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German Pages 330 [332] Year 1996
Norm, Moral und DidaktikEine Aufforderung zur Diskussion
Norm, Moral und DidaktikDie Linguistik und ihre Schmuddelkinder Eine Aufforderung zur Diskussion Herausgegeben von Ann Peyer und Paul R. Portmann
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1996
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufhahme Norm, Moral und Didaktik - die Linguistik und ihre Schmuddelkinder : eine Aufforderung zur Diskussion / hrsg. von Ann Peyer und Paul R. Portmann. - Tübingen : Niemeyer, 1996 NE: Peyer, Ann [Hrsg.] ISBN 3-484-73036-6 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Umschlagbild aus Tomi Ungerer, Das große Liederbuch Copyright © 1975 by Diogenes Verlag AG Zürich Druck: Weihert-Druck, Darmstadt
Horst Sitta in Freundschaft und Verehrung gewidmet
Vorwort Dieses Buch ist die Frucht einer Vielzahl von Gesprächen, in denen wir - die Unterzeichnenden - immer wieder auf Themen gestossen sind, die am Rande oder jenseits dezenter Linguistik angesiedelt sind: Fragen, die ans Herz der sprachlichen Dinge rühren, die aber auch Stirnrunzeln oder plötzliche Zurückhaltung zur Folge haben, denn sie führen auf glattes Terrain, auf dem die üblichen Mittel des linguistischen Diskurses keinen richtigen Halt mehr bieten. Wir haben diese Fragen für den vorliegenden Band an den Stichworten Norm, Moral und Didaktik festgemacht. Einige aus unserer Runde haben in den siebziger Jahren studiert; damit verbunden ist die Erinnerung an eine gerade aus heutiger Sicht vielleicht nicht immer leicht nachvollziehbare, aber engagierte Diskussion über das Selbstverständnis der Linguistik und ihre Rolle im ausserakademischen Kontext. Diese innerfachliche Diskussion ist weitgehend verstummt. Heute nun fordern parlamentarische Arbeitsgruppen und ministerielle Erlasse von den Universitäten, nicht zuletzt von ihren geisteswissenschaftlichen Fächern, den Nachweis ihrer gesellschaftlichen Verwertbarkeit. Solchen bereits gestellten Forderungen und wei teren absehbaren steht eine wenig ermutigende Sprachlosigkeit der Linguistik gegenüber. Wäre es nicht besser für unsere Zunft, mit ihren eigenen Mitteln und nach ihren eigenen Vorstellungen jene Fragen neu - und hoffentliche anders, interessanter - zu stellen, die zu stellen sie aufgehört hat, obwohl doch immer wieder ihre Unausweichlichkeit erkennbar wird? Mit diesem Buch möchten wir die abgebrochene Diskussion der siebziger Jahre wieder aufnehmen und den Anstoss zu einer neuen Auseinandersetzung um das Verhältnis der Linguistik zu ihren Rändern und zu Fragen des Sprachlebens geben. Wir haben uns dafür an Leute gewandt, von denen wir wissen, dass sie dazu beitragen können; wir haben sie gebeten, mit einem Beitrag aus ihren jeweiligen Fachbereichen zu den Stichworten Norm, Moral und Didaktik Stellung zu nehmen und auch vor pointierten Aussagen nicht zurückzuschrecken. In dem von uns selbst verfassten einleitenden Beitrag haben wir bewusst den feinen Bleistift zur Seite gelegt und zum dicken Pinsel gegriffen beim Versuch zu thematisieren, was linguistisch relevant und
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Vorwort
doch in keine klare linguistische Ordnung zu bringen ist. Wir wissen, wie schwer uns dies gefallen ist, es ist gegen die Norm. Das Buch zeugt denn auch, nicht ganz unerwartet, von der Schwierigkeit, von der es handelt, es zeigt sie in vielen Passagen mehr, als dass es sie diskursiv - und plakativ - zur Sprache bringt. Doch gerade auch dies soll als Anstoss zur weiteren Auseinandersetzung verstanden werden. Und noch ein letztes: Es mag für Aussenstehende nicht nachvollziehbar sein, was uns - die Unterzeichnenden - zusammengebracht und über Jahre hinweg zur (durchaus nicht nur linguistischen) Gesprächsrunde gemacht hat. Aber das ist sehr einfach: Es ist Horst Sitta. Er war und ist Kristallisationskern dieser Runde und verkörpert für uns das Interesse und das Engagement für die hier thematisierten Fragen. Ihm ist dieses Buch in Dankbarkeit gewidmet. Edgar Brütsch, Peter Gallmann, Thomas Lindauer, Angelika Linke, Roman Looser, Markus Nussbaumer, Ann Peyer, Paul Portmann und Peter Sieber
Inhalt Einleitung
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Ann Peyer, Paul R. Portmann, Edgar Brütsch, Peter Gallmann, Thomas Lindauer, Angelika Linke, Markus Nussbaumer, Roman Looser Peter Sieber Norm, Moral und Didaktik. Die Linguistik und ihre Schmuddelkinder
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Walter Haas Alpträume eines weitherzigen Pedanten
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Götz Beck Sprachkritik - . Zur Phänomenologie einer Sprachverwirrung
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Gerhard Heibig Deskription, Regel und Norm in der Grammatikschreibung
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Klaus Brinker Normen des Diskutierens und ihre Markierung in Fernsehdiskussionen. Ein gesprächsanalytischer Beitrag
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Iwar Werlen «aber immerhin ...»: Enttäuschung und Trost. Zur kommunikativen Bewältigung des Scheiterns in einem Radiospiel
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Eva Neuland Miteinander Reden Lernen. Überlegungen zur Förderung von Gesprächskultur
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Hubert Ivo Didaktische Reduktion in Adelungs Grammatiken des Deutschen. Aktuelle Erinnerungen an sprachdidaktische Probleme im toten Winkel......
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Inhalt
Otto Ludwig Der Unterricht findet nicht statt: Zur Schreibpraxis der reformierten Oberstufe
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Jürgen Baurmann Was Kinder über das Schreiben wissen. Eine empirische Untersuchung
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Albert Bremerich-Vos Aspekte des Schriftspracherwerbs. Stufentheorien, das «Neue» und die Lehrer-Schüler-Interaktion
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Ingelore Oomen-Welke Von der Nützlichkeit der vielen Sprachen, auch im Deutschunterricht
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Die Beiträgerinnen
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Einleitung «Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, Sing nicht ihre Lieder. Geh doch in die Oberstadt, Mach's wie deine Brüder.» (Franz Josef Degenhardt, 1965) Nirgends werden soziale Unterschiede so deutlich in Topographie umgesetzt wie in der Stadt. Nehmen Sie Zürich, zum Beispiel: Die wirklich besseren Leute wohnen - immer noch - in der Oberstadt, am Zürichberg, während die ändern in der Unterstadt wohnen, am RUSS hinter dem Hauptbahnhof, ausserhalb der alten Schanzen. Wer immer kann, zieht in die besseren Quartiere. Wo die Distanz nicht topographisch hergestellt werden kann, müssen Symbole, muss die soziale Semiotik der äusseren Attribute und des gesellschaftlichen Auftritts zur sozialen Abgrenzung herhalten. So scheiden sich die Reinlichen, Adretten und sauber Gekämmten von den «Ändern». Wie jede Gesellschaft soziale Stratifikation und Marginalisierung kennt, kennt auch die Linguistik ihre gehobenen Disziplinen und ihre weniger reputierlichen Unterstädte. Und wie sich in den Städten das Leben eher in den etwas anrüchigeren Quartieren abspielt und nicht so sehr in den ruhigen und manchmal etwas verschlafenen Villenvierteln, so ist es auch in unserer Disziplin: Viele der wirklich spannenden Fragen werden in die niedrigen Bereiche der Bindestrichlinguistiken verbannt. Dazu gehören vor allem Fragen, die mit Werturteilen verbunden sind, wie diejenigen nach «richtig» und «falsch», «schön» und «hässlich», «gut» und «böse». Werturteile erfolgen immer von'einem Standpunkt aus, sind ideologieverdächtig. An den feinen Adressen der Linguistik beschäftigt man sich dagegen mit der ideologiefreien reinen Lehre, mit dem, «was ist» ... Und so thront denn die Linguistik in Zürich gemeinsam mit ihren akademischen Brüdern und Schwestern in den Tempeln der Wissenschaften (in der Eidgenössische Technische Hochschule und der Universität) sinnigerweise am Zürichberg, hoch über der Stadt, und die Hauptportale dieser Gebäude öffnen sich nicht etwa zur Stadt hin, sondern auf die andere Seite, zu den besseren Quartieren am Berg.
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Einleitung
Da jedoch sonst im wissenschaftlichen Kontext solche topographischen Auszeichnungen meist fehlen, hat die Linguistik - ebenso wie andere Wissenschaften - ein Arsenal von Attributen entwickelt, die die Gehobenheit ihres Tuns und Daseins deutlich machen. Dazu gehört in erster Linie die Sprache, in der wir unser Wissen darlegen: Sie ist ernst, sachlich, nüchtern, präzise und auf keinen Fall lustig. Gerne schwer verständlich. Notfalls langweilig. Dasselbe gilt für die Aufmachung der Bücher, in denen wir die Ergebnisse unserer Forschung präsentieren: Ihre Schmucklosigkeit dokumentiert unsere Seriosität, ihre Abstinenz bezüglich graphischer Auflockerung und Illustration durch Bilder verweist auf den Abstraktionsgrad unseres Schaffens. Die Oberstadt kann als Lebenswelt genügen - es ist nicht nötig, einen FUSS in die Unterstadt zu setzen. Wer es dennoch tut, tut dies mit Gründen. So kann man Linguistik betreiben und die aufgeführten Fragen zwanglos umgehen. Man kann diese Fragen sogar als nicht linguistisch deklarieren. Allerdings liegt der Verdacht nahe, dass man, selbst wenn man die genannten Fragen (und ähnliche weitere) einfach umgeht, es dennoch hinterrücks mit ihnen zu tun bekommt, und sei es nur, dass die Abgrenzung ihnen gegenüber den Bereich der «reinen» Linguistik indirekt mit definiert. Und das würde bedeuten, dass diese Fragen eigentlich nie vom Tisch sind. Uns scheint deshalb sinnvoller, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen, bevor sie sich selbst in Erinnerung rufen. Wir wollen also für einmal nicht in die Oberstadt gehen, sondern mit den Schmuddelkindern spielen und ihre Lieder singen. Und: wir wollen andere dazu verleiten, es uns gleich zu tun. Das ist das Thema unseres Buches. Neben anderen denkbaren Stichwörtern haben wir Norm, Moral und Didaktik als prototypische Schmuddelkinder der Linguistik herausgegriffen. Diese Problemfelder sind nicht «rein», sie stehen - was noch schlimmer ist - unter Ideologieverdacht. Und den werden sie nie los. Wenn eine Frage, eine Theorie, eine Methode Ideologie verdächtig ist, dann ist etwas daran, was «zuviel» ist. Sie vertritt - oder verlangt - dann einen Standpunkt. Norm, Moral, Didaktik - sie werden ihr ideologisches Moment nie verlieren, es gehört zu ihnen, sie werden in dieser Hinsicht nie sauber. Sie sind zu sehr dem Leben
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verpflichtet, in ihnen machen sich Absichten und Zwecke bemerkbar, die quer stehen zu den kanonischen Eigenschaften einer reinen Disziplin. Diese Zwecke sind nicht wissenschaftlicher Natur, nicht theorieinhärent, sie werden vielmehr von aussen vorgegeben und tendieren dazu, wissenschaftliche Gesichtspunkte verschiedener Art ausser Kraft zu setzen. Dass wir gerade die genannten Bereiche - Norm, Moral und Didaktik - thematisieren, ist bis zu einem gewissen Punkt zufällig. Wir sind, in verschiedensten Diskussionen, auf sie gestossen, und es hat uns gereizt, uns - in unserem eigenen Interesse - näher mit ihnen zu beschäftigen. Wir haben den Eindruck, dass die zünftige Linguistik gegenüber den Fragestellungen, die wir unter diesen Stichwörtern subsumieren, Berührungsängste hat. Es scheint uns aber nötig und wichtig, sich damit auseinanderzusetzen. Zu diesem Buch Mit dem genannten Ziel, die eingeschlafene Auseinandersetzung der «reinen» Linguistik mit ihren Schmuddelkindern Norm, Moral und Didaktik wieder in Gang zu setzen, haben w|r verschiedene Fachleute gebeten, diese Fragen im Kontext ihres je spezifischen Forschungsbereiches zu thematisieren und uns ihre Überlegungen für dieses Buch zur Verfügung zu stellen. Das ganz und gar vorläufige Ergebnis unserer eigenen Gespräche über die Schmuddelkinder stellen wir im Sinne einer Einleitung an den Anfang. Wir stellen die Beiträge nachstehend in der Reihenfolge vor, in der sie im Buch erscheinen. Mit dieser Reihenfolge versuchen wir, die Beiträge, soweit dies möglich ist, jeweils einem der drei Stichwörter Norm, Moral und Didaktik - in dieser Abfolge - zuzuordnen, was nicht ausschliesst, dass die Beiträge mehrere dieser Stichwörter gleichzeitig aufgreifen. Der Beitrag von WALTER HAAS thematisiert den Zwiespalt der Sprachwissenschaftlerinnen zwischen den Normen, die sie als Hochschullehrerinnen «exekutieren», und denen, die sie als Sprachwissenschaftlerinnen vertreten würden. Wer linguistisch tätig ist, sieht sich nicht nur den üblichen äussern, sondern auch innern Schwierigkeiten gegenüber, Lehre und Forschung zu verbinden. Aus der Theorie, der die Forschung verpflichtet ist, kann sich ein Widerspruch zur Praxis,
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der die Lehrenden verpflichtet sind, ergeben: «Wissenschaftliche» Sprachauffassung schliesst normative Eingriffe in das Sprachverhalten anderer eher aus, «alltägliche» Sprachauffassung veranlasst die Lehrenden, auch jene der Linguistik, dauernd zu Korrekturhandlungen an den Sprachprodukten der Lernenden. Zu ihrem Glück - so Walter Haas - bemerken die naiv Korrigierenden den Widerspruch kaum; der Beitrag möchte ihr Glück stören. GÖTZ BECK fragt, warum sich die Wissenschaft mit Normen speziell die (Sprach-)Wissenschaft mit Sprachkritik - so schwer tue. Das Vertrauen in die Eigengesetzlichkeit der Sprache mit seiner doppelten Wurzel - romantische «Sprachgeist»-Tradition und liberalevolutionistisches Marktdenken - erklärt alle Eingriffe in sprachliche Entwicklungen für verfehlt so wie alle Befürchtungen eines dramatischen «Abfalls» unserer Sprachsensibilität für übertrieben. - Dagegen stellt der Autor die These, dass von «Verfall» kompetenzieller Standards sehr wohl die Rede sein könne: Die linguistische Leugnung der Symptome habe bisher nur denen zu einem guten Gewissen verhelfen, die sie interesseorientiert ignorieren. Daran anschliessend stellt der Autor «Defizit»-Typen zusammen, die als Argumente für einen sprachlichen «Niedergang» gebraucht werden, und teilt - in etwas sensiblem Bezug zum Thema «Sprachverfall» - Ergebnisse einer Umfrage unter Deutsch-Lehrer und -Studenten bzgl. ihrer Korrekturtoleranz-Schwelle mit. Der Beitrag von GERHARD HELBIG diskutiert das Verhältnis von deskriptiver und normativer Grammatik, erörtert die (unklaren) Beziehungen zwischen Regel und Norm und fragt nach den «Übergängen» von der Deskription über die Regelfindung und Regelformulierung bis hin zur - didaktisch umgesetzten - Norm. Dies erfolgt auf dem Hintergrund der noch allgemeineren Problemstellung, wie weit bei diesem Weg die Kompetenz der Linguistik reicht und welche Beziehungen überhaupt zwischen Linguistik, Didaktik und Fremdsprachenunterricht bestehen. KLAUS BRINKER befasst sich in seinem Beitrag mit Normen, die das Verhalten von Diskussionsteilnehmerinnen steuern. Ausgehend vom idealen Diskussionskonzept untersucht sein Beitrag, welche Bedeutung die Diskutierenden in Fernsehdiskussionen den Normen des Diskutierens (Gleichberechtigung, Sachlichkeit, Ernsthaftigkeit, Ra-
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tionalität) explizit zusprechen. Da normgerechtes Diskutieren in der Regel unmarkiert bleibt, werden solche Äusserungen analysiert, mit denen die Diskutierenden Norm Verletzungen feststellen bzw. monieren und dadurch die jeweilige Norm markieren. Aus der Analyse ergeben sich Hinweise auf die tatsächliche Funktion dieser Nonnen in Fernsehdiskussionen. Diskursive Normen wie Gleichberechtigung etc. haben nicht nur einen moralischen Klang, es sind wohl auch Normen, für die man letztlich nur von einem ausserlinguistischen Standpunkt argumentieren kann. Mit anderen Worten: Es geht in diesem Text letzlich auch um Fragen der Moral in dem Sinne, wie sie in unserem einleitenden Beitrag angeschnitten sind. Ebenfalls um «moralische Fragen» - genauer: um den öffentlichen Umgang mit Gefühlen -, geht es im Beitrag von IWAR WERLEN. Ausgehend von der Überlegung, dass Gefühlsausdruck und kommunikatives Umgehen mit Gefühlen in der Sprachwissenschaft wenig Beachtung gefunden haben, wird das Scheitern von Kandidatinnen und Kandidaten in einem Radioquiz untersucht. Es zeigt sich ein allgemeines Grundmuster von Enttäuschung und Trost, das im einzelnen in Transkripten vorgeführt wird. Dabei wird deutlich, dass regelmässig bestimmte Partikel(kombinationen) eingesetzt werden und auch, dass das Scheitern in einem solchen Spiel nach einem korrektiven Austausch ruft. All dies zusammen deutet darauf hin, dass hier soziale Normen des Umgehens mit Emotionen eine Rolle spielen, denen Menschen im Alltag folgen und die zu entsprechenden sprachlichen Verhaltensmustern führen, ohne dass die Sprachwissenschaft sie schon fassen könnte. Wo sich die Gesprächsforschung im Sinne linguistischer Gespächsanalyse noch an Fragen von Norm und Moral vorbeidrücken kann - wenn sie es auch nicht notwendigerweise tun muss, wie die Beiträge von Klaus Brinker und Iwar Werlen zeigen - kann sich schulische Gesprächsförderung solchen Fragen nicht entziehen. EVA NEULAND thematisiert in ihrem Beitrag das Verhältnis von Linguistik und Didaktik, speziell das Verhältnis von Gesprächsforschung und Gesprächsförderung. Nach einer Belebung der Forschungen zur gesprochenen Sprache und zur mündlichen Kommunikation in den 70er Jahren weist die fachdidaktische Diskussion um die Gesprächsförderung im Unterricht ab Mitte der 80er Jahre einen gewissen
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Stillstand auf. Dies steht in auffälligem Kontrast zur Bedeutsamkeit mündlichen Sprachgebrauchs im ausserschulischen und schulischen Alltag. Dem Beitrag von Eva Neuland ist es ein Anliegen, herauszustellen, dass gerade die durch den technologischen und kulturellen Wandel bedingten Veränderungen der gesellschaftlichen Kommunikationspraxis und das Aus- und Weiterbildungsbedürfnis der Lernenden und Lehrenden ein erneutes Nachdenken über die Förderung von Gesprächskultur heute erforderlich machen. Die letzten fünf Beiträge unseres Buches lassen sich ganz unserem Stichwort «Didaktik» zuordnen; sie thematisieren Fragen, die sich die «reine» Linguistik zum Teil bereits stellt, zum anderen Teil stellen sollte, und sie thematisieren diese Fragen aus der konkreten Schulwirklichkeit heraus, das heisst, sie betreiben in diesem Sinn zumindest ansatzweise das, was wir in unserem einleitenden Beitrag SchulLinguistik nennen. Einem sehr grundsätzlichen didaktischen Problem, nämlich der Modellierung von Lerngegenständen, ist der Beitrag von HUBERT Ivo gewidmet. In den gegenwärtigen didaktischen Erörterungen wird stillschweigend vorausgesetzt, dass Lernthemen für allgemeinbildende Schulen nicht durch didaktische Reduktion wissenschaftlicher Modelle gewonnen werden können. Dagegen finden Fragen Beachtung, die darauf zielen, die Subjekt- und situationsbezogenen Aspekte von Lernthemen zur Geltung zu bringen. Der Beitrag versucht dem gegenstandsbezogenen Aspekt solcher Modellierung Beachtung zu verschaffen, indem er an einem herausragenden Schulbuchereignis (dem Erscheinen der Grammatiken Adelungs) aufzeigt, dass die damals wissenschaftliche und didaktische Thematisierung von Sprache identisch war. Später ist diese Identität verloren gegangen, die Fiktion einer solchen Identität aber normativ in Anspruch genommen worden. Diese normative Fiktion ist von den Reformern der 60er und 70er Jahre kritisiert worden, um unter anderem zu einer didaktisch relevanten Thematisierung von Sprache vordringen zu können. Die These des Beitrags lautet: Dieses Ziel ist nicht gegen, sondern im Anschluss an die abgebrochene Tradition zu erreichen. OTTO LUDWIG geht von der provokanten These aus, dass in der reformierten Oberstufe deutscher Gymnasien kein Unterricht im Schreiben stattfinde. Zwar werde geschrieben, aber in erster Linie
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Klausuren, das heisst, Schreiben sei in seiner Funktion auf die schriftliche Reproduktion von Wissen festgelegt, und zwar zu dem einen Zweck, angeeignetes Wissen zu kontrollieren. Festgestellt wird also einerseits eine einseitig ausgerichtete Praxis des Schreibens, andererseits das fast völlige Fehlen von Unterricht im Schreiben. In seinem Beitrag arbeitet der Autor die Voraussetzungen und Bedingungen einer solchen Schreibpraxis heraus und zeigt, dass die Vorstellungen vom Schreiben unangemessen reduziert sind und die Fähigkeiten von Schülern und Schülerinnen, sich schriftlich auszudrücken, verkannt werden. Schreiben in der Schule ist auch das Thema des Beitrags von JÜRGEN BAURMANN. Im Rahmen einer empirischen Untersuchung ist bei insgesamt 118 Erst- und Zweitklässlern ermittelt worden, was sie über das Schreiben wissen, welche Vorlieben sie haben und welche Konzepte sich bei ihnen herauszubilden beginnen. In ihrer Mehrheit verweisen die Anworten auf einen erheblichen Einfluss des Elternhauses; die Wirkung der Schule erweist sich dagegen als erstaunlich gering. Insbesondere die Antworten zu Vorlieben und Konzepten zeigen, dass Schulanfängerinnen insbesondere mit dem «nicht-integrierten Schreiben» vertraut sind. Zwischen Erst- und Zweitklässlern und auch zwischen Mädchen und Jungen bestehen innerhalb aller drei Bereiche (Wissen, Vorlieben, Konzepte) keine signifikanten Unterschiede. ALBERT BREMERICH-VOS befasst sich ebenfalls mit einer Fragestellung im Zusammenhang mit dem Schriftspracherwerb, genauer mit den Vorstellungen, die sich die Linguistik und Didaktik davon machen. In der aktuellen Debatte um den Schriftspracherwerb haben Stufenmodelle Konjunktur, die zwar im einzelnen unterschiedlich ausfallen, sich aber derselben Grundidee verdanken. Demnach nähern sich die Kinder der Schriftstruktur «eigenaktiv», «selbsttätig», wobei sie im Lichte «neuer» Evidenz alte «Stufen» oder auch «Phasen» «überwinden». Der Autor ist der Auffassung, dass in diesem Rahmen letztlich nicht verstanden werden kann, wie «Neues» gelernt wird. Sein Plädoyer geht dahin, den genetischen Individualisums, der seines Erachtens den Stufentheorien zugrunde liegt, zugunsten eines genetischen Interaktionismus aufzugeben. Lässt man sich auf diesen Vorschlag ein, dann gewinnen Fragen, die mit der «Qualität der
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schulischen Lehre» zu tun haben, neues Gewicht. Dies wird abschliessend anhand von zwei Bereichen der Rechtschreibung gezeigt, der Schärfung und der Grossschreibung. Der Beitrag von INGELORE OOMEN-WELKE zeigt - noch einmal und programmatisch -, wie wichtig es ist, die konkrete Schulwirklichkeit in Überlegungen zum Sprachunterricht einzubeziehen. Das Fach Deutsch wird als Muttersprachenunterricht geplant und nach traditioneller Art unterrichtet, obwohl Deutsch für viele Schülerinnen und Schüler nicht die Muttersprache ist. Auf die faktisch vorhandene Zweisprachigkeit wird selten eingegangen, und für das Lernen wird sie nicht genutzt. - Der Beitrag zeigt an Beispielen, dass und wie geeignete Situationen und Schülerreflexionen im Unterricht unbeachtet übergangen werden. Er stellt einen Vorschlag zur Diskussion, wie die Sprachaufmerksamkeit und die anderen Sprachen der Schülerinnen und Schüler im Deutschunterricht ihren Platz finden könnte, wie das Lernen für alle interessanter und aspektreicher wird und wie die gesellschaftliche Mehrsprachigkeit im Rahmen geltender Lehrpläne nutzbar gemacht werden kann. Wir selbst haben uns - diskutierenderweise und über einen längeren Zeitraum hinweg - mit der Frage auseinandergesetzt, wo die «saubere» und «reine» Linguistik aufhört und ihre schmuddeligen Quartiere anfangen und was die Kriterien sind, denen diese Ein- und Ausgrenzungen folgen. Und wir haben drei Schmuddelkinder ausgewählt und uns mit ihnen etwas eingehender auseinandergesetzt. Die vorläufigen Ergebnisse dieser Auseinandersetzung stellen wir im Sinne einer Einführung und eines Diskussionsanstosses an den Anfang dieses Bandes. Ann Peyer, Paul R. Portmann
Ann Peyer, Paul R. Portmann, Edgar Briitsch, Peter Gallmann, Thomas Lindauer, Angelika Linke, Markus Nussbaumer, Roman Looser und Peter Sieber
Norm, Moral und Didaktik Die Linguistik und ihre Schmuddelkinder Vorbemerkung Wenn unsere nachfolgenden Überlegungen und die daraus abgeleiteten, durchaus programmatisch zu verstehenden Stellungnahmen nicht immer ganz widerspruchsfrei sind, wenn nicht immer so ganz klar wird, wie weit unsere Sympathie für die Schmuddelkinder geht und zu welchen Bedingungen wir wirklich mit ihnen spielen wollen, so widerspiegelt das lediglich die Situation, wie sie ist: Wir werfen Probleme auf, aber wir haben sie - auch für uns - noch nicht gelöst. Wir wollen keine falschen Versöhnungen, und wenn wir bestimmte Berührungsängste der Linguistik beim Namen nennen und die Auseinandersetzung mit eingeschliffenen Tabus einfordern, so möchten wir dies in erster Linie als Anstoss zur Diskussion verstehen. l
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«[Der] Duden hat kapituliert vor der öden Mode der nur noch deskriptivem Linguistik: In seinem sechsbändigen Grossen Wörterbuch der deutschen Sprache (erschienen 1976 bis 1981) verzichtet er darauf, Normen zu setzen, gut und schlecht zu unterscheiden - er registriert nur noch. [...] Während beim Skispringen immer noch Kampfrichter über die korrekte Haltung wachen (und durchaus nicht immer den zum Sieger erklären, der am weitesten gesprungen ist), hat die Duden-Redaktion ohne Not ihr Richteramt gegen eine Registratur vertauscht.» (Schneider, Wolf: Deutsch für Profis. Wege zu gutem Stil. 5. Auflage, Hamburg 1988. Seite 11.) - Diesen Vorwurf würde Schneider wohl auch gegenüber der zweiten Auflage des Grossen Wörterbuchs der deutschen Sprache wiederholen.
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Wenn Schneider der Duden-Redaktion mit kernigen Worten ein falsche «Gesinnung» vorwirft (Schneider 1988, Seite 12), dann will er damit auch die Sprachwissenschaft treffen. Der Vorwurf ist nicht unberechtigt, wohl aber zu wenig differenziert. Und seien wir ehrlich: Er trifft uns auch nicht besonders. Tatsächlich hüten wir Wissenschaftlerinnen uns gewöhnlich davor, in Sprachangelegenheiten als «Richter zu amten». Ob das bedauerlich ist oder nicht, sei vorerst einmal dahingestellt. Dennoch: Selbst wenn wir nur beschreiben und nicht vorschreiben, wirken wir unweigerlich am Normbildungsprozess mit. Unser «Registrieren» beeinflusst das Normieren - nicht zuletzt durch die Auswahl dessen, was wir überhaupt für registrierwürdig halten. Zudem gibt es durchaus Bereiche, in denen wir als Linguistinnen Normen setzen. Nur reflektieren wir diese Tätigkeit in aller Regel nicht. Wenn überhaupt, müsste uns der Vorwurf mangelnden Nachdenkens über die normierende Wirkung unserer Arbeit viel tiefer treffen als Schneiders Anwurf. Wir wollen darum der Frage nach der Beziehung der Linguistik zur Norm etwas weiter nachgehen. Vielleicht wird dann auch klarer, ob Norm für die Linguistik tatsächlich ein Schmuddelkind ist. 1.1 Norm und Varianz Der Normbegriff ist äusserst schillernd, der Begriffswirrwarr im Bereich «Sprache und Norm» kaum zu bewältigen. Es ist nicht unsere Absicht, hier klärend in die Diskussion einzugreifen. Wir müssen uns aber kurz darauf einlassen, was wir unter «Norm», konkreter unter «sprachlicher Norm» verstehen. Nonnen sind Handlungsanweisungen, Richtlinien für das menschliche Verhalten, «inhaltlich bestimmte Regulative», allgemein anerkannte, als verbindlich geltende Regeln für das Zusammenleben der Menschen. Ganz wesentlich ist dabei der überindividuelle Aspekt von Normen: Nicht unter den Normbegriff fallen damit für uns Regularitäten, die nur individuell gebunden sind. Wenn zum Beispiel jemand konsequent Thür und Thor mit h schreibt, so hält sich dieser Mensch wohl an eine Regel, aber nicht an eine allgemein anerkannte; wir sprechen in diesem Fall nicht von einer Norm. Zum Begriff der Norm gehört also wesentlich der Aspekt des Überindividuellen. Das
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Individuelle spielt aber gleichwohl eine Rolle: Die überindividuellen Normen gehen in die Verhaltensweisen der Einzelnen ein, werden von ihnen internalisiert, und umgekehrt können die individuellen Vorlieben und Besonderheiten profilierter Mitglieder der Gesellschaft in die überindividuellen Normen einfliessen. Die Internalisierung der Normen ist allerdings kein absoluter Vorgang: auch wenn sich die Individuen gewöhnlich von den Normen leiten lassen, kann es vorkommen, dass sie unbewusst oder bewusst gegen eine Norm verstossen. Die Internalisierung der Normen ist auch kein automatischer Vorgang: Normen müssen zumindest teilweise aktiv erlernt werden. Dass ein Verhaltensmuster eine Norm darstellt, bedingt nicht, dass sie versprachlicht bzw. kodifiziert wird; sie kann auch auf stillschweigendem Konsens basieren oder aufgrund (unterstellter) Macht existieren; wir sprechen dann von einer impliziten Norm. Versprachlichte Normen sind explizite, festgesetzte Normen; sie können entweder nur ausgesprochen oder aber auch aufgezeichnet werden; im letzten Fall handelt es sich um kodifizierte Normen. Weil die Gesellschaft einem steten Wandel unterworfen ist, ändern sich auch die überindividuellen Normen. Dies zeigt sich am deutlichsten bei den gesetzten Normen, die durch einen bewussten Akt verändert werden. Normen etablieren sich in Bereichen des Lebens, wo - zumindest der Möglichkeit nach - verschiedene Arten des Verhaltens oder des Handelns möglich sind. Norm setzt also Varianz voraus - und negiert Varianz zugleich, indem von den denkbaren Varianten nur eine als gültig gesetzt wird. Dass hinter Normen immer latent konkurrierende Verhaltensweisen stecken, ermöglicht es, die Einhaltung der Normen zur Grundlage für die soziale Bewertung, für die Einstufung von Individuen zu machen. Die Normen sind die Bezugsgrössen dafür, ob Menschen als konform oder nonkonform eingestuft werden. Die Einhaltung von bestimmten Normen ist immer auch mit einer bestimmten Wertung verbunden, und der Verstoss gegen eine bestimmte Norm führt - sofern er erkannt wird - oft zu (leichten oder schweren) Sanktionen.
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1.2 Sprachliche Normen Sprachliche Normen sind Teil der sozialen Normen; sie regeln das kommunikative Handeln der Menschen und betreffen alle Bereiche der Sprach- und Kommunikationsfähigkeiten. Sprachliche Normen stammen aus der vielfältigen, variantenreichen Sprachwirklichkeit. Sie bilden eine verbindliche Auswahl aus den verallgemeinerbaren sprachlich-kommunikativen Tätigkeiten einer Gesellschaft und wirken auf diese regulierend zurück. Das Individuum muss über - bewusste oder unbewusste - sprachliche Normen verfügen, will es einigermassen konfliktfrei kommunikationsfahig sein. Normen dienen ihm als Orientierungshilfe und erleichtern damit sein Handeln. Gewiss: Normen werden zuweilen als einengend empfunden; Ausbrüche aus dem Normengefüge sind eine Folge davon. Aber ohne Normen könnte das Individuum nicht in einer Gesellschaft leben; die absolute Normenlosigkeit im sprachlichen Handeln wäre mit so vielen Reibungsverlusten und Konflikten verbunden, dass das Individuum handlungsunfähig würde. Strittig ist deshalb nicht, ob Normen überhaupt nötig sind, sondern in welchen Bereichen und in welchem Grad der Verbindlichkeit. Dass Normen aus dem Bedürfnis erwachsen, Varianz und damit Unsicherheit abzubauen, zeigt sich besonders deutlich im schriftlichen Bereich. Der Grund, dass der Normierungsbedarf hier grosser ist als im mündlichen Bereich, ist eher technischer Natur: Lesen ist ein störungsanfälligerer Prozess als Zuhören. Dies hat unter anderem dazu geführt, dass sich explizite orthographische Nonnsysteme entwickelt haben, die in Regelwerken kodifiziert sind. Während sich im 19. Jahrhundert noch mehrere (nicht allzusehr voneinander abweichende) Normsysteme konkurrenziert haben, liegt der heutigen geschriebenen deutschen Standardsprache ein einziges Normsystem zugrunde. Wie gesagt: Hinter jeder Norm lauert die Varianz. Das gültige Normsystem ist nicht das einzig denkbare. Die Rechtschreibreform bzw. die periodisch immer wieder auftauchende Diskussion um eine solche illustriert das deutlich. Die Diskussion wird durch den Umstand erleichtert, dass die orthographischen Normen kodifiziert sind. Sie sind gerade durch ihre Explizitheit zugänglicher als andere Normsysteme der Sprache.
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Gesprochene Sprache scheint mehr Varianz zu ertragen. Ob eine Person die Wörter ihrer Äusserungen mit schweizerischem, bayrischem, sächsischem, berlinerischem oder hanseatischem Akzent spricht, spielt keine grosse Rolle - Hauptsache, das Gegenüber ist noch imstande, die Wörter zu erkennen. Doch die Varianz ist nicht grenzenlos. Dies wird dann deutlich, wenn jemand die Wörter allzu dialektal gefärbt ausspricht. Im weniger schlimmen Fall muss sich das Gegenüber unangenehm anstrengen, im schlimmeren versteht es gar nichts mehr. Auch strukturell ist die gesprochene Sprache weniger störungsanfällig als die geschriebene. So erträgt sie sehr viele Wiederholungen, Vermischungen von Valenzplänen und Satzbrüche - Varianten im Satzbau, die in geschriebener Form meist nicht akzeptiert würden. Aber irgendwo gibt es auch hier eine Zone, wo eine Äusserung nicht mehr als spontan, sondern als Gestammel erlebt wird. l .3 Sprachliche Normen und Sprachwissenschaft Der Vorwurf an die Sprachwissenschaftlerinnen, sie drückten sich um normative und damit wertende Aussagen, kommt bedrohlich daher. Um beurteilen zu können, wie berechtigt der Vorwurf tatsächlich ist, müssen wir uns darüber klar werden, wo und wie die Sprachwissenschaft überhaupt auf den Normbildungsprozess Einfluss nehmen kann. Die Frage, welche Instanzen Normen festlegen und kontrollieren, ist im Bereich der Sprache weniger klar zu beantworten als etwa im Bereich der Technik. Im Gegensatz zur Technik verfügen wir im Deutschen bei Sprachangelegenheiten über keine eigentlichen «Normenausschüsse», die in legitimierten Verfahren neue Normen einführen könnten. Sprachliche Normen entstehen vielmehr in grosser Mehrheit aus stillschweigender Übereinstimmung, entwickeln sich automatisch und nicht in einem bewussten Akt einer legitimierten Institution. Es gibt Ausnahmen, die bekannteste ist die Rechtschreibung. Doch selbst hier ist der Unterschied zu einer technischen Norm frappant: Das amtliche Regelwerk gilt verbindlich nur für die staatlichen Schulen und die Verwaltungen; in den übrigen Bereichen der Gesellschaft hat es nur den Charakter eines Vorbilds, eines Mu-
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sters. Diese Vorbildfunktion darf aber nicht unterschätzt werden. Sie ist der Grund, dass die Rechtschreibung nicht einfach wie eine technische Norm behandelt werden kann, die von den staatlichen Behörden ohne Rücksicht auf andere gesellschaftliche Kräfte verändert werden kann. Die amtliche Rechtschreibung hat sich im Lauf der Zeit zu einer allgemeinen gesellschaftlichen Norm entwickelt. Eine Änderung der geltenden Norm muss diese gesellschaftliche Gebundenheit berücksichtigen. Ausdruck dieser Gebundenheit ist das Beharren auf etablierten Schreibungen - mögen sie noch so unsystematisch sein: Systematischere Schreibungen wie Keiser, Tron und Hohheit sind den Rechtschreibreformern in der Presse immer wieder vorgeworfen worden. (Dass es gerade diese Wörter sein müssen ...) Wenn es nur um die Kinder ginge - eine Normänderung wäre schnell durchgesetzt. Die Erwachsenen ausserhalb der Schule, die umlernen müssen, bilden aber einen zu bedeutenden Faktor, als dass er vernachlässigt werden könnte: Umlernen ist schwieriger als dazulernen. Die Sprachwissenschaft kann nur den sachlichen Teil zur Normänderung beitragen; sie muss die wissenschaftlichen Voraussetzungen für Rechtschreibreformen liefern. Dazu können gerade auch die Erkenntnisse zum Regelsystem der natürlichen Sprache, die in den letzten Jahrzehnten erheblich ausgeweitet worden sind, Wesentliches beitragen. Die psychologischen Barrieren gegen Normänderungen und gegen das Umlernen müssen hingegen «interdisziplinär» angegangen werden. Die Linguistinnen können sich vor dieser Aufgabe nicht drücken - sie dürfen aber auch nicht mit dieser Aufgabe allein gelassen werden. Während die Sprachwissenschaftlerinnen beim komplexen Normwandelphänomen «Rechtschreibreform» einen mehr oder weniger fest zugewiesenen Platz haben, ist das in anderen Bereichen der Sprache nicht der Fall, und zwar ganz einfach deshalb, weil es keine entsprechenden Normierungsverfahren gibt. Hier kann die Sprachwissenschaft nur im «Untergrund» arbeiten, indirekt auf die Normbildung einwirken. Um nur ein Beispiel aus dem schulischen Bereich zu nennen:
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Die Schule kennt heute einen weitaus breiter gefächerten Schreibunterricht als noch vor ein, zwei Generationen. Natürlich schreiben unsere Schülerinnen und Schüler auch heute noch zuweilen klassische Aufsätze. Aber sie können auch - und das souverän - mit anderen Textsorten umgehen: mit Protokollen, Gedichten, Briefen, Gebrauchsanweisungen ... Diese Änderungen hängen sicher auch mit der Schreibforschung und letztlich mit der «pragmatischen Wende» in der Sprachwissenschaft zusammen, können also als eine positive Langzeitwirkung linguistischen Arbeitens gewürdigt werden. Dass die Linguistik auch in formaleren Bereichen der Sprache nicht unwesentliche Einflussmöglichkeiten hat, zeigt sich, wenn man sich vor Augen führt, wo die Sprachteilhaberlnnen Normen lernen. Menschen eignen sich die überindividuellen sprachlichen Regeln mehrheitlich während der elterlichen und - vor allem - während der schulischen Erziehung an. Wenn Schüler lernen, einen Brief nicht mit «ich» zu beginnen, «wegen» mit dem Genitiv zu verwenden, das Passiv nach Möglichkeit durchs Aktiv zu ersetzen, dann tragen sie diese Nonnen - unabhängig davon, wie sinnvoll sie sind - ihr ganzes weiteres Leben mit sich und tradieren sie unabhängig vom Wandel im Sprachsystem weiter. Als erwachsener Mensch wird es nur mehr eine kleine Anzahl neuer sprachlicher Normen internalisieren müssen und wollen. Das heisst nun aber nichts anderes, als dass die Sprachwissenschaft über den Weg der Didaktisierung linguistischer Ergebnisse Einfluss auf die Normbildung und -Vermittlung nehmen kann. Die erwachsenen Menschen lernen wohl weniger neue sprachliche Normen als Schulkinder, doch auch sie verlangen weiterhin nach normativen Aussagen. Ein typisches Beispiel ist die «Innen-Schreibung» wie in Schülerinnen, Studentinnen. Immer wieder wird die Linguistik dazu aufgefordert, zur «Innen-Schreibung» abschliessend Stellung zu nehmen, sie vorzuschreiben - oder zu verbieten. Die Möglichkeit, sie einfach nur zu empfehlen oder zuzulassen, wird von denen, die normative Forderungen stellen, jeweils dezidiert abgelehnt. Vor allem im schriftlichen Sprachgebrauch verwenden Unsichere zuweilen Ratgeber, die ihnen bei Problemen weiterhelfen, seien das
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nun einschlägige Wörterbücher, Stilfibeln oder telefonische Auskunftstellen. Die Sprachwissenschaft hätte also durchaus Möglichkeiten, in sprachliche Normbildungsprozesse einzugreifen. Ihre Einflussmöglichkeiten darf man aber sicher nicht überschätzen. Schliesslich sind alle gesellschaftlichen Kräfte an der Herausbildung sprachlicher Normen beteiligt (am offensichtlichsten Schulen und andere staatliche Institutionen, Medien, gebildete Laien und eben Sprachwissenschaftlerinnen). Indem die Gesellschaft Sprache verwendet, entwikkeln sich allgemein anerkannte Regeln; die Gesellschaft mindert und entwickelt Varianz auch unabhängig von der Sprachwissenschaft. Ein Beispiel dafür: Die Schweizer Dialekte haben sich in den letzen Jahrzehnten ohne äusseres Zutun - oder sogar gegen das äussere Zutun der Sprachpflege! - einander immer mehr angeglichen. Der Grund liegt in der Mobilität: Wurde ursprünglich in den einzelnen Ortschaften nur je eine einzige Variante gesprochen, kam es durch Zuzug und Wegzug immer mehr dazu, dass die Menschen ein und derselben Ortschaft unterschiedliche Dialektvarianten sprachen. Diese Varianz baute sich dann in einer zweiten Phase wieder ab, wobei der Ausgleich fast immer in Richtung der kommunikativ breiter verwendbaren Formen verlief. Man darf die Einflussmöglichkeiten der Sprachwissenschaft aber auch nicht unterschätzen. Dass in den achtziger Jahren neue Varianten zur Bezeichung von Personen beiderlei Geschlechts aufgekommen sind - darunter die oben erwähnte «Innen-Schreibung» -, hat gewiss auch mit der Förderung durch die feministische Linguistik zu tun. Die Linguistik hat also die Möglichkeit, auf Normbildungsprozesse einzuwirken. Die Frage ist nur, ob sie diese Möglichkeit tatsächlich ergreift und wie weit sie normative Aussagen machen will - und auch machen soll.
