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German Pages [520] Year 2012
Norbert Bischof
Moral Ihre Natur, ihre Dynamik und ihr Schatten
2012 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Moses zerbricht die Gesetzestafeln, Holzschnitt nach Gustav Doré (Foto: ullstein bild – The Granger Collection) © 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und buchbinderische Verarbeitung: Drukkerij Wilco, NL-Amersfoort Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-412-20893-6
Inhalt
Vorwort ........................................................................................................................
9
Erster Teil – Philosophie der Moral Kapitel 1 Werte und Tatsachen .................................................................................. Schlüsse und Trugschlüsse ........................................................................................
13 13
Eine aufschlussreiche Diskussion – Der naturalistische Trugschluss – Der moralistische Trugschluss
Moralisten und Empiristen .......................................................................................
17
Ideologische Standorte – Theorieverständnis – Menschenbild
Empirie der Moral ....................................................................................................
21
Grenzen der moralistischen Perspektive – Der moralistische Reflex: Eine Warnung – Drei sinnvolle Fragestellungen – Die vierte Frage
Kapitel 2 Was ist Wahrheit? ....................................................................................... Das Erwachen aus der Naivität .................................................................................
29 29
Die Würde des Menschen – Das trialistische Schema – Zentrifugales und zentripetales Wahrnehmungsverständnis
Das kognitive Potential der Adaptation ....................................................................
33
Evolutionäre Epistemologie – Veridikalität und Evidenz – Transzendentale Gedankenspiele
Ortho-, Para- und Metakosmos .................................................................................
38
Veridikalität und Objektvität – Veridikalität und soziale Wahrnehmung – Drei Klassen von Evidenz – Höhenlinien
Kapitel 3 Auf der Suche nach Letztbegründung ...................................................... Naturalistische Begründungsversuche .......................................................................
45 45
Natur und Setzung – Der historische Wandel des Naturbegriffs – Kritik des naturalistischen Ansatzes
Intuitionistische Begründungsversuche .....................................................................
49
Die geometrische Methode – Sachverhalte und „Wertverhalte“ – Kritik des intuitionistischen Ansatzes
Eudämonistische Begründungsversuche ....................................................................
54
Die egoistische Variante – Die utilitaristische Variante – Die harmonistische Variante – Hedonismus und Ungebundenheit – Kritik des eudämonistischen Ansatzes
Deontologische Begründungsversuche ......................................................................
61
Das Prinzip Pflicht – Das Gewissen – Formalismus und die Ethik der Tat – Der kategorische Imperativ – Kritik des deontologischen Ansatzes
Diskurstheoretische Begründungsversuche ............................................................... Die Transformation ins Soziale – Die Argumentation überhaupt – Performative Letztbegründung – Kritik des diskurstheoretischen Ansatzes
67
4 Inhalt Kapitel 4 Münchhausens Zopf .................................................................................. Das Elend der Philosophie .......................................................................................
74 74
Philosophia perennis? – Das Münchhausen-Trilemma
Postmoderner Karneval ............................................................................................
76
Das Ende der großen Erzählungen – Anti-Ethik
Der Souverän und das nackte Leben .........................................................................
79
Homo sacer – Biopolitik
Wassermusik .............................................................................................................
83
Sprachbarrieren – Der Wohlklang der Worte – Das Möbius-Band – Zurück zu den Sachen
Kapitel 5 Mechanik und Intentionalität ................................................................... Freiheit und Vorhersagbarkeit ...................................................................................
90 90
Das Leib-Seele-Problem – Moral und Gesetz – Das Jaynessche Prinzip – Quantensprünge
Dimensionen anschaulicher Kausalität .....................................................................
95
Die Achse der Intentionalität – Die Achse der Determination – Die Achse der Autonomie – Die historische Erschließung der drei Dimensionen
Moral und Intentionalität ......................................................................................... 100 Das Trolley-Problem – Notwendigkeit und Verantwortung – Verstehen oder verurteilen
Zweiter Teil – Genealogie der Moral Kapitel 6 Die ultima ratio .......................................................................................... 111 Psychologische Ordnungsversuche ............................................................................ 111 Moral als Motiv – Der milieutheoretische Zugang – Der schichttheoretische Zugang
Anlage und Umwelt ................................................................................................. 115 Die Angst um die Freiheit – Adaptation und Bedeutung – Alimentation – Stimulation – Unausweichliche Folgerungen
Das Eleusische Fest ................................................................................................... 122 Kopernikus, immerhin – Die Segnungen der Ceres – Gesellschaft als Übernatur
Evolution und Historie ............................................................................................. 130 Die „erste“ und die „zweite“ Natur – Die Umpolung der Adaptation – Die Dekonstruktion der natürlichen Umwelt – Die Entmachtung der Selektion – Der ungleiche Wettlauf
Kapitel 7 Mutmaßungen über den Menschen ......................................................... 140 Die Frage Kants ........................................................................................................ 140 Randkontraste – Der Wettstreit der Perspektiven – Evolution und Metamorphose
Defizitäre Deutungsansätze ...................................................................................... 145 Unzulängliche Definitionsversuche – Das „Mängelwesen“ – Der Hiatus
Innovative Deutungsansätze ..................................................................................... 150 Reflexion – Sprache – Zeitbewusstsein
Kapitel 8 Evolutionäre Anthropologie ...................................................................... 157 Das Kräftespiel der Instinkte .................................................................................... 157 Die instinktive Grundausstattung – Der Coping-Apparat – Die Erschließung der Endsituation
Inhalt 5
Die innere Probebühne ............................................................................................. 162 Die Erfindung der Phantasie – Sprachliche Präadaptation – Das Lächeln der Cheshire-Katze
Der Hiatus der Selbstkontrolle ................................................................................. 166 Das Problem des Antriebsmanagements – Primäre und sekundäre Zeit – Santinos Munitionsdepot – Exekutive Kontrolle
Die Grammatik der Kommunikation ....................................................................... 172 Der gemeinsame Bau am Weltgerüst – Universale Grammatik – Die kommunikative Funktion der Syntax
Kapitel 9 Die beunruhigenden Musen ..................................................................... 180 Identität ................................................................................................................... 180 Kategorien – Diachrone Identität – Synchrone Identität – Permanente Identität
Exzentrizität ............................................................................................................. 186 Das „I“ und das „me“ – Empathie – Theory of Mind – Reflexion auf Bezugssysteme
Aeternität ................................................................................................................. 194 Zwischen zwei Nichtse eingekrümmt – Die offene Zukunft – Missweisungen der permanenten Identität
Kapitel 10 Moralanaloges Verhalten ......................................................................... 200 Definitionsfragen ...................................................................................................... 200 Bedeutungsverwandte Begriffe – Erste Arbeitsdefinition von Moral
Nächstenliebe ........................................................................................................... 203 Gruppenselektion – Die Rolle der Blutsverwandtschaft – Vertrautheit und Fremdheit
Fernstenliebe ............................................................................................................ 208 Die Funktion der Sexualität – Die fehlfarbige Königin – Die Keime des Kosmopolitismus
Verwandtschaftsneutrale Prosozialität ....................................................................... 211 Spieltheoretische Anleihen – Falken, Tauben und Vergelter – Reziproker Altruismus
Diesseits des Tauschprinzips ..................................................................................... 216 Ultimate und proximate Erklärungen – Können Tiere „Buch führen“? – Der bekannte Unbekannte
Kapitel 11 Der moralische Instinkt ........................................................................... 222 Soziogene Moral ....................................................................................................... 222 Zweite Arbeitsdefinition von Moral – Das Volk ohne Liebe – Stimulation oder Alimentation?
Biogene Moral .......................................................................................................... 226 Jenseits von Gut und Böse – Moralische Grammatik – Wider eine „Fassadentheorie“ der Moral – Die Kontinuitätsannahme
Das labile Gleichgewicht .......................................................................................... 233 Der innere Schiedsrichter – Der Fluch der Sekundärzeit – Der Drang zur Mitte
Eine neue Geschichte der Menschheit ...................................................................... 238 Die Erfindung der Elternliebe – Das Ende der Gewalt – Die inneren Dämonen und die besseren Engel – Die Intentionalität der Meme
6 Inhalt Dritter Teil – Synergie der Moral Kapitel 12 Soziale Selbstorganisation ........................................................................ 251 Die Entstehung von Struktur ................................................................................... 251 Autopoiese – Dissipative und konservative Strukturen – Enkrustation
Soziologische Analogien ........................................................................................... 256 Gesellschaft als dissipative Struktur – Die Metapher der „Versklavung“ – Bifurkationen und lokale Minima – Phasenübergänge
Wertgefühl und Normen .......................................................................................... 261 Das normative Korsett – Stabilisierende Effekte – Spielarten der Sanktion
Sozialstruktur und Motivstruktur ............................................................................. 266 Die Frage der „Materialeigenschaften“ – Der „psychische Apparat“ – Gewissen und Gemüt
Kapitel 13 Moralische Entwicklung .......................................................................... 272 Genetische Epistemologie ......................................................................................... 272 „Heteronome“ und „autonome“ Moral – Ein Schlupfloch für den naturalistischen Trugschluss?
Die Ontogenese des moralischen Urteils ................................................................... 275 Dilemmata – Das „präkonventionelle“ Stadium – Das „konventionelle“ Stadium – Das „postkonventionelle“ Stadium
Methodenfragen ....................................................................................................... 282 Kritische Stimmen – Explizite und implizite Moral – Sachimmanente Entfaltungslogik?
Kapitel 14 Die Regulation der sozialen Distanz ...................................................... 287 Die Wahlverwandtschaften ....................................................................................... 287 Sympathie und Antipathie – Chemie als Modell – Blutsverwandtschaft und Wahlverwandtschaft
Kybernetik der Bindungsmotivation ......................................................................... 290 Die Bindungstheorie – Sicherheit und Erregung – Synchronisation und Dominanz – Alpha- und Omega-Hierarchie – Autonomie und Sexualität
Soziale Entwicklung ................................................................................................. 297 Kindheit und Adoleszenz – Sekundäre Bindung – Akklimatisation und Revision
Kapitel 15 Gut und Böse ............................................................................................ 304 Psychische Grenzen .................................................................................................. 304 Distanzäquivalente – Verschmelzende und spiegelnde Identifikation – Ichgrenze und Ranghöhe
Liebe und Hass ......................................................................................................... 307 Pro bono – contra malum – Lebenstrieb und Todestrieb – Bindung und Auflösung – Libido und Destrudo
Das sogenannte Böse ................................................................................................ 314 Reaktive Aggression – Spontane Aggression – Die Blüte aus dem ruppigen Ast
Kapitel 16 Tugend und Schönheit ............................................................................. 320 Autonomie und Altruismus ...................................................................................... 320 Von der philonikia zur philotimia – Status auf zwei Ebenen – Selbstwertgefühl und Leistungsmotivation – Die Attraktivität der Tüchtigkeit – Areté und Hilfsbereitschaft
Inhalt 7
Das Problem der Kalokagathia ................................................................................. 326 Areté als Schönheit – Die „graue Seele“ – Soziologische Erklärungsversuche – Soziobiologische Erklärungsversuche
Das „ästhetische Werturteil“ ..................................................................................... 332 Ethologische Erklärungsversuche – Das Erscheinungsbild der Selbstdomestikation – Evolutionsstabile Gruppenselektion – Kritik des ästhetischen Werturteils
Kapitel 17 Der Werthöhensinn ................................................................................. 339 Richtung und Gewicht von Werten .......................................................................... 339 Moral und Werthöhe – Das Relativismusproblem – Kulturvergleichende Studien – Werte und Motivdynamik
Gerechtigkeit ............................................................................................................ 347 Das bindende Versprechen – Das Prinzip des sozialen Gleichgewichts – Reziprokation – Solidarität – Die Energie des Ungleichgewichts
Reinheit ................................................................................................................... 353 Die Vollkommenheit der Person – Phylogenese der Reinheit – Prägnanz – Rein bleiben und reif werden
Kapitel 18 Schuld und Scham ................................................................................... 363 Zur Phänomenologie des Schuldgefühls ................................................................... 363 Schuld und Gehorsam – Schuld und Ausgleich – Schuld und Permanenz
Psychodynamik der Schuld ....................................................................................... 367 Status und Besitz – Dysfunktionale Effekte – Strategien der Schuldreduktion
Zur Phänomenologie des Schamgefühls ................................................................... 373 Scham und Schwäche – Scham und Aufmerksamkeit – Scham und Grenze – Scham und Reinheit
Psychodynamik der Scham ....................................................................................... 380 Das schutzbedürftige „I“ – Abgrenzung und Schuldfähigkeit – Scham und Aufwand – Aidos und ais’chyne
Vierter Teil – Paradoxie der Moral Kapitel 19 Die Relativitätstheorie der Moral ........................................................... 393 Das Bindemittel der Identifikation ........................................................................... 393 Biologische Wurzeln der Vergesellschaftung – Die beiden Achsen der permanenten Identität – Gestaltfaktoren der Identifikation – Identität und Gleichheit – Global village?
Die Geschichte von der Kosbi .................................................................................. 405 Säuberung – Integration oder Ausrottung – Als Kaiser Rotbart lobesam
Gott und der Teufel .................................................................................................. 409 Die Moral und ihr Schatten – Das Forum der Pharisäer – Gnadenlose Pflicht
Das antisoziale Dreieck ............................................................................................. 413 Der Krieger und sein Feind – Der Mörder und sein Opfer – Der Henker und sein Täter – Die Relativität der Perspektive
8 Inhalt Dilemmata und Paradoxe ......................................................................................... 417 Der Radius der Wir-Gruppe – Die Frage der Kriegsschuld – Die Immunität der Nichtkombattanten – Gottesurteil und Siegerjustiz
Kapitel 20 Der Meister aus Deutschland ................................................................. 424 Die dunkle Seite der Macht ...................................................................................... 424 Die These der Singularität – Die Shoah-Identität – I’m bad
Stereotype ................................................................................................................ 431 Das Ärgernis des Nationalcharakters – Sir Roger’s Smoking – Das Bild vom anderen
Der hässliche Deutsche ............................................................................................. 434 Ordnung und Maßlosigkeit – Machthunger und Unterwürfigkeit – Sentimentalität und Gemütskälte
Akademische Deutungen .......................................................................................... 438 Der autoritäre Charakter – Hitlers willige Vollstrecker – Ganz normale Männer – Intentionalisten und Funktionalisten – War Hitler ein Mensch?
Kapitel 21 Das Volk ohne Grenzen ........................................................................... 447 Der Gottesstaat ........................................................................................................ 447 Der Leviathan – Die Sozialstruktur der Kapauku – Die Sozialstruktur der Tsonga – Demos und Ethnos
Die Immunschwäche des Leviathan .......................................................................... 454 In etwas Größerem aufgehen – Das Böse in den Genen – Die Trägheit der Meme – Kultur als Inzuchtgemeinschaft
Der „spatial turn“ ..................................................................................................... 461 Gesellschaft und Raum – Historische Positionen – Die Wiederentdeckung des Raumes – Geographie als Schicksal?
Kapitel 22 Die eigene Gebärde .................................................................................. 470 Das Unbehagen in der Leitkultur ............................................................................. 470 Die „deutsche Geste“ – Erste Nachkriegs-Modelle – Der Historikerstreit – Anschwellender Bocksgesang – Die Moralkeule
Ablösung und Rückbindung ..................................................................................... 477 Die Dialektik der Adoleszenz – Die Ladung der Identitätsachsen – Die Spiegelung in der Zeit
Degeneration ............................................................................................................ 481 Verschmelzung und Distanzierung – Die Apotheose der Sicherheit – Die Apotheose der Erregung – Die Disruption der Werthaltungen
Die Moral von der Geschichte .................................................................................. 487 Patchwork-Identität? – Nie wieder! – Unverkrampft ist leicht gesagt
Literatur ............................................................................................................ 496 Abbildungsnachweise ........................................................................................ 503 Namen- und Sachregister .................................................................................. 504
Vorwort Dieses Buch handelt von der nobelsten, segensreichsten Errungenschaft der Humanität, der Krönung des Schöpfungswerkes. Es handelt von dem gefährlichsten, erbarmungslosesten Mordinstrument, dem mehr Menschen ihr Leben opfern mussten als den schlimmsten Naturkatastrophen. Es handelt von einem Schatz, dessen Makellosigkeit Festredner in vorgestanzten Wortschablonen zu preisen pflegen, ohne die Schlangen und Skorpione zu bemerken, die sich unter ihm sammeln. Es handelt von Gut und Böse, die sich als Antipoden gebärden und doch nur zwei Seiten derselben Sache sind. Es handelt von der Moral. In unserem Land hat dieses Thema noch eine besondere Bedeutung. Unsere Geschichte hat uns dazu gebracht, das Volk der Juden in der tausendjährig ertragenen Rolle als Verkörperung des Bösen abzulösen. Der Tiefpunkt menschlicher Verworfenheit hat sein Symbol heute nicht mehr in der Kreuzigung Jesu, sondern im Holocaust, und der Teufel trägt jetzt die Züge des SS-Schergen. Die „späte Geburt“ erweist sich hier als eine trügerische Gnade: Wir müssen erkennen, dass Schuld und Scham keine Privatsache der Täter sind. All das ist Grund genug, sich mit der Psychodynamik der Werte zu beschäftigen und zu untersuchen, wie die Mechanismen funktionieren, die ihr zugrunde liegen. Von diesem brisanten Stoffgebiet handelt das Buch. Dabei geht es nicht darum, die trivialen Klischees bestätigend nachzuzeichnen, die jedem ohnehin geläufig sind. Gut und Böse haben eine Tiefendimension, die sich aus der Oberfläche des Weltgeschehens nicht ohne weiteres erschließt. Das Buch soll die systemischen Hintergründe des moralischen Erlebens, Verhaltens und Urteilens ausloten und sich dabei nicht scheuen, unbequeme Fragen aufzuwerfen, wohlfeile Antworten zu problematisieren, Tabus in Frage zu stellen und dort, wo das Undenkbare sichtbar zu werden droht, die Augen geöffnet zu halten. Ich schreibe dieses Vorwort beim Eintritt in mein neuntes Dezennium. Das klingt schlimmer, als es heutzutage ist, und es hat auch seine Vorzüge. Ein Buch über Moral kann eigentlich nur in der Abenddämmerung des Lebens reifen. Und auch dann nur, wenn einem zuvor die Versuchung erspart blieb, sich der Karriere zuliebe in sterilem Spezialistentum zu verlieren. Kaum irgendwo wird so unabweislich wie bei diesem Thema die Nötigung spürbar, Einsichten aus verschiedensten Wissensbeständen zusammenzuführen – von der Erkenntnistheorie über die Allgemeine Psychologie und die Evolutionsbiologie bis zur Soziologie und Kulturanthropologie. Und – leider – auch, nun gut, vielleicht nicht mehr die Theologie, aber doch immerhin die Philosophie muss man, ach! mit heißem Bemüh’n studiert haben. Manche meinen zwar, sie sei längst zu einem Jahrmarkt der Eitelkeiten verkommen, aber das kann nur beurteilen, wer sich zuvor selbst in diese Spielwiese ungeerdeter Spekulationen hineinbegeben und darauf vertraut hat, für solches Bemühen mit der Frucht vom Baum der Erkenntnis belohnt zu werden. Das Buch bildet den Abschluss einer Trilogie, die vor vierzig Jahren mit den Titeln „Das Rätsel Ödipus“ und „Das Kraftfeld der Mythen“ etwa zeitgleich in Angriff
10 Vorwort genommen wurde. Auslösend war eine Einladung von Gunther Stent, 1977 auf einer Dahlem-Konferenz zum Thema „On the Phylogeny of Human Morality“ zu referieren. Mein Korreferent war damals John Maynard Smith. Seitdem habe ich über das Thema geforscht, nachgedacht, Material gesammelt, Vorträge und Vorlesungen gehalten. Und ich habe über alle erdenklichen Detailfragen mit so vielen Kollegen aus den verschiedensten Disziplinen diskutiert, dass ich schlechterdings nicht mehr in der Lage bin, ihnen hier unter Namensnennung persönlich zu danken. Rückblickend bemerke ich beim Vergleich der genannten Bücher eine zunehmende Steigerung der stilistischen Disziplin. Beim „Rätsel Ödipus“ konnte die Lektüre noch stellenweise zum spielerischen Verweilen einladen und einfach nur Spaß machen. Dem „Kraftfeld der Mythen“ kam der Auflockerungseffekt der narrativen Inhalte zugute. Beim vorliegenden Buch geht es konzentrierter zur Sache, wofür ich nicht zuletzt Ulrich Nolte zu danken habe, der die Entstehung des Manuskripts über Jahre hinweg kritisch und anregend begleitet hat. Kurzfristig bestand die Versuchung, zum lockeren Duktus des „Ödipus“ zurückzukehren, das habe ich aber schnell wieder bleiben lassen. Erstens würde eine solche Darstellungsform, wenn sie sich wiederholt, zur Manier ausarten. Und zum anderen verbietet der Ernst des Themas ein Abgleiten in den Plauderton. Das Buch ist, wie ich hoffe, dennoch stimulierend und informativ geschrieben; aber es richtet sich an Leser, die zur Auseinandersetzung bereit sind. Es ist ein anspruchsvolles Sachbuch der alten Art, für die sich heute kaum ein Autor mehr die Zeit nimmt. Dass es überhaupt erscheinen konnte, ist nicht selbstverständlich. Die Buchindustrie kämpft im digitalen Zeitalter zunehmend um ihre Existenz. Sie entkommt immer schwerer der Diktatur des billigen, am Talkshow-Niveau geeichten und an kurzlebige Sensationslust appellierenden Bestsellers, der in vielstöckigen LiteraturSupermärkten auf Rampe liegt. Insofern habe ich Grund, Max Höfer, Alexander Demandt, Ernst Peter Fischer und Heiko Ernst zu danken, die mir behilflich waren, nach dem Ende der Ära von Klaus Piper neue Verlagskontakte zu knüpfen. Und ich danke Johannes van Ooyen vom Böhlau-Verlag dafür, dass er den Mut hatte, sich auf das Unternehmen einzulassen. Bernried, im Dezember 2011 Norbert Bischof
Kapitel 1 Werte und Tatsachen Schlüsse und Trugschlüsse Eine aufschlussreiche Diskussion Im August 1992 kam es in Rostock zu einem Pogrom gegen vietnamesische Asylbewerber. Jugendliche Täter aus der rechtsextremen Szene warfen Steine und MolotowCocktails, wobei sie von einer großen Menge Schaulustiger beobachtet und teilweise sogar angefeuert wurden. Die Polizei brauchte einen vollen Tag, um die Situation unter Kontrolle zu bringen. Der „Spiegel“ veröffentlichte im folgenden Monat ein Streitgespräch, das der damalige Münchner Oberbürgermeister Georg Kronawitter, ein der politischen Mitte zugewandter Sozialdemokrat, mit dem niedersächsischen Minister Jürgen Trittin, zumindest in jenen Tagen noch Exponent des „fundamentalistischen“, also kompromisslos „links“ stehenden Flügels der Grünen, über Asylpolitik geführt hat. Kronawitter: „(In Rostock) herrscht Massenarbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Zukunftsangst, da kommt Wut auf gegen die Verhältnisse. Es wird ein Sündenbock gesucht, und schon trifft es die Schwächsten, Asylbewerber und andere Ausländer.“ Trittin: „Moment mal. Arbeitslosigkeit ist kein Grund, sich als Schwein aufzuführen. Im übrigen ist für die schlechte wirtschaftliche Lage speziell in Ostdeutschland die Bundesregierung verantwortlich. ... Eben diese Bundesregierung schürt das Chaos mit den Asylbewerbern offensichtlich bewusst, um Stimmung zu machen. ... Das soll von den eigenen Fehlern ablenken.“
Wie wird hier diskutiert? Der eine Gesprächspartner stellt eine empirische These auf, er behauptet einen psychologischen Kausalzusammenhang: Frustration führe zu Aggression, Aggression suche sich geeignete Sündenböcke, und so kämen die Übergriffe zustande. Wie das zu bewerten sei, ist nicht Inhalt seines Arguments. Kronawitter redet als Realpolitiker: Es ist davon auszugehen, dass Menschen nun einmal so sind, sagt er, und wir haben diese Dynamik in Rechnung zu stellen, wenn wir derartige Exzesse verhindern wollen. Eine solche empirisch verstandene These kann natürlich als Ganze oder in Teilen falsch sein, und wenn sein Gegenüber ihr auf der Sachebene widersprochen hätte, wäre eine Diskussion möglich gewesen. Tatsächlich sagt dieser aber etwas anderes. Arbeitslosigkeit sei kein „Grund“, Asylantenheime zu überfallen. Er formuliert es drastischer: Sie sei kein Grund, „sich als Schwein aufzuführen“. Diese Formulierung behauptet nun aber gar keinen Kausalzusammenhang, sondern sie fällt ein moralisches Werturteil.
