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German Pages [305] Year 2017
Säkularität und Moderne Herausgegeben von Karl Gabriel und Christoph Horn
GRENZFRAGEN BAND 42 ALBER https://doi.org/10.5771/9783495848333
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Säkularität und Moderne
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Grenzfragen Veröffentlichung des Instituts der Görres-Gesellschaft für interdisziplinäre Forschung (Naturwissenschaft – Philosophie – Theologie) Herausgegeben von Gregor Maria Hoff Band 42
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Säkularität und Moderne Herausgegeben von Karl Gabriel und Christoph Horn Beiträge von Florian Baab Claus Beisbart Karl Gabriel Gregor Maria Hoff Ludger Honnefelder Peter Neuner Thomas Schmidt-Lux Eberhard Schockenhoff Rudolf Stichweh Magnus Striet Christian Walter
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48833-1 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-84833-3
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Gabriel/Christoph Horn
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Säkularität, Moderne und Religion im philosophischen und soziologischen Diskurs Säkularität und Moderne im philosophischen Diskurs: Die Frage nach dem Ursprung, der Bedeutung und der Legitimität des säkularen Verständnisses von Vernunft und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ludger Honnefelder
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Charles Taylors Konzept des säkularen Rahmens und Glaube als Option . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gregor Maria Hoff
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Der aktuelle Diskurs über Säkularität und Moderne in der Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Gabriel
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Religion als globale Kategorie. Zur Theorie funktionaler Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rudolf Stichweh
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Inhalt
Erscheinungsformen und Konfliktkonstellationen von Säkularität Naturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Claus Beisbart Programm und Rezeption des Szientismus in Ostdeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Thomas Schmidt-Lux Säkularer Humanismus und christlicher Glaube . . . . . . 182 Florian Baab Kann der moderne liberale Staat Zugeständnisse an illiberale Religionsgemeinschaften machen? . . . . . . . . 202 Christian Walter
Vom Antimodernismus zur theologischen Legitimation von Säkularität und Freiheit in Kirche und Theologie Modernismus und Antimodernismus. Eine misslungene Antwort der Kirche auf die Herausforderungen der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Peter Neuner Die Botschaft des Christentums im Horizont der modernen Freiheitsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Eberhard Schockenhoff
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Inhalt
Säkularisation und christlicher Glaube. Überlegungen zu einer umstrittenen Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Magnus Striet
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
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1 Einleitung
1.1 Welche Forderungen darf ein säkularer Staat an Religionen richten? Die Diagnose, es gebe in jüngerer Zeit eine spürbare Renaissance des Religiösen, entspricht längst der Mehrheitsmeinung innerhalb der empirischen Religionssoziologie. Damit scheint nunmehr die ältere Säkularisierungsthese endgültig obsolet geworden zu sein, der zufolge Religionen in der Moderne in genau dem Maß an Bedeutung verlieren, in dem Wohlstand, Bildung und Technik an Stellenwert zulegen und in dem die Lebenswelt durch Faktoren wie Industrialisierung, Urbanisierung, Rationalisierung, funktionale Differenzierung, Demokratisierung und gesellschaftliche Pluralisierung bestimmt ist. Ist damit auch die religionsphilosophische Überzeugung obsolet geworden, die man als Rationalisierungsthese bezeichnen kann und die für die Epoche der Aufklärung charakteristisch war? Der Rationalisierungsthese zufolge lässt sich Religion auf vernünftige Überzeugungen (aus Moral und Metaphysik) reduzieren. Alles, was über eine solche rationale Kombination aus Moral und Metaphysik hinausgeht, also Wunder, Gebete, Riten, Gottesdienste, mystische Erfahrungen, fromme Praktiken, Segnungen usw., ist demnach überflüssiger Aberglaube und muss verabschiedet werden. Es war besonders Immanuel Kant, der in seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793/94) den Wunderglauben, die Tradition und die kirchliche Autorität verwarf und eine „moralische Religion“ vorschlug, „die nicht in Sat9 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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zungen und Observanzen, sondern in der Herzensgesinnung zu Beobachtung aller Menschenpflichten als göttlicher Gebote zu setzen ist“ (VI.84). Schon die ersten Rezipienten Kants wehrten sich allerdings gegen diesen Reduktionsversuch. So hat F. D. E. Schleiermacher in seinen Reden über die Religion (1799) betont, Religion sei nicht auf Metaphysik und Moral zu reduzieren, sondern habe ein besonderes Objekt, das ‚Universum‘, beinhalte ein besonderes Gefühl, das der ‚schlechthinnigen Abhängigkeit‘, und sei mit einem besonderen Wahrnehmungsvermögen verbunden, dem ‚Sinn und Geschmack fürs Unendliche‘. Wie auch immer man das komplexe Phänomen Religion näherhin bestimmen mag – ob im Sinn einer substantialistischen oder einer funktionalistischen Definition, in jedem Fall hat Schleiermacher recht damit, dass die Kantische Reduktion dem Phänomen mit seinen unterschiedlichen Anteilen, also der Mystik, der Moral, der Metaphysik, dem Gemeinschaftsbezug, dem Ritualismus und der Traditionspflege, den Aspekten der Kontingenzbewältigung und der sozialen Stabilisierung nicht gerecht wird. Die Isolierung einiger dieser Teilaspekte scheint illegitim, und mithin ist auch keine Auflösung der Religion in ihre Teile zu erwarten. Zugleich mit dem Fall der Säkularisierungsthese wird also auch die Rationalisierungsthese fragwürdig. Zwar mag es stark säkularisierte Bevölkerungsgruppen oder gesellschaftliche Bereiche geben, aber aufs Ganze gesehen sind die Religionen nicht im Rückzug begriffen. Ebenso illusorisch scheint es, die Religionen radikal rationalisieren und domestizieren zu wollen. Wir werden in der Moderne weiterhin mit den Religionen leben müssen – vielleicht ja sogar in einem stärkeren Ausmaß als in früheren Zeiten. Wenn schon die Religionen in der Moderne nicht verschwinden, bleibt es dennoch dabei, dass sie oft modernitätstypisch transformiert sind – wenn auch nicht im rationalistischen Sinn, sondern eher in der Weise einer stark subjektiv gefärbten Erlebnisspiritualität – und dass sie in westlichen Gesellschaften in der Regel im Plural auftreten. Weil Subjektivität und Pluralität einen 10 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
Einleitung
einfachen gesellschaftlichen Konsens darüber, was geglaubt werden soll und was nicht, unmöglich machen, tritt nun eine weitere Überlegung auf den Plan, die für die neuzeitliche religionskritisch-liberale Haltung von Bedeutung ist, nämlich das Privatisierungsgebot. Dem Privatisierungsgebot zufolge muss Religion, soweit sie, wie wir sahen, tatsächlich über vernünftige Überzeugungen aus Moral und Metaphysik hinausgeht, auf den Privatbereich beschränkt bleiben. Verweist jemand in der Öffentlichkeit aufgrund seines persönlichen Glaubens auf das biblische Verbot homosexueller Praktiken (Leviticus 18,22: „Du sollst nicht beim Knaben liegen wie beim Weibe; denn es ist ein Gräuel“), so drückt er damit allenfalls seine private Ablehnung von Homosexualität aus, kann aber nicht den Anspruch erheben, damit ein Argument an der Hand zu haben, das für einen Nichtgläubigen von irgendeiner Bedeutung ist. Richard Rorty spricht deswegen von Religion als einem ‚conversation-stopper‘. Wenn es zutrifft, dass in einer modernen westlichen Gesellschaft eine Mehrzahl von miteinander inkompatiblen, aber um der Konfliktfreiheit willen privatisierten Religionen existiert, dann impliziert dies ferner unmittelbar ein staatliches Neutralitätsgebot: Der liberale Staat muss in religiösen und weltanschaulichen Fragen neutral bleiben. Nach John Stewart Mill, von dem die maßgeblichen einschlägigen Überlegungen stammen, muss der liberale Staat stets ein Neutralitätsprinzip beachten, wonach staatliches Handeln nur dann Legitimität beanspruchen kann, wenn es mit Gründen gerechtfertigt wird, die jeder in der relevanten Öffentlichkeit als Gründe akzeptieren kann. Mill formuliert folgerichtig auch ein harm principle, welches besagt, dass ein Staat, der dezidiert eine bestimmte Güterkonzeption verfolgt, damit die Freiheit derjenigen schädigt, die die entsprechende Vorstellung des Guten nicht teilen (Paternalismusproblem). Aber bis zu welchem Punkt soll das staatliche Neutralitätsgebot genau reichen? Muss sich der Staat lediglich vor einer einseitigen Parteinahme hüten, oder muss er darüber hinaus in einem aktiven Sinn laizistisch sein (wie man dies aus Frankreich oder 11 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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vom Kemalismus in der Türkei her kennt)? Hier sind offenbar verschiedene Wege möglich. In jedem Fall ist aber klar, dass sich der Staat nicht nur selber unparteilich verhalten soll, sondern dass er seinen Bürgerinnen und Bürgern zudem auch noch Regeln der Zurückhaltung in ihrem Umgang mit Religion in der Öffentlichkeit auferlegen muss. Eine zentrale Bedeutung kommt hierbei der Forderung nach Weltanschauungsneutralität öffentlicher politischer Argumentation zu; wer in der Öffentlichkeit etwas zu Fragen der allgemeinen Willensbildung oder politischen Entscheidungsfindung beitragen will, soll das ausschließlich mit Gründen tun, die für andere als Gründe zählen. Wie weit darf der Staat dabei gehen? Soweit wir sehen, gibt es vier zentrale Einwände gegen die Forderung nach einer Weltanschauungsneutralität öffentlicher politischer Argumentation: (a) Würde man den religiösen Bürgern eines Landes die Artikulation ihrer Glaubensüberzeugungen in der politischen Öffentlichkeit vollständig verbieten, so ergäbe sich daraus für diese Bürger eine nicht hinnehmbare Schizophrenie. Denn die Religionen enthalten eine Fülle von Überzeugungen, die politisch relevant sind; sie fordern ihre Gläubigen dazu auf, diese ernst zu nehmen. Andererseits dürften die Gläubigen diese Inhalte aber nicht öffentlich zum Ausdruck bringen. (b) Ließe man keinen moderaten Einfluss (liberaler) religiöser Ideen auf die politische Öffentlichkeit, ihre Meinungsbildung und Entscheidungsfindung zu, so würde man religiöse Bürger in einen gefährlichen Fundamentalismus drängen. (c) Insbesondere Jeffrey Stout hat darauf aufmerksam gemacht, dass zentrale und exemplarische Figuren der demokratischen Geschichte der USA – wie Abraham Lincoln oder Martin Luther King – mitsamt ihrer Reden für eine Aufhebung der Sklaverei und für Bürgerrechte das Ideal einer Konsenskonzeption öffentlicher Rechtfertigung nicht erfüllen. Retrospektiv betrachtet hätten also die Argumente von Lincoln und King – weil sie abhängig waren von kontroversen religiösen Prämissen – aus der Sicht eines Politischen Liberalismus keinen Einfluss haben dürfen 12 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
Einleitung
auf die Frage, ob sich eine Abschaffung der Sklaverei und eine Durchsetzung von Bürgerrechten öffentlich rechtfertigen lässt. (d) Der säkulare liberale Staat tut sich zumindest schwer damit, bürgerschaftliche Ideale wie Gemeinsinn, Verantwortungsbereitschaft, Engagement, Toleranz oder Solidarität zu befördern, ohne dabei religiöse Weltbilder anzuzapfen oder auf bestehende religiöse Überzeugungen zurückzugreifen (vgl. das berühmte Böckenförde-Diktum „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“). Diese Einwände scheinen berechtigt und liefern uns gute Gründe, von einer radikalen Verbannung religiöser Überzeugungen aus dem politischen Leben moderner Gesellschaften abzusehen. Wenn ein moderater Einfluss liberaler religiöser Ideen auf die politische Sphäre besteht, scheint daraus insgesamt kein Schaden, sondern sogar eher ein Nutzen zu erwachsen. Nun existiert allerdings nicht nur das Problem des religiösen Fundamentalismus, das einer umstandslosen Einbeziehung religiöser Glaubensüberzeugungen klare Grenzen setzt. Nicht nur Extremisten – sagen wir Biblizisten, Ultraorthodoxe oder Dschihadisten – bilden hier eine (in ihrer Bedeutung wachsende) Herausforderung für moderne Öffentlichkeiten. Bereits die gewöhnlichen, für unseren Kulturkreis herausragend wichtigen mosaischen Buch- und Offenbarungsreligionen, also Judentum, Christentum und Islam, erzeugen eine erhebliche Schwierigkeit. Gemeint ist nicht so sehr das Problem ihrer angeblichen latenten Gewalttätigkeit, auf das Jan Assmann aufmerksam gemacht hat, sondern das ihres ausschließlichen Wahrheitsanspruchs, welches letztlich auf einer Inkompatibilitätsthese beruht. Judentum, Christentum und Islam erheben, jeweils in ihrer klassischen Gestalt, einen Wahrheitsanspruch, der den von Common Sense, Wissenschaft und Philosophie überbietet und eine letztgültige Orientierung verspricht. Alle drei Religionen sehen sich als ineinander unübersetzbar an und glauben, dass ihre eigene Gottesbeziehung exklusiver Art ist. Mit Blick auf ihr Konkurrenzverhält13 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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nis des Judentums mit den Religionen des Alten Orients schreibt Jan Assmann in seinem Buch Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus (München 2003) etwa: „Das Prinzip der Übersetzbarkeit von Götternamen diente dazu, den primitiven Ethnozentrismus der Stammesreligionen zu überwinden und die Kulturen zueinander in Beziehung zu setzen und transparent zu machen. Daß diese Beziehungen sich dann fallweise auch durchaus gewalttätig gestalteten, steht auf einem ganz anderen Blatt. Wichtig ist aber, daß das Prinzip der Mosaischen Unterscheidung diese Übersetzbarkeit blockierte. Natürlich steht es den „Völkern“ frei, sich am Ende der Zeiten einmal zum wahren Gott zu bekennen, aber ihre gegenwärtigen Formen der Verehrung eines Höchsten Wesens werden nicht als wahrheitsäquivalent anerkannt. Jupiter läßt sich nicht in Jahwe übersetzen. Den Juden wäre es auf der Basis dieser Unterscheidung unmöglich geworden, mit den Assyrern ein Bündnis einzugehen, dessen eidliche Besiegelung die Gleichstellung und gegenseitige Übersetzbarkeit Assurs und Jahwes impliziert hätte. Die Mosaische Unterscheidung hat daher durchaus realpolitische Konsequenzen, und ich nehme an, daß es bei ihrer Einführung vor allem und ganz zentral auf diese angekommen ist. Für die Juden ließ sich Jahwe nicht mit „Assur“, „Amun“ oder „Zeus“ übersetzen. Das haben die „Heiden“ nie verstanden. Auf der Grundlage der jahrtausendealten Praxis der Götterübersetzung hatte sich längst die Überzeugung herausgebildet, daß alle Götternamen im Grunde denselben Gott bezeichnen.“ Für Judentum, Christentum und Islam sind, ihrem eigenen elementaren Selbstverständnis nach, folgende Punkte charakteristisch: (i) Die Absolutheit ihres Wahrheitsanspruchs, (ii) ihre Unübersetzbarkeit und Unvermittelbarkeit mit anderen Religionen oder kulturellen Praktiken, (iii) ihre begriffliche Nicht-Rekonstruierbarkeit und rationale Unauflöslichkeit, (iv) die exklusive Sonderstellung der Gläubigen als Wahrheitsbesitzer, (v) ihre Nicht-Relativierbarkeit oder Nicht-Kombinierbarkeit mit anderen Weltdeutungen, (vi) ihr Missionsauftrag. Aus der klassischen 14 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
Einleitung
Perspektive von Judentum, Christentum und Islam besitzt Religion die alleinige und letzte Deutungshoheit über das Universum und das menschliche Leben. Liberale Staaten müssen nun primär darauf setzen, dass ein solches pointiertes Selbstverständnis sogar den Mitgliedern der genannten Religionen selbst zu viel des Guten ist. Die betreffenden Mitglieder könnten beispielsweise einsehen, dass es andere ernstzunehmende Bürger gibt, die in der derselben Lage wie sie selbst sind, nämlich Religionsangehörige mit absolutem Wahrheitsanspruch zu sein, ohne dass diese jedoch derselben Religion angehören würden. Solange man übereinander ohne negative Konsequenzen verächtlich, feindselig oder gleichgültig denken kann, mag diese Situation unproblematisch sein. Wenn man dagegen miteinander in einem einzigen Gemeinwesen auskommen und zu gemeinsamen Entscheidungen gelangen will, muss man zumindest so etwas ins Auge fassen, was John Rawls in Politischer Liberalismus (1993) als die Idee eines overlapping consensus bezeichnet hat. In einem überlappenden Konsens, wie Rawls ihn konzipiert, erklären sich Bürger aufgrund ihrer ‚vernünftigen umfassenden Lehren‘ dazu bereit, eine politische Konzeption von Gerechtigkeit für die gesamte Gesellschaft anzuerkennen, wobei jede der umfassenden Konzeptionen eigene Gründe hierfür haben mag. Eine Lehre ist genau dann ‚umfassend‘, wenn sie Konzeptionen darüber, was im menschlichen Leben von Wert ist, und Ideale des persönlichen Charakters ebenso einschließt wie Ideale der Freundschaft und der familiären und gemeinschaftlichen Beziehungen sowie vieles andere mehr, das unser Handeln (im Grenzfall das ganze menschliche Leben) bestimmt. Eine politische Konzeption von Gerechtigkeit ist nach Rawls also auch dann noch möglich, wenn eine Gesellschaft vom ‚Faktum des vernünftigen Pluralismus‘ bestimmt ist, sich also aus irreduzibel unterschiedlich orientierten Bürgern zusammensetzt. Nach Rawls impliziert eine ‚politische Gerechtigkeitskonzeption‘, dass bestimmte Grundrechte, Grundfreiheiten und Chancen bestehen sollen, wie man sie aus demokratischen Verfassungsstaaten kennt; diesen Rechten, 15 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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Freiheiten und Chancen wird ein Vorrang insbesondere gegenüber den Ansprüchen des Allgemeinwohls und den Werten des Perfektionismus zugewiesen; überdies werden Maßnahmen vorgesehen, die dafür sorgen, dass alle Bürger über die allgemein dienlichen Mittel verfügen, die zur wirksamen Nutzung ihrer Freiheiten und Chancen nötig sind. Jürgen Habermas akzeptiert demgegenüber von vornherein die Vorstellung, religiöse Bürger sollten in der politischen Öffentlichkeit Argumente verwenden dürfen, die sich aus ihrer Glaubenseinstellung herleiten. Habermas sagt, dass „der liberale Staat, der mit der grundrechtlichen Gewährleistung der Religionsfreiheit solche Existenzformen ausdrücklich schützt, nicht gleichzeitig von allen Gläubigen erwarten [kann], dass sie ihre politischen Stellungnahmen auch unabhängig von ihren religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen begründen sollen. Diese strikte Forderung kann sich nur an die Politiker richten, die innerhalb der staatlichen Institutionen der Pflicht zur weltanschaulichen Neutralität unterliegen, also an alle, die öffentliche Mandate einnehmen oder dafür kandidieren“ (Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt a. M. 2005, 133 f.). Ergänzend dazu heißt es: „Wesentlich für die Standardversion ist nur die Forderung nach ‚säkularer Rechtfertigung‘ : Weil im liberalen Staat nur säkulare Gründe zählen, sind die gläubigen Bürger dazu verpflichtet, zwischen ihren religiösen und säkularen moralischen Überzeugungen eine Art „Gleichgewicht“ – theo-ethical equilibrium – herzustellen. Gegen diese Forderung richtet sich der Einwand, dass viele religiöse Bürger eine solche artifizielle Aufspaltung des eigenen Bewusstseins gar nicht vornehmen könnten, ohne ihre fromme Existenz aufs Spiel zu setzen. Dieser Einwand muss von der empirischen Feststellung unterschieden werden, dass viele Bürger, die aus religiöser Sicht zu politischen Fragen Stellung nehmen, gar nicht kenntnis- und einfallsreich genug sind, um dafür säkulare, von ihren authentischen Überzeugungen unabhängige Begründungen zu finden. Da Sollen Können voraussetzt, wiegt diese Tatsache allein schon schwer genug. Aber der zentrale Einwand hat 16 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
Einleitung
einen normativen Anklang. Er bezieht sich auf die integrale Rolle, also auf den „Sitz“, den die Religion im Leben der gläubigen Person hat. Der Fromme vollzieht seine Existenz „aus“ dem Glauben. Der wahre Glaube ist nicht nur Doktrin, geglaubter Inhalt, sondern Energiequelle, aus der sich performativ das ganze Leben des Gläubigen speist.“ Habermas verweist aber auch auf die ‚Deutungspotenziale‘ theologischer Begriffe wie ‚Sünde‘, ‚Gottesebenbildlichkeit des Menschen‘ oder ‚Reich Gottes‘, zu deren akzeptabler politischer Verwendung es allerdings einer Übersetzungsleistung bedürfe. Überdies verlangt Habermas, „[…] das religiöse Bewußtsein muß erstens die kognitiv dissonante Begegnung mit anderen Konfessionen und anderen Religionen verarbeiten. Es muß sich zweitens auf die Autorität von Wissenschaften einstellen, die das gesellschaftliche Monopol an Weltwissen innehaben. Schließlich muß es sich auf die Prämissen des Verfassungsstaates einlassen, die sich aus einer profanen Moral begründen.“
1.2 Überblick Mit diesem einführenden Blick in die politisch-philosophische Debatte um die Säkularität des modernen Staates und die Stellung von Religion und Säkularität in modernen Gesellschaften sind die Themen umrissen, mit denen sich das Institut für Interdisziplinäre Forschung der Görresgesellschaft auf seiner Jahrestagung im Jahr 2013 auseinandergesetzt hat. Es galt im interdisziplinären Diskurs zu klären, was Säkularität im Verhältnis zu Religion bedeutet, wo ihre Quellen liegen, welche Ausformungen sie heute annimmt und welche Folgerungen daraus für Religion, Theologie und christlichem Glauben zu ziehen sind. Die Mitglieder des Instituts zusammen mit ihren kompetenten Gästen aus Philosophie, Soziologie, Rechtswissenschaft und Theologie haben sich der Fragestellung mit einem breiten Suchraster und einer Pluralität von Zugangsweisen und Perspektiven genähert. 17 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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Den ersten Teil des Bandes bilden Beiträge aus Philosophie und Soziologie, die den Ursprüngen von Säkularität und den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen von Religion und Säkularität nachgehen. Die Ursprünge der säkularen Vernunft sind – so die Perspektive von Ludger Honnefelder – im 13. Jahrhundert im westlichen Europa zu suchen. Thomas von Aquin vollzieht eine Wende vom heteronomen zum autarken Naturrecht, indem er die Autonomie der Vernunft theonom begründet. An die Stelle der Ablesevernunft in der Tradition von Platon und Augustinus setzt Thomas das Konzept der Ordnungsvernunft als autonomes Vermögen eines jeden Menschen. Ebenfalls im 13. Jahrhundert sieht Honnefelder die Basis der wissenschaftlichen Weltsicht grundgelegt. Die von Albertus Magnus eröffnete Weltsicht gibt das Projekt einer neuplatonischen Einheitswissenschaft auf und führt in das Verständnis von Rationalität die Elemente von Begrenztheit und Fallibilität ein. Honnefelders Genealogie moderner Säkularität tritt in Konkurrenz zu der nach wie vor aktuellen These Blumenbergs, die Neuzeit sei aus dem Geist der Selbstbehauptung gegenüber dem nominalistischen theologischen Absolutismus des Spätmittelalters heraus entstanden. Honnefelder bestreitet, dass der Nominalismus die von Blumenberg postulierte Rolle bei der Entstehung der modernen Säkularität gespielt habe. Vielmehr gehe die Entdeckung von Kontingenz und Freiheit auf Johannes Duns Scotus zurück. Honnefelder rückt damit das 13. Jahrhundert ins Zentrum seiner Genealogie moderner Säkularität. Hier werden die Voraussetzungen gelegt erstens für das Verständnis von modernen Menschenrechten und Verfassungen, zweitens für die wissenschaftliche Weltsicht mit perspektivischer Pluralität und methodischer Fallibilität und drittens für das moderne Welt- und Wirklichkeitsverständnis mit Kontingenz und personaler Identität. Heute könne es aber nicht um eine Rückkehr ins 13. Jahrhundert gehen, sondern um die Reflexion und Überwindung der problematischen Gabelungen, die mit der cartesianischen Suche nach absoluter Gewissheit eingesetzt hätten. Gegenüber dem pro18 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
Einleitung
blematischen Dualismus der Wissenschaftskulturen von Szientismus und Naturalismus auf der einen Seite und enggeführter Subjektivität auf der anderen Seite, sei daran festzuhalten, Geltungsund Wahrheitsansprüche in intersubjektiver Kommunikation einer Klärung zuzuführen. Die gegenwärtige Debatte um Säkularität und Moderne hat wichtige Impulse durch das epochemachende Werk von Charles Taylor „Ein säkulares Zeitalter“ erhalten. Gregor Hoff führt in seinem Beitrag in das vielschichtige Werk ein und gibt ihm eine spezifische Interpretation als Genealogie und Aufhebung des Säkularisierungsnarrativs zugleich. Taylor gehe es um die Genealogie einer bestimmten Ausprägung von Säkularität in Gestalt des säkularen Rahmens, der die Selbstverständlichkeit des Gottesglaubens im Jahr 1500 für das Jahr 2000 in eine Option unter anderen transformiert hat. Taylor verfolge das Interesse, über alle genealogischen Details hinweg die Konstruktivität und Kontingenz der Säkularisierungsprozesses offen zu legen. Als entscheidende Verschiebung von der Vormoderne zur Moderne betrachte Taylor die Transformation des Orts und der Bezugsgröße der Lebensfülle von Gott in Richtung des Inneren des Individuums. Damit sei für Taylor eine neue Etappe der religiös-säkularen Entwicklung im Sinne einer individualisierten Religiosität verbunden. Für Hoff überwindet Taylor damit die herkömmliche Subtraktionsgeschichte der Säkularisierung, indem dieser das Religiöse nicht einfach beschädige und auf seine endgültige Auflösung festlege. In ihrer Gebrochenheit bleibe die säkularisierte Moderne für Taylor auf einen religiösen Tiefengrund bezogen. Er ersetze die Semantik der säkularen Destruktion des Religiösen durch ein neues, religiös-säkulares Narrativ. Die Taylorsche Erzählung vom säkularen Rahmen trage einerseits der Säkularisierungsdynamik der Moderne Rechnung, lese sie andererseits aber gleichzeitig als Transformationsgeschichte des Religös-Säkularen und des Säkular-Religiösen. Die Entthronung der Säkularisierungsthese – so im Anschluss an die Auseinandersetzung von Hans Joas mit Charles Taylor – verlange ein grundsätzliches 19 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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Überdenken des Modernisierungsverständnisses in Richtung einer Aufgabe der Vorstellung einer einheitlichen Moderne. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Karl Gabriel in seiner Auseinandersetzung mit der soziologischen Säkularisierungstheorie. Er rekonstruiert zunächst die Entwicklungslinien, die die Säkularisierungsthese von der klassischen Position Max Webers bis in die gegenwärtige Soziologie hinein angenommen hat. Über die kritische Auseinandersetzung mit der Säkularisierungsthese hinaus hat sich – so Gabriel – in den letzten Jahren ein wissenschaftlicher Diskurs entwickelt, der von unterschiedlichen Konzeptionen aus eine Wiederkehr der Religion behauptet. Gabriel sieht aber gute theoretische wie empirische Gründe dafür, auch einer Umkehrung der Säkularisierugsthese wenig Deutungs- und Erklärungskraft für die Lage der Religion und ihrem Verhältnis zu Säkularität heute zuzutrauen. Aus den gegenwärtigen Absetzbewegungen gegenüber der klassischen Modernisierungstheorie wie der Säkularisierungstheorie lassen sich für Gabriel die Umrisse einer Alternative gewinnen, die in der Tradition von Smuel N. Eisenstadt von multiplen Modernen und Säkularitäten spricht. Die Aufmerksamkeit wird damit auf Religion als aktiver, unabhängiger Faktor auch in der Moderne und auf das Nebeneinander von Säkularität und Religion gerichtet. Auch die herausfordernde Säkularität, die sich in Ostdeutschland etabliert und auch nach der Wende behauptet hat, lässt sich mit dem Ansatz der multiplen Säkularitäten besser erklären als mit Ansätzen der klassischen Säkularisierungstheorie. Niklas Luhmann hat schon in den 1970er Jahren der Säkularisierungsthese eine neue Blickrichtung gegeben (Niklas Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt a. M. 1977, 225–271). Er sah in ihr eine Beobachtungskategorie, mit der das ausdifferenzierte Religionssystem seine nichtreligiöse Umwelt wahrnimmt und deutet. Rudolf Stichweh geht in seinem Beitrag an mehreren Stellen über Luhmann hinaus. Er betont die globale Ausdehnung der Funktionssysteme, so auch der Religion. Sie erhält dabei einen kategorialen Status, weitet sich zu einem globalen Kommunika20 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
Einleitung
tionssystem aus und nimmt die Form eines Kollektivsingulars an. Neben die vielen Religionen tritt die Religion, wobei auch kulturelle Traditionen wie Konfuzianismus und Taoismus als Religion identifiziert werden, die traditionell ohne Religionsbegriff ausgekommen sind. Im globalen Kommunikationssystem Religion geht es – so Stichweh – um Andersheit, Alterität und Umgang mit dem unvertrauten Sozialen und eine typisch bipolare Kommunikation, in der sich die Kommunikationspartner in ihrem ontischen Status radikal unterscheiden. Stichweh konstatiert Zusammenhänge zwischen Strukturmustern der gegenwärtigen Gesellschaft und der globalen Kategorie der Religion. Religiosität verliert ihren primären Bezug zur Gemeinschaft und erhält eine enge Kopplung an Individualität, wobei beide den Charakter von gesellschftstranszendenten Größen annehmen. Stichweh spricht von einer kulturellen Affinität für den Konnex von Individualität und Religion. Mit der Individualisierung und Subjektivierung der Religion ist eine entschiedenere Trennung von Wissenschaft und Religion verbunden. Als ausdifferenzierte Funktionssysteme bilden Religion und Wissenschaft Eigenkulturen aus, die für Stichweh die Konsequenz haben, Milieus mit hoher Homogenität zu etablieren. Als Folge beobachtet er, dass die wachsende Trennung von Wissenschaft und Religion eher den Charakter wechselseitiger Ignoranz als kämpferischer Auseinandersetzung annimmt. Im zweiten Teil des Bandes sind Beiträge versammelt, die sich sowohl mit gegenwärtigen Erscheinungsformen von Säkularität beschäftigen als auch Konfliktkonstellationen bearbeiten, die sich aus der Säkularität des modernen Staates ergeben. Säkularisierung und Säkularität haben in der Gegenwart einen spezifischen Ort im philosophischen System des Naturalismus. Claus Beisbart geht in seinem Beitrag von einer näheren Bestimmung des Phänomens des Naturalismus aus, sieht ihn heute mit bestimmten Herausforderungen konfrontiert, setzt sich mit den allgemeinen Argumenten für und gegen den Naturalismus auseinander und zieht daraus Folgerungen für das Verhältnis von 21 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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Säkularität und Moderne. Der Naturalismus schließt – so Beisbart – an die Erfolgsgeschichte der modernen Naturwissenschaften an und ist insofern ein modernes Phänomen. „Alles was ist, kann vollständig Gegenstand naturwissenschaftlichen Wissens sein“: Dieser Kernsatz des Naturalismus lässt sich für Beisbart als erkenntnistheoretische wie als metaphysische These betrachten. Erkenntnistheoretisch bestreitet er Grenzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, metaphysisch reduziert er die Welt auf das naturwissenschaftlich Erkennbare. Nicht nur Gott – so Beisbart – sondern auch menschliche Handlungen, Werte, Pflichten, normative und literarische Texte fallen damit aus der wissenschaftlichen Wirklichkeit heraus. Heute sieht sich für Beisbart der Naturalismus dadurch herausgefordert, dass gerade die Naturwissenschaften selbst auf verschiedenen Feldern auf systematische Grenzen des Wissens und der Vorhersagbarkeit stoßen. Außerdem tendiere der Naturalismus dazu, die Naturwissenschaften ihres Charakters als historisch und kulturell geprägte und im Wandel befindliche menschliche Tätigkeit zu entkleiden und damit misszuverstehen. Auf die schwer zu überwindende Schwierigkeit, die Naturwissenschaften eindeutig von anderen Erkenntnisbemühungen abzugrenzen, reagiere der Naturalismus heute durch den Rückzug auf die Physik, faktisch auf die Elementarteilchenphysik. Zwei Folgerungen zieht Beisbart aus seiner Auseinandersetzung mit dem Naturalismus: Da der Naturalismus unter Berufung auf die Naturwissenschaften nicht nur die Bezüge auf Gott, sondern alle geistigen Phänomene zu eliminieren suche, gelte es auch, erweiterte Erkenntnismöglichkeiten und Wissensansprüche gemeinsam zu verteidigen. Jedenfalls lasse sich aus dem Erfolg der Naturwissenschaften – so die zweite Folgerung – keine allgemeinen Gründe für die Wahrheit des Naturalismus gewinnen. Fruchtbar könne es aber sein, wenn sich die Geisteswissenschaften eingeschlossen der Theologie durch spezifische Forschungsergebnisse der Naturwissenschaften – zum Beispiel durch die Erkenntnisse der Verhaltensbiologie – immer wieder zu eigenen Erkenntnisanstrengungen herausfordern ließen. 22 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
Einleitung
Thomas Schmidt-Lux bringt die „forcierte Säkularität“, die in der DDR-Gesellschaft zur Durchsetzung kam und noch heute in Ostdeutschland nachwirkt, mit einer spezifischen Ausprägung des Szientismus als wissenschaftlicher Weltanschauung in Zusammenhang. Um die nachhaltige Wirkung der anti-religiösen Politik des DDR-Regimes erklären zu können, reiche der Hinweis auf die politischen Repressionen gegenüber Christen in der DDR nicht aus. Vielmehr sei es Teil der Religionspolitik in der DDR gewesen, unter Rückgriff auf Haeckel und anti-religiöse Traditionen in der Arbeiterbewegung einen sich ausschließenden Gegensatz zwischen einer wissenschaftlichen Weltanschauung auf der einen Seite und dem Christentum auf der anderen Seite zu konstruieren. Neben den Schulen und Universitäten – so Schmidt-Lux – habe es spezifische Institutionen gegeben, die der Verbreitung der szientistisch geprägten wissenschaftlichen Weltanschauung dienten. Dies belegt Schmidt-Lux an den Programmen der Urania als der politisch in der DDR unterstützten „Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse“. Über die breit gefächerten Institutionen der Verbreitung des atheistischen Szientismus sei es dem DDR-Regime gelungen, der mit Licht, Fortschritt und Zukunft assoziierten wissenschaftlichen Weltanschauung eine als dunkel, abergläubig und gestrig karikierte Religion gegenüber zu stellen. Wie Schmidt-Lux an Interviewausschnitten zeigen kann, entwickelte der Szientismus in der DDR Muster einer inneren Überzeugungskraft, die den Untergang des DDR-Regimes überlebten. Um eine dritte Variante von expliziter Säkularität geht es im Beitrag von Florian Baab. Nach einem Überblick über die höchst disparate Begriffsgeschichte von Humanismus und Humanität konstatiert Baab für die 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts eine bemerkenswerte semantische Wende. Der Begriff des „säkularen Humanismus“ wird zum semantischen Dach, unter dem sich Strömungen des freidenkerischen Atheismus in Deutschland versammeln. Nachdem sich aus fünf freidenkerischen Organisationen im Jahr 1993 der Humanistische Verband Deutschlands 23 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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(HVD) gegründet hat, konstatiert Baab einen bemerkenswerten Wandel in der Semantik des säkularen Humanismus, der gewissermaßen das Lyotardsche „Ende der großen Erzählungen“ mitvollzogen habe. Das Schicksal des Einzelnen ersetzt das Menschheitskollektiv, der permanente Wandel die konkrete Utopie und an die Stelle eines Ziels der Geschichte tritt die schrittweise Verbesserung gegebener Verhältnisse. Was für den HVD gelte – so Baab – treffe nicht in derselben Weise für die 2004 gegründete „Giordano-Bruno-Stiftung“ zur Förderung eines „evolutionären Humanismus“ zu, die sich stärker als der HVD auf eine kämpferische Religionskritik fokussiere. Im Grundlagentext des HVD „Humanistisches Selbstverständnis“ werde deutlich, dass der Verband als „Weltanschauungsgemeinschaft“ die organisierte Repräsentanz des auf ein Drittel der Deutschen angewachsenen, sehr heterogenen konfessionsfreien Bevölkerungsteils anstrebe. Nach eigenem Bekunden gehe es dem Verband darum, eine selbst bestimmte Lebensführung ohne Unterwerfung unter religiöse Glaubensvorstellungen zu propagieren und zu fördern. Die „humanistische Lebensauffassung“ lasse sich durch fünf Adjektive charakterisieren: individuell, selbstbestimmt, weltlich, solidarisch und kritisch. Die im Umfeld des HVD und der „Giordano-Bruno-Stiftung“ in den letzten Jahren vorgetragenen philosophischen Entwürfe von Frieder Otto Wolf, Joachim Kahl und Michael Schmidt-Salomen zeigten eine große Bandbreite und Heterogenität von Konzeptionen eines säkularen Humanismus. Für Christentum und Theologie – so Baab – sei der säkulare Humanismus heute quasi ein Geschenk, da er in einem gesellschaftlich dominierenden Kontext religiöser Indifferenz dazu beitrage, die Frage nach Gott wachzuhalten. Das Religionsrecht ist in den letzten Jahren unerwartet zu einem zentralen gesellschaftlichen Spannungsfeld geworden. Christian Walter sucht in seinem Beitrag eine Antwort auf die aktuelle Frage, ob der moderne liberale und in diesem Sinne säkulare Staat Zugeständnisse an „illiberale Religionsgemeinschaften“ machen kann. Walter stellt im ersten Schritt die Fragestellung in 24 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
Einleitung
den verfassungsrechtlichen Rahmen der für die deutsche Verfassung nach den Erfahrungen der nationalsozialistischen Machtergreifung charakteristischen Konzeption der wehrhaften Demokratie. Die Regelungen zum Parteienverbot – so Walter – lassen sich aus Gründen der besonderen Stellung der Parteien im Grundgesetz nicht auf die Religionsgemeinschaften anwenden. Was die Anwendung vereinsrechtlicher Verbote angeht, verweist Walter darauf, dass der Gesetzgeber im Rahmen des Vereinsrechts im Jahr 2001 die Möglichkeit geschaffen hat, auch Religionsgemeinschaften in bestimmten Fällen verbieten zu können. Nachdem die Vereinigung Hizb ut-Tahrir, die die Errichtung eines Kalifats anstrebte, vom Bundesverwaltungsgericht nicht als Religionsgemeinschaft anerkannt wurde und nach dem Vereinsrecht verboten wurde, ist es bisher nicht zu einem Verbot einer Religionsgemeinschaft gekommen. Auch auf dem Feld der Grundrechtsverwirkung lassen sich für Walter keine Sonderstellung oder Sonderbehandlung von Religionsgemeinschaften erkennen. Für den säkularen Staat gelte prinzipiell, dass er religiöse Überzeugungen nicht bewerten könne. Dies zeigt Walter am Beispiel der Baha’i-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1991 und der Verleihung des Körperschaftsstatus an die ZeugenJehovas nach einem Bundesverfassungsgerichtsurteil aus dem Jahr 2000. Wie das nordrhein-westfälische Beiratsmodell für den islamischen Religionsunterricht verdeutliche, könne der säkulare Staat aber ein verfassungsrechtlich nicht gebotenes, aber zulässiges Entgegenkommen gegenüber spezifischen Bedürfnissen einer bestimmten Religion an den Tag legen. Walter kommt zu dem Schluss, dass der säkulare Staat Bestrebungen, die auf eine Abschaffung der freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung gerichtet sind, nicht hinnehmen müsse, auch wenn sie religiös motiviert sind. Darüber hinaus fehle dem liberalen Staat aber das rechtliche Instrumentarium, eine Religionsgemeinschaft als „illiberal“ zu definieren. Der dritte Teil des Bandes versammelt Beiträge, die sich mit der Reaktion und der Auseinandersetzung von katholischer Kir25 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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che und Theologie mit der modernen Säkularität von der schroffen Ablehnung im Modernismusstreit um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert bis hin zu differenzierten theologischen Interpretationen und Deutungen von Moderne und Säkularität in der Gegenwart beschäftigen. Peter Neuner thematisiert in seinem Beitrag die Tradition und den historisch singulären Höhepunkt des Kampfs der katholischen Kirche gegen alles, was sie als Modernismus definierte und zu unterdrücken suchte. Schon Gregor XVI. und insbesondere Pius IX. hatten in der Jahrhundertmitte des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf die politischen Revolutionen alle liberalen Irrtümer der Zeit unmissverständlich verurteilt. So hatten beide Päpste die Gewissens- und Religionsfreiheit und deren rechtliche Absicherung als „Wahnsinn“ bezeichnet. Der an die antimodernistische Enzyklika „Quanta cura“ angehängte Syllabus aus dem Jahr 1864 listete alle Sätze als zu verurteilende auf, die nur im Entferntesten eine Versöhnung der katholischen Doktrin mit der modernen Ideenwelt für möglich hielten. Wie Neuner zeigt, gab es aber über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg Aufbrüche in der Theologie innerhalb Europas und der USA, die für eine Öffnung von Kirche und Theologie gegenüber den modernen Denkströmungen plädierten. Pius X. sah sich schließlich um die Jahrhundertwende in der Entscheidungsschlacht gegen ein einheitliches System moderner Irrtümer, die er und seine Theologen als „Modernismus“ bezeichneten. In der Auseinandersetzung mit dem französischen Exegeten Alfred Loisy und seinem Büchlein L’Évangeli et l’Église – so Neuner – kam es schließlich in den Jahren 1907/1910 zur Modernismuskrise der katholische Kirche. Pius X. erneuerte im Jahr 1907 nicht nur die Irrtümerliste des Syllabus, sondern sah in den als Modernismus zusammengefassten Lehren eine Verschwörung gegen die katholische Kirche, die es mit allen auch disziplinären Mitteln zu zerschlagen gelte. Wie Neuner zeigt, bot die unklare und vage Definition dessen, was der Papst mit dem Begriff Modernismus meinte, die Möglichkeit, jede neue Idee als Modernismus zu denunzieren und zu ver26 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
Einleitung
urteilen. Gleichzeitig verstand sich keiner der angegriffen Theologen selbst als Modernist. Das II. Vatikanische Konzil hat sich – so verdeutlicht Neuner – in zentralen Dokumenten das Ziel gesetzt, den Antimodernismus des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zu überwinden. Er erinnert gleichzeitig daran, dass mit der 1970 von Lefebvre gegründeten Pius-Bruderschaft und den ambivalenten Versöhnungsversuchen Papst Benedikts mit den erklärten Gegnern des II. Vatikanums der Modernismusstreit bis in die unmittelbare Gegenwart hineinreicht. Eberhard Schockenhoff stellt in seinem Beitrag die Wertidee der Freiheit ins Zentrum moderner Säkularität. Die als individuelle Autonomie gedachte Freiheit habe allen anderen Wertbezügen der Moderne wie Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität den Rang abgelaufen und bestimme als gesellschaftlicher Höchstwert deren Ausprägung. Für das Christentum, insbesondere das katholische, konstatiert Schockenhoff nach wie vor eine gewisse Fremdheit und Distanz gegenüber der modernen Freiheitskultur, die ihre Legitimität aus dem Anspruch humaner Selbstbehauptung beziehe. Im Horizont der modernen Freiheitskultur gehe es um nichts weniger als um eine neue Wesensbestimmung des Christlichen. Sie habe mit einer theologischen Reflexion des Dreiecksverhältnisses von Natur als Gabe eines transzendenten Schöpfers, von Kultur als geschichtlicher, institutioneller Verkörperung menschlicher Freiheit und von Gnade als Selbstmitteilung Gottes als Liebe in Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi zu beginnen. Mit der Neukonzeption des Offenbarungsverständnisses in den Texten des 2. Vatikanums sei an die Stelle von Instruktion Kommunikation getreten. Dem Verständnis von Offenbarung als Instruktion entspreche ein Vorrang der Wahrheit vor der Freiheit und ein satzhaftes Erfassen einzelner Glaubenswahrheiten, während einem personal-kommunikativem Verständnis von Offenbarung die Sichtweise eines Austausches zweier Freiheiten und damit des Vorrangs der Freiheit vor der Wahrheit entspreche. In dieser Perspektive werde Gnade nicht mehr mit der absoluten Übermacht Gottes gleichgesetzt, sondern 27 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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lasse sich als Ermöglichungsgrund geschöpflicher Autonomie und Freiheit begreifen. Schockenhoff zielt an, die drei Grundworte des Christentums – Freiheit, Wahrheit und Liebe – im Horizont der säkularen Moderne in ihrem wechselseitigen Verhältnis zueinander neu zu bestimmen. Für die Relation von Freiheit und Wahrheit bedeute dies, dass sie eine innere Reziprozität besäßen und die Freiheit als ständige Begleiterin der Wahrheit immer mitgedacht werden müsse. Im Verhältnis von Freiheit und Liebe kommt Schockenhoff zu dem Schluss, dass die Liebe zu einem Menschen oder einer frei gewählten Lebensaufgabe kein Verlust der Freiheit, sondern ihre Steigerungsform bedeute. Insofern der Mensch die Wahrheit der Selbstmitteilung Gottes als Liebe nur mit einer eigenen Lebenspraxis der Liebe beglaubigen könne, konstatiert Schockenhoff für die Relation von Wahrheit und Liebe, dass sie in der christlichen Offenbarungsbotschaft als identisch gelten könnten. In eine ähnliche Richtung weist die Argumentation von Magnus Striet. In der Säkularisierungsdebatte gehe es im Kern um Autonomie in Fragen des Ethischen, Sozialen und Politischen. Eine konsequente Praxis der Autonomie sei nur für bestimme theologische Positionen ein Problem. Striet möchte demgegenüber aufweisen, dass Autonomie als zentraler Aspekt einer christlichen Anthropologie und Theologie gelten könne. Das neuzeitliche Denken von Autonomie und Freiheit lässt sich – so Striet – als eine spezifische Realisierungsgestalt des Christlichen aufweisen. Historisch habe sich in Westeuropa ein Unbehagen an der modernen Kultur und ein ambivalentes Verständnis von Autonomie und Freiheit als Willkür und schrankenlosem Individualismus entwickelt. Als Beleg verweist Striet auf Denkströmungen in der Zwischenkriegszeit, aber auch auf die ambivalente Deutung der Neuzeit bei Josef Ratzinger im Sinne einer selbstzerstörerischen, grenzenlosen Freiheit, die in ihrer Virulenz längst bis in die Kirche hineinreiche. Eine Vernunft, die sich nicht von Gott her versteht, führe für Ratzinger in die Aporie. Zu den konstitutiven Merkmalen der modernen Gesellschaft rechnet Striet die Aus28 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
Einleitung
differenzierung von Teilsystemen und Verselbständigung von Systemlogiken. Er plädiert dafür, theologisch die Systemlogiken konsequent anzuerkennen und damit zu realisieren, dass der Mensch – mit Dietrich Bonhoeffer gesprochen – in einer Welt ohne und mit Gott zugleich zu leben habe. Autonomiefreiheit lasse sich theologisch als Gabe Gottes schlechthin begreifen, die den Menschen dazu herausfordert, nach selbstgenerierten Maßstäben das eigene Leben, Kultur und Gesellschaft zu gestalten. Damit sei der historisch überkommene Gegensatz zwischen säkularer Kultur und einem Freiheit als Autonomiefreiheit anerkennenden Gottesglaubens obsolet und der Autonomiewille des Menschen kein Verfallssymptom mehr. Von da aus müsse auch das Säkularisierungstheorem Blumenbergs theologisch neu durchdacht werden. Die neuzeitliche Freiheitsphilosophie könne die Theologie auf die Spur dessen bringen, was Glauben im Horizont der Säkularität bedeuten könne. Der vorliegende Band – so lässt sich zusammenfassen – konstatiert Bewegungen und Umstellungen vielfältiger Art in den Diskursen um Säkularität, Moderne und Religion. Er verweist auf tiefgreifende Veränderungen in der Wahrnehmung von Säkularität, die deren Genealogie wie deren gegenwärtige Ausprägung betreffen. Er setzt sich mit den Strömungen auseinander, die heute mit Berufung auf die (Natur-)Wissenschaft einem säkularen Selbstverständnis anhängen und ihm Geltung in der Öffentlichkeit verschaffen möchten. Er verweist auf die Spannungsfelder, die zwischen traditionellen religiösen Positionen und der Säkularität des modernen Staates nach wie vor bestehen. Er zeigt aber auch am Beispiel von katholischer Kirche und Theologie, zu welchen Lernprozessen religiöse Traditionen unter bestimmten Voraussetzungen fähig sind, um für Konfliktfelder mit einer langen Tradition neue Bewertungen und Lösungen zu finden.
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Säkularität, Moderne und Religion im philosophischen und soziologischen Diskurs
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Säkularität und Moderne im philosophischen Diskurs: Die Frage nach dem Ursprung, der Bedeutung und der Legitimität des säkularen Verständnisses von Vernunft und Freiheit* Ludger Honnefelder, Bonn
1. Moderne als die aus sich selbst verstehende Epoche: Die Doppelfrage nach Bedeutung und Legitimität des säkularen Verständnisses von Vernunft und Freiheit Mit ‚Säkularität und Moderne‘ sind überaus komplexe Phänomene benannt, die Gegenstand höchst unterschiedlich ansetzender wissenschaftlicher Beschreibungen und Analysen sind. In den Horizont des philosophischen Diskurses treten sie – so die Perspektive meines Vortrags – unter einem im weitesten Sinn evaluativen Gesichtspunkt, wobei die Entfaltung dieser Perspektive für deren Rechtfertigung sorgen muss. In seinen 1985 erschienenen Vorlesungen unter dem Titel „Der philosophische Diskurs der Moderne“ begreift J. Habermas die „Moderne“ als die Epoche, die mit der „Neuzeit“ als der „reflexiven Vergewisserung des eigenen Standorts aus dem Horizont der Geschichte“ 1 beginnt und die sich durch drei bzw. vier historisch unterscheidbare Teilmomente charakterisieren lässt: (a) als den Prozess der „Entzauberung“, durch den sich nach M. Weber eine profane Kultur aus den zerfallenden religiösen Weltbildern entwickelt, ein Prozess, der sich als Rationalisierung und Differenzierung beschreiben lässt und aus dem die Ausbildung kultureller * Auch in: L. Honnefelder, Was ist Wirklichkeit? Zur Grundfrage der Metaphysik im Mittelalter, hg. von I. Mandrella u. H. Möhle, Paderborn 2016, 212–230. 1 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1985, 14.
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Wertsphären sowie die zweckrationale Verwissenschaftlichung und Verwaltung folgt, (b) als Prozess der „Modernisierung“, in dem – wie E. Durkheim und G. H. Mead es beschreiben – der reflexiv gewordene Umgang mit den Traditionen zu einer Universalisierung der Handlungsnormen und zu einer Generalisierung der Werte führt und eine Individualisierung in Form der Ausbildung abstrakter Ich-Identitäten nach sich zieht, (c) als Prozess der „Funktionalisierung“, der von den Sozialwissenschaften um die Mitte des 20. Jahrhunderts ausgeht, durch eine vollständige Säkularisierung der Werte und Normen gekennzeichnet ist und die soziale Entwicklung (von der Kapitalbildung bis zur Ressourcenmobilisierung) als einen wertfreien Entwicklungszusammenhang beschreibt, (d) als Prozess der „gesellschaftlichen Modernisierung“, womit die gesellschaftliche Vollstreckung der Funktionsgesetze von Ökonomie und Staat gemeint ist und den A. Gehlen als „Posthistoire“ bezeichnet hat. Der philosophische Diskurs der Moderne – so Habermas – kreist auf diesem Hintergrund um die Frage, in welcher Weise der unter diesen Gesichtspunkten beschreibbare Prozess der Modernisierung auf eine Einsicht zurückgeht, deren Kern als unverlierbar zu betrachten und nicht zuletzt gegen die krisenhaften Folgen der Moderne kritisch zu verteidigen ist. Für diese Einsicht beruft er sich auf Hegel, bei dem der mit der europäischen Aufklärung einsetzende und zur Moderne führende Prozess zum ersten Mal zum Gegenstand der Reflexion und damit des philosophischen Diskurses wird. 2 Wie R. Kosellecks begriffsgeschichtliche Untersuchungen zum Begriff der „Neuzeit“ deutlich gemacht haben, 3 folgt Hegel damit dem im 18. Jahrhundert sich ausbreitenden Bewusstsein, das die „eigene Zeit (nostrum aevum)“ als „Neuzeit (nova aetas)“ versteht und das diesen Beginn auf die Schwelle um 1500 zurückdatiert. „Was jetzt gelten soll“, heißt es bei Hegel, 2
Vgl. Habermas, Der philosophische Diskurs, 26–30. Vgl. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, 300–348.
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„gilt nicht mehr durch Gewalt, wenig durch Gewohnheit und Sitte, wohl aber durch Einsicht und Gründe.“ 4 „Unverstellte Achtung“ bewilligt nach Kant die Vernunft nur demjenigen, „was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.“ 5 Ist aber die Moderne als eine neue Zeit zu verstehen, die sich selbst zu begründen – und das bedeutet – die orientierenden Maßstäbe aus sich selbst zu schöpfen beansprucht, dann gewinnt die Frage nach Vernunft und Freiheit zentrale Bedeutung, und zwar in dem doppelten Sinn der Frage (1) nach ihrer Bedeutung sowie nach (2) der Eigenständigkeit ihres Ursprungs, d. h. ihrer Unabhängigkeit von tiefer begründenden Mächten. Das Selbstverständnis der Moderne kann nicht ohne die Klärung ihrer Säkularität beschrieben werden, d. h. nicht ohne Beantwortung der Frage, in welcher Weise Vernunft und Freiheit für die Unabhängigkeit ihres Selbstverständnisses Legitimität beanspruchen können. Der philosophische Diskurs über Säkularität und Moderne wäre dann nichts anderes als die kritische Selbstvergewisserung der Moderne in diesem doppelten Sinn. Der mit diesen Stichworten skizzierten doppelten Frage nach Vernunft und Freiheit möchte ich im Folgenden unter einem speziellen Gesichtspunkt nachgehen, nämlich dem der Vorgeschichte ihres neuen Verständnisses. Dabei ist mein Motiv nicht primär philosophiehistorische Aufklärung. Auch dieses Ziel wäre sinnvoll; denn die tatsächliche (nicht die behauptete!) Vorgeschichte der Säkularisierung der Vernunft und der Entdeckung der Freiheit gehört immer noch nicht zum philosophiehistorischen Gemeinbewusstsein. Was den Rückgang in die Vorgeschichte im vorliegenden Zusammenhang von Interesse sein lässt, sind die systematischen Implikationen. Denn wenn es zum philosophischen Bewusstsein der Moderne 4
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (Werke in zwanzig Bänden 7), Frankfurt a. M. 1970, § 316. 5 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (Akademie-Ausgabe Bd. 3), Darmstadt 1956, A XI Anm.
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gehört, das eigene Vorverständnis zum Gegenstand der Reflexion zu machen, dann ist die Genealogie des neuzeitlich-modernen Selbstverständnisses kein superadditum, sondern notwendiger Bestandteil der Reflexion. Schon die Bezeichnungen als Neuzeit und als Moderne wählen eine „Selbstbeschreibung über ein Zeitschema“ 6 und artikulieren Selbstreferenz durch Fremdreferenz. Keine der philosophischen Theorien der Neuzeit und Moderne kommt daher ohne Aussagen zur eigenen Genealogie aus – sei es unter dem Stichwort der Säkularisierung oder dem der Legitimität –, entscheidet sich doch nicht zuletzt an der Einschätzung der Genealogie das evaluative Verständnis der Moderne. Zugleich bietet die Vergewisserung der Genealogie die Folie für die Einschätzung der Folgen des Projekts der Moderne, wie sie mit Hegels Nachfolgern auf der Linken und auf der Rechten einsetzen, sich über Nietzsches Einspruch gegen die neu entdeckte objektivierende Vernunft und Adorno/Horkheimers Hinweise auf die Dialektik der Aufklärung fortsetzen und bis zu Heideggers Gegenprojekt zur Moderne und dessen Varianten in der sog. Postmoderne reichen. 7 Denn wenn es um die Einschätzung der Folgen geht, ist es sinnvoll zu den Gabelungen zurückzugehen, an denen der Weg in das säkulare Selbstverständnis von Vernunft und Freiheit allererst beginnt, um von dort aus die Tragweite der davon ausgehenden Entwicklung einschätzen zu können. Dieser Rückgang in die Vorgeschichte des neuzeitlich-modernen Verständnisses von Vernunft und Freiheit führt in das 13. Jahrhundert und ist mit zwei Teildebatten im Bereich des philosophischen Diskurses der Moderne verbunden, für die bestimmte Schlagworte die Richtung angeben. Die eine Debatte ist um die Bedeutung der säkularen Vernunft zentriert und mit dem Schlagwort des „Naturrechts“ verbunden (1.–2.). Die zweite fragt nach der Legitimität der Säkularisierung der Vernunft und sieht diese Frage eng mit dem neuen Verständnis von Freiheit verbun6 7
Niklas Luhmann, Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, 14. Vgl. Habermas, Der philosophische Diskurs, 65–389.
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den; sie hat in dem von H. Blumenberg stammenden Schlagwort der „Legitimität der Neuzeit“ ihr Zentrum (3.–4.). Beide Debatten bieten einen geeigneten Hintergrund, um am Ende des Vortrags kurz auf den modernen bzw. postmodernen philosophischen Diskurs über die Folgen der Moderne zurück zu kommen (5.).
2. Etsi deus non daretur: Die Frage nach dem Ursprung säkularer Vernunft Es ist die Unabhängigkeit der Geltungsansprüche der Vernunft von anderen als den ihr eigenen Prinzipien, in der die maßgeblichen Autoren von Aufklärung und beginnender Moderne den Grund für die Universalität dieser Geltungsansprüche erblicken, wobei der Prozess der Ablösung von den religiösen Konzepten, der zur Einsicht in diese Unabhängigkeit führt, von Autoren wie Hegel und Weber noch nicht mit der (im zweiten Teil des Vortrags zu behandelnden) Legitimitätsfrage und einem entsprechend besetzten Begriff der „Säkularisierung“ verbunden wird. Was für die frühen Autoren der Aufklärung wie den Rechtstheoretiker Hugo Grotius die Zentralstellung der Vernunft begründet, ist ihre Fähigkeit, zu einer Erkenntnis zu führen, deren Wahrheitsanspruch gilt, „auch wenn wir per impossibile annehmen, dass Gott nicht existiert (si per impossibile ratio divina sive deus ipse non esset)“. 8 Wie das per impossibile in der Formulierung 8
So bei Gregor von Rimini, In II Sent. d. 34 q. 1 a. 2 (Lectura super secundum sententiarum VI), Berlin / New York 1980, 235. Bei Grotius selbst heißt es „etiamsi daremus, quod sine summo scelere dari nequit, non esse Deum“. Hugo Grotius, De iure belli et pacis libri tres, prolegomena n. 11, Den Haag 1919, 7. Vgl. dazu auch Rainer Specht, Über philosophische und theologische Voraussetzungen der scholastischen Naturrechtslehre, in: Naturrecht in der Kritik, hg. v. F. Böckle / E.-W. Böckenförde, Mainz 1973, 48; Isabelle Mandrella, Die Autarkie des mittelalterlichen Naturrechts als Vernunftrecht: Gergor von Rimini und das etiamsi Deus non daretur-Argument, in: „Herbst des Mittelalters“? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts, hg. v. J. A. Aertsen / M. Pickavé, Berlin / New York 2004, 265–276.
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und der weitere Kontext des Zitats bei Grotius zeigen, geht es ihm dabei um einen methodischen, nicht einen existentiellen Atheismus. Erst die spätere Polemik gegen eine in der Gesellschaft sich verbreitende Glaubensfeindlichkeit sieht in dem etsi Deus non daretur das Programm eines neuen und bis dahin unbekannten Atheismus. Wie unzutreffend diese letztere Deutung der Formel ist, zeigt deren Vorgeschichte. Denn Grotius hat die Formel keineswegs erfunden. Er kennt sie durch den Gebrauch bei Autoren des ausgehenden 13. und des 14. Jahrhunderts wie Gregor von Rimini und Gabriel Biel und sie ist ihm der Sache nach durch die Autoren der spanischen Spätscholastik des 16. Jahrhunderts wie F. de Vitoria und F. Suárez vertraut, die ihrerseits dabei auf das Konzept der praktischen Vernunft bei den Autoren des 13. Jahrhunderts, vornehmlich bei Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus zurückgreifen. 9 Bezogen ist die neuzeitliche Formel des etsi Deus non daretur auf die praktische Rationalität, durch welche die universale Verbindlichkeit dessen erkannt wird, was nicht durch Satzung, sondern was „von Natur aus recht ist“, nämlich das „Naturrecht“, oder in der genuinen Sprache des 13. Jahrhunderts: das „natürliche Gesetz (lex naturalis)“. Genauerhin geht es um das, was R. Specht das „autarke Naturrecht“ genannt hat, im Unterschied zum „lex aeterna-Naturrecht“. 10 Genau diese Differenz bricht nicht erst mit Grotius und den Naturrechtstheoretikern der beginnenden Neuzeit auf, sondern bereits mit der vollständigen Rezeption des aristotelischen Rationalitätskonzepts in der Mitte des 13. Jahrhunderts. Und der 9
Vgl. dazu näher Ludger Honnefelder, Woher kommen wir? Ursprünge der Moderne im Denken des Mittelalters, Berlin 2008, 272–304, 376–382. Zu Scotus vgl. etwa: Johannes Duns Scotus, Ordinatio III d. 37 q. un. n. 14 (ed. Vat. X), Rom 2007, 277: quae sunt vera ex terminis … praecedunt in veritate omnem actum voluntatis, vel saltem habent veritatem suam, circumscripto per possibile vel impossibile omni ‚velle‘. 10 Vgl. Specht, Voraussetzungen, 45.
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Säkularität und Moderne im philosophischen Diskurs
Schlüsselautor der damit verbundenen Wende ist Thomas von Aquin.
2.1 Naturrecht als Vernunftrecht: Die Wende zum autarken Naturrecht bei Thomas von Aquin Offenkundig wird das neue Konzept der Rationalität im sog. LexTraktat der Summa Theologiae. 11 Dieser Traktat ist ein Teil der Antwort, die Thomas in Summa Theologiae I-II auf die (ihrem Ansatz nach bereits moderne) Frage gibt, welche Struktur die praktische Rationalität hat, die in der am Schema der Tugenden in Summa Theologiae II-II von ihm entwickelten Tugendethik eigentlich am Werk ist. Genauerhin geht es um die Art der Verbindlichkeit, an der wir uns im Blick auf die Frage orientieren, wie wir denn handeln sollen. 12 Historisch gesehen sieht sich Thomas zu dieser Frage durch die Tatsache genötigt, dass die jüdisch-christliche Offenbarung diese Verbindlichkeit als die eines göttlichen Gesetzes begreift, die wieder bekannt gewordene aristotelische Ethik aber nur die Vernunft als Quelle der Verbindlichkeit kennt und das in der stoischen Ethik begegnende Modell zwar Vernunft und Gesetz miteinander verbindet, dies aber ohne Rückgriff auf einen sich offenbarenden Gott. Thomas löst die in dieser Konstellation gelegene Spannung durch einen Ansatz, dessen strukturelle Momente ich kurz nennen möchte. Zu nennen ist (1.) die Differenzierung. Das „Gesetz (lex)“ – so der Ansatz – ist keine einheitliche Größe, sondern begegnet in höchst unterschiedlicher Weise: als ewiges Gesetz (lex aeterna), als natürliches Gesetz (lex naturalis), als positives menschliches Gesetz (lex humana positiva) sowie als das im Alten Testament begegnende alte 11
Thomas von Aquin, Summa Theologiae I-II qq. 90–105 (ed. Leon. 7), Rom 1892, 149–271. 12 Vgl. näher Honnefelder, Woher kommen wir, 228–250.
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Ludger Honnefelder
Gesetz (lex vetus) und als das im Neuen Testament proklamierte neue Gesetz (lex nova). 13 Mit der Differenzierung – Luhmann charakterisiert die moderne Rationalität als eine „unterscheidungsbewußte Rationalität“ 14 und verweist auf die Leges-Hierarchie 15 – verbindet sich die für unseren Zusammenhang maßgebliche These des Thomas, nämlich (2.) seine Gleichsetzung des „natürlichen Gesetzes (lex naturalis)“ mit dem Besitz der praktischen Vernunft, wobei er unter Vernunft das von Aristoteles beschriebene Vermögen der praktischen Vernunft versteht. 16 Das aber impliziert für Thomas (3.) die Autonomie bzw. Autarkie dieser praktischen Vernunft; denn er versteht sie mit Aristoteles als ein Vermögen, das seine obersten Prinzipien mit sich führt, sich also unabhängig von Prinzipien außerhalb seiner selbst vollzieht. Zwangsläufig folgt daraus (4.) die Ablösung der praktischen Verbindlichkeit der Vernunft von der Normativität des Planes, gemäß dem Gott die Schöpfung geordnet hat und die Geschichte lenkt, nämlich des ewigen Gesetzes (lex aeterna). 17 Dieses ewige Gesetz ist dem Menschen unzugänglich und deshalb nach Thomas keine praktische, d. h. unmittelbar handlungsleitende Instanz. Es lenkt nur durch die Tatsache, dass dem Menschen von Natur aus Vernunft gegeben ist (und darüber hinaus noch durch das, was Gott durch Offenbarung zu erkennen gibt). Dass die Ausstattung des Menschen mit Vernunft und das, was die Vernunft erkennt, ihrerseits im Plan Gottes verankert, die Autonomie der Vernunft also ihrerseits noch einmal theonom gegründet ist, ist eine theoretische, im Horizont 13
Vgl. Anm. 12. Luhmann, Beobachtungen, 52. 15 Niklas Luhmann, Das Phänomen des Gewissens und die normative Selbstbestimmung der Persönlichkeit, in: Naturrecht in der Kritik, hg. v. F. Boeckle / E.-W. Böckenförde, Mainz 1973, 223–243, hier 240 f. 16 Vgl. dazu und zum Folgenden Thomas von Aquin, Summa Theologiae I-II q. 94 a. 2 (ed. Leon. 7), Rom 1892, 169 f. 17 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I-II q. 93 (ed. Leon. 7), Rom 1892, 162–167; dazu näher Wolfgang Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Hamburg 21980, 233–237. 14
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Säkularität und Moderne im philosophischen Diskurs
des Schöpfungstheorems nachträglich reflexiv gewonnene Einsicht, eine tiefere Begründung, keine unmittelbar handlungsleitende Erkenntnis. Denn was das Vermögen der Vernunft angeht, so ist es (5.) – wie die Erfahrung der unser Handeln lenkenden praktischen Überlegung zeigt – jedermann von Natur aus eigen, ist doch nur so jedem die Chance eines sittlichen Lebens eröffnet. Und das muss für Thomas auch aus theologischen Gründen so sein, ist doch der geoffenbarte Erlösergott zugleich der Schöpfergott, der – wie es in Röm 2,14 heißt – auch dem Heiden das Gesetz ins Herz geschrieben hat, das ihm erlaubt, zwischen gut und böse zu unterscheiden. 18 Ist aber die Vernunft – so Aristoteles – das dem Menschen seiner Natur nach eigene Vermögen das Allgemeine zu erkennen, dann müssen ihre Erkenntnisse (6.) von universaler Gültigkeit sein. Freilich gilt dies nach Thomas im strengen Sinn nur für die selbstevidenten obersten Prinzipien der praktischen Vernunft, wie vor allem dem Grundsatz, „dass das als gut Erkannte zu tun und das als böse Erkannte zu lassen ist (bonum faciendum est, malum evitandum)“. 19 Denn die dem Menschen eigene Vernunft ist (7.) endlich; sie ist nicht die Vernunft, der ein Gottesgesichtspunkt (god’s eye view) eigen ist, 20 und das ist sie, weil sie (8.) leibgebunden ist, Vernunft eines leiblich verfassten Wesens. Das zu tuende Gute kann von der Vernunft nicht irgendwo abgelesen, sondern nur im Blick auf die „natürlichen Neigungen (inclinationes naturales)“ 21 von der Vernunft in Form einer praktischen Überlegung (phronesis/prudentia) 22 erst herausgefunden werden. Ist aber das für den Menschen Gute ein zu unbestimmtes 18
Vgl. Thomas von Aquin, Super Epistolam ad Romanos lectura c. 7 l. 1, Turin 1929, 92. 19 Thomas von Aquin, Summa Theologiae I-II q. 94 a. 2 (ed. Leon. 7), Rom 1892, 169 f. 20 Vgl. Anm. 18. 21 Vgl. Anm. 20. 22 Vgl. näher Honnefelder, Woher kommen wir.
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Gut, um unmittelbar das Handeln des Menschen leiten zu können und geben die naturhaften Strebungen des Menschen nur die Umrisse eines geglückten Lebens vor, ist die praktische Vernunft (9.) als „ordnendes Vermögen (vis ordinativa)“ 23 auf den Entwurf (in Form von adinventiones) 24 verwiesen um zu konkret handlungsleitenden Urteilen zu gelangen. Dementsprechend bedürfen (10.) die auf die Prinzipienebene sich beschränkenden „Gebote des natürlichen Gesetzes (praecepta legis naturalis)“ 25 der Ergänzung durch die vom Menschen positivrechtlich gesetzten Gebote sowie durch die auf das Heil bezogenen, durch Glauben zugänglichen Weisungen des alten und neuen Gesetzes. Das „Naturrecht“ ist der rationale Kern aller praktischen Verbindlichkeit. Fügen wir diese Aspekte zusammen, haben wir es mit einem veränderten Verständnis von Naturrecht und einem völlig neuen Verständnis von praktischer Vernunft zu tun: – Als Quelle der praktischen Erkenntnis des von Natur aus Rechten wird nicht mehr das ewige Gesetz Gottes (lex aeterna) betrachtet, sondern die praktische Vernunft. Die von dieser Vernunft erkannte praktische Wahrheit legitimiert sich nicht mehr durch ihre Abkünftigkeit vom Plan Gottes, sondern durch ihre Gründung in den Prinzipien und Urteilen der praktischen Vernunft. 26 Die Beziehung der Abkünftigkeit vom Plan Gottes verliert ihren praktischen Charakter. Sie tritt nur sekundär-reflexiv, d. h. durch die theoretische Einsicht in den Blick, die der besitzt, der Gottes Existenz und seine Offenbarung kennt und gibt der praktischen Wahrheit der Vernunft eine tiefere Begründung. Für den Heiden ist die Verbindlichkeit ohne diese Prämissen, also etsi 23
Thomas von Aquin, Summa Theologiae I-II q. 94 a. 2 ad 3 (ed. Leon. 7), Rom 1892, 170. 24 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I-II q. 91 a.3 (ed. Leon. 7), Rom 1892, 154 f. 25 Thomas von Aquin, Summa Theologiae I-II q. 94 a. 1 ad 2 (ed. Leon. 7), Rom 1892, 168. 26 Vgl. Anm. 20.
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deus no daretur erkennbar. Das auf die Stoa zurückgehende und im Horizont von Augustins christlichem Platonismus an das Mittelalter weitergegebene lex aeterna-Naturrecht wird ersetzt durch das am Begriff der praktischen Vernunft des Aristoteles orientierte autarke Naturrecht. Und es ist diese Position, ohne welche die Naturrechtslehre der Rechtstheoretiker unter den frühneuzeitlichen Aufklärern in ihrer historischen Genese wie in ihrem systematischen Geltungsanspruch nicht erklärbar ist. 27 – Diese Wende ist möglich durch die an die Stelle der tradierten Ablesevernunft tretende Ordnungsvernunft, die Thomas als ein autonomes, jedem Menschen natürlicherweise eigenes Vermögen versteht, das im Horizont der eigenen Prinzipien und im Blick auf die Strebungen des Lebewesens, dessen Vermögen sie ist, die handlungsleitenden Normen entwirft, innerhalb deren das Leben des Menschen zu glücken vermag.
2.2 Die Wende zur wissenschaftlichen Weltsicht: Albertus Magnus und die Folgen Die damit skizzierte Entwicklung ist nun keineswegs eine einzelne Episode mit nur begrenzter Wirkungsgeschichte, sondern Teil der bereits erwähnten Epochenwende, die sich noch innerhalb des Mittelalters, d. h. in dem Zeitraum ereignet, den wir mit dem (als Folie zur Abhebung der „Neuzeit“ entstandenen) Verlegenheitsterminus des „Mittel-alters“ bezeichnen. Gemeint ist die Wende, die mit der vollständigen Rezeption der aristotelischen Hauptwerke und ihrer islamischen und jüdischen Kommentatoren endgültig nach 1230 im lateinischen Westen einsetzt und die neue wissenschaftliche Weltsicht heraufführt, 28 die in verschiedenen 27
Vgl. näher Honnefelder, Woher kommen wir, 41–50. Vgl. näher Ludger Honnefelder, Die Anfänge der Aristoteles-Rezeption im lateinischen Mittelalter: Zur Einführung in die Thematik, in: Albertus Magnus und die Anfänge der Aristoteles-Rezeption im lateinischen Mittelalter. Von Ri-
28
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weiteren Schüben die zur Moderne führende Entwicklung prägt. Besonders signifikant wird sie in den Werken Alberts des Großen sichtbar, der nicht nur die Schlüsselfigur ist, die durch seine umfassende Kommentierung und wissenschaftstheoretische Neudeutung der aristotelischen Werke deren Akzeptanz im lateinischen Westen durchsetzt, sondern in dessen wissenschaftlichem Werk die Wende vom tradierten Weltverständnis zu einer von der wissenschaftlichen Vernunft eröffneten Weltsicht explizit greifbar wird. 29 Die Charakteristika dieser neuen Weltsicht und der sie bestimmenden Zentralstellung der Vernunft lassen sich auf dem Hintergrund der neueren Forschung wiederum in einigen strukturellen Stichworten festhalten. Charakteristisch ist (1.) die Preisgabe des seit der karolingischen Renaissance sich entwickelnden Projekts einer Einheitswissenschaft, die sich auf die Propädeutik der aus der Spätantike stammenden artes (insbesondere der Grammatik, Rhetorik und Dialektik/Logik) stützt und – geleitet von der Rezeption des Neuplatonismus – in der Theologie ihre alles überwölbende Einheit findet. Diese Einheitswissenschaft ist zwar durch einen ausgeprägten Willen zur Rationalität gekennzeichnet, bleibt aber dem patristisch-augustinischen Verständnis der Theologie als der „vera philosophia“ verpflichtet, die ihrerseits an einem Weisheitsmodell orientiert ist. 30 Dieses Projekt scheitert (2.) an der durch die aristotelische Wissenschaftstheorie der Zweiten Analytiken vermittelten Einsicht, dass die menschliche Vernunft das Ganze der Wirklichkeit nicht aus einem Prinzip deduktiv zu erkennen vermag, sondern nur in einer Mehrheit von ansatzgebundenen Perspektiven, aus der Wissen in Form verschiechardus Rufus bis zu Franciscus der Mayronis (Subsidia Albertina I), hg. v. L. Honnefelder u. a., Münster 2005, 11–23. 29 Vgl. näher Honnefelder, Albertus Magnus und die kulturelle Wende im 13. Jahrhundert – Perspektiven auf die epochale Bedeutung des großen Philosophen und Theologen, Münster 2012. 30 Vgl. näher Honnefelder, Woher kommen wir, 51–84.
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dener Satzzusammenhänge hervorgeht. Im Unterschied einer als „divinatorische […] Praxis“ 31 verstandenen Weisheit ist Wissenschaft (episteme/scientia) ein aposteriorisch gewonnenes Wissen, das sich in Sätzen niederschlägt, deren Zusammenhang logisch geordnet ist, sich aber nur im Idealfall als ein axiomatisch deduktiver Satzzusammenhang formulieren lässt. Hintergrund ist (3.) die erkenntnistheoretische Annahme, dass die menschliche Vernunft nicht über eine apriorische, durch Erleuchtung oder andere privilegierte Zugänge vermittelte Erkenntnis verfügt, sondern bleibend an den Ausgang bei der Sinneserfahrung gebunden ist, was Abstraktion, Hypothesen- und Theoriebildung nicht ausschließt. Im Blick auf die Erkenntnis des Ganzen der Wirklichkeit führt dies (4.) zu der Annahme, dass der menschlichen Vernunft der Gottesgesichtspunkt verschlossen ist und sich das Ganze nur je perspektivisch durch eine geordnete Pluralität von Wissenschaften erfassen lässt. 32 An die Stelle einer Einheitswissenschaft tritt das Konzept eines Netzwerks von Wissenschaften, an die Stelle der Enzyklopädie des Wissens eine Enzyklopädie der wissenschaftlichen Disziplinen. Deutlich werden die Folgen dieses neuen wissenschaftstheoretischen Konzepts an den Disziplinen der Metaphysik und der Theologie. Denn die Metaphysik versteht Albert (5.) als Erste Philosophie, d. h. als Grundlagendisziplin, deren Gegenstand nicht das göttlich Seiende, sondern der transkategorial aussagbare Begriff des „Seienden“ ist. 33 In dessen Horizont 31
Luhmann, Beobachtungen, 80. Vgl. näher Hannes Möhle, Albertus Magnus und die Vielheit der Wissenschaften, in: Albertus Magnus und der Ursprung der Universitätsidee. Die Begegnung der Wissenschaftskulturen im 13. Jahrhundert und die Entdeckung des Konzepts der Bildung durch Wissenschaft, hg. v. L. Honnefelder, Berlin 2011, 301–331. 33 Vgl. näher Ludger Honnefelder, Metaphysik als „Erste Wissenschaft“: Die kritische Rezeption der aristotelischen Metaphysik durch Albert den Großen, in: Albertus Magnus und der Ursprung der Universitätsidee. Die Begegnung der Wissenschaftskulturen im 13. Jahrhundert und die Entdeckung des Konzepts 32
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kann das göttlich Seiende philosophisch nur indirekt erkannt werden. Mehr kann nur (6.) eine Theologie sagen, die sich auf Glauben an Offenbarung stützt, ihre Aussagen aber daraus in wissenschaftlicher Methode gewinnt, weshalb sie als Wissenschaft (scientia) verstanden werden kann, wenn auch sui generis. 34 Theologie verliert damit den Charakter der alles überwölbenden Wissenschaft und wird zu einer spezifischen, auf Heil bzw. Sinn bezogenen Wissenschaft innerhalb des Netzwerks der Wissenschaften. Mit dem neuen wissenschaftstheoretischen Konzept kann Albert (7.) auch die auf Aristoteles zurück gehende Naturwissenschaft (scientia naturalis) als eine eigenständige Wissenschaft bzw. als eine Gruppe von Wissenschaften konzipieren, die keine anderen als natürlicherweise zu gewinnende Wahrnehmungen und Begriffe als Prämissen zulässt. 35 Sie gewinnt ihre Erkenntnisse auf dem Weg einer eigenen, Empirie und Hypothesenbildung verbindenden wissenschaftlichen Methode, die (8.) zu Wissen auf dem Weg der Forschung führt und mit der Albert – so die Wissenschaftsgeschichte – den Weg zu der um 1600 einsetzenden neuzeitlich-modernen Naturwissenschaft eröffnet. Das neue methodologisch-plural ansetzende Verständnis von Wissenschaft erlaubt es auch, (9.) die sich im Zuge der Aristoteles-Rezeption und -Transformation ausbildenden verschiedenen wissenschaftlichen Diszider Bildung durch Wissenschaft, hg. v. L. Honnefelder, Berlin 2011 (Anm. 32), 332–353. 34 Vgl. näher M. Burger, Albertus Magnus. Theologie als Wissenschaft unter der Herausforderung aristotelisch-arabischer Wissenschaftstheorie, in: Albertus Magnus und der Ursprung der Universitätsidee. Die Begegnung der Wissenschaftskulturen im 13. Jahrhundert und die Entdeckung des Konzepts der Bildung durch Wissenschaft, hg. v. L. Honnefelder, 97–114. 35 Vgl. näher Silvia Donati, Alberts des Großen Konzept der scientiae naturales: Zur Konstitution einer peripatetischen Enzyklopädie der Wissenschaften, in: Albertus Magnus und der Ursprung der Universitätsidee. Die Begegnung der Wissenschaftskulturen im 13. Jahrhundert und die Entdeckung des Konzepts der Bildung durch Wissenschaft, hg. v. L. Honnefelder, 354–381.
