnnlichkeit rckzubeziehen ist, denn das Pferd ist traditionell weiblich konnotiert und figuriert auch als Sexualobjekt. Der mnnliche Reiter beherrscht das weibliche Tier, mithin die Weiblichkeit, die es, so Freud, zu ,zgeln‘ gelte.108 In seiner Militrzeit Hinblick auf Musils Konzeption des Sports von Bedeutung, die ebenfalls auf diesen Umschlagpunkt zielt. 107 Zur Aufmerksamkeit vgl. Bernhard Waldenfels: Phnomenologie der Aufmerk samkeit, Frankfurt/Main 2004. Waldenfels bezieht sich mehrfach auf Musil. Zur Bedeutung der Aufmerksamkeit bei Musil vgl. auch Dorothee Kimmich: Kleine Dinge in Großaufnahme. Aufmerksamkeit und Dingwahrnehmung bei Robert Musil, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 44 (2000), S. 177 194. 108 Vgl. Honold, Die Stadt und der Krieg, S. 375. Pferde spielen in dieser doppelten Bedeutung auch in einigen anderen Texten Musils eine wichtige Rolle. Vgl. Kremer, Parallelaktion, S. 30. Auch bei anderen Autoren wie Franz Kafka oder Franz Werfel findet sich die sexuell aufgeladene Kopplung von Frau und Pferd. Vgl. außerdem Rudolf G. Binding: Reitvorschrift fr eine Geliebte [1931]. Mit Photos von Rijk van Lent und einem Vorwort von Bertold Schirg. Hildesheim, Zrich, New York 1995 (= Documenta Hippologica).

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hat Ulrich von nichts anderem gehçrt als von „Pferden und Weibern“ (MoE, S. 44). Von hier aus lsst sich noch einmal der Bogen zur Begegnung mit der Schwester schlagen, die ihrerseits durch den Urlaub vom Leben vorbereitet wird. Das geniale Rennpferd wird zum Spiegel fr Ulrich, der sich dergestalt selbst erkennt. b) Pferde und Menschen Auch in wissenschaftshistorischer Perspektive besteht ein „unentrinnbare[r] Zusammenhang“ zwischen dem Genie der Rennpferde und Ulrichs eigener ,Laufbahn‘, den Musil in der Formel des ,genialen Rennpferds‘ auf den Punkt bringt. In der Geschichte der Physiologie und des Hochleistungssports sind Pferde und Menschen eng miteinander verbunden. Das Entscheidende daran ist, dass die wissenschaftlichen Versuche, die berhaupt zur Messung und Quantifizierung verschiedener Leistungen gefhrt haben, zuerst an Rennpferden getestet wurden.109 So wurden schon seit dem 17. Jahrhundert Pferde mit dem Ziel der Leistungssteigerung gezchtet, ein Gedanke, der auch in der heutigen Forschung zur genetischen Ausstattung des Menschen eine Rolle spielt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Untersuchungen der kçrperlichen Mçglichkeiten von Pferden weiter fortgeschritten als die der Menschen. Muybridge und Marey hatten die Technik der Bewegungsaufnahme anhand des Pferdegalopps entwickelt, Physiologen untersuchten die Gangart von Pferden unter verschiedenen Belastungen, bevor sie Soldaten testeten, und der berhmte Ermdungsforscher Angelo Mosso (1846 – 1910) zeigte in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts, dass die Pferde die physiologischen Gesetze des Trainings und der Arbeit besser verstnden als die Menschen.110 Es kann seitdem als gesichert gelten, dass sich Pferde und Menschen in physiologischer Hinsicht sehr hnlich sind und dass sie sogar auf dieselben Trainingsmethoden ansprechen.111 109 Die Leistungsphysiologie konnte im Pferderennsport von zwei Traditionen profitieren, zum einen der der Tierexperimente des 19. Jahrhunderts, zum an deren der seit Generationen erfolgreichen Pferderennen, die zu zahlreichen Daten ber die Pferdeleistung gefhrt hatten. Die Steigerung der Leistung, die sich an diesen Daten ablesen ließ, wurde schon Ende des 19. Jahrhunderts als „Fort schritt“ verstanden. Vgl. Hoberman, Sterbliche Maschinen, S. 313. 110 Vgl. Hoberman, Sterbliche Maschinen, S. 311. 111 Vgl. Hoberman, Sterbliche Maschinen, S. 318.

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Hinsichtlich der ,fortschreitenden‘ Industrialisierung bildete die ,Pferdestrke‘ außerdem den Vergleichsmaßstab von tierischer Kraft und Dampfmaschine, etwa zwischen Pferdekutsche und Eisenbahn. Sie wurde auf die Kraftwagen des ausgehenden 19. Jahrhunderts bertragen und ist bis heute im Ausdruck ,PS‘ gegenwrtig.112 Musil reflektiert diesen Zusammenhang in der schon zitierten Bemerkung, dass Ulrich nur das Pferd wechselte, als er vom Militr zur Technik berging: „[…] das neue Pferd hatte Stahlglieder und lief zehnmal so schnell.“ (MoE, S. 36) Damit liefert Musil nicht nur einen Beleg fr den engen historischen Zusammenhang von Militr, Arbeit, Physiologie und Sport, sondern verdeutlicht auch, dass Ulrich an der sich darin zeigenden Beschleunigungsbewegung der Moderne mit seiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit beteiligt ist.113 Diese Bewegung fhrt im Ergebnis zu einer Messung, Quantifizierung und Berechnung von Leistung, die sich in einem Kult der Zahl niederschlgt und Vorstellungen kçrperloser, d. h. maßloser Leistung obsolet macht. Die damit einhergehenden Vernderungen in der Bewertung von Arbeit und Grçße rcken Ulrich mitsamt seinem Ideal, ein bedeutender Mann zu werden, zunehmend zu Leibe. Diese Entwicklung manifestiert sich schließlich auch in Ulrichs eigenem Training, das ihn seinerseits in die Nhe der Pferde der Technik rckt: „[…] seine Schultern waren breit, sein Brustkorb saß wie ein gewçlbtes Segel am Mast, und die Gelenke seines Kçrpers schlossen wie schmale Stahlglieder die Muskeln ab […]“ (MoE, S. 159) Wie der Hinweis auf Ulrichs „Stahlglieder“ belegt, ist seine gesamte Person Teil jener Bewegung der Moderne, die ihn nun innehalten lsst. Darber hinaus erinnert seine Selbstcharakteristik an die ,Individualitt des Rennboots‘, die in Musils Essay Kunst und Moral des Crawlens als Ergebnis der Rationalisierung aufscheint.114 Die menschliche Hochachtung vor der Leistung der Pferde gipfelte um 1900 in Berichten ber Pferde, die lesen und arithmetische Re112 Graf Leinsdorf benutzt als Mann, der dem Fortschritt gegenber aufgeschlossen ist, je nach Anlass Automobil oder Pferdekutsche. „Graf Leinsdorf […] besaß als moderner Geist Kraftwagen, aber da er zugleich am berlieferten festhielt, be ntzte er zuweilen auch ein Gespann zweier prchtigen Braunen, das er samt Kutscher und Kalesche beibehielt […].“ (Musil, MoE, S. 175) 113 Vgl. dazu auch Honold, Die Stadt und der Krieg, S. 378. 114 Vgl. Anne Fleig: Der Mensch als Rennboot: Sport und Psychotechnik in den Texten Robert Musils, in: Matthias Luserke Jaqui (Hrsg.): „Alle Welt ist medial geworden.“ Literatur, Technik, Naturwissenschaft in der Klassischen Moderne, Tbingen 2005, S. 161 180.

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chenaufgaben lçsen konnten.115 Am Berliner Seminar fr experimentelle Psychologie von Carl Stumpf trat ein Studienkollege Musils – der Psychologe Oskar Pfungst (1847 – 1931) – mit einer Studie ber ein angeblich rechnendes Pferd hervor.116 Vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, dass ausgerechnet ein ,geniales‘ Rennpferd Ulrich bei dem Versuch zuvor kommt, ein bedeutender Mann zu werden. Bercksichtigt werden muss hier ferner die Verbindung von Pferd und Mensch bzw. Tier und Mensch im Kontext der Genie-Problematik. So ist es fr Nietzsche durchaus denkbar, dass Tiere Genie haben. Im Zuge biologischer Rasselehren sinkt der Mensch zum Tier herab und wird als Tier gleichsam ,vergottet‘.117 Musil hat in diesem Zusammenhang einen kritisch-ironischen Bezug zu Nietzsche in dem Fragment Durch die Brille des Sports hergestellt: „Es ist das Wunderbare, daß man wie ein Pferd ist; aber man soll nicht glauben, dies sei der bermensch [.]“118 Die Nhe zwischen Pferd und Mensch, die durch Leistungsfhigkeit hergestellt wird, erlaubt es also einerseits, dem Pferd in einer ironischen Wendung das Prdikat ,genial‘ zuzuschreiben. Auf der anderen Seite macht diese Wendung sichtbar, dass ein bloß quantitativer Maßstab die besondere Qualitt menschlicher Reflexionen, Eindrcke und Erfahrungen nicht erfassen kann. Die Frage des Maßstabs ist allerdings immer schon Teil der Genie-Problematik, die hier in modernem Gewand erscheint. So klingt die paradoxe, auch zerstçrerische Kraft des Genies nach der Aufklrung im Bild vom ,gefallenen Engel‘ an.119 Diese gegenlufige Bewegung kennzeichnet auch den Mann ohne Eigenschaften selbst, der genau zu jener Rationalitt der Moderne beitrgt, die ihn in Gestalt des Rennpferdes berholt.

115 Vgl Hoberman, Sterbliche Maschinen, S. 84. 116 Es handelte sich dabei um den ,Klugen Hans‘, das Pferd des Herrn von Osten, dem nachgesagt wurde, quasi menschliche Denkleistungen zu vollbringen. Die psychologische Untersuchung ergab allerdings, dass es durch Dressur auf Reize der Umgebung reagierte. Vgl. Honold, Die Stadt und der Krieg, S. 377; Corino, Robert Musil, S. 238. 117 Vgl. Schmidt, Die Geschichte des Genie Gedankens, S. 141. Schmidt zitiert Nietzsche auch mit dem Ausspruch: „[M]ein Genie ist in meinen Nstern“; vgl. Schmidt, ebd., S. 129. 118 Musil, Durch die Brille des Sports, S. 794. 119 Vgl. dazu Gnter Peters: Der zerrissene Engel. Geniesthetik und literarische Selbstdarstellung im achtzehnten Jahrhundert, Stuttgart 1982.

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Die berholende Bewegung verdeutlicht die Beschleunigung- und Steigerungsbewegung der Moderne, die Sport, Medien, Technik und Wissenschaften verbindet, eine Bewegung, die Ulrich zunchst dadurch produktiv zu machen versucht, dass er sich – wie seine Versuche gezeigt haben – immer wieder gegenber Wirklichkeit und Mçglichkeit in Stellung bringt. Mit dem ,genialen Rennpferd‘ ist aber offenbar ein Punkt erreicht, an dem Ulrich sich nur noch durch die radikale Infragestellung der bestehenden Gefhls- und Gedankenordnung positionieren kann. Daher beschließt er Urlaub vom Leben zu nehmen, um seine eigenen Versuche, ein bedeutender Mann zu werden, zu berdenken und der Tatsache ins Gesicht zu sehen, dass er selbst zum Leerlauf einer auf bloße Steigerung ausgerichteten Moderne beigetragen hat.120 c) Genialitt und Durchschnitt Die Bedeutung des Genieproblems fr Ulrich, fr das Romangeschehen und die Konstruktion des Romans zeigt sich daran, dass Ulrichs Urlaub vom Leben durch die Frage der Genialitt geradezu gerahmt wird. So lçst zu Beginn des Textes der Artikel ber das geniale Rennpferd Ulrichs folgenreiche Entscheidung aus, seine eigene ,Laufbahn‘ zu verlassen, eine Entscheidung, auf die in den Varianten zu den Druckfahnen-Kapiteln im Nachlass noch einmal explizit Bezug genommen wird. Dort findet sich eine grçßere Kapitel-Gruppe, die in Gesprchen zwischen Ulrich, Agathe und General Stumm von Bordwehr das Genieproblem von Grund auf entfaltet. Als der General die Geschwister besucht, greift er auf das Motiv des Pferdes – „den großen Tiergçtzen, das heilige Tier, das angebetete Idol der Reiterei“ (MoE, S. 1114) – zurck, um das Gesprch in Gang zu bringen. Seine Formulierungen verdeutlichen die Formelhaftigkeit der Wirklichkeit, die der Rede vom ,genialen Rennpferd‘ korrespondiert, und stellen gleichzeitig den Zusammenhang zwischen Rennpferd und Ulrichs beruflichen Werdegang noch einmal her: „Denn das Pferd ist seit je das heilige Tier der Kavallerie gewesen […].“ (MoE, S. 44). Die Kapitelberschrift „Das Pferdchen und der Reiter“ (MoE, S. 1250) kann auf 120 Die damit verbundene Kritik an der Moral der Tatkraft kehrt gegenber Agathe in Anspielung auf Napoleon wieder. Es sei einfach, Tatkraft zu haben, aber schwer, Tatsinn zu suchen: „Darum sehen die Tatmenschen wie Kegelspieler aus, die mit den Gebrden eines Napoleon imstande sind, neun hçlzerne Dinger umzuwerfen.“ (Musil, MoE, S. 741).

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dieser Folie als Rckverweis auf Ulrichs Versuche interpretiert werden. Darber hinaus ist ihr der Liebesdiskurs der Geschwister eingeschrieben, der auf Grundlage kindlicher Erinnerungen im „Pferdchen“ ein Symbol der spirituellen Vereinigung schafft.121 Zu Beginn des Romans bildet die Formel des ,genialen Rennpferds‘ den Hçhepunkt einer Reihe von karikierenden Verwendungen des GenieBegriffs. Die Einleitung gibt verschiedene Hinweise auf das Genie – vom „Genie der Lieferanten“ (MoE, S. 21), die Ulrichs Haus einrichten, ber Kakanien, das vielleicht „ein Land fr Genies“ (MoE, S. 35) war, bis hin zu Ulrichs Versuchen, ein bedeutender Mann zu werden, der dazu durch das „Genie“ Napoleons (MoE, S. 35) animiert wurde. In Clarisse begegnet dagegen die unbedachte, wahnhafte Genieglubigkeit der Gegenwart: „Fr zeitkritische Gesprche war sie nicht zu haben, sie glaubte schnurstracks an das Genie. Was das sei, wußte sie nicht; aber ihr ganzer Kçrper begann zu zittern und sich zu spannen, wenn davon die Rede war […].“ (MoE, S. 62) Clarisse weiß zwar nicht, was Genie ist, aber sie projiziert darauf eine schon fast groteske Erlçsungshoffnung. In ihrer Nietzsche-Nachfolge kritisiert Musil gleichzeitig den Irrationalismus von Teilen der Jugendbewegung und des Expressionismus, deren Vertreter im Laufe der Parallelaktion weitere Auftritte im Roman haben.122 Diese unterschiedlichen Erscheinungsformen des ,Genies‘ deuten nicht nur darauf hin, dass kein Einvernehmen mehr ber den Gehalt des Begriffs besteht, sondern verweisen auch auf die Frage, in welchem Bereich sich Genialitt angesichts der pluralisierten Lebens- und Arbeitswelt der Moderne berhaupt entfalten kann. So konstatiert Musil in Als Papa Tennis lernte eine Steigerung „der Durchschnittsleistungen wie der Spitzenleistungen“, die mit der Verbreitung und Rationalisierung des Sports einhergehen.123 Ihre Summe ergibt einen Mittelwert, der dem Einzelnen nur wenig Raum fr individuelle Geltung oder Initiative lsst. Dagegen waren die Eltern noch „Urgenies der Tennisschlge“.124 Auch Ulrich „wollte nicht von der Welt verlangen, daß sie ein Lustgarten des Genies sei. Ihre Geschichte ist nur in den Spitzen, wenn nicht Auswchsen, eine des Genies und seiner Werke; in der Hauptsache ist sie die des Durchschnittsmenschen. Er ist der Stoff, mit dem sie arbeitet und der stets von

121 122 123 124

Vgl. Kremer, Parallelaktion, S. 38. Vgl. Schmidt, Geschichte des Genie Gedankens, S. 290. Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 686. Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 686.

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neuem aus ihr wiederersteht.“ (MoE, S. 1206) Daraus folgt schließlich die Frage, ob es in der Moderne berhaupt noch Genies geben kçnne.125 Vor diesem Hintergrund verweist die unreflektierte Verwendung des Genie-Begriffs – hnlich wie die unkritische Sportbegeisterung – auf ein Bedeutungsvakuum, das die Rede vom Genie gerade verdeckt. Dieses Vakuum entsteht durch den gesellschaftlichen Wandel im Zuge des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts, der bestehende Vorstellungen von Grçße und Leistung in Frage stellt, ohne neue Maßstbe zu setzen oder neue Vorbilder zu nennen. Vielmehr habe sich das ausgehende 19. Jahrhundert durch bertriebene Nachahmung des Bestehenden ausgezeichnet: Es war klug im Technischen, Kaufmnnischen und in der Forschung gewesen, aber außerhalb dieser Brennpunkte seiner Energie war es still und verlogen wie ein Sumpf. Es hatte gemalt wie die Alten, gedichtet wie Goethe und Schiller und seine Huser im Stil der Gotik und Renaissance gebaut. Die Forderung des Idealen waltete in der Art eines Polizeiprsidiums ber allen ußerungen des Lebens. (MoE, S. 54)

Die Gegenwart des Romans wird wiederholt als bergangs- oder Durchgangszeit bezeichnet, die keine klaren Begriffe mehr hat. In diesem Zusammenhang kann Ulrichs Urlaub vom Leben auch als Versuch der Begriffsklrung betrachtet werden, der mit der Beantwortung der Geniefrage auf die Mçglichkeiten einer neuen, zeitgençssischen sthetik zielt. Die Quantitt der Wirkung und Wirkung der Quantitt, als neuer, sonnenklarer Gegenstand der Verehrung, kmpfte noch mit einer veraltenden und erblindeten adeligen Verehrung der großen Qualitt, aber in der Vorstellungswelt waren schon die tollsten Kompromisse daraus entstanden, wie gleich die Vorstellung des großen Geistes selbst, die so, wie wir sie im letzten Menschenalter kennen gelernt haben, eine Synthese von eigener und Kartoffelbedeutung sein mußte, denn man wartete auf einen Mann, der die Einsamkeit des Genies haben sollte, aber dabei doch die Gemeinverstndlichkeit einer Nachtigall. (MoE, S. 400)126

Im inflationren Gebrauch des Genie-Begriffs drckt sich einerseits eine falsche Erlçsungshoffnung und andererseits ein Kult der Zahl und des 125 Vgl. dazu auch Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs, S. 15; S. 73. 126 Musil folgt hier hnlich wie in Als Papa Tennis lernte der weit verbreiteten Vorstellung, dass das traditionell mnnliche, einsame und unverstandene Genie durch die weiblich codierte Massenkultur entwertet wird. Zum Geschlechter diskurs der Moderne und dem Genie als mnnlichem Konzept vgl. Helduser, Geschlechterprogramme, S. 90 92.

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Rekordstrebens aus, der auf Hçchstleistungen basiert, die wie Geschwindigkeitsrekorde oder erhçhte Akkordzahlen nur mit technischen Mitteln zustande kommen. Gleichzeitig setzt die hufige Verwendung den Wert der so bezeichneten Leistungen zwangslufig herab, was zu einer Spirale immer neuer Superlative fhrt. Dieses Missverhltnis von Quantitt und Qualitt treibt Stilblten, die Musil wiederholt an Beispielen aus dem Sportbereich festmacht. So stellt er dem ,genialen Rennpferd‘ noch einen ,genialen Tennisspieler‘ zur Seite127 und hebt unter den Eingaben an die Parallelaktion den Vorschlag eines Fußballvereins hervor, „seinem Rechtsaußen den Professortitel zu verleihen, um die Wichtigkeit der Kçrperkultur zu dokumentieren“ (MoE, S. 349). Die Sprache des Sports beschreibt eine Wirklichkeit, die keine zureichenden Bestimmungen mehr hat.128 Wesentliches Kennzeichen der Begriffsverwirrung ist, dass geistige Leistungen entwertet werden, whrend schon die kleinste Handreichung genial genannt werden kann, wenn sie nur auf messbaren Daten beruht. Diese eklatante Aufwertung kçrperlicher Leistungen fasst Musil auch in dem durchweg ironisch oder pejorativ verwendeten Begriff der ,Kçrperkultur‘, die aufgrund ihrer stereotypen Erlçsungs-Rhetorik jene Deutungshoheit ber den Menschen beansprucht, die mit der ,Befreiung des Kçrpers‘ einher geht. Gegenber der Rationalisierungstendenz der Kçrperkultur, die auf dem Training des Kçrpers basiert und die messbare Leistung herausstellt, mssen das Maßlose des Genies und der tendenziell unbegrenzte Geltungsanspruch des Geistes ins Hintertreffen geraten, weil ihr Vergleich bereits Messbarkeit voraussetzt. Diese Entwicklung impliziert einen Verfall von Bildung, der qualitative Deutungen oder Wertungen ausschaltet. Denn was geschieht zum Beispiel, wenn die bewegliche Art Mensch einen Tennisspieler genial nennt? Sie lßt etwas aus. Wenn sie ein Rennpferd genial nennt? Sie lßt noch etwas mehr aus. Sie lßt etwas aus, ob sie einen Fußballspieler wissenschaftlich, einen Fechter geistvoll nennt, oder ob sie von der tragischen Niederlage eines Boxers spricht; sie lßt berhaupt immer etwas aus. Sie bertreibt; aber es ist die Ungenauigkeit, welche die bertreibung verursacht, so wie in einer kleinen Stadt die Ungenauigkeit der Vorstellungen die Ursache davon ist, daß man den Sohn des Kaufhausbesitzers fr einen Weltmann hlt. Irgendetwas wird schon daran stimmen, und warum sollten 127 Vgl. Musil, MoE, S. 422. 128 Vgl. Alt, Ironie und Krise, S. 375. Umgekehrt muss sich der Sport mit Be zeichnungen der Vergangenheit begngen, die gerade seiner Exaktheit nicht gerecht werden. Vgl. Alt, ebd., S. 376.

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nicht auch die berraschungen eines Champions an die eines Genies und seine berlegungen an die eines erfahrenen Forschers erinnern? Irgendetwas anderes und noch dazu weit mehr stimmt natrlich nicht; aber dieser Rest wird im Gebrauch gar nicht oder nur unwillig empfunden. Er gilt fr unsicher; er wird bergegangen und ausgelassen, und es ist wahrscheinlich weniger ihr Begriff von Genie, den diese Zeit hat, wenn sie ein Rennpferd oder einen Tennisspieler genial nennt, als ihr Mißtrauen gegen die ganze hçhere Sphre. (MoE, S. 454)

Das Problem der Vergleichbarkeit hat Musil in den Nachlass-Kapiteln zur Geniefrage mit der hier geforderten Genauigkeit noch einmal aufgegriffen. Er unterscheidet die Genialitt des Gelingens und die der Bedeutung, wobei insbesondere die Zweifelhaftigkeit des Bedeutenden als Problem der Gegenwart erscheint. „Es scheint also, daß heute gewçhnlich das Schwierige, Ungewçhnliche u. besonders Gelungene zu dem Begriff gehçrt.“ (MoE, S. 1256) Whrend sich die Genialitt des Gelingens im Grunde „auf alles zu erstrecken vermag, so daß auch der dmmste Witz ,in seiner Art‘ genial sein kann, gibt es auch noch die Hçhe, Wrde oder Bedeutung dessen, was gelingt, also irgendeinen Genialittsrang.“ (MoE, S. 1256) Diese Unterscheidung geht auf das Grimmsche Wçrterbuch zurck, demzufolge Gelingen im Sinne von ingenium Kçnnen und Geschicklichkeit sei, wie sich in der Rede vom Geniesoldaten ebenso zeige wie in der Ingenieurskunst.129 Doch gebe es ein zweites Genie, dessen „Bedeutung ebenfalls in allen Sprachen anzutreffen ist und nicht auf Genium zurckgeht, sondern auf Genius, auf das Mehr-als-Menschliche, oder wenigstens in Ehrfurcht auf Geist und Gemt als das menschlich Hçchste.“ (MoE, S. 1257) Als moderner Mensch rumt Ulrich gegenber Agathe ein, dass er selbst nie genau gewusst habe, was genial sei. Dabei fhrt er unter Rckgriff auf die Physiologie aus: „Bei den Sngern hat es angefangen; und wenn einer, der hçher singt als die brigen, genial heißt, warum soll es nicht einer tun [?], der hçher springt!“ (MoE, S. 1256) Die Kunst des Sngers ist zunchst einmal eine kçrperliche Leistung, die erst durch bung zur Nervensache, mithin zu einer geistigen bung wird. Darauf hatte bereits du Bois-Reymond aufmerksam gemacht.130 Wo die Grenze zwischen kçrperlicher und geistiger bung verluft, lsst sich nicht exakt bestimmen. Das naturwissenschaftliche

129 Vgl. Musil, MoE, S. 1257. 130 Vgl. Du Bois Reymond, ber die bung, S. 115 f.; S. 119.

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Paradigma stellt dadurch die Autonomie der Kunst, die mit der Geniesthetik untrennbar verbunden ist, radikal in Frage. Die von Ulrich analysierte Genialitt des Gelingens prgt daher keineswegs nur die von Musil geschmhte Presse, sondern auch zeitgençssische Untersuchungen zum Phnomen des Sports. So hat Heinz Risse in seiner Soziologie des Sports (1921) vom Genie des Sportlers gesprochen, weil er aufgrund der eigenen Leistungsfhigkeit den Kçrper berwindet. Durch diese Grenzberschreitung reiche die sportliche Bettigung in den Bereich der knstlerischen Bettigungsformen hinein. Das geistige Gebiet absorbiere dagegen die Menschen in einem Maße, dass es fr arbeitende Menschen kein Bettigungsfeld sei.131 Die Ausweitung des Genie-Begriffs hngt demnach mit der Verbreitung des Sports im Rahmen der Massenkultur unmittelbar zusammen. Auf das formalisierte Leistungsstreben bezieht sich auch Alfred Peters in der Psychologie des Sports (1927), der allerdings in deutlich kritischer Absicht vom „Genie der Alltglichkeit“ spricht, dessen Existenz in der „berbietung einer Leistung durch die andere“ liege, denen jede Substanz fehle.132 Zugespitzt findet sich dieses Problem in dem Essayfragment Durch die Brille des Sports. Dort heißt es in einer Variation der RennpferdPassage aus dem 13. Kapitel des Mann ohne Eigenschaften: Es ist schon recht lange her, daß man zum ersten Mal in einer Zeitung das Wort ,das geniale Rennpferd‘ hat lesen kçnnen, und ich glaube, es ist auf Grund einer Verwahrung geschehen, die ein Rennverein bei dem Sportredakteur damit begrndete, daß von manchen Fußballspielern oft gesagt werde, sie seien Genies des ,Grnen Rasens‘, was den Pferden etwas vorenthalte, das auch ihnen zukme. Und dieser Reiterverein hatte recht. Vordem hatte man nur von genialen Entdeckern, Tençren oder Schriftstellern gesprochen; das war in der Zeit, wo man sich noch an einem vagen Idealismus beduselte, ehe man sachlich wurde. Es hat sich dann herausgestellt, daß man gar nicht wußte, ob diese Genies wirklich genial gewesen seien. Wie will man das auch zum Beispiel bei einem Schriftsteller entscheiden?!133

Die Rede vom ,genialen Rennpferd‘ musste Ulrich also auch deshalb erschttern, weil sie den Sieg einer Genialitt des Gelingens ber die der Bedeutung manifestiert, whrend seine berufliche Laufbahn dem Ziel galt, ein ,bedeutender‘ Mensch zu werden. Noch in den Nachlass-Kapi131 Vgl. Risse, Soziologie des Sports, S. 28 f. 132 Vgl. Peters, Psychologie des Sports, S. 90. 133 Musil, Durch die Brille des Sports, S. 793 f.