14 Kapitel 1. Werte und Tatsachen Auch auf dieser Diskussionsebene könnte man einsteigen und Trittin fragen, ob ihm beispielsweise für die Tötung Bubacks durch die RAF die Formulierung „sich als Schwein aufführen“ ebenfalls angemessen erschiene. Vielleicht hätte er das – zumindest damals noch – nicht so rundheraus bejaht, und dann hätte sich auch dieser Standpunkt weiter reflektieren und problematisieren lassen. Darum geht es im vorliegenden Zusammenhang aber nicht. Es kommt vielmehr darauf an zu verstehen, dass das Wort Grund bei den beiden Kontrahenten eine völlig verschiedene Bedeutung hat. Beim einen heißt es soviel wie Ursache, beim anderen soviel wie Rechtfertigung. Der eine redet von Kräften und Spannungen, Antrieben und Hemmungen, der andere von Pflichten und Rechten, Schuld und Billigkeit. Der eine argumentiert auf der Ebene des Seins, der andere auf der des Sollens. Diese beiden Ebenen sind offenbar nicht so leicht in einen logischen Zusammenhang zu bringen. Zwischen ihnen besteht, so scheint es, ein eigentümliches Ausschließungsverhältnis.
Der naturalistische Trugschluss Falls das aber so ist, worauf lässt man sich dann eigentlich ein, wenn man als Vertreter einer empirischen Wissenschaft die Moral zu seinem Gegenstand macht? Tritt man nicht von vornherein zu dem vergeblichen Versuch an, Unvereinbares zu mischen? Wissenschaftstheoretiker haben eine Warntafel errichtet, die helfen soll, dies zu verhindern. Sie trägt die etwas missverständliche Inschrift „Naturalistic Fallacy“, die ihr der Philosoph G. E. Moore gegeben hat.1 Worum es dabei eigentlich geht, ist das Verbot, vom Sein aufs Sollen zu schließen. Der erste, der das Problem in voller Deutlichkeit artikuliert hat, war der britische Empirist David Hume. In seinem 1740 erschienenen Treatise of Human Nature findet sich die folgende Betrachtung:2 In jedem Moralsystem, dem ich bislang begegnet bin, habe ich stets bemerkt, dass der Autor zunächst einige Zeitlang auf die übliche Weise argumentiert, also etwa die Existenz eines Gottes feststellt oder Betrachtungen über menschliche Angelegenheiten anstellt. Dann plötzlich aber stoße ich zu meiner Überraschung nur noch auf Aussagen, die anstelle der üblichen Copula ist oder ist nicht ein soll oder soll nicht enthalten. Dieser Wechsel ist unmerklich, aber von weittragender Konsequenz. Denn da dieses soll oder soll nicht eine neue Relation oder Affirmation ausdrückt, müsste dies doch bemerkt und erläutert werden.2
Auf der Ebene der Seins-Aussagen läuft letztlich alles auf die Frage hinaus, ob sie wahr sind oder nicht. Die Kontrolle des Wahrheitswertes nennt man Verifikation. Um eine Aussage zu verifizieren, muss man sie auf andere Aussagen zurückführen, deren Wahrheitswert bereits als gesichert gilt. Solche Voraussetzungen nennt man Prämissen. 1 Moore (1922) 2 Hume (1888) p. 469
Schlüsse und Trugschlüsse 15
In konkreten Debatten werden meist nicht alle Prämissen explizit angeführt. Manche hält der Sprechende einfach für selbstverständlich und denkt nicht weiter darüber nach. Ein solches verkürztes Argument nennt man ein Enthymem, was wörtlich soviel heißt wie „stillschweigend mitgedacht“. So könnte jemand meinen „Der Mann ist ein Deutscher. Also wird er auch für Nazi-Parolen anfällig sein.“ Die zu ergänzende Prämisse würde hier etwa lauten „Die Mehrzahl der Deutschen neigt heute wie ehedem zum Rassismus.“ Der Sprecher hat sie nicht eigens formuliert, vielleicht nicht einmal reflektiert, er hält sie einfach für trivial und unterstellt dasselbe auch beim Zuhörer. Gelegentlich wird die Unvollständigkeit solcher Argumente bemerkt, und dann kommen Abhandlungen wie etwa das Buch von „Hitlers willigen Vollstreckern“ auf den Markt, die die übersprungene Voraussetzung explizit artikulieren. Meist bleiben Enthymeme aber unausgesprochen. Das kann zu erheblichen Verwerfungen in der Kommunikation führen, wenn sie in Wirklichkeit gar nicht so selbstverständlich sind, wie sie dem Sprecher scheinen, und der Angeredete, ebenso unreflektiert, von ganz anderen Prämissen ausgeht. Häufig werden in einer Argumentation Tatsachen festgestellt oder behauptet. Wir sprechen dann von indikativen Aussagen. Moralische Urteile klingen jedoch anders. Bei ihnen geht es nicht um Sachverhalte, sondern um Handlungsregeln; sie sind nicht indikativ, sondern imperativ. Sprachlich kommt das darin zum Ausdruck, dass bei ihnen an Stelle des Hilfsverbs „ist“ ein „soll“ oder „darf“ steht. Auch imperative Sätze bedürfen der Begründung; diese dient dann aber nicht der Verifikation, sondern sie hat den Charakter einer Legitimation. Damit diese logisch korrekt ist, muss unter ihren Prämissen mindestens eine bereits ihrerseits imperativ sein. Verifikation allein kann nie zu Legitimation führen. Den naturalistischen Trugschluss begeht, wer gegen diese Regel verstößt und versucht, aus lauter indikativen Prämissen eine imperative Folgerung abzuleiten. Moralphilosophen haben das freilich immer wieder versucht, ähnlich wie ja auch unermüdliche Erfinder bis heute nicht aufgehört haben, die Patentämter mit Plänen für ein endlich doch funktionierendes Perpetuum mobile zu bestürmen. Häufig werden auch imperative Sätze durch Enthymeme begründet. So folgert beispielsweise die katholischen Moraltheologie aus der indikativen Voraussetzung, die Sexualität diene „von Natur aus“ der Fortpflanzung, dass der eheliche Akt sündhaft sei, wenn er mit Maßnahmen verknüpft wird, die die Zeugung verhindern. In dieselbe Kategorie fällt die häufig geübte Herleitung einer moralischen aus einer statistischen Norm, die als solche ja immer nur indikativ sein kann. Hierher würde etwa die entschuldigend gemeinte Feststellung „er ist nun mal ein Mann; also muss man ihm zubilligen, dass er gelegentlich fremdgeht!“ gehören. Solche Figuren sind noch nicht als naturalistischer Trugschluss anzusprechen, da sich zu ihnen in der Regel eine imperative Prämisse ergänzen lässt, etwa in Form der Aussage „Man soll der Natur nicht zuwiderhandeln!“ Logisch wäre gegen eine solche Argumentation nichts einzuwenden; die Frage ist nur, ob man diese stillschweigende Voraussetzung ihrerseits für legitim hält.
16 Kapitel 1. Werte und Tatsachen Würde sie nicht beispielsweise den Triebverbrecher rechtfertigen, in dessen „Natur“ nun einmal das Morden liegt? Oder die Lynchjustiz, wenn sie dem „gesunden Volksempfinden“ entspringt? Wäre nicht, in letzter Konsequenz, umgekehrt der Zölibat als „naturwidrig“ und damit unmoralisch einzustufen?
Gewiss gibt es Formen der Unmoral, die uns „widernatürlich“ anmuten. Häufig scheint aber auch gerade hochmoralisches Handeln natürlichen Impulsen zuwiderzulaufen, sie zu korrigieren und hinter sich zu lassen. Das Verhältnis der Moral zur Natur ist erheblich komplizierter, als diese Prämisse unterstellt.
Der moralistische Trugschluss In der moralischen Aufbruchstimmung der Achtundsechziger Jahre wurde das Verdikt des naturalistischen Trugschlusses vor allem als Waffe gegen die Biologie eingesetzt. Es war die Zeit der leidenschaftlichen Auseinandersetzung mit Konrad Lorenz, dem man vorwarf, durch das Postulat eines von tierischen Vorfahren ererbten Aggressionstriebes und die Behauptung seiner „arterhaltend zweckmäßigen“ Funktion Angriffskriege und Vernichtungslager legitimiert zu haben. Kaum einem von denen, die so argumentierten, ist je bewusst geworden, dass sie den logischen Fehler, den sie brandmarkten, in Wirklichkeit selbst begangen und in das kritisierte Werk hineinprojiziert hatten, freilich unter Umkehrung der Satzfolge. Sie hatten nämlich einfach nur Prämisse und Schlussfolgerung vertauscht. Sie leugneten die Naturgegebenheit eines Sachverhaltes, weil sie fürchteten, daraus unerwünschte Normen ableiten zu müssen. Der logische Fehler besteht in diesem Falle darin, dass eine indikative Aussage aus einem Imperativ gefolgert wird. Das hat schon Morgenstern mit dem unsterblichen Vers „weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf“ ironisiert. Wir wollen diesen Denkfehler als den moralistischen Trugschluss bezeichnen. Er ist formal dem naturalistischen analog. Wer also beispielsweise Frauen und Männern unter Berufung auf ihre naturgegebene Verschiedenheit unterschiedliche Rechte einräumen bzw. vorenthalten möchte, begeht einen naturalistischen Trugschluss. Würde man jedoch unter Berufung auf ihre Gleichberechtigung ihren natürlichen Unterschied leugnen, so liefe dies auf den moralistischen Trugschluss hinaus. Der Schluss vom Sollen aufs Sein ist offensichtlich ebenso unzulässig wie der vom Sein aufs Sollen: Es führt tatsächlich keine logische Brücke über die Kluft zwischen beiden Sinnbereichen.
Moralisten und Empiristen 17
Moralisten und Empiristen Ideologische Standorte Vergleicht man die Begründungsnot der heutigen Ethik mit der imposanten Geschlossenheit des mittelalterlichen Weltbildes, so drängt sich der Eindruck des Zerfalls auf. Noch Thomas von Aquin hat das Gute, das Wahre und das Sein überhaupt als nur drei Perspektiven einer und derselben Wirklichkeit aufgefasst. Die berühmte Formel, die damals seine Studenten auswendig lernten, lautete Ens et Verum et Bonum convertuntur
was sich etwa so übersetzen lässt: In jedem logisch korrekten Satz kann man das Wort „ist“ wahlweise gegen „ist wahr“ und „ist gut“ eintauschen. Ob ich „er ist ein wahrer Freund“ oder „er ist ein guter Freund“ oder nur einfach „er ist ein Freund“ sage, bleibe sich letztlich gleich. Wo also soll der Unterschied zwischen Indikativ und Imperativ liegen? Inzwischen ist die Einheit des thomistischen Weltbildes längst auseinandergebrochen. Heute ist das Ens, in dem früher einmal Gott und die Welt vereint waren, unter dem Bombardement erkenntniskritischer Zweifel auf einen Restbestand dokumentierbarer Protokollsätze zusammengesintert; es hat sich zur Empirie konkretisiert. Für das Bonum ist in diesem Wirklichkeitsrudiment kein Platz mehr, es hat sich im Subjektraum einer Moral verbarrikadiert, die den Verlust ihrer Verankerung im Sein sehr wohl spürt, dadurch aber nicht etwa duldsamer geworden ist, sondern an die Stelle MORAL indikativer Begründungsversuche nur die subjektive EviBONUM denz einer nicht mehr verhandelbaren Gefühlsreaktion zu THEORIE VERUM setzen vermag. ENS Was aber ist aus dem Verum geworden? Es schwebt heute EMPIRIE bar aller Selbstgewissheit als bloße Theorie im Niemandsland zwischen den Evidenzpfeilern der sinnlichen Erfahrung und Mittelalter Moderne der emotionalen Betroffenheit und hat alle Mühe, seinen Halt wenigstens bei einem der beiden entfremdeten Abbildung 1.1 Der neuzeitliche Zerfall der Geschwister zu finden (Abbildung 1.1). Auf diese Weise thomistischen Weltbetrachtung haben sich zwei unvereinbare Positionen polarisiert: Entweder die Theorie stützt sich auf ihr Vermögen, Empirie abzubilden und vorherzusagen, oder sie beruft sich auf ihre moralischen Implikationen und führt deren erfühlbare Werthaltigkeit ins Feld. Kompromisse scheinen hier instabil; man tut gut daran, jeweils einen der beiden Pole als Standort zu wählen und den anderen mehr oder minder konsequent auszublenden. Wir nennen das die empiristische und die moralistische Position. Der politische Slang hat diesen beiden Haltungen die Etiketten „Realos“ und „Fundis“ aufgedrückt. Dagegen ist nichts einzuwenden. Falsch wäre es freilich, wenn
18 Kapitel 1. Werte und Tatsachen man sie auch mit dem von „Rechts“ und „Links“ gleichsetzte. Wir haben es vielmehr mit zwei unabhängigen Dimensionen zu tun. Wenn man also die Links-Rechts-Achse horizontal darstellt, müsste man den empiristischen und den moralistischen Pol vertikal anordnen. Allerdings gilt für die horizontale Achse, dass „fundamentalistisch“ sie sich an ihren extremen Enden zum moralistischen Pol hin PRUDOLVWLVFK L L orientiert, und zwar auf beiden Seiten. Im Gegensatz zur ideologischen Neutralität der empiristischen Position ist für die OLQNV UHFKWV moralistische also eine Gabelung charakteristisch, die sie in eine „linke“ und eine „rechte“ Variante spaltet (Abbildung 1.2). Um diese etwas komplizierte Struktur zu verstehen, muss HPSLULVWLVFK S man die empiristische und die moralistische Perspektive „realpolitisch“ „realpolitisc realpolitisch“ l lili i h inhaltlich präzisieren. Hierfür ist es nützlich, das Theorieverständnis und das Menschenbild der beiden Ansätze zu verAbbildung 1.2 Die politische Gabelung am moralistischen Pol gleichen.
Theorieverständnis Am hitzigsten und medienwirksamsten ist die Kontroverse zwischen Empiristen und Moralisten wohl im sogenannten Positivismusstreit der Achtundsechziger Epoche ausgefochten worden. Das Lager, dem damals das Etikett „Positivismus“ anhaftete, vertritt dabei die empiristische Position in Reinform. „Wahr“ bedeutet hier einfach soviel wie „empirisch belegbar“ oder jedenfalls „durch keine widersprechenden Befunde falsifiziert“. Vom Wissenschaftler fordert man bedingungslose Objektivität; alles Subjektive, alle emotionale Betroffenheit, alle Warnrufe moralischer Bedenkenträger vernebeln aus dieser Sicht nur den klaren Blick, halten die Forschung auf oder führen sie gar in die Irre. Das Ideal der Wissenschaft ist die Wertfreiheit. Die Wertwelt selbst verliert damit freilich ihre ontologische Verankerung. Parallel zum wissenschaftstheoretischen etabliert sich daher ein Rechtspositivismus, dem nur noch übrigbleibt, die Geltung von Verhaltensvorschriften aus der freien Entscheidung des Gesetzgebers zu begründen. Zur Wertfindung trägt er dann höchstens noch dadurch bei, dass er für demokratische Transparenz sorgt. Die Vertreter der moralistischen Gegenposition apostrophierten sich selbst als „Kritische Theorie“. Für sie war kennzeichnend eine Abwertung der Empirie, die der Forderung nach Wertfreiheit an Radikalität nicht nachstand und im Übrigen deren symmetrisches Spiegelbild bildete (Abbildung 1.3). Man bestritt emphatisch die Möglichkeit voraussetzungsloser Forschung. Was immer Wissenschaftler behaupteten, selbst wenn sie angeblich unschuldige Empirie verkauften, sei vielmehr wesentlich eingefärbt von sogenannten erkenntnisleitenden Interessen, also verschwiegenen oder offenkundigen Wertvorstellungen, die längst über die Glaubwürdigkeit einer Aussage entschieden hätten, bevor der Forscher in seiner „fachidiotischen“ Naivität überhaupt daran gehe, nach vermeintlich objektiven Kriterien dafür zu suchen.
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Es ist nur konsequent, dass dieser Denkstil sich eine Sprache schuf, die sogar noch rein logische Beziehungen moralisierend umdeutete. So hat Darwin, wie man in einer Rezension im „Frauenbuch“ lesen konnte, gewisse Aspekte der weiblichen Evolution nicht etwa noch nicht bedacht, sondern „unterschlagen“. Und von (MORAL) MORAL einer wissenschaftlichen Behauptung sagte man nicht länger, sie müsse „bewiesen“ oder „falsifiziert“ oder einfach nur „überprüft“ :HUWIUHLKHLW werden. Vielmehr galten Theorien fortan als etwas, das einen THEORIE THEORIE „Geltungsanspruch“ erhob, und dieser war „einzulösen“ wie eine HUNHQQWQLVOHLWG,QW Verpflichtung oder ein Versprechen. Hier verdrängt offenkundig die Forderung nach Legitimation die nach Verifikation.