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1.4 Die Wissenschaft scheut normative Aussagen wie der Teufel das Weihwasser Eine weitverbreitete und wohl auch zutreffende Ansicht ist: Linguistik wird in unseren Tagen möglichst werturteilsfrei betrieben; als Linguistinnen hüten wir uns vor moralischen normativen Aussagen und flüchten uns in die Deskription sprachlicher Phänomene. Doch andere gesellschaftliche Kräfte verlangen von der Linguistik mehr als Deskription; als Expertinnen in Sachen Sprache werden von uns auch Stellungnahmen und damit Werturteile erwartet, nicht zuletzt in normativen Fragen. Zeugnis dafür sind die etablierten Auskunftsdienste wie Sprach- oder Grammatiktelefone. Wenn auf diese Wünsche nach verbindlichen Normen eingegangen werden soll, stellt sich allerdings ein methodologisches Problem: Wie lassen sich aus den beobachteten allgemeinen systemhaften Variationen des Sprachbaus und des Sprachgebrauchs Normen ableiten, an denen dann die konkreten Instantiierungen des Sprachbaus und des Sprachgebrauchs gemessen werden können? Dieses Problem lässt sich auf zwei Arten lösen. Der eine Weg: Man verschanzt sich als Sprachwissenschaftlerln hinter der Deskription und vertraut darauf, dass die Beschreibung sprachlicher Phänomene in irgendeiner Art normative Auswirkungen hat (oder auch nicht). Man ist dann davor geschützt, für die Bildung und die Auswirkungen der Norm zur Rechenschaft gezogen zu werden. Der andere (und ehrlichere) Weg: Man argumentiert auf dem Hintergrund der Deskription unablässig für Normen oder votiert explizit für Toleranz; man bezieht Stellung aufgrund der beschriebenen Fakten und ist sich bewusst, dass man ganz gewaltig kritisiert werden kann. Wie verhält es sich in der Sprachwissenschaft nun tatsächlich mit den normativen Aussagen? Ist Norm wirklich ein Schmuddelkind unserer Wissenschaft? Es finden sich hier - ganz grob - vier Verhaltensweisen gegenüber der Norm. Wir wollen diese Verhaltensweisen im Folgenden kurz vorstellen und jeweils mit Beispielen aus der Systemlinguistik illustrieren. Verhaltensweise I: Man erforscht nur Bereiche, in denen sich gar keine Varianz findet, beispielsweise die elementaren Gesetzmässig-
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keiten einer Sprache. Und wo keine Varianz vorhanden ist, fehlt auch der Normierungsbedarf. So muss man den Leuten nicht vorschreiben, dass vorangestellte partitive Genitive «unschön», «stilistisch markiert» oder «antiquiert» sind. Die Leute produzieren im heutigen Deutsch ganz einfach keine vorangestellten partitiven Genitive: Nicht: * heissen Kaffees eine Tasse (sondern allenfalls: eine Tasse heissen Kaffees) Verhaltensweise II: Man macht keine normativen Aussagen in sprachlichen Bereichen, die an sich einer Normierung zugänglich wären. Vor allem: Man macht keine wertenden Aussagen, obwohl dies eigentlich erwartet wird. Vielmehr versteckt man sich hinter deskriptiven Aussagen, wohlwissend, dass auch diese normativ wirken können. Wenn man sich davor drückt, eine Vorzugsvariante zu nennen (und diese zu begründen), haben wir es ganz eindeutig mit einem «Schmuddelkind» zu tun. Ein Beispiel: Im Alltag finden sich bei partitiven Attributen zuweilen vier verschiedene Formen: mit einer Tasse heissen Kaffees mit einer Tasse heissem Kaffee mit einer Tasse heissen Kaffee mit einer Tasse heisser Kaffee Nicht alle Varianten gefallen allen Individuen in gleichem Masse die Varianz ist also potentiell konfliktträchtig. Aber nun stellt sich die Frage: Welche Variante soll für korrekt erklärt werden - und warum? Der Wunsch nach Normierung in solchen Fällen wird als schmuddelig empfunden. Aber wenn sich die Linguistik vor einer Entscheidung drückt, springen andere Leute in die Lücke. Das war schon um die Jahrhundertwende so - Leute wie Wustmann mit seinen «Sprachdummheiten» erzielten damals Rekordauflagen. Dies zeigt sich auch heute, wohl am augenfälligsten bei Stilfragen. Kein Wunder also, wirft gerade der heute wohl einflussreichste - mindestens aber kommerziell erfolgreichste - Sprachpfleger, Wolf Schneider, der Sprachwissenschaft eine falsche Gesinnung vor und übernimmt an deren Stelle die Aufgabe, Normen mitzuprägen und zusammen mit anderen
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«Sprachpäpsten und Barrikaden-Kämpfern für grammatische Finessen» stilistische Normen zu setzen (Schneider 1988: 12). Mit gewissem Recht erwartet «die Gesellschaft» von der Sprachwissenschaft, dass sie Stellung bezieht, dass sie sich auch zu normativen Aussagen durchringt und den ganzen Bereich nicht einfach anderen Wissenschaftlerinnen oder gebildeten Laien überlässt. Verhaltensweise III: Man macht normative Aussagen in Bereichen, die einer Normierung zugänglich sind, denkt aber zuwenig darüber nach. Der Mangel an Reflexion kann die technische Ausgestaltung der Norm selber betreffen, aber auch die Kriterien, die zur Entscheidung für eine bestimmte Norm geführt haben. Ein Beispiel für den zweiten Fall: Seit dem Merseburger Zauberspruch gibt es in allen regionalen Varianten des Deutschen eine Konstruktion des Typs Dativ (älter Genitiv) plus Possessivpronomen plus Nomen: dem Bruder sein Fahrrad, der Schwester ihr Fahrrad Warum sind sich eigentlich alle normativen Grammatiker darin so einig, dass diese Konstruktion nicht Bestandteil der standardsprachlichen Normen sein darf? Die Ablehnung bewirkt bei vielen Deutschsprachigen, dass sie meinen, die Konstruktion sei eine skurrile Besonderheit nur gerade ihrer heimischen Sprachregion. Solche Nonnen sind wirklich Schmuddelkinder: ohne Reflexion in die Welt gesetzt und dann völlig vernachlässigt... Verhaltensweise IV: Man macht normative Aussagen und reflektiert diese auch. Leider ist das noch viel zu wenig der Ist-Zustand der Sprachwissenschaft. Wir sind damit bereits bei der Soll-Situation angelangt. Es wäre zu einfach und gegenüber der Gesellschaft auch nicht zu verantworten, wenn die Sprachwissenschaft sich hinter das hehre Ideal einer deskriptiven Wissenschaft zurückzöge und sich normativer Aussagen enthielte. Die Sprachgemeinschaft fordert zu Recht, dass wir Linguistinnen in Normierungsprozesse eingreifen, zu sprachlichen Phänomenen wertend Stellung beziehen. Wir müssen mehr Mut haben zu normativen Aussagen und dürfen nicht den gebildeten Laien das Feld überlassen. Auch wenn jeder Normierungsprozess im komplexen Spannungsfeld aller gesellschaftlichen
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Kräfte abläuft und der Einfluss der Sprachwissenschaft sich dabei letztlich nicht als entscheidender Faktor herausstellen sollte, so ist es doch unabdingbar, dass die Linguistik sich an diesem Prozess beteiligt. Entscheidungen über sprachliche Normen sind immer gesellschaftlich bedingt, die Sprachwissenschaft hat dazu ihren Beitrag zu leisten. Wie sollte die Linguistik sich im Normierungsprozess verhalten? Wir haben es bereits angesprochen: Entscheidend ist vor allem, dass sie nicht einfach normative Aussagen macht, sondern dass sie diese auch hinterfragt, reflektiert. Ein reflektiertes Umgehen mit Normen heisst für uns folgendes: Erstens: Die Linguistik muss Kategorien und Modelle entwickeln, mit denen sie möglichst gut die sprachliche Wirklichkeit erfassen und natürliche Gesetzmässigkeiten und Varianten aufspüren kann. Diese bilden dann die Grundlage auch für explizite, statuierte Normen. Zweitens: Wo natürliche Varianten einander störend konkurrenzieren, muss die Linguistik die Kriterien nennen können, nach denen sie eine der Varianten favorisieren und zur Norm erheben will. Drittens: Die Linguistik muss ihre Erkenntnisse so formulieren und unter Umständen neue Kategorien bilden -, dass sie für die Sprachgemeinschaft verständlich sind. Über beide Aspekte wird in der Regel zu wenig nachgedacht. Zu oft operieren Sprachwissenschaftlerinnen mit nicht durchsichtigen Kategorien, so dass bereits die Beschreibung der sprachlichen Wirklichkeit fragwürdig wird. So tun sich alle Grammatiken mit den traditionell als schwach bezeichneten Nomen (zum Beispiel: Mensch, Bär, Dirigent) schwer: Wann stehen die Formen auf -en, wann die endungslosen Formen? Einmal empfindet man die Form ohne Endung als richtig, einmal die mit Endung: ein Orchester ohne Dirigent / * ohne Dirigenten * ein Ochester ohne eigenen Dirigent / ohne eigenen Dirigenten Dieses Problem bekommt man nicht in den Griff, indem man den schönen alten Kasusendungen nachtrauert und postuliert, dass Nomen grundsätzlich die Endung -en tragen müssen, wenn sie Kern eines Satzteils im Genitiv, Dativ oder Akkusativ sind. Die Lösung besteht hier vielmehr darin, dass man zwischen kasusspezifischen und kasu-
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sindifferenten Formen unterscheidet und auf allgemeinverständliche Weise die Bedingungen nennt, unter denen Nomen im Deutschen den einen oder den anderen Status haben. Zu oft auch werden die Erkenntnisse unverständlich formuliert. Was nützt den Sprachteilnehmerinnen eine raffinierte, wissenschaftlich hieb- und stichfeste Regel, wenn sie sie nicht verstehen? Für das Komma beim Infinitiv können Syntaktiker eine ganz einfache Regel (ohne Unterregeln, Ausnahmen und dergleichen) formulieren: Inkohärente Infinitivgruppen werden mit Komma abgetrennt, kohärente nicht. Nun gut - aber was heisst hier inkohärent bzw. kohärent? Die Erläuterung dieses grammatischen (nicht orthographischen und auch nicht textlinguistischen) Begriffspaares ist so anspruchsvoll, dass die Kommaregel als nicht volksschultauglich klassifiziert werden muss. In der Neuregelung der deutschen Rechtschreibung hat man darum den Ausweg wählen müssen, das Komma bei Infinitivgruppen faktisch freizugeben. Erst ein reflektierter Umgang mit Normen führt zu «vertretbaren» Normen. Vertretbar sind Normen für uns, wenn folgende Fragen an die jeweilige überindividuelle Regel gestellt werden: Ist die Norm effizient? Ineffizient ist eine Regel mit Bestimmtheit, wenn sie noch zwanzig Unterregeln nach sich zieht oder wenn sie unecht (d. h.: nicht auf jeden vorkommenden Einzelfall anwendbar) ist. Ein Beispiel für Ineffizienz sind die Apostrophregeln vor der Neuregelung der Rechtschreibung. Diese Regeln sollten eigentlich auf Wortformen angewandt werden, die irritierend wirken können. Die konkreten Regeln waren aber so kompliziert, dass eine Kosten-Nutzen-Analyse nur zum Schluss kommen konnte: Es muss auch ohne diese Regeln gehen. Dies wurde mit der Neuregelung der Rechtschreibung auch weitgehend erreicht. Ist die Norm wichtig? Das heisst: entspricht sie überhaupt einem Bedarf? Als Beispiel können wir gleich noch einmal die Apostrophregeln beiziehen: Ist es so wichtig, dass wir den Leserinnen mit einem Hak-
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chen vor Augen führen, dass Verbformen wie die folgenden gemäss bestimmten (ihrerseits hinterfragbaren) morphologischen Normen auf -e ausgehen müssten? Ich bring ihr das schon noch bei. Wie bring ich ihr das nur bei? Wenn die Frage nach der Wichtigkeit negativ ausfällt, muss auch der Normbedarf negiert werden. Mit der Wichtigkeit ist auch die Frage nach der Frequenz der Norm angesprochen. So ist eine Norm für die Kurzform des überaus häufigen Pronomens es sicher wichtiger als eine Norm für poetische Kurzformen wie: in diesen heil'gen (oder heiigen?) Hallen ... Ist die Norm lernbar? Eine Regel, die nur schwer lernbar ist, taugt nicht und findet keine sinnvolle Anwendung. Wenn etwa sehr viele Menschen Mühe haben, die Kommaregeln korrekt anzuwenden, dann liegt hier das Problem wohl in erster Linie daran, dass sie zu wenig gut erlernbar sind. Bei der Neuregelung der deutschen Rechtschreibung ist darum sehr darauf geachtet worden, die Normen klarer zu präsentieren, damit sie auch leichter erlernt werden können. Ist die Norm überprüfbar? Normen, deren Einhaltung nicht überprüft werden kann, sind keine Normen. Nicht überprüfbar ist zum Beispiel die folgende immer wieder zitierte Duden-Norm: «Im Zweifelsfall schreibt man klein.» Das Problem ist hier: Wann ist etwas ein Zweifelsfall - und vor allem: für wen? Für den Lexikographen? Für die Lehrerin? Für den Schüler? Die Fragen, die wir in den obenstehenden Zeilen an die Normen gestellt haben, sind nur ein Teil der Fragen, die gestellt und beantwortet werden müssen. Hier tut sich also ein weites und unseres Erachtens auch interessantes Forschungsgebiet für die Linguistik auf ein Gebiet, in dem viele Schmuddelkinder darauf warten, entdeckt und entschmuddelt zu werden.
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Um es gleich vorweg zu nehmen: Die folgenden Ausführungen sind wenn auch in Form und Inhalt schweizerisch gemässigt - eine Argumentation gegen eine «platonisch betriebene», mit Blick auf Werturteile abstinente und allenfalls methodisch Position beziehende Sprachwissenschaft. Dahinter steckt die implizite, hiermit aber explizit gemachte Wertung, dass eine auch in sprachlichen Wertungsfragen Stellung beziehende Sprachwissenschaft besser ist als eine, die dies nicht tut. Und mit dieser Wertung wiederum - das ist nicht zu verhindern - gliedern auch wir uns in die post-postmodernen Zeitgeist-Diskussionen ein, wie sie im Augenblick in den Geisteswissenschaften geführt werden und in denen dem «anything goes» der 80er Jahre die Forderung nach verantwortungsbewusstem Handeln entgegengehalten wird, nach einem Handeln, das auf Entscheidungen beruht, die sich (auch) an moralischen Werten orientieren. Mit anderen Worten: Alle reden von Moral - wir auch. Und wir geben zu, dass wir «Moral» eher als Schlagwort verwenden, als Assoziationsbegriff für eine - gewissen ausserlinguistischen Werten und Werturteilen verpflichtete - Dimension der Betrachtung von Sprache, die im fachwissenschaftlichen Umgang mit diesem Untersuchungsobjekt meist ausgeschlossen bleibt. Wer wie wir - die Herausgeberinnen dieses Bandes - sein Studium im wesentlichen in den 70er und 80er Jahren absolviert hat, dem ist in diesem Studium die «Moral» in einzelnen Bereichen sicher noch heftig und mit viel Anspruch begegnet, über die Jahre hinweg ist sie ihm aber wohl ganz allmählich und vielleicht auch ganz unbemerkt abhandengekommen. Moralische Wertungen prägten zum Beispiel die Ansätze zur Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit der germanistischen Sprachwissenschaft und lagen auch verschiedenen Arbeiten zur linguistischen Analyse der Sprache im Nationalsozialismus mehr oder weniger explizit zugrunde. Wer sich als Studentin oder Student mit diesen Bereichen und Themen beschäftigte, verband damit meist auch die Vorstellung, die moralisch bessere, weil «gesellschaftlich relevante» Linguistik zu betreiben, und es galt im linguistischen Selbstverständnis durchaus (noch) als modern, die Welt des werte-
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freien Elfenbeinturms verlassen zu haben bzw. sie gar nicht erst zu betreten. Allerdings: So ganz ungetrübt war das Vergnügen an einer gesellschaftlich relevanten, mit Blick auf das Wohl dieser Gesellschaft und ihrer Gruppierungen «guten» und damit notwendig moralischen Wissenschaft nicht. Denn in dem Mass, in dem sich auch die Linguistik in den Dienst der Demokratisierung der Gesellschaft und der Aufdeckung von Herrschaft stellte, gerieten Wertsysteme, denen der Geruch des Autoritären anhaftete, notwendigerweise in Misskredit. Und in diesem Sinn war «Moral» als Stichwort ähnlich negativ konnotiert wie der mit der Moral verwandte Begriff der «Norm», die Dichotomic gut böse war genauso verdächtig wie die Dichotomie richtig - falsch. Ausschlaggebend dabei war, dass sich der Hauptverdacht nicht etwa auf die Kriterien der normativen Setzung oder der moralischen Wertung an sich richtete, sondern bereits den Anspruch auf Setzung oder Wertung betraf, der als Herrschaftsanspruch interpretiert, unter Ideologieverdacht gestellt und entsprechend abgelehnt wurde. Dazu kam eine zweite, vordergründig ganz unpolitische Entwicklung: Werturteile trugen - das lernte man sozusagen in den Gängen der Universität bzw. unter der Hand - den haut goüt der Unwissenschaftlichkeit. Was ein zünftiger Linguist bzw. eine zünftige Linguistin werden wollte, fällte möglichst keine Werturteile. Seltsamerweise betraf dieses Verdikt nicht nur den Gegenstand «Sprache» als systemlinguistische Grosse, sondern ebenso den grossen Bereich der in den 70er Jahren boomenden Pragmalinguistik, obwohl die Betrachtung von Sprechen als Handeln die Frage nach verantwortlichem Handeln und damit die Frage nach der Beurteilbarkeit sprachlicher Kommunikation unter ethischen Kriterien ja durchaus nahelegte. Dennoch waren es nur kleine, nicht im mainstream der Sprachwissenschaft befindliche Bereiche, in denen diese Frage - z. B. als Frage nach dem Stellenwert der Aufrichtigkeitsbedingung in der Sprechakttheorie - gestellt wurde. Vielleicht spielte in diesem Zusammenhang die aktuelle Verunsicherung durch das als missglückt empfundene Projekt einer engagierten Soziolinguistik eine Rolle, sicher ist, dass man mit der
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wieder vermehrt geübten linguistischen Enthaltsamkeit auch an altehrwürdige Traditionen des Strukturalismus und der Junggrammatiker anknüpfen konnte. Wenn nun gewisse Formen des Redens - und das wertende Urteilen gehört dazu - in der linguistischen Wissenschaft verpönt sind was steckt dahinter? Was haben wir gelernt, indem wir lernten, solches Reden zu vermeiden? Und: Was haben wir davon, wenn wir uns wichtigen Fragen, die uns ja wohl auch betreffen, entziehen? Die Fragen deuten es an: Wir vermuten einen versteckten oder vielleicht gar nicht so versteckten Konsens darüber, wie Sprachwissenschaft zu betreiben ist, einen Verhaltenskodex, eine Art linguistischer Sittenlehre, deren Gebote wir im folgenden zu beschreiben versuchen. 2.1 Fünf Maximen der herrschenden linguistischen Sittenlehre Wir diagnostizieren: Ähnlich den Griceschen Maximen, die Grundlage und Orientierungsgrösse für kommunikatives Handeln sind, existieren Maximen der herrschenden linguistischen Sittenlehre, die die Grundlage und Orientierung für unsere wissenschaftliche Tätigkeit abgeben: Diese Maximen stehen allesamt unter dem Grundprinzip Fälle keine moralischen Werturteile! Die diesem Grundprinzip zugeordneten Maximen benennen Verhaltensanweisungen, denen wir folgen, sobald uns die Gefahr droht, ein Werturteil formulieren zu wollen oder zu müssen - und diese Gefahr droht einem bei der Beschäftigung mit Sprache eben durchaus und immer wieder. Man kann die folgenden fünf Maximen wie einen Exorzismus des Wertens durchlaufen; sie garantieren dafür, dass wir uns von der Versuchung moralisierender Stellungnahme freimachen können und dabei werturteilsfreie Linguistik produzieren. Maxime 1: Sei deskriptiv! Beobachte und beschreibe, beschreibe so genau wie möglich. Wie bereits angedeutet, ist der Bereich der Pragmatik und hier z. B. die Sprechakttheorie ein Bereich, in dem Beschäftigung mit Sprache
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sehr rasch zur Beschäftigung mit Wertungsfragen wird. Wir möchten dies am Beispiel der Entschuldigung deutlich machen: Ist es, wenn ein Schüler morgens zehn Minuten zu spät das Klassenzimmer betritt und sagt: «Tut mir leid, ich habe mich verschlafen», eine Entschuldigung? Wer unterrichtet, kann diese Frage vielleicht auch nicht beantworten, er weiss aber - und wir sprechen aus Erfahrung! -, dass eine solche Szene heute ein Normalfall ist und sich etwa nach folgendem Muster entwickelt: Die Lehrerin oder der Lehrer wird nicken, allenfalls einen Satz äussern wie: «Dass das die Woche nicht noch mal vorkommt!», und dann werden alle Beteiligten zum weiteren Unterrichtsgeschehen übergehen. Man könnte dies nun so interpretieren, dass die Macht der Realität unsere Ausgangsfrage beantwortet und folglich usuelles «Tut mir leid, ich habe mich verschlafen» eine Entschuldigung darstellt. Nun gibt es allerdings Menschen - und auch hier sprechen wir aus Erfahrung -, die in einer solchen Situation irritiert reagieren bzw. den Satz «Tut mir leid, ich habe mich verschlafen» nicht als mögliche sprachliche Füllung der Handlung «Entschuldigung» akzeptieren können, da - ihrem Werturteil nach - eine Normdurchbrechung nur dann vom Normdurchbrecher selbst mit der blossen Benennung des Grundes abgetan werden kann, wenn er sich damit gleichzeitig auf höhere Gewalt («der Zug hatte Verspätung») oder höhere Werte («ich musste einem alten Mütterchen über die Strasse helfen») berufen kann. In diesem - und nur in diesem - Fall hat der Normdurchbrecher einklagbaren Anspruch darauf, dass allfällige Sanktionen nicht erfolgen: Er ist entschuldigt! Im Falle des Verschlafens, so argumentieren moralische Kritiker, kann die Nennung dieses Grundes für das Zuspät-Kommen nicht schon genügen, um eventuelle Sanktionen abzuwenden: Es handle sich in diesem Fall nicht etwa um eine Entschuldigung, sondern lediglich um eine Erklärung des Zu-spät-Kommens. Eine solche Sicht der Dinge kann man sich mit guten Gründen zu eigen machen - im Normalfall aber wird man sich als linguistischer Fachmann oder als entsprechende Fachfrau davor hüten. Die Frage nach dem Wesen der Entschuldigung beantworten wir Linguistinnen
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nicht mit einer Charakterisierung der moralischen Qualitäten der zur Diskussion stehenden Sprechhandlung, sondern mit der Beschreibung des entsprechenden Sprachhandlungsmusters. Und da Hesse sich - für unser Beispiel - festhalten, dass der zitierte Satz, der in der beschriebenen Situation vom Normdurchbrecher gegenüber der die Norm einklagenden Instanz geäussert wird, eine Erklärung für die Normverletzung liefert. Weiter gehört dazu, dass einleitend eine bestimmte kommunikative Floskel («Es tut mir leid. ...») verwendet wird, sowie eine im weitesten Sinn akzeptierende Reaktion von Seiten der Lehrerin. In diesem Zusammenhang bereitet es uns keine Mühe, auch allfällige Wertungen der Beteiligten zu beschreiben und so auch historische Veränderungen oder sozial bedingte Unterschiede des Kommunikationsmusters «Entschuldigung» deskriptiv zu erfassen. Das heisst, wir können auf diesem Untergrund sogar erklären, warum (manche) Menschen auf die eingangs geschilderte Szene irritiert reagieren: Sie haben ein anderes Muster für «Entschuldigen» im Kopf als die in diesem Beispiel zitierten Beteiligten. Aber: Wir beziehen nicht selbst Position. Und das heisst, dass wir auf die Ausgangsfrage «Ist das (noch) eine Entschuldigung» letztlich nicht antworten. Um dies zu tun, müssten wir eine der Ausprägungen des Musters zur - moralischen - Norm erheben. Das tun wir nicht. Wir £«r-werten, indem wir vorfindbare Varianten als gegeben und damit als gleichberechtigt beschreiben. Und damit sind wir schon beim nächsten Prinzip: Maxime 2: Differenziere! Entdecke Gesichtspunkte, die es dir erlauben, die Phänomene neu zu gruppieren und auf andere Weise zu sehen. Die Soziolinguistik bernsteinscher Prägung, die Ende der sechziger Jahre Furore und aus der Sprachwissenschaft eine Gesellschaftswissenschaft zu machen schien - sie stellte die Linguistik und noch mehr die Linguistinnen vor enorme Herausforderungen. Moralische Ansprüche an alle Beteiligten Hessen sich, so schien es, direkt aus der wissenschaftlichen Beschreibung der Phänomene ableiten. Linguistische Erkenntnisse ernstzunehmen hiess hier, soziale Konsequenzen
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zu ziehen und gesellschaftlich zuzupacken. Wobei etwas unklar blieb, wer eigentlich wo zuzupacken hatte: Waren denn nun die Linguistinnen, die herausgefunden hatten, dass dem sozialen Erfolg der Unterschichtskinder die Sprachbarriere im Wege stand, auch verpflichtet, diese niederzureissen? Oder waren es doch eher die Lehrerinnen, die nun dazu aufgerufen waren, den Unterschichtskindern über die Barriere hinwegzuhelfen? Und wer war schuld, wenn letzteres nicht gelang: Die Linguistik, weil sie vielleicht die falschen «Programme» geliefert hatte, oder die Schule, weil die Programme falsch angewendet worden waren? Denn für didaktische Praxis ist die Sprachwissenschaft nur noch bedingt verantwortlich - Ausführlicheres dazu unter Teil 4 dieser Einleitung. Es war auf jeden Fall spürbar erleichternd, als die Differenztheorie erfunden wurde. Damit wurde eine Sichtweise etabliert, welche die sozial ja doch höchst brisante Sachlage multiperspektivisch anzugehen erlaubte. Nun fiel alles an seinen Platz, mit den Dingen hatte es wieder seine Richtigkeit: Wir konnten nun sagen, dass und warum die Unterprivilegierten sich nicht schlechter, sondern - nur - anders ausdrückten. Das Schönste daran war: Die moralisch-demokratische Verpflichtung, allen Sprecherinnen den Zugang zu der als «elaboriert» erkannten Form des Deutschen zu vermitteln, entfiel in dem Moment, in dem diese Form eben gar nicht mehr als «elaboriert», sondern lediglich als «anders» beschrieben wurde. Denn: Wo wir nicht werten, müssen wir auch weniger handeln. Dass damit noch keines der damals benannten und heute fortdauernden schulischen Probleme gelöst war, fiel in dem allgemeinen Aufatmen nicht allzusehr auf. Dafür hatte die Linguistik ein neues, auch für viele andere Gebiete der Forschung entlastendes Paradigma - eben das der Differenz - gefunden. Maxime 3: Funktionalisieref Zeige, dass die Phänomene in ihrem Kontext funktional sind. Wer kennt nicht - etwa aus Proseminarien - die Common-sense-Kritik an «unmenschlichen» Sprachgewohnheiten, wie etwa an derjenigen, dass wir auf die Frage «Wie geht es dir?» normalerweise nicht etwa mitmenschlich-inhaltlich mit einem «ehrlichen» Seelenzu-
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Standsbericht, sondern mit einer nichtssagenden Floskel antworten? Als gelernte Linguistinnen können wir, wissenschaftlich, die Unfundiertheit solcher (Laien-)Kritik aufklären: Die Frage ist eben gar keine Frage, sondern eine Form der Begrüssung bzw. ein Teil eines Begrüssungsrituals, das seinen Wert nicht im Inhalt der ausgetauschten sprachlichen Einheiten, sondern in deren Signalwert im Rahmen einer bestimmten Kommunikationskultur findet. Mit anderen Worten: Unter der sprachlichen Oberfläche, vielleicht sogar gegen sie, weisen wir dem Phänomen eine Funktion zu (die der Begrüssung und Kontaktaufnahme) und haben damit erklärt, vielleicht sogar gerechtfertigt, dass die Dinge so sind, wie sie sind. Und ebenso können wir mit vielem anderen in genau dieser Weise umgehen: mit dem Pomp deutscher Wissenschaftssprache, der kargen Unverständlichkeit juristischer Erklärungen, den offensiven Vulgaritäten eines bestimmten Jugendjargons, der grammatikalischen Anstössigkeit des epistemischen «weil». - Ob und wie weit solche Erklärungen dann im jeweils konkreten Fall tatsächlich befriedigen, ist eine andere, unter Umständen eben eine moralische Frage. Das funktionale Erklärungsschema ist eines der stärksten, die wir haben, sein häufiger Gebrauch die Frucht einer langen Entwicklung wissenschaftstheoretischer (und eben auch sprachwissenschaftlicher) Präferenzen. Während im 18. Jahrhundert noch oft und leidenschaftlich aufgrund ästhetischer Kriterien Werturteile gefällt wurden, zog sich das 19. Jahrhundert auf die normative Zuschreibung von «richtig» und «falsch» zurück. Wir Heutigen bewegen uns mit Vorliebe im neutralen Schema funktional - disfunktional, sicher nicht zuletzt darum, weil es so enorm fruchtbar ist. Es wäre sicher nicht leicht (ist es überhaupt denkbar?), dass wir irgendwo keine Funktion finden. Maxime 4: Parzelliere! Und betrete kein fremdes Territorium! Dieses Prinzip hat sowohl eine interdisziplinäre wie eine intradisziplinäre Seite: Einerseits geht es um die Unterstellung des Untersuchungsgegenstandes «Sprache» unter die Zuständigkeit verschiedener Fachdisziplinen, wovon die Linguistik - neben der Philosophie, der Psychologie, der Soziologie, der Semiotik etc. - dann nur noch eine ist.
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Andererseits geht es um die Parzellierung der Linguistik selbst in Phonetik, Syntax, Semantik, Pragmatik etc. Vielleicht wäre es etwas zu weit gegangen, hier vom Sankt-Florians-Prinzip einer sich wertfrei darstellenden Linguistik zu sprechen, zumindest aber können durch die (freiwillige) Selbstbeschränkung des eigenen Wirkungs- und Zuständigkeitsradius heikle Wert- und Wertungsfragen bedeutend leichter der Oberhoheit anderer Disziplinen unterstellt werden. So ist es möglich, und auch nicht unüblich, zu sagen: «Ich bin ja nur Sprachwissenschaftler - und diese Frage müssten wir interdisziplinär angehen». Oder dann eben: «Ich bin Semantikerin - was man mit dem Wort so alles anrichten kann, das müssen Sie den Textlinguisten, die Gesprächslinguistin fragen, dafür bin ich nicht zuständig». Oder, eher über andere: «Man merkt, er ist halt Pragmatiker, Syntax hat er wohl das letzte Mal im Grundkurs gehabt». An solchen Vorwürfen ist sehr oft etwas dran: Die hohe Spezialisierung der Wissenschaften, ihre «Modularisierung» verhindert mehr und mehr das, was man schlagwortartig das «vernetzte Denken» nennt, das es für fundierte Urteile über Sprache braucht. Es ist, wenn auch etwas abgegriffen, halt doch wahr, dass wir, wo wir vom einen immer mehr wissen, unter dem Strich vom Ganzen immer weniger wissen. Sprachlichen Phänomenen und Problemen gegenüber wertend Stellung zu beziehen setzt vielleicht voraus, dass man von möglichst vielem etwas - von allem aber nicht zu viel - versteht. Maxime 5: Further research is needed! Diese Maxime hat den Charakter einer Notbremse: Sind wir mit unseren Forschungen an einen Punkt gelangt, der uns in die Lage oder sogar unter den (moralischen) Zwang setzt, praktische Konsequenzen zu ziehen, so haben wir immer noch die Möglichkeit, uns diesem Zwang zu entziehen, indem wir auf die Vorläufigkeit des erreichten Wissensstandes verweisen. Schliesslich zeigt ja lange Erfahrung und vor allem auch die nicht-linguistische Forschungsgeschichte, wie lückenhaft unser Wissen sich aus der Perspektive der Nachgeborenen ausnimmt und als wie voreilig sich entsprechende Reaktionen unter Umständen im nachhinein ausnehmen.
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Ausserdem ist diese Maxime ein gutes Totschlägerargument, sollte tatsächlich ein Forscher oder eine Forscherin auf die Idee kommen, Forschungsergebnisse ins moralische Licht zu rücken: So brauchte es eine lange Reihe von Forschungsarbeiten, bis die Erkenntnis, dass Frauen in öffentlichen und halböffentlichen Gesprächskonstellationen durchschnittlich weniger reden als Männer, als «gesichert» galt, was wohl in erster Linie auf das Faktum zurückzuführen ist, dass die linguistisch betrachtet ja völlig wertfreie Aussage «Männer reden länger als Frauen» in den Kontext der Patriarchatsdiskussion gestellt und entsprechend moralisch angedeutet wurde: Männer unterdrücken Frauen im Gespräch. «Further research» hat in diesem Fall unter anderem dazu geführt, dass die Bedeutung der Quantität der Gesprächsbeteiligung relativiert wurde, zusätzliche Kriterien für dominantes Gesprächsverhalten gesucht und gefunden sowie Ansatzpunkte gewonnen wurden, vordergründig «schlechten» männlichen Gesprächsstrategien funktionale Qualitäten (z. B. im Kontext bestimmter Gesprächstypen) abzugewinnen - womit sich Maxime 5 als Metastrategie erweist, die es erlaubt, andere Maximen, in diesem Fall Maxime 2 und 3 ins Spiel zu bringen. Wir finden das (natürlich) gut. Aber: Wir finden das auch schlecht. Denn die Gefahr ist gross, dass wir hitzige und spannende Debatten durch unseren Forschungseifer verpassen oder so weit entschärfen, dass wir als Konsequenz zwar im besten Fall ein neues Forschungsgebiet gewonnen haben, zu dem wir auch interessante Aussagen machen können, wir uns im gleichen Zug aber aus der ursprünglichen Diskussion entfernen und uns erst viele (Forschungs-)Jahre später wieder einschalten könnten falls dazu dann von anderer Seite her noch Interesse besteht. Ein Beispiel hierfür ist die Diskussion um die sogenannte «Jugendsprache» zu Beginn der 80er Jahre: Der öffentliche Stein des Anstosses war hier das, was als «rohe», «vulgäre», «restringierte» «Ächzund Würg-Sprache» (so der «Spiegel» in einem entsprechenden Artikel) an den Pranger gestellt wurde: Die Sprache der Jugendlichen erschien als Zeichen des sprachlichen Verfalls der westlichen Welt, als verbale Manifestation einer neuen Form des Generationenkonfliktes
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und als beunruhigendes Signal zunehmender Unfähigkeit der Jugendlichen zur öffentlichen Mitsprache in der demokratischen Gesellschaft. Gestandenen Sprachwissenschaftlerinnen trieb diese Diskussion und die moralische Besetzung sprachlichen Verhaltens die Haare zu Berge: Solange über Jugendsprache so wenig Linguistisches bekannt war, konnte man ja eigentlich noch gar nichts dazu sagen. Denn: Erst kommt die Forschung und dann die Moral. Die sich in dieser Zeit - und zumindest zum Teil als Reaktion auf diese Debatte - etablierende linguistische Jugendsprachforschung hat inzwischen interessante, durch empirische Forschungen abgesicherte Resultate erbracht und Maxime 5 wird sie auch weiterhin zu «further research» zwingen. Die öffentliche Debatte zum Phänomen «Jugendsprache» ist aber - leider - zur Zeit nicht mehr sehr aktuell. Die Erkenntnis hieraus: Moraldebatten kommen für die Linguistik immer zu früh. Oder: Die Linguistik für das Leben meist zu spät. ***
Die fünf Maximen einer linguistischen Sittenlehre, die wir hier entwickelt haben, sind der Versuch, das «zünftige» Selbstverständnis von Linguisten und Linguistinnen zu beschreiben und damit auch den akademischen Habitus, der sprachwissenschaftliches Forschen heute weitgehend bestimmt. Die fünf Maximen sind allerdings, wir geben es zu, nicht trennscharf, sondern Aspekte eines Grundprinzips, das es uns erlaubt, neutrale Wissenschaftlichkeit zu erreichen, auch wenn wir in unserer eigenen Sprachpraxis (wie alle anderen auch) ständig zu Entscheidungen und Wertungen gezwungen sind und wir diese auch freimütig vornehmen. Sie erlauben uns, ungehemmt Einsichten zu gewinnen und das sprachliche Geschehen als quasinatürliches Phänomen in seiner Eigengesetzlichkeit zu beschreiben. In diesem Sinne sichern die Maximen den Limes der wissenschaftlichen Kultur gegen die Attacken der Alltagswelt; sie helfen uns, wissenschaftliches Handeln von Alltagshandeln unterscheidbar zu halten; sie tragen zur Abgrenzung wissenschaftlicher Theorien gegenüber Common Sense-Theorien bei. Mit einem Wort, sie schützen die besseren Söhne und höheren Töchter vor den Schmuddelkindern.
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Allerdings: Wir Linguistinnen nehmen damit in Kauf, dass wir uns als sichtbare Aktanten aus dem gesellschaftlichen Sprachleben entfernen. Wir definieren uns als solche, die vielleicht hie und da interessante Informationen zu geben oder manche Dinge in ein anderes Licht zu stellen vermögen; nachhaltige Impulse und aktives Eingreifen sind von uns aber nicht zu erwarten. 3.2 Moralisierende Sprachwissenschaft? Wir fragen dennoch: Ist es tatsächlich zwingend, dass wir als Linguistinnen bei Wertungsfragen in Sachen Sprache die Stellungnahme verweigern bzw. dass wir, wenn wir Stellung beziehen, dies nicht unter dem Banner unserer Wissenschaft tun können? Wie weit muss und kann der Generalvorbehalt der Sprachwissenschaft in Sachen «Moral» gehen? Nehmen wir als Beispiel Harald Weinrichs Vorsicht beim Nachdenken über die Lüge: «Es geht also um die Frage, ob die (böse) Täuschungsabsicht, die seit Augustin zum Wesen der Lüge gehört, durch irgendeine gute Absicht, die sich mit der Lüge vielleicht verbinden mag, wettgemacht werden kann. Das mögen Moralphilosophen entscheiden; die Linguisten haben hier kein Votum.» (Weinrich, Linguistik der Lüge, 1966: 14) Weinrich spricht hier die v. a. mit Bezug auf Kants «vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen» immer wieder diskutierte Frage der moralischen Vertretbarkeit der Notlüge an. Weinrich ist wohl darin recht zu geben, dass Sprachwissenschaftlerinnen, die sich zu dieser Frage äussern, sich nicht als Sprachwissenschaftlerinnen äussern können. Die Sprachwissenschaft hat dazu wohl tatsächlich «kein Votum». Nun ist es aber so, dass Sprachwissenschaftlerinnen aus dieser Einsicht häufig den Schluss ziehen, sich zu solchen Fragen gar nicht äussern zu können. So nehmen sich aber gerade diejenigen zurück, die von ihrer Profession her in Sachen «Sprache und Moral» immerhin spezialisierte Laien sind, und überlassen das Feld völlig Unberufenen, die aber die Skrupel der Nicht-Zuständigkeit nicht haben. Wir verschanzen uns hier also hinter Maxime 4, die es uns ermöglicht, den moralischen Fragen in der Sprache ein eigenes Reservat zuzuweisen, das wir dann - auch dies nach Maxime 4 - nicht mehr betre-
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ten. Nun ist diese Maxime hier aber nicht anwendbar: Moral lässt sich nicht in ein Reservat sperren, es gibt keine Spezialisten für das Moralische in Sachen Sprache. Praktische Moral ist nicht delegierbar. Das heisst: Aus Moraldiskussionen im Zusammenhang mit Sprache können sich Sprachwissenschaftlerinnen nie ganz heraushalten. Dabei muss man unter Umständen differenzieren zwischen moralischen Fragen, die eher locker an Sprachliches gebunden sind und damit tatsächlich weniger in unseren Zuständigkeitsbereich fallen (hierher gehört wohl das oben angesprochene Beispiel der Lüge), und solchen, bei denen wir einen originär sprachwissenschaftlichen Beitrag leisten können und sollten. Ein Beispiel für letzteres könnte etwa die Frage nach dem Hochwertkonzept des «herrschaftsfreien Diskurses» sein, das sich von der philosophisch-politischen Vision einer egalitären Diskursgemeinschaft schon längst zu einem flächendeckend anerkannten Ideal entwickelt hat in allen Bereichen, die im weitesten Sinn mit der Erziehung zur «guten» Kommunikation zu tun haben: Das entsprechende Konzept prägt Lehrplanformulierungen ebenso wie Leitfäden für den Umgang von Behörden mit dem Bürger oder die neue «Managementkultur», wie sie in Führungskursen für Manager vermittelt wird. Es erscheint uns in diesem Zusammenhang sehr typisch, dass es sich um ein Konzept handelt, das in einem der Sprachwissenschaft zwar verpflichteten, selbst jedoch nicht genuin linguistischen Umfeld entstanden ist - dies gilt auch für das Konzept der schichtspezifischen Codes von Bernstein sowie für die Kommunikationsaxiome Watzlawicks. Alle drei Konzepte sind stark wertbesetzt; ihre Breitenwirkung gerade ausserhalb der Wissenschaft dürfte damit direkt zusammenhängen. Die Fachlinguistik hat jeweils mit unterschiedlicher Intensität reagiert, immer aber unter dem wertungs-neutralisierenden Einfluss der fünf Maximen. Was das Konzept des herrschaftsfreien Diskurses anbelangt, so war und ist es als Hintergrundfolie gerade im Bereich der Pragmalinguistik zwar ständig präsent, die Linguistik hat sich damit aber noch kaum differenziert auseinandergesetzt, schon gar nicht mit den moralischen Ansprüchen an Kommunikation, die das Konzept impliziert.
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Die Sprachwissenschaft könnte hier jedoch - nach rund 20 Jahren Forschung im Bereich der Gesprächsanalyse - einen massgeblichen Diskussionsbeitrag leisten. Wir deuten dies in zwei Punkten an: - Gesprächsanalytische Forschung, die das Geschlecht der Gesprächspartnerinnen mitberücksichtigte, konnte zeigen, dass tendenziell «weibliche» sprachliche Verhaltensweisen zwar am ehesten dem Modell des «herrschaftsfreien Diskurses» entsprechen, dass es aber ausgerechnet diese Verhaltensweisen sind, die dazu führen, dass Frauen in öffentlichen Gesprächssituationen wenig erfolgreich sind bzw. weniger «zum Zug kommen». - Gesprächsanalysen zeigen ausserdem, dass Wertungen von aussen, die sich an abstrakten Konzepten vom «guten Gespräch» orientieren, nicht deckungsgleich sein müssen mit subjektiven Wertungen von innen (durch die am Gespräch Beteiligten), oder umgekehrt - ein Gespräch kann aus der Perspektive der Beteiligten als gut und positiv bewertet werden, obwohl es den Kriterien, die die Gesprächslinguistik als Massstab für einen herrschaftsfreien Diskurs zur Verfügung stellt, durchaus nicht entsprochen hat. Mit anderen Worten: Die linguistische Gesprächsanalyse hat nicht nur das Zeug, unsere Gesellschaft in Sachen Kommunikations- und Gesprächsideale einer spezifischen Doppelmoral zu überführen. Sie liefert auch Einsichten, die es erlauben, das Konzept des herrschaftsfreien Diskurses im Hinblick auf die damit verbundenen Wertsetzungen gehaltvoller zu diskutieren und die Ansprüche auf seine Realisierung kritischer zu durchleuchten. Das Beispiel kann und soll zeigen: Wir können sehr wohl Debatten in Sachen «Sprache und Moral» führen, wir sollten sie nicht notwendig allein führen, aber wir sollten mitentscheidend mitreden. Das heisst auch: Eine grössere, deutlichere Grenze müsste verlaufen zwischen einer sprachlichen Frage, für die Sprachwissenschaftlerinnen allemal zuständig sind, und einer nicht-sprachlichen Frage als zwischen einer Frage der Beschreibung von Sprachlichem und einer Frage der Wertung von Sprachlichem. Die herrschende Sprachwissenschaft zieht ihre Grenze tendenziell bei letzterem, sie sollte sie jedoch eher - und auch hier nur bedingt - bei ersterem ziehen.
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In der gegenwärtigen Wissenschaftslandschaft ist es wohl v. a. die feministische Linguistik, die klarer als andere Richtungen den Verdacht formuliert, dass die präzise Beschreibung der Erscheinungen des Sprachlebens unter den Prinzipien von Deskription, Differenz und Funktion nicht immer zureicht und nicht immer hingenommen werden kann. Die alltäglichen Erscheinungen sexistischen Sprachgebrauchs werden nach dieser Lesart durch Deskription gar nicht erkannt und in funktionaler Interpretation nur scheinbar neutral als synchron Systematisches ausgewiesen. Denn mit den letztgenannten Interpretationen ist implizit immer eine Anerkennung des Status quo und damit auch eine letztlich positive Wertung verbunden. Diese wird dann rasch ihrer Implizitheit entkleidet, sobald über die Sache offen gestritten wird. Vielleicht bildet die Darstellung und Kritik des sexistischen Sprachgebrauchs den heute wichtigsten innerlinguistischen Bereich einer auch an moralischen Kriterien orientierten Sprachbetrachtung. Aber es gibt auch andere. Es erfreuen sich z. B. wachsender Beliebtheit - die Kür der «Unwörter des Jahres», die aufmerksam machen, alarmieren, ja gar denunzieren will - politische Sprachkritik und all das, was die Woge der «Political Correctness» an Linguistischem anspült - die Interkulturalitätsdebatte und die damit verbundenen Wertungsfragen in bezug auf «fremde» und «eigene» sprachliche und kommunikative Ansprüche, Rechte und Normen. Heisst das, dass wir uns in den 90ern jetzt auf eine moralische Linguistik zubewegen? Rennen wir also mit unseren hier entwickelten Überlegungen bereits offene Türen ein? Alles deutet darauf hin. Das ist - wie schon oben zugegeben - der Zeitgeist. Und wir fordern dazu auf, diesen modischen Geist mit Inhalt zu füllen und den Maximen der Neutralisierung des Sprechens über Sprache auch ein Prinzip der Belebung, eine Aufforderung zur Stellungnahme entgegenzusetzen - mit Gewinn für die Linguistik, der vielleicht nicht so gross ist, und mit Gewinn für die Linguistinnen, der vielleicht gar nicht so klein ist.