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teln betont er gegenber Agathe, dass der Wert des Menschlichen in der Genialitt liege, deren Grundform das Bedeutende sei.134 Wie sehr Musil selbst die Rennpferd-Formel beschftigt hat, zeigen weitere Fragmente im literarischen Nachlass. Dort findet sich auch eine Skizze fr eine „Antrittsrede“, die das Rennpferd „Blunderbuss“ (Donnerbchse) bei seiner Aufnahme in die Akademie der deutschen Dichtung hlt.135 Es soll ihr letztes Mitglied werden. Auch „Blunderbuss“ bezieht sich in seiner Rede auf jenen Zeitungsartikel, in dem „zum erstenmal ein Journalist es wagte, das Wort niederzuschreiben: das geniale Rennpferd. Es galt meinem Vorfahren Ferror. Sie aber erst haben den Mut besessen, das Ergebnis der Zeitentwicklung zu ziehen u. mich in den Kreis der gekrçnten Geister der Nation aufzunehmen.“136 Im Folgenden stellt das Pferd – soweit erkennbar – einen Zusammenhang zwischen dem Einsatz fr Pferderennen, der Kommerzialisierung des literarischen Marktes und der schon angesprochenen Begriffsverwirrung durch berkommene Bezeichnungen her. Dabei reklamiert es fr sich eine „gewisse *edle* Qualitt/ *des Edlen*“, durch die es seine Bewunderung verdiene: „Die Nation will bewundern, ja, sie muß. Es ist eine Nation, welche schon viele große Dichter besessen u[nd] bewundert hat. Diese Dichter sind tot u. die Vokabeln der Bewunderung sind brig geblieben.“137 Die Bewunderung verlange nach einem neuen Inhalt, denn der Betrieb verlange nach Bewunderung. Letztlich geht es auch hier um die Frage der Messbarkeit und Vergleichbarkeit geistiger Leistungen, die zur Frage nach Sinn und Berechtigung der Dichtung zugespitzt wird, die auch in Durch die Brille des Sports anklingt. Sowohl der Roman als auch die Sportessays rcken daher die Geniefrage in den Kontext der Psychotechnik, in deren Zentrum die Steigerung der Durchschnittsleistungen steht. Die Sachlichkeit des naturwissenschaftlichen Denkens, die Sport und Psychotechnik charakterisiert, fhrt durch die bloße Quantifizierung zu einer Infragestellung von 134 Vgl. Musil, MoE, S. 1256. Und weiter fhrt Ulrich aus: „Ich habe aber nicht gesagt, daß sich leicht entscheiden lßt, was Genie sei, und was bloß Einbildung. Ich sage bloß, wo immer wirklich ein neuer Wert ins menschliche Spiel kommt, steht Genialitt dahinter!“ (MoE, S. 1262) 135 Vgl. Musil, Nachlass, Mappe VI/1/192; 193. Es ist denkbar, dass die Kontro versen um Musils Aufnahme in die Preußische Akademie der Dichtung den Hintergrund des Textes bilden. Vgl. dazu Corino, Robert Musil, S. 796 799. 136 Vgl. Musil, Nachlass, Mappe VI/1/193. 137 Musil, Nachlass, Mappe VI/1/193.

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Originalitt und schçpferischem Talent, wie sie etwa die klassische GenieDefinition von Kant bestimmen.138 Dazu heißt es in Durch die Brille des Sports: Will man also genau sein, so wird wohl nichts brig bleiben als den Begriff des Genies psychotechnisch zu normen. Sein Hauptbestandteil ist das Unvergleichliche und dieses lßt sich natrlich auf Geschwindigkeiten, Muskeln, kçrperliche Treffsicherheit udgl. viel eindeutiger anwenden als auf geistige Leistungen. Andere Bestandteile, wie Kampfmut, Genauigkeit der Arbeit, Ehrgeiz, Konzentration, Wendigkeit, richtige Kombinationsgabe vor auftauchenden Hindernissen das heißt Urteilsfhigkeit und Assoziationsgeschwindigkeit finden sich in Brust u. Gehirn eines genialen Rennpferdes genau so entwickelt wie in denen eines Dichters. Die eindringende Psychotechnik wird nur einen einzigen Unterschied bestehen lassen: den der Zusammenfassung dieser Fhigkeiten zu der Art der Leistung und der Person.139

Auf diesen Unterschied kommt es an, denn tatschlich lassen sich die Teilakte einzelner Bewegungen ebenso wie Aufmerksamkeit und Genauigkeit messen und insofern miteinander vergleichen. Geht es also darum, die beste Anwendung seiner Fhigkeiten zu suchen, wie Ulrich am Beginn seines Urlaubs vom Leben ganz im Sinne der Psychotechnik postuliert, dann verdient auch das Rennpferd das Prdikat ,genial‘, weil es genau das tut.140 Sollte man einen großen Geist und einen Boxlandesmeister psychotechnisch analysieren, so wrden in der Tat ihre Schlauheit, ihr Mut, ihre Genauigkeit und Kombinatorik sowie die Geschwindigkeit der Reaktionen auf dem Gebiet, das ihnen wichtig ist, wahrscheinlich die gleichen sein, ja sie wrden sich in den Tugenden und Fhigkeiten, die ihren besonderen Erfolg ausmachen, voraussichtlich auch von einem berhmten Hrdenpferd nicht unterscheiden […]. Nun haben aber noch dazu ein Pferd und ein Boxmeister vor einem großen Geist voraus, daß sich ihre Leistung und Bedeutung einwandfrei messen lßt und der Beste unter ihnen auch wirklich als der Beste erkannt wird, und auf diese Weise sind der Sport und die Sachlichkeit verdientermaßen an die Reihe gekommen, die veralteten Begriffe von Genie und menschlicher Grçße zu verdrngen. (MoE, S. 45)

138 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (= Werkausgabe Bd. X, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/Main 1974), S. 242. Dagegen waren Mnster bergs wissenschaftliche Verfahren von seinem Lehrer Wilhelm Wundt noch als ,Meßfetischismus‘ verspottet worden. Vgl. Hinrichs, Seele des Arbeiters, S. 209 f. 139 Musil, Durch die Brille des Sports, GW II, S. 794. 140 Zu dieser „Pointe“ vgl. auch Mller, Bizepsaristokraten, S. 121.

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Damit begegnet das Verhltnis von Summe und Teilen, das Musil im Paradox des Kraulens gefasst hatte, auf einer neuen Ebene. Wenn ein Rennpferd zu Recht ,genial‘ genannt wird, ist der Stil das, was die Psychotechnik Ulrich zur Rettung seiner ,Eigenheit‘ noch brig lsst. Auf der Ebene des Romans mitsamt seines Erzhlprogramms ist der Stil das, was seinem Autor brig bleibt: die exakte Herausarbeitung eines Gedankens. d) Eigenschaftslosigkeit Dass zwischen Genialitt und Eigenschaftslosigkeit ein Zusammenhang besteht, macht bereits die Kapitelberschrift – „Ein geniales Rennpferd reift die Erkenntnis, ein Mann ohne Eigenschaften zu sein“ (MoE, S. 44) – deutlich. Dabei bildet das Rennpferd als ,Vorreiter‘ des technischwissenschaftlichen Fortschritts das Scharnier, das eine historische Verbindung zwischen den beiden Begriffen stiftet. Ulrichs Programm der Eigenschaftslosigkeit hebt seine Versuche, ein bedeutender Mann zu werden, nicht auf, sondern kann als ein produktiver Versuch ihrer Negation bestimmt werden, wie die Formel ,Urlaub vom Leben‘ deutlich macht. In diesem Sinne kçnnte die Eigenschaftslosigkeit auch als vierter Versuch – als Versuch ex negativo – gelten, ein bedeutender Mann zu werden. Das Gegenmodell dazu bildet die Parallelaktion samt ihrer kollektiven Suche nach der großen integrativen Idee. Mit dieser Konstruktion rckt Musil die Frage nach den Mçglichkeiten und Grenzen schçpferischen Lebens ins Blickfeld, die den gesamten Roman durchzieht.141 Da Ulrich die Bedeutung seiner vorigen Versuche ausgerechnet durch ein Rennpferd in Frage gestellt sieht, sucht er einen Weg, um genau der damit angesprochenen Berechenbarkeit und psychotechnisch optimierten Durchschnittlichkeit des modernen Lebens zu entkommen. Dessen vorgefertigte Schablonen nivellieren nicht nur individuelle Unterschiede im Lebensentwurf oder im Werdegang, sondern machen auch eigene Wnsche und gesellschaftliche Erwartungen ununterscheidbar und begrenzen damit die individuellen Entfaltungsmçglichkeiten. Diese Begrenzung erlebt Ulrich als „qulende Ahnung des Gefangenwerdens; ein beunruhigendes Gefhl: alles, was ich zu erreichen meine, erreicht mich; eine nagende Vermutung, daß in dieser Welt die unwahren, achtlosen und persçnlich unwichtigen ußerungen krftiger 141 Vgl. Schmidt, Die Geschichte des Genie Gedankens, S. 279.

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widerhallen werden als die eigensten und eigentlichen.“ (MoE, S. 129) Er wnscht sich daher, „ein Mann ohne Eigenschaften zu sein“ (MoE, S. 130), um den „fertigen Einteilungen und Formen des Lebens“ zu entgehen, die nicht nur die Sprache, sondern auch die „Empfindungen und Gefhle“ (MoE, S. 129) prgen. Damit ist der Wunsch nach Eigenschaftslosigkeit zunchst einmal Ausdruck des Aufbegehrens gegen die sukzessive Vereinnahmung des eigenen Lebens, das plçtzlich wie ein Fremder mit am Tisch sitzt.142 Darber hinaus ist der Wunsch nach Eigenschaftslosigkeit Ausdruck einer „Gegenkraft“, die auf dem Leben „auf eigene Faust“ (MoE, S. 130) beharrt. In der Eigenschaftslosigkeit sind daher immer zwei Krfte am Werk, die der Auflçsung fremder Vorstellungen und die des eigenen Beharrens, die sich mit dem Mçglichkeitssinn verbindet.143 Dies entspricht der produktiven Negation, wie sie in der Formel ,Urlaub vom Leben‘ zum Ausdruck kommt.144 Die Formulierung „ohne Eigenschaften“ geht, wie Jochen Schmidt herausgearbeitet hat, auf Meister Eckharts Programm der Seelenfhrung zurck,145 das auf die Einswerdung von Mensch und Gott zielt: „Zur Verwirklichung dieser unio mystica aber bedarf es entschiedener Anstrengung, denn der Grund ist im Menschen verschttet: begraben unter den vielen Schichten, die das Leben in der Welt gebildet hat.“146 Ulrichs Urlaub vom Leben kann in diesem Sinne als Anstrengung der Befreiung gedeutet werden, die darauf zielt, die vorgefertigten Lebensmuster ab142 Vgl. Musil, MoE, S. 130. Ausdruck dieser Fremdheit ist auch die zu Beginn des Romans ausfhrlich geschilderte Einrichtung von Ulrichs Haus. 143 Zu dieser doppelten Perspektivierung der Eigenschaftslosigkeit vgl. auch Golt schnigg, Die Bedeutung der Formel, S. 331. 144 ,Urlaub vom Leben‘ und ,Eigenschaftslosigkeit‘ sind also beide negativ bestimmt, insofern ihre Freiheit Freiheit zur Selbstbestimmung ist. Vgl. Ursula Reinhardt: Religion und moderne Kunst in geistiger Verwandtschaft. Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ im Spiegel christlicher Mystik, Marburg 2003, S. 172 f. 145 Vgl. Jochen Schmidt: Ohne Eigenschaften. Eine Erluterung zu Musils Grundbegriff, Tbingen 1975. Aus dem Nachlass lsst sich allerdings nicht ab leiten, dass sich Musil, dessen Mystiker Rezeption durch Martin Bubers Eksta tische Konfessionen vermittelt ist, mit Meister Eckhart auseinander gesetzt hat. Vgl. Fanta, Entstehungsgeschichte, S. 308. Vgl. zur Bedeutung Meister Eckharts fr Musils Mystikrezeption auch Brigitte Spreitzer: Moderne mit Tradition? Robert Musil, Meister Eckhart und die Mystik, in: Antje Senarclens de Grancy/ Heidemarie Uhl (Hrsg.): Moderne als Konstruktion. Debatten, Diskurse, Posi tionen um 1900, Wien 2001, S. 169 183, bes. S. 171. 146 Schmidt, Ohne Eigenschaften, S. 46.

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zulegen. Denn die Vereinigung gelingt nur, wenn der Mensch frei von Vorstellungen ist, und zwar auch frei von Gottesvorstellungen, da vollkommene Zweckfreiheit die Voraussetzung der Einheit ist.147 Diese Freiheit nennt Meister Eckhart, „ohne Eigenschaft“, was soviel bedeutet wie ledig- und frei-sein.148 Die Freiheit der Eigenschaftslosigkeit beruht darber hinaus auf der Auflçsung festgefgter Vorstellungen und Werte. Daher erscheint Ulrich seinem Freund Walter als Mann ohne Eigenschaften und gleichzeitig als „der Menschenschlag, den die Gegenwart hervorgebracht hat“ (MoE, S. 64). Ulrich gilt ihm vor allem aufgrund seiner Bindungslosigkeit als eigenschaftslos. Dem Zerfall der Wirklichkeit scheint er regelrecht Vorschub zu leisten, da nichts „fr ihn fest“, sondern alles „verwandlungsfhig“ ist und immer erst ein mçglicher Zusammenhang entscheidet, „wofr er eine Sache hlt.“ (MoE, S. 65) Aufgrund dieser ,Eigenschaften‘, die in Walters Augen einen Mangel an Persçnlichkeit ausdrcken, erscheint Ulrich auch als „Prototyp des modernen Menschen“.149 Dennoch bezeichnet er Ulrich dezidiert als „Genie“, weil er, wenn auch schaudernd, erkennt, dass dessen zersetzende Kraft eine Vielzahl neuer Mçglichkeiten birgt.150 Genialitt und Eigenschaftslosigkeit verbindet der Wunsch nach Auflçsung bzw. berschreitung der Wirklichkeit. Gleichzeitig sind sie gegenlufig, weil Genialitt als Fluchtpunkt einer ins ußerste getriebenen Innerlichkeit verstanden werden kann, whrend Eigenschaftslosigkeit im mystischen Sinne einer quasi ekstatischen Innerlichkeit gleichkommt.151 Ulrichs letzter Versuch hlt an der Exaktheit und Rationalitt der modernen Wissenschaften fest, doch versucht er nun, diese auf sich selbst anzuwenden. Insofern kann die Suche nach der richtigen Anwendung seiner Fhigkeiten auch als psychotechnische Verfahrensweise beschrieben 147 Vgl. Schmidt, Ohne Eigenschaften, S. 49. Insofern kann Musil die Theologie ebenso wie den Sport als System bezeichnen, das mystische Bedrfnisse ratio nalisiert. Gleichzeitig ist Zweckfreiheit aber eines der wesentlichen Merkmale der gelungenen, sportlichen Bewegung. 148 Vgl. Schmidt, Ohne Eigenschaften, S. 48. Eine knappe bersicht ber weitere Bestimmungen der ,Eigenschaftslosigkeit‘ gibt Kmmel, Das MoE Programm, S. 145. Wie Ulrichs Gegenspieler Arnheim, der „Mann mit Eigenschaften“, nicht ohne Anerkennung bemerkt, ist Ulrich auf bestimmte Weise frei, nmlich „unempfindlich gegen soziale Vorteile“ (MoE, S. 540) und unbesorgt um Geld oder Wirkung. 149 Vgl. Schmidt, Ohne Eigenschaften, S. 78. 150 Vgl. Musil, MoE, S. 609. 151 Vgl. Schmidt, Ohne Eigenschaften, S. 78.

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werden: eine Psychotechnik des Selbst. Der Urlaub vom Leben wird dadurch nicht zuletzt zum großen Eignungstest. Der Titel des Romans beinhaltet also nicht nur einen Verweis auf Genie- und Mnnlichkeitskrise, sondern auch auf die psychotechnische Durchdringung des Lebens, die – wie die Figur Ulrich zeigt – wechselseitig miteinander verschrnkt sind. Gemeinsam ist ihnen das Abstraktwerden des modernen Lebens, wie es gleich zu Beginn des Romans in Szene gesetzt wird. Diese Abstraktion kann als Folge des Wirklichkeitszerfalls, der sich paradigmatisch an der Unbersichtlichkeit und Zuflligkeit des Großstadtlebens festmachen lsst, beschrieben werden. Dieser Zusammenhang beschftigt Ulrich auch auf seinem „Heimweg“ am Ende des Ersten Buches: „Am Land kommen die Gçtter noch zu den Menschen,“ dachte er „man ist jemand und erlebt etwas, aber in der Stadt, wo es tausendmal so viel Erlebnisse gibt, ist man nicht mehr imstande, sie in Beziehung zu sich zu bringen: und so beginnt ja wohl das berchtigte Abstraktwerden des Lebens.“ (MoE, S. 649)152 Dass moderne Ordnung auf dem Zuflligen beruht, fhrt das 1. Kapitel des Romans am Beispiel des Verkehrsunfalls exemplarisch vor.153 Der Straßenverkehr als Sinnbild modernen Lebens prgt auch das 2. Kapitel, das Ulrich am Fenster stehend als Beobachter des großstdtischen Verkehrs einfhrt. Diese Szene kann als Versuchsanordnung beschrieben werden, die auf das Romangeschehen vorausdeutet; sie zeigt Ulrich bei einem Experiment, durch das Fenster vom Leben auf der Straße getrennt und damit seinem Urlaub vom Leben korrespondierend: Er stand hinter einem der Fenster, sah durch den zartgrnen Filter der Gartenluft auf die brunliche Straße und zhlte mit der Uhr seit zehn Minuten die Autos, die Wagen, die Trambahnen und die von der Entfernung ausgewaschenen Gesichter der Fußgnger, die das Netz des Blicks mit quirlender Eile fllten; er schtzte die Geschwindigkeiten, die Winkel, die lebendigen Krfte vorberbewegter Massen, die das Auge blitzschnell nach sich ziehen, festhalten, loslassen, die whrend einer Zeit, fr die es kein Maß gibt, die Aufmerksamkeit zwingen, sich gegen sie zu stemmen, abzureißen, 152 Gleichzeitig deutet Ulrichs „Heimweg“ am Ende des ersten Buches den ber gang in den ,anderen‘ Zustand an, insofern hier die Bewegung des Spaziergangs zum Gedankengang und zur Bewegung ins Innere wird. 153 Die Zahl der Deutungen des 1. Kapitels ist Legion. Zur Forschung vgl. Honold, Die Stadt und der Krieg, S. 36. Zum Unfall als Regelfall moderner Systeme vgl. Gerhard Meisel: „Whrend einer Zeit, fr die es kein Maß gibt“. Zur Zeitpro blematik im Mann ohne Eigenschaften, in: Marie Luise Roth (Hrsg.): Neue An stze zur Musil Forschung, Bern, Berlin, Frankfurt/Main u. a. 1999, S. 17 50, hier bes. S. 25 28.

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zum nchsten zu springen und sich diesem nachzuwerfen; kurz, er steckte, nachdem er eine Weile im Kopf gerechnet hatte, lachend die Uhr in die Tasche und stellte fest, daß er Unsinn getrieben habe.“ (MoE, S. 12)

Vor dem Hintergrund der Genie-Problematik wird deutlich, dass der Unsinn in der Sinnlosigkeit des Messens und Berechnens besteht. Ulrich hat erkannt, dass rationale Verfahren die Gegenwart nicht mehr zu erfassen vermçgen, dass Rationalitt allein keinen ,Durchblick‘ mehr gewhrt. Am Fenster stehend sieht er die Welt nur mehr im Ausschnitt, weil das Ganze nicht begriffen werden kann.154 Dass Ulrich die Uhr „lachend“ einsteckt, zeigt zum einen, dass sein Urlaub vom Leben ein Abschied von naturwissenschaftlichen Erkenntnismethoden ist.155 Zum anderen korrespondiert diese Geste dem Verhltnis von Wissenschaft und Essayismus, die ineinander unbersetzbar bleiben. Vielmehr fngt er an, alltgliche Verkehrsleistungen zu bewundern.156 Sein Lachen verweist dabei auf die Kluft, die zwischen ihm und dem alltglichen Leben liegt, eine Kluft, die sich durch die Beschleunigungsbewegung der technisch-wissenschaftlichen Moderne, wie sie der Verkehr symbolisiert, bestndig vergrçßert. An die Stelle der Berechenbarkeit muss eine sthetische Anschauung treten, die aus den Verkehrsformen der Moderne ihre Unmittelbarkeit und Maßlosigkeit gewinnt. Daher kann in dem „zartgrnen Filter“, den Ulrich durch die Fensterscheibe wahrnimmt, auch eine Anspielung auf die Erkenntnisproblematik des modernen Subjekts gesehen werden, wie sie Kleist in einem seiner Briefe an Wilhelmine von Zenge mustergltig formuliert hat: „Wenn alle Menschen statt der Augen grne Glser htten, so wrden sie urtheilen mssen, die Gegenstnde, welche sie dadurch erblicken, sind 154 Vgl. zum „Un Sinn der Welt“ Helmut Lethen: Eckfenster der Moderne. Wahrnehmungsexperimente bei Musil und E.T.A. Hoffmann, in: Josef Strutz (Hrsg.): Robert Musils „Kakanien“ Subjekt und Geschichte, Mnchen 1987, S. 195 227, hier S. 224; zum Sehen und Beobachten vgl. Christian Dawi dowski: Voyeure, Grenzgnger, Frauen. Literarische Topographie der Musilschen Moderne, in: Musil Forum 25/26 (1999/2000), S. 69 100. Zum Fenster als Raummotiv im Mann ohne Eigenschaften vgl. Honnef Becker, „Ulrich lchelte“, S. 83 85. Zur Bedeutung des Fensters in der literarischen Inszenierung der Stadterfahrung vgl. Heinz Brggemann: Das andere Fenster. Einblicke in Huser und Menschen, Frankfurt/Main 1989. 155 Dabei ist die Stoppuhr, die jede Bewegung in Bruchteilen von Sekunden misst, zum „Wahrzeichen“ des technisch naturwissenschaftlichen Zeitalters geworden, wie Mnsterberg bemerkt hat. Vgl. Mnsterberg, Grundzge der Psychotechnik, S. 380. 156 Vgl. Roskothen, Verkehr, S. 59.

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grn – und nie wrden sie entscheiden kçnnen, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehçrt.“157 Dass es ausgerechnet „Gartenluft“ ist, die seinen Blick filtert, verweist gleich zu Beginn des Romans auf den Garten als Raum des bergangs, der sich an den Stadtraum schmiegt und doch durch den Gartenzaun von ihm getrennt ist, auf den Garten als Raum der Reflexion und nicht zuletzt auf den Garten als Raum des ,anderen Zustands‘, der ein sthetisches Erleben begrndet, das die Grenzen rationaler Erkenntnis berschreitet.158 Darber hinaus erinnert die Fensterszene, die den experimentellen Charakter von Ulrichs Urlaub vom Leben unterstreicht, an die Versuchsanordnung in Trirdere (1936). So lassen sich der Urlaub vom Leben und das Programm der Eigenschaftslosigkeit mit der Isolation vergleichen, die eine neue Wahrnehmung ermçglicht. Darum heißt es am Ende des Textes Trirdere ber das Fernglas: Indem es die gewohnten Zusammenhnge auflçst und die wirklichen entdeckt, ersetzt es eigentlich das Genie oder ist wenigstens eine Vorbung dazu. Vielleicht empfiehlt man es aber gerade darum vergeblich. Benutzen doch die Menschen das Glas sogar im Theater dazu, die Illusion zu erhçhen, oder im Zwischenakt um nachzusehen, wer da ist, wobei sie nicht das Unbekannte suchen, sondern die Bekannten.159

Diese berlegung fhrt Ulrich in seiner Beobachterposition am Fenster auf das Verhltnis von Einzelnem und Masse zurck, das die Frage nach dem Verhltnis von Genie und Durchschnitt beinhaltet. Kçnnte man die Sprnge der Aufmerksamkeit messen, die Leistungen der Augenmuskeln, die Pendelbewegungen der Seele und alle die Anstrengungen, die ein Mensch vollbringen muß, um sich im Fluß einer Straße aufrecht zu halten, es kme vermutlich so hatte er gedacht und spielend das Unmçgliche zu berechnen versucht eine Grçße heraus, mit der verglichen die Kraft, die Atlas braucht, um die Welt zu stemmen, gering ist, und man 157 Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge, Berlin, den 22. Mrz 1801, in: Heinrich von Kleist. Smtliche Werke und Briefe in vier Bnden, Bd. 4: Briefe von und an Heinrich von Kleist, hg. von Klaus Mller Salget und Stefan Or manns, Frankfurt/Main 1997, S. 205. Es ist bemerkenswert, dass Kleist nach dieser Krise der Erkenntnis ebenfalls eine Art ,Urlaub vom Leben‘ nimmt, um ein neues Lebensziel zu suchen, und auf Reisen geht. 158 Vgl. dazu Kieser, Grten, Vçgel, Kinder; Michael Grandmontagne: Das Para diesgartenmotiv der frhen Tafelmalerei im „Mann ohne Eigenschaften“, in: Musil Forum 21/22 (1995/96), S. 98 137. 159 Robert Musil: Trirdere [1935], GW II, S. 518 522, hier S. 522.

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kçnnte ermessen, welche ungeheure Leistung heute schon ein Mensch vollbringt, der gar nichts tut. (MoE, S. 12)

In dieser berlegung Ulrichs wird die Berechnung alltglicher Bewegungsablufe der heroischen Einzelleistung gegenber gestellt und ihr Bewertungsmaßstab gleichzeitig ironisch verkehrt. Interessant fr das Verhltnis von Sport und Genialitt ist an diesem Beispiel, dass die einzelne Leistung hier mit der Muskelleistung eines „Athleten“ verglichen wird, „der einmal im Monat ein ungeheures Gewicht stemmt“, auch wenn Ulrich davon ausgeht, dass die Summe der „kleinen Alltagsleistungen“ weit mehr Energie in die Welt setzt als die großen Taten, „ja die heroische Leistung erscheint geradezu winzig, wie ein Sandkorn, das mit ungeheurer Illusion auf einen Berg gelegt wird.“ (MoE, S. 13) Zu Beginn des Romans erscheint Ulrich die einzelne, große Tat ebenso als Illusion wie die Mçglichkeit, die Welt als Ganzes zu begreifen, whrend Atlas die Welt sogar „stemmen“ konnte. Diese Illusion hngt mit der Leistung des ,genialen Rennpferds‘ zusammen, das in seiner Formelhaftigkeit gleichzeitig Ausdruck unhinterfragter Grçßenvorstellungen ist. „Vielleicht ist es gerade der Spießbrger, der den Beginn eines ungeheuren neuen, kollektiven, ameisenhaften Heldentums vorausahnt? Man wird es rationalisiertes Heldentum nennen und sehr schçn finden.“ (MoE, S. 13)160 Das ameisenhafte Heldentum ist das unreflektierte Genie der Massenkultur, die Musil in den Nachlasskapiteln folgendermaßen charakterisiert hat: „Die Ernte wchst, und ihr Gehalt vermindert sich; als ob die Frchte nach Schatten schmeckten, wenn alle ste voll sind.“ (MoE, S. 1210) Ihre Grçße besteht vor allem im Anwachsen der Durchschnittlichkeit. Demgegenber urteilt Ulrich ber seine Versuche, ein bedeutender Mensch zu werden: Ich habe immer, und fast von Natur, daran geglaubt, daß der Geist, weil man seine Macht in sich fhle, auch dazu verpflichte, ihm in der Welt Geltung zu verschaffen. Ich habe geglaubt, daß es sich nur lohne, bedeutend zu leben, und habe mir gewnscht, niemals etwas Gleichgltiges zu tun. Und was fr die allgemeine Gesittung daraus folgt, mag hochmtig verzerrt aussehen, aber es ist unvermeidlich dies: Nur das Geniale ist ertrglich, und die Durchschnittsmenschen mssen gepreßt werden, damit sie es hervorbringen oder gelten lassen! (MoE, S. 1255) 160 Auch rationalisiertes Heldentum und Genie zeigen auf der Ebene der Gattung die Verknpfung der Muster von Bildungs und Großstadtroman an. Vgl. Ho nold, Die Stadt und der Krieg, S. 58.

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Da aber der Rang des Bedeutenden nicht mehr zu ermitteln ist und das Programm der Eigenschaftslosigkeit seine Stelle eingenommen hat, kann das Geniale nur noch im Gelingen liegen, fr das auch das Rennpferd antritt. Dieses Gelingen charakterisiert das Genie der Norm als Genie der Moderne. Es ist durch ein Zusammenspiel von individueller Bedeutung und Durchschnittlichkeit bestimmt, das eines der wesentlichen Motive fr Musils Auseinandersetzung mit dem modernen Sport bildet. Sein Interesse am Sport gilt einer Psychotechnik des Selbst, die das Bedeutende nicht mehr fassen kann, aber im Gelingen eine Form der Eigenheit gewahrt weiß, die sich einer sthetischen Selbstwahrnehmung verdankt und dem Bewusstsein entzieht.