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plinen als Ausprägungen einer wissenschaftlichen Weltsicht zu begreifen, die in der neuen, mehrere Fakultäten umfassenden Einrichtung der Universität ihren institutionellen, auf auch rechtlich gesicherter Autonomie basierenden Ort besitzt. 36 Dies führt (10.) auch zu einer Veränderung des Verständnisses von Bildung: 37 An die Stelle der bislang am Klerikerstand orientierten, dem Konzept der antiken Grundbildung in Form der artes liberales verpflichteten Bildung tritt eine curricular organisierte Bildung durch Wissenschaft, die – wie an Dante greifbar 38 – zum Vorbild der Laienbildung wird. Die mit diesen wenigen Hinweisen skizzierte Wende wird in ihrer wirkungsgeschichtlichen Bedeutung von den neuzeitlichmodernen Autoren durchaus wahrgenommen. Kant versteht seinen neuen Ansatz als die methodisch gesicherte Form dessen, was die „Alten“ vergeblich versucht haben und versteht Philosophie als die Disziplin, die „alles auf Weisheit (bezieht), aber durch den Weg der Wissenschaft.“ 39 Hegel betont die historische Abkünftigkeit des neuzeitlichen Bewusstseins von der im christlichen Horizont sich abspielenden Bewusstseinstransformation. 40 Troeltsch und Weber identifizieren – wiederum in geringer Kenntnis der historischen Details – das aus der Spannung von Evangelium 36
Vgl. näher Ludger Honnefelder, „Bildung durch Wissenschaft“. Eine Einführung, in: Albertus Magnus und der Ursprung der Universitätsidee. Die Begegnung der Wissenschaftskulturen im 13. Jahrhundert und die Entdeckung des Konzepts der Bildung durch Wissenschaft, hg. v. L. Honnefelder, 9–23. 37 Vgl. näher Henryk Anzulewicz, Alberts Konzept der Bildung durch Wissenschaft, in: Albertus Magnus und der Ursprung der Universitätsidee. Die Begegnung der Wissenschaftskulturen im 13. Jahrhundert und die Entdeckung des Konzepts der Bildung durch Wissenschaft, hg. v. L. Honnefelder, 382–397. 38 Vgl. dazu Ruedi Imbach, Translatio philosophiae. Die Transformation des scholastischen Diskurses bei Dante, in: Albertus Magnus und der Ursprung der Universitätsidee. Die Begegnung der Wissenschaftskulturen im 13. Jahrhundert und die Entdeckung des Konzepts der Bildung durch Wissenschaft, hg. v. L. Honnefelder, 398–417. 39 Kant, KrV, A 850. 40 Vgl. etwa Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (Werke in zwanzig Bänden 12), Frankfurt a. M. 1970, 491–539.
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und entzauberter Welt sich entwickelnde Naturrecht als „reinsten Typ wertrationaler Geltung“ und damit als Beginn des modernen Vernunftrechts. 41 B. Nelson sieht im 12. Jahrhundert die Epoche, die als der eigentliche „Ursprung der Moderne“ 42 zu betrachten ist, ist es doch dieses Jahrhundert, dessen Wissen-wollen-umdes-Glaubens-willen zu dem Wissen-wollen-um-des-Wissens-willens führt, das die okzidentale Rationalität heraufführt, die die westliche Moderne kennzeichnet. J. Habermas sieht in dem Prozess des 13. Jahrhundert die zweite neben der (in der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends einsetzenden) Achsenzeit für das Aufkommen der okzidentalen Rationalität bedeutsame Wende, wird doch die „Architektonik des ‚Umgreifenden‘“ der mit der Achsenzeit einsetzenden (und – wie ich meine – noch bis in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts fortdauernden) „starken Theorien“ und ihre „dogmatische Denkform“ durch ein neues Verständnis von Wissenschaft abgelöst. 43 An die Stelle der verfestigten Weltbilder der starken Theorien tritt ein neues Verständnis von Rationalität, das sich in einer Weise auf die Welt bezieht, die der Begrenztheit und der Fallibilität Rechnung trägt.
3. Neuzeit als Selbstbehauptung? Die Säkularisierungsthese und ihre Kritik Die Vorgeschichte der Moderne umfasst mehr als nur die bislang verfolgte Entstehung eines säkularen Konzepts von Vernunft und 41
Vgl. näher Ludger Honnefelder, Die ethische Rationalität des mittelalterlichen Naturrechts: Max Webers und Ernst Troeltschs Deutung des mittelalterlichen Naturrechts und die Bedeutung der Lehre vom natürlichen Gesetz bei Thomas von Aquin, in: Max Webers Sicht des okzidentalen Christentums. Interpretation und Kritik, hg. v. W. Schluchter, Frankfurt a. M. 1988, 254–275. 42 Vgl. Benjamin Nelson, Der Ursprung der Moderne. Vergleichende Studien zum Zivilisationsprozess, Frankfurt a. M. 1977, bes. 150. 43 Vgl. Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, Frankfurt a. M. 2012, 19–76, 120–182.
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Säkularität und Moderne im philosophischen Diskurs
Wissenschaft. Zu ihr gehört auch die Vorgeschichte zu dem die Moderne kennzeichnenden Konzept der Freiheit. Sie spielt eine Rolle in einer zweiten zum philosophischen Diskurs über Säkularität und Moderne gehörenden Debatte, nämlich die um die Legitimität der Neuzeit. Das ist der Titel von H. Blumenbergs 1966 erschienenem Buch, in dem er der bis dahin dominanten Erklärung der Neuzeit am Leitfaden der Säkularisierung die These entgegensetzt, die Neuzeit sei allein zu verstehen als die Selbstbehauptung gegenüber dem „Ordnungsschwund“, der von dem „theologischen Absolutismus“ des späten Mittelalters ausgegangen sei. 44 Bis dahin hatte das aus dem kanonischen Recht stammende Stichwort der Säkularisierung die entscheidende Rolle in der Debatte um die Entstehung der Neuzeit gespielt. In seiner ursprünglichen Bedeutung der saecularisatio als Bezeichnung der Emanzipation von Gütern und Personen aus der kirchlichen Sorge und Verfügung war der Begriff durch den Westfälischen Frieden und den Wiener Kongress zum politischen Schlagwort geworden, um anschließend zur Beschreibung der kulturellen Transformation vom Mittelalter zur Neuzeit und zu einem davon ausgehenden Kampfbegriff zu werden, bevor ihn die moderne Religionssoziologie als terminus technicus für den Bedeutungs- und Funktionswandel der Religion benutzt. 45 Im Sinn einer kulturellen Transformation hatte K. Löwith den Begriff der Säkularisierung 1949 in seinem Buch Weltgeschichte und Heilsgeschehen 46 benutzt, um die neuzeitlich-moderne Auffassung von Geschichte als einem linearen, am Leitfaden der Idee 44
Vgl. Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1966. Vgl Karl Gabriel, Jenseits von Säkularisierung und Wiederkehr der Götter, in: Politik und Zeitgeschichte 52 (2008), 10. Online unter http://www.bpb.de/ apuz/30761/jenseits-von-saekularisierung-und-wiederkehr-der-goetter?p=all (abgerufen am 08. 07. 2014). 46 Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie (Sämtliche Schriften Bd. 2), Stuttgart 1983. 45
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des Fortschritts zu interpretierenden Geschehen als Säkularisat der auf Augustinus und Orosius zurückgehenden christlichen Interpretation der Geschichte als Heilsgeschichte zu deuten. 47 C. Schmitt hatte bereits 1922 die (später wieder aufgenommene) These vertreten, alle zentralen Begriffe des modernen Staatsrechts seien durch Säkularisierung entsprechender theologischer Begriffe entstanden. 48 M. Weber hatte zwar den Begriff der Säkularisierung wenig benutzt, der Sache nach aber mit seiner Deutung des modernen Kapitalismus als Säkularisat des calvinistischen Glaubens die gleiche Deutungsfigur verwendet. 49 C. F. von Weizsäcker hatte die These aufgegriffen, um die Entstehung der modernen Naturwissenschaften zu erklären. 50 So wie der politische Begriff der Säkularisierung im Zuge der Enteignung des Kirchengutes nach dem Wiener Kongress von beiden Seiten gebraucht wurde, um den damit verbundenen Prozess zu bewerten, wurde „Säkularisierung“ auch geistesgeschichtlich zum Kampfbegriff, um die zur Neuzeit führende kulturelle Transformation zu bewerten, und zwar in durchaus gegensätzlicher Weise. Auf der einen Seite wurde der mit Descartes einsetzende Neubeginn als Befreiung von der kirchlichen Herrschaft im „finsteren“ Mittelalter gefeiert, auf der anderen Seite wurde die Neuzeit aus der Sicht der im 19. Jahrhundert einsetzenden, kirchlich stark geförderten Neuscholastik – so J. Kleutgen in Die Philosophie der Vorzeit (1860) – als „kecke Erhebung gegen die Autorität; und darum rücksichtsloses Niederreißen des Bestehenden; vermessenes Selbstvertrauen, und darum Bestreben, aus eigenen Mitteln alles neu aufzurichten“ 51 verurteilt. 47
Vgl. näher Honnefelder, Woher kommen wir, 251–271. Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 71996, 43. 49 Vgl. Gabriel, Jenseits von Säkularisierung, 10. 50 Vgl. Carl Friedrich v. Weizsäcker, Die Tragweite der Wissenschaft. Erster Band: Schöpfung und Weltentstehung. Die Geschichte zweier Begriffe, Stuttgart 31971, 93, 96–199. 51 Josef Kleutgen, Die Philosophie der Vorzeit. Bd. 1, Münster 1860, 5; vgl. dazu 48
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Säkularität und Moderne im philosophischen Diskurs
3.1 Die Frage nach der Legitimität der Neuzeit: Die These Blumenbergs H. Blumenberg lehnt die Deutung der Genese der Neuzeit als Säkularisierung nicht nur methodologisch ab als eine Interpretation, die eine fragwürdige Kontinuität in der Substanz behauptet und letztlich zirkelhaft verfährt; er versteht die Entstehung der Neuzeit auf völlig andere Weise, indem er auf das kontingente Faktum des spätmittelalterlichen „theologischen Absolutismus“ Bezug nimmt, dieses Faktum aber zugleich in einen größeren Zusammenhang einordnet, durch den es sein besonderes Gewicht gewinnt. 52 Zu diesem Zweck knüpft er an E. Husserls Descartes-Interpretation an. Denn Husserl sieht schon in seinen frühen Werken den entscheidenden Wendepunkt zur Neuzeit in Descartes’ radikalem, auf eine Bezweiflung alles traditionell Geltenden folgenden Neuanfang. In seiner späten Schrift Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie (1936) versteht er die philosophiegeschichtliche Wende zu Neuzeit und Moderne als eine durch die „griechische Urstiftung“ und den cartesianischen Neuanfang vorbereitete Wende zur Theorie, deren Ziel es ist, die natürlichen Evidenzen der Lebenswelt in eine neue Verständlichkeit umzuwandeln und damit der Krisis zu begegnen, die aus der naturwissenschaftlichen Verwechslung der „mathematisch substruierten Welt der Idealitäten“ 53 mit der wahren Welt erwachsen ist. Blumenberg knüpft an Husserls Lebensweltbegriff an, versteht aber unter „Lebenswelt“ einen Zustand, der durch seine ungebrochenen Evidenzen die Kontingenz verdeckt, die zutiefst die Jürgen Goldstein, Nominalismus und Moderne. Zur Konstitution neuzeitlicher Subjektivität bei Hans Blumenberg und Wilhelm von Ockham, Freiburg 1998, 26 f. 52 Vgl. Blumenberg. Legitimität, 9–200. Vgl. dazu und zum Folgenden die Interpretation der Blumenberg-These bei Goldstein, Nominalismus, 17–143. 53 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Husserliana VI), Den Haag 21962, 49.
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conditio humana prägt. Erst der Austritt aus der absoluten Evidenz der Lebenswelt lässt die zur conditio humana unabweislich gehörende Herausforderung der Selbsterhaltung sichtbar werden und führt daher zu der Selbstaufklärung, die Blumenberg mit Descartes als einen souveränen Akt willentlicher Epoché versteht. Während Husserl den Austritt aus der Lebenswelt als souveränen Akt des Menschen und Heidegger ihn als ein den Menschen treffendes Geschick versteht, sieht Blumenberg in dem damit verbundenen „Verlust lebensweltlicher Selbstverständlichkeit“ 54 eine Zumutung, die sich der Mensch zum Programm machen muss. Auf die Herausforderung der Selbsterhaltung antwortet der Mensch mit einem Akt eines dezidierten Eintritts in die Kontingenz als einem Akt der Selbstbehauptung. Auf diesem Hintergrund sieht Blumenberg das Mittelalter zunächst durchaus positiv, nämlich als den Versuch einer Gegenposition zu der spätantiken Gnosis in Form einer „Symbiose … mit der aristotelischen Philosophie“ 55. Doch diese Synthese zerbricht, als unter den Prädikaten Gottes das bislang zurücktretende Prädikat der Allmacht so betont wird, dass ein „theologischer Absolutismus“ Platz greift, der das Vertrauen in die Wirklichkeit radikal erschüttert. Ein Gott, zu dessen Allmacht es gehört, in unserem Bewusstsein die Wahrnehmung eines Gegenstandes hervorrufen zu können, den es gar nicht gibt, und der eine kontingente Faktizität von Individuen schafft, die sich mit Allgemeinbegriffen nicht erfassen lässt, muss als der genius malignus des Descartes erscheinen, der zu „höchster Beunruhigung des Menschen gegenüber der Welt“ 56 führt und einen epochalen Ordnungsschwund zur Folge hat, gegen den sich der Mensch nur durch einen Akt „humaner Selbstbehauptung“ 57 wehren kann, der seinerseits zu einem Weltverhältnis führt, das sich „pragmatisch als 54
Goldstein, Nominalismus, 56. Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt a. M. 1975, 195. 56 Blumenberg, Legitimität, 107. 57 Blumenberg, Legitimität, 79–200 passim. 55
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Konstruktion und als Prävention“ 58 darstellt. Exponent dieses theologischen Absolutismus ist für Blumenberg Wilhelm von Ockham. 59 Wirksam wird er durch den Siegeszug des von Ockham ausgehenden Nominalismus, durch den zugleich – so Blumenberg – das Scheitern der Synthese des 13. Jahrhunderts endgültig wird.
3.2 Metakritik der Blumenberg-These Blumenbergs Deutung trifft einen wichtigen Punkt der Wende zur Neuzeit, setzt sich aber nicht nur Zweifeln hinsichtlich seiner leitenden Methode aus, die einem Modell der Umbesetzung von Funktionen folgt, 60 sie lässt sich auch im Blick auf die historische Entwicklung nicht halten, wie sie sich in der Perspektive der neueren Forschung darstellt. Ohne Zweifel löst sich durch die Entwicklung der städtischen Zivilisation, das Einsetzen der Kapitalwirtschaft, die Entfaltung der Wissenschaften und die Entdeckung der Neuen Welt gegen Ende des Mittelalters die bis dahin gelebte (und auch die geistige Wende im 13. Jahrhundert noch überwölbende) kulturelle Synthese aus Kultur, Religion, Recht und Wissenschaft auf, um einer neuen Weise des Selbstund Weltverständnisses Platz zu machen. Doch dabei spielt der Nominalismus, wie er Wilhelm von Ockham zugeschrieben wird, nicht die Rolle, die ihm Blumenberg (aber auch andere Autoren wie J. Milbank oder neuerlich M. A. Gillespie) 61 gegeben hat. W. Hübner, der wie wenige die aus der Epoche stammenden 58
Blumenberg, Legitimität, 193. Blumenberg, Legitimität, 99–173. 60 Vgl. dazu Ludger Oeing-Hanhoff, Psychotherapie des philosophischen Bewusstseins. Zu H. Blumenbergs Die Legitimität der Neuzeit, in: Phil. Jahrb. 76 (1968/69) 428–439. 61 Vgl. John Milbank, Theology and Social Theory. Beyond Secular Reason, Oxford 1990; Michael Allen Gillespie, The Theological Origins of Modernity, Chicago 2008; vgl. dazu auch Habermas, Nachmetaphysisches Denken II, 176 f., 245. 59
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Handschriften und frühen Drucke durchgegangen ist, nennt die Darstellung Blumenbergs (und seiner Vorgänger wie Prantl u. a.) eine „Nominalismus-Legende“. 62 Die Mehrheit der Autoren – so Hübner – vertritt nicht den von Blumenberg postulierten Radikalnominalismus. Ein Zusammenhang der „Formalisierungs- und Quantifizierungsbestrebungen des 14. Jahrhunderts“ mit nominalistischen Annahmen ist nicht zu erkennen; ebenso wenig gilt dies für den Zusammenhang mit dem Aufkommen des Individualismus. Am deutlichsten zeigt die Rezeption des Mittelalters durch die spanische Barockscholastik, dass die Lehre Ockhams keineswegs eine Abrogation der großen Theorie-Entwürfe des 13. Jahrhunderts zur Folge gehabt hat. 63 Und in der Tat: Ockham selbst ist – wie die neuere Forschung zeigt 64 – keineswegs der Zerstörer der Geltung genereller Termini und er lässt auch keinen Zweifel, dass Gottes Willen dem Grundprinzip der Rationalität, nämlich dem Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch folgt, was a limine göttliche Willkür als Wollen des logisch Unmöglichen ausschließt.
3.3 Die Entdeckung von Kontingenz und Freiheit: Johannes Duns Scotus und die Folgen Will man den von der Kritik an Blumenbergs Rekonstruktion der Philosophiegeschichte unabhängigen Kern seiner These und Ockhams tatsächliche Intention in den Blick bekommen, ist es sinn62
Vgl. Wolfgang Hübner, Die Nominalismus-Legende. Über das Missverhältnis zwischen Dichtung und Wahrheit in den Deutungen der Wirkungsgeschichte des Ockhamismus, in: Spiegel und Gleichnis, hg. v. N. Bolz u. a., Würzburg 1983, 87–111. 63 In Bezug auf Francisco Suárez vgl. Ludger Honnefelder, Scientia transcendens. Die formale Bestimmung der Seiendheit und Realität in der Metaphysik des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Duns Scotus – Suárez – Wolff – Kant – Peirce), Hamburg 1990, 200–294. 64 Vgl. Honnefelder, Woher kommen wir, 133–154.
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Säkularität und Moderne im philosophischen Diskurs
voll, sich an den Autor zu halten, der die Wende zu Willen und Freiheit vollzieht und damit die Tradition wesentlich wirkkräftiger bestimmt als Ockham, nämlich Johannes Duns Scotus (1265/ 6–1308). 65 Ich skizziere die durch ihn heraufgeführte Wende wiederum an wenigen strukturellen Stichworten: Es ist für den eine Generation nach Thomas wirkenden Franziskaner (1.) die verschärfte Wahrnehmung der Heilsgeschichte als Kern des christlichen Glaubens, die ihn veranlasst, die auch im Aristotelismus verbliebenen nezessitaristischen Annahmen (wie die der Ewigkeit der Welt) kritisch zu identifizieren und neu über Kontingenz, Freiheit, Wille, Individualität nachzudenken. Kritik und Neuansatz können sich aber nach seiner Meinung gegenüber den philosophi nur behaupten, wenn sie philosophisch erfolgen. Ausgangspunkt dafür ist (2.) die Erfahrung der Kontingenz in den Ereignissen und Dingen, wie sie jedermann macht. Kontingenz wie bisher als Folge der Materialität der Welt unterhalb des Mondes zu verstehen, kann nicht überzeugen. Kontingent ist etwas, was auch hätte nicht oder anders geschehen können, wenn es geschieht. 66 An die Stelle des statistischen Verständnisses von Kontingenz tritt die – wie es in der Sprache der modernen Modallogik heißt – synchrone Kontingenz. Sie ist (3.) nur erklärbar, wenn man ihr Eintreten letztlich auf einen Willen zurückführt, der als ein rationales Vermögen sui generis verstanden werden muss, nämlich als ein Vermögen ursprünglicher Selbstbestimmung, zu dem nicht nur die Freiheit gehört, dieses
65
Vgl. zu Folgenden näher Ludger Honnefelder, Johannes Duns Scotus, München 2005. 66 Vgl. näher Ludger Honnefelder, Die Kritik des Johannes Duns Scotus am kosmologischen Nezessitarismus der Araber: Ansätze zu einem neuen Freiheitsbegriff, in: Die abendländische Freiheit vom 10. bis zum 14. Jahrhundert. Der Wirkungszusammenhang von Idee und Wirklichkeit im europäischen Vergleich, hg. v. J. Fried, Sigmaringen 1991, 249–263.
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Ludger Honnefelder
oder jenes zu wollen, sondern – weit wichtiger noch – die Freiheit zu wollen oder nicht zu wollen (libertas exercitii). 67 Das führt (4.) zu der Annahme, dass der höchste Vollzug des geistigen Vermögens des Menschen nicht das Erkennen ist, sondern das Wollen (das freilich als – so Scotus – rationales Vermögen stets der Vernunft folgt), und zwar als das Wollen des Guten um seiner selbst willen, in Form der Liebe, was die wechselseitige Anerkennung impliziert. 68 Mit dem neuen Verständnis von Kontingenz, Wille und Freiheit verbindet sich bei Scotus (5.) eine neue Lehre von den Modalitäten, die es erlaubt, von Möglichkeit, Notwendigkeit und Kontingenz zu sprechen ohne – wie bisher – auf ein ontisches Vermögen Bezug zu nehmen. 69 Das erlaubt die Unterscheidung zwischen notwendigem Möglichsein und kontingenter Faktizität, was sich in der (späteren) Rede von ‚möglichen Welten‘ niederschlägt. Auf dem Hintergrund der Modalitätenlehre kann Scotus (6.) Gottes Handeln ad extra als frei und kontingent verstehen, was aber keineswegs auf den von Blumenberg urgierten Willkürgott hinausläuft, bewegt sich Gottes unableitbares Wollen ad extra doch im Raum des von ihm als notwendig erkannten Möglichen. 70 Für die menschliche Vernunft bedeutet dies, dass (7.) sie ausgehend von der sinnlichen Wahrnehmung die kontingente Faktizität in ihrem formalen Möglichsein erfasst. 71 Weil die die jeweilige Welt bestimmende Faktizität kontingent ist, sich aber als Realisierung eines notwendigen Möglichseins darstellt, ist (8.) Forschung, die zu wissenschaftlichem Wissen führt, zugleich 67
Vgl. Johannes Duns Scotus, Ordinatio I d. 2 p. 1 q. 1–2 n. 86, (ed. Vat. II), Rom 1950, 178; dazu Honnefelder, Scientia transcendens, 56–74. 68 Vgl. Johannes Duns Scotus, Metaphysica IX q. 15 (Opera Philosophica IV), St. Bonavenutre 1997, 677–699; dazu Honnefelder, Duns Scotus, 113 ff. 69 Vgl. Johannes Duns Scotus, Ordinatio III d. 27 q. un. nn. 29–34 (ed. Vat. X), Rom 2007, 58–62; dazu Honnefelder, Duns Scotus, 116 f., 119 f. 70 Vgl. ausführlicher Honnefelder, Duns Scotus, 72–112; ders., Scientia transcendens, 3–199. 71 Vgl. ausführlicher Honnefelder, Duns Scotus, 75–87.
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Säkularität und Moderne im philosophischen Diskurs
möglich und notwendig. 72 Für das Verständnis des sittlich Guten bedeutet dies, dass (9.) das maßgebliche Kriterium in der Willensentscheidung liegt, die ihre Gutheit dann erreicht, wenn sie sich an dem von der Vernunft erkannten Guten um seiner selbst willen orientiert. Dies erlaubt (10.) die Rede von einem „natürlichen Gesetz (lex naturalis)“, das unbedingte Verbindlichkeit nur in Form des obersten Prinzips besitzt. Ist nämlich die diese Welt bestimmende Ordnung von Gott in kontingenter Weise (de potentia dei ordinata) so gewollt, wie sie sich darstellt, kann das konkret zu tuende Gute nur durch eine von der ‚Konsonanz‘ mit dem obersten sittlichen Prinzip geleiteten und die kontingent-rationale Ordnung herausarbeitende praktische Überlegung herausgefunden werden. 73
4. Genealogie und Selbstverständnis: Zur Einschätzung des säkularen Verständnisses von Vernunft und Freiheit Was lässt sich der mittelalterlichen Vorgeschichte für die Einschätzung des säkularen Verständnisses von Vernunft und Freiheit in Neuzeit und Moderne entnehmen? (1.) Neuzeit und Moderne beginnen nicht im 13. Jahrhundert, sondern im Zuge der Auflösung, der schon erwähnten sozio-kulturellen Synthese, die das Mittelalter geprägt hat. Doch haben Neuzeit und Moderne in der Entwicklung im 13. Jahrhundert Voraussetzungen, ohne die die Entstehung der Einsicht, die sich in Neuzeit und Moderne Bahn bricht und die wir für unverlierbar halten, nicht zu erklären ist. Diese Einsicht verdankt sich einer Konstellation, wie sie in dieser Weise nur in dem Spannungsgefüge von christlichem Glauben und wieder bekannt 72 73
Vgl. Ludger Honnefelder, Art. „Possibilien I“, in: HWP 7 (1989) 1126–1135. Vgl. ausführlicher Honnefelder, Duns Scotus, 120–126.
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Ludger Honnefelder
werdender griechisch-arabischer Wissenschaft im lateinischen Westen zu beobachten ist. Weder im östlichen (orthodoxen) Christentum, das über die gleichen antiken Quellen verfügt, noch in der islamischen und jüdischen Aristoteles-Rezeption, von der der Westen lernt, kommt es zu der Entwicklung der Rationalität, die wir zu Recht die „okzidentale Rationalität“ nennen. (2.) Wesentliche Elemente dessen, was sich in Aufklärung und Moderne als unverlierbare Einsicht zur Geltung bringt, verdanken sich der beschriebenen Entwicklung im 13. Jahrhundert: der naturrechtliche, d. h. von Vernunft und Freiheit bestimmte Kern von Moral und Recht, aus dem sich die universale Geltung der Menschenrechte und ein normatives Verfassungsverständnis entwickelt haben; die wissenschaftliche Weltsicht, die den konstitutiven Wahrheitsbezug mit der perspektivischen Pluralität und methodischen Fallibilität einer nicht über den Gottesstandpunkt verfügenden Vernunft verbindet; das Welt- und Wirklichkeitsverständnis, das von einer bleibenden Differenz zwischen Gott und Welt, zwischen Kosmologie und Heilsgeschichte ausgeht, die Rede von ‚möglichen Welten‘ erlaubt und eine Kontingenz der Wirklichkeit in Rechnung stellt, durch die Geschichte, Individualität und personale Identität in einer neuen, dem griechischen Nezessitarismus unbekannten Weise gedacht werden können. (3.) Aus der Einsicht in die mittelalterlichen Voraussetzungen von Neuzeit und Moderne lässt sich kein Argument für die Rückkehr in das 13. Jahrhundert oder in die noch früheren Verständnismodelle von Vernunft und Freiheit schmieden. Wohl aber werden systematische Gabelungen sichtbar, an denen sich die neuzeitlich-moderne Entwicklung für Wege entschieden hat, die aus heutiger Sicht als problematisch erscheinen, von denen aber die Vorgeschichte zeigt, dass sie nicht notwendig mit einem säkularen Verständnis von Vernunft und Freiheit verbunden sind. (4.) Diese als problematisch zu betrachtenden Wege zeigen sich im Blick auf die eingangs bereits benannte Kritik von Seiten der sog. Postmoderne. Ich nenne ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige Stichworte: 58 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
Säkularität und Moderne im philosophischen Diskurs
– Da ist als erstes auf die cartesianische Grundentscheidung zu verweisen, die Leistung der Vernunft mit einem Anspruch auf absolute Gewissheit zu verbinden und zu diesem Zweck die Vernunft als reine Vernunft zu verstehen und als Grundlage zu diesem Verständnis einen neuen Dualismus von Geist und Materie zu unterstellen. Um es mit Luhmann zu sagen: Das „Kernproblem der europäischen Rationalität“, nämlich von einer Differenz Gebrauch zu machen, in der die Differenz selbst vorkommt, wird durch „Absolutheitsfiguren“ 74 zu beseitigen versucht. – Der zu diesem Zweck bemühte ontologische Dualismus führt nicht nur zu der in und von der Postmoderne kritisierten Dekontextualisierung der Vernunft von Geschichte, Leibgebundenheit, Sprachgebundenheit und Kommunikativität – eine Dekontextualisierung, die das skizzierte Vernunftverständnis des 13. Jahrhunderts noch nicht kennt –, er blockiert auch ein Verständnis personaler Identität, in dem sich Vernunft und Wille mit Leibgebundenheit, Individualität und kontingenter Kontextualität verbinden. – Auf dem Hintergrund des cartesianischen Dualismus kommt es zugleich zu dem problematischen Dualismus der Wissenschaftskulturen (der nicht mit einer wissenschaftstheoretischen Differenzierung zu verwechseln ist), der zu Extrempositionen führt wie dem im Bereich der sciences auftretenden Positivismus/ Szientismus/Naturalismus und den im Bereich der Philosophie auftretenden Selbstbegründungsansprüchen bzw. einem szientistischen Objektivismus auf der einen Seite eine mentalistisch enggeführte Subjektivität auf der anderen Seite entgegenstellt. Damit ist die Einsicht blockiert, dass es einen universalen Anspruch auf Wahrheit gibt, der sich mit einer fallibilistischen Einlösung verbindet, und dass die epistemische Dualität der Vernunft (in Teilnehmer- und Beobachterperspektive) weder einen ontologischen Dualismus noch eine Reduzierung auf die eine oder die andere Seite erlaubt. 74
Luhmann, Beobachtungen, 71.
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Ludger Honnefelder
– Was die theoretischen wie praktischen Geltungsansprüche der Vernunft betrifft, blockiert der apostrophierte Dualismus bzw. ein auf reine „Subjektivität“ abstellendes Vernunftverständnis die Einsicht, dass Geltungs- und Wahrheitsansprüche im Rahmen intersubjektiver Kommunikation durch Geben und Nehmen von Gründen eingelöst werden. – Eine fatale Engführung ergibt sich für das Verständnis des Willens, wenn er als irrationales Vermögen der Willkür verstanden wird, was zu deterministischen Positionen einerseits und dezisionistischen Positionen andererseits führt und die Einsicht blockiert, dass Kontingenz nicht mit Zufall und Freiheit nicht mit Willkür identisch sind und Wille als rationales Vermögen ursprünglicher Selbstbestimmung verstanden werden kann. – Im Bereich des Handelns resultiert aus dem methodischen Dualismus der problematische Hiatus zwischen einem non-kognitivistischen oder dezisionistischen Verständnis von Verbindlichkeitsansprüchen bzw. deren objektivistisch-deterministischen Verständnis andererseits. – Schließlich verdeckt die problematische Suche der neuzeitlichen Philosophie nach einer Theorie, die das letzte Wort hat, die Tatsache, dass Philosophie und Wissenschaft keine „komprehensiven Theorien“ 75 sind, aber auf solche in Form der Religion verweisen, wollen sie nicht ihrem eigenen Defätismus verfallen.
75
Zum Begriff „comprehensive doctrines“ vgl. John Rawls, Political Liberalism. Expanded Edition, New York 2005, 13, 175.
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Charles Taylors Konzept des säkularen Rahmens und Glaube als Option Gregor Maria Hoff, Salzburg
Die Debatten um den Ort der Religionen und des Religiösen in der Moderne laufen unter verschiedenen Gesichtspunkten. Das Görresinstitut für interdisziplinäre Forschung hat sie direkt und indirekt thematisiert: direkt mit einem grundlagentheoretischen Band zu „Entstehung – Funktion – Wesen“ von Religion, der vor dem 11. September 2001 erschienen ist und sich in seiner Einleitung auf die „Rückkehr der Religion“ im Zeichen einer „unabgeschlossene(n) Dialektik der abendländischen Säkularisierung“ 1 bezog; direkt mit der Tagung 2010, die sich mit dem rezenten religionskonfliktiven Potenzial von Religionen beschäftigte. 2 Aber auch indirekt spielen die entsprechenden Fragen in die Arbeit des Instituts hinein – vor allem an den methodologischen und hermeneutischen Schnittpunkten zwischen den vertretenen Wissenschaftsdisziplinen. 3 Wie verhalten sich naturwissenschaft1
Hans Waldenfels (Hg.), Rückkehr der Religion. Eine Einführung, in: Ders. (Hg.), Religion. Entstehung – Funktion – Wesen (Grenzfragen Bd. 28), Freiburg / München 2003, 7–25;10; vgl. zur Prägung der Rede von der „unabgeschlossenen Dialektik der Säkularisierung“: Jürgen Habermas, Glauben und Wissen. Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Laudatio Jan Phillipp Reemtsma, Frankfurt a. M. 2001. 2 Gregor M. Hoff (Hg.), Konflikte um Ressourcen – Kriege um Wahrheit (Grenzfragen Bd. 37), Freiburg / München 2013. 3 Vgl. Wolfgang Wickler, Die ganze belebte Schöpfung ist auf Konkurrenz und Konflikt angelegt. Ein Bewertungsproblem, in: Gregor M. Hoff (Hg.), Konflikte um Ressourcen – Kriege um Wahrheit, 389–429; Gregor M. Hoff, Schöpfungstheologie im Konflikt? Ein fundamentaltheologischer Kommentar, in: ebd., 431– 442.
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Gregor Maria Hoff
liche Aussagen und theologische Interpretationen epistemisch zueinander, und zwar unter dem Gesichtspunkt ihres Anspruchs auf Welterkenntnis? Sie werden scharf, wo ontologische oder metaphysische Hintergrundannahmen durchschlagen. 4 Sie stehen im Horizont naturwissenschaftlicher Erkenntnismethoden, die von religiöser Deutung absehen und sich säkular verstehen, insofern sie von religiös motivierten Erklärungsmustern absehen. 5 Im Säkularisierungsnarrativ von Charles Taylor, das im Folgenden als Modell einer Bestimmung von Säkularität und Moderne herangezogen wird, liest sich das so: „Die große Erfindung des Abendlands war der Gedanke einer immanenten Ordnung der Natur, deren Wirken mit Hilfe der ihr vorbehaltenen Begriffe systematisch verstanden und erklärt werden könne, wobei die Frage offenbleibt, ob diese ganze Ordnung eine tiefere Bedeutung hat und, wenn ja, ob daraus die Existenz eines transzendenten, jenseitigen Schöpfers gefolgert werden sollte.“ 6
In diesem Zusammenhang lassen sich hermeneutische Übergriffe feststellen, wo einerseits weltbildförmige Aussagen naturwissenschaftlich formuliert werden oder wo man andererseits das Konzept ‚Gott‘ im Bezugsrahmen naturwissenschaftlicher Methoden zu bestimmen sucht, es also zu einer Bestimmungsform wird, „für 4
Vgl. exemplarisch den Beitrag von Ulrich Kutschera, in: Stephan Borrmann / Günter Rager (Hg.), Kosmologie, Evolution und Evolutionäre Anthropologie. Neue Erkenntnisse der Forschung und ihre Beurteilung durch Philosophie und Theologie (Grenzfragen Bd. 34), Freiburg / München 2009. 5 Umgekehrt steht auch der Wissenschaftscharakter der Theologie unter den Bedingungen sich säkular verstehender Wissenschaften zur Diskussion. Vgl. dazu eine Tagung an der Universität Frankfurt (17. 4. 2013) unter dem Titel: „Theologie – Wissenschaftsdiskurs im Kontext des säkularen Universität“. Ein eigener Vortrag zum Problem von „Säkularität“ und der semantischen Politik, die sich im Zeichen „säkularer Universitäten“ als wissenschaftsbezogener Selbstausweis vollzieht, fehlte. 6 Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a. M. 2009, 51. Im Folgenden unter der Sigel SZ mit Seitenzahl im Text zitiert. Vgl. zur methodischen Erkenntnisdifferenz zwischen Glaube und Naturwissenschaften, wie sie sich bei Newton durchsetzt, SZ 557.
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Charles Taylors Konzept des säkularen Rahmens und Glaube als Option
die im naturwissenschaftlichen Weltbild ein Ort gefunden werden kann oder nicht.“ 7 Es geht im Folgenden nicht um die Wiederaufnahme der methodologischen Debatten zwischen Naturwissenschaften und Theologie, sondern um die Bestimmung des weltbildförmigen Rahmens sowie die semantischen Politiken, die mit der Codierung von Religion im Horizont moderner säkularer Wissenschaften im Raum stehen. Sie geben den Ort von Religionen und Religiösem in der Gegenwart an, und zwar in doppelter Hinsicht: als materiale Aussage über die epistemische Belastbarkeit religiöser Überzeugungen wie als performative Einrichtung des Diskursortes, an dem gesellschaftlich und wissenschaftlich, damit aber auch wissenschaftspolitisch die Religionsthematik zu verhandeln ist. Das wiederum ist als Aspekt eines säkularen und säkularisierenden Diskurses zu begreifen. Er ist auf eine spezifische Weise modern, insofern er einem Fortschrittspathos im Zeichen szientifischer Rationalisierung folgt, das für die These von der zwangsläufigen und progressiven Säkularisierung charakteristisch war – eine These, die erst unter postmodernen Bedingungen einer radikalen Pluralisierung in den Lebensformen wie den Analyseformularen religiöser Gegenwarten 8 7
Reinhold Esterbauer, Fundamentaltheologie und Naturwissenschaften, in: Klaus Müller (Hg.), Fundamentaltheologie – Fluchtlinien und gegenwärtige Herausforderungen, Regensburg 1998, 261–279; 271. 8 Ich schließe hier an den soziologischen Modellierungsansatz Armin Nassehis und seiner Rede von der „Gesellschaft der Gegenwarten“ an. Vgl. Armin Nassehi, Gesellschaft der Gegenwarten. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft II, Berlin 2011, 11–41. Nach Nassehi „lässt sich die moderne Gesellschaft nur als eine Gesellschaft verstehen …, die vor allem mit der Inkommensurabilität ihrer Perspektiven umzugehen gelernt hat“ (15). Genau diese Eigenschaft irreduzibler Pluralisierung gesellschaftlicher und individueller Praktiken, die sich in den Modi ihrer ästhetischen und szientifischen Selbstverständigung abbilden, kennzeichnet aus meiner Sicht eine entscheidende Differenz zu modernen Gesellschaften, die mit Optionen auf letzte Einheiten und abschließbare Systeme operierten, und erlaubt es, von postmodernen Konstellationen zu sprechen. Insofern markiert die Metaerzählung von Taylor einen post/modernen Umschlagpunkt: In der Pluralisierung der narrativen Einsätze gibt es einen Gesamthorizont, der seine Erzählung anleitet. Die anthropologische Kategorie der „Fülle“ steht dafür metaphorisch
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revidiert wurde. Damit ist das Problemtableau dieser Tagung aufgerufen: der Zusammenhang von Säkularität und Moderne.
1. „Säkularisierung“ – zum Problem der semantischen Politik eines polemogenen Konzepts 1965 veröffentlichte Hermann Lübbe seine Studie über die „Säkularisierung“. Von allen vorhergehenden Versuchen zur Interpretation der „Neuzeit“, der „Moderne“ und ihrer Säkularisierungsdynamik unterscheidet sie sich durch die Perspektive, die ihr Untertitel ausweist: „Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs“. Interessiert an der Funktion des Konzepts „Säkularisierung“, erschließt Lübbe die semantische Politik, die im Zeichen der Begriffsverwendung performativ durchgreift. Es handelt sich, nach einer Beobachtung von Anselm Haverkamp, um „Philosophie für die Zwecke von Politik, seit diese sich aufgemacht hat, den modernen Staat aus sich selbst zu begründen. Daß Säkularisation diese Entwicklung auf einen politischen Begriff bringt, ist selbst ein politischer Akt dessen, was dieser Begriff behauptet: es ist ein Akt der Säkularisation. Säkularisation redet von sich selbst in säkularisierender Absicht, ganz so wie jede rhetorische Figur den rhetorischen Akt, dem sie zugehört exemplarisch vertritt. Das gilt paradigmatisch von der Metapher, die nicht anders kann als sich nur immer neu metaphorisch zu behaupten, zu vertreten, zu erneuern. Säkularisierung ist ein rhetorisch-politischer Akt solch metaphorischer Setzung und als ein solcher ‚nichts anderes als die metaphorisch konsequente Einsetzung nicht-religiöser Gehalte in religiös präformierte Aussagen bzw. Aussagesysteme.‘“ 9 ein, in der Architektur ist es das Pathos des Verlustes, das sich auch gegen die Zumutungen einer vermeintlichen säkularen Substraktionsgeschichte durchhält. 9 Anselm Haverkamp, Säkularisation als Metapher, in: https://www.kuwi. europa-uni.de/de/lehrstuhl/lw/westeuropa/Haverkamp/publikationen/rara/S__ kularisation_als_Metapher_2002.pdf (letzter Abruf; 3.5.2016). – Das Zitat im Zitat: Hermann Lübbe, Säkularisierung: Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs (Freiburg/B: Alber 1965, 1975), 133.
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Charles Taylors Konzept des säkularen Rahmens und Glaube als Option
Damit wird die Aufmerksamkeit auf die theoretischen Arrangements gelenkt, unter denen das Konzept „Säkularisierung“ seine Bedeutungsnuancen annimmt, d. h. auf seine eigenen funktionalen Ausdifferenzierungen. Sie haben historischen Tiefengrund und sind politisch, ökonomisch, gesellschaftlich sedimentiert. Dem entspricht die Bandbreite der begriffshistorischen Bestimmungen wie der Genealogien des Phänomens. 10 Mit der Pluralität und Mehrdeutigkeit wird zugleich die Unselbstverständlichkeit des Konzepts „Säkularisierung“ sichtbar – seine Konstruktivität wie seine Kontingenz. 11 Das ist insofern zu beachten, als sich im Zuge eines szientifischen Naturalismus metaphysische Geschichten einer säkularisierten Wissenschaft wiederfinden, etwa in der Unterscheidung von Mythos und Religion versus Wissenschaft, die sich gleichzeitig – wie etwa bei E. O. Wilson – auf Fragen zur „Natur“ des Menschen und des „Sinns der Menschheit“ beziehen. 12 Charles Taylor setzt in seiner groß angelegten Studie „A Secular Age“ über die Genealogie des Säkularismus bei dieser Unselbstverständlichkeit der säkularen Option an. Er fragt nach den Entstehungsbedingungen dessen, was er als „Säkulares Zeitalter“ bezeichnet – und die er hart an die Konstellierung heranführt, die unsere Tagung verpflichtet: „Säkularität und Moderne“. „Warum war es in unserer abendländischen Gesellschaft beispielsweise im Jahre 1500 praktisch unmöglich, nicht an Gott zu glauben,
10
Vgl. die gegenlaufenden Ansätze von Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1966 (Neuausgabe ebd. 1996); Ludger Honnefelder, Scientia transcendens. Die formale Bestimmung der Seiendheit und Realität in der Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit (Duns Scotus – Suárez – Wolff – Kant – Peirce), Hamburg 1990. 11 Darauf weist Hans Joas mit seiner Genealogie der Menschenrechte hin, indem er die Anteile des Christentums an ihrer Entstehung markiert, zugleich aber auch die sakralisierenden Momente und Effekte des Menschenrechts-Diskurses aufdeckt. Vgl. Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011. 12 Edward O. Wilson, Die soziale Eroberung der Erde. Eine biologische Geschichte des Menschen, München 2013,19.
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während es im Jahr 2000 vielen von uns nicht nur leicht fällt, sondern geradezu unumgänglich vorkommt?“ (SZ 51)
Es handelt sich um eine Verschiebung im Bereich dessen, was als selbstverständlich gilt, und sie vollzieht sich im Zuge einer Ausdifferenzierung der Wissensformen, mit denen unser Zugang zur Welt festgelegt wird – im Modus einer Umstellung von Glaubensformen und basic beliefs. Sie zeigt sich nach Taylor darin, dass religiöser Glaube zu einer Option unter anderen wird, damit aber auch die Totalität der religiösen Weltsicht zerfällt (SZ 14 f.). Die Rahmenerzählung der Wirklichkeit verändert und pluralisiert sich, wobei die Einheit eines einzigen theoretischen Narrativs für die Interpretation der Welt zunehmend unter Druck gerät. Insofern ist es konsequent, dass Taylor die eigene Deutung als Erzählung ausweist, die ihrerseits in einem Komplex von Erzählansätzen abrollt: dem subjekttheoretischen, dem politischen, dem wirtschaftlichen usw. Drei Aspekte sind nach Taylor von besonderer Bedeutung, wenn es um die Entstehung des Säkularisierungsnarrativs geht: c1. Die „natürliche“ Welt verliert ihre teleologische Transparenz (Plan Gottes); ci2. die politische Welt emanzipiert sich von ihrer transzendenten Legitimation (Gnadenkönigtum) und cii3. die Gegenwart des Transzendenten löst sich auf (Entzauberung der verzauberten Welt). Emanzipationsprozesse gehen damit einher, die sich auf der Ebene der wissenschaftlichen, politischen und subjektbezogenen Praktiken durchsetzen. Sie ermöglichen u. a. – technisch und ökonomisch folgenreich – die erkenntnistheoretischen und methodischen Unterscheidungen in den Arbeitsformen von Naturwissenschaften und Theologien. Wie aber wurden diese Prozesse möglich? Taylors Frage betrifft den Kernbereich jener Arbeit, der sich dieses Institut stellt. Unter welchen Bedingungen wurde diese Ausdifferenzierung möglich? 13 13
Theologisch gibt es nach wie vor Theorien, die von der Unselbstverständlichkeit dieser Ausdifferenzierung ausgehen und aus ihr Kapital zu schlagen suchen.
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Welchen historischen Ort haben die semantischen Politiken, die sich im Zeichen der Säkularisierungsdiskurse gesellschaftlich und wissenschaftsorganisatorisch durchsetzen?
2. Eine Rekonstruktion der säkularen Moderne: genealogische Motive in Charles Taylors „A Secular Age“ Taylor definiert Säkularität in drei Bezugsdimensionen: 1(1.) in Bezug auf gesellschaftliche Öffentlichkeit: „In dieser Öffentlichkeit, so heißt es, gibt es keinen Gott mehr und keinen Hinweis auf letzte Realitätsgründe.“ (SZ 13) Gesellschaftlich relevantes Handeln, zumal öffentlich kommunizierbares Geben und Nehmen von Gründen (W. Sellars / R. Brandom) kommt ohne Bezug auf Gott aus; 14 2(2.) in Bezug auf den gesellschaftlichen Ort von Religion/en: „In dieser zweiten Bedeutung des Wortes besteht Säkularität darin, daß der religiöse Glaube und das Praktizieren der Religion dahinschwinden“ (SZ 14); 3(3.) in Bezug auf die „Bedingungen des Glaubens“ (SZ 14): „So aufgefaßt besteht der Wandel hin zur Säkularität unter anderem darin, daß man sich von einer Gesellschaft entfernt, in der der Glaube an Gott unangefochten ist, ja außer Frage steht, und daß man zu einer Gesellschaft übergeht, in der
Man denke an die „Entweltlichungsthese“ von Benedikt XVI. (vgl. Jürgen Erbacher (Hg.), Entweltlichung der Kirche? Die Freiburger Rede des Papstes, Freiburg 2012), erkenntnistheoretisch profilierter aber auch an die „Radical Orthodoxy“ John Milbanks, auf die sich auch Taylor bezieht. Vgl. John Milbank, Theology and Social Theory, Oxford 22006; vgl. auf einer ähnlichen Basis – z. B. in der (problematischen) Einschätzung der Rolle des Nominalismus, aber mit anderem Theoriezuschnitt: Michael Allen Gillespie, The Theological Origins of Modernity, University of Chicago Press, 2008. 14 Vgl. zur systematischen Problemstellung Franz-Josef Borrmann / Bernd Irlenborn (Hg.), Religiöse Überzeugungen und öffentliche Vernunft. Zur Rolle des Christentums in der pluralistischen Gesellschaft (QD 228), Freiburg u. a. 2008.
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dieser Glaube eine von mehreren Optionen neben anderen darstellt“ (SZ 14). Mit diesem dritten Konzept von Säkularität arbeitet Taylor, wobei sich Verbindungen mit den beiden anderen Dimensionen zwangsläufig ergeben. Er ist aber an der spezifischen gesellschaftlichen Konstitutivität der säkularen Option interessiert, daran, wie sich religiös Selbstverständliches auflösen und unselbstverständlich werden konnte, während gleichzeitig ein Wirklichkeitsverständnis und ein Weltzugang zu dominieren begannen, in dem sich „Welt“ ganz aus sich heraus versteht. Die veränderte Konstitution des Glaubens in der Moderne wird durch verschiedene – zumal subjektivitätsgeschichtliche 15 – Faktoren ermöglicht: 1. Die „Ersetzung des porösen Selbst durch das abgepufferte Selbst“ (SZ 899) stellt einen ersten Schritt dar. Das poröse Selbst ist offen für Außenbezüge, in denen sich numinose Wirklichkeiten vermitteln. Das neue Selbst erfährt sich von der Außenwelt getrennt. Hier bereitet sich der „ausgrenzende Humanismus der Neuzeit“ (SZ 259) vor. 2. Die „sozialen Vorstellungsschemata“ (SZ 252) verändern sich im Zuge einer „Entbettung“ (SZ 251 ff.), in der sich der Ort des Individuums in der Gesellschaft verschiebt und damit auch seine religiöse Kommunikation. Das wird durch die achsenzeitlichen Erlösungsreligionen forciert: „Die Ordnung der Welt selbst wird in Zweifel gezogen … Unsere Welt ist in Unordnung geraten und muß neu geschaffen werden“ (SZ 261). War die soziale Ordnung selbst heilig, ist sie nun je neu zu schaffen (SZ 256). 3. „Das Böse ist nicht mehr schlicht ein Teil der Ordnung der Dinge, die als solche hingenommen werden muß. Man muß etwas unternehmen.“ (SZ 263)
15
Vgl. Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a. M. 1994.
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4. Es entsteht auf dieser Basis ein radikalisiertes Verständnis von Transzendenz. Gott wird in größerer Distanz zur Welt gedacht (SZ 262). Die Leitunterscheidung von Transzendenz und Immanenz bildet sich so heraus, dass es sich um distinkte und zunehmend getrennte Sphären handelt (SZ 37). 5. Parallel entwickelt sich eine verinnerlichte Existenzform, in der sich das Selbst als entscheidender Akteur seiner Weltbezüge begreift (Autonomie, Authentizität des Subjekts [SZ 507]). 6. Dieser Akteur, der ökonomisch und wissenschaftlich erfolgreich agiert, begründet eine „instrumentelle Haltung zur Welt“ (SZ 903), mit der sich die Ambivalenzen der Moderne auf den bereits angesprochenen ausgrenzenden Humanismus zuspitzen können. Es handelt sich um einzelne Momente, die Taylor am historischen Material aufdeckt – zum Beispiel anhand der Veränderungen im Zeit-Verständnis vom Mittelalter bis zur Neuzeit (SZ 105–108). Der Zerfall des mittelalterlichen Regnums muss Konsequenzen für die Vorstellung von der Zeit haben, weil sich ein Scharnier zwischen Ewigkeit und Gegenwart auflöst. Taylor modelliert dies mit Kantorowiczs Theorie von den zwei Körpern des Königs, von denen der eine heilig, unantastbar und letztlich ewig ist, der andere aber physisch und sterblich. Die damit gegebenen Zeitbezüge gehen mit dem Verlust des Glaubens an das Gottesgnadentum des Königs verloren, zugleich wird der Bezug von Transzendenz und Immanenz neu codiert. Es sind aber nun nicht die einzelnen, in der Regel historisch diskutablen Entwicklungsschritte, sondern die Konstellationen vielfältiger Einflüsse und diskreter Umbrüche, die Taylor nachzeichnet und in ein Bündel von Einflüssen, Bedingungen und Gründen überführt – was selbstverständlich methodologisch eine Reihe von Fragen aufwirft, etwa nach der Auswahl der Faktoren, ihrer Zuordnung, der unterstellten Abhängigkeiten und Kausalitäten. Die genannten (darstellungsökonomisch hier sehr gerafften) Prozesse konzentriert Taylor in seiner Rede von einer „spirituellen 69 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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Supernova“ (SZ 508), einem singulären Eintritt des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses in eine neue religiös-kulturelle Umlaufbahn. Taylor versucht diese Entwicklung vor dem Hintergrund eines moralisch-religiösen Drucks zu plausibilisieren, den er als REFORM kennzeichnet. „Die große Entbettung kommt … als Revolution unserer Auffassung der moralischen Ordnung zustande“ (SZ 271). Taylor sieht ihren Umschlagpunkt im 11. Jahrhundert mit den cluniazenisischen Reformen und der Politik der Reformpäpste. „Die REFORM verlangt, jeder müsse ein echter, hundertprozentiger Christ sein. Die REFORM begnügt sich nicht mit der Entzauberung, sondern sie diszipliniert das Leben wie die Gesellschaft und strukturiert sie neu. Das begünstigt, zusammen mit der Zivilität, eine Vorstellung von der moralischen Ordnung, die dem Christentum und den Forderungen des Glaubens einen neuen Sinn verleiht. Dadurch wird der Abstand zwischen Glauben und Christenheit verkürzt. Das wiederum ist der Anstoß zu einer anthropozentrischen Wende und folglich zu einem Ausbruch aus der Monopolstellung des christlichen Glaubens.“ (SZ 1282)
In der Folge des Investiturstreits verschieben sich zudem die politischen Gewichte. Regnum und sacerdotium emanzipieren sich zu eigenständigen Bereichen. 16 Ein neues soziales Vorstellungsschema (SZ 1284) entsteht, das die immanenzzentrierte, individualisierte und pluralistische Säkularität modernen Zuschnitts ermöglichte. Was ergibt sich mit dieser „REFORM-Großerzählung“ (SZ 1282)? Über alle genealogischen Details hinaus wird die Konstruktivität und Kontingenz der Säkularisierungs-Prozesse sichtbar, die zugleich die Darstellungsform selbst betrifft, also das Narrativ der Säkularisierung in seiner säkularisierenden oder auch säkularisierungsaufhebenden bzw. -überschreitenden Funktion. Das ist im dritten Schritt zu präzisieren.
16
Vgl. Franz-Reiner Erkens, Herrschersakralität im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Investiturstreit, Stuttgart 2006.
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Charles Taylors Konzept des säkularen Rahmens und Glaube als Option
3. Charles Taylors „A Secular Age“ als genealogisches Programm: Zur erzähltechnischen Aufhebung des Säkularisierungsnarrativs Taylor bündelt für seine Modellierung moderner Säkularität eine Vielzahl von perspektivischen Einsätzen. 17 Methodologisch ist dies von besonderer Bedeutung für die Konstruktion seines Narrativs. 18 Taylor nutzt nämlich in der Erinnerung an ein Glaubenssystem, das er selbst als hochkomplex, different veranlagt und von subversiven Glaubensbewegungen unterwandert sieht, ein Einheitsmodell, vor dessen Horizont sich das Säkularisierungsmotiv in seiner Erosionsdynamik ausnimmt. Das zeigt sich am deutlichsten, wo Taylor seine wichtigste anthropologische Metakategorie einführt: die „Fülle“. „Wir alle begreifen unser Leben und/oder den Raum, in dem wir unser Leben führen, als etwas, das eine bestimmte moralisch-spirituelle Form aufweist. Irgendwo – in irgendeiner Tätigkeit oder in irgendeinem Zustand – liegt eine gewisse Fülle, ein gewisser Reichtum. Soll heißen: An diesem Ort (in dieser Tätigkeit oder in diesem Zustand) ist das Leben voller, reicher, tiefer, lohnender, bewundernswerter und in höherem Maße das, was es sein sollte.“ (SZ 18)
Orientierung geht von solchen Orten oder Praktiken aus. Sie haben einen Transzendenzindex, weil der Mensch über sich hinausgeht. Das gilt noch in den Momenten der Verzweiflung, des Verlustes der Verlassenheit, weil sich das unendlich Vermisste hier im Schattenriss des Entzuges zeigt (Vgl. SZ 20 f.). 19 Aber für die 17
Vgl. Teil IV: „Erzählungen von der Säkularisierung“ (SZ 701–895). Taylor selbst spricht immer wieder von einer Erzählung: vgl. prominent die Zusammenfassung SZ 899. 19 Thomas Rentsch hat darauf hingewiesen, „dass sich in der Moderne von Beginn an alternative Transzendenzverständnisse herausbilden“, denen Taylor vor allem im Blick auf seine subjekttheoretische These vom puffered self eine höhere Aufmerksamkeit schenken müsste, denn das „moderne, poröse Selbst entwickelt im Bewusstsein seiner Verletzlichkeit und Endlichkeit authentische innovative Transzendenzverhältnisse.“ Thomas Rentsch, Wie ist Transzendenz zu denken? Kritische Thesen zu Charles Taylors Säkularisierungskonzept, in: Michael Kühnlein / Matthias Lutz-Bachmann (Hg.), Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven 18
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Gregor Maria Hoff
säkulare Moderne ergibt sich eine entscheidende Verschiebung. Während der religiöse Mensch den Ort der Fülle in Bezug auf Gott erreicht, also über die eigenen Möglichkeiten hinaus (SZ 23), erschließt er sich dem „nichtreligiösen Menschen der Neuzeit“ (24) ganz von sich her. „Die Kraft wohnt im Inneren.“ (SZ 25) Eine mehrfache Entwicklung liegt dem zugrunde: 1(1.) Die Entwicklung des Menschen in seinem Selbstverhältnis vollzieht sich im Zeichen eines puffered self, das sich von den Einwirkungen der Außenwelt nicht einfach unterscheidet, sondern autonom trennt. 2(2.) Dieses Selbstverhältnis zieht eine Individualisierung der Lebensformen nach sich, weil sich das Subjekt aus den Ansprüchen seiner Autonomie und der mit ihr zusammenhängenden Authentizität auf die eigenen biographischen und religiösen Optionen festlegt, 3(3.) die wiederum Teil einer zwangsläufigen Pluralität solcher Lebensmodelle sein müssen, 4(4.) Religiosität damit immer nur als Aspekt eines pluralen Spektrums begreifen können, als Option unter anderen. 20 Eine neue Etappe der religiös-säkularen Entwicklung zeichnet sich hier ab: eine individualisierte Religiosität, die sich als „Spiri-
auf das Werk von Charles Taylor, Berlin 2011, 573–622; 578; 579. Vgl. ebd., 597 f. die bündige Sammlung kritischer Anfragen an Taylor. Mir geht es in diesem Beitrag nicht um eine detaillierte Taylor-Rekonstruktion und -kritik, sondern um seine ideen-, besser: narrationspolitische Regie und die performative Dimension seines Säkularisierungsdiskurses. 20 Insofern kann sich auch der Fundamentalismus zwar aus der Innensicht als eine Totalisierungsperspektive entwerfen, weiß aber gerade in seinen polemischen Außenbezügen um die faktische Nicht-Totalisierbarkeit des eigenen Glaubens in dieser Welt. Der apokalyptische Weg nach außen, das Herstellen der Endzeit mit seinen gewaltförmigen Phänomenen und Formsprachen ist daher der passgenaue Ausdruck des internen Pluralisierungsdrucks. Vgl. zur apokalyptischen Formsprache Joachim Valentin, Zwischen Fiktionalität und Kritik. Die Aktualität apokalyptischer Motive als Herausforderung theologischer Hermeneutik, Freiburg 2005, vor allem 211 ff.
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tualität ohne Religion“ (SZ 895) kennzeichnen lässt. 21 Ein bindungsfreier, zumindest lockerer Rahmen religiösen Weltzugangs markiert den Übergang zu einer offenen Geschichte „eines neuen Zeitalters der religiösen Suche, deren Ergebnis niemand vorhersehen kann.“ (SZ 895) Diese Regie des Taylorschen Säkularisierungsnarrativs zeigt sich nicht erst am Ende seiner Großerzählung, sondern bestimmt sie von Anfang an. Der Autor hebelt die Subtraktionsgeschichte der Säkularisierung in der Weise aus, dass diese (1.) das Religiöse nicht einfach beschädigt und es (2.) nicht auf seine endgültige Auflösung festlegt. Das wiederum wird durch den Erzähleinsatz und seine anthropologischen Prämissen vorab bestimmt: durch die Anthropologie der Fülle und den Bausatz des modernen Subjekts. Ideenpolitisch adaptiert Taylor damit wichtige Impulse der ausdifferenzierten Moderne, indem er ihre Tendenzen zur Individualisierung und Pluralisierung nicht nur genealogisch aus religiösem Tiefengrund entwickelt, sondern sie mit neuen Möglichkeiten religiöser Kommunikation verbindet. Säkularisierung wird als Transformation lesbar, bei Taylor jedoch auf der Folie nicht einfach eines religiösen Interesses, sondern eines religiösen Vorsprungs. Der ergibt sich aus dem anthropolgischen Plus einer Transzendenz, die nicht ins Leere zielen muss. Seine Stellprobe bildet die Geschichte des Bösen und der Gewalt. Der Mensch zielt auf das Gute, nicht näher definiert, und sucht nach Wegen zur Domestizierung der Gewalt, in der sich für Taylor das Böse als metaphysische, zugleich ontologische Größe zeigt. Jenseits der problematischen Mythisierung des Bösen kann er auf ein irreduzibles Gewaltproblem aufmerksam machen: auf die Versöhnung (SZ 1173). Sie findet ihre Grenze am Tod, und so verweist die Hoffnung auf Versöhnung und damit auf die Überwindung rachegeleiteter Gewaltspiralen auf etwas, das der Mensch nicht herzustellen
21
Vgl. Danièle Hervieu-Léger, Pilger und Konvertiten. Religion in Bewegung, Würzburg 2004.
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vermag. Auf dieser Basis schließt Taylor, „daß kein Weg an der religiösen Dimension vorbeiführt.“ (SZ 1175) Damit aber lässt sich der Weg seiner Erzählung verstehen: mit dem Einsatz beim puffered self, das Erlösung nur als Projekt disziplinierter Lebensführung und einer Anthropotechnik begreifen kann. 22 Das Heil des modernen Menschen kommt von innen, vom Selbst her. Das hat durchaus produktive Folgen, die sich in den Humanisierungseffekten moderner Gesellschaften zeigen, aber über das „Unbehagen an der Moderne“ (SZ 507 ff.), das Taylor hegt, nicht wegbeschwichtigen können. Es objektiviert sich in der Schizophrenie der säkularen Moderne (SZ 1204), in der Distanznahme vom Religiösen bei gleichzeitiger Anziehung durch ihre Vitalität und stimulierende Humanität. Indem Taylor also einen Begriff gebrochener Modernität für die Neuzeit in Anschlag bringt, hat er bereits für die Interpretation ihrer Säkularisierungstendenzen entscheidende Weichen gestellt: historisch wie problembezogen, vor allem aber anthropologisch und insofern auch ontologisch bleibt die westlich säkularisierte Moderne auf religiösen Tiefengrund bezogen. Taylors Narrativ kann mit der Gebrochenheit der modernen Erzählperspektive also die Errungenschaft der Moderne wertschätzen, sie aber zugleich als bloße weitere Transformationsetappe inszenieren. „Die Schizophrenie der Moderne ist daher nicht einfach eine Pathologie, die einer Fehlentwicklung des Modernisierungsprozesses entstammt. Sie ist vielmehr gleichsam der genetische Code einer dialektischen Entfaltung nachmittelalterlicher Verhältnisse. Die Schizophrenie als tiefe Gespaltenheit zwischen einer religiösen Weltsicht und der säkularen Option scheint unaufhebbar zu sein.“ 23
22
Vgl. vor diesem Hintergrund Peter Sloterdijks religionskritisches anthropotechnisches Projekt: Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a. M. 2009. 23 Jürgen Goldstein, Säkularisierung als Vorsehung. Charles Taylors Erzählung der Moderne, in: Michael Kühnlein / Matthias Lutz-Bachmann (Hg.), Unerfüllte Moderne?, 623–649; 639.
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Taylor gelingt damit nicht weniger als eine erzähltechnische Aufhebung des Säkularisierungsnarrativs – und er radikalisiert damit ihre ideenpolitische Rezeptionsgeschichte. Anders gesagt: Taylor ersetzt die Semantik der säkularen Ersetzung des Religiösen durch sein religiös-säkulares Narrativ. Er bespielt damit die religionskritische Bühne der Moderne, die im Drama der Säkularisierungstheorien nie unbesetzt blieb. Auf ihr vermischten sich die religionspsychologischen und -soziologischen Handlungsstränge unter der Regie einer weltbildimprägnierten Theorieerwartung. Sie spiegelt sich nun invers im Arrangement von Taylors A Secular Age – bis in die zeitgeschichtliche Erwartung eines nächsten epochalen Schritts im Verhältnis von Säkularität und Religion, also, wenn man so will, auch in einem Schritt über die Moderne hinaus. Insofern handelt es sich zwar nicht um eine moderne Teleologie, wohl aber um eine geschichtsphilosophische Erzählkomposition. 24 Taylor verfugt die entscheidenden Bausteine in einem Narrativ vom säkularen Rahmen, indem er der Säkularisierungsdynamik der Moderne Rechnung trägt, sie aber zugleich als Transformationsgeschichte des Religös-Säkularen und des Säkular-Religiösen zu lesen gibt. Dabei transportiert seine Modellierung des „immanente(n) Rahmen(s)“ (SZ 899) eine normative Dimension, die sich z. B. in seinen Aussagen zur Funktion der Kirche als „Netzwerk der Agape“ und ihrer „Verfälschung“ durchsetzt, aber auch die Festlegung auf eine Zukunft der Religionen steuert. 25 Damit aber wird Taylors Konzept des säkularen Rahmens selbst als Aspekt einer säkularisierungskritischen Episteme lesbar und zu einem 24
Inwiefern sich hier hegelianische Spuren des Hegel-Interpreten Taylor zeigen, wäre eigens zu diskutieren. 25 „Das Resultat der Entwicklung war kein Netz der Agape, sondern eine disziplinierte Gesellschaft, in der kategoriale Beziehungen und daher Normen den Vorrang haben … Die Versuchung der Macht war eben doch zu stark … Darin lag die Verfälschung.“ (SZ 273) – Dieser Linie wäre für die Herausbildung der säkularen Moderne eigens zu folgen. Vgl. Karl Lehmann, Entsteht aus dem verfälschten Christentum die Moderne? Zur Begegnung von Charles Taylor und Ivan Illich, in: Michael Kühnlein / Matthias Lutz-Bachmann (Hg.), Unerfüllte Moderne?, 327–349.
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ideenpolitischen Emblem der sezessiven religionshistorischen Beziehung von Säkularität und Moderne. Vor diesem Hintergrund hat Hans Joas in seiner Auseinandersetzung mit Charles Taylor darauf aufmerksam gemacht, „dass die Entthronung der Säkularisierungsthese keine kleine Modifikation unseres Verständnisses der ‚Moderne‘ überhaupt darstellt, als könnten wir eben die eine Komponente: religiöser Niedergang, aus dem Modernisierungsverständnis tilgen, ohne mehr an ihm zu verändern. Wenn es starke Gründe gibt, auch an anderen solchen notwendigen Zusammenhängen zu zweifeln, etwa denen von Modernisierung und Demokratisierung oder von Modernisierung und Pazifizierung – dann müssen wir vielleicht der Tatsache ins Auge sehen, dass es überhaupt keinen einheitlichen ‚Prozess der Modernisierung‘ gibt und keine einheitliche ‚Moderne‘.“ 26
Dann aber wäre ein neues Setting für die Kombinationsformen von Säkularem und Religiösem zu entwickeln 27, das sich differenztheoretisch auf ihre Verspannungen einlässt und sie in den Codierungen des Religiösen in den pluralen Gegenwarten der Gesellschaften des 21. Jahrhunderts zur Geltung bringt. 28 Damit
26
Hans Joas, Wellen der Säkularisierung, in: Michael Kühnlein / Matthias LutzBachmann (Hg.), Unerfüllte Moderne?, 716–229; 728 f. 27 In diesen Zusammenhang gehört die Debatte um die postsäkulare Situation: Hans-Joachim Höhn, Postsäkular. Gesellschaft im Umbruch – Religion im Wandel, Paderborn u. a. 2007; Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, Berlin 2012; Michael Reder, Religion in säkularer Gesellschaft. Über die neue Aufmerksamkeit für Religion in der politischen Philosophie, Freiburg / München 2013. 28 Dass diese theologisch von einiger Bedeutung sind, sprengt den Rahmen dieses Vortrags, nicht aber das Interesse des Fundamentaltheologen an einer Theologie der Welt, die im Zeichen der chalkedonensischen Christologie des ungetrennt und unvermischt eine differenztheologische Hermeneutik grundlagentheoretisch in Anschlag zu bringen hätte: vgl. Gregor M. Hoff, Stichproben: Theologische Inversionen. Salzburger Aufsätze (STS 40), Innsbruck 2010; zur ekklesiologischen Relevanz vgl. Gregor M. Hoff, Ekklesiologie (Gegenwärtig Glauben Denken 6), Paderborn u. a. 2011, 31–46.
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Charles Taylors Konzept des säkularen Rahmens und Glaube als Option
steht aber noch einmal der moderne Theorierahmen als solcher in Frage, wie ihn Taylor für seine Konstellierung von Säkularität und Moderne nutzt. 29
29
Dieser Text geht auf einen Vortrag beim Görres-Institut für interdisziplinäre Forschung zurück. Er ist in veränderter Form bereits als Kapitel veröffentlicht worden in: Gregor M. Hoff, Ein anderer Atheismus. Spiritualität ohne Gott? Kevelaer 2015.
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Der aktuelle Diskurs über Säkularität und Moderne in der Soziologie Karl Gabriel
1. Einleitung In der Soziologie ist die Auseinandersetzung um die Säkularisierungstheorie – ihre konzeptionelle Fassung, Reichweite und Gültigkeit – nach wie vor im vollen Gange. 1 Nachdem soziologische Schwergewichte wie Peter L. Berger ihre früheren säkularisierungstheoretischen Positionen revidiert haben, 2 ist ein klares Übergewicht der Kritiker der Säkularisierungstheorie zu beobachten. Als bevorzugtes Feld der Auseinandersetzung hat sich in den letzten Jahren die Wahrnehmung und Einschätzung der religiöskirchlichen Lage und Entwicklung in (West-)Europa herausgebildet. Für große Teile Europas scheint die Säkularisierungstheorie nach wie vor eine hohe Evidenz zu besitzen. Dass ihre empirische Bestätigung im außereuropäischen Raum auf sich warten lässt, deuten die einen nach dem Muster der „Parusieverzögerung“, die anderen nehmen dies zum Anlass, die klassische Theorie mehr oder weniger weitreichend umzubauen oder sie ganz aufzugeben. Die religiöse Landkarte Deutschlands bietet sich in besonderer Weise als Forschungsfeld für die empirische Überprüfung der Sä1
Detlef Pollack, Historische Analyse statt Ideologiekritik. Eine historisch-kritische Diskussion über die Gültigkeit der Säkularisierungstheorie, Geschichte und Gesellschaft, Jg. 37, H. 4 (2011), 482–522; Karl Gabriel / Christel Gärtner / Detlef Pollack (Hg.), Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, Berlin 22014, 9–37. 2 Peter L. Berger (Hg.), The Desecularization of the World. Resurgent Religion and World Politics. Washington, DC 1999.
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Der aktuelle Diskurs über Säkularität und Moderne in der Soziologie
kularisierungstheorie an. Im Mai 2012 schreckte „Welt-Online“ mit der Nachricht auf: „Ostdeutsche sind größte Gott-Zweifler der Welt“. 3 Auf diese Schlagzeile brachte „Welt-Online“ die Auswertung unterschiedlicher Befragungen in einer Vielzahl von Ländern zwischen 1991 und 2008, die von dem Chicagoer Soziologen Tom W. Smith durchgeführt wurde. Auf diesem Hintergrund soll im folgenden Beitrag im ersten Schritt dem Ursprung des Begriffs der Säkularisierung und den Anfängen der Säkularisierungstheorie in der Soziologie nachgegangen werden. Der Abschied von der Säkularisierungstheorie, um den es im zweiten Schritt geht, bekommt auf diesem Hintergrund besonders scharfe Konturen. Im dritten Schritt steht die Frage im Zentrum, was nach der Säkularisierungstheorie kommt. Als direkte Gegenthese hat die Vorstellung einer Revitalisierung der Religion, ihrer Rückkehr bzw. Wiederkehr Interesse auf sich gezogen. Wie sich zeigen wird, bleibt aber auch diese These unbefriedigend. Deshalb steht im vierten Schritt die Suche nach einem theoretischen Ansatz im Mittelpunkt, der das Verhältnis von Religion und Säkularität alternativ zu den beiden Thesen zur Sprache zu bringen vermag.
2. Der Begriff der Säkularisierung Was heißt Säkularisierung? Von der Begriffsgeschichte her kommt eine Übersetzung mit „Verweltlichung“ oder „Verdieseitigung“ dem Begriffsverständnis am nächsten. 4 Die Geburtsstunde des Begriffs in religiös-politischen Zusammenhängen schlägt am 8. Mai 1646 in Münster. Während der Verhandlungen zum 3
Welt Online, Ostdeutsche sind größte Gott-Zweifler der Welt. 3. 5. 2012, http://www.welt.de/politik/deutschland/article 106201680/Ostdeutschland. 4 Hermann Lübbe, Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, Freiburg 1965; Heinz-Horst Schrey (Hg.), Säkularisierung. Wege der Forschung Bd. CDXXIV, Darmstadt 1981, 2–48.
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Westfälischen Frieden erfindet der französische Gesandte Henry d’Orleans den Begriff, um das zu kennzeichnen, was mit dem Kirchengut in der Hand der protestantischen Kriegspartei geschehen war. 5 Auf den Bezug zur Überführung von Kirchengut in weltliche Hände greift man 1803 im Reichsdeputationshauptschluss zurück. In einer Fürstenrevolution teilen die deutschen Fürsten den kirchlich-geistlichen Besitz unter sich auf und beenden damit das Heilige Römische Reich und die mittelalterliche Reichskirche, deren Bischöfe gleichzeitig Reichsfürsten waren. Die umstritten gebliebene Legitimation der Säkularisierung von 1803 bildet den Nährboden dafür, dass der Begriff im neunzehnten Jahrhundert zu einem zentralen ideenpolitischen Kampfbegriff wird. 6 In den Kulturkämpfen des neunzehnten Jahrhunderts schreiben sich zunächst die Liberalen den Begriff auf ihre Fahnen, um den Einfluss der katholischen Kirche auf den Feldern von Schule, Bildung und Wissenschaft zurückzudrängen. Als Gegenreaktion setzt die katholische Seite die Säkularisierungsbestrebungen mit einem großen, schon mit der Reformation beginnenden Abfall von Gott gleich. Die Liberalen geben die ideenpolitische Fahne der Säkularisierung schon zum Ende des 19. Jahrhunderts an die sozialistischen und kommunistischen Bewegungen weiter. Als Teil der Staatsideologie sozialistischer Regime reicht der Kampfbegriff der Säkularisierung bis in die Gegenwart hinein. Unter dem Banner aktiver Säkularisierung wurden in der DDR seit Mitte der fünfziger Jahre die Religion und ihre Anhänger stigmatisiert und aus dem öffentlichen Leben entfernt. 7 In keinem Punkt war das 5
Richard Schröder, Säkularisierung: Ursprung und Entwicklung eines umstrittenen Begriffs, in: Christina von Braun / Wilhelm Gräb / Johannes Zachhuber (Hg.), Säkularisierung. Bilanz und Perspektive einer umstrittenen These, Berlin 2007, 61–74 hier 62; Karl Gabriel, Jenseits von Säkularisierung und Wiederkehr der Götter, Aus Politik und Zeitgeschichte Jg. 52, (22. 12. 2008), 9–15, hier 9. 6 Lübbe, Säkularisierung (Anm. 4).; Manuel Borutta, Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, Göttingen 2010, 352–415. 7 Detlef Pollack, Kirche in der Organisationsgesellschaft. Zum Wandel der ge-
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DDR-Regime so erfolgreich wie in seiner Religionspolitik als aktive Säkularisierungspolitik. In wenigen Jahren sank die Kirchenmitgliedschaft in der DDR von über 90 % auf unter 30 %. Bis heute gelten die Neuen Bundesländer als eine der säkularisiertesten Regionen nicht nur Europas, sondern der ganzen Welt.