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3.1 Was macht Didaktik zum Schmuddelkind? Unter den Schmuddelkindern, von denen wir hier sprechen, zeigt das dritte Besonderheiten in seinen Beziehungen zur Linguistik. Genau genommen handelt es sich keineswegs um ein einzelnes Schmuddelkind, viel eher müssen wir von einer ganzen Bande sprechen, wenn wir sprachdidaktische Theoriebildung und Forschung, deren Vermittlung an den Hochschulen sowie die schulische Praxis des Sprachunterrichts unter dem Stichwort «Didaktik» zusammenfassen. Die Praxis linguistischer Forschung zeigt, dass sich der Grossteil der Linguistinnen gegenüber der Sprachdidaktik wenn überhaupt, so nur sekundär verpflichtet fühlt. Didaktik ist bestenfalls ein Anwendungsbereich linguistischer Forschung. Motivation und Legitimation holt sich die Linguistik meist anderswoher. Das müsste nicht so sein, und in den 70er Jahren wurde eine entsprechende Diskussion bereits einmal breit geführt, unter Stichworten wie - Wie weit kann und soll linguistische Forschung ihre Legitimation aus der Didaktik beziehen? - Stellt sich eine Linguistik, die Sprachlehr- und Sprachlernsituationen sowie didaktische Theorie und Praxis genauer kennt, andere Fragen als eine didaktikfeme Sprachforschung? - Was sind Voraussetzungen und wo lassen sich Anknüpfungspunkte finden für gleichberechtigte Kooperationen zwischen schulischer Praxis und Linguistik? - Wie kann eine Kooperation aussehen, die beiden Teilen nützt? An solche Diskussionen möchten wir anknüpfen. Sprachdidaktik hat - von der Linguistik aus gesehen - nicht den Status, das Renommee, das sich die sogennante Bindestrich-Linguistiken aufgebaut haben: Sozio- oder Psycholinguistik sind anerkannte Teilgebiete der Linguistik, was z. B. Einführungen in die Linguistik belegen. Linguistische Forschung hat sich in diesen Forschungsfeldern etabliert, sie generiert spezifische Forschungsfragen und verfügt über entsprechende Möglichkeiten der wissenschaftlichen Diskussion. Ein entsprechender genuin linguistischer Forschungsbereich, der sich mit Fragen von Sprache und Kommunikati-
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on im Schulbereich befasst - etwa unter der Bezeichnung SchulLinguistik - existiert nicht. Die Sprachdidaktik dagegen ist ausgelagert - mit eigenen Lehrstühlen, Arbeitsbereichen und Diskussionsforen. Der langwierige und andauernde Streit um die Ansiedlung der Didaktik-Lehrstühle (unter dem Dach der Fach- oder der Erziehungswissenschaften) illustriert einerseits die doppelte Orientierung der Didaktik, sie weist aber auch auf ein wissenschaftspolitisch und forschungsmethodisch nach wie vor ungelöstes Problem hin, das das Verhältnis von Linguistik und Didaktik prägt. Ein Symptom dafür sind die grossen Unterschiede, die je nach Land oder sogar nach Hochschule in der institutionellen Ausprägung dieses Verhältnisses bestehen. Gleichsam in Klammern ist hier auch auf jene Fälle hinzuweisen, wo in einer internen oder persönlichen Aktion der Auftrag von Didaktiklehrstühlen so umdefiniert wird, dass darauf «linguistische Forschung» betrieben werden kann - unter Verabschiedung didaktischer und erst recht konkret schulischer Fragen. Hat sich die «reine» Linguistik vielleicht durch die Etablierung der Sprachdidaktik einen Bereich vom Leib gehalten, der «schmuddelige» Forschungsprobleme schon in seiner Gegenstandsbestimmung integriert? Didaktische Forschung und Praxis hat in anderer Weise als die Linguistik ihre Verwendungszusammenhänge zu berücksichtigen, weil das Ziel der Arbeit nicht allein in der Vergrösserung oder Modifikation von Wissensbeständen besteht, sondern letztlich auf die Begründung und Verbesserung von Unterricht hinzielt. Die Perspektive auf schulische Sprachprozesse macht eine Orientierung an den gängigen Prinzipien der «herrschenden Sittenlehre», wie sie im vorigen Abschnitt dargestellt worden sind, schwierig: Die Didaktik kennt aus ihrem Handlungsfeld andere, für sie oftmals relevantere Orientierungen, und schulische Praxis lässt sich nicht so leicht nach Prinzipien der Forschung modellieren. Gleichzeitig eröffnet schulische Kommunikation unabhängig von Fragen der Vermittlung wichtige Fragestellungen, die aber gar nicht ins Blickfeld der Linguistik geraten. Zwei Problembereiche zeigen sich also im Verhältnis von Linguistik und Didaktik, und sie wiederholen sich in vergleichbarer Weise
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auch im Verhältnis, das die Sprachdidaktik mit der Unterrichtspraxis in der Schule verbindet. Erstens: Wie verträglich sind grundlegende Orientierungen, Wissensbestände, Vorgehensweisen und kommunikative Kulturen der beiden Bereiche? Und zweitens: Wie (wenn überhaupt) wird die je andere «kulturelle Praxis» wahrgenommen und berücksichtigt? Wir gehen diesen Problemen im folgenden nach, indem wir das Zusammenspiel von Linguistik einerseits und schulischer Praxis andererseits in den Vordergrund rücken. In einer groben Verkürzung kümmern wir uns hier also nicht um das - ebenfalls diffizile - Verhältnis von Linguistik und (universitärer) Sprachdidaktik. Unser Ziel bei dieser Verkürzung ist die schärfere Pointierung der Problemlage. (In einzelnen Beiträgen werden differenziertere Facetten ausgeleuchtet.) Mit dieser Engführung soll sowohl die Relevanz der Linguistik für die Schule wie auch jene der Schule für die Linguistik herausgestrichen werden. Wir haben festgestellt, dass eine eigentliche Schul-Linguistik ein Desiderat ist. Dennoch gibt es Berührungspunkte zwischen Linguistik und Schule - aber es ist bezeichnend, dass sie nicht als forschungsrelevant anerkannt werden. 3.2 Berührungspunkte von Linguistik und schulischer Praxis Die Fachwissenschaft Linguistik resp. die Linguistinnen, nehmen an verschiedenen Stellen Einfluss auf die didaktische Praxis. Bei solchen Kontakten soll - zumindest aus der Sicht der Linguistik - linguistisches Wissen in die Praxis eingebracht und dort umgesetzt werden. Dass umgekehrt auch Phänomene aus der Praxis für die Weiterentwicklung linguistischer Theorie relevant sind, wird nicht gesehen. Diese asymmetrische Beziehung lässt sich an verschiedenen Stellen nachweisen, wo Vertreterinnen aus beiden Bereichen zusammenarbeiten. Schulbuchproduktion Schulbücher orientieren sich am jeweiligen Stand des linguistischen Wissens. So tauchen ursprünglich «linguistische» Gegenstände, z. B. textlinguistische und pragmatische Fragestellungen, in Lehrbüchern
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auf. Wie entsteht der Kontakt zwischen Forschung und Praxis? Sagen die Linguistinnen «hier sind wichtige Fragen, das sind mögliche Antworten, übernehmt sie!», werden aus linguistischen Modellen gemeinsam Lehrbuchkonzepte entwickelt, oder besorgen die Praktikerinnen die Adaptation selbst? Hier lohnt ein genauerer Blick ins Impressum: Ist ein Buch allein von einem wissenschaftlich orientierten Linguisten verfasst, stammt es von einem Team aus Wissenschafterinnen und Lehrkräften aus der Praxis, firmiert eine Lehrerin als Autorin und eine Hochschulprofessorin als wissenschaftliche Beraterin oder ist das Buch allein von Praktikerinnen verfasst? Unserem Eindruck nach besteht zu häufig ein Ungleichgewicht zwischen Fachleuten der Wissenschaft und Fachleuten der Praxis. Didaktische Fachzeitschriften Ähnliche Strukturen, wie sie die Entstehung und Einführung von Schulbüchern prägen, bestehen auch im Bereich der Fachzeitschriften: Linguistinnen und Sprachdidaktikerinnen teilen den in der Praxis Tätigen mit, was linguistisch interessant ist und aus linguistischer Perspektive für unterrichtsrelevant gehalten wird. Wie entstehen solche Zeitschriften resp. einzelne Nummern? Wer entscheidet über Themen und Schwerpunkte einzelner Hefte oder über Inhalte, Zielsetzungen und Anspruchsniveau einzelner Artikel? Reden Leute aus der Praxis mit, und wenn ja, auf welcher Stufe? Sind die einzelnen Beiträge direkt anwendungsorientiert (Unterrichtsmodelle), oder wollen sie auch Hintergrundinformation bieten? Lehrerausbildung und Lehrerweiterbildung In wessen «Hand» sind die Institutionen, die Struktur und Inhalt der Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte im Bereich des Deutschunterrichts bestimmen? Besteht überhaupt ein Kontakt zwischen wissenschaftlicher Linguistik und Ausbildung? Wer entscheidet über die Gestaltung von Curricula: erfahrene Praktikerinnen oder Forscherinnen? Sowohl die Auswahl der Themen wie auch die Art der Auseinandersetzung werden davon wesentlich beeinflusst.
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Lehrpläne Auch wenn Lehrpläne in der Alltagspraxis des Unterrichts nicht immer handlungsleitend sind, spielen sie doch in jedem Fall eine Rolle als Diskussionsbasis für Neuerungen oder als Legitimation für Änderungen, z. B. für die Genehmigung von Schulbüchern. Insofern ist es wichtig, welche Ziele und Lerngegenstände (im weitesten Sinn) darin festgeschrieben werden, welchen Konzepten von Sprachunterricht sie verpflichtet sind. Auch hier fragen wir nach der Art der Einflussnahme: Werden Wissenschaftlerinnen beigezogen, um einen unter Praktikerinnen ausgehandelten Lehrplan zu legitimieren, wird in gemeinsamen Teams entwickelt oder bleiben die Wissenschaftlerinnen unter sich, diktieren also der Praxis ihre Vorgaben? Falls die Linguistik Einfluss nehmen kann: Hat sie überhaupt etwas Relevantes beizutragen? Forschung in der Schule Der grösste Teil der Forschung im Zusammenhang mit Schule arbeitet mit Daten, die in einem schulischen Umfeld gewonnen werden. Dies gilt für so zentrale Bereiche wie die Schreibforschung, die Erforschung des Schriftspracherwerbs oder die Erzählforschung. Hier dient die Schule als Datenfeld; Fragestellung und Daten werden aber ausschliesslich linguistisch modelliert und ausgewertet. Die komplexe Schul Wirklichkeit wird ausgeblendet, was sich symptomatisch daran zeigt, dass selten Daten einer ganzen Klasse in einer normalen, d. h. komplexen Unterrichtssituation erfasst werden, sondern dass kleinere Testgruppen oder Einzelpersonen Daten zu eng umgrenzten Fragestellungen liefern. Entsprechend schlecht lassen sich die Resultate solcher Untersuchungen direkt in die Schulwirklichkeit übertragen. Solche Forschung tritt auch meist nicht mit diesem Anspruch auf, sie wird aber oft von der Praxis entsprechend missverstanden. Schulforschung - Schul-Linguistik In immer noch kärglichen Ansätzen besteht auch eine Forschung, für die sich Linguistlnnnen und Schulpraktikerinnen gemeinsam engagieren: Fragen werden gemeinsam gestellt, Antworten gemeinsam gesucht. Damit weisen wir nicht auf eine breit abgestützte For-
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schungstradition hin, sondern formulieren ein Ideal, denn eine eigentliche linguistische Schulforschung gibt es beinahe gar nicht, sie ist ein Desiderat, auf das auch einzelne Beiträge dieses Bandes mit Nachdruck hinweisen. Dass komplexe Interaktionssituationen ein lohnender Forschungsgegenstand sind, hat sich z. B. in der Stadtsprachenforschung gezeigt und ist neuerdings - und besser mit der Situation in der Schule vergleichbar - Thema der Betriebslinguistik. Höchste Zeit also, dass Aspekte des Sprachunterrichts und der schulischen Kommunikation von der Linguistik ebenfalls als forschungsrelevant wahrgenommen werden. 3.3 Schulische Praxis - Aufforderung zur Forschung Der Umgang mit Sprache in der Schule bietet viele ungenutzte Möglichkeiten für genuin linguistische Forschungsfragen. Dabei ist uns wichtig zu betonen, dass «Forschung» in diesem Sinn die Verständigungsprobleme zwischen den beiden Welten nicht aufhebt. Aber Interesse für eine andere Welt - auch wenn sie Forschungsgegenstand bleibt - ist eine erste Voraussetzung für Verständigung. Mit diesem Zugang wollen wir nicht Defizite in der schulischen Praxis «aufdecken». Defizitär scheint uns in diesem Zusammenhang eher die Linguistik, denn manche Fragen kann sie nicht beantworten, andere nimmt sie nicht ernst oder versteht sie gar nicht. Was könnten mögliche Gegenstände einer Schul-Linguistik sein? Sprache als Lerngegenstand - Wie wirkt es sich aus, wenn Schülerinnen und Lehrerinnen mit konkurrierenden linguistische Modellen, z. B. von grammatischen Kategorien, konfrontiert sind? Welche Rolle spielt hier die terminologische Fassung von Begriffen? - Wird «naives» Sprachverständnis - das Sprachverständnis von Laien - von der Linguistik überhaupt ernst genommen? Was tragen Alltagstheorien über Sprache zur schulischen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand Sprache bei? - Gibt es für einzelne Bereiche des Sprachunterrichts linguistisches Basiswissen, das als anerkannt gelten kann?
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Erwerbsprozess - Was weiss die Linguistik über den Verlauf des - gesteuerten wie ungesteuerten - Erstspracherwerbs in der Schulzeit, insbesondere in der Adoleszenz? In vielen Modellen wird dem frühen Spracherwerb ein übergrosses Gewicht zugemessen. - Was ist bekannt über die Entwicklung von language awareness oder über die Fähigkeit zu Abstraktion, Distanz, Reflexion von der unmittelbar gegebenen sprachlichen Situation? - Als spezieller Prozess in diesem Zusammenhang ist der Erwerb von Lesen und Schreiben zentral. Was wissen wir darüber? In der gegenwärtigen Forschung wird hier am ehesten der Kontakt zur Schule gesucht, aber über den Einfluss, den die Schule auf diese Prozesse hat, ist relativ wenig bekannt. Interaktion, schulische Kommunikation - Dadurch, dass Kinder einen beträchtlichen Teil ihrer Zeit in der Schule verbringen, erwerben sie dort auch einen grossen Teil ihrer pragmatischen Kompetenz. Was ist über solche Prozesse bekannt? - Was zeichnet unterrichtliche Kommunikation aus? Wie gehen Schülerinnen miteinander und mit ihren Lehrerinnen um? Es handelt sich hier um zentrale Fragen der aktuellen Linguistik: Multikulturelle Kommunikation, Sprache und Geschlecht, Sprache und Macht, Sprache in Institutionen. (Vielversprechende Ansätze aus den siebziger Jahren sind leider nicht weiterverfolgt worden.) Dass wir zu einzelnen Punkten schon einiges wissen, garantiert noch nicht, dass dieses Wissen relevant ist - für die Forschung und/oder für die Schule. 3.4 Schulische Praxis - Aufforderung zum Kontakt In allen Bereichen, wo Linguistik und schulische Praxis zusammenkommen, ergeben sich (erfahrungsgemäss) Kommunikationsprobleme. (Besonders deutlich: Einführung neuer Lehrmittel, Lehrpläne, Forschungsprojekte, die in der Schule Daten erheben; s. o. 3.2). An sich ist dies verständlich: Es reden hier Partner miteinander, die sich nur mangelhaft aufeinander einstellen können oder wollen. Ausserdem treten sie sich nicht als Gleichberechtigte gegenüber: Die Lin-
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guistik redet und scheint zu erwarten, dass ihr die Praxis zuhört. (Dass das oft nicht der Fall ist, schreibt sie nur selten sich selbst zu). Wichtigste Vermittlungsinstanz, die diese Aufgabe auch wahrnimmt, ist die Sprachdidaktik. Wir sind aber der Meinung, dass auch die Linguistik als Fachwissenschaft den Kontakt suchen muss, um mit der Schule als Kommunikationspartner interessante Fragen klären zu können. Wie wir gezeigt haben, können wir direkt nach Defiziten der Linguistik fragen, d. h. nach Bereichen, wo Linguistinnen über Dinge nichts oder wenigstens nichts Genaues wissen, die sich in der Praxis untersuchen lassen und die auch für die Praxis relevant sind. «Relevanz» an sich genügt aber nicht: Auch wenn die Aufforderung zur Forschung ernst genommen wird, kann die Praxis mit deren Resultaten nicht direkt etwas anfangen, denn sie bleiben Resultate linguistischer Forschung. Um sie zu vermitteln, müssen wir mit der Schule Kontakt aufnehmen und dabei folgende Punkte berücksichtigen: - Welche Resultate sind wirklich auch ausserhalb einer wissenschaftlichen Perspektive interessant? Und wer entscheidet darüber? - Ist das Ziel die Konstitution oder Modifizierung von Unterrichtsgegenständen, oder soll Hintergrundwissen aufgebaut werden? - Wenn bestimmte Resultate auch von der Praxis für interessant gehalten werden: wie lassen sie sich konkret vermitteln? Unserer Meinung nach ist an dieser Stelle mehr nötig als nur «Vereinfachung» und gemeinsame Orientierung an Phänomen, die beide Seiten als relevant erachten. Es fehlt den beiden Welten eine gemeinsame Sprache. Wir wissen, dass die Redeweise von der «gleichen Sprache» mehr als nur ein gemeinsames Vokabular meint. Im Gegenteil: Übereinstimmung in der Terminologie ist das geringste Problem. Viel wichtiger sind Voraussetzungen, die weniger greifbar sind. Sie betreffen - v. a. im Bereich der Grammatik - die Vertrautheit mit Begriffen und Kategorien (ein Problem des Verfügens über den Gegenstand), des weitern - und das gilt für den gesamten Bereich der Linguistik - die Vertrautheit mit dem wissenschaftlichen Zugriff auf verschiedene Gegenstände, dann aber auch den ganzen Bereich der gegenseitigen Vorurteile und der Erfahrungen miteinander, die mehr oder weniger konkret und mehr oder weniger fundiert sein können.
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Es ist fast unmöglich, hier von individuellen Anteilen abzusehen, aber wir möchten dennoch versuchen, bewusst vergröbernd, «Grundannahmen» von Linguistinnen und Praktikerinnen einander gegenüberzustellen. Linguistinnen sagen: Wir haben interessante Informationen über alte und neue Wissensbereiche anzubieten. Was ihr wisst, ist vorläufig und wird von uns laufend ergänzt und revidiert. Dass solche Neuigkeiten für euch relevant sind, versteht sich von selbst. Ihr sollt deshalb ein lebhaftes Interesse daran haben, von uns Neues zu erfahren. Manchmal seid ihr undankbar. Wenn wir euch über Neuigkeiten informieren und ihr gut zuhört, sind Änderungen in der Praxis kein Problem mehr. Das bisschen konkrete Umsetzung ergibt sich von selbst seid nicht so träge und misstrauisch.
Unser Ziel ist, Beobachtungen von konkreten Phänomenen möglichst zu verallgemeinern, auf die Gefahr hin, dass Einzelheiten dabei aus dem Blick geraten.
Praktikerinnen sagen: Wir haben eigene Traditionen des Wissens und des Wissenswerten entwickelt. Um sinnvoll arbeiten zu können, dürfen wir dieses Wissen nicht zu sehr in Frage stellen. Wenn ihr neues Wissen liefert, das nur theoretisch legitimiert und fundiert ist, sind wir eher skeptisch. Ihr versteht das nicht. Wir erwarten, dass ihr uns nicht nur inhaltlich informiert, sondern uns auch Hinweise für die Umsetzung von neuem Wissen gebt. Ihr als Fachleute für das Wissen seid auch für Vereinfachungen und stufengerechte Aufbereitung etc. mit verantwortlich. Tut nicht so abgehoben. Wir sind durchaus an Reflexion und grundsätzlichen Fragen interessiert, wichtiger ist uns aber der konkrete Fall, dem wir morgen im Schulzimmer wieder begegnen.
Die Missverhältnisse springen ins Auge. Die Gegenüberstellung macht deutlich, dass die Linguistik in naivem Optimismus annimmt,
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ihre Gaben seien in der Praxis erwünscht, während diese sich durchaus autark fühlt und nicht ständig bettelnd die Hände ausstreckt. Statt diesen Graben zu sehen und an seiner Überbrückung zu arbeiten, setzt jeweils die eine Seite das missing link bei der ändern voraus. So gesehen ist es eigentlich klar, dass die Verständigung nur unter sehr glücklichen Umständen gelingen kann. Der denkbar unglücklichste Fall ist dagegen, dass die Linguistik direkt in didaktisches Handeln eingreifen will oder dass die Praxis das, was ihr die Linguistik bieten kann, ohne Anpassung der Praxis aufpfropft. Alles heillos verfahren? Oben die Oberstädter, unten die Schmuddelkinder? Nein. Aber das Problem lässt sich nicht lösen, indem wir behaupten, es seien alle (oder wenigstens Linguistik und Praxis) gleich, sondern indem wir die Bereiche als zwei verschiedene Welten oder Kulturen verstehen - und zwischen Kulturen lässt sich bekanntlich vermitteln. Am besten gelingt dies durch Kooperation und praktische Erfahrung (Linguistinnen ins Schulpraktikum! Durch direkte Einblicke blieben der Praxis wohl einige Artikel und vor allem «didaktische Ausblicke» am Ende von solchen erspart). Nötig ist auf jeden Fall eine differenzierte Sicht auf die Möglichkeiten und Beschränkungen der beiden Welten: Lehrerinnen arbeiten in einer komplexen Umgebung, in die Abstraktion und Reflexion nur bedingt passen - im Unterrichtsalltag muss gehandelt werden, die Reflexion kommt allenfalls vorher oder nachher, aber ein sehr wichtiger Aspekt ist die Erfahrung, sei sie nun reflektiert oder nicht. Damit einher geht oft eine gewisse Skepsis gegenüber dem Sinn von nicht mit Erfahrung verbundenen Kategorien und wissenschaftlichen Abstraktionen. Die Linguistik dagegen definiert sich gerade dadurch, dass sie in bestimmten Bereichen von konkreter Erfahrung abstrahiert. Das heisst aber nicht, dass sie sich nicht auch - wissenschaftlich - um die Bedingungen, Zusammenhänge und Voraussetzungen von Schule und schulischer Interaktion kümmern soll. Denn die schulische Praxis trifft ins Zentrum linguistischer Fragestellungen. Vielleicht hat die Linguistik mit dem Schmuddelkind «Didaktik» ein interkulturelles Problem? Und vielleicht hat sie es (noch) nicht gemerkt?
Walter Haas
Alpträume eines weitherzigen Pedanten 1. Jeder Deutsche, der sein Deutsch schlecht und recht weiß, d. h, ungelehrt, darf sich, nach dem treffenden Ausdruck eines Franzosen: eine selbsteigene, lebendige Grammatik nennen und kühnlich alle Sprachmeisterregeln fahren lassen. (Jacob Grimm 1819, S. 3) Vor Jacob Grimm war es für diejenigen, die Grammatiken schrieben, klar, dass sie dies taten, um die Sprachpraxis der Leser zu beeinflussen - wozu hätten sie sonst die Mühe auf sich nehmen und wovon hätten sie leben sollen? Grimm konnte sich die Entlassung des Sprechers in die Freiheit leisten, weil er für sein Geschäft einen neuen Zweck und ein neues Publikum gefunden hatte: Es ging nun darum, die Sprache in ihrer regelhaften Entwicklung systematisch zu erforschen. Solch gelehrtes Wissen war an sich brotlos, aber es machte die Grammatiker zu «objektiven» Wissenschaftlern und öffnete ihnen die Hochschulen, die fortan für ihren Lebensunterhalt aufzukommen hatten. Die Studenten der Grammatik mussten sich freilich ihren Lebensunterhalt ebenfalls verdienen, und nur wenige fanden an den Universitäten Platz. Die meisten wurden tätig an Schulen und Gymnasien, wo sehr schnell klar wurde, dass es mit der «selbsteigenen Grammatik» der Schüler nicht weit her war. Die Jünger der Grammatik gerieten in die Situation, etwas lehren zu müssen, was nach den Überzeugungen ihrer Meister weder gelehrt werden musste noch sollte, und was sie an der Hochschule auch tatsächlich nicht gelernt hatten. Auch die Deutschlehrer waren durch Grimms Diktum in die Freiheit entlassen worden - in die Freiheit, ihren Schülern die eigene Grammatik einzuflössen. Einige nahmen die Mühe auf sich, trotz der gelernten Abneigung vor der «unsäglichen Pedanterei» der Schulgrammatik (Grimm S. 1) eben eine solche zu verfassen. Wer weiss, wie sie dies mit ihren wissenschaftlichen Überzeugungen in Einklang gebracht haben. Wenigstens theoretisch mussten ihre Gewissensbisse beim Korrigieren von Aufsätzen proportional mit ihrer linguistischen Qualifikation gestiegen sein.
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Die Grammatik als Hochschulfach blieb ein deskriptives Unternehmen. Die Wende zur synchronen Sprachwissenschaft änderte nichts daran, in ihrer Folge wurde die Beschreibung allerdings etwas mühsamer, da sich die vielen selbsteigenen Grammatiken als ziemlich unterschiedlich herausstellten. Für welche sollte man sich entscheiden? Ingeniöse Konstrukte, von der langue über das System, von der Grundmundart über den Idiolekt bis zum idealen Sprecher hatten nicht zuletzt die psychohygienische Aufgabe, dem wissenschaftlichen Grammatiker die Grammatik vor der Selbsteigentlichkeit zu retten, damit er sie kühnlich beschreiben könne. Dank der Erfindung der Variationsgrammatik gelang es endlich sogar, sich mit Varianten zu beschäftigen, ohne sich durch schulmeisterliche Urteile über sie zu kompromittieren. Und so sind denn unserer Überzeugungen stark und sicher geworden: Sprache ändert sich, Sprache ist geschichtet, diversifiziert; Aufgabe der Grammatik ist die Erfassung der vollen Vielfalt. Die normative Grammatik, eben jene Anmassung, die dem Schüler das Lernen seiner eigenen Muttersprache zumutet, indem sie gewisse vorkommende Formulierungen für richtig, andere für falsch erklärt - die normative Grammatik halten wir nach wie vor für eine wissenschaftliche Ungeheuerlichkeit. Heringers kongeniale Umformulierung des Grimmschen Diktums beweist seine unveränderliche Geltung: «Normen? Ja - aber meine!» Eigentlich bin ich mit Grimm und Heringer einverstanden, wie es sich für einen Hochschulgermanisten gehört, und als solcher kann ich es mir ja auch leisten: Die Erledigung der pedantischen Schmutzarbeit habe ich an die Kollegen der untern Schulstufen delegiert, niemand wird sich erlauben, von mir eine Übung zur Festigung des deutschen Präpositionalgebrauchs zu erwarten. Ich darf dafür (in grammatisch korrekten Sätzen) über die Unhaltbarkeit des normativen Denkens in der Sprache losziehen. Als Dialektologe bin ich dazu sogar fast verpflichtet, denn dem Wüten normversessener Lehrpersonen fallen ständig unsere besten Gewährspersonen zum Opfer. In den Becher meines normentoleranten Selbstgefühls fällt nur ein Wermutstropfen.
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Sogar als Hochschulgermanist bin ich doch auch eine Art Lehrer, ein Sprecher des Deutschen somit, der fast täglich deutsche Texte hierarchisch untergeordneter Produzenten zu beurteilen hat. Da gerät denn nicht selten meine selbsteigene Grammatik mit derjenigen des schwächern Partners in Konflikt, und in solchen Fällen stelle ich mit Befremden an mir fest, wie ich, statt eine neue, unerhörte Variante jubelnd in die Scheuer zu fahren, zum spitzen Griffel greife, um der sprachlichen Unfähigkeit der jetztlebenden Generation entschlossen zu Leibe zu rücken. Tief in mir schlummert der längst totgeglaubte Grimmsche Pedant, und es genügt eine falsche Verbform, um ihn auftauchen zu lassen, wie das Ungeheuer vom Loch Ness. Ach, wie mir vor ihm graut! 2. Jch herzlich erwate mir vom Ihnen Bekommen von ganzen Texte über diesem Arbeiten und Ihr neuen Forschungsarbeiten, damit jch werde die aus dem Deutschen ins chinesischen übergetragen und in unserem Land Verbreitung gefunden. Mit herzlichen Grüßen Ihr Zhang Zhemin (1984) Zhang Zhemin erhielt den verlangten Sonderdruck, mit seinem Brief ist ihm ein offensichtlich erfolgreicher Sprechakt gelungen. Obwohl der nichtnormative Linguist daraus mit Befriedigung die Lehre zieht, dass Normabweichungen dem Gelingen von Sprachhandlungen nicht im Wege stehen müssen, wird sogar er geneigt sein, die von Zhang angebotenen Varianten vielleicht doch eher als Fehler zu bezeichnen. Gottlob hat Zhang als Chinese das Recht, über keine selbsteigene Grammatik des Deutschen zu verfügen, und dies wiederum gibt uns das Recht, ja überbürdet uns die Pflicht, ihm eine Grammatik des Deutschen anzubieten. Eine Grammatik des richtigen Deutschen natürlich, das heisst eine ohne überflüssige Varianten, Deutsch ist so schon schwer genug. Im Bewusstsein, dem poor immigrant hilfreich unter die Arme greifen zu müssen, dürfen sich sogar gelernte Linguisten ohne Gewissensbisse an die Auswahl der «guten» Varianten machen - es geht ja nicht mehr um reine, zwecklose Beschreibung. Leonard Bloomfield verfasste ein praktisches Lehrbuch für das Deutsche und das Niederländische, Robert A. Hall eines für das Italienische und das melanesi-
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sehe Pidgin English, und beide strengen Deskriptivisten did not leave their languages alone: Selbstverständlich verschwiegen sie die «falschen» Varianten. Wir haben einen Bereich der Variation entdeckt, die wir auch als wissenschaftliche Linguisten bedenkenlos als Fehler bezeichnen dürfen: jene, welche die Fremden machen; und wir haben im Fremdsprachunterricht einen Bereich entdeckt, wo der gute Zweck normativem Gebaren karitative Würde verleiht, wo das Ungeheuer vom Loch Ness zum freundlichen Flipper wird. Wie erfreut er unser Herz! 3. Sobald das Kind aber älter wird, sein erster Schritt getan hat, merkt es ... (Matura-Aufsatz, Schweiz 1989) Ja, was merkt es? Zum Beispiel, dass es gar nicht so einfach ist, die schlechten Varianten objektiv von den guten zu unterscheiden - sogar in seiner Muttersprache. Zwar meinen einige, es gebe einen Kern, in dem sich alle über Richtig und Falsch einig seien - das wäre der eigentlich grammatische Bereich; darum herum gebe es einen Bereich, in dem es nur noch um Gut oder Schlecht gehe - das wäre das Königreich des Stils. Unser Maturand X aber geht nicht einig mit der Meinung aller, wonach es seinen ersten Schritt heissen müsste. Vielleicht würde er zustimmen, wenn man ihn darauf aufmerksam machen würde (diese Zustimmung unterscheidet, wie man sagt, «Fehler» von «Varianten»), aber wir stimmen unter entsprechenden Verhältnissen manchem zu, und der Linguistik geht es um den tatsächlichen Sprachgebrauch, nicht um seine metakommunikative Reflexion. Dass die morphologische Übereinstimmung des Akkusativs mit dem Nominativ im Standarddeutschen ein Fehler ist, merkt man vor allem daran, dass sie in ändern Varietäten des Deutschen korrekt ist. Zum Beispiel in der alemannischen Mundart, die jener Maturand als Muttersprache spricht. Damit hat sich Maturand X zu unserer Erleichterung Zhang Zhemin als ein weiterer Fremdling an die Seite gestellt, auch ihm dürfen wir, ohne uns als Pedanten zu fühlen, den falschen Akkusativ anstreichen: Interferenz liegt vor, sagen wir, schädliche Einwirkung eines ändern Sprachsystems. Als tüchtige Strukturalisten brauchen wir uns
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keine Gedanken über den unterschiedlichen Abstand der interferierenden Systeme zum Standarddeutschen zu machen. Als tüchtige Soziolinguisten schon eher. Ist es sinnvoll, nahe verwandte und funktional komplementäre Sprachen gleich zu behandeln wie das Chinesische und das Deutsche? Falls es nicht sinnvoll sein sollte - schreibt dann Maturand X eben nicht doch in seiner selbsteigenen, lebendigen Muttersprache, in die ich ihm aufgrund von Grimms Diktum nicht hineinzureden habe, schon gar nicht guten Gewissens? Maturand X gehört vermutlich noch zu einer Minderheit, aber er ist nicht der einzige, «wo der Akkusativ nicht kann»: Schon die Existenz des Witzleins belegt die Lebendigkeit des Fehlers. Des Fehlers? Wir haben doch gelernt, dass wiederkehrende gleichlautende und gleichbedeutende Elemente linguistische Formen sind. Linguistische Formen hat der Linguist zu beschreiben, nicht zu kritisieren. Vielleicht sind die Verächter des Akkusativs bloss ihrer Zeit voraus. Schliesslich hat man im Althochdeutschen auch noch hano von hanon unterschieden. X gehört zu einer fortschrittlichen Minderheit. Verdient er nicht Ermunterung? Dem überzeugten nichtnormativen Linguisten müsste also schon das Anstreichen eines dummen Akkusativfehlers wenn nicht Alpträume, so doch Gewissensnöte bereiten. Ihnen entziehen wir uns, indem wir säuberlich getrennte, je in sich korrekte Systeme unterscheiden und Interferenzsysteme zu Nichtsystemen erklären, in denen wir auch als gläubige Linguisten auf die Jagd nach Fehlern gehen dürfen. Wir bemühen uns verzweifelt, das Ungeheuer vom Loch Ness als Flipper zu kostümieren. 4. ...aber es dokumentiert die ernsthaften Schwierigkeiten, in die sich Descartes durch seine strikte Trennung von res cogitans und res extensa verstrickt hat, eine ontologische Spaltung, über die er insgeheim selbst erschreckt ist. (Manfred Geier, 1989, S. 202) Geiers erschreckt stürzt den korrigierenden Linguisten aus der eben wiedergewonnenen fragilen Sicherheit in ein Dilemma, das dem cartesianischen an Tiefe nachstehen mag - aber man erschrickt doch
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sehr vor «Fehlern», die kaum durch Interferenz zu erklären und somit erlaubterweise zu berichtigen sind. Dass sie nicht vereinzelt bleiben, macht es dem Systematiker wiederum nicht leichter. Wenn Geier von einer Partei spricht, die auf Aristoteles schwärte (S. 76), und vom philosophischen Denken, das sein endloses Band flechtet (S. 90), dann verleiht er seinen Abweichungen eben das, was wir so innig suchen, nämlich System: Es geht um den Ausgleich von minoritären Bildungsweisen und von Minderheitsformen eines Paradigmas. Der Schreiber verhält sich nicht nur konsequent, sondern auch «vernünftig». Kann, soll, darf man ihm unter diesen Umständen Verstösse gegen die deutsche Sprache vorwerfen? Der orthodoxe Linguist dürfte nicht mehr. Er dürfte nur noch feststellen, dass hier einer in interessanter und wiederum zukunftsträchtiger Weise von der Mehrheit abweicht. Wenn wir nicht gegen unsere gesamten Glaubensgrundsätze verstossen wollen, dürfen wir ihn nur deshalb, weil er (noch) in der Minderheit ist, nicht verurteilen schliesslich werden viele Sprachformen, die wir nicht als Fehler bezeichnen würden, ebenfalls nur von einer Minderheit verwendet: Wer gedenkt denn noch eines heckenden Aars? 5. Daran anschliessen die Angaben zur Stilschicht. (Seminararbeit, Hessen 1986) Wo es um den Stil geht, kann man nicht mehr von Richtig und Falsch sprechen - sagt man. Das müsste die Linguisten, die selten Poeten sind, eigentlich ungemein beruhigen: Keine pedantischen Anwandlungen aus den unerlösten Tiefen der Seele sollten hier ihre Ruhe gefährden. Leider ist die Grenze zwischen Grammatik und Stil verschwommen. Wenn C. F. Meyer dichtet «aufspringt der Strahl» ist's Stil, und zwar guter; wenn der Germanistikstudent hinschreibt, was im Motto steht, ist's eher Grammatik, und zwar falsche. Doch das grösste Problem entsteht paradoxerweise dort, wo es sich zweifelsfrei um Stil handelt. Unerwarteterweise reagieren wir ausgerechnet hier am allerwenigsten mit systemlinguistischer Abgeklärtheit. Kürzlich formulierte ein Student als Untertitel seiner Lizentiats-
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arbeit: «Ein Probelauf zu einem XY-Wörterbuch». Wie nur konnte das Ungeheuer solche Macht über mich gewinnen, dass ich sogar vor der Androhung schwerster Konsequenzen nicht zurückgeschreckt bin, um den armen Verfasser zur Änderung dieses Titels zu nötigen, den er doch für stilistisch ausgesprochen gelungen hielt? Weder ist es wahr, dass wir in stilisticis toleranter sind, als im grammatischen Bereich, noch kann es um Gut und Schlecht allein gehen: «[...] weil die Kompositabildung einen Problembereich darstellt, der den Skopus der vorliegenden Arbeit weit transzendiert» das ist doch weiss Gott nicht gut gesagt, aber keiner von uns würde sich gedrängt fühlen, Willy Mayerthaler (S. 111) durch Anwendung von Gewalt zur Verbesserung seines Stils zwingen zu wollen. Vermutlich ganz einfach deswegen, weil er trotz allem «unsern Stil» schreibt, was man vom Probelauf mm wirklich nicht behaupten kann. Wo Korrekturen am eindeutigsten linguistisch unberechtigt scheinen, lässt sich der Pedant in uns am wenigsten in Schranken halten. Und so stürzt der Stil den korrigierenden Linguisten nur umso brutaler in Selbstzweifel. 6. Das Erste, was man von jemand verlangt, der Anspruch auf Bildung macht, im Leben geachtet dastehen will, ist, dass er seine Muttersprache beherrscht. [...] Wer mir oder mich verwechselt oder orthographische Fehler macht, der wird überall, sei er auch noch so reich, Geringschätzung und in abhängiger Stellung, Zurücksetzung erfahren. (M. Übelacker, 1922, Einleitung) Übelacker, von dem ich nur weiss, dass er Lehrer an der Königlichen Unteroffiziersschule zu Berlin war, bewahrte dieser Beruf vor der Kurzsichtigkeit, an der viele bedeutendere Sprachgelehrte seit Grimm leiden: Er sah ganz klar, dass seinen Unteroffizieren ein Aufstieg, und sei es nur bis zum Feldwebel, verwehrt bleiben musste, solange sie auf ihrer selbsteigenen und leider sehr lebendigen Grammatik beharren sollten. «Wenn ich so rede, dass mein Partner mich nicht versteht oder mich missversteht, so füge ich nicht ihm Schaden zu, höchstens mir. Denn es ist ja mein Ziel, verstanden zu werden; sonst brauchte ich
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nicht zu reden. Jeder Eingriff von aussen in meine Sprache beschneidet meine Möglichkeiten und ist moralisch verwerflich.» Was Heringer da (S. 25) im Brustton des moralisch Gesunden vorträgt, könnte auch zynisch sein. Der Zusammenhang zwischen den Aufstiegschancen preussischer Unteroffiziere und der Verwechslung von mir und mich ist nicht über die Verständigung vermittelt - wie das Normenproblem überhaupt recht wenig mit Verständigung zu tun hat, vgl. Zhang Zhemin. Der Zusammenhang ist subtiler, und bis die Unteroffiziere ihn von sich aus durchschauen würden, käme für die meisten von ihnen die Einsicht zu spät. Menschliche Karrieren unterliegen Beschränkungen - nicht zuletzt zeitlichen. Und noch in einem hat Übelacker klarer gesehen als viele Klügere: In einem gewissen Sinne sind die sprachlichen Normen stärker als der soziale Stand - keiner darf sich Fehler leisten, auch wenn er zu den «Reichen» gehört, und das Normensystem bezieht seine Macht gerade aus der Tatsache, dass die gesamte Sprachgemeinschaft es anerkennt, auch und vor allem diejenigen, die es nicht beherrschen. Bourdieu hat schöner, Labov elaborierter gesagt, was Übelacker meint. Seine Plumpheit besteht darin, dass er offen akzeptiert, was die Wissenschaftler «objektiv» beschreiben. Kein linguistischer Überbau hat den Pedanten in ihm zum Untertauchen gezwungen. Der unverdrängte Pedant drängt Übelacker zum Handeln, zum «Eingriff von aussen». Statt es ihm übel zu nehmen, lohnten die Unteroffiziere ihm das unmoralische Tun, wie die einundzwanzig Auflagen seines eher dürftigen Werks zeigen. Diejenigen, die unter der Norm leiden, weil sie sie nicht von Haus aus beherrschen, bringen weder für die Normentoleranz der Grimms noch für die Leiden der korrigierenden Linguisten viel Verständnis auf. Natürlich wurde der Erfolgsautor Übelacker zum Profiteur des Systems, doch soll man wirklich den Arzt dafür tadeln, dass er sich von der Krankheit seiner Patienten ernährt? Vorwerfen könnte man ihm wie allen selbstbewusst-naiven Normverfechtern, dass er sich mit den Symptomen arrangiert hat. Den klügern Vertretern des Fachs darf dann aber der Vorwurf nicht erspart bleiben, dass sie nicht einmal bereit waren, sich um die Symptome zu kümmern.
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7. Offenbar ist Heringer ein Anhänger des Mythos von der homogenen Sprachgemeinschaft, gemäß dem jeder, sagen wir hier z. B. jeder Deutsche, durch ein Mirakel dieselben sprachlichen Regeln hantiert. (Renate Bartsch, 1987, S. 283) Wie ist es zu erklären, dass Bartschs zähe Prosa in der Auseinandersetzung mit Heringer beinahe so etwas wie Schwung erhält? Übelackers Lesern fällt die Antwort jetzt leicht: Nicht nur preussische Unteroffiziere, auch die «Reichen», ja sogar die Sprachgelehrten selber gehören zeitweilig zu denjenigen, die sich an die Norm klammern müssen, weil sie sie nicht (mehr) selbstverständlich «hantieren». Gerechterweise fällt der Linguisten Normverachtung auch auf die Zunft selber zurück: Kein gebildeter Lektor scheint mehr bereit, die Verstösse unserer Prosa «von aussen zu beschneiden», und so kann es denn passieren, dass sie so voll steckt von sprachlichen Varianten, wie Bartschs Plädoyer für die Norm voll steckt von niederländischen Interferenzen. Wir ändern Linguisten wären durch das Eingreifen des Lektors zwar der einzigen «zusätzlichen Stimulanz» beraubt worden, die jenes Buch zu bieten hat - aber gerade unser Vergnügen über jeden einschlägigen Fall verrät einen bedenklichen Mangel an Normentoleranz, und die Frage, ob der Korrektor oder der Lacher moralischer sei, stellt sich von neuem. Vielleicht lässt sich von Bartsch die Verallgemeinerung lernen, dass unter den Linguisten nur diejenigen die Norm offen verteidigen, die sie nötig haben. Bartsch steht wenigstens zu ihrer Bedürftigkeit. Doch wer von uns hat die Norm nicht nötig? Nicht immer, natürlich, und nur wegen der ändern, wenns draufankommt. Eben. 8. Seiner guten Herkunft und seiner Redefähigkeiten wegen, gewinnt er gegenüber seinen Mitschülern ein respektvolles Verhältnis. (Matura-Aufsatz, Schweiz 1989) Es ist nicht ganz sicher, ob Maturand meint, die gute Herkunft und die Redefähigkeit seines Protagonisten hätten ursächlich etwas miteinander zu tun, oder ob er sie für zwei grundsätzlich unabhängige Bedingungen des «respektvollen Verhältnisses» hält. Sicher ist, dass gute Herkunft und gute Sprache oft korrellieren; deswegen wird denn
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auch gerne die gute Sprache mit der Sprache der Herrschenden gleichgesetzt. Daran mag im Kern etwas Richtiges sein. Aber wiederum ist es gut, sich an die Einsicht Übelackers zu erinnern (oder wenn man lieber mag, Bourdieus), dass eben auch der «Reiche» als Reicher nicht einfach über die gute Sprache verfügt - auch er muss sich darum bemühen, und das nimmt der sozialen Bedingtheit der Sprache etwas von ihrem übelsten Beigeschmack. Es ist nicht auszuschliessen, dass das Prestige derjenigen, die die gute Sprache erworben haben, auch auf der Tatsache beruht, dass die gute Sprache nicht leicht zu erwerben ist. Sehr abstrakt könnte man zwei Gruppen von Normliebhabern unterscheiden. Die erste Sorte verteidigt die Norm, weil sie sie nicht beherrscht, sie aber beherrschen müsste. An sie denkt Bartsch, und ich meine, dass sie nicht Unrecht hat, wenn sie Normverteidigung dieser Art legal findet. Die zweite Gruppe verteidigt die Norm, weil sie verhindern möchte, dass andere sie beherrschen lernen. An die zweite Gruppe denkt Heringer, und ich meine, dass er nicht Unrecht hat, wenn er Normverteidigung dieser Art unmoralisch findet. Da sprachliche Normen als Wertungen sprachlicher Erscheinungen immer zu entstehen scheinen, auch wo keine präskriptiven Grammatiker ihr Unwesen treiben, da sprachliche Normen immer gelernt werden müssen, auch von den «Reichen», ist unmoralisch nicht die Norm, sondern unser Umgang mit ihr - z. B. auch die Verhinderung des Lernens der Norm. «Normen? Ja - aber meine!» ist ein durchaus korrekter Standpunkt, solange ich bereit bin, meine Normen denjenigen beizubringen, die von mir (und meinen Normgenossen) abhängen. Wunderglaube, wie Bartsch sagt, oder eher falsche Ideologie ist dagegen die Annahme, alle seien mir gleich (auch wenn ich doch wissen müsste, dass ich Hochschullehrer bin und die ändern meine Studenten), und sie würden von selbst und innert nützlicher Frist aufgrund ihres Verständigungswillens auf die gleichen Normen kommen, die ich schon befolge (auch wenn sie aus einer ändern Region und einer ändern Sozialschicht stammen).