3. Sport und Mystik Sowohl in den Sport-Essays als auch im Mann ohne Eigenschaften werden sportliche Erlebnisse explizit zu mystischem Erleben in Beziehung gesetzt. Diese Beziehung ist im Roman wesentlich reflexiv bestimmt und korrespondiert damit Musils Auseinandersetzung mit mystischen Erfahrungen, die sich vornehmlich der Rezeption mystischer Zeugnisse verdankt.161 Zu diesen Erlebnissen zhlt ein nchtlicher berfall auf Ulrich, der zunchst wie der Verkehrsunfall im 1. Kapitel als Ausdruck der Kontingenz großstdtischen Lebens erscheint.162 Analog zum Unfall, der von den Passanten schnell als technisches Problem und damit als ,ordnungsgemßer‘ Teil der Organisation modernen Lebens betrachtet wird, nimmt Ulrich den berfall als sportliches Problem wahr. Er erkennt in ihm einen „Grundzug der Kultur“ (MoE, S. 26), der seiner eigenen aggressiven Einstellung zum Leben durchaus entspricht. Nachdem er „bel zugerichtet“ nach Hause gekommen ist, lsst er das Geschehen noch einmal Revue passieren: 161 Vgl. von Heydebrandt, Die Reflexionen Ulrichs, S. 95; Werner Fuld: Die Quellen zur Konzeption des „anderen Zustands“ in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften, in: DVjs 50 (1976), S. 664 682, hier S. 666. 162 Insofern stimmt es nicht, dass Ulrich sich nicht auf die Großstadt einlsst, wie Becker meint, die ihm vorwirft, sich zu keinem Zeitpunkt in „die Niederungen des stdtischen Alltags, der alltglichen Ablufe“ zu begeben (Becker, Von der Trunksucht am Tatschlichen„, S. 156). Nur wird er von diesen ,Niederungen‘ gleich arg mitgenommen. In der Reflexion aber vermag er daraus ein beinah mystisches Erlebnis zu formen. Diese sthetische Selbstreflexivitt markiert zu gleich den Unterschied zur Neuen Sachlichkeit.

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Die drei Kçpfe waren plçtzlich vor ihm gestanden; er mochte in der spteinsamen Straße einen der Mnner gestreift haben, denn seine Gedanken waren zerstreut und mit etwas anderem beschftigt gewesen, aber diese Gesichter waren schon vorbereitet auf Zorn und traten verzerrt in den Kreis der Laterne. Da hatte er einen Fehler begangen. Er htte sofort zurckprallen mssen, als frchte er sich, und dabei fest mit dem Rcken gegen den Kerl stoßen, der hinter ihn getreten war, oder mit dem Ellenbogen gegen seinen Magen, und noch im selben Augenblick trachten mssen, zu entwischen, denn gegen drei starke Mnner gibt es kein Kmpfen. Statt dessen hatte er einen Augenblick gezçgert. (MoE, S. 25 f.)

Da Ulrich in Gedanken war, als er auf die geballte Aggression der Mnner stieß, konnte er nicht „sofort“, d. h. unmittelbar auf ihren Angriff reagieren. Er reagiert zwar schnell, aber nicht schnell genug, um noch zu entkommen, und so wird er angesichts der bermacht der Gegner niedergeschlagen. „Da nun der Fehler festgestellt war, den er begangen hatte, und nur auf sportlichem Gebiet lag, eben so, wie es vorkommt, daß man einmal zu kurz springt, schlief Ulrich, der noch immer vorzgliche Nerven besaß, ruhig ein […].“ (MoE, S. 26 f.) Die Konstruktion des sportlichen Fehlers ermçglicht es Ulrich auf der einen Seite, den berfall nicht als Angriff auf seine Person, sondern als Vorkommnis des modernen Lebens zu interpretieren. Er erscheint ihm als Ausdruck einer „Feindseligkeit“, von der „in unserem Menschenalter die Luft voll ist“ (MoE, S. 26), auf die er nur zu langsam reagiert hat. Dass er mit den Angreifern die feindselige Einstellung zum Leben teilt, lsst ihn den Kampf als sportliche Konkurrenz und nicht als berfall interpretieren.163 Damit trgt der „Fehler“ – hnlich wie der zu lange Bremsweg im 1. Kapitel – dazu bei, das berraschende Geschehen in die Ordnung des modernen Lebens zu integrieren, weshalb Ulrich beruhigt einschlafen kann. Auf der anderen Seite ist sein Fehlverhalten Ausdruck mangelnder Geistesgegenwart, die sich aus Ulrichs gespaltener Selbstwahrnehmung ergibt. So war er in Gedanken beschftigt unterwegs in der nchtlichen Stadt, unaufmerksam gegenber seiner Umgebung und auch gegen sich selbst, mit anderen Worten: er war „zerstreut“ (MoE, S. 25), whrend 163 Unter Bezugnahme auf Simmels Soziologie der Konkurrenz (1903) kann argu mentiert werden, dass es im Sport hnlich wie auf dem freien Markt nicht in erster Linie darum geht, gegen den Gegner zu kmpfen, sondern mit ihm. Ziel ist der gemeinsame Wettstreit. Vgl. Georg Simmel: Soziologie der Konkurrenz, in: Georg Simmel Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt/Main 1995, Bd. 7, S. 221 246. Zu Simmels Konkurrenzprinzip vgl. auch Eisenberg, „English Sports“, S. 56.

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seine Gegner schon „vorbereitet“ (MoE, S. 25) waren. Daher ist der sportliche Fehler auch ein Resultat zu geringer Aufmerksamkeit, die eine unmittelbare Reaktion verhindert. Diese berlegung verweist auf die Konzentration, die fr die Koordination von Bewegungen an der Grenze des Bewusstseins nçtig ist. In der Reflexion des berfalls als sportliche Auseinandersetzung verbirgt sich damit auch ein Hinweis auf einige Merkmale mystischen Erlebens, die im Sport zutage treten kçnnen. Zu diesen Merkmalen gehçren die von Ulrich beschriebene plçtzliche Lçsung einer Spannung und das „Entzcken“ ber die „entschwebenden Spiralen des Bewußtseinsverfalls“ (MoE, S. 27). Dieses „Entzcken“ hat er bereits whrend seiner Niederlage empfunden, so dass es ex post dazu beigetragen haben kann, den „Fehler“ auf sportlicher Ebene zu suchen. In dieser wechselseitigen Verknpfung deutet sich ein Zusammenspiel von sportlichem und mystischem Erleben an, das Ulrich im nchtlichen Gesprch mit Bonadea explizit herausstellt. a) Grenzflle Der berfall, den Ulrich auch als „Abenteuer“ (MoE, S. 25) erinnert, findet seine Fortsetzung in Gestalt einer „Retterin“, die sich „mit engelhaftem Gesichtsausdruck“ (MoE, S. 28) des aus der Bewusstlosigkeit erwachenden Ulrichs annimmt und ihn in ihrem Wagen nach Hause bringt. Ulrich wird sie „Bonadea“ nennen, die „gute Gçttin“ (MoE, S. 41).164 Rckblickend schildert der Erzhler ihre Begegnung, die dem Geschehen eine neue Wendung gibt. Durch die Gegenwart der liebevoll besorgten Frau rasch wieder zu sich kommend, fngt Ulrich nmlich zu ihrem großen Erstaunen an, den Vorfall zu verteidigen, und erklrt ihr, dass man „solche Kampferlebnisse“ nicht nach dem Erfolg beurteilen 164 Der Name entspricht ihrer Neigung, sich selbst zu erhçhen und ihre ehelichen Abschweifungen idealistisch umzudeuten. Ulrich denkt bei der Wahl des Namens Bonadea auch an eine „Gçttin der Keuschheit, die im antiken Rom einen Tempel besaß, der durch eine seltsame Umkehrung zum Mittelpunkt aller Ausschwei fungen geworden ist“ (MoE, S. 41). Diese Umkehrung wird auch Ulrich erleben. Dass der Erzhler Bonadeas brgerlichen Namen verschweigt, unterstreicht ihr abenteuerliches Leben jenseits brgerlicher Konventionen, das sie als Ehefrau eines anerkannten Juristen und Mutter zweier Kinder fhrt. Vgl. Neymeyr, Psychologie als Kulturdiagnose, S. 257 f. Ihre ,Namenlosigkeit‘ zeigt aber auch, dass Bonadea ein Muster reprsentiert, das ihre Weiblichkeit einerseits berhçht und ihr andererseits den Subjekt Status streitig macht.

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drfe. Damit setzt er das zuvor als „unglcklich verlaufene[n] Schlgerei“ (MoE, S. 28) bezeichnete Geschehen in ein vçllig anderes Licht: Ihr Reiz liegt auch wirklich darin, daß man in einem kleinsten Zeitraum, mit einer im brgerlichen Leben sonst nirgendwo vorkommenden Schnelligkeit und von kaum wahrnehmbaren Zeichen geleitet, so viele, verschiedene, kraftvolle und dennoch aufs genaueste einander zugeordnete Bewegungen ausfhren muß, daß es ganz unmçglich wird, sie mit dem Bewußtsein zu beaufsichtigen. Im Gegenteil, jeder Sportsmann weiß, daß man schon einige Tage vor dem Wettkampf das Training einstellen muß, und das geschieht aus keinem anderen Grund, als damit Muskeln und Nerven untereinander die letzte Verabredung treffen kçnnen, ohne daß Wille, Absicht und Bewußtsein dabei sein oder gar dareinreden drfen. (MoE, S. 28)

Wie bereits im letzten Kapitel dargelegt, hat Musil diesen Sachverhalt in beinah wçrtlicher bereinstimmung auch in seinem Essayfragment Durch die Brille des Sports geschildert. Doch lsst sich dieses Geschehen nicht nur physiologisch erklren. Es lsst sich auch auf der Folie mystischer Erlebnisse deuten, da in der „Verabredung“ von Muskeln und Nerven, also in der sich unbewusst vollziehenden Koordination des Bewegungsablaufs, der Ansatz zur Vernderung des normalen Bewusstseinszustands liegt. Durch die Schnelligkeit, mit der sich dieser Ablauf vollzieht, schaltet sich das Normalbewusstsein aus, so dass das Ich jede selbstbestimmte, zielfhrende Handlung im Sinne bewusster Aktivitt aufgeben muss. Damit gert es selbst in die Position desjenigen, der gefhrt wird: „Im Augenblick der Tat sei es dann auch immer so, beschrieb Ulrich: die Muskeln und Nerven springen und fechten mit dem Ich; dieses aber, das Kçrperganze, die Seele, der Wille, diese ganze, zivilrechtlich gegen die Umwelt abgegrenzte Haupt- und Gesamtperson wird von ihnen nur so obenauf mitgenommen […].“ (MoE, S. 28 f.) Der „Augenblick der Tat“, von dem Ulrich spricht, ist also durch eine dialektische Konstellation bestimmt: denn diese Tat ist nicht nur ein Tun, sondern auch ein Geschehen-Lassen, der Moment grçßter Aktivitt ist gleichzeitig ein Moment der Passivitt und der Hingabe. Dieser Augenblick wird gestçrt, sobald „der kleinste Lichtstrahl von berlegung in dieses Dunkel“ fllt (MoE, S. 29). Damit gewinnt – wie die von Musil gewhlte Metaphorik deutlich unterstreicht – der dunkle Bereich des Kçrpers und der Gefhle die berhand gegenber dem Licht der Reflexion und der Ratio. Etwas anders akzentuiert verwendet Musil die Hell-Dunkel-Metaphorik in Als Papa Tennis lernte. Dort heißt es: „Das Wesen des Ich leuchtet in den Erlebnissen des Sports aus dem Dunkel des Kçrpers empor, und auch sonst leuchtet dabei allerhand Dunkles

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[…].“165 Das Licht markiert hier nicht die Stçrung durch zuviel berlegung, sondern verdeutlicht als aktives Leuchten im passiven Dunkel vielmehr die Aufhebung der Grenze von Geist und Kçrper auf der einen und von Ich und Welt auf der anderen Seite. Der „Augenblick der Tat“ ist also im buchstblichen Sinn ein „Grenzfall“, denn die Grenze zwischen Aktivitt und Passivitt fllt mit der Grenze des Bewusstseins in jene Sprach- und Reflexionslosigkeit, die der rationalen Erkenntnis entzogen ist. Die Lichtmetaphorik verweist demgegenber auf ein sprachloses Erkennen,166 das in mystischen Texten auch als Augenblick „jher Erleuchtung“167 beschrieben wird. Wenn Musil im dritten Teil des Romans den Begriff der „taghellen Mystik“ whlt, um die Verbindung von Ratio und Mystik zu benennen, dann klingt darin genau dieses Leuchten an. Die skizzierte Sprach- und Reflexionslosigkeit erlaubt es Ulrich daher, das sportliche Erlebnis „der fast vçlligen Entrckung oder Durchbrechung der bewußten Person“ (MoE, S. 29) mit jenen verlorenen Erlebnissen in Beziehung zu setzen, die den Mystikern aller Religionen bekannt gewesen seien, und es sei sonach gewissermaßen ein zeitgençssischer Ersatz ewiger Bedrfnisse, und wenn auch ein schlechter, so immerhin einer; und das Boxen oder hnliche Sportarten, die das in ein vernnftiges System bringen, seien also eine Art von Theologie, wenn man auch nicht verlangen kçnne, daß das schon allgemein eingesehen werde. (MoE, S. 29)

Tatschlich gibt es bereinstimmungen zwischen den von Ulrich geschilderten „Kampferlebnisse[n]“ und den Beschreibungen mystischer Erlebnisse, die Musil in Martin Bubers Ekstatischen Konfessionen (1909/ 1921) gefunden hat.168 Dazu gehçren die Beschreibung der „Schnellig165 Musil, Als Papa Tennis lernte, S. 690. 166 Sprachlosigkeit ist eines der wesentlichen Kennzeichen mystischer Zustnde. Zur Rolle der Sprachkritik fr die Wiederentdeckung der Mystik zu Beginn des 20. Jahrhunderts vgl. Goltschnigg, Mystische Tradition, S. 21; Martina Wagner Egelhaaf: Mystik der Moderne. Die visionre sthetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1989, bes. S. 31 37. 167 Goltschnigg, Mystische Tradition, S. 154. 168 Bubers Anthologie bildet Musils wichtigste Quelle fr die Verarbeitung mysti scher Erlebnisse und fr die Auseinandersetzung mit Zeugnissen von Mystike rinnen und Mystikern im Roman, um die vor allem die „Heiligen Gesprche“ kreisen. Vgl. von Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs, S. 96 und S. 220, Anm. 4. Goltschnigg nennt Bubers Sammlung sogar die „einzige Quelle“ fr den Roman. Vgl. Goltschnigg, Mystische Tradition, S. 61; vgl. dazu kritisch Rein hardt, Religion und moderne Kunst, S. 27 f. und Spreitzer, Moderne mit Tra dition?, S. 169 171.

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keit“ der Erkenntnis, das Gefhl des Mitgenommenwerdens der Seele und die damit verbundene Koordination des Bewegungsablaufs, die sich ohne „Absicht“ des Bewusstseins vollzieht.169 So heißt es in den Ekstatischen Konfessionen aus den Zeugnissen von Teresa von Jesu (1515 – 1582): Der Unterschied, der zwischen der Verzckung und der Hinwegfhrung besteht, ist dieser, daß in der Verzckung die Seele allmhlich den ußeren Dingen abstirbt, die Sinne verliert und Gott lebt; die Hinwegfhrung aber findet sich mit einer einzigen Erkenntnis ein, die Gott mit einer solchen Schnelligkeit dem Innersten der Seele eingibt, daß es scheint, ihr hçherer Teil werde entfhrt; es dnkt sie, er enthebe sich dem Leibe.170

Und von Jeanne Marie Bouvires de la Mothe Guyon (1648 – 1717) berliefert Buber folgendes Bekenntnis: Einst war Gott wie in mir eingeschlossen, und ich war mit ihm in meinem Grunde vereinigt; dann aber war ich wie untergegangen in dem Meer. Ehemals verloren sich wohl die Gedanken und die Absichten, aber in einer, wiewohl wenig, bemerkbaren Weise, die Seele ließ sie fallen, und das ist noch ein Tun; dann aber waren sie mir verschwunden, und in einer so nackten, so reinen, so verlorenen Art, daß die Seele keinerlei eignes Tun hat, so einfach und zart es auch sei; zumindest keines, das zu ihrer Kenntnis geraten kçnnte…171

Im Vergleich dieser Zeugnisse mit Ulrichs Schilderung gegenber Bonadea, aber auch mit der Sportdarstellung in Musils Essays zeigt sich, dass insbesondere die bermacht der kçrperlichen Bestimmtheit, die automatisierte Bewegungsablufe auszeichnet, nicht nur in der Physiologie, sondern auch in mystischen Bekenntnissen ein Vorbild hat. So heißt es in Als Papa Tennis lernte ber die Wirkung sportlicher bung und Wiederholung: „[…] man wird in dieser Art beim Training von seinem Kçrper gleichsam an der Nase weiter gefhrt.“172 Dieser „Durchbruch“ durch die bewusste Person verbindet sportliches und mystisches Erleben, weil in der Bewegung von Geist und Kçrper die Grenzen des Ich berschritten werden. In diesem Zusammenhang ist an die begriffliche Verknpfung von Gefhl und Bewegung – durch das lateinische motio – zu 169 Vgl. zu den Belegstellen in Bubers Ekstatischen Konfessionen auf Grundlage der von ihm geleisteten synoptischen bersicht Goltschnigg, Mystische Tradition, S. 104 f. und S. 108 f. 170 Martin Buber: Ekstatische Konfessionen, Leipzig 1923 [zuerst 1909; vernderte Neuausgabe Leipzig 1921], S. 147. 171 Buber, Ekstatische Konfessionen, S. 158 f. 172 Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 689.

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erinnern, die in sprachlichen Ausdrcken wie ,Ergriffenheit‘ oder ,Berhrtsein‘ deutlich ,sprbar‘ ist.173 Dies gilt auch fr den mystischen Begriff der ,Entrckung‘, den Musil gleichfalls als Umschreibung des grenzberschreitenden, sportlichen Erlebens gewhlt hat. Er hebt die Dezentrierung des Subjekts als rumliche Entgrenzung besonders deutlich hervor. Damit kann die Erfahrung des Kçrpers im Sport in Analogie zum Grunderlebnis der unio mystica, der Aufhebung der Grenze zwischen Ich und Welt, interpretiert werden. Dieser Grenzerfahrung gilt Ulrichs Sehnsucht, die er auf sich allein gestellt aber nur im Kampf erleben kann. Die ihn kennzeichnende Spannung zwischen Aggression und Hingabe wird dadurch noch einmal unterstrichen: „Er sehnte sich manchmal danach, in Geschehnisse verwickelt zu sein wie in einen Ringkampf, und seien es sinnlose oder verbrecherische, nur gltig sollten sie sein. Endgltig, ohne das dauernd Vorlufige, das sie haben, wenn der Mensch seinen Erlebnissen berlegen bleibt.“ (MoE, S. 738) Durch diesen Wunsch hat er eine von der Musil-Forschung bislang noch nicht wahrgenommene ,Zwillingsschwester‘ in Fleißers RomanProtagonistin Frieda Geier, die nicht nur Ulrichs kmpferische Lebenseinstellung, sondern auch seine Sehnsucht nach dem letztgltigen Kampf mit den Grenzen teilt.174 Auch ihr gilt der Sport dafr als geeignetes Mittel. Frieda whlt sich einen sportlichen Partner, um diesen Kampf als Paar – darin Ulrich und Agathe durchaus vergleichbar – aufzunehmen.175 173 Zum Zusammenhang von Gefhl, Bewegung und der ,Leiblichkeit‘ von Ge fhlen vgl. Claudia Benthien, Anne Fleig, Ingrid Kasten: Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Emotionalitt. Zur Geschichte der Gefhle, Kçln, Weimar, Wien 2000, S. 7 20, hier S. 11. 174 Marieluise Fleißer: Mehlreisende Frieda Geier. Roman vom Rauchen, Sporteln, Lieben und Verkaufen, Berlin: Gustav Kiepenheuer 1931. Ein Auszug aus Fleißers Roman erschien 1932 unter der berschrift „Schaukampf in Nrnberg“ im selben Querschnitt Heft wie Musils Essay Kunst und Moral des Crawlens. Vgl. Marieluise Fleißer: Schaukampf in Nrnberg, in: Der Querschnitt 12 (1932), S. 423/24. Musil kannte und schtzte den Roman, wie sich aus einer Notiz im Nachlass, vielleicht einem Briefentwurf, schließen lsst: „Lesen Sie brigens den reizenden Roman: …. Da wird ein Meistercrawler Mann:: mit Hilfe der wit zigsten Augen:: von einer *beraus* / *ausnehmend* begabten Frau beschrieben“ (Musil, Nachlass, Mappe VII/14/17). Marieluise Fleißer hat ihren Roman fr die Ausgabe der Gesammelten Werke berarbeitet und den Titel gendert. Vgl. Marieluise Fleißer: Eine Zierde fr den Verein, in: Gesammelte Werke, hg. von Gnther Rhle, Frankfurt/Main 1972, Bd. 2, S. 9 204. 175 Zur Verbindung von Sportlichkeit, Liebe und Religiositt sowie dem damit verbundenen Spiel mit den Geschlechterrollen vgl. Anne Fleig: Leibfromm. Der

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Doch Gustl, der lokale Schwimmstar, ist nicht bereit, „das Unglaubliche“ wahrzumachen.176 Frieda hingegen, die „ber das Irdische erhaben“ ist,177 geht plçtzlich „ein Licht auf, warum Grçßen dieser Art nie ganz nach oben kommen, sondern Lokalgrçßen bleiben.“178 Ihre plçtzliche und leuchtende Erkenntnis setzt sie in direkten Gegensatz zu ihrem Geliebten: „Sie haben eine natrliche Einstellung zu Hindernissen, sind erdgefangen. Aber es hat zu allen Zeiten letztgltigere Kmpfe mit den Grenzen gegeben.“179 Mit diesen Stzen spricht Frieda Geier ihren Wunsch nach mystischer Entgrenzung deutlich aus. Als scharfsinnige Vertreterin unkonventioneller Rationalitt teilt sie Ulrichs Versuch, Rationalitt und Mystik zu vereinen. Als Mittel zum Zweck wird der Sport dabei zum modernen „Ersatz fr ewige Bedrfnisse“ (MoE, S. 29). Auch in Durch die Brille des Sports hat Musil vorgeschlagen, den Sport in Bezug auf die mystischen Bedrfnisse des modernen Menschen zu sehen: „Ich habe gelesen, daß das in Amerika schon mit Erfolg geschieht, u. da der Mensch in seinen Zeitungen viel mehr vom Sport liest als von der Theologie, ist das sehr begreiflich.“180 Ulrich betrachtet die Theologie als Systematisierung und Rationalisierung mystischer Erfahrungen,181 was sie mit dem Sport verbindet. Auch der Sport rationalisiert mystische Bedrfnisse, indem er ein funktionales Surrogat bietet. Dieser Zusammenhang wird durch den Hinweis auf „Amerika“, das Zentrum wissenschaftlicher Betriebsfhrung und Chiffre rationaler Modernitt, noch unterstrichen. So lsst auch Fleißer ihre Protagonistin wissen: „Mystik und Amerika liegen dicht nebeneinander.“182 In diesem Kontext ist an Musils Essay Kunst und Moral des Crawlens zu erinnern, in dem es ber das Kraulschwimmen heißt, dass der Stil zu einem „Ersatz“ fr die Normierung werde.183 Damit tritt noch einmal die Doppelsinnigkeit jener Spannung hervor, die Musil zufolge den Sport als Selbsttechnik charakterisiert: er ist Teil der Rationalisierungskultur und bildet gleichzeitig die Grundlage mystischer Erlebnisse. Der Sport bringt

176 177 178 179 180 181 182 183

Sportkçrper als Erlçser in Marieluise Fleißers Eine Zierde fr den Verein, in: Erika Fischer Lichte (Hrsg.): Theatralitt und die Krisen der Reprsentation, Stuttgart, Weimar 2001, S. 447 462. Fleißer, Mehlreisende Frieda Geier, S. 167. Fleißer, Mehlreisende Frieda Geier, S. 27. Fleißer, Mehlreisende Frieda Geier, S. 168. Fleißer, Mehlreisende Frieda Geier, S. 168. Musil, Durch die Brille des Sports, S. 793. Vgl. Goltschnigg, Mystische Tradition, S. 129. Fleißer, Mehlreisende Frieda Geier, S. 25. Vgl. Musil, Kunst und Moral des Crawlens, GW II, S. 697.

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damit jene skularisierte Mystik zum Ausdruck, auf deren Wegen Ulrich „mit einem Kraftwagen“ (MoE, S. 751) fahren will.184 Dynamik und Automatik dieser Bewegungsablufe fhren allerdings gleichzeitig dazu, dass die Erlebnisse des Sports flchtig sind und den Zustand der mystischen Einheit oder Entrckung allenfalls streifen. Die sportliche Bewegung, die an ihn heranreicht, ist daher – wie Ulrich explizit deutlich macht – selbst kein Zustand, sondern nur ein „Augenblick“. Sie bleibt im Stadium der Annherung: ein Kampf mit den Grenzen. Damit kann das sportliche Erleben nicht nur bezogen auf den Verlust des Bewusstseins, sondern auch auf Musils Essay Anstze zu neuer sthetik als „Grenzfall“ gedeutet werden.185 Dass der Begriff des ,Grenzfalls‘ eine mathematische und eine mystische Bedeutung hat,186 unterstreicht in diesem Zusammenhang das sthetische Erlebnis des Sports als Schnittmenge eines Geschehens, das psychotechnisch durchformt und mystisch zugleich ist. b) Europa auf dem Stier Die von Ulrich geschilderten Bezge zwischen sportlichem und mystischem Erleben werden nach dem nchtlichen berfall durch Bonadea buchstblich hervorgerufen. Ihr Erscheinen dient gleichzeitig als Negativfolie fr den angestrebten Kampf mit den Grenzen. Bonadeas Gegenwart ist „seicht und erweckend wie Kçlnisch-Wasser“ (MoE, S. 28), reicht aber aus, um Ulrichs Mnnlichkeit in ,Gang‘ zu setzen, denn als erstes versucht er nun, auf die Beine zu kommen. Ihrer duftigen Ambivalenz – „seicht und erweckend“ – vermag sich Ulrich nicht zu entziehen. Seine ,Erweckung‘ folgt damit einem Reiz-Reaktions-Schema, dem der Erzhler ironisch den herbfrischen Beigeschmack von Reklame gibt.187 184 Auch in Durch die Brille des Sports hat Musil das Steuern „eines sehr schnell fahrenden Kraftwagens“ in den Kontext mystischer Erlebnisse gerckt. Vgl. Musil, Durch die Brille des Sports, GW II, S. 793. 185 Vgl. Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1154. 186 Vgl. Goltschnigg, Mystische Tradition, S. 67. 187 ,Kçlnisch Wasser‘ ist ein frischer Duft, der laut seinem Erfinder Johann Maria Farina (1685 1766) die Sinne und die Phantasie bestrkt. Bis zum Ersten Weltkrieg war Eau de Cologne ein exklusiver Duft, der vor allem von Adel und Großbrgertum getragen wurde. Durch industrielle Fertigungsmethoden begann sich das wesentlich billigere Konkurrenzprodukt ,4711‘ durchzusetzen, das nach dem Krieg einen bis dahin nicht gekannten Verbreitungsgrad erreichte. Dass Bonadea in einer zarten „Wolke“ von „Kçlnisch Wasser“ erscheint, unterstreicht

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Da Ulrich noch ,angeschlagen‘ ist,188 gewhrt ihm Bonadea Platz in ihrem Wagen, eine Geste, die symbolisch einer sexuellen Offerte gleichkommt und auch so gemeint ist. Ulrich fhlt sich im Wagen gut aufgehoben und durch eine „zarte Wolke“ ihrer Hilfsbereitschaft, ihrer Schçnheit und ihrer „Angst vor einer unberlegten Handlung“ selbst „wieder Mann“ (MoE, S. 28) werden. Herausgefordert durch ihr Mitleid, erklrt er den berfall kurzerhand zum reizvollen Kampferlebnis. Damit versucht Ulrich zunchst, die in dieser Situation ins Wanken geratene Geschlechterordnung wiederherzustellen, denn Bonadeas Aktivitt als ,Retterin‘ fordert seine ,mnnliche‘ Strke heraus. Abermals nutzt Ulrich die „Maske des Sports“ als Strategie der Selbstbehauptung, die hier im Gewand der Rhetorik erscheint. Diese Strategie dient sowohl der Aufwertung des Vorgefallenen als auch der geistreichen Verdeckung seines derangierten ußeren. Gleichzeitig wird Ulrichs Reflexion des sportlichen „Abenteuers“ an die Gegenwart eines weiblichen Gegenbers gebunden, was zum einen auf die Konstellation des mystischen Paares anspielt, zum anderen an Kleists Aufsatz ber die allmhliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (1805/06) erinnert.189 So gelingt in der Begegnung mit Bonadea, was in der Kampfsituation zunchst den eleganten Charakter des Duftes. Dass er gleichzeitig als „seicht“ charakterisiert wird, deutet auf seine allgemeine Verbreitung in den zwanziger Jahren und die Banalitt der Begegnung zwischen Ulrich und Bonadea voraus, die schließlich auch zum Ende der Beziehung fhrt. Zur Geschichte des Duftes ,Kçlnisch Wasser‘ vgl. Oh! De Cologne. Die Geschichte des Kçlnisch Wasser, hg. von Werner Schfke, Kçln 1985. Zur Werbung fr ,4711‘ vgl. auch das Kapitel zum Querschnitt in dieser Arbeit, Anm. 23. 188 Diesen „boxerischen“ Ausdruck benutzt der Erzhler im Roman an einer Stelle, um Diotimas zunehmend aufgelçsten Zustand zu beschreiben. Vgl. Musil, MoE, S. 465. 189 Vgl. Heinrich von Kleist: ber die allmhliche Verfertigung der Gedanken beim Reden [1805/06], in: Smtliche Werke und Briefe in vier Bnden, Bd. 3: Er zhlungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften, hg. von Klaus Mller Salget, Frankfurt/Main 1990, S. 534 540. Zur Bedeutung des Kleist Aufsatzes fr den Essayismus im Mann ohne Eigenschaften, die im Ereignis des Erkennens liegt, vgl. Phillan Joung: Passion der Indifferenz. Essayismus und essayistisches Verfahren in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“, Mnster 1997, S. 18. Zum Text selbst vgl. Wolfram Groddeck: Die Inversion der Rhetorik und das Wissen von Sprache. Zu Heinrich von Kleists Aufsatz „ber die allmhliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“, in: Marianne Schuller/Nikolaus Mller Schçll (Hrsg.): Kleist lesen, Bielefeld 2003, S. 101 116; Peter Philipp Riedl: Die Macht des Mndlichen. Dialog und Rhetorik in Heinrich von Kleists ber die allmhliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, in: Euphorion 98 (2004), H. 2, S. 129 151.