EMPIRIE
(EMPIRIE)
Wenn ein Autor Sympathien für die moralistische PerEmpirismus Moralismus spektive hegt, so ist das im allgemeinen leicht dem Duktus seiner Argumentation anzusehen. Redet er über eine wissenschaftliche Theorie, so hält er sich kaum beim em- Abbildung 1.3 Empiristisches und moralistisches Theorieverständnis pirischen Für und Wider auf; seine Wahrnehmung kreist vielmehr allein um die Frage, welche Geisteshaltung in ihr zum Ausdruck kommt. Genügt diese nicht den als evident unterstellten Korrektheitsanforderungen, so ist die betreffende Theorie damit bereits hinreichend „entlarvt“ und somit disqualifiziert. Dabei genügen Äußerlichkeiten. Ein aktuelles Beispiel liefert die Soziobiologie, bei der für so manchen ihrer Kritiker schon die verräterische Rede vom „Genegoismus“ zur Genüge zeigt, wes Geistes Kind sie ist; ihre Sachargumente interessierten dann noch etwa soviel wie die durchsichtigen Schutzbehauptungen eines überführten Kinderschänders.
Die Kritische Theorie verstand sich selbst als politisch am linken Rand angesiedelt; aus ihrer Perspektive konnte die positivistische Gegenposition also leicht als „faschistoid“ erscheinen. Wie aber schon angesprochen, verhält sich die Antithese von Moralismus und Empirismus als solche neutral in Bezug auf die Rechts-Links-Achse. Nur ist der moralistische Pol eben fast zwangsläufig auch ideologisch getönt. Wenn diese Tönung bei der Kritischen Theorie einen kräftigen Rotstich aufwies, so begegnen wir einer ganz ähnlich irrationalen Relativierung der Empirie auch in der braungefärbten Ideologie zugunsten des dort herrschenden Wertekodex. Man kann der faschistischen Weltanschauung gewiss keine übertriebene Wissenschaftsgläubigkeit nachsagen; ihrem romantischen Anti-Intellektua- SeinoSollen SeinpSollen lismus war allemal der Mythos wichtiger, und Hitlers AblehPRUDOLVWLVFK nung der Relativitätstheorie als „jüdisch“ hat vielleicht sogar dazu beigetragen, der Welt die deutsche Atombombe zu OLQNV UHFKWV ersparen. Ein gewisser Unterschied lässt sich allerdings insofern herHPSLULVWLVFK ausarbeiten, als im rechten Lager eher der Trugschluss vom Se Sein S in ) S Sollllen Sollen Sein aufs Sollen, im linken eher der vom Sollen aufs Sein üblich zu sein pflegt (Abbildung 1.4). Der empiristische Stand- Abbildung 1.4 Drei Auffassungen über ort definiert sich demgegenüber gerade durch die klare Tren- die Beziehungen von Sein und Sollen nung beider Ebenen.
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Menschenbild Wenn wir die moralistische Perspektive auf ihr Menschenbild hin befragen, empfiehlt es sich, die linke und die rechte Variante von vornherein zu trennen (vgl. dazu Abbildung 1.5). Am linken Rand unterstellt der Moralismus als selbstverständlich, dass es möglich ist, den Menschen zum Guten zu erziehen. Dabei bedient er sich zunächst antiautoritärer Mittel, er appelliert an die Einsicht des zu Belehrenden. Wird die Erwartung, dass das ausreicht, hinreichend lange enttäuscht, kann er allerdings zu recht drakonischen Zwangsmaßnahmen wechseln: Die Überzeugungsarbeit wird dann wirksam unterfüttert durch Konditionierung, wobei der Belohnung weniger zugetraut wird als der Bestrafung. Das Stichwort political correctness mag hier als Hinweis genügen. Wie sieht die Anthropologie aus, die sich in dieser Haltung niederschlägt? Zunächst einmal ist sie durch Rationalität gekennzeichnet. Der Mensch ist ein Wesen, dem man zutraut und abfordert, Vernunftargumenten zugänglich zu sein. Ein weiteres seiner Kennzeichen ist die Freiheit; allerdings eine besondere Art von Freiheit, die sich am besten durch den Begriff Plastizität kennzeichnen lässt. Von sich aus ist er ohne Struktur. Diese muss ihm aufgeprägt werden, und jede Schablone schafft das gleich effizient. Wenn sein Verhalten sich als falsch – also „böse“ – herausstellt, dann deshalb, weil ihm eine falsche Struktur aufgeprägt wurde. Falsche Strukturen ergeben sich aus falschen sozioökonomischen Verhältnissen, die daher entsprechend zu ändern sind, notfalls mit Gewalt. Das Menschenbild der äußersten Rechten ist im Gegensatz hierzu gekennzeichnet durch Irrationalität, durch romantische Gefühligkeit. Nicht von ungefähr wird die Weise, in der das rechte Lager argumentiert, meist als Erziehungg Auslese „Gefasel“ gebrandmarkt. Im übrigen ist die extreme Rechte auf ihre Weise aber ebenfalls moralistisch insofern, als auch PRUDOLVWLVFK L L sie auf Werturteilen fußt. Man braucht sich nur zu erinnern, OLQNV UHFKWV dass Moral das zentrale Thema Nietzsches gewesen ist, den die Ideologen des Dritten Reichs nicht ganz zu Unrecht als ihren Hausphilosophen betrachteten. Nietzsche hat zwar HPSLULVWLVFK S bekanntlich ein Werk mit dem Titel „Jenseits von Gut und Management Management geme Böse“ geschrieben; damit wollte er aber keineswegs moraliAbbildung 1.5 Drei Auffassungen sche Wertung abschaffen oder auch nur relativieren. Indem er über Maßnahmen zur Durchsetzung vielmehr die in seinen Augen verlogene Einstufung nach den moralischer Forderungen Kategorien „gut“ und „böse“ zertrümmerte, suchte er die wahre Werthierarchie freizulegen, die einer neuen Skala verpflichtet ist, nämlich der Dichotomie von „gut“ und „schlecht“, von edel und gemein, stark und schwach. Von dieser Moral wird nun freilich nicht mehr erwartet, dass sie durch Erziehung vermittelt werden könnte: Man hat sie im Blut, oder man hat sie nicht. Soll „Unmoral“, so verstanden, bekämpft werden, so bleibt als Maßnahme nur die Ausmerzung ihrer Träger.
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Dem empiristischen Menschenbild ordnet Abbildung 1.5 das Merkwort Management zu. Auch diese Position ist skeptisch gegenüber allzu hohen Erwartungen an die Rationalität des Menschen, und sie schätzt sein moralisches Potential eher nüchtern ein. In dieser Hinsicht könnte man sie in der Nähe der rechten Anthropologie lokalisieren, wäre da nicht andererseits ein wiederum der linken Überzeugung näherstehender Optimismus in Bezug auf die Freiheit des Menschen. Mit dieser ist nun allerdings nicht die strukturlose Plastizität einer Wachsplatte gemeint. Sie gleicht viel eher der Freiheit des Piloten, der im dreidimensionalen Luftraum seine Bahn ziehen kann, wie er will – vorausgesetzt, dass er die Instrumente richtig zu bedienen versteht. Ein Flugzeug ist ein hoch komplexes System mit einer subtilen Eigendynamik, und wenn man die nicht kennt und beherrscht, dann fliegt es nicht, wohin man will, sondern es stürzt ab. Auch der Mensch, so die empiristische Argumentation, ist ein hoch komplexes System mit einer natürlichen Eigendynamik, und wenn man ihm möglich machen will, sich in bestimmter Weise zu verhalten, muss man auf diese Eigendynamik gebührend Rücksicht nehmen. Damit ist nicht in Abrede gestellt, dass der Einzelne souverän mit Optionen spielen kann. Er fühlt sich in der Regel durchaus frei zu tun, was er will. Wenn er aber ehrlich ist, wird er bemerken, dass ihm die zur Wahl stehenden Alternativen unterschiedlich leicht fallen und in unterschiedlichem Ausmaß Spaß machen. Er wird nur selten das Gefühl haben, dass Wege, die er einzuschlagen sucht, ihm von Natur aus versperrt sind; aber sie sind unterschiedlich steil. Das hat nahezu automatisch die Konsequenz, dass die natürliche Motivdynamik, von der wir uns als Einzelne im Bedarfsfall durchaus dispensieren können, eben doch verlässlich durchschlägt, wenn wir uns zu einer Gruppe oder gar einer Masse zusammenschließen. Der Mensch, so die Quintessenz dieser Anthropologie, ist zugänglich für moralisch hochwertige Ziele, für Maximen wie zum Beispiel „Toleranz gegen Ausländer“ oder „Chancengleichheit für Frauen“; aber wenn man will, dass er sich diese Ziele wirklich zu eigen macht, dann muss man sie ihm auf eine Weise nahebringen, die seine Natur in Rechnung stellt. Und die liegt nicht an allen Stellen offen zu Tage, man muss sie erst einmal erforschen.
Empirie der Moral Grenzen der moralistischen Perspektive Es dürfte schon deutlich geworden sein, dass das vorliegende Buch aus empiristischer Perspektive geschrieben wurde. Es versucht, Sachverhalte zu ergründen, nicht Sollensforderungen zu untermauern. Dem Moralisten sind Sachaussagen im Grunde entbehrlich. Zuweilen mag er sie in seine Argumente einflechten, wenn sie geeignet sind, erwünschte Emotionen zu wecken; aber als Belege benötigt er sie nicht wirklich, und daher ist er auch nicht besonders an ihrer Absicherung interessiert. Fürchtet er, dass sie falsche Assoziationen auslösen könnten, so tauscht er sie aus.
22 Kapitel 1. Werte und Tatsachen Der Empirist ist dagegen ständig besorgt, dass er sich irren könnte. Natürlich spürt auch er die allzu menschliche Begierde, recht zu haben und zu behalten; aber er hat ein schlechtes Gewissen dabei. Genau dieses schlechte Gewissen ist dem Moralisten nicht nur fremd, er würde es umgekehrt geradezu als Sünde empfinden. Ein Moralist kann sich nicht irren. Er kann sich nur entrüsten – über die Halsstarrigkeit, die anderen die Teilhabe an seiner Glaubenssicherheit verwehrt. Ihm ist Wahrheit nicht eine Herausforderung der Vernunft, sondern der Rechtschaffenheit. Daher begreift er gar nicht, was der Empirist will, und er vermag dessen Haltung nur als Kundgabe unzuverlässiger Gesinnung zu missdeuten. Der auferstandene Jesus hat es dem ungläubigen Thomas gerade noch einmal durchgehen lassen, dass er seine Wundmale mit den Händen berühren wollte. Aber der Zweifel des Thomas war tatsächlich ein Akt, der der Verzeihung bedurfte! Hier liegt nun auch der Grund dafür, dass das eingangs erwähnte Streitgespräch kein Resultat bringen konnte. Kronawitter denkt empiristisch. Er rechnet mit natürlichen Neigungen und Schwächen und überlegt, wie man damit umgeht. Er hält es mit seinem Münchner Mitbürger Eugen Roth: Ein Mensch – dass ich nicht Unmensch sag – meint: „Alles kann man, wenn man mag.“ Vielleicht – doch gibt’s da viele Grade: Auch mögen können ist schon Gnade! In der moralistischen Argumentation Trittins ist für diese Gnade kein Bedarf. So etwas wie Natur kommt bei ihm überhaupt nicht vor. Die Achtung vor der Menschenwürde fordert ihm den Glauben ab, man müsse das Gute einfach nur wollen und könne dann mit gleichem Aufwand für jede beliebige Verhaltensweise optieren. Dieser These zufolge werden moralische Werte dadurch in Politik umgesetzt, dass man sie so oft und so wortstark wie möglich verkündet. Jeder Art von Motivmanagement würde der Geruch der Manipulation und somit der Unmoral anhaften. Dass man den Betroffenen das erwünschte Handeln erleichtern sollte, stößt bei solchem Rigorismus auf Unverständnis, und Effizienz ist kein Argument, wenn es um Moral geht. Nur die Würde des Menschen zählt, und die lässt es allein angemessen erscheinen, ihn zu erziehen und im Misserfolgsfall zu verurteilen. Das Handicap des moralistischen Denkens liegt darin, dass es eine bedenkliche Einbuße an realistischer Problemlösungskompetenz zur Folge hat. Als Ende der 1990er Jahre mit einem Blutbad in Denver eine Serie schulischer Amokläufe einsetzte, war die Presse voll von Mutmaßungen darüber, was denn mit der amerikanischen Jugend los sei. Und es war nicht ganz abwegig, dabei einerseits die schleichende Gewöhnung an Gewaltszenen im Fernsehen, andererseits die laschen Waffengesetze der Vereinigten Staaten als förderlich dingfest zu machen. Prompt erhoben sich dagegen aber zahlreichen Stimmen, und zwar mit dem Argument „We cannot blame things, people are responsible!“ Offensichtlich wurde hier wieder „Ursache“ nur als Verantwortlichkeit, nicht aber als Kausalfaktor verstanden. Es ist der moralistische Standpunkt, der eine nüchterne Analyse und damit auch wirksame Abhilfemaßnahmen nicht nur erschwert, sondern geradezu blockiert.
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In Zeitungskommentaren stößt man immer wieder auf Bekundungen ratlosen oder empörten Unverständnisses – etwa angesichts der Tatsache, dass ausgerechnet jetzt, nach dem Ende des Kalten Krieges, wo doch der Weltfriede mit Händen zu greifen war, überall blutige Konflikte ausbrechen oder dass der inzwischen angeblich überwundene Nationalismus wieder allenthalben virulent wird. Es ist beliebt, solche Phänomene mit Ausdrücken wie „paradox“ oder „schizophren“ zu belegen. Diese Redeweise zeigt im Grunde nur, dass der Verfasser mit seinem Latein am Ende ist; sie klingt aber so, als verstünde sich von selbst, dass das Geschehen nicht nur für ihn, sondern schlechterdings in sich unerklärlich sei, ein peinlicher Regiefehler des Weltgeistes. Man fragt sich dann, woher die Autoren die Selbstgewissheit nehmen, ihr privates kognitives Versagen in die Ontologie zu projizieren. Die betreffenden Vorgänge mögen sich nur schwer in das sperrige Szenario einer moralistischen Weltsicht einfügen; psychodynamisch aber sind sie sehr wohl verstehbar. Und wenn man sich weniger auf Bekenntnisse zum Gesollten und mehr auf die Erforschung des Seienden konzentrieren würde, ließen sie sich eines Tages wohl sogar vorhersagen und dann möglicherweise auch präventiv vereiteln.
Der moralistische Reflex: Eine Warnung Aus dem Gesagten ergibt sich, dass man die Intention des vorliegenden Buches gründlich missverstehen würde, wenn man es durch eine moralistische Brille läse. Denn eine und dieselbe Textstelle erscheint in heterogene Bedeutungshöfe eingebettet, eine und dieselbe Argumentation ganz unterschiedlich motiviert je nachdem, ob man sie aus moralistischer oder empiristischer Perspektive rezipiert. Nehmen wir beispielsweise die in Biologie, Kulturanthropologie und Linguistik unverzichtbare, ja geradezu als Königsweg erachtete Methode des Vergleichs. Anders als in der Physik und den auf ihr aufbauenden Materiewissenschaften kommt es bei jenen Disziplinen darauf an, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Form zu analysieren. Es geht dabei um die Klärung von Verwandtschaftsbeziehungen, ohne die sich die bei Strukturmerkmalen zentrale Frage der Entstehungsgeschichte nicht beantworten ließe. Hierfür ist es unerlässlich, Formen vergleichend nebeneinander zu halten um zu prüfen, ob die für die ihre Ausbildung postulierten Ursachen im erwarteten Sinn kovariieren. Wer also beispielsweise für das Faktum, dass der Antisemitismus im Hitlerreich derart exzessive Formen angenommen hat, bestimmte Ursachen in der deutschen Geschichte oder gar im deutschen Nationalcharakter geltend macht, begänge einen Kunstfehler, würde er versäumen, antisemitische Ausschreitungen in anderen Ländern als Kontrast heranzuziehen und die postulierte Ätiologie an dieser Gegenüberstellung zu verifizieren.
Die moralistische Denkästhetik schreckt jedoch vor dem Geschäft des Vergleichens geradezu instinktiv zurück; denn für sie trägt es den penetranten Geruch der Aufrechnung. Wer das Fehlverhalten einer Person neben das einer anderen stellt, tut das in ihrem Verständnis nicht, um Motive zu ergründen, sondern um Schuld zu relativieren.
24 Kapitel 1. Werte und Tatsachen Sachargumente lässt sich der Moralismus für seine Verweigerung dabei nicht abfordern. Er weist einen Gedanken nicht zurück, weil er irrig ist, sondern nennt ihn „fatal“, „geschmacklos“, „undiskutabel“ oder „inakzeptabel“. Er nimmt eine Diskussion nicht als Ringen um Fakten, sondern als Konfrontation von Interessen. Nun könnte man meinen, es genüge zur Vermeidung von Missverständnissen, wenn ein für allemal darauf hingewiesen wird, dass die nachfolgenden Ausführungen empiristisch zu verstehen sind. Aber so einfach funktioniert es nicht. Die neutrale Sicht wird hier nämlich durch eine menschliche Reaktionsbereitschaft getrübt, die so tief verwurzelt ist, dass es gerechtfertigt erscheint, geradezu von einem „moralistischen Reflex“ zu sprechen: Bei den Themen, von denen das vorliegende Buch handelt, schaltet unser kognitiver Apparat per Default auf die Standardeinstellung des moralistischen Lesemodells um. Dieses ist dann mehr als nur eine Option, der man sich wahlweise anheimgeben oder versagen kann; es überfällt uns so, wie der Anblick eines Kadavers den Reflex zu würgen und sich zu übergeben auslöst. Machen wir einen Test. In seinen „Anmerkungen zu Hitler“1 äußert Sebastian Haffner die Überzeugung, Hitler hätte, wenn er 1938 kurz nach dem Anschluss Österreichs bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen wäre, alle Chancen gehabt, nicht als skrupelloser Verbrecher, sondern als einer der größten deutschen Staatsmänner in die Geschichte einzugehen. In der Tat: Deutschland bedurfte nach dem ersten Weltkrieg dringend eines Atatürk, und man wird als wahrscheinlich anzusehen haben, dass das Ausland dabei mehr oder minder beflissen mitgespielt hätte, so wie auch zu Zeiten der Berliner Olympiade offizielle Besucher wenig getan haben, Abbildung 1.6 Britische Sportler salutieren auf der um im deutschen Volk Zweifel am Regime zu Olympiade 1936 mit dem Hitlergruß wecken (Abbildung 1.6). Gewiss, in „Mein Kampf“ stand allerlei wirres Zeug, und die Vorzeichen der „Reichskristallnacht“ waren schon spürbar; aber dafür hätten sich relativierende Ausdeutungen gefunden, solange sich noch keine Trümmerlandschaften und Leichenberge türmten. Und die wären uns wohl erspart geblieben, da die hinterbliebene Entourage, auf sich allein gestellt, vermutlich zu feige gewesen wäre, einen zweiten Weltkrieg und einen Holocaust zu wagen.
Das alles nüchtern abzuwägen, sollte einer empiristischen Geschichtspsychologie niemand verwehren dürfen. Gleichwohl sei der Leser eingeladen, an dieser Stelle seine affektive Reaktion auf das vorgestellte Szenario zu testen. Fühlt er nicht fast zwangsläufig Unwillen, seine Phantasie überhaupt mit der Zumutung zu belasten, eine Glorifizierung Hitlers als historische Möglichkeit auch nur zu erwägen? Das genau ist es, was mit dem „moralistischen Reflex“ gemeint ist: Dass sich angesichts solcher Gedan1 Haffner (1978)
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kenspiele das unabweisbare Gefühl aufdrängt, hier wolle jemand die NS-Politik verharmlosen oder gar billigen. Unter Verwendung eines gängigen Modeausdrucks können wir sagen, dass Empirismus und Moralismus ihre Aussagen unterschiedlich „kontextualisieren“:1 Sie nehmen sie in einen anderen semantischen Rahmen eingebettet wahr. Dem moralistischen Blick ist es eigen, jede – auch abwägende und relativierende – Seinsaussage als eine intendierte Sollensforderung zu lesen. So werden aus Tatsachenvermutungen automatisch Wünschbarkeiten und aus Erfolgsprognosen Rechtfertigungen. Was aber sind die Konsequenzen, wenn wir diesem Reflex nachgeben? Wir wollen doch verstehen, wie reale Menschen sich verhalten. Nach wie vor sprechen ernstzunehmende Argumente dafür, dass sie unter den oben genannten Bedingungen so wie geschildert reagieren würden. Müsste man diese Argumente also um des lieben Friedens willen wider bessere Einsicht für falsch erklären? Oder hätte man den gesamten Fragenkomplex zu tabuisieren? Der Leser sei gewarnt: Wer sich auf dieses Buch einlässt, wird sich mit Sachverhalten zu beschäftigen haben, die nicht durchwegs wohlriechend sind. Er wird Passagen begegnen, die ihn nötigen, seinen moralistischen Reflex unter Kontrolle zu halten. Anderenfalls könnte es ihm ergehen wie dem Medizinstudenten, der am Seziertisch dem Ohnmachtsanflug nicht zu widerstehen weiß. Eine honorige Reaktion, aber ein Zeugnis der Beschäftigung mit dem falschen Objekt.