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Einar Haugen hat es unangenehm offen ausgesprochen: «It would be nice if we could persuade polite society to accept Eliza Doolittle as she is, but in our heart of hearts most of us would prefer to associate with her after Dr. Higgins has straightened out her aiches.» (S. 209). In our heart of hearts wacht das Ungeheuer vom Loch Ness. 9. Wenn man jedoch nicht sehr gut daran ist etwas zu machen was man eigentlich gar nicht will, bleibt der Erfolg aus und man bekommt Selbstzweifel. (Matura-Aufsatz, Schweiz 1992) Mit vollendeter Stilsicherheit hat Maturand Z den Irrnis-Wirrnis-Zustand eingefangen, in den jeder gewissenhafte, gläubige, orthodoxe und zu allem Überfluss auch noch ehrliche Linguist beim Korrigieren (z. B.) geraten muss. Sollten unsere wissenschaftlichen Vorfahren Unrecht gehabt haben, als sie uns lehrten, die Sprache zu beobachten und zu beschreiben, wie sie ist, ohne an den Rotstift zu denken? Lässt sich die wissenschaftliche Auffassung von der Sprache nicht mit dem selbsteigenen Verhalten als Schreiber und vor allem als Korrigierer in Übereinstimmung bringen? Sind wir zu einem linguistischen Dr.-Jekyllund-Mr.-Hyde-Dasein verurteilt, indem wir auf dem Katheder, wenn das Ungeheuer sich nicht ans Tageslicht wagt, der Freiheit des Sprechers und seiner selbsteigenen Grammatik kühnlich das Wort reden, während wir nächtlicherweise dem Ungeheuer freien Lauf lassen, die lebendigen Texte unserer armen Opfer nach allen Regeln der Norm zu zerfleddern? «Man bekommt Selbstzweifel», auch wenn man sich einiges zu deren Überwindung zurechtgelegt hat. Ich werde nie den Glauben ablegen können, die Forderung nach objektiver Beschreibung sei gerechtfertigt, und die unterschiedlichen Grammatiken, die daraus resultieren, erfüllen mich mit linguistischer Wollust. Aber ich werde auch das andere Ergebnis der unparteiischen Beschreibung akzeptieren müssen, nämlich dass es keine noch so kleine Sprechergemeinschaft gibt, die auf die Bewertung der Sprache ihrer Mitglieder, auf Normen also, verzichtet. Das müsste uns zur Einsicht bringen, dass das Verketzern der Norm wenig mit Wissenschaftlichkeit zu tun hat. Übrigens können ja
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auch Weitungen objektiv beschrieben werden (Binar Haugen hat's vor Jahren gesagt, man kann es nicht genug wiederholen). Aber die objektive Beschreibung hilft uns ja eben nicht in unsern Selbstzweifeln. Wir können uns nicht der Einsicht verschliessen, dass alle Sprecher immer wieder in irgend einer Weise in die Lage versetzt werden, sich nach Nonnen richten zu müssen, die (noch) nicht ihre eigenen sind. Mit einem Quentchen praktischer Intelligenz hätten wir daraus längst den Schluss gezogen, dass vielleicht gerade die zweifelnden Linguisten den Sprechern dabei helfen sollten, statt sie den selbstbewusstnaiven Normierern oder gar den bösen Normverteidigern auszuliefern. Aber das ist in der Tat eine moralische, keine wissenschaftliche Entscheidung, hier hört die Objektivität auf, hinter der wir uns so behaglich eingerichtet hatten. Als Moralist hoffe ich inbrünstig, Normentoleranz sei tatsächlich möglich. Doch es bleibt eine Hoffnung, keine Überzeugung, schon gar keine wissenschaftliche. Ich hoffe, dass die Linguisten mithelfen können, die Menschen dazu zu bringen, abweichende Sprechweisen vor allem als abweichend statt als falsch oder lächerlich wahrzunehmen. Dass es ihnen gelingt, das eigene Ungeheuer und das der ändern an den Zaum zu legen. Aber alles hat seine Grenzen - wer ehrlich ist, merkt es an sich selbst am besten. Es wird immer Abweichungen geben, die der Pedant in uns nicht zu akzeptieren bereit ist - sogar wenn ihnen die Zukunft gehören sollte (vielleicht besonders in diesem Fall, es gibt ja auch den Neid der Alten auf die Jungen). Solche Pedanterei muss kein Grund zu existentieller Verzweiflung sein. Selbst die Konservativen haben eine Aufgabe in der Evolution, sie sorgen dafür, dass die Sprachveränderung nicht zu schnell verläuft. Und das Problem wird weiter entschärft dadurch, dass in Sprachlichem alle Menschen sowohl zu den Fortschrittlichen wie zu den Konservativen gehören nur je in bezug auf andere Normen. Im Grossen ist aller Grund zur Zuversicht gegeben, Grimm und Heringer haben schon recht: Die Sprache geht ihren ruhigen Gang. Doch wir leben im Kleinen und das Ungeheuer in uns. Die Zuversicht im Grossen darf nicht dazu verführen, dass wir meinen, die all-
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täglichen Probleme seien keine, die die preussischen Unteroffiziere, die Fremden, die Dialektsprecher, die Schüler, die Lehrer, die korrigierenden Linguisten und überhaupt alle Sprechenden im Umgang mit der Sprache und der Norm haben. Der Selbstzweifel wird uns erhalten bleiben. Selbstzweifel ist das Anständigste, was dem korrigierenden Linguisten zustossen kann. (Die Zitate stammen aus der Kollektion des Verfassers; deren Existenz allein, geschweige denn ihr ansehnlicher Umfang, entlarven die Neigung des Sammlers zur sprachlichen Pedanterei in erschreckender Weise.)
Zitierte und apostrophierte Literatur Bartsch, Renate: Sprachnormen: Theorie und Praxis. Tübingen 1987. (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 38). Bloomfield, Leonard: First German Book. Columbus OH 1923 (2. Aufl. New York 1928). Bloomfield, Leonard: Colloquial Dutch. New York 1944. Bloomfield, Leonard: Spoken Dutch. 2 vol. New York 1944,1945. Bourdieu, Pierre: Ce que parier veut dire. L'economic des echanges linguistiques. Paris 1982 (u. ö.). Geier, Manfred: Das Sprachspiel der Philosophen. Von Parmenides bis Wittgenstein. Reinbek 1989. (rowohlts enzyklopädie 500). Grimm, Jacob: Vorreden zur Deutschen Grammatik von 1819 und 1822. Mit einem Vorwort zum Neudruck von Hugo Steger. Darmstadt 1968. Hall, Robert A., Jr.: Melanesian Pidgin Phrase-Book and Vocabulary. Revised Version [...] with the Collaboration of Gregory Bateson, John W. M. Whiting. Baltimore MD, 1943. Hall, Robert A., Jr.: Leave Your Language Alone! Ithaca N. Y. 1950. Hall, Robert A., Jr.: La struttura dell'italiano. Roma 1971. Haugen, Einar: Schizoglossia and the linguistic norm. In: Richard J. O'Brien (Ed.): Georgetown University Round Table Selected Papers on Linguistics 1961-1965. Washington D. C. 1968, S. 203-209. Heringer, Hans Jürgen: Normen? Ja - aber meine! In: Hans Jürgen Heringer: Holzfeuer im hölzernen Ofen. Aufsätze zur politischen Sprachkritik. Tübingen 1988, S. 94-105.
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Mayerthaler, Willy: Morphologische Natürlichkeit. Wiesbaden 1981. (Linguistische Forschungen 28). Labov, William: Sociolinguistic Patterns. Phialdelphia 1972. Übelacker, M.: Mir oder Mich? Oder: Richtig deutsch sprechen durch SelbstUnterricht. Enthaltend: Sprachlehre (Grammatik), mit besonderer Berücksichtigung der Schwierigkeiten beim dritten und vierten Fall (mir oder mich), bei Vor- und Zeitwörtern. Alles mit vielen Übungen und Lösungen. Berlin 1922 (21. Auflage).
Götz Beck
Sprachkritik - Zur Phänomenologie einerSprachverwirrung l
Die Zurückhaltung der Sprachwissenschaftler vor den
Zu der öffentlich geübten Kritik an der hat in letzter Zeit auch die Sprachwissenschaft wieder stärker zustimmend oder - häufiger - ablehnend Stellung bezogen. Wo immer sich Sprachwissenschaft früher oder heute aufs Registrieren und Deskribieren beschränkte bzw. darin ihre wichtigste Aufgabe sah, lag in der Tat eine Verwechslung von Arbeitstechnik/-methode und deren nahe, eine Verwechslung, die - wenn schon im Betrieb der modernen Wissenschaften nicht eigentlich vereinzelt - nun doch umso bedenklicher wird, als eine auf pragmatische Nutzung aller gesellschaftlichen Tätigkeit eingestellte Öffentlichkeit darauf mit Irritationen zu reagieren begonnen hat, die für ganze Bereiche der Forschung existenzbedrohend werden können. Die Wirkungen seiner Forschung kann einer entweder intendieren oder wissend in Kauf nehmen (mit -Vokabular ausgedrückt: Handlungen lassen sich an der Zugluft der Realität nicht abkoppeln von den ); sie nicht sehen zu wollen mag wohl weiterhin als Kennzeichen desjenigen Gelehrtentypus angesehen werden, den aufgeregtere aber zielsicherere Zeiten einmal als seines Faches zu bezeichnen pflegten. Wo aber das Thema der öffentliche Sprachgebrauch ist, da geht es oder sollte es gehen (außer um die theorieschaffende Reduktion von Komplexität) mitteloder unmittelbar immer auch um dessen reibungsloses Funktionieren und um das, wofür auch das Funktionieren nur eine Funktion ist: das soziale Miteinander und die Beziehungen der einzelnen zueinander. Denn Menschen sind immer . Sprache, das dafür entscheidende Werkzeug und Bindemittel (Medium), reguliert sich nun nicht - oder: längst nicht mehr - im Freilauf, gewissermaßen von selbst: Dies hat sich überall dort herum-
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gesprochen, wo von den üblen Wirkungen der Massenmedien etc. die Rede ist. Aber es gibt - auch außerhalb der Familie und der sozialen Umwelt - noch andere institutionelle Faktoren. Von denen spielt jedoch nur die Schule im öffentlichen Bewußtsein eine besondere Rolle - selten (nicht zufällig, wie wir sehen werden) wird man sich des mittelbaren Einflusses bewußt, den z. B. auch die (Sprach-)Wissenschaft auf unser Sprachbewußtsein ausübt, auf das, was wir im Sprachlichen als anzusehen uns gewöhnt haben. So hat es z. B. erst in jüngerer Zeit des Einspruchs von Seiten der Wissenschaft bedurft, um mit der Erkenntnis, daß in den natürlichen Sprachen Bedeutungen nicht zugänglich und - selbst wenn: - Identifikationen mit Bedeutung keinesfalls erlaubt sind, allerlei etymologischem Schulstubenunfug ein Ende zu setzen. Man kann auch etwa denken an die sprechermeinungs-abstufenden (Modal-)Partikeln, die, perhorresziert lange Zeit als und , erst durch ihre der Sprachwissenschaft zu dankende funktionale Rehabilitierung langsam z. T. auch in geschriebener Sprache wieder Anerkennung und Heimatrecht bekamen, die ihnen selbst von konservativen Sprach-Sittenwächtern und Bildungsaufsehern nicht mehr streitig zu machen waren. Hier ist bereits der Hintergrund berührt, vor dem das Folgende wesentlich seine Bedeutung bekommt: die immer noch oft unterschätzte Problematik der regulativen Abgrenzungen der Bereiche mündlicher und schriftlicher Sprachverwendung und ihr wechselseitiger Einfluß aufeinander: jener durch diesen im Zaum gehalten, dieser durch jenen tendenziell vor Fossilisierung bewahrt1. Genau hier nämlich liegt der 1
v. Polenz (1964) sah als Gefahr nicht nur, daß das geschriebene Deutsch sich immer weiter von dem gesprochenen fortentwickele, sondern - in7 wohl leichtem Widerspruch dazu - auch, daß dieses «in gewissen Teilen der Sprachgemeinschaft (...) so sehr vom geschriebenen beherrscht wird, daß es verkümmert» (S. 68). Ähnlich auch Menzel (1979) oder Ehlich (1986), der in diesem Zusammenhang von Bevormundung und spricht (S. 77f.). - Man braucht solche Tendenzen nicht ganz und gar zu leugnen, um heute vielmehr deren auch bedenkliche Umkehrungen hervorzuheben. - Jedenfalls sehen wir in dem, was z. B. Ehlich und Menzel (u. v. m.), von Befangenheiten und Übertreibungen der Soziolinguistik der 70er Jahre
Sprachkritik -
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neuralgische Punkt, um den die Gemüter sich immer wieder erhitzen: das für beide verschieden zu Bewahrende und nicht mehr zu Bewahrende (in des Syntagmas doppelter Bedeutung) angesichts ihrer ungleichen Anpassungsgeschwindigkeiten an neue Erfordernisse und neue Moden ( - so würde man südlich der Alpen wohl sagen, wo z. B. man sich auch für den - literatursprachigen - Gebrauch seinen rhetoriknahen Elativ zu erhalten gewußt hat). - Und hier, an den Reibungs- und Bruchstellen liegt zum großen Teil die äußere Seite des Problems, das mit meist eher verdunkelnd als klärend bezeichnet zu werden pflegt. Wenn gerade Lexikologen und Grammatiker gewöhnlich eine mehr oder minder konstatierende Beobachterfunktion auch bei wichtigen Fragen des sprachlichen Alltags als die angemessene ansehen, so geschieht dies oft noch immer unter Berufung auf die zwar populäre, theoretisch aber nicht zu rechtfertigende, letztlich sich nur praktischen Erfordernissen verschiedener Adressatengruppen verdankende /-Opposition. - hieße in diesem Zusammenhang: Vereinzeltes hat keinen Zeichencharakter. Wenn aber Zeichen auf Konvention beruhen, so hat, wer bezeichnen will, sich der zu unterwerfen. Beschreibung der Sprache kann daher gar nichts anderes sein als eine solche von Normen, und ist tatsächlich nichts anderes als gleichsam die paralleler, u. U. konkurrierender (/) Normen, wie sie für Lernzwecke allerdings ungeeignet ist. Das Prinzip der Nichteinmischung in praktische Fragen (d. i. zumeist: in aktuelle Bedürfnisse) gilt vielfach noch immer als Prärogativ von Wissenschaft(/-lichkeit), wenn bisweilen auch schon peinlich offenbar wurde, daß Gründe für die Zurückhaltung (z. B. bei den noch beeinflußt, an Versuchen der Rehabilitierung und Aufwertung mündlichen Sprachgebrauchs gegenüber schriftlichem beigetragen haben, die heute gravierenden Spracherziehungs-Probleme ideologisiert und in der Wurzel verkannt. Gänzlich ins Leere laufen Ivos (1976) bemühte Problematisierungen. Polenz' umsichtige Arbeiten (1964; 1966/67; 1981) bleiben in der vielen Kritik-kritischen Literatur die wohltuende Ausnahme.
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Problemen der ) auch einfach nur in fehlenden internen Konsensen liegen können. Gelegentlich beruft man sich auch schon einmal auf die Inkompatibilität von Sprachwissenschaft und Sprachkritik (vgl. Gauger: 1995) - doch würde diese konsequenterweise Abgrenzungen nach sich ziehen, über deren Folgen man sich Rechenschaft lieber erspart. Jedenfalls fiele damit wohl mehr aus dem Bereich der Wissenschaft heraus als nur das, worauf diese schon traditionell gern Verzicht leistete, indem sie z. B. so grundverdächtige Größen wie Stil- oder Sprachgefühl (da nun einmal nicht abzuschaffen) bereitwilligst der Riege der überließ. Die germanistische Linguistik hat sich, so formuliert es auf einem Germanistentag K. Bayer, «von einem der literarischen und sprachkulturellen Tradition verpflichteten Kernfach der alten philosophischen Fakultät zu einer wertfrei bis normenkritisch arbeitenden Sozialwissenschaft» gewandelt. Wo Normatives ins Spiel kam, ging es allerdings der kritischen Literaturwissenschaft nicht eigentlich anders; man hat so seine Gründe, den Umgang mit Normen zu meiden: Da ist (1.) der kategorische Imperativ wissenschaftlicher Objektivität und (2.) der kategorische , alles anzuerkennen als in fortwährender Veränderung begriffen (die als zu bezeichnen manchmal freilich nur um den Preis von Redlichkeit oder Realitätssinn möglich ist). Dazu (3.) die neuere Erfahrung der Affinität von Regel und Regelung (Wissenschaft), Regulierung (Eingriff) und Reglementierung (Manipulation) - und (4.) das Bewußtsein, das Ideologien und Zukunftsgewißheiten heute definitiv hinter sich wähnt; hiermit z. T. verbunden (5.) die länger schon zu beobachtenden Trends eines neuen Subjektivismus. Woher also die Legitimation für Normen? Die Sprachwissenschaft hatte sich auf dem Gebiet der Normen lange so wenig , daß, als sie es dann endlich auf dem so hochsensiblen wie fossilisierten der Rechtschreibung doch einmal wieder energisch unternahm, ihr von Journalisten und aufgebrachten (Part. Pass.) Politikern im Verein mit sich immobil haltenden wechselweise Legitimation und Feingefühl abgesprochen wurden - eine bittere Konsequenz versäumten -Engagements und vernachlässigter dialogbereiter Öffentlichkeitsarbeit. Verunsicherte Schullehrer oder sprachinteressierte Zeitungsleser u. a. konnten etwa auf durch Sprachwandel verursachte Sprachrichtigkeits-Fragen von wissenschaftlicher Seite nur selten Auskunft erwarten - dafür: noch und noch Beschwichtigungen ihrer Klagen über das, was sie als allgemeinen Niedergang des Sprachgefühls empfanden, sowie (gegebenenfalls) Hohn für daraus sich nährende Befürchtungen eines , die in irgendeinem Sinne statistisch auswertbare Aussagen zu erwarten. Und es ist auch die prinzipielle Problematik in Rechnung zu stellen, ob nicht die gutwillig Kooperativen einen die Richtung der Antwort prä15
Der Briefausschnitt-Text, ursprünglich nicht beabsichtigt, ergab sich erst aus der Absicht, Akzeptationsbereitschaften auch für Übernahmen aus mündlichsprachigen Wendungen zu erfragen, wie sie kolloquialer Briefstil ja jederzeit zuläßt - so etwa für hyperbolisches ; in Verstärkerfunktion; in der einer Gradpartikel (= ); (s. o.). - Aber man kann grundsätzlich natürlich nicht schriftsprachige Toleranzbereitschaft anhand von kolloqialem Umgangsstil messen. Wegen der auch dadurch inhomogenisierten Einzelkorrekturen war die Entscheidung für einen Briefausschnitt-Text daher wohl ein Fehler.
Sprachkritik -
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judizierenden Ausschnitt aus der Gesamtmenge der Befragten bildeten16. Namentlich diese u. U. 9 A. a. O.
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1. Sie müssen durch «Aufsuchung und Bemerkung der übereinstimmigen Art des Verfahrens in jeder Sprache selbst aufgesuchet werden.» 2. Sprachregeln sind «bloße Erfahrungssätze, [...] so sind sie auch nur wahrscheinlich, und können nicht anders als durch Beispiele erwiesen werden.» 3. «Sie müssen dem jedesmaligen Zustande einer Sprache und ihrem Gebrauche auf das genaueste angemessen seyn.» 4. Sie müssen, wenn sie die «allgemeine Sprache eines ganzen Volkes umfassen und darstellen sollen, aus dessen allgemeiner Schriftsprache, folglich im Deutschen aus der Hochdeutschen Mundart, gesammelt werden.»20 Drei Kriterien in diesem Katalog sind sprachtheoretischer Art: das der Einzelsprachlichkeit, das der Geschichtlichkeit und das der Schriftsprachlichkeit; und eines weist den Sprachregeln ihren wissenschaftstheoretischen Status zu.21 Der Abschnitt endet mit einer Reflexion auf die Rolle derjenigen, die Sprachlehren erarbeiten, auf die Rolle also der - wie Adelung sagt - Sprachlehrer und mit einer Reflexion auf die «Würde der Sprachkunst». In diesen Reflexionen wird ein Verständnis von Wissenschaft erkennbar, das die Wissenschaftspraxis strikt auf Erkenntnisgewinn ausrichtet und eben darin den kulturellen Nutzen von autonomer Wissenschaft als erwiesen sieht. Als Wissenschaftler kann darum der Sprachlehrer nicht «Gesetzgeber der Nation» sein. Er ist Sammler und Herausgeber, Sprecher und Dolmetscher der Nation. Er entscheidet nie, sondern sammelt nur die entscheidenden Stimmen der meisten. [...] Er stellt die Sprache so dar, wie sie wirklich ist, nicht wie sie seyn könnte, oder seiner Einbildung nach seyn sollte.22
Daß mit dieser empirischen Vorgehensweise und mit der am Primat der Erkenntnis orientierten Untersuchungspraxis, die kulturelle und damit auch die didaktische Relevanz des Untersuchungsthemas nicht 20 21
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UL(1782).I. S. 112/113. Zu dieser für die fachdidaktische Selbstreflexion wichtigen Zuweisung siehe Ossner(1993). UL(1782).I. S. 113/114.
Adelungs Grammatiken
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zum Verschwinden gebracht wird, ergibt sich aus Adelungs Konstituierung des wissenschaftlichen Gegenstandes «Hochdeutsche Mundart»; sie wird in den dann folgenden historischen Überlegungen zur «Würde der Sprachkunst» noch einmal unterstrichen. Nachdem nämlich der Kosmos der Freien Künste zerbrochen und davon «weiter nichts als die Schreibkunst [...] und höchstens die gemeine Rechenkunst» sich als Rest erhalten hat, ist die «Sprachkunst» ohne Ansehen. Man sähe sie als ein bloßes Werk des Gedächtnisses an, bey welchem Verstand und Nachdenken nichts zu thun hätten; sie blieb den niedern Schulen überlassen, und die Männer, welche sie vortrugen und lehrten, waren selten an so vieles Nachdenken gewöhnt, daß sie auch nur die Oberfläche der Sprache hätten durchdringen können.23
Um ihr Ansehen wiederherzustellen, muß die Sprachlehre als ein Kernbereich der alten Sprachkünste Thema wissenschaftlicher Anstrengung werden; denn «sie ist des vernünftigen und wissenschaftlichen Vertrags» sehr wohl fähig. Sie muß ihren «Begriffen [...] den höchsten nur möglichen Grad der Deutlichkeit und Bestimmtheit geben» und «die Gründe aller Erscheinungen so tief» aufsuchen, «als die Natur der Sache es verstattet.» Eben auf solche Weise auch in den Schulen gelehrt, wird «auch die Sprache davon den ausgebreitesten Nutzen empfinden.»24 Diese sprach- und wissenschaftstheoretischen Überlegungen zu einer deutschen Sprachlehre finden sich im «Umständlichen Lehrgebäude», also in jener ausführlichsten Fassung der Grammatiken Adelungs, die sich, unterscheidet man sie vom Adressatenbezug her, an Studenten richtet. Sie finden sich stufenweise reduziert auch in der «Deutschen Sprachlehre» und im «Auszug», also in denjenigen Fassungen, die zum Gebrauch in höheren bzw. niederen Schulen bestimmt sind.
23
UL (1782). I. S. 115.
24
UL(1782). I. S. 116.
ivo
190 3
Didaktische Reduktion: «welche in einem Schulbuch nur allgemein vorgetragen und oft nur berühret werden können.»25
In einer ersten Annäherung läßt sich die Reduktion quantitativ darstellen. Der unterschiedliche Umfang des Eingangskapitels bzw. des hier besondern interessierenden Unterabschnitts zur Theorie der Sprachlehre beträgt (abgerundet) in der Zahl der Seiten gemessen: Einleitung insgesamt Unterabschnitt: Theorie der Sprachlehre
UL DS 1148 28 4
A 2
Verändert sich mit dieser Kürzung auch der Gehalt dessen, was in diesem Kapitel vorgetragen wird? Nimmt man an, dies sei nicht der Fall, dann stellen sich die Fragen, wie denn die Identität der Gehalte trotz solch gewiß beachtlicher Komprimierung gewahrt werden kann und was an einem solchen Prozeß, der dies zustandebringt, denn «didaktisch» ist. Geht man dagegen davon aus, daß sich die Gehalte des Vorgetragenen in einem wesentlichen Sinn verändern, so kann wohl nicht mehr von Reduktion, von Zurückführung die Rede sein; es müßte vielmehr nach der Eigenart der Veränderung der Gehalte gefragt werden. Ob sie z. B. als Transformation aufzufassen ist oder als Sprung von einer Ordnung in eine andere oder auf sonstige Weise. Werden diese Fragen für das Eingangskapitel gestellt, so sind sie besonders aufschlußreich; und zwar deshalb, weil die skizzierten Überlegungen aus dem «Umständlichen Lehrgebäude» sich auf sprach- und wissenschaftstheoretische Voraussetzungen von Grammatikschreibung und auf die wissenschaftsgeschichtliche Situierung von Grammatikographie beziehen; also auf Themen, die wir gegenwärtig für wissenschaftliche und philosophische Publikationen zu reservieren geneigt sind und nicht in Schulbüchern erwarten. Es zeigt sich nun aber, daß die sprach- und wissenschaftstheoretischen sowie die wissenschaftsgeschichtlichen Erwägungen komprimiert auch in der «Deutschen Sprachlehre» vorgetragen werden und daß dies im 25
UL (1782). I. S. V.
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«Auszug» immerhin noch für die sprachtheoretischen Reflexionen gilt. Die Reduktionen werden vor allem durch Abstraktionen ermöglicht. Diese garantieren, daß der Gehalt bei Verminderung des Umfangs gewahrt bleibt. Die knappste Sprachlehre, die als «Auszug» die grammatischen Themen auf 200 Seiten ausbreitet, ist die abstrakteste; das «Umständliche Lehrgebäude», das dem akademischen Studium dienen soll, ist mit 1682 Seiten die umfangreichste und die konkreteste; dazwischen liegt die «Deutsche Sprachlehre» mit 519 Seiten und einem, bezogen auf den «Auszug», höheren Anteil an Konkretion. Das Auffälligste an dieser gestuften Abstraktion läßt sich auf drei Punkte bringen: je jünger die Adressaten - desto weniger beispielhafte Verdeutlichungen; - desto weniger Erläuterungen; - desto weniger Darstellungen von Beobachtungs- und Denkwegen und desto konzentrierter die Darstellung von Ergebnissen. Daß Adelung ausgerechnet diejenige Fassung seiner Sprachlehre des Deutschen, deren Darstellung besonders abstrakt ist, für die unterste Bildungsstufe vorsieht, mag verwundern. Schon Jakob Grimm, der freilich die Möglichkeit einer «Grammatik der einheimischen Sprache für Schulen und Hausbedarf» überhaupt in Abrede stellt, hat daran Anstoß genommen. Er sieht in den Abstraktionen nur einen «seichten Auszug der einfachsten und darum wunderbarsten Elemente» grammatischen Denkens.26 Seine Kritik betrifft somit die Qualität der Abstraktion, während unser gegenwärtiges Verwundern vielleicht eher damit zu tun hat, daß Adelungs Zuordnung eine Maxime zu verletzen scheint, die für uns offenkundig und selbstverständlich gültig ist, daß nämlich Lehrbücher für die unterste Bildungsstufe besonders anschaulich sein, mit Beispielen arbeiten und den Weg zur Begriffsbildung der Kinder bahnen sollten. Dieser unterrichtsmethodische und lernpsychologische Gesichtspunkt ist aber offensichtlich nicht der entscheidende für Adelung, die drei Fassungen seiner Sprachlehre Lernaltern und Schulformen, also Bildungsstufen zuzuordnen.
26
S. Anm. 15.
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Sein leitender Gesichtspunkt ist wohl eher ein «didaktischer» zu nennen, wenn unter «didaktisch» verstanden wird, daß Auswahl und Struktur von Lern- und Bildungsthemen zur Geltung gebracht werden sollen. Unsere Aufmerksamkeit wird also den thematischen Gehalten seiner Sprachlehren gelten müssen, um zu erfahren, was didaktische Reduktion bei ihm ausmacht. Die Fragen könnten z. B. lauten: Kommen alle Lern- und Bildungsthemen in den drei Fassungen vor oder werden einige bestimmten Bildungsstufen vorbehalten? Oder: Werden in den verschiedenen Fassungen unterschiedliche Aspekte der Themen hervorgehoben? Oder: Werden identische Lernthemen nur unterschiedlich ausführlich behandelt? Zwei Beispiele sollen die Grundlage schaffen, auf der eine Antwort auf diese Fragen gesucht wird. 1. Beispiel: «[...] folglich haben wir dazu mehrere Wörter nöthig.»27 Adelung bezieht sich mit diesem Satz nicht auf die prinzipielle Unabgeschlossenheit des Lexikons einer Sprache; er begründet vielmehr, warum, um ein Einzelnes auszusagen, mehrere Wörter nötig sind. Das Thema der Passage, in der er die Begründung vorbereitet, heißt «Was denken ist». Ausgehend von der Setzung, daß alles, was gedacht werden kann, entweder selbständig oder unselbständig ist, gelangt er zu der Definition: unser Denken bestehe darin, «einem selbständigen oder selbständig gedachten Dinge etwas unselbständiges einzuverleiben.»28 Dies aber ist nur stufenweise und nacheinander möglich, denn wir können uns ein Ding nicht mit allen seinen Bestimmungen auf einmahl vorstellen, noch weniger aber es mit einem einigen Wort ausdrukken, sondern müssen das Ding mit seinen Bestimmungen einzeln und nach einander denken und ausdrucken.29
Die verschiedenen Wörter, die hierfür nötig sind, lassen sich dann nach ihren unterschiedlichen Funktionen in diesem Prozeß klassifizieren; damit gewinnt Adelung ein einheitliches Prinzip, die 27
UL(1782). I. S. 273/274. UL(1782). I. S. 273. 2 9 A. a. O. 28
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«Redetheile» bzw. - wie er auch sagt - die «Arten der Wörter»30 in der deutschen Sprache herzuleiten und in eine innere Ordnung zu bringen. Adelung leitet also aus einer anthropologischen Bestimmung, nämlich aus der Eigenart menschlichen Vorstellens und Denkens, die Notwendigkeit unterschiedlicher Redeteile her. Freilich ist diese Deduktion keine unmittelbare; denn die Bedingungen menschlichen Daseins, auf die sich Adelung beruft, sind zwar universal, die Antworten der geschichtlichen Menschen auf sie sind aber sehr unterschiedlich. Folglich muß es zwar in jeder Sprache aus anthropologischen Gründen Redeteile geben, aber deren jeweilige Ausprägung ist einzelsprachlich. Das Prinzip, von dem her Adelung die überkommene Lehre von den partes orationis neu konstruiert, läßt sich somit als ein aitiologisches bestimmen, das allgemeinmenschliche und besondere geschichtliche Aspekte in sich vereinigt. Unabhängig davon, ob und warum dieses Prinzip kritikbedürftig erscheint, stellt sich für die Überlegungen zur didaktischen Reduktion die Frage, ob und wie Adelung diese sprachphilosophische Grundannahme des «Umständlichen Lehrgebäudes» auch in den Schulgrammatiken zur Geltung bringt. Die Antwort auf diese Frage fällt eindeutig aus: Adelung rechnet die anthropologische und historische Herleitung der Redeteile zu den Lernthemen der gelehrten wie der niederen Schulen. Die Unterschiede zum «Umständlichen Lehrgebäude» sind eher geringfügig: so vermeidet er z. B. die Fachtermini «Materie» und «Form» und ersetzt ausführlichere Umschreibungen der conditio humana durch die umgangssprachliche Wendung «unser Verstand ist zu eingeschränkt»; oder er verzichtet auf differenziertere Darlegungen zur Vorstellung vom selbständigen Ding. Quantitativ und qualitativ fällt nur ins Gewicht, daß in den Schulgrammatiken auf die Kritik an der überkommenen Grammatikschreibung verzichtet wird, daß also die explizite Situierung dieser beiden Fassungen im grammatikographischen Dis30
Adelung verwendet in den Kapitelüberschriften der «Deutschen Sprachlehre» und des «Umständlichen Lehrgebäudes» die Ausdrücke «Arten der Wörter» und «Redetheile» synonym. Zu dieser Terminologie siehe Ivo (1994). S. 327/328.
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kurs unterbleibt. Adelungs didaktische Reduktion betrifft also zunächst einmal die Situierung eines Lern- und Bildungsthemas im aktuellen Diskurs über dieses Thema. In den Schulfassungen der Sprachlehre bleibt diese Situierung unausgesprochen. 2. Beispiel: «[...] so sind die Hauptwörter der erste und wichtigste Redetheil, um dessen willen alle übrigen da sind.»31 Warum ist das so? Weil ein Substantiv oder Hauptwort ein «Nähme eines selbständig gedachten Dinges» ist und «alle unsere Vorstellungen und Gedanken durch selbständige Dinge veranlasset worden und sich wieder auf sie beziehen.»32 Die aitiologische Erklärung der Redeteile wird also erneut aufgegriffen und zu einer besonderen Erklärung des Redeteils Substantiv weitergeführt. Die Zitate finden sich in der «Deutschen Sprachlehre»; diese Aitiologie ist also Lernthema in den höheren Schulen. Ist sie es auch in den niederen Schulen? Ein Vergleich der ersten Passagen in der «Deutschen Sprachlehre» und im «Auszug», die von den Arten der Hauptwörter handeln, gibt darauf eine eindeutige Antwort: auch für das niedere Schulwesen ist diese metaphysische Dimension der Substantiv-Definition ein Lernthema. Zugleich zeigt aber der Vergleich eine weitere Weise Adelungs, wie er ein Lernthema didaktisch reduziert. Deutsche Sprachlehre § 140 Das Substantivum oder Hauptwort ist der Nähme eines als selbständig gedachten Dinges. Da alle unsere Vorstellungen und Gedanken durch selbständige Dinge veranlasset worden, und sich wieder auf sie beziehen, so sind auch die Hauptwörter der erste und wichtigste Redeteil, um dessen willen alle übrigen da sind. §141 Die Dinge, welchen der Mensch Nahmen gegeben hat, sind entweder wirklich für sich bestehende Dinge, oder sie sind es nicht, sondern werden nur von uns als selbständig gedacht. Die Substantiva theilen sich daher in zwey Haupt-Classen, in solche, welche wirklich selbständige Dinge bezeichnen,
31 DS(1795). S. 85/86. 32 A. a. O.
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Concreta, und solche, welche unselbständige Dinge als selbständig ausdrukken, Abstracta.33 Auszug §105 Die Substantiva sind Nahmen für sich bestehender Dinge, oder solcher Dinge, die sich zählen lassen. Diese Dinge sind entweder von Natur aus für sich bestehend, Mensch, Baum, Haus; oder sie sind nicht so vorhanden, sondern werden nur so gedacht und ausgedruckt, Schönheit, Größe, Bitterkeit, welche immer an anderen Dingen befindlich sind, aber doch so ausgedruckt werden, als wenn sie wirklich für sich selbst vorhanden wären. Die ersteren heissen Concreta und die letztern Abstracta.34
Die «Deutsche Sprachlehre» gibt in einem gesonderten Paragraphen eine allgemeine Definition des Substantivs und führt dann in einem weiteren die Unterscheidung der Substantive in Konkreta und Abstrakta ein. Im «Auszug» wird beides in einem Paragraphen vorgetragen. Adelungs Problem besteht in beiden Fassungen offenbar darin, daß er die Unterscheidung nicht nur einfach einführen, sondern auch darstellen und erklären will, wie sie zustandegekommen ist. Wollte er die Unterscheidung nur treffen, so hätte der Abschnitt etwa so beginnen können: Substantive lassen sich vielfach unterscheiden. Eine erste Unterscheidung betrifft ihren Gehalt: er ist konkret oder abstrakt. Beispiele für erstere sind «Mensch», «Baum», «Haus», für letztere «Schönheit», «Größe», «Bitterkeit». Daß er einen solch naheliegenden Weg nicht beschreitet, sondern den der philosophischen Erklärung wählt (wie rudimentär diese auch ausfällt), unterstreicht noch einmal die eingangs getroffene Feststellung, daß Adelung eine solche Erklärung als konstitutiv für das grammatische Lernthema Substantiv ansieht. Die größere Ausführlichkeit der Formulierungen in der «Deutschen Sprachlehre» bringen nun - interessanterweise gerade wegen der klaren Darstellungsweise, die die Historiographen Adelung bescheinigen35 - die ungelösten 33 34 35
DS(1975). S. 85/86. A (1794). S. 40. Beispielhaft sei auf Engelien verwiesen: «[...] standen diesem Manne nun aber Vorzüge zu Gebote, welche ihm zu der Bedeutung verhalfen, die er un-
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Probleme seines Erklärungsansatzes zum Vorschein. Wenn nämlich davon die Rede ist, daß in abstrakten Substantiven nur so getan werde, als sei von selbständigen Dingen die Rede, deutet sich die Frage nach der Rolle des Substantivs im Erkenntnisprozeß an; wetterleuchtet sie gewissermaßen in seinem Text. Einerseits soll die Basisdefinition lauten: - Substantive sind Namen für selbständig gedachte Dinge; andererseits soll aber folgende Unterscheidung gelten: - Substantive sind Namen für wirklich selbständige Dinge; - Substantive sind Namen für etwas, das von uns nur als selbständig gedacht wird. In der Konsequenz der dritten Formulierung wären Substantive als Abstrakta die sprachlichen Werkzeuge zur Verhexung unseres Verstandes, während die erste und die zweite Formulierung zur Vorstellung von der wirklichkeitskonstitutiven Potenz der Substantive drängen. Adelung bleibt aber, wenn man das so sagen kann, im Vorhof dieser Erörterung, greift in §153 der «Deutschen Sprachlehre» das Problem der Substantiva als Abstrakta wieder auf und löst es ganz im Sinne seines Konzepts einer «pragmatischen Sprachgeschichte»36: Abstrakta sind notwendig «für die gelehrte Erkenntniß, welche ohne Wörter dieser Art nicht statt findet, daher sie sich auch bey einem Volke häufen, je mehr es in der Cultur wachset.»37 Gegenüber der größeren Ausführlichkeit der «Deutschen Sprachlehre», die Problematisches im eigenen Erklärungsansatz sichtbar werden läßt, sind die knapperen Formulierungen im «Auszug» darauf angelegt, die aitiologische Erklärung als eine problemfreie einzuführen. Adelungs didaktische Reduktion erfaßt also das Ungesicherte der Erklärung, sie zielt für die unterste Bildungsstufe auf die Reduktion von Ungewißheit.
36
37
streitig bis auf die neueste Zeit hat; dies war sein unermüdlicher Fleiß, vor allem seine verständige Klarheit. Von beiden zeugt jede Seite seiner Bücher.» Engelien(1889). S. 319. «Eine gründliche Sprachlehre ist gewisser Maßen eine pragmatische Geschichte der Sprache [...]». UL (1782). I. S. V. DS(1795). S. 90.
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Eine weitere Form der didaktischen Reduktion Adelungs kommt in den Blick, wenn verglichen wird, in welchem Maße Unterscheidungen ausdifferenziert werden. So unterscheidet Adelung die Konkreta gleichlautend in der «Deutschen Sprachlehre» und im «Auszug» in Eigennamen einerseits und in Appellativa, Kollektiva und Materialia andererseits. Dagegen sind die Abstrakta in beiden Fassungen in unterschiedlichem Grade ausdifferenziert. In der «Deutschen Sprachlehre» heißt es: Die zweite Haupt-Classe der Substantive, die Abstracta, stellen etwas Unselbständiges als selbständig dar. [...] Sie theilen sich wieder in verschiedene Arten, nachdem das Unselbständige an den Dingen beschaffen ist, welches als selbständig betrachtet wird. Die vornehmsten sind folgende: 1. Das wirkende an einem Dinge, die wirkende Ursache [...]. 2. Die Wirkung und jede Veränderung [...]. 3. Der Uebergang des Unselbständigen in das Selbständige, das Concresziren einer Beschaffenheit. 4. Die Handlung als etwas Selbständiges [...]. 5. Eine Beschafffenheit [...]. 6. Eine Eigenschaft an einem selbständigen Dinge. 7. Ein Zustand [...].38
Im Vergleich damit fällt die entsprechende Passage im «Auszug» wesentlich knapper aus: Die Abstracta stellen etwas, das an einem ändern Dinge befindlich ist, so vor, als wenn es für sich selbst da wäre, d. i. sie stellen etwas Unselbständiges als selbständig dar. Dergleichen ist z. B. eine Eigenschaft [...], eine Handlung [...].39
Die Aufteilung der Abstrakta führt in beiden Fällen nicht zu einer geordneten Menge von Elementen, also zu keiner an einem einheitlichen Prinzip orientierten Disjunktion. Auch die 7er-Liste ist dazu noch eine offene, aus der nur die wichtigsten («die vornehmsten») Beispiele aufgeführt werden, ohne daß der Bewertungsgrund expliziert wird.40 Das «dergleichen» im «Auszug» kennzeichnet die 2er38 39 40
DS (1795). S. 90/91. A (1794). S. 41. Das «Umständliche Lehrgebäude» führt eine 9er-Liste an. Zusätzlich zu der Liste der «Deutschen Sprachlehre» werden genannt: «[...] die Materie an
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Liste als eine ebenfalls relativ beliebige und offene. Die didaktische Reduktion zielt also in diesem Zusammenhang auf eine Reduzierung ungeordneter Mengen oder - philosophischer ausgedrückt - auf Reduzierung von Kontingenz. Die oben aufgeworfene Frage, was denn die didaktische Reduktion bei Adelung ausmache, läßt sich, wenn die Beobachtungen verallgemeinert werden dürfen, versuchsweise so beantworten: Die Lernthemen in den verschiedenen Bildungsstufen sind mit den Themen der wissenschaftlichen Untersuchung der deutschen Sprache identisch. Dies gilt insbesondere auch für die philosophische Dimension der Erklärungen. Die didaktische Reduktion betrifft dreierlei: 1. Den Diskurs über die sprachlichen Untersuchungs- und Lernthemen. Didaktische Entscheidungen werden in den Schulbüchern selbst nicht hergeleitet und begründet. Etwas salopp formuliert: Schüler sollen lernen, was ein Redeteil ist, nicht aber, warum welche Geistesgrößen über deren Definitionen streiten. 2. Den Grad der Sicherheit, mit dem über ein sprachliches Phänomen Aussagen gemacht werden können. einem Ding als selbständig» und «[...] die Beschaffenheit, als dem Ding schon beygelegt, [...] als einem Zustand.» Zur Erklärung weist Adelung die Auffassung zurück, diese Abstracta könnten einen «vorzüglichen Beweis des menschlichen Scharfsinnes» abgeben. Sie sind für ihn vielmehr ein «Beweis der Eingeschränktheit unseres Verstandes, und ihr Ursprung ein Merkmal seiner großen Kindheit auf den ersten Stufen seiner vernünftigen Erkenntniß.» Mit plastischen Worten leitet er dieses Werturteil aus der Evolutionsgeschichte des menschlichen Geistes her: «Diese Unvollkommneheit ist einmahl so tief in unsere Seele verwebt, daß auch der große Geist eines Newton hier keinen anderen Weg gehen kann, als der rohe Verstand des thierischen Hottentotten. Dem ungebildeten Naturmenschen ist alles belebt, jede Erscheinung, jede Veränderung in der Körperwelt ist ihm das Werk eines lebendigen Wesens, welches so denkt und handelt, wie er, oder wohl gar ein solches Wesen selbst. Daher rühret denn nicht allein die Vielgötterey bey rohen unwissenden Völkern, sondern auch, was zunächst die Sprache betrifft, die Bestimmung jedes Dinges nach dem Geschlechte, und die Betrachtung alles dessen, was unselbständig ist, als etwas selbständiges.» UL (1782). I. S. 304307.
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Erst in den höheren Bildungsstufen wird auch das Problematische in solchen Aussagen thematisiert. Die implizite Lerntheorie hierfür könnten so formuliert werden: In einem umhegten Raum das Laufen lernen, damit später die ungeteilte Aufmerksamkeit den heiklen Anforderungen der Straße gelten kann. 3. Denjenigen Bereich des Sprachlichen, der jeweils als geregelt gilt. In den unteren Bildungsstufen wird jeweils der Kernbereich des Geregelten zur Geltung gebracht, erst in den höheren die Heterogenität und die Grenzen des Geregelten. Die dieser Reduktion implizite Lerntheorie, daß Geläufigkeit im Üblichen Voraussetzung für die Übung im Außergewöhnlichen ist, entspricht der sprachtheoretischen Auffassung Adelungs von der begrenzten Geltung sprachlicher Regeln. 4
Aus dem Blick geraten: (1) die Frage nach dem Bildungsgehalt der Sprachreflexion
Die Beobachtung an den drei Fassungen der deutschen Sprachlehre Adelungs mögen uns heutige Leser ratlos werden lassen, wenn es darum geht, uns deren Brauchbarkeit als Schulbücher vorzustellen. Während es plausibel erscheinen mag, das «Umständliche Lehrgebäude» als Lehrbuch im akademischen Unterricht zu nutzen, wird uns der Gedanke, insbesondere den «Auszug» auf der untersten Bildungsstufe verwendet zu sehen, befremdlich vorkommen. Wie sollen z. B. Acht- oder Zehnjährige die Passage verstehen können, mit der Adelung das Redeteil-Kapitel eröffnet: Die Wörter sind vernehmliche Ausdrücke unserer Vorstellungen. Unsere Vorstellungen sind entweder dunkel oder klar, so auch ihre Ausdrücke oder Wörter.41
Die Vermutung, daß sich der Text nicht unmittelbar an die Schüler richtet, sondern an die Lehrer, die ihn aufgrund ihrer Ausbildung dann für ihre Schüler erschließen, erweist schon ein kurzer Blick in die Schulgeschichte, insbesondere in die Sozialgeschichte des Lehrerberufs als unhistorisch. Auch Adelung wußte natürlich, wie 41
DS(1795). S. 34.