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nicht gelang: die sofortige Mobilisierung von Aufmerksamkeit und Geistesgegenwart. Ulrichs Rede setzt – hierin Kleists Text vergleichbar – in Szene, was sie gleichzeitig zu behaupten sucht. Dies gilt zum einen fr den Zustand der Kontemplation, dessen Bewegungs- und Gedankenfluss nicht unterbrochen werden darf, um den mçglichen „Augenblick der Tat“ nicht zu stçren. Zum anderen gilt dies fr die Reflexion des Gegenbers als Adressatin der Rede, die im Inhalt des Gesagten selbst thematisch wird, als Ulrich vom Sport auf die Liebe zu sprechen kommt. Mit dem Verweis auf die Liebe als Hauptquelle mystischen Erlebens unterstreicht Ulrich zunchst die mystische Seite des sportlichen Kampferlebnisses. Liebe und Sport gehçrten, so Ulrich, zu den „religiçsen und gefhrlichen Erlebnissen“ (MoE, S. 29), da sie den Menschen aus den „Armen der Vernunft“ zu heben und ihn „in einen wahrhaft grundlos schwebenden Zustand“ (MoE, S. 29) zu versetzen vermçgen. Das Ich werde schließlich im Sog dieser Bewegung nur noch mitgenommen wie „Europa, die auf dem Stier sitzt“ (MoE, S. 29). Der Hinweis auf Europa auf dem Stier unterstreicht, dass Ulrichs Eifer gegenber Bonadea in mehrfacher Hinsicht durch geschlechtsspezifische Implikationen aufgeladen ist. Das Gesprch dient nicht nur der Wiederherstellung seiner durch den Kampf angefochtenen Mnnlichkeit, der Bezug auf Europa dient auch ihrer Besttigung, indem sich Ulrich in die Position des Verfhrers begibt. Diese Strategie folgt dem Muster ,Angriff ist die beste Verteidigung‘ und ihr Erfolg zeigt sich bereits daran, dass Bonadea meint, einen „sehr geistvollen Mann“ gerettet zu haben, wenngleich sie sich zunchst nicht ganz sicher ist, ob er nicht vielleicht eine „Gehirnerschtterung“ (MoE, S. 29) erlitten habe. Als Verfhrung lsst sich die Szene auch deshalb interpretieren, weil Bonadea den auf der Straße liegenden Ulrich zu ihren Fßen findet wie Europa den als Zeus verkleideten Stier. Doch bereits ihre erste Annherung setzt die scheinbar verkehrte Hierarchie der Geschlechter wieder ein, denn als sich der Stier erhebt, ist Europa verloren. Ulrichs Deutung von Sport und Liebe folgend, versagt die in ihrer Hilflosigkeit weiblich konnotierte ,europische‘ Vernunft angesichts der bermchtigen Prsenz eines Gottes, der seinen Kçrper mit der Maske des Sports – in Gestalt des kraftvollen Stiers – bedeckt hat. Aufgrund dieser klaren Zuordnung der Dichotomie von Aktivitt und Passivitt kann zwar von einer Umkehrung der Geschlechterrollen in Gestalt der ,weiblichen‘ Vernunft und des

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,mnnlichen‘ Kçrpers keine Rede sein,190 wohl aber kann der Stier als ein weiteres Beispiel dafr verstanden werden, dass sich Ulrichs buchstblich erschtterte Mnnlichkeit zu ihrer Restitution der Maskerade bedient. Zwar wagt Bonadea gegen Ulrichs ,Liebesworte‘ immerhin den Einwand, dass Sport „roh“ sei, wodurch sie sich ganz auf der Hçhe der Zeit prsentiert – greift dieses Stichwort doch unter anderen die Debatten ber das Boxen im Querschnitt auf: Gewiß, beeilte sich Ulrich, es zuzugeben Sport sei roh. Man kçnne sagen, der Niederschlag eines feinst verteilten, allgemeinen Hasses, der in Kampfspielen abgeleitet wird. Man behaupte natrlich das Gegenteil, Sport verbinde, mache zu Kameraden und dergleichen; aber das beweise im Grunde nur, daß Roheit und Liebe nicht weiter von einander entfernt seien als der eine Flgel eines großen bunten stummen Vogels vom andern. (MoE, S. 29)

Ulrich nimmt den Hinweis auf den zeitgençssischen Sportdiskurs auf, gibt ihm aber eine andere Wendung: Denn Rohheit und Liebe weisen auf Ulrichs Gleichnis von den Bumen „Gewalt und Liebe“ (MoE, S. 591) voraus, das ihn selbst charakterisiert und seine Reflexionen bndelt. Das Bild von den beiden Bumen und das Bild der beiden Flgel des Vogels stimmen darin berein, dass Rohheit und Gewalt auf der einen und Liebe auf der anderen Seite Teil eines Zusammenhangs sind, dessen Spannung der Sport ebenso auflçsen kann wie der „Traum“ oder „Ahnungen der Kunst und Religion“ (MoE, S. 593).191 Die beiden Bume bringen die Zerrissenheit seiner Existenz zum Ausdruck, die Ulrich durch ein verndertes Erleben zu berwinden sucht. Gleichzeitig kommt er mit diesem Bild auf den ,gefhrlichen‘ Schwebezustand zurck, der die Menschen aus den „Armen der Vernunft“ (MoE, S. 29) hebt. Damit lsst sich nicht zuletzt die Sage von Europa selbst als Hinweis auf den Zusammenhang zwischen Gewalt und Liebe deuten, den Ulrich postuliert hat. Whrend sich Bonadea angeregt durch Ulrichs Geistesgegenwart wie weicher „Schneefall“ (MoE, S. 30) in ihrem Wagen immer weiter auszubreiten – und damit aufzulçsen – scheint, was als der eigentliche Bewusstseinsfall im Rahmen ihrer Begegnung zu interpretieren ist, nutzt

190 Vgl. dagegen Ott, „Unsere Hoffnung grndet sich auf das Sportpublikum“, S. 468. 191 Ulrich gilt der Traum als Analogie zum ,anderen Zustand‘, der das Verhltnis von Menschen und Welt verndert. Nach Lucien Lvy Bruhl, auf den sich Musil in Anstze zu neuer sthetik beruft, ist der Traum Teil der ,Partizipation‘. Vgl. dazu von Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs, S. 106 f.

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Ulrich ihren „Zustand von Schwche“ (MoE, S. 25), um zum direkten Angriff berzugehen: Da wandte er sich ihr ganz zu und fragte, ob sie vielleicht eine Abneigung habe, von solchen kçrperlichen Fragen zu sprechen? Das kçrperliche Treiben komme ja wirklich schon zu sehr in Mode, und im Grunde schließe es ein grauenvolles Gefhl ein, weil der Kçrper, wenn er ganz scharf trainiert sei, das bergewicht habe und auf jeden Reiz ohne zu fragen, mit seinen automatisch eingeschliffenen Bewegungen so sicher antworte, daß dem Besitzer nur noch das unheimliche Gefhl des Nachsehens bleibt, whrend ihm sein Charakter mit irgendeinem Kçrperteil gleichsam durchgeht.“ (MoE, S. 30)

Hier tritt noch einmal Ulrichs rhetorisch-performative Strategie deutlich hervor, die ganz im Sinne der Sprechakt-Theorie den Inhalt der Rede zur Handlung macht, eine Strategie, die denn auch ihre Wirkung auf Bonadea nicht verfehlt, die erregt ein Stckchen abrckt. In diesem „Augenblick der Tat“ – der Verfhrung im Wortsinn – verwandelt sich Bonadea in „Europa, die auf dem Stier sitzt“ und, aus „den Armen der Vernunft“ (MoE, S. 29) gehoben, nur „so obenauf mitgenommen“ (MoE, S. 29) wird. Damit erhlt nicht nur der „Zustand von Schwche“, den die berschrift des Kapitels annonciert, eine doppelte Bedeutung, denn schließlich ist es Bonadea, die ,schwach‘ wird, whrend sich Ulrich als Eroberer profiliert. Dieser doppelte Zug verweist auch auf ein Problem in Ulrichs Argumentation: Denn indem er den ,Augenblick der Tat‘ als unbewusst ablaufendes Zusammenspiel von Muskeln und Nerven zum Moment der Entrckung erklrt, versucht er Sport und Sexualitt zu rationalisieren, was der Sprachlosigkeit und Unsagbarkeit mystischen Erlebens widerspricht. Dass sich dieses erkenntnistheoretische Problem kaum lçsen lsst, zeigt der gesamte Roman. Auch in der erotisch aufgeladenen Begegnung zwischen Ulrich und Bonadea gibt es potenziell mystisches Erleben – zumal Bonadea als Engel erscheint, der die mystische Qualitt des berfalls erst hervortreten lsst –, zugleich ist ihr Zusammentreffen genau durch jenen „Mechanismus“ (MoE, S. 30) geprgt, der sich automatisch einstellt und so leicht erklrbar ist, dass Bonadea heftig errçtet. Diese rationale Mystik bedeutet sogar eine Gefahr, weil sie Mode geworden ist – sei es in der Sexualitt oder im Sport192 – und damit zu jenen 192 Zum Zusammenhang von Sexualitt und Sport stellte Alfred Dçblin nchtern fest: „Es ist eine allgemeine Gleichgltigkeit in Liebes und Geschlechtsdingen eingerissen, die Liebe hat einen Fußtritt bekommen […]. Und so sehen wir denn

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vorgefertigten Ablufen und Schablonen beitrgt, die Ulrich berwinden will. Sein Lcheln193 ber ihre Erregung unterstreicht, dass diese Begegnung zu jenen vorlufigen Erlebnissen gehçrt, denen sich Ulrich „berlegen“ (MoE, S. 738) fhlt, whrend Bonadea tatschlich nur das „unheimliche Gefhl des Nachsehens“ (MoE, S. 30) bleibt. Die „automatisch eingeschliffenen Bewegungen“ schalten zwar das Bewusstsein aus, fllen aber die Seele nicht mit neuen Erlebnissen. Die ,Nutzlosigkeit‘ solcher Liebesbeziehungen hat auch Agathe – Bonadeas Nachfolgerin – kennengelernt: Mnner waren eine Ergnzung und Vervollstndigung des eigenen Kçrpers, aber kein seelischer Inhalt; man nahm sie, wie sie einen nahmen. […] Es fiel ihr ein, daß Ulrich in hnlicher Weise von der Nutzlosigkeit seines Sports gesprochen habe, und whrend sie ihr Gesicht zwang, abgewandt am Fenster zu bleiben, nahm sie sich vor, ihn auszufragen. (MoE, S. 732)194

Obwohl es Bonadea zunchst gelingt, Ulrichs nchtliches „Abenteuer“ ihrerseits fortzusetzen, wird gerade sie seinen berdruss an den eingeschliffenen Mustern des Gefhllebens zu spren kommen und noch mehrfach jenes ,Nachsehen‘ haben, das sie schon zu Beginn ihrer Bekanntschaft hat, als sie ihn vor seinem Haus verabschiedet. So zeigt diese Begegnung, dass ein Kraftwagen vielleicht doch nicht das geeignete Vehikel ist, um die Wege der Mystiker zu befahren. Denn er ist „wie Automobilrasen, Fliegen [,] aller Sport“195 nur ein ,Ersatz‘ fr die mystischen Bedrfnisse der Moderne.

viele Jnglinge und Jungfrauen verschiedener Altersstufen sich heute bewegen, sie berschtzen die Sache nicht, unterschtzen sie auch nicht, sind weder von Kopf bis Fuß, noch in umgekehrter Richtung auf Liebe eingestellt, aber sie spielen Tennis, fahren Auto, tanzen, stempeln, treiben Politik und lieben (gebrauchen wir einmal das harte Wort): ,Sie sporteln Sexualitt.‘“ (Alfred Dçblin: Sexualitt als Sport?, in: Der Querschnitt 11 (1931), H. 11, S. 760 762, hier S. 761.) Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Untertitel des Romans von Fleißer: „Roman vom Rauchen, Lieben, Sporteln und Verkaufen.“ 193 Zu Ulrichs ,Lcheln‘ als Ausdruck einer ironischen Haltung vgl. Honnef Becker, Ulrich lchelte, S. 137 139. 194 Daher ist davon auszugehen, dass Musil trotz der bekannten Entwrfe auf den Inzest der Geschwister verzichten wollte. Vgl. dazu Fuld, Die Bedeutung der Formel, S. 677. 195 Vgl. Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 350.

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c) Der Abenteurer des modernen Lebens Wie bereits erwhnt, wird der nchtliche berfall auf Ulrich zwei Mal als „Abenteuer“ charakterisiert.196 In seiner Verschrnkung von sportlichem und erotischem Abenteuer knpft diese Charakterisierung unmittelbar an Simmels Essay ber das Abenteuer an und lsst zugleich den Mann ohne Eigenschaften als Abenteurer erscheinen. Das Abenteuer fllt aus dem Zusammenhang des Lebens heraus, ist aber laut Simmel mit dem Zentrum der eigenen Existenz durch eine Bewegung verbunden, die es vom Einbruch des bloß Zuflligen unterscheidet.197 Diese Bewegung reflektiert Ulrich, als er die unerwartete, zufllige Prgelei mit mystischen Erlebnissen vergleicht. Sie macht das Außerhalb zu einer „Form des Innerhalb“.198 In der Erinnerung bekomme das Abenteuer daher, so Simmel, leicht die „Frbung eines Traumes“,199 ein Merkmal, das bei Ulrichs Abenteuer durch das nchtliche Geschehen und der Erinnerung vor dem Einschlafen unterstrichen wird. Dieses Erinnern gleicht nicht nur jenem Verlust des Bewusstseins, den er schon whrend des berfalls erlebt hat,200 sondern auch dem bergang in den ,anderen‘ Zustand. Teilt das Abenteuer mit dem Kunstwerk sein radikales Zu-Ende-Sein, das durch klare Abgrenzungen bestimmt ist,201 so teilt es Simmel zufolge mit dem Spiel, dass Zuflliges Sinn erhlt. Und so lßt auch der Abenteurer den außerhalb der einheitlichen, von einem Sinn gelenkten Lebensreihe stehenden Zufall dennoch irgendwie von diesem umfaßt sein. Er bringt ein zentrales Lebensgefhl auf, das sich durch die Exzentrizitt des Abenteuers hindurchleitet, und gerade in der Weite des Abstandes zwischen seinem zuflligen, von außen gegebenen Inhalt und dem zusammenhaltenden, sinngebenden Zentrum der Existenz eine neue, bedeutungsvolle Notwendigkeit seines Lebens herstellt. Zwischen Zufall und Notwendigkeit, zwischen dem Fragmentarischen ußerer Gegebenheit und der einheitlichen Bedeutung des von innen her entwickelten Lebens spielt ein ewiger Prozeß in uns, und die großen Formen, in denen wir die Inhalte 196 Vgl. Musil, MoE, S. 25; S. 30. 197 Vgl. Simmel, Das Abenteuer, S. 169. 198 Simmel, Das Abenteuer, S. 169. Das Außerhalb als Innerhalb entspricht der Figur der Inversion, die die Musil Forschung genau beschrieben hat. Vgl. von Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs, S. 99; Goltschnigg, Mystische Tradition, S. 123. 199 Simmel, Das Abenteuer, S. 169. 200 Vgl. Musil, MoE, S. 27. 201 Vgl. Simmel, Das Abenteuer, S. 170.

Sport und Mystik

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des Lebens gestalten, sind die Synthesen, die Antagonismen oder die Kompromisse jener beiden Grundaspekte.202

Im Zusammenspiel von ußerem Zufall und innerer Notwendigkeit zielt das Abenteuer auf ein Drittes, auf das unvergleichliche Erlebnis. Umgekehrt kann das ganze Leben von diesem Verhltnis erfasst und dadurch zum Abenteuer werden.203 Dem entspricht eine „einzigartige Attitde zum Leben“, die sich ber die einzelnen Abenteuer im Sinne einer Totalitt erhebt.204 Durch seine implizite Doppelfunktion als Haltung zum Leben und als poetologisches Prinzip205 lsst sich das Abenteuer in Analogie zu Ulrichs Sportpraxis verstehen. Denn der Abenteurer „behandelt das Unberechenbare des Lebens“, als wre es berechenbar.206 Dem entspricht zunchst Ulrichs morgendliches Training am Boxball: „Eine Stunde tglich, das ist ein Zwçlftel des bewußten Lebens, und sie gengt, um einen gebten Leib in dem Zustand eines Panthers zu erhalten, der jedes Abenteuers gewrtig ist; aber sie wird hingegeben fr eine sinnlose Erwartung, denn niemals kommen die Abenteuer, die einer solchen Vorbereitung wrdig wren.“ (MoE, S. 46) Als Ulrich Urlaub vom Leben nimmt, stellt er daher das Training ein. Im Horizont seiner gescheiterten Hoffnungen und Erwartungen wird die alltgliche Vorbereitung sinnlos. Der Urlaub vom Leben kann jedoch als geistiges Training verstanden werden, das jener Haltung des Abenteurers entspricht, die Simmel zufolge Gewissheit mit Skeptizismus korreliert: Denn „wem das Unwahrscheinliche wahrscheinlich ist, dem wird leicht das Wahrscheinliche unwahrscheinlich“.207 In diesem Wechselbad ergreift der Abenteurer „die schwebende Chance“,208 die zwischen Eroberung und Hingabe liegt und der selbstreflexiven Konzeption des Urlaubs vom Leben entspricht. Als Form der Synthese vermittelt das Abenteuer laut Simmel zwischen Aktivitt und Passivitt, zwischen Mnnlichkeit und Weiblichkeit.209 Die Haltung des Abenteurers unterstreicht Ulrichs Aktivitt 202 203 204 205 206 207 208 209

Simmel, Das Abenteuer, S. 172. Vgl. Simmel, Das Abenteuer, S. 173. Vgl. Simmel, Das Abenteuer, S. 173. Vgl. Matthias Christen: Essayistik und Modernitt. Literarische Theoriebildung in Georg Simmels Philosophischer Kultur, in: DVjs 66 (1992), H. 1, S. 129 159, hier S. 131. Simmel, Das Abenteuer, S. 175. Simmel, Das Abenteuer, S. 176. Simmel, Das Abenteuer, S. 175. Vgl. Simmel, Das Abenteuer, S. 174; S. 177.

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Genie der Norm: Der Mann ohne Eigenschaften

ebenso wie seine kmpferische bzw. erobernde Einstellung zum Leben, sie fordert aber gleichzeitig Hingabe an das Unberechenbare, das Ulrich in der Kontingenz der Moderne begegnet. Darum lsst sich Simmels Charakteristik des Abenteurers auf Ulrich als Abenteurer des modernen Lebens bertragen: Der Abenteurer verlßt sich zwar in irgendeinem Maße auf die eigene Kraft, vor allem aber auf das eigene Glck, eigentlich auf eine sonderbar undifferenzierte Einheit beider. Die Kraft, deren er sicher ist, und das Glck, dessen er unsicher ist, gehen subjektiv doch zu einem Sicherheitsgefhl in ihm zusammen. Wenn es das Wesen des Genies ist, eine unmittelbare Beziehung zu den geheimen Einheiten zu besitzen, die in der Erfahrung und durch die Zerlegung des Verstandes in ganz gesonderte Erscheinungen auseinandergehen so lebt der geniale Abenteurer, wie mit einem mystischen Instinkt, an dem Punkt, wo der Weltlauf und das individuelle Schicksal sich sozusagen noch nicht voneinander differenziert haben; darum hat berhaupt der Abenteurer leicht einen ,genialischen‘ Zug.210

Der Abenteurer ist selbst ein ,Grenzfall‘, insofern die Grenze zwischen Wirklichkeit und Mçglichkeit durch ihn hindurch verluft. Simmel spricht auch von der „Kontrastempfindung“ des Abenteuers, indem ein Tun ganz aus dem Lebenszusammenhang gerissen ist und doch alle Kraft des Lebens hinein strçmt.211 In einem der Nachlass-Kapitel zur Geniefrage schlgt Ulrich seiner Schwester vor, dass sie fr sich wieder die aus der Mode gekommene Bezeichnung „genialisch“ einfhren sollten.212 Dabei setzt Ulrich das Genialische, das Schçpferische und Leidenschaftliche, explizit von der „turnerhaften Vorstellung vom Genialen“ (MoE, S. 1259) seiner Zeit ab. Ulrichs Mçglichkeitssinn erschließt sich aus seiner schçpferischen Anlage, die die Wirklichkeit nicht nur als „Aufgabe und Erfindung“ betrachtet, sondern in der Mçglichkeit auch „die noch nicht erwachten Absichten Gottes“ erblickt (MoE, S. 16).213 „So ließe sich der Mçglichkeitssinn geradezu als die Fhigkeit definieren, alles, was ebensogut sein kçnnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“ (MoE, S. 16) Dennoch geht es hier keineswegs nur um Gedankenspiele, da das Abenteuer Simmel 210 211 212 213

Simmel, Das Abenteuer, S. 176. Vgl. Simmel, Das Abenteuer, S. 180. Vgl. Musil, MoE, S. 1258. Vgl. dazu auch Musil, MoE, S. 153: Ulrich fragt sich, warum er nicht Pilger oder Abenteurer werden kçnnte. Auch Arnheim meint, dass Ulrich immer auf der Suche nach einem Abenteuer sei (vgl. MoE, S. 324); und er sieht ihn als Ge genstck zu sich, das „anders verkçrperte Abenteuer seiner selbst“ (MoE, S. 549).

Sport und Mystik

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zufolge vor allem eine Form des Erlebens ist.214 Sein Reiz ist „gar nicht der Inhalt, den es uns bietet und den man, in anderer Form geboten, vielleicht wenig beachten wrde, sondern die abenteuerliche Form seines Erlebens, die Intensitt und die Gespanntheit, mit der er uns gerade in diesem Falle das Leben fhlen lßt.“215 Diese Form des Erlebens teilt das Abenteuer mit Musils Darstellung des Sports als sthetischem Erlebnis, und zwar sowohl im Mann ohne Eigenschaften als auch in den Essays. Schon in Als Papa Tennis lernte hatte der Autor verdeutlicht, dass sich die Inhalte des Sports wie Mut, Ausdauer oder Konzentration etwa auch beim „Kartoffelgraben“ kennenlernen ließen, der Sport diese Anregungen aber in einer besonders „reizvollen Weise“ zusammenfasse.216 Zu diesem Reiz gehçrt auch das Schweben zwischen zuviel und zuwenig Fleiß, zwischen Sicherheit und dem Wunder des Gelingens in der unbewussten Zielfhrung der kçrperlichen Bewegung.217 Dieses Dazwischen verbindet den Sport als Abenteuer mit Ulrichs Essayismus als Form eines „innerlich schwebenden Lebens“ (MoE, S. 253) ebenso wie mit der Selbstreflexion des Essayismus als performatives Prinzip auf der Ebene des Textes. Dem Essay als Form, „die das innere Leben eines Menschen in einem entscheidenden Gedanken annimmt“ (MoE, S. 253), wie es im 62. Kapitel heißt, korrespondiert die exakt ausgefhrte Bewegung. Den „Essayisten und Meister[n] des innerlich schwebenden Lebens“ (MoE, ebd.) kann somit der Sportler an die Seite gestellt werden, der zwischen Ratio und Mystik schwebend zum Subjekt einer Utopie des Essayismus wird. Der Essayismus folgt der „Bewegung der Bewegten“ (MoE, S. 254) und wie diese tautologische Formulierung bereits anzeigt, sind vernnftige Versuche, ihm einen Inhalt abzugewinnen, zum Scheitern verurteilt, da er durch sie „zu Staub, Widerspruch und Unsinn“ (MoE, S. 254) zerfllt. Der Essayismus kann nur inhaltlich unbestimmt in Bewegung bleiben,218 denn nur dadurch ermçglicht er Erkenntnis. Entsprechend bleibt auch die Grenze zwischen Exaktheit und Entrckung unbestimmbar. 214 Vgl. Simmel, Das Abenteuer, S. 179. Vgl. dazu auch Ute Luckhardt: „Aus dem Tempel der Sehnsucht“. Georg Simmel und Georg Luc cs: Wege in und aus der Moderne, Butzbach 1994, S. 125 f. 215 Simmel, Das Abenteuer, S. 181. 216 Vgl. Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 690. 217 Vgl. Musil, Als Papa Tennis lernte, GW II, S. 689. 218 Vgl. dazu auch Alt, Ironie und Krise, S. 382.

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Genie der Norm: Der Mann ohne Eigenschaften

Nach Ulrichs berzeugung fehlte dazu eigentlich nur noch die Formel; jener Ausdruck, den das Ziel einer Bewegung, noch ehe es erreicht ist, in irgendeinem glcklichen Augenblick finden muß, damit das letzte Stck des Wegs zurckgelegt werden kann, und es ist das immer ein gewagter, nach dem Stande der Dinge noch nicht zu rechtfertigender Ausdruck, eine Verbindung von exakt und nicht-exakt, von Genauigkeit und Leidenschaft. (MoE, S. 252)

Bewegliche Unbestimmtheit kennzeichnet zugleich Ulrichs Zerrissenheit zwischen Innen- und Außenwelt, Weiblichkeit und Mnnlichkeit, die seine Identittssuche begrndet. Der Mann ohne Eigenschaften sucht bekanntlich etwas ,zwischen‘ Kunst und Wissenschaft. Dieses ,Dazwischen‘ fllt nicht nur der Essay, sondern auch der Sport als Grenzfall des Erlebens zwischen Aktivitt und Hingabe.