3. Max Weber und die soziologische Säkularisierungstheorie Auf die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert lässt sich die Geburtsstunde des soziologisch-wissenschaftlichen Begriffs der Säkularisierung datieren. Er spielt in der Entstehungsphase der modernen Soziologie insgesamt, wie auch der Religionssoziologie, eine zentrale Rolle. Hatte man vor Max Weber und Emile Durkheim die Soziologie gewissermaßen als Ersatz für die alte Religion zu begründen versucht, so setzen beide an den Platz einer „Soziologie anstelle von Religion die Religionssoziologie“. 8 Schon bei Max Weber entsteht eine höchst elaborierte Konzeption von Säkularisierung, obwohl er den Begriff so gut wie nicht benutzt. Weber treibt Zeit seines Lebens die Frage um, wie der moderne Kapitalismus, der bürokratische Staat und die moderne Wissenschaft entstehen konnten. Und: warum sie im westlichen Europa und nur hier zum Durchbruch kamen. Das westliche Christentum – so die Antwort Webers – beschreitet einen Sonderweg. 9 Das jüdische und christliche Erbe von Prophesellschaftlichen Lage der evangelischen Kirchen in der DDR, Stuttgart 1994, 125–174. 8 Hartmann Tyrell, Von der ‚Soziologie statt Religion‘ zur Religionssoziologie, in: Volkhard Krech / Hartmann Tyrell (Hg.), Religionsoziologie um 1900, Würzburg 1995, 79–127. 9 Für die folgende Interpretation Webers sind drei zum Spätwerk Webers zu rechnende Abschnitte von zentraler Bedeutung, und zwar „Vorbemerkung“, „Einleitung“ und „Zwischenbetrachtung“ im Band I der „Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie“ (Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 19889 (zuerst 1920), 1–16, 237–275, 536–573). Zur WeberInterpretation siehe auch: Friedrich H. Tenbruck, Das Werk Max Webers, in:
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tie und Heilsreligion setzt im westlichen Christentum einen Prozess der schrittweisen Entzauberung der Welt in Gang. Mittelalterlicher Katholizismus, Luthertum und schließlich der Calvinismus bedeuten Schritte auf einem Weg, an dessen Ende die Welt jeden Zauber von Heilsbedeutsamkeit verliert. So kann sie rückhaltlos Gegenstand rationaler Wissenschaft, rationalen Betriebskapitalismus und rational-bürokratischer Herrschaft werden. Für Weber konnte die moderne, auf Weltbeherrschung zielende Rationalität nur über die Religion ihren Siegeszug beginnen. Sie war für ihn die Lebensmacht aller vormodernen Gesellschaften schlechthin. Einmal an den Rockschößen der Religion zum Durchbruch gekommen, kehrt sich für Weber das Verhältnis von moderner Rationalität und Religion um. Die Religion überlebt in der modernen, rationalen Welt bestenfalls im – wie er sich ausdrückt – „hinterweltlichen Reich mystischen Lebens oder in der Brüderlichkeit unmittelbarer Beziehungen der einzelnen zueinander“. 10 Einmal zur Macht gekommen benötigt der Kapitalismus die Religion nicht mehr. Säkularisierung als Rationalisierung der Welt bleibt für Weber nicht auf den Ort ihres ersten Durchbruchs im westlichen Europa beschränkt. Es ist für ihn nicht anders denkbar, als dass sie von Europa aus ihren Siegeszug über die ganze Welt antritt. Säkularisierung beschreibt für Weber in erster Linie eine kulturelle Transformation. Der westliche Sonderweg hat aber auch bei Weber schon eine strukturelle Seite. Schon seit dem Investiturstreit beanspruchen Papsttum und Kaisertum eigene, autoKölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Jg. 27 (1975), 663–702; Wolfgang Schluchter, Die Paradoxie der Rationalisierung. Zum Verhältnis von „Ethik“ und „Welt“ bei Max Weber, in: Zeitschrift für Soziologie Jg. 5 (1976), 438–467; Karl Gabriel, Analysen der Organisationsgesellschaft. Ein kritischer Vergleich der Gesellschaftstheorien Max Webers, Niklas Luhmanns und der phänomenologischen Soziologie, Frankfurt a. M. 1979, 17–57; Hartmann Tyrell, Potenz und Depotenzierung der Religion. Religion und Rationalisierung bei Max Weber, in: Saeculum Jg. 44 (1993), 300–347. 10 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 61985, 612.
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nome Wertsphären für sich, die den jeweils Anderen in seine Schranken verweisen sollen. 11 Die Wissenschaft löst sich von religiösen Vorgaben und erhebt den Anspruch, die eigentliche Produzentin von Wahrheit zu sein. Mit dem Kapitalismus schließlich entsteht ein wirtschaftlicher Wertkosmos, an dem alle Maximen einer christlichen Brüderlichkeitsethik hoffnungslos abprallen müssen. Die Grundzüge der Säkularisierungstheorie sind damit tief in die Ursprünge der Soziologie an der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert eingelassen. Sie macht einen Teil der disziplinären Identität des Faches aus. Der weitere Ausbau der Säkularisierungstheorie geht in drei eng aufeinander bezogene Richtungen. Webers Entdeckung des Kampfs der Wertsphären in modernen Gesellschaften wird in der Theorie funktionaler Differenzierung entfaltet. Säkularisierung erhält hier die Bedeutung der Trennung und Ablösung der gesellschaftlichen Funktionsbereich von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft etc. von der Religion. 12 Seit den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wird die Religion zum Gegenstand der neu entstehenden empirischen Sozialforschung. Sie wendet sich dem Messbaren an der Religion zu: Kirchgangshäufigkeit, massenstatistische Befragungen zu Got11
Zum gegenwärtigen Stand der Debatte um den Investiturstreit zwischen Geschichtswissenschaft und Soziologie siehe die Beiträge von Hartmann Tyrell, Investiturstreit und gesellschaftliche Differenzierung – Überlegungen aus soziologischer Sicht, in: Karl Gabriel / Christel Gärtner / Detlef Pollack (Hg.), Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, Berlin 22014, 39–77; Gerd Althoff, Libertas ecclesiae oder die Anfänge der Säkularisierung im Investiturstreit?, in: Ebenda, 78–100; Wilfried Hartmann, Gregor VII. und die Könige: Auf dem Weg zur Hierokratie?, in: Ebenda, 101–133; Sita Steckel, Säkularisierung, Desakralisierung und Resakralisierung. Transformationen hoch- und spätmittelalterlichen gelehrten Wissens als Ausdifferenzierung von Religion und Politik, in: Ebenda, 134–175 und Otto Gerhard Oexle, Kommentar, in: Ebenda, 176–187. 12 Statt vieler Autoren sei hier nur auf einen prominenten Text von Niklas Luhmann verwiesen: Niklas Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt a. M., 1977, 225–271.
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tesglauben, Befolgung kirchlicher Moralvorschriften und Vertrauen zur Institution Kirche. Die empirische Sozialforschung belegt seitdem, dass die so gemessene Religiosität bzw. Kirchlichkeit in Westeuropa – und nicht nur dort – in lang- wie kurzfristiger Perspektive abnimmt. Sie stellt bis heute einen signifikanten Zusammenhang mit typischen Merkmalen moderner Gesellschaften wie Industrialisierung, Urbanisierung, Wirtschaftswachstum und Höhe des Bildungsniveaus her. Die Säkularisierung als Rückgang des Glaubens auf individueller Ebene erhielt damit den Charakter einer vielfach bestätigten empirischen Tatsache. 13 Noch in eine dritte Richtung erfährt die Säkularisierungsthese einen weiteren charakteristischen Ausbau: Religion wird in modernen Gesellschaften als Phänomen der Privatsphäre begriffen. Während die dominierenden Institutionen des öffentlichen Lebens nach säkularen, rationalen Maximen funktionieren, bleibt der Religion das Reich des Privaten. Die Religion wird privatisiert, individualisiert und verwandelt sich in einen Gegenstand individueller Wahlvorgänge. 14 Der Einfluss der Säkularisierungstheorie reicht weit über die Soziologie hinaus. Man übertreibt kaum, wenn man sagt, die Säkularisierungsthese sei die dominierende Selbstverständigungskategorie des 20. Jahrhunderts, zumindest unter den Intellektuellen Europas. Die aufstrebenden Naturwissenschaften berufen sich auf sie und alle Geisteswissenschaften sind von ihr imprägniert. Auch die Theologiegeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, die evangelische wie die katholische, lässt sich nicht begreifen ohne Bezug zum Horizont der Säkularisierungstheorie. 15 13
Charles Glock / Rodney Stark, Religion and Society in Tension, Chicago 1965, 16. 14 Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a. M. 1991. 15 Siehe sowohl die ältere Textsammlung zur Säkularisierung von Heinz-Horst Schrey, Säkularisierung (Anm. 4) als auch insbesondere die vier von Bryan S. Turner herausgegeben Bände: Bryan S. Turner (Hg.), Secularization. Volume I. Defining Secularization: The Secular in Historical and Comparative Perspektive, Los Angeles u. a. 2010; Secularization. Volume II. The Sociology of Secularization,
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4. Die Kritik der Säkularisierungstheorie Die Kritik der Säkularisierungstheorie gewinnt heute auf verschiedenen Ebenen an Boden. Zuerst trifft es die Annahme, mit der Säkularisierung habe man wissenschaftlich einen gesellschaftlichen Prozess identifiziert, der notwendig und zielgerichtet verlaufe und zwangsläufig auf ein Ende der Religion hinauslaufe. Bis auf einige versprengte kämpferische Atheisten – heute zumeist in einem biologistischen und naturalistischen Gewand – vertritt die Säkularisierungsthese als Teleologie, als Ziel von Geschichte und Gesellschaft, kaum jemand mehr. Ein zweites Feld der Kritik betrifft den inhärenten Eurozentrismus der Säkularisierungstheorie. Die Theorie ist im westlichen Europa entstanden und zeigt sich in die weltanschaulichen Frontstellungen, wie sie sich nur in Europa entwickelten, tief verstrickt. Sie fand im europäischen Antikatholizismus des 19. Jahrhunderts ihren Nährboden. 16 Im Verhältnis zur übrigen Welt unterstützte sie zudem den Glauben an eine überlegene Mission Europas für die ganze Welt. In den Vereinigten Staaten hat sich die Säkularisierungstheorie nie voll entfalten können, und heute sieht sich die Mehrheit der amerikanischen Religionssoziologen im Recht, wenn sie sagt, bei der Säkularisierungstheorie handele es sich um ein typisch europäisches Produkt. 17 Aus der Soziologie selbst hat José Casanova schon vor über zehn Jahren viele kritische Argumente zur Säkularisierungstheorie gebündelt und mit großem Nachdruck vorgetragen. 18 Das Hauptproblem der Säkularisierungstheorie sieht Casanova darin, dass sie in problematischer Weise Aussagen zur funktionalen DifLos Angeles u. a. 2010: Secularization. Volume III. American Exceptionalism, Los Angeles u. a. 2010; Secularization. Volume IV. The Comparative Sociology of De-secularization, Los Angeles u. a. 2010. 16 Borutta, Antikatholizismus (Anm. 6), 267–389. 17 Turner, Secularization. Volume III (Anm. 14). 18 José Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago und London 1994, 12–39.
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ferenzierung der Gesellschaft, zur Abnahme individuellen Glaubens und zur Privatisierung der Religion zu einer einzigen These unentwirrbar miteinander verschränkt. Die drei Prozesse müssen aus seiner Sicht als einzelne betrachtet werden. Offenkundig sei, dass mit Prozessen der Modernisierung nicht notwendig der Rückgang individuellen Glaubens verbunden sein müsse. Außer für den Westen Europas treffe dies empirisch einfach nicht zu. Am Beispiel so unterschiedlicher Phänomene wie der islamischen Revolution im Iran, der Befreiungstheologie in Lateinamerika, der Solidarnoszbewegung in Polen und der religiösen Rechten in den USA konnte Casanova überzeugend belegen, dass auch von einem zwangsläufigen Zusammenhang von Modernisierung und Privatisierung der Religion nicht auszugehen ist. 19 Mit dem Abschied von der als lineare Entwicklung gedachten Säkularisierungstheorie ist eine wissenschaftliche Revolution verbunden, ist doch – so ließ sich zeigen – die These tief in die gesamte Wissenschaftskultur der Moderne als Hintergrundannahme eingelassen.
5. Die These von der Wiederkehr der Religion Auch die These von der „Wiederkehr der Götter“ 20 kann Bezug nehmen auf Max Weber. In der aufgewühlten Situation des Jahres 1917 in München formuliert er in seinem berühmt gewordenen Vortrag zum Thema „Wissenschaft als Beruf“: „Die alten, vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.“ 21 Der siegreiche, moderne Kapitalismus – so Weber schon 1904 am 19
Casanova, Public Religions, 75–207. Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004. 21 Weber, Wissenschaftslehre (Anm. 10), 605. 20
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Der aktuelle Diskurs über Säkularität und Moderne in der Soziologie
Ende der Protestantischen Ethik – ist zu einem „stahlharten Gehäuse“ geworden. „Niemand weiß noch,“ – so verweigerte er sich einer Prognose – „wer künftig in jenem Gehäuse wohnen wird und ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden, …“. 22 Sind wir heute am Ende der ungeheuren Entwicklung angekommen, die Weber mit den Begriffen „Rationalisierung“, „Intellektualisierung“ und „Entzauberung der Welt“ gekennzeichnet hatte? Anzeichen dafür lassen sich leicht zusammentragen: Zwei religiöse Expansionsbewegungen machen gegenwärtig weltweit auf sich aufmerksam. Das pfingstlerische Christentum wächst augenblicklich an vielen Stellen der Welt mit einer erstaunlichen Dynamik. 23 Mit atemberaubendem Tempo nehmen die Pfingstkirchen seit einigen Jahren in Lateinamerika zu. Auch das südliche Afrika ist Schauplatz einer Expansion charismatischen Christentums. Auch in Ostasien, eingeschlossen Chinas, wächst das Christentum. Mit evangelikalen und katholischen Charismatikern überschreitet die Bewegung typischer Weise auch die Konfessionsgrenzen. 24 Die zweite weltweite religiöse Expansionsbewegung ist uns in Europa präsenter: die des Islam. Dabei machen Europa und der Nahe Osten nicht einmal den vorrangigen Ort islamischer Expan22
Weber, Religionssoziologie (Anm. 9), 204. Stephen Hunt / Malcom Hamiltion / Tony Walker (Hg.), Charismatic Christianity. Sociological Perspektives, New York 1997; David Martin, Pentecostalism: The World Their Parish, London 2002.; Tobias Keßler / Albert-Peter Rethmann (Hg.), Pentekostalismus. Die Pfingstkirchen als Anfrage an Theologie und Kirche, Regensburg 2012. 24 Christel Kessler / Jürgen Rüland, Give Jesus a Hand. Charismatic Christians: Populist Religion and Politics in the Philippines, Manila 2008, 1–29; Brensa Carranza, Der katholische Pentekostalismus Brasiliens im Wandel, in: Keßler / Rethmann (Hg.), Pfingstkirchen (Anm 23), 34–56; Heinrich Schäfer, Zur religiösen Pluralisierung Brasiliens. Einige Beobachtungen unter besonderer Berücksichtigung der Pfingstbewegung, in: Johannes Meier (Hg.), Brasilien quo vadis?, Mainz 2009, 53–68. 23
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sion aus. Indonesien stellt inzwischen das bevölkerungsreichste muslimische Land der Welt dar. Außer in Ostasien und unter den Migranten Europas wächst der Islam auch in Schwarzafrika. Von einem von Westeuropa aus sich ausbreitenden Prozess der Säkularisierung im Sinne der Zurückdrängung von Religion ist augenblicklich wenig in der Welt zu spüren. Im Gegenteil: die Religion scheint in vielen Teilen der Welt eher im Vormarsch zu sein. Dass in den hoch modernisierten Vereinigten Staaten die Uhren in Sachen Religion nach wie vor anders gehen als im westlichen Europa, ist hinlänglich bekannt. 25 Bleibt der Blick auf das westliche Europa, das sich offenbar ungebrochen als Region der Säkularisierung erweist. Auch hier melden sich neuerdings Stimmen, die auch für Europa eine Wiederkehr der Religion, zumindest der individuellen Religiosität und religiösen Erfahrung, der Spiritualität als zeitgemäße Form der Religion behaupten. 26 Als gemeinsamen Kern der religiösen Wachstumsbewegungen macht zum Beispiel der Berliner Soziologe Hubert Knoblauch die zentrale Bedeutung der unmittelbaren religiösen Erfahrungen aus, die den Kontakt zum Göttlichen ohne eine institutionelle Vermittlung herstelle. Ein analoges Muster entdeckt Knoblauch in den verschiedenen Formen alternativer Religiosität in Europa. Deshalb könne man in dieser Hinsicht durchaus von einer erkennbaren religiösen Dynamik auch in europäischen Gesellschaften sprechen. Diese individualisierte Religiosität lasse sich zwar naturgemäß nicht vollständig in quantitativen Studien erfassen und in Zahlen ausdrücken, mache sich aber dennoch bemerkbar. Es komme heute zu einem massiven Eindringen religiöser Themen in die Popularkultur. Die Entzauberung habe deshalb gar 25
Turner, Secularization, Volume III (Anm. 15). Grace Davie, Europe. The Exceptional Case. Parameters of Faith in the Modern World, London 2002; Danièle Hervieu-Leger, Pilger und Konvertiten. Religion in der modernen Kultur, Würzburg 2004; Hubert Knoblauch, Die populäre Religion und die Transformation der Gesellschaft, In: Aus Politik und Zeitgeschichte Jg. 52 (22. Dezember 2008), 3–8; Ders., Populäre Religion. Die Sehnsucht nach Spiritualität, Frankfurt a. M. / New York 2009.
26
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Der aktuelle Diskurs über Säkularität und Moderne in der Soziologie
nicht stattgefunden, die Moderne habe lediglich die Kirchen strukturell entmachtet und die Form der Religion verändert. Der eigentliche kritische Testfall für die These der Wiederkehr der Religion bleibt das westliche Europa. Befürworter wie Gegner der Säkularisierungstheorie sind sich soweit einig, dass das westliche Europa insbesondere seit den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts einen Prozess der Schwächung der kirchlich verfassten Religion erlebt. 27 Ohne dass Anzeichen einer Trendumkehr auszumachen sind, nehmen seit dieser Zeit forciert Kirchenmitgliedschaft und regelmäßiger Gottesdienstbesuch ab, sinkt der Einfluss der Kirchen auf die religiösen Überzeugungen und moralischen Orientierungen der Menschen und verliert eine kirchlich geprägte Lebensführung an institutioneller Absicherung. Was macht man mit diesem unbestrittenen Befund, wenn man trotz allem von der Wiederkehr der Religion auch für Europa überzeugt ist? Der verständliche Ausweg besteht darin, zwischen Kirchlichkeit und Religiosität eine scharfe Kluft anzunehmen, die alternative, außerkirchliche Religiosität als die eigentliche Religiosität zu betrachten und der kirchlichen Religion einen marginalen, vernachlässigbaren Status zuzuschreiben. 28 Damit gerät die Position einer Wiederkehr der Religion auch in Europa aber in Widerspruch zu schwer zu leugnenden empirischen Tatsachen. Die anwachsenden Phänomene einer alternativen Religiosität haben ihren Ort nicht jenseits, sondern primär im Umfeld der Kir27
José Casanova, Die religiöse Lage in Europa, in: Hans Joas / Klaus Wiegandt (Hg.), Säkularisierung und die Weltreligionen, Frankfurt a. M. 2007, 322–357; Antonius Liedhegener kann anhand eindrucksvoller Zeitreihen zeigen, dass Trends der Entkirchlichung sich vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart aufzeigen lassen (Antonius Liedhegener, Säkularisierung als Entkirchlichung. Trends und Konjunkturen in Deutschland von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, in: Gabriel / Gärtner / Pollack (Hg.), Säkularisierung (Anm. 11), 481–531. 28 Unter dem Einfluss der Religionssoziologie Luckmanns sind die Kirchen und die kirchlich verfasste Religion an den Rand der Wahrnehmung in der Soziologie geraten: Luckmann, Unsichtbare Religion (Anm. 13); Knoblauch, Die populäre Religion (Anm. 26).
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chen. Wo die kirchliche Religion geschwächt ist, findet auch die alternative Religiosität keinen Nährboden. Dies ist eine der Schlussfolgerungen, die sich aus der Entwicklung von Religiosität und Kirchlichkeit in Ostdeutschland nach 1989 ziehen lässt. Die von vielen erwartete breite Rückkehr zu den Kirchen fand nach 1989 nicht statt. Es gab aber auch keine nennenswerte Hinwendung zu Formen alternativer Religiosität. In Westdeutschland sind Phänomene alternativer Religiosität in signifikant höherem Maße zu beobachten als in Ostdeutschland. 29 Als Resüme lässt sich festhalten, dass es gute Gründe gibt, heute sowohl die Säkularisierungstheorie als auch die These von der „Wiederkehr der Götter“ als unbefriedigend zu betrachten. Deshalb erscheint es geboten, nach einem Konzept zu suchen, das die gegenwärtige religiös-kirchliche Lage besser zu erklären vermag als die beiden alternativen Positionen.
6. Religion im Konzept multipler Modernen und Säkularitäten Im Konzept der „multiplen Modernen“ laufen im Augenblick Argumentationen in der religionssoziologischen Kritik der Säkularisierungstheorie und der Modernisierungstheorie zusammen und erlauben es, eine alternativen Perspektive zur Säkularisierungstheorie auf das Verhältnis von Religion, Säkularität und Moderne
29
Detlef Pollack, Rückkehr des Religiösen? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland und Europa II, Tübingen 2009, 140–147; Detlef Pollack / Olaf Müller, Die religiöse Entwicklung in Ostdeutschland nach 1989, in: Gert Pickel / Kornelia Sammet (Hg.), Religion und Religiosität im vereinigten Deutschland. Zwanzig Jahre nach dem Umbruch, Wiesbaden 2011, 125–144. Problematisch erscheint, dass Pollack und Müller als Indikatoren zur Erfassung außerkirchlicher Religiositätsformen auf solch heterogene und umstrittene Phänomene wie den Glaube an Astrologie, Wunderheiler, Pendeln, Spiritualismus, Magie, Okkultismus wie auch an die Wirksamkeit von Zen-Meditation, Edelsteinmedizin, Bachblütentherapie, Theosophie, Mystik oder die Botschaft des New Age zurückgreifen (Ebd. 138).
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Der aktuelle Diskurs über Säkularität und Moderne in der Soziologie
zu entwickeln. 30 Der auf die Arbeiten von Shmuel N. Eisenstadt zurückgehende Ansatz bestreitet, dass es ein einziges Modell einer ausgereiften, vollständigen Moderne gibt, auf die hin unterschiedliche Prozesse schrittweise konvergieren. Vielmehr geht er davon aus, dass Modernisierung als Arena möglicher Optionen und Wege zu betrachten ist und nicht als ein gerichteter Prozess. Eisenstadt versucht zu begründen, dass von unterschiedlichen, eigenständigen Ausprägungen der Moderne auszugehen ist. 31 Zum Unterschied von einem kulturneutralen Konzept der Moderne rückt der Ansatz kulturelle Aspekte der Moderne in den Fokus des Interesses. Strukturelle Ausprägungen der Moderne wie die Differenzierung der Funktionssysteme, Industrialisierung, Urbanisierung etc. bedingen nicht einfach kulturelle Entwicklungen wie z. B. die Säkularisierung. Der Ansatz erlaubt es damit, im Unterschied zur Säkularisierungstheorie Religion auch als unabhängige Variable und nicht schon vorgängig nur als abhängige Variable ins Spiel zu bringen. Die Annahme konfliktiver Beziehungen zwischen unterschiedlichen Wertsphären stellt ein zentrales Element des Ansatzes dar. Konflikte führen in den unterschiedlichen Modernen zu differierenden Mustern der Ausdifferenzierung von Religion, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft mit unterschiedlichen Graden der Autonomisierung. Im Rahmen des Multiple-Modernen-Ansatzes lässt sich auch von „multiplen Säkularitäten“ sprechen. Monika Wohlrab-Sahr hat einen entsprechenden Ansatz entwickelt, um die religiöse Ent30
Wilfried Spohn, Europeanization, Multiple Modernities and Religion – The Reconstruction of Collective Identities in Postcommunist Central and Eastern Europe, in: Gert Pickel / Kornelia Sammet (Hg.), Transformations of Religiosity. Religion and Religiosity in Eastern Europe 1989–2010, Wiesbaden 2012, 29–50, hier 32. 31 Schwinn, Thomas, Multiple Modernities: Konkurrierende Thesen und offene Fragen, Zeitschrift für Soziologie Jg. 38 (2009), 454–476; Boris Krause, Religion und die Vielfalt der Moderne. Erkundungen im Zeichen neuer Sichtbarkeit von Kontingenz, Paderborn 2012, 273–332.
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wicklung in Ostdeutschland besser begreifbar zu machen. 32 Mit ihrer Bezugnahme auf Eisenstadts Theorie der „multiplen Modernen“ nimmt sie Abstand zu den Grundannahmen der klassischen Modernisierungstheorie wie der Säkularisierungstheorie. In ihrer Konzeption der „multiplen Säkularitäten“ besitzt der Konflikt eine zentrale Dimensionen. Mit Blick auf den ostdeutschen Säkularisierungsprozess fragt sie nach den Konfliktfeldern und -akteuren, in denen und durch die sich die Religionspolitik des DDRRegimes durchsetzen konnte. Weder reiche nämlich einfach der Hinweis auf die politische Repression zur Erklärung des Erfolgs der SED-Religionspolitik aus, noch nur die Bezugnahme auf Modernisierungsprozesse. Man müsse davon ausgehen, dass auch genuine Aneignungs- und Überzeugungsprozesse bei der Durchsetzung des Atheismus am Werk waren. Nur so lasse sich erklären, dass die politische Wende in Ostdeutschland nicht von einer religiösen Wende begleitet war. In einer qualitativen empirischen Studie wurden 24 Familien in einer Drei-Generationen-Konstellation interviewt. 33 Dabei zeigte sich, dass es drei Konfliktfelder waren, in denen sich die sowohl politisch als auch rechtfertigungslogisch „forcierte Säkularität“ in Ostdeutschland durchsetzte. Kirchenmitgliedschaft stand gegen Parteimitgliedschaft, religiöse Weltdeutung gegen „wissenschaftliche Weltanschauung“, christliche Ethik und Moral gegen eine sozialistische Hypermoral. Anknüpfend an das historische Erbe der religionskritischen Aufklärung, insbesondere in der sozialistischen Arbeiterbewegung und an eigene Erfahrungen in der Kriegs- und Nachkriegszeit, fand der als Alternative zur gestrigen, überholten und moralisch diskreditierten Religion konstruierte Atheismus seine Anhängerschaft. Das verbreitete Misstrauen gegenüber der Parteiideologie der 32
Monika Wohlrab-Sahr, Forcierte Säkularität oder Logiken der Aneignung repressiver Säkularisierung, in: Pickel / Sammet (Hg.), Religion (Anm. 29), 145– 163. Monika Wohlrab-Sahr / Uta Karstein / Thomas Schmidt-Lux, Forcierte Säkularität. Religiöser Wandel und Generationendynamik im Osten Deutschlands, Frankfurt a. M. 2009, 13–28. 33 Wohlrab-Sahr u. a., Forcierte Säkularität (Anm. 32), 29–348.
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Der aktuelle Diskurs über Säkularität und Moderne in der Soziologie
SED übertrug sich – so die Ergebnisse von Wohlrab-Sahr und anderen – in den beiden älteren Generationen nicht ohne weiteres auf den Atheismus. Erst mit Blick auf die dritte Generation könne man nicht mehr von einer dergestalt „forcierten Säkularität“ sprechen. Sie weiche einer neuen Offenheit und Neugier gegenüber überzeugenden Sinnangeboten, die allerdings nicht ohne weiteres zu einer Rückkehr zu Religion oder gar Kirche führe. Als „mittlere Transzendenzen“ hätten sich in Ostdeutschland „Gemeinschaft, Arbeit und Ehrlichkeit“ zu Identitätssemantiken der Selbstbeschreibung wie der idealisierenden Beschreibung der Vergangenheit entwickelt. 34 Wo liegen die wichtigsten Vorteile der Perspektive der multiplen Modernen gegenüber der Säkularisierungstheorie? Das aus den Kulturkämpfen des neunzehnten Jahrhunderts stammende Vorurteil, die Religion gehöre irgendwie nicht zur Moderne, sie sei generell negativ von der modernen Gesellschaftsentwicklung affiziert, verliert seine Grundlage. An dessen Stelle tritt eine Perspektive, die sich offen hält für alternative Möglichkeiten: die Religion kann unter modernen Bedingungen geschwächt und zurückgedrängt werden, sie kann aber auch aufblühen und eine neue Vitalität entwickeln. Keines von beiden ist theoretisch vorentschieden. Damit ist der Tendenz ein Riegel vorgeschoben, dass die Säkularisierungstheorie als sich selbst erfüllende Prophezeiung ihre Wirksamkeit entfaltet. Über den Glauben großer Teile der europäischen Intellektuellen an die Säkularisierung habe sie erst ihre durchschlagende historische Wirksamkeit entfalten können, so die nicht unplausible These von José Casanova. 35 In der Perspektive der multiplen Modernen lassen sich – so ein weiterer Aspekt – Modernisierungsprozesse in den Religionen an-
34 35
Ebd., 162. Casanova, Die religiöse Lage (Anm. 27), 338.
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gemessen wahrnehmen. Unter dem Einfluss der Säkularisierungstheorie konnten die Religionen bestenfalls mehr oder weniger erfolgreiche Abwehrkämpfe führen, genuine Modernisierungsprozesse aus den eigenen religiösen Ressourcen heraus waren ausgeschlossen. Erst vom Zugang multipler Modernen her lassen sich die weitreichenden Veränderungen innerhalb der religiösen Traditionen in der Moderne unvoreingenommen in den Blick nehmen. 36 Für den Katholizismus lässt sich meines Erachtens gut zeigen, wie er bei aller Kontinuität im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts eine neue Gestalt annimmt, die heute erneut grundlegend im Wandel begriffen ist. 37 Erst unter den Prämissen des Ansatzes multipler Modernen wird die Frage formulierbar, ob es spezifische Ausprägungen einer katholischen Moderne geben könne. 38 Für eine Erklärung der religiös-kirchlichen Lage in Ostdeutschland lenkt der Ansatz die Aufmerksamkeit auf eine Erbschaft, die bis in die spezifisch gewaltförmigen Umstände der ersten Christianisierung in Teilen Deutschlands zurückreicht. 39 Wo es aus historisch rekonstruierbaren Gründen nie zu einer Verankerung des Glaubens im Volk gekommen ist, hat der strukturelle und kulturelle Umbruch zur Moderne einen anderen Pfad eingeschlagen als dort, wo der Glaube in einer Volkskultur seinen Ausdruck gefunden hatte. Was Charles Taylor als „exklusiven Humanismus“ 40 rekonstruiert hat, besaß in den heute zu Ostdeutschland gehören36
Staf Hellemans, Das Zeitalter der Weltreligionen. Religionen in agrarischen Zivilisationen und in modernen Gesellschaften, Würzburg 2010, 36 f. 37 Karl Gabriel, Christentum zwischen Tradition und Postmoderne, 20007, 69– 103; Franz-Xaver Kaufmann, Kirche in der ambivalenten Moderne, Freiburg i. Br. 2012, 87–104. 38 Charles Taylor, A Catholic Modernity?, in: Ders., Dilemmas and Connections. Selected Essays, Cambridge, Massachusetts / London 2011, 167–187. 39 Franz Höllinger, Volksreligion und Herrschaftskirche. Die Wurzeln religiösen Verhaltens in westlichen Gesellschaften, Opladen 1996, 117–189. 40 Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a. M. 2009, 11–50.
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den Regionen früh einen spezifischen Nährboden nicht nur unter den intellektuellen Eliten, sondern auch im Volk. In den sozialen und politischen Kämpfen des 19. Jahrhunderts konnte sich ein Volksatheismus mit regional spezifischen Kernen stabilisieren. Die Nationalsozialisten in ihrer antichristlichen Phase und nach dem 2. Weltkrieg schließlich die Kommunisten konnten an diesen Pfad anknüpfen. 41 So wird erklärbar, dass die SED mit ihrer mit allen Mitteln des staatlichen Machtapparats vorangetriebenen Religionspolitik eine solch durchschlagende und nachhaltige Wirkung erzielen konnte. Es wird auch verständlich, warum es in Ostdeutschland im Unterschied zu anderen Regionen ehemals kommunistischer Herrschaft nicht zu einer Rückkehr zu Religion und Kirchen gekommen ist.
7. Schluss Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Theorie multipler Modernen einige Probleme der klassischen Säkularisierungstheorie zu überwinden vermag. Religion wie Säkularität sind als Teil der Moderne zu betrachten, auch die Religion gehört zur Moderne. Sie kommt als aktiver, unabhängiger Faktor in den Blick, nicht nur als negativ Betroffene von gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen wie Industrialisierung, Urbanisierung oder Verwissenschaftlichung. Auch das weltweit zu beobachtende Erstarken fundamentalistischer Bewegungen gehört zur Moderne und kann nicht als Rückfall in die Vormoderne betrachtet werden. Das Konzept lässt unterschiedliche Verhältnisbestimmungen von Religion und Wissenschaft, wie auch von Religion und Politik und Religion und Wirtschaft in der Moderne zu. Für Westeuropa
41
Karl Gabriel / Josef Pilvousek / Miklos Tomka / Andrea Wilke / Andreas Wollbold, Religion und Kirchen in Ost(Mittel)Europa: Deutschland-Ost, Ostfildern 2003, 332–336.
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und seine Eliten bietet das Konzept die Chance, sich von der Prägung durch ein folgenreiches Säkularisierungsbewusstsein zu lösen, das die Tendenz hat, die durch die Theorie erzeugten Erwartungen auch gesellschaftliche Realität werden zu lassen.
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Religion als globale Kategorie. Zur Theorie funktionaler Differenzierung 1 Rudolf Stichweh, Bonn
I Die Geschichte der modernen Gesellschaft ist die Geschichte der Ausdifferenzierung globaler Funktionssysteme. Das ist eine Hypothese, die in jedem Einzelfall zu prüfen ist. Gibt es überall in der Welt Recht, Religion, Wirtschaft, Sport, Wissenschaft – und seit wann ist das der Fall? Was beweist die eventuell an jedem Ort beobachtbare Existenz von Kommunikationssystemen, für die man diese Namen verwenden kann, hinsichtlich der Existenz eines jeweiligen Weltsystems, für das zu zeigen wäre, dass es sich bei allen lokalen Fällen des Vorkommens dieser Sonderformen der Kommunikation um Subsysteme des in diesem Fall relevanten globalen Kommunikationssystems handeln würde? Der hier vorliegende soziologische Essay probiert den Überlegungsgang am Fall der Religion aus. Es sind fünf Argumente, die ich im Folgenden kurz entwickeln möchte. Im ersten Schritt beginne ich mit einer vergleichenden Perspektive auf Entstehungsprozesse verschiedener Funktionssysteme der gegenwärtigen Weltgesellschaft (II). Es ist dann für den hier thematischen Fall der Religion ein Verständnis zu suchen, das eine Vorstellung davon vermittelt, wie man Religion so konzipieren kann, dass diese Konzeption sehr verschiedene Formen von Religion übergreift (III). Historisch,
1
Eine frühere und kürzere Fassung dieses Textes ist unter dem Titel „Religion als globale Kategorie“ erschienen im Merkur 69, H. 792, 2015, 43–52.
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Rudolf Stichweh
mit Blick auf eine Entwicklung, die man im 17. Jh. beginnen lassen kann, ist weiterhin zu skizzieren, wie Religionen sich von anderen Religionen, die sie aber auch als andere Religionen anerkennen, zu unterscheiden beginnen, und wie sich auf der Basis dieser Unterscheidungspraxis eine globale Kategorie „Religion“ (im Singular) herausbildet (IV). Vor diesem historischen Hintergrund einer weltweiten Präsenz und Vergleichbarkeit von „Religion“ ist dann nach Mechanismen des weltweiten Transfers von Religion zu fragen (V). Abschließend öffne ich die Perspektive und frage nach Zusammenhängen zwischen sehr allgemeinen Struktureigentümlichkeiten der gegenwärtigen Gesellschaft und den verschiedenen Verwirklichungsformen der globalen Kategorie Religion (VI).
II Wovon spricht man, wenn man von Religion als einer „globalen Kategorie“ spricht? Der kategoriale Status von Religion impliziert, dass man diese nicht als einen „natürlichen“, überall in der Welt vorkommenden Sachverhalt auffassen darf, also nicht so, wie das 17. Jahrhundert gern von „natürlicher Religion“ als einem weltuniversellen Sachverhalt gesprochen hat, der als elementare Erfahrung der Existenz höherer Wesen bei allen Völkern der Welt zu finden ist und den man als einen solchen ubiquitären Sachverhalt dann in seinen Formen des Vorkommens untereinander zu vergleichen imstande ist. Demgegenüber bedeutet der behauptete kategoriale Status von „Religion“, dass man diese Kategorie auf (moralische, psychische, intellektuelle) Sachverhalte appliziert, die nicht in sich selbst den Stempel des Religiösen tragen. Die Kategorie „Religion“ ist also eine historische Erfindung, ähnlich wie es eine historische Erfindung ist, dass man auf Bilder verschiedenster Art (Ikonen, Stillleben, Portraits) auf einmal das Wort „Kunst“ anwendet. Außerdem geht es um globale Kategorien, d. h. um kategoriale Zuordnungen, die so verwendet werden, dass 98 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
Religion als globale Kategorie. Zur Theorie funktionaler Differenzierung
man sie überall in der Welt einzusetzen versucht, so dass diese Verwendung die These impliziert, dass die betreffenden Sachverhalte in ähnlicher oder zumindest vergleichbarer Form überall in der Welt anzutreffen sind. Kategorien in diesem Sinn sind nicht nur ein Entdeckungsverfahren, das dabei hilft, an anderen Orten etwas zu finden, was man dort bisher nicht vermutet hatte. Sie sind auch eine konstruktive Leistung, die etwas, was bisher nicht im Sinne dieser Kategorie verstanden wurde, neubestimmt, so dass es für die an ihm Beteiligten einen neuen, bisher nicht im Vordergrund stehenden Sinn erhält. Die alles andere als selbstverständliche Bestimmung von Konfuzianismus als Religion und nicht als Ethik oder zivilisatorische Form ist vermutlich ein gutes Beispiel für diese konstruktive Leistung der Kategorie Religion. Der Vorgang, um den es geht, dürfte immer an der Genese globaler Funktionssysteme auf relevante Weise beteiligt sein, was etwas darüber verrät, dass Weltsysteme auch durch den Entwurf einer Welt entstehen, die lokale Sachverhalte so formt, dass sie sich als ein Teil dieser Welt (der Welt der Religion etc.) eignen. Die skizzierte These dürfte für alle Funktionssysteme gelten. Immer geht es um Identitäten, die kategorial festgehalten werden, also um Religion, Wissenschaft, Kunst, Sport, Recht, Politik – und um die Neubestimmung von Aktivitäten, die bis dahin nicht selbstverständlich in den Einzugsbereich der jeweiligen Kategorie gerechnet wurden. Und fast immer geht es um das Wechselspiel und das Spannungsverhältnis zwischen in der Form des Plurals vorkommenden, schwachen Verwendungen der Kategorie (Religionen, Wissenschaften, Künste, Sports) und der starken Form der Verwendung der Kategorie in singularischer Form: Die vielen Religionen sind alle ein Fall des Vorkommens von Religion; die einzelnen Wissenschaften sind Verkörperungen von Wissenschaft; die vielfältigen Künste bewirken alle die Hervorbringung von Kunst; die sportlichen Disziplinen sind ein Fall des Treibens von Sport; die Diversität der sachpolitischen Zusammenhänge erweist sich immer als ein Fall von Politik. Für diese singularische Form verwendet die historische Forschung den Begriff des Kollektivsin99 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
Rudolf Stichweh
gulars 2, und es spricht einiges für die Vermutung, dass die erstmalige Verwendung und die schließliche Durchsetzung eines Kollektivsingulars ein gutes Indiz der Ausdifferenzierung eines Funktionssystems ist. Man kann diese dreistellige These der Entstehung von Kategorien, der globalen Extension dieser Kategorien und der Tendenz zu Kollektivsingularen gut in historischen Fallstudien verfolgen. So am Beispiel der Kunst, wo aus der Diversität mittelalterlicher und frühneuzeitlicher kunstnaher Wissensordnungen, die die ‚artes liberales‘, die ‚artes mechanicae‘ und die ‚beaux arts‘ auf verschiedene Weise gruppierten, erst um 1750 das moderne System der Künste entsteht, das erstmals die Literatur, die Poesie, die Musik, die Malerei und die Skulptur zu einem nach innen durch Austauschbeziehungen eng verknüpften und nach außen gegenüber anderen, beispielsweise handwerklichen und wissenschaftlichen Praktiken, geschlossenen System zusammenführt. 3 Wenig später ist dann auch die Verwendung des Kollektivsingulars „die Kunst“ beobachtbar. Vergleichbares ist im Fall der Wissenschaft festzustellen. Hier beobachten wir noch im 18. Jahrhundert die durch Rangordnungen der Praktiker geschiedenen mathematischen und experimentellen Traditionen der Naturwissenschaft, die artistischen Fächer der philosophischen Fakultät, die Wissensordnungen der anderen, professionellen universitären Fakultäten. Auch hier ist es die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, die alle diese Wissenssysteme der Erwartung konfrontiert, dass es sich um Wissenschaften zu handeln habe, die bestimmte Eigentümlichkeiten miteinander teilen (beispielsweise die Suche nach Erklärungen und Gesetz-
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Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979. 3 Paul Oskar Kristeller, The Modern System of the Arts. Pp. 162–227 in: Ders., Renaissance Thought II. Papers on Humanism and the Arts. New York: Harper & Row 1965.
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mäßigkeiten) – und die schließlich den Kollektivsingular hinzufügt: „die Wissenschaft“. 4 Ein drittes gutes Beispiel ist der Sport, zumal in diesem Fall vergleichbare Entwicklungen mindestens einhundert Jahre später erfolgten und das Überraschungsmoment, das in der Entstehung dieses Funktionssystems liegt, größer ist, weil man die Entstehung der globalen Kategorie des Sports noch aus der Perspektive des 19. Jahrhunderts kaum hätte voraussagen können. Im 18. und 19. Jahrhundert existieren Kategorien wie Gymnastik (turnerische Übungen insbesondere in Skandinavien und Deutschland), Athletik (Boxen und Ringen in einer halbprofessionellen, halbzirzensischen Welt), verschiedene Ballspiele (am weitesten entwickelt in englischen Schulen) und jene Aktivitäten, für die seit der frühen Neuzeit das Wort ‚Sport‘ vorkommt. Diese haben meist mit Reiten und Jagen, Hunden und Pferden zu tun, sind also am besten in der Lebenswelt des englischen Adels verankert und sind auch dem Wortsinn nach (Sport = deportare, i. e. sich an einen anderen Ort begeben, an dem andere Regeln gelten) eigentlich näher an ‚Freizeit‘ als am modernen Verständnis des Sports. Über diese extrem heterogenen Tätigkeitskomplexe hinweg entsteht im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert das moderne Funktionssystem Sport, das mittelfristig u. a. die ursprünglich prominenten Sinnverknüpfungen zu den Lebenswelten verschiedener sozialer Schichten abschneidet und eine leistungs-, konkurrenz- und rekordorientierte Welt aus den Körpereinsatz optimierenden Handlungspraxen hervorbringt und als ein solches System radikal neu ist. Auch hier beobachten wir die Entstehung einer Kategorie Sport und die Globalisierung dieser Kategorie, die in anderen Weltregionen ganz andere Sinnverknüpfungen zerreißt,
4
Rudolf Stichweh, Einheit und Differenz im Wissenschaftssystem der Moderne. Pp. 213–228 in: Jost Halfmann / Johannes Rohbeck (Hg.), Zwei Kulturen der Wissenschaft – revisited. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2007; Rudolf Stichweh, Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen. Bielefeld: Transcript 2013 (2. Aufl.).
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als dies in Europa geschieht, 5 aber im Resultat überall auf einen ähnlich verfassten Sport hinführt, der alle seine Differenzen jetzt intern erzeugt, als Differenzen unter zunehmend vielen, mittlerweile sind es Tausende, Formen sportlicher Übung und kompetitiven Einsatzes des menschlichen Körpers. Analoges gilt nun für Religion. Lange gab es die Vorstellung, dass nur ein Glaubenssystem den Namen Religion verdient, alles andere Aberglaube und Heidentum ist, also eigentlich eine Negation von Religion (unter dieser Prämisse hatten die Römer einen heidnischen Staat, dieser wurde seit Konstantin christianisiert). In der Folge wird Religion pluralisiert. Immer mehr Religionen wird dieser kategoriale Status zuerkannt und in unseren Tagen haben wir wie in den anderen Funktionssystemen eine unübersehbare Vielfalt von Religionen, die zudem alle weltweit verfügbar sind und die in dieser Form die globale Kategorie und den Kollektivsingular „Religion“ rechtfertigen. Zu betonen ist einmal mehr das Spannungsverhältnis von Vielzahl der Fälle und Vielzahl der Subsysteme einerseits, der unifizierenden Kraft des Kollektivsingulars andererseits, der auf diese Weise die Einheit des Funktionssystems über die Vielzahl der Fälle verbürgt. Wichtig ist es, sich im Funktionssystemvergleich die Differenzen zwischen den Typen der Subsystembildung zu vergegenwärtigen. Diese Subeinheiten sehen sehr verschieden aus. Im Fall der Wissenschaft, der Kunst und auch des Sports handelt es sich bei diesen Subsystembildungen um Spezialisierungen. Künstlerischer Tanz ist etwas anderes als das Spielen von Musikinstrumenten oder Kalligraphie oder das Schreiben von Gedichten. Analog verhält es sich im Fall der sportlichen und wissenschaftlichen Disziplinen. Dies alles sind Spezialisierungen. Im Fall der Religion aber sieht es ganz anders aus. Es ist unmöglich zu sagen, das Christen5
In China z. B. den Konnex von Pflege des Körpers und Pflege von Pflanzen, Chih-Chieh Tang, Yundong: One Term for Two Different Body Cultures. Asian Sport Thoughts: The International Journal for the Sociology of Sport 1, 2010, 73–104.
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tum habe sich im Unterschied zum Islam auf bestimmte Aspekte des Glaubens spezialisiert, der Islam auf komplementäre Praktiken und Überzeugungsmomente. Im Fall der Religion haben wir es nicht mit einer Subsystembildung als Folge von Spezialisierung zu tun, vielmehr mit einer segmentären, ursprünglich oft auch regionalen Differenzierung des Religionssystems. Diese bringt in sich vollständige religiöse Systeme hervor, die nicht als komplementär, sondern als einander ausschließend gedacht werden. Globalisierung betrifft deshalb in einer ersten Hinsicht zunächst die Verteilung der Religionen über den Erdball, führt zu der potentiellen Präsenz jeder einzelnen Religion an beliebigen Orten in der Welt. 6 Erst als eine Folge dieser religiösen Diversifikation in einzelnen Weltregionen werden dann auch die Synkretismen zwischen den Systemen religiöser Praktiken und Überzeugungen wahrscheinlicher und reduzieren das Moment der Segmentation der Religionen.
III Was aber ist Religion? Mein Argument erlaubt mir, hier relativ anspruchslos zu operieren. Wenn man, wie es dieser Text tut, den kategorialen Status von Religion behauptet, benötigt der wissenschaftliche Beobachter in gewisser Hinsicht selbst gar keine Theorie der Religion. Er ist eher ein Beobachter soziokultureller Evolution, der der Gesellschaftsgeschichte dabei zuschaut, wie die Kategorie des Religiösen an bestimmten Sachverhalten kristallisiert. Die Gesellschaft selbst trifft evolutionär die Entscheidung, was sie für Religion hält und was nicht unter diesen Begriff fällt, und der wissenschaftliche Beobachter leistet vor allem eine Systematisierung der Gesichtspunkte, die diesen Prozess leiten. In einer anderen Sprache könnte man auch sagen, der Wissenschaftler ist 6
Pew Research Center, Global Religious Diversity. Half of the Most Religiously Diverse Countries are in Asia-Pacific Region. Washington D.C., April 4, 2014.
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ein Beobachter von innergesellschaftlichen Beobachtern, die mittels Verwendung der Kategorie Religion entscheiden, was Religion ist und was nicht dazugehört und diese Zurechnungen können unter Beobachtern umstritten sein und im Zeitablauf variieren. Etwas kann den Status der Religion auch wieder verlieren. Auch der in diesem Sinne verstandene Beobachter von Beobachtern wird wiederkehrende Strukturen entdecken und wird im Zeitablauf Umbauten in diesen Strukturen identifizieren, und auf diese Weise fällt ihm dann doch so etwas wie eine Theorie der Religion zu. Zwei dieser ‚Entdeckungen‘ seien hier kurz notiert, weil sie historisch relevant sind und weil sie wichtig für die Geschichte sind, die dieser Essay in Umrissen zu erzählen versucht. Religion, das ist der erste Punkt, scheint immer etwas mit Andersheit, mit Alterität zu tun zu haben, damit, dass sich in unsere Erfahrung etwas einzeichnet, was sich vor allem als Erfahrung großer, unerwarteter Differenz aufdrängt. 7 Es taucht im sozialen Verkehr etwas auf, was sich sehr deutlich von dem unterscheidet, was wir sonst typischerweise wahrnehmen: Alterität, Fremdheit, Irritation angesichts von Alterität und Fremdheit, vielleicht sogar Angst, Betroffenheit, der Schock, der darin liegt, dass sich etwas Soziales wahrnehmbar zu machen scheint, mit dem ich völlig unvertraut bin. Und diese Erfahrungen scheinen mit Religion eng verknüpft zu sein. Das hat Folgen für die Stellung, für die Einordnung der Religion in Gesellschaft. Für vormoderne Gesellschaften ist bekanntlich charakteristisch, dass die Kategorie der Fremdheit, des Fremden, die Identifikation von jemandem, der radikal anders als die Einheimischen ist, sich als eine soziale Schlüsselkategorie erweist. 8 Und dies ist für viele Jahrtausende der Geschichte sozialer Systeme der Fall, dass soziale Systeme sehr kleinräumig sind – und dass sie dann relativ schnell außerhalb ziemlich begrenzter 7
Vgl. Thomas J. Csordas (Hg.), Transnational Transcendence: Essays on Religion and Globalization. Los Angeles: University of California Press 2009. 8 Rudolf Stichweh, Der Fremde. Studien zu Soziologie und Sozialgeschichte, Berlin: Suhrkamp 2010.
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Kleingruppen auf Andersheit und auf Fremdheit stoßen und dass sie diejenigen, die sie dort antreffen, als Fremde, als Andere, als problematische, eventuell sogar zu verstoßende, vielleicht sogar zu tötende Fremde auffassen. Solange das so ist, dass Fremdheit eine Schlüsselkategorie in der Selbstbeschreibung des Sozialen ist, sind im Grunde Sozialität, Fremdheit und Religion nicht gut voneinander zu unterscheiden. Das heißt, das Religiöse fällt nahezu mit der Selbstbeschreibung des Sozialen zusammen. Es ist auch in der Geschichte der Religionstheorie auffällig, dass es viele Religionstheoretiker gibt, die im Prinzip Sozialität und Religiosität in Eins setzen, die also keine starke Unterscheidung zwischen den beiden Phänomenkomplexen sehen. Solange dies sich so verhält, kann von funktionaler Differenzierung der Gesellschaft nicht die Rede sein, weil, wenn das Religiöse mit dem Sozialen zusammenfällt, wenn zugleich Fremdheit dermaßen konstitutiv ist für die Erfahrung des Sozialen, dass immer dort, wo ich Fremdheit erfahre, ich auch eine Erfahrung machen kann, die die Andersartigkeit so scharf zuspitzt, dass ich diese Andersartigkeit als religiös erfahre, sie vielleicht sogar als göttlich erfahre, wenn jeder Fremde einer Vermutung nach auch ein Gott sein kann, dann ist Religion kein funktional ausdifferenziertes Teilsystem der Gesellschaft, sondern identisch mit der Gesellschaft, ruht auf einer Leitunterscheidung, die zugleich für die Beschreibung von Gesellschaft konstitutiv ist. 9 Dieses Verschleifen von Gesellschaftsbegriff, Religionsbegriff und Verständnis von Fremdheit hat zugleich die Folge, dass wir einen relativ flachen Religionsbegriff beobachten, das Phänomen der Religion nur mit begrenzter Unterschiedenheit vor Augen tritt. Im Unterschied dazu verfügt die Moderne über einen starken Religionsbegriff, weil sie den Begriff der Sozialität völlig vom Begriff des Fremden abgelöst hat. Wenn wir in der Moderne über 9
Vgl. Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. München: C. H. Beck Paperback 2014 (1917).
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charakteristische soziale Phänomene reden, sprechen wir über Wirtschaft, Recht, Politik und Wissenschaft und in diesen Funktionssystemen treffen wir nicht mehr auf Andere, die wir als Fremde beschreiben, sondern wir treffen auf spezialisierte und spezifizierte Andere, also auf Investoren, Konsumenten, Produzenten, in der Politik auf Wähler, Berufspolitiker und viele andere Rollen – aber nirgendwo treffen wir auf Fremde. Das heißt, dass in den Funktionssystemen die Figur des Fremden an Bedeutung verloren hat. Dieser Sachverhalt erlaubt eine Konzentration jener Sinngehalte, die über Andersheit, Differenzierung, Fremdheit, Unvertrautheit und Rätselhaftigkeit laufen, in jener Domäne, die in der modernen Gesellschaft erstmals in einem ausdifferenzierten Sinn Religion heißen kann. 10 Es ist ein zweiter Religionsbegriff zu erwähnen, und dieser zweite Religionsbegriff ist sehr nahe an dem gerade artikulierten Verständnis. Es ist aber einer, der noch einmal bestimmter, als ich das bisher zum Ausdruck gebracht habe, das Moment der Bipolarität in religiöser Kommunikation hervorhebt. Religion scheint es immer mit dem Sachverhalt zu tun zu haben, dass wir in kommunikative Situationen verwickelt sind. Kommunikative Situationen sind prinzipiell – weit über Religion hinaus – von der Art, dass an einer Kommunikation immer mindestens zwei Prozessoren beteiligt sein müssen. Anderenfalls kann von Kommunikation nicht die Rede sein. 11 Und in der Regel verhält sich das bei Kommunikation so, dass die beiden Prozessoren, die in eine solche Kommunikation involviert sind, ihrem ontischen Status nach ähnlich verfasst sind. Es handelt sich auf beiden Seiten der kommunikativen Beziehung um Menschen, auch wenn ihr sozialer Status sich sehr voneinander unterscheiden sollte. Bei religiöser Kommunikation aber sieht diese basale Bipolarität der Kom10
Vgl. auch Dan Sperber, Explaining Culture. A Naturalistic Approach. Oxford: Blackwell 1996. 11 Ich verwende hier die Theorie, die Niklas Luhmann in Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984, entwickelt hat.
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munikation sehr anders aus. Es handelt sich zwar auch im Fall der Religion immer um Kommunikation. Und wenn ich in Delphi oder an irgendeinem anderen Ort im Rahmen eines Rituals ein Opfer darbringe, verfolge ich eine kommunikative Absicht. An dieser Kommunikation sind erneut mindestens zwei Prozessoren beteiligt, nämlich derjenige, der das Opfer bringt, und derjenige, dem das Opfer dargebracht wird, aber dem ontischen Status nach unterscheiden sich die beiden Prozessoren radikal. Wir haben auf der einen Seite der Kommunikation eine Adresse, die die typischen Insignien des Menschen trägt, die andere Seite der Kommunikation aber ist durch den nicht-menschlichen, nicht-empirischen, transzendenten, supernaturalen Charakter des Prozessors auf dieser Seite der Kommunikation charakterisiert. 12 Dieses zweite Argument lässt sich mit dem ersten über Fremdheit, Rätselhaftigkeit, Irritabilität verknüpfen und sagt in dieser Verknüpfung auch etwas über den graduellen Übergang in eine Situation religiöser Kommunikation aus. Dies sind zwei kleine Bemerkungen zu einem theoretisch begrenzt anspruchsvollen, aber historisch instruktiven Verständnis von Religion.
IV Es ist im nächsten Schritt der Weg zu skizzieren, der uns in die Gegenwartssituation führt, und den man im 17. Jahrhundert beginnen lassen kann. Das europäische, dann bald globale, 17. Jahrhundert ist jene Zeit, in der Europa in alle anderen Weltregionen ausgreift, sie kolonialisiert und mittels Handel, religiöser Mission, auch mittels der Ausbreitung von Bildung und Gelehrsamkeit alle diese Regionen der Welt miteinander vernetzt und sie erstmals zu einem weltweiten Sozialzusammenhang zusammenführt. In dem 12
Peter Beyer, What Counts as Religion in Global Society? From Practice to Theory. Pp. 125–150 in: Ders. (Hg.), Religion im Prozeß der Globalisierung. Würzburg: Ergon Verlag 2001.
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gleichen Prozess fällt auf, und es fällt zuerst den Europäern auf, dass es nicht nur eine oder wenige Religionen gibt, dass vielmehr überall in den Regionen der Welt Religion und Religionen existieren. Die genannte Grunderfahrung Europas im Prozess der kolonialen Expansion kann man in einer Reihe von Hinsichten ausführen. Erstens entstehen, sich eigentlich erst nach 1780 langsam durchsetzend, Vorstellungen über einige besonders wirkungsmächtige Religionen, die ihrem Anspruch nach von weltweiter Bedeutsamkeit zu sein scheinen. Es bildet sich der klassische Katalog von Weltreligionen heraus, der in den meisten Fällen fünf religiöse Systeme einschließt: das Christentum, den Islam, das Judentum, den Hinduismus und den Buddhismus. Andere Beobachter rechnen auch Taoismus und Konfuzianismus zu den Weltreligionen. Man kann dann näher zu bestimmen versuchen, warum diese Religionen Weltreligionen sind. Man kann sie beispielsweise über den Typus von Gemeinschaft bestimmen, den sie der Möglichkeit nach bilden. Es lässt sich dann sagen, dies sind Religionen, in deren semantischen Beständen man Formulierungen findet, die in die Gemeinschaft, die sie antizipieren, der Möglichkeit nach jeden Menschen einzuschließen imstande sind. Natürlich limitieren sie wechselseitig die Realisierung dieser Möglichkeit, weil sie um dieselben potentiellen Gläubigen werben, aber diese Konkurrenz macht gerade ihren globalen Charakter aus. Neben Gemeinschaft ist Organisation ein anderer wichtiger Faktor. Das sehen wir gut im Fall des Christentums, das seinen weltreligiösen Anspruch und seine weltreligiöse Realität gar nicht primär über eine Gemeinschaftsidee vorantreibt, sondern über die immense Organisationstätigkeit des Christentums, die vielen Orden, die zahlreichen Konfessionen und zugehörigen Kirchen und die weltweite Expansion mittels der missionarischen und anderen (Schulen, andere Erziehungseinrichtungen, Hospitäler) Tätigkeiten dieser Orden und kirchlichen Organisationen. Also ist das Christentum eine stark auf Organisation gestützte Weltreligion, 108 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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aber dieses Moment trifft für keine der anderen Religionen in vergleichbarem Maße zu. 13 Diese Akzeptation einiger anderer Religionen als Weltreligionen verknüpft sich nun mit etwas, was in gewisser Hinsicht eine Voraussetzung dieser Entwicklung ist. Es bricht ein klassischer Begriff zusammen, der in der Selbstbeschreibung Europas lange eine große Rolle gespielt hat. Das ist der Begriff des Heidnischen oder Paganen. Noch im 19. Jahrhundert findet man Klassifikationen von Religion, in denen Paganismus so auftaucht, als sei dies ein weiteres System religiöser Praktiken und Überzeugungen neben den Weltreligionen. Was hier aber eigentlich passiert, ist das, was die historische Semantik eine Gegenbegriffssubstitution nennt. Während lange das Christentum sich dem Heidnischen gegenübersah, also einer Situation, in der der Gegenbegriff zu Religion die Abwesenheit von Religion war, begegnet man jetzt im Begriff des Paganismus der Wirklichkeit, dass die unmittelbare soziokulturelle Umwelt einer Religion immer die vielen anderen Religionen sind und nie die schlichte Abwesenheit und Unkenntnis religiöser Praktiken. Aus dieser Erfahrung folgt der Universalismus des Religiösen und auch die Etablierung von Religion als einer globalen Kategorie. Die Anerkennung der Wirklichkeit der vielen anderen Religionen (und nicht nur der wenigen Weltreligionen) hat eine weitere bemerkenswerte Konsequenz. Die Religionen, die bisher die anderen als Heiden gewissermaßen draußen halten konnten, sehen sich jetzt in der Konkurrenz zu den anderen Religionen und beginnen zu verstehen, dass sie in dieser Konkurrenz auch etwas von den anderen Überzeugungssystemen adaptieren müssen, damit sie sich in der Konkurrenz der Überzeugungssysteme behaupten können. So spielt im Kolonialisierungsprozess des 17. und 18. Jahrhunderts immer wieder die Vorstellung eine Rolle, man müsse be13
Vgl. dazu Peter Beyer, wie Fn. 12.
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stimmte Rituale und Festivitäten, vielleicht auch religiöse Orte und Gebäude, wie auch nicht mehr verwendete Tempel, integrieren und gewissermaßen übernehmen, um in der Konkurrenz der Religionen behauptungsfähig zu sein. Auf der katholischen Seite hat der Jesuitenorden über Jahrhunderte mit besonderer Flexibilität agiert und genau darin immer seine Erfolgsbedingung gehabt. So hat er selbstverständlich in China in die Gottesdienste prononciert Aspekte des Ahnenkults integriert, weil eine Religion auf andere Weise in China nicht hätte konkurrenzfähig sein können. Und wenn dann gelegentlich Mitglieder anderer Orden (Benediktiner, Franziskaner), die ja eigentlich nicht nach China hineindurften, dieser Sachverhalte ansichtig wurden, dann sahen sie das mit Entsetzen und denunzierten die jesuitischen Brüder beim Vatikan und anderen wichtigen kirchlichen Instanzen, weil dies eine Art von Eklektik und Toleranz für Fremdartiges war, die eigentlich nicht vorkommen kann. Aber es ist offensichtlich, dass die religiöse Situation der Moderne, und dies umso mehr in unseren Tagen, aus diesen Toleranzen, Eklektiken und Synkretismen besteht. Und es ist unabweisbar, dass mehr noch in der Situation des 19.–21. Jahrhunderts als in der Welt des 17. und 18. Jhs. dieses Moment der Integrierbarkeit und Integrationsnotwendigkeit von Praktiken und Glaubensgehalten aus anderen Religionen an Bedeutung gewinnt und die Religionen, gerade auch die weltweit erfolgreichen Religionen, die sich nicht auf eine Nischenexistenz einstellen wollen, zu Veränderungen zwingt. Der Katholizismus gerade, weil er weltweit konkurrenzfähig sein will, kann charakteristische Wege der Rationalisierung religiöser Überzeugungsgehalte, die sich einem aufgeklärten Europäer oder Nordamerikaner aufdrängen, nicht gehen, wenn er sich in bestimmten Weltregionen behaupten will. Er braucht zum Beispiel immer erneut und immer mehr Vermittlungsfiguren. In der Funktion solcher Vermittlungsfiguren steigt der Bedarf für Engel 110 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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und noch mehr für Heilige und zwar insbesondere für lokale Heilige, die die Weltkirche mit lokalen Traditionen verbinden. Während die katholische Kirche in den 371 Jahren von 1593 bis 1963 nur 211 neue Heilige geschaffen hat, ist diese Produktion in den letzten Jahrzehnten explodiert. 14 Unter Paul VI. waren es 84 neue Heilige in 15 Jahren; unter Johannes Paul II. 482 Heilige in 27 Jahren (1978–2005). Und gerade bei den von Johannes Paul produzierten Heiligen ist die regionale Verteilung auffällig. Von den 482 Heiligen seines Pontifikats stammen 276 aus Vietnam, Korea und China, und die katholische Kirche selbst thematisiert diese ihre Anpassungsfähigkeit als „Inkulturation“, d. h. als die Einfügung ursprünglich fremder Sinnelemente in die eigene religiöse Tradition. Abschließend zu diesem Punkt ist die schnell voranschreitende Pluralisierung der Religionen zu betonen. Im 19. und 20. Jahrhundert entstehen vermehrt neue Religionen, die sich nicht aus bestehenden herausentwickeln. Auch hier ist die Verfügbarkeit einer globalen Kategorie relevant, weil die Kategorie als eine Art Attraktor fungiert, der Neuerfindungen motiviert und ihre religiösen Formen informiert. So haben wir innerhalb des Christentums die Neuentstehung mormonischer Kirchen; im Iran, einer religiös lange schon produktiven Region, die Neuentstehung der Bahai, einer Religion, die ein starkes Gefühl für Transzendenz mit einer prononcierten Formulierung einer mystischen Einheit aller Religionen und einer ausgeprägt humanitär ausgeflaggten Menschheitsidee verbindet. Das ist eine Religion, die aus dem schiitischen Islam hervorgegangen ist, aber sich heute radikal von diesem ge14
Agatha Bienfait, Zeichen und Wunder. Über die Funktion der Selig- und Heiligsprechungen in der katholischen Kirche. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 58, 2006, 1–22. Zu beachten ist hier auch die noch größere Zahl der Seligsprechungen, die bei Seligsprechungen noch deutlicher auf eine Fama zielt, die vor allem im Herkunftsbistum Bedeutung hat. Außerdem ist für die Gegenwart die Beschleunigung der Verfahren zu betonen. Die Kanonisierung von Johannes Paul II. war das schnellste Verfahren der Kirchengeschichte.
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trennt hat. Sie ist in ihrem Ursprungsland seit langem verfolgt, weist gegenwärtig aber eine Präsenz in über 100 Ländern mit ungefähr 10 bis 12 Millionen Gläubigen auf. Auch ehedem streng lokalisierte religiöse Systeme, etwa die Yoruba-Religion Nigerias oder amerikanische indianische Religionen (beispielsweise der Navajos) besitzen heute als Folge von Migrationen einzelner Mitglieder eine globale Präsenz.
V Welches sind in einer Weltgesellschaft, die ein Funktionssystem für Religion auf der Basis einer globalen Kategorie der Religion kennt, die Mechanismen, die für die globalen Transfers von Religionen verantwortlich sind? Entscheidend ist zunächst die strukturelle Bedingung, die gerade schon betont worden ist. Es gibt zunehmend viele Religionen, mindestens Hunderte von Religionen sind sinnvoll zu unterscheiden. Die wertende, hierarchisierende Unterscheidung von Weltreligionen und kleinen Religionen wird durch die Dynamik der Veränderungen in Frage gestellt und der Begriff der Weltreligion (als eine Art von Auszeichnung) wird von immer mehr Beobachtern nicht mehr akzeptiert. 15 Zugleich gibt es neben den zunehmend vielen unterscheidbaren Religionen auch Synkretismen aller Art. Wir sehen also, wie beliebige Religionen individuell mit Glaubensbeständen anderer Religionen kombiniert werden – und darin zeichnet sich auch eine Elementarisierung der Transfers ab, die nicht mehr ganze Religionen betreffen müssen, sondern vielfach nur einzelne Praktiken und einzelne Überzeugungsgehalte. Insofern gibt es neben der Pluralisierung der Religionen eine Elementarisierung des Religiösen, und das intensiviert die Dynamik des religiösen Geschehens. In einer Analogie, die Richard Dawkins vorgeschlagen hat, 15
Es ist bezeichnend, dass in der englischsprachigen Wikipedia an die Stelle des Artikels „Weltreligion“ der Artikel „Major religious groups“ getreten ist.
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könnte man davon sprechen, dass es vermehrt um einzelne religiöse Meme geht, die in Transferprozessen kommuniziert werden. An die Stelle der Hierarchie von Weltreligion und kleiner, lokaler Religion könnte insofern die Hierarchie von Religion (als komplexem System von Praktiken und Überzeugungen) und religiösen Memen getreten sein. Auch dies ist offensichtlich ein Faktor der Pluralisierung und der Beschleunigung (des Transfers von Memen). Welches sind die Mechanismen des Transfers? Ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit möchte ich vier wichtige Mechanismen unterscheiden. Wir haben zunächst mit Mission als dem historisch vermutlich bedeutsamsten Transfermechanismus zu tun. Mission war in der frühen Neuzeit allenfalls ein kleines Phänomen. Mission wird immens bedeutsam im 19. Jahrhundert, vor allem auf der Basis der großen, weltweit tätigen Missionsgesellschaften der christlichen Kirchen. In unseren Tagen, um nur von der christlichen Welt zu sprechen, verknüpft die Mission sich am stärksten mit den evangelikalen und charismatischen Glaubensbewegungen, die aggressiv und riskant missionieren, aber weltweit bereits über 500 Millionen Gläubige aufweisen, also die am stärksten wachsende Religion der Gegenwart darstellen. Neben Mission existiert Migration von Gläubigen als ein Transfermechanismus, für den es keiner missionarischen Absicht bedarf. Es genügt, dass auf der Basis von Migrationen kleine Gruppen von Gläubigen in Weltregionen präsent sind, in denen es ihre Religion vorher nicht gab. Mittelfristig sind Transfereffekte über diese Gruppen hinaus jederzeit vorstellbar. Drittens gibt es das Phänomen der Mobilität, d. h. den Sachverhalt, dass Personen sich zwar nicht dauerhaft an einen anderen Ort der Welt bewegen, aber diese Personen sich temporär an wechselnden Orten aufhalten. Diese Personen machen dann Erfahrungen wie etwas an einem anderen Ort der Welt praktiziert wird, und es ist nicht auszuschließen, dass sie diese Erfahrungen an den Ort zurückbringen, an dem sie sich dauerhaft aufhalten. Auf der Basis dieser Mobilitäten können sich die Praktiken verschiedener Religionen zu mischen beginnen. Schließlich 113 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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haben wir als vierten Mechanismus Mediatisierung zu nennen. Gemeint ist der über technische Medien der Kommunikation laufende Transfer von Religion. Hier gibt es erneut ganz viele Formen. Lange waren Videokassetten wichtig, heute ist das ein überholtes Medium; stattdessen ist es das Fernsehen, das Internet und neben diesen beiden, vermutlich in der Wirksamkeit privilegierten Medien, viele andere Medien mehr.
VI Abschließend ist der Zusammenhang zwischen Strukturmustern der gegenwärtigen Gesellschaften und den Verwirklichungen der globalen Kategorie Religion zu klären. Es sind vier Momente, die benannt werden sollen. Das erste ist das Umschalten, das sich in der Geschichte der Weltgesellschaft ereignet hat, von einer Religion, die primär mit Gemeinschaften zu tun hat und vor allem als Bindemittel und Überzeugungsmittel in größeren sozialen Gemeinschaften fungiert, zu einer Religion, die sich stärker mit dem Moment der Individualität verknüpft. Das ist eine auffällige Veränderung in der Weltgesellschaft des 19.–21. Jahrhunderts, dass Religion individuelle Entscheidung wird und nicht mehr etwas ist, was sich aus der Einbindung in eine Kommunität, in eine Gemeinschaft nationaler, ethnischer oder anderer Art selbstverständlich ergibt. An diesem neuen Moment der engen Kopplung von Religiosität und Individualität wiederum ist interessant, dass dieses den außerweltlichen und/oder transzendenten Charakter von Religiosität noch einmal besonders akzentuiert. Ähnliche Beschreibungen gelten schließlich auch für das Individuum. Das Individuum kommt in der Alltagswelt eigentlich nicht vor. Es ist primär als Rollenträger vorgesehen: es wählt, konsumiert, publiziert wissenschaftliche Aufsätze, geht in Kunstausstellungen, aber das Individuum als eine welthaltige Einheit über die Vielzahl aller dieser Tätigkeiten hinweg ist in der Gesellschaft als Adresse von Kompaktkommunikationen normalerweise nicht vorgesehen. 114 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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Das ist der Grund, warum es Beobachter wie Niklas Luhmann gibt, die mit Bezug auf Individualität in der Moderne von Exklusionsindividualität sprechen: 16 Wir haben die Welt der Funktionssysteme, die Partizipation der Individuen an diesen Funktionssystemen, das Individuum selbst als eine kompakte Sinneinheit bleibt gewissermaßen da draußen und ist eine halbexterne, halbtranszendente Figur, die vielleicht die Einheit ihrer Sinnmomente im Moment ihres religiösen Bekenntnisses erfährt. In diesem Sinn einer kulturellen Affinität gibt es diesen Konnex von Individualität und Religion. Eine zweite dramatische Transformation von Religion hängt ihrerseits mit Individualität zusammen. Ein Individuum zeichnet sich nicht primär dadurch aus, was es weiß und was es verbindlich weiß und was es in seiner Verbindlichkeit zusammen mit allen anderen und im Konsens mit allen anderen Individuen weiß. Ein Individuum besitzt eher Überzeugungen, Stimmungen und Motive, und diese Subjektivierung der Sinngehalte, die dem Individuum eigen sind, spiegelt sich in der Religion als eine Subjektivierung von Religion, die vom Wissen, vom gesicherten Wissen einer Gemeinschaft zu den beliefs, also subjektiven Überzeugungssyndromen führt, die das moderne Profil von Religion immer mehr bestimmen. Das führt dann auch zu einer entschiedeneren Trennung von Wissenschaft und Religion, Theologie und Religion. Religion ist ein System von beliefs, die ich mir als ein Individuum zu eigen machen kann. Die Synthese dieser beliefs ist eine hochindividuelle Eigenschaft. Religion ist nicht mehr eigentlich Wissen. Natürlich kann man sagen: Wir wissen etwas auf der Basis von Offenbarung, wir wissen, dass die heiligen Bücher des Christentums, das Alte und das Neue Testament, Aufzeichnungen einer religiösen Offenbarung sind und wir können diese Aufzeichnungsgeschichte mit den Methoden der Philologie untersuchen – 16
Niklas Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus. Pp. 149–258 in: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik 3. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989.
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und das tun die Theologen ja auch. Aber wenn sie das tun, haben sie eigentlich mit Religion wenig zu tun. Sie betreiben Wissenschaft, und sie befassen sich mit jener Seite der Theologie, die eben genuin wissenschaftlich ist. Wir haben hier eine sehr deutliche Trennung entlang einer Linie von knowledge und beliefs, von wissenschaftlicher Beobachtung religiöser Sachverhalte und dem Kern der religiösen Sachverhalte selbst. Ein drittes Moment ist, dass Religion jetzt ein Funktionssystem unter anderen Funktionssystemen ist. Religion wird einerseits sehr viel wichtiger, nämlich im Funktionssystem Religion selbst, und sie wird sehr viel unwichtiger, und zwar in allen anderen Funktionssystemen der Gesellschaft. In allen Funktionssystemen entstehen Eigenkulturen, die Milieus von zunehmender kultureller Homogenität zu kultivieren erlauben. Das ermöglicht die eindrucksvolle kulturelle Trennung von Wissenschaft und Religion, die sich beispielsweise in der völligen Indifferenz des Darwinismus, des vielleicht überraschendsten Denksystems der wissenschaftlichen Moderne, gegenüber der Mitberücksichtigung religiöser Relevanzen äußert. Der Darwinismus erzählt alle jene Entstehungsgeschichten der aus Pflanzen, Tieren und Menschen bestehenden Schöpfung, die in vielem der Kern religiöser Traditionen waren, radikal neu und radikal anders, mit viel höherem Auflösevermögen und viel interessanterem Detail und er tut dies ohne jede Rücksicht auf religiöse Traditionen. Es gibt im Darwinismus nicht das kleinste Motiv, Religion zu negieren (darin irrt Richard Dawkins), er ignoriert Religion einfach und erzählt und erklärt unbeirrt aus der Eigenkultur des Funktionssystems Wissenschaft. Man kann sich beispielsweise als gläubiger oder traditionsbewusster Jude empören, dass kein Darwinist Gottes eigentümliche Laune, ausgerechnet die Katzen und nur die Katzen ihre Exkremente vergraben zu lassen, zu erklären imstande sei 17, und
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So Gerschom Wald in Amos Oz, Judas. Suhrkamp: Berlin 2015.
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man verkennt als ein solcher nur die Selbstverständlichkeit, mit der ein Biologe eine Geschichte von Statushierarchien unter Tieren und der Submission, die statusniedrige Tiere den Geruch ihrer Exkremente verbergen lässt, damit andere statushöhere Tiere über Geruch kommunizieren können, erzählen wird, als eine hypothetische Geschichte aus Tausenden ähnlicher hypothetischer Geschichten, von denen eine interessanter als die andere ist. Eine letzte Bemerkung betrifft die strukturelle Verwandtschaft von Religion und Moral. Lange schien Religion ununterscheidbar von der kommunitären Bindung an eine Gemeinschaft der Gläubigen. Wir haben für diesen Fall die Auflösung dieser Bindung bereits kommentiert. Ein anderes der traditionellen Charakteristika von Religion war, dass sie von Moral kaum unterschieden werden konnte. Aber das war natürlich ein Irrtum. Dieser Irrtum hat etwas damit zu tun, dass Moral im Unterschied zu Recht oder Wissenschaft oder Kunst oder Gesundheitswissen nie in der Form eines Funktionssystems ausdifferenziert worden ist. Als Folge davon gibt es kein Funktionssystem für die Kommunikation über moralische Bedingungen der Achtung von anderen. Und weil das so ist, haben wir eine eigentümliche Gemengelage von Moral und Religion, die immer noch nicht ganz aufgelöst ist und die auch dazu führt, dass wir in mancher Hinsicht nicht so genau wissen, was Religionen sind. Man kann diese im chinesischen Fall gut studieren, wo wir es im Fall des Konfuzianismus und des Taoismus mit Traditionen zu tun haben, die vielleicht eher Systeme der Moral als Religionen sind. Und es ist interessant, dass, wenn man die Selbstbeobachtung chinesischer Intellektueller im 19. Jahrhundert aufnimmt, diese dies sehr genau sehen, dass China nicht über Religionen, sondern über Moralen verfügt. Auch für Japan, auch für Shinto könnte dies gelten, dass es sich eigentlich um atheistische Kulturen handelt, die nie im religiösen Sinn kreativ gewesen sind, die aber unter den Bedingungen von Religion als globaler Kategorie jetzt die Möglichkeit besitzen zu sagen: Wir verfügen über große moralische Traditionen, letztlich aber nicht über religiöse Traditionen – und in der Gegenwartssituation 117 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
Rudolf Stichweh
können die Kommunitäten und die Individuen entscheiden, ob sie sich religiös engagieren wollen oder eben nicht. Der gerade registrierte Sachverhalt macht uns noch einmal klar, dass Religionen zwar an vielen Orten in der Welt entstehen und in unzähligen lokalen Varianten verfügbar sind, dass aber bei weitem nicht überall in der Welt Religionen hervorgebracht worden sind. Europa hat offensichtlich nie eine signifikante Religion erfunden, und das Gleiche ist wohl für China der Fall.