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schon gezeigt42, daß mit einer solchen Möglichheit zu seiner Zeit nicht zu rechnen war. Wie aber sonst kann der Adressatenbezug gemeint sein? Denkbar wäre es, ihn von einer Lehrbuchtradition her zu verstehen, die von der Antike überliefert, über das Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert noch präsent, jedenfalls noch in lebendiger (wenn auch vielleicht bekämpfter) Erinnerung war.43 Charakteristisch für diese Tradition ist es, daß die Reduktion eines Wissensgebietes für den Schulgebrauch nicht unter dem Gesichtspunkt des Vermögens der Lernenden erfolgte, sondern unter der Frage, was in einem solchen Wissensgebiet als wesentlich, als unverzichtbarer Gehalt, als elementar und als für dieses Gebiet fundamental anzusehen sei. Der Lernsituation wurde dadurch Rechnung getragen, daß die Ausfaltung des Wissensgebietes als Fortgang einer Instruktion organisiert war und in Frage- und Antwortform erfolgte. Die fundamentale Lateingrammatik, die nach ihrem Autor einfach «Donat» genannt wurde, fragt nach dem, was jeweils einen Redeteil ausmacht (quid est?), nach der Zahl der Akzidenzien eines Redeteils (quot accidunt?) und nach den jeweiligen Akzidenzien (quae?) und sorgt so für die methodische Entfaltung des jeweiligen Lernthemas. Es ist nach dem Vorgetragenen offenkundig, daß die Reduktion in den Sprachlehren Adelungs ganz in dieser Überlieferung erfolgt. Sie zielt darauf, die Quintessenz dessen, was eine Sprachlehre des Deutschen ausmacht, kapitelweise auf den Punkt zu bringen, und sie entfaltet diese Quintessenz zwar ohne explizites Frage-Antwort-Schema, aber ganz im geordneten Dreischritt der Tradition. Daß diese um den Namen «Donat» konzentrierte Tradition noch den Verstehens- und Erwartungshorizont der Zeit Adelungs bestimmt hat, belegen zwei zeitlich weit auseinander liegende Beispiele: M. Isaak Pöhlmann nennt gegen Ende des 17. Jahrhunderts seine Grammatik «Neuer hochdeutscher Donat»44, und in Grimms Wörterbuch dokumentieren
42 43 44
Siehe Anm. 23. Hierzu Fuhrmann (1960); Glück (1967); Ivo (1994). S. 321-346. Zitiert nach Engelien (1889). S. 287.
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die Einträge unter dem Lemma «Donat» die Aktualität dieses Ausdrucks noch im 19.Jahrhundert. Wie kann man sich in dieser Tradition die Nutzung eines Lehrwerks, wie der Auszug eines ist, im Unterricht überhaupt vorstellen? Da ich zeitgenössische Quellen hierzu nicht gefunden habe, versuche ich es mit einer weiter zurückliegenden Schulordnung. Sie besagt natürlich nichts darüber, wie tatsächlich der «Auszug» in preußischen Landen unterrichtlich genutzt wurde; sie mag uns aber an eine unterrichtsmethodische Tradition erinnern, die, wenn auch in diesem Jahrhundert eher in der Rolle des «inneren Gegners», lange wirksam geblieben ist. Die Schulordnung skizziert einen Rahmen für die unterste Bildungsstufe und gibt an der Stelle, die ich hier heranziehe, Hinweise, wie mit besonders «aufgeweckten Köpfen» zu verfahren sei: Wo nun sonderlich feine Ingenia fürhanden, an welchen man mercket, das sie zum studiren tüchtig, und künfftig in andere Schulen geschikket werden sollen, mit denen gebühret sich, nach dem sie fertig haben lesen gelernet, das man auch die deutsche Grammatickam fümehme und dadurch eine gute Bereitung zur lateinischen Grammaticka mache. Sol demnach der Präceptor dieselben sonderlich zusammen setzen, und jhnen die deutsche Grammaticam fürgeben: je auff einmal ein Capitel oder gewisses Theil: l. Er, der Präceptor, lese es jhnen deutlich für, und erkläre es ein wenig, wo es dessen bedarff, mit anderen Worten. 2. Lasse es den Knaben ein mal oder zehen nachlesen. 3. Lasse sie drauff als bald, wenn es rumb gelesen ist, das schon genug bekandte erste Buch Mosis für die Hand nehmen, und Er, der Präceptor, weise jhnen die Application deß verlesenen Stückes im ersten Capitel, etwa in ein fünff, sechs oder wol auch zehen Exempeln, lese im Capitel jmmer fort, bis ein solch Wort kömpt, das sich zu vorhabender Grammatischen Application schicket, da halte er alßdann ein wenig jnne und zeige jhnen an, wie sich solch Exempel auff die fürhabende Regel oder Präceptum in der Grammaticken reime.'*5
Die dann folgende Verdeutlichung zeigt, was ehemals im hellenistischen Umfeld griechischsprachige Schüler an ihrem Homer, später lateinischsprachige an ihrem Vergil, nun deutschsprachigen an ihrem christlichen Fundierungstext, der Bibel traktieren lernten: nämlich
45 Vormbaum (1863). 2. Band. S. 235/236.
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Wort für Wort Redeteile nach dem obengenannten Frageschema zu bestimmen. «Diese Application aben> - so heißt es weiter beruhet allermeist darauff, das der Präceptor nur allein rede, den Knaben die Exempel zeige und lasse sie im Genesi das Exempel selbst ansehen, deßgleichen, wenn etwas conjugiret oder decliniret wird, auff die Form darnach es gehet, in der Grammatica ein fleissiges Auge haben, und dem Präceptori jmmer in der stille zuhören. Wann also ein Theil appliciret ist, als dann fahre der Präceptor in der Grammatica fort, nehme wieder ein Theil für sich, lese es für, lasse es nachlesen, nehme wieder ein Theil für sich, lese es für, lasse es nachlesen, und suche die Exempel im Genesi, zeige und applicire sie. Wenn die Grammatica also gantz zu Ende bracht ist, alß dann mag der Präceptor wieder von forne anfahen, die Knaben fragen und selbst auß dem Genesi appliciren lassen: muß jhnen aber gutwillig alsbald einhelffen, wo sie fehlen.46
Diese Unterordnung der Lernenden unter die zu lernende Sache erscheint uns heute als eine Form der Ablichtung, als eine Bildung, die in Gehorsam und Gedächtnis gegründet ist. Sie ist unseren eigenen Vorstellungen, wie Schule organisiert sein sollte, diametral entgegengesetzt. Denn unsere Aufmerksamkeit gilt vorrangig oder ausschließlich der Frage, wie die lernenden Personen als Individuen und die Lernsituationen in ihren jeweiligen Besonderheiten zur Geltung gebracht werden können. Die Fragen, wie denn aus Wissensbereichen Lern- und Bildungsthemen gewonnen werden und welche Auswahlkriterien gelten sollen, geraten in den toten Winkel. Nicht genug damit: Die historisch gewachsene Verbindung von didaktischen Reduktionskonzepten, wie sie sich in Adelungs Sprachlehren zeigen47, mit den subordinierenden Unterrichtsverfahren, hat 46
47
A. a. O. Eines der konzeptionell explizitesten Sprachbücher der 2. Hälfte dieses Jahrhunderts, «Der Sprachspiegel», gründet seine methodische Raffinesse in eben dieser Vorgehensweise. Es ist vielleicht des Nachdenkens wert, daß in der europäischen Bildungsgeschichte, die schließlich das Bildungsaxiom des Selbstdenkens hervorgebracht hat, das subordinierende Unterrichtsverfahren eine wahrhaft grundlegende Rolle gespielt hat, und zwar im Zusammenspiel mit den skizzierten Reduktionsverfahren. Luthers «Kleiner Katechismus» z. B., der die christliche Lehre, wie Luther sagt, in «kleine, schlichte, einfältige Form» gestellt, steht ganz in der angedeuteten Lehrbuchtradition und ist mit seiner Frage-Antwort-Organi-
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wohl, so ist zu vermuten, zusätzlich noch Barrieren aufgebaut, die in den toten Winkel geratenen didaktischen Fragen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Sucht man nach einer genuin sprachdidaktischen Grundlage für die Erörterung dieser aktuellen Perspektive, so kann sich Michail M. Bachtins Theorie der inneren Stimmenvielfalt einer Sprache als hilfreich erweisen. Er greift nämlich zur Entfaltung dieser Theorie auf «zwei grundlegende schulische Modi» des Unterrichts in den sprachlichen Fächern zurück, die der aneignenden Wiedergabe fremder Rede, die entweder auswendig zu lernen oder mit eigenen Worten zu reproduzieren ist.48 Die Bildungsbedeutsamkeit dieser Modi leitet er her aus deren Funktion im - wie er sagt - «eigentlichen ideologischen Prozeß der Entstehung des Menschen».49 Der erste Modus der Aneignung eines fremden Wortes im Auswendiglernen gründet in einem «autoritären Wort», das sich, unabhängig vom Grad der inneren Überzeugungskraft, «aufdrängt»; es ist «an die Hierarchien der Vergangenheit gebunden» und «verlangt von uns bedingungslose Anerkennung und Assimilation an unser eigenes Wort.»50 Demgegenüber stellt die Reproduktion fremder Rede mit eigenen Worten «im kleinen Maßstab eine rein künstlerisch-erzählende Aufgabe»: nämlich die fremde Rede zweistimmig wiederzugeben. Die fremde Rede darf im eigenen Wort nicht «restlos aufgelöst», sie muß als eine fremde im eigenen Wort zur Geltung gebracht werden. So enthält die pädagogische Aufgabe, Fremdes in eigenen Worten wiederzugeben, im Kern die Aufforderung, sich in ein «dialogische(s) Verhältnis zum sation für die religiöse Unterweisung bis weit in unser Jahrhundert stilbildend geblieben. Zieht man noch die ausführlicheren Katechismusformen und theologische Kompendienliteratur zum Vergleich heran, so ist die strukturale Ähnlichkeit mit den Grammatiken Adelungs nicht zu übersehen; besonders was den Abstraktionsgrad der elementarsten Fassungen angeht. So beginnt das 4. Hauptstück: «Was ist die Taufe? Die Taufe ist nicht allein schlecht Wasser, sondern sie ist das Wasser in Gottes Gebot gefaßt und mit Gottes Wort verbunden.» Luther (1929). S. 59. 48 Bachtin(1979). S. 229. 4 9 A. a. O. 50
Bachtin (1979). S. 229/230.
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Wort» zu setzen. Dies wiederum ist eine unverzichtbare Voraussetzung für alle Formen «dialogische(n) Erkennen(s).»51 Die Sprachdidaktik gewinnt in dieser Unterscheidung Bachtins ein fundamentum sui generis, auf dem sie ihre Beobachtungen ordnen, ihre Argumente arrangieren und ihre Einsichten vortragen kann. Dies gilt für die kritische Prüfung subordinierender Unterrichtsverfahren. Dies gilt aber auch und vor allem für die gedankliche Durchdringung der Aufgabe, die mit dem Ausdruck «Enkulturation» bezeichnet wird. Aus der Kinder- und Jugendperspektive gesehen, begegnet die anzueignende Kultur in vielen Hinsichten als «fremde Rede». Gehen wir erstens davon aus, daß diese von der Anlage her nicht als «autoritäres Wort», sondern als ein «innerlich überzeugendes Wort»52 in den Horizont der Kinder und Jugendlichen treten soll. Gehen wir zweitens davon aus, daß sich unumgänglich die Aufgabe stellt, die Komplexität der Kulturbereiche zu reduzieren, damit Kinder und Jugendliche überhaupt die Möglichkeit erhalten, die fremde Rede frei anzuerkennen und an das eigene Wort zu assimilieren. Beide Voraussetzungen führen zu der heiklen Frage, wie es gelingen kann, in solcher Reduktion kulturelle Gehalte so auf den Punkt zu bringen, daß diese der nachwachsenden Generation als «innerlich überzeugendes Wort» entgegentreten können. Gewiß kann ein solches Auf-den-Punkt-Bringen heute nicht in einer monarchischen Kabinettsordre gründen; es kann nur ein vor-läufiges Ergebnis gesellschaftlicher Verständigung sein. Gerade darum aber bedarf der Prozeß der didaktischen Reduktion der genauen und angespannten Aufmerksamkeit; gerade darum muß er als gegenwärtig eher kryptisch vollzogener wieder zum Thema unserer Schuldiskurse werden. Zwei Einwände sind gegenüber einer solchen Positionsbestimmung zu erwarten. Der eine ist grundsätzlicher Natur. Er versteht das gegenwärtige gesellschaftliche Aggregat als Spielraum der Subjekte und Unterricht und Bildung als Prozesse, die es ermöglichen, für diesen Raum spielfähig zu werden. In einem solchen Verständnis erweitert Geschichte den aktuellen Spielraum in ein unermeßliches Präter51
Bachtin (1979). S. 238. 52 Bachtin (l979). S. 229.
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itum und in die Unabgeschlossenheit des Futurs; sie ist Spielfläche, auf der die Subjekte szenisch bedingte Verantwortung tragen, keine aber für die Spielregie insgesamt. Ein solcher Einwand läßt sich nicht beiläufig erörtern, zumal er eher als eine Art intelektuelle Stimmung in unseren Schuldiskursen präsent ist, weniger als explizite Theorie. Darum muß es hier genügen, festzuhalten, daß klärungsbedürftig ist, ob denn tatsächlich ein solches Gesellschafts- und Geschichtsverständnis didaktische Reduktionen überflüssig machen kann. Der zweite Einwand rechnet mit Pendelbewegungen in unseren Schuldiskursen. Um die lernenden Subjekte und die Lernsituationen gedanklich zur Geltung zu bringen, wird die Frage nach der Gegenständlichkeit der Lernens und damit auch die nach der didaktischen Reduktion in den toten Winkel gerückt. Wenn dann - so die Erwartung - die beiden ersten Aspekte hinreichend durchgearbeitet sein werden, wird auch der letztere wieder zu Wort kommen. Das mag so sein. Aber auf Zwangsläufigkeit ist nicht zu setzen, weil die Ausdifferenzierung der Sprachwissenschaft das Problem der didaktischen Reduktion verglichen mit der Lösung Adelungs erheblich schwieriger hat werden lassen. Diese Schwierigkeiten wurden weithin sichtbar, als 1982, also gut 200 Jahre nach dem friederizianischen Dekret, von der Kultusministerkonferenz der BRD der administrative Versuch unternommen wurde, mit einem «Verzeichnis grundlegender grammatischer Fachausdrücke» die Schulen von der «Vielfalt grammatischer Fachausdrücke» der modernen Sprachwissenschaft abzuschirmen, um sie vor den Unsicherheiten, die diese auslösen könnten, zu bewahren.53 Allein die Tatsache eines solchen Versuchs zeigt, daß wissenschaftliche Sprachthematisierung nicht mehr ohne weiteres auf 53
Kultusministerkonferenz (1982) Einführung. Peter von Polenz stellt seine Dankesrede zur Verleihung des Konrad-DudenPreises unter das Thema: Wie man über Sprache spricht. Der Differenz zwischen sprachwissenschaftlicher Terminologie und dem «natürlichen Sprechen über Sprache» sucht er nur noch postulatorisch beizukommen: «Sprachwissenschaftliche Terminologien sollen neben der Sicherung internationaler Expertenkommunikation auch der Aufgabe dienen, das natürliche Sprechen über Sprache zu berücksichtigen und systematisch weiterzuentwickeln.» von Polenz. (1980)8.30.
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dem Wege didaktischer Reduktionen zur Definition der sprachlichen Lern- und Bildungsthemen herangezogen werden konnten. Die Probleme, die mit dieser Differenz sichtbar geworden waren, sind durch den subjekt- und situationsbezogenen Schuldiskurs überdeckt. 5
Aus dem Blick geraten: (2) die Rolle der Sprachwissenschaften im Prozeß didaktischer Reduktion
Gegenstand der Sprachwissenschaft ist für Adelung diejenige «Mund- und Sprechart, welche unter einem gesitteten Theile eines Volkes die herrschende ist und dieses ist in Deutschland die Hochdeutsche Mundart, welche das Band zwischen dem nördlichen und südlichen Deutschlande ausmacht und in beiden gleich verständlich ist.»54 Diese gilt es in den Schulen grammatisch zu lehren und zu lernen. Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik (die wir heute, wie sich zeigen wird, nicht sehr glücklich unterscheiden) haben also einen identischen Gegenstand. Da es der Sprachwissenschaft obliegt, die «Hochdeutsche Mundart» zu grammatikalisieren, der Sprachdidaktik, die Aneignung der «Hochdeutschen Mundart» auf grammatischem Wege zu betreiben, haben beide, Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik, nicht nur den Gegenstand, sondern auch die Weise, ihn aufzufassen, gemeinsam. Eben darum ist der Ausdruck didaktische Reduktion ein angemessener Ausdruck für die gedankliche Arbeit, auf der Basis einer wissenschaftlichen Sprachlehre ein grammatisches Schulbuch zu gestalten - wie es umgekehrt ein angemessener Ausdruck ist, die linguistische Kommentierung einer Sprachlehre für Schulen wissenschaftliche Expansion zu nennen. Didaktische Reduktion meint einerseits die Zurückführung des in einer wissenschaftlichen Sprachlehre ausgebreiteten Wissens auf seine wesentlichen Gehalte. Adelungs Bezeichnung «Auszug» für das Ergebnis einer solchen Zurückführung ist im Sinne von «Essenz» zu verstehen oder - in einer Art Steigerung - als «Quintessenz». Andererseits meint didaktische Reduktion, daß aus dem wissenschaftlich 54
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Ausgebreiteten etwas ausgeschieden wird. Beides sind Aspekte ein und desselben Vorgangs. Adelungs didaktische Reduktions- bzw. wissenschaftliche Expansionsarbeit ist im Vorausgegangenen unter dem zweiten Aspekt skizziert worden und hat zu einer dreifachen Bestimmung dieser Arbeit geführt. Es bleibt die Frage, welche Kriterien Adelung im Sinne des ersten Aspekts anwendet; Kriterien, die also zur Elaborierung der wesentlichen Gehalte führen. Es sind zwei Kriterien, die seine Elaborierung steuern, ein klassifikatorisches und ein hermeneutisches. Das erste sichert, daß die Wissensbestände der wissenschaftlichen Sprachlehre methodisch zugänglich bleiben, auch wenn sie im Schulbuch nicht oder nur andeutungsweise berücksichtigt sind. Das zweite sichert das ausgebreitete Wissen als wissenswert. Diese beiden Kriterien sind also - grundsätzlicher formuliert - solche der Operationalität und der Relevanz. Es ist nun für das OEuvre Adelungs wesentlich, daß auch diese beiden Kriterien zugleich als sprachwissenschaftliche und sprachdidaktische aufgefaßt werden. Beide Formen von Sprachlehren verbindet eine gemeinsame Aufgabe: die Etablierung und die «Begleitung»55 der deutschen Gegenwartssprache als Standardsprache; die sprachwissenschaftliche stellt sich im Blick auf die deutsche Sprache als eine soziokulturelle Gegebenheit, die sprachdidaktische als eine personale, insbesondere für die nachwachsenden Generationen. 55
Der Ausdruck «Begleitung» möge in vorsichtiger Weise aufgreifen, worauf die Begriffe «Sprachpflege» und «Sprachkultur» verweisen. Er wird gewählt, um einen Problemzusammenhang aufzuzeigen: Wenn die Standardvariante, die Hochsprache, einer besonderen Aufmerksamkeit der Sprecher bedarf, wenn sie von ihnen als eine solche bewußt gewollt werden muß, dann können die so formulierten Bedingungen mit der Etablierung der Standardvariante als erfüllt angesehen werden. Richtig an einer solchen Einschätzung ist, daß sich mit der Etablierung dieser Variante die Aufgaben anders stellen, die o. g. Bedingungen zu erfüllen. Der Ausdruck «Begleitung» soll dem Rechnung tragen und das reflexive Moment standard- und hochsprachlichen Redens hervorheben. Daß sich eine solche Aufgabe stellt, zeigt Humboldt in seinen Herleitungen des Begriffs «zwiefache Gestalt der Sprache». Hierzu: Ivo (1994). S. 96.122.
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Adelungs grammatisches Werk hat als in diesem Sinne einheitliches seine Tradition, ist aber selbst auch traditionsbildend geworden. Johann Chr. Gottsched z. B. läßt seiner 1748 zuerst erschienenen «Grundlegung einer deutschen Sprachkunst» 1753 den «Kern der deutschen Sprachkunst, aus der ausführlichen Sprachkunst [...] zum Gebrauch der Jugend [...] ins Kurze gefaßt» folgen.56 Karl Ferdinand Becker veröffentlicht die beiden Bände seiner «Deutschen Grammatik» («Organism der Sprache» 1827; «Deutsche Sprachlehre 1829) unter dem Titel: «Ausführliche deutsche Grammatik als Kommentar der Schulgrammatik».57 Um das grammatische CEuvre Beckers ist im 19. Jahrhundert anhaltend und heftig gestritten worden.58 Der Streit dokumentiert auch, daß sich in der Zeit zwischen Adelung und Becker ein neues Paradigma der deutschen Sprachwissenschaft herausgebildet hat, in dem - die Einheit von Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik aufgekündigt ist;
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Dieser «Kern» wird in dem Königlich-Preußischen-General-Land-Schul-Reglement von 1765 zur Entscheidungsgrundlage erklärt, wenn es darum geht, die Fehler zu «bemerken», die die Schüler «in eigenen Aufsätzen wider den Sprachgebrauch» begehen. Meyer (1885). S. 139. Seine schulgrammatischen Werke haben die Titel: «Schulgrammatik der deutschen Sprache» 1831; «Leitfaden für den ersten Unterricht in der deutschen Sprachlehre» 1833; «Über die Methode des Unterrichts in der deutschen Sprache, als Einleitung zum Leitfaden für den ersten Unterricht in der deutschen Sprachlehre» 1833. Rudolf von Raumers Zurückweisung der Grammatiken Beckers zeigt in ihrer argumentativen Gemengelage besonders eindringlich, daß hier eine konkurrierende Sprachthematisierung im Prozeß wissenschaftlicher Paradigmenbildung aus dem Feld geschlagen werden soll. Würde sie auch nur als eine Möglichkeit wissenschaftlicher Sprachlehre diskutiert, müßte offenkundig werden, daß die sich etablierende germanische Philologie für einen Kernbereich muttersprachlicher Bildung mit leeren Händen dasteht. Dies wiederum wäre dem neuen Fach abträglich, insofern seine Institutionalisierung sozialgeschichtlich wesentlich mit der Aufgabe, Deutschlehrer auszubilden, verbunden ist. von Raumer (l852). S. 100-105.
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- für die wissenschaftliche Thematisierung von Sprache ausdrücklich alles «aufs Praktische Gehende»59 ausgeschlossen wird; - nur historisch-vergleichende Verfahren als wissenschaftliche anerkannt werden - und, wie Helmut Henne in seinem Beitrag zur Adelung-Konferenz 1982 resümierend festhält, «gegenwartsbezogene Sprachforschung» in den toten Winkel verbannt wird und der «Verachtung anheim fällt.»60 Damit sind die Voraussetzungen dafür entfallen, sinnvoll noch von didaktischer Reduktion (bzw. wissenschaftlicher Expansion) zu reden. Der neue Ordnungsrahmen, innerhalb dessen die deutsche Sprache zum Thema wissenschaftlicher Analyse wird, wie er beispielsweise in Grimms «Deutscher Grammatik» aufscheint, ist ein anderer als derjenige, in dem es um die Grammatikalisierung der zu etablierenden deutschen Standardsprache ging, die grammatisch zu lehren und zu lernen es galt und gilt. Diese Ordnungen dennoch in ein Reduktions- bzw. Expansionsverhältnis zueinander zu setzen, ist nur auf Kosten einer logischen Unzulänglichkeit möglich, die treffenderweise metabasis eis allo genos genannt wird. Diese logische Unzulänglichkeit hat aber nicht nur gehindert, daß die Disziplin, in der die neue Ordnung institutionelle Festigkeit gewann, zur Domäne der (gymnasialen) Deutschlehrerausbildung erklärt wurde. Das war möglich, weil die Etablierung dieser Disziplin aufs engste mit dem Programm, einen nationalen Bildungskanon zu definieren, verbunden war. Auch als die Germanistik im Verlauf des 19. Jahrhunderts aus diesem Programmschatten heraustrat und die «Aussprache des nationalen Bildungsrahmens» in die Vorworte abwanderte61, blieb doch die Verbindung zur «Arbeit am nationalen Gedächtnis»62 dadurch gewahrt, daß innerhalb der Germanistik die
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So die abweisende Formulierung J. Grimms. Grimm (1818/1968). S. 5. Henne (1984). S. 98-108. Rompeltien(1994). S. 227. So der Titel einer «kurzen Geschichte der deutschen Bildungsidee», Assmann (1993).
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Position formuliert wurde, «den Deutschunterricht auf den Schulen zum Zentrum einer postulierten nationalen Erziehung» zu machen.63 Es gehört zu den Inkonsequenzen und Absurditäten der Geschichte dieser Disziplin, daß der schulgrammatische Betrieb im Deutschunterricht unter dem Königsmantel der Germanistik seine eigene Entwicklung nahm und auch seinen eigenen kleinen, germanistisch verschwiegenen Diskurs hatte64; daß aber die Zuordnung von Germanistik und Deutschunterricht auch für solche Themen fingiert wurde, die niemals germanistische waren; ja sogar für solche, denen, wie im Falle der deutschen Sprachlehre und Schulgrammatik, die wissenschaftliche Dignität ausdrücklich abgesprochen worden war.65 Wie lange hat dieser Zustand gedauert? Hat er sich inzwischen grundlegend geändert? Die 60er Jahre dieses Jahrhunderts werden z. B. von Hans Helmut Christmann als Zeitraum genannt, in dem sich wieder ein «enges Verhältnis zwischen Sprachwissenschaft und Sprachlehre» herstellt.66 Welches Buch, welcher Zeitschriftenaufsatz, welches Manifest läßt sich anführen, in dem eine solche Veränderung sinnfällig werden könnte? Die Wahl fällt nicht schwer: Das Funkkolleg «Sprache - eine Einführung in die moderne Linguistik», das 197l/ 1972 in 55 Kollegstunden und 12 Kollegdiskussionen ausgestrahlt worden ist; für das sich 16950 Einzelteilnehmer verbindlich eingeschrieben, die 11 Begleitbriefe bezahlt und z. T. Prüfungen abgelegt haben, deren Zertifikate in den Universitäten in aller Regel als Proseminarscheine anerkannt worden sind. Die Studienbegleitbriefe,
03 Rompeltien (1994). S. 216/217. 64 Beispielhaft sei verwiesen auf Vesper (1980) und Erlinger u. a. (1989). 65 So lag denn auch über dem schulgrammatischen Diskurs immer der lange Schatten des Grimmschen Verdikts, sich auf Überflüssiges zu beziehen. Vor allem aber wurde er zu einem Diskurs hinter vorgehaltener Hand, weil ja in ihm von «practischen Zwecken» die Rede war, die, wie Jacob Grimm in seiner Akademie-Rede von 1849 «Über Schule, Universität und Academic» befindet, einem wissenschaftlichen Diskurs «fremd bleiben». Grimm (1848/1984). S. 273. Zu Jacob Grimm und den Schwierigkeiten mit der Praxis: Ivo (1994). S. 347-356. 66 Christmann (1976). S. 434.
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später überarbeitet in Form von Taschenbüchern erschienen, haben 1982 eine Auflage von 127 erreicht. Bemerkenswert an diesem Funkkolleg war zunächst einmal die innovative und initiatorische Absicht derer, die dieses Kolleg vorbereiteten. Mit der Wortwahl «Linguistik» signalisierten sie damals, daß anderes als von der nun «traditionell» genannten Sprachwissenschaft zu erwarten war. Die hohe Zahl der Beteiligungen zeigt, daß Lösungen oder Beiträge zu Problemen von der neuen Sprachwissenschaft erwartet wurden, für die die alte keine bereitstellte. Daß diese Probleme wesentlich auch als solche des Sprachunterrichts und der Ausbildung von Sprachlehrern waren, wird in den Hinweisen auf die Bildungspläne für das Fach Deutsch, auf neue Sprachbücher, auf Studienreformkommissionen für philologische Fächer deutlich. Kurz: dieses Funkkolleg versprach die Überwindung eines schon lange währenden krisenhaften Zustandes, nämlich der Pseudo-Zuordnung von wissenschaftlicher und didaktischer Thematisierung deutscher Sprache. Dies erklärt wohl die große Zahl der Teilnehmer am Funkkolleg, die in ihrer Freizeit aus freien Stücken wieder eifrige Schüler wurden, die Lektionen vorbereiteten und auswerteten, in Begleitzirkeln Fragen klärten und schließlich für die Abschlußprüfung büffelten. Ist, was als ein großes Versprechen erfahren worden ist, in Erfüllung gegangen? Um darauf eine verständige Antwort zu geben, wird es wichtig sein, sich die Erwartungen genauer zu vergegenwärtigen. Ich wähle als Beispiel eine Passage aus den Gutachten und Studien des Deutschen Bildungsrates von 1968 zum Thema «Begabung und Lernen». Ulrich Oevermann ist an diesen Studien zu der Frage «Wie ist in der Lernentwicklung des jungen Menschen das Verhältnis von naturgegebener Anlage und menschlicher Einwirkung durch Umwelteinflüsse und veranstaltete Lehr- und Lernvorgänge zu sehen?» mit einer Abhandlung beteiligt, in der es um schichtspezifische Formen des Sprachverhaltens und deren Einflüsse auf kognitive Prozesse geht. Der Abschnitt «Ziele einer kompensatorischen Spracherziehung» enthält sechs Punkte. Der letzte lautet: Revision des traditionellen Grammatikunterrichts: Ein erfolgreicher Grammatikunterricht ist jeweils schon an die Beherrschung der syntaktischen Re-
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ivo geln, die jetzt auf einer zweiten Ebene explizit gemacht werden sollen, gebunden. Daher ist die praktische Beherrschung vorrangiges Unterrichtsziel. Sie wird jedoch durch die Unterweisung in der traditionellen Schulgrammatik mit ihren Ausnahmen und Besonderheiten kaum gefördert, ja kann dadurch sogar gehemmt werden. Es müßte daher ein an der modernen generativen Grammatik orientierter Unterricht entwickelt werden, in dem die Sicherheit in der Verfügung über syntaktische Regeln gestützt und gleichzeitig das Regelgebäude der Sprache als Gegenstand der Erkenntnis rational und nicht nur normativ transparent gemacht wird. Eine Transformationsgrammatik Chomskyscher Prägung muß daher dringend für die deutsche Sprache geschrieben und für Unterrichtszwecke adaptiert werden.^
In syllogistischer Form bringt diese Passage die Hoffnungen und Erwartungen an die «moderne Linguistik» auf den Punkt: 1. Vordersatz: Eine wissenschaftliche Grammatik muß her, und zwar eine solche, deren Eigenschaften sie tauglich machen, als Grundlage für einen Unterricht zu dienen, in dem die deutsche Sprache grammatisch gelehrt und gelernt wird. 2. Vordersatz: Die generative Transformationsgrammatik im Sinn Chomskys hat die allgemeinen Voraussetzungen, den begrifflichen Rahmen und das methodische Repertoire zur Lösung dieser Aufgabe bereitgestellt. Also ist (1) eine Grammatik des Deutschen auf diesen Voraussetzungen, in diesem begrifflichen Rahmen und mit diesem methodischen Repertoire zu schreiben und (2), insofern sie unmittelbar im Unterricht benutzt werden soll, an diesen Zweck «anzupassen», für diesen Zweck «abzurunden».68 In dieser Passage bringt sich offenkundig die Pseudo-Zuordnung von wissenschaftlicher und didaktischer Sprachthematisierung als Krisenerfahrung geradezu exemplarisch zur Geltung, auch in der Weise, wie sie in das Linguistisierungs-Postulat einmündet. Wie im67 Oevermann (1968). S. 342. 68 Oevermanns Formulierung «für Unterrichtszwecke adaptiert» läßt vom gegenwärtigen Wortgebrauch und von der Etymologie her offen, wie die Zuordnung von wissenschaftlicher und didaktischer Grammatik im einzelnen zu denken ist. Sie unterstellt aber, daß sie Identisches zum Thema haben.
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mer die damaligen Debatten aus heutiger Sicht eingeschätzt werden mögen, unbestreitbar scheint mir, daß damals zum öffentlichen Thema wurde, was so lange nur hinter vorgehaltener Hand beredet worden war: daß in diesen Debatten Wissenschaft, Schule und Politik involviert waren, also nicht nur der eine oder der andere Aspekt das Reden bestimmte und daß es auch kein von einzelnen Personen und ihren Konzepten dominiertes Reden war.69 Wenn denn im Aussprechen von Verdrängtem und durch die Verdrängung Verzerrtem eine kathartische Wirkung erreicht werden kann, so standen die Chancen dafür damals nicht schlecht. Offenkundig ist aus heutiger Sicht aber auch, daß Oevermann 1968 Hoffnungen hegte und aus diesen Forderungen ableitete, die aus den spezifischen Aneignungsbedingungen sprachstruktureller Fragestellungen dieser Zeit verständlich gemacht werden können, aber in den linguistischen Konzepten, auf die sie sich beziehen, keine Anhalte gehabt haben. Insofern beruht die erwartete Lösung des Zuordnungsproblems auf Mißverständnissen. Und was für Oevermanns Text gilt, gilt auch für all die vielen anderen, die an dieser Hoffnung teilhatten. Das engere Verhältnis zwischen «Sprachwissenschaft und Sprachlehre», das Christmann glaubte ausmachen zu können, ist nicht zustande gekommen, jedenfalls nicht im Sinne des skizzierten Syllogismus. Ist darum die Debatte für die hier entfaltete Problematik ohne Folgen geblieben? Gewiß nicht! Zunächst einmal kann jede Sprachwissenschaft von didaktischem Interesse sein, insofern sie «cartesianisch» in dem Sinne ist, daß sie Wissen bereitstellt, das geeignet ist, «uns zu Herrn und Eigentümern der Natur» zu machen.70 Denn eine solche Sprachwissenschaft ersetzt in ihrem theoretischen Rahmen sprachliche Intuitionen durch Verfahren. Operationale Definitionen sind aber für das Lehren von Sprache unersetzliche Hilfsmittel. Und gewiß hat sich im letzten Quartal die69 An zwei Ansätze der Krisenbewältigung in diesem Jahrhundert sei unter diesem Gesichtspunkt, also unabhängig von ihren konzeptionellen Gehalten, erinnert. Beide sind im Sinne dieser Fragestellung gescheitert: die Deutschkundebewegung, die wissenschaftlich nicht Fuß fassen konnte; Leo Weisgerber, der in der Wissenschaft außerhalb des Paradigmas zu agieren gezwungen war. 70 Descartes (1960). S. 101.
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ses Jahrhunderts, angeregt durch diese Debatte, das Repertoire solcher Begriffe über den Fundus der Glinzschen Proben hinaus vergrößert. Des weiteren sind die noetischen Qualitäten einer Grammatik, die aufs Praktische geht, infolge dieser Desillusionierung nicht mehr grundsätzlich strittig. Im Gegenteil, die wissenschaftsgeschichtliche Vergewisserung europäischer Sprachthematisierung hat deutlich werden lassen, in welchem Maße die gegenwärtigen Sprachwissenschaften von ihren Ursprüngen geprägt sind, Medium der Etablierung und Begleitung von Standardsprachen zu sein.71 Dies hat dem Verweis auf die normative Dimension der Grammatikographie den Schrecken genommen (mit dem Oevermann 1968 noch rechnete und den er für sich nutzte). Sie hat schließlich zu einer Neubestimmung gegenwartsbezogener Sprachforschung geführt72, die - mit B achtin gesprochen - nicht nur die zentripetalen Kräfte einer Sprache, sondern auch die zentrifugalen in ihrer Funktion anerkennt und die «die immanente Dialogizität des Wortes» als eigenes Untersuchungsthema entdeckt.73 Schließlich ist die Lösungsbedürftigkeit dieses Zuordnungsproblems wissenschaftspolitisch durch die Einrichtung sprachdidaktischer Professuren anerkannt worden. Freilich ist bis heute das Motiv, damit dem Auseinandertreten von wissenschaftlicher und didaktischer Thematisierung von Sprache begegnen zu wollen, klarer als die Konzepte es sind, wie dies zu bewerkstelligen sei. Ferner trägt die Unterscheidung in wissenschaftliche und didaktische Lehrstühle in dieser Gegenüberstellung dazu bei, etwas als sich gegenseitig ausschließend vorzustellen, was aufeinander zugeführt werden soll. Die Forderung von Eduard Haueis, daß die Sprachdidaktik zu ihrer eigenen Modellierung der Sprachforschung finden müsse74, harrt nach wie vor ihrer Einlösung. Das hat wohl damit zu tun, daß erst über den Umweg der Analyse der Sprachthematisierungen in der europäischen 71 72 73 74
Auroux (i. E.). Henne (1984). S. 107/108. Bachtin(1979). S. 172. Haueis (1985). S. 659.
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Geschichte der Rahmen in den Blick kommen kann, innerhalb dessen der bildende Wert der Sprachreflexion im allgemeinen und der der grammatischen im besonderen zu einem genuin sprachdidaktischen Untersuchungsgegenstand werden kann. Innerhalb eines solchen Rahmens läßt sich dann einerseits das Historische an Adelungs Reduktion zeigen, z. B. die pointiert rationalistische Akzentuierung in der Auslegung grammatischer Kategorien, wie sie in seiner Ausdeutung des Substantivs deutlich geworden ist; oder die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die zentripetalen Kräfte der deutschen Sprache. Andererseits aber läßt sich in der Auseinandersetzung mit seinem Reduktionsverfahren lernen, daß es ohne Zurückführung des in vielen Hinsichten spezialisierten grammatischen Wissens auf seine wesentlichen Gehalte nicht möglich ist, seine Bildungsbedeutsamkeit aufzuweisen. Erst in der didaktischen Reduktion rücken die grammatischen Pensen in einen philosophischen Horizont, in dem sich, wie Wilhelm von Humboldt den bildenden Wert des «Sprachstudiums» bestimmt, das «Gesamtstreben des menschlichen Geistes» verwirklichen kann, «dass die Menschheit sich klar werde über sich selbst und ihr Verhältniss zu allem Sichtbaren und Unsichtbaren um und über sich.»75 Jacob Grimm hat somit natürlich alles philosophische Recht auf seiner Seite, wenn er die «einfachsten und dämm wunderbarsten Elemente» grammatischen Denkens preist76, aber er verfehlt den Sinn didaktischer Reduktion, wenn er, wohl auch auf Adelung zielend, von einem «seichten Auszug» spricht. Gewiß, die kargen und kahlen Definitionen in dem Elementarbuch, dem «Auszug aus der Deutschen Sprachlehre für Schulen», haben so wenig Einladendes wie die Paste, die in konzentrierter Form alle Stoffe enthält, deren wir zur täglichen Nahrung bedürfen. Und wie wir mit einem solchen Nahrungskonzentrat noch etwas anstellen müssen, damit daraus etwas Genießbares wird, so muß auch etwas mit den grammatischen Essenzen geschehen. Was muß mit ihnen geschehen? Einen Hinweis gibt Hartmut 75 76
Humboldt (1963). III. S. 115. Siehe Anm. 15.
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Schmidt in seinem Beitrag zur Adelung-Konferenz 1982. Er mißt die Arbeit Adelungs an einem Kriterium Hermann Pauls, daß «einfache Grundgedanken, die an sich evident sind», erst fruchtbar werden, «wenn sie zu klarem Bewußtsein gebracht und in strenger Konsequenz durchgeführt werden.»77 In solchem Prozeß der Reflexion auf das Elementare, kann das «Wunder der Sprache»78 erfahrbar und zugleich auch nüchtern gedacht werden. Sucht man nach einem Anschluß an neuere Diskurse zur Didaktik der grammatischen Reflexion, so liegt es nahe, die Argumente für einen «anderen GrammatikUnterricht» von Wolfgang Böttcher und Horst Sitta heranzuziehen. Auch sie melden Vorbehalte gegen einen elementarisierenden Grammatikunterricht an. Sie verweisen (1.) auf die Differenz der Logik von Lernschritten und der Logik im Aufbau einer Wissenschaft und (2.) auf die Bedeutung der Motivation für die Organisation von Lernsequenzen. Beide Argumente sind - für sich genommen ebenso schlüssig wie die gedankliche Kraft bewundernswert ist, mit der die beiden Autoren ihr Gegenmodell zum «Klassischen Grammatikunterricht» entwerfen. Hat sich nach dem Erscheinen ihrer Arbeit «Der andere Grammatikunterricht» (1978) die didaktische Praxis nachhaltig geändert? Oder hat sich ein weiteres Mal, allen kritischen Einwänden zum Trotz, das im überkommenen Sinn Geregelte behauptet? Geht man eher von Letzterem aus, so stellt sich die Frage, wie das Beharren auf dem Tradierten und Institutionalisierten zu bewerten ist. Handelt es sich einfach nur um einen elementargrammatischen Schlendrian? Oder bringen sich in diesem Beharren die Gründungsmotive einer Tradition zur Geltung, die, überlagert von den neuen Erfahrungen von Generationen und Generationen, nicht mehr unmittelbar verständlich sind? Wenn eben davon ausgegangen wird, stellt sich die Aufgabe, diese Gründungsmotive zu entziffern. Der Rückgriff auf Adelung zeigt, wie an der Schwelle moderner Sprachwissenschaft, die elementaren grammatischen Begriffe noch als Instrument genutzt werden, menschliche Sprachlichkeit umfassend, also philosophisch zu verstehen und in diesem Kontext ihre 77 78
Schmidt (1984). S. 136. Porzig(1971).
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pragmatische und noetische Funktion zu bestimmen. Die moderne Sprachwissenschaft hat in ihrer herrschend gewordenen Ausprägung diese Kontexte getilgt, um ihre Methoden elaborieren und ihre Empirisierungsprogramme voranbringen zu können. Damit hat sie auch den Diskursen über den Bildungswert der Sprachreflexion den Rücken gekehrt und die «einfachsten und darum wunderbarsten Elemente grammatischen Denkens» in ein nicht weiter beachtetes Voraussetzungsverhältnis abgedrängt (z. B. Grewendorf u. a. 1987. S. 166f.). In der Wiedergewinnung des Bildungshorizonts für die grammatischen Elementarbegriffe werden die gedanklichen Voraussetzungen dafür geschaffen, den immensen Reichtum an Beobachtungen und Anregungen des «anderen Grammatikunterrichts» nicht gegen, sondern aus einer Neuaneignung der Tradition zur Geltung zu bringen. Literatur Johann Christoph Adelung (1781): Deutsche Sprachlehre. Zum Gebrauch der Schulen in den Königlich Preußischen Landen. Berlin 1781. ders. (1794): Auszug aus der Deutschen Sprachlehre. Berlin 1794. ders. (1782): Umständliches Lehrgebäude der Deutschen Sprache. Zur Erläuterung der Deutschen Sprachlehre für Schulen. 2 Bände. Berlin 1782. Alaida Assmann (1993): Arbeit am nationalen Gedächtnis. Frankfurt/M. 1993. Sylvain Auroux (i. E.): La Revolution Technologique De La Grammatisation. Michail M. Bachtin (1979): Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt/M. 1979. Wolfgang Böttcher und Horst Sitta (1978): Der andere Grammatikunterricht. Veränderungen des klassischen Grammatikunterrichts. Neue Modelle und Lehrmethoden. München 1978. Dieter Cherubim (1973): Grammatikographie. In: Lexikon der germanistischen Linguistik. Hrsg. von Althaus, Henne, Wiegand. Tübingen 1973. Hans Helmut Christmann (1976): Sprachwissenschaft und Sprachlehre: zu ihrem Verhältnis im 18., 19. und 20. Jahrhundert. In: Die Neueren Sprachen. 75. 1976. S. 423-^37. Rene Descartes (1960): Discours de la methode. Hamburg 1960.