Exkurs: Visuelle Kultur Balzs und Musil Es soll Insekten geben, deren Sichtkreis so beschaffen ist, daß sie mit einem Flgelschlag ber ihren Horizont hinausfliegen. Jede ihrer Bewegungen ist ein Sturz ins Ungewisse. Sie sind wie Blinde, die nicht wissen kçnnen, wohin ihre Schritte fhren. Ja, wenn auch uns ein Flgelschlag schon ber unseren Horizont schleudern tte, dann mßten wir ein neues, wunderbares Lebensgefhl des ewigen Abenteuers bekommen. Das wre eine neue Blindheit. Denn die Umgebung, die wir sehen kçnnen, wre nur wie auf die Innenseite unserer geschlossenen Augenlider gemalt. Ein neues Sich-Anvertrauen dem Unbekannten mßte entstehen. Bla Balzs 1

Musils Essay Anstze zu neuer sthetik. Bemerkungen ber eine Dramaturgie des Films (1925) macht ber den Umweg der Filmkunst wesentliche Aspekte seiner sthetischen Theorie erkennbar. Als Rezension zu Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films (1924) des ungarischen Filmkritikers Bla Balzs (1884 – 1949) begonnen,2 entwickelte sich der Text zgig zu einem Essay, „der nur noch dem Vorwand nach eine Besprechung ist und in Wirklichkeit eine Abhandlung wichtiger Kunstfragen“, wie Musil schon im Dezember 1924 an den Herausgeber des Neuen Merkur schrieb.3 Mit der Spannung zwischen unmittelbarem Erleben und Reflexion arbeitet Musil die Grundlage seiner Theorie heraus,4 die auf der kritischen Haltung des Essayismus basiert.5 1

2 3 4 5

Bla Balzs: Zu Fuß, in: ders.: Ein Baedeker der Seele und andere Feuilletons aus den Jahren 1920 1926, hg. von Hanno Loewy, Berlin 2002, S. 138/39, hier S. 139 [zuerst in: Bla Balzs: Der Phantasie Reisefhrer. Das ist ein Baedeker der Seele fr Sommerfrischler. Mit Buchschmuck von A[nna] Lesznai, Berlin, Wien, Leipzig: Paul Zsolnay Verlag 1925]. Vgl. Bla Balzs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films [1924], mit einem Nachwort von Helmut H. Diederichs, Frankfurt/Main 2001. Musil an Efraim Frisch, 10. Dezember 1924, in: Briefe, Bd. I, S. 371. Vgl. Willemsen, Das Existenzrecht der Dichtung, S. 14. Zu Balzs’ Der sichtbare Mensch als Paradigma essayistischer Kritik vgl. Nbel, Robert Musil, S. 229 250.

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Exkurs: Visuelle Kultur

Balzs und Musil

In Balzs’ Versuch, die sthetik des frhen Films zu fassen, erkennt Musil, der ein begeisterter Kinognger war, Ansatzpunkte einer im kçrperlichen Erleben verankerten sthetik, die sich mit seinen eigenen berlegungen zur Zweiteilung der Welt decken. In Auseinandersetzung mit Balzs entwickelt Musil sein Konzept des ,anderen‘ Zustands und mit ihm Umrisse der eigenen sthetik. Gleichzeitig verknpft er diese berlegungen mit zeitgençssischen Erkenntnissen der Ethnographie, der Physiologie und Psychologie.6 Seine Rede von der „Mystik des Films“7 ist daher – analog zum Verhltnis von Mystik und Sport – als Mystikrezeption zu verstehen, die im Kontext der Entwicklung von Naturwissenschaften und Medien steht.8 Balzs Filmtheorie soll im Folgenden skizziert werden, um vor diesem Hintergrund Musils Anstze zu neuer sthetik und seine sthetik des Sports zu profilieren. Film und Sport sind nicht nur durch die Zurschaustellung des bewegten Kçrpers, sondern auch durch die Entwicklung der Naturwissenschaften unmittelbar miteinander verbunden. Vor allem die Physiologie hat durch ihr Studium der Bewegung dazu beigetragen, dass die Figur des Sportlers zur Schnittstelle zwischen technisch-naturwissenschaftlicher und sthetischer Wahrnehmung wurde. Mittels der Chronophotographie setzte Marey den bewegten Kçrper im Sport Ende des 19. Jahrhunderts erstmals medienwirksam in Szene. Diese çffentliche Inszenierung des Kçrpers modernisierte nicht nur populre Formen der Schaustellung, sie trug auch zu einem technisch bedingten Umbruch in den Knsten bei. Gleichzeitig wurde der entstehende Sport, wie die Geschichte der Sportpresse gezeigt hat, zum bevorzugten Einsatzfeld avancierter Bildtechniken.9 Auch Balzs nennt mehrfach Beispiele aus dem Sportbereich, um die Mçglichkeiten des Films zu erlutern. So besitzt der Film gegenber dem Stadion den Vorzug, dass die verschiedenen Sichtwinkel der Kamera Einblicke und Perspektiven erlauben, die der feste Platz auf einer Zuschauertribne nicht bieten kann: 6

7 8 9

Vgl. Katharina Grtz: Psychopathologie und sthetik. Robert Musils berle gungen zu Film und Literatur in dem Essay Anstze zu neuer sthetik, in: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 10 (2005/2006), S. 187 208, hier S. 189. Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1143. Vgl. Sabine Schneider: Verheißung der Bilder. Das andere Medium in der Li teratur um 1900, Tbingen 2006, S. 213; Kimmich, Kleine Dinge in Groß aufnahme, S. 177 f. Dieser Zusammenhang ließe sich an der Geschichte der Fotografie und des Kinos noch genauer zeigen und erweist sich bis heute in der Fernsehtechnik.

Exkurs: Visuelle Kultur

Balzs und Musil

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Die Sportaufnahmen im Film haben den Vorzug vor der Wirklichkeit, daß sie viel sichtbarer sind. Denn auf dem Sportplatz kçnnen wir nur an einer Stelle auf einmal sein und die Vorgnge nur aus einer Perspektive sehen. Im Kino aber sehen wir sie von vorne und rckwrts, von dieser und von der anderen Seite, wodurch der spannende Moment (der in Wirklichkeit zu schnell verfliegt, um richtig begriffen und ausgekostet zu werden) einigemal zurckgeholt und die Zeit fast zum Stehen gebracht wird.10

Durch Mittel wie Wiederholung und Zeitlupe avanciert der Film zum Lehrmeister der Bewegung, weil er gerade durch die technisch bedingte Vernderung der Wahrnehmung ein ausgesprochenes Bewegungsstudium erlaubt. In amerikanischen Fabriken wurde der Kinematograph zur Vorfhrung rationalisierter Bewegungsablufe benutzt.11 Und in Fleißers Roman Mehlreisende Frieda Geier lernt der Schwimmer Gustl Amricht die neue Technik des Kraulens durch Wettkampfaufnahmen im Kino.12 Dadurch erweist sich die kulturelle Moderne einmal mehr als Zusammenspiel von sthetischer und technisch-naturwissenschaftlicher Moderne, die der Aufwertung des Zuschauens korrespondiert. Mit Der sichtbare Mensch macht Balzs nach dem Ersten Weltkrieg den Versuch, den kulturellen Wandel unter dem Stichwort ,Visuelle Kultur‘ zu resmieren und in Hinblick auf eine Dramaturgie des Films zu reflektieren.13 Balzs’ Filmtheorie kann damit auch als theoretischer Entwurf moderner Kultur verstanden werden, die aus der Interferenz von Korporalitt und Medientechnik erwchst.14

10 Balzs, Der sichtbare Mensch, S. 79 f. 11 So stand es jedenfalls 1913 im Vorwrts. Vgl. Das Kino als Antreiber, in: Vor wrts. Berliner Volksblatt, das Abendblatt der Hauptstadt vom 19. April 1913. 12 Die menschliche Fhigkeiten bersteigende Filmtechnik wird von Fleißers Er zhlerinstanz deutlich ironisiert: „Wo hat der Amricht seine Schwimmtechnik her? Wo Gott sie ihm anfliegen ließ. Aus der Deuligwoche.“ (Fleißer, Mehlrei sende Frieda Geier, S. 61.) 13 Den ersten Versuch machte Hugo Mnsterberg mit seiner Schrift Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie, die 1916 unter dem Titel The Photoplay. A Psychological Study erschien, vermutlich aber bedingt durch den Ersten Weltkrieg in Europa unbekannt blieb. Daher galt Balzs’ Dramaturgie lange als erste Filmtheorie berhaupt. Zu Mnsterbergs Studie vgl. Friedrich Kittler: Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999, Berlin 2002, S. 240 243. 14 Zu diesem Zusammenhang am Beispiel der Poetik von Paul Valry und dessen Auseinandersetzung mit dem Film vgl. Gerhard Neumann: Begriff und Funktion des Rituals im Feld der Literaturwissenschaft, in: Sigrid Weigel/ders. (Hrsg.): Lesbarkeit der Kultur: Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, Mnchen 2000, S. 19 52, hier S. 26 28. Zur poetologischen

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Exkurs: Visuelle Kultur

Balzs und Musil

1. Kolumbusfahrten Den Ausgangspunkt der filmsthetischen berlegungen Balzs’ bildet die Einschtzung, dass die Kinematographie eine Wendung von der begrifflichen zu einer visuellen Kultur bedeutet.15 Damit lutet der Kritiker eine neue Etappe in der Auseinandersetzung um das Kino ein, indem er es sowohl aus der knstlerischen Abhngigkeit von Literatur und Theater als auch aus der Geringschtzung als industrialisiertes Massenprodukt befreit. Aus dieser Einschtzung leitet er zudem den Kunstanspruch des Films ab. Der Film sei, so Balzs, die „Volkskunst“ des Jahrhunderts: „Denn in Wien allein spielen allabendlich fast 200, sage zweihundert Kinos mit durchschnittlich 450 Pltzen. Sie geben drei bis vier Vorstellungen pro Tag. Das macht, mit dreiviertelvollen Husern gerechnet, tglich fast 300.000 (dreihunderttausend!) Menschen in einer nicht sehr großen Stadt.“16 Fr Balzs steht fest, dass das Publikum bei einem kostspieligen Massenprodukt wie dem Film die entscheidende Rolle in seiner knstlerischen Entwicklung spielen muss. Der Wandel zu einer visuellen Kultur geht daher mit der Etablierung der Rezeptionssthetik einher. Ausdruck findet die Vorstellung einer modernen, visuellen Volkskunst in der mittelalterlichen Kathedrale, die er – hnlich wie die Knstler des Bauhauses – als Gesamtkunstwerk in den Kinoslen neu erblhen sieht.17 Zwar bestimme der Volksgeist nicht den Film, sondern vielmehr der Film den Volksgeist und das Gefhlsleben des Volkes.18 Doch gerade deshalb sei der Film als neue Kunst anzuerkennen und sein Potenzial zu entwickeln. Denn Kritik an der Qualitt des Films setze einen Begriff von Filmkunst, mithin eine Theorie des Films voraus. Diese Theorie will Balzs in Der sichtbare Mensch skizzieren. Um der Notwendigkeit der Theoriebildung Nachdruck zu verleihen, gehen seiner filmischen sthetik drei Vorreden voran, die sich an die Hter der Knste, an die Regisseure und an das Publikum wenden. Sie

15 16 17 18

bereinstimmung von Valry und Musil vgl. Willemsen, Das Existenzrecht der Dichtung, S. 275; Joung, Passion der Indifferenz, S. 30 42. Vgl. Balzs, Der sichtbare Mensch, S. 16. Balzs, Der sichtbare Mensch, S. 10 f. [Herv. i. Orig.]. Vgl. Hanno Loewy: Bla Balzs Mrchen, Ritual und Film, Berlin 2003, S. 305. Vgl. Balzs, Der sichtbare Mensch, S. 10. Diese Einsicht teilte er mit Siegfried Kracauer, der die Wirkung der großstdtischen Unterhaltungskultur in seinen zahlreichen Artikeln fr die Frankfurter Zeitung und in seiner Studie Die Ange stellten (1929) analysiert hat.

Kolumbusfahrten

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setzen in Szene, wovon im Folgenden die Rede ist. Bereits hier zeigt sich, dass Balzs’ Vorstellung von Theorie auf eine spezifische Weise durch Bewegung gekennzeichnet ist.19 So charakterisiert Balzs die Theorie als Wegbereiter fr eine junge Kunstform, die ihrerseits noch im Werden begriffen sei. Whrend die Filmbilder die Landschaften der Imagination bereisen, kann die Theorie dem Wanderer der Kunst als „Landkarte“ dienen.20 Die Haltung des Wanderers ist die einer lakonischen Distanz zu den Dingen, die fern und nah zugleich sind. Der Wanderer erlebt sich im Schauen, was seine Wanderung zu einer Art Seelenwanderung macht.21 Eine solche Haltung will Balzs mit seinem Pldoyer fr die Theorie fçrdern, da erst sie den berblick ber die verschiedenen Wege, Notwendigkeiten und Zuflle verschafft: „Die Theorie ist es, die den Mut zu Kolumbusfahrten gibt und jeden Schritt zu einem Akt freier Wahl macht.“22 Theorie wird hier als Hilfsmittel verstanden, das, wie Kolumbus selbst von falschen Hypothesen ausgehend, doch zu großen Entdeckungen beitrgt.23 Wie bereits anhand der Vorreden bemerkt, wird 19 Dies verbindet ihn mit seinem Lehrer Simmel, dessen Berliner Vorlesungen er hçrte. Fr Balzs’ intellektuelle Entwicklung waren seine Studienjahre bei Henri Bergson in Paris und bei Georg Simmel von entscheidender Bedeutung. Fr Gertrud Koch lesen sich Balzs’ berlegungen hufig wie „direkte bernahmen aus Simmels Kultur Essays“. In ihrer Anwendung auf den Film sieht Koch das eigentlich Neue an Balzs’ sthetik. Vgl. Koch, Physiognomie der Dinge, S. 76. Zu Bergson und Simmel vgl. auch Loewy, Bla Balzs, S. 62 74. Im Bezug auf Simmel besteht außerdem ein weiterer Anknpfungspunkt zwischen Balzs und Musil. 20 Balzs, Der sichtbare Mensch, S. 9. Der ,Wanderer‘ ist auch die zentrale Figur in Balzs’ ein Jahr nach Der sichtbare Mensch erschienenem Band Der Phantasie Reisefhrer. Das ist ein Baedeker der Seele fr Sommerfrischler (1925). Dort heißt es programmatisch ber den Wanderer: „[…] wohl hat er keine bestimmte Absicht, aber eine um so deutlichere Sehnsucht, kein Ziel, aber feste Richtung und das Bewußtsein, nicht nur immer weiter zu gehen, sondern auch immer weiter zu kommen.“ (Bla Balzs: Wandern, in: ders.: Ein Baedeker der Seele und andere Feuilletons aus den Jahren 1920 1926, hg. von Hanno Loewy, Berlin 2002, S. 85 88, hier S. 86.) 21 Vgl. Loewy, Bla Balzs, S. 268. 22 Balzs, Der sichtbare Mensch, S. 9. 23 Als Entdecker, der erfolgreich von falschen Annahmen ausging, steht Kolumbus auch Pate fr die Haltung, die Ginster, der Protagonist in Kracauers gleichna migen Roman, der Welt entgegen bringt: „Kolumbus mußte nach seiner Theorie in Indien landen; er entdeckte Amerika. Nicht anders, meine ich, htte sich jede Hypothese zu bewhren. Eine Hypothese ist nur unter der Bedingung tauglich, daß sie das beabsichtigte Ziel verfehlt, um ein anderes, unbekanntes zu errei

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Exkurs: Visuelle Kultur

Balzs und Musil

diese Haltung durch die essayistische Form seiner Ausfhrungen selbst thematisch. Sie grnden zwar auf reichem Anschauungsmaterial, ergeben aber kein geschlossenes Gedankengebude, sondern bleiben selbst in Bewegung. Dicht und anschaulich in der Beschreibung, gleichzeitig eine Vielzahl von Ideen aufgreifend, verfhrt Balzs’ Argumentation stets hypothetisch und assoziativ zugleich.24 Besonders deutlich wird Balzs’ Anliegen in der Anrede des Publikums, das er fr eine Auseinandersetzung mit den knstlerischen Mçglichkeiten des Films gewinnen mçchte, damit es „Schçpfer“ der visuellen Kultur werden kann: „Ihr mßt erst etwas von guter Filmkunst verstehen, um sie dann zu bekommen, ihr mßt erst lernen, ihre Schçnheit zu sehen, auf daß sie berhaupt entstehen kann.“25 Es geht nmlich keineswegs nur um die bloße Hingabe an das Dunkel, den Rausch und den Genuss, sondern auch darum, diesen Genuss zu reflektieren. ,Schçpferisch‘ ist daher gerade die geforderte Haltung der Zuschauer. Bereits diese Vorrede zeigt die Nhe zu Musil, dessen Werk darum kreist, Gefhl und Verstand, Erlebnis und Reflexion zu verbinden. Beide versuchen darber hinaus, dieses Ziel durch die essayistische Form ihrer Ausfhrungen zu erreichen. Fr Balzs bleibt dabei das Bild des Weges bestimmend, da die Bildung des Publikums ebenso wie die Entwicklung der Filmtheorie ein Prozess sei. Interessanterweise whlt er in diesem Zusammenhang ein Bild aus dem Bereich des Sports: Fr den Feinschmecker ist es ein besonderer Genuß, im Weine die Traube und den Jahrgang zu kennen. Er analysiert ihn mit der Zunge. […] Der Mensch, der bei der Kunst dazu nicht fhig ist, kommt mir vor wie jener, der

chen.“ (Siegfried Kracauer: Ginster. Von ihm selbst geschrieben [1928], in: Siegfried Kracauer Werke, hg. von Inka Mlder Bach und Ingrid Belke, Bd. 7: Romane und Erzhlungen, Frankfurt/Main 2004, S. 9 256, hier S. 37.) Die Nhe zwischen den Filmkritikern und Simmel Hçrern Balzs und Kracauer ist hier ebenso offenkundig wie die Nhe zu Ulrichs Formel des „hypothetisch leben“; ein Vergleich der beiden Romane steht meines Wissens noch aus. 24 Vgl. Loewy, Bla Balzs, S. 305. 25 Balzs, Der sichtbare Mensch, S. 15. Helmut Diederichs hat in diesem Zusam menhang ausdrcklich auf das medienpdagogische Engagement Balzs’ hinge wiesen. Vgl. Helmut H. Diederichs: „Ihr mßt erst etwas von guter Filmkunst verstehen“. Bla Balzs als Filmtheoretiker und Medienpdagoge, in: Bla Balzs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, Frankfurt/Main 2001, S. 115 147, hier S. 116.

Kolumbusfahrten

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beim Rennen nur den letzten Moment der Ankunft sieht. Jedoch der Weg zum Ziel, der Kampf ums Ziel ist das eigentlich Aufregende.26

Entscheidend fr die von Balzs skizzierte sthetik ist also nicht das Resultat, sondern die gemeinsame Teilhabe am sthetischen Prozess. Gleichzeitig versucht Balzs mit diesem Beispiel an die Erfahrung der Zuschauer anzuknpfen, dass Kompetenz (z. B. Kenntnis der Regeln und des Ablaufs) die Spannung bei Sportveranstaltungen steigert, eine Kompetenz, die beispielsweise Brecht fr das Sportpublikum in den zwanziger Jahren nachdrcklich reklamiert hat.27 Auch Balzs attestiert den Zuschauern beim Sport: „Fr den Kenner aber steigert sich jede bloße Tatsache zu einer Leistung, jede Erscheinung zu einem Gelingen, jede Tat zu einem Sieg, an dem noch die lebendige Hitze des Ringens zu spren ist.“28 Die visuelle Kultur verwandelt Menschen und Dinge, indem sie den Dingen einen medial erzeugten Zauber verleiht, der aus bloßen ,Ansichtssachen‘ Erlebnisse formt, die Innen- und Außensicht des Gesehenen vermitteln. Damit spricht Balzs der Filmkunst das technische Vermçgen zu, das Unsichtbare, das dem Unsagbaren des sportlichen Erlebens korrespondiert, sichtbar zu machen.29 Sein Kampf fr die Theorie zielt darauf, diesen kulturellen Wandel zu begreifen, und erscheint dadurch zugleich als moderne Kulturkritik, die, wie Musil formuliert hat, stets „im Erlebnis und in der Reflexion“30 ist. Sichtbar wird der Mensch in der visuellen Kultur durch Mienen, Bewegungen und Gebrden. Dabei unterscheidet Balzs zwischen der Sprache der Gebrden und der Zeichensprache etwa der Taubstummen.31 Denn whrend die Zeichensprache die begriffliche Sprache nur ersetze, sprchen die Gebrden direkt aus der Seele heraus: „Seine Gebrden bedeuten berhaupt keine Begriffe, sondern unmittelbar sein irrationelles Selbst, und was sich auf seinem Gesicht und in seinen Bewegungen ausdrckt, kommt von einer Schichte der Seele, die Worte niemals ans Licht fçrdern kçnnen. Hier wird der Geist unmittelbar zum Kçrper,

26 Balzs, Der sichtbare Mensch, S. 15. Zu Balzs’ eigenen Sporterfahrungen vgl. seine Erinnerungen: Die Jugend eines Trumers. Autobiographischer Roman, hg. von Hanno Loewy, Berlin 2001 [Wien 1947], bes. S. 251 270; S. 288 297. 27 Vgl. Brecht, Mehr guten Sport, S. 119 f . 28 Balzs, Der sichtbare Mensch, S. 15 [Herv. i. Orig.]. 29 Vgl. Balzs, Der sichtbare Mensch, S. 16. 30 Musil, Anstze zu neuer sthetik, S. 1138. 31 Vgl. Balzs, Der sichtbare Mensch, S. 16.

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wortelos, sichtbar.“32 Im Vergleich mit der Unmittelbarkeit des Kçrpers habe das Wort, so Balzs, an der Trennung von Geist und Kçrper sogar entscheidenden Anteil, da es zur Abstraktion des modernen Lebens beigetragen habe. Der Ausdruck des Kçrpers sei auf das Gesicht reduziert worden, doch der Film werde der Kultur nun eine „radikale Wendung“ geben: „Die ganze Menschheit ist heute schon dabei, die vielfach verlernte Sprache der Mienen und Gebrden wieder zu erlernen. Nicht den Worteersatz der Taubstummensprache, sondern die visuelle Korrespondenz der unmittelbar verkçrperten Seele. Der Mensch wird wieder sichtbar werden.“33 Mit diesem emphatischen Begriff von Sichtbarkeit ist das Ziel verbunden, den menschlichen Kçrper vom Instrument wieder zum Ausdrucksmedium zu machen und den ,ganzen‘ Menschen in seiner leiblichen Verfasstheit zu zeigen. Doch die Verkçrperung der Seele, von der Balzs spricht, ist nicht gleichbedeutend mit der Vorstellung einer Lesbarkeit des Kçrpers. Denn ein lesbarer Kçrper ist ein Kçrper als Zeichentrger. Balzs geht es aber gerade nicht um sprachliche oder gestische Zeichen, die bestimmte Affekte festhalten, sondern um die Mçglichkeit unmittelbaren Ausdrucks, der in der kçrperlichen Bewegung Sichtbarkeit erlangt und damit modernen Wahrnehmungs- und Darstellungsanforderungen entspricht. Diese Mçglichkeit muss zur Wirklichkeit freilich erst entwickelt werden: „Denn, wohlgemerkt, es ist nicht derselbe Geist, der sich einmal hier in Worten, ein andermal in Gebrden ausdrckt.“34 Das begriffliche Denken bilde nmlich Gefhle und Gedanken nicht nur nachtrglich ab, sondern forme sie auch vor. Dieses Denken soll – so die Zielsetzung von Balzs’ Konzept der Sichtbarkeit – durch die Erfahrung der Unmittelbarkeit verndert werden, um die menschlichen Ausdrucksmçglichkeiten zu erweitern.35 32 Balzs, Der sichtbare Mensch, S. 16. Die Idee, ein Lexikon der Gebrden zu sammenzustellen, hat Balzs immer wieder in eine Reihe mit Schauspielertheo rien gebracht, die im deutschsprachigen Raum auf Conrad Ekhofs Grammatik der Schauspielkunst (1753) zurckgefhrt werden kçnnen. Zu Balzs und zur Schauspielertheorie des Films vgl. Diederichs, „Ihr mßt erst etwas von guter Filmkunst verstehen“, bes. S. 127. Doch betont Balzs gerade den technischen Unterschied zwischen Bhne und Film und das Physiognomische als Ausdruck des ,Dazwischen‘. Vgl. daher gegen die These der Schauspielertheorie Koch, Physiognomie der Dinge, S. 77; kritisch auch Loewy, Bla Balzs, S. 314. 33 Balzs, Der sichtbare Mensch, S. 17 [Herv. i. Orig.]. 34 Balzs, Der sichtbare Mensch, S. 19. 35 Balzs, Der sichtbare Mensch, S. 20.

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Balzs’ Begriff von ,Sichtbarkeit‘ erçffnet eine seelische Dimension, die im bloßen Betrachten nicht aufgeht. Er impliziert die Vorstellung einer unmittelbaren Verkçrperung der Seele, die in ihrer Medialitt Schichten lebendiger Bewegtheit erschließt, die sich sprachlich nur schwer fassen lassen. In diesem Zusammenhang ist an den Doppelsinn von ,Bewegung‘ als Grundlage von Gefhlsußerungen zu erinnern: die ,bewegten‘ Bilder sind immer auch ,bewegende‘ Bilder.36 Ihre spezifische Sichtbarkeit begrndet eine eigene sthetik des Films, die nicht in die tradierte Ordnung der Sprache bersetzbar ist. Mit dieser Unterscheidung zweier Wahrnehmungs- und Erkenntnisformen berhrt Balzs, was Musil die „Grenze zweier Welten“37 nennen und zum Ausgangspunkt seiner eigenen sthetischen Theorie machen wird.

2. Das Gesicht der Dinge Im Hauptteil seines Filmbuches spielt Balzs sein Theorem der Sichtbarkeit unter der berschrift „Skizzen zu einer Dramaturgie des Films“ an verschiedenen Aspekten des Films durch, die von seiner breiten Materialkenntnis zeugen.38 Zunchst grenzt er den Film vom Theater ab, da der Film keine Darstellung einer schriftlichen Vorlage sei, deren Wert unabhngig von der schauspielerischen Umsetzung bewertet werden kçnne.39 Im Verhltnis zu den zwei Bedeutungsschichten des Theaters sei 36 Vgl. Benthien/Fleig/Kasten, Einleitung, S. 11. 37 Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1143. 38 Die Bedeutung und das Potenzial der technischen Mçglichkeiten des Films hat Balzs in seinem Buch Der Geist des Films (1930) noch strker herausgearbeitet und auf eine Weise akzentuiert, die an Walter Benjamins berhmten Aufsatz ber Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit heranreicht. Vgl. Bla Balzs: Der Geist des Films, mit einer Einleitung von Hartmut Bitomsky, Frankfurt/Main 1972; vgl. dazu auch Gertrud Koch: Die Physiognomie der Dinge. Zur frhen Filmtheorie von Bla Balzs, in: Frauen und Film, Frankfurt/ Main 1986, Heft 40, S. 73 82, S. 77 f. 39 Das Verhltnis von Film und Theater hatte schon die Kino Debatte vor dem Ersten Weltkrieg bestimmt. Die Durchsetzung der Langform im Film nherte das Kino der Programmform des Theaters an. Seitdem wurde er einerseits als endgltiger Angriff gegen die etablierte Kultur begriffen, andererseits aber auch selbst kulturell aufgewertet. Gegenber der frhen Kinoreform Debatte domi nierte nun das Verhltnis von Theater und Film die Diskussion, wobei dem Film im Gegensatz zum Theater der Kunstanspruch in der Regel abgesprochen wurde. Vgl. Corinna Mller: Der frhe Film, das frhe Kino und seine Gegner und

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der Film einschichtig, er msse daher die Vielschichtigkeit des Geschehens an der Oberflche sichtbar machen.40 Entscheidend fr seine weiteren Ausfhrungen ist der Begriff der Physiognomie, den Balzs geradezu klassisch auf Goethes Beitrge zu Johann Caspar Lavaters Physiognomischen Fragmenten (1774/78) zurckfhrt.41 Der Film sei eine „Flchenkunst“, d. h. sein Sinn liege nicht als tiefere Bedeutung hinter den Erscheinungen, sondern vielmehr in den Erscheinungen der Oberflche selbst. Die „Dichter“ des Films seien daher Schauspieler und Regisseur,42 ihre Darstellung sei konstitutiv fr die sthetik des Films, denn „poetische Substanz des Films ist die sichtbare Gebrde“.43 Mit dieser Argumentation erklrt Balzs die vermeintliche Schwche des Films – seinen Mangel an Tiefe aufgrund des mangelnden Worts – zu seiner Strke. Damit greift er Argumente der knstlerischen Avantgarde auf, die bezogen auf das Theater ebenfalls den Kçrper der Akteure gegenber der gesprochenen Sprache in den Mittelpunkt der Betrachtung gerckt hatte und die gegen die Kinokultur vorgebrachten Kritikpunkte – wie Visualitt, Sinnlichkeit, Technizitt und Massenwirksamkeit der Filmbilder – als adquaten Ausdruck moderner Kultur interpretierte.44

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Befrworter, in: Kaspar Maase/Wolfgang Kaschuba (Hrsg.): Schund und Schçnheit. Populre Kultur um 1900, Kçln, Weimar, Wien 2001, S. 62 91, hier bes. S. 86; vgl. Anton Kaes (Hrsg.): Kino Debatte. Texte zum Verhltnis von Literatur und Film 1909 1929, Tbingen 1978. Vgl. dazu Michael Jampolski: Die Geburt einer Filmtheorie aus dem Geist der Physiognomik, in: Beitrge zur Film und Fernsehwissenschaft 27 (1986), H. 2, S. 79 98, hier S. 91. Vgl. Balzs, Der sichtbare Mensch, S. 37; S. 39 f. Zum Begriff der Physiognomie bei Balzs vgl. Frank Kessler: Photognie und Physiognomie, in: Rdiger Campe/Manfred Schneider (Hrsg.): Geschichten der Physiognomik: Text, Bild, Wissen, Freiburg 1996, S. 515 534; zur Wiederentdeckung und Bedeutung der Physiognomie in den zwanziger Jahren vgl. Claudia Schmçlders/Sander L. Gil man (Hrsg.): Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kultur geschichte, Kçln 2000; Sabine Hake: Zur Wiederkehr des Physiognomischen in der modernen Photographie, in: Rdiger Campe/Manfred Schneider (Hrsg.): Geschichten der Physiognomik: Text, Bild, Wissen, Freiburg 1996, S. 475 513. Vgl. Balzs, Der sichtbare Mensch, S. 25. Balzs, Der sichtbare Mensch, S. 26. Vgl. Mller, Der frhe Film, S. 87 f.; zum Zusammenhang von Film und Theateravantgarde vgl. auch Joachim Fiebach: Anmerkungen zu Kçrperlichkeit und Entkçrperlichung in den darstellenden Knsten, in: Kaspar Maase/Wolf gang Kaschuba (Hrsg.): Schund und Schçnheit. Kunst und populre Kultur um 1900, Kçln, Weimar, Wien 2001, S. 106 113.