Drei sinnvolle Fragestellungen Aus der Absage an den Moralismus folgt nicht, dass die empirische Wissenschaft überhaupt keinen Beitrag zur Erhellung der Moral leisten könnte. Sittliche Forderungen, seien sie nun objektiv legitimierbar oder nicht, erwecken durchaus nicht den Eindruck völliger Beliebigkeit. Im konkreten Inhalt mögen sie sich unterscheiden: Der strenggläubige Katholik darf Schweinefleisch essen, der orthodoxe Jude nicht. Aber die Gefühle, die den letzteren befallen, wenn er das Verbot übertritt, sind dem ersteren nicht unbekannt. Er erlebt ähnliches, wenn ihm der Schweinebraten am Karfreitag vorgesetzt wird. Es gibt einen Kernbestand an moralischen Reaktionen, die weltweit verstanden werden und den Anspruch auf Selbstverständlichkeit, den die Moral in sich trägt, zumindest psychologisch rechtfertigen. Daher ist das erste, was Not tut und nur empirisch geleistet werden kann, eine Bestandsaufnahme geltender Wertvorstellungen. Bevor man über Moral philosophiert, sollte man beobachtend sammeln und möglichst transparent klassifizieren, was die Menschen auf der Welt überhaupt für sittlich halten. Dabei sollte sich das Interesse sowohl auf jene universalen Werte richten, in denen die verschiedenen Kulturen übereinstimmen, als auch auf die interkulturellen Differenzen, ihren Spielraum und die für
1 Gumperz (1982)
26 Kapitel 1. Werte und Tatsachen sie mutmaßlich verantwortlichen Randbedingungen. Offenkundig liegt hier ein wichtiges Betätigungsfeld vor allem der Kulturanthropologie. An die Inventur schließt sich als zweite Fragestellung die Ätiologie an, die Analyse der Entstehungsgründe. Man darf sie nicht mit Legitimation verwechseln – hier ist von „Gründen“ im Sinne Kronawitters, nicht Trittins die Rede. Auch wenn sich moralische Imperative nicht objektiv begründen lassen, kann man doch die Ursachen ergründen, die dazu führen, dass eine Gemeinschaft sich ihnen unterwirft. Das beginnt schon bei der Frage, weshalb beim Menschen überhaupt ein Phänomen wie Moral entstanden ist. Bei Tieren scheint diese Art von Verhaltensregulation noch zu fehlen; allerdings tauchen hier schon gewisse Mechanismen auf, die als Vorformen in Betracht kommen. Der ätiologische Problemstrang beginnt also im Zuständigkeitsbereich der evolutionären Verhaltensforschung und reicht dann weiter bis tief in die Motivationspsychologie hinein. Als dritte Aufgabe der empirischen Forschung ergibt sich schließlich die Effizienzprognose wertdienlicher Maßnahmen. Das ist die Stelle, an der den empirischen Wissenschaften vom menschlichen Verhalten eine Aufgabe von hoher praktischer Bedeutung zuwächst. Wenn in einer Gesellschaft ausreichender Konsens darüber herrscht, welche Werte verbindlich, welche Ziele anzusteuern sind, dann genügt guter Wille allein noch längst nicht, um diese Sollvorgaben in gemeinschaftliche Praxis umzusetzen. Es bedarf der Expertise des Steuermannes, um das soziale Vehikel auch einigermaßen verlässlich diesem Ziele entgegenzulenken.
Die vierte Frage Tabelle 1.1 fasst in den ersten drei Einträgen die genannten Fragenkomplexe zusammen. Die Analyse der ihnen zugrundeliegenden Psychodynamik ist Gegenstand dieses Buches. Die vierte dort aufgelistete Frage aber müssen wir offen lassen: Auf sie existiert überhaupt keine empirisch begründbare Antwort. Natürlich gibt es auch hier einen objektiven Aspekt: Wie argumentiert eine Gesellschaft, um ihren Moralkodex zu rechtfertigen? Und was bewegt ihre Glieder, sich diesem Anspruch zu unterwerfen? Aber das ist mit Inventur Was sind moralische Werte? der Legitimationsfrage ja nicht gemeint: Hier geht es darum, die Verbindlichkeit der Werte zu Ätiologie Wo kommen sie her? beweisen! Und wir werden uns eingestehen Realisierung Wie setzt man sie durch? müssen, dass das schlechterdings unmöglich ist. Legitimation Wie beweist man ihre VerbindDie Situation ist eben eine grundsätzlich lichkeit? andere als in den empirischen Wissenschaften. Deren Vertreter haben es leicht: Wenn sie in einen Tabelle 1.1 Disput geraten, können sie gemeinsam ins Labor gehen und ein Messinstrument ablesen. Sie werden sich dann, auch wenn ihre Theorien noch so divergieren und ziemlich unabhängig davon, wie sympathisch sie einander sind, wohl oder übel darauf einigen müssen, dass der Zeiger bei 79.8 steht, oder wo auch immer.
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Zugegeben, man hat auch hier noch Ausweichmöglichkeiten. Zeitgenossen Galileis, die aus theologischen Gründen an der Siebenzahl der „Planeten“ (einschließlich Sonne und Mond) festhalten zu müssen glaubten, sollen sich, so wird berichtet, schlicht geweigert haben, durch dessen neu erfundenes Fernrohr zu schauen und die von ihm entdeckten Jupitermonde zur Kenntnis zu nehmen. Damit kommt man aber nicht lange durch. Man könnte natürlich auch behaupten, das Messinstrument sei defekt oder die Probe verunreinigt. Aber all das lässt sich aufklären: Im Allgemeinen stößt man, bei aller Kontroverse in der Auslegung, doch auf ein solides Fundament, das sich nicht wegdebattieren lässt und einen Konsens erzwingt, hinter den keiner zurückgehen kann.
Angenommen nun aber, eine ähnliche Meinungsverschiedenheit bräche zwischen Vertretern verschiedener moralischer Auffassungen aus. Wie schlichten die dann ihre Kontroverse? Natürlich gibt es auch hier konkretes Anschauungsmaterial, Fakten, auf die man sich berufen kann – freigelegte Massengräber, unbestreitbare Zeugenaussagen, einen Selbstmord, Statistiken über Flüchtlingsströme und Kindersterblichkeit, das Ozonloch, objektive Dokumente von Lebensschicksalen, Chroniken von Taten und ihren Konsequenzen, und so fort. Über all das lässt sich Einvernehmen herstellen. Die Haltung der Gegner Galileis kommt auch hier vor, siehe Auschwitz-Lüge; aber deren Verdrängungsaufwand ist zu hoch, als dass sie wirklich weite Kreise ziehen könnte. Nur – hier liegt eben gar nicht das eigentliche Problem. Selbst wo es gelingt, einen Faktenkatalog aufzustellen, an dem niemand ernsthaft zweifelt, lässt sich dieser eben nicht als verbindlicher Ausgangspunkt für Sollensdebatten in Anspruch nehmen. Wer das nicht wahrhaben will, lügt sich in die eigene Tasche. Ebenso treuherzig könnte man auch die Existenz von Engeln oder die Unsterblichkeit der Seele als beweisbare Tatsache ausgeben. Die Kirche hat längst eingesehen, dass solche Lehrinhalte weder auf empirischen Befunden gründen noch mit den Mitteln reiner Logik aus leeren Zylinderhüten zu zaubern sind. Natürlich bleibt niemandem unbenommen, sie zu glauben; und ebenso frei steht es uns, die Regeln eines in unserer Gesellschaft verbindlichen Sittengesetzes zu erfühlen und uns an sie zu binden. Aber den Status einer objektiven Vorgabe werden sie nie beanspruchen können, jedenfalls nicht im Sinne der Legitimation aus der ewigen Geltung einer transzendenten Wahrheit, sondern höchstens insofern, als unsere psychologische Natur im Verein mit der Struktur unserer Gesellschaft es nun einmal den meisten von uns nahelegt und einfach macht, so zu empfinden.
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Zwischenbilanz Wir wollen zwischen den Kapiteln jeweils, vergleichbar der „Promenade“ in Mussorgskys „Bildern einer Ausstellung“, eine Überleitung einschalten, die die Quintessenz des vorangehend Erarbeiteten zusammenfasst und die Fragestellung des folgenden Kapitels vorbereitet. Dieses Buch untersucht, wie Moral funktioniert. Anfangs wird es von Fragen handeln, die die menschliche Ausstattung schlechthin betreffen. Da aber alles, was im Medium des Allgemeinen formuliert wird, eine gewisse Unverbindlichkeit bewahrt, wollen wir es dabei nicht bewenden lassen und am Schluss die Probe aufs Exempel machen: Was folgt aus dem Gesagten konkret für die moralische Verfassung unserer eigenen Identität? Warum empfinden wir uns, zwei Generationen nach den Ereignissen in Nazi-Deutschland, selbst schuldig dafür? Warum erscheint uns Antisemitismus verwerflich, Anti-Germanismus aber gerechtfertigt? Warum ereifern wir uns über Begriffe wie „Leitkultur“ oder „Moralkeule“? Was lässt uns einem Holocaust-Mahnmal eher zustimmen als einer VertriebenenGedenkstätte? Und warum empfinden wir es bereits als inkorrekt, die eben formulierten Fragen auch nur zu stellen? In Kapitel 1 haben wir zunächst zwei propädeutische Thesen herausgearbeitet. Die erste macht geltend, dass bei der Frage nach den „Gründen“ moralrelevanten Verhaltens eine moralistische und eine empiristische Antwort unterschieden werden müssen. Die Frage „Warum“ bedeutet aus moralistischer Sicht: „mit welchem Recht?“ aus empiristischer Sicht: „aus welchen psychologischen Ursachen?“ Bei den zuvor genannten Themen drängt sich von selbst das erstgenannte Denkmodell auf. Wir nennen das den moralistischen Reflex. Bei der nachfolgenden Lektüre wird es darauf ankommen, diesen Reflex zu unterdrücken, da er der empiristischen Intention des Buches nicht gerecht wird. Dieser Abstinenzforderung liegt eine zweite These zugrunde: Es gibt keine Brücke zwischen Sein und Sollen. Daher ist es unmöglich, moralische Normen durch Tatsachenaussagen zu legitimieren. Wir müssen stattdessen andere Formulierungen wählen, etwa: Wann empfinden wir unser Verhalten als gerechtfertigt, wann regt sich das schlechte Gewissen? Welche Psychodynamik lässt uns verwerfen oder gutheißen, was andere tun oder was anderen angetan wird? Die Behauptung, moralische Maximen hätten keinen objektiven Wahrheitsgehalt, ist indessen zu radikal, um sich allein auf formallogische Argumente stützen zu können. Wir müssen tiefer schürfen. Unerlässlich erscheint vor allem, genauer zu bestimmen, was wir unter dem „Wahrheitsgehalt“ moralischer Maximen überhaupt verstehen wollen. Auch die Moralpsychologie kommt, wie Wissenschaft überhaupt, nicht ohne eine erkenntnistheoretische Standortbestimmung aus. Diese ist Gegenstand des nächsten Kapitels.
Kapitel 2 Was ist Wahrheit? Das Erwachen aus der Naivität Die Würde des Menschen Das nüchterne Fazit der bisherigen Überlegungen lautet, dass sich moralische Forderungen nicht empirisch legitimieren lassen. Das hören freilich nicht alle gern. Dem gesellschaftlichen Konsens gilt immer noch als unumstößlich, was 1954 in einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes zu lesen war: Es existiert ein für den Menschen erkennbares objektives Sittengesetz, dessen Verbindlichkeit auf der vorgegebenen Ordnung der Werte beruht, die von allen Menschen hinzunehmen ist.
Das sind apodiktische Worte; sie dulden keinen Widerspruch und schlagen alle Bedenken des vorigen Kapitels in den Wind. Die Verbindlichkeit des Sittengesetzes folgt aus einer „objektiven“ Vorgegebenheit, die für jedermann „erkennbar“ ist, und damit basta. Es ist nur allzu menschlich, dass die Vertreter jener akademischen Disziplinen, die der logischen Inkonsistenz ihrer Fundamente bezichtigt werden, in die Berufung gehen. Und als argumentativer Ausweg bietet sich hier trefflich eine Fakultätentrennung an. Mag ja sein, so wird geltend gemacht, dass sich das Sollen nicht in dem „Sein“, so wie der Naturwissenschaftler es versteht, verankern lässt. Aber das ist eben ein verarmter, auf materielle Faktizität reduzierter Seinsbegriff. Die Schuster mögen doch bitte bei ihren Leisten bleiben und das Thema anderen akademischen Disziplinen überlassen, die sich noch den unverkürzten Blick auf die volle Weite des Wahren, Guten und Schönen bewahrt haben. In der Süddeutschen Zeitung vom 28.1.2002 war unter der Überschrift „Die Frucht einer verbotenen Tat“ eine Stellungnahme aus der Feder des ehemaligen Verfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde zu lesen. Sie stellte im Untertitel die Behauptung auf, Embryonenforschung verstoße gegen das Grundgesetz, „weil Recht mehr ist als das Resultat naturwissenschaftlicher Erkenntnisse“. Es geht in dem Artikel um die Frage, ob der Embryo schon als Achtzeller Träger der Menschenwürde sei. Angezweifelt werde das „vorwiegend auch von naturwissenschaftlicher Seite“. Moralische Maßstäbe für das Verhalten von Menschen gegen Menschen zu formulieren „und zu begründen“ sei jedoch eine Aufgabe, die in die „Zuständigkeit von Philosophie, Ethik und – vor allem – des Rechts“ falle. Die rechtsphilosophische Argumentation dürfe daher nicht „mit der naturwissenschaftlichen auf die gleiche Ebene gestellt, ja implizit deren Kontrolle unterworfen“ werden. Der Autor unterscheidet sich von denen, die er da in ihre Schranken weist, nur darin, dass er selbst menschliches Leben bereits mit der Verschmelzung von Ei- und
30 Kapitel 2. Was ist Wahrheit? Samenzelle beginnen lässt, während den anderen eine spätere Zäsur, etwa die Nidation, angemessener erscheint. Seltsamerweise wirft er aber nur ihnen vor, normative Folgerungen aus der „Biologie“ abzuleiten, gerade so als sei nicht auch die Befruchtung ein biologischer Vorgang. Er dispensiert offenbar die eigene Zunft von einer Beschränkung, die lediglich für Naturwissenschaftler gelten soll. Philosophen und Juristen verfügen seiner Meinung nach in Fragen der Moral und des Rechts über einen privilegierten Zugang zur Wahrheit. Die Siegesgewissheit, mit der hier argumentiert wird, nötigt uns, noch einmal innezuhalten: Sollte es denn zutreffen, dass der Erkenntnisvorgang in Fragen der Ethik auf ganz anderen Wegen, aber nicht minder zwingend, abläuft als in der empirischen Wissenschaft? Hat das Sollen seine eigene Wahrheit, die vielleicht darüber erhaben ist, sich der Diktatur des Proletariats der Tatsachen zu unterwerfen? Was ist das überhaupt, „Wahrheit“?
Das trialistische Schema Wenn Menschen von Wahrheit reden, lässt sich das, was sie eigentlich meinen, in der Regel in einem von drei Bedeutungsfeldern verankern. Im Zentrum steht die nicht hinterfragbare Erfahrung der eigenen Existenzgewissheit. Ich bin; daran besteht kein Zweifel, und falls doch, kann man sich notfalls auf Descartes und sein Cogito ergo sum berufen. Die beiden anderen Erlebnisweisen von Wahrheit schließen ein Moment der Vermittlung ein. Da ist zunächst das, was laut biblischem Bericht der ungläubige Thomas einforderte – handgreifliche, sinnfällige Empirie. Sie entbehrt aller einsichtigen Notwendigkeit, sie muss nicht sein, sondern ist nur einfach der Fall; aber sie fordert meinen Respekt ein, weil ich mich an ihr stoßen kann, weil sie die Macht hat, mich zu verletzen oder zu beglücken. Und drittens schließlich ist Wahrheit die zeitlose Gültigkeit, wie sie uns am reinsten in den Lehrsätzen der Mathematik gegenübertritt. Ich muss mich um sie bemühen und kann sie verfehlen; aber wenn schließlich der Beweis geführt ist, erfasse ich das Erkannte in einer Weise, zu der keine Alternative mehr offensteht. Seit den griechischen Anfängen zieht sich durch die abendländische Philosophie eine Denkfigur, der zufolge das Subjekt die beiden zuletzt genannten Spielarten der Wahrheit aus unterschiedlichen Quellen bezieht. Empirie stammt aus den Sinnen. Diese liefern der Erkenntnis gewissermaßen den Stoff. Dem mangelt aber zunächst noch die Form. „Wo rohe Kräfte sinnlos walten, da kann sich kein Gebild gestalten,“ heißt es in Schillers Lied von der Glocke. Das „gestaltete Gebilde“, also die geordnete Struktur, stammt nicht aus der Empirie, sondern wird dieser aufgeprägt. Sie gründet nicht auf sinnlicher Anschauung, sondern auf rationaler Einsicht. Aus welchem Fundus aber speist und legitimiert sich die Ratio? Hier ist die Palette der philosophiegeschichtlichen Antworten reicher gefächert. Plato zufolge existiert
Das Erwachen aus der Naivität 31
jenseits der materiellen Welt eine Wirklichkeit höherer Art, in der die Ordnungsformen des reinen Denkens in zeitloser Unbedingtheit aufgehoben sind. Deren Seinsweise ist nicht das zufällige Sich-Ereignen, sondern reine Geltung. Plato hat diese urbildhaften Ordnungsformen der Ratio „Ideen“ genannt und von ihnen gemeint, die Seele habe sie in ihrer vorgeburtlichen Präexistenz schon angeschaut und könne sie seitdem nicht mehr vergessen. Die sinnliche Erfahrung sei nur dazu da, sie aus unserem Gedächtnis wieder wachzurufen. Das war seine Lehre von der Anamnesis, von der Wesensschau durch Erinnerung.
Eine uralte Denkgewohnheit macht uns geneigt, die eben unterschiedenen drei Deutungen der Wahrheit in einer vertikalen Raumsymbolik anzuordnen, der wir nachfolgend, mannigfach variiert, noch so oft begegnen werden, dass es sich lohnt, ihr einen Namen zu geben; ich nenne sie das trialistische Schema (Abbildung 2.1). Auf dessen Suggestivkraft verlässt sich offenbar auch Böckenförde in der eben zitierten Stellungnahme. Er verweist die Naturwissenschaften in die untere Hemisphäre, überlässt ihnen nur gleichsam die Stoffnatur der Wahrheit und behält die Wesensschau der Ideenwelt denen vor, die sich ex professo auf eine, wie er es nennt, „philosophisch/ethisch/rechtliche Argumentation“ verstehen. Aber wie gewinnt das Subjekt eigentlich Zugang zu jener höheren Sphäre reiner Geltung, und wie kann es sich vergewissern, dass es auf dem Weg dorthin nicht in die Irre gegangen ist?