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Erscheinungsformen und Konfliktkonstellationen von Säkularität
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Naturalismus Claus Beisbart, Bern
1. Einleitung Ein Hirnforscher schreibt ein Buch mit dem Titel „Fühlen, Denken, Handeln“. 1 Andere versuchen, moralisches Verhalten mithilfe der Evolutionsbiologie zu erklären. 2 Bestseller wie „Glück kommt selten allein …“ thematisieren das Glück auf der Basis naturwissenschaftlicher Resultate. 3 Diese drei Beispiele, deren Reihe sich weiter fortsetzen ließe, zeigen, wie die Naturwissenschaften in Gebiete vordringen, die ursprünglich nicht zu ihrem Gegenstandsbereich gehörten, sondern in Philosophie, aber auch religiösen Weltdeutungen thematisiert wurden. Extrapoliert man diese Entwicklung weiter, dann wird vielleicht einmal alles, was es gibt, zum Objekt naturwissenschaftlicher Forschung. Vielleicht lässt sich sogar alles, was ist, vollständig mit naturwissenschaftlichen Methoden erfassen, beschreiben und erklären. Die Auffassung, dass dem so ist, nennt man oft Naturalismus. Sie verdankt eine gewisse Plausibilität den bisherigen Erfolgen naturwissenschaftlicher Forschung. Seit der sog. Wissenschaftlichen Revolution im 16. und 17. Jahrhundert wurden naturwissenschaftliche Methoden, die der quantitativen Messung, dem kontrollierten Experiment und der mathematischen Modellierung 1
Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, Frankfurt am Main 2001. Etwa Alexander J. McKenzie, The Structural Evolution of Morality, Cambridge 2007. 3 Eckart von Hirschhausen, Glück kommt selten allein… , Reinbek bei Hamburg 2009. 2
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Claus Beisbart
verpflichtet sind, auf immer mehr Phänomene angewandt, die so mit immer mehr Genauigkeit und Tiefe erforscht wurden. Im Ergebnis sind heute eine Unzahl von Gegenständen und Phänomenen naturwissenschaftlich beschrieben, klassifiziert und erklärt. Dabei sind die Naturwissenschaften in Bereiche vorgedrungen, die man früher gerne mit der Natur kontrastiert hat, wie etwa den Bereich des Geistigen. Angesichts dieser Entwicklungen mag ein Naturalismus nachvollziehbar erscheinen. Die Erfolgsgeschichte der Naturwissenschaften ist ein Phänomen der Moderne. So ist es kein Zufall, wenn wir gerne von den modernen Naturwissenschaften sprechen, um uns auf die naturwissenschaftlichen Forschungen seit der Wissenschaftlichen Revolution zu beziehen. Der Naturalismus kann daher als eine moderne Auffassung erscheinen, als eine These, die Entwicklungen der Moderne ernst- und aufnimmt. Auch insofern die Moderne durch einen Säkularisierungsprozess geprägt ist, ergibt sich ein Zusammenhang zum Naturalismus. In der Geschichte der modernen Naturwissenschaften kam es immer wieder zu Konflikten, in denen Aussagen, die mit naturwissenschaftlichen Mitteln gewonnen und verteidigt wurden, in Widerspruch zu angestammten Auffassungen gerieten, die durch theologische Überlegungen oder aufgrund einer buchstäblichen Bibellektüre gerechtfertigt wurden, man denke etwa an die Auseinandersetzungen um das heliozentrische Weltbild. Der Naturalismus ergreift nun radikal Partei für die Naturwissenschaften. Er lässt keinen Platz für religiöse Weltdeutungen, deren Auffassungen sich nicht ohne Bedeutungsverlust in naturwissenschaftliche Resultate übersetzen lassen. Ein Naturalismus, der durch spezifisch moderne Entwicklungen an Plausbilität gewinnt, könnte daher einer der Gründe für die Säkularisierung sein. Aber wie plausibel ist der Naturalismus? Er bildet keine Auffassung, die sich durch die Ergebnisse einzelner Naturwissenschaften begründen ließe, denn er geht über das hinaus, was die einzelnen naturwissenschaftlichen Disziplinen lehren. In der Tat findet man unter Naturwissenschaftlern, die die Schwierigkeiten 122 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
Naturalismus
der naturwissenschaftlichen Erkenntnisbemühungen aus eigener Erfahrung kennen, oft Skepsis gegenüber dem Potenzial, das der Naturalismus den Naturwissenschaften zuschreibt. Die Auffassung, dass sich alles naturwissenschaftlich erklären und verstehen lässt, formuliert vielmehr eine philosophische These und verlangt eine philosophische Begründung. In der Tat gibt es in der heutigen Philosophie eine Position namens Naturalismus, der zufolge sich alles, was ist, mit naturwissenschaftlichen Mitteln beschreiben lässt. 4 In diesem Aufsatz möchte ich den Naturalismus als philosophische These ernst nehmen, ein Stück weit entfalten und kritisch diskutieren. Dabei bediene ich mich Methoden, die der systematischen Philosophie zuzurechnen sind. Daher sind meine Ergebnisse für eine Analyse von Moderne und Säkularisierung nur insofern relevant, als es um rationale Gründe geht; die Säkularisierung kommt dadurch zum Beispiel nicht als gesellschaftlicher Prozess in den Blick. Es versteht sich auch von selbst, dass ich in diesem Aufsatz den Naturalismus und die zugehörige Literatur nicht erschöpfend behandeln kann, sondern mich auf einige Überlegungen beschränken muss, die mir besonders einschlägig erscheinen. 5 Weil sich der Band an ein breiteres Publikum richtet, 4
Für den philosophischen Status des Naturalismus argumentieren auch Geert Keil und Herbert Schnädelbach, Naturalismus, in: Naturalismus. Philosophische Beiträge, hg. von Geert Keil und Herbert Schnädelbach, Frankfurt am Main 2000, 7–45, hier 8. Wenn der Naturalismus oben eine philosophische Position genannt wird und wenn eine philosophische Begründung für ihn gefordert wird, so soll damit keine Beschränkung auf eine bestimmte Philosophiekonzeption verbunden sein. Es wird also z. B. nicht ausgeschlossen, dass die Begründung auf Erfahrungswissen rekurriert. Philosophisch ist die Begründung wenigstens in dem minimalen Sinn, dass sie den Horizont jeder naturwissenschaftlichen Einzeldisziplin überschreitet. 5 Wichtige neuere Beiträge zum Naturalismus, wie er hier verstanden wird, finden sich in den Sammelbänden: Keil und Schnädelbach, Naturalismus; Maria de Caro / David Macarthur (Hg.), Naturalism in Question, Cambridge (MA) / London 2004; Bernd Göbel / Anna Maria Hauk / Gerhard Kruip (Hg.), Probleme des Naturalismus. Philosophische Beiträge, Paderborn 2005. Eine bekannte Verteidigung des Naturalismus enthält David Papineau, Philosophical Natural-
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wird er auch bestimmte Zusammenhänge nur in groben Pinselstrichen nachzeichnen können und Details übergehen müssen. Wie die Bezeichnungen anderer Denkrichtungen wird der Name „Naturalismus“ nicht einheitlich verwendet, und ich werde mich ganz auf den Naturalismus beschränken, der universelle Wissens- und Erklärungsansprüche für die Naturwissenschaften reklamiert. Der Aufsatz ist wie folgt aufgebaut: In einem ersten Schritt möchte ich den Naturalismus genauer in den Blick nehmen und die Form von Naturalismus definieren, um die es gehen soll. In einem zweiten Schritt benenne ich einige Herausforderungen für den Naturalismus und skizziere Strategien, mit denen der Naturalismus diese Herausforderungen zu meistern sucht. Allgemeine Argumente für und wider den Naturalismus werden im dritten Schritt untersucht. Ein Resümee führt die Überlegungen zusammen und wertet sie in Hinblick auf Säkularisierung und Moderne aus.
2. Was ist der Naturalismus? Um den Naturalismus genauer zu verstehen, können wir von der folgenden einfachen Beobachtung ausgehen: Der Mensch möchte die Welt erkennen, teilweise bloß aus praktischen Gründen im Alltag, teilweise aber auch, weil er, wie Aristoteles sagt, von Natur aus nach Wissen strebt. 6 In unterschiedlichsten Bereichen wollen wir erkennen, was der Fall ist, war oder auch sein wird. Beschreibungen von fernen Ländern oder historischen Vorgängen dienen diesem Ziel. Das Wissen um die Zukunft ist Zweck der Vorhersage, die mit besonderen Schwierigkeiten behaftet ist. Mit dem ism, Oxford 1993. Eine pro-naturalistische Einführung liefert Jack Ritchie, Understanding Naturalism, Stocksfield 2008. Geert Keil, Kritik des Naturalismus, Berlin / New York 1993 setzt sich kritisch mit dem Naturalismus auseinander. Meine Überlegungen verdanken den Arbeiten von Geert Keil viele Anregungen. 6 Aristoteles, Metaphysik, 980a.
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Ziel des Wissens sind andere Ziele verbunden, denn wir wollen nicht nur wissen, sondern auch verstehen, was wir wissen, und unser Wissen systematisieren. Wir suchen nach Erklärungen dafür, warum sich das Klima verändert, und wollen die bekannten Lebewesen klassifizieren. Für die folgenden Überlegungen möchte ich mich aber auf das Ziel des Wissens konzentrieren. Diese Beschränkung ist angeraten, weil andere Ziele wie Erklärungen und Verstehen schwerer zu greifen sind. Die Naturwissenschaften sind nun besonders erfolgreich beim Realiseren unseres Ziels, Wissen zu gewinnen. Sie haben uns mit dem Inneren der Materie, der Geschichte unseres Planeten und den Tiefen des Universums bekannt, vielleicht sogar ein wenig vertraut gemacht. Wir können dabei offen lassen, worauf sich die Wissensansprüche der Naturwissenschaften wirklich gerechtfertigterweise beziehen. So wird in der Debatte um den wissenschaftlichen Realismus diskutiert, ob wir wirklich Wissen über unbeobachtbare Entitäten wie Quarks haben können, die in erfolgreichen Theorien vorkommen. In gewissen Bereichen haben die Naturwissenschaften in jedem Fall unser Wissen eindrucksvoll erweitert, und das plausibilisiert die Auffassung, dass die Naturwissenschaften einen besonderen epistemischen Status genießen, dass ihre Methoden besonders geeignet sind, Wissen hervorzubringen, und anderen Verfahren, wie sie etwa im Alltag angewandt werden, überlegen sind. Der Naturalismus geht über diese Auffassung hinaus, indem er die Idee der epistemischen Überlegenheit in zweierlei Richtungen verstärkt und damit einen Ganzheits- und Vollständigkeitsanspruch erhebt: Alle unsere Ziele, Wissen zu gewinnen, lassen sich demnach vollständig durch die Naturwissenschaften einlösen. Der Naturalismus ist daher durch folgende These definiert: N. Alles, was ist, kann vollständig Gegenstand naturwissenschaftlichen Wissens sein.
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In den Worten Quines lautet die These, dass die Welt (nur) so ist, wie sie die Naturwissenschaften beschreiben. 7 Wenn man das Natürliche als das definiert, was vollständig mit naturwissenschaftlichen Methoden erfassbar ist, dann besagt diese These einfach, dass alles natürlich ist. Was dabei unter Naturwissenschaften genau zu verstehen ist, wird unten diskutiert; für das Folgende reicht es zunächst, von einem Vorverständnis auszugehen, dem zufolge Physik, Chemie und Biologie paradigmatische Naturwissenschaften sind. Der Naturalismus geht dabei insofern aufs Ganze, als er sich auf alles, was es gibt, bezieht. Nach N sollen nicht nur alle Dinge, die es gibt, sondern auch ihre Eigenschaften, die Beziehungen, in denen sie stehen, usw. mit naturwissenschaftlichen Verfahren eruierbar sein. In anderen Worten lassen sich nach N alle wahre Aussagen über die Welt zum Gegenstand naturwissenschaftlich begründeten Wissens machen. Der Naturalismus begnügt sich also nicht mit der These, dass die Naturwissenschaften zu allem etwas sagen können; vielmehr sollen sie sogar zu allem alles sagen können. Das ist mit der Vollständigkeit gemeint, von der in N die Rede ist. Der Naturalismus behauptet dabei nicht, dass wir bereits heute alles wissen oder künftig alles wissen werden; es geht ihm vielmehr um die bloße Möglichkeit, die Welt mit naturwissenschaftlichen Mitteln zu erkennen. Dabei muss der Naturalismus auch nicht in Abrede stellen, dass uns zum Beispiel die Geisteswissenschaften Wissen liefern und unser Verstehen befördern. Er behauptet nur, dass sich all das, was uns die Geisteswissenschaften wissen lassen, auch naturwissenschaftlich wissen lässt, und dies
7
Willard van Orman Quine, Structure and Nature, in: Journal of Philosophy 89 (1992), 5–9, hier 9. Quine schränkt seine Aussage insofern ein, als er sie unter die Bedingung stellt, dass die naturwissenschaftlichen Beschreibungen richtig sind; ob diese Bedingung erfüllt ist, muss für ihn aber durch naturwissenschaftliche Methoden überprüft werden.
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vollständig. Den Geisteswissenschaften bleibe nichts exklusiv vorbehalten. 8 Der Naturalismus, wie wir ihn definiert haben, verbindet zwei philosophische Grundbegriffe, nämlich das Erkennen oder Wissen auf der einen Seite und das Sein auf der anderen Seite. Er behauptet, dass das, was ist, und das, was wir mit naturwissenschaftlichen Mitteln wissen können, zusammenfallen. N stellt daher eine Gleichung auf, die den Umfang eines metaphysischen und eines erkenntnistheoretischen Begriffs identifiziert. Wir können den Naturalismus daher entweder als erkenntnistheoretische oder als metaphysische These auffassen, je nachdem welche der beiden Seiten wir als gegeben betrachten. Aus der Perspektive der Erkenntnistheorie wird das, was ist, als gegeben aufgefasst, und der Naturalismus ist dann eine Auffassung, die die Grenzen der menschlichen Erkenntnis auslotet und außerdem erläutert, wie wir zu diesen Grenzen vordringen können. Aus diesem Blickwinkel erscheint der Naturalismus äußerst optimistisch und daher vielleicht anziehend. Er behauptet nämlich im Kern, dass es keine grundlegenden Grenzen der Erkenntnis gibt. Alles, was ist, lässt sich auch erkennen. Außerdem lässt es sich in einer bestimmten Weise erkennen und erklären, nämlich so wie es die Naturwissenschaften tun. Was für eine großartige Leistung wird dem Menschen damit zugetraut! Interessenvertreter anderer Disziplinen, etwa der Geistes- und Sozialwissenschaften, dürften zwar protestieren, dass ihnen exklusive Erkenntnisleistungen abgesprochen würden. Aber einer breiteren Öffentlichkeit könnte ein solcher Protest kleinlich erscheinen angesichts der optimistischen Sicht, dass der Mensch die Welt ganz und vollständig erkennen kann. Anders sieht es aus, wenn wir die These aus der Perspektive der Metaphysik betrachten. Diese Perspektive nimmt das, was wir mit naturwissenschaftlichen Mitteln wissen können, als gegebene Größe. Der Naturalismus ist dann eine Auffassung darüber, was es wirklich gibt und wie es beschaffen ist. Aus diesem Blickwinkel 8
Etwas anders Keil / Schnädelbach, Naturalismus (Anm. 4), 20 f.
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heraus ist der Naturalismus restriktiv. Er stellt eine Bedingung an das, was es gibt, und an seine Eigenschaften und Beziehungen: Alle Dinge, ihre Eigenschaften und Ursachen müssen mit naturwissenschaftlichen Mitteln eruierbar sein. Diese Bedingung ist deshalb restriktiv, weil die Naturwissenschaften eigentlich nur das thematisieren, was einst Natur genannt wurde, also grob materielle Gegenstände, die sich in Raum und Zeit verorten lassen, und ihre Wechselwirkungen. Sie haben sich zudem zur ontologischen Sparsamkeit verpflichtet, beschreiben in der Physik viele Vorgänge lediglich mit quantitativen Messgrößen, führen komplexe Phänomene auf Einfaches zurück und erklären sie oft durch Mechanismen. 9 Eine Welt, die sich vollständig nur mit naturwissenschaftlichen Mitteln beschreiben und erklären lässt, mag uns daher ziemlich armselig vorkommen. Viele Aussagen, die wir treffen wollen und die wir berechtigterweise zu treffen meinen, haben wenigstens auf den ersten Blick in einer naturwissenschaftlichen Darstellung der Welt nichts zu suchen. In den Naturwissenschaften haben Gott, menschliche Handlungen, Werte und Pflichten, kurz das Normative, literarische Texte und ihre Deutungen, vielleicht sogar alles Geistige keinen Platz, sie werden dort nicht untersucht. Und mehr noch, erst einige dieser Dimensionen verleihen der Welt Bedeutung für uns, erst sie machen die Welt für uns wohnlich. Eine Welt ohne diese Dimensionen kann uns daher dürftig, kalt und leer vorkommen.
3. Herausforderungen für den Naturalismus Nun gibt es allerdings sowohl aus der epistemologischen als auch der metaphysischen Perspektive recht naheliegende Einwände gegen den Naturalismus. Einige lassen sich vermeiden, wenn man den Naturalismus leicht modifiziert, für andere kann man aus na9
Vgl. Gerhard Vollmer, Was ist Naturalismus?, in: Keil / Schnädelbach (Hg.), Naturalismus (Anm. 4), 46–67, hier 50–65.
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turalistischer Sicht Lösungsstrategien entwickeln. Ziel dieses Abschnitts ist es, grundlegende Herausforderungen an den Naturalismus zu benennen, diesen in Auseinandersetzung mit den Problemen weiterzuentwickeln und naturalistische Strategien systematisch zu klassifizieren. Aus epistemologischer Sicht heraus ist die These unhaltbar, dass wir alles wissen, vorhersagen und verstehen können. Ironischerweise haben gerade die Naturwissenschaften selbst immer wieder prinzipielle Grenzen des Wissens festgestellt. Besonders sinnfällig ist in diesem Zusammenhang der sog. Teilchenhorizont, der unser Wissen nach den beiden Relativitätstheorien systematisch beschränkt. Der Horizont entsteht, weil sich Signale nicht schneller als mit der endlichen Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Die Information, die wir heute von fernen Galaxien und anderen Lichtquellen aus dem Universum erhalten, ist damit bereits veraltet. Es ist wie bei einer Postkarte aus Rom, die uns heute erreicht. Diese Karte war einige Tage unterwegs und kann daher bloß widerspiegeln, was vor einigen Tagen in Rom geschah. Weil das Universum nach den Erkenntnissen der Kosmologie ein Alter von ca. 13,8 Milliarden Jahren hat, dürfen Objekte, von denen wir überhaupt jemals Informationen bekommen haben können, nicht zu weit weg von uns sein. Wenn sie zu weit weg sind, reicht nämlich die bisherige Zeit nicht für die Übertragung von Information aus. Da das Universum vermutlich viel größer ist als derjenige Bereich, von dem schon Informationen zu uns gedrungen sein können, gibt es Teile des Weltalls, von denen wir nichts wissen. Vielleicht gibt es dort Dinge, die hier gänzlich unbekannt sind. Eine andere prinzipielle Grenze unseres Wissens markieren die Grenzen der Vorhersagbarkeit, die auf die Quantenmechanik und das deterministische Chaos zurückzuführen sind. In Quantensystemen lässt sich bekanntlich das Ergebnis einer Messung nicht im Detail vorhersagen; man kann lediglich Wahrscheinlichkeiten angeben, mit denen die Messresultate eintreffen. Systeme, die deterministisches Chaos aufweisen wie z. B. ein Doppelpendel, lassen 129 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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sich in ihrer Zeitentwicklung zwar im Prinzip vollständig durch deterministische Gleichungen charakterisieren: Wenn das System isoliert werden kann, dann bestimmt der gegenwärtige Zustand zusammen mit den einschlägigen Naturgesetzen den gesamten Verlauf in der Zukunft. Die Entwicklung des Systems in der Zukunft ist dann eindeutig festgelegt, alternative Entwicklungen sind objektiv ausgeschlossen. Dennoch können wir die zukünftige Entwicklung des Systems nicht vorhersagen. Denn diese Entwicklung hängt in subtiler Weise von den gegenwärtigen Bedingungen ab. Jede noch so kleine Veränderung in den Messgrößen, die den gegenwärtigen Zustand charakterisieren, kann dazu führen, dass sich die zukünftige Entwicklung signifikant ändert. Wenn ich die Anfangsgeschwindigkeiten, mit denen ich die frei beweglichen Elemente eines Doppelpendels versehe, nur minimal variiere, ergibt sich ein qualitativ anderer Verlauf der Bewegung. Da wir den Anfangszustand mit seinen Messgrößen aber niemals beliebig genau bestimmen können, da jede seriöse Messung einen Messfehler aufweist, können wir die Entwicklung des chaotischen Systems nicht einmal qualitativ vorhersagen. Insgesamt lässt sich also nicht leugnen, dass unser Wissen, insbesondere hinsichtlich der Zukunft, systematisch begrenzt ist. Der Naturalismus, so wie wir ihn bisher definiert haben, taxiert unsere Erkenntnisgrenzen daher viel zu optimistisch. Das ist jedoch nicht das Ende des Naturalismus. Naturalisten können als Reaktion erstens auf den modalen Status ihrer These verweisen. Demnach geht es beim Naturalismus darum, dass wir die Welt vollständig mit naturwissenschaftlichen Methoden erkennen können. Dieses Können lässt sich nun so deuten, dass es auf das zielt, was wir im Prinzip mit diesen Methoden erkennen können. Was etwa jenseits unseres Teilchenhorizonts liegt, können wir aufgrund unserer Position in Raum und Zeit derzeit zwar nicht erkennen, aber es ist grundsätzlich mit naturwissenschaftlichen Methoden erkennbar. In der Tat ist die Naturalismus-Diskussion gerade dort am interessantesten, wo es nicht um entlegene Regionen des Weltalls, sondern um uns selbst und unsere nähere Umge130 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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bung geht. Alternativ und zweitens kann der Naturalismus das Problem umgehen, indem er sagt, dass es bei der Erkennbarkeit des Seienden gar nicht um jedes einzelne Detail geht, sondern um die Arten von Dingen, die es gibt, die Eigenschaften, die sie haben können, die Typen von Wechselwirkungen, die zwischen ihnen vermitteln, und so fort. Wieder scheint uns das in der Regel mehr zu interessieren, als das einzelne Tatsachen tun, z. B. darüber, wie viele verrostete Fahrräder es in Chicago gibt. Im Sinne einer dritten Antwort könnte der Naturalismus auch ehrlich einräumen, dass nicht alles mit naturwissenschaftlichen Methoden erkennbar ist, und seine These dahingehend abschwächen, dass alles, was der Mensch erkennen kann, mit naturwissenschaflichen Methoden erkennbar ist. Damit würde der Naturalismus seine optimistische Einschätzung der menschlichen Erkenntnisgrenzen zurücknehmen und sich auf eine Behauptung darüber beschränken, wie wir an diese Grenzen gelangen. Alles, was wir erkennen können, ja vielleicht sogar unsere Erkenntnisgrenzen selbst, wären dann mit naturwissenschaftlichen Mitteln eruierbar. Letzteres ist nicht unplausibel, denn wir haben ja gesehen, wie gerade naturwissenschaftliche Forschung signifikante Erkenntnisgrenzen bestimmt hat. Auch wenn man den Naturalismus aus metaphysischer Perspektive, also als These darüber, was es gibt, betrachtet, gibt es Probleme. Denn nicht alles, was wir heute zu wissen glauben, ist Gegenstand der Naturwissenschaften; es übersteigt mindestens auf den ersten Blick sogar das, was wir dort erkennen und erklären können. Die Bedingung, die der Naturalismus an das, was es gibt, stellt, erscheint daher zu restriktiv. So kennen wir zunächst neben den Naturwissenschaften andere Wissenschaften, insbesondere die Sozial- und Geisteswissenschaften. Die Zusammenhänge, die diese uns über soziale Vorgänge wie über Revolutionen und Moden lehren, die neuen Dimensionen, die sich uns durch die Interpretationen von Texten, Musikstücken und anderen Kunstwerken erschließen, haben offenbar nichts mit naturwissenschaftlicher Erkenntnis zu tun, und man sieht nicht so recht, wie sie mit 131 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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naturwissenschaftlichen Methoden und Begriffen reproduziert werden können sollten. Ähnlich sieht es mit der Mathematik und anderen Strukturwissenschaften wie der Informatik aus. Auch diese Wissenschaften avancieren unser Wissen, ohne sich naturwissenschaftlicher Methoden zu bedienen. Aber sogar jenseits der Wissenschaften gibt es Wissen, das nicht den Naturwissenschaften zugehört. Dazu gehört etwa das Alltagswissen darüber, dass andere Menschen Träger geistiger Zustände sind oder wie es sich anfühlt, in einen Fluss zu springen. 10 Zu nennen ist vielleicht auch unser Wissen um das Gute und Vernünftige, kurz um das Normative. Was gut für uns ist, was wir tun und rationalerweise denken sollten, kann kein Gegenstand der Naturwissenschaften werden, wenn diese, wie häufig angenommen, der Wertneutralität verpflichtet sind. Im Zusammenhang der Säkularisierung ist schließlich besonders der Diskursbereich des Religiösen zu nennen. Eine gläubige Person mag vielleicht nicht den Anspruch erheben, von Gott zu wissen, aber sie dürfte wenigstens die Annahme, dass es Gott gibt, für eine Auffassung halten, für die sich gute Gründe angeben lassen. Der Naturalismus hingegen stellt Gott in Abrede, wenigstens sofern sich dessen Existenz nicht mit naturwissenschaftlichen Mitteln dartun lässt. Man mag sich über das eine oder andere der genannten Gebiete streiten, für die wenigstens einige Menschen Wissen oder begründete Auffassungen reklamieren. Insgesamt, so scheint es aber, gibt es in jedem Fall Dinge, die wir wissen, ohne dass wir uns dafür naturwissenschaftlicher Methoden bedienten oder auch nur bedienen könnten. Wenn das richtig ist, dann geht die Gleichung, die der Naturalismus aufstellt, nicht auf, weil das, was es gibt, umfassender ist als das, was mit naturwissenschaftlichen Methoden eruiert werden kann. Der Naturalismus verfügt im Wesentlichen über zwei Strategien, um mit Wissensansprüchen umzugehen, die sich wenigstens 10
Vgl. Thomas Nagel, How is It like to Be a Bat, in: The Philosophical Review 83 (1974), 435–450.
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scheinbar naturwissenschaftlichen Zugangsweisen entziehen. Die erste und sicher wichtigste Strategie kann man eingemeindend oder auch naturalisierend nennen. Sie geht im Kern davon aus, dass das, was durch die Naturwissenschaften erkennbar ist, umfassender ist, als es auf den ersten Anschein aussieht. Konkreter versucht sie darzutun, dass sich das, was wir in Bezug auf ein bestimmtes Feld wissen, doch auf naturwissenschaftliche Ergebnisse zurückführen lässt. Die entsprechenden naturwissenschaftlichen Ergebnisse müssen dabei noch nicht bereits vorliegen, denn der Naturalismus bezieht sich ja nicht auf den derzeitigen Wissensstand in den Naturwissenschaften. Was aber heißt es genau, etwas, das wir wissen, auf (eventuell künftige) naturwissenschaftliche Resultate zurückzuführen oder zu reduzieren, wie man auch sagt? Betrachten wir als Beispiel unser Wissen über Würfel, wie sie in Gesellschaftsspielen verwendet werden. Wir kennen die Eigenschaften von Würfeln im Allgemeinen, wissen aber vielleicht auch, dass bestimmte Würfel gewisse Eigenschaften aufweisen, zum Beispiel ungezinkt sind. Den Inhalt unseres Wissens können wir durch Aussagen erfassen, zum Beispiel die Aussage, dass ein bestimmer Würfel ungezinkt ist. Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass wir alles, was wir über Würfel wissen, in einer Alltagstheorie über Würfel systematisiert haben. Da Würfel eine gewisse Funktion in Spielen und damit in sozialen Zusammenhängen haben, bilden sie keinen offensichtlichen Gegenstand der Naturwissenschaften. Man kann aber versuchen, unser Wissen über Würfel, das in der Alltagstheorie über Würfel zusammengefasst ist, naturwissenschaftlich zu rekonstruieren. Dazu geht man praktischerweise von einer naturwissenschaftlichen Theorie aus und versucht, unser Wissen über Würfel auf diese Theorie zu reduzieren: Man konstruiert aus den Gegenständen, von denen die Theorie ausgeht, Objekte, die Würfeln entsprechen. Eine physikalische Theorie, die von Atomen ausgeht, könnte als Korrelate von Würfeln Atomkomplexen anbieten, die die Form und Größe von Würfeln haben. Ähnlich gibt 133 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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man für die Eigenschaften von und die Beziehungen zwischen Würfeln Korrelate aus der Atomtheorie an. Auf der begrifflichen Ebene legt das eine Übersetzung zwischen der Alltagssprache über Würfel und der Sprache der Atomtheorie nahe. Einem Begriff der Alltagssprache wird ein Korrelat-Begriff assoziiert. Dem Begriff des Würfels etwa wird der Begriff eines in gewisser Weise strukturierten Atomkomplexes assoziiert. Der sprachliche Ausdruck „so und so strukturierter Atomkomplex“ kann dann als naturwissenschaftliche Übersetzung des Worts „Würfel“ angesehen werden. Eine gelungene Reduktion der Alltagstheorie auf die Atomtheorie erfordert nun zunächst, dass die Welt der Korrelate gemäß der Atomtheorie genau der Welt der echten Würfel entspricht. Wenn zum Beispiel ein bestimmter Würfel gezinkt ist, dann muss das Korrelat dieses Würfels das Korrelat der Eigenschaft Gezinktheit besitzen. Wir haben also mit der Theorie eine perfekte Modellwelt der Würfel aufgebaut. Die Korrelate können daher auch als Substitute für Würfel dienen. Eine zweite Bedingung an eine Reduktion erfordert, dass die Würfel und ihre Korrelate auch empirisch korreliert sind, d. h. dass immer dort, wo ein Würfel ist, auch ein Korrelat des Würfels, d. h. ein Gegenstand, wie ihn die Atomtheorie vorsieht, konkret also ein geeigneter Atomkomplex, vorliegt. Im Fall der Würfel ist diese Bedingung klarerweise erfüllt, denn es gehört schon zu unserem Alltagswissen über Würfel, dass diese materielle Gegenstände einer bestimmten Form sind, und kaum jemand bestreitet, dass materielle Gegenstände aus Atomen aufgebaut sind, wie sie aus Physik und Chemie bekannt sind. Von einer gelungenen Zurückführung fordert man schließlich auch noch, dass sich die Eigenschaftszuschreibungen, die wir in der Modellwelt machen, direkt aus der Theorie und den Korrelationsregeln ableiten lassen. Dass ein Korrelat eines Würfels das Korrelat von Gezinktheit als Eigenschaft hat, muss also im Wesentlichen aus der Theorie folgen. Wenn das so ist, dann erklärt die Theorie, welche Eigenschaften die Korrelate haben und welche Beziehungen zwischen den Korrelaten bestehen. Und insofern wir die Korrelate als Substitute der echten Würfel ansehen, kön134 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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nen wir einen Analogieschluss durchführen und auf die echten Würfel schließen. Weil das Korrelat des Würfels das Korrelat einer gewissen Eigenschaft hat, muss der Würfel selbst diese gewisse Eigenschaft haben. Damit erklären wir das Verhalten der echten Würfel. Dazu leiten wir die Aussagen der Alltagstheorie mithilfe der Aussagen der Atomtheorie und der Übersetzungsregeln her. Wenn all das funktioniert, dann spricht man von einer Theorienreduktion. Gelingt eine solche, so geht man oft einen Schritt weiter und nimmt eine sog. ontologische Reduktion vor. Diese ontologische Reduktion identifiziert die Würfel mit ihren Korrelaten in der Theorie, in unserem Fall also mit so und so strukturierten Atomkomplexen. Die ontologische Reduktion mündet also etwa in die Aussage: Würfel sind so und so strukturierte Atomkomplexe. Bestimmte Atomkomplexe sind dann nicht mehr bloß Korrelate oder Substitute von Würfeln, sondern eben Würfel selbst. Ebenso werden die Eigenschaften, die Würfel haben, mit Eigenschaften identifiziert, die Atomkomplexe betreffen. Damit ist ein bestimmter Gegenstandsbereich erfolgreich in den Bereich des naturwissenschaftlich Erkennbaren eingemeindet. Würfel sind dann einfach nur Atomkomplexe, deren Verhalten sich vollständig mit der Atomtheorie beschreiben lässt. All das, was wir über Würfel wissen, ist letztlich naturwissenschaftlicher Art, weil es in einer naturwissenschaftlichen Theorie aufgehoben ist. 11 Wie sieht es nun mit den bisherigen Erfolgen der reduktiven Strategie aus? In der Wissenschaftstheorie hat man im Detail bisher nur untersucht, ob sich bestimmte etablierte naturwissenschaftliche Theorien auf andere reduzieren lassen. Diese Untersuchungen haben sich als sehr kompliziert erwiesen. Reduktionsbeziehungen der Art, wie wir sie informell beschrieben haben, 11
Zwei wichtige Versuche, den Begriff der Reduktion zwischen Theorien zu präzisieren, finden sich in: Ernest Nagel, The Structure of Science: Problems in the Logic of Scientific Explanation, London 1961, Kapitel 11 und in Erhard Scheibe, Die Reduktion physikalischer Theorien. Ein Beitrag zur Einheit der Physik, 2 Bände, Heidelberg 1997 und 1999.
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findet man fast nicht. Es gibt viele Komplikationen, und mögliche Reduktionsrelationen selbst zwischen bestehenden naturwissenschaftlichen Theorien sind bisher noch nicht erschöpfend untersucht und teilweise umstritten. 12 Auf bereits etablierte Reduktionsbeziehungen kann sich der Naturalismus also kaum stützen. Es gibt allenfalls einfache Versuche, bestimmten Dingen oder Eigenschaften naturwissenschaftliche Korrelate zuzuordnen. In diesem Sinne schlagen etwa Vertreter des sogenannten ethischen Naturalismus vor, das moralische Gutsein mit Eigenschaften zu identifizieren, die in den Naturwissenschaften, etwa der Biologie, untersucht werden. 13 Man kann diesen Vorschlag als ersten Schritt zu einer Reduktion auffassen. Dass ein bestimmtes Wissensgebiet vollständig Gegenstand naturwissenschaftlichen Wissens ist, wird aber nur durch eine erfolgreiche Reduktion aufgewiesen. Die Aussichten, ein solches Reduktionsprogramm erfolgreich durchzuführen, sind auch nicht besonders gut. Eine Reduktion ist immer dort unmöglich, wo sich in naturwissenschaftlichen Theorien keine geeigneten Korrelate für Gegenstände oder Eigenschaften finden, die bisher nicht Objekt naturwissenschaftlicher Forschung sind. So könnte man in unserem Beispiel der Würfel geltend machen, dass die anvisierte Reduktion nicht gelingen kann, da sich in der Atomtheorie keine adäquaten Korrelate für Würfel finden lassen. Der Begriff des Würfels lässt sich nicht korrekt in den Begriff eines so und so beschaffenen Atomkomplexes übersetzen, da der Begriff des Würfels nicht bloß durch Größe und Gestalt definiert werden kann, sondern auch eine gewisse Funktion oder einen Gebrauch einschließt. Wenn sich der Ge12
Siehe Robert Batterman, Intertheory Relations in Physics, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2012 Edition), hg. von E. N. Zalta, URL = hhttp://plato.stanford.edu/archives/fall2012/entries/physics-interrelate/i, hier Abschnitt 1, Fußnote 1. 13 Für eine Diskussion siehe etwa David Owen Brink, Moral Realism and the Foundations of Ethics, New York 1989, hier 22 f. und 156–167 und Peter Schaber, Moralischer Realismus, Freiburg i. Br. / München 1997, hier 90–104.
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brauch jeder naturwissenschaftlichen Beschreibung entzieht, dann misslingt die reduktive Strategie allgemein. Eine erfolgreiche Reduktion auf die Naturwissenschaften setzt auch voraus, dass alles, was wir über ein Feld wissen, in der naturwissenschaftlichen Theorie aufgehoben ist. Bevor das nicht der Fall ist, können wir keine Identifikation vornehmen, sondern nur von Korrelaten oder Substituten ausgehen. So wäre es im Falle unseres Beispiels unangemessen, die Würfel mit den Atomkomplexen zu identifizieren, denn Würfel spielen eine gewisse Rolle in Spielen, sie haben gewisse soziale Funktionen, die sich der Atomtheorie entziehen. Die reduktive Strategie läuft daher allgemein Gefahr, ein Wissensgebiet bloß in oberflächlicher Weise zu vereinnahmen, ohne in seine Tiefe vorzudringen. Selbst wenn die Voraussetzungen für eine ontologische Reduktion vorliegen, gibt es eine Subtilität. Es fragt sich nämlich, welchen Status die Identifikation der Gegenstände des einzugemeindenden Gebiets mit Objekten aus der naturwissenschaftlichen Theorie hat. Welchen Status hat etwa die Aussage, dass Würfel einfach so und so aufgebaute Atomkomplexe sind? Man kann sich wenigstens unter gewissen Voraussetzungen auf den Standpunkt stellen, dass die Identifikation nicht rein naturwissenschaftlicher Art ist, da sie ja Dinge, die ursprünglich nicht durch die Naturwissenschaften beschrieben wurden, mit naturwissenschaftlichen identifiziert. Die Brücke, die die Verbindung zu dem bisher nicht naturwissenschaftlich Beschriebenen herstellt, kann nicht rein naturwissenschaftlich sein, so scheint es. Wenn das in einigen Fällen zutrifft, dann rechtfertigt nicht einmal eine ontologische Reduktion den Naturalismus. 14 14
Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass die naturalistische Eingemeindung von Wissensgebieten nicht auf einer Theorienreduktion aufbauen muss, sondern dass dafür die Etablierung einer schwächeren Abhängigkeitsbeziehung, z. B. einer Supervenienzbeziehung, hinreichen würde (siehe dazu etwa Ritchie, Understanding, Anm. 5, 117–119). Wenn aber z. B. Tatsachen über unser Bewusstsein von naturwissenschaftlich erkennbaren Tatsachen abhängen, so impliziert das noch nicht, dass all unser Wissen über Bewusstseinsphänomene natur-
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Die zweite naturalistische Strategie ist komplementär zur ersten und geht davon aus, dass das, was es gibt, weniger umfasst, als wir anzunehmen geneigt sind, und dass es weniger Eigenschaften und Beziehungen gibt als von uns gerne gedacht. Die Geltung der naturalistischen Gleichung soll also aufrecht erhalten werden, indem bestimmte Bereiche oder Dimensionen der Wirklichkeit in Abrede gestellt werden. Man kann das als konsequente Anwendung von Ockhams Rasiermesser verstehen, einer methodologischen Regel, der zufolge wir nicht mehr Gegenstände postulieren sollten als notwendig. Die entsprechende Strategie heißt oft eliminativ, allerdings ist selbst die Elimination nur scheinbar, da ja behauptet wird, dass das, was in Abrede gestellt wird, auch vorher nicht existierte. Angewandt auf die Moral leugnet die Eliminationsstrategie etwa im Kern, dass Handlungen und Charakteren moralische Eigenschaften zukommen und dass es so etwas wie objektive Werte gibt. Damit werden nicht nur bestimmte Wertzuschreibungen verneint; vielmehr wird die Wahrheit aller Wertzuschreibungen in Abrede gestellt. Dass sich Werte einer naturwissenschaftlichen Beschreibung entziehen, wäre damit kein Problem mehr. Die Leugnung einer moralischen Dimension der Wirklichkeit wirft natürlich als Folgelast die Frage auf, wie moralische Urteile zu verstehen sind. Es gibt unterschiedliche Versuche, diese Frage zu beantworten. Die sogenannte Irrtumstheorie geht davon aus, dass moralische Urteile zwar Aussagen über die Welt machen wollen, aber damit scheitern. 15 Dem Expressivismus zufolge drücken moralische Urteile hingegen Gefühle oder andere handlungsleitende Einstellungen aus. 16 Wenn der Expressivismus richtig ist, dann haben moralische Urteile durchaus ihre Funktion; es besteht dann kein Grund, auf sie zu verzichten. Dennoch wissenschaftlicher Art ist. Damit wäre die Grundthese des Naturalismus, wie er hier definiert wurde, nicht vindiziert. 15 John Leslie Mackie, Ethics: Inventing Right and Wrong, Harmondsworth 1977. 16 Zum Beispiel Alan Gibbard, Wise Choices, Apt Feelings, Cambridge (MA) 1990.
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muss man fragen, ob die alternativen Deutungen moralischer Urteile, die vorgeschlagen wurden, überzeugend sind. 17 Insgesamt ist die eliminative Strategie nur dann erfolgreich, wenn überzeugend dargetan wird, dass eine bestimmte Dimension der Wirklichkeit nicht existiert, und wenn unsere diesbezüglichen Urteile erklärt werden. Zur Eliminationsstrategie gibt es eine Variante. Diese stellt nicht in Abrede, dass wir genuines Wissen über ein bestimmtes Gebiet haben, und räumt weiter ein, dass sich dieses Feld naturwissenschaftlichen Methoden entzieht. Sie klammert dieses Wissensfeld aber mit der Begründung aus, dass es dabei gar nicht um die Wirklichkeit geht. Diese Strategie kann man besonders gut an der Mathematik erklären. Niemand wird leugnen wollen, dass wir Wissen über die natürlichen Zahlen 1, 2, 3 etc. besitzen. Außerdem wurde dieses Wissen nicht über Experiment und Beobachtung oder andere naturwissenschaftliche Methoden gewonnen. Es wird aber manchmal behauptet, dass dieses Wissen rein analytisch im Sinne von Kant ist. Wahre Urteile über Zahlen wären dann im Wesentlichen Folgerungen aus der Definition der Zahlen. Bereits Frege hat versucht, die Arithmetik auf die Logik und damit auf analytische Urteile zurückzuführen. Heute wird Freges Programm von den sog. Neo-Fregeanern weiterentwickelt. 18 Wenn arithmetisches Wissen in der Tat analytisch ist, dann kann man es mit der Begründung ausklammern, dass es letztlich kein Wissen über unsere Welt ist, und den Naturalismus auf das, was es in der Welt gibt, beschränken. In einem ähnlichen Sinne schränkt Hume den Empirismus auf das Tatsachenwissen ein. 19 Die Strate17
Ein wichtiger Einwand gegen den Emotivismus findet sich in Peter Geach, Assertion, in: The Philosophical Review 74 (1965), 449–465. 18 Etwa Crispin Wright, Frege’s Conception of Numbers as Objects, Aberdeen 1983. 19 Etwa David Hume, An Inquiry Concerning Human Understanding, Sec. IV. Die Eingrenzung auf Tatsachen muss nicht als nachträgliche Modifikation des Naturalismus gedacht sein, sondern könnte von Anfang an im Naturalismus mitgemeint sein.
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gie des Ausklammerns ist allerdings gefährlich, denn sie übergeht die substanzielle Frage, was zur Welt und zur Wirklichkeit gehört. Wie ist es etwa mit unserem Wissen darüber, was möglich ist? Bezieht sich dieses auf andere mögliche Welten und damit nicht mehr auf unsere Wirklichkeit? Es kann sicher nicht angehen, Wissensbereiche oder -dimensionen beliebig auszuklammern. Es müssen schon sehr starke unabhängige Gründe vorliegen, das zu tun. Aus diesem Grund spielt die Ausklammerungsstrategie im Allgemeinen auch nur eine untergeordnete Rolle. Die naturalistischen Strategien, die wir genannt haben, also die vereinnahmende, die eliminative und die Ausklammerungsstrategie lassen sich natürlich auch kombinieren. So kann man auf einige Gebiete, z. B. den menschlichen Geist, die naturalisierende, auf andere, etwa die Moral, die eliminative Strategie anwenden. Die Diskussion um den Naturalismus muss in jedem Fall auf vielen sehr unterschiedlichen Feldern geführt werden. In Bezug auf unterschiedliche Wissensgebiete ist zu fragen, ob sich sein Gehalt naturalisieren lässt, ob unser Wissen nur ein angebliches ist und, wenn nicht, ob es sich begründetermaßen ausklammern lässt. Die Naturalismus-Debatte wird daher in der Tat in Bezug auf ganz unterschiedliche Felder geführt, und die Überlegungen, die im Zusammehang dieser Felder angestellt werden, unterscheiden sich signifkant. Dass sich die Debatte so aufspaltet, ist offenbar der Preis, den der Ganzheits- und Vollständigkeitsanspruch des Naturalismus mit sich bringt. Die naturalistischen Strategien lassen sich auch innerhalb eines bestimmten Bereichs kombinieren. So könnte der Naturalismus versuchen, unsere moralischen Urteile, die wir zu unserem Wissen zählen, genau zu analysieren. Einige von ihnen oder bestimmte Implikationen dieser Urteile lassen sich vielleicht in naturwissenschaftliche Theorien eingemeinden. Andere müssen wir womöglich als Illusion abtun. Wenn dann noch etwas übrigbleibt, so darf das dem Naturalismus zufolge nicht streng zur Wirklichkeit gehören. Die Kombination der Strategien ist erfolgreich, wenn sich alles, was wir zu wissen glauben, so in Teile zerlegen lässt, dass für 140 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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jeden Teil eine der naturalistischen Strategien überzeugend ist. Während Naturalisten behaupten, dass ihre Strategien erfolgreich angewandt werden können, bestehen Anti-Naturalisten demgegenüber darauf, dass die naturalistischen Strategien sozusagen einen Rest übrig lassen, so dass die Rechnung der Naturalisten nicht aufgeht. Wer in einem bestimmten Bereich erfolgreicher ist, muss sich in jedem einzelnen Feld zeigen. Streng genommen müssen die Vertreter des Naturalismus dabei nicht positiv zeigen, wie sich alle Wissensgebiete naturalistisch deuten lassen, denn dem Naturalismus geht es ja nur darum, alles Wirkliche mit dem zu identifizieren, was vollständig naturwissenschaftlich untersucht werden kann. Der überzeugendste Beweis, dass etwas möglich ist, ist aber noch immer dessen Wirklichkeit. Aber wenn das so ist, warum vertreten einige Personen in der Philosophie explizit einen Naturalismus und warum wenden sich andere dagegen? Warum wartet man nicht, wie erfolgreich sich die genannten naturalistischen Strategien auf unterschiedliche Bereiche anwenden lassen, für die wir uns Wissen zuschreiben? Warum spekuliert man über die Erfolgsaussichten der naturalistischen Strategien und versucht mit ungedeckten Schecks zu bezahlen, anstatt in barer Münze seine philosophischen Verpflichtungen hier und heute zu erfüllen? Nun, ganz unverständlich ist das nicht. Wir Menschen neigen zu Verallgemeinerungen, und daher bilden wir uns so allgemeine Ideen wie die, dass alles durch Naturwissenschaften erfass- und erklärbar sein soll. Solche Ideen können fruchtbar sein, weil sie ein interessantes Forschungsprogramm stimulieren und Richtungen für künftige Forschung vorgeben. 20 In der Philosophie finden sich nun in der Tat auch einige Argumente, die sehr allgemein für oder wider den Naturalismus sprechen. Diesen Argumenten wende ich mich im Folgenden zu.
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Der programmatische Charakter des Naturalismus wird etwa auch von Vollmer, Naturalismus (Anm. 9), hier S. 50 und S. 64 hervorgehoben.
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4. Allgemeine Argumente für und gegen den Naturalismus Eine erste pro-naturalistische Überlegung wurde bereits eingangs angedeutet. Sie extrapoliert den bisherigen Erfolg der Naturwissenschaften. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass die Naturwissenschaften immer mehr Wissensgebiete vereinnahmt haben. Auf diesen konnten sie zum einen teilweise das bisherige Wissen mit naturwissenschaftlichen Methoden rechtfertigen, in naturwissenschaftliche Theorien übersetzen und damit zu naturwissenschaftlichem Wissen machen. Auch wenn noch keine explizite Theorienreduktion erfolgt ist, lassen die Leistungen der Naturwissenschaften auf den in Rede stehenden Gebieten eine solche Reduktion als möglich erscheinen. Auf der anderen Seite hat die naturwissenschaftliche Forschung dort bisherige Irrtümer eliminiert und unser Wissen bedeutend erweitert. Aus diesen Beobachtungen wird im Rahmen eines induktiven Arguments geschlossen, dass sich die beschriebene Entwicklung bis zu dem Punkt fortsetzen lässt, an dem alles, was ist, vollständig naturwissenschaftlich beschrieben ist. An diesem Punkt wäre dann die naturalistische Gleichung zwischen dem, was es gibt, und dem naturwissenschaftlich Wissbaren erreicht. Ob dieser Punkt in der Tat jemals erreicht wird, ist dabei ohne Belang für das Argument, denn dem Naturalismus geht es nicht um das, was wir aufgrund naturwissenschaftlicher Methoden wissen werden, sondern um das, was wir auf diese Weise wissen können. 21 Betrachten wir als Beispiel unser Wissen über die körperliche Gesundheit des Menschen. In vielen alten Kulturen gab es Vorstellungen darüber, wie diese Gesundheit beeinträchtigt und wiederhergestellt werden kann. Diese Vorstellungen gehen oft von Kräften aus, die wir heute als übernatürlich bezeichnen. Die mo21
Siehe etwa Paul Oppenheim und Hilary Putnam, Unity of Science as a Working Hypothesis, in: Minnesota Studies in the Philosophy of Science, Band II, Theories, Concepts and the Mind-Body Problem, hg. von Herbert Feigl, Michael Scriven und Grover Maxwell, Minneapolis 1958, 3–36, hier besonders 13 f. Vgl. auch Ritchie, Understanding (Anm. 5), 111–113.
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derne, naturwissenschaftlich geprägte Medizin gilt diesen Vorstellungen als haushoch überlegen. Insofern die Vorstellungen antiker Hochkulturen in der Tat Einsichten in die Gesundheit des Menschen enthalten, sind diese in der modernen Medizin aufgehoben. Diese Einsichten werden dort in einer präziseren Sprache wiedergegeben, sind empirisch bestätigt und vernetzt mit anderem naturwissenschaftlichen Wissen, über das man früher nicht verfügte. Vielleicht sind die Einsichten sogar auf einer biologischen oder chemischen Ebene erklärbar. In jedem Fall lassen sich diese Einsichten als Teil von naturwissenschaftlichem Wissen ansehen und so naturalisieren. Andere Aspekte der ehemaligen Vorstellungen werden hingegen mit guten Gründen verworfen. An diesem Punkt war also eine Elimination erfolgreich. Der Naturalismus extrapoliert nun zunächst innerhalb des Bereichs der Medizin diese historischen Entwicklungen, um zu behaupten, dass die körperliche Gesundheit des Menschen vollständig mit naturwissenschaftlichen Methoden beschrieben werden kann. Diese Argumentation wird dann in einem zweiten Schritt auch auf andere Wissensfelder verallgemeinert. Man mag einwenden, es gebe einige Verfahren etwa der traditionellen chinesischen Medizin, deren Wirkungen der modernen Schulmedizin entgingen. Naturalisten würden darauf antworten, dass die Wirksamkeit dieser Verfahren in der Zukunft naturwissenschaftlich beschrieben werden kann oder aber letztlich illusionär ist. Wie überzeugend ist dieses erste, induktive Argument? Mehr als eine Plausibilitätserwägung gibt es keinesfalls her. Das liegt vor allem daran, dass alle Extrapolationen oder Verallgemeinerungen nur solange vernünftig sind, als wir keine Gründe kennen, die die Extrapolation in Zweifel ziehen. Die goldgelbe Farbe einer Reihe von Löwen kann man nur solange auf alle Löwen übertragen, wie Indizien dafür fehlen, dass es andersfarbige Löwen gibt. Im Zusammenhang der Naturwissenschaften gibt es durchaus Gründe zu denken, dass die Extrapolation des bisherigen Erfolgs an Grenzen stößt. So könnte man insbesondere einwenden, dass es Felder gibt, von denen wir uns nicht so recht vorstellen können, wie man 143 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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naturalistisch mit ihnen umgehen könnte. Man könnte das eventuell damit begründen, dass die Naturwissenschaften bestimmte methodische Einschränkungen vornehmen (man denke hier an die Wiederholbarkeit und andere Bedingungen, die man an gute Experimente stellt) und dass diese Einschränkungen die Untersuchung bestimmter Felder von vornherein verbieten. 22 Außerdem erscheint die Extrapolation insbesondere deshalb als gewagt, weil die Naturwissenschaften zu disparat sind, als dass sie der Gegenstand generalisierender Extrapolationen sein könnten. 23 Die Disparatheit der Naturwissenschaften lässt nicht nur die Extrapolation auf die Zukunft als problematisch erscheinen. Sie schafft weitere Probleme für den Naturalismus, die ich nun entfalten und diskutieren möchte. Diese Probleme könnte man unter dem Slogan zusammenfassen, dass der Naturalismus die Naturwissenschaften gründlich missversteht. Der Naturalismus, so könnte man die folgenden Einwände bildlich vorwegnehmen, porträtiert die Naturwissenschaften als ein Sportteam, das ein einheitliches Kollektiv bildet und mit Effizienz von Sieg zu Sieg eilt. In Wirklichkeit hätten wir es aber mit einer Gruppe von Individuen zu tun, die oft mehr gegen- als miteinander spielten, die das Fairplay mitunter durch ein Foul verletzten, von denen machmal einige ausgewechselt und sogar an andere Vereine verkauft werden müssten und die so manche Niederlage, ja manchmal sogar einen Klassenverlust einstecken müssten. Denn die modernen Naturwissenschaften, so die Idee weiter, seien eine Hervorbringung menschlicher Kulturtätigkeit und damit ein durch und durch menschliches und historisch wandelbares Unterfangen mit vielen Gesichtern. Wenn man das in Rechnung stelle, dann lasse sich der Naturalismus nicht nur nicht verteidigen, sondern werde vage, blass und daher uninteressant. 22
In diesem Sinne argumentiert in Bezug auf die moderne Gehirnforschung etwa Brigitte Falkenburg, Mythos Determinismus, Berlin / Heidelberg 2012, hier Kapitel 4. 23 Ähnliche Argumente finden sich in Ritchie, Understanding (Anm. 5), 112 f.
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Diese Überlegungen sind wissenschaftsphilosphischer Art, denn sie gehen von bestimmten Auffassungen darüber aus, was die Naturwissenschaften sind, wie sie sich entwickeln und welchen Erkenntniswert ihre Ergebnisse besitzen. Daher sollen die Überlegungen mit wissenschaftsphilosophischen Argumenten untersucht werden. Zunächst scheint der Naturalismus die Historizität der Wissenschaften zu verdrängen. Wie Kuhn in seinem vor etwa fünfzig Jahren erschienenen Hauptwerk 24 argumentiert hat, häuft die naturwissenschaftliche Forschung nicht fortlaufend Wissen an; vielmehr ist sie durch Brüche gekennzeichnet, in denen bisher etablierte Theorien durch andere, mit ihnen unvereinbare Vorstellungen ersetzt wurden. Einen dieser Brüche markiert die Entwicklung von Einsteins Relativitätstheorien, die die klassische Mechanik über den Haufen geworfen haben und auch unsere Vorstellungen von Raum und Zeit tiefgreifend revidiert haben. Kuhn selbst behauptet weiter, dass sich diese Umbrüche nicht eindeutig als Fortschritt deuten lassen und dass sie sich nicht allein auf der Basis guter Argumente und empirischer Belege vollziehen. Zwar bilde sich ein neuer Konsens aus, aber die Konsensbildung unterliege nicht bloß reiner Sachlogik, sondern müsse etwa auch mit psychologischen Mitteln erklärt werden. Denn bei den besagten Umbrüchen stünden sich letztlich zwei Weltsichten gegenüber, deren Vor- und Nachteile sich nicht von einem neutralen Terrain aus bilanzieren ließen. Damit verabschiedet sich Kuhn von der Idee, dass die Naturwissenschaften objektives Wissen über die Welt gewinnen und dass sie sich der Wahrheit annähern. Wenn er damit richtig liegt, dann scheint es falsch, die Wirklichkeit mit dem, was sich mit naturwissenschaftlichen Mitteln herausfinden lässt, gleichzusetzen, denn die Naturwissenschaften kommen dann ja gar nicht richtig an die Wirklichkeit heran. Diese Argumentation ist jedoch aus mindestens zwei Gründen 24
Thomas Samuel Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962.
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wenig überzeugend, und dies recht unabhängig davon, was man von Kuhns weiterhin umstrittenen Ansichten im Detail hält. Erstens beruht auch diese Argumentation auf einer problematischen Extrapolation. Kuhn hat zwar sicher Recht, wenn er herausstreicht, dass viele etablierte Theorien durch mit ihnen unvereinbare Nachfolgertheorien ersetzt wurden. Aber muss diese Entwicklung immer so weiter gehen? Könnte es nicht sein, dass sich irgendwann auf einem Gebiet eine Theorie oder Auffassung dauerhaft durchsetzt und so stabilisiert, dass sie nicht mehr durch neue Theorien ersetzt wird? Wenn das so ist – und es gibt sogar einige Gründe, die für diese Sicht sprechen 25 –, dann führt die Einsicht in die historische Wandelbarkeit bisheriger naturwissenschaftlicher Forschung nicht mehr zum Schluss, dass die Naturwissenschaften nicht zu objektivem Wissen kommen können. Damit stehen der naturalistischen Gleichung keine Zweifel an der Objektivität mehr im Weg. Aber auch aus einem anderen Grund scheint es wenig aussichtsreich, allein mit Kuhn dem Naturalismus entgegentreten zu wollen. Denn von Wissensgebieten, die sich einer Vereinnahmung durch die Naturwissenschaften entziehen könnten, sagen wir von der Moral, ist ja bei Kuhn gar nicht die Rede. Selbst wenn sich die Wissenschaften so entwickeln, wie Kuhn das annimmt, können sie immer noch einen epistemischen Vorzug gegenüber anderen Wissensformen genießen, und es wäre möglich, dass sich all das, was wir einigermaßen begründet über die Wirklichkeit aussagen könnten, in einer bestimmten Ausprägung einer Naturwissenschaft aufheben ließe. Wir könnten dann zwar nicht alles, was wir auf einem bestimmten Gebiet begründeterweise sagen wollen, auf eine naturwissenschaftliche Theorie zurückführen, aber doch jede einzelne Frage, jedes Problem oder Rätsel, das uns ein Gebiet aufgibt, im Rahmen naturwissenschaftlicher Tätigkeit
25
Ludwig Fahrbach, How the Growth of Science Ends Theory Change, in: Synthese 180 (2011), 139–155.
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lösen. Wir hätten es damit mit einem Pluralismus zu tun, der unterschiedliche Theorien auf einem Gebiet zulässt, zum Beispiel weil sie einen Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Ein solcher Perspektivenpluralismus kann aber naturalistisch sein; er ist es dann, wenn er die Perspektiven auf naturwissenschaftliche Theorien beschränkt. Damit ist eine historisierende Sicht, wie sie Kuhn vertritt, nicht unbedingt angetan, dem Naturalismus entgegenzutreten. Allerdings ergibt sich ein Problem für den Naturalismus, wenn wir weniger die historische Tiefe als vielmehr die synchrone Breite der Naturwissenschaften betrachten. 26 Der Naturalismus bezieht sich nämlich generalisierend auf die Naturwissenschaften und kontrastiert diese implizit mit anderen Erkenntnisbemühungen. Denn nur das, was mit naturwissenschaftlichen Mitteln beschrieben werden kann, soll ja dem Naturalismus zufolge existieren. Diese These ist nur dann sinnvoll, wenn sich die Naturwissenschaften klar von anderen Erkenntnisbemühungen abgrenzen lassen. Wenn das nicht der Fall ist, fragt sich, warum nur das, was naturwissenschaftlich erkennbar ist, existieren soll. Dabei muss die Abgrenzung einen signifikanten epistemischen Vorzug der Naturwissenschaften vor anderen Wissensformen benennen, damit sich der oben beschriebene Vollständigkeits- und Ganzheitsanspruch des Naturalismus einlösen lässt. Denn nur dann lässt sich aus der Sicht des Naturalismus eine plausible Antwort auf die Frage geben, warum nur das, was naturwissenschaftlich erkennbar ist, existieren soll. Aus naturalistischer Perspektive kann man die Naturwissenschaften nun nicht über deren Untersuchungsgegenstände von anderen Erkenntnisbemühungen abgrenzen, denn der Naturalismus möchte das naturwissenschaftlich Erkennbare ja mit allem, was ist, gleichsetzen, und es wäre kontraproduktiv, in dieser naturalis26
Meine Argumentationsstrategie folgt hier Geert Keil, Naturalismus und Intentionalität, in: Keil / Schnädelbach, Naturalismus, 187–204, hier 187–190 und Keil / Schnädelbach, Naturalismus (Anm. 4), hier 24–31.
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tischen Gleichung Ersteres von vornherein auf gewisse Gegenstände einzuschränken. Der Naturalismus ist etwa im Vergleich zum Materialismus gerade deshalb vergleichsweise plausibel, weil er sich nicht von vornherein auf die Auffassung festlegt, dass alles letztlich nur etwas Bestimmtes, zum Beispiel Materie, ist. Wenn man die Naturwissenschaften über bestimmte Untersuchungsgegenstände charakterisieren wollte, wäre es außerdem schwierig zu erklären, warum uns die Naturwissenschaften alles erkennen lassen sollen. Denn die Tatsache, dass die Naturwissenschaften bestimmte Gegenstände untersuchen, definiert noch keinen epistemischen Vorzug der Naturwissenschaften. Aus ähnlichen Gründen kann der Naturalismus auch nicht eine besondere Untersuchungsperspektive heranziehen, um die Naturwissenschaften von anderen Erkenntnisanstrengungen zu unterscheiden. Denn der Naturalismus behauptet ja auch, dass sich alles mit Mitteln der Naturwissenschaften vollständig beschreiben lässt. Dieser Vollständigkeitsanspruch ist schwer zu begründen, wenn man die Naturwissenschaften von vornherein auf eine bestimmte Perspektive verpflichtet. Außerdem ist wieder nicht ohne Weiteres zu sehen, wie eine bestimmte Perspektive einen so signifikanten epistemischen Vorzug definieren könnte, dass der Ganzheits- und Vollständigkeitsanspruch des Naturalismus berechtigt erschiene. Die Einheit kann daher nur durch eine Vorgehensweise oder Methode bestimmt sein. Eine Methode umfasst diejenigen Regeln, die angeben, welche Mittel man anwenden muss, um bestimmte Ziele zu erreichen. Im Fall der Naturwissenschaften geht es natürlich insbesondere um die Ziele des Wissens und Verstehens, und wir beschränken uns weiter auf das Wissen. Aber zeichnen sich die Naturwissenschaften durch eine gemeinsame Methode oder wenigstens durch methodische Gemeinsamkeiten aus, die ins Gewicht fallen? In der Wissenschaftsphilosophie hat sich die Auffassung einer einheitlichen naturwissenschaftlichen Methode als schwierig erwiesen. Dabei muss man nicht so weit gehen wie P. Feyerabend, der sich bekanntlich gegen alle Regeln einer wis148 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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senschaftlichen Methode wandte. 27 Die Hauptschwierigkeit liegt vielmehr darin begründet, bei der Identifikation einer naturwissenschaftlichen Methode oder methodischer Gemeinsamkeiten der synchronen Vielfalt einzelner Disziplinen und den diachronen methodischen Veränderungen in vielen einzelnen Disziplinen gerecht zu werden. Möchte man die Vielfalt wissenschaftlicher Praktiken erfassen, die wir in Geschichte und Gegenwart der Naturwissenschaften vorfinden, mit einer Methode oder wenigen Gemeinsamkeiten erfassen, dann dürfte diese Methode ziemlich dürftig und blutleer ausfallen. Sie wird sich in Regeln der Art erschöpfen, dass man Hypothesen überprüfen sollte. Doch solche Platitüden eignen sich kaum, um einen Totalitätsanspruch naturwissenschaftlicher Erkenntnisformen zu rechtfertigen, denn Hypothesen werden auch außerhalb der Naturwissenschaften überprüft. 28 Natürlich gibt es in den einzelnen naturwissenschaftlichen Fächern und Subdisziplinen spezifischere Methoden, aber diese Methoden lassen sich nicht auf alle Naturwissenschaften beziehen. Sie haben sich für einen bestimmten Gegenstandsbereich, sagen wir für die Untersuchung der Wirksamkeit von Medikamenten, bewährt, sind aber zu sehr auf diesen Gegenstandsbereich zugeschnitten, als dass sie sich verallgemeinern ließen. Man könnte einwenden, dass es zwar vielleicht keine nicht-triviale Methode gibt, die allen Naturwissenschaften gemeinsam ist, dass sie aber eine grosse Gemeinsamkeit aufweisen, die letztlich auch methodische Konsequenzen hat, nämlich den Erfahrungsbezug. Schließlich firmieren die Naturwissenschaften ja als Erfahrungswissenschaften. Kann der Naturalist daher die Naturwissenschaften nicht einfach über den Erfahrungsbezug definieren? Es ist zumindest nicht offensichtlich, dass dieser Vorschlag weiterführt. Erstens ist nämlich unklar, ob die Erfahrung den Na27
P. Feyerabend, Against Method, London 1975. So argumentiert D. Føllesdal, dass sich die Hermeneutik, wenn man sie recht verstehe, in der deduktiv-hypothetischen Methode erschöpft, wie sie auch für die Naturwissenschaften vorgeschlagen wurde. Dagfinn Føllesdal, Hermeneutics and the Hypothetico-Deductive Method, Dialectica 33 (1979), 319–363.
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turwissenschaften vorbehalten ist. Wenn die Erfahrung aber auch für Wissensgebiete einschlägig ist, die sich nicht vollständig mit Mitteln der Naturwissenschaften beschreiben lassen, dann taugt die Erfahrung nicht als Kriterium, mit denen die Naturwissenschaften von anderen Erkenntnisbemühungen abgegrenzt werden könnten. Es gibt in der Tat einige Kandidaten für Erfahrungen, die den Naturwissenschaften nicht als Erkenntnisquelle dienen. Der qualitative Charakter von Schmerz oder Begeisterung ist eine Sache innerer Erfahrung. Gadamer beklagt in „Wahrheit und Methode“ eine Verarmung des Erfahrungsbegriffs und versucht, eine recht verstandene Erfahrung für die Grundlegung der Hermeneutik fruchtbar zu machen. 29 Gelegentlich wird weiter behauptet, dass auch moralisches Wissen letztlich Erfahrungswissen ist. 30 Schließlich werden religiöse Überzeugungen manchmal durch den Verweis auf religiöse Erfahrung gerechtfertigt. 31 Der qualitative Charakter des eigenen Erlebens, moralische Werturteile, geisteswissenschaftliche Hermeneutik und religiöse Überzeugungen gehören jedoch nicht zu den Naturwissenschaften und definieren Felder, denen Naturalisten mit den oben beschriebenen Strategien begegnen. Damit wäre die Erfahrung als solche ungeeignet, Naturwissenschaften von anderen Erkenntnisbemühungen abzugrenzen. Dabei mag man beim einen oder anderen Beispiel von Erfahrung, die nicht den Naturwissenschaften zugrundeliegt, durchaus skeptisch sein und bestreiten wollen, dass sie wirklich Wissen liefert. Aber die Auseinandersetzung um den Realitätsgehalt einzelner Erfahrungsformen würde letztlich wieder zurück zu den drei oben genannten Strategien führen, in denen man sich im Detail und substantiell mit einem gewissen Gebiet auseinandersetzt. Hier geht es aber nicht um solche Auseinandersetzungen, 29
Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, 6. Auflage Tübingen 1990, hier 352–368. 30 Etwa David McNaughton, Moral Vision, Oxford 1988, hier besonders 19, 55–57 und 86–90. 31 William Alston, Perceiving God: The Epistemology of Religious Experience, Ithaca (NY) 1991.
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sondern um allgemeine Argumente für einen Naturalismus. Als Kristallisationspunkt einer Argumentationsstrategie, die den Naturalismus ganz allgemein stützen soll, taugt der Erfahrungsbegriff nicht. Zweitens ist das Kriterium des Erfahrungsbezugs zu vage, um die Naturwissenschaften wirksam von anderen Erkenntnisbemühungen abgrenzen zu können. Denn was genau heißt Bezug zur Erfahrung? Auf der einen Seite darf der Bezug zur Erfahrung nicht zu direkt sein, denn einige Naturwissenschaften, insbesondere die Physik, haben sich immer weiter von der Erfahrung entfernt, wenn sie etwa auf unvorstellbar kleinen Skalen, die nicht mehr direkter Beobachtung zugänglich sind, Entitäten wie Quarks postulieren. Auf der anderen Seite verliert das Kriterium jedes Diskriminierungspotential, wenn der Bezug zur Erfahrung beliebig indirekt sein kann. Viele Gebiete, die prima facie eine Schwierigkeit für den Naturalismus herstellen, dürften wohl irgendeinen Bezug auf die Erfahrung haben, selbst wenn man letzere weiter eingrenzt. An dieser Stelle ist ein Blick auf Quine erhellend. Dieser vertritt die Ansicht, dass es keine scharfe Grenze zwischen Philosophie und Naturwissenschaften gibt. 32 Stattdessen unterscheide sich die Philosophie nur graduell von den Naturwissenschaften, weil sie sich weiter weg von den Sinnesreizen befinde. Wenn das richtig ist, dann lässt sich die Philosophie schwer von den Naturwissenschaften trennen, so dass auch die Philosophie als Erfahrungswissenschaft gelten müsste. Das hätte die kontraintuitive Folge, dass der Naturalismus philosophisches Wissen in die Bestimmung dessen, was ist, einfließen lassen müsste. Insgesamt erweist es sich damit als schwierig, die Naturwissenschaften so zu charakterisieren, wie das für eine Begründung des Naturalismus notwendig wäre. Es gibt also kein einfaches Kriterium, mit denen man die Naturwissenschaften von anderen Er32
Prominent etwa in: Willard van Orman Quine, Two Dogmas of Empiricism, in: The Philosophical Review 60 (1951), 20–43.
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kenntnisbemühungen abgrenzen kann und das klarerweise einen epistemischen Vorteil markiert, der den Ganzheits- und Vollständigkeitsanspruch des Naturalismus vindiziert. Damit soll weder geleugnet werden, dass die Naturwissenschaften miteinander zusammenhängen, z. B. über sog. Familienähnlichkeiten 33, noch sollen ihre besonderen Leistungen in Abrede gestellt werden. Es sollte nur argumentiert werden, dass all das nicht klarerweise einen Naturalismus rechtfertigt. Die Probleme, die Naturwissenschaften in erhellender Weise so zu bestimmen, dass sich allgemein ein Naturalismus rechtfertigen ließe, sind nicht nur akademischer Natur, sondern haben auch Konsequenzen für den Gehalt des Naturalismus. Wie wir gesehen haben, kann man den Naturalismus ja als Position darüber auffassen, was es gibt und wie es beschaffen ist. Aus dieser Perspektive ist der Naturalismus nur dann eine fruchtbare Position, wenn er deutliche Einschränkungen an das, was es gibt, formuliert. Nun sind aber nicht nur die Methoden der Naturwissenschaften, sondern auch ihre Ergebnisse disparat. Wenigstens auf den ersten Blick handeln die meisten gut etablierten naturwissenschaftlichen Theorien und Modelle von unterschiedlichen Gegenstandsbereichen. In der Elementarteilchenphysik geht es um die kleinsten Bestandteile der Materie und ihre Wechselwirkungen, in der Astrophysik um Sterne und andere Objekte, die wir am Himmel beobachten, in der Biologie um Lebewesen, und so weiter. Aus naturalistischer Perspektive gibt es also Sterne, Lebewesen und so weiter. Aber was haben diese Entitäten eigentlich gemeinsam? Aus naturalistischer Perspektive ist es an diesem Punkt nur die Tatsache, dass sie Gegenstand etablierten naturwissenshaftlichen Wissens sind. Betrachten wir nun eine Wissenschaft, deren naturwissenschaftlicher Charakter nicht ganz klar 33
Diesen Vorschlag unterbreitet etwa Geert Keil, Naturalismus und menschliche Natur, in: Der Ort der Vernunft in einer natürlichen Welt. Logische und anthropologische Ortsbestimmungen, hg. von Wolf-Jürgen Cramm und Geert Keil, Weilerswist 2008, 192–215, hier 201 f.
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ist, etwa die Psychologie. Wenn sie zu den Naturwissenschaften gezählt wird, dann gehören für den Naturalismus die Kognition des Menschen und damit geistige Zustände mit Gehalt zu dem, was ist, und zwar unabhängig davon, ob sich geistige Zustände auf Zustände, die in der Physik oder der Biologie beschrieben werden, reduzieren lassen. Wenn die Psychologie hingegen keine Naturwissenschaft ist, dann sind geistige Zustände entweder auf physikalische und biologische zu reduzieren, oder sie existieren gar nicht wirklich. Wenn man nun abstreitet, dass sich geistige Zustände auf physikalische und biologische zurückführen lassen, dann macht es daher aus naturalistischer Perspektive einen großen Unterschied, ob die Psychologie eine Naturwissenschaft ist. Daran sieht man, dass die Frage, welche Fächer zu den Naturwissenschaften gehören, sehr wichtig dafür ist, was der Naturalismus zur Wirklichkeit zählt. Was wir mit der Psychologie vorgeführt haben, kann man natürlich auch anhand anderer Wissensgebiete diskutieren. Immer fragt sich, ob es gewissermaßen eine weitere Schicht der Wirklichkeit gibt. Es scheint wenig aussichtsreich, diese Frage nur anhand der Frage entscheiden zu wollen, ob die besagte Schicht in einer Naturwissenschaft behandelt wird, wenn gar nicht so klar ist, was die Naturwissenschaften ausmacht. 34 Insgesamt konnten wir bisher die allgemeinen Argumente für 34
Für ein weitergehendes Argument gegen den Naturalismus könnte man versuchen zu leugnen, dass uns die Naturwissenschaften heute überhaupt ein konsistentes und kohärentes Bild der Wirklichkeit liefern. Damit wäre der Gehalt der naturalistischen Weltsicht widersprüchlich oder inkohärent. Eine solche Strategie ist aber nicht besonders vielversprechend. Insofern sich tatsächlich Widersprüche oder Inkohärenzen zwischen etablierten naturwissenschaftlichen Ergebnissen aufweisen lassen, wird der Naturalist darauf hoffen, dass sich diese durch zukünftige Entwicklungen in den Naturwissenschaften auflösen lassen. In diesem Zusammenhang könnte er wieder darauf verweisen, dass der Naturalismus sich nicht auf das heutige naturwissenschaftliche Wissen bezieht. Außerdem stellt sich das Problem von Widersprüchen und Inkohärenzen für den Anti-Naturalismus insofern in verschärfter Form, als dieser, wenn er die Ergebnisse von Naturwissenschaften nicht schlechthin leugnet, von mehr Annahmen über die Welt (z. B. über moralische Tatsachen) ausgeht als der Naturalist.
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den Naturalismus, ja den Naturalismus selbst ziemlich ins Leere laufen lassen. Gilt also: „Much ado about nothing“? Lassen sich die Schwierigkeiten, die ich genannt habe, überhaupt nicht umgehen? Nun, der Naturalismus verfügt noch über eine Option. Er kann bildlich gesprochen darauf verzichten, die Erkenntnis- und Erklärungsansprüche dem bunten Blumenstrauß aller Naturwissenschaften zu überlassen, sondern sich auf eine einzige Naturwissenschaft beschränken. Damit verbindet sich die Hoffnung, dass diese Wissenschaft, sowohl was ihre Methoden als auch ihre Ergebnisse anbelangt, eine Einheit bildet, so dass man ihr ohne die genannten Probleme zutrauen kann, alles, was wir erkennen können, zu beschreiben und zu erklären. Diese Disziplin muss offenbar die Physik, genauer diejenige physikalische Disziplin sein, die sich mit den kleinsten Teilchen befasst, von denen wir wissen können. Ließe man sie weg, so würde der Bereich der kleinsten uns bekannten Materiekonstituenten nicht abgedeckt, und der gehört nun einmal zu den Bereichen, über die wir Wissen gewonnen haben. Der Einfachheit halber möchte ich im Einklang mit dem wissenschaftliche Realismus annehmen, dass es sich bei der besagten Disziplin um die Elementarteilchenphysik handelt. Die Hoffnung wäre dann, dass wir damit die Grundlage alles Seienden erfasst haben, dass wir die restliche Welt darauf im Sinne eines „bottom up“ rekonstruieren können. Die Hoffnung hat aber einen Preis, denn wenn man sich auf eine Wissenschaft beschränkt, dann wird es noch unplausibler, die wenigstens scheinbare Vielfalt des Seienden durch diese Wissenschaft zu erfassen. Die Position, die dies behauptet, nennt man Physikalismus, dieser wird zum Beispiel prominent durch D. Papineau vertreten. 35 Den Physikalismus kann man als Weiterentwicklung eines metaphysischen Materialismus sehen. Dieser Materialismus behauptet, dass alles letztlich nur Materie ist, und das sich alles, was ist, auf dieser Basis beschreiben und erklären lässt. Allerdings ist diesem Materialismus durch die moderne Physik die Grund35
David Papineau, Naturalism (Anm. 5).
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lage entglitten. Die Grundbausteine, von denen man in der Physik ausgeht, sind keine einfachen Kügelchen mehr, wie man es im antiken Atomismus angenommen hatte, und die diversen Quantentheorien lassen uns zögern, das, was sich auf quantalen Skalen abspielt, überhaupt als Materie anzusprechen. Der Physikalismus trägt dem Rechnung, indem er auf den Materiebegriff verzichtet und nur noch behauptet, dass sich alles, was wir erkennen können, auf die Grundlage der moderenen Elementarteilchenphysik zurückführen lässt, was immer diese im Einzelnen über die kleinsten Skalen lehrt. 36 Für den Physikalismus gibt es nun noch ein Argument. 37 Dieses Argument benennt eine Schwierigkeit, das Gebiet des Physikalischen mit anderen, gewissermaßen darüberliegenden Schichten der Wirklichkeit zusammenzudenken. Wichtigste Prämisse des Arguments ist die Annahme, dass sich jeder physikalisch beschreibbare Vorgang durch die Angabe physikalischer Ursachen erklären lässt. So können wir etwa die Bewegung eines Elektrons erklären, indem wir auf seinen Zustand in der Vergangenheit und die relevanten physikalischen Kräfte zurückgreifen. Für andere Bereiche oder Dimensionen der Wirklichkeit, die neben dem Physikalischen existieren, zum Beispiel für menschliche Entscheidungen oder für Revolutionen, stellt sich dann ein Problem. Wenn sie unter anderem Wirkungen im Physikalischen haben – wenn also etwa die Entscheidung oder die Revolution mit eine Ursache dafür ist, dass sich ein Elektron so bewegt, wie es das tut –, dann fragt sich, wie diese Ursache mit der rein physikalischen Ursache zusammenhängt. Die Behauptung, dass es sich bei beiden um unabhängig wirkende Ursachen handelt, ist nicht besonders attraktiv, da wir es dann mit einer kausalen Überdetermination zu tun hätten, die wir sonst nur selten kennen. Man kann das Problem auch kaum lösen, indem man sagt, dass die physikalischen Ursachen und das geistige Phänomen einander 36 37
Geert Keil, Kritik (Anm. 5), 9 f. Siehe dazu Papineau, Naturalism (Anm. 5), Kapitel 1.