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Charakteristischen Ausdruck findet dieses Programm im zentralen ,Gesichtspunkt‘ seiner berlegungen: der „Physiognomie der Dinge“45. Im Mittelpunkt der „Skizzen“ steht daher der sichtbare Ausdruck von Menschen, Dingen und Natur.46 Denn die Kunst des Films liegt fr Balzs in der Verbindung, die er zwischen den Dingen und den Menschen schafft, die gewissermaßen in ihrer gemeinsamen Stummheit miteinander sprechen. Dass diese Stummheit ein Akt knstlerischer Gestaltung ist, wird in dem Abschnitt „Natur und Natrlichkeit“ besonders deutlich. So erklrt er, dass sich der Film immer weiter von der „Originalnatur“47 fort bewege, da die eigentliche Natur nicht spreche und der Film kein Lehrmeister der Wirklichkeit sei. Vielmehr werde die ,Natur‘ im Studio nachgebildet, um die Physiognomie der Landschaft herauszuarbeiten, die nicht Abbild sei, sondern bewusste Gestaltung, die auf einer subjektiven Beziehung zwischen Mensch und Natur beruhe.48 Auch die Darstellung des Sports im Film fllt fr Balzs unter jenen Naturgenuss, der auf Schaulust basiert.49 Ist Landschaft ein knstliches Gebilde aus verschiedenen Natureindrcken, ist Sport entsprechend ein Gebilde aus verschiedenen Bewegungen, die sich zu gesteigertem, menschlichen Ausdruck formen. Die Attraktivitt dieser Bewegungsformen vermag der Film sogar zu steigern, da die verschiedenen Einstellungen der Kamera Einblicke in Bewegungsablufe erlauben, die in Wirklichkeit nicht mçglich sind. Umgekehrt aber soll die knstlerische Ausdrucksbewegung etwa in dramatischen Verfolgungsjagden oder Schlgereien nicht sportlich erscheinen, um nicht die Aufmerksamkeit zu stçren. So drfe ein gekonnt platzierter Schlag in einer Prgelei nicht so wirken, als ob der Protagonist ,boxe‘, da er damit einen eigenstndigen Sinn erhalte und aus dem eigentlichen Handlungsablauf wie eine Varietnummer herausfalle. Wenn ein Verfolgter ber einen Graben springt, so ist es vorlufig noch die Verfolgung, die uns aufregt und interessiert. Wenn aber dieser Sprung eine besondere sportliche Leistung ist, so interessiert uns der Sprung unabhngig vom Stck und seiner Bedeutung darin. Der Schwerpunkt des Interesses

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Balzs, Der sichtbare Mensch, S. 59. Vgl. Koch, Physiognomie der Dinge, S. 74. Balzs, Der sichtbare Mensch, S. 66. Vgl. Balzs, Der sichtbare Mensch, S. 66 f. Zur „Stimmung“ der Landschaft vgl. auch Simmel, Philosophie der Landschaft, S. 479. 49 Vgl. Balzs, Der sichtbare Mensch, S. 79.

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verschiebt sich, und das Stck wird uns als zufllige Unterlage zu der „Sensation“ erscheinen.50

Wie Balzs auf Grundlage seines Materials sehr deutlich erkennt, ist Sport Bewegung als Selbstzweck.51 Dienen sportliche Bewegungen aber der Charakterisierung einer Person oder der Dramatisierung der Situation, kçnnen sie Teil eines Zusammenhangs werden. Erscheinen einzelne Bewegungen in einem solchen Zusammenhang indes als Zeichen einer ,sportlich‘ definierten Gebrde, verlieren sie ihren unmittelbaren Ausdruckscharakter. Diese Unterscheidung verdeutlicht noch einmal, dass Balzs’ Theorie der Sichtbarkeit nichts mit der Lesbarkeit des Kçrpers zu tun hat. Vielmehr lsst sich aus seiner Auseinandersetzung mit dem Sport im Film schließen, dass Sport an der von ihm proklamierten visuellen Kultur partizipiert, insofern er ußerste Unmittelbarkeit ist. Darber hinaus markiert Balzs mit dieser Unterscheidung genau jene Grenze zweier Bewusstseinszustnde, die auch in Hinblick auf die von Musil konstatierte Reflexionslosigkeit der Bewegung von Bedeutung ist: Wirkt eine Schlag-Bewegung in einer Prgelei nmlich wie ,Boxen‘ und nicht wie schlichtes Zuschlagen, fllt sie aus dem Kontinuum der Reflexionslosigkeit und der ungestçrten Aufmerksamkeit heraus. Damit entspricht der bewusst gestaltete Sprung oder Schlag dem kleinsten Einbruch der Reflexion in das Dunkel der Bewegung bei Musil. Das Paradigma dieser Grenze zweier Zustnde bildet fr Balzs das Gesicht, da der Widerspruch zwischen innerem und ußerem Geschehen im Gesicht selbst reflexiv wird: es ist Ausdruck des Inneren und Spiegel des ußeren. Darber hinaus drckt das Mienenspiel unaufhçrlich psychisches und physisches Erleben aus, dessen Erscheinen dem Individuum gleichwohl bewusst ist.52 Schon Simmel war der Ansicht, dass sich in der Form des Gesichts die Seele am deutlichsten ausdrckt, weil das Gesicht die Wechselwirkungen zwischen Innen und Außen, Ich und Welt in besonderer Weise an-

50 Balzs, Der sichtbare Mensch, S. 81. 51 Vgl. Balzs, Der sichtbare Mensch, S. 82. 52 In diesem Sinne hat Helmuth Plessner das Gesicht als mimische Widerspiegelung der Doppelstruktur von Leib Sein und Kçrper Haben interpretiert. Vgl. Plessner, Lachen und Weinen, S. 58 f; vgl. dazu Hermann Kappelhoff: Bhne der Emp findungen, Leinwand der Emotionen das brgerliche Gesicht, in: Helga Glser/Bernhard Groß/Hermann Kappelhoff (Hrsg.): Blick Macht Gesicht, Berlin 2001, S. 7 41, S. 14.

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schaulich zu machen vermçge.53 Die Einheit dieser Wechselwirkungen erfasst den Einzelnen aber nur als Gesehenen, da sie im Auge des Betrachters entsteht. Dagegen sieht der Einzelne sich selbst auf diese Weise nur im Spiegel. Insofern ist das Gesicht eine Bhne fremder Blicke, mithin Ausdruck eines problematischen Selbstverhltnisses.54 In diesem selbstreflexiven Wechselspiel erscheint das Gesicht als Modell der Filmsprache, das in Gestalt der Großaufnahme zum Sinnbild des Films schlechthin geworden ist.55 Auch die Beschreibung des Mienenspiels, die Balzs in Der sichtbare Mensch vor allem an der ,Gesichtslandschaft‘ Asta Nielsens vorgefhrt hat,56 reicht weit ber die bloße Abbildlichkeit von Gefhlen und deren psychologischer Deutung hinaus. Vielmehr rckt dieses Mienenspiel, wie Hermann Kappelhoff herausgearbeitet hat, die ,innere‘ Wirklichkeit der 53 Vgl. Georg Simmel: Die sthetische Bedeutung des Gesichts [1901], in: Georg Simmel Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt, Bd. 7, Frankfurt/Main 1995, S. 36 42, hier S. 36 f. 54 Vgl. Gisela von Wysocki: Fremde Bhnen. Mitteilungen ber das menschliche Gesicht, Hamburg 1995, bes. S. 13 15; zur Bedeutung des Gesichts in der Literatur vgl. Peter von Matt: …fertig ist das Angesicht. Zur Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts, Mnchen, Wien 1983. Bezogen auf Musils Mann ohne Eigenschaften wre zu fragen, inwiefern die ,Gesichtslosigkeit‘ der Ulrich Figur Ausdruck seiner Eigenschaftslosigkeit ist, die sich in der Begegnung mit der Schwester wiederum in deren Gesicht spiegelt: „Er betrachtete, whrend sie sprach, noch einmal ihr Gesicht. Es kam ihm nicht sehr hnlich dem seinen vor; aber vielleicht irrte er, es mochte ihm hnlich sein wie ein Pastell einem Holz schnitt, so daß man ber der Verschiedenheit des Materials das bereinstim mende der Linien und Flchenfhrung bersah. Dieses Gesicht beunruhigte ihn durch irgend etwas. Nach einer Weile kam er darauf, daß er einfach nicht er kennen konnte, was es ausdrcke. Es fehlte darin das, was die gewçhnlichen Schlsse auf die Person erlaubt. Es war ein inhaltsvolles Gesicht, aber nirgends war darin etwas unterstrichen und in der gelufigen Weise zu Charakterzgen zusammengefaßt.“ (Musil, MoE, S. 676 f.) 55 Vgl. Jampolski, Die Geburt einer Filmtheorie, S. 97. 56 Seine Begeisterung fr die Kunst Asta Nielsens brachte Balzs auch durch ein eigenstndiges Portrt der Schauspielerin zum Ausdruck, das den Abschluss von Der sichtbare Mensch bildet. Vgl. Balzs, Der sichtbare Mensch, S. 107 111; vgl. zu Asta Nielsen auch Anton Kaes: Das bewegte Gesicht. Zur Großaufnahme im Film, in: Claudia Schmçlders/Sander L. Gilman (Hrsg.): Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte, Kçln 2000, S. 156 174, hier S. 161 166. Zum mnnlichen Blick auf das weibliche Gesicht der Großauf nahme vgl. Thomas Koebner: Gesichter, ganz nahe, in: Helga Glser/Bernhard Groß/Hermann Kappelhoff (Hrsg.): Blick Macht Gesicht, Berlin 2001, S. 175 205, bes. S. 203 f.

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dargestellten Figur aus dem Rahmen der Reprsentation in einen unbestimmten Raum, der in der „Wahrnehmungsempfindung des bewegten Gesichts“ selbst grndet.57 Die technische Bedingung dieses sich selbst darstellenden Sichtbarwerdens ist die Großaufnahme,58 die fr Balzs die unhintergehbare Bedingung der hçheren Filmkunst bildet. Die Kunst der Großaufnahme liegt darin, dass sie das Gesicht so nah heran holt, dass es von der Umgebung isoliert wirkt und gleichzeitig fr den gesamten Zusammenhang der Handlung eintreten kann. „Es wird sich in ihm reflektieren, wie sich auch in einem kleinen Teich alle großen Berge spiegeln, die ihn umgeben.“59 Das Gesicht der Großaufnahme stellt damit die auch von Musil beschriebene Grenze zweier Zustnde selbst heraus, die als Verneinung des Lebens erscheint, weil sie seine Illusion erschafft.60 Dass diese Illusion des Lebens technisch vermittelt ist, bewahrt sie gleichzeitig davor, eine unreflektierte Ganzheit in Szene zu setzen. Auf Balzs’ Beschreibungen des Gesichts hat sich spter Gilles Deleuze (1925 – 1995) in seiner Konzeption des Affektbildes explizit bezogen. Was er dort beschreibt, liest sich nicht nur als Reformulierung der sthetischen berlegungen Balzs’,61 sondern auch derjenigen Musils: Wie Balzs bereits sehr genau zeigte, entreißt die Großaufnahme ihr Objekt keineswegs einer Gesamtheit, zu der es gehçrte, deren Teil es wre, sondern und das ist etwas ganz anderes sie abstrahiert von allen raumzeitlichen Koordinaten, das heißt sie verleiht ihm den Status einer Entitt. Die Großaufnahme ist keine Vergrçßerung, auch wenn sie eine Grçßenvernderung impliziert; sie ist eine absolute Vernderung, Mutation einer Bewegung, die aufhçrt, Ortsvernderung zu sein, um Ausdruck zu werden.62

Hier scheint auf, was Musil die „Mystik des Films“ nennt, ein Vorgang der Entrckung und Verwandlung einer Bewegung, die dem Zugriff der

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Vgl. Kappelhoff, Bhne der Empfindungen, S. 32. Vgl. Kappelhoff, Bhne der Empfindungen, S. 32. Balzs, Der sichtbare Mensch, S. 49. Vgl. dazu auch Ulrichs Bemerkung zu Agathes Gesicht, das ihm „plçtzlich sil berglatt vorkam und so wunderlich gegenwrtig, daß es ebenso nahe wie weit von ihm war oder daß sich Nhe und Ferne in dieser Gegenwart aufhoben, so wie der Mond aus Himmelsweiten plçtzlich hinter dem Dach des Nachbarn erscheint.“ (Musil, MoE, S. 894) 61 Vgl. Kappelhoff, Bhne der Empfindungen, S. 32. 62 Gilles Deleuze: Das Bewegungs Bild. Kino 1, 2. Aufl. Frankfurt/Main 1998 [Paris 1983], S. 134 [Herv. i. Orig.].

Anstze zu neuer sthetik

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Rationalitt in den Koordinaten von Raum und Zeit entzogen ist und sich im Modus der Abstraktion zu einem neuen Zusammenhang formt.

3. Anstze zu neuer sthetik Balzs’ Filmsthetik kann fr Musil in doppelter Hinsicht als Vorbild gelten – zum einen hinsichtlich des theoretischen Versuchs, den Film als eigenstndige Kunst zu begrnden, zum anderen hinsichtlich seiner essayistischen Form. Im Zentrum steht fr beide Autoren die sthetische Erfahrung des Kunstwerks, die Musils Essay reflektiert und fortschreibt.63 Er nimmt damit jene schçpferische Haltung ein, die Balzs vom Publikum gefordert und zugleich als erster Zuschauer und Kritiker selbst an den Tag gelegt hatte. So attestiert Musil dem Kritiker, den er einen „Denker“ und einen „Dichter“ nennt, „das Erlebnis nicht nur scharf, sondern auch zrtlich zu beobachten […].“64 Diese Haltung von Nhe und Distanz ist fr das Kunstwerk ebenso konstitutiv wie fr dessen Kritik.65 Aus diesem Grund reichen die Erkenntnisse, die sich aus Balzs’ Theorie ziehen lassen, fr Musil weit ber den Film hinaus: Er erzhlt wie ein Jger, der sich herangeschlichen hat, vom Leben der Filmstcke, die in endlosen Rudeln durch unsere Kinos ziehn, aber beschreibt sie gleichzeitig als erster Anatom und Biologe. Und indem er dies tut, immer gleichzeitig im Erlebnis und in der Reflexion, schafft sein ungewçhnliches Talent auf dem wsten Gebiet der Filmkritik ein unerwartetes Paradigma auch fr die Kritik der Literatur, die er berall dort berhrt, wo er den Film von ihr abgrenzt.66

Dieser Grenze gilt sein Hauptinteresse. Seine Argumentation zielt weniger auf die Intermedialitt von Film und Literatur, als vielmehr auf die grundlegende Bedeutung des sthetischen im Spannungsfeld von unmittelbarem Erlebnis und Reflexion.67 Kennzeichnend fr das sthetische 63 Vgl. Nbel, Robert Musil, S. 230. 64 Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1138. Vgl. dazu auch Arno Ru ßegger: Kinema Mundi. Studien zur Theorie des „Bildes“ bei Robert Musil, Wien, Kçln, Weimar 1996, S. 62 f. 65 Vgl. Nbel, Robert Musil, S. 242. 66 Musil, Anstze zu neuer sthetik, S. 1138. 67 Vgl. Grtz, Psychopathologie und sthetik, S. 188. Andrea Gnam zufolge geht es in Anstze zu neuer sthetik um das Verhltnis von Abstraktion und Leiblichkeit. Vgl. Andrea Gnam: Kçrperverstndnis im aufgehenden Medienzeitalter. Der kinematographische Blick: Robert Musils Roman „Die Verwirrungen des Zçg

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Erlebnis sind Musil zufolge zwei Aspekte: Erstens die „Abspaltung“ der Kunst vom Leben, die als Abstraktion erscheint und sich beim Film in der Reduktion des Geschehens „auf bewegte Schatten“ zeigt.68 Zweitens die „Illusion des Lebens“,69 die durch die Abstraktion erzeugt wird, welche die Elemente der Wirklichkeit zu einem „unwirklichen Ganzen“ ergnzt.70 Musil folgt damit Balzs’ These vom symbolischen Gesicht der Dinge, das Teil eines Zusammenhangs ist, den es gleichzeitig außer Kraft setzt. Denn der Stummfilm lçst die Dinge aus den gewohnten Wahrnehmungskonventionen heraus und setzt sie in ein neues Licht. Durch dieses Zusammenspiel bleibt das sthetische Erlebnis auf die Wirklichkeit bezogen, verndert diese aber durch die Mçglichkeit ihrer berschreitung.71 Dabei sind es gerade die technischen Mittel des Films wie die Großaufnahme, die zu dieser Vernderung und der „Vermutung eines andren, apokryphen Zusammenhangs“72 beitragen. Diese berschreitung des Normalbewusstseins bewirkt die Kunst, wie Musil am Beispiel der Filmbilder verdeutlicht, durch ihr doppeltes Verhltnis zur Wirklichkeit, das sowohl durch Analogie als auch Differenz geprgt ist: Kunst reprsentiert Wirklichkeit und verfremdet sie zugleich.73 Sie formt gleichsam „eine nachgiebige Stelle in unserem, mit dem Anschein unerschtterlicher Festigkeit sich umgebenden Weltbild“.74 Das Erlebnis dieser illusionren Realitt zwischen Einzelheiten und Ganzem, zwischen Negation und Reprsentation bildet zugleich den bergang in eine Wirklichkeit vernderter Wahrnehmung, mithin in den ,anderen‘ Zustand. Die ihm zugrunde liegende Grenzberschreitung veranschaulicht Musil unter Rckgriff auf die ethnographischen Beschreibungen Lucien

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lings Tçrleß“, in: Weimarer Beitrge 46 (2000), H. 3, S. 380 389, hier S. 380. Vgl. zu Musils Essay außerdem Paul Stefanek: Illusion, Ekstase, Erfahrung. Zu Robert Musils Essay Anstze zu neuer sthetik, in: Modern Austrian Literature 9 (1976), S. 155 167; Garbis Kortian: Das Kunstwerk und die Erfahrung der Differenz. Wider einen aktuellen Hang, das Andere der Kunst mit Mystik zu verwechseln, in: Merkur 54 (2000), H. 12, S. 1163 1171. Vgl. Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1138. Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1138. Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1140. Vgl. dazu Luserke, Wirklichkeit und Mçglichkeit, S. 261. Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1142. Vgl. Grtz, Psychopathologie und sthetik, S. 197. Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1142 f.

Anstze zu neuer sthetik

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Lvy-Bruhls (1857 – 1939).75 Der Ethnologe hat dieses andere, außerbegriffliche Verhalten zur Welt als „Partizipation“ beschrieben, als Anteilnahme zwischen den Menschen und den Dingen.76 Es handelt sich dabei um eine kollektiv vermittelte, gefhlsbetonte Vorstellungswelt, die ihre „letzte Wurzel“, so Musil, in „sehr alten Kulturzustnden“ habe.77 Um den Zustand der Partizipation zu erreichen, wird das normale Bewusstsein durch rituelle Formen wie „Rhythmik und Monotonie“ in Bewegung gesetzt, die einer „leichten Hypnose hnlich“78 den Abstand zwischen Ich und Welt verringern.79 Diese „Gleichgewichtsstçrung des Wirklichkeitsbewußtseins“80 ist als Bewegung zugleich „absolute Vernderung“ (Deleuze). Zwischen dem Normalzustand und dem ihm entgegengesetzten ,anderen‘ Zustand – „der Kontemplation, des Schauens, der Annherung an Gott, der Entrckung, der Willenlosigkeit, der Einkehr“81 – besteht eine Wechselwirkung, die Musil als „Sprengung des normalen Totalerlebnisses“ beschreibt. Dieses sprachlich nicht genau fassbare Geschehen ist fr ihn ein „Grundvermçgen jeder Kunst“82. Seine wichtigsten Merkmale sind Subjektivitt, Korporalitt, Einmaligkeit, Augenblicklichkeit, Hingabe und Ich-Auflçsung.83 In diesem Grenz- und Zwischenraum des bergangs treten gleichzeitig noch einmal die beiden Aspekte des Kunsterlebnisses – Produktion und Rezeption – hervor. So erscheint das sthetische Erlebnis als ein Tun und Geschehenlassen, das den Rezeptionsprozess zu einem schçpferischen Vorgang macht. 75 Vgl. Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1141. Er bezieht sich auf Lucien Lvy Bruhl: Das Denken der Naturvçlker, Wien 1921. 76 Vgl. Loewy, Bla Balzs, S. 184. 77 Vgl. Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1141. 78 Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1141. 79 Die Bedeutung ritueller Formen fr moderne Gesellschaften hat vor allem der amerikanische Ethnologe Victor Turner betont. Er unterscheidet zwischen li minalen und liminoiden Phnomen, um obligatorische und individuell geprgte kulturelle Formen zu differenzieren. Seine Forschungen spielen fr das Para digma der Performativitt eine zentrale Rolle. Vgl. Victor Turner: Vom Ritual zum Theater: der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt/Main 1989 [Orig.: From Ritual to Theatre, New York 1982], hier bes. S. 28 94. Zur aktuellen Diskussion und Bedeutung des Rituals vgl. Corinna Caduff/Joanna Pfaff Czarnecka (Hrsg.): Rituale heute: Theorien Kontroversen Entwrfe, Berlin 1999. 80 Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1140. 81 Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1144. 82 Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1145. 83 Vgl. dazu Willemsen, Das Existenzrecht der Dichtung, S. 275.

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Entscheidend ist darum fr Musil nicht die unmittelbare Wirkung des Kunstwerks, sondern dessen nachhaltige Verarbeitung. Erst sie stiftet jenen neuen Zusammenhang zwischen Menschen und Dingen, zwischen Denken und Fhlen, auf den seine sthetische Theorie zielt. Zugleich widerspricht er damit Balzs’ zentraler These von der unmittelbaren Sichtbarkeit der Seele. Musil wirft nmlich der Interpretation der Gebrden im Stummfilm vor, typisierend und formelhaft zu sein, eine „Steinallee bekannter Allegorien“84. Der Film bringe dadurch keine neue Sicht auf die Wirklichkeit hervor, sondern sei in seiner „Rationalitt und Typik“ geradezu der „vergrçbernde Zeiger“ des Lebens.85 Die Interpretation der Gebrden hnge daher von den „Interpretationshilfen“ ab, die der Zuschauer mitbringt.86 So schafft der Film zwar „neue Erlebnisse, aber keine neue Art des Erlebens.“87 Zur Erfahrung lsst sich das affektive Erlebnis nmlich nur verdichten, wenn es begrifflich erfasst wird. In einem solchen ,begreifenden Erfassen‘ – verstanden als ,sinnliche Reflexion‘ und ,Vergeistigung der Sinnlichkeit‘ – besteht der Anspruch, den Musil an das Kunstwerk stellt.

84 Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1148. 85 Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1149. Vgl. dazu Grtz, Psychopa thologie und sthetik S. 193; Nbel, Robert Musil, S. 244. 86 Vgl. Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1149. 87 Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1148.

VII. Training fr die Mçglichkeit Musils sthetik des Sports In Anschluss an Balzs’ physiognomisch begrndete sthetik des Films entwickelt Musil Anstze einer eigenen Kunsttheorie, die nicht nur auf das durch Film oder Literatur bewirkte Kunsterlebnis, sondern auch auf das sthetische Erlebnis des Sports bertragbar ist. An Balzs’ Versuch, den Film als eigenstndige Kunst zu etablieren, interessiert Musil vor allem jene Grenze zweier Welten, die der Filmkritiker in seiner These ber das symbolische Gesicht der Dinge formuliert hat. Diese Grenze bildet den Ansatzpunkt fr Musils kunsttheoretische berlegungen, die verschiedene Formen sthetischen Erlebens in den Mittelpunkt der Betrachtung rcken. Ihren gemeinsamen Bezugspunkt bildet die Bewegung des Kçrpers, die zentral fr Musils Theorie ist. Seine sthetik des Sports verbindet die Reflexion des Sportgeschehens als Medium der Kulturkritik, das Erlebnis des bewegten Kçrpers im Sport und die selbstreflexive Verschrnkung von Gedanken- und Kçrperbewegung als mçgliche Form essayistischer Erkenntnis. Mit der Betonung der Bewegung setzt Musil die sprachkritische Tradition des 18. Jahrhunderts fort, die durch die Gleichsetzung von Bewegung und Lebendigkeit charakterisiert ist.1 Diese Entwicklung erreicht in Kleists Konzeption der Bewegung ihren Hçhepunkt, die zugleich den Diskurs ber die Grazie zu Ende fhrt. Wie sein Essay ber das Marionettentheater zeigt, kommt dabei der bewegte Kçrper gleich zweifach ins Spiel, nmlich auf der Ebene des Dargestellten und im performativen Vollzug auf der Ebene der Darstellung.2 Diese doppelte Bewegung setzt Musils essayistische Sportdarstellung fort. Bezogen auf den in seinem Essay Anstze zu neuer sthetik formu1 2

Vgl. Oschmann, Bewegliche Dichtung, S. 8 f. Zu Kleists Marionettentheater als Bewegungsstudie vgl. Gerhard Neumann: Das Stocken der Sprache und das Straucheln des Kçrpers. Umrisse von Kleists kul tureller Anthropologie, in: Gerhard Neumann (Hrsg.): Heinrich von Kleist Kriegsfall, Rechtsfall, Sndenfall, Freiburg 1994, S. 13 29; Christian Paul Berger: Bewegungsbilder. Kleists Marionettentheater zwischen Poesie und Phy sik, Paderborn, Mnchen, Wien u. a. 2000.

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lierten Kunstanspruch, verbindet das Sporterlebnis in seinem Gelingen als Grenzauflçsung Wirklichkeit und Mçglichkeit. Diese Verbindung vollzieht die essayistische Reflexion auf der Ebene des Textes und macht damit den Sport zu einer Spielform der Erkenntnis.3 Gleichzeitig radikalisiert Musil die sthetische Tradition der Bewegungsdarstellung, indem er sie in den zeitgençssischen Kontext der wissenschaftlichen Entwicklung rckt. Seine Konzeption der Bewegung bezieht die Ergebnisse der Naturwissenschaften und der Medientechnik konsequent mit ein, die ihrerseits entscheidend zur Formierung dieser Bewegung beitragen. Sie sind damit fr seine sthetik des Sports geradezu konstitutiv, deren Erkenntnisinteresse um die Frage kreist, wie der Moderne unter ihren eigenen Bedingungen zu entkommen ist. Kennzeichnend fr die Konzeption der Kunst in Anstze zu neuer sthetik ist ihre Stellung an der Grenze zweier Welten, dem Normalzustand und dem ,anderen‘ Zustand. Durch das sthetische Erlebnis kann diese Grenze in Schwingung geraten, da seine spezifische Qualitt die normale Wahrnehmung sprengt. Diesem Vorgang weist Musil die Mçglichkeit zur Vernderung der Welt zu, da er auf einer Auflçsung der Formelhaftigkeit der bestehenden Begriffe und Erfahrungen beruht.4 Er lsst sich insofern auch als Neustrukturierung der menschlichen Bewusstseinsinhalte verstehen. Um die Auflçsung aber erneut Wirklichkeit werden zu lassen, muss das Erlebte verarbeitet und zu einer neuen Erfahrung verdichtet werden. Insofern gilt Musils Interesse der Rckbersetzung der Grenzerfahrung in den Normalzustand mindestens ebenso wie dem sthetischen Erlebnis selbst.5 Diesen Anspruch kann nur die Reflexion des Erlebten einlçsen, da das Kunsterlebnis zwar durch seine Form die Mçglichkeit zur Vernderung erçffnet, aber stets in den Normalzustand zurckfllt: […] ein hypothetischer Grenzfall, dem man sich annhert, um immer wieder in den Normalzustand zurckzufallen, und eben dies unterscheidet die Kunst von der Mystik, daß sie den Anschluß an das gewçhnliche Verhalten nie ganz verliert, sie erscheint dann als ein unselbstndiger Zustand, 3 4 5

Zur Bedeutung der sthetischen Reflexion als Grundlage von Musils Modernitt vgl. auch Bolterauer, Rahmen und Riss, S. 13. Vgl. Nbel, Robert Musil, S. 234. Diesen Aspekt hat auch Arno Rußegger betont. Vgl. Arno Rußegger: „Denn jede Kunst bedeutet ein eigenes Verhltnis des Menschen zur Welt, eine eigene Di mension der Seele.“ Bla Balzs’ Filmtheorie als Paradigma fr eine meta fiktionale Poetik bei Robert Musil, in: Kinoschriften. Jahrbuch 2 der Gesellschaft fr Filmtheorie, Wien 1990, S. 131 143, hier S. 142.