WELT DER IDEEN UDWLRQDOH(LQVLFKW
SUBJEKT VLQQOLFKH$QVFKDXXQJ
WELT DER MATERIE Abbildung 2.1 Das trialistische Schema in platonischer Sicht
Zentrifugales und zentripetales Wahrnehmungsverständnis Die Epistemologie, die Lehre vom Erkennen, ist aus der Einsicht hervorgegangen, dass wir das Augenscheinliche nicht naiv für selbstverständlich halten können, sondern kritisch hinterfragen müssen. Es geht dabei im Wesentlichen um einen Richtungswechsel im Verständnis des kognitiven Aktes. Dem unreflektierten Erleben erscheint Erkennen als eine Art Ausgriff auf die Dinge, analog zum Hintasten mit der Hand. Den wahrnehmenden Blick unseres Auges erleben wir als zentrifugalen Strahl, dem Lichtkegel einer Lampe vergleichbar, der die Dinge erfasst und in ihrem realen Sosein gleichsam aufleuchten, in Erscheinung treten lässt (Abbildung 2.2). Daneben können wir aber auch noch eine andere Abbildung 2.2 Das zentrifugale WahrnehPerspektive einnehmen. Bereits um 400 v. Chr. lehrte mungsverständnis im naiven Realismus Demokrit, beim Wahrnehmungsakt lösten sich vom Objekt kleine „Bildchen“ (eidola) ab und strömten in die Sinnesorgane ein. Das ist für modernen Geschmack noch recht hausbacken gedacht; kühn ist aber jedenfalls
32 Kapitel 2. Was ist Wahrheit? die Umkehr vom zentrifugalen Blickstrahl zu einem zentripetalen Übertragungsprozess. Dieser Wechsel hat nämlich eine dramatische Konsequenz. Die eidola, oder was immer ins Auge einwandern mag, muss ja dann irgendwo bleiben! Es muss eine Art Reservoir geben, das sie in Empfang nimmt. Für Demokrit war die Sache klar: im Körperinnern begegnen sie der Seele und bewirken dort die Erkenntnis. Wir Heutigen glauben nicht mehr an ein kleines Männchen, das irgendwo im Kopf sitzt oder darüber schwebt. Wir stellen uns den Zusammenhang eher so vor, dass die Sinnesorgane neuronale Nachrichten an das Gehirn senden, wo sie mannigfach verarbeitet werden. Die Information über die Wahrnehmungsobjekte steckt dann in neuronalen Erregungsmustern, freilich auf ganz unanschauliche Weise, dem rätselhaften Strichcode vergleichbar, den man heutzutage an vielen kommerziellen Artikeln findet. Welches dessen Bedeutung ist, bekommt kein Außenstehender zu sehen, der das Gehirn im Magnetresonanztomographen sondiert. Irgendwie erzählt das zentralnevöse Geflimmer offenbar davon, wie grün des Lebens goldner Baum sei, aber wer hört ihm dabei zu? Immer nur wieder andere Gehirnpartien und letztlich die motorischen Areale, die dann auf die Botschaft reagieren. Aus der Weise, in der sie es tun, kann der Untersucher erschließen, welche Bedeutung sie für den betreffenden Menschen hatte. Aber diese Bedeutung selbst, in all ihrer Farbenpracht, sieht kein Außenbetrachter, die sieht nur der Mensch selbst. Die Konsequenz aus Demokrits Umdenken lautet somit, dass es im Gehirn Prozesse geben muss, die sich in doppelter Sprache beschreiben lassen: Für den Außenbetrachter sind sie Nervenerregungen, für das Subjekt selbst Erscheinung aber Bewusstseinserscheinungen oder, wie man sagt, Phänomene (Abbildung 2.3). Damit jedoch spaltet sich zwangsläufig die Welt – in ein an sich existierendes Ding und dessen erlebte RepräReprä- sentation. Die ganze Wirklichkeit, die mir bewusst wird, sentation meine phänomenale Welt, ist nur die in Erscheinung Ding getretene Bedeutung von Nervenprozessen in einem „Gehirn“, das dieser ganzen erlebten Welt für mich unsichtbar zugrunde liegt! Sie ist somit eigentlich die in Abbildung 2.3 Das zentripetale mein privates Bewusstsein eingeschlossene NachschöpWahrnehmungsverständnis im kritischen fung einer erlebnisjenseitigen Wirklichkeit. Nicht, dass ich Realismus sie auch als Abbild – als „Vorstellung“ etwa – erfahren würde: Sie sieht vielmehr so aus, als sei sie das Original selbst und zudem öffentlich, also für den Blickstrahl aller anderen Subjekte gleichermaßen zugänglich. Dass sie eine Repräsentation ist, kann ich nur reflektierend begreifen. Man bezeichnet diese Epistemologie als kritischen Realismus. Bei einigem Überlegen sieht man ein, dass man an ihr nicht vorbeikommt; aber es ist mühsam, so zu denken, und im Alltagsleben genügt oft ein Verständnis des Wahrnehmungsaktes nach Art von Abbildung 2.2. Dieses wird als naiver Realismus bezeichnet.
Das kognitive Potential der Adaptation 33
Das kognitive Potential der Adaptation Evolutionäre Epistemologie
1 Lorenz (1941)
BILD
OBJEKT
Epistemologie heißt auf deutsch Erkenntnistheorie. Jede Erkenntnis ist eine Abbildung. Eine Abbildung ist eine Beziehung zwischen zwei Trägern, einem Objekt und einem Bild (Abbildung 2.4). Diese müssen irgendwie in der Struktur, der Form, der Anordnung der Elemente korrespondieren. Vom Grad der Übereinstimmung hängt ab, ob und in welchem Maß wir die Erkenntnis „wahr“ nennen. Damit eine Abbildung zustande kommt, muss ein Prozess stattfinden, der die Form vom Objekt zum Bild überträgt. Dieser Prozess bedarf eines Senders und eines Empfängers. Der Sender ist im einfachsten Fall mit dem Objekt identisch. Der Empfänger ist diejenige Instanz, die das Bild erzeugt, also ein Gehirn einschließlich seines Sinnesapparats. Das Bild besteht in Nervenerregungen. Wir haben dieses Bild mit einem Strichcode verglichen, um uns daran zu erinnern, dass bei einem Vergleich des neuronalen Erregungsmusters mit dem zugehörigen Objekt keinerlei formale Übereinstimmung erkennbar 9HUDUEHLWXQJ wird. Das Erregungsmuster ist kein Faksimile des Objektes. hEHUWUDJXQJ hEHUWU h WUDJ DJXQJ J QJ J Bei dem erlebten Phänomen, in dem der Bedeutungsgehalt jenes „Strichcodes“ bewusst wird, mag es anders sein; aber den kennt niemand außer dem erlebenden Subjekt selbst, und dieses wiederum kann seine phänomenale Welt nicht direkt mit dem transzendenten Objekt 6W|UXQJ vergleichen, dem Ding-an-sich, wie Kant es genannt hat. Abbildung 2.4 Die Komponenten des Damit stellt sich die Frage, was hier „Übereinstim- Abbildungsprozesses mung“ bedeuten soll und wie man sie feststellt. Nachdem das Feuerwerk verpufft ist, das die konstruktivistische Postmoderne zu diesem Motto veranstaltet hat, bleibt als ernstzunehmende Antwort die sogenannte evolutionäre Erkenntnistheorie übrig, die erstmals schon im 19. Jahrhundert Herbert Spencer skizziert und dann Konrad Lorenz, als er in Königsberg den Lehrstuhl Kants innehatte, in Auseinandersetzung mit seinem berühmten Vorgänger ausformuliert hat.1 Sie geht davon aus, dass der Organismus, der das Bewusstsein trägt, in seiner Welt jedenfalls überleben muss. Der „Strichcode“ in seinem Gehirn mag aussehen, wie er will, aber er muss Verhalten auslösen, das an die herrschenden Lebensbedingungen angepasst ist. Sein Bedeutungsgehalt, der im Bewusstsein als „Welt“ zum Phänomen wird, kann die Transzendenz zwar immer nur interpretieren, muss dies aber immerhin so stimmig tun, dass sich der Organismus-an-sich in der Welt-an-sich keine blauen Flecken holt. Wenn die Repräsentation dieser Bedingung genügt, darf man sie „wahr“ nennen. Das mag nicht die einzige Möglichkeit sein, Wahrheit zu definieren, aber
34 Kapitel 2. Was ist Wahrheit? bislang ist keine andere in Sicht, die objektiv überprüfbare Anwendungskriterien aufweisen könnte. Egon Brunswik hat für diesen adapationstheoretischen Wahrheitsbegriff das Kunstwort veridikal vorgeschlagen, dessen wir uns nachfolgend ebenfalls bedienen wollen. Damit wird der in Abbildung 2.4 dargestellte Abbildungsprozess konkreter bestimmbar. Alle Kognition basiert auf zwei Komponenten: einer sensorischen Übertragung und einer zentralnervösen Verarbeitung. Um deren spezifische Differenz herauszuarbeiten, ist aber das platonische Denkschema ungeeignet, demzufolge die Sinnesdaten nur den Stoff liefern, den der Verstand dann zu formen hätten. Eigentlich ist „Stoff“ hier überhaupt eine entbehrliche Kategorie; alle Kognition ist Form, und auch die Sinnesdaten übertragen Form oder, modern ausgedrückt, Information. Diese aber ist gestört, sie weist Verzerrungen, Verwischungen und Lücken auf. Sie gleicht einem krächzenden, verrauschten, schwundanfälligen Übersee-Gespräch aus der Anfangszeit der Kurzwellen-Telefonie. Techniker können dergleichen reparieren, wenn das Objekt, über das da berichtet wird, hinreichend redundant ist, das heißt, wenn sein Aufbau Regeln folgt. Sofern die Welt in ihrem An-sich eine wie auch immer geordnete Mannigfaltigkeit ist, kann das Gehirn das Naturgeschehen wenigstens approximativ rekonstruieren. Die dabei zum Einsatz gelangenden Routinen sagen dann aber auch etwas über die Struktur der transzendenten Realität aus.
Veridikalität und Evidenz Nun beschränkt sich unser Gehirn aber nicht darauf, die Welt-an-sich zu rekonstruieren, sondern es prüft auch an Hand verschiedener Kriterien, wie effizient ihm das wohl gelungen sein dürfte. Das Resultat dieser Selbstkontrolle fügt es als Begleitinformation den Produkten seiner kognitiven Bemühungen bei. Die solcherart generierte Erlebnisqualität bezeichnen wir als das Gefühl der Evidenz. Natürlich ist dieser Indikator nicht unfehlbar. Es gibt Überzeugungen, die mir plausibel erscheinen und doch falsch sind. Und es gibt echte Erkenntnisse, gegen die sich mein Evidenzgefühl empört; wir nennen sie kontraintuitiv. „Einleuchtend“ und „wahr“ sind also durchaus nicht dasselbe. Um einer Verwechslung dieser beiden Qualitäten vorzubeugen, ist es hilfreich, das menschliche Erkenntnisstreben mit anderen Antrieben zu vergleichen. Nehmen wir als Beispiel die Sexualität. Ihre biologische Funktion ist die Zeugung. Damit dieser Effekt eintreten kann, muss aber ein Paarungsakt vorangehen. Dieser ist nur Mittel zum Zweck und zwar – wie manche hoffen, andere fürchten und alle wissen – ein Mittel, das oft versagt. Wenn sich Individuen überhaupt auf dieses Geschäft einlassen, so deshalb, weil die Natur sie dafür belohnt. Die Belohnung wird jedoch nicht an dem Effekt festgemacht, auf den es eigentlich ankommt, nämlich die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Dieser Vorgang ist nämlich nicht sensorisch überprüfbar. Also greift die Natur zu einem Notbehelf: Sie koppelt die orgasmische Erfolgsrückmeldung bereits an die vorbereitenden Akte der Ejakulation und der Uteruskontraktion.
Das kognitive Potential der Adaptation 35
Wir müssen also differenzieren (Abbildung 2.5). Unter der Funktion oder dem Zweck eines organischen Prozesses, z. B. eines Antriebs, verstehen wir denjenigen seiner Effekte, dem er seine Existenz verdankt, an dem also die Selektion angesetzt hat. Wie wir noch diskutieren werden, Befriedigung läuft die Funktion immer auf einen Beitrag zum Fortơ Fitness pflanzungserfolg hinaus, auf das, was wir seit Darwin die Antrieb Fitness nennen. Diese ist das Endglied einer oft langen Kausalkette von Zwischeneffekten. Die meisten davon Ziel Funktion ereignen sich einfach, ohne dass der Organismus das überhaupt bemerkt. Manche werden jedoch auch durch Abbildung 2.5 Zur Unterscheidung von eine Belohnung rückgemeldet. Dann, und nur dann, Ziel und Funktion bezeichnen wir sie als Ziele. Nicht alle Zwecke sind also Ziele. Der Organismus ist Christoph Columbus vergleichbar, der aufgebrochen war, die Rückseite Indiens zu erreichen, aber keine Peilsignale aus der Neuen Welt empfangen konnte, die ihn eingewiesen hätten. Er hatte nur einen Kompass und einen Sextanten. Mit deren Hilfe konnte er höchstens Kurs halten. Westwärts zu segeln, war das einzige durch Feedback geregelte Ziel seiner Fahrt. Deren Funktion, in Indien anzukommen, stand nicht mehr unter seiner Kontrolle.
Vielleicht sind nun schon die Parallelen zum Erkenntnisstreben deutlich geworden. Auch dieses richtet sich auf ein affektiv rückgemeldetes Ziel, und das ist eben die Evidenz, die psychologische Befindlichkeit, in die ich gerate, wenn mir etwas intuitiv „gewiss“ erscheint, wenn ich „Aha“ sage, wenn ich meine, etwas „eingesehen“ zu haben. Sie ist das Gefühl der Befriedigung, in dem der Erkenntnistrieb sich beglückt entspannt und weiterzudrängen aufhört. Seine Funktion aber ist eine andere: Erkenntnis soll veridikal sein, sie soll zu einem adaptiven Umgang mit dem bezeichneten Sachverhalt befähigen. Dieser Effekt kann nicht rückgemeldet werden; sein raumzeitlicher Maßstab entzieht ihn individueller Wahrnehmbarkeit. Und das Evidenzgefühl, dass sich bei ordnungsgemäßem Ablauf der kognitiven Vollzüge einstellt, garantiert ihn ebenso wenig wie das Erlebnis der Liebesvereinigung die Befruchtung garantiert. In beiden Fällen ist auch die Intensität der Befriedigung kein brauchbares Kriterium. Darüber belehrt uns spätestens die Begegnung mit dem Wahnsystem eines Paranoikers, für den sich tausend Kleinigkeiten zu einem absolut überzeugungskräftigen Gesamtbild, etwa der Verschwörung des Großkapitals oder des internationalen Judentums, zusammenfügen. Ontologie
Epistemologie
Phänomenologie
Ding-an-sich
Repräsentation
Erscheinung
Realität
Veridikalität
Evidenz
Tabelle 2.1
Fassen wir das bisher Erörterte zusammen (Tabelle 2.1). Es ist üblich, die deskriptive Ausleuchtung der bewusst erlebten Welt als Phänomenologie zu bezeichnen und von der Ontologie, der Lehre vom bewusstseinsunabhängigen Sein der Dinge selbst zu
36 Kapitel 2. Was ist Wahrheit? unterscheiden. Als drittes kommt die Epistemologie hinzu, die sich mit der Frage beschäftigt, in welchem Verhältnis die beiden anderen Gegenstandsfelder zueinander stehen. Im Sinne dieser Sprachregelung ist „Veridikalität“ ein epistemologischer, „Evidenz“ ein phänomenologischer und „Realität“ ein ontologischer Begriff. Das epistemologische Defizit des naiven Realismus lässt sich jetzt genauer einkreisen: Es beruht darauf, dass er Phänomenologie mit Ontologie, Evidenz mit Realität und die Erscheinung mit dem Ding-an-sich identifiziert. Mit der mittleren Spalte der Tabelle weiß er daher nichts anzufangen. Man erkennt naiv-realistische Argumente unter anderem daran, dass sie mit voraussagbarer Promptheit Fragen nach der Veridikalität mit Hinweisen auf die Evidenz beantworten. Diesen gravierenden Fehler werden wir in der Folge noch verschiedentlich zu beanstanden haben.
Transzendentale Gedankenspiele Kein anderer Philosoph hat in der modernen Erkenntnistheorie so unübersehbare Spuren hinterlassen wie Immanuel Kant. Seine Lösungsvorschläge sind nicht frei von inneren Widersprüchen; sie haben aber gerade die Moralphilosophie so nachhaltig beeinflusst, dass wir nicht umhinkommen, einen Blick darauf zu werfen. Bei flüchtigem Hinsehen könnte man meinen, Kant plädiere für eine kritisch-realistische Betrachtungsweise. Er hält entschieden daran fest, dass das erlebnistranszendente Ding-an-sich real existiert, und warnt davor, die phänomenale Erscheinung naiv mit ihm zu identifizieren. Ebenso beharrlich weigert er sich aber, ihre Relation als Abbildung zu begreifen. Er steht hier ganz in der platonischen Stoff-Form-Tradition: Das Ding-ansich überschwemmt das Subjekt nur mit einem „Chaos der Empfindungen“; alle Struktur entstammt allein dem Bewusstsein. Wenn in unserer phänomenalen Welt Ordnung herrscht, wenn sich die Phänomene nach Einheit und Vielheit, Substanz und Akzidenz, Ursache und Wirkung gliedern, so liegt das an Schablonen, in die unser Bewusstsein das amorphen Material der Sensorik gegossen hat. Solche Schablonen heißen Kategorien. Als externen Dirigenten, der für ein harmonisches Zusammenspiel der Erlebniswelten sorgt, lässt sich das Ding-an-sich somit nicht beanspruchen. Warum driften die Subjekte dann aber nicht epistemisch auseinander? Dazu schreibt Kant:1 Was es für eine Bewandtnis mit den Gegenständen an sich … haben möge, bleibt uns gänzlich unbekannt. Wir kennen nichts, als unsere Art, sie wahrzunehmen, die uns eigentümlich ist, die auch nicht notwendig jedem Wesen, obzwar jedem Menschen, zukommen muss.
Worauf es hier ankommt, ist die von mir hervorgehobene Passage „obzwar jedem Menschen“. Woher weiß das der Autor? Wie legitimiert sich für ihn der arglose Gebrauch des Pronomens „Wir“ anstelle des zunächst einmal angemessenen „Ich“? Kant 1 zit. n. Hirschberger (1951) p. 263
Das kognitive Potential der Adaptation 37 „transzendental“ richtet seine Argumente ohne kritischen Vorbehalt an andere SubBewusstsein überhaupt jekte, es ist immer nur von den Dingen außer „uns“, nie von denen .DWHJRULHQ außer „mir“ die Rede; er nimmt seine Leser gewissermaßen beiseite und blickt mit ihnen die Welt von einem gemeinsamen Logenplatz aus an. ICH DU Aber dem bewusstseinsjenseitigen An-sich, zu dem er den Nachrichtenverkehr für abgebrochen erklärt, gehören doch nicht (PSILQGXQJHQ nur die materiellen Dinge an, sondern auch alle jene anderen Menschen, die im phänomenalen Wir als Ansprechpartner reklamiert werden! Man fragt sich, woher die Gewissheit kommen soll, dass Ding-an-sich da überhaupt so etwas wie ein „Du-an-sich“ ist, das zuhören und „transzendent“ verstehen kann. Diesem Problem entzieht sich Kant nun durch die Überzeu- Abbildung 2.6 Die Epistemogung, anstelle der diskreditierten sinnlichen eine zweite intersub- logie des kantianischen Kritizismus: Das Ding-an-Sich jektive Instanz gefunden zu haben. Er nennt sie das „transzenden- liefert nur ein „Chaos der tale Subjekt“ oder das Bewusstsein überhaupt. Sie soll zum Erleben Empfindungen“; für deren die Kategorien beisteuern, in der alle Subjekte auf gleiche Weise das sinnvolle Gestaltung und die Synchronisation der Rohmaterial der Sinne ordnen. individuellen Subjekte ist Auch sein Weltbild hat also eine trialistische Struktur (vgl. ein „Bewusstsein überhaupt“ Abbildung 2.6). Sie gibt zwei Richtungen vor, in denen der Hori- verantwortlich. zont der Subjektivität überschritten werden könnte. Von diesen ist der Weg nach unten, zum Ding-an-sich, jedoch unbegehbar. Kant nennt ihn transzendent. Nach oben aber, zum „Bewusstsein überhaupt“, steht der Zugang auf wundersame Weise offen. Für ihn verwendet Kant das Kunstwort transzendental. Im „Bewusstsein überhaupt“ lebt offenkundig die platonische Ideenwelt fort. Jaspers1 bezeichnet es ehrfürchtig als das „in seinem Wesen so Geheimnisvolle“, als etwas „aus dem alle Helligkeit kommt“. Er schildert es als eine Art Sonne, in deren Schein sich alle Subjekte zu einem gemeinsam erkennenden Wir vereinen. Später wurde gegen Kant eingewandt, ohne das Ding-an-sich käme man nicht in seine Philosophie hinein, und mit ihm könne man nicht in ihr bleiben. Wenn ich nichts Gescheites von ihm aussagen kann, woher weiß ich dann, dass es überhaupt existiert? Noch viel problematischer ist jedoch Kants Verklärung der allgemein-menschlichen Vernunft zu einem „Bewusstsein überhaupt“. Diese Mystifikation benötigt nur, wer das kognitive Potential der natürlichen Adaptation nicht bemerkt. Betrachten wir die Situation noch einmal aus der Perspektive des kritischen Realismus (Abbildung 2.7). Demnach gibt es so viele phänomenale Welten, wie es erlebnisfähige Organismen gibt. Jedes Bewusstsein ist in sich geschlossen, es hat keine Fenster zur phänomenalen Welt des Anderen. Kein Blindgeborener kann beim Nachbarn in Erfahrung bringen, wie die Farbe Rot aussieht. Und doch sind alle diese Welten in wesentlichen
1 Jaspers (1957) p. 442f
38 Kapitel 2. Was ist Wahrheit?
ph
ä n o men . W e l t h ä n o men . W e l t p
ICH DU
DU
ICH
n
6WLPXODWLRQ
Selektio
Selektio
n
.DWHJRULHQ
Ökologie Abbildung 2.7 Die Epistenmologie des kritischen Realismus.