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verursachen und damit letztlich aufeinanderfolgende Glieder in einer Kausalkette sind, die auf ein physikalisches Ereignis, zum Beispiel die Bewegung eines Balls, zuläuft. Denn mithilfe der Physik kann man für jede Zeit vor der Bewegung des Elektrons eine vollständige physikalische Ursache angeben. Die Entscheidung oder Revolution scheint also völlig neben der vollständigen Kausalgeschichte zu stehen, die wir der Physik verdanken. 38 Um dieses Problem zu vermeiden, behauptet der Physikalismus, jede Revolution sei letztlich nur ein komplexes Zusammenspiel rein physikalischer Vorgänge. Das Geistige, das Soziale und so weiter werden also mit dem Physikalischen identifziert. Diese Identifikation ist asymmetrisch zu verstehen, sie sagt, die anderen Bereiche seien nur Physisches und nicht umgekehrt, weil es natürlich auch physische Vorgänge ohne Geistiges gibt. Was das Geistige anbetrifft, so haben wir es hier letztlich mit dem Leib-Seele-Problem zu tun. Wir können dieses Problem natürlich nicht im Rahmen dieses Aufsatzes lösen. Aber das müssen wir im Zusammenhang unserer Naturalismus-Diskussion auch gar nicht tun. Für unsere Zwecke reichen zwei Bemerkungen, die beispielhaft anhand des Leib-Seele-Problems erklärt seien: Erstens ist ein Physikalismus sicher ein Lösungsvorschlag für das LeibSeele-Problem. Allerdings zeitigt er hohe philosophische Kosten. So scheint kaum verständlich, was mit der Identifikation von geistigen und physikalischen Zuständen überhaupt gemeint sein soll. Angesichts solcher Kosten ist es berechtigt zu fragen, ob das Problem nicht doch anders zu lösen ist und zum Beispiel bestimmte Prämissen zu leugnen sind, auf denen die Problembeschreibung beruht. So ist fraglich, ob der philosophisch umstrittene Kausalbegriff eine Prämisse hergibt, die die kausale Geschlossenheit des Physikalischen behauptet, 39 zumal die theoretische Beschreibung der Elementarteilchen heute ohne den Ursachebegriff auskommt. Außerdem lassen sich in der Grundlagenphysik einzelne Vorgänge 38 39
Papineau, Naturalism (Anm. 35), hier 22 f. In diesem Sinne argumentiert etwa Falkenburg, Mythos (Anm. 22), 370–378.
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insofern nicht vollständig erklären, als in der Quantenphysik wie schon bemerkt für Messresultate höchstens Wahrscheinlichkeiten angegeben werden können. Das Argument müsste also zunächst einmal der heutigen Physik angepasst werden, und wir müssten sehen, was dann noch von dem Argument bleibt. 40 Auch der Ausschluss der kausalen Überbestimmung, der in der Problembeschreibung vorkommt, greift auf den Kausalbegriff zurück und mag daher nicht zwingend erscheinen. Zweitens führt die Identifikation von Vorgängen diverser Gebiete mit dem physikalisch Erfassbaren, wie sie der Physikalismus vornimmt, gar nicht dazu, dass es für andere Wissenschaften oder Erkenntnisbemühungen gar nichts mehr zu tun gäbe, das sich nicht in der Physik erledigen ließe. Das Argument, das oben vorgestellt wurde, führt zwar zu einer Identifikation von geistigen und physikalischen Zuständen, es impliziert aber nicht, dass alles andere Wissen auf die Physik reduzierbar ist. Im Physikalismus geht man heute gerne davon aus, dass geistige Vorgänge vielfach realisierbar sind, was impliziert, dass sie nicht unter Generalisierungen in physikalischer Sprache fallen. 41 Generalisierungen über das Geistige oder Soziale sind dann anderen Wissensgebieten vorbehalten. Insgesamt scheint mir das genannte Argument keinen zwingenden Grund für den Physikalismus zu liefern. Die Beschränkung auf die Physik verdüstert zudem die Aussichten, dass man alles was ist, vollständig durch Naturwissenschaft (hier die Physik) beschreiben kann. Damit haben sich die allgemeinen Argumente für den Naturalismus verflüchtigt. Daraus folgt natürlich nicht, dass der Naturalismus falsch ist. Wir mussten auch einige Überlegungen, die sich gegen den Naturalismus richten, zurückweisen.
40 41
Vgl. dazu Papineau, Naturalism (Anm. 35), Kap. 1. Siehe dazu etwa Ritchie, Understanding (Anm. 5), 113 f.
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5. Schlussüberlegungen Wie steht es nun also mit dem Naturalismus? Lässt sich alles, was ist, mit Hilfe der Naturwissenschaften vollständig beschreiben? Erstens lässt sich die naturalistische These in der Allgemeinheit, in der ich sie eben noch einmal formuliert habe, nicht halten. So ist in Rechnung zu stellen, dass es Grenzen des Wissens gibt, die zum Teil sogar erst durch naturwissenschaftliche Forschung eruiert wurden. Allerdings muss man sagen, dass der Naturalismus uns gerade dort am meisten herausfordert, dort am relevantesten ist, wo wir bereits meinen, etwas zu wissen, also etwa in Bezug auf moralisches Wissen. Daher sind die Auseinandersetzungen um die allgemeinen Erkenntnisgrenzen für den Naturalismus letztlich Nebenschauplätze. Zweitens scheint mir die allgemeine Auseinandersetzung um den Naturalismus wenig fruchtbar. Überlegungen zum bisherigen Erfolg der Naturwissenschaften sind nicht ausreichend, um Totalitätsansprüche der Naturwissenschaften zu rechtfertigen. So ist fraglich, ob sich die Naturwissenschaften hinreichend scharf von anderen (vermeintlichen) Erkenntnisbemühungen abgrenzen lassen. Ein Verdikt, das darauf hinausläuft, dass etwa die Philosophie oder die Geisteswissenschaften gar kein oder wenigstens kein eigenständiges Wissen hervorbringen, während das die Naturwissenschaften täten, lässt sich daher kaum durch die Vorgehensweisen rechtfertigen, die die Naturwissenschaften anwenden. Solange nicht hundertprozentig klar ist, was als Naturwissenschaft firmieren kann, ist auch der Gehalt des Naturalismus als metaphysischer Position zu blass. Es überzeugt nicht, wenn man sich auf die Physik zurückzieht, um dieses Problem zu lösen. Wenn die allgemeinen Argumente für und wider den Naturalismus nicht erfolgreich sind, dann bleibt nur, dass wir uns damit beschäftigen, wie der Naturalismus mit Wissensansprüchen umgeht, die wenigstens nicht offensichtlich naturwissenschaftlicher Art sind. In diesem Zusammenhang sollten wir den Naturalismus nicht dämonisieren. Wenn sich herausstellt, dass sich unsere Wis158 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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sens- und Verstehensansprüche auf einem bestimmten Gebiet durch die eine oder andere Naturwissenschaft einholen lassen, warum nicht? Allerdings muss die Naturalisierung dann auch wirklich gelingen. Ich denke, dass das nicht immer der Fall ist und dass wir in der Tat über echtes Wissen verfügen, das nicht rein naturwissenschaftlicher Art ist. So lässt sich das, was wir über unserer Innenleben und geistige Zustände wissen, m. E. nicht auf auf Physik oder Biologie zurückführen. Überlegungen dieser Art lassen mich mit einem Anti-Naturalismus sympathisieren. Für die Debatte um Säkularisierung und Moderne hat unsere Diskussion mindestens zwei Folgen. Erstens werden unter Berufung auf die Entwicklung der Naturwissenschaften nicht nur religiöse Überzeugungen angegriffen. Der Naturalismus stellt potentiell auch infrage, dass moralische Überzeugungen oder unsere Alltagspsychologie die Wirklichkeit abbilden, wie sie ist. Er tut das immer dann, wenn diese Bereiche Wissen enthalten, das sich nicht auf naturwissenschaftliches Wissen zurückführen lässt. Die Beobachtung, dass religiöse Überzeugungen das haben, was man im Englischen „companions in guilt“ 42 nennt, eröffnet dabei die Perspektive, bestimmte Festlegungen und Wissensansprüche, an denen wir festhalten wollen, gemeinsam zu verteidigen. So könnte man versuchen, die naturalistische Eliminationsstrategie in Bezug auf Gott zu diskreditieren, indem man darauf verweist, dass dieselbe Strategie in Bezug auf geistige Zustände zu problematischen Folgerungen führt. Zweitens gibt es keine allgemeinen Gründe, aus dem Erfolg der Naturwissenschaften auf die Wahrheit des Naturalismus zu schließen. Unsere Überlegungen legen den Schluss nahe, dass eine allgemeine Auseinandersetzung mit dem Naturalismus nicht lohnt. Vielmehr ist je spezifisch zu diskutieren, wie die Ergebnisse von Naturwissenschaften auf Überzeugungen zu beziehen sind, die wir nicht auf der Basis von Naturwissenschaften haben. In
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Mackie, Ethics (Anm. 15), hier 39.
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puncto Religion wäre dann zu diskutieren, inwiefern etwa Erkenntnisse der Verhaltensbiologie mit religiösen Überzeugungen zusammenzudenken sind. Warum sollten religiöse Überzeugungen durch eine solche Diskussion nicht gewinnen können? 43
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Den Herausgebern des Bandes danke ich für Ihre Einladung zu diesem Beitrag. Georg Brun und Joannes Campell sei für wichtige Anmerkungen gedankt.
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Haeckels Erben. Programm und Rezeption des Szientismus in Ostdeutschland Thomas Schmidt-Lux, Leipzig
1. Einleitung Thema dieses Aufsatzes ist die Rolle und der Einfluss des Szientismus im ostdeutschen Säkularisierungsprozess. Kurz gesagt wird es um die Konsequenzen im religiös-weltanschaulichen Feld gehen, die ein spezifisches Verständnis von Wissenschaft – insbesondere im Verhältnis zur Religion – in Ostdeutschland und der DDR hatte und noch hat. 1 Ostdeutschland steht dabei als Fall im Mittelpunkt, dient aber zudem als Beispiel für grundsätzlichere Fragen und Probleme. So ist das Verhältnis von Wissenschaft und Religion lange und umfänglich thematisiert worden 2, ebenso wie die Diskussion um Begriff, Konzept und empirische Evidenzen des Säkularisierungsprozesses keineswegs abgeschlossen ist. Was genau kann eine Analyse des ostdeutschen Falles zu diesen Fragen beitragen? Zum einen ist Ostdeutschland nach wie vor eine der am stärksten säkularisierten Regionen weltweit. Im Jahr 2012 waren 68 % der Bevölkerung konfessionslos; ca. 21 % sind Mitglied der evangelischen Kirchen, ca. 4 % Katholiken. Noch kurz nach dem Ende des 2. Weltkrieges waren die Zahlen deutlich höher. Der
1
Vgl. zum Begriff des „religiös-weltanschaulichen Feldes“ Uta Karstein, Konflikt um die symbolische Ordnung. Genese, Struktur und Eigensinn des religiös-weltanschaulichen Feldes in der DDR, Würzburg 2013. 2 Ian Barbour, Wissenschaft und Glaube. Historische und zeitgenössische Aspekte, Göttingen 2003.
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Anteil der Konfessionslosen betrug damals 5 %. 3 Dieser Prozess der Säkularisierung war am massivsten zwischen 1950 und 1989 und innerhalb dieses Zeitraumes vor allem in den späten 1950er Jahren. 4 Er betraf nicht nur die kirchliche Mitgliedschaft, sondern wurde auch von einem deutlichen Rückgang religiöser Glaubensüberzeugungen begleitet. Religiosität verlagerte sich also nur bedingt und in deutlich geringerem Umfang ins Private. Allerdings wird darüber oft die Vorgeschichte dieser zweifellos rasanten Säkularisierung vergessen. Denn bei aller Vorsicht, mit der solche (wenigen) Daten zu lesen sind: Bereits um die Jahrhundertwende finden sich Befunde, die weite Teile Ostdeutschlands als vergleichsweise kirchenferne Gegend ausweisen. Dies ist deshalb oft nicht Teil der Gesamterzählung, weil zum einen die empirische Basis natürlich schmal ist, zum anderen die Kirchenferne sich noch nicht in (leichter messbaren und auch öffentlicher sichtbaren) Kirchenaustritten dokumentierte. 5 Wie auch immer: Die Entwicklungen bis 1989/90 hatten Folgen, die bis heute reichen. Nach wie vor hat sich die religiöse Landschaft in Ostdeutschland nicht wesentlich geändert bzw. revitalisiert. Zwar existiert eine Vielzahl von religiösen Anbietern und Gruppen, und die Kirchen sind durchaus wahrnehmbare und mitunter auch einflussreiche Akteure im gesellschaftlichen Leben. Wenn es aber um die Mitgliedschaft in Kirchen oder anderen religiösen Gruppen oder um die Zustimmung zu religiösen Glaubensaussagen geht, bleiben die Ostdeutschen weitestgehend abstinent. In der Terminologie des Religious Economy Approach 3
Detlef Pollack, Kirche in der Organisationsgesellschaft. Zum Wandel der gesellschaftlichen Lage der evangelischen Kirchen in der DDR, Stuttgart 1994, 374. 4 Pollack, Kirche (Anm. 3). 5 Lucian Hölscher (Hg.), Datenatlas zur religiösen Geographie im protestantischen Deutschland. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg, Berlin / New York 2001; Kurt Nowak, Staat ohne Kirche? Überlegungen zur Entkirchlichung der evangelischen Bevölkerung im Staatsgebiet der DDR, in: Gert Kaiser et al. (Hg.), Christen, Staat und Gesellschaft in der DDR, Frankfurt a. M. 1996, 23–43.
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gesprochen: Das Angebot existiert, allein es fehlt an der Nachfrage. Dies unterscheidet das Gebiet der früheren DDR in signifikanter Weise von vielen post-kommunistischen Staaten, in denen durchaus eine Wiederbelebung des religiösen Lebens beobachtbar ist. 6 Ostdeutschland ist also ein aus religionssoziologischer Perspektive hochinteressanter Fall, der weitere Beobachtung verdient. Zugleich lässt sich dieser Fall nicht einfach als Sonderfall oder Ausnahme abtun. Dies würde einen ‚normalen‘ Status oder Entwicklungsweg der Religion in der Moderne implizieren, und auch wenn solche Annahmen einige Zeit en vogue waren, verlieren sie doch immer mehr als Plausibilität. Lange Zeit galten ja Säkularisierungsprozesse als solche ‚Normalverläufe‘, doch spätestens als die USA als dauerhafter Sonderfall bzw. Ausnahme eingestuft werden mussten, hatte dieses Modell wohl seine Überzeugungskraft als allgemeingültig eingebüßt. 7 Der Fall der DDR lädt also dazu ein, gängige Annahmen und Theorien im religionssoziologischen Feld zu diskutieren, zu relativieren und vielleicht auch neue Konzepte zu entwickeln. Dies betrifft etwa stärker historisch argumentierende religionssoziologische Ansätze 8, die mit dem Fall Ostdeutschlands ein herausforderndes Feld finden. Ein solcher, kürzlich vorgelegter Ansatz ist das Konzept der Multiple Secularities. Dabei wird nicht nur der zwingende Zusammenhang von Modernisierung und Säkularisierung verabschiedet, sondern darüber hinaus auch auf unter6
Olaf Müller / Gert Pickel / Detlef Pollack (Hg.), Religion and Church in an Enlarged Europe, Aldershot 2012. 7 Karl Gabriel / Christel Gärtner / Detlef Pollack, Umstrittene Säkularisierung: Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, Berlin 2012.; Volker Depkat / Jürgen Martschukat (Hg.), Religion and Politics in Europe and the United States: Transnational Historical Approaches, Washington, DC/Baltimore 2013. 8 Philip S. Gorski, Historicizing the Secularization Debate. Church, State, and Society in Late Medieval and Early Modern Europe, ca. 1300 to 1700, in: American Sociological Review 65 (2000), 138–167.
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schiedliche Rahmungen und Kulturen von Säkularität hingewiesen. „The concept of ‚multiple secularities‘ rests on the recognition that the notions of the secular, of secularism und secularity are charged with highly divergent meanings that are linked to different political and cultural contexts and histories of social conflict. Even though these histories inevitably give rise to different social dynamics they always focus on specific ways of drawing between religion and other spheres of social practice“. 9 Die Herausforderung für religionssoziologische Studien wird damit eher größer als kleiner. Sie besteht darin, sowohl historisch sensibel zu sein und spezifische Kontexte als solche anzuerkennen, zugleich aber auch Gemeinsamkeiten mit anderen Fallbeispielen im Auge zu behalten, um etwa typische Entwicklungspfade oder Typen von Säkularität identifizieren zu können.
2. Szientismus in der DDR Das Gebiet der ehemaligen DDR gilt vielen religionssoziologischen Expertinnen und Experten als Beispiel für einen überaus massiven Säkularisierungsprozess, der zudem nach wie vor anhält. Zwar ist in jüngeren Generationen eine größere religiöse Offenheit und damit in Verbindung auch ein generelles Interesse für religiösen Fragen oder Phänomene zu erkennen. Dies ist aber eher als prinzipielle Offenheit zu interpretieren, sich über solche Fragen zu informieren oder ggf. auch auszutauschen. Zu eigener religiöser Praxis oder gar Mitgliedschaft führt dies selten. Die Diskussion über die Ursachen dieser Entwicklung lief und läuft nun bereits seit einigen Jahrzehnten. Das Argument, das am frühesten formuliert wurde, den schnellsten Zuspruch und auch prominente Vertreter innerhalb der Religionssoziologie fand, sah 9
Monika Wohlrab-Sahr / Marian Burchardt, Multiple Secularities. Toward a Cultural Sociology of Secular Modernities. in: Comparative Sociology 11 (2012), 875–909, hier 905.
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den politischen Druck des DDR-Staates als ausschlaggebend an. 10 Über eine Vielzahl staatlicher Institutionen wurden ja in der Tat Menschen in der DDR von der Kirche entfremdet oder aktiv aus der Kirche gedrängt. Dies begann in Schulen und Hochschulen und setzte sich im beruflichen Kontext fort. Partei- und Kirchenmitgliedschaft galten lange als unvereinbar; Kirchenmitglieder mussten bis in die 1980er mit Problemen bei der Vergabe von Studienplätzen rechnen etc. 11 Ohne diese politische Situation zu verkennen oder marginalisieren zu wollen: Weder lässt sich der massive religiöse Wandel in Ostdeutschland allein über politische Einflussnahme erklären, noch wird er dadurch soziologisch verstehbar. Eine Theorie, die politischen Druck und Repression im ostdeutschen Säkularisierungsprozess zu sehr und noch dazu weitestgehend unvermittelt in den Vordergrund schiebt, muss soziologisch schlicht unplausibel und unterkomplex bleiben. Ein alternatives Argument, das auch hier vertreten werden soll, stellt dem – zweifellosen – Einfluss des politischen Systems mindestens einen weiteren Faktor zur Seite. Über die Propagierung von Wissenschaft, vielmehr: einer wissenschaftlichen Weltanschauung bot sich den Menschen ein Interpretationsmuster, vor dem ihre bisherigen religiösen Bindungen und Praxen unplausibel wurden bzw. ihre Abwendung von Kirche und Religion subjektive Plausibilität fand. Anders gesagt: Der staatlicherseits unterstellte und behauptete Gegensatz und unversöhnliche Konflikt von Religion und Wissenschaft wurde als Deutungsrahmen von vielen übernommen und sich auf die Seite der Wissenschaft gestellt. Dies fand, und an dieser Stelle wird der zu enge Analyserahmen der DDR-Gesellschaft überschritten, vor dem Hintergrund länge10
Joachim Heise, Kirchenpolitik von SED und Staat. Versuch einer Annäherung, in: Lothar Kettenacker / Günther Heydemann (Hg.), Kirchen in der Diktatur. Drittes Reich und SED-Staat, Göttingen 1993, 126–154; Ehrhart Neubert, Von der Volkskirche zur Minderheitenkirche. Bilanz 1990. In: Horst Dähn (Hg.), Die Rolle der Kirchen in der DDR, München 1993, 36–55. 11 Peter Maser, Die Kirchen in der DDR, Bonn 2000.
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rer historischer Prozesse und einer spezifischen religiösen Landschaft statt. Seit dem 19. Jahrhundert nämlich fanden sich solche szientistischen Argumente innerhalb der in Berlin, Sachsen und Thüringen ja starken Arbeiterbewegung und wissenschaftspopularisierenden Gruppen. Zudem war schon damals in den ostdeutschen Regionen der Protestantismus dominant, dessen Mitglieder in der Tendenz eine schwächere Kirchenbindung als die katholische Kirche aufwiesen, was ihn zudem anfällig für Angriffe von außen machte. 12 In meinen Untersuchungen habe ich mich deshalb auf die Propagierung von Wissenschaft in der DDR konzentriert und habe diese Propagierung, dieses Bild und diese Rezeption von Wissenschaft als Szientismus bezeichnet. Szientismus ist ein schillernder Begriff, der in der Literatur – gelinde gesagt – nicht immer in der gleichen Weise Verwendung findet. Ich habe damit, und dies wird gleich noch einmal ausführlicher erklärt, einen regelrechten Glauben an die weitreichenden Kompetenzen der Wissenschaft verbunden und damit ein Verständnis von Wissenschaft, das diese von der Religion nicht nur unterscheidet, sondern beide als in expliziter Konkurrenz stehend begreift. Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Damit ist kein generelles Verhältnis von Wissenschaft und Religion definiert. Vielmehr wurde diese Beziehung – als Konkurrenz! – zu spezifischen historischen Zeitpunkten von spezifischen historischen Akteuren vertreten. Ich behaupte damit weder eine generell konfliktive Beziehung von Wissenschaft und Religion, noch die prinzipielle Überlegenheit einer Sphäre gegenüber der anderen. Meine These ist vielmehr, dass die beschriebene Vorstellung einer zwingenden Konkurrenz von Wissenschaft und Religion, wie ich sie gleich noch einmal darlegen werde, auf Zustimmung bei einem Großteil der ostdeutschen Bevölkerung traf und deshalb Wirkung zeigte. 12
Thomas Schmidt-Lux, Wissenschaft als Religion. Szientismus im ostdeutschen Säkularisierungsprozess, Würzburg 2008.
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3. Zur Theorie von Religion und Wissenschaft Es existieren zahlreiche, wenn nicht zahllose Vorschläge, das Verhältnis von Wissenschaft und Religion zu bestimmen. Einen Eindruck von der Varianz dieser Vorschläge und gleichzeitig eine instruktive Möglichkeit, diese zu systematisieren, bekommt man in einem kürzlich erschienen Aufsatz von John und Michael Evans, die das Feld von Wissenschaft und Religion als „one of the muddiest in all of sociology“ ansehen. 13 Mein Ausgangspunkt lag weder in einer spezifischen Definition von Wissenschaft und/oder Religion noch in einer konkreten Verhältnisbestimmung. Vielmehr startete ich bei der (für sich noch wenig spektakulären) Beobachtung, dass in der DDR beide Sphären in ein spezifisches Konkurrenzverhältnis gesetzt wurden. Dieses Verhältnis bzw. diese Annahme eines solchen Verhältnisses habe ich dann genauer untersucht und mich soweit als möglich der Rezeption dieser Verhältnisbestimmung seitens der Bevölkerung genähert. Dies ist ein Ansatz, der Konflikte von Religion und Wissenschaft nicht als Missverständnis abtut, weil sie eigentlich nicht vorkommen dürften. Es ist vielmehr eine soziologische Perspektive, die die Deutungsleistungen wissenschaftlicher, religiöser und politischer Akteure bei der Frage für wichtig hält, was Religion (in der sozialen Praxis!) ist, was Wissenschaft (in der sozialen Praxis!) ist, und wie dementsprechend ihr Verhältnis aussieht. Bei Evans und Evans ist das eine Grundkonzeption, die in das Feld von „social-institutional conflict studies“ fällt und die es vermeidet, einen epistemologischen Grundkonflikt zwischen Wissenschaft und Religion anzunehmen. 14 Betrachtet man den Wissenschaftsbegriff des ostdeutschen Staates aus einer solchen Perspektive, dann wird Folgendes er13
John H. Evans / Michael S. Evans, Religion and Science, Beyond the Epistemological Conflict Narrative, in: Annu. Rev. Sociol. 34 (2008), 87–105, 88. 14 Ebd., 97.
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kennbar: Wissenschaft wurde in der DDR zum obersten Prinzip allen Denkens und Handelns erhoben und ihr Geltungsanspruch auf die gesamte Gesellschaft ausgedehnt. Dies wurde verbunden mit dem Glauben an die Macht der menschlichen Vernunft, die grundsätzliche Erkennbarkeit und Gestaltbarkeit der Welt sowie die Überzeugung vom unendlichen menschlichen Fortschritt. Und nicht zuletzt wies der Szientismus eine antichristliche bzw. antikirchliche Haltung auf. 15 All dies tauchte am markantesten in der Rede von der wissenschaftlichen Weltanschauung auf. Der Begriff lässt sich seit den 1950er Jahren nachweisen und stand immer in enger theoretischer Verbindung zum Marxismus-Leninismus. In Gestalt einer Weltanschauung sollte Wissenschaft nicht nur Wege, sondern auch gesellschaftliche Ziele vorgeben. So beanspruchte die Politik, wissenschaftlich begründet zu sein, ebenso wie es als möglich galt, „die Stellung des Menschen in dieser Welt, den Sinn seines Lebens wissenschaftlich zu bestimmen“. 16 Insbesondere mit der Behauptung, die Sinnhaftigkeit menschlichen Lebens ergründen zu wollen und dies auch zu können, drang der Marxismus-Leninismus in Bereiche ein, für die seiner Auffassung nach bislang allein die Religion Geltung beanspruchte. Um solche Auffassungen von Wissenschaft konzeptionell fassen zu können, habe ich den Begriff der Weltanschauung aufgegriffen, wie er bei Max Weber und Arnold Gehlen verwendet wurde. Nach Weber vertraten Weltanschauungen eine totalisierende Sicht auf die Welt, die nicht nur mit Aussagen darüber verbunden war, wie die Welt tatsächlich beschaffen war, sondern auch damit, wie sie beschaffen sein solle. Aus ihrer Pluralität und dem Umstand, dass weltanschauliche Aussagen stets mit individuellen Wertungen und Werturteilen verbunden wurden, folgte für
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Schmidt-Lux, Wissenschaft (Anm. 12). Matthäus Klein / Götz Redlow, Warum eine wissenschaftliche Weltanschauung? Berlin 1973, 29.
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Weber die Einsicht, dass aus Weltanschauungen keine wissenschaftlichen Aussagen ableitbar sind. 17 Hat man auf diese Art Weltanschauungen zunächst von weniger umfassenden Ideengebäuden unterschieden, kann im Anschluss an Arnold Gehlen die innere Logik von Weltanschauungen noch genauer erfasst werden, um damit insbesondere die Konflikte von religiösen und szientistischen Protagonisten besser verstehen zu können. Weltanschauungen erfüllen nach Gehlen drei Funktionen: a) Sie bieten einen abschließenden Deutungszusammenhang der Welt und treffen Aussagen über deren Ganzheit und Ursprung, b) sie geben konkrete Handlungsanweisungen, und c) sie bearbeiten Gefühle von Ohnmacht und Kontingenz. 18 Damit wird nicht zuletzt die normative Dimension von Weltanschauungen präzise erfasst, die letztlich den Szientismus von einem sich selbst beschränkenden Wissenschaftsverständnis unterscheidet. Nun ist es – und an dieser Stelle werden gewissermaßen Konflikte ‚vorbereitet‘ bzw. nahe gelegt – auch Anspruch im Grunde jeder Religion, Angebote in all diesen drei Bereichen zu machen. Religionen bieten Deutungsangebote für Weltliches und Transzendentes, sie geben konkrete Handlungsanweisungen über Ethiken, und sie bearbeiten eben auch Situationen und Momente von Ohnmacht und Kontingenz. Insbesondere dieses letzte Feld gehört zu ihrem klassischen Repertoire. Viele, wenn nicht alle Religionen zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie auf dem Feld der ‚letzten Fragen‘, eben von Macht und Ohnmacht, Schicksal und Tod, Antworten geben, die jeweils auch exklusive Geltung beanspruchen. Zugleich wird aber deutlich, dass in den Programmen des Marxismus-Leninismus die Wissenschaft gleichermaßen auf allen 17
Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, 582–613. 18 Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Frankfurt a. M. 1993.
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drei Ebenen Geltung beanspruchte. Sie beschränkte sich eben in dieser Interpretation nicht allein auf die Erklärung von innerweltlichen, empirisch zugänglichen Phänomenen, sondern beanspruchte tatsächlich weltanschauliche Qualität. Im dreifachen Anspruch, sowohl individuell wie gesellschaftlich handlungsleitend zu sein, die einzig zutreffende Methode zur Weltdeutung und -erklärung zu bieten und schließlich als sinnstiftende Instanz wirken zu können, wurde die Wissenschaft zum Szientismus und stellte sich damit in direkte Konkurrenz zu aller traditionellen Religion. Damit muss davon gesprochen werden, dass Religion und Wissenschaft in der DDR keineswegs in zwangsläufiger Weise in Konkurrenz gerieten, sondern dies vielmehr eine von konkreten Akteuren intendierte und damit sozial hervorgebrachte Konkurrenz darstellte. Eine solche Wissenschaftsauffassung wurde nicht in der DDR erfunden. Anfänge finden sich in der Aufklärung, dann im 19. Jahrhundert, etwa bei Auguste Comte und verschiedenen positivistischen Strömungen. In Deutschland war zu dieser Zeit der Monismus außerordentlich stark und hatte mit dem Jenaer Biologieprofessor Ernst Haeckel einen äußerst prominenten und charismatischen Führer. Haeckel war entschiedener Vertreter der Darwinschen Abstammungslehre und wurde durch sein entsprechendes, oftmals polemisches Auftreten schnell auch außerhalb seiner Disziplin bekannt. Ein Glaube an übernatürliche Instanzen oder jenseitige Vorgänge, die mit dem irdischen Leben in Verbindung stünden, verbot sich aus monistischer Sicht von selbst und sollte einer rationalen und empirischen Sicht auf die Welt weichen. Die Kraft des eigenen logischen Denkens und des naturwissenschaftlichen Kausalverständnisses galt gegenüber religiösen und traditionellen Dogmen als überlegenes Prinzip. Dies verband sich mit teilweise wüster Kritik gegenüber der christlichen Religion. Schon im Gründungsmanifest von 1906 wurde diese als Hauptgegner und Hort des veralteten, traditionalen Denkens benannt. Zwar ging es den Monisten um die Überwindung des Christentums, gleichzeitig jedoch um eine neue, eigene ‚monisti170 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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sche Religion‘, der Haeckel in den „Welträtseln“ ein eigenes Kapitel widmete. Der bisherige Glaube, die veralteten Dogmen sollten ersetzt, die alten Formen neu gefüllt werden. Von Haeckels Postulierung einer monistischen Religion führte dies zum zeitweise versuchten Aufbau einer monistischen Kirche bis hin zur Ausrufung Haeckels als Gegenpapst bei einem Freidenkerkongress 1904 in Rom. 19 Solche und ähnliche Gruppierungen, und dies ist mein historisches Argument, gingen oft starke Bündnisse mit der Arbeiterbewegung ein und wurden dort stark rezipiert. Diese Arbeiterbewegung hatte nicht zuletzt ihre Hochburgen im ostdeutschen Raum, insbesondere in Sachsen, in Berlin und in Teilen Thüringens. Die Argumente und die Rede von einer wissenschaftlichen Weltanschauung nach 1945 waren also alles andere als neu, sondern in Ostdeutschland durchaus vorbereitet.
4. Szientismus und die Urania Die wichtigsten Orte zur Propagierung der wissenschaftlichen Weltanschauung waren Schulen, Universitäten und andere Bildungseinrichtungen, in denen solche Vorstellungen explizit oder implizit verbreitet wurden. Zudem fand eine solche Vermittlung aber auch an Orten statt, die nicht in diesem Maße politisch gerahmt waren und im Zentrum standen, gleichzeitig aber sehr wichtig waren, um ein spezifisches Wissen selbstverständlich werden zu lassen. Ein solcher Ort war die Urania. Die Urania trug den Untertitel „Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse“ und war die populärwissenschaftliche Einrichtung in der DDR. Zum Ende der 1980er Jahre hatte sie 45.000 Mitglieder, die als Refe19
Heiko Weber, Der Monismus als Theorie einer einheitlichen Weltanschauung am Beispiel der Positionen von Ernst Haeckel und August Forel, in: Paul Ziche (Hg.): Monismus um 1900, Berlin 2000, 81–127.
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renten in der gesamten Republik Vorträge hielten. Die Urania unterhielt Zweigstellen, die bis in den letzten Winkel des Landes reichten, und war offiziell verantwortlich für eine populärwissenschaftliche Bildungsarbeit, die – vordergründig – abseits parteipolitischer Versammlungen erfolgen sollte. So wie sich für die wissenschaftliche Weltanschauung bereits Vorläufer finden ließen, wurde auch die Urania nicht erst in der DDR gegründet. Sie stand vielmehr – einerseits – in der Tradition der bereits 1888 in Berlin gegründeten Urania, die ebenfalls eine der Popularisierung der Wissenschaft gewidmete Einrichtung war. Während diese sich vorwiegend an das bürgerliche Publikum wandte (und auch von bürgerlichen Protagonisten gegründet und betrieben wurde), berief sich die DDR-Urania – andererseits – auch auf eine kleine Einrichtung in Jena, die ebenfalls unter dem Titel Urania öffentliche Vorträge organisierte und populärwissenschaftlich publizierte. Diese beiden Organisationen standen gewissermaßen Pate, als in der DDR im Jahr 1954 die Urania wieder gegründet wurde und in den folgenden Jahren zu einer landesweiten Einrichtung ausgebaut wurde. 20 Inhaltlich deckte die Urania ein weites Feld ab, das die Naturwissenschaften ebenso umfasste wie Vorträge über historische Personen oder Reiseberichte, und auch wenn etwa für Betriebsbrigaden der eine oder andere Besuch von der Urania eher vorgeschrieben statt selbstgewählt war, war dieses Programm erfolgreich. In den letzten Jahren ihres Bestehens erreichte die Urania mit 417.000 Veranstaltungen ca. 12 Millionen Besucher. 21 Von Beginn an war jedoch auch die sogenannte „atheistische Bewusstseinsarbeit“ fester Bestandteil der Urania-Arbeit. Dieses atheistische Programm konnte sich in gesonderten Vorträgen oder Broschüren niederschlagen, war aber auch impliziter oder explizi-
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Bereits ein Jahr zuvor hatte sich in West-Berlin eine Urania wiedergegründet, die sich explizit in der Linie der Urania des Kaiserreiches sah. 21 Schmidt-Lux, Wissenschaft (Anm. 12), hier 235 ff.
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ter Teil naturwissenschaftlicher oder auch historischer Vorträge und erreichte so große Teile des Publikums. Schon am Tag nach der Gründung wurde diese Dimension der Urania-Arbeit erkennbar. Das SED-Zentralorgan Neues Deutschland verkündete die Gründung auf der Titelseite unter der Überschrift „Das Licht des Wissens dem ganzen Volk“ und forderte im Folgenden einen Kampf gegen „Finsternis und Unwissenheit“ sowie „Aberglauben“, der über Vorträge und andere Veranstaltungen geführt werden solle. Hauptsächliches Mittel in diesem Kampf sei die Wissenschaft – denn diese werde von den „Volksmassen zur Erfüllung ihrer geschichtlichen Mission“ benötigt „wie die Luft zum Leben“. 22 Die anti-religiöse, szientistische Arbeit der Urania lässt sich in drei Etappen einteilen. Die erste Phase war durch einen offenen Atheismus gekennzeichnet. In den 1950er Jahren verlief dieser Teil der Urania-Arbeit rüde und direkt und äußerte sich in offen religionskritischen Vorträgen und Broschüren bzw. Büchern. Der atheistische Impetus der Organisation wurde offen angesprochen. Es sei davon auszugehen, „dass die Darlegung naturwissenschaftlicher Probleme zur Bildung einer dialektisch-materialistischen Weltanschauung beitragen soll. Das ist nur möglich, wenn die Vermittlung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in der Auseinandersetzung mit der Religion erfolgt.“ Die Behandlung naturwissenschaftlich-weltanschaulicher Themen erfolge daher nicht zuletzt mit dem Ziel, der „ideologischen Beeinflussung durch die Kirche entgegen zu treten“. 23 Angesichts von zum damaligen Zeitpunkt auch noch zahlreichen Kirchenmitgliedern und einer relativen Verankerung in Teilen der Bevölkerung wurde als Ziel der Organisationsarbeit formuliert, „die Bevölkerung gegen die vorhandenen Erscheinungen mehr und mehr immun zu machen.“ 24 22
Schmidt-Lux, Wissenschaft, (Anm. 12), hier 217 ff. Sitzung des Büros vom 1. 5. 1958, in: SAPMO-BArch, DY 11/66, unpaginiert. 24 Sitzung des Sekretariats vom 28. 12. 1955, in: SAPMO-BArch, DY 11/150, unpaginiert. 23
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Vorträge und Publikationen stellten schon damals die Hauptmittel der Urania-Arbeit dar. Gerade letztere widmeten sich vergleichsweise häufig dem Thema Religion und verbanden wissenschaftliche Bildung mit atheistischer Einstellung. Titel wie „4000 Jahre Kampf um das Weltbild“, „Wissenschaftliche Voraussicht – religiöses Vorurteil“ oder „Wissenschaft contra Gottesglaube“ seien beispielhaft für diese Ausrichtung genannt. Mit dem Beginn der 1960er Jahre ließ sich hier aber eine deutliche Entspannung beobachten. Die Linie änderte sich in Richtung einer eher impliziten Religionskritik. Zwar verschwanden atheistisch ausgerichtete Veranstaltungen nicht gänzlich aus dem Urania-Programm, gingen jedoch erkennbar zurück. Religion wurde zwar kaum noch offen thematisiert oder gar angegriffen, war aber implizit Thema, wenn es um die Notwendigkeit der richtigen Weltanschauung ging. Zudem wurde die weltanschauliche Qualität von Wissenschaft wieder mit mehr Rigidität betont und vertreten und eine „neue Stufe“ des Atheismus als Ziel ausgewiesen. 25 Letztmalig intensivierte sich die ideologische Propaganda der Urania mit Beginn der 1980er Jahre. Auf Religion wurde nach wie vor selten explizit Bezug genommen. Stattdessen näherte sich die Urania der Religion über eine historisierende Perspektive. Religion erschien dabei als längst vergangenes, zudem genuin sozial bzw. politisch motiviertes Phänomen. Bei den Ehrungen von Müntzer und Luther, die in dieser Dekade stattfanden, wurden diese als historisch zentrale Personen zwar durchaus anerkannt, ihre religiöse Seite jedoch im Grunde gänzlich ausgespart. Noch unsicherer war man im Umgang mit aktuellen religiösen Phänomenen bzw. der Kirche. Zumeist wurde dieses Thema ganz ausgelassen; es gab im Grunde keine offen kirchenkritischen Äußerungen. Aber immerhin: Noch im Jahr 1981 führte die Urania eine neue Auszeichnung ein, die die höchste Ehrung der Organi25
Bericht über die Tätigkeit des Urania-Verlages, S. 3, Sitzung des Büros vom 9. 1. 1976, in: SAPMO-BArch, DY 11/100.
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sation darstellen sollte. Die Medaille trug bezeichnenderweise den Namen Ernst Haeckels. Dies verdeutlicht augenfällig die szientistische Tradition, in der sich die Urania sah und in der sie bis zum Ende der DDR stand. Durchgängig ließ sich in ihrem Programm und in ihren Veranstaltungen ein expliziter Gegensatz von Wissenschaft und Religion nachweisen; Wissenschaft wurde in direkter Konkurrenz zur Religion und zugleich – siegessicher – als ihr historischer Nachfolger gesehen.
5. Rezeption und Erfolg Woran kann man nun den ‚Erfolg‘ dieser Bemühungen erkennen? Anders gesagt: Was lässt sich über die tatsächliche Rezeption der Rede von der wissenschaftlichen Weltanschauung sagen? Zum einen findet sich in vergleichenden Umfragen der Befund, dass Ostdeutsche – verglichen mit westdeutschen Befragten – deutlich optimistischere Einschätzungen von Wissenschaft und Technik vornehmen. Doch nicht allein das. Die entsprechenden Befragungen ließen erkennen, dass sich die Orientierungen der ostdeutschen Befragten als regelrechte „immanente Sinnordnungen“ beschreiben lassen. Dies beinhaltet, das Leben zwar nicht als durch Gott beeinflusst, aber eben auch nicht als von Willkür und Zufall bestimmt anzusehen. Handlungsleitend ist vielmehr die Konzentration auf die eigenen Kräfte, auf Vernunft und Verstand. Dies geht mit der deutlichen Diskreditierung von christlichen Topoi einher. Das Verhältnis von Wissenschaft und Religion wird als explizit konkurrierend und als sich gegenseitig ausschließender Gegensatz verstanden. 26 26
Dieter Jaufmann, Für den Fortschritt! Einstellungen zu Technik in Ost und West, in: ders. u. a., Empirische Sozialforschung im vereinten Deutschland. Bestandsaufnahmen und Perspektiven, Frankfurt/M. 1992, 217–265; Heiner Meulemann,Werte und Wertewandel. Zur Identität einer geteilten und wieder vereinten Nation, Weinheim 1996; Monika Wohlrab-Sahr / Friederike Benthaus-Apel, Weltsichten. in: Wolfgang Huber et al. (Hg.), Kirche in der Vielfalt der Lebens-
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Wir haben solche Umfragen jedoch noch nicht als abschließenden Befund, sondern eher als Anlass genommen und sind dem stärker nachgegangen. In einem mehrjährigen Forschungsprojekt interviewten wir Familien, Gruppen und Einzelpersonen in Ostdeutschland und gingen dabei insbesondere religionssoziologischen Fragen nach. 27 Auch in diesen Gesprächen zeigte sich, dass die szientistische Argumentation nicht reine Propaganda blieb, sondern subjektiv (in sicherlich unterschiedlichem Maße) übernommen wurde. Zudem wurden in den Interviews auch die biographischen Logiken erkennbar, nach denen solche subjektiven Plausibilisierungen abliefen. Im Folgenden möchte ich einige dieser Interview-Befunde kurz präsentieren, um das bisher Gesagte noch einmal plastischer werden zu lassen und insbesondere die Rezeption des Szientismus vor Augen zu führen. Der erste Ausschnitt ist einem Interview mit einer Dresdner Familie entnommen. 28 In der Passage antwortet die Großmutter der Familie auf die Frage der Interviewerin: I: Gm: I2: Gm:
Was würden Sie denken, kommt nach dem Tod? Asche. Asche. Und nichts anderes. Das finden Naturwissenschaftler {schmunzelt}
Mit ihrer Äußerung bewegt sich die Großmutter ganz auf der Linie dessen, was in der DDR als wissenschaftliche Weltanschauung bezeichnet wurde. Szientismus und Atheismus gehen hier Hand in Hand; das Bekenntnis zu den Naturwissenschaften impliziert eine umfassende Interpretation nicht nur der immanenten Welt, bezüge. Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2006, 281–329. 27 Monika Wohlrab-Sahr / Uta Karstein, Thomas Schmidt-Lux, Forcierte Säkularität. Religiöser Wandel und Generationendynamik im Osten Deutschlands, Frankfurt / New York 2009. 28 Vgl. Wohlrab-Sahr, Forcierte Säkularität (Anm. 27), besonders 207 ff.
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sondern auch ihrer Grenzen. Religion – als mögliche Option auf die Frage der Interviewerin – kommt nicht in Frage oder nur noch als irrationaler Rest in den Blick. Eine andere Variante dieser Haltung sind Vorstellungen, in denen der Leichnam im Hinblick auf seinen Nutzen in den Blick kommt. So zitiert eine der Interviewpartnerinnen ihren Vater mit den Worten „Mein Vater hat immer gesacht: „Nich’ auf ’n Friedhof. Schmeißt mich auf ’n Komposthaufen, da bin ich noch zu was nutze.“ In einem anderen Familiengespräch erzählt die Mutter (geboren 1949) von ihrer Kindheit und dem Aufwachsen mit einer religiösen Großmutter: M:
Und ja, und diese diese Oma (…) war sehr gläubig. Ich weiß noch, als se mir sachte, Gagarin flog das erste Mal im Weltall: „Kind jetzt wirste seh’n, jetzt kommt der liebe Gott und haut ihm was auf ’n Deckel“. I: {lacht} Hat se wirklich gesagt? M: Hat se gesagt. (…) Nun muss man sagen, sie war also auch ’n schlichter Mensch. Die hatten damals keine große eu/achte Klasse. Ah ?noch nich’ ma. GM: ?Ach Dorfschule ?irgend’n M: ?Also auf’m Dorf groß geworden und, aber ähm, ja, äh, hatte ihre moralischen Grundwerte aus der Bibel eben, nich’? (…) Und durch sie hab ich so ’n bisschen diesen christlichen, also bin ich an die Bibel rangeführt worden. Und da ich in Opposition stand mit den Jungpionieren und so weiter, en bisschen also mit diesem Staat, gefärbt durch meinen Vater wieder, eh bin ich, äh hab’ ich mich also zu diesem Christlichen hingezogen gefühlt. Außerdem war ich ein sehr phantasievoller Mensch (2) und alles was mit Mythos und mit, des, was ’n bisschen Märchen und Geschichten, das fand ich toll.“ 29
29
Wohlrab-Sahr, Forcierte Säkularität (Anm. 27), 148 ff.
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Die Großmutter steht hier stellvertretend für einen Komplex aus Unwissen, Bildungsferne und religiösem Glauben. Das Sprechen über ihre Bemerkung zu Gagarin muss als Karikierung religiöser Weltdeutungen gelesen werden, die nur als abergläubisch und vormodern angesehen werden können und entspricht damit exakt dem offiziellen Framing. Zunächst jedoch wird die Mutter aber in ihrer Kindheit durch solche Überzeugungen geprägt. Verstärkt wird dies durch die Übernahme der distanzierten Haltung des Großvaters gegenüber den staatlichen Organen. Diese Distanz reproduziert sich für die Mutter in ihrem kindlichen Alltag über das Gefühl der Zugehörigkeit: Jungpioniere vs. Christenlehre. Obwohl ihre Eltern sie nicht hatten taufen lassen, entscheidet sich die Mutter als Jugendliche für Taufe und Konfirmation. Als weiteren Grund für die Attraktivität christlicher Glaubensinhalte nennt die Mutter ihre Fantasie. In dieser Perspektive wird der Glaube zum Fundus von Mythen und Geschichten, die man erzählen und von denen man sich anregen lassen kann. Damit steht Religion aber weder für verbindliche Glaubenssätze noch für eine persönliche Glaubenshaltung, sondern wird zum Kulturgut. Die Inhalte werden dabei austauschbar. In dieser retrospektiven Betrachtung des eigenen Verhältnisses zum Glauben kündigen sich deutliche Tendenzen einer späteren subjektiven Säkularisierung an. Im Verlauf der höheren Klassen vollzieht sich bei der Mutter – trotz der getroffenen Mitgliedschaftsentscheidung – eine zunehmende Abwendung vom Glauben: M:
Und äh, ja, dann später setzten dann die naturwissenschaftlichen Fächer bei mir ein in der Schule. Und dann kam das, das, da, ja das Wissen dazu, und dann sagt man sich ‚Nein‘. Weil ich ja den Glauben in dieser, in die- ser kleinen einfachen Form kennen gelernt habe, dacht’ ich mir: ‚Des is’ ja alles Humbug. Das is’ Humbug. Man kann alles erklären. Der Mensch wird irgendwann alles eh ’rausfinden‘, wie uns also die Genossen auch immer gesagt haben: ‚realistisches Men-
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schenbild‘ und so weiter. Toll, ja. Also zum Kommunisten bin ich trotzdem nicht geworden, aber erst mal zum Atheisten. Es ist vor allem die naiv anmutende Form des Glaubens, von der sich die Mutter im Laufe ihrer Schulzeit abwendet und zunächst „zum Atheisten“ wird. Die durch die Großmutter repräsentierte Glaubensform steht nun für „Humbug“, der dem Fortschrittsoptimismus und der Macht der Wissenschaft nichts entgegen zu setzen hat. In diesen Aussagen spiegelt sich ein Argumentationsmuster wider, das die Religionskritik der SED wie ein roter Faden durchzog: Religion stand für Aberglauben und falsches Wissen, Wissenschaft demgegenüber für Wahrheit und Erkenntnisfähigkeit. Gleichwohl muss gesagt werden, dass die im Szientismus klassischer Prägung beanspruchte Potenz der Wissenschaft zur Bearbeitung von Sinnfragen und moralischen Urteilen sich in den entsprechenden Interviews nicht ungebrochen wiederfindet. Offensichtlich ist dies jener ideologische Bereich, der bei einer Übersetzung in reales Leben am schwierigsten passfähig ist. Da aber jegliche Jenseitsvorstellung abgelehnt wird, ergibt sich als Bereich der Bearbeitung von Sinnfragen und insbesondere der Frage eines Weiterlebens nach dem Tod notwendig eine Konzentration auf immanent Gegebenes. Zudem werden auch die Chancen zur generellen Verbreitung und Durchsetzung wissenschaftlicher Prinzipien sehr zurückhaltend bewertet. Zwar wird an der prinzipiellen Fähigkeit von Wissenschaft, Wohlstand und Glück für alle zu gewährleisten, nicht gezweifelt. Machtpolitische und ökonomische Prinzipien stünden der ‚naturwissenschaftlichen Vernunft‘ als regelrechte anthropologische Barrieren im Wege. Eigentlich nutzbringende Erkenntnisse werden als anfällig für Missbrauch und Pervertierung gesehen, was sich insbesondere aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ableitet. Zudem, und dies rekurriert deutlich auf das gescheiterte weltanschauliche Projekt der DDR, wird eine Art ‚anthropologische Grundlage der Religion‘ konstatiert, die in einer 179 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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Anfälligkeit des Menschen für religiöse Angebote in Situationen von Unsicherheit und Trauer besteht. Selbst noch so intensive wissenschaftliche Aufklärungsarbeit könne dies nicht umgehen. Im Ergebnis lässt sich somit bei den von uns Interviewten nicht von einem ungebrochenen Wissenschaftsglauben sprechen; an die Wissenschaft werden nur eingeschränkte Heilserwartung herangetragen. „Der ‚Erfolg‘ der DDR-Religionspolitik besteht somit offenbar zu großen Teilen in der Akzeptanz säkularistischer, antireligiöser Positionen, die in starkem Maße durch die staatlicherseits forcierte Konstruktion eines grundlegenden Konfliktes von Wissenschaft und Religion vermittelt wurden und auf Überzeugung stießen. Auch ohne die weltanschauliche Überhöhung der Wissenschaften zu übernehmen, wurde die anti-religiöse Argumentation des Szientismus akzeptiert, was schließlich säkularisierende Wirkungen entfaltete“. 30
6. Fazit Deutlich sollte geworden sein, dass ein Verständnis des Säkularisierungsprozesses in der DDR als rein „erzwungen“ deutlich zu kurz greift. Aus einer solchen Perspektive bleiben auch derzeitige Entwicklungen unverständlich, etwa die Langlebigkeit der Jugendweihe, die neben attraktiven konfessionellen Schulen steht. 31 Wir haben diese Haltung, die sich herausbildete und nur im Zusammenspiel von politischen Intentionen, historischen Vorbedingungen und Eigenleistungen der Akteure zu verstehen ist, als erzwungenes Eigenes bezeichnet – als „forcierte Säkularität“. 32 Durch politisch-repressive Maßnahmen, aber eben auch durch allgegenwärtige weltanschauliche Propaganda und Überzeugungs30
Schmidt-Lux, Wissenschaft (Anm. 12), hier 384. Barbara Thériault hat deshalb die These einer „heimlichen Vermählung“ von Bürgertum und Religion in Ostdeutschland formuliert. Vgl. https://www.freitag. de/autoren/barbara-theriault/heimlich-verheiratet-religion-und-buergertum-1. 32 Wohlrab-Sahr, Forcierte Säkularität (Anm. 27). 31
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Haeckels Erben. Programm und Rezeption des Szientismus in Ostdeutschland
arbeit wie über die Urania wurde ein Weltbild zur Selbstverständlichkeit, das Wissenschaft gegenüber der Religion ausspielte und beides als sich wechselseitig ausschließend interpretierte. Dieses Weltbild wurde in der Bevölkerung nicht allein als politische Propaganda abgetan, sondern subjektiv plausibilisiert und – nicht zuletzt vor dem Hintergrund ohnehin schon loser Kirchenbindung – übernommen und nachhaltig verankert. In Bezug auf das Verhältnis von Religion und Wissenschaft zeigt sich damit, aus meiner Sicht, dass Konflikte zwischen beiden Sphären eben nicht (oder nicht nur) als Konflikte von spezifischen unterschiedlichen Logiken zu denken sind, sondern dass es eben auch Konflikte sind, bei denen die Deutungen von Akteuren ins Spiel kommen und dort dann die soziale Realität der Beziehung von Wissenschaft und Religion verhandelt wird. Zwar kann auf Max Webers theoretisch durchaus überzeugende Feststellung verwiesen werden, dass „keine noch so radikale Erfahrungswissenschaft es vermag, das eigene Recht religiöser (oder ästhetischer oder moralischer) Erfahrungen prinzipiell aufzuheben, ihre Erkenntnisse an die Stelle eines religiösen Welt- und Selbstverhältnisses zu setzen“. 33 Gleichwohl ist damit noch nichts über die soziale Realität der Beziehung von Wissenschaft und Religion gesagt, denn diese wird von den Akteuren immer aufs Neue kommunikativ und handlungspraktisch erzeugt. Und wie das Beispiel der DDR zeigt, vermag dann auch die – dem Weberschen Diktum widersprechende – Behauptung der direkten Konkurrenz und unterschiedlichen Wertigkeit von Wissenschaft und Religion auf Zustimmung stoßen.
33
Johannes Weiß, Das Eigenrecht der Religion und die Eigenart Max Webers, in: Hartmut Lehmann / Jean Martin Ouédraogo (Hg.), Max Webers Religionssoziologie in interkultureller Perspektive, Göttingen 2003, 301–310, hier 304.
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Säkularer Humanismus und christlicher Glaube Florian Baab, Münster
1. Begriffsgeschichte und -bestimmungen Was eigentlich ist Humanismus? Oder noch konkreter gefragt: Wer kann sich wohl mit Recht als Humanist bezeichnen, und wer nicht? – Diese Frage mag befremdlich wirken, verbinden wir diesen Begriff doch eher mit Protagonisten einer historischen Epoche oder, wenn mit Zeitgenossen, dann mit solchen, die zumindest eine altsprachlich geprägte Bildung genossen haben. Geht man jedoch nach der allgemeinen Bedeutung des Wortes laut dem „Duden“, sollte sich hier und heute im besten Fall niemand ausnehmen: Humanismus wird dort nämlich gefasst als „Denken und Handeln im Bewusstsein der Würde des Menschen“. 1 Ganz ähnlich liest sich dies in der Brockhaus-Enzyklopädie: Hier findet sich als generelle Semantik von „Humanismus“ das „Bemühen um Humanität, um eine der Menschenwürde und freien Persönlichkeitsentfaltung entsprechende Gestaltung des Lebens und der Gesellschaft“. 2 Es scheint sich also grundsätzlich so zu verhalten: Humanist ist, wem am Menschen liegt; als Antihumanist könnte damit nur der unverbesserliche Misanthrop gelten, oder derjenige Zeitgenosse, der einem guten Teil der
1
Humanismus, in: Duden. Deutsches Universalwörterbuch, Mannheim, Zürich 2011, 889. 2 Humanismus, in: Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden, Bd. 12, Leipzig, Mannheim 212006, 777 f. 7
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Säkularer Humanismus und christlicher Glaube
Grundwerte unserer westlichen Gesellschaftssysteme ablehnend gegenüber steht. Die Gründe dafür, dass der Terminus „Humanismus“ – im Gegensatz zu anderen im 19. Jahrhundert festgeschriebenen „-ismen“, wie Liberalismus, Sozialismus, Hellenismus – so schwer auf einen konkreten Punkt jenseits der reinen Menschenfreundlichkeit zu bringen scheint, liegen in seiner komplexen Begriffsgeschichte: 3 Er erscheint, später als meist gedacht, erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts; bei den sogenannten „Renaissance-Humanisten“ wie Pico della Mirandola und Erasmus von Rotterdam findet sich der Begriff nicht, und noch in den Schriften eines der vermeintlich größten Humanisten der Neuzeit, Wilhelm von Humboldt, wird man vergeblich nach ihm suchen. Erst im Jahr 1808 wurde das Wort „Humanismus“ durch Friedrich Immanuel Niethammer zur Charakterisierung eines konservativen Bildungsideals verwendet und dann, gegen Mitte des 19. Jahrhunderts, von protestantischen Historikern zur Abgrenzung der Renaissancezeit von der vorhergehenden Epoche der Scholastik gebraucht. Kurz darauf entdeckten die Linkshegelianer um Arnold Ruge den Begriff als Schlagwort für ihre Gesellschaftsutopien; auch der junge Karl Marx bezeichnete den Kommunismus zunächst als „vollendete[n] Humanismus“. 4 Nachdem deutsche Exilschriftsteller in den 1930er Jahren im Namen des Humanismus gegen die Ideologie des Nationalsozialismus ins Feld gezogen waren, 5 brach nach dem 2. Weltkrieg schließlich die Hochzeit der 3
Vgl. hierzu ausführlich: Florian Baab, Was ist Humanismus? Geschichte des Begriffes, Gegenkonzepte, säkulare Humanismen heute, Regensburg 2013, 25– 107. 4 „[Der] Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit d[em] Menschen […].“ Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (Zweite Wiedergabe), in: Werke, Artikel, Entwürfe, März 1843 bis August 1844 (MEGA 1/ 2), Berlin 1982, 323–438, 389. 5 Vgl. hierzu Paris 1935 – Erster Internationaler Schriftstellerkongress zur Ver-
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Florian Baab
Humanismen an: Christliche, existentialistische, sozialistische und andere Humanismen traten zueinander in Konkurrenz; die Semantik des Begriffes verlor sich endgültig ins Unscharfe. Christian E. Lewalter, ein Journalist der Wochenzeitung „Die Zeit“, stellte bereits 1953 fest, man müsse heute „den Eindruck bekommen, dass wir, unmittelbar nach Hitler, sofort in die Epoche eines ‚neuen Humanismus‘ eingetreten seien.“ 6 Und so koexistierte, während die Kinder der Wirtschaftswunderzeit das Humanistische Gymnasium absolvierten, der „integrale Humanismus“ des Jesuiten Jacques Maritain mit dem „realen Humanismus“ der frühen DDR; was beide teilten, war lediglich ein auf idealistisches Gedankengut zurückgehender Optimismus in Bezug auf die Fähigkeit der menschlichen Vernunft, zur höchsten Erkenntnis der Struktur von Welt und Gesellschaft vorzudringen. Der Humanismus in seiner historischen Form wurde damit zu einer Leerformel für das – mit Lyotard gesprochen – Konzept der für die Moderne charakteristischen „großen Erzählungen“, die den Anspruch erheben, universal gültige Wahrheiten über Wesen und Ziel von Mensch und Natur formulieren zu können. 7 Wie nun konkret dieses Wesen und Ziel auszusehen haben, wird dabei von jedem Humanismus unterschiedlich beantwortet. In seinem „Brief über den Humanismus“ artikulierte Martin Heidegger schon im Jahr 1946 das sich hieraus ergebende Problem einer irreduziblen Variabilität aller einzelnen Humanismen: „Versteht man […] unter Humanismus allgemein die Bemühung darum, dass der Mensch frei werde für seine Menschlichkeit und darin seine Würde finde, dann ist je nach der Auffassung der ‚Freiheit‘ und der ‚Natur‘ des Menschen der Humanismus verschieden“. 8 teidigung der Kultur. Reden und Dokumente (Hg. Akademie der Wissenschaften der DDR), Berlin 1982. 6 Christian E. Lewalter, Es kann auch zuviel Humanismus geben. Bemerkungen zu einer Kritik am abendländischen Menschenbild, in: Die Zeit (25. 06. 1953), 6. 7 Vgl. hierzu Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 21993, 14. 8 Martin Heidegger, Brief über den „Humanismus“, in: Wegmarken (Gesamt-
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Säkularer Humanismus und christlicher Glaube
Die oben erwähnten gängigen Begriffsbestimmungen des Humanismus im Sinne von „Duden“ und „Brockhaus“ sind zu sehen als Versuche, das Wesen des Humanismus trotz der extremen Vieldeutigkeit, die sich aus dem genannten Sachverhalt ergibt, in Form einer allgemeinen Definition zu erfassen und dabei der Innensicht das letzte Wort zu lassen: es wird versucht, festzuschreiben, was verschiedene Vertreter unterschiedlicher Humanismen im Lauf der Zeit als Kernbestand humanistischen Denkens bestimmt haben. Ein hieraus resultierendes Problem ist es, dass all diese Definitionen nicht wertneutral, sondern positiv ausfallen. Zwei weitere Probleme kommen hinzu: Die Umschreibung dessen, was als Inhalt jedes Humanismus gelten kann, ist sehr allgemein gehalten; zugleich wird jeweils auf komplexe Begriffe verwiesen, die im Grunde wiederum einer Definition bedürfen (Humanität, Menschlichkeit, Menschenwürde). Es wäre daher zunächst eine neue, stärker formal gehaltene Begriffsbestimmung von „Humanismus“ vorzuschlagen, die von konkreten Inhalten weitestmöglich abstrahiert – sie könnte lauten: Der zentrale Wert des Humanismus ist das Menschheitskollektiv. Ausgehend von einem konkreten Menschheitsideal wird eine Gesellschafts- oder zumindest Bildungsutopie entworfen, die sich gegen bestimmte bestehende Verhältnisse richtet. Auf diese Weise bleibt der Grundimpuls des Humanismusbegriffes gewahrt: Er dient sozusagen als Vehikel für unterschiedliche „große (Einzel-)Erzählungen“ der Moderne (Hellenismus, Kommunismus, Sozialismus, christlich geprägte Gesellschaftsutopien). Dass es nie einer dieser Konnotationen gelang, absolute Deutungshoheit über den Begriff zu erlangen, ist der Weite dieses semantischen Rahmens geschuldet, der eben weit mehr als nur eine konkrete Füllung zulässt. 9
ausgabe I/9, Hg. Friedrich-Wilhelm von Herrmann), Frankfurt a. M. 91976, 313–364, 321. 9 Vgl. hierzu ausführlich Baab, Was ist Humanismus? (Anm. 3), 25 ff. sowie 122–126.
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Nun gilt die Zeit der „großen Erzählungen“ in der Regel spätestens seit 1989 als beendet, und auch um den Humanismus war es bereits seit Mitte der 1970er Jahre relativ ruhig geworden: Da kaum mehr umfassende Gesellschaftsutopien produziert wurden, die der Menschheit eine weltimmanente Erlösung in Aussicht zu stellen können glaubten, hatte auch der Humanismusbegriff als Vehikel für solche Utopien ausgedient; lediglich die inzwischen historischen Festschreibungen „Renaissance-Humanismus“ und „Humanistische Bildung“ (letztere in der Regel erworben am „Humanistischen Gymnasium“) lebten als allgemein akzeptierte Termini fort. Da nun gründete sich kurz nach der „Wende“ ein „Humanistischer Verband Deutschlands“ – nicht aber, wie man meinen könnte, als Vereinigung von Förderern der altsprachlichen Bildung oder geistesgeschichtlich interessierter Historiker, sondern als Zusammenschluss mehrerer freidenkerischer Verbände. Bevor erläutert werden kann, wofür dieser „säkulare Humanismus“ im Einzelnen steht, wäre zunächst zu fragen, wie es überhaupt zu dieser Neubesetzung des Begriffes kam – und wie dieser „neue Humanismus“ zur ursprünglichen Semantik des Humanismusbegriffes steht.
2. Semantische Wende Die Geschichte der deutschen Freidenker-Bewegung ist ein unübersichtliches und zugleich wenig erforschtes Feld; es sollen daher nur einige Hinweise zur jüngsten Geschichte genügen: Bereits seit Mitte der 1980er Jahre hatte man sich in freidenkerischen Kreisen zunehmend unzufrieden mit der eigenen Namensgebung gezeigt; man musste schmerzlich feststellen, dass der Begriff „Freidenker“ im Sinne einer Freiheit von Religion in Zeiten einer stillschweigenden Abkehr vieler Menschen von religiösen Deutungsmustern und einer zugleich zunehmenden Pluralisierung gesellschaftlich akzeptierter Lebensentwürfe kaum mehr begeistern konnte. Zudem waren andere säkulare Verbände, insbesondere in 186 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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den Niederlanden und Norwegen, unter der Selbstbezeichnung als „humanistische“ Vereinigungen bereits durchaus erfolgreich. Nach einer mehrjährigen Anlaufphase schlossen sich daher im Jahr 1993 vorerst fünf freidenkerische Organisationen zum „Humanistischen Verband“ zusammen. 10 Die bemerkenswerte semantische Wende, die sich in dieser Umbenennung ausdrückt, ist der Schritt von einer Negation – Freidenkertum als Freiheit von Religion – hin zu einer Position: Humanismus als Bekenntnis zum (rein immanent gedachten) Menschen. Allerdings präsentiert sich dieser Humanismus nun zugleich, im Gegensatz zu seinen Vorläufern, in einer offeneren, pluralismusfreundlicheren Form als die oben erwähnte historische Semantik. Klaus Sühl, einer der Mitbegründer des Humanistischen Verbandes, fasste das Ansinnen der neuen Vereinigung so: „Unser Ziel ist es, den Menschen zu helfen und sie zu ermutigen, ein Leben ohne Religion und Kirchen, […] ohne Heilslehren und Heilsversprechungen weltlicher und himmlischer Art zu führen. Dabei können wir einen weltlichen Humanismus und unseren organisierten Zusammenhalt als Orientierungspunkte anbieten, müssen gleichzeitig jedoch darauf hinweisen, dass unsere humanistischen Prinzipien keine festgefügten Dogmen sind, die […] unserer Arbeit und unserem Leben bis zum Ende Richtung und Sinn geben. Nur wenn wir unsere Offenheit bewahren, nur wenn wir tagtäglich Antworten und Lösungen für die Probleme suchen, die sich neu stellen, werden wir der persönlichen Verantwortung für uns, unsere Mitmenschen, für die Menschheit und unseren Planeten gerecht.“ 11 – Die Semantik von „Humanismus“ hat sich, zumindest in dieser Fassung, radikal gewandelt und kurz nach 1989 das „Ende der großen Erzählungen“ mitvollzogen: An Stelle des Menschheitskollektivs tritt der Einzelne, an Stelle der konkreten Utopie das im permanenten Wandel befindliche Bemühen um den bestmög10
Vgl. Baab, Was ist Humanismus? (Anm. 3), 133–141. Klaus Sühl, Freidenkertum: Noch zeitgemäß?, in: diesseits. Zeitschrift für Humanismus und Aufklärung 4 (1991), 8.
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lichen Weg, an Stelle des Ziels der Geschichte die zumindest partikuläre Verbesserung gegebener Verhältnisse. Eine semantische Revolution des Humanismusbegriffes – die allerdings den NeuHumanisten von damals gar nicht so sehr bewusst gewesen sein dürfte. 12 Der 1993 gegründete „Humanistische Verband“ besteht bis heute; hinzu kommt eine ebenfalls sehr aktive Neugründung aus dem Jahr 2004, die „Giordano-Bruno-Stiftung“, die sich der Förderung eines „evolutionären Humanismus“ verschrieben hat und einen stärker religionskritischen Schwerpunkt setzt. Beide Organisationen verstehen es durchaus, ihre Anliegen gezielt in die Gesellschaft zu vermitteln. 13 Heute sind in Deutschland immerhin einige zehntausend Menschen Mitglieder von Vereinigungen mit „humanistischer“ Zielsetzung, zudem erreicht allein der „Humanistische Verband“ durch Dienstleistungsangebote wie Kindertagesstätten, Schulunterricht und Beratungsangebote verschiedener Art ein mehr als Zehnfaches dieser Mitgliederbasis. 14 Auch literarisch sind diese Verbände aktiv: Das sogenannte „Manifest des evolutionären Humanismus“, das die zentralen Anliegen der Giordano-Bruno-Stiftung artikuliert, hat inzwischen eine Auflagenhöhe von über 45.000 Exemplaren erreicht. 15 Angesichts solch harter Fakten lohnt es mehr denn je, sich auf die bereits über 40 Jahre alten Worte Walter Kaspers zu besinnen, dass diejenigen Atheisten, „deren Herz wirklich unruhig ist“, heute „geradezu 12
Vgl. ausführlich Baab, Was ist Humanismus? (Anm. 3), 222–227. Im medialen Bereich wären hier insbesondere die vielfrequentierten OnlineAuftritte http://humanismus.de, http://www.giordano-bruno-stiftung.de sowie das unter Journalisten populäre humanistische Presseportal http://hpd.de zu nennen. 14 Vgl. Andreas Fincke, Klein – aber einflussreich. Anspruch und Wirklichkeit kirchenkritischer Organisationen, in: Herder Korrespondenz 2 (2011), 77–82, 77 ff. 15 Michael Schmidt-Salomon, Manifest des evolutionären Humanismus. Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur, Aschaffenburg 22006. Auskunft über die Auflagenhöhe durch den Alibri-Verlag vom 17. 03. 2014. 13
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zum pastoralen Glücksfall geworden“ seien angesichts des herrschenden „Ethos der Sachlichkeit“, durch das die Frage nach Gott im Raum der zeitgenössischen Philosophie als sinnlos, als „eine Aussage, die man weder verifizieren noch falsifizieren kann“ betrachtet werde. 16 Diese Diagnose hat nichts von ihrer Aktualität verloren: Trotz einer inzwischen weitgehend vollzogenen Abkehr von der harten Säkularisierungsthese, die besagt, dass Religion als öffentliches Phänomen im Zuge des Modernisierungsprozesses gesamtgesellschaftlich betrachtet immer stärker auf dem Rückzug sei, 17 scheinen sich im intellektuellen, insbesondere im philosophischen Diskurs unserer Zeit die Gottesfrage allenfalls noch die Theologen zu stellen; eine dezidierte Religionskritik sucht man – zumindest im deutschsprachigen Raum – auf dem Feld der Philosophie beinahe vergebens. Abseits der Theologie herrscht, was die sogenannten „letzten Fragen“ angeht, weitgehend Indifferenz. Die Entwürfe der zeitgenössischen säkularen Humanisten allerdings stehen in diesem Punkt dem Zeitgeist entgegen: In ihnen nimmt die Ablehnung des religiösen Glaubens (und deren Begründung) nach wie vor eine zentrale Rolle ein. Im Gegensatz zum weiten Feld der „religiös Indifferenten“ haben wir es bei den „Humanisten“ unserer Tage eben nicht mit Meinungslosigkeit, sondern mit einer Position (oder einem Bündel von Positionen) zu tun, das es religiösen Menschen möglich macht, hier in einen aktiven Dialog einzutreten. Diese Möglichkeit einer argumentativen Auseinandersetzung mit bekennenden Gegnern der Religion(en) und mit ihren Alternativmodellen sollte sich die Theologie nicht entgehen lassen – nicht nur ist dabei ein binnentheologischer Erkenntnisgewinn zu erwarten, sondern möglicherweise auch ein gewisser Impuls ad extra: Gerade in Zeiten eines starken Rationalismus und Szientismus kann die Demonstration 16
Walter Kasper, Die Theologie angesichts des heutigen Atheismus, in: GottFrage und moderner Atheismus, Regensburg 1972, 73–104, 76. 17 Vgl. hierzu Michael Reder, Religion in säkularer Gesellschaft. Über die neue Aufmerksamkeit für Religion in der politischen Philosophie, Freiburg / München 2013, 26–29.
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dessen heilsam sein, dass theologisches Denken sich solchen Diskursen nicht entzieht – auch und gerade dann, wenn es zu dem begründeten Ergebnis kommen sollte, dass die Grenzen von Rationalismus und Szientismus weitaus schneller erreicht sind, als ihre Anhänger behaupten möchten. 18
3. Elemente und Positionen des säkularen Humanismus Was genau sind nun die Zielsetzungen des zeitgenössischen „säkularen Humanismus“? In Bezug auf den „Humanistischen Verband“ finden wir die Antwort im sogenannten „Humanistischen Selbstverständnis“, einem 2001 von einem Gremium verfassten Text, der – so heißt es in den ersten Zeilen – „Voraussetzungen, Grenzen und Perspektiven des organisierten Humanismus“ artikulieren möchte. 19 Der HVD, so die Autoren des Textes, sei „eine Weltanschauungsgemeinschaft“, die sich die „gemeinschaftliche Pflege der humanistischen Weltanschauung und die Förderung des praktischen Humanismus“ zur Aufgabe mache; seine Mitglieder seien „durch säkulare ethische Lebensauffassungen verbunden“. Man sei der Überzeugung, dass ein „moderner praktischer Humanismus“ im Kern darin bestehe, „dass Menschen ein selbst bestimmtes und verantwortliches Leben führen, ohne sich dabei religiösen Glaubensvorstellungen zu unterwerfen“. Da die Säkularisierung in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts „einen 18
Natürlich ließe sich – so viel sei hier eingeräumt – seitens der Theologie auch das Argument vertreten, Anhänger des säkularen Humanismus seien schon alleine ihrer geringen Zahl nach eine vernachlässigbare Randerscheinung des Zeitgeistes, so dass eine intensivere Befassung mit ihnen kaum lohne. 19 Humanistisches Selbstverständnis. Beschlossen am 10. 11. 2001, [o. O.] [o. J.]. Das sechsseitige Dokument ist ohne Seitenzahlen erschienen, ihm entstammen alle nachfolgenden Zitate. Eine geringfügig abgeänderte Fassung ist online abrufbar unter: http://www.humanismus.de/sites/humanismus.de/files/Humanisti sches_Selbstverständnis_2011.pdf (Stand: Juni 2014). Der Verband arbeitet im Moment an einer Nachfolgefassung, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Beitrags bereits einsehbar sein dürfte.