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als eine Brcke, die vom festen Boden sich so wegwçlbt, als besß sie im Imaginren ein Widerlager.6

Das Bild der Brcke betont die Mçglichkeit der Grenzberschreitung, die die Kunst mit dem ,anderen‘ Zustand verbindet, ebenso wie die Mçglichkeit der Rckbersetzung, die beide trennt. Damit unterstreicht es gleichzeitig den naturwissenschaftlichen-technischen Kontext von Musils sthetischer Konzeption.7 Als Form der Erkenntnis ist Musils Brcke die Spannung zwischen ratiodem und nicht-ratiodem Denken eingeschrieben.8 Dies zeigt auch eine Tagebuchnotiz Musils, die sein eigenes Schreiben zwischen Kritik und halb versunkenen Ahnungen situiert: „Der Verstand, der das wissenschaftliche Training genossen hat, mag nicht folgen, wenn er sich nicht Brcken gebaut hat, deren Tragfhigkeit exakt berechnet ist.“9 Das Kunsterlebnis als Grenzberschreitung bzw. Grenzauflçsung lsst sich nicht nur auf den Film, sondern auch auf den Sport als sthetisches Erlebnis beziehen. Dieser Bezug erscheint legitim, da Musil selbst betont hat, dass in dem „berechtigten Bestreben, die Besonderheit der Knste zu erforschen“,10 ihre Gemeinsamkeiten oft bersehen wrden: „Die verschiedenen Knste mssen aber miteinander und sogar mit der sachlichen Rede gemeinsam in irgendeiner Tiefe die Wurzel haben, da sie ja nichts als verschiedene Ausdrucksformen des gleichen Menschen sind; sie mssen deshalb auch irgendwie ineinander bersetzbar und durcheinander ersetzbar sein.“11 Diese Wurzel lsst sich mit jenen Kulturzustnden in Verbindung bringen, die Musil in Anschluss an Lvy-Bruhl als ,Partizipation‘ gekennzeichnet hat. Dieser Zustand bersteigt das normale Wirklichkeitsbewusstsein und wird von Musil als „außerbegriffliche Korrespondenz des 6 Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1154. 7 Fr Andrea Gnam ist die Brcke Ingenieurskonstrukt und metaphysische Ver heißung. Vgl. Gnam, Kçrperverstndnis im aufgehenden Medienzeitalter, S. 386. In diesem Kontext ist daran zu erinnern, dass in der russischen Film theorie der zwanziger Jahre der technische Begriff ,Montage‘ zum Schlssel der filmischen Aufmerksamkeitskonzentration wird. 8 Vgl. dazu auch Jutta Heinz: Brckenschlge. Zum Verhltnis begrifflicher und bildlicher Erkenntnis bei Musil, Rickert und Simmel, in: Kulturpoetik 6 (2006), S. 1 19, hier S. 16 f. 9 Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 527. 10 Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1149. 11 Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1149.

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Menschen mit der Welt“12 beschrieben. Diesem anderem Weltverhltnis korrespondiert nicht nur Balzs’ These vom Gesicht der Dinge, das die wechselseitige Beziehung zwischen Ich und Welt aufscheinen lsst, in der Musil die Spuren einer „Mystik des Films“ erkennt,13 sondern auch die Hingabe an das Gefhrtwerden durch den Kçrper im Sport. Weil diese Hingabe durch systematisches Training vorbereitet und gesteigert werden kann, weist sie den geschilderten Ritualen und Trancezustnden alter Kulturen durchaus vergleichbare Merkmale wie Rhythmik, Monotonie oder Wiederholung auf. Auf diesen Zusammenhang hat auch Mauss in Die Techniken des Kçrpers hingewiesen. Die bung bestimmter Bewegungen lsst sich vor diesem Hintergrund als berlieferung von Techniken des Selbst verstehen, die zu mystischen Zustnden fhren. Am Ende seiner Abhandlung trifft der Ethnologe folgende Feststellung: Ich glaube, daß es bestimmt und sogar als Grundlage all unserer mystischen Zustnde, Techniken des Kçrpers gibt, die noch nicht untersucht worden sind, und die in China und Indien ausgezeichnet studiert wurden, und zwar zu einer sehr frhen Zeit. Diese sozio-psycho-biologische Untersuchung des Mystischen muß unternommen werden. […] Wir kçnnen jedenfalls auf diese Weise eine große Anzahl von Phnomenen verstehen, die wir bisher nicht verstanden haben.14

Diesem Programm zur wissenschaftlichen Durchdringung des Mystischen hat sich offensichtlich auch Musil verschrieben, wie seine Auseinandersetzung mit Sport und Psychotechnik zeigt. Gleichzeitig knpft er daran seine Utopie anderer Bewussteins- und Erlebnisformen. In Anstze zu neuer sthetik empfiehlt Musil die Beschftigung mit rituellen Formen ausdrcklich der Aufmerksamkeit der „sthetische[n] Forschung“15. Er argumentiert daher im letzten Abschnitt seines Essays bewusst mit „physiologischen Vorstellungen“, um die Erfahrung des ,anderen‘ Zustands – die „mystische Auslegung beiseite“ lassend – zu beschreiben.16 Der ,andere‘ Zustand erscheint hier als Ergebnis eines Richtungswechsels, der das Erlebnis des Zusammenhangs, der bereinstimmung von Ich und Welt ins Innere wendet. Diese Bewegung ins Innere, die zur Bewegung des Inneren wird, ist mit dem Zustand der Partizipation ver12 13 14 15 16

Vgl. Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1141. Vgl. Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1143. Mauss, Die Techniken des Kçrpers, S. 220. Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1141. Vgl. Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1153.

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gleichbar. Sie entzieht sich der Erfahrung, wenngleich Musil unter Hinweis auf die Physiologie einrumt, dass Erfahrung auch nicht ganz ausgeschlossen werden kçnne.17 Damit spielt er auf das durch Training gebte Kçrpergedchtnis an. Denn der Richtungswechsel lsst sich auch als Umschlagpunkt der Aufmerksamkeitskonzentration im Zusammenspiel von Nerven und Muskeln beschreiben. Er vollzieht sich quasi automatisch. Diese innere Bewegung wird gestçrt, und darauf zielt Musils Negation, wenn bewusst versucht wird, den Richtungswechsel zu beeinflussen.18 Dass auch der Sport Zge dieses inneren Erlebens tragen kann, wird im Fortgang der Argumentation deutlich, die den ,anderen‘ Zustand zwischen den Zeilen selbst mit dem sportlichen Erleben in Verbindung setzt. So heißt es ber die skizzierte Aufmerksamkeitsstçrung: „Beispiel: der flchtigste profane Gedanke zerstçrt augenblicklich die Kontemplation.“19 Dieses nicht nher spezifizierte Beispiel findet sich in der Reflexion des Sports in Musils Sport-Essays ebenso wie im Mann ohne Eigenschaften, wie die Interpretation der Begegnung von Ulrich und Bonadea im Zeichen von Kampf, Sport und Mystik gezeigt hat. Gesttzt werden kann diese Deutung außerdem dadurch, dass Musil eine erste Formulierung des Mystischen im Sporterlebnis in dem Essayfragment Durch die Brille des Sports leistet, das etwa zeitgleich mit Musils Essay Anstze zu neuer sthetik entstanden sein drfte.20 So gilt sowohl fr den Zustand der Partizipation als auch fr den Sport als inneres Erlebnis, dass sie zerstçrt werden, wenn sich „plçtzlich kontrollierendes Normalbewußtsein“ einschaltet.21 Denn dadurch wird das perfekt koordinierte, sich aber unbewusst vollziehende Zusammenspiel aller Kçrperteile, das der Grenzberschreitung voraus geht, unmçglich gemacht. Wird die sportliche Bewegung der Selbstbeobachtung bzw. der Beobachtung durch Dritte unterworfen, kann sich der Prozess der Ich-Auflçsung nicht vollziehen. Daher ist der innere Richtungswechsel, den Musil in Anstze zu neuer sthetik beschreibt, an einen Zustand der Reflexionslosigkeit gebunden. Diesen bezeichnet Musil auch als ,Durchbruch‘ durch die bewusste Person, als ,Entrckung‘.

17 18 19 20 21

Vgl. Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1153. Vgl. Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1153. Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1153. Vgl. Musil, Durch die Brille des Sports, GW II, S. 793. Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1141.

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Bezogen auf den sthetischen Diskurs der Bewegung entspricht dieser Reflexionslosigkeit des Gelingens die Schçnheit der „Schlagbewegung im Boxtraining“, die Musil in seinem Tagebuch festgehalten hat.22 Sie knpft an das problematische Verhltnis von Grazie und Reflexion an, das Kleist in seinem Werk wiederholt durchgespielt hat. In ber das Marionettentheater verliert beispielsweise ein junger Mann seine „Lieblichkeit“23, als er ihrer gewahr wird, whrend umgekehrt der Br seine berlegenheit aus dem instinktiven, mechanischen Parieren beim Fechten zieht. Sein „Ernst“ kommt daher, dass er sich – anders als der junge Mann – von Finten und Zurufen nicht ablenken lsst.24 Wenn es heißt, er „rhrte“ sich nicht,25 so ist damit die mangelnde Seelenbewegung als positive Zuschreibung gemeint. Entsprechend heißt es im Anschluss an die Brenepisode bei Kleist: „Wir sehen, daß in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwcher wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt.“26 Die Strke des Bren speist sich mithin aus jenem Dunkel, das bei Musil den Durchbruch durch die bewusste Person bestimmt. Der Br vollfhrt seine Bewegungen wie gebte Tnzer oder trainierte Sportler „ohne Bewußtsein“, wie Musil in Kunst und Moral des Crawlens festgehalten hat.27 In diesem Zusammenhang sei zum einen an Kleists intime Kenntnis der ritterlichen Exerzitien erinnert, zu denen vor allem Tanzen und Fechten gehçrten. Zum anderen sei die Auseinandersetzung der preußischen Heeresreformer mit dem Konzept der Leibesbungen erwhnt, das um das Verhltnis von Individualitt und Abrichtung kreiste.28 Durch sie steht Musil auch in lebensweltlicher Hinsicht in der Tradition Kleists. 22 Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 732. 23 Heinrich von Kleist: ber das Marionettentheater [1810], in: Heinrich von Kleist. Smtliche Werke und Briefe in vier Bnden, Bd. 3, hg. von Klaus Mller Salget, Frankfurt/Main 1990, S. 555 563, hier S. 561. 24 Vgl. Kleist, ber das Marionettentheater, S. 562. 25 Vgl. Kleist, ber das Marionettentheater, S. 562. 26 Kleist, ber das Marionettentheater, S. 563. Zu Kleists Bewegungstexten als ,Sportstudien‘ vgl. Gnter Blamberger: Von der Faszination riskanter Bewe gungen. Anmerkungen zu Kleists Sportbetrachtungen, in: Kleist Jahrbuch 2007, S. 38 45. 27 Vgl. Musil, Kunst und Moral des Crawlens, GW II, S. 698. Zu den menschli chen Grenzen der Beherrschung der animalisch motorischen Funktionen des Leibes vgl. Plessner, Lachen und Weinen, S. 44. 28 Vgl. Kittler, Die Geburt des Partisanen, S. 355 f. Kleist antizipiert mit seinem Modell die Beschreibungen der experimentellen Psychologie der Jahrhundert wende. Hajo Bernett zitiert in diesem Zusammenhang William James, den

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Die Doppelsinnigkeit des Tanz- oder Sporterlebens thematisiert Kleists Essay, indem das essayistische Ich betont, dass etwas, was von der mechanischen Seite leicht sei, deshalb nicht ohne Empfindungen betrieben werden kçnne.29 Die Form der Bewegung sei von „dieser andern Seite“ sogar etwas „sehr Geheimnisvolles“, nmlich der „Weg der Seele des Tnzers“.30 In dieser Beschreibung findet sich die Figur des Richtungswechsels bei Musil vorgebildet, die als Bewegung in das Innere zugleich zur Bewegung des Inneren wird und dadurch kçrperliches und seelisches Erleben ineinander aufschließt, als ffnung zum ,anderen‘ Zustand. Auch Kleist argumentiert, dass sich diese doppelte Bewegung ohne Reflexion vollziehen muss, um die Bewegung der Seele nicht zu stçren, die auf der Ebene ihres Erscheinens sonst ihre Anmut verliert. Insofern gelingt die positive Bezugnahme auf die Figur der Grazie in ber das Marionettentheater schließlich nur ex negativo: Das menschliche Subjekt wird auf einen unendlichen Gang durch die Reflexion geschickt, whrend die Grazie demjenigen zugewiesen wird, der kein oder ein unendliches Bewusstsein hat: dem Gliedermann oder dem Gott.31 Doch scheint gerade im bewusstlosen Vollzug der Bewegung ein sthetisches Potenzial auf, das auch der Anmut der Marionetten eignet. Insofern bildet nicht nur bei Musil, sondern schon bei Kleist die Negation den Ansatzpunkt der essayistischen Utopie. Dies gilt in besonderer Weise fr den mechanischen Vollzug der sportlichen Bewegung, die sich dadurch der Formelhaftigkeit der Gebrden entzieht, die Musil am Stummfilm kritisiert hatte. Denn die Bewegungen im Sport sind zwar durch das Training rational durchformt, aber zugleich reiner Selbstzweck. Musil zielt daher zunchst auf den Augenblick des Erlebens, der sich dem Bewusstsein entzieht und in diesem Entzug, dieser Negation des Lebens, eine andere Form sinnlicher Wahrnehmung ermçglicht. Die Reflexion setzt nachtrglich ein, um diese Wahrnehmung zur Erfahrung zu verdichten und gleichzeitig den ethischen Gehalt des sthetischen Erlebnisses zu formulieren.

Fçrderer Mnsterbergs: „Ein Aufleuchten im Auge des Gegners, ein momen taner Druck seines Schlgers, und der Fechter wird gewahr, dass er unverzglich richtig pariert und erwidert hat […].“ (Bernett, Musils Deutung des Sports, S. 150.) 29 Vgl. Kleist, ber das Marionettentheater, S. 557. 30 Kleist, ber das Marionettentheater, S. 557. 31 Vgl. Kleist, ber das Marionettentheater, S. 563.

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Dieser Aspekt verdient noch weitere Betrachtung, denn die sthetische Erfahrung, die Musil in Anstze zu neuer sthetik umkreist, liegt beim Kunstwerk auf einer anderen Ebene als beim Sport, der in Musils Konzeption ein Selbsterlebnis ist. Im Unterschied zur aktuellen Diskussion der sthetischen Aspekte des Sports bei Martin Seel, Wolfgang Welsch32 oder bei Gumbrecht, der explizit aus der Perspektive des Zuschauers schreibt,33 hat Musil die Perspektive des Sportpublikums weitgehend außer Acht gelassen. Anders als im Fall des Kunsterlebnisses, das sowohl eine produktions- als auch eine rezeptionssthetische Seite hat, konzentriert sich Musil in seiner Reflexion des Sports ausschließlich auf das subjektive Erlebnis des Sportlers. Entscheidend ist hier, dass dieses Selbsterlebnis, um noch einmal du Bois-Reymond zu zitieren, eine „Verdoppelung des Ich“ impliziert. Die Verdoppelung ermçglicht den Abstand des Menschen zu sich, der sich gleichzeitig selbst begegnet. Diese Begegnung ist als Erleben frei von der Kontrolle des Bewusstseins, insofern sie unverfgbar bleibt. Ihr liegt ein letztlich nicht genau bestimmbares Zusammenspiel von Trennung und Vereinigung zugrunde.34 Auch der skizzierte Richtungswechsel ist nur durch diese Verdoppelung als Bewegung im Inneren mçglich. Du BoisReymond beschreibt diese Grenzberschreitung, die zugleich eine Grenzauflçsung ist, folgendermaßen: „Ein letztes unbegreifliches Etwas in uns tritt als Subjekt einem anderen ebenso Unbegreiflichen als Objekt entgegen, welches wir auch, eigentlich aber auch nicht sind […].“35 In diesem Entgegentreten, das Tun und Hingabe, Fhren und Gefhrt-Werden ist, verschiebt sich die subjektive Konzentration auf den Ablauf der Bewegung: „Die Persçnlichkeit lçst sich in das Tun ihrer Muskeln auf.“36 Diesem Erlebnis entspricht die motorische Ekstase, die 32 Vgl. Seel, Ethisch sthetische Studien; Wolfgang Welsch: Sport: sthetisch be trachtet und sogar als Kunst? in: Kunstforum International, Bd. 169 (2004), S. 65 81. 33 Gumbrechts „Lob des Sports“ setzt sich daher hnlich wie Balzs’ Theorie des Films zum Ziel, den Genuss der Zuschauer durch besseres Verstndnis der Sportbegeisterung zu steigern. Vgl. Gumbrecht, Lob des Sports, S. 17. 34 In der Begegnung der ,Zwillinge‘ Ulrich und Agathe taucht diese Gedankenfigur wieder auf, die durch den Mythos der Kugelgestalt und des Paares unterstrichen wird. In den Nachlass Kapiteln des Romans werden die Geschwister auch als die „Ungetrennten und Nichtvereinten“ bezeichnet. Vgl. Musil, MoE, S. 1350 f. 35 Du Bois Reymond, ber die bung, S. 119 f. Das hier geschilderte Selbster lebnis lsst sich mit Plessner auch als exzentrische Positionalitt des Menschen fassen. Vgl. Plessner, Lachen und Weinen, S. 42 50. 36 Musil, Tagebcher, Bd. I, S. 659

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Musil mit dem bewegten Kçrper im Sport in Verbindung gebracht hat.37 Die Ich-Auflçsung ermçglicht dann die Selbstbegegnung. Indem sich aber das Subjekt gegenber tritt, kann es sich auch als Objekt rezipieren, d. h. es kann das Sporterlebnis reflektieren. Insofern kann der Sport mit dem sthetischen Erlebnis der Kunst verglichen werden. Die skizzierte Verdoppelung macht den Rezeptionsprozess im sthetischen Erlebnis des Sports zu einem schçpferischen Vorgang. Diesem Prozess kommt unter den Bedingungen der Moderne und der von Musil konstatierten Durchformung der sinnlichen Wahrnehmung besondere Bedeutung zu. Gerade als Selbsterlebnis erçffnet der Sport die Mçglichkeit, die Formelhaftigkeit der Erfahrung zu durchkreuzen. Demgegenber hat Musil die Mçglichkeit einer produktiven Rezeption des Sports durch die Zuschauerinnen und Zuschauer im Stadion sehr skeptisch beurteilt. Die Frage, inwiefern ein Erlebnis kollektiver ,Partizipation‘ fr Musil vorstellbar war, lsst sich anhand der Essays nicht beantworten. Ein solches Erlebnis ist ihm aber vermutlich aufgrund der Formelhaftigkeit, zu der massenhaftes Verhalten treibt, und aus Angst vor der Auslieferung des Ich an die Masse nicht in den Blick geraten.38 Allerdings lsst sich aus diesen berlegungen Musils Ambivalenz in der Darstellung und Bewertung des Sports besser verstehen. Denn mit dem „wortlosen Erlebnis“ – wie Musil in Anstze zu neuer sthetik mit Blick auf den Stummfilm schreibt – sieht er ein gefhrliches Feld „von heute allgemein verbreiteten Irrlehren“ berhrt,39 die den menschlichen Geist in unmittelbare Beziehung zur Schçpfung zu setzen und vom Verstand zu befreien versuchen. Diese Gefahr ist beim Sporterlebnis besonders groß, die von Musil attackierten „Irrlehren“ waren im Bereich der nicht selten auch religiçs verbrmten Kçrperkultur besonders verbreitet. Wird der Sport dafr beansprucht, sich des „großen Busens der Natur“ (MoE, S. 407) zu bemchtigen, ist er daher vor einer solchen Indienstnahme nicht gefeit. Diese vermeintliche Unmittelbarkeit hatte Musil auch an der Gebrdensprache des Films kritisiert, die leicht zu

37 Philosophisch liegt dem die Vorstellung von einer besonderen leiblichen Ver fasstheit des Menschen zugrunde, die die Phnomenologie um 1900 entwickelt hat. Vgl. dazu Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phnomenologie des Leibes, Frankfurt/Main 2000. 38 Vgl. dazu auch Menges, Abstrakte Welt und Eigenschaftslosigkeit, S. 259. 39 Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1145.

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Kitsch werde.40 Ihr korrespondiert Musils kritische Haltung zur Kommerzialisierung von Sportbetrieb und Filmgeschft, die mit diesem ,Kitsch‘ Hand in Hand geht. Genau aus diesem Grund hat er in Kunst und Moral des Crawlens davor gewarnt, im Sport „das Hohe“ zu suchen.41 Sein Vorwurf lautet, dass die unkritische Sehnsucht nach Unmittelbarkeit nicht zur Vernderung des Denkens und des Fhlens beitrgt, sondern die bestehenden Gefhlskonventionen sogar befestigt. Insofern nehmen Intellektualisierung und Rationalisierung der Sinne unter den Bedingungen der modernen Lebenswelt sogar zu. Daher fordert Musil in Anstze zu neuer sthetik eine sinnliche Kultur, die eine neue Art des Erlebens ermçglicht.42 Es ist nicht das Denken, sondern einfach schon die Notwendigkeit praktischer Orientierung, was zur Formelhaftigkeit treibt, und zwar zur Formelhaftigkeit der Begriffe nicht mehr als zu der unsrer Gebrden und Sinneseindrcke, die sich nach ein paar Wiederholungen genau so einschleifen wie die an Worte geknpften Vorstellungsablufe. Dann aber darf sich auch die Gegnerschaft nicht gegen das Denken richten, wie es in solchen Zusammenhngen fast immer geschieht, sondern muß sich von dem praktischen und faktistischen Normalzustand des Menschen zu befreien versuchen. Geschieht jedoch dies, so bleibt nichts als das dunkle Gebiet des ,anderen Zustands‘, in dem vorlufig alles aufhçrt. Dies ist die wahre und anscheinend unentrinnbare Antithese.43

Diese „Antithese“ treibt nicht nur Musils eigenes Schreiben an, sie begrndet und unterstreicht noch einmal die Notwendigkeit der Reflexion und Rckbersetzung sthetischer Erlebnisse. Diese Anstrengung der Rckbersetzung hat er selbst in seinen Sport-Essays und der UlrichFigur im Mann ohne Eigenschaften unternommen. Zusammenfassend lsst sich fr das sthetische Erlebnis des Sports festhalten, dass es als isoliertes Ereignis ber den eigentlichen Bewegungsablauf, sei es ein Wettkampf oder eine Schlgerei, hinausgreifen kann, indem es die Grenze zwischen Normalzustand und ,anderem‘ Zustand auflçst. Dieser Entgrenzung entspricht die Konvergenz von 40 Das Problem des Kitsches erscheint bei Musil durchaus facettenreich. Siehe dazu u. a. seine eigenen Bemerkungen im Nachlaß zu Lebzeiten; vgl. Musil, Schwarze Magie, GW II, S. 501 503, bes. S. 502 f. 41 Vgl. Musil, Kunst und Moral des Crawlens, GW II, S. 698. 42 Dieses Erleben lsst sich auch als eine spezifische Form der Aufmerksamkeit verstehen, die Affekt und Konzentration verbindet. Vgl. Kimmich, Kleine Dinge in Großaufnahme, S. 185. Diese Verbindung kennzeichnet auch das Erlebnis des Sports. 43 Musil, Anstze zu neuer sthetik, GW II, S. 1146 f.

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Handeln und Erleben, die Ausschaltung des Bewusstseins in der motorischen Ekstase, die Musil auch als ,Durchbruch‘ durch die bewusste Person beschrieben hat. Die berschreitung der Bewusstseinsgrenze markiert gleichzeitig den Zeitpunkt, an dem eine andere Form sinnlicher Wahrnehmung mçglich wird. In dieser Mçglichkeit liegt das utopische Potenzial des Sports. Da es sich aber um schnelle Bewegungsfolgen handelt und schon der „flchtigste profane Gedanke“ die Konzentration stçrt, ist dieser Wandel der Wahrnehmung nicht von Dauer. Analog zum Kunsterlebnis bleibt dadurch der Anschluss an das gewçhnliche Verhalten gewahrt. Die Grenzauflçsung vollzieht sich als gemeinsame Bewegung von Kçrper und Seele, die sich ins Innere wendet und in dieser Wendung den ,anderen‘ Zustand berhrt. Diese Bewegung ist Ich-Auflçsung und Verdoppelung zugleich, die sich als Selbstbegegnung wahrnehmen und umschreiben lsst. Auf der Ebene der Kritik wird dieses Erlebnis von Musil einerseits in den Kontext des inneren Sehens der modernen Mystikrezeption gerckt,44 andererseits, „die mystische Auslegung beiseite“ lassend, in den Kontext von Physiologie und Psychologie. Das Verhltnis von Sport und Mystik muss daher analog zur ,Mystik des Films‘ als Mystikrezeption im Spiegel der zeitgençssischen Forschung gesehen werden, zu der auch die ethnographischen Untersuchungen gehçren.45 Bezogen auf das sthetische Erlebnis des Sports kann vor diesem Hintergrund zwischen Erlebnis und Reflexion, zwischen Kçrpertechnik und Rezeption unterschieden werden. Gleichzeitig aber sind Naturwissenschaften und Technik mehr als ein mçglicher Bezugspunkt fr Musils sthetik des Sports, nmlich eine Konstellation von Wahrnehmungsweisen und Wissen, die den Gegenstand der sthetischen Reflexion nicht nur auf der Ebene des Dargestellten, sondern auch auf der Ebene der Darstellung formieren. Dies konnte unter Rckgriff auf Physiologie und Psychotechnik in besonderer Weise fr Musils Konzeption des Trainings und der sportlichen Bewegung gezeigt werden. So geht dem Vorgang der Inversion systematisches Training voraus, das durch Wiederholung und Steigerung der Bewegungsablufe zu einem automatischen Vollzug der Bewegung fhrt, die die berschreitung der Bewusstseinsgrenze allererst ermçglicht. Musils Bewegungsstudien in den Essays und im Mann ohne Eigenschaften zeigen 44 Vgl. Wagner Egelhaaf, Mystik der Moderne; dazu Schneider, Die Verheißung der Bilder, S. 304. 45 Vgl. Schneider, Die Verheißung der Bilder, S. 316.

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teilweise bis in einzelne Formulierungen hinein, dass seine Vorstellungen von einer exakten Bewegung von denen der Wissenschaft kaum zu unterscheiden sind. Umgekehrt trgt auch Musils Essayismus in der Darstellung und Vermittlung wissenschaftlicher und sthetischer Erkenntnisse zur Konfiguration dieses Wissens bei. Seine Psychotechnik der Transzendenz macht den Sport zu einer sthetischen Praxis, durch die die Grenze der Zweiteilung der Welt verluft. Somit trgt ihre Auflçsung zu einer Erkenntnis der Sinne bei, die immer schon psychotechnisch durchformt sind. Hier liegt in der Tat die „unentrinnbare Antithese“, die Musils radikale Modernitt begrndet.