Zügen kongruent, weil ihnen Hirnprozesse zugrunde liegen, die sich an dieselbe Ökologie anpassen mussten. Es war Kants zeitbedingt verzeihliches Versäumnis, dass er meinte, die Umwelt mache sich dem Organismus allein durch die Stimulation der Sinnesorgane bemerkbar. Träfe dies zu, dann hätte er recht; denn verglichen mit dem wohlgeordneten Reichtum der Lebenswelt ist das, was sich auf der Rezeptorebene abspielt, wirklich nur eine dürftige Botschaft. Vom Epos des Weltgeschehens erreichen uns im aktuellen Vollzug immer nur wenige Stichworte; alles andere ist kongeniale Rekonstruktion. Aber für diese bedarf es eben keiner metaphysischen Instanz; Kants „Kategorien“ sind abstrakte Beschreibungen der Verarbeitungsprinzipien, die die Umwelt unseren Gehirnen in Hunderten von Jahrmillionen durch Selektion aufgezwungen hat.
Ortho-, Para- und Metakosmos Veridikalität und Objektvität Gesetzt, der kritische Realismus habe recht, darf man dann statt „veridikal“ wieder „wahr“ oder „richtig“ sagen? Ganz so einfach ist es nicht. Wenn Veridikalität nämlich das Produkt eines Selektionsprozesses ist, der unserem Erkenntnisapparat im Laufe der Phylogenese seine Funktionstüchtigkeit angezüchtet hat, dann unterliegt sie einer Reihe nichttrivialer Einschränkungen. Diese sind für unser Thema von so zentraler Bedeutung, dass wir sie HUVFKORVVHQ ZDKUJHQRPPHQ genauer erörtern müssen. Vorhin wurde gesagt, es sei sinnlos, eine kopiergeErscheinung naue Deckung des Phänomens mit dem Ding-an-sich zu fordern, weil niemand die beiden unmittelbar verDing Reprä- gleichen könne. Nun gibt es aber indirekte Verfahren, sentation mit denen sich die Übereinstimmung analog zur Peiltechnik bei der Landvermessung immerhin wenigstens abschätzen lässt. Die unmittelbare Wahrnehmung ist ja nicht der einzige Zugang zum Ding-ansich; ich kann es über weitere Kanäle anvisieren, insAbbildung 2.8 Zur Objektivierung der Veridikalität durch Triangulation besondere mit den Messmethoden der Naturwissenschaft. Damit vermag ich mich zwar auch nicht mit ihm kurzzuschließen, irren kann ich mich immer noch, und auf Sinnesdaten bleibe ich allemal angewiesen; aber es macht doch einen Unterschied, ob ich die Röte einer Rose nur mit dem bloßen Auge erkenne oder auch noch über den Messstreifen eines Spektrometers bestimme. Mit dem so gesammelten Datenmaterial lässt sich, wie die moderne Physik zeigt, das An-Sich der Natur ganz respektabel einkreisen. Wir haben von den
Ortho-, Para- und Metakosmos 39
Objekten unserer Welt also eine doppelte Kognition – zum einen die direkte Wahrnehmung, zum anderen die Inhalte des wissenschaftlichen Weltbildes (Abbildung 2.8). Angenommen nun, ein kognitiver Inhalt werde durch jede beliebige wissenschaftliche Bestimmung immer wieder gleichsinnig bestätigt. Wir sagen dann, seine Veridikalität nähere sich dem Grenzfall der Objektivität. Demnach gibt es auch nichtobjektive Veridikalität. Machen wir uns diese zunächst überraschende These an Hand eines einfachen Beispiels klar. Stichlingsmännchen vertreiben Rivalen, die sich ihrem Nest nähern. Sie erkennen diese an deren leuchtend rotem Bauch. Wenn man nun aber einen roten Hartgummiball ins Wasser senkt, wird dieser ebenfalls heftig attackiert. Das ist keine objektive Reaktion, sondern ein Irrtum. Anthropomorph ausgedrückt würde man sagen, das Männchen hat den Ball „für einen Rivalen gehalten“. Unterstellen wir nun aber einmal, die Sehschärfe eines Fisches dieser Spezies sei konstitutionell begrenzt, sodass er auch von einem echten Rivalen zunächst nur einen rötlichen Schimmer wahrnimmt. Genauere Nachprüfung würde Zeit kosten und könnte strategische Nachteile im Gefolge haben. Wäre sein Verhalten dann nicht gleichwohl adaptiv; wenn in seiner natürlichen Umwelt rote Objekte, die keine Stichlingsmännchen sind, ohnehin nicht vorkommen? Es wäre eine nutzlose, aufwendige und ihrerseits fehleranfällige Verschwendung, wenn die Rivalenreaktion an Zusatzbedingungen gebunden wäre. Wenn wir Veridikalität also als das adaptive Optimum des kognitiven Apparates definieren, dann ist genau dieser Irrtum veridikal! Beim Menschen wäre als Parallele beispielsweise die generelle Schlangenfurcht zu nennen. Zumindest als Kind haben wir einfach noch nicht die kognitive Kompetenz, giftige von ungefährlichen Schlangen zu unterscheiden; also ist es adaptiv und damit veridikal, auch Ringelnattern und Blindschleichen aus dem Wege zu gehen.
Abbildung 2.9 veranschaulicht den Zusammenhang. Eine Klasse von Objekten variiere auf einer Merkmalsskala, beispielsweise in der Größe. Der Gesichtssinn liefere aber bauplanmäßig nur eine verschwommene Objekt sensor. Meldung Reaktion Deutung Meldung. Wie soll der kognitive Apparat diese dann deuten, das heißt: Welche Reaktion soll er O ND LGL YHU auslösen? Käme es allein auf Objektivität an, RREMHNWLY müsste er der wahrscheinlichsten Hypothese folgen, also von einem Objekt mittlerer Größe ausgehen. Nun ist jedoch noch eine weitere Variable zu berücksichtigen, nämlich das Abbildung 2.9 Kognitive Adaptation bei asymmeRisiko, das mit einem Irrtum verbunden ist. trisch verteiltem Risiko Verteilt es sich unsymmetrisch über die Merkmalsskala, sind also etwa nur sehr große Exemplare gefährlich, während kleinere harmlos sind, so ist es adaptiv, auf Objektivität zugunsten einer heilsamen Voreingenommenheit zu verzichten. Die veridikale Deutung besteht in diesem Fall darin, die Größe des Objektes zu überschätzen.
40 Kapitel 2. Was ist Wahrheit?
Veridikalität und soziale Wahrnehmung Damit ist eine interessante Frage aufgeworfen: Unter welchen Umständen nähert sich Veridikalität der Asymptote der Objektivität überhaupt soweit, dass man den Unterschied vernachlässigen kann? Ist der menschliche Erkenntnisapparat auf einer derart hohen Stufe angekommen? Ist der Mensch, wie man so schön sagt, wirklich das Lebewesen, das nach der Wahrheit um ihrer selbst willen strebt? Auf den ersten Blick neigt man dazu, diese Frage zu bejahen. Der Mensch erfährt die Welt ja wirklich als Spielmaterial unbegrenzt variabler Lebensentwürfe; um so symmetrischer sollten sich dann aber auch die Risiken des Irrtums verteilen, umso nützlicher sollte es sein, die Objekte so präzise wie möglich zur Kenntnis zu nehmen. Das gilt indessen nur für einen Ausschnitt der Welt, für jenen nämlich, der von Belang für die Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen ist. Für jenes Wissen also, das beim Werkzeuggebrauch seinen Ausgang nahm, Technik und Zivilisation möglich machte und seine Sublimierung im Objektivitätsanspruch der empirischen Wissenschaft gefunden hat. Nun ist aber gar nicht sicher, ob die Eroberung, Urbarmachung und Domestikation der physischen Umwelt überhaupt der wichtigste oder gar alleinige Schrittmacher der kognitiven Evolution gewesen ist. In letzter Zeit bricht sich zunehmend die Ansicht Bahn, die eigentliche Herausforderung für die menschliche Intelligenz habe in der Beherrschung der Probleme gelegen, die sich beim sozialen Umgang mit Unseresgleichen stellen.1 Vergröbert gesagt, habe der Mensch seine Schlauheit entwickelt, um erfolgreicher kooperieren zu können, aber auch, um die eigene Effizienz im Konkurrenzkampf mit Rivalen zu steigern. Zweifellos sind wir mit einem beträchtlichen Anteil unserer kognitiven Kapazität damit beschäftigt, die engeren und weiteren zwischenmenschlichen Beziehungen im Sinne unserer Interessen zu manipulieren. Gerade hier aber sind die Risiken des Irrtums oft erstaunlich asymmetrisch verteilt. Zwanghaft angestrebte Objektivität wäre dabei oft ebenso dysfunktionell wie die akribische Schonung ungiftiger Schlangen. Für das Thema des vorliegenden Buches ist das insofern relevant, als offenkundig auch die Weisheit, die uns moralisch urteilen lässt, zu den Instanzen der sozialen Intelligenz gehört. Wir haben hier also gleichermaßen mit systematischen, in unserem kognitiven Bauplan von Natur aus vorgesehenen Missweisungen zu rechnen. Dass ein Gott existiert, der nur der eigenen Heerschar gewogen ist und nicht etwa der des Gegners, ist eine höchst nützliche Erdichtung, die der Gruppe im Zweifelsfall das kriegsentscheidende Durchhaltevermögen bescheren kann. Dasselbe gilt für allgemein geteilte Ansichten über die Minderwertigkeit eines Nachbarvolkes. Und wenn ein Dorf zu dem Konsens kommt, dass ein bestimmtes, sozial schlecht vernetztes Mitglied eine für die Missernte verantwortliche Hexe und daher zu töten sei, dann schadet das außer der Betroffenen niemandem und entlastet die Gemeinschaft emotional. Ich überlasse es der Phantasie des Lesers, solche Beispiele in ein aktuelleres Format zu übersetzen. 1 Dunbar (1998)
Ortho-, Para- und Metakosmos 41
Drei Klassen von Evidenz Auf Seite 34 haben wir festgestellt, dass es naiv wäre, das Gefühl der Evidenz als unfehlbares Indiz der Veridikalität oder, wie nun hinzuzufügen wäre, gar der Objektivität zu werten. Das gilt besonders für jene Dimensionen der Wirklichkeit, die wir gar nicht zu verstehen brauchen, um überleben und uns erfolgreich fortpflanzen zu können. Die Relativitätstheorie und die Quantenphysik handeln von solchen Gegenstandsgebieten: An Lichtjahre und Nanometer hat sich unsere Sensumotorik nie anpassen müssen. Gerhard Vollmer hat vorgeschlagen, in diesem Zusammenhang vom „Makro-“ und „Mikrokosmos“ zu sprechen, die auf unseren Erkenntnisapparat nie einen Selektionsdruck ausgeübt haben, und von beiden den „Mesokosmos“ zu unterscheiden, eine Welt mittlerer Größenordnung, die allein sich unserer Evidenz erschließt.1 Diese Terminologie ist allerdings wenig hilfreich, da sie sich an dem unwesentlichen Kriterium des Größenmaßstabs orientiert. Wenn die Welt des Riesengroßen und des Winzigkleinen beide außerhalb unserer kognitiven Anpassung liegen, lohnt es sich im Rahmen unserer Fragestellung nicht, sie zu unterscheiden. Wir fassen sie dann besser unter einem gemeinsamen Oberbegriff zusammen, wofür sich die Bezeichnung Metakosmos anbietet. Umgekehrt ist wiederum die Rubrik „Mesokosmos“ zu undifferenziert. Die Welt mittlerer Größenordnung enthält drei epistemologisch zu trennende Elemente: Da gibt es einmal einen im Laufe der Phylogenese ständig wachsenden Kernbereich, auf dessen objektiver Kognition ein Selektionsdruck liegt; wir haben dafür die Gegenstandsfelder der Werkzeugintelligenz als prototypisch ausgemacht. Diesen Sektor der Realität heben wir nachfolgend als Orthokosmos separat hervor. Der Orthokosmos erwuchs aus einem phylogenetischen Nährboden, der sich den Luxus der Objektivität noch nicht leisten konnte, sondern auf asymmetrische Irrtumsrisiken eingestellt war. Auch er hat einen Selektionsdruck ausgeübt, auch bei ihm geht es also um Veridikalität; aber deren Optimum liegt nicht bei kompromissloser Objektivität, sondern gewissermaßen knapp daneben, in der Randzone systematischer Missweisung. Diesen Wirklichkeitsbereich wollen wir den Parakosmos nennen. Wir müssen damit rechnen, dass die soziale Wirklichkeit, einschließlich ihrer moralischen Dimension, auf weite Strecken parakosmisch organisiert ist. Und schließlich enthält die Welt mittlerer Größenordnung auch Bereiche, die unserem kognitiven Apparat nie eine Anpassung abverlangt haben und demgemäß dem Metakosmos zuzurechnen sind. Vor allem ist hier der gesamte Fragenkomplex zu nennen, der sich um den Zusammenhang zwischen Gehirn und Bewusstsein rankt, einschließlich der gegenwärtig von einigen Neurowissenschaftlern so voreilig unter Berufung auf recht naive Evidenzen abgefertigten Frage nach der Willensfreiheit. Eine entsprechende Differenzierung sollten wir auch im Feld der Evidenzen vornehmen (Abbildung 2.10). Da gibt es zunächst die orthokosmische Evidenz, die immerhin 1 Vollmer (1975)
42 Kapitel 2. Was ist Wahrheit?
Evidenz
parakosmische
metakosmische
orthokosmische
ihr Bestes tut, dem Ding-an-Sich so objektiv wie möglich zu entsprechen. Ein beträchtlicher Anteil an subjektiver Gewissheit ist jedoch auch beim Menschen noch parakosmisch. Und schließlich gibt es eine Art von Evidenzgefühlen, die der Erkenntnisapparat wie Luftwurzeln im leeren Raum treibt, weil sie Themen betreffen, bei denen er sich nie mit dem Ding-an-sich auseinandersetzen musste. Diese Evidenzen stören mehr, als sie nützen, weil sie uns objektiv ZutrefDing Ding n fendes als absurd und paradox zu verleiden trachten. a an Sie künden von einem Metakosmos, von dem sie nicht s ch si sich h einmal garantieren können, dass er überhaupt existiert, geschweige denn, dass er so beschaffen sei, wie sie ihn sich ausmalen. Man sieht es einer Evidenz nicht an, zu welcher der Abbildung 2.10 Drei Formen von Evidenz. drei Klassen sie gehört. Die empirische Forschung verdie Pfeile weisen zu den Objektbereichen, zichtet deshalb am liebsten ganz darauf, einer These nur deren kognitive Erfassung durch die deshalb Glauben zu schenken, weil sie einleuchtend betreffende Evidenzklasse signalisiert klingt, und fordert Objektivitätskriterien ein. Der Philowird. sophie aber mangelt es an solchen Kriterien; daher geschieht es ihr immer wieder, dass sie sich, verloren im metakosmischen Niemandsland, wie herbstliches Laub von den Windböen subjektiver Evidenzen davontragen lässt und dort, wo sie die Sphärenklänge des „Seins“ zu vernehmen meint, nur noch das Eigenrauschen eines überforderten Kognitionsapparates abbildet.
Höhenlinien Am Anfang dieses Kapitels war von einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs die Rede, der zufolge ein für den Menschen erkennbares objektives Sittengesetz existiert. Ist ein verbindlicher Moralkodex also Bestandteil des Orthokosmos? Auf so eine Idee können wohl nur Juristen kommen, deren Vorstellung von wissenschaftlichem Denken auf die Kunst hinausläuft, den gesunden Menschenverstand zu einem außergerichtlichen Vergleich mit sich selbst zu überreden. Böckenförde macht es sich allzu bequem, wenn er für den Rechtsphilosophen ein Vorkaufsrecht auf die Wahrheit reklamiert. Er beruft sich immer nur auf seine Evidenz; die aber kann von sich aus keine Objektivität garantieren, und man darf bezweifeln, ob hier auch nur wenigstens Veridikalität im Bauplan der menschlichen Kognition als Sollzustand vorgesehen ist. Das hat erhebliche Konsequenzen für die Frage, ob schon ein Achtzeller Träger der Menschenwürde sei. Das Grundgesetz unterstellt, dass man schon weiß, was die Worte „Mensch“ und „Würde“ besagen. Das Problem ist aber, dass die Umgangssprache Wortbedeutungen nicht durch Definitionen festlegt, sondern nur durch die Zusammenstellung einiger Exemplare, die den Begriff besonders rein und plausibel verkörpern. Diese nennt man Prototypen. Wenn man beispielsweise das Wort „Vogel“ hört,
Ortho-, Para- und Metakosmos 43
denkt man eher an ein Rotkehlchen als an einen Pinguin. Solche Begriffsbestimmungen haben den Mangel, dass ihre Reichweite nirgends klar festgelegt ist. Wer sie benützt, hat dasselbe Problem wie ein Geograph bei der Kartographie von Gebirgsformationen: Er muss Höhenlinien zeichnen (Abbildung 2.11), und wenn er den Begriff wirklich definieren will, bleibt ihm nichts übrig, als eine davon herauszugreifen und als Grenze festzulegen. Einer solchen Definition haftet unvermeidlich ein Moment der Willkür an. Und vor demselben Problem steht eben auch, wer auslegen möchte, was sich aus dem Grundgesetz bezüglich der Formel „Würde des Menschen“ folgern lässt. Natürlich besteht voller Konsens, solange wir nach dem Prototypen des Begriffs fragen. Menschenwürde – das ist zunächst einmal dasjenige in mir, das sich wehrt, wenn mich jemand demütigen, manipulieren, als Werkzeug für seine Zwecke missbrauchen will. Hier, im Kern des Bedeutungsfeldes, ist alles einfach: Hier deckt sich der Begriff des Menschen mit dem der Person. Aber wie steht es an den Randbereichen? Dort, wo der Mensch noch keine Person ist? Hat ein Achtzeller schon „Würde“? Böckenförde dekretiert das einfach. Der Begriff „Person“ kommt ihm da gar nicht gelegen, dieser stelle „eher eine Gefahr als Abbildung 2.11 Höhenlinien einen Nutzen“ für die Diskussion dar. Es ist freilich nur eine Gefahr für den Standpunkt, den er selbst vertritt. Tatsächlich sind die „Höhenlinien“ der Definition „Mensch“ (= Lebewesen mit einem bestimmten Chromosomensatz) erheblich weiter als die des Begriffs „Person“ (dito + reifebedingte Fähigkeit, sich gegebenenfalls als entwürdigt zu empfinden). Das Grundgesetz hat jedoch nun einmal keine bestimmte Höhenlinie vorgeschrieben, sondern sich mit einem prototypischen Verständnis des Berggipfels begnügt. Alles andere bleibt Auslegung, und wenn Dr. iur. X hier anders urteilt als Dr. rer. nat. Y, dann hat ihn dazu keine Wesensschau des Metakosmos ermächtigt. Dem einen mag die eine Lösung einleuchten, dem anderen die andere, das hängt von vielerlei Faktoren ab – vom ideologischen Klima, von der persönlichen Interessenlage, vom rhetorischen Geschick, mit dem es den Anwälten einer bestimmten Auslegung gelingt, diese darzustellen. Mit Wahrheit aber hat das alles nichts zu tun. Das mag uns gefallen oder nicht; die Ehrlichkeit gebietet, es zuzugeben.
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Zwischenbilanz Die Epistemologie (Erkenntnistheorie) untersucht die Beziehung zwischen einer bewusstseinsjenseitigen Wirklichkeit (Kants „Ding-an-sich“) und deren kognitiver Repräsentation als Erlebnisinhalt („Phänomenale Welt“). Die erkenntnistheoretische Position, von der dieses Buch ausgeht, wird als kritischer Realismus bezeichnet. Sie betrachtet die Phänomenale Welt als Resultat des organismischen Bemühens, das Ding-an-sich zu rekonstruieren. Damit hält sie eine Mittelposition zwischen dem naiven Realismus, der das Phänomen mit dem Ding-an-sich identifiziert, und dem Kantischen Kritizismus, der jede Brücke zwischen beiden abbricht und dem dadurch drohenden Auseinanderfall der Subjekte durch die Konstruktion eines überindividuellen „Bewusstseins überhaupt“ vorbeugen möchte. Die evolutionäre Erkenntnistheorie, auf die sich der kritische Realismus heute stützt, erfordert die Unterscheidung der folgenden drei Begriffe: Evidenz = die Kognition erscheint subjektiv als einleuchtend. Veridikalität = die Kognition löst Reaktionen aus, die die Adaptivität des Empfängers an das Objekt optimiert. Objektivität = die Kognition wird durch jede verfügbare messtechnische Triangulation bestätigt. Die bewusstseinsjenseitige Welt gliedert sich epistemologisch in drei Bezirke: Der Orthokosmos übt einen Selektionsdruck auf objektive Kognition aus, Der Parakosmos selektiert auf adaptive Fehlwahrnehmung, Der Metakosmos selektiert überhaupt nicht auf kognitive Anpassung und gestattet somit frei flottierende Evidenzgefühle. Die philosophische Anthropologie ist mehrheitlich bestrebt, die Evidenz moralischer Werte orthokosmisch zu verankern. Dabei folgt sie oft der heuristischen Suggestivkraft eines dreistufigen Ordnungsmusters, das sich wie folgt kennzeichnen lässt: Trialistisches Schema: Der Mensch nimmt eine Mittelstellung im Überschneidungsbereich einer spirituellen und einer materiellen Sphäre ein, die in einer vertikalen Raumsymbolik verstanden werden und tendenziell die Konnotation von „Gut“ und „Böse“ mittransportieren. Die bisher angestellten Überlegungen bieten keinerlei Anhaltspunkte für die vom Bundesgerichtshof dekretierte „Objektivität“ des Sittengesetzes. Formulierungen wie „vorgegeben“ und „für den Menschen erkennbar“ umschreiben nur eine metakosmische Evidenz, mit der keine ontologische Realität korrespondiert. Die philosophische Ethik weigert sich freilich, diese Einsicht zu akzeptieren. Wir kommen daher nicht umhin, die Argumente zu prüfen, die in ihrer Geschichte vorgebracht wurden, um den Eindruck wach zu halten, man könne eben doch Prinzipien des richtigen Verhaltens aufweisen, bei denen sich aus irgendwelchen Gründen ein Weiterfragen erübrigt.