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neuen Grad“ erreicht habe, wolle man auch „die Interessen und Bedürfnisse derjenigen Menschen aufnehmen und vertreten, die sich zu einer selbst bestimmten, nichtreligiösen, ethisch begründeten Weltanschauung und Lebensauffassung bekennen“. Zwar wolle man die „Dominanz der christlichen Kirchen“ überwinden, achte jedoch „alle religiösen und weltanschaulichen Orientierungen“, falls in diesen nicht „Menschenrechte verletzt oder missachtet“ würden. – Das ist also ein erster wesentlicher Punkt: Humanismus als Freiheit von Religion, aber nicht als Freiheit von ethischen Pflichten, verbunden mit dem durchaus anzweifelbaren Anspruch, dass man nicht nur für sich selbst spricht, sondern für alle konfessionsfreien Menschen in diesem Land. Der „moderne praktische Humanismus“ des HVD, so heißt es weiter, stehe „in den freigeistigen Traditionen der Aufklärung sowie de[r] atheistischen, freireligiösen, freidenkerischen und humanistischen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts“. „Hauptaufgabe humanistischer Praxis“ sei es, die Menschenrechte „immer umfassender zu verwirklichen“. Man stehe ein für die „Forderung nach Glück und Zufriedenheit aller Individuen“ und eine „Einsicht in die allen Menschen gemeinsame Verantwortung“; die Würde des Menschen liege „im Anspruch auf Achtung begründet, den jedes menschliche Wesen hat“. Man sehe sich daher verpflichtet, „das Vorhaben der umfassenden Aufklärung aller Menschen als Bedingung ihrer Befreiung von Herrschaft und Unmündigkeit“ zu erneuern und so den „Prozess einer Fortführung der Aufklärung“ anzutreiben, dies freilich nicht ohne zugleich „die Dialektik der Aufklärung“ zu reflektieren: Man müsse sich „selbstkritisch“ zu den „Widersprüchen“ verhalten, „in die sich das Projekt einer aufgeklärten Moderne verstrickt hatte“ – genannt wird beispielsweise das Bild der Vernunft als „voraussetzungslose und absolute Haltung“. – Dies also ist ein zweiter wesentlicher Punkt: Der HVD beruft sich auf einen Fundus von Werten, die der „Aufklärung“ zugeschrieben werden (Menschenrechte, Freiheit), positioniert sich aber zugleich gegen einen übertriebenen Zukunftsoptimismus. 191 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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Humanismus sei „Ausdruck menschlicher Erfahrung“ und berufe sich daher nicht „auf vorgegebene, absolute Normen und Gebote“, sondern kritisiere diese, „wenn sie sich nicht vernünftig und gerecht begründen lassen“. Die „Suche nach einem tragfähigen gesellschaftlichen Konsens“, gerade angesichts der fortschreitenden „Zerstörung vorgegebener sozialer und kommunikativer Zusammenhänge“ sei daher sein grundlegender Anspruch. Grundsätzlich könnten „humanistische Lebensauffassungen“ durch fünf Adjektive charakterisiert werden: „Individuell“: Der „unaufhebbare Ausgangspunkt“ sei das „menschliche Individuum“. „Selbstbestimmt“: Alle Menschen hätten das Recht, ihre „Lebensauffassung“ selbst zu wählen, allerdings gehöre hierzu auch das „Bewusstsein der Grenzen menschlichen Wissens“ und die „Fähigkeit zu einer entsprechenden Selbstbeschränkung“. „Weltlich“: Humanisten gewännen ihre Ansichten „ohne Bezugnahme auf einen Gott oder andere metaphysische Instanzen“, sie benötigten „kein höheres Wesen als eine von Menschen geschaffene Instanz des Trostes, der Liebe, der Hoffnung, der Bestrafung oder des Ansporns“. „Solidarisch“: Es sei daran zu arbeiten, andere Menschen zu einem „toleranten, solidarischen und verantwortlichen Handeln zu befähigen“. „Kritisch“: Der „konstruktive und friedliche Austausch der Ideen“ sei zu fördern, Humanisten kritisierten „jeden Dogmatismus“ und verträten „keine Wahrheiten, die sich jeder Diskussion und kritischen Überprüfung entziehen“. Unter dem Leitwort „Praktische Orientierungen“ werden schließlich einige konkrete Ziele des organisierten Humanismus genannt: Objektivität der Wissenschaft, ökologische Verantwortung, Überwindung von Herrschaftsverhältnissen, Ablehnung jeglicher Diskriminierung, Gleichberechtigung von Mann und Frau, friedliche Lösung von Konflikten. Entscheidend ist hierbei die Feststellung, „menschliche Lebensverhältnisse“ seien „aufgrund ihrer Kontingenz an faktisch nicht vollständig kontrollier192 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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bare Voraussetzungen gebunden“, daher strebten Humanisten „keine fertige ideale Gesellschaft mit absoluter Vollkommenheit“ an – hierdurch tritt der Verband deutlich in Distanz zu den Utopien des 19. und 20. Jahrhunderts, die noch mit einem festen Ziel der Geschichte gerechnet hatten. Wie ist nun dieses „Selbstverständnis“ zu werten? Bemerkenswert ist zunächst die Relativierung aller festen Geltungsansprüche, die das Dokument vertritt: Man verzichtet „auf vorgegebene, absolute Normen und Gebote“ und tritt ein gegen „jeden Dogmatismus“. Dennoch fällt schnell auf, dass der Verband auf einem konkreten Erkenntnismodell beharrt, von dem ein Abweichen nicht möglich ist (und bei aller Toleranz nicht toleriert werden kann): einer teleologischen Deutung der jüngsten Menschheitsgeschichte bei gleichzeitiger Ablehnung übersinnlicher Erklärungsmuster. Hieraus ergibt sich eine Schwäche auf dem Gebiet der Letztbegründung der Werte, die man vertritt, da diese nur noch historisch möglich ist. So heißt es, ein „praktischer Humanismus“ berufe sich „nicht auf vorgegebene absolute Normen und Verbote“; in Bezug auf die als zentral postulierte Menschenwürde verhilft man sich daher mit dem Hinweis auf den historischen Prozess der Genese der Menschenrechte. Woraus diese letztlich zu begründen sind, muss allerdings im Dunklen bleiben. Da es im Rahmen der nun vertretenen Toleranzlinie zudem nicht weiter möglich ist, einen harten Atheismus zu vertreten, „achtet und respektiert“ man „alle religiösen und weltanschaulichen Orientierungen“ (vorausgesetzt, diese vertreten keinen Standpunkt der „Intoleranz“); wieso man aber selbst keinen Glauben an übersinnliche Mächte teilt und auch keine religiösen Menschen im Kreis des eigenen Verbandes tolerieren will, wird ebenfalls nicht letztlich deutlich – außer aus dem Begründungsmuster, dass man sich in der „Tradition der Aufklärung und der Emanzipationsbewegungen der europäischen Neuzeit“ sieht. 20 Kurz gefasst könnte man 20
Auf diese Weise schließt man sich dem in breiten Kreisen der Wissenschaft inzwischen als überholt geltenden „starken Säkularisierungsparadigma“ an: Prak-
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also sagen: Es ist der Mensch, der die Rechte des Menschen begründet, es ist der Mensch, der die Existenz Gottes widerlegt – der Mensch begründet die Größe des Menschen, er wird zu seinem eigenen Grund. An diesem fundamentalen Anthropozentrismus kann das „Selbstverständnis“ nicht rütteln, da es seine unhintergehbare Basis ist: Der Mensch ist „allein durch seine Existenz gesetzt“, hat also weder Ursprung noch Ziel; dennoch (oder der Logik des Humanistischen Verbandes nach: gerade deshalb) ist er sich selbst Quell aller Rechte und Würden. Mit anderen historischen Großkonzepten teilt der Humanismus des HVD zumindest die Annahme, die Menschheit könne im historischen Prozess zu einer besseren Existenzweise finden – nur wird nun kein harmonischer Endzustand mehr vorgestellt, sondern lediglich eine partikuläre Verbesserung angestrebt. Die Tatsache, dass „unterschiedliche philosophische Richtungen“ in das Programm eines „modernen praktischen Humanismus“ einbezogen werden, bedeutet zugleich, dass sich philosophische Konzepte, die diesem Selbstverständnis grundsätzlich zustimmen, dem Problem ausgesetzt sehen, dass sie bereits im Voraus ihren Verzicht auf einen letzten Geltungsanspruch erklären müssen. Allerdings – dies bei aller theoretischen Kritik – ist diese Selbstbegrenzung dem HVD selbst bewusst, liegt doch an dieser Stelle die Grenze der Philosophie zur „Weltanschauung“: Weltanschauungen, so heißt es in einer anderen Schrift des Verbandes, seien „Ideenkonglomerate über das Weltganze mit einem hohen Anspruch von Verbindlichkeit“, es gehe ihnen letztlich um „Behauptungen, die nicht verifizierbar oder vergleichbar sind“. 21 Laut Selbstverständnis sieht sich der HVD als „Weltanschauungsgemeinschaft“; auf diese Weise kann er sich schließlich doch der Problematik einer philosophischen Letztbegründung seiner Grundwerte entziehen. Eine letzte Rechtfertigung ist ihm – genau tizierte Religiosität, so die These, gehe (qua „Aufklärung“) im historischen Prozess zwangsläufig immer weiter zurück. Vgl. Reder, Religion (Anm. 17). 21 Horst Groschopp, Humanismus und Kultur, Berlin 2000, 32 f.
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Säkularer Humanismus und christlicher Glaube
wie den Religionen, von denen er sich abgrenzen möchte – nur aus dem Bekenntnis seiner Anhänger heraus möglich. Innerhalb des Humanistischen Verbandes gab es im Lauf der vergangenen Jahre immer wieder Bemühungen, innerhalb der Grenzen, die das „Humanistische Selbstverständnis“ artikuliert hatte, philosophische Entwürfe zu präsentieren. Insbesondere wären hier die im verbandseigenen Verlag veröffentlichte Vorlesung „Humanismus für das 21. Jahrhundert“ des Berliner Philosophen und HVD-Präsidenten Frieder Otto Wolf, sowie das Buch „Weltlicher Humanismus“ des freiberuflich tätigen Philosophen Joachim Kahl zu nennen. 22 Hinzu kommt das sich einer breiten Leserschaft erfreuende „Manifest des evolutionären Humanismus“ des Pädagogen Michael Schmidt-Salomon, 23 das eine Auftragsarbeit der 2004 gegründeten „Giordano-Bruno-Stiftung“ ist, die zum Humanistischen Verband in einem gespannten Verhältnis steht, da sie weitaus stärker im Sinne des von Autoren wie Richard Dawkins geprägten „Neuen Atheismus“ angelsächsischer Art argumentiert. 1. Frieder Otto Wolf zeichnet, inspiriert durch das Gedankengut der äußeren politischen Linken, das Ideal einer Weltgesellschaft, die nicht im Modus der repräsentativen Demokratie, sondern durch den Konsens möglichst vieler Menschen über „wichtige Wahrheiten“ befindet. Er ist zwar bereit zuzugeben, dass die derart entworfenen Visionen kaum völlig akkurat verwirklicht werden dürften; dennoch sieht er sein Modell einer derartigen „Wahrheitspolitik“ als einzig wirksame Strategie, der sich in einem zunehmenden Nord-Süd-Gefälle und steigender Umweltverschmutzung äußernden „herrschenden Bar22
Frieder Otto Wolf, Humanismus für das 21. Jahrhundert, Berlin 2008; Joachim Kahl, Weltlicher Humanismus. Eine Philosophie für unsere Zeit, Münster 2005. 23 Michael Schmidt-Salomon, Manifest des evolutionären Humanismus. Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur, Aschaffenburg 22006.
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barei“ entgegenzuwirken. Religiöse Menschen erliegen Wolf zufolge einer „Wahrheitsillusion“, nämlich der Vorstellung, dass sie in ihrer „persönlichen, privaten Evidenz über die Wahrheit verfügen“; praktizierte Religion sei daher prinzipiell als schädlich zu werten, da sie für das Modell einer „herrschaftsaffinen Wahrheitspolitik von oben“ stehe. 24 2. Der Entwurf Joachim Kahls hingegen zielt weniger auf das Zusammenwirken der einzelnen Menschen zur Schaffung einer besseren Gesellschaft ab (die er zumindest in Form der europäischen Demokratien bereits für realisiert hält), als vielmehr auf die geistige Verfassung des Individuums: Mit Rückgriff auf ein evolutives Menschheitsmodell sieht er die Zeit der Religionen zu Ende gehen und begrüßt dies ausdrücklich: Religiosität sei keine „unverzichtbare Dimension unseres Geistes“, sondern vielmehr – mit Feuerbach – „Ausdruck menschlicher Entfremdung“. Allerdings dürfe man sich mit der Religion nicht zugleich auch der Metaphysik entledigen: Ein Bezug zur Natur als Quelle allen Lebens müsse bestehen bleiben, um eine „Spiritualität“ gewährleistet zu halten, aus der jeder Einzelne Inspiration schöpfen könne und auf deren Basis Solidarität und Liebe zu allen Mitmenschen erst möglich werde. 25 3. Michael Schmidt-Salomons „evolutionärer Humanismus“ schließlich lässt das Wohl der Individuen und der Gemeinschaft im Ideal einer hedonistisch orientierten Gesellschaft ineinander aufgehen: Es gelte, sich bewusst zu machen, dass alle Mechanismen des menschlichen (Zusammen-)Lebens auf dem evolutionsbedingten Prinzip des Eigennutzes basierten. „Glaube“ im Sinne von Religiosität impliziere generell, dass jemand „etwas unbedingt für wahr hält, dass er sich des Geglaubten über alle Maßen sicher ist“. Eine solche „irrationale Form des Glaubens“ widerspreche „unserem Wissen um die notwendige Begrenztheit unseres Wissens“, sie verhindere „Erkenntnis24 25
Vgl. ausführlich: Baab, Was ist Humanismus? (Anm. 3), 156–168. Vgl. ausführlich: Baab, Was ist Humanismus? (Anm. 3), 168–184.
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und Humanitätsfortschritte“ und beschwöre „schwerwiegende Konflikte“. Auf Basis dieser Erkenntnis sei auf eine Gesellschaft hinzuarbeiten, die nicht nur die Religion, sondern jedes präskriptive Ethos eliminiere, dabei den „Eigennutz in den Dienst der Humanität“ stelle und das Prinzip der „Fairness“ zur obersten Maxime erhebe. 26 Alle drei Entwürfe fanden in humanistischen Kreisen ihre Kritiker, und alle drei Verfasser, Wolf, Kahl und Schmidt-Salomon, übten sich in wechselseitiger Polemik. 27 Ein Hauptgrund hierfür liegt sicher darin, dass jeder dieser drei Entwürfe auf je unterschiedliche Weise mit einem Geltungsanspruch auftritt, der laut der neuen Fassung eines toleranten, „weichen“ Humanismus eigentlich gar nicht mehr vertreten werden darf: Wo es keine „große Erzählung“ mehr gibt, steht man Ansprüchen auf universale Geltung äußerst kritisch gegenüber. Das Motto lautet im Zweifelsfall Analyse und Dekonstruktion statt Schülerschaft und Affirmation. Letztlich ist damit auch der säkulare Humanismus bereits in einzelne Konfessionen zerfallen, die ihr gemeinsames Absolutum, den rein immanent gedachten Menschen, auf je unterschiedliche Weise ausdeuten.
4. Christlicher Glaube im Verhältnis zum säkularen Humanismus „Säkularer Humanismus und christlicher Glaube“ ist dieser Beitrag überschrieben; bleiben also zwei Fragen: Haben säkulare Humanisten ein zumindest in Teilen treffendes Bild vom christlichen Glauben? Und weiter: Wie eigentlich haben Christen, ob im aka26
Vgl. ausführlich: Baab, Was ist Humanismus? (Anm. 3), 189–211. Vgl. Helmut Fink (Hg.), Was heißt Humanismus heute? Ein Streitgespräch zwischen Joachim Kahl und Michael Schmidt-Salomon, Aschaffenburg 2007; Frieder Otto Wolf, Eine verdeckte Strategie der Affirmation. Warum Joachim Kahls Weltlicher Humanismus keine Philosophie für unsere Zeit bietet, in: humanismus aktuell 9 (2005), 72–83.
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demisch-theologischen Diskurs oder eher an der Gemeindebasis, den Vertretern eines solchen Humanismus zu begegnen? Wie treffend also erfassen Vertreter des säkularen Humanismus das genuin Christliche? Hier lautet die so simple wie enttäuschende Antwort: Gar nicht; es liegt ihnen allerdings auch nicht viel daran. Ihr Anliegen ist eine allgemein gehaltene Religions- und Ideologiekritik; auf christliche Spezifika gehen sie daher gar nicht erst ein. Das ist bedauernswert, weil eine pauschale Ablehnung des Theismus es sich natürlich leicht auf einer unterkomplexen Variante der Projektionstheorie bequem machen kann: Ihr schafft euch euren Gott nur selbst. Natürlich lohnt sich für uns auch eine Auseinandersetzung mit solch allgemeinen religionskritischen Argumenten, weil uns – im Sinne einer „Fremdprophetie“ – auch Atheisten möglicherweise wichtige Dinge zu vermitteln haben: Wenn sie auch ein Zerrbild des Gottesglaubens malen, ist doch in dem Moment die eigene Position zu überdenken, in dem manche der darin enthaltenen Kritikpunkte tatsächlich auf uns zuzutreffen beginnen. Dass wir es aber als Christen in dem, was uns durch die Offenbarung gegeben ist, mit einer sehr sperrigen Lehre zu tun haben, die sich nicht immer leicht unseren Wünschen und Projektionen fügt – Gott wird Mensch, fordert zu radikalem Umdenken auf, zeigt sich im Leiden solidarisch mit der von ihm geschaffenen Welt – wird übergangen. (Nicht umsonst spricht Kierkegaard vom Christentum als „Paradox“ und „Ärgernis“). Übergangen wird zudem auch die Tatsache, dass auf Seiten des kirchlichen Lehramts die Überwindung des Exklusivismus schon seit den 1960er Jahren vollzogen ist: So heißt es ja bekanntermaßen in der Konzilskonstitution „Lumen Gentium“, die göttliche Vorsehung verweigere „auch denen das zum Heil Notwendige nicht, die ohne Schuld noch nicht zur ausdrücklichen Anerkennung Gottes gekommen sind, jedoch […] ein rechtes Leben zu führen sich bemühen“; 28 und in der Pastoralkonstitution 28
LG 16.
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Säkularer Humanismus und christlicher Glaube
„Gaudium et spes“ ist zu lesen, die Kirche verwerfe zwar den Atheismus, bekenne aber „doch aufrichtig, dass alle Menschen, Glaubende und Nichtglaubende, zum richtigen Aufbau der Welt, in der wir gemeinsam leben, zusammenarbeiten müssen“, was nicht unter den Bedingungen der teilweise gängigen „Diskriminierung zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden“ geschehen könne – gefordert sei vielmehr ein „aufrichtige[r] und kluge[r] Dialog“. 29 Es ist zu vermuten, dass die meisten Vertreter des säkularen Humanismus mit diesen Konzilstexten nicht unbedingt vertraut sind, daher könnte ein wenig Nachhilfe von christlicher Seite hier nicht schaden, um zu demonstrieren, dass die Hand längst ausgestreckt ist. Dann weiter die Frage: Wie begegnen wir als Christen Vertretern des säkularen Humanismus? Eine Antwort auf diese Frage fällt nicht eben leicht, da man es, wie gesehen, hier mit keiner in sich geschlossenen „Weltanschauung“ zu tun hat. Drei „Minimalpostulate“ seien erlaubt, mögen sie auch etwas holzschnittartig ausfallen: – Zunächst einmal muss nach dem bisher Ausgeführten gefragt werden: Ist es Christen, ist es religiösen Menschen überhaupt möglich, in einen Dialog mit dem säkularen Humanismus einzutreten, wo sich, wie oben dargelegt, bei genauerem Blick doch zeigt, dass wir es hier mit einem offensichtlichen Konstrukt zu tun haben (auch heute gilt Heideggers Wort: je nach Auffassung dessen, was den Menschen ausmacht, variiert das, was unsere säkularen Gegenüber unter Humanismus verstehen)? Die Antwort hierauf lautet eindeutig: Trotz aller semantischen Problematik – lassen wir unseren säkularen Freunden den Humanismus! Lassen wir ihnen diesen Begriff, da sie ihn offensichtlich zur Artikulation eines Basiskonsens und zur Schaffung eines Gemeinschaftsgefühls benötigen; lassen wir ihnen (auf Seiten des Humanistischen Verbandes) ihre „huma29
GS 21.
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nistischen“ Kindertagesstätten, Jugendweihen und Trauerfeiern. Unter dem Motto: „Austausch gerne – aber die wahren Humanisten sind wir!“ käme ein Gesprächsprozess gar nicht erst in Gang. – Dies führt direkt zu einem zweiten Punkt: Wo es möglich ist, sollte ein offener, den Standpunkt des anderen respektierender Dialog mit säkularen Humanisten bereitwillig gesucht werden. Ein argumentativ auftretender Atheismus ist, wie schon erwähnt, in heutigen Zeiten ein ‚pastoraler Glücksfall‘ ; zugespitzt könnte man sagen, dass es vielen säkularen Humanisten gar nicht bewusst ist, welchen Gefallen sie der LebendigErhaltung der Gottesrede durch ihren plakativen Atheismus eigentlich tun. Suchen wir also den direkten Dialog, beziehen wir Position – ein echter Dialog setzt ja immer erst einen eigenen Standpunkt voraus! – und sparen wir nicht an Kritik: Zu kritisieren gibt es dort, wo Anthropozentrismus und Szientismus das letzte Wort haben, allemal genug. Allerdings gibt es einen Vorwurf, mit dem wir uns zurückhalten sollten, weil er uns auf die selbe plumpe Argumentationsebene bringt, die uns von Seiten des säkularen Humanismus oft begegnet – den Vorwurf der Defizitarität. Wenn wir einen Diskurs nur unter dem alten, innerhalb der eigenen Glaubensgemeinschaft immer überzeugend klingenden Argument zulassen, wahrer Mensch sei man nur als homo religiosus, wird das von der Gegenseite pariert mit der These, nur der Areligiöse lebe sein menschliches Potential vollends aus, da er sich nicht in ein Abhängigkeitsverhältnis zu einer imaginären Letztinstanz begebe. Respektieren wir also die Areligiosität der Anderen als vollwertigen Lebensentwurf; nur so können wir umgekehrt verlangen, dass sie im Gegenzug unsere Religiosität tolerieren. – Dies führt direkt zu einem dritten Punkt: Unsere Toleranz wird dort auf eine harte Probe gestellt, wo uns von Seiten des säkularen Humanismus Intoleranz entgegen schlägt. Manchmal – und dies gilt insbesondere für die Giordano-Bruno-Stiftung – ist es nicht der Dialog, sondern primär der Konflikt, 200 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
Säkularer Humanismus und christlicher Glaube
der gesucht wird. Wie gehen wir nun mit einer solchen Haltung um, die sich auch „Humanismus“ nennt, aber auf Toleranz und Dialogbereitschaft demonstrativ verzichtet? Hierzu wäre schlicht zu sagen: Ein Humanismus, der als Deutungssystem auftritt, das anderen Deutungssystemen keinen Raum lässt, hat den Grundanspruch der Humanität aufgegeben und verdient diesen Namen nicht. Was aber, um auch diese Frage noch aufzuwerfen, ist eigentlich „Inhumanität“, wer gebärdet sich „inhuman“? Laut dem Duden derjenige, der „die Würde des Menschen nicht achte[t]“, 30 der also sein menschliches Gegenüber in seiner je individuellen Anlage nicht alleine aufgrund seiner bloßen Existenz als wertvoll schätzt. Nun sind Humanität oder Inhumanität nicht zwingend an konkrete Religionen oder Weltanschauungen gebunden; sie sind Sache der freien Entscheidung jedes einzelnen Menschen. Beide, der Theologe wie auch der säkulare Humanist, sollten sich daher immer bewusst halten, dass ein schmaler Grat zwischen der gerechtfertigten Verteidigung von Geltungsansprüchen und der immer drohenden Gefahr der Intoleranz liegt. Ein Christ in seinem Gottesglauben hätte sich daher ebenso wie ein Humanist in seinem Atheismus stets zu vergegenwärtigen, dass wahre Aufgeklärtheit nicht in der Überzeugung besteht, den einen, richtigen Weg gefunden zu haben, sondern darin, den eigenen Weg der Wahrheitssuche stets kritisch zu hinterfragen, und ihn auch von Andersdenkenden hinterfragen zu lassen.
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inhuman, in: Duden. Deutsches Universalwörterbuch, Mannheim, Zürich 2011, 915.
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Kann der moderne liberale Staat Zugeständnisse an illiberale Religionsgemeinschaften machen? Christian Walter, München
Das Thema führt direkt in ein zentrales Problem aller freiheitlichen Demokratien: Wie lassen sich die für jede freiheitliche Ordnung zentralen Grundrechte der Meinungsäußerungsfreiheit, der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und auch der Religionsfreiheit schützen, wenn sie von Personen oder Gruppierungen in Anspruch genommen werden, die eine gesellschaftliche Ordnung errichten wollen, in der diese Freiheiten nicht mehr bestünden? In Deutschland ist das Bewusstsein für diese Problematik aus historischen Gründen, die keiner näheren Entfaltung bedürfen, besonders ausgeprägt. Unter dem Grundgesetz hat sich für die in unserer Verfassungsrechtsordnung entwickelte Gegenstrategie das Konzept der „streitbaren“ oder auch „wehrhaften“ Demokratie entwickelt. 1 Der Umgang mit den im Titel angesprochenen „illiberalen Religionsgemeinschaften“ (das Adjektiv ist aus Gründen, die später noch erläutert werden, zumindest aus rechtlicher Sicht problematisch) beschreibt im Grunde genommen nur einen spezifischen Ausschnitt aus der Gesamtproblematik, eben 1
Allgemein hierzu etwa Hans-Jürgen Papier / Wolfgang Durner, Streitbare Demokratie, AöR 128 (2003), 340 ff.; Hans-Hugo Klein, in: Maunz / Dürig, GG, Stand der 64. Erg.-Lfg. (Januar 2012), Art. 21 Rdn. 490: „abwehrbereite Demokratie“; die Beiträge in Markus Thiel (Hg.), Wehrhafte Demokratie, 2013 und Claus Leggewie / H. Meier (Hg.), Verbot der NPD oder Mit Rechtsradikalen leben?, 2002. Zur Verwendung dieser Terminologie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vgl. BVerfGE 28, 36 (48) – Soldatengesetz; 30, 1 (19) – Abhörurteil; 39, 334 (349) – „Radikalenbeschluss“; 63, 266 (abw. Meinung H. Simon 308 ff.) – Rechtsanwaltszulassung; 80, 244 (253 ff.) – Vereinsverbot.
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Zugeständnisse an illiberale Religionsgemeinschaften?
die Behandlung von Religionsgemeinschaften (im Unterschied zu allen anderen Vereinigungen). Es wird im Folgenden deshalb unter anderem darum gehen, herauszuarbeiten, ob und gegebenenfalls inwiefern sich Religionsgemeinschaften von anderen Vereinigungen unterscheiden, die „illiberale“ Ziele verfolgen. Hierzu ist es erforderlich, in einem ersten Schritt einen Überblick über den verfassungsrechtlichen Rahmen der wehrhaften Demokratie und ihre Anwendbarkeit auf Religionsgemeinschaften zu geben (I.), bevor aufgezeigt wird, wie der Staat in anderen Bereichen Besonderheiten von Religionsgemeinschaften berücksichtigen muss (II.) oder berücksichtigen darf (III.). Der Beitrag schließt mit einem Ausblick auf den besonderen Charakter des Religionsrechts zwischen Freiheitsermöglichung und Gefahrenabwehr (IV.).
1. Elemente der wehrhaften Demokratie unter dem Grundgesetz und ihre Anwendung auf Religionsgemeinschaften oder Vereinigungen mit einer religiösen Prägung Die wehrhafte Demokratie des Grundgesetzes ist im Wesentlichen an drei Stellen sichtbar: 1) den besonderen Regelungen zum Parteiverbot, 2) einer ausdrücklichen Verbotsregelung für Vereine (Art. 9 Abs. 2 GG), und 3) der Möglichkeit der Grundrechtsverwirkung (Art. 18 GG). Ich will zu allen drei Aspekten einige wenige Worte der allgemeinen Erläuterung sagen und dann auf die spezifische Situation von Religionsgemeinschaften eingehen.
1.1 Die Regelungen zum Parteiverbot Parteien kommt in der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes eine zentrale Stellung zu. Nach der – auch verfassungsrechtlich – maßgeblichen Definition in § 2 Abs. 1 ParteienG 203 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
Christian Walter
handelt es sich um „Vereinigungen von Bürgern, die dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen, wenn sie nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere nach Umfang und Festigkeit ihrer Organisation, nach der Zahl ihrer Mitglieder und nach ihrem Hervortreten in der Öffentlichkeit eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit dieser Zielsetzung bieten.“ 2 Entscheidend für den Parteienbegriff (im Gegensatz zu anderen Vereinigungen mit einer politischen Zielsetzung) ist also die Absicht, parlamentarische Verantwortung auf Landes- oder Bundesebene zu übernehmen. 3 Aus dieser spezifischen Zielsetzung resultiert die besondere Behandlung extremistischer Parteien in der wehrhaften Demokratie des Grundgesetzes. Man spricht insoweit auch vom sog. Parteienprivileg, das darin besteht, dass ein Verbot nur vom Bundesverfassungsgericht und nur in einem besonderen Verfahren (das Parteiverbotsverfahren hat einen eng begrenzten Kreis potentieller Antragsteller) ausgesprochen werden kann. 4 Eine andere Möglichkeit, eine politische Partei zu verbieten, gibt es nicht. Darin liegt die Privilegierung gegenüber anderen Vereinigungen mit einer politischen Zielsetzung. Aus der Diskussion der letzten Jahre um das NPD-Verbot sind diese Charakteristika des Parteienprivilegs derzeit in der Öffentlichkeit sehr präsent. 5 Die ganz 2
§ 2 Abs. 1 S. 1 des Gesetzes über die politischen Parteien v. 31. 1. 1994, BGBl. I, 149. 3 S. etwa Martin Morlok, Parteiengesetz: Kommentar, 2. Aufl. 2013, § 2 Rdn. 2 („Zielelement“), 5 ff. 4 Art. 21 Abs. 2 GG iVm §§ 13 Nr. 2, 43 ff. BVerfGG; Uwe Volkmann, Grundprobleme der staatlichen Bekämpfung des Rechtsextremismus, JZ 2010, 209 (210 f.); Klein (Fn. 1), Rdn. 485 ff. (der jedoch den Begriff des „Parteienprivilegs“ für missverständlich hält, 541; ebenso Jörn Ipsen, in: M. Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, Art. 21 Rdn. 149); Rudolf Streinz, in: H. von Mangoldt / F. Klein / C. Starck, GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 21 Rdn. 212 ff. 5 Vgl. etwa Christian Hufen, Neues Parteiverbotsverfahren gegen die NPD?, ZRP 2012, 202 ff.; Martin Morlok, Das Parteiverbot, Jura 2013, 317 ff.; ders.,
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Zugeständnisse an illiberale Religionsgemeinschaften?
überwiegende Auffassung in der deutschen Staatsrechtslehre ergänzt und verstärkt dieses Privileg durch einen sehr formalen Gleichheitsbegriff bei der Behandlung von Parteien im Übrigen. 6 Diese formale Gleichheit schließt Differenzierungen nach den von den einzelnen Parteien vertretenen Zielen aus. 7 Dies führt in der Konsequenz dazu, dass andere Sanktionen als das Verbot nur dann zur Verfügung stehen, wenn eine Partei gegen Vorschriften des Parteienrechts (etwa der Rechnungslegung, der Finanzierung etc.) verstoßen hat. Verhält sie sich insoweit korrekt, so ist es ausgeschlossen, sie allein wegen der von ihr vertretenen Inhalte von der staatlichen Parteienfinanzierung auszunehmen. 8 Erreicht also eine Partei wie die NPD das für die staatliche Finanzierung erforderliche Mindestmaß an Wählerstimmen, so ist sie entsprechend diesem Stimmenanteil an der staatlichen Parteienfinanzierung zu beteiligen. Das Parteienprivileg und die formale Gleichbehandlung führen also dazu, dass jede Partei unabhängig von den von ihr vertretenen Inhalten strikt gleichzubehandeln ist. Erst wenn die Voraussetzungen für ein Verbot vorliegen, ist ein staatliches Handeln möglich, dann aber auch nur mit dem schärfsten Schwert, eben dem vollständigen Verbot. Fragen des Rechts und der politischen Klugheit – Zur aktuellen NPD-Parteiverbotsdebatte, ZRP 2013, 69 ff.; mit Blick auf die Voraussetzungen der EMRK auch Foroud Shirvani, Parteiverbot und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, JZ 2014, 1074 ff. 6 Martin Morlok, in: H. Dreier, GG, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 21 Rdn. 80. Zur Entwicklung dieses Gleichheitsbegriffs Foroud Shirvani, Parteienfreiheit, Parteienöffentlichkeit und die Instrumente des Verfassungsschutzes, AöR 2009, 572 (574 f.). 7 Vgl. etwa BVerfGE 111, 382 (410) – Drei-Länder-Quorum; dazu auch Volker Epping, Eine Alternative zum Parteiverbot, 2013, 22 f. 8 Allgemein zur Geltung des (grundsätzlich formalen) Prinzips der Gleichheit der Parteien im Rahmen der Parteienfinanzierung Joachim Linck, Staatliche Leistungen an Verfassungsfeinde: Eine Pervertierung der wehrhaften Demokratie, DÖV 2006, 939 (940, 945) und jetzt auch umfassend Volker Epping, Eine Alternative zum Parteienverbot: Der Ausschluss von staatlicher Parteienfinanzierung, 2013, 31 ff. (der allenfalls einen Ausschluss im Wege einer Verfassungsänderung für möglich erachtet, 53 ff.).
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Eine vergleichbare Privilegierung für Religionsgemeinschaften gibt es nicht. Die besondere Stellung und der besondere Schutz für Parteien rechtfertigen sich daraus, dass ihnen durch die beabsichtigte Übernahme parlamentarischer Verantwortung in einer repräsentativen parlamentarischen Demokratie eine besondere Funktion zukommt, die den besonderen rechtlichen Schutz rechtfertigt. Religionsgemeinschaften sind hier von vornherein in einer anderen Situation. Das heißt nicht, dass sie nicht u. U. auch im Vergleich zu anderen Vereinigungen eines besonderen Schutzes bedürften. 9 Nur lässt sich dieser nicht in einer Analogie zur Stellung politischer Parteien entwickeln.
1.2 Vereinsrechtliche Verbote Ein zweites Element der wehrhaften Demokratie ist das in Art. 9 Abs. 2 GG formulierte Verbot von Vereinigungen, „deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten.“ Trotz der Formulierung im Indikativ („sind verboten“) ist schon aus Gründen der Rechtssicherheit ein Verbotsverfahren notwendig, in welchem gegebenenfalls auch darüber gestritten werden kann, ob die Verbotsvoraussetzungen vorliegen. 10 Ein solches einfachrechtliches Verfahren regelt das Vereinsgesetz. Allerdings war dieses bis zum Jahr 2001 ausdrücklich nicht auf Religionsgesellschaften anwendbar (sog. „Religionsprivileg“) 11. Mit der Gesetzesänderung wollte 9
BVerwG, Urt. v. 25. 1. 2006, Az. 6 A 6/05, NVwZ 2006, 694 – Hizb ut-Tahrir, Rdn. 11 a.E. 10 S. etwa Rupert Scholz, in: Maunz / Dürig, Stand der 35. Erg.-Lfg. (Februar 1999), Art. 9 Rdn. 132; Hans Dieter Jarass, in: H. D. Jarass / B. Pieroth, GG, 12. Aufl. 2012, Art. 9 Rdn. 17. 11 S. § 2 Abs. 2 Nr. 3 VereinsG v. 5. 8. 1964 i. d. F. v. 3. 5. 2000; Vorschrift aufgehoben durch Art. 1 des Gesetzes v. 4. 12. 2001, BGBl I. 3319. Zur Verfassungsmäßigkeit s. BVerwG, Urt. v. 27. 11. 2002, Az. 6 A 4/02, NVwZ 2003, 986
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der Gesetzgeber diese Privilegierung von Religionsgemeinschaften abschaffen und gezielt die Möglichkeit schaffen, in bestimmten Fällen Religionsgemeinschaften verbieten zu können. Es heißt hierzu in der Gesetzesbegründung der Bundesregierung: „Die seit Schaffung des Vereinsgesetzes im Jahre 1964 gesammelten Erfahrungen zeigen jedoch, dass ein Bedürfnis besteht, gegen Vereinigungen, deren Zwecke oder Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richten, auch dann ein Verbot aussprechen zu können, wenn es sich um Religionsgemeinschaften handelt. Derzeit sind zumindest drei Fallgruppen denkbar, in denen § 2 Abs. 2 Nr. 3 Vereinsgesetz geeignet ist, die Sicherheitsbehörden von Gefahrerforschungsmaßnahmen und/oder Maßnahmen zur Gefahrenabwehr bis hin zu einem Vereinsverbot abzuhalten: – Fundamentalistisch-islamistische Vereinigungen, die zur Durchsetzung ihrer Glaubensüberzeugungen Gewalt gegen Andersdenkende nicht ablehnen, – Vereinigungen mit Gewinnerzielungsabsicht oder politischen Zielen, die für sich den Status einer religiösen bzw. weltanschaulichen Vereinigung reklamieren und im Rahmen von Vereinsverbotsverfahren Prozessrisiken hinsichtlich der Beurteilung ihres Vereinigungscharakters aufwerfen und – bislang nur im Ausland mit Tötungsdelikten und Massenselbstmorden aufgetretene Weltuntergangssekten 12
Mit der Anwendung der Neuregelung sind noch einige verfassungsrechtliche Probleme verbunden, deren Details hier aber übergangen werden können. 13 Man kann im Ergebnis festhalten, (987 ff.) – Kalifatstaat und BVerfG, Beschl. v. 2. 10. 2003, Az. 1 BvR 536/03, NJW 2004, 47 (Nichtannahmebeschluss) sowie EGMR, BeschwerdeNr. 13828/04, Entsch. v. 12. 11. 2006. 12 BT-Drs. 14/7026 v. 4. 10. 2001, 6. 13 Dazu etwa Jens Heinrich, Vereinigungsfreiheit und Vereinigungsverbot – Dogmatik und Praxis des Art. 9 Abs. 2 GG, 2005; Lothar Michael, Verbote von Religionsgemeinschaften, JZ 2002, 482 ff.; Martin Nolte, Die Anti-Terror-Pakete im Lichte des Verfassungsrechts, DVBl. 2002, 573 ff.; Bodo Pieroth / Thorsten Kingreen, Das Verbot von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften,
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dass seit 2001 grundsätzlich ein Verbot von Religionsgemeinschaften auf der Grundlage des Vereinsrechts möglich ist. Bisher ist es allerdings, soweit ersichtlich, nicht zum Verbot einer Religionsgemeinschaft gekommen. Eine gewisse Ähnlichkeit weist allerdings das Verbot einer fundamentalistisch-islamischen Vereinigung auf, das auch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beschäftigt hat. Der Hintergrund sei im Folgenden zur Illustration kurz dargestellt. Die Vereinigung Hizb ut-Tahrir hatte ihren Sitz im Ausland und propagierte nach den Feststellungen des Bundesinnenministeriums 14 und des Bundesverwaltungsgerichts die Errichtung eines Kalifats und das Primat des Islam in sämtlichen Lebensbereichen. Außerdem gab es klare Anhaltspunkte dafür, dass die Vereinigung das Existenzrecht Israels bestritt und antijüdische Propaganda verbreitete. 15 Nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts handelte es sich bei Hizb ut-Tahrir nicht um eine Religionsgemeinschaft. 16 Die Qualifikation als Religionsgemeinschaft scheitert daran, dass hierfür nach der ständigen Rechtsprechung nur Verbände zu verstehen sind, welche die Angehörigen ein und desselben Glaubensbekenntnisses, oder mehrerer verwandter Glaubensbekenntnisse zur allseitigen Erfüllung der durch das gemeinsame NVwZ 2001, 841 ff.; Ralf Poscher, Vereinsverbote gegen Religionsgemeinschaften?, KritV 2002, 298 ff.; Rainer Schmidt, Das Verbot von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nach Grundgesetz und Vereinsgesetz nach Fall des Religionsprivilegs, 2012; Sandra Schmieder, Der Schutz religiös-weltanschaulicher Vereinigungen – die Abschaffung des Religionsprivilegs, VBlBW 2002, 146 ff.; Thomas Stuhlfauth, Verfassungsrechtliche Fragen des Verbots von Religionsgemeinschaften, DVBl. 2009, 416 ff.; zu einzelnen Aspekten auch Gernot Schiller, Kompetenzrechtliche Aspekte eines Verbots von Religionsgemeinschaften, ZevKR 48 (2003), 257 ff. 14 Verbotsverfügung v. 10. 1. 2003 (nicht öffentlich zugänglich); zu Hizb utTahrir s. etwa die Ausführungen im Verfassungschutzbericht 2013, 239 f. 15 Vgl. BVerwG, Urt. v. 25. 1. 2006, Az. 6 A 6/05, NVwZ 2006, 694 – Hizb utTahrir, Rdn. 11, 16 ff. 16 A. a. O., Rdn. 11.
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Bekenntnis gestellten Aufgaben umfasst. 17 Dazu gehört insbesondere auch, dass sich die betreffende Vereinigung zumindest auch der gemeinsamen Religionsausübung und der damit einhergehenden rituellen Praxis widmet. 18 Daran fehlte es bei Hizb ut-Tahrir. Die Rechtsstellung als Partei scheitert an der fehlenden Zielsetzung, an Wahlen auf Bundes- oder Landesebene teilzunehmen. Das Bundesinnenministerium hat deshalb zu Recht die Verbotsmöglichkeiten des Vereinsrechts herangezogen, die hier erweitert waren, weil es sich um einen Verein mit Sitz im Ausland handelte. Die Vereinigung wurde daher gestützt auf die Verbotsgründe „Verstoß gegen den Gedanken der Völkerverständigung“ (Art. 9 Abs. 2 GG) und „Befürwortung der Anwendung von Gewalt als Mittel zur Durchsetzung politischer Gewalt“ (§ 14 Abs. 2 Nr. 4 VereinsG). Um die Formulierung des Titels dieses Beitrags zu verwenden: Der Staat hat keine Zugeständnisse an die Vereinigung gemacht.
1.3 Grundrechtsverwirkung Das dritte Element der wehrhaften Demokratie ist die sog. Grundrechtsverwirkung, die in Art. 18 GG geregelt ist. Art. 18 GG spielt in der deutschen Verfassungspraxis keine nennenswerte Rolle. Es hat nur vier entsprechende Anträge gegeben. Erfolgreich war keiner von ihnen. Man wird sagen müssen, dass das Verfahren einerseits mit der Konzentration beim Bundesverfassungsgericht zu schwerfällig ist und andererseits aber offensichtlich unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen kein Bedürfnis für entsprechende Maßnahmen besteht. 19 Bemerkenswert ist allerdings, dass der Europäische Gerichts17
A. a. O., Rdn. 10, 11. A. a. O., Rdn. 11. 19 Martin Pagenkopf, Art. 18 Rdn. 7, in: M. Sachs, GG, 7. Aufl. 2014; Fabian Wittreck, in: H. Dreier, GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 18 Rn. 28 f. 18
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hof für Menschenrechte (EGMR) in seiner Entscheidungspraxis von der ähnlichen Regelung in Art. 17 EMRK sehr viel häufiger Gebrauch macht. 20 Das liegt sicherlich an der anderen verfahrensrechtlichen Gestaltung. Es bedarf eben keines eigenen Verfahrens zur Feststellung der Verwirkung, sondern die Regelung des Art. 17 EMRK kann als eine zusätzliche Schrankenregelung 21 herangezogen werden, die – und das ist in der Tat sehr weitgehend – dazu führt, dass Personen, auf welche die Vorschrift angewendet wird, sich von vorneherein nicht auf das betreffende Konventionsrecht berufen können. Für die Wirkung der Regelung ist wiederum der Fall Hizb ut-Tahrir interessant, denn der EGMR hat eine Individualbeschwerde von Hizb ut-Tahrir gegen das deutsche Vereinsverbot mit Art. 17 EMRK gerechtfertigt. Er analysiert die Haltung von Hizb ut-Tahrir anhand der Publikationen und öffentlichen Stellungnahmen führender Mitglieder und kommt zu folgendem Ergebnis: „Having regard to the above, the Court considers that the first applicant attempts to deflect Article 11 of the Convention from its real purpose by employing this right for ends which are clearly contrary to the values of the Convention, notably the committment to the peaceful settlement of international conflicts and to the sanctity of human life. Consequently, the Court finds that, by reason of Article 17 of the Convention, the first applicant may not benefit from the protection afforded by Article 11 of the Convention.“ 22 20
Gemessen an der Rechtssprechungssammlung des EGMR wurde ein möglicher Rechtsmissbrauch (abuse of rights) in 230 Fällen thematisiert (http://hudoc. echr.coe.int/; Stand: Januar 2015); für einzelne Fallbeispiele aus dem Kontext der Meinungsfreiheit s. Hannes Cannie / Dirk Voonhoof, The Abuse Clause and Freedom of Expression in the European Human Rights Convention, Netherlands Quarterly of Human Rights 29 (2011), 54 ff. 21 Zu den möglichen Lesarten von Art. 17 EMRK (etwa als Schutzbereichsbegrenzung, Modifikation der Schrankenreglung) s. Christian Mensching, in: U. Karpenstein / F. Mayer, EMRK-Kommentar, 2012, Art. 17 Rdn. 9 ff. und Christoph Grabenwarter / Katharina Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 18 Rdn. 3. 22 EGMR, Beschl. v. 12. 6. 2012, Beschwerde-Nr. 31098/08 Hizb ut-Tahrir and Others v. Germany, Rdn. 74.
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Man kann also festhalten, dass auch der Europäische Menschenrechtsschutz bei einer Vereinigung wie Hizb ut-Tahrir keine Zugeständnisse verlangt, sondern die allgemeinen Regeln anwendet. Im Ergebnis bedeutet dies, dass jedenfalls dann, wenn es um die Tragpfeiler einer freiheitlich-demokratischen Ordnung geht, Religionsgemeinschaften und religiös geprägte Vereinigungen keine Sonderbehandlung erfahren. Will man den Charakter der staatlichen Rechtsordnung als eine „säkulare Rahmenordnung“ (Martin Heckel) erhalten, dann kann das auch gar nicht anders sein.
2. Berücksichtigung der Religionsfreiheit in anderen Bereichen Dies schließt es freilich nicht aus, dass in anderen Bereichen aus Rücksicht auf religiöse Überzeugungen Zugeständnisse möglich sind. An dieser Stelle ist es notwendig, den weiteren Ausführungen einige Überlegungen zum Konzept der „illiberalen Religionsgemeinschaft“ voranzustellen (2.1). Anschließend sollen zwei Beispiele (Baha’i und Zeugen Jehovas) illustrieren, wie auf spezifische religiöse Überzeugungen Rücksicht genommen wird (2.2 und 2.3).
2.1 Vorbemerkung zu „illiberalen“ Religionsgemeinschaften Aus Gründen der staatlichen Neutralität und des eng mit ihr verbundenen Gleichheitsgrundsatzes ist es problematisch, wenn Differenzierung davon abhängig gemacht werden sollen, ob eine Religionsgemeinschaft als „liberal“ oder als „illiberal“ qualifiziert wird. Nach welchen Kriterien soll die Zuordnung im einzelnen bestimmt werden? Woran soll man sich orientieren? An internen demokratischen Strukturen? Das kann kaum richtig sein und würde nicht nur von der katholischen Kirche nicht erfüllt. Aus 211 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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der Sicht der säkularen staatlichen Rechtsordnung und des Grundsatzes der Neutralität des Staates ist es deshalb ausgeschlossen, Differenzierungen aufgrund des Inhalts religiöser Überzeugungen vorzunehmen. Der säkulare Staat darf und kann religiöse Überzeugungen nicht bewerten. 23 Es wäre deshalb vorzugswürdig, im Titel das Wort „illiberal“ schlicht zu streichen. Es reicht nämlich aus, danach zu fragen, ob und gegebenenfalls welche Zugeständnisse der säkulare Staat Religionsgemeinschaften machen darf, ganz unabhängig davon, ob diese von einer mehr oder weniger breiten Öffentlichkeit als orthodox, liberal, illiberal, fundamentalistisch usw. qualifiziert werden. Dies lässt sich mit den nachfolgenden beiden Beispielen illustrieren.
2.2 Die Baha’i-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1991 In dem damaligen Verfahren ging es um die vereinsrechtliche Organisation der Religionsgemeinschaft der Baha’i in Tübingen. 24 Das Amtsgericht Tübingen lehnte die Eintragung des Vereins „Geistiger Rat“ ab. Hintergrund war die interne Strukur der Baha’i, die ab einer gewissen Größe neunköpfige „Geistige Räte“ als Leitungsorgane vorsieht. Nach Auffassung des AG Tübingen konnte der Geistige Rat der Baha’i in Tübingen nicht als Verein eingetragen werden, weil es ihm an der notwendigen Selbstständigkeit gegenüber dem nationalen Geistigen Rat der Baha’i in Deutschland insgesamt fehle. Das Bundesverfassungsgericht entschied in der Verfassungsbeschwerde, dass die Versagung der Eintragung (mit der Konsequenz der fehlenden Rechtspersönlichkeit) den Anforderungen der korporativen Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG nicht gerecht werde. Entscheidend war, dass das Bundesverfassungsgericht den Regelungen zur Religionsfrei23 24
S. etwa Juliane Kokott, in: M. Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, Art. 4 Rdn. 5. BVerfGE 83, 341 (343 ff.) – Baha’i.
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heit (einschließlich ihrer näheren korporativen Ausgestaltung in Art. 140 GG i. V. m. den Bestimmungen der WRV (insbes. Art. 137 Abs. 4 WRV)) eine Bedeutung für den Zugang zum Erwerb der Rechtspersönlichkeit beimisst. Es heißt in der Entscheidung wörtlich: „Die Möglichkeit der Bildung einer Religionsgesellschaft soll den Weg eröffnen, sich als Vereinigung von Menschen zur Verwirklichung des gemeinsamen religiösen Zwecks zu organisieren, eine rechtliche Gestalt zu geben und am allgemeinen Rechtsverkehr teilzunehmen. Damit ist kein Anspruch auf eine bestimmte Rechtsform gemeint, etwa die des rechtsfähigen Vereins oder einer sonstigen Form der juristischen Person; gewährleistet ist die Möglichkeit einer irgendwie gearteten rechtlichen Existenz einschließlich der Teilnahme am allgemeinen Rechtsverkehr. […] Unvereinbar mit der religiösen Vereinigungsfreiheit wäre ein Ergebnis, das eine Religionsgesellschaft im Blick auf ihre innere Organisation von der Teilnahme am allgemeinen Rechtsverkehr gänzlich ausschlösse oder diese nur unter Erschwerungen ermöglichte, die unzumutbar sind.“ 25
Konkret auf die Satzung der Baha’i bezogen entschied das Bundesverfassungsgericht, dass der von den Zivilgerichten stark betonte einfachrechtliche Grundsatz der Vereinsautonomie, der einer Eintragung des Geistigen Rats in Tübingen entgegenstand, gegenüber den Anforderungen aus der Religionsfreiheit zurücktreten müsse. Eine entsprechende Rechtsprechung hat inzwischen auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entwickelt, der aus der Religionsfreiheit der EMRK gleichfalls einen Anspruch ableitet, in irgendeiner Form als juristische Person rechtlich verfasst am Rechtsverkehr teilnehmen zu können. 26
25
BVerfGE 83, 341 (355 f.) – Baha’i (Hervorhebung im Original). S. etwa EGMR, Urt. v. 1. 10. 2009, Beschwerde-Nr. 76836/01 & 32782/03 – Kimlya and Others v. Russia, Rdn. 98 ff.; dazu Antje von Ungern-Sternberg, in: U. Karpenstein / F. Mayer, EMRK-Kommentar, 2012, Art. 9 Rdn. 41.
26
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Inzwischen sind die Baha’i in Hessen sogar als Körperschaft des öffentlichen Rechts verfasst. Hier hatte zunächst nach Auffassung der Verwaltung die relativ geringe Mitgliedzahl entgegen gestanden. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat aber deutlich gemacht, dass es keine feste Mindestmitgliedzahl geben könne, sondern sich nur aus der Zusammenschau die Gewähr der Dauer ergeben müsse. 27
2.3 Die Zeugen-Jehovas-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2000 (19. 12. 2000) Eine ganz ähnliche Tendenz wird in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erkennbar. Der Körperschaftstatus ist seit den Debatten über das Staatskirchenrecht der Weimarer Reichsverfassung ein Kristallisationspunkt unterschiedlicher Interpretationsvorstellungen über das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften. 28 „Rätselhafter Ehrentitel“, der der Körperschaftsstatus nun einmal ist, 29 ist er für koordinationsrechtliche Vorstellungen eines gleichberechtigten Nebeneinander von Staat und Kirche ebenso offen wie für eine grundrechtsorientierte Einordnung der Religionsgemeinschaften in ein allgemeines Verbändeverfassungsrecht. 30 Der Rechtsstreit der Zeugen Jehovas um den Status einer 27
VGH Kassel, Urt. v. 22. 9. 2011, Az. 8 A 1978/10, NVwZ 2011, 1531 (1532 f.); bestätigt durch BVerwG, Urt. v. 28. 11. 2012, Az. 6 C 8/12, NVwZ 2013, 943 ff. 28 Siehe statt anderer die unterschiedlichen Perspektiven bei Christian Hillgruber und Hermann Weber, Der öffentlich-rechtliche Körperschaftsstatus nach Art. 137 Abs. 5 WRV, in: H. M. Heinig / C. Walter (Hg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?, 2006, 213 ff. und 229 ff.; sowie Hans Michael Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, Berlin 2003. 29 Rudolf Smend, Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz, ZevKR 1 (1951), 1 ff. (9). 30 Vgl. zur Spannbreite näher Christian Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, 188 ff., 239 und 551 ff.
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Körperschaft des öffentlichen Rechts hat diese unterschiedlichen Sichtweisen noch einmal deutlich hervortreten lassen und zugleich zu wichtigen Klarstellungen des Bundesverfassungsgerichts geführt. Worum ging es? Die heutige Religionsgemeinschaft „Jehovas Zeugen in Deutschland Körperschaft des öffentlichen Rechts“ existierte ursprünglich als Rechtsperson nach dem Recht der ehemaligen DDR. Seit dem Herbst 1990 verfolgte sie in Berlin einen Antrag auf Zuerkennung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts nach Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV in Verbindung mit Art. 140 GG. Nach Ablehnung ihres Antrags beschritt sie zunächst den Verwaltungsrechtsweg, der zu einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts führte, in der aus dem Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts abgeleitet wurde, dass nur Vereinigungen mit einer gewissen „Staatsloyalität“ diesen Status erlangen könnten. 31 Die gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts eingelegte Verfassungsbeschwerde führte zum Grundsatzurteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Dezember 2000. 32 In dieser Entscheidung klärte das Bundesverfassungsgericht grundsätzliche Voraussetzungen für die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts und wies die Position des Bundesverwaltungsgerichts klar zurück. Das Gericht gelangte mit einer freiheitsrechtlichen Interpretation des Status der öffentlich-rechtlichen Korporation zum Ergebnis eines offenen Zugangs für alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. 33 Das Bundesverfassungsgericht verwies das Verfahren an die Fachgerichte zurück, die schließlich zu Gunsten der Zeugen Jehovas entschieden haben. 34 Das Land Berlin hat darauf31
BVerwG, Urt. v. 26. 6. 1997, Az. 7 C 11/96, NJW 1997, 2396 (2398) – Zeugen Jehovas. 32 BVerfGE 102, 370 – Zeugen Jehovas. 33 BVerfGE 102, 370 (394 ff.) – Zeugen Jehovas. 34 BVerwG, Urt. v. 17. 5. 2001, Az. 7 C 1/01, NVwZ 2001, 924 (Zurückverweisung an OVG); OVG Berlin, Urt. v. 2. 12. 2004, Az. 5 B 12.01, NVwZ 2005, 1450 (Verleihungsvoraussetzungen bejaht); die hiergegen gerichtete Nichtzulas-
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hin der Religionsgemeinschaft „Jehovas Zeugen in Deutschland“ am 13. Juni 2006 den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verliehen. Das Beispiel zeigt damit, dass es – wenngleich mit nicht unerheblichem zeitlichen und juristischem Aufwand – auch gesellschaftlich besonders umstrittenen Vereinigungen wie den Zeugen Jehovas prinzipiell möglich ist, den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zu erlangen. 35
3. Das nordrhein-westfälische Beiratsmodell für den islamischen Religionsunterricht als Beispiel für ein verfassungsrechtlich nicht gebotenes, aber zulässiges Entgegenkommen gegenüber spezifischen Bedürfnissen einer bestimmten Religion 36 Zentrales Kennzeichen des Religionsunterricht i. S. v. Art. 7 Abs. 3 GG ist seine konfessionelle Gebundenheit, d. h. er wird aus der Binnenperspektive einer Religionsgemeinschaft unterrichtet. Das unterscheidet ihn von anderen Lehrangeboten zum Thema „Religion“ wie etwa der Religionskunde oder dem Fach „Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde“ (LER). Wegen dieser Binnenperspektive sind dem religiös neutralen Staat bei der Ausgestaltung des Religionsunterrichts Grenzen gesetzt, die zwingend sungsbeschwerde des Landes Berlin wurde vom Bundesverwaltungsgericht endgültig am 1. Februar 2006 zurückgewiesen (BVerwG, Urt. v. 1. 2. 2006, Az. 7 B 80/05, NJW 2006, 3156). 35 Zu den im Zuge sog. „Zweitverleihungsverfahren“ deutlich gewordenen Schwierigkeiten siehe die Darstellung der Entwicklung in den Ländern BadenWürttemberg, Rheinland-Pfalz und Bremen bei Christian Walter / Antje von Ungern-Sternberg / Stefan Lorentz, Die „Zweitverleihung“ des Körperschaftsstatus an Religionsgemeinschaften – eine überkommene Rechtspraxis auf dem Prüfstand von Grundgesetz und EMRK, 2012, 57 ff., 59 ff. und 62 ff. 36 Die nachfolgenden Ausführungen lehnen sich an eine schriftliche Stellungnahme an, die ich zur Landtagsdrucksache 15/2209 im Gesetzgebungsverfahren zur Einführung eines Beiratsmodells für islamischen Religionsunterricht in Nordrhein-Westfalen abgegeben habe.
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aus dem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften (Art. 137 Abs. 3 WRV i. V. m. Art. 140 GG) und damit letztlich aus der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) folgen. Die wichtigsten Grenzen bestehen darin, dass der Staat die Lehrinhalte nicht einseitig verbindlich festlegen und das Lehrpersonal nicht autonom auswählen kann. Insofern ist er für die Organisation und Durchführung des Religionsunterrichts auf die Kooperation mit einer Religionsgemeinschaft angewiesen. Über diesen verfassungsrechtlichen Ausgangspunkt herrscht Einigkeit. Für die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts erweist sich nun allerdings die Organisationsstruktur des Islam als problematisch. 37 Der Staat ist für die Kooperation auf einen festen Ansprechpartner angewiesen, der verbindlich für die Religionsgemeinschaft sprechen kann. Der in Art. 7 Abs. 3 GG enthaltene Anspruch auf Religionsunterricht knüpft insoweit grundsätzlich an eine „Religionsgemeinschaft“ an. 38 Eine solche gibt es mit Blick auf die Gesamtheit der Muslime in Deutschland derzeit allerdings nicht. Hieran ist in der Vergangenheit die Einführung eines muslimischen Religionsunterrichts i. S. v. Art. 7 Abs. 3 GG gescheitert. Es fragt sich aber, ob sich nicht doch Kooperationsformen schaffen lassen, die einerseits den religionsverfassungsrechtlichen 37
S. etwa Michael Ott, Ausbildung islamischer Religionslehrer und staatliches Recht, 2009, 86 ff. 38 Siehe hierzu im einzelnen Myrian Dietrich, Islamischer Religionsunterricht, 2006, 190 ff.; Tobias Harks, Islamischer Religionsunterricht und Art. 7 III, JA 2002, 875 (876 f.); Stefan Muckel, Wann ist eine Gemeinschaft Religionsgemeinschaft?, in: FS Listl, 715 ff.; ders., Islamischer Religionsunterricht und Religionskunde an öffentlichen Schulen in Deutschland, JZ 2001, 58 (60 ff.); Mathias Rohe, Rechtliche Perspektiven eines islamischen Religionsunterrichts in Deutschland, ZRP 2000, 207 (209 f.); Janbernd Oebbecke, Islamischer Religionsunterricht – rechtsdogmatische und rechtspolitische Fragen, in: T. Bauer u. a. (Hg.), Islamischer Religionsunterricht: Hintergründe, Probleme, Perspektiven, 55 (56 ff.); Simone Spriewald, Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Einführung von islamischem Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach an deutschen Schulen, 2003, 95 ff.
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Anforderungen des Grundgesetzes Rechnung tragen, andererseits aber die organisatorischen Besonderheiten der Binnenstruktur des Islam berücksichtigen. Dies erscheint nicht zuletzt deshalb notwendig, weil – ebenso wie bei den christlichen Kirchen – Fragen der Binnenorganisation immer religiös konnotiert sind und damit einen engen Bezug zum Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften aus Art. 137 Abs. 3 WRV aufweisen. Deshalb scheidet es aus, dass eine „Verkirchlichung“ des Islam verlangt wird, bevor konfessionell gebundener muslimischer Religionsunterrichts i. S. d. Art. 7 Abs. 3 GG erteilt werden kann. Der Wissenschaftsrat hat für die Einführung einer islamischen Theologie als bekenntnisgebundenem Fach an staatlichen Universitäten, bei dem sich die gleichen organisationsrechtlichen Probleme stellen, die Einrichtung von Beiräten empfohlen, die dem Staat eine solche belastbare Entscheidung für die Religionsgemeinschaft liefern sollen. 39 Dieses Modell ist in der Folge fortentwickelt worden 40. Es basiert auf den folgenden Überlegungen: Als unstreitig darf angenommen werden, dass jedenfalls zahlreichen Moscheegemeinden der Status einer Religionsgemeinschaft nicht abgesprochen werden kann. 41 Vor dem Hintergrund von Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV steht es diesen Religionsgemeinschaften grundsätzlich frei, sich mit anderen Vereinigungen in Dachorganisationen zusammenzuschließen. Unabhängig von der Frage, ob solche Dachorganisationen selbst die
39
Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, 78 ff. Die Empfehlungen sind einsehbar unter http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv /9678–10.pdf. 40 C. Walter / J. Oebbecke / A. von Ungern-Sternberg / M. Indenhuck (Hg.), Die Einrichtung von Beiräten für islamische Studien, Baden-Baden 2011. 41 Heinrich de Wall, Der religionsrechtliche Rahmen für die Einrichtung des Fachs „Islamische Studien“ und für Beiräte für islamische Studien, in: C. Walter / J. Oebbecke u. a. (Hg.), Die Einrichtung von Beiräten für islamische Studien, 15 (35); Wiebke Hennig, Muslimische Gemeinschaften im Religionsverfassungsrecht, 2010, 131.
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Voraussetzungen einer Religionsgemeinschaft erfüllen 42, folgt aus der Gewähr einer umfassenden (auch organisatorischen) Selbstbestimmung (Art. 137 Abs. 3 WRV), dass Religionsgemeinschaften die Wahrnehmung der ihnen zustehenden Rechte auch in Dachorganisationen organisieren können. 43 Über die Einbeziehung von Dachverbänden von Moscheegemeinden werden damit zumindest mittelbar auch Religionsgemeinschaften eingebunden. Es ist bislang offen, ob und gegebenenfalls welche der in Deutschland bestehenden muslimischen Verbände selbst die Voraussetzungen einer Religionsgemeinschaft erfüllen. Eine Beiratskonstruktion unter Beteiligung muslimischer Verbände, in denen Moscheegemeinden zusammengeschlossen sind, hat den Vorteil, dass die Frage letztlich offen bleiben kann. Ist der Verband selbst Religionsgemeinschaft, so wirkt er als solche an den Entscheidungen mit. Sind nur die in ihm zusammengeschlossenen Moscheegemeinden Religionsgemeinschaft, so kann er deren Anliegen im Beirat vertreten. 44 Mit dieser Überlegung lassen sich auch an anderer Stelle geäußerte Bedenken ausräumen. Der Beirat ist keine Religionsgemeinschaft und er soll auch nicht etwa an die Stelle einer Religionsgemeinschaft treten. 45 Er stellt lediglich den organisatorischen Rahmen zur Verfügung, um die mittelbare oder unmittelbare Beteiligung islamischer Religionsgemeinschaften zu ermöglichen. Im Übrigen formuliert Art. 7 Abs. 3 GG zunächst einmal einen Anspruch für Religionsgemeinschaften auf Einführung 42
Nach BVerwGE 123, 49 (58) kann Dachverbänden nicht von vornherein die Eigenschaft einer Religionsgemeinschaft abgesprochen werden. Dazu Sachs, Rechtsanspruch der Religionsgemeinschaften auf Einführung von Religionsunterricht, JuS 2005, 940 ff. 43 de Wall (Anm. 41), 35. 44 de Wall (Anm. 41), 35 f.; C. Walter / J. Oebbecke, Kommentierter Ordnungsentwurf, in: Fn. 40, Rn. 10. 45 Auf dieser Annahme beruht die Kritik bei H. Stössel, Staatskirchenrechtliche Aspekte des islamischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen im Licht der Empfehlungen des Wissenschaftsrates vom Januar 2010, KuR 2011, 113 (118).
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eines konfessionell gebundenen Religionsunterrichts. Für die darüber hinausgehende Frage, ob der Staat einen solchen Unterricht auch mit anderen Vereinigungen einführen dürfte, enthält die Regelung kein selbstständiges Verbot. Ein solches Verbot könnte sich allenfalls aus den anderen religionsverfassungsrechtlichen Bestimmungen, insbesondere dem Selbstbestimmungsrecht des Art. 137 Abs. 3 WRV, ergeben. Durch die Einbeziehung der großen islamischen Dachverbände kann eine möglichst umfassende Repräsentation des organisierten Islams erreicht werden. Zu beachten ist allerdings, dass sich nach einer von der Islamkonferenz in Auftrag gegebenen Studie weniger als ein Viertel der Muslime in Deutschland von einem der vier großen Verbände vertreten fühlen. 46 Dies macht auf ein Auswahlproblem aufmerksam, das hinsichtlich der Beteiligung von muslimischen Organisationen an einem Beirat besteht. Schon wegen des Verbots der Staatskirche (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 1 WRV) kann bei der Auswahl nicht an religiösinhaltliche Kriterien angeknüpft werden. Zudem würde eine wertende Unterscheidung anhand des religiösen Programms auch gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen. Unter dem Grundgesetz ist es deshalb ausgeschlossen, dass der Staat sich über den Beirat einen ihm genehmen „Staatsislam“ schafft. Daher darf der Staat eine Gemeinschaft auch nicht etwa wegen ihrer ihm liberal erscheinenden Ausrichtung gegenüber anderen Gemeinschaften bevorzugen. Größe und Verbreitungsgrad stellen dagegen taugliche Unterscheidungskriterien dar. Angesichts der Größe der vier im Koordinationsrat der Muslime in Deutschland (KRM) zusammengeschlossenen Verbände erscheint deren Auswahl jedenfalls für Nordrhein-Westfalen sachgerecht. Da ein islamischer Religionsunterricht aus Sicht der Beteiligten ein möglichst breites Angebot an die muslimischen Schüler darstellen soll, kann darüber hinaus ein Interesse bestehen, auch die nicht 46
Sonja Haug / Stephanie Müssig / Anja Stichs, Muslimisches Leben in Deutschland, Nürnberg 2009, 179.
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Zugeständnisse an illiberale Religionsgemeinschaften?
organisierten Muslime in die Organisation eines islamischen Religionsunterrichts einzubeziehen. 47 Soweit sie – wie im Gesetzentwurf vorgesehen – im Einvernehmen mit den Vertretern organisierter Muslime in den Beirat berufen werden, sind hiergegen keine Einwände aus dem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften zu besorgen. Im Ergebnis ist die Beiratskonstruktion nicht verfassungswidrig. Sie ist ein „Mittel zur Organisation des Selbstbestimmungsrechts“ 48, das für die Übergangszeit zur Verfügung stehen soll, bis sich hinreichend repräsentative Religionsgemeinschaften des Islam gebildet haben. Sie ist aber auch während dieser Übergangszeit verfassungskonform. Auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu einer ausnahmsweise für eine Übergangszeit tolerablen verfassungswidrigen Rechtslage 49 kommt es deshalb nicht an. Entscheidend ist, dass das Beiratsmodell niemandem aufgedrängt werden darf, weder den Muslimen noch anderen Religionsgemeinschaften, die über eine etablierte und funktionierende Selbstorganisation verfügen. 50
4. Ausblick: Das Religionsrecht zwischen Freiheitsermöglichung und Gefahrenabwehr Die im Titel vorgenommene Gegenüberstellung von liberalem Staat und illiberalen Religionsgemeinschaften macht auf die zentrale Spannung zwischen Freiheitsgewähr und Sicherheitsbedürfnis aufmerksam, die freiheitlich-demokratische Rechtsordnungen immer wieder neu austarieren, aber auch immer aushalten müssen. Gerade bei den Kommunikationsfreiheiten, zu denen neben der Meinungsäußerungsfreiheit und den politischen Mitwir47
Vgl. zu parallelen Überlegungen mit Blick auf eine Islamische Theologie C. Walter / J. Oebbecke, Kommentierter Ordnungsentwurf, in: Fn. 40, Rn. 5. 48 de Wall (Anm. 41), 36. 49 Vgl. etwa BVerfGE 91, 186 (207) – Kohlepfennig. 50 de Wall (Anm. 41), 39 f.
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kungsrechten eben auch die Religionsfreiheit gehört, muss ein der Freiheit verpflichteter Staat auch Formen des Freiheitsgebrauchs hinnehmen, die für eine Mehrheit der Bürger und auch aus Sicht der Staatsorgane unerwünscht sind. Grenzen des Freiheitsgebrauchs ergeben sich aus den auch sonst anwendbaren allgemeinen Grundsätzen der wehrhaften Demokratie. Soweit diese überschritten sind, greift die gefahrenabwehrende Dimension des Religionsrechts ein. Bestrebungen, die auf eine Abschaffung der freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung gerichtet sind, müssen auch dann nicht hingenommen werden, wenn sie religiös motiviert sind. Soweit diese Grenzen aber nicht überschritten sind, fehlt dem Staat das Instrumentarium, um eine Religionsgemeinschaft als „illiberal“ zu qualifizieren. Stattdessen ist mit den allgemeinen Grundsätzen der Religionsfreiheit und des Verbots der Diskriminierung aus religiösen Gründen zu arbeiten. Dies führt dazu, dass – wie das Beispiel des Körperschaftsstatus für die Zeugen Jehovas zeigt – auch Religionsgemeinschaften, die in weiten Teilen der Bevölkerung und auch bei vielen Staatsorganen als problematisch empfunden werden, einen Anspruch auf gleiche Behandlung haben. Darüber hinaus hat der Staat außerdem die Möglichkeit, einzelnen, gesellschaftlich besonders relevanten Religionsgemeinschaften entgegenzukommen und ihnen Zugang zu besonderen Angeboten wie der Theologie an staatlichen Universitäten oder dem verpflichtenden Religionsunterricht in staatlichen Schulen zu verschaffen. Hier schlagen sich gesellschaftliche Veränderungen in neuen rechtlichen Gestaltungen nieder. Auch solche Entwicklungen sind Teil des beständigen Austarierens von Freiheit und Sicherheit im Religionsverfassungsrecht.
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Vom Antimodernismus zur theologischen Legitimation von Säkularität und Freiheit in Kirche und Theologie
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Modernismus und Antimodernismus. Eine misslungene Antwort der Kirche auf die Herausforderungen der Moderne 1 Peter Neuner, München
I. Zur Begriffsgeschichte Die Vielfalt und damit die Unbestimmtheit dessen, was als die „Moderne“ bezeichnet wird, zeigt sich im kirchlichen Bereich in den Auseinandersetzungen um den „Modernismus“. Dieser Begriff bezeichnet zunächst ein historisches Phänomen im Pontifikat Papst Pius X. (1903–1914), das mit dem Regierungsantritt von Papst Benedikt XV. und dem Ausbruch des I. Weltkriegs zunächst sein Ende fand. Allerdings wirkt es, jedenfalls in seinen Konsequenzen, in der katholischen Kirche weiter, und das bis in die Gegenwart. Doch alle Versuche, den Modernismus inhaltlich trennscharf zu definieren 2, müssen letztlich als gescheitert angesehen werden, nicht zuletzt deshalb, weil jene, die den Begriff prägten, ihn einer eindeutigen Umschreibung zu entziehen suchten. Sie wollten ihn möglichst uneingeschränkt als Vorwurf gegen 1
Der Beitrag greift in großen Teilen zurück auf meinen Aufsatz: Antimodernismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Eine historische Perspektive, in: Magnus Striet (Hg.), „Nicht außerhalb der Welt“. Theologie und Soziologie, Freiburg im Breisgau 2014, 61–92. 2 Unter der neueren deutschsprachigen Literatur ist besonders zu nennen: Manfred Weitlauff, ‚Modernismus‘ als Forschungsproblem, in: ZKG 93 (1982), 312– 344; Otto Weiß, Der Modernismus in Deutschland, Regensburg 1995; Hubert Wolf (Hg), Antimodernismus und Modernismus in der katholischen Kirche, Paderborn u. a. 1998; Claus Arnold, Kleine Geschichte des Modernismus, Freiburg 2007; Rainer Bucher u. a. (Hg), „Blick zurück im Zorn?“. Kreative Potentiale des Modernismusstreits, Innsbruck / Wien 2009; Peter Neuner, Der Streit um den katholischen Modernismus, Frankfurt a. M. / Leipzig 2009.
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alle missliebigen Ansätze zu einer Erneuerung der Kirche einsetzen können. Niemand bezeichnete sich zunächst selbst als Modernist, der Begriff wurde geschaffen zur Verurteilung. Der Antimodernismus, der die gegenläufige Tendenz umschreibt, reicht weit über den historischen Modernismus hinaus. Das zeigt, dass sich auch der Modernismus nicht auf das historisch umrissene Phänomen begrenzen lässt. Eine Darlegung des Antimodernismus erscheint derzeit als der erfolgreichste Weg, den Modernismus zu umreißen. Dabei hat der Begriff Modernismus durchaus eine Vorgeschichte. In der spätmittelalterlichen Theologie standen sich die Schulrichtungen der via antiqua und der via moderna gegenüber, wobei beide Richtungen feste Institutionen an den Universitäten bilden konnten bzw. die Fakultäten in der einen oder anderen Richtung geprägt waren. Bereits Luther nannte die Vertreter der via moderna „Modernisten“. In der Gegenreformation wurden die Reformatoren in Unterscheidung von den Häretikern der Alten Kirche verschiedentlich als eretici moderni, „moderne Häretiker“, bezeichnet. Diese abwertende Verwendung des Begriffs „Modernisten“ findet sich auch im protestantischen Raum, und zwar in der Kontroverse zwischen Orthodoxie und Aufklärung bzw. zwischen konservativem Luthertum und dem liberalen Protestantismus. 1871 verspottete der Niederländische Calvinist Abraham Kuyper die Glaubensvorstellung der liberalen Theologie als modernistisch, wobei er als die „Modernen“ Ferdinand Chr. Baur (1792–1860) und David Friedrich Strauß (1808– 1874) im Blick hatte. 3 Katholischerseits ist eine erste Verwendung des Begriffs Modernismus nachgewiesen bei dem belgischen Nationalökonom 3
„Ich, Moderner, glaube an einen Gott, der Vater aller Menschen ist, und an Jesus, nicht den Christus, sondern den Rabbi von Nazareth. Ich glaube an den Menschen, der von Natur gut, nur nach Vollkommenheit streben soll. Ich glaube, daß Sünde nur relativ, Vergebung der Sünde also nur menschliche Erfindung ist. Ich glaube an eine Hoffnung des besseren Lebens und ohne Urtheil aller Seelen Seligkeit“; zitiert nach Claus Arnold, Kleine Geschichte des Modernismus, Freiburg 2007, 12.
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Charles Périn, der damit die Bemühung charakterisierte, die katholische Glaubensüberzeugung mit den Ideen der Französischen Revolution und der Demokratie zu versöhnen. Diese Inhaltlichkeit wurde von der römischen Jesuitenzeitschrift Civilta Cattolica übernommen und um die Vorstellung einer überzogenen Wissenschaftsgläubigkeit erweitert. In Deutschland ist der Begriff Modernismus 1882 belegt bei Carl Braig, dem theologischen Lehrer von Martin Heidegger. Er verwendete ihn im Blick auf Schleiermacher und bezeichnete damit im Gegensatz zu den Jesuiten eine Auffassung, „nach welcher der Wert und die Verpflichtungskraft einer Religion nicht auf der objektiven Wahrheit ihrer Verkündigungsgehalte und Lehren beruht, sondern auf der subjektiven Qualität der Erlebnisse, die diese Religion vermittelt“. 4 In Rom wurde der Begriff zunächst aufgenommen in der Kritik an sozial-politischen Tendenzen in der Kirche sowie zur Kennzeichnung einer Theologie, die auf der historisch-kritischen Schriftexegese beruhte. Der deutsche Dominikaner Albert Maria Weiß (1844–1925) und der römische Monsignore Umberto Benigni (1862–1937), die in der Modernismuskontroverse eine entscheidende Rolle spielten, bezeichneten alle zeitgenössischen religiösen Reformbestrebungen als Modernismus, wobei besonders der Aspekt der Autonomie und der individuellen Entscheidung und damit die Infragestellung kirchlicher Autorität im Zentrum stand. Modernismus wurde zum Sammelbegriff für alle als verderblich erachteten gesellschaftlichen, theologischen und kirchlichen Bestrebungen und für die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Zeit. Im Pontifikat von Papst Pius X. wurde der Begriff Modernismus zum Sammelbegriff für alle Häresien und Reformbewegungen. Dass er damit unscharf wurde und sich einer Definition entzog, die einen Schutz gegen ungerechte Beschuldigungen geboten hätte, wurde zur Ursache für zahlreiche Verurteilungen 4
R. Schaeffler, Der ‚Modernismus-Streit‘ als Herausforderung an das philosophisch-theologische Gespräch heute, in: Theologie und Philosophie 55 (1980), 514.
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und Verdächtigungen, die die katholische Kirche im 20. Jahrhundert schwer belasteten. Der Gegenbegriff „Antimodernismus“ ist jedenfalls seit der Einführung des Antimodernisteneides (1910) geläufig. Dessen inhaltliche Umschreibung scheint am ehesten möglich durch die Verortung innerhalb der Neuscholastik 5, die im Antimodernismus eine kämpferische und massiv apologetische Form annahm. Das Wort Neuscholastik bezeichnete zunächst eine Forschungsrichtung, die sich an mehreren kirchlichen Einrichtungen in Italien, insbesondere an der Gregoriana und der von ihr inspirierten Römischen Schule durchzusetzen verstand. Entscheidenden Einfluss hatte dabei der deutsche Jesuit Josef Kleutgen (1811–1883), der durch seine Position in der Index-Kongregation missliebige und gegenläufige Tendenzen durch kirchenamtliche Maßregelungen zu unterdrücken wusste. 6 Nicht zuletzt durch seinen Einfluss gelang es dieser Richtung mehr und mehr, ihre Anhänger in wichtigen kirchlichen Ämtern und auf theologischen Lehrstühlen durchzusetzen und andere Denkrichtungen als irrgläubig oder verdächtig auszuschalten. In Deutschland wurden vor allem die Seminare in Mainz und in Würzburg zu Brückenköpfen der Neuscholastik, ebenso wie Löwen in Belgien und die Universität von Freiburg in der Schweiz. Der Münchner Philosoph Jakob Frohschammer (1821– 1893), der den Begriff Neuscholastik als einer der ersten in einer kritischen Analyse verwendete, sieht diese geprägt 1. durch die Überzeugung, dass eine authentische katholische Theologie und 5
Eine Umschreibung mittels des Konzepts der Neuscholastik erscheint als sinnvoller denn eine durch den des „Ultramontanismus“, weil hier eine jedenfalls im Ansatz theologische Konzeption besser in den Blick kommen kann. Zudem wird damit der Antimodernismus als universale Erscheinung aufgefasst, während „Ultramontanismus“ vom Ansatz her geographisch verstanden wird und damit vor allem Deutschland und Frankreich im Gegensatz zu Rom in den Blick nimmt. 6 Die durchaus zwielichtige Rolle, die Kleutgen auch in menschlicher Hinsicht spielte, wird nachhaltig belegt durch Hubert Wolf, Die Nonnen von Sant’Ambrogio, München 2013.
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Philosophie nur im Rückgriff auf die Tradition der Kirche, vor allem auf die Scholastik des Mittelalters und besonders die Theologie des 13. Jahrhunderts möglich sei. Alle möglichen philosophischen Fragen seien von ihr explizit oder implizit bereits gelöst. 2. Die neuzeitliche Geistesgeschichte sei durch den Protestantismus bestimmt und stelle folglich eo ipso einen Irrweg dar, den katholische Wissenschaftler ungeprüft und unbesehen ignorieren könnten. Mit der Philosophie der Neuzeit sei, davon war die Neuscholastik überzeugt, kein Kontakt möglich und mit ihr könne kein Kompromiss geschlossen werden. 3. Die Freiheit der Wissenschaft und der Philosophie, so Frohschammers drittes Charakteristikum der Neuscholastik, sei begrenzt, sie seien ebenso wie die Theologie der Lehrautorität der Kirche unterworfen. 7 Darüber hinaus verband sich mit dem Begriff Neuscholastik die Vorstellungen von Machteinsatz und Machtmissbrauch zur Durchsetzung kirchlicher, philosophischer und theologischer Ziele. In dieser Sicht verstand Döllinger unter Neuscholastik einfachhin „die Römer und ihr deutscher Anhang“, Franz Xaver Kraus die „Mainzer Partei“. 8 Inhaltlich kritisiert wurde an der Neuscholastik deren Abstraktheit, ihr Formalismus und insbesondere ihr Mangel an biblischer und historischer Arbeit. Exegese und Kirchengeschichte, vor allem Dogmengeschichte standen am Rande. Sie waren Hilfsdisziplinen der Dogmatik und sollten das „semper, ubique et ab omnibus“ der kirchlichen Lehre belegen und dazu dicta probantia liefern. Den Standards historischer und exegetischer Wissenschaft, wie sie sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatten, konnte die neuscholastische Schule in keiner Weise entsprechen. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff Neuscholastik etwas positiver gefüllt und dann verschiedentlich auch als Selbstbezeichnung von theologischen Schulen und Zeitschrif7
Heinrich M. Schmiedinger, Neuscholastik, in: HWPh VI, (1984), 769–774, 769. 8 Schmiedinger, Neuscholastik (Anm. 7), 771.