VIII. Zusammenfassung und Ausblick In Musils Reflexion des Sports lassen sich drei miteinander verwobene Strnge der Auseinandersetzung unterscheiden: Kulturkritik, Kçrpertechnik und sthetik. Ihren gemeinsamen Bezugspunkt bildet die Bewegung des Kçrpers. Kulturgeschichtlich beschreibt Musil die Entstehung des Sports als spielerische Form der Geselligkeit der oberen Gesellschaftsschichten, die sich seit Ende des 19. Jahrhunderts herausbildet. Das subjektiv genossene Vergngen der sportlichen Begegnung verndert sich aber durch seine rasche Verbreitung, die verbindliche Regeln und Techniken notwendig macht und schließlich zu allgemeiner Vergleichbarkeit, Messbarkeit und Normierung fhrt. Diese Vernderungen bilden gleichzeitig die Grundlage fr die Etablierung des Zuschauersports als professionellem Wettkampfsport, der in Musil einen scharfen Kritiker findet. Mit dieser Entwicklung geht die Verwissenschaftlichung des sportlichen Kçrpers einher, der fr die entstehenden Naturwissenschaften zum bevorzugten Objekt experimenteller Bewegungs- und Ermdungsstudien wird. Sie erkennen in der sportlichen bung ein willkommenes – und nur dem militrischen Training vergleichbares – Untersuchungsfeld, zu dessen Formierung sie ihrerseits beitragen. Dieser Zusammenhang wird auch in Musils Aufsatz Psychotechnik und ihre Anwendungsmçglichkeiten im Bundesheere deutlich. Musil kritisiert das quantifizierende Rekordstreben und die mit ihm verbundene Nivellierung von hervorragenden Einzelleistungen, whrend die Optimierung der Bewegungsablufe gleichzeitig seine auf Exaktheit gerichtete Neugierde weckt. Als kçrperbezogene Selbsttechnik erlaubt die Rationalitt des sportlichen Trainings, die Lebenswelt der Moderne zu transzendieren. In solchen Momenten der Entrckung scheint die Mçglichkeit einer anderen Wirklichkeit auf, die als technisch gesteigertes, gleichwohl subjektives Erleben der Moderne zu entkommen sucht. Musil reflektiert nicht nur den fr die Moderne zentralen Widerspruch zwischen Rationalisierung und Individualisierung, sondern versucht ihn auch in seinem performativen Vollzug aufzulçsen. In dieser doppelten Bewegung liegen seine ,Anstze zu neuer sthetik‘. Sie begrnden nicht nur Musils radikale

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Modernitt, sie erçffnen gleichzeitig weitere Forschungsperspektiven, die abschließend kurz skizziert werden sollen. Durch die Auseinandersetzung mit der technischen Entwicklung ist Musils Darstellung des Sports unmittelbar mit zentralen Themenbereichen der Neuen Sachlichkeit verbunden, wie nicht zuletzt die Publikation seiner Sport-Essays im Magazin Der Querschnitt zeigt. Wesentliche Merkmale der neusachlichen sthetik wie Aktualitt, Gegenwarts- und Realittsbezug finden sich sowohl in Musils Essays als auch im Mann ohne Eigenschaften. ,Sachlichkeit‘ selbst ist gerade im Roman eine zentrale Kategorie, und zwar in inhaltlicher ebenso wie in sthetischer Hinsicht.1 Austragungsort dieser sachlichen Moderne ist bei Musil auf vielfache Weise der Kçrper, insbesondere der trainierte Kçrper im Sport. Auch dies verbindet ihn mit der knstlerischen Avantgarde, die im Sport zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Ansatzpunkt zur Verbindung von Kunst und Leben sieht, der dem Erkenntnisstand von Naturwissenschaften und Technik entspricht. Die Auseinandersetzung mit dem Querschnitt hat gezeigt, dass Sportbegeisterung und sthetische Bestimmung neusachlicher Positionen Hand in Hand gehen. Doch hat die hier ausgestellte Sportbegeisterung samt ihrer anti-brgerlichen Zielrichtung mit der eigentlichen Sportpraxis wenig zu tun. Sie ist vielmehr Teil eines intellektuellen Sportdiskurses, der ein bestimmtes Lebensgefhl zum Ausdruck bringt und zum Deutungsangebot fr eine sich rapide wandelnde Gesellschaft wird. Diese Darstellung des Sports trifft auch auf Musils Essays zu, die den Sport zum Medium der Kulturkritik machen. Gleichzeitig geht er aber weit darber hinaus, indem er den Sport als Selbsttechnik konzipiert und reflektiert. Ausdruck findet das sthetische Programm der Sachlichkeit in der Figur des Boxers, die seitens der Avantgarde zum anti-brgerlichen Idealbild moderner Mnnlichkeit stilisiert wird, das dem Wandel der Zeit Entschlossenheit und Hrte entgegen setzt. Der Boxer verkçrpert in dieser spezifischen Mnnlichkeit eine Reaktion auf die Krise der Moderne. Als exklusiv mnnliche Figur, deren Kampf immer schon existentielle Bedeutung besitzt, dient er der Avantgarde auch als knstlerischer Selbstentwurf. Musil hat sich vor allem im Mann ohne Eigenschaften mit der Krise der Mnnlichkeit auseinandergesetzt und seinen Protagonisten mit den Accessoires des Boxers ausgestattet. Die Verknpfung von Sportlichkeit und Mnnlichkeit bezieht sich hier auf ein zeitgemßes Erscheinungsbild von mnnlicher Attraktivitt und macht Ulrichs 1

Vgl. Becker, Von der „Trunksucht am Tatschlichen“, S. 142.

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Mnnlichkeit als Maskerade kenntlich. Die Maske des Sports korrespondiert damit dem Programm der Eigenschaftslosigkeit. Doch beinhaltet der Sport als Selbsttechnik mehr als nur die sthetisierung des Kçrpers mit modernen Mitteln. Als Haltung, die geistige und kçrperliche Elemente vereint, bringt das sportliche Training auch den Widerspruch gegen die Zurichtungen der Lebenswelt zum Ausdruck, von denen es gleichzeitig selbst durchdrungen ist. Dieses Paradox charakterisiert Ulrich, dessen Boxtraining im Roman auch ironische Zge trgt. So bringt es zwar seine kmpferische Haltung zur Wirklichkeit zum Ausdruck, zur Bewltigung des Lebenskampfes taugt es aber offensichtlich nur bedingt: als er zu Beginn des Romans seine Beobachterposition am Fenster verlsst und auf der nchtlichen Straße berfallen wird, begrenzt bereits die gegnerische berzahl seine boxerischen Fhigkeiten. Vor dem Hintergrund der neusachlichen Begeisterung fr das Boxen kann diese Szene als Zurckweisung einer zu schlichten Vorstellung von Tatsachenorientierung gedeutet werden. Eine solche ironische Konstellation bestimmt auch den Ausgangspunkt der gesamten Romankonstruktion. So lçst ein Zeitungsartikel ber ein geniales Rennpferd Ulrichs Entschluss aus, Urlaub von seinem Leben zu nehmen. Dieser Artikel bringt ihn dazu, die Khnheit seiner Gedanken auf sich selbst anzuwenden und traditionell mnnliche Vorstellungen von Genie und Grçße in Frage zu stellen. Konsequenterweise stellt Ulrich sein tgliches Training ein; damit wird der Sport als Teil der Lebenswelt außer Kraft gesetzt, bleibt aber als Form der Modernekritik im Spiel. Ulrich wird zum Abenteurer des modernen Lebens, der durch die Reflexion des Sporterlebnisses versucht, den Normalzustand des Lebens zu durchbrechen. Dieser Versuch markiert denn auch den zentralen Unterschied zwischen dem Programm der Neuen Sachlichkeit und Musils sthetik. In ihr verbinden sich die Herausforderungen der Moderne wie Großstadt, Film, Technik oder eben Sport mit der Vorstellung, die Tatsachenwirklichkeit zugunsten der Mçglichkeit zu berschreiten. Der Kritik, dass Musil zwar inhaltlich und konzeptionell, nicht aber in der formalen Darstellung Postulate der Neuen Sachlichkeit aufgegriffen habe,2 steht gerade der spezifische Reflexionscharakter des Mann ohne Eigenschaften entgegen. Denn Musils Essayismus erzhlt von der Moderne, um sinnliches Erleben und Kritik, Narration und Reflexion zu verbinden.3 2 3

Vgl. Becker, Von der „Trunksucht am Tatschlichen“, S. 153 f. Vgl. Nbel, Robert Musil, S. 250.

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In diesem Zusammenhang ist der Sport ein hervorragendes Beispiel dafr, dass sogar der Bereich der Mçglichkeit im Ansatz rational und psychotechnisch durchformt ist. Genau in dieser Einsicht liegt Musils radikale Modernitt. Seine Anstze zu neuer sthetik gehen insofern ber das Programm der Neuen Sachlichkeit hinaus, als es hier um eine fundamental andere sthetik geht, die die wissenschaftliche Durchdringung aller Lebensbereiche als Voraussetzung in sich aufnimmt, um im selbstreflexiven Vollzug eine neue sinnliche Wahrnehmung zu ermçglichen. Vor diesem Hintergrund ist Musils essayistische Reflexion nicht Ausdruck einer konventionellen Erzhlhaltung, sondern vielmehr eine Infragestellung der Gattung Roman, die sich nicht zuletzt darin erweist, dass Der Mann ohne Eigenschaften unvollendet geblieben ist. Musil reflektiert im Sport nicht nur den fr die Moderne kennzeichnenden Widerspruch zwischen Individualisierung und Normierung, sondern lsst aus ihm zugleich die Mçglichkeit zur Vernderung modernen Lebens erwachsen. Diese Doppelsinnigkeit der sportlichen Praxis ist der Schlssel zu Musils ambivalenter Faszination durch den Sport. Sie bezeichnet gleichzeitig die Diskrepanz zwischen Musil und der Neuen Sachlichkeit, deren sthetisches Programm als Training fr die Wirklichkeit beschreibbar ist. Demgegenber lsst sich Musils sthetik als Training fr die Mçglichkeit charakterisieren, das darauf zielt, der Moderne mit modernen Mitteln zu entkommen. Diese Formulierung impliziert das Paradox, die Moderne im Vollzug zu verneinen und sie damit gleichzeitig zu bejahen.4 Diese doppelte Bewegung erklrt auch, warum der Sport im Umkreisen der Frage ,Kunst oder Wissenschaft?‘ schließlich im Bereich der Kunst gesucht wird. Diesem Zusammenhang wre am Beispiel anderer Sportdarstellungen der zwanziger Jahre sowohl in Hinblick auf die Neue Sachlichkeit als auch auf die Konzeption sthetischer Modernitt weiter nachzugehen. Das in der Frage ,Kunst oder Wissenschaft?‘ verborgene Erkenntnisproblem berhrt darber hinaus das Projekt einer Geschichte und Poetik des Wissens. Musils Frage wre daher noch sehr viel genauer auf den Transfer und die Vermittlung von Kunst und Wissenschaft beziehen, um die Umrisse einer solchen Poetik des Wissens fr das frhe 20. Jahrhundert zu skizzieren. Ihr liegt die Vorstellung von Literatur und Kunst als Experiment zugrunde, die auch Musils Bewegungsstudien charakterisiert. Weitere Aspekte sind die konkreten Bezge zwischen Literatur und Wissenschaft, die inhaltliche Vermittlung wissenschaftlicher 4

Vgl. Lohmeier, Was ist eigentlich modern?, S. 10.

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Erkenntnisse und die Annahme einer spezifischen Form der Darstellung, die sich aus diesen Erkenntnissen speist. Wissenschaft und Literatur sind dann keine getrennten Bereiche, sondern durch die Reprsentation von Wissen miteinander verbunden.5 In Bezug auf Musil stellt sich im Anschluss an diese berlegungen allerdings die Frage, inwiefern gegenber dieser Form der Reprsentation nicht gerade die Prsenz der Effekte dieses Wissens die wesentliche Differenz markiert, die sein Schreiben mit dem Ziel antreibt, zur Verstndigung ber die moderne Lebenswelt beizutragen. Diese Differenz msste auf jenes Verhltnis von Wirklichkeit und Mçglichkeit bezogen werden, das die Literatur erst zum Experimentierfeld macht, in dem „Wissensmodelle und Poetologien“ auf die Probe gestellt werden.6 Auch Musil zufolge mssen sich Dichtung und Wissenschaft miteinander messen lassen, womit er auf die ihnen gemeinsam zugrunde liegende Rationalitt verweist. Seine Texte schreiben sich in die Geschichte des modernen Wissens ein und bestehen zugleich darauf, dass die dichterische Erkenntnis dieses Wissen immer schon verneint, um Erkenntnisse im Sinn einer neuen sthetik zu ermçglichen. Die Prsenzeffekte von Musils essayistischer und zugleich performativer sthetik des Sports markieren schließlich auch ihre Anschlussmçglichkeit an die aktuelle Diskussion um eine sthetik des Sports, die mit der performativen Wende der Kultur verbunden ist.7 Kennzeichnend hierfr sind Schwellenerfahrungen, wie sie von den frhen Ethnologen fr verschiedene Rituale beschrieben wurden. Dies gilt sowohl fr das eigene sportliche Erleben als auch fr das Gemeinschaftserlebnis des Publikums bei Sportveranstaltungen. So wre zu fragen, inwiefern der Zustand der „Partizipation“, den Musil andeutet, mit Mihaly Csikszentmihalyi, einem Schler von Victor Turner, auch als „flow-Erlebnis“ bezeichnet werden kann, das vor allem in sportlichen, kreativen, knstlerischen und religiçsen Zusammenhngen erfahrbar ist.8 Wesentliche

5

6 7 8

Vgl. Nicolas Pethes: Poetik/Wissen. Konzeptionen eines problematischen Transfers, in: Gabriele Brandstetter/Gerhard Neumann (Hrsg.): Romantische Wissenspoetik. Die Knste und die Wissenschaften um 1800, Wrzburg 2004, S. 341 372, hier S. 355 357. Pethes, Poetik/Wissen, S. 371. Vgl. Fischer Lichte, sthetik des Performativen; Gebauer, Sport in der Gesell schaft des Spektakels; Gumbrecht, Schçnheit des Mannschaftssports; ders., Lob des Sports. Vgl. Mihaly Csikszentmihalyi: Das flow Erlebnis. Jenseits von Angst und Lan geweile im Tun aufgehen, Stuttgart 1985 [Orig.: Beyond Boredom and Anxiety

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Merkmale dieses Erlebnisses wie erhçhte Konzentration und Einschrnkung des Aufmerksamkeitsfeldes9 sowie die Konvergenz von Handeln und Erleben10 treffen auch auf Musils Beschreibungen intensiven sportlichen Erlebens zu. Dass Csikszentmihalyi die Przision bestimmter Bewegungen beispielsweise beim Klettern mit dem Lçsen einer mathematischen Aufgabe vergleicht,11 unterstreicht die Nhe zu Musil. Hervorzuheben ist ferner, dass Csikszentmihalyi dem „flow-Erlebnis“ verndernde Wirkung zuspricht. Seine Beschreibung der Ekstase als Heraustreten aus dem Gewçhnlichen, das zugleich eine Bewegung aus Zeit und Raum heraus ist, korrespondiert Musils Begriff der Entrckung, der genau diese Bewegung der Dezentrierung zu fassen sucht. Csikszentmihalyi setzt schließlich dem Rekordstreben als quantitativer Hçchstleistung ein Konzept qualitativer Hçchstleistung entgegen, das auf einen gesteigerten Geistes- und Aufmerksamkeitszustand setzt, um ein tieferes Verstndnis menschlicher Verhaltensweisen zu erreichen.12 Bei allen Gemeinsamkeiten wre allerdings auch der Frage nachzugehen, inwiefern es beim ,Flow‘ lediglich um die Steigerung intensiven Erlebens oder um ein ,anderes‘ Erleben geht, das im Moment des Gelingens unverfgbar bleibt. Die Kategorie des Gelingens spielt auch in der sthetischen Bestimmung des Sports durch Martin Seel eine entscheidende Rolle. Fr ihn ist das ,Gelingen‘ der Kern der Erfahrung des Sportlers, die von paradoxer Art sei.13 Seine Beschreibung des sportlichen Geschehens, die sich streckenweise wie eine Paraphrase der berlegungen Musils liest, spricht wesentliche Fragen einer sthetik des Sports an: Der moderne Leistungssportler ist darauf trainiert, etwas zu leisten, was nicht sicher zu leisten ist. Er ist auf etwas trainiert, was man nicht wirklich trainieren kann: an die Grenze der eigenen Leistung zu gehen. […] Die gelungene sportliche Leistung die zum Gewinn eines Wettbewerbs fhrt oder entscheidend dazu beitrgt ist die einer Koordination von Leistungen, die nicht selbst mehr geleistet werden kann. Sportliche Leistung ist letztlich ein Gelingen, und das heißt: sie ist in einem entscheidenden Aspekt eben keine Leistung. Die Fhigkeit des Sportlers besteht eigentlich darin, es zu diesem Gelingen kommen zu lassen, sich so zum Geschehen des Wettbewerbs zu verhalten, daß es zu Augenblicken eines letztlich nicht intendier-

9 10 11 12 13

The Experience of Play in Work and Games, San Francisco, Washington, London 1975], S. 78. Vgl. Csikszentmihalyi, Das flow Erlebnis, S. 112. Vgl. Csikszentmihalyi, Das flow Erlebnis, S. 119. Vgl. Csikszentmihalyi, Das flow Erlebnis, S. 108. Vgl. Csikszentmihalyi, Das flow Erlebnis, S. 134. Vgl. Seel, Ethisch sthetische Studien, S. 195.

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baren Gelingens kommen kann. Kçrperliche Fitneß, Konzentrationsfhigkeit und taktische Finesse sind die Voraussetzungen dafr, daß der Kçrper im Augenblick der Wahrheit etwas tut, das alle Mçglichkeiten des gezielten Tuns bersteigt.14

Diesen Augenblick der Konvergenz, in dem der Sportler eins wird mit dem Geschehen, beschreibt Seel als Ekstase, deren Mçglichkeit auch das Publikum affiziert.15 Sport sei eine sthetische Inszenierung der menschlichen Natur, die die Mysterien der Kontingenz vorfhre.16 In dieser Anerkennung von menschlichen Grenzen liegt fr Seel zugleich das ethische Potenzial des Sports, eine Bestimmung, die ihre besondere Brisanz in Hinblick auf die Doping-Diskussion erweist. Im Unterschied zu Musil schreibt Seel aber wie Gumbrecht aus der Perspektive des Zuschauers. In Musils Auseinandersetzung mit dem Sport als Selbsttechnik geht es gerade darum, die Grenzen im Gelingen zu berschreiten. Daher liegt fr ihn das ethische Potenzial des Sports in der Mçglichkeit, die Normalbeziehung zwischen Ich und Welt aufzulçsen. Diese Mçglichkeit macht zugleich das sportliche Erleben zum sthetischen Erlebnis. Um dieses Erlebnis zur Erfahrung zu verdichten, kommt Musils essayistischer sthetik zugute, was eigentlich ein Nachteil der literarischen Sportdarstellung ist: ihre Nachtrglichkeit. Sie ermçglicht es, das Erlebnis der Prsenz mit der berlegung zu verbinden, so dass der Sport nicht nur Gegenstand, sondern auch Medium der Reflexion wird, die ihre Aktualitt bis heute erweist.

14 Seel, Ethisch sthetische Studien, S. 195. 15 Vgl. Seel, Ethisch sthetische Studien, S. 197. 16 Vgl. Seel, Ethisch sthetische Studien, S. 198.

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354

Literaturverzeichnis

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Danksagung Die vorliegende Untersuchung stellt die berarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift dar, die im September 2006 von der Philosophischen Fakultt der Leibniz Universitt Hannover angenommen wurde. Allen Menschen, die mich whrend ihrer Entstehung freundschaftlich begleitet und auf vielfltige Weise untersttzt haben, gilt mein herzlicher Dank. Erste Ideen zu dieser Arbeit gehen auf meine Ttigkeit als Postdoktorandin am Graduiertenkolleg Kçrper-Inszenierungen der FU Berlin zurck. Ich danke Prof. Dr. Erika Fischer-Lichte fr ihre Ermutigung und allen am Kolleg Beteiligten fr theoretische Einsichten, die prgend und weiterfhrend fr mich gewesen sind. Die eigentliche Konzeption und Niederschrift der Studie erfolgte whrend meiner Ttigkeit als Wissenschaftliche Assistentin am Deutschen Seminar der Universitt Hannover. Fr ausfhrliche Gesprche, wertvolle Hinweise und anregende Kritik danke ich Prof. Dr. Heinz Brggemann. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Birgit Nbel fr ihr lebhaftes Interesse am Gegenstand, produktive Diskussionen und solidarische Untersttzung insbesondere in der Schlussphase der Arbeit. Fr die Gutachten zu meiner Habilitationsschrift mçchte ich noch einmal nachdrcklich Prof. Dr. Heinz Brggemann, Prof. Dr. Birgit Nbel und Prof. Dr. Alexander Honold von der Universitt Basel danken. Ihre konstruktive Kritik und weiterfhrenden Hinweise haben mir bei der berarbeitung sehr geholfen. Ermunterung und Bestrkung habe ich in den vergangenen Jahren immer wieder vom Arbeitskreis Wissenschaftlerinnen an der Universitt Hannover erfahren. Dafr mçchte ich mich bei allen beteiligten Kolleginnen bedanken. Fr ihre intellektuelle Großzgigkeit und vorbehaltlose Untersttzung danke ich von Herzen Prof. Dr. Helga Meise. Schließlich mçchte ich den Herausgebern der Reihe Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Prof. Dr. Ernst Osterkamp und Prof. Dr. Werner Rçcke, sehr herzlich fr die Aufnahme meiner Untersuchung danken.

Namensregister* Adorno, Theodor W. 162 Albertsen, Elisabeth 26 Balzs, Bla 21, 285-300, 302-303, 306 Baudelaire, Charles 18, 102, 227228 Baum, Vicki 120 Baur, Uwe 26 Benjamin, Walter 74, 100, 191 Bense, Max 162 Bernett, Hajo 25-26 Bertschik, Julia 235 Blei, Franz 90, 99, 118, 124-125, 127, 227, 233-234 Bois-Reymond, Emil du 44, 208209, 255, 310 Bouvires, Jeanne Marie de la Mothe Guyon 271 Brandstetter, Gabriele 226 Brecht, Bertolt 24, 120, 126-128, 133, 291 Breitenstrter, Hans 113-114, 124125, 136 Buber, Martin 270-271 Bunsen, Marie von 134 Canetti, Elias 174, 231 Carpentier, Georges 112, 119, 129 Charell, Erik 101-102 Copeau, Jacques 129 Corino, Karl 27 Coubertin, Pierre de 47 Csikszentmihalyi, Mihaly 319-320 Decroux, Etienne-Marcel 129 Deleuze, Gilles 298, 301 Dry, Tibor 135, 161 *

Diem, Carl 77 Diener, Franz 119 Dietrich, Marlene 120 Dçblin, Alfred 100 Doerry, Kurt 89, 91-93 Edschmid, Kasimir 137 Eisenberg, Christiane 15-16, 90 Fallada, Hans 137 Fiori, Ernesto de 112 Fischer, Nanda 23 Fischer-Lichte, Erika 127 Flechtheim, Alfred 87, 97-102, 112114, 124-126 Fleißer, Marieluise 24, 100, 137, 231, 272-273, 287 Fontana, Oskar Maurus 194 Ford, Henry 62-63 Foucault, Michel 14, 140, 197-198, 200 Freud, Sigmund 247 Fuchs, Georg 122, 127, 130 Gamper, Michael 24 Gide, Andr 101 Giese, Fritz 71, 76-78, 82-83, 126 Goethe, Johann Wolfgang von 202, 245, 253, 294 Gris, Juan 101 Gropius, Walter 127 Großmann, Rudolf 113 Grosz, George 100, 110-111, 115 Gumbrecht, Hans Ulrich 125, 310, 321 Gutmann, Carl 135 GutsMuths, Christoph Friedrich 183

Das Register verzeichnet nur reale Personen, die Angaben beziehen sich auf den Haupttext.

357

Namensregister

Habermas, Jrgen 148 Healy, Cecil 184 Hbert, Georges 129 Helmholtz, Hermann von 44 Hemingway, Ernest 101, 119 Hessen, Robert 12, 161 Heydt, Klara 134 Hoberman, John 47 Hornbostel, Erich von 214 Horvath, don von 24 Ihering, Herbert

95, 119

James, Wilhelm 67 Janos, Toldy 9 Jean Paul 170-171 Jeßner, Leopold 119 Joseph II. 8, 139 Jnger, Ernst 191 Kafka, Franz 171 Kaleko, Mascha 100 Kant, Immanuel 242, 258 Kappelhoff, Hermann 297 Kaufmann, Nicholas 79 Kessel, Martin 24, 137 Keun, Irmgard 42, 137 Kisch, Egon Erwin 119 Kleist, Heinrich von 3, 211-213, 263, 275-276, 303, 308-309 Kracauer, Siegfried 24, 28, 81-83, 158, 173-174 Krmmel, Carl 194, 206, 209-210, 212 Lahm, Karl 172 Landmann, Edith 142 Lania, Leo 119 Lavater, Johann Caspar 294 Lawrence, D.H. 101 Lger, Fernand 101 Leis, Mario 23 Leitenstorfer, Anton 46, 197 Lvy-Bruhl, Lucien 301, 305 Liebermann, Max 153 Lukcs, Georg 162 Mach, Ernst

239

Mackenzie, Michael 110 Maeterlinck, Maurice 119 Mahir, Sabri 120 Marcuse, Julian 32-33, 37, 39-40, 208-209 Marey, Etienne-Jules 48-51, 248, 286 Mauss, Marcel 14, 182, 306 Meisl, Willy 92 Meister Eckhart 260-261 Meyerhold, Wsewolod 128-129 Moede, Walther 71-72 Mosso, Angelo 248 Mller, Hanns-Marcus 23-25 Mnsterberg, Hugo 60, 67-70, 76, 78, 188, 190, 192, 200, 205, 207 Muybridge, Eadweard 49, 248 Napoleon Bonaparte 240, 252 Neher, Carola 120 Neymeyr, Barbara 225 Nielsen, Asta 297 Nielsen, Stefan 16 Nietzsche, Friedrich 250, 252 Nbel, Birgit 2, 162 Oertzen, Augusta von

134

Peters, Alfred 256 Pfeiffer, Karl Ludwig 94 Pfuel, Ernst von 183-184 Pfungst, Oskar 250 Pinthus, Kurt 100, 119 Piscator, Erwin 127 Pitcairn-Knowles, Andrew 91 Plessner, Helmuth 14 Poelzig, Hans 127 Polgar, Alfred 24, 100, 135 Poppelreuter, Wolfgang 71 Pound, Ezra 101, 119 Prager, Wilhelm 79 Rabinbach, Anson 73 Radkau, Joachim 54 Reinhardt, Max 122, 127 Remarque, Erich Maria 91 Rilke, Rainer Maria 167 Risse, Heinz 12, 256

358 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48

Namensregister

Rivire, Joan 221-222 Roth, Joseph 24, 92-93, 119, 133 Rousseau, Jean-Jacques 183 Rowohlt, Ernst 100 Sachse, Carola 80 Sarasin, Philipp 54-55, 61 Scherl, August 91 Schiller, Friedrich 253 Schlegel, August Wilhelm 3 Schlesinger, Georg 71 Schmeling, Max 85, 113, 115-116, 119 Schmidt, Jochen 260 Schrage, Dominik 66 Schulte, Robert Werner 75, 77-78 Schumbug, Wilhelm 46 Seel, Martin 310, 320-321 Seiffert, Hans 131-132, 135 Sicks, Kai Marcel 88 Simmel, Georg 6, 63, 140-143, 150, 156-157, 159-162, 167, 199, 280, 282, 296 Stein, Gertrude 100 Stern, William 64-66, 69 Sternheim, Carl 100 Stinnes, Claereonore 100 Stumpf, Carl 186, 250 Swatosch, Ferdl 147 Tandler, Julius

135

Taylor, Frederick W. 5, 53, 55-63, 66-67, 69-70, 73, 188, 190 Taylor, Janice 136 Teresa von Jesu 271 Thieß, Frank 24, 133 Tissi, Philippe 47, 51-52 Torberg, Friedrich 137 Turner, Victor 319 Tzara, Tristan 101 Uridil, Josef 85 Uzcudun, Pablo 124 Valry, Paul 101 Veblen, Thorstein 227 Walser, Robert 171 Weber, Max 21, 62 Wedderkop, Hermann von 99-100, 102-109, 112, 137 Wedemeyer-Kolwe, Bernd 34 Weißmller, Johnny 136, 184 Welsch, Wolfgang 310 Wießner, Kurt 184 Wittner, Victor 89, 99, 104 Wundt, Wilhelm 67-68 Zabler, Marie 134 Zenge, Wilhelmine von Zuntz, Nathan 46 Zweig, Stefan 223

263