Kapitel 3 Auf der Suche nach Letztbegründung Naturalistische Begründungsversuche Natur und Setzung Die Hoffnung, doch noch auf oberste, keines Beweises mehr bedürftige Wahrheiten zu stoßen, aus denen sich moralische Normen legitinmieren lassen, hat in der philosophischen Ethik einen Namen, er lautet Letztbegründung. Die Überlegungen der vorangegangenen Kapitel entziehen dieser Hoffnung allerdings die Grundlage. Wenn alle Seile gekappt sind, mit denen wir das Sollen am Sein verankern könnten, dann ist „Ethik“, sofern man sie nicht nur als Theoriegeschichte verstehen will, eine gegenstandslose Disziplin. Ihre Evidenzen verhallen im Metakosmos. Die Inhaber der für dieses Fach eingerichteten Lehrstühle könnten sich niemals auf dieselbe objektiv fundierte Kompetenz berufen, wie sie etwa vor der Errichtung eines Hochhauses einer Expertise über Baustatik zugebilligt wird. „Ethikkommissionen“ urteilen wie eine Jury im amerikanischen Rechtssystem. Es gibt anständige Menschen, aber es gibt keine „Sachverständigen“ für Gut und Böse. Wenn das freilich zutrifft, dann entspringen alle geistvollen Versuche, moralische Prinzipien unter Berufung auf ihre Evidenz zu legitimieren, dem kollektiven Bemühen um eine metaphysische Utopie. Können zweieinhalb Jahrtausende abendländischer Geistesgeschichte wirklich in einer solchen Bankrotterklärung enden? Leider ist der rhetorische Appell dieser Frage kein hinreichender Grund, sie zu verneinen. Die Ahnung, dass hier Skepsis angesagt ist, reicht bis zu den Sophisten zurück, die in der Frühzeit der griechischen Demokratie immer wieder erlebten, wie mit dem Wechsel von Verfassungen auch die Gesetze sich wandeln. Man erkannte, dass etliche geltende Normen zeitgebunden und gar nicht legitimierbar sind, weil sie vom Menschen bloß willkürlich gesetzt wurden. Die Auffassung, dass dies für alle Rechtsgrundsätze überhaupt gelte, bezeichnet man heute als Konventionalismus oder Positivismus. Demnach legitimieren sich geltende Normen einfach aus der Tatsache, dass Menschen übereingekommen sind, sie für verbindlich zu erklären. Es gibt keine inhaltlichen Gründe, aus denen sich stringent herleiten ließe, dass eine Norm einer anderen überlegen sei. Eine solche „Lösung“ des Legitimationsproblems kommt Alexanders Schwerthieb auf den Gordischen Knoten gleich. Sie hat den Vorzug der Konsistenz, aber sie führt zu unerträglichen Folgerungen. Im Oktober 1999 wurde im amerikanischen Bundesstaat Colorado ein elfjähriger Schweizer Junge in Handschellen abgeführt und wochenlang ins Untersuchungsgefängnis geworfen, weil er sich nach Aussage der Nachbarin im Garten an der fünfjährigen Stiefschwester zu schaffen gemacht hatte. Gegen ihn wurde Anklage wegen schweren Inzests erhoben.
46 Kapitel 3. Auf der Suche nach Letztbegründung Nach geltendem Recht war das Verhalten der Behörden korrekt. Ist damit alles klar? Ist es wirklich nur Geschmackssache, wenn wir in dieser Maßnahme einen empörenden Fall von Unverhältnismäßigkeit sehen? Das Problem stellte sich insbesondere nach dem Zusammenbruch der Nazi-Herrschaft in Deutschland. Die im Nürnberger Tribunal verurteilten Kriegsverbrecher hätten sich in den meisten Anklagepunkten auf zur Tatzeit in Deutschland geltendes positives Recht berufen können. Eine strikt positivistische Rechtsauffassung würde zu fragen aufhören, wo zumindest unser Bedürfnis nach tiefer gehender Klärung noch längst nicht gestillt ist. Es muss doch einen Grund haben, wenn eine Gesellschaft übereinkommt, sich gerade diese und keine anderen Gesetze zu geben! Schließlich hatte schon Sophokles in der Antigone überzeugend dargetan, dass neben dem von Menschen gesetzten Recht auch noch so etwas wie eine innere Verpflichtung spürbar ist, der man im Konfliktfall den Vorrang einzuräumen hat. Die Selbsterfahrung bezeugt die Existenz eines unreflektierten Rechtsempfindens, das gewissermaßen die Kerne vorgibt, um die sich dann juristische Strukturen kristallisieren. Auch die Sophisten konnten sich diesem Eindruck nicht verschließen. Sie stellten den auf „Satzung“ (thesis) beruhenden Verhaltensvorschriften daher noch einen evidenten, der Willkür entzogenen Bestand unumstößlicher Normen gegenüber, die eines positiven Aktes der Kanonisierung weder bedürfen noch durch einen solchen außer Kraft gesetzt werden können. Für die Legitimation dieser Normen brachten sie den Begriff „Natur“ (physis) in die Diskussion ein. Damit erwuchs der positivistischen Position ihr ältester und mächtigster Widerpart, die Lehre vom Naturrecht.
Der historische Wandel des Naturbegriffs Was heißt nun aber „Natur“? Der Begriff hat in der abendländischen Geistesgeschichte recht verschiedene Ausdeutungen erfahren, die letztlich nur miteinander gemein hatten, dass sie etwas ansprachen, was sich der Beliebigkeit entzieht und demgemäß aller Gesetzgebung vorgeordnet ist. Die inhaltliche Interpretation unterlag historischem Wandel, in dessen Verlauf sich das Bedeutungsfeld des Naturbegriffs immer mehr eingeengt hat. Ursprünglich, im griechischen Altertum, spielte ein Dualismus von Materie und Geist, wie er heute etwa in der Unterscheidung von „Natur-“ und „Geisteswissenschaften“ anklingt, noch keine Rolle. Auch die Übernatur eignete sich nicht als Kontrast; die Götterwelt war selbst Bestandteil des Kosmos. Natur war mehr oder minder deckungsgleich mit dem Seienden schlechthin, und wie wir bereits in Kapitel 1 sahen, lag es nahe, dieses Ens schlicht mit dem Bonum zu identifizieren. In der jüdisch-christlichen Tradition verschärfte sich zwar die Trennung von Schöpfer und Kreatur, und die „Natur“ bezog ihre Ordnung nicht mehr aus der Wesensverwandtschaft mit Gott, sondern aus dessen Gestaltungswillen; aber auch das genügte noch, um sie als Offenbarung verbindlicher Lebensregeln zu lesen. Von der Renaissance an beobachten wir dann den in Abbildung 1.1 dargestellten Prozess, in dem sich die Naturordnung mehr und mehr von der Theologie emanzipierte. Sie
Naturalistische Begründungsversuche 47
säkularisierte sich von einem göttlichen Schöpfungsplan über einen zur Weltseele verselbstständigten Logos zu einem Kanon von Erhaltungssätzen und Symmetriepostulaten. Da das Bonum als oberstes präskriptives Prinzip aber nicht von Gott lösbar war, wurde es zunehmend schwierig, die Klammer von Sein und Sollen aufrechtzuerhalten. Die Natur zog sich immer enger um den Pol des Ens zusammen, dieses konkretisierte sich mehr und mehr zur sinnlich belegbaren Empirie, und so stürzte schließlich die Brücke zum Sollen ein, an deren Trümmern heute nur noch die Warntafel vor dem Naturalistischen Fehlschluss Wache hält. Die Lehre vom Naturrecht stammt aus der Zeit, in der dieser Endzustand noch nicht erreicht war. Anfangs erschien es noch nicht einmal widersinnig, juristische Prinzipien sogar auf physikalische Gesetze zurückzuführen, wie es gegen Ende des 16. Jahrhunderts der damals hochgeachtete Rechtslehrer Albericus Gentilis versuchte. Eine solidere Basis gewann der naturrechtliche Denkansatz aber erst, als Hugo Grotius und seine Nachfolger den rechtsbegründenden Naturbegriff auf die menschliche Natur einengten. Wobei zu beachten ist, dass damit nicht etwa einem Biologismus das Wort geredet war; man bezog sich gerade auf das, worin sich der Mensch von der übrigen Kreatur unterscheidet und über sie erhebt. Die im vorigen Kapitel diskutierte Menschenwürde ist wohl die prominenteste dieser spezifischen Differenzen. Das Naturrecht soll garantieren, dass der Mensch als Mensch existieren und seiner Natur gemäß Erfüllung finden kann. Der Biologismus fällt erst in die Schlussetappe dieser Entwicklung. Ab etwa dem fin de siècle erfuhr der Naturbegriff seine letzte und radikalste Einengung; er schrumpfte just auf den in der Aufklärung noch ausgegrenzten Bodensatz der tierischen Natur. Erst jetzt wurde tatsächlich der Versuch unternommen, die Moral vulgärdarwinistisch aus der Biologie zu begründen. Den Ton, den man hier vernimmt, hat Ernst Haeckel vorgegeben. In seinen „Welträtseln“ entwirft er eine „monistische Sittenlehre“.1 Es gebe, heißt es darin, „nicht zwei verschiedene, getrennte Welten: eine physische, materielle und eine moralische, immaterielle Welt“; vielmehr bilde das „geistige und sittliche“ Leben des Menschen nur einen Teil des Kosmos, und die Evolutionstheorie habe gezeigt, dass die „ewigen, ehernen Naturgesetze“ der anorganischen Welt auch in der „organischen und moralischen Welt“ Geltung hätten. Haeckels Einlassungen bestechen nicht eben durch Subtilität. Leider hat sein Denkstil in der Biologie bis heute Tradition. Als Fortschritt ist allenfalls zu werten, dass sich mittlerweile auch bei Autoren, die in seinem Kielwasser rudern, herumgesprochen hat, dass man nicht vom Sein aufs Sollen schließen kann. Daher fehlt es kaum mehr an diesbezüglichen Lippenbekenntnissen. Womit es aber meist auch sein Bewenden hat; für den Rest der Abhandlung ist man dann damit beschäftigt, tapfer sündigend just das zu tun, dem man eben noch feierlich abgeschworen hatte.
1 Haeckel (1909) p. 217ff
48 Kapitel 3. Auf der Suche nach Letztbegründung Am häufigsten ist dieser Effekt bei Vertretern der Ethologie und der aus ihr hervorgegangene Soziobiologie zu beobachten. So liest man etwa bei E. O. Wilson, es sei – zumindest vorübergehend – „an der Zeit, die Ethik den Philosophen aus den Händen zu nehmen und zu biologisieren“, und den nahezu unerträglichen Höhepunkt dieser Entwicklung markiert zur Zeit Richard Dawkins in seinem mit stumpfer Keule geführten Kreuzzug für ein atheistisches Weltbild.2
Kritik des naturalistischen Ansatzes Die Achillesferse der Naturrechtslehre ist offensichtlich der naturalistische Trugschluss, der allerdings kaum auffällt, weil es üblich ist, abgedämpfte Begriffe zu verwenden oder brisante Vokabeln wie „richtiges Verhalten“ prophylaktisch in Anführungszeichen zu setzen. Man transportiert die Botschaft zwischen den Zeilen und achtet darauf, sich durch mitgelieferte gegenläufige Bekenntnisse der Haftung für diese Konterbande zu entledigen. Recht deutlich ist diese Technik bei dem Lorenz-Schüler Wolfgang Wickler zu besichtigen, der das Moralthema explizit in einer Buchveröffentlichung mit dem Titel „Die Biologie der Zehn Gebote“ angeht.3 Darin sichert sich der Autor zunächst mit dem Bekenntnis ab, der Biologe könne grundsätzlich zwar richtige und falsche Verhaltensweisen unterscheiden, wenn er sie daran misst, ob sie für das Überleben des Individuums oder der Art nützlich oder schädlich sind. Eine ethische Wertung nach gut und böse aber ist ihm unmöglich.
Unter solchem Immunschutz lässt sich dann in aller Unschuld geltend machen, die Biologie biete „Denkwege“ zum „Sinn“ sittlicher Normen an, es ginge darum, ethische Bewertungen „auf biologische Grundlagen abzubilden“, und dem menschlichen Handeln lägen „Naturgesetze“ zugrunde, die „Richtlinien“ für die Aufstellung „verbindlicher Normen“ lieferten. Konkret entspreche etwa das biblische Tötungsverbot „dem Naturrecht und den Naturgesetzen der Arterhaltung“, denn unter „richtigem“ Verhalten könne man „ganz allgemein das auf den Fortbestand der Art gerichtete Verhalten verstehen“.
Im Klartext klänge die These wie folgt. In der Natur waltet eine „Ordnung“. Der Autor spricht, an die Adresse von Theologen gerichtet, von einem „Schöpfungsplan“, meint aber einen unter dem Druck der Selektion evolvierten Gleichgewichtszustand. Diese Ordnung ist störbar und kann „misslingen“; sie funktioniere nur, wenn die Komponenten auf ganz spezifische Weise ineinandergreifen. Der entscheidende Satz lautet dann: Daraus folgt, dass, solange jede Einsicht in das Wirkungsgefüge der Schöpfung fehlt, die sittlichen Forderungen mit den natürlichen Gesetzmäßigkeiten identisch sein müssen.
1 Wilson (1975) p. 562 2 Dawkins (2007) 3 Wickler (1971)
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Gemeint ist hier das instinktiv geregelte Verhaltensinventar der Tiere. Die Maximen, nach denen der frei und kreativ in das Weltgeschehen eingreifende Mensch sich richten muss, um die Weltordnung nicht zu „ruinieren“, könnten daher keine anderen sein als jene „Naturgesetze des Verhaltens“, die auf der Instinktstufe diese Ordnung gewährleisten. Der Gleichgewichtszustand, in dem sich das System Natur historisch stabilisiert hat, begründet demnach den moralischen Imperativ. Das ist der naturalistische Trugschluss in Reinkultur. Man muss hier wirklich sorgsam differenzieren. Solange Moral einfach als ein Teilmechanismus unserer arteigenen Antriebsstruktur verstanden wird, als ein genetisch angelegtes Programm, das uns motiviert, manche Handlungen auszuführen und andere zu unterlassen, das in uns Empörung weckt, wenn Mitmenschen gegen seine Direktiven verstoßen, und das uns mit Schuld- und Schamgefühlen, vielleicht auch mit psychosomatischen Symptomen traktiert, wenn wir selbst ihm zuwiderhandeln – solange man also im Sinne des zweiten Themas aus der Tabelle Seite 26 nur die Ätiologie moralischer Wirkungsgefüge untersucht, lässt sich gegen einen naturalistischen Standpunkt nichts einwenden, und wir werden ihn in der Folge selbst beziehen. Das alles ist aber von der Frage zu trennen, ob jene natürliche Ausstattung in der Lage sei, Rechte und Pflichten zu begründen. Die Ethologie ist gut beraten, wenn sie zu ihrer diesbezüglichen Unzuständigkeit nicht nur Lippenbekenntnisse ablegt sondern daraus auch die argumentativen Konsequenzen zieht.
Intuitionistische Begründungsversuche Die geometrische Methode Eigentlich wurzelt die Naturrechtsidee nicht in biologistischem Denken; sie ist vor allem das Anliegen der Vertreter wertkonservativer Positionen, die die Geltung ethischer Normen darauf gründen möchten, dass sie „der unveränderlichen Personnatur des Menschen entsprechen“ und das „vollmenschliche Sein bedingen.“ Ihre geistige Heimat ist die Rechtsphilosophie. Für jemanden, der von den empirischen Wissenschaften herkommt, ist es nicht ganz einfach, sich in die juristische Denkweise einzustimmen. Das liegt an dem unterschiedlichen Stellenwert, der in beiden Fakultäten dem „gesunden Menschenverstand“ zukommt. Der Naturwissenschaftler misstraut diesem aus Prinzip und sucht sich daher von ihm unabhängig zu machen. Juristisches Denken aber könnte man geradezu durch das Bemühen kennzeichnen, ihn möglichst subtil auszuloten und seine Widersprüche in kreativen Synthesen aufzuheben. Hier werden die Adepten in der Kunst sozialisiert, auf hohem argumentativem Niveau Evidenzerlebnisse herbeizuführen. Juristische Argumente suchen den Anschluss an Prämissen, die auf anspruchsvolle Weise einleuchten. Solche übergeordneten Prinzipien, wie etwa der Gleichheitsgrundsatz oder die Achtung vor der Menschenwürde, müssen nicht, können aber kodifiziert sein, dies dann jedoch in so dehnbarem Format, dass genügend Spielraum für ihre
50 Kapitel 3. Auf der Suche nach Letztbegründung Auslegung bleibt. Man bezeichnet sie als „Generalklauseln“. Sie werden entweder überhaupt nicht begründet oder man verweist eben auf das Naturrecht; aber das sieht man nicht so verkniffen, und in der Regel schrumpfen alle diesbezüglichen Rechtfertigungen, nachdem sich der Weihrauch gelichtet hat, auf Formeln von der Art „auf erkennbare Weise“ oder „nach allgemeiner Überzeugung“. Philosophen genügt das freilich nicht; sie haben auch epistemologischen Ehrgeiz und geben sich daher nicht mit einem pragmatischen Verweis auf die vox populi zufrieden. Sie berufen sich gern auf Plato und beanspruchen für die obersten ethischen Prämissen den idealen Seinsmodus apriorischer Geltung. Stillschweigendes oder explizit angesprochenes Vorbild war dabei seit je die Mathematik. Sollte es nicht möglich sein, nach deren Vorbild auch die Legitimität moralischer Normen über logisch transparente Schlussketten auf ein paar Axiome zurückzuführen, bei denen sich ein Weiterfragen erübrigt? Es war eine verlockende Vision, dass die Wertwelt gegen Zweifel ebenso immun sei wie der Satz des Pythagoras. Ihr könnte aus solcher Sicht nur Ignoranz, nicht aber kritische Vernunft widersprechen. In diesem Sinne argumentierte im 17. Jahrhundert der holländische Völkerrechtler Hugo Grotius. Auch er vertrat eine Naturrechtslehre, deren Pointe aber eben darin bestand, dass sie sich auf geltende Vernunftwahrheiten stützen zu können glaubte. Selbst Gott, so lehrte Grotius, könne das Naturrecht nicht verändern, ebenso wenig wie er an dem Satz, dass zwei mal zwei vier ist, zu rütteln vermöchte. Ein halbes Jahrhundert nach ihm unternahm es Baruch Spinoza, Mathematik und Moral in einer Konsequenz gleichzusetzen, die kaum ein anderer Denker vor oder nach ihm erreicht oder auch nur versucht hat. Sein Hauptwerk formuliert schon im Titel den Anspruch, die Ethik more geometrico, nach dem Vorbild der Mathematik also, zu konstruieren. Seine moralphilosophische Beweisführung folgt dem Muster, aus einigen wenigen, für unbezweifelbar erachteten Axiomen jeweils in einer Kette strenger Syllogismen ein System normativer Lehrsätze herzuleiten. Man könnte das als philosophiegeschichtliches Kuriosum abbuchen, wäre da nicht außerdem ein Gedanke, in dem sich die hereinbrechende Neuzeit ankündigt und eine zunehmende Verlagerung vom Objekt aufs Subjekt erkennbar wird. Die Zweifelsfreiheit der obersten Prinzipien, in Ethik und Mathematik gleichermaßen, gründet für Spinoza in einer speziellen kognitiven Potenz, der Intuition, die er als „Erkenntnis der dritten Gattung“ von der sinnlichen und der begrifflichen Erkenntnis abhebt. Dazu schreibt er in Lehrsatz 2/40, Anmerkung 2 seiner „Ethik“: Es seien z. B. drei Zahlen gegeben, um die vierte zu erhalten, welche sich zur dritten verhält wie die zweite zur ersten. Ein Kaufmann wird sich nicht bedenken und die zweite und dritte multiplizieren, und das Produkt durch die erste dividieren, weil er nämlich das, was er von dem Lehrer ohne irgendeinen Beweis gehört, noch nicht vergessen hat. … Bei den einfachsten Zahlen aber bedarf es nichts dergleichen, z. B. bei den Zahlen 1, 2, 3 sieht jeder, dass die vierte Proportionale 6 ist, und zwar viel klarer, weil wir aus dem Verhältnisse der ersten Zahl zur zweiten, das wir auf den ersten Blick wahrnehmen, die vierte selbst erschließen.