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Otto Ludwig
Der Unterricht findet nicht statt: Zur Schreibpraxis der reformierten Oberstufe Daß auch in der reformierten Oberstufe unserer Schulen noch geschrieben, vielleicht sogar viel geschrieben wird, dürfte kaum zu bestreiten sein. Ob Schreiben aber auch gelehrt wird, d. h. Gegenstand von Unterricht ist, das ist die Frage. Die These, die ich dazu vortragen möchte, lautet kurz und bündig: In der reformierten Oberstufe findet nicht nur kein Unterricht im Schreiben statt, es wird darüberhinaus auch alles getan, um zu verhindern, daß sich die Schreibfähigkeiten und -fertigkeiten der Schüler und Schülerinnen entfalten können. Eine solche These stellt eine Provokation dar, und provozieren soll sie auch. Denn es wäre viel gewonnen, wenn eine Debatte fortgeführt werden könnte, die Gerhard Äugst schon einmal im «Deutschunterricht» (1968) begonnen hatte und die dann - viel später - Züricher Kollegen und Kolleginnen um Horst Sitta in der Zeitschrift «Diskussion Deutsch» (1993 und 1995) wieder eröffnet haben. Damit es nicht zu Mißverständissen kommt, möchte ich zwei Bemerkungen vorausschicken. Gegenstand meiner Analyse ist die Schreibpraxis, nicht die Programmatik der Richtlinien oder didaktischer Überlegungen. Diese wären für sich zu untersuchen. Dabei könnte sich herausstellen, daß die Kluft zwischen Praxis und Programmatik in den letzten Jahren eher größer als kleiner geworden ist. Meine Ausführungen erheben auch nicht den Anspruch, gerecht oder gar in jedem Falle zutreffend zu sein. Jede Schule hat ihre eigenen Traditionen und Normen ausgebildet, jeder Lehrer und jede Lehrerin einen eigenen Stil gefunden, und nicht eine Stunde verläuft wie die andere. Jede Verallgemeinerung wäre hier fehl am Platz, und dennoch kommen wir nicht ohne Verallgemeinerungen aus, wenn wir uns auf eine Beschreibung des gegenwärtigen Zustandes verständigen wollen. Ich werde im folgenden darum (1) einen Fall ausführlicher dokumentieren, (2) auf die Bedingungen eingehen, unter denen die
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Schreibpraxis bei der Einführung der reformierten Oberstufe im Fach Deutsch zustandegekommen ist, (3) Einwände, Bedenken und Hinweise auf Widersprüche, die vorgebracht worden sind, zusammenstellen und schließlich (4) Voraussetzungen, Implikationen und Konsequenzen dieser Schreibpraxis herausarbeiten. Das Ganze läuft also auf so etwas wie eine kritische Analyse hinaus. l
Dokumentation und Beschreibung eines Falles
Um zumindest einen Eindruck von der herrschenden Schreibpraxis in der reformierten Oberstufe zu geben und meine Kritik nicht auf bloße Behauptungen zu gründen, möchte ich als erstes einen konkreten Fall schildern. Gegenstand des Unterrichts war eine Kurzgeschichte: Wolfgang Borcherts «Nacht schlafen die Ratten doch». Zwei Stunden dienten der Vorbereitung, zwei weitere der Nachbereitung, und eine Stunde stand für die Anfertigung des Aufsatzes zur Verfügung. Die Dokumente sind mir von einer Studentin überlassen worden. Die Unterrichtseinheit beginnt mit einer Belehrung über den Begriff der Interpretation und die Verfahren des Interpretierens. Ich übergehe die Begriffsbestimmung und komme gleich zu den Verfahren. Über sie erfahren die Schüler und Schülerinnen, (1) daß die Interpretation Kenntnisse voraussetzt über «wesentliche Merkmale» der literarischen Gattung, nicht nur formale, sondern auch und vor allem inhaltliche, (2) daß sie selbst aber mehr ist als nur die Analyse der Form und mehr auch als eine Paraphrase des Inhalts, (3) daß in jedem Falle auch «die Beziehung zwischen dem Text und dem Leser» in die Interpretation einzubeziehen sei, also wohl doch die Wirkung, die der Text auf den Leser auszuüben geeignet erscheint, oder der Eindruck, den der Leser aus dem Text gewinnt. Über Schreiben oder das Verfassen von Texten kein einziges Wort. In der zweiten Stunde erhalten die Schüler und Schülerinnen Anweisungen für die Interpretation von Kurzgeschichten. Diese werden stichwortartig aufgeschrieben, damit sie bei der Ausarbeitung des Aufsatzes als Leitfaden dienen können. Es handelt sich um fünf Stich Wörter, die unterschiedliche Aktivitäten benennen: «Einleitung», «Inhaltsangabe», «Analyse», «Intention des Autors», «eigene Stel-
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lungnahme». Der Aufstellung ist zu entnehmen, daß die Liste geordnet ist und genau die Schritte aufzählt, die bei der Ausführung nacheinander abgearbeitet werden sollen. Die einzelnen Schritte finden unterschiedliche Explikationen. Die «eigene Stellungnahme» bleibt unkommentiert. Über die Inhaltsangabe erfährt man nur, daß sie «kurz» sein soll. Mehr dürfte auch nicht erforderlich sein, da die Anfertigung von Inhaltsangaben lange Zeit Gegenstand des Unterrichts in der Sekundarstufe I war. Die Einleitung soll Angaben über den «Autor», den «Titel», den «Ort» und die «Zeit» sowie über die «Person» enthalten. Absicht dürfte gewesen sein, über die Umstände der Geschichte (Ort, Zeit und handelnde Personen) sowie über Titel und Autor zu unterrichten. Als Gegenstände der Analyse werden inhaltliche, strukturelle und sprachliche Eigenschaften des Textes genannt: «Grammatik», «Struktun> und «Sprachanalyse» (genauer dazu unten). Das Ganze führt zur Herausarbeitung der «Intention des Autors». Diese soll anhand der «Aussage» (wohl der wesentlichen Aussage), der «Moral» (dem Appell an den Leser) und der «Absicht» (des Verfassers) erfolgen. Die Anfertigung des Aufsatzes bleibt der dritten Stunde vorbehalten, von der natürlich nur der fertige Aufsatz übrig geblieben ist. Ich gebe ihn hier so wieder, daß deutlich wird, inwieweit der Leitfaden, vom Lehrer vorgegeben, Einfluß auf die schriftliche Ausarbeitung genommen hat. Die Vorgaben des Leitfadens stehen in Klammern. (Einleitung) Der Text «Nachts schlafen die Ratten doch» (Titel) von Wolfgang Borchert (Autor) erzählt die Geschichte eines kleinen Jungen namens Jürgen (Person). Am frühen Abend am Ende eines Sommertages (Zeit) sitzt der 9jährige Jürgen vor dem zerbombten Haus (Ort), das seinen Bruder unter sich begrub. (Inhaltsangabe) Ein alter krummbeiniger Mann, mit einem Messer im Korb kommt vorbei und fragt Jürgen, was er denn dort machen würde. Jürgen, zunächst ängstlich, erzählt nach einigem Hin und Her, daß er seinen toten Bruder bewache, damit dieser nicht von Ratten gefressen wird. Sein Lehrer hatte ihm erzählt, die Ratten würden nachts nicht schlafen und deshalb müsse er ihn nachts ebenfalls bewachen. Der alte Mann beruhigt den Jungen und erklärt ihm, daß Ratten nachts schlafen. Der Mann geht nach Hause, um für Jürgen ein
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Ludwig kleines Kaninchen zu holen, das er ihm schenken will. Außerdem verspricht Jürgen nach seiner Rückkehr, (es) nach Hause zu bringen. (Analyse) Die Geschichte wurde von Wolfgang Borchert wahrscheinlich nach dem 2. Weltkrieg verfasst (Thematik?). Es sind viele Adjektive enthalten (Grammatik?), die Eintönigkeit und Trostlosigkeit unterstreichen und umschreiben (gähnen, dösen, dunkel, leise). Der Leser kann sich durch anschauliche Beschreibung alles sehr gut vorstellen. Viele Personifikationen unterstreichen die Atmosphäre. Dadurch kann sich der Leser besser in die Dinge hineinversetzen (Beziehung zwischen Leser und Text - nicht im Leitfaden, wohl aber in den Belehrungen enthalten). Der Schreibstil beschränkt sich auf Umgangssprache in den Dialogen und Bildersprache im erzählenden Teil, der außerdem fast nur parataktische Satzgefüge enthält (Sprachanalyse: Stil). (Intention des Autors) Die Intention des Verfassers der Kurzgeschichte könnte gewesen sein, die Schrecken des Krieges aufzuzeigen.
Vergleicht man die Ausführungen mit dem Leitfaden, so ist festzustellen, daß dem Leitfaden zwar Folge geleistet wird, aber nicht alle Punkte Beachtung finden. Es fehlt eine «eigene Stellungnahme». Außerdem vermißt man Ausführungen zur «Thematik», «Struktur» (vielleicht in der vorausgesetzten Unterscheidung von Dialog- und Erzählteilen enthalten), «Moral» und «Aussage». Dagegen finden sich alle Gesichtspunkte, die in der Einleitung eine Rolle spielen sollen, im Text wieder, und die Inhaltsangabe ist recht ausführlich geraten, also keineswegs «kurz», wie verlangt. Der Einfluß, den der Leitfaden auf die Textproduktion nimmt, ist also zu Beginn recht beachtlich, nimmt dann aber immer mehr ab. Daß die «Analyse» den Schülern und Schülerinnen die größten Schwierigkeiten bereitet hat, läßt sich aus der Tatsache schließen, daß die Nachbereitung zwei ganze Stunden in Anspruch nahm und ausschließlich Fragen der Analyse gewidmet war. Die Ausführungen zur «Struktur» beschränken sich auf die Feststellung, daß der Beginn und der Schluß «erzählend» sind, die Geschichte selbst aber aus einem einzigen Dialog besteht. Relativ ausführlich sind die Bemerkungen zur «Thematik». Einmal wird auf «die zentrale Funktion der Notlüge» («Nachts schlafen die Ratten doch!») aufmerksam gemacht.
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Dann werden die Folgen für den Verlauf der Geschichte aufgeführt: (1) «Stadien der Annäherung zwischen dem J.(ungen) und dem M.(ann)», (2) Veränderungen in der «äußeren Situation» («Welt der Angst u. Zerstörung» - «Welt der Hoffnung u. des Aufbaus») und (3) Wandel in der Symbolik von den Ratten («Tod») zu den Kaninchen («Leben»). Ausführlich sind auch die Ausführungen zur «Wortschatzanalyse». Hier geht es in erster Linie um die Wortarten. Erfaßt werden Substantive, Verben und Adjektive. Da aber nur die ersten und die letzten Zeilen, also ausschließlich erzählende Partien, untersucht werden, erhält die Wortschatzanalyse einen eher fragmentarischen Charakter. Was von der Analyse dieses einen Aufsatzes und seines Zustandekommens für die weiteren Überlegungen festzuhalten ist, wäre dies: Alle Hilfen durch den Lehrer sowohl vorher als auch nachher zielen einzig und allein auf die Interpretation eines Textes ab. Die Tatsache, daß diese Interpretation schriftlich durchzuführen ist, die Schüler und Schülerinnen also einen Aufsatz anzufertigen haben, wird schlicht und einfach ignoriert, sei es, daß man auf sie überhaupt nicht aufmerksam geworden ist, sei es, daß (was wahrscheinlicher ist) bei Schülern und Schülerinnen der Sekundarstufe I die Fähigkeit, Texte verfassen zu können, einfach vorausgesetzt wird. 2
Verallgemeinerungen und Erklärungen
Daß der vorliegende Aufsatz und das Unterrichtsgeschehen, in das er eingebettet ist, exemplarisch sind, läßt sich vor dem Hintergrund, aus dem diese Praxis erwachsen ist, zeigen. Ich beziehe mich dabei auf einen Aufsatz von Dietrich Wintterlin: «Die schriftliche Abiturprüfung an den Versuchsschulen in Baden-Württemberg». Bekanntlich ist die reformierte Oberstufe oder kurz die Sekundarstufe II, wie sie meistens genannt wird, 1972 an allen Schulen der Bundesrepublik, die eine Oberstufe aufwiesen, eingeführt worden. Wintterlin war 1973 und 1974 an der Korrektur der Abiturarbeiten beteiligt, die damals zum ersten Mal in Baden-Württemberg zentral geschrieben und zentral beurteilt wurden. Er stand der Einführung der neuen Schulform also nahe genug, um Auskunft über die ihr zugrun-
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deliegenden Überlegungen geben zu können. Als Korrektor hatte er auch Gelegenheit, erste Erfahrungen mit der neuen Abiturform im Fach Deutsch zu machen. Er hat darüber 1975 in der Zeitschrift «Der Deutschunterricht» (27,4,82-100) berichtet. Um von dem konkreten Beispiel (Abschnitt 1) zur Schreibpraxis in der Sekundarstufe II allgemein (Abschnitt 2) zu gelangen, möchte ich vier Fragen nachgehen: Was rechtfertigt die dominierende Rolle der Interpretation im Deutschunterricht allgemein und in der Schreibpraxis im besonderen (2.1)? Warum müssen Interpretationen überhaupt schriftlich vorgenommen werden (2.2)? In welchem Verhältnis stehen solche Interpretationsaufsätze zu den übrigen schriftlichen Arbeiten (2.3)? Was war der Anlaß, Aufsätze auf der Grundlage von Leitfäden anfertigen zu lassen, und wie kam es zu dieser Praxis (2.4)? Die ersten drei Fragen lassen sich kurz und bündig beantworten, die vierte bedarf jedoch einer ausführlicheren Erörterung. 2.1. Die Frage nach der Bedeutung der Interpretation für den Deutschunterricht wird von Wintterlin mit dem Hinweis auf den neuen Lehrplan für die reformierte Oberstufe an den Gymnasien in Baden-Württemberg beantwortet: Dieser Lehrplan verlangt, daß im Deutschunterricht die drei sog. Arbeitsbereiche «Sprachliche Übungen», «Umgang mit Literatur» und «Reflexion über Sprache» mit demselben Gewicht zu behandeln seien. Doch handelt es sich bei diesen nicht um isolierte Gegenstände des Unterrichts, sondern um Aspekte, die jeweils alle drei bei der Arbeit an den Gegenständen des Deutschunterrichts beachtet werden müssen und von denen allenfalls je nach der Besonderheit des Gegenstandes einer akzentuiert werden kann. Der eigentliche Gegenstand des Unterrichts ist dagegen der Text (1975, 82).
Mit anderen Worten: die Interpretation steht als Verfahren im Mittelpunkt des Deutschunterrichts, weil bei ihr alle Aufgabenbereiche zum Zuge kommen: Rezeption, Reflexion und sogar die Produktion sprachlicher Äußerungen. 2.2. Warum Interpretationen ausgerechnet schriftlich vorzunehmen sind, wird in den Ausführungen von Wintterlin nicht explizit erörtert, ergibt sich aber ohne weiteres aus ihnen. Man braucht den einmal an-
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gefangenen Faden nur weiter zu spinnen (Wintterlin 1975, 82). Schriftlich müssen die Interpretationen sein, weil nur so der Schüler und die Schülerin über das Ergebnis der Arbeit am Text «Rechenschaft zu geben» vermag und weil nur so das Ergebnis der Arbeit für die Lehrperson erfaßbar, beurteilbar und bewertbar wird. Schreiben wird - daran kann kein Zweifel bestehen - hier von der Leistungskontrolle in Anspruch und in Dienst genommen. 2.3. «Die textgebundene schriftliche Arbeit» ist, wie Wintterlin in Übereinstimmung mit dem Baden-Württembergischen Lehrplan feststellt, eine «Klausurform«, und zwar «die wichtigste Klausurform» (1975, 82). Eine solche Bestimmung des Interpretationsaufsatzes ist der Schlüssel zur Bestimmung des Verhältnisses zu den anderen schriftlichen Arbeiten der reformierten Oberstufe. Prototyp für alle schriftlichen Arbeiten der reformierten Oberstufe ist die Klausur im Abitur. An ihr orientieren sich alle übrigen schriftlichen Arbeiten. Auf die Abiturklausur bereiten die Klausuren am Ende der Kurse vor, wie diese ihrerseits durch die schriftlichen Übungen innerhalb der Kurse vorbereitet werden. Schriftliche Arbeiten sind also auf allen Ebenen der reformierten Oberstufe Klausuren oder zumindest klausurähnliche Verrichtungen, sei es als Übungsaufsatz, Abschlußklausur oder Abiturarbeit. 2.4. Schriftliche Interpretationen von Texten als Klausurarbeiten hat es im Deutschunterricht immer schon gegeben (Ludwig 1988). Das eigentlich Neue im Lehrplan der reformierten Oberstufe aber ist die Form, in der solche Interpretationen zu erfolgen haben. Begründet wird diese folgendermaßen. Es wurde als Mangel der bis dahin üblichen Interpretationsaufsätzen empfunden, daß sie meist nur mit einer knappen Arbeitsanweisung versehen waren, etwa der Art wie «Interpretieren Sie!» oder «Vergleichen Sie!», im übrigen aber die Schüler und Schülerinnen ganz auf ihre eigene Intuition angewiesen waren. Die Aufgabe, vor die sie sich gestellt sahen, war, so meinte man, auf der einen Seite zu «anspruchsvoll», weil zu wenig Hilfen angeboten wurden, auf der anderen Seite zu «unverbindlich», weil die Aufgabenstellung nicht genau genug bestimmt war, so daß die Schreiber und Schreiberinnen nach allen Seiten «ausschwärmen» und sogar «vor bestimmten Problemen ausweichen» konnten (Wintterlin 1975,
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84). Verlangt wurde also eine Form der Interpretationsarbeit, die weniger Ansprüche an das Leistungsvermögen der Schüler und Schülerinnen stellte, zugleich aber verbindlicher in der Aufgabenstellung war. Die Lösung fand man in «der textgebundenen Aufgabe mit mehreren verbindlichen Arbeitsanweisungen» - eine Lösung in zwei Schritten: der Vorgabe eines Leitfadens mit präzisen Arbeitsanweisungen, an dem entlang der Text erarbeitet werden soll, und der schriftlichen Aufzeichnung der Arbeitsergebnisse in Form eines Aufsatzes. Wie es zu solchen Leitfäden gekommen ist und welche Absichten ihnen ursprünglich zugrundelagen, läßt sich für Baden-Württemberg auf der Grundlage der Ausführungen von Wintterlin noch einigermaßen klar rekonstruieren. Die für die Einführung der reformierten Oberstufe verantwortliche Lehrplankommission stand vor der Aufgabe, den neuen Lehrplan den Lehrern und Lehrerinnen des Landes so zu präsentieren, daß sie in der Lage waren, ihn in ihrem Unterricht in praktische Handlungen umzusetzen. Zu diesem Zweck hat die Kommission als «Handreichung zum Lehrplan» einen Katalog von Gesichtspunkten zusammengestellt, aus dem dann unter Berücksichtigung des zu interpretierenden Textes, der Unterrichtsbedingungen und Unterrichtsziele eine Auswahl zu treffen war, die der Formulierung der konkreten Arbeitsanweisungen zugrundegelegt werden konnte. Die Handreichung diente also ausschießlich dem Zweck, die Aufstellung von Leitfäden zu erleichtern, nicht diese und ihre konkrete Ausformulierung überflüssig zu machen. Um einem solchen Zweck gerecht zu werden, mußte der Katalog möglichst alle Gesichtspunkte und diese möglichst vielseitig erfassen. Der Vollständigkeit diente ihre Aufteilung in sieben Großgruppen, und zwar 1. zum Inhalt, 2. zur Textsituation, 3. zur Intention, 4. zur Textkonstitution, 5. zur Argumentation, 6. zu Sprache und Stil und 7. zur Stellungnahme. Eine solche Gruppierung läßt sich noch in den Arbeitsanweisungen wiedererkennen, die zur Ausführung des im ersten Abschnitt behandelten Aufsatzes geführt haben. Die Gesichtspunkte zur Textsituation erscheinen in der «Einleitung», die zur Textkonstitution, zur Argumentation und zu Sprache und Stil sind in der «Strukturanalyse» zusammengefaßt. Der vielseitigen Erfassung der
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Gesichtspunkte diente im Katalog die Binnendifferenzierung der Großgruppen. So wurden, um ein Beispiel zu geben, zur Behandlung der Inhalte von Texten, also für die Inhaltsangabe, folgende Möglichkeiten ins Auge gefaßt: «Formulieren des Themas oder der Hauptthese; Aufgliedern des Inhalts in Thesen; Herauslösen von Sachinformationen; auf einen bestimmten Umfang begrenzte Darlegung des Sachinhalts (Geschehensinhalts, Meinungsinhalts) als Verkürzung des Textes oder in eigener Formulierung; Wiedergabe in referierender Sprache, evtl. an einen Adressaten mit einem bestimmten Informationsbedürfnis, aber ohne Deutung und Wertung» (Wintterlin 1975, 84). Es war den Verfassern der Handreichungen klar, daß in der Praxis nur eine begrenzte Anzahl von Anweisungen gegeben werden kann, kaum mehr als drei oder vier. Wenn sich in der Zwischenzeit die Dreizahl durchgesetzt zu haben scheint, dann ergibt sie sich nicht zuletzt daraus, daß sinnvoller Weise zunächst in irgendeiner Form Inhalt und Intentionalität erarbeitet werden, dann die Gestaltinterpretation geleistet und dann noch eine für den Text besonders aufschlußreiche Sonderaufgabe erfüllt wird, wobei es sich nicht selten um eine kritische Stellungnahme zu dem Text handelt (Wintterlin 1975, 87).
Man achte darauf, daß es in dem Zitat heißt: «in irgendeiner Form», nicht «in einer bestimmten Form». Ich weiß, daß sich viele Lehrer und Lehrerinnen große Mühe geben, die Aufgaben zu präzisieren, sie auf eine konkrete Frage hin zuzuspitzen oder eine besonders originelle Fragestellung zu finden, und doch wird man kaum bestreiten können, daß sich eine Tendenz eingeschlichen und wohl auch durchgesetzt hat, genau solche Spezifizierungen zu vermeiden. Eine höchst abstrakte Form der Aufgabenstellung ist dann oft das Ergebnis. Vergleicht man die Baden-Württembergische Handreichung mit den Arbeitsanweisungen und Leitfäden, wie sie heute üblich geworden sind, dann läßt sich unschwer fesstellen, daß sich Absicht und Form grundlegend verändert haben. In Vergessenheit geraten ist in der Zwischenzeit die Tatsache, daß die ursprüngliche Liste nur ein Inventar möglicher Gesichtspunkte für die Anfertigung von Interpretationsaufsätzen sein wollte, möglichst vollständig und möglichst
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vielseitig, damit für den konkreten Einzelfall jeweils eine sinnvolle Auswahl getroffen werden konnte. An die Stelle einer solchen Liste ist dann aber ein Leitfaden getreten, in dem es weder auf Vollständigkeit noch Vielseitigkeit der Gesichtspunkte ankommt. Die Anzahl der Gesichtspunkte im allgemeinen wird auf drei oder vier reduziert (in der Regel Inhalt, Sprache und Stil sowie irgendein Aspekt oder Problem des Textes). Dazu gibt es für den besonderen Fall einige Erläuterungen, oft auch nicht einmal dies. Aus einer Handreichung für den Lehrer ist unter der Hand eine Konvention geworden, die in vielen Fällen die Anstrengung eigener Überlegungen als überflüssig erscheinen läßt, aus der Absicht, Schüler und Schülerinnen vor eine klar bestimmte Aufgabe zu stellen, eine Praxis, in der es nur noch um die Erfüllung einer Anforderung geht. 3
Bedenken, Einwände, Widersprüche
Gegen den text- und anweisungsgebundenen Aufsatz sind Bedenken (3.1) und Einwände (3.2) von verschiedenen Seiten vorgebracht worden. Ich werde im folgenden auf sie eingehen. Außerdem möchte ich auf einige Widersprüche (3.3) aufmerksam machen. 3.1. Bedenken sind gleich nach seiner Einführung geäußert worden. Wintterlin hat einige von ihnen mitgeteilt: Es geht dabei weniger um die Wahl und Formulierung der Einzelfragen, die man in jedem einzelnen Fall immer wieder wird debattieren können, als vielmehr um etwas Grundsätzliches an dem Verfahren. Mancher (Schüler wie Lehrer) fürchtet nämlich, diese Aufgabenstellung sei eine zu große gedankliche Gängelung, sie lasse dem Kreativen zu wenig Raum und nehme dem Schüler die geistige Grundleistung einer Gliederung ab. So wirke sie im Grunde auch nivellierend (Wintterlin 1975, 99).
Es handelt sich hier um zwei Punkte: (1) Die Freiheit der Schüler und Schülerinnen, Einfalle zu haben, eigene Vorstellungen und Gedanken zu entwickeln und den Text auf eine Weise zu erfahren, die nicht zuvor bedacht worden ist, wird durch die Arbeitsanweisungen in einem ganz erheblichen Maße eingeschränkt. (2) Die Ordnung der Gedanken ist nur im engen Rahmen der einzelnen Arbeitsschritte möglich, im ganzen aber durch die Abfolge der Arbeitsschritte vorgegeben. Die Folge eines solchen Verfahrens dürfte sein, daß zwar
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die Schwächen der Schüler und Schülerinnen, die Schwierigkeiten haben, einen Text zu erfassen, weniger zutage treten, da sie von den angebotenen Hilfen einen Vorteil ziehen, daß aber - und das ist die Kehrseite der Medaille - die kognitiven, sprachlichen und ästhetischen Fähigkeiten der besseren Schüler und Schülerinnen nicht zur Geltung kommen. Den Vorwurf einer «zu großen gedanklichen Gängelung» wird man kaum von der Hand weisen können. 3.2. Nun werden nicht nur Texte interpretiert, sondern es entstehen auch neue Texte: die Texte der Schüler und Schülerinnen. Die Einwände, die gegen die Art und Weise, wie unter den Bedingungen von Arbeitsanweisungen Texte produziert werden, scheinen mir sehr bedenkenswert zu sein. Ulf Abraham hat in einer kritischen Analyse des Interpretationsaufsatzes Gesichtspunkte vorgetragen, die sich mit meinen eigenen Beobachtungen decken (Abraham 1994). Der wesentliche Punkt ist der: Von Schreiben kann im Rahmen des neuen Interpretationsaufsatzes nur in einem eingeschränkten Sinne die Rede sein, und zwar aus folgendem Grunde. Man kann beim Schreiben die mentalen Prozesse, die zur Konzeption eines Textes führen, von der Operation des Schreibaktes im engeren Sinne unterscheiden, deren Ergebnis die Fixierung eines konzipierten Textes auf dem Papier ist. In der Regel werden die beiden Teilhandlungen gleichzeitig und darum so vorgenommen, daß der Schreibakt auf die mentalen Prozesse und diese wiederum auf den Schreibakt Einfluß nehmen können (Ludwig 1995). Überträgt man dieses - zugegeben vereinfachte Modell auf die Situation der Schüler und Schülerinnen, die nach einem vorgegebenen Leitfaden einen Aufsatz zu schreiben haben, dann ergibt sich folgendes. Die mentalen Teilhandlungen, deren eigentliches Ziel die Herstellung eines Konzeptes ist, sind in diesem Fall nicht mehr als Antworten auf vorgegebene Fragen, ein «kleinschrittiges, extrem lehrer(...Besteuertes Frage-Antwort-Spiel», wie Abraham meint, das er nicht ohne Berechtigung als «Textverhör» verhöhnt (Abraham 1994, 76). Die Folge davon ist, daß die Schreibhandlung in ihrer Funktion auf die bloße Aufzeichnung der Antworten reduziert wird (genauer dazu unten 4. l.) Schreiben als Verschriftlichung ist eine reduzierte Form des Schreibens, bei der von vielen Aspekten und Funktionen des Schreibens nur noch eine übrig
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Ludwig geblieben ist. Schreiben heißt da bloß: zu Papier bringen, was vorher schon da ist, Rede, die schon gedacht ist, in Schrift transformieren. Es ist dies eine fast schematische Tätigkeit, fast dasselbe, was eine Sekretärin macht, wenn sie nach Diktat schreibt (Hermanns 1988,71).
3.3. Man könnte das skizzierte Verfahren mit dem Hinweis auf die eingeschränkten Bedingungen der Schule rechtfertigen, müßte dann aber hinnehmen, daß man sich leicht in alle möglichen Widersprüche verwickelt. Ich führe drei an: (1) Es möchte sich wohl niemand nachsagen lassen, daß sein Unterricht nicht über das 19. Jahrhundert hinaus gekommen ist. Was bei dem modernen text- und anweisungsgebundenen Aufsatz herauskommt, ist jedoch kaum mehr, als schon der sogenannte «gebundene Aufsatz» des vorigen Jahrhunderts zu leisten vermochte. Es ist der Lehrer und es ist die Lehrerin, die zuvor schon bedacht haben, was zu schreiben ist. Dem Schüler und der Schülerin bleibt nur der Nachvollzug und - die Hoffnung, das Richtige getroffen zu haben. (2) Von den Schülern und Schülerinnen wird ein kohärenter (inhaltlich zusammenhängender) und kohäsiver (formal geschlossener) Text erwartet (Wintterlin 1975, 97). Eine solche Erwartung ist unter den Bedingungen, unter denen die Aufsätze geschrieben werden, absurd. Denn die Beantwortung einzelner, unterschiedliche Gesichtspunkte und oft heterogene Gegenstände betreffender Fragen kann grundsätzlich nicht zu einem homogenen Text führen (vgl. Abraham 1994, 91). (3) Man sollte annehmen, daß die Aufsätze, die in der reformierten Oberstufe geschrieben werden, auch sprachlichen und stilistischen Ansprüchen genügen. Tatsache aber ist, daß in dem Maße, in dem sie für Zwecke der Interpretation von Texten eingesetzt werden, die Beachtung eben solcher Ansprüche schwindet. Je komplexer und anspruchsvoller mit steigender Jahrgangsstufe die erstrebter Schülertexte werden, desto weniger wird das Schreiben selbst geübt (...) und desto bescheidener werden die Ansprüche an die formalen und stilistischen Qualitäten der entstehenden Texte. Der Deutschunterricht liegt hier durchaus im Trend des Schulunterrichts überhaupt: Mit wachsendem Alter der Schüler wird - zu Recht - immer mehr auf die Dar
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Stellungslogik und inhaltliche Präzision geachtet, aber - zu Unrecht - immer weniger auf die .sprachliche Gestalthaftigkeit eines Textes (Abraham 1994, 99).
Man wird aus den verschiedenen Argumenten, die gegen den textgebundenen Interpretationsaufsatz ins Feld geführt worden sind, den Schluß ziehen dürfen, daß die Bedingungen, unter denen in der reformierten Oberstufe geschrieben wird, der Ausbildung des Schreibvermögens von Schülern und Schülerinnen nicht nur nicht günstig, sondern geradezu abträglich sind. So wird und - so kann auch nicht Schreiben gelernt werden. 4
Die der Praxis zugrundeliegenden Vorstellungen (Voraussetzungen, Implikationen und Konsequenzen)
Bedenken zu äußern, Einwände zu erheben und Widersprüche aufzuspüren ist eine Weise, die schriftlichen Arbeiten der reformierten Oberstufe zur Diskussion zu stellen, eine andere: die Aufdeckung ihrer Prämissen, Implikationen und Konsequenzen. Zu fragen wäre dann: Welche Vorstellungen von Schreiben setzt die neue Praxis voraus (4.1)? Welche Vorstellungen von den Schreibfähigkeiten der Schüler und Schülerinnen werden impliziert und - welche nicht (4.2)? Welche Konsequenzen ergeben sich aus einer solchen Analyse für den Unterricht? 4. l Die zugrundeliegenden Vorstellungen vom Schreiben Um die Vorstellungen, die der Schreibpraxis der reformierten Oberstufe zugrundeliegen, herausarbeiten zu können, ist es nützlich, eine Unterscheidung vorzunehmen, die ich an anderer Stelle vorgestellt und begründet habe (Ludwig 1995). Es geht um die Unterscheidung von «integriertem» und «nicht-integriertem Schreiben». Der Unterscheidung liegt die Feststellung zugrunde, daß es grundsätzlich zwei Möglichkeiten gibt, das Verhältnis der Schreibtätigkeit zu anderen Tätigkeiten oder Handlungen zu bestimmen. Im einen Fall stellt der Akt des Schreibens eine selbständige Tätigkeit dar, oft mit anderen Tätigkeiten oder Handlungen verbunden, nicht aber diesen untergeordnet. Ich spreche dann von «autonomem» oder «nicht-integriertem
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Schreiben». Beispiele hierfür gibt es viele, so etwa, wenn in einem Büro der Chef einen Brief diktiert und eine Sekretärin das Diktierte in die Schreibmaschine schreibt. Zwar sind die beiden Tätigkeiten durch das Diktat miteinander verbunden, doch die Schreibtätigkeit als solche bleibt autonom: in der Regel hat sie keinen Einfluß auf Konzeption und Formulierung des Briefes und ist grundsätzlich auch von der Ausführung dieser Handlungen abtrennbar. - Im anderen Fall ist die Schreibtätigkeit in einen Handlungszusammenhang eingebettet, und das heißt dann auch: ihm untergeordnet. Sie verliert damit ihre Autonomie und wird zu einer Teilhandlung neben anderen Teilhandlungen, die zusammen erst den Handlungszusammenhang ergeben. Ein solcher Fall liegt vor, wenn Konzeption, Formulierung und Ausführung der Schreibhandlung in einer Hand liegen, der Verfasser des Briefes zugleich auch schreibt bzw. der Schreiber auch Verfasser des Briefes ist. Die verschiedenen Aktivitäten, die an der Herstellung des Briefes beteiligt sind, treten an der Schreibhandlung zwar in Erscheinung (und insofern ist es verständlich, daß wir auch den gesamten Handlungszusammenhang als «Schreiben» bezeichnen), doch handelt es sich bei der Schreibhandlung in Wirklichkeit nur um eine Teilhandlung, die erst zusammen mit anderen Teilhandlungen das ergibt, was wir vielleicht besser als «Textproduktion» bezeichnen. Auf der Folie dieser Unterscheidung läßt sich die Rolle, die der Schreibtätigkeit zukommt, wenn Schüler und Schülerinnen einen Interpretationsaufsatz verfassen, genauer bestimmen (vgl. 3.2.). Nur auf den ersten Blick hat es den Anschein, als ob die Schüler und Schülerinnen die in den Arbeitsanweisungen enthaltenen Fragen erst im Kopf beantworten und dann die gefundene Antwort niederschreiben. In Wirklichkeit ist der Vorgang komplizierter. Wollte man ihn genauer beschreiben, dann müßte man feststellen, daß die Interpretation eines Textes am Leitfaden einer Liste verschiedener Gesichtspunkte so vollzogen wird, daß Schritt für Schritt, wie bei einer Rechenoperation auch, die Ergebnisse der Teilhandlungen, aus denen sich die Interpretation zusammensetzt, schriftlich festgehalten und aufgezeichnet werden. Textproduktion und Schreibtätigkeit treten nicht getrennt voneinander auf, aber auch nicht ineinander integriert, vielmehr ist die Schreibtätigkeit mit der Textproduktion verkoppelt, so
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daß beide nicht unabhängig voneinander erfolgen. Das bereits Aufgeschriebene wird nicht noch einmal aufgeschrieben; das, was an anderer Stelle noch ausführlich erörtert werden soll, braucht nicht schon zuvor in aller Breite dargestellt zu werden, und insgesamt ist das jeweils Geschriebene Voraussetzung und Bedingung für das Nochzu-Schreibende. Der Akt des Schreibens ist also im Fall von Interpretationsaufsätzen nicht Teil einer Textproduktion, sondern ein untergeordneter Bestandteil des Interpretierens. Wenn die Beschreibung zutrifft, dann lassen sich aus ihr einige Schlüsse ziehen: (1) Schreiben dient unter den angeführten Bedingungen der Erzeugung von Wissen, und zwar von Interpretationswissen, nicht der Produktion von Texten. In dieser Hinsicht unterscheidet es sich nicht grundlegend vom Einsatz des Schreibens beim Rechnen. (2) Es kann darum auch gar nicht in der Absicht von Interpretationsaufsätzen liegen, von den Schülern und Schülerinnen kohärente und kohäsive Texte zu erhalten (vgl. 3.3.). Wissen ist gefragt, nicht Texte! (3) Schreiben kommt im Rahmen der Textinterpretation nur eine recht marginale Rolle zu: es ist weder notwendig, noch in den meisten Fällen erforderlich. Eine Funktion erfüllt es nur, wenn mit dem Schreiben weitere Zwecke verfolgt werden: die Übung der Fähigkeit oder gar ihre Kontrolle (s. oben). (4) Schreiben ist im Rahmen von Interpretationsaufsätzen nicht strikt auf die Fixierung von Gedachtem oder die Aufzeichnung von Gesprochenem beschränkt, doch erschöpft sich seine Funktion weitgehend in der Niederschrift, der Fixierung oder Aufzeichnung. Es liegt also der Praxis des Interpretierens, um die es in den schriftlichen Arbeiten der reformierten Oberstufe letztlich geht, ein Begriff von Schreiben zugrunde, der im Grunde auf eine Funktion des Schreibens festgelegt ist und viele Möglichkeiten des Schreibens nicht zur Geltung kommen läßt. Aus diesem Grunde dürfte eine solche Praxis denkbar ungeeignet sein, um an ihr zu erfahren und zu lernen, was Schreiben ist.
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Welche Vorstellungen haben die Konstrukteure der reformierten Oberstufe von dem Schreib vermögen der Schüler und Schülerinnen gehabt und - welche nicht? 4.2 Die impliziten Vorstellungen von dem Schreibvermögen der Schüler und Schülerinnen Fragt man, über welche Fähigkeiten und Fertigkeiten man verfügen muß, um die oben beschriebenen Interpretationsaufsätze abfassen zu können, dann wird man kaum über zwei hinauskommen. Erstens wird verlangt, daß man seine Gedanken zu den Texten, vielleicht auch Eindrücke von ihnen und Stellungnahmen zu ihnen, zu Papier bringen kann. Eine solche Funktion des Schreibens hat man als «expressiv» bezeichnet. Es ist das erste, was ein Kind in der Schule lernt, wenn der Aufsatzunterricht einsetzt: Den Ausgangspunkt der Schreibentwicklung stellt das expressive Schreiben dar. Es ist gekennzeichnet durch einen engen Bezug zur Person des Textproduzenten selbst und ist insofern unstrukturiert, als es dem Gedankenfluß des Textproduzenten folgt und keine Anpassung an den Leser aufweist. Die Funktion expressiven Schreibens besteht in erster Linie darin, innere Zustände nach außen zu bringen (Jechle 1992,41).
Der Ausdruck von Gedanken ist für jede Art von Schreiben grundlegend, seine Übung bleibt darum eine lebenslange Aufgabe. Mit der bloßen Niederschrift von Gedanken allein ist es aber nicht getan. Erforderlich ist - zweitens - auch, daß die Aufzeichnung in einer sprachlichen Form erfolgt, die den herrschenden Normen entspricht. Man setzt voraus, daß orthographisch richtig geschrieben und die Satzzeichen an der richtigen Stelle gesetzt werden, daß man sich keine grammatischen Fehler zu Schulden kommen läßt, vielleicht auch einige stilistische Vorschriften beachtet, also den Nonnen, die zur Regulierung des Sprachgebrauchs in Geltung sind, einigermaßen gerecht wird. Zu solchen Normen werden auch die Regeln zu rechnen sein, die bei der Anfertigung der klassischen Aufsätze zu berücksichtigen sind. Die Schüler und Schülerinnen sollen halt wissen, was bei der Abfassung eines Berichtes beachtet werden muß, was eine Erzählung auszeichnet, daß eine Schilderung Freiheiten erlaubt, die bei einer Beschreibung unangebracht wären, und natürlich - wie eine Er-
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örterung durchzuführen ist. Für die Anfertigung eines Interpretationsaufsatzes kommen vor allem zwei Aufsatzformen in Betracht: die Inhaltsangabe und die Argumentation als ein Verfahren der Erörterung. Interpretationsaufsätze setzen also zwei Fähigkeiten im Schreiben voraus - was die Inhaltsseite betrifft: die Niederschrift von Gedanken (dem gedanklichen Produkt der Interpretationsbemühungen) und was die sprachliche Form angeht: die Beachtung verschiedener Normen. Wenn im Deutschunterricht der reformierten Oberstufe diese Fähigkeiten vorausgesetzt werden und darüberhinaus kein weiterer Unterricht im Schreiben vorgesehen ist, dann läßt das nur den Schluß zu: daß man einen solche Unterricht schlicht und einfach nicht für erforderlich erachtet hat. Vermutlich war man der Auffassung, daß alles, was ein Schüler oder eine Schülerin lernen kann, bereits im Schreibund Aufsatzunterricht der unteren Schulstufen gelernt worden ist, so daß ein Bedarf an einem weiterführenden Unterricht nicht vorhanden ist. Einer solche Auffassung scheint die Vorstellung zugrundezuliegen, daß die Entwicklungspotentiale erschöpft seien, wenn die Schüler und Schülerinnen ihre Gedanken zu Papier bringen können und dies in einer den Normen entsprechenden Weise. Daß solche Vorstellungen, sollten sie wirklich bestanden haben, ein völlig unzureichendes Bild von den Schreibpotentialen geben, möchte ich im folgenden noch kurz erläutern. Für die Schreibentwicklung von Kindern und Jugendlichen gibt es verschiedene Modelle. Welches auch immer man zur Hand nimmt, immer wird man finden, daß es über die Niederschrift von Gedanken und der Beachtung der Normen hinaus eine Vielfalt von Entfaltungsmöglichkeiten auch und gerade für Schüler und Schülerinnen der Sekundarstufe II gibt. Ich nehme als Beispiel ein Modell, das zwar nicht unproblematisch ist, aber doch wohl zu den bekanntesten zählt und das sich für die Zwecke, die es hier zu erfüllen hat, gut eignet: das Modell von Carl Bereiter (Bereiter 1980). Ich gebe es im folgenden in einer Form wieder, die die Differenzen zur herrschenden Schreibpraxis an den Schulen deutlich hervortreten läßt. Bereiter unterscheidet fünf Stufen in der Schreibentwicklung von Kindern und Jugendlichen. Die beiden ersten entsprechen in etwa dem, was wir «expressives» und «normatives Schreiben» genannt
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Ludwig
haben. Das heißt, Kinder lernen als erstes ihre inneren Vorstellungen (Gedanken, Gefühle, Phantasien) aufs Papier zu bringen. Einige Zeit später kommt das Bedürfnis auf, auch so wie die Erwachsenen schreiben zu können: normgerecht, ohne Fehler und in den Formen, die Erwachsene ausweisen. Soweit decken sich die der Schreibpraxis in den Schulen zugrundeliegenden Vorstellungen mit den Ergebnissen der Forschung. Doch diese gehen dann weit über den Rahmen der Schreibpraxis in der Schule hinaus, und zwar in Richtung auf den Leser, in Richtung auf den Schreibenden selbst und schließlich auch in Richtung auf die darzustellenden Gedanken. Auf Leser bezogen ist Schreiben immer dann, wenn Gedanken nicht nur auf das Papier kommen und der sprachliche Ausdruck den Normen entspricht, sondern außerdem berücksichtigt wird, daß der erzeugte Text auch gelesen werden soll. Man spricht in diesem Zusammenhang von «kommunikativem Schreiben» und meint dann etwa das folgende: Als kommunikatives Schreiben sollen all jene Formen von Textproduzieren bezeichnet werden, die auf einen Leser zielen, (...) um auf dessen Wissen oder Einstellungen als Bedingungen für sein Verhalten einzuwirken. Ausschlaggebend (...) ist in erster Linie die Intention des Textproduzenten zu kommunizieren und nicht die Übereinstimmung des Produkts mit normativen Vorstellungen über einen idealen kommunikativen Text. (Jechle 1992,44).