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ten gebraucht, die sich auf das Erbe der mittelalterlichen Scholastik stützten. Ausschlaggebend war dabei die Enzyklika „Aeterni Patris“ (1879) von Papst Leo XIII., der für die theologische Ausbildung ein Denken aus dem Geist des Thomas von Aquin und der übrigen Größen der katholischen Tradition des lateinischen Mittelalters vorschrieb. Damit hatte zunächst einmal die Neuscholastik gesiegt und ihre Gegner, die Methoden der neuzeitlichen Philosophie und der Geschichtswissenschaften auch in der Theologie fruchtbar machen wollten, hatten kaum noch Chancen, in der Kirche gehört zu werden oder wichtige Positionen einzunehmen oder Lehrstühle zu besetzen.
II. Herausforderungen der Zeit und Neuaufbrüche in der katholischen Theologie und Kirche Im 19. Jahrhundert war die katholische Kirche weithin geprägt vom Schock der Französischen Revolution. 9 Was mit den Ideen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit begonnen hatte, führte innerhalb weniger Jahre zu den Exzessen einer Herrschaft des Pöbels, der Unmenschlichkeit und der Unterdrückung. In den Septembermorden 1792 starben Hunderte von Priestern und Ordensleuten als „Feinde der Republik“ unter der Guillotine, Kirchenschätze und weithin verehrte Reliquien wurden als Karnevalsutensilien entehrt. In der Säkularisation von 1803 und in den Zerstörungen, die sie anrichteten, schien die Gosse über die zivilisierte Welt und die bewährte Ordnung zu triumphieren. Persönliche Erfahrungen taten ein Übriges. Die Päpste Gregor XVI. und Pius IX. waren, nicht zuletzt durch revolutionäre Ereignisse des Jahres 1848 verschreckt, jeglicher Neuerung abgeneigt und sahen darin nichts anderes als eine Gefahr für die Lehre der Kirche und für den Kirchenstaat und sie fühlten sich ver9
Die Darstellung greift weithin zurück auf meine Darlegungen in: P. Neuner, Der Streit (Anm. 2).
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pflichtet, diesen Bestrebungen aufs Schärfste entgegenzutreten. Diese Konstellation macht es einigermaßen verständlich, dass man die Ideen der Neuzeit und der Aufklärung massiv verwarf. Was sich als modern, fortschrittlich, neuzeitlich verstand, galt als verdächtig und mit katholischem Denken unvereinbar. 1864 verurteilte Papst Pius IX. im Syllabus den Satz, die Kirche solle sich „mit dem Fortschritt, dem Liberalismus und mit der modernen Kultur versöhnen und anfreunden“ 10. Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit und Demokratie wurden als Wahnsinn diffamiert, der nur zu Indifferentismus und Glaubensabfall führen könne. Sicherlich war das nicht die einzige Stimme im katholischen Raum. Es gab in diesem Jahrhundert zahlreiche Ansätze, die sich mit den Idealen der Neuzeit auszusöhnen und sie für die Kirche und ihre Botschaft fruchtbar machen wollten. Genannt seien nur die Tübinger Schule und Namen wie Döllinger, Hermes, Günther. Weniger bekannt als diese ist der sogenannte „Amerikanismus“, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts die katholische Kirche für die US-amerikanische Gesellschaft und die Demokratie zu öffnen suchte, religiöse Toleranz als christliche Tugend propagierte und die „aktiven“ Tugenden wie Solidarität, Nächstenliebe, Verantwortungsbewusstsein den „passiven“ wie Gehorsam, Demut und Unterwerfung vorordnete. Diese Vorstellungen wurden in Europa zunächst in Frankreich aufgegriffen, wo sie in der Bewegung um die Zeitschrift „Sillon“ Verbreitung fanden. Sie propagierte ein Engagement der Katholiken in der Gesellschaft aus christlicher Überzeugung und rief auf zu Selbständigkeit, Verantwortlichkeit und Freiheit. Zunächst fand diese Bewegung das Wohlwollen der Hierarchie, was sich allerdings änderte, als der Sillon sich nicht mehr als katholische Organisation verstand, sondern als Vereinigung von Katholiken, die sich, unabhängig von bischöflichen Weisungen, der gesellschaftlichen Verantwortung
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stellten. Diese Problematik stand auch im Zentrum des Gewerkschaftsstreits in Deutschland, wo auch Bischöfe uneins waren in der Frage, ob sich Katholiken in überkonfessionellen christlichen Gewerkschaften, oder in katholischen Arbeitervereinen unter bischöflicher Leitung organisieren sollten. Besondere Bedeutung bekamen die politischen Neubesinnungen in Italien, wo 1870 der Kirchenstaat unterging und die Päpste zunächst jedes politische Engagement von Katholiken in der Republik Italien und selbst die Teilnahme an den Wahlen verboten. Hier hat vor allem der römische Priester Romolo Murri (1870– 1944) Anstoß erregt durch die Gründung der Democrazia Cristiana, die sich an der Gestaltung des Gemeinwesens in dem jungen Staat beteiligen wollte. Soziales Engagement sollte nach Überzeugung von Papst Leo XIII. karitativ Not lindern, durfte aber keine Anerkennung des italienischen Staates bedeuten und musste immer unter der Aufsicht der Bischöfe stehen. Neben den sozialen standen geistige Aufbrüche. In England, insbesondere aber in Deutschland wurde eine kulturelle Inferiorität der Katholiken gegenüber den Protestanten und den Liberalen beklagt. Der englische Jesuit George Tyrrell (1861–1909) kritisierte, dass die kirchlichen Aufsichtsbehörden ständig danach fragten, ob eine Aussage „piis auribus offensiva“ sei, also in den Ohren der einfachen Gläubigen Verwirrung stiften könne, aber kaum auf das Unheil achteten, das eine zeitferne oder gar abergläubische Verkündigung in den Augen der Sehenden und Gebildeten anrichtete. In Deutschland beklagte Georg von Hertling (1843–1919), Mitbegründer der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland und bis zu seinem Tod deren erster Präsident, die Inferiorität der Katholiken im Bereich der Wissenschaften, Karl Muth (1867–1944) eine solche im Bereich der Literatur. Muth wollte diesem Missstand durch die Gründung der Literaturzeitschrift „Das Hochland“ begegnen. Mehr Brisanz entfaltete der Inferioritätsvorwurf, den Franz Xaver Kraus (1840–1901) und Herman Schell (1850–1906) für die katholische gegenüber der evangelischen Theologie erhoben, weil sie 232 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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die Maßnahmen des kirchlichen Lehramts direkt dafür verantwortlich machten. Eine Öffnung der Theologie zur Philosophie der Neuzeit erfolgte in einer Besinnung auf den Menschen als glaubendes Subjekt und seine religiöse Erfahrung. Angesichts einer für das persönliche Glaubensleben weithin unfruchtbaren Neuscholastik bemühte man sich intensiv um die Schriften der christlichen Mystiker. In Frankreich verfasste der reformierte Theologe Paul Sabatier (1858–1928) eine Arbeit über Franz v. Assisi, die noch zu Lebzeiten ihres Autors 40 Auflagen fand. Der Jesuit Henri Bremond (1865–1933) schrieb ein elfbändiges Werk über die Geschichte der christlichen Mystik, in Amerika untersuchte William James (1842–1910) die Vielfalt der religiösen Erfahrung. Der englische Jesuit George Tyrrell (1861–1909) stellte sich in zumeist kurzen Aufsätzen konkreten seelsorglichen Problemen und beantwortete sie aus der Perspektive der Theologiegeschichte. Sein engster Weggefährte Friedrich von Hügel (1852–1925) 11, entwickelte in einer zweibändigen Arbeit über die Heilige Katharina von Genua eine in sich geschlossene Religionsphilosophie, die auf den mystischen Erfahrungen einer konkreten Person, und, was besonders verwirrte, einer verheirateten Frau basierte. Mystik ist im Sinne dieses theologischen Ansatzes nicht ein Rückzug von der Welt oder die Konzentration auf übernatürliche Phänomene, sondern bezeichnet eine Religionsphilosophie, die gleichsam induktiv, also aufbauend auf konkreten persönlichen Erfahrungen, die christliche Lehre entfalten und auf diesem Weg die neuzeitliche Wende zum Subjekt auch in der Theologie fruchtbar machen wollte. Der evangelische Religionsphilosoph Ernst Troeltsch (1865–1923) bezeichnete die Mystik als die der Moderne angemessene Form der Religiosität. 12 11
Siehe hierzu P. Neuner, Religiöse Erfahrung und geschichtliche Offenbarung. Friedrich von Hügels Grundlegung der Theologie, München / Paderborn / Wien 1977; ders., Religion zwischen Kirche und Mystik. Friedrich von Hügel und der Modernismus, Frankfurt 1977. 12 Ernst Troeltsch: „Die ganze moderne Religionsphilosophie geht in diese Rich-
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Der Wende zum Subjekt verpflichtet war die Immanenzapologetik, die sich insbesondere mit dem Namen Maurice Blondel (1861–1949) verbindet. Er kritisierte die traditionelle Apologetik, die in ihrem Aufweis der christlichen Botschaft immer nur zu belegen suchte, dass eine Wahrheit in der Offenbarung enthalten ist und daraus folgerte, dass man sie um der Autorität Gottes und der Kirche willen glauben müsse. Neuzeitliches Denken will selbst einsehen, also unabhängig von fremder Autorität den Prüfstein in sich selbst suchen. 13 Um dem „Sapere aude“ Kants gerecht zu werden, entfaltete Blondel ein Konzept, das beim Menschen ansetzt und darlegt, dass die extra nos erfolgende Offenbarung dem inneren Sehnen und Hoffen des Menschen entspricht und sie erfüllt. In seinem programmatischen „Lettre“ Zur Methode der Religionsphilosophie heißt es: „Wir wollen uns nicht dabei erschöpfen, längst bekannte Argumente erneut durchzukneten, ein Objekt anzubieten, wo es das Subjekt ist, das sich nicht zur Verfügung stellt. Der Mangel liegt nicht aufseiten der göttlichen Wahrheit, man muß ihn in der menschlichen Disposition suchen und dorthin die Anstrengung der Beweisführung richten.“ 14 Die Immanenzapologetik beginnt beim Menschen, untersucht dessen seelische Disponiertheit und metaphysische Ausrichtung. In seinem Hauptwerk L’Action 15 analysierte Blondel die menschliche Tat und zeigte ihre notwendige Offenheit für eine übernatürliche Erfüllung auf, die die Tat selbst nicht zu leisten vermag. tung“, in: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912, 927. Siehe hierzu Karl-Ernst Apfelbacher, Frömmigkeit und Wissenschaft. Ernst Troeltsch und sein theologisches Programm, München / Paderborn / Wien 1978. 13 „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung“, Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Berliner Monatsschrift (1784), 481. 14 Maurice Blondel, Lettre sur les exigences de la pensée contemporaine en matière d’apologétique, Paris 1896, deutsch: Zur Methode der Religionsphilosophie, hg. v. Hansjürgen Verweyen, Einsiedeln 1974, 130. 15 Maurice Blondel, L’Action (1893), deutsch: Die Aktion, Freiburg / München 1965.
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Sie übersteigt menschliches Vermögen. Die Übernatur wird hier als Postulat des menschlichen Handelns erkennbar, ohne aus ihm ableitbar zu sein. Sie erscheint bei Blondel nicht als Fremdherrschaft, als heteronom, sondern als die Erfüllung dessen, worauf der Mensch angelegt ist und bewusst oder unbewusst hofft. Glaube wird zur autonomen Tat und Erfüllung des Menschen. Als besondere Herausforderung für die Kirche sollte sich die Wende zum geschichtlichen Denken erweisen. Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert umfassender historischer Entwürfe. Zahlreiche Quellen wurden neu entdeckt und ediert, die Basis des historischen Wissens erheblich erweitert. Vor allem aber änderte sich der Blickwinkel. Ansatz der Betrachtung war nicht mehr das So-Sein der Wirklichkeit, sondern ihr Geworden-Sein. Es erfolgte „eine reductio in historiam, der geschichtliche Charakter aller Phänomene wird erfaßt, das Sein als Gewordensein erkannt, in seinem Werden untersucht“. 16 Historie wurde zur Leitwissenschaft. Damit erscheint alles als einmal entstanden und veränderlich, als kontingent und relativ. Ernst Troeltsch zufolge bedeutet die Öffnung zur Geschichte das „Ende der dogmatischen Begriffsbildung“ 17, die von übergeschichtlichen und universal gültigen Prinzipien ausging. David Friedrich Strauß hatte es auf den Begriff gebracht: „Die wahre Kritik des Dogmas ist seine Geschichte“. 18 Dass das Dogma selbst eine Geschichte hat, befreit von dogmatischer Starre. Die Anwendung der historischkritischen Methode auf die biblischen Texte führte die evangelische Theologie im 19. Jahrhundert in eine Zerreißprobe. Diese Herausforderung machte nun mit einer gewissen Verzögerung auch vor der katholischen Theologie nicht Halt. 16
Josef Ratzinger, Das Problem der Dogmengeschichte in der Sicht der katholischen Theologie, Köln / Opladen 1966, 7. 17 Ernst Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, Tübingen 1902, 29 f. 18 David F. Strauß, Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampf mit den modernen Wissenschaften dargestellt, Tübingen 1840 Bd. I, 71.
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Es waren also vielfältige Herausforderungen, auf die die Theologie eine Antwort zu geben suchte; das 19. Jahrhundert war ein Zeitraum vielfältiger theologischer Neuaufbrüche. Leo Scheffczyk urteilte sogar, „das 19. Jahrhundert gehört zu den lebendigsten Epochen in der Geschichte der katholischen Theologie“. 19
III. Alfred Loisy, der Vater des katholischen Modernismus Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bündelten sich diese unterschiedlichen Neuansätze und viele ihrer Vertreter nahmen in ganz Europa auch persönlichen Kontakt zueinander auf. Kristallisationspunkt, der dazu führte, dass daraus die als Modernismus bezeichnete Bewegung wurde, war die Schriftinterpretation des französischen Exegeten Alfred Loisy (1857–1940). Loisy interpretierte die Bibel mit den Methoden, die allgemein in der Erforschung historischer Dokumente angewendet werden und kam damit in Konflikt mit einer Lehre von der Offenbarung, die Inspiration als wörtliches Diktat des Heiligen Geistes verstand. Sein Buch, L’Evangile et l’Eglise, 20 entstand in der Auseinandersetzung mit Adolf von Harnack (1851–1930). Dieser hatte im Wintersemester 1899/1900 seine Vorlesungen über „Das Wesen des Christentums“ 21 gehalten. Als dieses Wesen bezeichnete Harnack die Predigt Jesu vom liebenden Vatergott, vom unendlichen Wert der Menschenseele und den Ruf zu einer unbedingten Nächstenliebe. Alles andere, was sich darüber hinaus mit der christlichen Botschaft verbunden hat: das System von Lehraus19
Leo Scheffczyk, Theologie in Aufbruch und Widerstreit, Bremen 1965, IX. Alfrd Loisy, L’Évangile et l’Église, Paris 1902. Die um zwei Abschnitte erweiterte zweite Auflage (Paris 1903) wurde ins Deutsche übersetzt von Joseph Sauer (Pseudonym: Joh.[anna] Grière-Becker), München 1904. Die Zitate sind hier ausgewiesen nach P. Neuner, Der Streit (Anm. 2). 21 Adolf v. Harnack, Das Wesen des Christentums, Leipzig 1902. Das Buch erlebte bis 1927 14 Auflagen. Die folgenden Zitate sind hier genommen aus der Ausgabe hg. von Trutz Rendtorff, Gütersloh 1999. 20
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Modernismus und Antimodernismus
sagen, Dogmen, die institutionelle Kirche, die sakramentalen Riten, erklärte Harnack als Abfall von diesem Wesen und als dem Geist des Christentums fremd. Diese Sicht war dem protestantischen Christentum am Ende des preußischen Kaiserreiches auf den Leib geschnitten, bestätigte es doch die gesellschaftliche Ordnung, gab ihr eine gleichsam übernatürliche Weihe und segnete den Individualismus ab, der mit Kirche und amtlichem Gottesdienst wenig anzufangen wusste. Sein Buch war aber auch eine massive Kritik am römischen Katholizismus, in dem, so Harnack, der Abfall von der Botschaft Jesu am tiefsten gegangen sei. Diesen Frontalangriff auf die katholische Kirche nahm Loisy zum Anlass seines Buches L’Évangile et l’Église. Auch er geht vom historischen Jesus und seiner Botschaft vom Reich Gottes aus. Ihm erscheint jedoch als wesentlich christlich nicht nur der Ursprung, also die Botschaft Jesu, sondern alles, was aus dessen Verkündigung des Reiches Gottes erwachsen und hervorgegangen ist. „Für den Historiker ist alles christlich, was ein Fortleben des Evangeliums aufweist“ (S. 230). Loisy versuchte das Wesen des Christentums „in der Fülle und Totalität seines Lebens“ (S. 218) zu umreißen. Man muss nach seiner Überzeugung auch die weitere Geschichte in diese Betrachtung mit einzubeziehen, erst die Gesamtentwicklung lasse erkennen, was in der Botschaft Jesu wie in einem Samenkorn bereits enthalten war. Harnack zufolge hatte Jesus ein Gottesreich verkündet, das kommt, „indem es zu den einzelnen kommt, Einzug in ihre Seele hält, und sie es ergreifen … Alles Dramatische im äußeren, weltgeschichtlichen Sinn ist hier verschwunden, versunken ist auch die ganze äußerliche Zukunftshoffnung“ (S. 90). Dagegen schließt sich Loisy der apokalyptischen Deutung der Verkündigung Jesu vom Gottesreich an, die das Jesusbild und die Religion des liberalen Protestantismus grundsätzlich in Frage stellte. Jesus hat demnach nicht das moderne Lebensgefühl und seine gesellschaftliche Ordnung abgesegnet, sondern im Gegenteil den unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch aller innerweltlichen Ordnungen und Hoffnungen angekündigt. Diese apokalyptische 237 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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Dimension ist nicht, wie bei Harnack, das Relikt aus zeitgenössischen jüdischen Vorstellungen, die lediglich kulturelle Schale, die Jesus unbesehen von seiner religiösen Umgebung übernommen hat, sondern sie macht das Zentrum seiner Botschaft und seines Rufes zur Umkehr aus. Der Kern der Botschaft Jesu lautet „Das Gottesreich ist nahe“. Irdische Ordnungen und innerweltliche Hoffnungen sind dem Untergang anheimgegeben, sie werden nicht bestätigt, sondern radikal in Frage gestellt. Nach Loisys Überzeugung musste sich die Hoffnung auf das Gottesreich grundlegend umgestalten, nachdem sich die ursprüngliche apokalyptische Naherwartung, die auch den historischen Jesus bestimmt hatte, nicht erfüllte. Dieses Phänomen einer tiefgreifenden historischen Veränderung verband Loisy mit dem von Newman übernommenen Entwicklungsgedanken. 22 Nachdem die Welt nicht unterging und als sich die Christenheit in einer fortgehenden Geschichte etablierte und auf Dauer einrichtete, musste die Botschaft Jesu eine fundamentale Umgestaltung erfahren, wenn sie nicht einfachhin als irrig und widerlegt abgetan werden sollte. Die Veränderungen im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung bedeuten für Loisy nicht den Abfall vom Ursprung, sondern sie bilden die Voraussetzung dafür, dass das Evangelium in grundlegend veränderten geistigen Welten weiterhin lebendig bleiben konnte. Die Entwicklung aus innerer Notwendigkeit ist zufolge Loisy Bedingung für die Treue zur Botschaft Jesu in einer fortdauernden Geschichte. Historisches Gewordensein aus innerer Notwendigkeit und als Reaktion auf die Herausforderungen der Zeit und der Kultur erscheint Loisy als Beweis für die Legitimität einer Entwicklung. Das ist das Thema von L’Évangile et l’Église. Bedeutsam wurde dabei insbesondere Loisys Darlegung der Entwicklung zur Kirche. Er zeigte, wie die Kirche als Institution in vielen kleinen Schritten aus der Botschaft Jesu vom Reich Got22
John H. Newman, An Essay on the Development of Christian Doctrine 1845, deutsch: Über die Entwicklung der Glaubenslehre, Mainz 1969.
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Modernismus und Antimodernismus
tes hervorgegangen ist und hervorgehen musste, selbst wenn der historische Jesus keine Kirche gegründet hat. „Nirgends in ihrer Geschichte tritt eine Unterbrechung des Zusammenhangs zutage, etwas wie die absolute Schöpfung einer neuen Ordnung, sondern jeder Fortschritt geht dergestalt aus dem Vorhergehenden hervor, daß man von der jetzigen Einrichtung des Papsttums bis auf den evangelischen Zustand mit Jesus als Mittelpunkt, so verschieden sie auch voneinander sind, zurückgreifen kann, ohne auf einen Umsturz zu stoßen, der mit Gewalt eine Änderung in der Regierungsweise der christlichen Gemeinschaft herbeigeführt hätte“ (S. 233). Loisy gibt Harnack Recht, dass der historische Jesus keine verfasste Kirche intendiert und gegründet habe. Aber er hat das Reich Gottes verkündet, und aus dieser Verkündigung ist mit Notwendigkeit die Kirche hervorgegangen. „Jesus hatte das Reich angekündigt, und dafür ist die Kirche gekommen. Sie kam und erweiterte die Form des Evangeliums, die unmöglich erhalten werden konnte, wie sie war, seitdem Jesu Aufgabe mit dem Leiden abgeschlossen war … Eine Absurdität würde es sein zu verlangen, daß Christus die Interpretationen und Anpassungen, welche die Zeit fordern mußte, im voraus schon bestimmt hätte, denn sie hatten keine Berechtigung, früher als notwendig da zu sein … Die Perspektive des Reiches hat sich erweitert und verändert, die seiner endgültigen Ankunft ist zurückgetreten, aber der Zweck des Evangelium ist der Zweck der Kirche geblieben“ (S. 234 f.). Aus diesem Text, der die Kirche, einschließlich ihrer Strukturen bis hin zum Papsttum und dem Dogma von der Unfehlbarkeit, als legitime und unverzichtbare Konsequenz der Botschaft Jesu dartun wollte, ist in den späteren Auseinandersetzungen nur ein Satz übrig geblieben: „Jesus hat das Reich verkündet, und gekommen ist die Kirche“ und dieser Satz wurde, im direkten Gegensatz zu Loisys Argumentation, so interpretiert, dass die Botschaft Jesu und die Kirche als Widersprüche erschienen. 23 23
Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass im II. Vatikanischen Konzil, sicher ohne jeden Bezug auf Loisy, eine ähnliche Position aufscheint, wenn es heißt: „Der
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Wie die Kirche sind auch die Dogmen, wie Loisy in diesem Werk weiterhin ausführt, aus den Anforderungen einer veränderten Zeit entstanden, auf die vom Evangelium her eine Antwort gegeben werden musste. Darum ist die Dogmenentwicklung nicht der Abfall vom Evangelium. Als solchen könne sie nur deuten, wer nicht versteht, was Geschichte bedeutet. Ebenso sind die Sakramente der Kirche nicht einfachhin durch den historischen Jesus eingesetzt, sondern sie sind folgerichtige Ausgestaltungen seiner Botschaft und seines Wirkens unter der Herausforderung der hellenistischen Kulte.
IV. Die Modernismuskrise von 1907/1910 Das kleine rote Büchlein, wie L’Évangile et l’Église wegen seines Einbands genannt wurde, war im katholischen Frankreich eine Sensation. Einerseits pries man es als glänzende Apologie der katholischen Kirche. Andererseits stieß es auf offizieller Ebene auf heftige Ablehnung. Auf das durchgängig historische Denken, das es bestimmte, und damit auf die Behauptung einer Differenz zwischen der Botschaft Jesu und der gegenwärtigen Kirche, war man nicht vorbereitet und sah darin einen fundamentalen Angriff auf alle Dogmen und kirchlichen Lehraussagen. 1903 wurde Pius X. Papst. Er vermutete hinter den verschiedenen Neuerungen eine internationale Verschwörung mit dem Ziel, die Kirche zu zerstören. Schon sei es ihr gelungen, sich bis weit in die Gemeinden, in die theologischen Ausbildungsstätten und selbst in das Kollegium der Bischöfe hinein festzusetzen. Nur von dieser Schreckvision her ist die Panikreaktion des Antimodernimus zu verstehen, der im Dekret des Heiligen Offiziums Lamentabili sane exitu vom 3. Juli 1907 und in der Enzyklika Pas-
Herr Jesus machte den Anfang seiner Kirche, indem er die frohe Botschaft verkündigte, die Ankunft nämlich des Reiches Gottes“ LG 5.
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cendi dominici gregis 24 vom 8. September 1907 seine Höhepunkte fand. Lamentabili verurteilte Irrlehren, verblieb also im theoretischen Rahmen. Das Dokument wurde als „Neuer Syllabus“ bezeichnet, Pascendi wollte dagegen eine Verschwörung zerschlagen und nahm damit einen ganz anderen Charakter an, als herkömmliche päpstliche Erklärungen. Die Enzyklika machte es sich zunächst zur Aufgabe, das System des Modernismus zu entlarven, indem man dieses als ein in sich geschlossenes Ganzes darstellte. Die Tatsache, dass die Modernisten kein solches System vortrugen, beurteilte Pascendi als deren „schlauen Kunstgriff, ihre Lehren nicht systematisch und einheitlich, sondern stets nur vereinzelt und aus dem Zusammenhang gerissen vorzutragen“ (S. 296). Dies mache es schwierig, das Ganze zu verstehen und als Einheit zu erkennen. Grundlage der modernistischen Religionsphilosophie bildet nach der Enzyklika der Agnostizismus, der die Erkenntnismöglichkeiten des menschlichen Verstands auf die Welt der Phänomene beschränkt und eine Erkenntnis Gottes als Intellektualismus ablehnt. An die Stelle der Verstandeserkenntnis tritt bei den Modernisten die Gotteserfahrung im religiösen Gefühl. Gott sei dem Menschen immanent und damit unmittelbar erfahrbar. Der philosophische Agnostizismus ist der Enzyklika zufolge verantwortlich für all die verderblichen Lehren, die der Modernist als Historiker, als Exeget, als Apologet und als Reformator spielt. Es verdient festgehalten zu werden, dass der Modernismus nach dieser Darstellung nicht wegen Rationalismus und übertriebener Wissenschaftsgläubigkeit verurteilt wurde, wie bis heute oft behauptet, sondern aufgrund seiner Betonung der Erfahrung, des religiösen Gefühls, wegen einer Tendenz zum Irrationalismus. Konsequenzenreich wurde insbesondere die Aussage, die Lehre von der Entwicklung, ins-
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Lamentabili in DH 3401–3466, bei Peter Neuner, Der Streit (Anm. 2), 285– 293; Pascendi ist dokumentiert in: Peter Neuner, Der Streit (Anm. 2), 294–354. Im Folgenden danach zitiert unter Seitenangabe.
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besondere der Dogmenentwicklung, sei „die Quintessenz ihrer (= der Modernisten) ganzen Lehre“ (S. 319). Insgesamt erscheint der Modernismus nach der Auffassung der Enzyklika als „Zusammenfassung aller Häresien“. „Hätte jemand sich die Aufgabe gestellt, die Quintessenz aller Glaubensirrtümer, die es je gegeben hat, zusammenzutragen, so hätte er es nicht besser machen können, als es die Modernisten getan haben“ (S. 335). „Man ist starr vor Staunen, wenn man diese verwegenen Behauptungen, diese Blasphemien hört! Und doch … mit solchem Wahnsinn wollen sie die Kirche erneuern“ (S. 301 f.). Der Modernismus wird nach Meinung des Papstes zur Vernichtung aller Religion führen und der Weg dahin ist schon vorgezeichnet: „Der Protestantismus war der erste Schritt; dann folgt der Modernismus; das Ende ist der Atheismus“ (S. 337). Den zweiten Teil der Enzyklika bildeten die disziplinären Maßregeln. Sie sind nur aus der Panik zu verstehen, die den Papst und seine engsten Berater ergriffen hatte. Der Modernismus gründet zwar in einem Irrtum des Verstandes, doch im Grunde kommt er aus dem Vorwitz und dem Stolz. Stolz ist „der kürzeste und sicherste Weg zum Modernismus“ (S. 338). Darum wurde den Bischöfen zur Pflicht gemacht, „diesen stolzen Menschen entgegenzutreten, sie in den unbedeutendsten und unscheinbarsten Ämtern zu beschäftigen und sie desto tiefer herabzudrücken, je höher sie sich erheben“ (S. 339). In Zukunft habe wiederum die Scholastik die Theologie zu bestimmen, weil bisher manche Priester „bei völliger Unkenntnis der Scholastik gar keine Beweismittel in Händen hatten, um der Begriffsverwirrung zu steuern“ (S. 339). Man war überzeugt, dass die mittelalterliche scholastische Philosophie und Theologie, vor allem im Werk des Thomas v. Aquin, die nicht überbietbare philosophische und theologische Erkenntnis darstelle, dass sie im Grunde alle Probleme gelöst habe, die überhaupt auftauchen können. Von der theologischen Lehre sei jedermann fernzuhalten oder aus ihr zu entfernen, „wer heimlich oder offen dem Modernismus zugetan ist und entweder die Modernisten lobt oder ihre Fehltritte entschuldigt oder die 242 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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Scholastik, die heiligen Väter und das kirchliche Lehramt bemängelt, … ferner wer in der Geschichte oder der Archäologie oder der Exegese Neuerungen sucht“ (S. 345). Für Priesteramtskandidaten wurde angeordnet, dass sie an staatlichen Universitäten keine Fächer hören dürften, die auch an kirchlichen Ausbildungsstätten studiert werden können. Den Bischöfen wurde die strenge Pflicht auferlegt, Schriften zu überwachen, sie wurden verpflichtet, eine genügende Anzahl von Zensoren und Aufsichtsbehörden einzusetzen, die in der Lage seien, Neuerungen aufzuspüren und anzuzeigen. Außerdem mussten sie ein Jahr nach Veröffentlichung der Enzyklika und in Zukunft alle drei Jahre unter Eid dem Heiligen Stuhl darüber Bericht erstatten, wie sie die getroffenen Anordnungen ausgeführt und die Vorschriften zur Überwachung in die Praxis umgesetzt hätten. Die Enzyklika wurde mit Erschütterung aufgenommen. Vor allem die praktischen Maßnahmen, die einem schrankenlosen Denunziantenwesen Tür und Tor öffneten, das Misstrauen gegen alle Errungenschaften der Moderne, führten zu einem Sturm der Entrüstung. Diese Kritik wiederum veranlasste den Papst zu weiteren Schritten. In einem Motu proprio vom 18. November 1907 verfügte er, dass jeder, „der zu der Kühnheit sich hinreißen läßt, einen von den Sätzen, Meinungen und Lehren, die in den beiden oben erwähnten Dokumenten [Lamentabili und Pascendi] verworfen werden, zu vertreten“ 25, ipso facto der Exkommunikation verfallen sei. Und noch am 1. September 1910, also drei Jahre nach der Enzyklika, legte der Papst im Motu proprio Sacrorum antistitum dem Klerus den Antimodernisteneid auf. Um nachlässigen oder allzu großzügigen Bischöfen zu begegnen, sollte jeder Theologe in den Status confessionis gezwungen werden. Die Professoren an den theologischen Fakultäten in Deutschland wurden
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Antonius Michelitsch, Der biblisch-dogmatische ‚Syllabus‘ Pius’ X. samt der Enzyklika gegen den Modernismus und dem Motu proprio vom 18. November 1907, Graz u. a., 21908, IV.
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von der Eidesleistung allerdings befreit: den ganz großen Knall wollte man doch nicht riskieren. 26 Der Antimodernismus vergiftete das Pontifikat Papst Pius X. Es war geprägt von Bespitzelung und Denunziantenwesen, das sich vor allem mit dem Namen des römischen Monsignore Benigni verbindet. Doch zunächst stellte sich die Frage, wer von den Verurteilungen betroffen sei. Namen waren in der Enzyklika nicht genannt, kein Theologe hatte sich vor der Enzyklika als Modernist bezeichnet. Dass man insbesondere Loisy und neben ihm Tyrrell im Blick hatte, war offensichtlich. Aber war nicht auch Newman postum verurteilt, wenn die Enzyklika die Vorstellung von der Entwicklung als „die Quintessenz ihrer ganzen Lehre“ bezeichnete? Oder Blondels Immanenzapologetik, von der es hieß, sie sei „voller Irrtümer, nicht angetan zum Erbauen, sondern zum Zerstören, nicht um andere zu Katholiken zu machen, sondern um … alle Religion vollständig zu vernichten“ (S. 333)? Während Loisy und Tyrrell das in der Enzyklika vorgestellte System als abwegig verurteilten, sich aber in Einzelheiten durchaus als betroffen und in ihren Anliegen richtig verstanden bezeichneten, wollten die meisten Theologen nur jene als Modernisten sehen, die das ganze in der Enzyklika vorgestellte System vertraten. Sie selbst verstanden sich dagegen als Reformkatholiken oder eventuell als liberale Katholiken. Dann aber hätte es keinen einzigen Modernisten gegeben. Tyrrell spottete: „Der Schöpfer des
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Vor allem Tyrrell hat in der Einleitung zur deutschen Übersetzung seiner Streitschrift „Zwischen Scylla und Charybdis“ mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die Ursprünge des Modernismus in der Sicht seiner Gegner in den deutschen theologischen Fakultäten, ihrer Freiheit und ihrer strukturellen Begegnung mit der modernen Wissenschaft und mit der evangelischen Theologie liegen (siehe Neuner, Der Streit [Anm 2], 394–400). Insofern war die Tatsache, dass die deutschen Theologieprofessoren, soweit sie im Amt waren, von der Eidesleistung ausgenommen werden mussten, eine eklatante Niederlage der Antimodernisten. Allerdings führte die Enzyklika zu einer intensiven Diskussion über das Recht katholisch-theologischer Fakultäten an den der Freiheit der Wissenschaft verpflichteten Universitäten.
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Modernismus ist Pius X.“ 27, er habe ihn konstruiert, um ihn zu verurteilen. Tatsächlich sprachen sich die Theologen fast durchwegs vom Modernismusvorwurf frei. Dem schlossen sich weithin auch die Bischöfe an, die dem Papst für sein mutiges Schreiben dankten, das allen die Augen geöffnet und den Feinden im Inneren der Kirche die Maske heruntergerissen habe. Zugleich aber versicherten sie fast unisono, dass sich bei ihnen kein Modernismus im Sinne des Papstes finde und machten diesen jeweils in anderen, zumeist in romanischen Ländern aus. Die US-Amerikaner sagten, all das sei eine ausschließlich europäische Krankheit, in Belgien schrieb Kardinal Merciér in einem Hirtenbrief, „daß die Irrtümer, die sich in Frankreich und Italien ausgebreitet haben, nahezu keine Anhänger in Belgien gefunden haben“ 28, die Italiener erklärten, die Enzyklika habe Frankreich im Auge, die Franzosen, sie beziehe sich eindeutig auf Italien. Die deutschen Bischöfe schrieben in einem gemeinsamen Hirtenbrief: „Man konnte aber Papst Pius X. und man könnte uns nicht gründlicher mißverstehen, als wenn man aus seiner Enzyklika oder wenn man aus unserem Hirtenschreiben ein Verbot des Studiums und eine Abmahnung von wissenschaftlicher Forschung herauslesen wollte. Ein wissenschaftlich gebildeter und wissenschaftlich sich fortbildender Klerus ist unser Stolz. … Nichts liegt ferner als kleinliche Bevormundung, als engherzige Freiheitsbeschränkung“. 29 Tyrrell bemerkte ironisch, dass jeder Bischof Gott dafür dankte, dass seine Diözese als Oase des Lichts in der Wüste vor der ägyptischen Finsternis bewahrt geblieben sei und dass es offensichtlich „in der ganzen Welt so etwas wie den Modernismus nicht gibt“. 30 Der Modernismusbegriff entzog sich einer klaren Definition, die einen Schutz gegen unberechtigte Beschuldigungen hätte bieten können. Das Gesamtsystem, das die Enzyklika vorstellte, ver27
George Tyrrell, Zwischen Scylla und Charybdis, Jena 1909, V, zitiert in: Neuner, Der Streit (Anm. 2), 394. 28 Zitiert in Neuner, Der Streit (Anm. 2), 111. 29 Zitiert in Neuner, Der Streit (Anm. 2), 365 f. 30 Neuner, Der Streit (Anm. 2), 111.
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trat niemand, aber als Modernist wurde auch belangt, wer in einzelnen Positionen von der offiziellen Lehre abwich. Die römischen Behörden waren überzeugt, wer an irgend einem Punkt als modernistisch verurteilte Positionen vertrat, hatte sich dem gesamten System verschrieben. Zudem sprach man davon, es gebe den Modernismus „in verschiedenen Graden“ und, wie Benigni betonte, die Krankheit beginnt nicht erst bei 40 Grad Fieber. Faktisch konnte so der Modernismusvorwurf gegenüber allem und jedem erhoben werden, was irgendwie als neu und ungewohnt empfunden wurde, ohne dass er argumentativ hätte belegt werden müssen. Er fungiert nicht selten, wie Karl Rahner und Herbert Vorgrimler urteilten, bis heute als „ein liebloses, gehässiges Schimpfwort der innerkirchlichen, von der Schwierigkeit des Glaubens in der heutigen Welt nicht angefochteten Arroganz“. 31
V. Das II. Vatikanum und das Neuaufleben des Antimodernismus Einen Einschnitt bedeutete das II. Vatikanische Konzil. Papst Johannes XXIII. gab ihm den Auftrag eines Aggiornamento. Er formulierte damit ein Ziel, das den Grundsätzen des Antimodernismus direkt entgegengesetzt war. Das Konzil hat sich dieser Aufgabe gestellt. In der Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ definierte sich die Kirche in ihrer Relation zur Welt. Sie sah sich bestimmt durch ihr Eingebundensein in die Gesellschaft und ihre Geschichte, sie existiert nicht um ihrer selbst willen und sie ist nicht in sich zu verstehen, sondern der Dienst für die Welt bestimmt ihre Identität. Dieser Dienst gilt zudem, wie es im Titel der Pastoralkonstitution heißt, der „Welt von heute“. Er ist damit der Zeit und ihrem Wandel unterworfen und von unterschiedlichen kulturellen Gegebenheiten bestimmt. Kirche methodisch 31
Karl Rahner / Herbert Vorgrimler, Kleines theologisches Wörterbuch, Freiburg u. a. 1961, 243.
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so in den Blick zu nehmen ist mit den Vorstellungen des Antimodernismus unvereinbar. Und ebenso unvereinbar mit dem Antimodernismus sind Aussagen der Konstitution über die Offenbarung, die Kirche, die Dekrete über den Ökumenismus, die Religionen. Am deutlichsten ist die Neubesinnung wohl in der Erklärung über die Religionsfreiheit, in der Positionen vertreten werden, die Verurteilungen im Syllabus und in den antimodernistischen Dekreten Papst Pius X. direkt widersprechen. So kann es letztlich auch nicht verwundern, dass der Prozess der konziliaren Erneuerung nicht ohne Schwierigkeiten abgelaufen ist. Exponent der Kritik war der französische Erzbischof Marcel Lefebvre (1905–1991), der nicht allein der lateinischen Liturgie nachtrauerte. Nachdem er zunächst die Konzilsdokumente unterschrieben hatte, bestritt er ab 1970 seine Unterschrift und lehnte die Aussagen des II. Vatikanums zur Ökumene, zum interreligiösen Dialog, sowie zur Gewissens- und Religionsfreiheit als modernistisch und mit dem Glauben der Kirche unvereinbar ab. In seinem Buch J’accuse le concile 32 wollte er nachweisen, dass im Konzil die Kirche aufgehört habe, die Kirche Jesu Christi zu sein. Dies war, so Lefebvre, von langer Hand geplant und gelang nun, da „dank eines wahren Komplotts der an den Ufern des Rheins residierenden Kardinäle 33 liberale und modernistische Richtungen, die unglücklicherweise von Papst Paul VI. unterstützt wurden, zum Durchbruch gekommen sind und auf dem Konzil einen entscheidenden Einfluss gewonnen haben“. 34 Lefebvre schrieb eine sehr deutliche Sprache. „Wir lehnen es ab, und haben es immer abgelehnt, dem Rom der neo-modernistischen Tendenz zu folgen, die klar im Zweiten Vatikanischen Konzil und nach dem Konzil in allen Reformen, die daraus hervorgingen, zum 32
Deutsch: Marcel Lefebvre, Ich klage das Konzil an!, Martigny 1976. Gemeint sind wohl die Kardinäle Alfrink (Utrecht), Döpfner (München), Frings (Köln) und König (Wien). 34 Priesterbruderschaft St. Pius X. (Hg), Damit die Kirche fortbestehe. S. E. Erzbischof Marcel Lefebvre, der Verteidiger des Glaubens, der Kirche und des Papsttums, Stuttgart 1992, 166. 33
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Durchbruch kam … Da diese Reform vom Liberalismus und vom Modernismus ausgeht, ist sie völlig vergiftet. Sie stammt aus der Häresie und führt zur Häresie … Daher halten wir an allem fest, was von der Kirche aller Zeiten und vor dem modernistischen Einfluß des Konzils geglaubt und im Glauben praktiziert wurde“. 35 Um den wahren Glauben und die alte Kirche zu retten gründete Lefebvre 1970 die Pius-Bruderschaft mit Papst Pius X. als ihrem Schutzherrn. Den Vorwurf des Schismas wies er jedoch immer zurück, auch nach der Bischofsweihe und der Exkommunikation: „Gerade deswegen, weil wir glauben, dass unser gesamter Glaube durch die Reformen und die nachkonziliaren Richtlinien in Gefahr ist, haben wir die Pflicht zum Ungehorsam und zur Bewahrung der Traditionen. Dies ist der größte Dienst, den wir der katholischen Kirche … erweisen können“. 36 In seiner Überzeugung, „der heutige Ritus ist ein Bastardritus, die Sakramente sind Bastardsakramente, die Priester, die die Seminare verlassen, sind Bastardpriester“ 37 traf er die Entscheidung: „Wir bleiben dem Antimodernisteneid treu, den abzulegen der hl. Pius X. von uns verlangt“. 38 Auf Seiten der römischen Kurie tat man sich schwer, Lefebvre argumentativ zu begegnen. Man verwies in der Regel auf die veränderte gesellschaftliche und kulturelle Situation seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, auf die die Kirche nun eine Antwort geben müsse, auf die Notwendigkeit, sich den neuen Entwicklungen und Erkenntnissen, den philosophischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Herausforderungen der Zeit zu stellen. Den Vorwurf des Modernismus hat man dagegen immer entschieden zurückgewiesen, letztlich mit Gründen, die Lefebvre nicht zu überzeugen vermochten. Für ihn war es klar, dass genau diese ge35 36 37 38
A. a. O., 74. Dokumentiert in: Herder-Korrespondenz 30 (1976), 65. Herder-Korrespondenz 30 (1976), 498. Priesterbruderschaft St. Pius X. (Hg), Damit die Kirche fortbestehe, 392.
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gen ihn vorgetragene Argumentation im Sinne von Pascendi modernistisch war, weil nach deren Aussage die Vorstellung von der Entwicklung „die Quintessenz ihrer ganzen Lehre“ darstellt. Zweifellos wurden im Konzil Vorstellungen lehramtlich verbindlich formuliert, die im 19. Jh. verurteilt und von Pius X. als modernistisch gebrandmarkt worden waren. Solange man sich dieser Tatsache nicht stellt, fällt es schwer, dem Modernismusvorwurf angemessen zu begegnen. Faktisch wird die Kirche in den Modernismusvorwürfen mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert und sie hat Mühe, sich dieser Herausforderung zu stellen. Die römische Kurie tat alles, was möglich war, um das drohende Schisma zu vermeiden. 1984, also noch vor der Exkommunikation, wurde der Piusbruderschaft gestattet, die Messe nach dem alten Ritus zu feiern, der Liturgiereform des II. Vatikanischen Konzils also nicht zu folgen. 1988 wurde bei Gesprächen des damaligen Kardinals Ratzinger mit Lefebvre ein Konsenspapier formuliert. Demnach hätte dieser sich zu einer allgemein formulierten „Treue zur katholischen Kirche und dem römischen Papst“ verpflichten müssen. Darüber hinaus wurde lediglich eine „Haltung des Studiums und des Austausches – unter Vermeidung jeder Polemik – über die das Zweite Vatikanische Konzil betreffenden Punkte und die anschließenden Reformen, die den Traditionalisten nur schwer mit der Tradition vereinbar zu sein scheinen“, gefordert. 39 Rom hätte sich also damit begnügt, dass Lefebvre die ihm als häretisch erscheinenden Konzilsaussagen zwar nicht akzeptierte, aber dass er wenigstens nicht öffentlich dagegen polemisierte. Doch dazu war er nicht bereit. Einige Priester und Seminaristen trennten sich daraufhin von ihm und schlossen sich in der Bruderschaft St. Petrus zusammen, die umgehend von Rom anerkannt wurde. Für sie wurde in Wigratzbad bei Lindau ein Priesterseminar eingerichtet, dem auch Kardinal Ratzinger Besuche abstattete. 39
Der Text ist dokumentiert in: Das Einigungsprotokoll vom 5. Mai, in: Herder-Korrespondenz 42 (1988), 314.
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Peter Neuner
Dieser bemühte sich auch nach seiner Wahl zum Papst am 19. April 2005 um eine Überwindung der Kirchenspaltung. Bereits im August 2005 empfing er Bischof Bernard Fellay, der seit dem Tod Lefebvres 1991 die Pius-Bruderschaft leitet. Als im Juli 2007 die tridentinische Messfeier wieder allgemein zugelassen wurde, feierte das die Piusbruderschaft als ihren Triumph. Die nach eigenen Angaben weltweit etwa 500 Priester der Bruderschaft 40 und ihre rund 600 000 Anhänger bestürmten den Himmel und offensichtlich auch den Vatikan, die Exkommunikation aufzuheben, stellten aber auch mit Emphase fest: „Wir sind bereit, mit unserem Blut das Credo niederzuschreiben, den Antimodernisteneid zu unterzeichnen und das Glaubensbekenntnis von Papst Pius IV. Wir akzeptieren und wir machen uns alle Konzilien bis zum Ersten Vatikanum zu eigen. Aber wir kommen nicht umhin, in Bezug auf das Zweite Vatikanum unsere Vorbehalte zum Ausdruck zu bringen“. 41 In einem „Akt der Barmherzigkeit“ und wohl auch um ein andauerndes Schisma zu vermeiden, hat der Papst am 21. Januar 2009 die Exkommunikation über die vier Bischöfe aufgehoben, und das in der Hoffnung, „möglichst rasch zu einer vollständigen Versöhnung und zu voller Gemeinschaft“ der Kirche zu kommen. Damit waren die Betroffenen wieder zum Sakramentenempfang in der katholischen Kirche zugelassen, aber nicht mehr; sie waren keineswegs gleichzeitig auch als Amtsträger, als Bischöfe oder Pfarrer eingesetzt. Vor allem aber weil einer der Betroffenen, der Engländer Richard Williamson, kurz zuvor den Holocaust geleugnet hatte, erhob sich in der Öffentlichkeit ein Sturm der Entrüstung und des Protests. Williamson wurde vom Vatikan aufgefordert, seine „absolut inakzeptablen“ Aussagen eindeutig zurückzunehmen, wozu er jedoch nicht bereit war. Auch die Pius-Bruderschaft kritisierte Williamson und trennte sich von ihm. Dennoch ist die Äußerung nicht nur eine individuelle Ent40 41
In Deutschland sollen es knapp 50 sein. Bischof Fellay in einem Brief an die Gläubigen vom 24. Januar 2009.
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Modernismus und Antimodernismus
gleisung, sondern sie wurzelt insofern in der Theologie der PiusBruderschaft, als diese die Konzilsaussagen über Religionsfreiheit, über die nichtchristlichen Religionen und speziell über das Judentum als im Widerspruch zur Tradition stehend zurückweist. Unabhängig von der Leugnung des Holocaust wirkte die Aufhebung der Exkommunikation deshalb wie ein Schock, weil sie erfolgt war, ohne dass sich die wieder Aufgenommenen zum Konzil bekannt hätten. Da nach dem Kirchenrecht eine Exkommunikation nur aufgehoben werden kann, wenn der Betroffene „die Widersetzlichkeit aufgegeben hat“ 42, stellte sich die Frage, ob die Zurückweisung des II. Vatikanums noch als Widersetzlichkeit angesehen wird, ob also die Entscheidungen des Konzils zur Religionsfreiheit, zu einer positiven Sicht der Religionen und des Judentums, zur ökumenischen Verpflichtung der Kirche, zur Erklärung der Menschenrechte und der Personenwürde noch unverbrüchlich und verbindlich gelten. 43 Zudem: Die Anhänger Lefebvres wollen nicht nur für sich, sondern für die Kirche insgesamt die in ihrem Sinn verstandene Tradition retten und die Kirche von Auffassungen befreien, die sie für modernistisch erachten. Selbstbewusst erklärten sie, sie wollten in den vereinbarten „Gesprächen mit den römischen Autoritäten die tiefen Ursachen der gegenwärtigen Lage erörtern und das angemessene Heilmittel liefern, um so zu einer gründlichen Wiederherstellung der Kirche zu gelangen“. 44 Zweifellos ist es Aufgabe des kirchlichen Amtes, die Einheit der Kirche zu fördern. Der Papst wollte verhindern, dass aus einer zunächst begrenzten Protestbewegung eine auf Dauer bestehende Kirchenspaltung wird. Dass dieses Entgegenkommen gegenüber extrem konservativen Kreisen zu einer tief greifenden Enttäuschung und Frustration unter denen führen musste, für die die 42
Can 1358 § 1 Diese Kritik wurde besonders pointiert formuliert von Peter Hünermann, Excommunicatio – Communicatio, in: Herder-Korrespondenz 63 (2009), 119– 125. 44 Brief von Bischof Fellay vom 24. Januar 2009. 43
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Peter Neuner
konziliare Erneuerung eine Grundlage ihrer kirchlichen Existenz bedeutet, nahm man offensichtlich in Kauf. Eine schismatische Abspaltung mit Bischöfen und Priestern, mit Priesterseminaren und einer für gültig erachteten Kirchenstruktur, mit eigenen Kirchen und Gemeinden erscheint der Kurie, auch wenn es sich um eine zahlenmäßig verschwindende Minderheit handelt, als bedrohlicher, denn eine Massenabwanderung von Enttäuschten, bei der es immer nur um Einzelne, wenn auch um sehr viele Einzelne geht. Der Vatikan ist den Piusbrüdern so weit entgegengekommen, wie nur irgend möglich, ohne das Konzil direkt in Frage zu stellen. Papst Benedikt XVI. hat die Hermeneutik der Diskontinuität zurückgewiesen und eine Hermeneutik der Reform propagiert, die die Kontinuität betont und Neuansätze eher dem peripheren Bereich kirchlichen Lebens zuordnet. 45 Dennoch sind, jedenfalls was man im Augenblick feststellen kann, die Bemühungen um eine Rekonziliation der Piusbruderschaft offensichtlich gescheitert. Deren Leitungsgremien haben es abgelehnt, sich zum Konzil zu bekennen und haben alle Angebote des Vatikans zurückgewiesen. Für sie ist der Antimodernismus Papst Pius’ X. konstitutiv, die Moderne im theologisch-kirchlichen Bereich dagegen der Abfall vom wahren Glauben und der rechten Kirche. Die technischpublizistischen Mittel, die Möglichkeiten, wie sie die Moderne bietet, ihre Überzeugung über das Internet zu verbreiten und sich und ihre Aktivitäten in einer perfekt gestalteten Website der Öffentlichkeit zu präsentieren, verstehen sie jedoch sehr wohl zu nutzen. Und auch die Religions- und Gewissensfreiheit, die ihnen selbst die Chance eröffnet, sich öffentlich von der Papstkirche zu distanzieren, ist eine Errungenschaft der Moderne.
45
Siehe hierzu Peter Neuner, Das Konzil und die Ökumene, in: Theologie und Glaube 102 (2012), 546–564, hier 546–549.
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Die Botschaft des Christentums im Horizont der modernen Freiheitsphilosophie Eberhard Schockenhoff
1. Freiheit als höchster Wert der Gegenwartskultur Unter allen moralischen Werten, die in der modernen Gesellschaft über soziale Unterschiede und politische Gegensätze hinweg Anerkennung finden, überragt einer alle anderen: das Ideal der Freiheit. Die Französische Revolution berief sich, um dem Anspruch auf eine politische Neugestaltung Europas eine moralische Grundlage zu geben, auf die drei Leitworte Freiheit, Gleichheit und universale Geschwisterlichkeit unter den Menschen. Die politische Philosophie der Aufklärung griff diesen Impuls auf und verband ihn mit der Idee der wechselseitigen Anerkennung freier Bürger als Grundlage eines demokratischen und – in einer späteren Erweiterung – sozialen Rechtsstaats. Die Freiheit des Einzelnen sollte in einer Gesellschaftsordnung zur Herrschaft gelangen, in der sich alle Menschen wechselseitig als Freie und Gleiche anerkennen und sich zu gegenseitiger Solidarität verpflichten. Rechtliche Gleichheit und reziproke Solidarität gelten seitdem allgemein als Konstitutionsprinzipien moderner Staaten, die ihren Bürgern ein Leben in Freiheit, materieller Grundsicherheit und äußerem Frieden versprechen. Die Vorrangstellung unter allen moralischen Werten, die den Anspruch erheben, die Ordnung des gesellschaftlichen Lebens zu prägen, kommt jedoch konkurrenzlos der Freiheit zu, nicht nur im Sinne rechtlicher Freiheit vor staatlicher Willkür, sondern verstanden als umfassende moralische Autonomie, als Freiheit zur Selbstbestimmung gemäß den eigenen Gewissensüberzeugungen. 253 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
Eberhard Schockenhoff
Das Wort „Selbstbestimmung“ entsteht in den europäischen Sprachen erst im 16. Jahrhundert zu Beginn der philosophischen Aufklärung. Im Deutschen ist die philosophische Bedeutung des Begriffs vor allem durch Immanuel Kant geprägt, der den Titel eines damals vielgelesenen Buches des protestantischen Theologen Johannes Spalding abwandelt, indem er ihm das Präfix „Selbst“ voranstellt. Die Bestimmung des Menschen – so lautete der Titel von Spaldings im Jahr 1797 erschienenem Werk, den Fichte drei Jahre später in seiner gleichnamigen Schrift übernahm – ist es, sich selbst zu bestimmen; er verwirklicht den Sinn seiner Existenz nicht, indem er vorgegebenen Zwecken folgt, sondern indem er sich selbst Zwecke setzt und ein selbstbestimmtes Leben führt. 1 Was am Beginn der europäischen Aufklärung als philosophisches Programm ausgerufen wurde, um ein neues Selbstverständnis des modernen Menschen zu verkünden, das führte in den vergangenen Jahrhunderten zu einer Umgestaltung des kulturellen, sozialen, politischen und religiösen Lebens, wie sie nie zuvor durch eine moralische Idee angestoßen wurde. Am Ende des Transformationsprozesses, aus dem die moderne Welt hervorging, zeigt sich die Vormachtstellung der Freiheit in allen Bereichen des Lebens. Sie hat die ihr anfangs zur Seite gestellten Werte der Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität nicht verdrängt, aber sie zu Vorbedingungen oder nachfolgenden Ausformungen ihrer selbst gemacht. 2 In der Spätphase der Moderne, die wir als Postmoderne oder reflexive Moderne bezeichnen, lassen sich alle anderen politischen Ideale nur in der Weise als moralische Werte artikulieren, dass sie als Facetten einer konstitutiven Leitkategorie, der als individueller Autonomie gedachten Freiheit, vorgestellt werden. Auch persönliche Lebensideale wie Natürlichkeit, Echtheit und Wahrhaftigkeit der Gefühle oder der Wert der Gemein1
Vgl. Volker Gerhardt, Artikel: „Selbstbestimmung“, in: Enzyklopädie Philosophie, hg. von Hans Jörg Sandkühler, Hamburg 1999, 1432–1437. 2 Vgl. dazu Axel Honneth, Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit, Frankfurt a. M. 2011, 35 ff.
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Die Botschaft des Christentums im Horizont der modernen Freiheitsphilosophie
schaft werden als Aspekte des guten Lebens von der Sogwirkung der Freiheit erfasst. Sie gelten als erstrebenswert, weil sich durch sie das autonome Individuum in freier Selbstbestimmung verwirklicht. Sozialwissenschaftliche Diagnosen der reflexiven Moderne beschreiben diese deshalb mit emphatischen Worten als eine ihrer selbst bewusst gewordene Freiheitskultur. Der Prozess der Modernisierung, aus dem die gegenwärtigen Gesellschaften der Länder Europas, Nordamerikas und der asiatischen Schwellenländer hervorgingen, ist im Einzelnen durch vier Momente gekennzeichnet, die jedoch in dem gemeinsamen Merkmal einer wachsenden Freisetzung des Einzelnen aus gesellschaftlichen Zwängen und Bindungen übereinkommen: (1) durch eine Ausdifferenzierung unterschiedlicher Rollen in Familie, Beruf und Gesellschaft, (2) durch eine Überzahl an wählbaren Optionen und Lebensprojekten, (3) durch eine daraus folgende höhere Riskiertheit der Lebensführung und (4) durch den Vorgang religiöser Individualisierung. Je nachdem welcher Aspekt der Freiheit als vorherrschend angesehen wird, soll die moderne Gesellschaft deshalb als „Multioptionsgesellschaft“ (Peter Gross) oder als „Risikogesellschaft“ (Uwe Beck) gelten. Der kanadische Philosoph Charles Taylor hat in seinem monumentalen Werk „Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität“ 3 den Prozess nachgezeichnet, durch den die moralischen Ideale des vernunftgemäßen Lebens, des Einklangs mit der Natur oder der Authentizität der Gefühle, aber auch die altruistischen Vorstellungen der Liebe und der Geschwisterlichkeit unter den Menschen in den Bannkreis des Ideals der Freiheit gerieten. Sie können die Leitkategorie der Freiheit auf eine bestimmte Bedeutung festlegen, ihren Sinn abwandeln oder ihr einen besonderen erfüllenden Gehalt vor Augen stellen. Doch hat keine dieser moralischen Wertvorstellungen noch die Kraft, der Freiheit als eigenständige Alternative entgegenzutreten oder
3
Frankfurt a. M. 1994.
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Eberhard Schockenhoff
sie in ihrer Geltung als gesellschaftlicher Höchstwert zu verdrängen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Schärfe, die den Konflikt zwischen dem Christentum, insbesondere in seiner katholischen Form, und der Moderne noch immer bestimmt. Zwar anerkannte die katholische Kirche auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil die modernen Freiheitsrechte und machte sich im Bekenntnis zur Gewissens- und Religionsfreiheit deren harten Kern ausdrücklich zu eigen. Doch begleitet sie die Erinnerung daran, dass sie im jahrhundertelangen Kampf um die Anerkennung der Freiheit zumeist auf der falschen Seite stand, wie ein langer Schatten, der bis in die Gegenwart reicht. Mit einigem Recht hat man die Anerkennung der Menschenrechte durch die Kirche im 20. Jahrhundert deshalb mit der nachträglichen Adoption eines zunächst verstoßenen unehelichen Kindes verglichen. 4 Auch erwecken die Moralauffassungen der Kirche, insbesondere ihre normativen Aussagen zur Sexualethik, bei vielen Zeitgenossen Zweifel, ob die ganze Tragweite des modernen Prinzips der Freiheit darin auch nur ansatzweise erahnt ist. Betrachtet man ihre amtlichen Verlautbarungen und die gängigen Antworten der Theologie auf zahlreiche Gegenwartsprobleme, so herrscht vielmehr der Eindruck vor, als begegne die Kirche der modernen Freiheitskultur insgeheim noch immer mit Argwohn. Zwar hat die Theologiegeschichte beachtliche Freiheitstheorien hervorgebracht, die bis in die Neuzeit hinein hohe öffentliche Aufmerksamkeit fanden. Die Verteidigung der Willensfreiheit durch Origenes und Augustinus gegenüber dem antiken Fatalismus, die subtilen Analysen der mittelalterlichen Scholastik zum liberum arbitrium, der Disput, den Erasmus und Luther um den unfreien Willen führten, oder die Kontroversen unter den Theologen des 17. Jahrhunderts über das Verhältnis von menschlicher 4
Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde / Robert Spaemann (Hg.), Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen – säkulare Gestalt – christliches Verständnis, Stuttgart 1987.
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Die Botschaft des Christentums im Horizont der modernen Freiheitsphilosophie
Freiheit und göttlicher Vorherbestimmung belegen das gedankliche Interesse, das der christliche Glaube zu allen Epochen am Verständnis der menschlichen Freiheit hatte. Ebenso ist daran zu erinnern, dass die Idee der Menschenwürde zumindest eine theologische Vorgeschichte hat und die Anfänge der modernen Autonomievorstellung bis in die Bibel zurückreichen. Der Begriff des „Sich-selbst-Gesetz-Seins“ wird nämlich bereits von Paulus gebraucht, wenn er in Röm 2,14 beschreibt, warum auch die Heiden die Forderungen der Moral in ihrem Gewissen erkennen können. In der Gegenwart darf auf die bahnbrechenden Aussagen verwiesen werden, die das Zweite Vatikanische Konzil zur Würde des Gewissens macht. Diese eindrucksvollen Zeugnisse belegen, dass die christliche Theologie auf der Ebene allgemeiner anthropologisch-ethischer Bestimmungen zu allen Zeiten ein grundsätzlich positives Verhältnis zur Freiheit und zur moralischen Autonomie des Menschen einnahm und bis heute einnimmt. Doch können die theologischen Bekenntnisse zur Freiheit den Eindruck nicht zerstreuen, die Kirche verdächtige das individuelle Gewissen noch im Akt seiner Anerkennung tendenziell der Beliebigkeit und sehe die Freiheitskultur der Moderne von vornherein durch eine ihr angeblich innewohnende Gefahr des moralischen Relativismus bedroht. Die Grundbotschaft des Christentums, die Rede vom Heil, von der Gnade Gottes und von der Erlösung, wird deshalb in aller Regel nicht als eine Ermutigung zur Freiheit verstanden. Eher begreifen ihre Adressaten sie als eine Warnung vor den Ambivalenzen der Freiheit oder als einen möglichen Ausweg aus ihren Aporien. Daher darf man bezweifeln, ob die Kirche im Stil ihrer lehramtlichen Verkündigung und ihrer durchschnittlichen theologischen Reflexion schon verstanden hat, was es bedeutet, das Evangelium in einer Kultur zu verkünden, die auf die Vorrangstellung der Freiheit gegründet ist. Vieles deutet vielmehr darauf hin, dass sich an der besorgten Diagnose nichts geändert hat, die Papst Paul VI. in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii nuntiandi“ (1975) traf. Er schrieb darin: „Der Bruch zwischen Evangelium und Kul257 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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tur ist ohne Zweifel das Drama unserer Epoche, wie es auch das anderer Epochen gewesen ist“ (Nr. 20). Von anderer Seite wird diese Diagnose durch einen prinzipiellen Vorbehalt gegenüber dem in vielfältigen Bedeutungen oszillierenden Faszinationswort „Freiheit“ unterstrichen. Lässt sich das, worauf es im Christentum vor allem ankommt, überhaupt im Paradigma der Moderne, unter dem Vorzeichen der Freiheit aussagen, ohne dass Entscheidendes ungesagt bleibt? Lautet das Grundwort der christlichen Botschaft in praktischer Hinsicht nicht Liebe statt Freiheit? Und bedarf der Freiheitsbegriff innerhalb dieser Botschaft, soll ihr Charakter als endgültige Offenbarung des biblischen Gottes unverkürzt zur Geltung kommen, nicht der Ergänzung durch den Begriff der Wahrheit? Ist das in der Moderne so missverständliche Wort „Freiheit“, wenn es zur Zentralaussage des Christentums werden soll, nicht auf nähere Bestimmungen angewiesen? Wie sonst kann ausgeschlossen werden, was Freiheit im Kontext der biblischen Erlösungsbotschaft nicht meinen soll – keine Freiheit der Beliebigkeit, keine Freiheit des Laissez faire, keine Freiheit zur Selbstdispens von moralischen Verpflichtungen, keine Freiheit auf Kosten der anderen?
2. Das Grundproblem des Christentums in der Moderne: Das Verhältnis von Natur, Kultur und Gnade Die Verortung der Freiheit im Fadenkreuz theologischer Grundworte führt zu einem weiteren Begriffspaar, dem diese zugeordnet ist. Angesichts der aufgezeigten Spannung zwischen dem Christentum und der modernen Kultur verschärft sich die klassische Frage nach dem Verhältnis zwischen Natur und Gnade, die seit jeher ein Dreh- und Angelpunkt des theologischen Denkens war. 5 5
Vgl. dazu Walter Kasper, Natur – Gnade – Kultur. Zur Bedeutung der modernen Säkularisierung, in: ders., Theologie und Kirche, Bd. 2, Mainz 1999, 195– 212.
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Die Botschaft des Christentums im Horizont der modernen Freiheitsphilosophie
Die Botschaft des Evangeliums, das Angebot der Gnade Gottes, das für den Menschen Heil und Erlösung sowie die Befreiung aus Schuld und Sünde bedeutet, scheint der Grunderfahrung der Moderne, der Selbstbehauptung des autonomen Ich, zu widersprechen. Im Mittelpunkt des Glaubens steht ein Geschenk und eine Gabe, die man nur empfangen kann; der Akt des Glaubens setzt den Verzicht auf die Selbstbehauptung des Menschen voraus, der aus einer Haltung rückhaltlosen Vertrauens erwächst. Die epochale Wende der Moderne vollzieht sich in der Freisetzung des autonomen Ich aus der Rückbindung an eine religiös begründete Weltordnung (religio von re-ligare = zurückbinden). Im neuzeitlichen Fortschrittsoptimismus nimmt der Mensch sein Leben in die eigene Hand; er behauptet sich gegenüber den Unsicherheiten des Daseins mithilfe von Wissenschaft und Technik. Nicht Glaube und Vertrauen, Demut und Gehorsam prägen die Lebenseinstellung des modernen Menschen, sondern die Selbstermächtigung zu einer autonomen Existenzweise, die auf die eigenen Kräfte baut. Wie lässt sich die Botschaft des Christentums in einer autonom gewordenen Welt verkündigen, die ihr Selbstverständnis und ihre Legitimität aus dem Prozess humaner Selbstbehauptung bezieht? Diese Frage zielt auf eine neue Wesensbestimmung des Christlichen, auf den Versuch, die Mitte des christlichen Glaubens unter den Voraussetzungen der Moderne neu zu denken. Die Frage nach der Beziehung zwischen Natur und Gnade kann dabei als Ausgangspunkt dienen, um das Wesentliche des Christentums unter den Denkvoraussetzungen der Moderne zu buchstabieren. Denn im Kern geht es bei diesem Dauerthema der Theologie um das Problem, wie sich Gottes Handeln am Menschen und dessen Selbstbehauptung als autonomes Subjekt zueinander verhalten. Dies geht bereits aus den Leittermini „Natur“, „Kultur“ und „Gnade“ und ihrem gegenseitigen Verhältnis hervor. Natur meint das, was dem Menschen von sich aus vorgegeben ist. Die etymologische Herleitung des Begriffes natura (von nasci = geboren werden) verweist darauf, dass das Natürliche aus seiner eigenen, ihm 259 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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angeborenen Kraft entsteht und wirkt. Der christliche Glaube sieht bereits in der Natur, in dem, was „von sich aus“ da ist, die Gabe eines transzendenten Schöpfers, aus der die Ordnung des Lebendigen hervorgeht. Aber auch unabhängig von einer religiösen Interpretation, in der die Natur als Gottes Schöpfung anerkannt wird, erscheint das natürlich Vorgegebene als eine grundlegende Bedingung menschlicher Existenz, die davon schlechthin abhängig ist. Auch der Selbstbehauptung des modernen Menschen liegt etwas voraus, das dieser sich nicht selbst geben kann, sondern worauf er angewiesen ist. Diese menschliche Grunderfahrung des Abhängigseins von vorgegebenen Bedingungen bringt der christliche Glaube im Begriff der Schöpfung zum Ausdruck, indem er sie als Äußerung von Zustimmung, Bejahung und Dank versteht und ins Positive wendet. Kultur hingegen wird das genannt, was der Mensch durch körperliche, künstlerische und geistige Tätigkeit aus der Natur gemacht hat. Durch das Bebauen, Gestalten und Verändern der Natur bemächtigt sich der Mensch seiner Welt; wie die moderne philosophische Anthropologie gezeigt hat, ist er aufgrund seiner Instinktunsicherheit und Weltoffenheit ein paradoxes Wesen, das von Natur aus zur Umgestaltung der Natur durch Kultur, Wissenschaft und Technik gezwungen ist. 6 Zur Welt des Menschen gehört daher nicht nur die allem menschlichen Einwirken vorausliegende Vorgabe der Natur, sondern auch die Geschichte, die von ihm selbst gestaltet ist. Zu ihr zählen die Hervorbringungen des menschlichen Geistes auf dem Feld von Wissenschaft, Technik und Kunst, aber auch die sozialen Institutionen, in denen sich seine Existenz verwirklicht. Unter den Bedingungen der Moderne werden diese institutionellen Gebilde nicht mehr als der Freiheit vorausliegende Ordnungsstrukturen, sondern als geschichtliche Verkörperungen der Freiheit verstanden. Die Institutionen des gesellschaftlichen Zusammenlebens stellen so einen öffentlichen Le6
Vgl. Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1988, 32–39.
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Die Botschaft des Christentums im Horizont der modernen Freiheitsphilosophie
bensraum dar, in dem sich durch die wechselseitige Kooperation autonomer Subjekte das verwirklicht, was Hegel die konkrete Freiheit nennt. In der gegenwärtigen Sozialphilosophie wird diese aus gesellschaftlichen Interaktionen hervorgehende Sphäre der Freiheit als soziale Freiheit bezeichnet. 7 Im Unterschied zu den Begriffen Natur und Kultur bezeichnet Gnade das, was weder aus biologischen Vorgaben noch aus den soziologischen Grundbedingungen menschlicher Existenz abgeleitet werden kann. Sie ist die freie, ungeschuldete Gabe Gottes, die den Menschen verwandeln und zur Vollendung führen möchte. Im biblischen Sprachgebrauch weist der Terminus „Gnade“ eine große Nähe zu anderen Begriffen des soteriologischen Wortfeldes, insbesondere zu „Erlösung“ und „Heil“ auf. Die biblische Botschaft greift Metaphern aus allen Bereichen des individuellen, sozialen und öffentlich-rechtlichen Lebens auf, um die Semantik dieses Wortfeldes zu illustrieren. So können Erlösung und Heil als Geschehen der Krankenheilung beschrieben werden; bereits in der Bibel Israels wird Jahwe als „Arzt“ bezeichnet, der die vielfältige Not der Menschen, die in der Metapher des Krankseins angesprochen ist, zum Guten wenden kann (vgl. Ex 15,26; Jes 19,22; Jer 3,22). Ebenso kann der zentrale Inhalt der biblischen Offenbarung im Paradigma der dem antiken Alltagsleben vertrauten Sklavenbefreiung ausgesagt werden. Die kollektive Selbsterfahrung Israels ist entscheidend durch das Exodusgeschehen bestimmt, an das der Dekalog im Proömium erinnert, das in der jüdischen Tradition das große Vorzeichen benennt, unter dem die einzelnen Gebote stehen: „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus“ (Dtn 5,6). Paulus verwendet in forensischer Terminologie das Bild des individuellen Sklavenloskaufs, um den Übergang vom alten Zustand des Unheils in den neuen Status des Heils zu markieren (vgl. 1 Kor 6,20; Gal 3,13 und 4,5). Schließlich ist vom Einkaufen ohne Bezahlung (vgl. Jes 55,1), vom Erlass aller Schulden (vgl. Dtn 15,2; Neh 7
Vgl. Honneth, Recht der Freiheit (Anm. 2), 99 ff.
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10,32) und von einem endgültigen Freispruch vor Gericht (vgl. Röm 8,1) die Rede, um den Anbruch der Heilszeit und das Geschehen der Erlösung zu beschreiben. 8 Aus allen diesen Bildern spricht die Durchbrechung des Alltäglichen, das Moment des ungeahnt Neuen und der unverhofften Übererfüllung jeder realistischen Erwartung, das die Zuwendung Gottes zum Menschen in der biblischen Erlösungsbotschaft prägt. Die gegenwärtige Theologie bestimmt den umgreifenden Sinn der Begriffe Gnade, Heil und Erlösung vom Gedanken der Selbstoffenbarung Gottes als Liebe her, die sich im Leben, im Tod und in der Auferstehung des Jesus von Nazareth ereignet. Gnade, Heil und Erlösung sind nicht esoterische Gegebenheiten, die einer der Welt des Menschen äußerlichen Sphäre angehören; sie sind keine unfassbaren Scheinrealitäten, die in einer religiösen Hinterwelt anzusiedeln wären. Wenn man diese Grundworte der religiösen Erfahrung von allen nachträglichen begrifflichen Distinktionen befreit, die den Blick auf die gemeinte Sache nur verstellen, zeigt sich: Im Letzten ist Gnade nichts anderes als Gott selbst in seiner freien Selbstmitteilung an den Menschen. Gnade meint das Ankommen Gottes bei den Menschen, das Offenbarwerden seiner Liebe unter ihnen, den Erweis seiner Treue in der Geschichte. Wenn Gnade so als ein fundamentales Offenbarungsgeschehen gedacht und mit dem Ereignis der Selbstmitteilung Gottes identifiziert wird, bleibt ein mögliches Missverständnis von vornherein ausgeschaltet, an dem sich die scholastischen Theologen jahrhundertelang die Zähne ausgebissen haben. Es geht dann nicht mehr darum, ob und wie durch die Gnade ein bestimmtes „Etwas“ oder eine übernatürliche Entität zur Natur des Menschen hinzutritt, sondern um eine grundlegende Neubestimmung des ganzen Menschen. In die Denkkategorien der modernen Freiheitsphilosophie übersetzt bedeutet dies: Es geht um die Konsti8
Zur näheren Analyse des soteriologischen Wortfelds der biblischen Überlieferung vgl. Dorothea Sattler, Erlösung? Lehrbuch der Soteriologie, Freiburg i. Br. 2011, 91–123.
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Die Botschaft des Christentums im Horizont der modernen Freiheitsphilosophie
tution der menschlichen Subjektivität, um die Bedingung der Möglichkeit humaner Selbstbehauptung in einer autonom gewordenen, sich säkular verstehenden Welt. Wenn Gnade als Selbstmitteilung Gottes verstanden wird, ist sie notwendig als ein Geschehen gedacht, das sowohl aufseiten Gottes wie aufseiten des Menschen Freiheit voraussetzt und ermöglicht. Gnade ist nicht mehr wie im spätmittelalterlichen Nominalismus und im extremen Augustinismus der frühen Neuzeit als ein Synonym für die absolute Übermacht Gottes verstanden, die menschliche Autonomie gefährdet, sondern als Ermöglichungsgrund geschöpflicher Autonomie und Freiheit gedacht. Welcher Gewinn lässt sich aus einem solchen theologischen Freiheitsdenken für die Interpretation der Botschaft des Christentums ziehen? Mit der Abkehr von einem instruktionstheoretischen Offenbarungsverständnis, das auf den Vorrang der Wahrheit gegenüber der Freiheit und auf ein satzhaftes Erfassen einzelner Glaubenswahrheiten gegründet ist, ergibt sich die Möglichkeit, das Offenbarungsgeschehen selbst als einen kommunikativen Austausch zwischen Gott und Mensch und als Begegnung zwischen der endlichen Freiheit des Menschen und der unendlichen Freiheit Gottes zu denken. Offenbarung kann nun als das commercium (= der Austausch) zweier Freiheiten begriffen werden: Der sich offenbarende Gott spricht den Menschen an und ruft ihn in die Gemeinschaft seiner Liebe – der Mensch antwortet auf diesen Anruf der göttlichen Liebe, indem er sich ihr in einem ebenso freien Akt unbedingten Vertrauens öffnet, um in der Selbsthingabe an Gottes Liebe den unzerstörbaren Sinn seines kreatürlichen Lebens zu empfangen.
3. Die drei Grundworte des Christentums im Horizont der säkularen Moderne: Freiheit, Wahrheit und Liebe Die theologischen Weichenstellungen, die das Zweite Vatikanische Konzil durch die Neukonzeption des Offenbarungsbegriffs 263 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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vornahm, sind in ihrer Tragweite kaum zu überschätzen. Mit dem Wechsel von einem instruktionstheoretischen Offenbarungsverständnis zu einem personal-kommunikativen Ansatz, in dessen Mittelpunkt der Gedanke der Selbstmitteilung Gottes an den Menschen steht, verändert sich das Beziehungsgefüge, in dem die Zentralbegriffe der christlichen Botschaft Freiheit, Wahrheit und Liebe zueinander stehen, von Grund auf. Im alten Paradigma galt die Wahrheit als die alles beherrschende Größe, der sich die Freiheit und die Liebe unterordneten. Zwar hielt die Theologie in der Analyse des Glaubensaktes immer an dem augustinischen Grundsatz fest, nach dem man der Glaubenswahrheit nur aus freien Stücken zustimmen kann und jede Art von Zwang zur Glaubensannahme strikt abzulehnen ist. Wer aber die Glaubenszustimmung einmal geleistet hatte und – bildlich gesprochen – durch das Eingangstor zur Wahrheit hindurchgeschritten war, für den galt die moralische Verpflichtung, an der erkannten Wahrheit für immer festzuhalten.