Das Produkt kommunikativen Schreibens dürfte mit dem übereinstimmen, was in der Aufsatzdidaktik der siebziger Jahre als «kommunikativer Aufsatz» bezeichnet worden ist (Boettcher u. a. 1978), hier und da auch Aufnahme in den Aufsatzunterricht der Sekundarstufe I gefunden hat, von dem aber in den Interpretationsaufsätzen der Sekundarstufe II keine Spur mehr zu finden ist. Dieser Ansatz ist nach wie vor hoch aktuell und sollte bei einer Reform des Curriculums der Sekundarstufe II unbedingt Berücksichtigung finden. Auf den Schreibenden selbst ist Schreiben immer dann bezogen, wenn es dazu dient, nicht nur seine ihm eigenen Gedanken zum Ausdruck zu bringen, sondern dies auch in der ihm eigenen Handschrift. Darum hat man von «authentischem Schreiben» gesprochen. In dieser Richtung betreten wir ein weites Feld, zu dem auch und vielleicht vor allem die Stilarbeit zu rechnen ist. Die Arbeit am Stil gehört zu
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den Bereichen des Deutschunterrichts, die seit geraumer Zeit auf eine nicht verständliche, auf jeden Fall aber auf eine nicht zu verantwortende Weise vernachlässigt worden sind. Es wird Aufgabe einer Didaktik der reformierten Oberstufe sein, die Arbeit am Stil in ihre Überlegungen einzubeziehen. Auf Gedanken ist Schreiben nicht nur dann bezogen, wenn es dazu dient, zuvor gefaßte Gedanken aufzuzeichnen, d. h. schriftlich festzuhalten, sondern auch, wenn es der Erzeugung von Gedanken dient, d. h. der Akt des Schreibens so in den der Gedankenproduktion integriert ist, daß - mit dem Schreibvorgang und durch ihn bewirkt - Gedanken allererst gefunden werden. In einem solchen Fall spricht man darum von «heuristischem» oder, weil es um einen Erkenntnisgewinn geht, von «epistemischen Schreiben». Auch wenn es in beiden Fällen um die Erzeugung von Wissen geht, muß diese Funktion des Schreibens von der bei der Abfassung von Interpretationsaufsätzen unterschieden werden. In Interpretationsaufsätzen wird Interpretationswissen nachträglich aufgeschrieben, an der Erzeugung dieses Wissen hat das Schreiben keinen Anteil. Das ist bei dem heuristischen bzw. epistemischen Schreiben anders. «Durch den ständigen Wechsel zwischen Exteriorisierung von Wissen (in Texten O. L.) und Überarbeitung desselben» wird «eine Form der Weiterverarbeitung des eigenen Wissens» (Molitor-Lübbert 1980, 286) gewährleistet, die wiederum neues Wissen erzeugt. Jeder Student und jede Studentin wird dies im Verlauf des Studiums einmal erfahren haben. Es erscheint mir außerordentlich wichtig zu sein, daß auch Schüler und Schülerinnen solche Erfahrungen machen können. Ich muß es mir an dieser Stelle versagen, Folgerungen aus meinen Anmerkungen für ein mögliches Curriculum zu ziehen. Einige Andeutungen habe ich gemacht. Das übrige bleibt der weiteren Arbeit überlassen. Mir kam es hier lediglich auf eine kritische Analyse der Schreibpraxis an. Doch denke ich, daß es nicht nur angebracht, sondern auch notwendig sein wird, die Bereiche und Funktionen des Schreibens, die bisher im Deutschunterricht keine oder nur eine marginale Beachtung gefunden haben, in die didaktische Diskussion einzubeziehen. Wie auch immer man sich entscheiden wird, Voraussetzung und Bedingung jeder Reform des Schreibunterrichtes müßte ein
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Umdenken in den Vorstellungen vom Schreiben sein. Wenn die Diskussion an dieser Stelle ansetzt, dann wird ein Schreibunterricht auch in der Oberstufe wieder möglich sein. Literaturverzeichnis Abraham, Ulf (1994): Lesarten - Schreibarten, Stuttgart: Klett Äugst, Gerhard & Jolles, Evelyn (1986): Überlegungen zu einem Schreibcurriculum in der Sekundarstufe II - statt einer Einleitung, DU 38, H.6,3-11 Bereiter, Carl (1980): Development in Writing. In: Gregg, Lee & Steinberg, Erwin (Hgg.): Cognitive Processes in Writing, Hillsdale N. J.: Lawrence Erlbaum, S. 73-96 Diskussion Deutsch (1993 und 1994), Heft 134: Schreibdefizite in S II; Heft 141: Schreibfähigkeiten in S II Hermanns, Fritz (1988): Personales Schreiben. Argumente für das Schreiben im Unterricht der Fremdsprache Deutsch. In: Lieber, Maria & Posset, Jürgen (Hgg.): Texte schreiben im Germanistik-Studium, München: ludicium Verlag, S. 45-67 Jechle, Thomas (1992): Kommunikatives Schreiben. Prozeß und Entwicklung aus der Sicht kognitiver Schreibforschung (ScriptOralia 41), Tübingen: Narr Ludwig, Otto (1988): Der Schulaufsatz. Seine Geschichte in Deutschland, Berlin und New York: de Gruyter (im Druck): Integriertes und nicht-integriertes Schreiben Molitor-Lübbert, Sylvia (1988): Schreiben und Kognition. In: Antos, Gerd & Krings, Hans P. (Hgg.): Textproduktion, Tübingen: Niemeyer 1988, S. 278296 Wintterlin Dietrich (1975): Schriftliche Abiturprüfung an den Versuchsschulen in Baden-Württemberg, DU 27, H.4, 82-100
Jürgen Baurmann
Was Kinder über das Schreiben wissen. Eine empirische Untersuchung l
Fragestellung
Ohne Zweifel hat die Schreibforschung in den letzten Jahren begonnen, die Aufsatzdidaktik und den Unterricht zu prägen. Die Übersichtsartikel und Sammelpublikationen von Gregg, Steinberg, Hg. 1980, Molitor 1984, Antos, Krings, Hg. 1989, Portmann 1991, Krings, Antos, Hg. 1992, Ortner 1993 oder Ossner, Hg. 1995 belegen dies. Ob die Schreibforschung letztlich den Aufsatzunterricht umfassend zu erneuern vermag, wird davon abhängig, ob es glückt, die schriftsprachlichen Fähigkeiten zu verbessern sowie Kinder und Jugendliche zur Schriftlichkeit zu erziehen (vgl. dazu auch Haueis 1995. insbesondere 102). Wie könnte Wandel und Erneuerung bewirkt werden? Etwa indem Ergebnisse der Schreibforschung direkt und möglichst unverfälscht auf Schule und Unterricht übertragen werden? Das ist versucht worden - und aus unterschiedlichen Gründen gescheitert. Sowohl dieser Mißerfolg als auch die Beobachtung, daß nach der kommunikativen Aufsatzdidaktik in den 70er Jahren (vgl. vor allem durch das Buch von Boettcher, Firges, Sitta, Tymister 1973) kein einziges Konzept mehr den Aufsatzunterricht nachhaltig bestimmt hat, haben dazu geführt, sich gründlicher als bisher mit dem Umfeld des schulischen Schreibens zu befassen. Dieses Umfeld wird weitgehend durch «kulturell etablierte Konzepte» (Feilke 1995) bestimmt, denen ein erhebliches «Beharrungsvermögen» zu eigen ist. Wer das Schreiben in der Schule verändern will, wird sich deshalb auch mit deren institutionellen Bedingungen auseinandersetzen müssen. Das geschieht zur Zeit - etwa bei Feilke 1995, Ortner 1993, Ossner 1995, im angloamerikanischen Raum bei Bridge, Hiebert 1985, Coe 1986 oder Shook, Marrion, Ollila 1989. Nach diesen und vergleichbaren Untersuchungen gelingt es dem Aufsatzunterricht zu selten, die zunächst vorhandene Motivation zum Schreiben bei Heranwachsen-
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den zu stabilisieren. Außerdem wirken die curricularen Vorstellungen und die Verpflichtung, Aufsätze zu bewerten, häufig der Entfaltung schriftsprachlicher Fähigkeiten entgegen. Dies alles sollte bedacht und erwogen werden - ergänzt durch einen Gesichtspunkt, der bisher kaum ins Blickfeld gekommen ist: Lehrerinnen und Lehrer, Didaktikerinnen und Didaktiker sollten mehr über die Schreiberfahrungen von Schülerinnen und Schülern wissen, deren Umfeld besser einschätzen lernen und beobachten, wie sich bei Kindern und Jugendlichen Schreibkonzepte entwickeln. Letztlich werden dadurch reflektiertere Entscheidungen zum schulischen Schreiben möglich. Dazu will diese Arbeit beitragen, indem sie Ergebnisse einer kürzlich durchgeführten empirischen Untersuchung vorstellt. Analog zur Untersuchung, die Shook, Marrion, Ollila 1989 in British Columbia (Kanada) durchgeführt haben, werden Erst- und Zweitklässer daraufhin befragt, welchen Zweck ihrer Meinung nach das Schreiben im allgemeinen hat, welche Schreibaktivitäten sie selbst kennen bzw. bevorzugen und welches Selbstkonzept sie im Zuge der Aneignung von Schrift und Schriftlichkeit entwickeln. Die Arbeit versteht sich als ein Beitrag zur Unterrichtsforschung, die von einer didaktischen Frage ausgeht und deren Beantwortung für den Unterricht relevant ist. Sie unterscheidet sich sowohl von der Schulforschung, die sich kommunikativen und/oder sprachlichen Problemen in der Institution Schule zuwendet, und von der Forschung in der Schule, die aus wissenschaftsimmanenten Zwecken Schulklassen nutzt, um möglichst ökonomisch an Daten zu kommen. 2
Die Untersuchung
Viele Kinder werden bereits vor Schulbeginn auf das Schreiben und die Schrift aufmerksam. Kritzelbriefe, erste Schreib- und Leseversuche belegen, daß Kinder schon früh vielfältige, dabei unterschiedliche Erfahrungen mit Schrift und Schriftlichkeit machen. Aber von welcher Art diese Erfahrungen sind, welches Wissen und welche Vorlieben sich in deren Zusammenhang herausbilden oder wie sich solche Kenntnisse und Einsichten festigen und ausdifferenzieren - darüber wissen wir wenig. Diesen Mangel versucht die vorliegende Arbeit auszugleichen.
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Neben den konkreten Einzelaussagen, die in diesem Beitrag besonders beachtet werden, können in einer empirischen Untersuchung einzelne Daten quantitativ zusammengefaßt und statistisch auf ihre Signifikanz hin überprüft werden. Im Sinne der Vorüberlegungen (siehe oben) wird untersucht, ob sich Erstklässer und Zweitklässer in ihrem Schreibwissen, ihren Vorlieben und Konzepten zum Schreiben unterscheiden. Zunehmend anspruchsvollere Schreibaufgaben im Unterricht und vermehrte Anregungen zum Schreiben könnten sich so die Vermutung - doch auswirken. Das wäre der Fall, wenn komplexere Textproduktionen, in die das Schreiben integriert ist, die «Bildung von Buchstaben, Silben, Wörtern und Sätzen» abgelöst hätten, wenn also Formen des «integrierten» an die Stelle des «nichtintegrierten Schreibens» getreten wären (Ludwig 1995. 28Iff.). Möglicherweise besteht - unabhängig davon oder verbunden damit - ein geschlechtsspezifischer Einfluß. Richter und Brügelmann haben vor kurzem (1994) die Frage aufgegriffen, ob sich Jungen und Mädchen bei der Aneignung von Schrift und Schriftlichkeit unterscheiden. Die Tendenz ist aktuellen Untersuchungen zufolge eindeutig: Mädchen sind den Jungen beim Schriftspracherwerb überlegen, einzelne Untersuchungen relativieren diesen Befund allerdings in Details (Richter, Brügelmann 1994. 12). Es stellt sich also die Frage, ob es beim Schreibwissen, bei Vorlieben und Schreibkonzepten geschlechtsspezifische Unterschiede gibt. 2.2 Fragebogen, Versuchspersonen, Stichprobe Daten und Belege werden über einen Fragebogen gesichert, den die Kinder mündlich beantworten (siehe Anlage). Die einzelnen Fragen verteilten sich dabei auf die erwähnten Schwerpunkte wie folgt: Fragen Schwerpunkt 1—4 Schreibwissen 5-12 Vorlieben beim Schreiben 13-20 Schreibkonzepte Befragt wurden 118 Kinder, wovon 56 die erste, 62 Kinder die zweite Klasse besuchen. Darunter befanden sich 57 Jungen und 61 Mädchen aus sieben Schulen einer westdeutschen Großstadt und einigen Gemeinden des Umlands. Die Kinder stammen aus 14 Klassen, die sich
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nach Wohngegend, Ausländeranteil und sozialer Herkunft deutlich unterscheiden. Da jedoch nur Schulen berücksichtigt wurden, die sich zur Teilnahme an dieser Befragung bereit erklärt hatten, muß trotz der hohen Anzahl der Befragten, der Streuung und Zufallsauswahl in den einzelnen Klassen von einer Gelegenheitsstichprobe gesprochen werden. Der Verallgemeinerung der Ergebnisse sind demnach Grenzen gesetzt. 2.3 Durchführung, Auswertung, Rechenverfahren Der Fragebogen ist zum Teil der bereits erwähnten Arbeit von Shook, Marrion und Ollila entlehnt, die ihn vor einiger Zeit in British Columbia (Canada) bei 108 Erst- und Zweitklässern verwendet haben (einige Ergebnisse werden unter 4 zum Vergleich herangezogen). Der Fragebogen wurde ins Deutsche übersetzt und in Vorversuchen erprobt. Die zuvor instruierten Interviewer1 haben die Kinder jeweils einzeln befragt und die Antworten notiert. Die Befragungen dauerten jedesmal 5 bis 10 Minuten und waren Schulanfängern zuzumuten. Zur Signifikanzprüfung der Stichprobenergebnisse wurde der UTest nach Wilcoxon, Mann und Whitney verwendet - ein strenger, verteilungsunabhängiger Rangtest, der augenscheinliche Unterschiede nicht vorschnell als signifikant ausweist (vgl. Sachs 41973. 230ff.). 3
Ergebnisse
3.1 Schreibwissen (Fragen 1-4) Die ersten Items ermitteln den häuslichen Schreibgebrauch allgemein, fragen nach verschiedenen Schreibzwecken und nach einer bestimmten Textsorte (erzählte Geschichte). Bei der Frage, wer zu Hause am meisten schreibt, nennen die Kinder 46 mal ihre Mutter und 33mal den Vater. 25 Kinder nennen sich selbst, die übrigen Nennungen entfallen auf Geschwister (17) und weitere Personen im Haushalt. Zwischen den Antworten der Erst1
Neben dem Verfasser haben Mitglieder der Wuppertaler Tutorengruppe die Befragungen durchgeführt - nämlich Michael Siebert, Stefanie Seiter, Sven Schmolke, Meike Müller, Gaby Müller, Jürgen Laufer, Sabine Hessler und Susanne mit Pia Grundmann.
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bzw. Zweitklässer gibt es ebenso wenig Unterschiede wie zwischen den Jungen und Mädchen. Da U5 5 . 010 gleich 4 ist, hingegen U K und UG jeweils 18 beträgt, sind die Unterschiede zwischen Erst- und Zweitklässern sowie zwischen Jungen und Mädchen nicht signifikant.2 Werden die Kinder danach gefragt, was denn «die Leute so alles schreiben», dann nennen die meisten Kinder (nämlich 77) eine oder zwei Situationen, in denen geschrieben wird. Nicht zu übersehen ist, daß 26 von 118 Kindern kein einziges Beispiel nennen können (15 Erstklässer, 11 Zweitklässer). Zutreffende Antworten reichen - jeweils nach den zu Hause gemachten Erfahrungen - vom Unterschreiben über das Beschriften von Disketten und das Eintippen im Computer (Jan) bis zum Verfassen von Gutachten und Predigten (Daniels Vater ist Geistlicher). Der quantitative Vergleich nach Schulklasse und Geschlecht zeigt keine signifikanten Unterschiede (U K =11.0,U G =11.5beiU 5 , 5 ; 0 ,o=4). Was ist nun eine Geschichte, und was gehört zu einer guten Geschichte (Frage 3 und 4)? Quantitativ ergibt sich die folgende Verteilung: Aufgabe 3: Was ist eine Geschichte ? (Mehrfach-Antworten möglich) Merkmal(e) Anzahl Anzahl Anzahl Anzahl einer Geschichte Klasse 1 Klasse 2 Mädchen Jungen etwas Aufgeschriebenes, das 14 17 14 17 man lesen kann etwas (mündlich) 6 10 8 8 Erzähltes weiß ich nicht 13 9 13 9 Sonstiges 26 33 28 31 Die kritischen Werte für den U-Test werden jeweils für die Anzahl der Stichprobenwerte (in diesem Beispiel jeweils 5) und für die gewählte Signifikanzschranke (0.10 bei zweiseitigem Test) angegeben. U K bezeichnet jeweils den ermittelten U-Wert für die Teilstichproben , UG den U-Wert für das .
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Inhaltlich orientieren sich die Antworten vieler Erstklässer an Äußerlichkeiten. Beispiele: Eine Geschichte ist... ein Buch (Robin, Andre Nikolas) wenn man dafür ganz viele Seiten braucht (Laura) etwas Langes mit Bildern (Sabrina) Bei den Zweitklässern werden zunehmend Themen oder einzelne Merkmale von Geschichten erwähnt. Beispiele: Klasse l etwas Ausgedachtes (Robert) wenn etwas nicht wahr ist (Elena) wenn irgendetwas passiert, was für die Kinder schön ist (Julian) Abenteuer (Marcel, Anja) Klasse 2 etwas Erfundenes, Ausgedachtes (Timo, Florian) Leute erfinden das und schreiben es in ein Buch (Tobias) wenn etwas nicht wahr ist, nicht stimmt (Jennifer) da passiert, was in echt nicht passieren kann ... mit Hexen oder so (Meik) was Spannendes (Michel, Nadine) etwas wie ein Märchen (Sarah 4) was passiert ist, passieren könnte, passiert wäre (Julia) Aufgabe 4: Was gehört zu einer guten Geschichte? (Mehrfach-Antworten möglich) Merkmal Anzahl Anzahl Anzahl Anzahl Klasse 1 Klasse 2 Mädchen Jungen ein Aspekt wird 27 36 33 30 genannt die Geschichte 7 10 7 10 wird als Ganzes gesehen weiß ich nicht 19 16 16 19 4 2 Sonstiges 2 4
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Bei den Einzelaspekten, die genannt werden, stehen drei im Vordergrund: Spannung, Spaß und Happy-End. Die Antworten auf diese Fragen ergeben hinsichtlich Klasse und Geschlecht keine signifikanten Unterschiede (UK = 7.0, UG = 7.5 bei U4i4:0.10= 1-0). 3.2 Vorlieben beim Schreiben (Fragen 5-12) In den Fragen 5 bis 8 wird zunächst gefragt, über welche Themen (Inhalte) die Kinder gern schreiben (Frage 5 und 8) und welche kommunikativen Muster (oder Textsorten) sie bevorzugen (Frage 6 und 7). Die Fragen 9 und 12 sprechen den Schreibort an, während 10 und 11 das Umfeld beleuchten, das über Schreibfreude und -motivation mit entscheidet. Frage 5 beantworteten die befragten Kinder so (Mehrfach-Antworten möglich): Anzahl Anzahl Thema, Anzahl Inhalt Klasse 1 Klasse 2 Mädchen 24 über Tiere 32 30 über Menschen 22 11 18 über Ausgedach10 15 16 tes, Abenteuer über Reisen, 5 5 3 Fahrzeuge Sonstiges 10 17 11
Anzahl Jungen 26 15 9 7 16
Es fallt auf, daß alle Kinder gern über Tiere schreiben (das schließt Kuscheltiere mit ein). Erstaunlich ist der hohe Wert für bei den Erstklässern und die stärkere Neigung der Mädchen, über Ausgedachtes und über Abenteuer zu schreiben. Die Antworten auf Frage 8 bestätigen diesen Trend. Unter der Rubrik «Sonstiges» finden sich Hinweise auf Briefe und Mitteilungen an Familienangehörige, Comics und weitere Text-Bild-Mischungen. Die Unterschiede sind insgesamt nicht signifikant (UK und UG = 11.5 bei U 5,5; 0.10 = 4.0). Was schreiben nun die Kinder gern? Die Antworten auf Frage 6 verteilen sich wie folgt auf die verschiedenen kommunikativen Muster (Mehrfach-Antworten möglich):
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kommunikatives Anzahl Muster Klasse 1 Notizen 23 Listen wie Wunsch- oder 24 Einkaufzettel Wichtiges vom 15 Tage Sonstiges 23
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Anzahl Klasse 2 17
Anzahl Mädchen 20
Anzahl Jungen 19
24
23
25
22
19
18
34
29
28
Die Unterschiede sind nicht signifikant (UK = 6.0, UG = 6.5 bei U 44; o 10= 1.0). Unter «Sonstiges» gibt es einige ausgefallene Antworten: Nachrichten für den Papa am Computer (Jan 2) Ich habe ein Tagebuch (David) schöne Geschichten aus einem Buch abschreiben Geschichten - die schenke ich meiner Freundin, die noch nicht lesen kann (Jennifer) 111 der 118 befragten Kinder schreiben zu Hause (Frage 12); 94 Kinder schreiben dort auch am liebsten, weil sie zu Hause mehr Ruhe haben und weil ihnen die Schreibumgebung vertraut ist. Einige Kinder sehen es zudem als vorteilhaft an, beim Schreiben nicht beobachtet zu werden. Der häusliche Bereich spielt für das Schreiben eine überragende Rolle. Während sich nach Einschätzung der befragten Kinder die Leser dessen, was sie geschrieben haben, reichlich gleichmäßig auf Eltern, Lehrer, Großeltern und Geschwister verteilen (Frage 10), unterscheiden sich die Ergebnisse zu Frage 11 doch sichtbar.
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Frage 11: Wer hilft dir beim Schreiben? (Mehrfach-Antworten möglich) Anzahl Helfer Anzahl Anzahl Klasse 1 Klasse 2 Mädchen Vater, 34 Mutter, 35 38 Geschwister Lehrer, 3 3 5 Lehrerin 1 Freunde, 2 2 Großeltern 16 niemand 26 20 2 2 Sonstige
Anzahl Jungen 31 1 1 22 3
Es fällt auf, daß die Kinder zumeist die Eltern, hingegen kaum die Lehrerin oder den Lehrer als Helfer nennen. Hoch ist auch der Anteil derjenigen, die angeben, daß ihnen niemand hilft. Resümierend ist für diesen Bereich (Vorlieben beim Schreiben) festzuhalten: Es gibt zwar beträchtliche Unterschiede bei einzelnen Ergebnissen (siehe oben), jedoch keine signifikanten Unterschiede bei der statistischen Überprüfung aller Stichprobenwerte: Aufgabe Aufgabe 8
UK 7.5
Aufgabe 10
11.0
Aufgabe 11
11.0
Signifikanzschranke 1 nicht signifikant 4 12.0 nicht signikant 4 12.5 nicht signifikant UG 8.0
3.3 Schreibkonzepte (Fragen 13-20) Abgesehen davon, daß bei der 14. Frage 36 der 118 Befragten (noch) nicht sagen können, was man zum Schreiben braucht, beantworten viele Kindern diese Frage vordergründig-technisch: die meisten Antworten (insgesamt 42) gehen in Richtung der benötigten Geräte
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(Stifte, Radiergummi usw.) und Hilfsmittel (Wörterbuch). 21 Kinder halten das Üben, 3 Kinder eine saubere Handschrift für notwendige Voraussetzungen. Eine anspruchsvollere Vorstellung vom Schreiben zeigt sich in weiteren 25 Voten. Die folgenden Antworten deuten die Richtung dieser Antworten an: Tobias hält Phantasie und kluges Denken für notwendig, Julia einen klugen Kopf. Das präzisiert Marlene, wenn sie sagt: Man muß sich eine Geschichte ausdenken, überlegen, ob sie so oder so weitergeht. Darüber hinaus wird wiederholt die notwendige Ruhe angesprochen, die Kinder beim Schreiben benötigen, und die Hilfe, die andere geben können. Intensive Lektüre (viel lesen) wird ebenfalls genannt. Etwa die Hälfte der Antworten auf Frage 15 (Was ist für dich am schwersten, wenn du eine Geschichte schreibst!) bezieht sich auf zwei Bereiche - auf die Schwierigkeiten mit schweren Wörtern (40 Nennungen) und darauf, sich etwas auszudenken oder sich an etwas zu erinnern (19 Nennungen). 63 Nennungen thematisieren sehr unterschiedliche Momente und deuten eine Fülle möglicher Erschwernisse an. Einige beziehen sich dabei auf die konzeptionellen Prozesse beim Schreiben: auf die Idee zu einer Geschichte (Christoph); auf den Anfang (Patricija), den Matthias oft vergißt, weil er so lange Geschichten schreibt; auf das gute Ende (Svenja, Simon); darauf, wie es weitergehen soll (Tobias); auf die Schwierigkeit, etwas zu beschreiben (Damla). Für Patricija ist es zudem schwer, Gedichte zu schreiben; und Dennis differenziert bei der Textproduktion zwischen dem schwierigen Erzählen von Indianergeschichten und dem leichten Nacherzählen des Märchens von den sieben Zwergen (!). Formalsprachliche Schwierigkeiten sprechen Hinweise an, die sich auf die Länge der Geschichte (Manuela) oder der Sätze (Julian), auf die Groß- und Kleinschreibung (Timo) oder die Interpunktion beziehen. Einige Kinder tun sich auch schwer mit der technischen Ausführung des Schreibens: mit dem Abschreiben, mit einer bestimmten Schrift, mit deren Neigung, mit dem (geforderten) Schreibtempo oder mit einzelnen Buchstabenformen.
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Und was ist für die Kinder am leichtesten, wenn sie eine Geschichte schreiben? Die Antworten auf Frage 16 zeigen, daß die überwiegende Mehrzahl der befragten Kinder noch erhebliche Schwierigkeiten mit dem Verfassen eines Textes hat, was ja bei Sieben- und Achtjährigen nicht verwundert. Nur acht Kinder geben an, daß das Aufschreiben oder Ausdenken einer Geschichte für sie das Leichteste sei. Ob sie selbst (Frage 17) oder wer denn der beste Geschichtenschreiber sei (Frage 18), diese Fragen beantworten die Kinder so: Frage 17: Bist du ein guter Geschichtenschreiber? Anzahl Anzahl Anzahl Einschätzung Anzahl Klasse 1 Klasse 2 Mädchen Jungen 21 23 27 25 ja 24 19 23 nein 18 16 7 weiß ich nicht 13 10 Frage 18: Wer ist der beste Geschichten-Schreiber in deiner Klasse? Anzahl Anzahl Anzahl Anzahl genannte Person Klasse 1 Klasse 2 Mädchen Jungen ein anderes 34 39 35 36 Kind 11 11 der Lehrer, 10 10 die Lehrerin 4 6 ich 5 5 11 12 weiß ich nicht 10 9 Es fällt auf, daß Mädchen bei der Beantwortung dieser Fragen unsicherer sind und daß insgesamt deutlich häufiger andere Kinder als der Lehrer, die Lehrerin genannt werden, wenn es um den besten Geschichtenschreiber geht. Insgesamt sind die Unterschiede nicht signifikant (für Frage 17: U K = 4.0, UG = 4.0 bei U3 3 . 010 = 0; für Frage 18: UK = 7.0, UG = 6.5 bei U4>4;o.10= 1-0). Auf die Frage, wie sie sich beim Schreiben einer Geschichte fühlen, antworten 64 Kinder mit «gut», 7 Kinder mit «glücklich, ich
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Baurmann
freue mich», die übrigen Äußerungen tendieren in die Richtung «unsicher», «aufgeregt», «angespannt» oder «nicht so gut». Frage 20 sollte Aufschluß darüber geben, warum die Kinder überhaupt schreiben. Das sind die Ergebnisse (Mehrfach-Antworten möglich): Grund, Motiv Anzahl des Schreibens Klasse 1 um mehr Buchstaben und Wörter zu 4 lernen macht Spaß 35 zur Übung 3 für eine Note 0 weil es der Lehrer, die Lehrerin ge2 sagt hat Sonstiges 18
Anzahl Klasse 2
Anzahl Mädchen
Anzahl Jungen
0
3
1
42 12 0
41 11 0
36 4 0
2
1
3
19
17
20
Es fällt auf, daß die Items (für eine Note, auf Anordnung der Lehrkraß) überhaupt nicht oder äußerst selten gewählt wurden. Unter den zahlreichen sonstigen Angaben fallen bei abnehmender Häufigkeit auf: - schreiben, weil ich zu Hause Langeweile habe, - schreiben, um später eine gute Arbeit zu bekommen, - schreiben, um etwas mitteilen oder behalten zu können. Die Ergebnisse sind auch in diesem Fall nicht signifikant (U K = 12.5, UG = 12.0 bei U5>5.0,0 = 4.0). 4
Deutung der Ergebnisse und Folgerungen
Ein Ergebnis dieser Untersuchung ist nicht zu übersehen: Erst- und Zweitklässer, auch Mädchen und Jungen unterscheiden sich nicht im Schreibwissen, in ihren Vorlieben oder Schreibkonzepten. Gewiß ist dieses Ergebnis sowohl durch die Zusammensetzung der Stichprobe (siehe oben) als auch durch den Fragebogen als Prüfinstrument (siehe unten) mit bedingt. Darüber hinaus liegt allerdings folgende Deutung
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nahe: In den beiden ersten Schuljahren bestimmen weithin Lehrgänge zum Erstlesen und -schreiben den Unterricht (insbesondere zum Lesenlernen). Diese Akzentuierung ebnet zunächst bestehende Unterschiede schnell ein. Einige Resultate dieser Untersuchung stützen diese Interpretation - so die Antworten auf die Fragen 14 bis 16, die bei vielen Kindern auf begrenzte Schreiberfahrungen oder auf Formen des «nicht-integrierten Schreibens» verweisen (Ludwig 1994). Die Frage nach denkbaren Unterschieden zwischen Erst- und Zweitklässern ist auch eine Frage nach den möglichen Wirkungen von Schule und Unterricht. Aus zahlreichen Studien ist bekannt, wie schwierig es ist, unterrrichtliche Effekte statistisch zu sichern. Was sich Kinder und Jugendliche in Schule und Unterricht aneignen, ist insbesondere bei so ausschnitthaften Momentaufnahmen wie im vorliegenden Fall schwer zu erfassen - ganz abgesehen davon, daß ... im Einflußdreieck von Altersgruppe, Familie und Schule letztere von geringster, die Familie aber von größter Bedeutung ist. (Fend 1980; hier nach Ingendahl 1991. 200)
Dieses Argument, auf das vor kurzem Ingendahl (1991) nochmals aufmerksam gemacht hat, stützen zahlreiche Einzelergebnisse der eigenen wie auch der erwähnten kanadischen Untersuchung: Bei der Frage, was denn «die Leute so alles schreiben», nennen die meisten Kinder Situationen, die sie zu Hause beobachtet haben. Dort schreiben Kinder auch am häufigsten und am liebsten (siehe 3.2), was den Verhältnissen in British Columbia entspricht. Dort sind es 87% der Befragten, die zu Hause schreiben; und 57% der Kinder waren überzeugt, daß es ihnen im häuslichen Bereich am besten gelingt. Familienmitglieder lesen und helfen beim Schreiben am ehesten bedeutend häufiger als etwa die Lehrer. Während allerdings in British Columbia 32% der Befragten Lehrer als Helfer angeben (Shook, Marrion, Ollila 1989. 136), sind es in der deutschen Untersuchung lediglich 6 von 124 Kindern - also weniger als 5%. Bedeutsame geschlechtsspezifische Unterschiede haben sich bei der Signifikanzprüfung nicht ergeben. Das steht im Gegensatz zu den Arbeiten, die etwa Brügelmann, Richter (1994. 12f.) referieren. Zieht man allerdings die «kritische Übersicht» Brügelmanns sowie die Beiträge von Schneider und Lehmann hinzu (alle im gleichen Band), dann läßt sich die Diskrepanz erklären. Signifikanzen bei ge-
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schlechtsspezifischen Vergleichen sind in Untersuchungen immer dann festzustellen, wenn es um Leistungen beim Lesen und Schreiben geht und - so Schneider 1994. 75f. - wenn sich die Erhebungen dabei vor allem auf anspruchsvolle sprachliche Aufgaben beziehen. Beides ist in dieser Untersuchung nicht der Fall: Es wurden keine Leistungen, sondern Erfahrungen, Vorlieben und Vorstellungen zum Schreiben erfragt. Zum Schreibwissen Auf die große Zahl von Schreiberinnen und Schreibern, die sich selbst zu den Vielschreibern zählen, ist bereits hingewiesen worden, (unter 2.1). Der Wert übertrifft mit 19% den kanadischen Vergleichswert von 8% bei weitem. Zieht man einzelne Antworten auf die Fragen 10, 11, 12, 13 und 20 hinzu, dann wird deutlich, daß einige, die sich als Vielschreiber einschätzen, die Frage situationsbezogen entscheiden. Sie dachten bei der Antwort an ihre aktuellen Hausaufgaben. Darüber hinaus sieht eine beachtliche Zahl der Vielschreiber das Schreiben als etwas an, das zu Hause zumindest die Langeweile vertreibt. Die Schreibfreude muß eine solche Sicht nicht beeinträchtigen: Immerhin 11 Kinder aus dieser Gruppe - das ist etwa die Hälfte - schreibt ausgesprochen gern. Viele Kinder hatten Schwierigkeiten mit der dritten und vierten Frage (Was ist eine Geschichte? und Was gehört zu einer guten Geschichte?). So fallen viele Antworten aus dem erwartbaren Rahmen heraus oder drücken Nicht-Wissen aus (siehe die Tabellen unter 3.1). Die Kinder, die inhaltlich angemessen reagieren, verbinden mit einer Geschichte zumeist einfach «Sätze» oder «(mündlich) Erzähltes»; für eine gute Geschichte wird mehrheitlich nur ein Kriterium genannt (mit Vorliebe Spannung oder Happy-end). Dieses Ergebnis entspricht aktuellen Arbeiten zur «Entwicklung narrativer Fähigkeiten». Der sorgfältig angelegten, so materialreichen Längsschnittstudie von Boueke, Schülein, Büscher, Terhorst, Wolf (1995) ist zu entnehmen, daß bei Kindern im zweiten Schuljahr zwar alle vier «Strukturtypen» von «Ereignisdarstellungen» vorkommen können (Boueke, Schülein, Büscher, Terhorst, Wolf 1995. 130f.), daß jedoch zwei Arten des Erzählens dominieren: die «lineare Ereignisdarstellung», bei der Ereignisse zu Folgen verbunden, besser: gereiht werden, und die «strukturierte Ereignisdarstellung», die eine Kontrastierung in ein
Was Kinder über Schreiben wissen
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zeigt (hier insbesondere nach Schülein, Wolf, Boueke 1995. 247ff.). Bei Kindern, die so erzählen, liegt es nahe, daß sie ein Kriterium wie spannend für eine gute Geschichte kennen. Die breite Streuung der Antworten läßt sich im Rückgriff auf die erwähnte Studie auch erklären, gehen doch Boueke, Schülein, Büscher, Terhorst, Wolf (1995. 180) auf Grund ihrer Befunde und Analysen für diese Alterstufe von einer ««kritischem Phase [...] in der Erzählentwicklung» aus. Noch nicht geklärt ist allerdings die Frage, weshalb in der durchgeführten Befragung keine deutlichen Unterschiede zwischen Erst- und Zweitklässern zu beobachten sind. Es kann daran liegen, daß zwischen dem Erzählen von Geschichten und dem Wissen darüber erhebliche Unterschiede bestehen und daß sich das Aufnehmen von Erzählungen erheblich von einer Befragung nach dem Erzählwissen unterscheidet. Mehr Gewißheit und Klarheit können aber erst weitere, über die befragte Altersgruppe hinausreichende Befragungen schaffen. Vorlieben beim Schreiben Schon in der Untersuchung von Shook, Marrion, Ollila (1989) wird sichtbar, in welchem Maße die Vorlieben beim Schreiben durch das Elternhaus (mit) geprägt werden. Diese Tendenz zeigt sich bei den deutschen Schulkindern noch deutlicher. Viele Kinder schreiben am liebsten zu Hause, finden vorrangig dort Leser und Helfer oder nutzen die Ruhe und das Für-sich-Sein. Die Schule spielt bei frühen Schreibversuchen und -erfahrungen eine erstaunlich geringe Rolle. Es ist nicht auszuschließen, daß schon der Fragebogen in seiner Anlage dieses Ungleichgewicht mit bewirkt hat, spielt doch das Schreibenlernen hier keine Rolle. Eine Weiterentwicklung des Prüfinstruments müßte diese Überlegung berücksichtigen. Schreibdidaktisch ist es wichtig, die vorhandene Orientierung am Elternhaus zu akzeptieren, die Kinder im außerschulischen Schreiben zu bestärken und sie anzuregen, Geschriebenes mitzubringen und ggf. andere lesen zu lassen. Erste Schreibversuche in der Schule werden wie es heute in vielen Grundschulen geschieht - an dem anknüpfen, was Kinder gern schreiben: Das werden zunächst noch keine komplexen Geschichten sein, sondern Einkaufszettel, Wunschzettel, kurze Mitteilungen oder Kartengrüße. Für diese Schreibversuche brauchen die Kinder Zeit und Ruhe. Formen der Freiarbeit begünsti-
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Baurmann
gen dies. Von Lehrkräften wird in diesem Zusammenhang Unterschiedliches verlangt: Zurückhaltend und geduldig werden sie erwarten, daß einzelne Kinder - wohl zu unterschiedlichen Zeitpunkten mit dem Schreiben erster Texte beginnen. Deutlicher als bisher sollten Lehrerinnen und Lehrer für Kinder als Leser und als Schreiber in Erscheinung treten. Es ist nämlich wichtig, daß Kinder erfahren, was und wie ihr Lehrer oder ihre Lehrerin schreibt. Erst dann und daneben sind Hilfen angebracht, die sich nicht mit dem orthographischen Berichtigen oder präzisen Vorschreiben einer verbundenen Ausgangsschrift begnügen können. Schreibkonzepte Die Vorstellungen vom Schreiben beschränken sich bei den Kindern (noch) weitgehend auf das «nicht-integrierte Schreiben» (vgl. Ludwig 1995 oben). Das zeigen vor allem die Antworten auf die Fragen 14 bis 16. Dieses Ergebnis sollte Anlaß sein, die Überlegungen zum schulischen Schreiben und zu einem angemessenen Schreibcurriculum voranzutreiben. Sowohl die in der Fachdiskussion . Prompt meldete sich Mehtap mit der Feststellung «zwei i!». Sie hatte schon gelernt, was man im Unterricht hören will. Dieses kleine Beispiel zeigt, daß es in Unterrichtsgesprächen Angebote der Schülerinnen und Schüler zur Sprachreflexion zu entdekken und aufzugreifen gibt, damit Kenntnisse vertieft, geordnet und sanft weitergeführt werden. Hier noch ein paar weitere Beispiele, um die Breite des metasprachlichen Angebots der Kinder zu zeigen: Erzählen zu Dias aus den Herkunftsländern: (4) L: Aha/Ali-jetzt laßt den Ali reden\ A: I i glei - gleicha nit\ ich kann ja nit das Gleiche sagen\ (5) L: Und was sieht man noch auf dem Bild/ das habt ihr vorhin auch schon gesagt? S: Schafe.\See\ S: Moschee/ Hier ist die Moschee\ S: Ohne Artikel muß man das schreiben! L: Warum ohne Artikel? S: OhneArtikel\ S: Mit Artikel\ bei Deutsche mit Artikel\ L: Nein/ das muß dortbleiben\ das ist halt das deutsche Wort\ S: Wir schreiben dann türkisch\ S: Aber auf Türkisch Moschee schreibt man ohne Artikel! L: Ja ich weißA (6) L: S: S: S:
In der Türkei ist das Dorf/ das stimmt. Ahhh! Da ist viel Schaf! Kein Schaf! Er ist eine Schafen
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S: Ahhh! Der hackt Erde\ (7) S: S: S: L: S: S: L: S: S: S: S: L: S:
Das ist Schaft Und da ist Schafen Der Schäfer! Die SchäfeV Schäflein\ Wie nennt man das/ wenn ganz viele Schafe zusammen sind? Schäfe\ Die Schafen\ Schäfe\ Die Schafe stimmt schon\ aber wie nennt man das/ wenn ganz viele Schafe zusammen sind? Schaft Schärft Die Schärfe\ Schäfchen\ Schäfern\ Das nennt man eine Herde\ eine Schafherde/ das sind dann ganz viele Schafe\ Und manchmal machen sie den Sach!
Die Aufmerksamkeit, die hier in der aktuellen Unterrichtssituation entsteht, richtet sich auf ganz verschiedene Bereiche: - Auf die Angemessenheit eines Redebeitrags in einem Gesprächsabschnitt, Segment (4); - Auf sprachliche Mittel im Sprachvergleich, Segment (5). Die Kinder unterscheiden das Türkische und das Deutsche am Artikelgebrauch, der ja sowohl im Ganzen die Artikelsprachen und die artikellosen Sprachen unterscheidet als auch, innerhalb der verschiedenen Artikelsprachen, den unterschiedlich gehandhabten Gebrauch des Artikels in Kontexten und Redewendungen. - Auf die Morphemstruktur im Deutschen. Hier erkennt man weniger eine explizite Thematisierung als tastende Versuche der Pluralbildung von Schaf m (6) und (7), vom Stammmorphem ausgehend zu den Ableitungen, die aber noch nicht überschaut werden: verschiedene Pluralallomorphe, berufsbezeichnendes Suffix, Nullallomorph, das unauffällige Diminutiv, Stammveränderung. Die Lehrerin erkennt das nicht.
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Die sprachlichen Nebenthemen werden von den Schülerinnen und Schülern selbst eingebracht, bezeichnenderweise von den Zweisprachigen. Die Lehrperson geht auf Sprachliches nur ein, wenn sie es intuitiv nötig findet, und dann setzt sie lexikalische oder grammatische Standards durch: Herde, Artikelgebrauch im Deutschen, Ableitungen. Die Schülerinnen und Schüler dagegen verlassen die metasprachliche Ebene wieder, sobald ihr Anliegen erledigt ist, und wenden sich zwanglos der Sachebene zu: «Der hackt Erde» in Segment (6), «Und manchmal machen sie den Sach» (d. h. Schafköttel) in Segment (7). Es sind übrigens nicht immer dieselben Schüler, die sich zur Sachebene oder zur Metaebene äußern.8 Themenangebote wie diese aus verschiedenen Klassen lassen sich zu Hunderten allein aus unserem Material vermehren. In einem Forschungsprojekt listen wir sie soeben auf. Sie betreffen alle Ebenen der Sprache. Leider bleiben diese Angebote meist unerkannt oder werden von den Lehrpersonen nicht richtig verstanden. Die Segmente hier aus dem normalen Unterricht in Regelklassen sind ausgewählt, um zu beweisen, daß in der Schule ein latenter Bedarf an der Thematisierung von Sprache als System und Sprache im Gebrauch besteht. Ganz besonders gilt das für die faktisch mehrsprachigen Klassen. Die dokumentierten Gesprächsanlässe sollen einige Bereiche der Sprache zeigen, die spontan zur Sprache kommen. Aus den Dokumenten ist weiter zu ersehen, daß die von den Kindern nicht-deutscher Muttersprache vorgeschlagenen (Neben-)Themen den Unterricht für alle sinnvoll bereichern. Sie aufzugreifen nicht immer spontan, sondern auch zeitlich versetzt, aber konsequent und für die Schülerinnen und Schüler deutlich - schafft Motivation, leitet zum partnerschaftlichen Lernen an (die einen lernen die angemessene zielsprachliche Ausdrucksweise, die ändern oder/und beide lernen die Verfahrensweisen anderer Sprachen kennen, alle gewinnen Distanz und damit einen neuen Blick auf die eigenefn] Sprachefn]) Vgl. ein noch drastischeres Beispiel in Oomen-Welke 1988, S. 185: Bei Übungen zum Genitiv im Zusammenhang eines Zoobesuchs sagen Necip, Murat und Ali nacheinander «der Käfig des Elefant», worauf Önder bemerkt: «Der Elefant sechs Liter Pisse\ hab geseht die.»
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und führt zu anderen Methoden. Kinder nicht-deutscher Erstsprache, oft als schwierig eingestuft, nehmen aktiver am Unterrichtsgeschehen teil, weil sie sich betroffen fühlen. Damit wird Sprachunterricht den Kindern wichtiger, denn es geht ja um Interessantes und Brauchbares auch für sie selbst. 1.2 Andere Sprachen herbeiholen In den Unterrichtssegmenten wurde vorgeführt, was Kinder von selbst in Unterricht einbringen. Es wird nicht reichen, daß wir den Sprachunterricht nur auf spontane Angebote bauen. Zudem vermuten wir, daß Kenntnisse zu «Frage» und zu «Artikel» sich zum Teil auf Wissen bezogen, das die Kinder bereits durch Unterricht erworben hatten; Unterricht ist also auch nötig, um die Grundlagen für die spontane Sprachreflexion auszubauen. Positiv gewendet heißt das, daß sich Spontanreaktionen und Unterricht immer wieder auf Sprachwissen aus dem Deutschunterricht rückbeziehen können, und zwar viel stärker als die aktuelle Praxis.9 Damit verschränken sich Vorwissen und Neulernen im reflektierenden Sprachunterricht. Wir benötigen eine Methode, die uns erlaubt, das Wissen und Überlegen der Kinder dann abzurufen, wenn es für den Unterricht nützlich ist. Ein Vorschlag dazu: andere Sprachen im Unterricht mehrsprachiger Klassen herbeiholen, um sie zum Vergleichen zu nutzen. Was soll das heißen? Daß man die anwesenden zwei- oder mehrsprachigen Kinder ganz einfach fragt, wie etwas in ihrer Sprache ausgedrückt wird, daß man sie also als Experten ihrer Sprache betrachtet, selbst wenn sie ihrerseits gelegentlich Rat bei Eltern, den Muttersprachenlehrpersonen oder Nachschlagewerken einholen müssen oder auch einmal ratlos sind. Das macht ja nichts, wenn offene Fragen stehenbleiben. Zur Veranschaulichung einige Beispiele auf verschiedenen Ebenen: - In vielen Sprachen tragen Vor- oder Nachnamen erkennbare Bedeutung; im Deutschen ist das meist nicht der Fall (außer bei speVgl. den Rückbezug auf vorher Behandeltes in Oomen-Welke 1988, S. 186, wo L sagt: «Wir haben schon mal bei ... gelernt, daß ...». Das wird von Ss mit «Jaja!» kommentiert.
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ziellen Kenntnissen einzelner Sprecher von Griechisch, Latein, Nordisch ...)· Von der ersten Klasse an, wenn es um das Schreibenlernen am Beispiel der Namen geht, sind die Namen der Kinder aus den verschiedenen Sprachen von identifikatorischem Interesse. Wer es weiß, soll sagen, was sein Name bedeutet.10 Da die Vorund Nachnamen in Deutschland aus verschiedenen Quellen gespeist werden, empfehlen sich Namenlexika für die Hand der Lehrperson. Die Herkunft der Namen bringt die zahlreichen Spracheinflüsse in der Kultur zum Bewußtsein. - Lautung und Orthographie können in einigen Sprachen problematisch sein.>' Hier gibt es viele Ansatzpunkte zur Sprachreflexion, die vielleicht nicht unbedingt und sofort die Rechtschreibleistung steigern, die aber die Motivation erhöhen: die verschiedenen Sprachsysteme der anwesenden Kinder (Arabisch, Eretreisch, Vietnamesisch, Kyrillisch, Griechisch ...) lenken die Aufmerksamkeit auf mögliche Kodierungen. Annähernd dasselbe graphische System (das lateinische Alphabet) wird bei der Verschriftung der verschiedenen Sprachen nicht genau entsprechend genutzt (s im Deutschen und im Ungarischen, u im Deutschen und im Französischen).12 Welche Laute werden graphisch kodiert, aber nicht gesprochen? (Colombe, 5;7 Jahre, Französin: «J'ai un e a la fin, mais on ne le prononce pas. ... bicyclette, on ecrit avec deux i.»; vgl. auch oben Wetter mit «zwei i»). Welche Laute hörst du, obwohl sie in der betreffenden Sprache / im Deutschen nicht geschrieben werden? (SPROSSVOKALE nennen wir aus deutschen Hör- und Schreibgewohnheiten, was türkische Kinder oft schreiben, offenbar weil sie es hören [vgl. buluse - Bluse]}. - Kindliche Aufmerksamkeit geht oft von der Bedeutung der Wörter aus. Bei vielen Gelegenheiten sollte man die Kinder fragen, wie zentrale Begriffe und Sachverhalte in ihrer Sprache ausgedrückt 10
Vgl. das Unterrichtsmodell über Namen von Oomen-Welke 1993a. ' Deutsche sind davon überzeugt, daß ihre Orthographie schwierig sei; auf europäischer Ebene spricht man eher von der einfachen deutschen Orthographie im Gegensatz zur französischen, englischen, griechischen. 12 Beispiele bei Oomen-Welke 1991c/1995, S. 258-262. 1
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werden. Man vergleiche etwa die morphemisch-semantische Basis von Feuerwehr -fire-brigade- pompiers - pompieri - bomberos itfaiye - pyroswestikon soma,13 bei denen als morpho-semantische Bausteine für die Kinder erkennbar sind. Es ist schon für Grundschüler eine wichtige Erkenntnis, daß unsere Wörter immer Ausschnitte aus der Wirklichkeit wiedergeben und daß man manches auch anders nennen kann. Der Wortschatzvergleich der Sprachen bildet ein reiches Reservoir. Eine andere Perspektive gezeigt zu bekommen, besonders wenn das beiläufig (und nicht breittretend) geschieht, ist auch der Eintritt in eine neue Welt. Je nach Wissen der Kinder (und manchmal Mut der Lehrperson) läßt sich das ausweiten, zum Beispiel anhand von Begriffen, die es in machen Sprachen / in anderen Gesellschaften so nicht gibt. Zunächst zeige ich das am Beispiel des Backens in der ländlichen Türkei. Erzählen zu Dias aus den Herkunftsländern: (8) L: Wie nennt man das, wo die Frauen backen? S: Teig! Teig! Die backen es in Teig! L: Ja die machen Teig/ aber in welchem Gebäude? In welchem Haus? S: In seinem\ S: Tandir heißt es türkisch\ S: In seinem Haus\ L: Tandir heißt es türkisch\ S: Mumuk! S: Tandir! S: Draußen machen sie' s\ S: Nein! Nee! L: Dilek weißt du das vielleicht? Oder Gülcan? Nein?
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Neben der Kompetenz der Kinder sind natürlich Wörterbücher der entsprechenden Sprachen eine Hilfe, sofern solche verfügbar und lesbar sind. Sie dienen auch dazu, das angebotene Wort aus der anderen Sprache ins Deutsche zurück zu verfolgen.
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(9) S: S: L: S: S: S: L: S: L: S: S:
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Zwei Frauen machen mit Teig eine BrotA Die machen esek\ Das heißt BrotA Wo sitzen die drin/ in welchem Raum? Der Brot. Frau T. der lügt! Esek heißt Esel! Sie schreiben tandir! Ja aber wie heißt das in einem deutschen Dorf? Gibt es da auch so etwas? Ja/ in B äckerei! B rot/ B rötchen! Wie kann man zu tandir auf Deutsch sagen? Brötchen\ BrotA Nein es gibt nicht!]4
Auch das Umgekehrte sei angeführt: Kinder in Kamerun finden beim Sprachenlernen Begriffe wie Briefträger, Postbote höchst erstaunlich und amüsant, denn etwas Überflüssigeres als Briefe herumzutragen können sie sich kaum vorstellen.15 Gleichlautende Ausdrücke in verschiedenen Sprachen, die dann Verschiedenes bedeuten, regen Kinder an. Das Beispiel einer griechischen Erstkläßlerin im deutschsprachigen Sachunterricht habe ich an anderer Stelle schon berichtet: «Wenn ich griechisch katse sage, dann heißt das setz dich.»16 - Aus dem Leben der Kinder gibt es viele weitere Beispiele: Ein Kind berichtete nach den Ferien, es habe in Frankreich bei großer Hitze eine Wanderung gemacht. Am Ende eines Weges habe ein Haus gestanden und daneben ein Schild: «Sauf service». Leider sei die Freude auf einen Schuck Limonade verfrüht 14
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Langenscheidts-Taschenwörterbuch Türkisch verzeichnet für tandir «1. e-e in den Boden eingelassene Backvorrichtung 2. primitive Wärmeeinrichtung», für esek «Esel», für/irin «1. Backofen 2. Bäckerei 3. Ofen, Herd». - tandir schreibt man mit i ohne Punkt, was nicht in unserem graphischen Satz verfügbar ist. - esek schreibt man mit s Cedille. Herr Claude Roger Marie Mbia, Inspecteur des Deutschunterrichts in Kamerun, hat eine Liste mit ca. 2000 Begriffen zusammengestellt, die in den einheimischen und europäischen Sprachen verschieden sind. In den Lehrwerken Englisch, Französisch, Deutsch für afrikanische Schüler kommen sie ganz selbstverständlich und meist unerklärt vor. Oomen-Welke 1991c/1995, S. 262.
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gewesen, denn frz. sauf habe nichts mit dt. saufen zu tun ... - In diesen Zusammenhang gehören (für ältere Schülerinnen und Schüler beim Fremdsprachenlernen) die sog. «faux amis / falschen Freunde» wie dt. kalt und ital. caldo (warm), dt. Firma und span, firma (Unterschrift), frz. seile (Sattel) und span, sello (Stempel) usw. Im Zusammenhang der Syntax ist es oft möglich und angebracht, die anderen Sprachen herbeizuholen. Einzelne Ausdrücke und kleine Sätze werden in andere Sprachen übersetzt und zum Vergleich benutzt für Wortstellung, ausgedrückte und nicht ausgedrückte Elemente,17 Satzbaupläne, Konjunktionen. Zwei Beispiele dazu: In Segment (1-3) wurden Fragen thematisiert, auch Entscheidungsfragen. Es hat seinen Grund, daß vor allem die Schülerinnen und Schüler mit anderer Erstsprache daran so interessiert waren, denn in den beobachteten Klassen hatten manche von ihnen gerade mit den Entscheidungsfragen Schwierigkeiten, und das Verstehen mußte geübt werden. In verschiedenen Sprachen wird die Entscheidungsfrage verschieden gebildet: - mündlich immer mit Frageintonation, schriftlich mit einem Fragezeichen am Schluß oder mit je einem Fragezeichen am Anfang und am Schluß (Spanisch), - in manchen Sprachen oder Sprachvarianten (Alltagsfranzösisch, Spanisch) ohne weitere Veränderungen gegenüber der Aussage, - in manchen Sprachen durch Wortstellung (Inversion, fmites Verb in Erststellung wie meistens im Deutschen), - in manchen Sprachen mit Umschreibung durch ein Hilfsverb (engl. to do) plus Inversion, - in manchen Sprachen durch eine feste Formel, die die Inversion enthält (frz. est-ce que), - in manchen Sprachen durch ein Fragemorphem (im Türkischen die Allomorphe mi, mü, mu, entsprechend der Vokalharmonie). Wenn die Kinder einfache Fragen in einer anderen Sprache sagen, leisten sie also gleichzeitig die Übersetzung von Stellungsregeln in Morpheme oder ähnliches. Das verdient Aufmerksamkeit. 17
Vgl. oben den Artikelgebrauch. Andere Beispiele finden sich in Oomen-Welke 1991c/1995.
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Als zweites Beispiel seien die /sf-Sätze genannt, die sich übrigens gut zur Einführung der Satzglieder eignen: «Das ist Froschlaich. ... Das Ei wird eine Kaulquappe. ... Das große Tier ist ein Frosch. Er ist grün.» Wenn die Kinder solche deutschen Sätze mit anderen Sprachen vergleichen, stellen sie fest, daß das Verb sein nicht immer ausgedrückt werden muß. Das Herbeiholen von anderen Sprachen und Gebrauchsweisen gilt auch bei sprachlichen, parasprachlichen und nonverbalen Routinen und Ritualen, für direkten und indirekten Sprachgebrauch, Angemessenheit und Erwartbarkeit usw. Dazu und zu Dialekt und Sondersprachen liegen Vorschläge vor.18 1.3 Sich auf Fremdes einlassen Für den Umgang mit den vielen Sprachen der Kinder von der Grundschule ab ist es nötig, daß sich die Angehörigen der Mehrheitskultur - also die meisten deutschsprachigen Kinder und die Lehrperson auf die Sprachen einlassen. Von den Kindern wird selbstverständlich erwartet, daß sie die andere Sprache, hier Deutsch, lernen. Nicht zu Unrecht halten die Kinder für möglich und zumutbar, daß Lehrpersonen die anderen Sprachen der Kinder lernen, wie Segment (13) im Gespräch türkischer Kinder mit zwei Schulpraktikantinnen anläßlich eines Schülergeburtstages zeigt: Geburtstag (13) L2: Wie ist das jetzt/ wo dein Vater wieder zu Hause ist? S: Schön! L2: Ist er den ganzen Tag daheim? S: Ja! Ll: Und dann kauft er Videofilme? S: Ja heute hat er gekauft\ möchtest mal angucken? Ll: Sind das türkische Filme? S: Ja, harn wir heute gekauft. Sl: Da versteh ich ja gar nichts\ S: Is egal\ 18
Vgl. unter anderem Oksaar 1988, Klotz/Sieber 1993, Oomen-Welke 1993b. Dort jeweils weitere Literatur.
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Ll: Egal? S: Kannst doch lernen\ Ll: Türkisch? Das ist doch schwer! S: Nein/was heißt Bild? L2: Ich weiß nur was «Guten Tag» heißt\ heißt das Merhabal S: Hihi komisch (lacht) willst du auch Türkisch lernen? L2: Ja aber das ist so schwierigA Deutsch ist ja auch schwierigA S: No/ wo ich im Kindergarten war/ hab ich allein gelernt A L2: Wie hast du das gelernt? S: Niemand hat mir gesagtX ich hab zugehört\ ich war schon ganz lange ... L2: Du warst in Deutschland im Kindergarten? S: Ja ich bin auch in Deutschland geboren. ... Du spielst mit deiner Nase rum\ Ll: Mich juckts da\ S: Gell das kitzelt? Es ist schon merkwürdig, daß es uns verblüfft, wenn ein türkisches Kind der Lehrperson das Lernen seiner Sprache zumutet. Die Theorie des Kindes über den zeitlich versetzten Zweitsprachenerwerb Deutsch mag für sein eigenes Lernen zutreffen, die Methode wird aber kaum auf deutsche Lehrpersonen anwendbar sein. Wir erwarten auch nicht, daß eine größere Zahl von Lehrpersonen die vielen Sprachen der Kinder wirklich lernt. Es ist dennoch eine Näherung möglich: In vielen Regelklassenzimmern hängen schon Schilder mit anderen Sprachen der Kinder, Lieder in anderen Sprachen werden gesungen. Damit wird wenigstens dem pädagogischen Ansatz entsprochen, die anderen Sprachen nicht einfach zu unterdrücken, sondern sichtbar und manchmal hörbar zu machen. Es ist möglich, einen Schritt weiter zu gehen: Im Klassenzimmer können die anderen Sprachen erfahrbar werden. Das geschieht, indem man den Kindern einer anderen Sprache zutraut, der ganzen Klasse ein bißchen aus ihrer Sprache beizubringen: bestimmte Laute, ein Gedicht, Grußformeln und ein paar formelhafte Ausdrücke, bis hin
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zum SOS-Sprachstand,19 je nachdem was die Klasse lernen mag. Die Kinder werden also zu Experten ihrer eigenen Sprache, und ihre Eltern sowie muttersprachliche Lehrpersonen dürfen bei solchen Miniprojekten natürlich beratend mithelfen. In gewissen Zeitabständen können solche Projekte für mehrere Sprachen stattfinden. Das hält den Deutschunterricht nicht auf, im Gegenteil, es belebt ihn, weil die Beschäftigung mit der anderen Sprache eine neue Wahrnehmung auch der eigenen Sprache bewirkt. Der Deutschunterricht wird so auch für nicht-deutsche Kinder interessanter, denn er bezieht sie und ihre Sprachen ausdrücklich ein. Erst im Kontext solcher Sprachoffenheit macht es Sinn, das Fremdsprachenangebot in Schulen zu verstärken und Fremdsprachen schon in die Grundschulen einzuführen. (1) Texte im Sprachenvergleich Dieser Punkt soll schmal gehalten werden, weil das Prinzip bekannt und durch Veröffentlichungen ausgeführt ist.20 Es handelt sich darum, im Deutschunterricht mit zweisprachigen Texten zu arbeiten: - die Schülerinnen und Schüler fertigen selbst Übersetzungen aus anderen Sprachen (auch Nicht-Schulsprachenü) an; - sie dichten Lieder oder verfassen Fortsetzungen von Geschichten in ihrer Sprache und teilen der Klasse mit, was drinsteht; - sie vergleichen Kulturgut wie Sprichwörter, Nationalhymnen, Lehrpläne usw., je nach Alter und Horizont;21 - sie vergleichen, je nach Sprachvermögen und Anwesenheit entsprechender Muttersprachler, zweisprachige Texte in kommerziellen Ausgaben; - sie nähern sich Autoren, die gleiche Texte in verschiedenen Sprachen schreiben, und versuchen zu verstehen.22 19
20 21 22
Dazu ein Vorschlag von Goris Pieters-Troch 1995, S. 352ff. «Des phrases SOS» meint hier ein paar notwendige und höfliche Formeln für die jeweilige Zielgruppe. Lit. zum Einstieg bei Oomen-Welke 1991 a. Dazu Oomen-Welke 1988 und Ernst/Ernst 1989/1994. Dazu insbesondere die Veröffentlichungen von Rösch, besonders Rösch 1995.
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Es liegt mir daran zu betonen, daß die Annäherung an andere Sprachen nicht bedeutet, fremde Texte zu vereinnahmen. Das andere bleibt oft anders und fremd. Der eigene Horizont soll geöffnet werden, doch dürfen die anderen Sprachen und Texte hauptsächlich nicht dazu benutzt werden, Eigenes durch sie zu bestätigen.23 Andere Lernmethoden, Sprachverhalte, Perspektiven sollen erkannt, besser kennengelernt werden und in uns langsam weiterarbeiten, gegenseitige Beeinflussung kann stattfinden. Manchmal mögen sie auch unmittelbar und blitzartig zu einer neuen Erkenntnis verhelfen. Eben deshalb ist die hier vorgetragene Stufung wichtig: Anregungen aufgreifen, Erweiterungen der eigenen Sicht herausfordern, andere Standpunkte probeweise einnehmen und schließlich kulturelle Äußerungen in ihrer Verschiedenheit nebeneinander sehen, so daß Neues als Eigenes möglich wird. (2) Deutschunterricht oder mehrsprachiger Deutschunterricht? Es gibt nichts zu verhehlen: Die Segmente und Anregungen in Kapitel l betonen einseitig und ausführlich den Wert der anderen Sprachen und ihrer Sprecher im Sprachunterricht Deutsch. Das soll auch so sein, denn bislang wird das sprachreflektorische Potential, das Kinder aus anderen Sprachen mitbringen, weder von Deutschdidaktikerinnen und Lehrpersonen in ihrer Mehrheit wahrgenommen, noch wird es, wenn die Kinder selbst es anbieten, genutzt. Ähnliches gilt für die Varietäten des Deutschen, die die Kinder wirklich sprechen, nämlich Dialekte und Soziolekte. Daher besteht ein Nachholbedarf an Vorschlägen, wie die Mehrsprachigkeit im Klassenzimmer konkret für Sprachaufmerksamkeit genutzt werden kann. Sie ist nämlich nützlich, auch für die Monolingualen. Meine Vorschläge in 1.2-1.4 hier kollidieren in zwei Punkten mit der gängigen Praxis, in der immer noch der Gebrauch anderer Sprachen in der Schule verboten wird («Hier sprechen wir Deutsch!») und 23
Fremde Texte sollen, dürfen, können nicht einfach wie eigene rezipiert und kritisiert werden, fremde Lebenswelten und Kulturen auch nicht. Daß das aber oft geschieht, zeigen Schlagzeilen wie die folgende: «METRO-Ferienclub: Fern der Heimat wie zu Hause» (METRO Clubpost, Zeitung für Kunden und Geschäftsfreunde, Ausgabe 134, Oktober 1995, S. 1).
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in der die sprachvergleichenden Beiträge der Kinder als nebensächlich abgetan werden. Für diese Praxis gibt es mehrere Ursachen. Es ist zu einfach, die Lehrpläne verantwortlich zu machen; man wird zugeben müssen, daß sie nur gesellschaftspolitischer Spiegel der jeweiligen didaktischen Diskussion sind. Leider ist es eine bildungspolitische Tatsache, daß wir Deutschdidaktikerinnen, in unseren internen Diskussionen gefangen, die in diesen Jahren in Deutschland ablaufenden Lehrplanrevisionen verschlafen haben; unsere Überlegungen waren einfach noch nicht auf dem Stand, Lehrplankommissionen nachhaltig zu beeinflussen. Ich denke, wir sollten das als Aufforderung begreifen, für die nächste Lehrplanrevision angemessen vorzuarbeiten, und diese Ausführungen sind Teil davon. Eine Ursache für die herrschende Praxis sind Alltagstheorien. Aus vielen Gesprächen und Interviews mit Lehrpersonen halten wir fest, daß sie sich genau an den Lehrplan und insbesondere an ihren Deutschlehrplan und hier an die absolute Geltung der deutschen Sprache im Unterricht gebunden fühlen: «Schließlich sind wir hier in Deutschland und haben Deutschunterricht.» - Weiter glauben viele wirklich (trotz anderes dokumentierender Veröffentlichungen von Didaktikerlnnen) immer noch, daß die Beibehaltung und mehr noch die Förderung der Zweisprachigkeit der Kinder diesen in der deutschen Schule nicht nütze, sondern schade: «Das schafft er/sie nicht, auch noch Muttersprachenunterricht.» Dieses Argument greift besonders dort, wo der Muttersprachenunterricht nachmittags und außerhalb des Regelunterrichts stattfindet. In logischer Konsequenz lehnen sie es rundweg ab, zusätzlich noch andere Sprachen in ihren Deutschunterricht einzubeziehen. Weitere Ursachen liegen im Verständnis der Berufsrolle: «Wenn Beispiele aus anderen Sprachen manchmal genannt werden/ okay/ das macht ja nix\ aber das andere ... dann kann ich ja nicht mehr kontrollieren/ ob das richtig ist\ und am Ende lernen die Kinder falsche Sachen\ da gibt's soviel/ wo ich nicht kompetent bin\ wer soll das dann ... und überhaupt!» Es geht nicht nur darum, hier Macht und Kontrolle abzugeben; das ist nur die eine Seite. In einem anderen Projekt haben wir als ein weiteres Motiv herausgefunden, daß Lehrpersonen sich den Erfolg der Schüler und Schülerinnen regelrecht
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verdienen wollen und sich das Bemühen, die Anstrengung, die Arbeit als Verhaltensnorm setzen.24 Wie aber könnten sie sich Erfolg verdienen, wenn sie die Sprache nicht beherrschen, die sie in den Unterricht einbeziehen sollten? Dafür würden sie ja nicht arbeiten. Es ist nun leichter gesagt als getan, aus der Lehrerrolle heraus- und ein Stück Kompetenz an die mehrsprachigen Schülerinnen und Schüler abzutreten. Hier entsteht ein Normenkonflikt. - Aber: Gilt etwa daher das Umgekehrte, daß die fremden Sprachen, selbst wenn sie die Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler auf Sprachliches fördern, von Lehrpersonen nicht zugelassen werden können, um eigene Selbstdefinitionen und die schulischen Normen nicht zu gefährden? In diesen Zusammenhang gehört die Frage des Prestiges der Sprachen. Genau die Sprachen der Kinder, die Lehrpersonen normalerweise nicht gelernt haben und nicht im Unterricht berücksichtigen, sind die Sprachen mit wenig Prestige. Das Prestige sinkt noch, wenn zusätzlich die Norm gesetzt wird, diese Sprachen in der Schule nicht zu gebrauchen (explizites Verbot oder verdeckendes Beiseiteschieben). Immer noch ist das meistens der Fall, nicht nur in Deutschland. Wenn Schüler dagegen verstoßen, gilt das als Verstoß gegen eine in der solidarisierenden Wir-Form vermittelte, angeblich gemeinsame Abmachung («Wir haben doch gesagt, daß wir in der Schule Deutsch sprechen, damit wir uns alle verstehen können!») oder gegen eine allerhöchste Anordnung («Es ist nicht erlaubt / Man darf nicht in seiner anderen Sprache sprechen.»), eben gegen Normen, und wird moralisch geahndet: «Das ist nicht nett. / Das ist nicht schön. / Du sagst sicher etwas Gemeines.» usw.25 In der schulischen Praxis gerät also die Einsprachigkeit der Lehrperson und des Systems, die ja eigentlich keine besondere Leistung ist, zur Norm, und das Verhalten zu dieser Norm wird zu einer Frage der Moral. Ich halte das beschriebene Hindernis zumindest in uns und in unserer Selbstdefinition für überwindbar. Natürlich wäre es schön, wenn wir mehrere Sprachen der Kinder verstünden und selbst mehrsprachig 24 25
Linke/Oomen-Welke 1995, Teil F. Kroon/Sturm 1995 führen ein Beispiel aus ihren Unterrichtsbeobachtungen aus, vgl. ihren Abschnitt 4.2.
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wären. Ich selbst habe als Lehrerin allerdings immer die falschen Sprachen gelernt, denn kaum hatte ich mit einem Sprachkurs angefangen, änderte sich die Zusammensetzung der Klasse (auch die sprachliche), die ich betreute. Letztlich hat das dem Unterricht nicht geschadet, denn ich bin auf mehrere Sprachen aufmerksam geworden und vor allem auf das, was die Kinder sagen wollten und konnten. Die Kinder haben das Interesse gespürt, und hier lag der Beginn eines Austausches zwischen uns allen. Der Unterricht fand auf deutsch statt, aber ganz oft waren Beobachtungen an anderen Sprachen erwünscht, manchmal provoziert und immer zugelassen. Von solchen Punkten aus sollten wir uns weiter wagen. Deswegen geht mein Plädoyer dahin, den Standard der Ausschließlichkeit des Deutschen in der Schule endlich aufzugeben. Aus pädagogischen Beweggründen ist es nötig, alle Kinder und ihre Sprachen zu Wort kommen zu lassen, die deutschen Kinder mit den Sozio- und Dialekten, die zweisprachigen Kinder mit ihren Sprachen und deren Varietäten. Stellen, an denen das im Unterricht geschehen könnte, habe ich hier in Kapitel l aufgezeigt; eine größere Übersicht ist in Arbeit. Das Ernstnehmen dieses Ansatzes, der auch anderswo in Ausarbeitung begriffen ist, wird Folgen für die Lehrpläne Deutsch haben. Freilich weiß ich, daß diese sprachdidaktische Diskussion nur langsam Widerhall in der schulischen Praxis finden kann und daß es noch weit ist bis zur Umsetzung der Ideen in Unterricht. Man geht von Zehnjahresschritten aus. Dennoch sind Reformen überfällig im gegenwärtigen Kontext, in dem wir in Europa über den Ausbau der Fremdsprachenkenntnisse und der Mehrsprachigkeit und die Einführung von Fremdsprachen in die Grundschule nachdenken. Voraussetzung und Ergänzung solcher Sprachlernkonzepte ist ein Umfeld, in dem andere Sprachen willkommen sind und Prestige haben. (3) Nutzen, Prestige, Norm und Moral Norm, Moral und Didaktik sind Thema dieses Bandes. Der Titel ist eher auf die Sprache und die Sprachwissenschaft bezogen, er eröffnet eine linguistisch-pragmatische Binnenperspektive. Mein Artikel wendet dieselben Termini auch aus einer soziodidaktischen, also Außenperspektive auf den Deutschunterricht an; es geht darum, wie der
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Umgang mit verschiedenen Sprachen den Sprachunterricht beschränkt oder erweitert. Norm und Moral in der didaktischen Praxis und Forschung haben viel mit Prestige zu tun, mit dem Prestige der Lehr- und Lerngegenstände und mit dem Prestige von Personen in ihren Rollen. Das Prestige entsteht nicht sprachimmanent, etwa weil bestimmte Sprachen (Englisch und Französisch oder hier auch Deutsch) leistungsfähiger wären als andere Sprachen. Prestige wird gesellschaftlich vermittelt, es speist sich aus generelleren historischen, kulturellen, machtpolitischen Einschätzungen und auch (zum Teil individuelleren) Nützlichkeitserwägungen. Normbildend wirkt hohes Prestige, die gesellschaftlichen Normen daraus werden von den Sprechern oft für sprachliche Normen gehalten werden. Im deutschsprachigen Raum hat Deutsch hohes Prestige, hauptsächlich weil es als Mehrheitssprache standardisiert und Amtssprache ist. In der Schule ist es Unterrichtssprache in allen Fächern, oft auch im Fremdsprachenunterricht. Verstärkend wirkt sich in Deutschland die fast totale Einsprachigkeit (trotz Dialektvarietäten) aus, so daß die Sprecher des Deutschen es für normal halten, einsprachig zu sein und nur Deutsch zu sprechen. Diese Haltung setzen sie auch in der Schule durch, indem sie andere Sprachen abwehren. Prestige dagegen erkennen sie den Schulfremdsprachen zu.26 Schulische Lerngegenstände haben schon dadurch, daß sie solche sind, hohes gesellschaftliches Prestige, ein bißchen unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Nutzen. Jedenfalls kann ich nicht erkennen, daß Einsprachigkeit besonders nützlich wäre, Mehrsprachigkeit weniger.27 Die vermeintlich hohe Norm (hier: der deutschen Einsprachigkeit) einzuhalten wird in der Schule zu einer Frage der Moral, Verstöße gelten als unmoralisch; ein Beispiel wurde in 2. genannt. Das heißt, daß die sprachdi26
27
Zu Schulsprachen, sozialer Zweisprachigkeit und Prestige schrieb schon Stölting 1980. Mehrsprachigkeit ist in der deutschsprachigen Schule kurioserweise Privatsache, z. B. sichtbar bei bilingualen Kindern. Sogar wenn ihre andere Sprache Schulfremdsprache ist (Englisch, Französisch), führt das nicht automatisch zur Anerkennung, sondern wird oft als Alltagssprache abgewertet.
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daktische Praxis mit Moral auf der Basis gesellschaftlichen Prestiges arbeitet in der Meinung, sie behandle Sachgegenstände mit immanenter Sprachnorm. Hier täte Nachdenken über die Normen gut. Es ist auffällig, wie stark gerade der Deutschunterricht von Normen beherrscht wird: von der kulturellen Norm der Einsprachigkeit, von den Normen der traditionellen Lehrerrolle und des Lehrplans, von den Normen der Bezugswissenschaft Germanistik/Linguistik und ihrer Wissenschaftlichkeitsnorm, vgl. die Einleitung zu diesem Buch. Alle zusammen eröffnen zwar auch sinnvolle Möglichkeiten des Handelns im Handlungsfeld des Deutschunterrichts, gleichzeitig verstellen sie jedoch den Blick für weitere Möglichkeiten. Deswegen plädiere ich für eine Modifikation dieser Normen in Richtung der Aufnahme anderer Sprachen in den Deutschunterricht, indem wir die Sprachaufmerksamkeit auch der mehrsprachigen Schülerinnen und Schüler für den Deutschunterricht nutzen und sogar ihre Sprachen vergleichend heranziehen, um über Sprachliches zu sprechen. Das ergibt eine neue Praxis im Deutschunterricht. An diesen Vorschlag dürfen die Kriterien angelegt werden, die in 2.3 der Einleitung zu diesem Buch in Form von Fragen genannt sind. Die Wichtigkeit eines mehrsprachigen Deutschunterrichts ergibt sich aus der Anwesenheit von über zehn Prozent zweisprachiger Schülerinnen und Schüler in deutschen Schulen und wegen der Varietäten des Deutschen. Eine Steigerung der Effizienz ist nicht vorab nachweisbar, wohl aber anzunehmen, einerseits weil sich neue Fragestellungen, Methoden und Vertiefungen ergeben, andererseits weil alle Schülerinnen und Schüler stärker beteiligt sind. Die Frage der Lernbarkeit ist für Schülerinnen und Schüler kein Problem, sie sind ja weitgehend diejenigen, deren Anliegen aufgegriffen werden. Lehrpersonen macht die Umstellung vermutlich Schwierigkeiten, denn sie müßten ihr Rollenverhalten ändern und sich auf andere Sprachen und neue Fragestellungen einlassen. Obwohl wir dazu noch nicht über breit abgesicherte Erkenntnisse verfügen, sieht es so aus, als seien Unterrichtsbeobachtung und -analyse insofern fruchtbar, als sie Lehrpersonen trainieren, auf Sprachliches in den Unterrichtsbeiträgen von Schülern und Schülerinnen aufmerksam zu werden und sie aufzugreifen.
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Nicht nur verknüpfbar, sondern verknüpft ist die vorgeschlagene neue Praxis mit pädagogischen Konzepten des offenen Unterrichts und mit Theorien des subjektorientierten und eigenaktiven Lernens. Sie ist es auch und besonders mit der Sprachwissenschaft, denn nur auf der Basis guter sprachwissenschaftlicher Kenntnisse und Verfahrensweisen können Lehrpersonen die Reflexionsanstöße der Kinder erkennen und weiterführen. Mir scheint, daß eine Konsequenz der Aufbau von Vernetzungen ist. Daß der mehrsprachige Deutschunterricht nicht der Systematik seiner Bezugswissenschaften folgt, wurde wohl schon klar. Das Konzept des mehrsprachigen Deutschunterrichts modifiziert eher alte Normen, als neue Normen aufzustellen. Trotzdem muß es sich auch die Frage der Prüfbarkeit gefallen lassen. Hier bin ich unsicher, was wie geprüft werden kann, das braucht noch Zeit. Vorher bedarf es der forschenden Entwicklung, wie in 3.3 der Einleitung zu diesem Buch angeregt: mit Blick auf den Gegenstand Sprache, mit Blick auf die Schülerinnen und Schüler, mit Blick auf die Lehrpersonen. Wir sind dabei! Bibliographie Bildungsplan für die Grundschule 1984, hg. v. Ministerium für Kultus und Sport Baden-Württemberg. Lehrplanheft 57. Boettcher, Wolfgang / Horst Sitta 1978: Der andere Grammatikunterricht. München. Boettcher, Wolfgang/ Horst Sitta 1979: Grammatik in Situationen. Praxis Deutsch 34. Boettcher, Wolfgang 1995: Zur gegenwärtigen Praxis des Grammatikunterrichts: eine kritische Bestandsaufnahme; in: Mitteilungen des Deutschen Germanisten Verbandes 2. S. 2-7. Bremerich-Vos, Albert 1995: «Dann probiert mal schön!» - Mikroskopisches zur Bildung grammatischen Wissens im schulischen Unterricht; in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 2. S. 27-32. Eisenberg, Peter / Peter Klotz Hrsg. 1993: Sprache gebrauchen - Sprachwissen erwerben. Deutsch im Gespräch. Stuttgart. Ernst, Ulrike / Christian Ernst 1989: Das Sprichwort als Gegenstand integrativen Arbeitens und Lernens; in: Praxis Deutsch 93. S. 40-44. Wieder in I. Oomen-
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Welke Hrsg. 1994: Brückenschlag. Deutsch im Gespräch. Stuttgart. S. 158168. Goris-Pieters-Troch, Ann 1995: Un atelier de langues europeennes - Eine Werkstatt für europäische Sprachen; in: C. Kodron /1. Oomen-Welke Hrsg. 1995: Europa sind wir - Teaching Europe in multicultural society. Freiburg. S. 352359. Heringer, Hans-Jürgen 1995: Grammatikunterricht - wozu? in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 2. S. 8-16. Klotz, Peter / Peter Sieber Hrsg. 1993: Vielerlei Deutsch. Deutsch im Gespräch. Stuttgart. Kroon, Sjaak / Jan Sturm 1995: Ethnische Diversität und Homogenisierung im Unterricht; in: A. Linke /1. Oomen-Welke Hrsg. 1995: Herkunft, Geschlecht und Deutschunterricht. Freiburg. Kodron, Christoph / Ingelore Oomen-Welke Hrsg. 1995: Europa sind wir - Teaching Europe in multicultural society. Freiburg. Linke, Angelika / Ingelore Oomen-Welke Hrsg. 1995: Herkunft, Geschlecht und Deutschunterricht. Freiburg. Oksaar, Eis 1988: Kulturemtheorie - Ein Beitrag zur Sprachverwendungsforschung. Beiträge aus den Sitzungen der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e. V. Jg. 6, Heft 3. Hamburg. Oomen-Welke, Ingelore 1982: Didaktik der Grammatik. Germanistische Arbeitshefte 25. Tübingen. Oomen-Welke, Ingelore 1988: Sprachstrukturen lernen: Der Genitiv im Munde türkischer Kinder oder: «ein Schafes Fell»; in: I. Oomen-Welke Hrsg. 1988: Schüler: Persönlichkeit und Lernverhalten. TBL 327. Tübingen. Oomen-Welke, Ingelore Hrsg. 1991 a: Deutschdidaktik interkulturell. Der Deutschunterricht 2. Oomen-Welke, Ingelore 1991b: Ich zeig' Dir was - Kinder erklären Kindern ihren Alltag; in: K. Hurrelmann u. a. Hrsg. 1991: Wege nach Europa. Friedrich Jahresheft IX. Seelze. Wieder in: C. Kodron /1. Oomen-Welke Hrsg. 1995: Europa sind wir - Teaching Europe in multicultural society. Freiburg. S. 171-178. Oomen-Welke, Ingelore 1991c: Sprachenvielfalt in Regelklassen - Ein Differenzierungsproblen; in: Praxis Deutsch 108. S. 37-40. Wieder in: C. Kodron / I. Oomen-Welke Hrsg. 1995: Europa sind wir - Teaching Europe in multicultural society. Freiburg. S. 258-268. Oomen-Welke, Ingelore 1993: Eigennamen als Einstieg in Sprachaufmerksamkeit; in: Praxis Deutsch 122. S. 27-34.
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Oomen-Welke, Ingelore 1993: Deutscher Unterricht als (inter)kulturelle Praxis; in: A. Bremerich-Vos Hrsg. 1993: Handlungsfeld Deutschunterricht im Kontext. Frankfurt. S. 142-167. Rösch, Heidi 1995: Migrationslyrik und ihre Bearbeitung in multikulturellen Lerngruppen; in: A. Linke / I. Oomen-Welke Hrsg. 1995: Herkunft, Geschlecht und Deutschunterricht. Freiburg. Steuerwaldt, Karl 1988: Langenscheidts Taschenwörterbuch der türkischen und deutschen Sprache. Berlin. Stölting, Wilfried 1980: Die Entwicklung der Zweisprachigkeit bei ausländischen Schülern; in: Praxis Deutsch Sonderheft. S. 19-22.
Die Beiträgerinnen JÜRGEN BAURMANN, Prof. Dr. phil., Dipl.-Päd., geboren 1941, war Lehrer und Seminarleiter, seit 1982 Universitätsprofessor. Jürgen Baurmann lehrt seit 1992 an der Bergischen Universität Gesamthochschule Wuppertal. Veröffentlichungen zur Sprachdidaktik und Schreibforschung, Mitherausgeber von «Praxis Deutsch» und Mitglied der Studiengruppe «Geschriebene Sprache». GÖTZBECK, geb. 1934 (Bitterfeld). Studium klass. Philologie und Germanistik (Tübingen; Leeds). Tätigkeiten als Gymnasiallehrer, Lektor (Venedig), Hochschullehrer an PH und RWTH Aachen. Habilitation (Zürich) in Deutscher Philologie. Arbeiten über Homer, Aristoteles, Th. Mann sowie zur deutschen Grammatik, Damenlinguistik, Lehrerausbildung u. a. ALBERT BREMERICH-VOS, lehrt an der PH Ludwigsburg Linguistik und Sprachdidaktik, interssiert sich vor allem für Rhetorik, politische Semantik, Gesprächsanalyse, Sprachdidaktik im allgemeinen und Grammatik- und Rechtschreibunterricht im besondern. Buchpublikationen zur Sprechakttheorie, zur Textanalyse, zum Beratungsgespräch, zu populären Rhetorikratgebern und zum «Handlungsfeld Deutschunterricht». Zahlreiche Zeitschriftenveröffentlichungen. Zur Zeit Arbeit an einem Projekt über Interaktionen im Grammatikunterricht in der Sekundarstufe I. KLAUS BRINKER, geb. 1938, Dr. phil., ordentlicher Professor für Linguistik des Deutschen an der Universität Hamburg. Hauptarbeitsgebiete: Deutsche Gegenwartssprache, Grammatiktheorie, Linguistische Pragmatik, Textlinguistik, Gesprächsanalyse, Geschichte der Sprachwissenschaft. EDGAR BRÜTSCH hat nach seiner Ausbildung zum Primarlehrer in Zürich Germanistik und Anglistik studiert. Zwischen 1988 und 1994 war er als Lehrbeauftragter und Assistent für germanistische Sprachwissenschaft bei Horst Sitta tätig. Seine linguistischen Interessen umfassen Fragen der Syntax, der Pragmatik sowie der Neuropsychologie der Sprache. Er arbeitet heute ausserhalb der Universität im Bereich «computerbasiertes Training» (CBT). PETER GALLMANN, Studium der Allgemeinen Sprachwissenschaft, der Germanistischen Linguistik und der Indogermanistik. Langjährige Tätigkeit als Lehrbeauftragter an der Allgemeinen Berufsschule Zürich (berufkundliches Deutsch für Fachleute der grafischen Industrie). 1984-1992 Assistent am Deutschen Seminar der Universität Zürich. 1991 Förderpreis für germanistische Sprachwissenschaft der Hugo-Moser-Stiftung. 1993-1996 Stipendiat des Schweizerischen Nationalfonds. 1986-1995 Sekretär der Arbeitsgruppe Rechtschreibreform der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren. Seit 1984 Lehraufträge an der Universiät Zürich. Schwer-
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punktbereiche: Wissenschaftliche Grammatik (Syntax und Morphologie), Schulgrammatik, Graphematik. WALTER HAAS, geb. 1942 in Luzern, Besuch des Lehrerseminars, Tätigkeit als Primarlehrer, Studium (Germanistik, Volkskunde, Geschichte, Allgemeine Sprachwissenschaft) in Zürich, Freiburg (Schweiz), Princeton. Dr. phil., Habilitation in Germanischer Philologie. Mitarbeiter des Sprachdienstes der Schweizerischen Bundeskanzlei und des Sprachatlas der deutschen Schweiz. 1983 Professor für Germanische Philologie an der Philipps-Universität Marburg, seit 1986 an der Universität Freiburg (Schweiz). Publikationen v. a. auf dem Gebiete der Dialektologie und der Historischen Sprachwissenschaft. GERHARD HELBIG, Prof. Dr., geb. 1929 in Leipzig, 1948-1952 Studium der Germanistik, Philosophie und Anglistik an der Universität Leipzig, 1953 Promotion, 1967 Habilitation, seit 1969 ordentlicher Professor an der Universität Leipzig (seit 1995 emeritiert) auf dem Fachgebiet «Deutsch als Fremdsprache (Germanistische Linguistik)»; 1967-1992 Leiter des Wissenschaftsbereichs Linguistik am Herder-Institut; 1975-1990 Dekan der Fakultät für Kultur-, Sprach- und Erziehungswissenschaften der Universität Leipzig, seit 1990 Chefredakteur der Zeitschrift «Deutsch als Fremdsprache». HUBERT IVO, nach zwanzig Jahren im Schuldienst Wechsel auf eine Professur für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur in Frankfurt. Arbeiten zur empirischen Ausgestaltung der Sprachdidaktik («Lehrer korrigieren Aufsätze») und zur hermeneutischen Auseinandersetzung mit Denk- und Handlungsvoraussetzungen didaktischer Praxis («Muttersprache, Identität, Nation»). THOMAS LINDAUER, Studium der Germanistik, Pädagogik und Didaktik. Dissertation zur Syntax der deutschen Nominalgruppe. Von 1991-95 Assistent bei Roland Ris an der Zürich (Lexikonprojekt). Seit 1993 Assistent bei Horst Sitta, Lehrbeauftragter für Fachdidaktik Deutsch an der HPL Zofingen, Mitglied der Rechtschreibreform-Komission. Schwerpunktbereiche: Generative Grammatik, Deutschdidaktik, Lexikographie. ANGELIKA LINKE, Studium der Germanistik, Geschichte und Nordistik, langjährige Tätigkeit als Deutschlehrerin am Gymnasium, Habilitation zur Sprachund Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts. Lehrt Linguistik an der Universität Zürich. Schwerpunktbereiche: Neuere Sprachgeschichte, Soziolinguistik, Textlinguistik, Gesprächsanalyse. Mitherausgeberin der Zeitschrift «Praxis Deutsch» sowie der «Zeitschrift für germanistische Linguistik». ROMAN LOOSER, geb. 1963, Ausbildung zum Informatiker, Studium der Germanistik, Allgemeinen Geschichte und Informatik an der Universität Zürich,
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Promotion zum Dr. phil. I, Gymnasiallehrerdiplom. Tätigkeiten: wissenschaftlicher Assistent bei Horst Sitta, Dozent an der Universität Zürich, Gymnasiallehrer. Hauptarbeitsgebiete: Orthographie, Schreibforschung, Textlinguistik. OTTO LUDWIG, Prof. Dr. theol., geb. 1931 in Bandoeng (Java), Studium der evang. Theologie, anschliessend der Germanistik, Professor für deutsche Sprache an der Universität Hannover seit 1970. Hauptarbeitsgebiete: Geschichte und Theorie des Schreibens, Didaktik des Schreib- und Aufsatzunterrichts. EVA NEULAND, Professorin für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der BUCH Wuppertal. Arbeitsschwerpunkte: Gegenwartssprache, Sprachvariation, Sprachdidaktik, Linguistische Pragmatik, Sprachsoziologie, Sprachpsychologie; zahlreiche Veröffentlichungen zur Soziolinguistik, Sprachentwicklungen, Gesprächsforschung, Sprachreflexion, Jugendsprache; Mitherausgeberin der Zeitschrift «Der Deutschunterricht». MARKUS NUSSBAUMER, Studium der Germanistik, Französischen Literatur und Philosphie. Assistent bei Horst Sitta in Zürich. Dissertation zu Texttheorie, schulischer Textanalyse und Schreibunterricht (im Rahmen eines Forschungsprojektes zu den Sprachfähigkeiten von Maturandlnnen); 1991 bis 1995 Oberassistent in Zürich; seit Herbst 1995 Forschungsprojekt «Rechtslinguistik Linguistik des Rechts und für das Recht». Arbeitsschwerpunkte: Texttheorie, Semantik, Pragmatik, Argumentationstheorie. INGELORE OOMEN-WELKE, Professorin für deutsche Sprache und Deutschdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg i. Br. - Studium in Tübingen, Dijon, Bonn. Realschullehrerin, Dozentin, Professorin. Veröffentlichungen zur Sprachdidaktik, zu Deutsch als Zweitsprache bei Immigranten, zu Europaprojekten. Koordinatorin europäischer Kooperationsprogramme. Aktiv im Verein «Symposion Deutschdidaktik e. V.» ANN PEYER, Studium der Fächer Germanistik, Latein und Philosophie, Promotion zur Dr. phil. 1995 mit einer Arbeit zum Thema «Satzverknüpfung». Seit 1990 wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl von Horst Sitta, daneben mehrjährige Tätigkeit als Deutsch- und Lateinlehrerin am Gymnasium, Lehrbeauftragte an der Universität Zürich und in der ausseruniversitären Weiterbildung. Arbeitsschwerpunkte: Grammatik und ihre Vermittlung, Textlinguistik, Sprache und Geschlecht. PAUL R. PORTMANN, Studium der Germanistik, Anglistik und Psychologie. Langjährige Tätigkeit als Lektor für Deutsch als Fremdsprache und als Dozent für Muttersprach- und Fremdsprachendidaktik in der Lehrerausbildung. Habilitation zum Thema «Schreiben und Lernen». Professor für germanistische
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Linguistik unter besonderer Berücksichtigung von Deutsch als Fremdsprache an der Karl-Franzens-Universität Graz. PETER SIEBER, Dr. phil., geb. 1954. Nach dem Studium der Erziehungswissenschaften, Sozialpsychologie und Linguistik Arbeit in der Lehrerbildung und in deutschdidaktischen Forschungsprojekten. Promotion in germanistischer Linguistik. 1988-1994 Leiter des «Zürcher Sprachfähigkeiten-Projekts». Seit 1995 Dozent in der Sek. I-Lehrerbildung an der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Deutschdidaktik, speziell in der Diglossie-Situation der Deutschschweiz; soziolinguistische Fragen; Schreiben und Schriftlichkeitsentwicklung. Mitherausgeber «Der Deutschunterricht» und «Schweizer Schule». IWAR WERLEN, seit 1988 Professor für allgemeine Sprachwissenschaft an der Universität Bern. Studium von Germanistischer Lingusitik und Dialektologie, Neuerer deutscher Literatur, Philosophie und allgmeiner Sprachwissenschaft. Dr. phil. 1975 mit der Dissertation «Lautstrukturen der Mundart von Brig». PD 1981 für allgemeine Sprachwissenschaft mit der Habilitationsschrift «Ritual und Sprache». 1973-1986 Assistent und Oberassistent an der Universität Bern, 1978-1984 prof, assistant (Teilzeit) für linguistique allemande an der Universität Genf, 1986-1988 Professor für germanistische Linguistik an der Universität Mannheim. Publikationen und Forschungsarbeiten zur Deutschschweizer Dialektologie, zur Soziolinguistik, zu Fragen der Mehrsprachigkeit, zur Kategorie der Modalität, zu rituellem Sprachgebrauch und zur Gesprächsanalyse.