3.1. Die erste Achse: Das Verhältnis von Freiheit und Wahrheit Die Glaubenszustimmung wurde somit nur in ihrem Ursprung als frei gedacht; für die katholischen Gläubigen, die in der wahren Kirche Jesu Christi zur wahren Gottesverehrung gefunden hatten, galt nach der Logik von Joh 8,32 die Annahme: Veritas liberabit vos (= Die Wahrheit wird euch freimachen). Ihre Freiheit hatte sich durch die Annahme der Glaubenswahrheit ein für allemal erfüllt; im Glauben erschien die Freiheit im doppelten Sinn des tollere und des elevare aufgehoben, d. h. in ihre höhere Bestimmung überführt und darin als Freiheit beseitigt. Die Freiheit galt zwar als notwendige Zugangsvoraussetzung zur Wahrheit, die sich nicht überspringen lässt, aber nicht als bleibende, innere Bedingung der Wahrheitsüberzeugung selbst, als conditio sine qua non, ohne die Wahrheit nicht sein kann. Da die Glaubenszustimmung 264 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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nach scholastischem Verständnis ein rechtsverbindliches Treueverhältnis gegenüber dem die Wahrheit offenbarenden Gott begründete, rechtfertigte die Kirche auch den Rückgriff auf weltliche Zwangsmittel gegen Häretiker und Schismatiker. 9 Die traditionelle Argumentation, die von einer Verpflichtung der Staatsgewalt ausging, mit ihren Mitteln die Glaubenswahrheit zu schützen, blieb bis in das Konzil hinein bestimmend. Die Anhänger der Minorität begründeten die Ablehnung der Religionsfreiheit durch das angebliche Recht der Wahrheit, dem gegenüber der Irrtum keinen gleichrangigen Anspruch auf Selbstbehauptung, öffentliches Bekenntnis und Propaganda erheben könne. Dem Postulat, auch in der Kirche einen größeren Freiraum für einen legitimen Pluralismus unterschiedlicher Glaubensstile und theologischer Denkrichtungen zu gewähren, hielten sie den Grundsatz entgegen, eine derartige private Urteilsfreiheit der einzelnen Gläubigen bedrohe die Einheit der Kirche und hebe die Verpflichtung auf, den katholischen Glauben unverkürzt zu bekennen. 10 Ein kommunikationstheoretisches Offenbarungsverständnis führt dagegen zu einem anders gedachten Verhältnis von Freiheit und Wahrheit. Die Selbstoffenbarung Gottes als Liebe richtet sich in diesem Modell an ein freies Gegenüber, das sich dieser Liebe öffnen und sich in Freiheit durch sie bestimmen lassen soll. Deshalb muss die theologische Lehre von der Freiheit des Glaubensaktes umfassender verstanden werden, als dies im instruktionstheoretischen Paradigma mit seiner einseitigen Ausrichtung an einem satzhaft konzipierten Wahrheitsbegriff möglich war. Die menschliche Freiheit ist nun nicht mehr nur zur erstmaligen Annahme der Offenbarungswahrheit, also zu dem singulären Akt der Glaubenszustimmung erforderlich, sondern im gesamten Prozess 9
Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae II-II, 10,8 ad 3: „Ita accipere fidem est voluntatis, sed tenere iam acceptam est necessitatis. Et ideo haeretici sunt compellendi ut fidem teneant.“ 10 Vgl. zu den Diskussionen in der Konzilsaula Thomas A. Weitz, Religionsfreiheit auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil, St. Ottilien 1997, 84 f.
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des Christseins bleibend vorausgesetzt, da die Offenbarung der Liebe Gottes darauf abzielt, dass die Gläubigen sich in ihrer ganzen Existenz und in ihrem täglichen Lebensvollzug von ihr prägen lassen. In einem vielbeachteten Redebeitrag während der Konzilsdebatte um die Religionsfreiheit forderte der chilenische Kardinal Silva Henríquez aus Santiago in diesem Sinn: „Die Tätigkeit des Glaubens ist vollkommen frei, nicht nur in seinem Ursprung, sondern auch in seinem gesamten lebendigen Vollzug.“ 11 Die Beziehung zwischen Wahrheit und Freiheit muss deshalb als eine solche der inneren Reziprozität konzipiert werden, in der die Freiheit als ständige Begleiterin der Wahrheit notwendig mitgedacht werden muss, damit von dieser überhaupt die Rede sein kann. Die Würde der Person, an die sich die göttliche Offenbarung richtet, verlangt nämlich danach, dass sich ihr, so betont die Konzilserklärung über die religiöse Freiheit Dignitatis humanae „die Wahrheit nicht anders auferlegt als in der Kraft der Wahrheit selbst“ (vi ipsius veritatis) 12. Nur so kann sie von ihren Adressaten in ungehindertem Suchen und Prüfen frei ergriffen werden. Der innere Bezug zur Freiheit des erkennenden Subjekts ergibt sich notwendig aus den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des Offenbarungsgeschehens. Auch die religiöse Wahrheit ist nämlich konkret immer nur als frei erfasste Wahrheitsüberzeugung einzelner Personen und nicht als eine abstrakte Größe gegeben, der gegenüber der Mensch moralische Pflichten wie Zustimmung, Anerkennung und Gehorsam hätte. Nach diesem Grundsatz kann es auch die Glaubenswahrheit nur im Geist des gläubigen Subjektes geben, das ihr in einem personalen Grundakt freier Annahme zustimmt. Wird die Glaubenswahrheit als geschichtliche Selbstoffenbarung der göttlichen Liebe gedacht, so ist sie real nur in Gott selbst und – als von diesen 11
Acta Synodalia Sacrosancti Concilii Oecumenici Vaticani Secundi, Vol. IV/1 Città del Vaticano 1976, 228: „Activitas […] fidei est omnino libera, non solum in sua origine, sed et in tota sua vitalitate.“ 12 Art. 10.
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Die Botschaft des Christentums im Horizont der modernen Freiheitsphilosophie
angenommene – in den Gläubigen gegeben, die sich ihr öffnen. In einem solchen Offenbarungsverständnis ist entsprechend dem viel zitierten Diktum von Papst Benedikt XVI., wonach es so viele Wege zu Gott gibt, wie es Menschen gibt, davon auszugehen, dass sich auch die Glaubenswahrheit durch einen inneren Perspektivenreichtum auszeichnet, in dem sich die jeweiligen Erkenntnisbedingungen der freien Subjekte spiegeln, die sich von ihr bestimmen lassen. Wenn schon von jedem beliebigen irdischen Erkenntnisgegenstand gilt, dass „die Offenbarung des Objekts […] nirgends anders geschehen (kann) als im Raum des Subjekts“, so steigert sich dieses Angewiesensein auf die freie Annahme durch den Wahrnehmenden nochmals dort, wo es um das Offenbarwerden der Wahrheit Gottes im Menschen geht. 13 Die Offenbarungswahrheit ist keine in sich ruhende Größe, die durch das Erkanntwerden und Angenommensein in einem freien Gegenüber nicht berührt würde, so wie ein Gemälde oder eine Landschaft unabhängig davon bestehen, ob ein betrachtendes Auge auf sie fällt oder nicht. Vielmehr bricht sich die eine Offenbarungswahrheit, indem sie durch den erkennenden Geist des Menschen angenommen wird, wie die einzelnen Strahlen des Lichts in einem Prisma. So sehr die Wahrheit nur eine sein kann, weil in ihr ein und dieselbe göttliche Liebe für jeden Menschen offenbar wird, der sich ihr öffnet, so sehr existiert die eine in allen Gläubigen identische Glaubenswahrheit, die sie gemeinsam im Credo der Kirche bekennen, real nur in der Form einer jeweils einmaligen persönlichen Wahrheit. 14 Denn der Offenbarungsvorgang muss nach beiden Seiten hin als ein Freiheitsgeschehen gedacht werden. Das Offenbarwerden Gottes hat für den Menschen den Charakter eines freien Geschenks, auf das er von seiner Seite her trotz aller Angewiesenheit und eigenen Bedürftigkeit keinen Anspruch er13
Hans Urs von Balthasar, Theologik I: Wahrheit der Welt, Einsiedeln 1985, 58. Zum Verhältnis zwischen der allgemeinen Wahrheit und der besonderen Teilhabe des Erkennenden an ihr vgl. von Balthasar, Theologik I (Anm. 13), 212.
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heben kann. Umgekehrt kann das Geschenk der Liebe Gottes wie jede freie Gabe nur dadurch beim Menschen ankommen, dass diese frei empfangen wird. Die Glaubenswahrheit nimmt daher entsprechend der Weise, wie sie die einzelnen Gläubigen aufnehmen, in ihnen eine jeweils eigene persönliche Gestalt an, die mit anderen nicht vertauscht oder im Fall ihres Fehlens durch sie aufgewogen werden kann. 15 In dieser unverwechselbaren Individualität der jeweiligen persönlichen Glaubensgestalt spiegelt sich die Einmaligkeit jedes Menschen, der sich in einem unvertretbaren freien Glaubensakt Gott anvertraut. Bei aller berechtigten Skepsis gegenüber den religiösen Individualisierungstendenzen der Postmoderne sollte die Kirche diesen Perspektivenreichtum ihres Glaubens als einen kostbaren Schatz betrachten, dessen Wertschätzung nicht durch die Klage über den Verlust an Uniformität und Gemeinsamkeit im Glauben gemindert werden darf.
3.2. Die zweite Achse: Das Verhältnis von Freiheit und Liebe Die zweite Achse innerhalb des triangulären Relationsgefüges der drei tragenden Grundworte des Christentums, die Beziehung der Freiheit zur Liebe, ist ihrem Verhältnis zur Wahrheit analog, mit dem Unterschied allerdings, dass der Akt der Liebe noch stärker als das Überzeugtsein von dem, was sich dem Menschen als Wahrheit offenbart, die unbedingte Selbstaffirmation der Freiheit impliziert. Das ist, so ungewohnt es vielleicht klingt, auch eine unabdingbare Voraussetzung für den Anspruch des christlichen Liebesgebotes. Der erste Geltungsgrund moralischer Forderungen kann unter den Bedingungen des modernen Freiheitsdenkens nur durch das normative Grundpostulat benannt werden: Freiheit soll sein. Die Selbstbejahung der Freiheit kann sich jedoch, wenn sie nicht in einem pragmatischen Selbstwiderspruch enden soll, nicht 15
Vgl. Von Balthasar, Theologik I (Anm. 13), 213.
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nur auf die eigene Freiheit richten. Sie muss fremde Freiheit, die Freiheit der anderen, mit gleicher Entschiedenheit unbedingt wollen, wie sie sich selbst bedingungslos bejaht. Dieses für das Ethos der Freiheit konstitutive Verhältnis wechselseitiger Anerkennung ähnelt formal der Beziehung, die in der Liebe zwischen den Liebenden besteht, wobei zunächst offenbleiben kann, um welche Art von Liebe es sich dabei handelt: um ein vertraut-intimes Ich-Du-Verhältnis, um die Liebe zu Freunden oder um die Liebe zum notleidenden Mitmenschen im Sinne des Gebots der Nächstenliebe. Das Für-den-Anderen-Entschiedensein der Liebe, ihre Bereitschaft zur Hingabe an den Anderen oder für eine größere Anzahl von anderen kommt mit dem Entschluss zur Anerkennung fremder Freiheit darin überein, dass Liebe nur auf einer beiderseitig freien Selbstbindung der Liebenden beruhen kann; erzwungene Liebe ist nicht Liebe, sondern Heuchelei oder verdeckte Hörigkeit. Insofern ist Freiheit die unverzichtbare Voraussetzung der Liebe; nur die freie Bejahung des Anderen wird ihrem Anspruch gerecht. Doch unterscheidet sich Liebe von bloßer wechselseitiger Anerkennung insofern, als sie es nicht mehr dem freien Belieben des anderen überlässt, wofür er sich entscheidet und welches materiale Selbstkonzept er der Realisierung seiner Freiheit zugrunde legt. Während die Anerkennung fremder Freiheit dies um des anderen willen offenlassen muss, da jede verpflichtende Vorgabe inhaltlicher Art seine Freiheit einschränken würde, setzt die Liebe eine bereits getroffene Wahl der Liebenden voraus. Während die Achtung vor der Freiheit des Anderen ihm den Freiraum gewährt, die Entscheidung zu treffen, die er in autonomer Selbstbestimmung für sich treffen will, geht Liebe aus einem Verhältnis hervor, in dem die Liebenden sich füreinander entscheiden und füreinander entschieden bleiben wollen. Aus dem Binnenverhältnis ihrer Liebe heraus empfinden sie dies jedoch nicht als Aufhebung ihrer Freiheit, sondern ganz im Gegenteil als die Art und Weise, wie sich ihre Freiheit konkret verwirklicht. Liebende erfahren ihre Liebe als erfüllte, vollendete Freiheit. 269 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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Soll dieser Eindruck nicht auf einer Selbsttäuschung beruhen oder als allgemeine Kennzeichnung des Verhältnisses von Liebe und Freiheit eine leere Behauptung bleiben, muss der Satz: „Liebe ist die Sinnerfüllung der Freiheit“ aus einer Analyse des Freiheitsvollzuges selbst hergeleitet werden. Dazu ist nochmals die Paradoxie zu bedenken, dass Freiheit als bloße Möglichkeit des Wählenkönnens ihre eigene Bewährungsprobe gewissermaßen noch vor sich hat. Auf dieser ersten Stufe benennt sie ihr offenstehende Möglichkeiten, die jedoch nur dadurch real gesetzt werden können, dass die Freiheit sich in einer bewussten Wahl den Gegenstand gibt, durch den sie sich realisieren möchte. Die Freiheit bedarf, soll sie nicht der leere Akt einer formalen Selbstsetzung, ein bloßes Wählen-Können unter vielen Möglichkeiten bleiben, eines erfüllenden Gehalts, durch dessen Wahl sie sich verwirklicht, wie dies sowohl in der Bindung an die Wahrheit wie in der Begegnung mit einem geliebten Du oder im Einsatz für eine geliebte Sache geschieht. In beiden Fällen erfüllt sich die Freiheit durch die frei gewählte Selbstbindung an eine Person oder eine Idee, so dass sie (sofern es sich um eine freiheitsverträgliche Idee oder Sache handelt) in eine höhere Form ihrer selbst übergeht. Mit den Kategorien der neueren philosophischen Freiheitsanalyse lässt sich dieser Wachstumsprozess der Freiheit als Übergang von ihrem negativen Verständnis zur positiven Freiheit oder als Wechsel von einem reinen Möglichkeitsbegriff des Freiseins zu einem Verwirklichungskonzept von Freiheit beschreiben. 16 Während negative Freiheitstheorien, die oft der Furcht vor totalitärer Bedrohung durch politische Ideologien oder metaphysisch-religiöse Weltanschauungen entspringen, die Mindestvoraussetzung der Freiheit, die Abwesenheit von Hindernissen und Zwängen betonen, vertreten positive Freiheitslehren Auffassungen, die Freiheit in einem anspruchsvolleren Sinn als Fähigkeit 16
Vgl. Charles Taylor, Der Irrtum der negativen Freiheit, in: ders., Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt a. M. 1992, 118–144, bes. 121 ff.
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zur „Selbstlenkung“ und als „Ausübung von Kontrolle über das eigene Leben“ begreifen. 17 Auf dieser Stufe der Freiheit wandelt sich das Wählen-Können zwischen alternativen Möglichkeiten, die einem Menschen an bestimmten Weggabelungen seines Lebens offenstehen, in das Leben mit einer getroffenen Wahl, in der er eine dieser Möglichkeiten ergriff und zum Ziel seiner bewussten Lebensführung machte. Weil es darin um den freien Vollzug des eigenen Selbstseins entsprechend dem in einer Grundwahl der Freiheit gewählten Selbstkonzept geht, wird diese existenziellpraktische Dimension der Freiheit in der theologischen Ethik des 20. Jahrhunderts als Seinsfreiheit oder Wesensfreiheit bezeichnet. Sie entspricht dem, was in den moraltheologischen Lehrbüchern des 19. Jahrhunderts sittliche Freiheit oder Freiheit der Entschiedenheit genannt wurde, die sich nicht mehr alle Entscheidungen offenhält, sondern sich nur vom sittlich Guten bestimmen lässt und die Möglichkeit, das Böse zu wählen, in freier Selbstbestimmung ausgeschlossen hat. 18 Ist die Liebe vor dem Hintergrund dieser Unterscheidungen als die höchste Stufe und letzte Sinnerfüllung der Freiheit zu begreifen? Dagegen regt sich zu Recht der Verdacht, dem Menschen könnte von außen eine ihm fremde Vorstellung des guten Lebens aufgezwungen werden, so dass andere ihm vorschreiben, was für ihn gut ist. Dies wäre jedoch ein Missverständnis, das Liebe mit Hörigkeit und der Bereitschaft zur bedingungslosen Unterwerfung bis hin zur Preisgabe der eigenen Individualität verwechselt. Wahre Liebe hingegen zielt auf die Achtung vor dem Anderen, die dessen Individualität als positiven Wert schätzen und bewahren will. So sehr Freiheit auf einen erfüllenden Gehalt angewiesen ist, so wenig darf dieser sich ihr als fremder Oktroy auferlegen, der den formalen Anspruch der Selbstsetzung, der in jedem Akt des 17
Taylor, Der Irrtum der negativen Freiheit (Anm. 16), 121 und 124. Vgl. dazu Bruno Schüller, Gesetz und Freiheit. Eine moraltheologische Untersuchung, Düsseldorf 1966, 26 ff. und Eberhard Schockenhoff, Theologie der Freiheit, Freiburg i. Br. 2007, 129–144.
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freien Wählens vollzogen wird, widerlegt. Es ist der Liebe eigen, dass sie das Selbst des Liebenden, um das es der Freiheit geht, zugleich bestätigt und transzendiert, indem sie diesem ein Ziel vor Augen stellt, auf das hin er sich überschreiten kann. Dieses Ineinander von Selbstaffirmation und Selbsttranszendenz macht das Wesensgesetz jeder echten Liebe aus; es bestätigt sich in der Erfahrung der Liebenden, dass sich ihr eigenes Leben durch ihre Hingabe an den Anderen erfüllt. Dem Satz, die Liebe sei die höchste Sinnerfüllung der Freiheit, ist deshalb unter einer Bedingung beizupflichten: dass damit nicht gemeint sein soll, in der Liebe könnten die Liebenden ihre Freiheit jemals als eine bloße Vorstufe hinter sich lassen, derer sie am Ende nicht mehr bedürften. Vielmehr sind Liebe und Freiheit wie kommunizierende Röhren miteinander verbunden, so dass eine große Liebe zu einem Menschen oder einer frei gewählten Lebensaufgabe keine Einschränkung der Freiheit, sondern ihre Steigerung als höhere Form freien Selbstseins bedeutet.
3.3. Die dritte Achse: Das Verhältnis von Wahrheit und Liebe Die dritte Achse im Ternar der christlichen Grundworte, die durch das Verhältnis von Wahrheit und Liebe gebildet wird, drückt keine Spannung zwischen Komplementärbegriffen und auch kein Steigerungsverhältnis zwischen ihnen, sondern vollkommene Identität aus. In der christlichen Offenbarungsbotschaft sind Wahrheit und Liebe austauschbar geworden. Sie erklären sich gegenseitig, so dass die Wahrheit nicht ohne die Liebe geglaubt werden kann und jeder, der sich durch die Liebe bestimmen lässt, zumindest implizit auch an die Wahrheit glaubt. Die Zentralaussage des christlichen Glaubens lautet, dass der dreieinige Gott in Jesus Christus sich selbst, sein eigenes Wesen als rückhaltlose Liebe offenbarte, die alles für den Menschen hingibt. Daher kann der Mensch dieser göttlichen Wahrheit nicht anders 272 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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Glauben schenken, als indem er sie durch die eigene Lebenspraxis der Liebe beglaubigt. Das Johannesevangelium spricht in diesem Sinn vom „Tun der Wahrheit“ (Joh 3,21; vgl. 1 Joh 1,6). Der erste Johannesbrief fordert dazu auf, das neue Gebot der Liebe „in Tat und Wahrheit“ (Joh 3,18) zu praktizieren; das spiegelbildliche Gegenstück dazu liefert durch den Austausch der Begriffe Wahrheit und Liebe der Epheserbrief, der das Christsein mit einer ungebräuchlichen Verbalkonstruktion durch die Formel beschreibt: „Wir wollen die Wahrheit in der Liebe tun“ (Eph 4,15). Damit ist nicht nur gemeint, dass man die Wahrheit in Liebe sagen soll, um ihr alle verletzende Schärfe zu nehmen und den Adressaten der Wahrheit durch ein rücksichtsvolles Eingehen auf ihn für diese empfänglich zu machen. Die Liebe ist nicht nur ein Polster um die Wahrheit, das deren Härte abmildern oder verbergen soll, wie es in dem Luther zugeschriebenen Wort vorausgesetzt ist, der Glaube toleriere nichts, die Liebe dagegen alles. 19 Das Verhältnis der Liebe zur Wahrheit ist vielmehr erst dort recht bestimmt, wo die Liebe als die Offenbarungsgestalt der verborgenen Wahrheit Gottes selbst geglaubt wird, durch die diese aus sich heraustritt und unverborgen, d. h. für die Menschen offenbar und in ihrer Geschichte sichtbar wird. Deshalb kann die Wahrheit nur in Worten und Taten, in einem gelebten Zeugnis bezeugt werden, das das Tun der Liebe einschließt. Die Hörer des Wortes ergreifen die Wahrheit, nicht anders als dadurch, dass sie zu Tätern des Wortes werden (vgl. Röm 2,13 und Jak 1,22 f.). Indem sich die göttliche Wahrheit als Liebe offenbart, ergibt sich eine Verschiebung vom Nur-Theoretischen zum Praktischen hin, die für die christliche Glaubensgestalt kennzeichnend ist. Hans Urs von Balthasar drückt die auf das Praktisch-Werden zie19
Vgl. WA B2, 431: „Fides nihil, caritas onmia tolerat.“ Die knappe Sentenz fasst Luthers Gedankengang zusammen, den er in einem Brief an Capito vom 17. Januar 1522 entwickelt. Danach gehört es zur Liebe, alles zu ertragen und zu erdulden; wer aber das ministerium verbi ausübt, muss die Glaubenswahrheit unbeirrt verkündigen und standhaft verteidigen.
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lende Logik der göttlichen Offenbarung folgendermaßen aus: „Darum zeigt sich Liebe mehr in den Werken als in den Worten an: Weil die Werke das Schwergewicht ihrer Worte sind. Ohne diese Beweisführung durch die Tat wäre nicht nur das Wort der Liebe nicht völlig glaubhaft geworden, der Liebende selbst hätte seine Liebe nicht wirklich dargestellt, nicht wirklich geäußert, er hätte nicht Gelegenheit gehabt, sein eigenes verborgenes Geheimnis zu enthüllen und dessen Kraft, Tiefe und Fülle sichtbar werden zu lassen.“ 20 Diesem Primat der Praxis innerhalb der Doppelgestalt von Wahrheit und Liebe steht nicht entgegen, dass sich die Offenbarungswahrheit in einzelnen Glaubenssätzen niederschlägt, die sich im Credo der Kirche in satzhaften Formulierungen bekennen lassen. Denn diese Glaubenssätze drücken nichts anderes aus als das Geheimnis des dreieinigen Gottes, der in sich selbst die Liebe ist; in ihrem Zentrum steht das Bekenntnis zum Leben, zum Tod und zur Auferstehung des Jesus von Nazareth, der den Weg der Liebe bis zum Äußersten ging. Das Ineinander von Wahrheit und Liebe ist auch der Grund dafür, warum jede Art von Wahrheitsfanatismus, Unduldsamkeit gegenüber Andersgläubigen und Intoleranz mit dem Anspruch des christlichen Glaubens unvereinbar ist. Derartige Fehlhaltungen beruhen auf einem Missverständnis dessen, was mit dem Absolutheitscharakter des Glaubens gemeint ist. Dessen spezifische Gewissheit liegt nicht darin, dass die Glaubenden die Wahrheit besitzen wie ein Stück Land, das ihnen gehört und das sie gegen Angriffe verteidigen. Die Wahrheit kann vielmehr nur so erfasst werden, dass diese sich von ihr ergreifen lassen und ihren Anspruch im eigenen Leben bezeugen. Die existenzielle Verifikationsregel des Glaubens besagt, dass man, worauf es im Christentum vor allem ankommt, nicht allein daran erkennen kann, was der Glaube sagt, sondern nur an der Kongruenz von Wort und Tat, also auch daran, wie diejenigen leben, die ihn bekennen. Die spezifische Wahrheitsgewissheit des Glaubens lässt sich an 20
von Balthasar, Theologik (Anm. 13), 198.
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Die Botschaft des Christentums im Horizont der modernen Freiheitsphilosophie
der Definition der Glaubensartikel ablesen, die das Erfassen der Wahrheit verbürgen. Wenn diese in einer alten Formel als perceptio divinae veritatis tendens in ipsam (= ein Erfassen göttlicher Wahrheit, das auf diese hinzielt) bezeichnet werden, bleibt darin die uneinholbare Differenz zwischen der satzhaften Ausdrucksform des Glaubens und der göttlichen Wahrheit selbst strikt gewahrt. Die einzelnen Glaubenssätze umfassen nicht die Wahrheit durch ein abschließendes Begreifen, sondern sie erfassen diese, indem sie den Menschen auf sie hin ausrichten. Dabei handelt es sich um ein wirkliches Erfassen der göttlichen Wahrheit, das auf diese hin tendiert, indem der Glaubende den begrifflichen Ausdrucksgehalt der Glaubenssätze überschreitet. Der Glaubensakt, in dem sich der Glaubende der göttlichen Selbstoffenbarung anvertraut, erreicht durch die Zustimmung zu den Glaubensinhalten die göttliche Wahrheit selbst. Dabei richtet er sich aber nicht auf deren sprachlichen Ausdruck, sondern durch diesen hindurch auf die Wahrheit Gottes selbst, also auf die dem Glauben eigene Sache, zu der ihm die einzelnen Glaubenssätze den Zugang eröffnen. 21 Das Erreichen der Sache des Glaubens führt gerade nicht, wie der Vorwurf einer zwangsläufigen Intoleranz unterstellt, die mit dem Wahrheitsanspruch des Christentums als solchem verbunden sei, zu einem selbstgefälligen Besitz der Wahrheit. Die Bewegung des Glaubens gelangt vielmehr nur dadurch ins Ziel, dass sich die Glaubenden vom spezifischen Inhalt dieser Wahrheit, der Selbstoffenbarung Gottes als Liebe, existenziell prägen lassen, indem diese Liebe ihre eigene Lebensführung bestimmt. Der Glaube bewirkt daher, wenn die Gläubigen tatsächlich den kritischen Maßstab der ihnen offenbar gewordenen Wahrheit im eigenen Leben anerkennen, nicht die religiöse Überhöhung des eigenen Ich oder die Abschottung gegen Selbstzweifel und Infragestellung von außen. Echter Glaube, in dem ein Mensch Gott als das letzte Ziel 21
Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae II–II 1,2 ad 2: „Actus autem credentis non terminatur ad enuntiabile, sed ad rem.“
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seines Lebens anerkennt, erfordert die Bereitschaft, alle anderen Ziele, die er verfolgt, diesem kritischen Maßstab zu unterstellen. Die Fähigkeit zum Verzicht, zur Inkaufnahme von Nachteilen und zur Relativierung eigener Interessen gehört daher notwendig zur Struktur des Glaubens. Derartige Haltungen fordern das genaue Gegenteil von dem, was der Vorwurf unterstellt, gläubige Menschen wähnten sich selbstgenügsam im Besitz der absoluten Wahrheit. Die Glaubensstärke und Wahrheitsgewissheit, die den Glauben auszeichnen, führen nicht zu einer unkritischen Selbstbestätigung, sondern sie bemessen sich nach der Fähigkeit zur Selbsttranszendenz des eigenen Ich auf den Anderen hin, wie es der Weg der Liebe erfordert. Ein anderer Maßstab, den eigenen Glauben zu bekennen, steht dem Christentum von seinen eigenen Wahrheitsüberzeugungen her nicht zur Verfügung.
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Säkularisation und christlicher Glaube. Theologische Überlegungen zu einer umstrittenen Kategorie Magnus Striet, Freiburg
Der Begriff der Säkularisation wird mit unterschiedlichen Definitionen und Intentionen verwendet. Als historischer Terminus beschreibt er den spätestens gegen Ende des 18. Jahrhunderts endgültig einsetzenden Prozess der Entflechtung von Kirche und Gesellschaft. Doch wird der Begriff keineswegs nur als historischer beziehungsweise in rein deskriptiver Absicht verwendet. In manchen Religionsmilieus und Milieus der institutionalisierten Kirchen, zumal in deren Leitungsetagen und hier dann insbesondere in denen der römisch-katholischen Kirche, ist der Begriff der Säkularisation in den letzten Jahrzehnten zu einem Begriff geworden, dem gesellschaftsdiagnostischer Wert zugeschrieben wird. Unübersehbar ist, dass er politisch eingesetzt wird. Wie ein jeder Begriff, so stellt auch der der Säkularisierung (diesen verwende ich synonym zu „Säkularisation“) zunächst ein Konstrukt dar, und als solches begegnet er oftmals in einer normativ aufgeladenen Weise. Im Kern dieser Säkularisierungsdebatten geht es darum, ob der Mensch sich in seiner individuellen Lebensweise, aber auch in allen Fragen des Ethischen, Sozialen und Politischen legitimerweise als der wollen darf, der sich selbst Gesetz ist, und dies womöglich unweigerlich auch muss. Das Ziel des Aufsatzes besteht darin zu zeigen, dass der Mensch angesichts der Grenzen seiner Vernunft aufgefordert ist, autonom zu sein. Zu dieser Tatsache kann er sich affirmativ oder negierend verhalten. An der hier vertretenen normativen, auch theologischen Grundüberzeugung, dass nur Autonomie der menschlichen Verantwortlichkeit entspricht, ändert dies nichts. 277 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
Magnus Striet
Zugleich soll gezeigt werden, dass die Praxis von Autonomie nur für bestimmte theologische Denktraditionen ein Problem darstellt, jedoch innerhalb eines anderen, Reflexionsschübe kritischer Philosophie aufnehmenden Theologiekonzepts als ein fundamentaler Aspekt der Anthropologie und Theologie integriert wird. Damit soll der von Hans Blumenberg aufgeworfenen, breit geführten Debatte um „Die Legitimität der Neuzeit“ eine spezifische Wendung gegeben werden. Dabei interessiert mich nicht so sehr die Frage, ob das Säkularisierungstheorem als Umbesetzung authentisch theologischer Gehalte in ihre säkulare Selbstentfremdung“ oder aber als „Umbesetzung vakant gewordener Positionen von Antworten …, deren zugehörige Fragen nicht eliminiert werden konnten“ 1, zu fassen ist. Blumenberg präferiert die letztere Variante, und sie erlaubt ihm, so der Neuzeit eine Genuität zuzuschreiben, die sie aus sich selbst heraus legitimiert sein lässt und dem Verdacht entzieht, bleibend theologischen Denkfiguren verhaftet zu sein. In der Matthäuspassion hat Blumenberg mit einer für theologisches Denken bis heute weitgehend unaufgearbeiteten Schärfe Fragen aufgeworfen, die dieser These zuarbeiten: Hier werden Fragen an theologische Denkfiguren zumal aus der Soteriologie gestellt, die einem der Grundprinzipien neuzeitlicher Selbstverständigung des Menschen über sich selbst verpflichtet sind, dem der moralischen Autonomie. 2 Dass aufgrund
1
Hans Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, Frankfurt a. M. 1974, 77. Vgl. zu Blumenbergs Säkularisierungstheorem Michael Moxter, Eigenständigkeit der Moderne, in: Thomas Schmidt / Annette Pitschmann (Hg.), Religion und Säkularisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart / Weimar 2014, 49–63. Zu meiner eigenen vorläufigen Beschäftigung mit Blumenberg vgl. Magnus Striet, Domestizierung der Gotteswillkür. Zu Hans Blumenbergs anderer Lesart neuzeitlicher Theodizee, in: Helmut Hoping u. a. (Hg.), Die Bindung Isaaks. Stimme, Schrift, Bild, Paderborn u. a. 2009, 213–224. Zum vielschichtigen Komplex der Säkularisierungsdebatte vgl. zuletzt v. a. Karl Gabriel u. a. (Hg.), Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen von Religion und Politik, Berlin 2012. 2 Hierzu ausführlicher meine Überlegungen in: Magnus Striet, Erlösung durch
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eines reflexiv werdenden moralischen Autonomiebewusstseins 3 sich nun Fragen stellen, die zuvor theologisch verschwiegen wurden, dürfte nur dann bestritten werden können, wenn der Wille zu moralischer Selbstbestimmung nicht unbedingt ist. Ist er dies aber (was im Übrigen keineswegs auf eine Selbstexkulpation hinauslaufen muss – und um dies wissen zu können, bedarf es keiner Theologie), so fallen alle theologischen Soteriologiekonzepte, die Gott (wenn er existiert, aber dazu später) unterstellen, dass er eines Opfers bedurfte, um sich mit der gefallenen Menschheit versöhnen zu können (sollte in diesen Konzepten nicht zudem eine allzu große Paradiesgläubigkeit vorherrschen). Die sich anschließende theologisch provokante und relevante Frage zugleich lautet, ob theologisches Denken unter dieser Voraussetzung notwendig am Ende ist. Denn der Prozess der Säkularisierung kann dann ideengeschichtlich als ein Prozess beschrieben werden, als dessen Voraussetzung der Mensch seine moralische Autonomie entdeckt. Somit werden nun Fragen an theologische Denkfiguren gestellt, die so zuvor nicht gestellt werden konnten. Allerdings geht der normative Zugriff dieser Theologoumena auf den Menschen nun ins Leere. Die These wird lauten, dass nicht die Theologie schlechthin unter dieser Voraussetzung am Ende ist – wohl aber eine, welche diese Reflexionsschübe den Opfertod Jesu?, in: ders. / Jan-Heiner Tück (Hg.), Der Opfertod Jesu im Streit der Interpretationen, Freiburg 2012, 11–32. 3 Faktisch äußert sich auch in einer theonomen Ethik nichts anderes als das, was der Mensch für sittlich geboten hält. Was der Mensch für den Willen Gottes hält, ist das, was der Mensch als den Willen Gottes vermutet. Für den Menschen kann das, was als Wille geglaubt wird, nur sein, wenn er es als diesen Willen identifiziert; dann ist aber bereits entschieden, dass er selbst es ist, der diesen identifizierend kontrolliert – und das bedeutet: Faktisch ist es auch der Mensch, der normativ bestimmt, was der Wille Gottes sei. Freilich leuchten solche Überlegungen nur dann ein, wenn man das, was menschliche Vernunft genannt wird, nicht mehr so begreift, dass diese in einem abbildhaften Zusammenhang mit einem göttlichen Logos steht. Vgl. insgesamt zur Problematik: Magnus Striet / Rita Werden, Welcher Gott will welches Gesetz? Unterschiedliche Gottesvorstellungen in der Rede vom ius divinum, in: Herder Korrespondenz 69 (2015) 19–23.
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nicht mitgeht. Historisch betrachtet, wird im Denken der Neuzeit etwas entdeckt, was in biblischen Reflexionsschichten bereits angedeutet war und dann gegen dominant gewordene theologische Denktraditionen durchgesetzt werden musste. Stimmt dies, so ist die Neuzeit nicht als säkulare Selbstentfremdung theologischer Gehalte zu begreifen, sondern als deren Realisierungsgestalt, wenn es – dies wäre dann als Voraussetzung zu setzen – dem Logos des theologischen Nachdenkens über Gott und dem Menschen entspricht, den Menschen mit einer tatsächlichen, d. h. formal unbedingten Freiheit begabt verstehen zu wollen. Dass diesem Entdeckungsprozess keine geschichtsphilosophische Notwendigkeit zugrunde liegen kann, wie Hegel dies meinte unterstellen zu dürfen, versteht sich von selbst. Wenn tatsächlich Freiheit ist, so lässt sich zwar vermuten, dass sie ihre Faszination entfaltet; was aber ist und sich ereignet, muss dann als geschichtlich kontingent beschrieben werden, und das bedeutet: Es kann sein. Ist die Neuzeit als Realisierungsgestalt eines Freiheitsbewusstseins beschreibbar, das bereits in biblischen Denktraditionen identifizierbar ist, so ist sie eine geschichtlich kontingente Realisierung eines bestimmten Begriffs des Christlichen und bleibt ein nicht zu vollendendes Projekt wie dies auch eine Moderne ist, die die ethisch-moralisch sensible, sozialverträgliche Realisierung von Freiheit zu ihrem normativen Maßstab erhebt. Wie das Projekt einer auf Freiheit setzenden Moderne immer wieder zu regenerieren ist, dies aber nur aus einer sich selbst und andere Freiheit wollenden Freiheit geschehen kann, so gilt dies auch für den Begriff eines solchen Christlichen.
I. Kirchenlehramtlich und größtenteils bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts davon auch unabhängig innerhalb der Theologie hat man sich im Raum des römischen Katholizismus schwer getan mit dem, was mit dem Begriff Neuzeit assoziiert wurde. 280 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
Säkularisation und christlicher Glaube
Nicht übersehen werden darf, dass es im gesamten westeuropäischen Raum ein Unbehagen an der neueren Kultur gab. Die Auflösungen der gesellschaftlichen Ordnungen, die einsetzende Technisierung der Lebenswelten lösten in Intellektuellenkreisen ein Unbehagen aus, das verführbar machte für ein totalitäres Denken, welches einem oberflächlichen Säkularismus ein Ende setzen sollte. Für den deutschsprachigen Raum gilt dies allemal. Selbst eindeutig einem Humanitätsideal verbundene Intellektuelle konnten hier in der Zwischenkriegszeit deutliche Vorbehalte gegenüber Freiheitsidealen pflegen. 4 In den Theologiekreisen war es der Verdacht, dass die alten metaphysischen, und das hieß in deren Logik immer auch religiösen, Fragen verabschiedet sein könnten zugunsten einer Kultur der Machbarkeit. 5 Es ist die immer kulturpessimistisch angehauchte Mutmaßung vom „Verlust der Mitte“ (Hans Sedlmayer), auf den dann als solche eingeschätzte Fehlentwicklungen in Fragen des sozialen und gesellschaftlichen Zusammenlebens, vor allem aber der individuellen Lebensführung zurückgeführt werden. Autonomie ist in diesen Zusammenhängen das Reizwort schlechthin. Eine wahre, sich von Gott und dessen Wille beziehungsweise Gesetzen verstehende Freiheit wird abgegrenzt von einer Autonomiefreiheit, die philosophiehistorisch unbesehen mit einer Willkürfreiheit gleichgesetzt wird, der alles erlaubt ist. So kann auch nicht verwundern, dass ein säkularisierter Lebensstil in dieser Perspektive mit einem Lebensstil westlich-europäischer Gesellschaften gleichgesetzt wird. Der in westlichen Gesellschaften präsente Freiheitswille wird so identifiziert mit einem schrankenlosen, gegen andere Menschen und die Natur rücksichtslosen Individualismus, und in eins damit wird das, was als Neuzeit beschrieben wird, einer grundsätzlichen Kritik unterzogen. So schreibt Joseph Ratzinger im Jahr 1975, bereits im Ge4
Vgl. hierzu die aufschlussreiche Studie von Ulrich Sieg, Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 2013, exemplarisch 246 (hier mit Bezug auf Walter Eucken). 5 Vgl. dazu die aufschlussreiche Studie von Otto Weiß, Kulturkatholizismus. Katholiken auf dem Weg in die deutsche Kultur 1900–1933, Regensburg 2014.
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stus einer deutlichen Abgrenzung zu Entwicklungen in der nachkonziliaren römisch-katholischen Kirche, dass sich die Neuzeit „selbst am Ende“ wisse und „verzweifelt mit ihrer eigenen Orientierungslosigkeit“ kämpfe, wenn sie „nicht mehr aus der unwirklichen Perspektive des Gettos gesehen“ 6 werde. Den eigentlichen Grund für diese Krise sieht Ratzinger in nichts anderem als im „selbstquälerische[n] Abschied vom Gewesenen“, ein „radikaler Neubeginn“ gelte hier als „dringendes Gebot“ 7. Für Ratzinger durchdringt dieser Ungeist der Neuzeit längst auch die Kirche. An dieser grundsätzlichen Einschätzung hat sich bei ihm bis in die Zeiten seiner Arbeit in der römischen Kurie und seines Pontifikats hinein nichts geändert. So hat er im Umfeld der Diskussionen um eine europäische Verfassung danach gefragt, ob „eine säkulare Aufklärungskultur wirklich die endlich gefundene universale Kultur der gemeinsamen Vernunft aller Menschen“ sein solle, „die überall Einzug halten müßte, wenn auch auf unterschiedlichem historischen und kulturellen Humus“. 8 Nicht, dass Ratzinger in westlich-säkularen Staaten durchgesetzte Rechte wie das der Religionsfreiheit, der Gewaltenteilung und der Machtkontrolle nicht würdigen würde. 9 Seine Kritik zielt auf einen Vernunfttyp, der sich auf das rational-technologisch Machbare engführt und sich so selbst von den metaphysischen Fragen, am Ende aus ihrem Gottesbezug löst. 10 Die Folgen dieser Selbstbeschränkung der Vernunft bestehen laut Ratzinger darin, dass „der Mensch keine moralische Instanz außerhalb seiner Berechnungen mehr kennt“, so dass der 6
Joseph Ratzinger, Kirche und Welt: Zur Frage nach der Rezeption des II. Vatikanischen Konzils, in: ders., Theologische Prinzipienlehre. Bausteine zur Fundamentaltheologie, München 1982, 395–411, 405. 7 Ebd., 388. 8 Josef Ratzinger, Europa in der Krise der Kulturen, in: Marcello Pera / ders., Ohne Wurzeln. Der Relativismus und die Krise der europäischen Kultur, Augsburg 2005 (2004), 62–85, 72. 9 Ebd., 73. 10 Ebd., 74, 77.
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Säkularisation und christlicher Glaube
„Freiheitsbegriff zunächst grenzenlos zu wachsen“ scheine, „aber so zur Selbstzerstörung der Freiheit“ führe. 11 Gegen ein solches Selbstzerstörungspotenzial setzt Ratzinger den Begriff einer Vernunft, die sich auf eine Vernunft als ihren Ursprung bezogen weiß, die „ihr Maß und ihr Ziel ist“ 12 – will sagen: die sich von dem Gott her versteht, den der christliche Glaube als den „gekreuzigten Gott“ 13 der Liebe bekennt. Und „rein philosophisch“ hätte man damit „wahrhaftig keine schlechten Karten“ 14. Aber eben dies ist die Frage. Zumindest muss geklärt werden, wie hinreichend die Gründe für die Annahme sind, dass sich die menschliche Vernunft von einer göttlichen Vernunft her zu verstehen hat. In diesem Zusammenhang interessant ist die beanspruchende Bezugnahme auf Kant durch Ratzinger: „Kant hatte die Erkennbarkeit Gottes im Bereich der reinen Vernunft bestritten, aber Gott, Freiheit und Unsterblichkeit als Postulate der praktischen Vernunft dargestellt, ohne die seiner Einsicht nach konsequenterweise sittliches Handeln nicht möglich schien.“ 15 Diese Rekonstruktion ist richtig und falsch zugleich. In der Tat hat Kant – und dies meines Erachtens in einer bis heute bleibend gültigen Weise 16 – gezeigt, dass im Versuch, Gott zu denken, die menschliche Vernunft nur ihre eigene Abgründigkeit erkennt. Dieses Gottes, dessen sie nicht nur als Träger aller Dinge so notwendig bedarf, um in ihrem spekulativen Ausgriff auf den letzten Grund aller Wirklichkeit nicht haltlos zu werden, den sie aber zugleich nicht so zu denken vermag, dass sie nicht zugleich auch sein mögliches Nicht-Sein nicht zu denken vermag, den sie aber, will sie nicht schon jetzt verzweifeln, aus geschichtsphilosophischen Motiven doch so dringend braucht – schließlich kann 11
Ebd., 74. Ebd., 80. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Ebd., 81 f. 16 Vgl. hierzu ausführlicher: Nachwort zur Neuausgabe von Walter Kasper, Das Absolute in der Geschichte, Freiburg 2010, 605–619. 12
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doch einzig und allein ein Gott die Gedemütigten und die Zertretenen dem Abgrund der Geschichte entreißen – dieses Gottes kann sie denkerisch nicht habhaft werden; sie kann ihn glauben, soll ihn gar aus moralischen Gründen postulieren, wie Kant einschärft 17, dies aber ins bleibend Ungewisse hinein. Falsch indessen ist es, sich auf Kant berufen zu wollen, wenn es um den letzten Geltungsgrund moralisch-ethischen Sollens geht. Auch wenn ich nicht zu glauben vermag, wäre ich Kant zufolge immer noch an das sittlich gebunden – und zwar unbedingt! –, was sich mir als sittlich geboten aufdrängt. Selbstbindung an das, was als sittlich geboten erscheint, darf laut Kant nur aus innerer Einsicht, d. h. in Selbstgesetzgebung, eben autonom, erfolgen, um moralisch genannt werden zu können. Um konsequent sittlich handeln zu können, bedarf es nicht der Autorität eines Gottes, ja schärfer noch: Gott darf keinen Grund darstellen, wenn es um die Frage geht, ob ich mich dem als sittlich geboten Eingesehenen füge oder nicht. Auf Gott zu setzen, ist gleichwohl die Konsequenz einer sittlichen Durchbestimmung meiner Vernunft angesichts der nicht zu übersehenden Grenzen des eigenen sittlichen Vermögens. Freilich ist es nicht nur die Möglichkeit von Moralität, um deren willen die Freiheit als formal unbedingte, sich selbst Gesetz seiende Freiheit vorausgesetzt wird. Theologisch entscheidender ist ja noch, ob nicht der Begriff des Glaubens als einer Verhältnisbestimmung zwischen einem erhofften Gott und dem Menschen es fordert, diese Voraussetzung zu machen. Sucht Gott den Menschen mit sich zu erfüllen, so bedarf er dessen freier Zustimmung. 18 Man kann diesen Begriff theologisch legitimieren, d. h. als angemessen ausweisen, indem man auf biblische Reflexionen verweist, in denen er generiert wird. Der Gott Israels steht zu sei17
Zu den geschichtsphilosophischen Motiven Kants vgl. Rudolf Langthaler, Geschichte, Ethik und Religion im Anschluss an Kant. Philosophische Perspektiven „zwischen skeptischer Hoffnungslosigkeit und dogmatischem Trotz“, Berlin 2014, bes. Bd. 1, 321–371. 18 Entschieden ausgeführt findet sich dieser Glaubensbegriff in Thomas Pröpper, Theologische Anthropologie. 2 Bde., Freiburg 2011.
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nem Volk in einem Bundesverhältnis. Theologisch-systematisch wiegt das Argument schwerer, dass dem Verhältnis zwischen Gott und Mensch keine größere Dignität zugeschrieben werden kann als wenn es als ein Freundschaftsverhältnis verstanden wird, entstanden aus dem ungeschuldeten Angebot eines Gottes, der sich in Liebe einem zur Freundschaft, weil zur Freiheit fähigen Wesen zuwendet. Ist dem aber so, so kann eine auf Freiheit setzende säkulare Gesellschaft diesen religiösen Traditionen nicht einfach fremd sein. Von traditionalen Gesellschaften unterscheidet sie sich zunächst durch drei Aspekte, die im Weiteren eine Rolle spielen werden. Säkulare Gesellschaften sind erstens rechtssystematisch anders als religiös basierte Gesellschaften organisiert, zweitens zeichnen sie sich durch funktionale Differenzierung aus und drittens verstehen sie sich nicht nur faktisch, sondern aus Gründen heraus nicht mehr aus einem gemeinsamen Grund heraus, der Gott genannt wird.
II. In Joseph Ratzingers geistesgeschichtlicher Rekonstruktion der Dialektik der Aufklärung ist es die sich selbst zur letzten Instanz ermächtigende Vernunft, die diese verantwortet. Nochmals erwähnt sei, dass es bei ihm zwar eine grundsätzliche Anerkennung von Grundrechten gibt, aber: Vernünftig im rechten Sinn darf sich für ihn nur die Vernunft nennen, die sich von Gott her versteht. Damit muss die Beurteilung des historischen Prozesses der Säkularisierung aus theologisch-philosophischen Gründen ambivalent bleiben. Es gibt nur dann eine legitime Säkularisation, solange sich eine Gesellschaft nicht aus dem Horizont des Religiösen verabschiedet. Unweigerlich führt dies in die Aporie. Doch werden auch divergierende oder schlicht als konträr zu bezeichnende Einschätzungen bezogen auf Säkularisierungsprozesse vorgenommen. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat die Entwicklungen der Trennung von Religion und Staat und damit den 285 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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Prozess politischer Säkularisierung vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Konfessionskriege als einen notwendigen Prozess beschrieben. Böckenförde hat zwar auch gefragt, „ob nicht auch der säkularisierte weltliche Staat letztlich aus jenen inneren Antrieben und Bindungskräften leben muß, die der religiöse Glaube seiner Bürger vermittelt“. 19 Die sittliche Substanz eines Staates (re)generiert sich nicht von allein. Der zwar nicht notwendig laizistische, seinem Selbstverständnis nach aber religionsneutrale Staat lebt vom Freiheitswillen seiner Bürger, und: Er lebt davon, dass Menschen sich politisch und zivilgesellschaftlich engagieren. Auf der empirischen Ebene ist nicht auszuschließen, dass es – auch wenn diese nicht allein geltend gemacht werden dürfen – Kräfte aus dem Bereich religiöser Traditionen sind, die hier stimulierend wirken. Wobei dies freilich nur unter der Voraussetzung der Fall sein kann, dass diese Traditionen selbst freiheitsaffin sind, und das bedeutet auch, dass diese ein konstruktives Verhältnis zu den Prinzipien eines auf Freiheit zielenden säkularen Staatswesens einnehmen. Fasst man den Religionsbegriff nicht essentialistisch, beschwert man ihn stattdessen mit dem Index geschichtlicher Kontingenz und begreift ihn als Begriff geschichtlich dimensionierter sozialer Selbstverständigungspraxis, so kann der säkulare Rechtsstaat dann zumindest auch aus religiösen Quellen konsolidiert werden, wenn die gesellschaftlich präsenten religiösen Institutionen ein positives Verhältnis zu den staatlich gewährten Freiheitsrechten einnehmen. Dass religiöse Überzeugungen einen „opaken Kern“ (Jürgen Habermas) aufweisen, der von nichtreligiös gestimmten Menschen nur anerkannt, nicht aber mehr innerlich vollzogen werden kann, spielt in diesem Kontext keine Rolle. Ich tendiere dazu, die Rede vom opaken Kern der Religion so zu interpretieren, dass in ihr die Verwunderung darüber zur Sprache kommt, dass die 19
Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie. Erw. Ausgabe Frankfurt a. M., 2006, 92–114, 113.
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einen zu glauben vermögen, die anderen hingegen nicht. Solange die Existenz des freien, weltzugewandten und moralisch sensiblen Gottes nicht ausgeschlossen werden kann, ist diese Frage theologisch relevant; sie gehört in den Bereich der Theodizeeproblematik. Rechtssystematische Fragen des Zusammenlebens in einem säkularen Staats- und Gesellschaftssystem berührt sie ebenso wenig wie die Frage, wie anstehende ethische Probleme zu lösen sind. Diese sind im Rahmen einer autonomen Ethik abzuhandeln.
III. Theologisch kommt ein Weiteres hinzu. Moderne Gesellschaften funktionieren in ausdifferenzierter Weise; die sozialen Teilsysteme folgen ihren eigenen Rationalitäten. Ob es zwischen den Teilsystemen Überschneidungen gibt oder nicht muss hier nicht interessieren. Auch soll nicht die Frage erörtert werden, ob diese steuerbar, und das heißt zumindest in Grenzen ethisch ausgewiesen steuerbar sind. Dies bestreiten zu wollen, hieße die Vorstellung aufzugeben, dass verfahrenslegitimierte, konsensuelle politische Steuerung überhaupt möglich ist. Es kann immer wieder Situationen tatsächlicher Alternativlosigkeit geben; diese Rede zu generalisieren hieße aber nichts anderes, als Systemlogiken absolut zu setzen. Die Eigenrationalitäten von gesellschaftlichen Teilsystemen anzuerkennen, bedeutet aber noch etwas anderes. Der Erfolg moderner Gesellschaften verdankt sich wesentlich dieser Anerkennung. Das Aufkommen der modernen Naturwissenschaften hing davon ab, dass man zwar einerseits am Axiom eines rationalen Aufbaus der Natur festhielt, anderseits nun aber begann, diese zu beschreiben, als ob es Gott nicht gäbe. Soll es ein rationales Beschreibungsverfahren von Naturprozessen geben können, dann muss unterstellt werden, dass möglicherweise ein Gott diese Zusammenhänge erhellt, er darf diese dann aber nicht – jedenfalls 287 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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nicht permanent – modifizieren. Die Erfolgsgeschichte etwa der Medizin basiert wesentlich auf dieser Annahme. Auch wenn der beschriebene methodische Atheismus in einer Gesellschaft, die aufbauend auf Rationalisierungsschüben Fortschritte erfährt, nicht notwendig dazu führen muss, dass sich die soziokulturellen religiösen Praxen ändern, so dürfte dies doch für die sozialen Schichten gelten, in denen dieses Wissen reflexiv präsent ist. Gott und sein Welt- und Geschichtsbezug in seiner traditionell ausbuchstabierten Form werden ortlos. Der Rückzug Gottes oder auch eines apersonal gedachten Göttlichen ins Innere des Gemüts oder aber auch die Umformung des überlieferten Religiösen in ein Kunstreligiöses 20 sprechen für diese Vermutung. Nicht minder gravierend dürfte die Erfahrung des Nicht-Eingreifens des geglaubten Gottes in die Natur- und Geschichtsverläufe sein. Sensibilisiert sich der Mensch für die Unbedingtheit der menschlichen Personwürde, so wird die Frage Wo ist Gott? bedrückend. Und von dieser Frage zu der Feststellung, dass dieser Gott nicht existieren kann (oder auch keine Akzeptanz mehr durch den Menschen erfahren darf ), ist es dann nur noch ein kurzer Weg. Im 19. Jahrhundert sind diese Fragen bereits durchgespielt und im 20. Jahrhundert dann nochmals angeschärft worden. Dies kann so jedenfalls für die philosophischen Debatten, zumal aber für den Bereich der Kultur beschrieben werden. In der Literatur, im Theater und auch der Kunst wird immer wieder die Gottesfrage aufgeworfen, aber: dies zumeist im Modus seiner Fraglichkeit angesichts von empirisch manifestem Leid. 21 Wer gegenwärtige Gesellschaften als säkular beschreibt, dies abschätzig meint – und als Maßstab nur heranzieht, ob die eigenen Überzeugungen und Werte realisiert werden, muss sich fragen lassen, ob er die Not, die Menschen mit dem Gottglauben haben können, jemals an sich herangelassen hat. 20
Vgl. hierzu Wolfgang Eßbach, Religionssoziologie 1: Glaubenskrieg und Revolution als Wiege neuer Religionen, München 2014. 21 Vgl. ausführlich hierzu Magnus Striet, In der Gottesschleife. Von religiöser Sehnsucht in der Moderne, Freiburg 2., erw. Aufl. 2015.
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Was bedeutet es aber theologisch, wenn als Wesenszug der Säkularität moderner Gesellschaften gelten darf, dass die Systemlogiken anzuerkennen sind? Theologisch und für die Zukunft der Kirchen (andere vergesellschaftete religiöse Akteure spare ich im Folgenden aus) ergeben sich daraus meines Erachtens gravierende Konsequenzen. Zunächst einmal sind die Systemlogiken schlicht rigoros anzuerkennen. Sie nicht anzuerkennen, führt zu schizophrenen Glaubensexistenzen. Das Bittgebet ist die in dieser Hinsicht vielleicht prekärste, weil traditionell eingeübte, aber eben auch ortlos, widersprüchlich gewordene Frömmigkeitspraxis. 22 Wenn es aber auch theologisch anzuerkennen gilt, dass der Mensch in der Welt ohne Gott und mit Gott zugleich (Dietrich Bonhoeffer) zu leben hat, so ist zu fragen, welche Sinnhaftigkeit die Rede von Gott in einer solchen Gesellschaft noch entfaltet, zumal ja bereits dafür plädiert wurde, ethische Fragen nicht durch einen Gottesrekurs, sondern in einem Konzept einer autonomen Ethik anzugehen. Theologisch könnte die Antwort lauten: Zunächst einmal muss der Mensch nicht nur in der Welt ohne Gott auskommen, sondern er darf es auch. Was immer wieder in einen Gegensatz zum Kirchenglauben gestellt wurde, Freiheit bestimmt als Autonomiefreiheit, zeigt sich in dieser Logik als die Gabe Gottes an den Menschen schlechthin: Tatsächlich frei zu sein und nun nach selbstgenerierten Maßstäben das eigene Leben, Kultur und Gesellschaft zu gestalten. 23 Der immer wieder vermutete Gegensatz zwischen einer säkularen Kultur und einem Freiheit als Auto22
Vgl. ausführlicher hierzu: Magnus Striet, Bittgebet – selbstverständlich? Nein und: Ja, in: ders. (Hg.), Hilft Beten?, Freiburg 2010. 23 Und zwar zum einen, weil ein Beziehungsgeschehen, zwischen Gott und Mensch nur denkbar ist, wenn Gott und Mensch sich aus Freiheit heraus aufeinander beziehen können. Zum anderen weil Gott, so lässt sich die Geschichte Jesu jedenfalls ausdeuten, sich auf den Raum einer kontingenten und damit auch auszudeutenden Geschichte eingelassen hat. Solange dies der Raum der Kommunikation ist, bleibt Glaube verwiesen auf die prinzipiell fehlbare Ausdeutung von Erfahrungen. Die Alternative lautete Manipulation – und verbietet sich für eine freiheitssensible Theologie, wenn sie auch in anders akzentuierten Theo-
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nomiefreiheit akzeptierenden Gottglauben löst sich dann auf. Der Autonomiewille des Menschen darf dann aber gerade nicht als Symptom des Verlusts einer wohl freilich nur historischer Phantasie entsprungenen Gerechtigkeit bestimmt werden; er regte sich, als Bewusstsein aufkam und die notwendige Selbstgestaltung des Lebens zur Last und zur Auszeichnung zugleich wurde. Was in kulturevolutiven Prozessen als in einem Absoluten bzw. in Gott geltungstheoretisch verankerten Ethos generiert wurde, war das, was diesem unterstellt wurde – und d. h.: Es war durch Menschen als in sich sinnvoll ersonnen und empirisch erprobt und wurde, um es substantiell zu sanktionieren, als geglaubtes Gottesdiktat in Tafeln gemeißelt. Neu an dem, was Neuzeit oder auch Moderne genannt wird, ist mithin lediglich, dass dies gewusst ist (oder gewusst werden kann), und das ein jedes Ethos und damit auch das Ethos der Freiheitswürde, wenn es göttlich genannt wird, eines ist, das dem geglaubten Gott zugehörig unterstellt wird. Dass dies kirchenstrukturelle Auswirkungen hat, weil das Wesen und mit ihm auch die Gestalt von Kirche dann aus der Perspektive des Logos eines Glaubens zu beschreiben ist, in dem Gott selbst die Freiheit des Menschen radikal anerkennt, sei nur angedeutet. Ist der säkulare Staat seinem normativen Selbstverständnis nach religionsneutral, so kann er solange ein entspanntes Verhältnis zu der Pluralität der nicht religiösen Akteure einnehmen, die in seinem Gebilde auftreten, solange diese die Grenzen des Legalen akzeptieren. Dies gilt auch für die religiösen Akteure, die sich auf seinem Hoheitsgebiet bewegen. Dass der freiheitliche säkulare Rechtsstaat als Rechtsgebilde ein Interesse daran haben muss, dass möglichst viele gesellschaftliche Akteure ein konstruktiv aufgeschlossenes Verhältnis zur Idee der Säkularität haben, versteht sich von selbst; andernfalls wüsste er das Problem faktischer religiöser und auch religionsabstinenter Pluralität nicht zu bewältigen. Versteht sich der christliche Glaube epistemisch als Glaube, logien im Begriff der Gnade oftmals mitgedacht, wenn auch weniger anstößig benannt wird.
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d. h. als eine mögliche rational zu verantwortende Option bezogen auf sich der Vernunft unweigerlich aufdrängende Letztfragen, so kann auch er ein entspanntes Verhältnis zu der Pluralität aufbringen, wie sie in säkularen Gesellschaften anzutreffen ist – zumal ja auch der christliche Glaube ein plurales Gebilde darstellt. Das Zusammenleben wird auf der Basis garantierter Rechte und durch demokratische Verfahrensweisen legitimierte, gesetzliche Pflichten organisiert, nicht aber durch Religion. Das bedeutet jedoch nicht, dass es nun keine Religionsdiskurse mehr geben dürfte. In der hier verfolgten theologischen Logik ist auch bereits aufgewiesen, was eine Religion zu einer human überzeugenden Religion macht. Es ist das Kriterium der menschlichen Freiheit, an dem dann, wenn es als unbedingt sein sollend normativ gesetzt wird, die Legitimität gesellschaftlicher Phänomene bemessen wird – selbst der Gottesbegriff muss in dieser Hinsicht einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Aber auch das war schon biblisch so. Selbst wenn, um nur ein prominentes Beispiel zu nennen, der biblische Hiob auf halbem Weg stehen geblieben ist in seiner berechtigten Empörung gegen Gott.
IV. Wenn Blumenberg die Legitimität der Neuzeit darin erkennt, dass sie eigenständig Fragen aufwirft, die zuvor so nicht gestellt wurden – ja weiter noch, dass es erst dadurch dazu kommen konnte, dass theologische Problemüberhänge auch in ihren nichttheologischen Beerbungsvarianten endgültig bearbeitet wurden, dies dann faktisch aber auch zum Ende einer bestimmten (augustinisch geprägten) Theologie führte (auch wenn sie rhetorisch oder auch als ästhetisches Spektakel immer noch kulturell präsent ist), so sollte dieser Lesart dessen, was Säkularisierung meinen könnte, weiter nachgedacht werden. Rechts- und staatsphilosophisch ist die Dekonstruktion absoluter Ansprüche unabdingbar, sollen die Individuen vor totalisierenden Phantasien geschützt 291 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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werden. Und theologisch interessant ist das Säkularisierungstheorem Blumenbergs. Es könnte sein, dass die Theologie in der Durchdringung des Prinzips neuzeitlicher Philosophie schlechthin, Freiheit, gegen eigene und extrem wirkmächtig gewordene Denktraditionen etwas entdecken könnte, das ihr ein Verstehen dessen, was Glaube sein kann, erst möglich macht. Sie könnte so Anschluss finden an eine biblische Aufklärungspraxis. Präziser ist wohl zu sagen, dass dies einem Gutteil der akademischen Theologie bereits gelungen ist.
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Personenregister
Adorno, Theodor W. 36 Aertsen, Jan A. 37 Albertus Magnus 18, 43 f. Alfrink, Bernard J. 247 Alston, William 150 Althoff, Gerd 83 Anzulewicz, Henryk 47 Apfelbacher, Karl-Ernst 234 Aristoteles 40 f., 43, 46, 124 Arnold, Claus 225 f. Assmann, Jan 13 f. Augustinus 18, 43, 50, 256 Baab, Florian 23 f., 183, 185, 187 f., 196 f. Balthasar, Hans Urs von 267 f., 273 f. Barbour, Ian 161 Batterman, Robert 136 Bauer, Thomas 217 Baur, Ferdinand C. 226 Beisbart, Claus 21 f. Beck, Uwe 255 Benedikt XV. 225 Benedikt XVI. (Josef Ratzinger) 67, 252, 267 Benigni, Umberto 227, 244, 246 Benthaus-Apel, Friederike 175 Berger, Peter L. 78 Beyer, Peter 107, 109 Biel, Gabriel 38 Bienfait, Agatha 111 Blondel, Maurice 234 f., 244
Blumenberg, Hans 18, 29, 36, 49, 51–54, 65, 278, 291 f. Böckenförde, Ernst-Wolfgang 37, 40, 256, 285 f. Boeckle, Franz 37, 40 Bolz, Norbert 54 Bonhoeffer, Dietrich 29, 289 Borrmann, Stephan 62, 67 Borruta, Manuel 80, 85 Braig, Carl 227 Brandom, Robert 67 Braun, Christina von 80 Bremond, Henri 233 Brink, David O. 136 Bucher, Rainer 225 Burchardt, Marian 164 Brun, Georg 160 Burger, Maria 46 Campell, Joannes 160 Cannie, Hannes 210 Caro, Maria de 123 Carranza, Brensa 87 Casanova, José 85 f., 89, 93 Comte, Auguste 170 Cramm, Wolf-Jürgen 152 Csordas, Thomas J. 104 Dähn, Horst 165 Dante Alighieri 47 Davie, Grace 88 Dawkins, Richard 113, 116, 195 Depkat, Volker 163
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Personenregister
Descartes, René 50–52 Dietrich, Myrian 217 Döllinger, Ignaz von 229, 231 Donati, Silvia 46 Döpfner, Julius 247 Dreier, Horst 205, 209 Duns Scotus, Johannes 18, 38, 54–56 Dürig, Günter 206 Durkheim, Émile 34, 81 Durner, Wolfgang 202 Einstein, Albert 145 Eisenstadt, Smuel N. 20, 91 f. Epping, Volker 205 Erasmus von Rotterdam 183, 256 Erbacher, Jürgen 67 Erkens, Franz-Reiner 70 Eßbach, Wolfgang 288 Esterbauer, Reinhold 63 Eucken, Walter 281 Evans, John H. 167 Evans, Michael S. 167 Fahrbach, Ludwig 146 Falkenburg, Brigitte 144, 156 Feigl, Herbert 142 Fellay, Bernard 250 f. Feuerbach, Ludwig 196 Feyerabend, Paul 148 Fichte, Johann G. 254 Fincke, Andreas 188 Fink, Helmut 197 Føllesdal, Dagfinn 149 Franz von Assisi 233 Frege, Gottlob 139 Fried, Johannes 55 Frings, Joseph 247 Frohschammer, Jakob 228 f. Gabriel, Karl 20, 49 f., 78, 80, 82 f., 89, 94 f., 278 Gadamer, Hans-Georg 150 Gärtner, Christel 78, 83, 89
Geach, Peter 139 Gehlen, Arnold 34, 168 f. Gerhardt, Volker 254 Gibbard, Alan 138 Gillespie, Michael A. 53, 67 Glock, Charles 84 Göbel, Bernd 123 Goldstein, Jürgen 51, 74 Gorski, Philip 163 Gräb, Wilhelm 80 Grabenwarter, Christoph 210 Graf, Friedrich Wilhelm 86 Gregor von Rimini 37 f. Gregor XVI. 26, 230 Groschopp, Horst 194 Gross, Peter 255 Grotius, Hugo 37 f. Günther, Anton 231 Habermas, Jürgen 16 f., 33, 48, 53, 61, 76, 286 Haeckel, Ernst 23, 170, 175 Halfmann, Jost 101 Hamilton, Malcom 87 Harnack, Adolf von 236–239 Hartmann, Wilfried 83 Haug, Sonja 220 Hauk, Anna M. 123 Haverkamp, Anselm 64 Heckel, Martin 211 Hegel, Georg W. F. 34, 36 f., 47, 261, 280 Heidegger, Martin 36, 52, 184, 199, 227 Heinig, Hans M. 214 Heise, Joachim 165 Heinrich, Jens 207 Hellemans, Staf 94 Hennig, Wiebke 218 Henríquez, Silva 266 Hermann, Friedrich-Wilhelm von 185 Hermes, Georg 231
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Personenregister
Hertling, Georg von 232 Hervieu-Leger, Danièle 88 Heydemann, Günther 165 Hillgruber, Christian 214 Hirschhausen, Eckart von 121 Hoff, Gregor 19, 61, 76 Höhn, Hans-Joachim 76 Höllinger, Franz 94 Hölscher, Lucian 162 Honnefelder, Ludger 18, 38 f., 41, 43–48, 50, 54–57, 65 Honneth, Axel 254 Hoping, Helmut 278 Horkheimer, Max 36 Huber, Wolfgang 175 Hübner, Wolfgang 53 f. Huber, Wolfgang 175 Hügel, Friedrich von 233 Humboldt, Wilhelm von 183 Hume, David 139 Hünermann, Peter 251 Hunt, Stephen 87 Husserl, Edmund 51 f. Imbach, Ruedi 47 Indenhuck, Moritz 218 Ipsen, Jörn 204 Irlenborn, Bernd 67 James, William 233 Jarass, Hans D. 206 Jaufmann, Dieter 175 Jesus Christus 27, 226, 237–240, 247, 262, 272, 274 Joas, Hans 19, 65, 76, 89 Johannes XXIII. 246 Johannes Paul II. 111 Kahl, Joachim 24, 195–197 Kaiser, Gert 162 Kant, Immanuel 9 f., 35, 47, 139, 234, 254, 283 f. Kantorowicz, Ernst 69
Karpenstein, Ulrich 210, 213 Karstein, Uta 92, 161, 176 Kasper, Walter 188 f., 258, 283 Katharina von Genua 233 Kaufmann, Franz-Xaver 94 Keil, Geert 123 f., 127 f., 147, 152, 155 Kessler, Christel 87 Keßler, Tobias 87 Kettenacker, Lothar 165 Kierkegaard, Søren 198 King, Martin Luther 12 Kingreen, Thorsten 207 Klein, Friedrich 204 Klein, Hans H. 202 Klein, Matthäus 168 Kleutgen, Josef 50, 228 Kluxen, Wolfgang 40 Knoblauch, Hubert 88 f. König, Franz 247 Koselleck, Reinhart 34, 100 Kraus, Franz X. 229, 232 Krause, Boris 91 Krech, Volkhard 81 Kristeller, Paul O. 100 Kruip, Gerhard 123 Kuhn, Thomas S. 145–147 Kühnlein, Michael 71, 74–76 Kutschera, Ulrich 62 Kuyper, Abraham 226 Langthaler, Rudolf 284 Lefebvre, Marcel 27, 247–251 Leggewie, Claus 202 Lehmann, Hartmut 181 Lehmann, Karl 75 Leo XIII. 230, 232 Lewalter, Christian E. 184 Liedhegener, Antonius 89 Linck, Joachim 205 Lincoln, Abraham 12 Loisy, Alfred 26, 236–240, 244 Lorentz, Stephan 216
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Personenregister
Löwith, Karl 49 Lübbe, Hermann 64, 79 f. Luckmann, Thomas 84, 89 Luhmann, Niklas 20, 40, 45, 59, 83, 106, 115 Luther, Martin 174, 226, 256, 273 Lutz-Bachmann, Matthias 71, 74–76 Lyotard, Jean-François 184 Macarthur, David 123 Mackie, John L. 138, 159 Mandrella, Isabelle 37 Mangoldt, Hermann von 204 Maritain, Jacques 184 Martin, David 87 Martschukat, Jürgen 163 Marx, Karl 183 Maser, Peter 165 Maunz, Theodor 206 Maxwell, Grover 142 Mayer, Franz C. 210, 213 McKenzie, Alexander J. 121 McNaughton, David 150 Mead, George H. 34 Meier, Horst 202 Meier, Johannes 87 Mensching, Christian 210 Mercier, Désiré-Joseph 245 Meulemann, Heiner 175 Michael, Lothar 207 Michelitsch, Antonius 243 Milbank, John 53, 67 Mill, John Stewart 11 Möhle, Hannes 45 Morlok, Martin 204 f. Moxter, Michael 278 Muckel, Stefan 217 Müller, Klaus 63 Müller, Olaf 90, 163 Müntzer, Thomas 174 Murri, Romolo 232 Müssig, Stephanie 220 Muth, Karl 232
Nagel, Ernest 135 Nagel, Thomas 132 Nassehis, Armin 63 Nietzsche, Friedrich 36 Nelson, Benjamin 48 Neubert, Ehrhart 165 Neuner, Peter 26 f., 225, 230, 233, 236, 241, 244 f., 252 Newman, John H. 238, 244 Newton, Isaac 62 Niethammer, Friedrich I. 183 Nolte, Martin 207 Nowak, Kurt 162 Ockham, Wilhelm von 53–55, 138 Oebbecke, Janbernd 217–219, 221 Oeing-Hanhoff, Ludger 53 Oexle, Otto G. 83 Oppenheim, Paul 142 Origines 256 d’Orleans, Henry 80 Orosius 50 Ott, Michael 217 Otto, Rudolf 105 Ouédraogo, Jean M. 181 Oz, Amos 116 Pabel, Katharina 210 Pagenkopf, Martin 209 Pannenberg, Wolfhart 260 Papier, Hans-Hürgen 202 Papineau, David 123, 154–157 Paul VI. 111, 247, 257 Paulus 257, 261 Pera, Marcello 282 Périn, Charles 227 Pickavé, Martin 37 Pickel, Gert 90–92, 163 Pico della Mirandola 183 Pieroth, Bodo 206 f. Pilvousek, Josef 95 Pitschmann, Annette 278 Pius IV. 250
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Personenregister
Pius IX. 26, 230 f. Pius X. 225, 227, 240, 244 f., 247– 249, 252 Platon 18 Pollack, Detlef 78, 80, 83, 89 f., 162 Poscher, Ralf 208 Prantl 54 Pröpper, Thomas 284 Putnam, Hilary 142 Quine, Willard V. O. 126, 151 Rager, Günter 62 Rahner, Karl 246 Ratzinger, Josef 28, 235, 249, 281– 283, 285 Rawls, John 15, 60 Reder, Michael 189, 194 Redlow, Götz 168 Rendtorff, Trutz 236 Rentsch, Thomas 71 Rethmann, Albert-Peter 87 Ritchie, Jack 124, 142, 144, 157 Rohbeck, Johannes 101 Rohe, Mathias 217 Rorty, Richard 11 Roth, Gerhard 121 Ruge, Arnold 183 Rüland, Jürgen 87 Sabatier, Paul 233 Sachs, Michael 209, 219 Sammet, Kornelia 90–92 Sandkühler, Hans J. 254 Sattler, Dorothea 262 Sauer, Joseph 236 Schaber, Peter 136 Schaeffler, Richard 227 Schäfer, Heinrich 87 Scheffczyk, Leo 236 Schell, Hermann 232 Schleiermacher, Friedrich D. E. 10, 227
Schluchter, Wolfgang 48, 82 Schmidt, Rainer 208 Schmidt-Lux, Thomas 23, 92, 166, 168, 172 f., 176, 180, 278 Schmidt-Salomon, Michael 24, 188, 195–197 Schmiedinger, Heinrich M. 229 Schmitt, Carl 50 Schnädelbach, Herbert 123, 127 f., 147 Schockenhoff, Eberhard 27 f., 271 Scholz, Rupert 206 Schrey, Heinz-Horst 79, 84 Schröder, Richard 80 Schüller, Bruno 271 Schwinn, Thomas 91 Scriven, Michael 142 Sedlmayer, Hans 281 Sellars, Winfrid 67 Shirvani, Foroud 205 Sieg, Ulrich 281 Sloterdijk, Peter 74 Smend, Rudolf 214 Smith, Tom W. 79 Spaemann, Robert 256 Spalding, Johannes 254 Specht, Rainer 37 f. Sperber, Dan 106 Spohn, Wilfried 91 Spriewald, Simone 217 Starck, Christian 204 Stark, Rodney 84 Steckel, Sita 83 Stichs, Anja 220 Stichweh, Rudolf 20, 101, 104 Stössel, Hendrik 219 Stout, Jeffrey 12 Strauß, David F. 226, 235 Striet, Magnus 28, 225, 279, 288 Stuhlfauth, Thomas 208 Suárez, Francisco 38, 54 Sühl, Klaus 187
297 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
Personenregister
Taylor, Charles 19, 61 f., 65–77, 94, 255, 270 f. Tenbruck, Friedrich H. 81 Thériault, Barbara 180 Thiel, Markus 202 Thomas von Aquin 18, 39–43, 230, 242, 265, 275 Tomka, Miklos 95 Troeltsch, Ernst 47, 233, 235 Tück, Jan-Heiner 279 Turner, Bryan S. 84 f., 88 Tyrell, George 232 f., 244 f. Tyrell, Hartmann 81–83 Ungern-Sternberg, Antje von 213, 216, 218 Valentin, Joachim 72 Verweyen, Hansjürgen 234 Vitoria, Francisco de 38 Volkmann, Uwe 204 Vollmer, Gerhard 128, 141 Voonhof, Dirk 210 Vorgrimler, Herbert 246 Waldenfels, Hans 61 Walker, Tony 87 Wall, Heinrich de 218 f. Walter, Christian 24, 214, 216, 218 f., 221
Weber, Heiko 171 Weber, Hermann 214 Weber, Max 20, 33, 37, 47, 50, 81– 83, 86 f., 168 f., 181 Weiß, Albert M. 227 Weiß, Johannes 181 Weiß, Otto 225, 281 Weitlauff, Manfred 225 Weitz, Thomas A. 265 Weizsäcker, Carl F. von 50 Werden, Rita 279 Wickler, Wolfgang 61 Wiegandt, Klaus 89 Winckelmann, Johannes 82 Wilke, Andrea 95 Williamson, Richard 250 Wilson, Edward O. 65 Wittreck, Fabian 209 Wohlrab-Sahr, Monika 91–93, 164, 175–177, 180 Wolf, Frieder O. 24, 195, 197 Wolf, Hubert 225, 228 Wollbold, Andreas 95 Wright, Crispin 139 Zachhuber, Johannes 80 Zalta, Edward N. 136 Ziche, Paul 171
298 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
Autoren
Florian Baab, Dr. Akademischer Rat am Seminar für Fundamentaltheologie und Religionsphilosophie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Claus Beisbart, Professor Dr. Extraordinarius für Wissenschaftsphilosophie am Institut für Philosophie der Universität Bern. Karl Gabriel, Professor Dr. soz. wiss., Dr. theol. habil, Dr. h. c. em. Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster und Senior Professor am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Universität Münster. Gregor Maria Hoff, Professor Dr. Professor für Fundamentaltheologie und Ökumenische Theologie an der Paris-Lodron-Universität Salzburg. Ludger Honnefelder. Professor Dr. phil., Dr. h. c., em. Professor für Philosophie am Philosophisches Seminar der Universität Bonn und em. Direktor des Albertus-Magnus-Instituts, Bonn.
299 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
Autoren
Christoph Horn, Professor Dr. Professor für Praktische Philosophie und Philosophie der Antike der Universität Bonn. Peter Neuner, Professor Dr. em. Professor für Dogmatik und Ökumenische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität München. Thomas Schmidt-Lux, Dr. Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Kultursoziologie am Institut für Kulturwissenschaft der Universität Leipzig. Eberhard Schockenhoff, Professor Dr. Professor für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Freiburg. Rudolf Stichweh, Professor Dr. Dahrendorf Professor für ‚Theorie der modernen Gesellschaft‘ und Direktor des Forums ‚Internationale Wissenschaft‘ an der Universität Bonn. Magnus Striet, Professor Dr. Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Freiburg. Christian Walter, Professor Dr. Professor für Öffentliches Recht und Völkerrecht an der Universität München.
300 https://doi.org/10.5771/9783495848333 .
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