Intuitionistische Begründungsversuche 51
Damit ist die moderne Unterscheidung von „diskursivem“ und „intuitivem“ Denken vorweggenommen. Das Erkenntnisvermögen wird in eine „niedere“ Funktion, die an der Empirie haftet, und eine „höhere“ der intuitiven Einsicht aufgespalten, in der subjektive Gewissheit und objektive Geltung zusammenfallen. Diese Koinzidenz legitimiert dann auch den Schluss vom Sein aufs Sollen: Während die niederen kognitiven Funktionen tatsächlich keinen imperativen Anspruch erheben können, fallen auf der intuitiven Stufe Sein und Sollen zusammen; hier sind, wie es unter Lehrsatz 2/49 heißt, „Wille und Verstand ein und dasselbe“. Spinozas Konzept einer Intuition, die die Evidenz von der Nachweispflicht der Veridikalität zu dispensieren scheint, hat in der Moralphilosophie bis in die Gegenwart ihren Reiz nicht verloren. Es gibt noch immer eine Schule des „Intuitionismus“, die meint, Normen könnten sich durch den Appell an „unmittelbare Einsicht“ legitimieren. Die Intuition nämlich, so etwa die schottische Autorität W. D. Ross, vermag das Gute als eine „prima-facie Verbindlichkeit“ zu erfassen, eine Sollensforderung werde durch sie „auf den ersten Blick“ als berechtigt eingesehen.1 Mit anderen Worten: Ausschließlich diskursives Abwägen kann den Faden verlieren, wenn etwas aber gleich auf Anhieb einleuchtet, dann ist es wundersam gegen Irrtum gefeit.
Sachverhalte und „Wertverhalte“ Der bekannteste moderne Vertreter des Intuitionismus war Max Scheler. Wie Spinoza unterscheidet auch er zwei Erkenntnisfunktionen; er nennt sie Erfahrung und Intuition. Jene ist an das täuschbare Zeugnis der Sinne gebunden, durch Denken überformt und oft auch verformt; nur die Intuition kann den Nebel durchdringen und zum Wesen vorstoßen. Allerdings deutet Scheler die Intuition weniger rational als emotional; so gelangt er zu einer in ihrer Einfachheit bestechenden Arbeitsteilung: die materielle Welt wird wahrgenommen, Begriffe werden gedacht, und Werte werden gefühlt. Emotionalität als Detektor einer nur ihr zugänglichen Wertwelt: das passt nicht schlecht zu der heutzutage fachwissenschaftlich akzeptierten These, dass Gefühle tatsächlich etwas mit der Evaluation, mit der Bewertung von Objekten, Personen und Ereignissen zu tun haben. Psychologisch hat Scheler also recht, wenn er geltend macht, dass wir uns bei moralischen Entscheidungen von Gefühlen leiten lassen. Es ist hier ähnlich wie beim Schönheitssinn. Wir kaufen uns ein teures Ölbild. Wir bezahlen sündhafte Preise für einen guten Platz in der Staatsoper. Und dabei sind wir durchaus wählerisch. Es gibt Komponisten, mit denen man uns jagen kann. Was macht den einen in unseren Augen oder Ohren zu einem großen, den andern zu einem minderen Künstler? Gewiss nicht die BerufsÄstheten, die Vorlesungen über Musikwissenschaft halten oder Ausstellungskataloge um seitenlange Vorworte bereichern. Sie mögen unser Kunstverständnis da und dort ein wenig ausweiten und verfeinern; aber das letzte Wort spricht unser ästhetisches Gefühl, und das verlangt gar nicht nach Rechtfertigung, es ist sich selbst genug. 1 Ross (1930)
52 Kapitel 3. Auf der Suche nach Letztbegründung Scheler geht freilich noch einen Schritt weiter, wenn er der Evidenz des Fühlens auch eine ontologische Entsprechung zuordnet. Wertverhalte Sein Hauptwerk zum Thema erschien in der Zeit des Ersten Welt,QWX krieges unter dem Titel „Der Formalismus in der Ethik und die LWLRQ materiale Wertethik“.1 Das Attribut „material“ artikuliert dabei die Überzeugung, dass Werten eine quasi substantielle Existenz SUBJEKT zukommt, unabhängig davon, ob es Wesen gibt, die sie erleben und in Handlungen umsetzen können. Das An-sich der Welt (UIDKUXQJ umfasst demnach, wie Scheler sie nennt, „Wertverhalte“ als eigene Realitätsschicht neben und über den sinnenfälligen „Sachverhalten“ (Abbildung 3.1). Sachverhalte Er kapituliert hier vor der Selbstsicherheit des Evidenzgefühls, auf das sich unser moralisches Urteil stützt und das unwiderstehAbbildung 3.1 Die Epistemologie der materialen Wertethik lich danach verlangt, in einem transzendenten Sollen-an-sich einen metakosmischen Anker auszuwerfen. Wie aber hätten wir uns den Seinsmodus jener „Wertverhalte“ wohl vorzustellen? Was würde aus ihnen werden, wenn in ferner Zukunft einmal alles Bewusstsein ausgelöscht wäre? Wo und wie hätten sie in der Zeit des Urknalls existiert?
Kritik des intuitionistischen Ansatzes Alle intuitionistischen Begründungsversuche appellieren an die Überzeugung, man müsse niemandem erst durch rationale Spitzfindigkeiten erläutern, was moralische Werte seien; vielmehr spüre jeder Mensch tief innerlich, dass es das Gute gibt und welche Forderungen es an uns stellt. Und sie postulieren ein Organ in uns, das zu jenem Guten unmittelbaren Zugang hat. Spinozas „Intuition“ ist mehr im rationalistischen Geist der Aufklärung konzipiert, Schelers „Wertfühlen“ eher in der romantischen Sprache der Lebensphilosophie. Gemeint ist im Grunde dasselbe: das Elementarerlebnis einer Evidenz, vor der das Verlangen nach Beweisen verstummt. So unbestreitbar solche Erlebnisse aber auch immer sein mögen, ist doch nicht daran zu rütteln, dass es schlechterdings keine Evidenz gibt, die Veridikalität zu garantieren vermag. Das gilt sogar für die Axiome der Mathematik. Es mag zutreffen, dass wir uns zu einer Geraden durch einen gegebenen Punkt nur eine einzige Parallele vorstellen können. Aber daraus lernen wir nur etwas über unseren kognitiven Apparat und nichts über die Welt-an-sich. Wo immer Mathematik als Wirklichkeitsmodell Verwendung findet, wie beispielsweise in der Physik, müssen sich ihre Axiome einer ganz anderen Bewährungskontrolle unterziehen: Sie müssen korrekte Vorhersagen des Naturgeschehens liefern. Bekanntlich hat gerade das Parallelenaxiom und mit ihm die gesamte Euklidische Geometrie diesen Test in kosmologischen Maßstäben nicht bestanden.
1 Scheler (2000)
Intuitionistische Begründungsversuche 53
Selbst wenn es uns also gelänge, oberste moralische Maximen irgendwie in die Gesellschaft mathematischer Axiomatik einzuschmuggeln – nützen würde ihnen das nichts; denn die Mathematik hat noch nicht einmal in eigener Sache die kategorische Geltung, an der die Ethik teilhaben will. Und wenn man auf eine Letztbegründung more geometrico verzichtet und sich stattdessen auf ein intuitives „Wertfühlen“ beruft, so führt das auch nicht weiter. Manche Autoren in der Gefolgschaft Schelers neigen dazu, diese Schwierigkeit zu unterschätzen. Selbst ein epistemologisch so problembewusster Denker wie Nicolai Hartmann redet von der „Unfehlbarkeit des echten Mitgefühls“, die „eine streng analoge Erscheinung zur Gewissheit des theoretisch Apriorischen“ sei.1 Das ist jedoch eine Idealisierung, die der psychologischen Realität der Gefühlsurteile nicht gerecht wird. Die Rechtsprechung der Nazi-Zeit hat sich mit Vorliebe auf das „Volksempfinden“ berufen; und entsprechendes galt für die Lynchjustiz in den US-Südstaaten. Zur Verteidigung des „Rechtsgefühls“ müsste man postulieren, es hätte in solchen Fällen versagt. Dann wäre aber darzulegen, auf Grund welcher Kriterien das eigene Gefühlsurteil von höherem Rang ist, und damit geriete man wieder in die Legitimationsfalle. Bekanntlich lautete die Formel der Nazizeit nicht einfach „Volksempfinden“, sondern „gesundes Volksempfinden“. Das Rechtsgefühl wurde hier also nicht per se als Rechtsquelle zugelassen, sondern ihm wurde eine besondere Qualifikation abgefordert. Heutzutage pflegt man das Wort „gesund“ durch Tarnattribute wie „allgemein“ zu ersetzen; aber damit ist nur eine Etikette ausgetauscht und nicht das Dilemma gelöst.
Aller Rekurs auf das Rechtsgefühl bricht sich an dem Faktum, dass es bei verschiedenen Menschen verschieden reagiert. Was macht man aber, wenn sich Gruppenmitglieder unvereinbaren Imperativen verpflichtet fühlen? Es müssen dann sozialpsychologische Prozesse stattfinden, die die Wertvorstellungen der Kontrahenten zur Deckung bringen. Wenn das nicht fruchtet, bleibt nur noch, dass man die Zusammensetzung der Gemeinschaft ändert, dass sich ähnlich Fühlende vereinen und von denen trennen, die anderen Werten verpflichtet sind. Da es für das Miteinander aber meist noch andere, pragmatische Gründe gibt, da Bindungen an Menschen, Sachwerte und Lebensräume der Mobilität im Wege stehen, können tragische Komplikationen bei denen erwachsen, die die Last der Trennung auf sich nehmen müssten. Die Berufung auf das „natürliche moralische Gefühl“ vermag also wirklich nicht, die Unlösbarkeit der Legitimationsfrage zu entgiften. Dieses Gefühl ist ein archaischer Bestand unserer Natur, es denkt nicht daran, zu unserer Humanisierung beizutragen, ohne eine Gegenrechnung zu präsentieren. Die Affektdynamik, die ihm zugrunde liegt, weckt das Edelste im Menschen, aber sie ist auch verantwortlich für den größten Teil der Angst, des Schmerzes und der Erniedrigung, von denen die Menschheit in ihrer Geschichte heimgesucht wurde. Wir müssen uns, wenn wir die Psychologie der Moral studieren, von Illusionen freihalten. 1 Hartmann (1962) p. 457
54 Kapitel 3. Auf der Suche nach Letztbegründung
Eudämonistische Begründungsversuche Die egoistische Variante Wenn man den naturalistischen Trugschluss vermeiden will, darf man zur Letztbegründung von Imperativen keine wie immer gearteten Seinsaussagen heranziehen; man muss auf Prämissen rekurrieren, die ihrerseits schon präskriptiven Charakter haben. Das hatte der Intuitionismus verstanden, als er moralische Werte kurzerhand selbst für evident erklärte. Das Problem ist nur, dass sie es nicht sind. Es gibt jedoch tatsächlich einen Imperativ, dem niemand eine Rechtfertigung abverlangt: Es ist das Verlangen nach Glück. Der menschlichen, schon der animalischen Triebnatur wohnt jene „Intentionalität“ inne, jenes über die bloße Anerkennung von Fakten hinausgehende Gespanntsein auf zu verwirklichende Ziele, die alle Sollenssätze grundsätzlich von Seinssätzen unterscheidet. Würde es also gelingen, auch die Moral auf den Obersatz „Es soll mir gut gehen!“ zurückzuführen, dann wäre ihr Legitimationsproblem elegant aus der Welt geschafft. Nach dem griechischen Wort für „Wohlbefinden“, eudaimonia, bezeichnet man diesen Begründungsweg als den eudämonistischen. Die Frage nach der Natur wird dabei nicht überflüssig. Auch wenn niemand den Glücksimperativ hinterfragt, bleibt doch zunächst noch offen, auf welchem Wege ihm zur Durchsetzung verholfen werden kann. Und dafür spielt eine wesentliche Rolle, welches Bild man sich von der natürlichen Ausstattung des Menschen macht. Die diesbezüglichen Bestimmungsversuche kann man auf einer zweipoligen Skala anordnen. Am einen Ende wird der Mensch illusionslos als eigennützig, rücksichtslos und destruktiv betrachtet. Am anderen stehen Deutungen, die ihn zwar auch nicht als Engel sehen, ihm aber immerhin „humane“ Neigungen wie Verträglichkeit, Mitgefühl und die Sehnsucht nach Höherem zubilligen. Die Sophisten vertraten, soweit das den spärlichen Quellen zu entnehmen ist, ein egoistisches Menschenbild. Moral und Recht konnten in ihren Augen daher nur auf einem Kräftegleichgewicht zwischen den eigennützigen Interessen der Einzelnen gründen (Abbildung 3.2). Gerechtigkeit erschien als eine Forderung, die von der Masse der Schwachen erhoben GERECHTIGKEIT wurde, um sich gegen Übervorteilung durch die Starken zu schützen. Die Problematik dieses Standpunktes blieb schon damals nicht verborgen. Wo sich Normen allein auf indiEgo Ego viduelle Interessen gründen, dort ist ihnen der Boden entzogen, sobald sich diese Interessen außerhalb der Legalität Individuum Individuum besser verfolgen lassen. Nicht Rechtschaffenheit, sondern Rücksichtslosigkeit ist allemal der beste Garant für die Abbildung 3.2 Das Gleichgewichtsprinzip auf externalem Analysenniveau Optimierung der eigenen Wunscherfüllung. In konsequenter Weiterführung dieser Gedanken gerieten einige Sophisten auf die schiefe Bahn. Gesetze, hieß es dann bald einmal, seien für die Schwachen, der Starke aber erhebe sich über sie.
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Was vom Naturrecht übrig blieb, war nur noch die menschliche Triebnatur, und dieser zu folgen, sei eben gut. Frei sei der Mann, der seine Begierden nicht zu zügeln habe, und – so Kallikles – es sei keine Schande, Unrecht zu tun, wohl aber, Unrecht zu leiden.
Der Gedanke des Kräftegleichgewichts wird später im englischen Empirismus aufgegriffen. Auch hier deuten zumindest einige Autoren die menschliche Natur als egoistisch, mit Nutzen und Macht als alleinigen Zielsetzungen. So schreibt etwa Hobbes: Ehe die Menschen durch irgendwelche Verträge sich gegenseitig gebunden hatten, war es jedem erlaubt, zu tun, was er wollte und gegen wen er es wollte, und alles in Besitz zu nehmen, zu gebrauchen und zu genießen, was er wollte und konnte. … Daraus erhellt, dass im Naturzustand der Nutzen der Maßstab des Rechtes ist.
Homo homini lupus, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, lautete die oft zitierte These. Um dem ein Ende zu bereiten, hätten die Menschen einen Vertrag geschlossen und, damit dieser nicht unterlaufen werde, ihre Macht dem Staat überantwortet. Auf der Ebene der Staaten freilich geht der Krieg aller gegen alle weiter; denn hier gibt es keine Instanz mehr, die diesem Treiben Einhalt gebieten könnte.
Die utilitaristische Variante Hobbes hat die menschliche Natur nicht nur als eigennützig, sondern auch als bösartig bestimmt. Letzteres ist aber nicht zwingend; man kann auch ein moderateres Menschenbild vertreten, demzufolge jeder zwar motiviert ist, es sich so gut wie möglich gehen zu lassen, aber ganz zufrieden ist, wenn auch andere auf ihre Kosten kommen. Individuelles Glücksverlangen erweitert sich dann in Form der Maxime „leben und leben lassen“ in die soziale Dimension hinein – nicht notwendig aus Großherzigkeit, sondern weil es praktisch ist, sich keine Feinde zu machen. Selbst für den absoluten Herrscher wären Despotismus und Tyrannei riskant, da sie zu Attentaten und Revolten anreizen. Jeder tut also gut daran, wenn er in seine Güterabwägung das Wohlergehen anderer mit einfließen lässt. In der Staatslehre bezeichnet man diese Position als Utilitarismus. Sie erweitert einfach die eudämonistische Maxime in die Forderung, die Summe des Glücks in der Gesellschaft sei zu maximieren. Utilitaristisches Denken durchzieht die Philosophiegeschichte. Schon gewisse sophistische Äußerungen lassen sich in diesem Sinne interpretieren, in der Renaissance findet sich einschlägiges Gedankengut von Macchiavelli bis Francis Bacon. Als Hautvertreter pflegt man die Aufklärungsphilosophen Jeremy Bentham und John Stuart Mill zu nennen. Von ihnen stammt die Regel, die Gesetzgebung habe so zu erfolgen, dass „das größte Glück für die größte Zahl“ erreicht werde. Solchen Idealen liegen weniger allgemein philosophische als vielmehr juristische und nationalökonomische Anliegen zugrunde, und diese wiederum erzwingen eine gewisse Operationalisierung. Eine Größe, die maximiert werden soll, muss man zunächst gemessen haben; wie aber misst man „Glück“?
56 Kapitel 3. Auf der Suche nach Letztbegründung Utilitaristen haben verschiedene Anläufe unternommen, um hier weiterzukommen. Als Hauptproblem erwies sich dabei, dass Werte und Güter verschiedenster Art vergleichbar gemacht werden müssen. Tatsächlich wurde anfangs ernsthaft über die Möglichkeit spekuliert, eine gemeinsame Berechnungsgrundlage zu schaffen. Bentham dachte an einen „felicific calculus“, eine „Glücksformel“, die er allerdings nie weiter konkretisiert hat. Es gibt natürlich eine banale Maßeinheit, in der wir Glück aufrechnen könnten – das Geld. Bentham war ein pragmatischer Angelsachse, und letztlich liefen seine Überlegungen in der Tat auf den Vorschlag hinaus, Glück durch Einkommen zu messen. Das ist aber weniger eine Lösung als eine Demonstration des Problems, wenngleich einzuräumen ist, dass jeder Strafrichter, der beispielsweise die Höhe eines Schmerzensgeldes festzusetzen hat, auf seine Weise damit fertig werden muss. Selbst wenn man eine gemeinsame Währung für Glück zu akzeptieren bereit wäre, bliebe freilich noch immer die Frage nach der richtigen Mathematik. Soll es beim Gesamtnutzen wirklich um die Summe der individuellen Erträge gehen? Dann müsste ein Verhalten, das den Armen etwas ärmer, den Reichen aber sehr viel reicher macht, als moralisch gelten; denn die Summe des Glücks aller wird dadurch zweifellos gemehrt! Karl Popper hat demgegenüber die Idee in die Diskussion geworfen, man müsse negatives Glück, also Leid, stärker gewichten als positives. Auch könnte man Schwellenwerte und andere Nichtlinearitäten einführen. Aber woraus ließe sich für einen solchen Kalkül objektive Verbindlichkeit ableiten? Eine eher wunderliche Implikation des Utilitarismus, die immerhin ernsthaft diskutiert wurde, betrifft die Reproduktionspflicht. Wenn es nämlich auf die Summe des Glücks ankommt, dann sollte man möglichst die Zahl potentieller Glücksträger mehren. Sehr überzeugend ist das nicht, denn inzwischen ist doch der Verdacht laut geworden, dass die meisten Probleme für das menschliche Glück aus der Übervölkerung stammen. Aber die Idee ist als solche illustrativ für das utilitaristische Denken.
Die harmonistische Variante Die bisher dargestellten Versionen des Eudämonismus setzen voraus, dass das menschliche Individuum ausschließlich an sich selbst interessiert ist und fremdem Wohl gegenüber bestenfalls neutral empfindet. Nun gehören zu unserer Selbsterfahrung aber doch auch ganz unegoistische Impulse wie Mitleid, Fürsorglichkeit und Verantwortungsgefühl. Zumindest bei bestimmten Anlässen und gegenüber bestimmten Personen erwachsen schon aus unserer natürlichen Antriebsdynamik heraus dem Streben nach Eigennutz Gegenkräfte. Die Funktion von Recht und Moral unterscheidet sich bei einem solchen Menschenbild wesentlich von der bisher betrachteten. Dabei erweist sich eine terminologische Differenzierung als hilfreich, auf die wir noch mehrfach zurückkommen werden. Unter dem externalen Analyseniveau verstehen wir eine Betrachtungsweise, bei der das Individuum als Gesellschafts-Atom ohne psychische Binnengliederung betrachtet
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wird. Ordnungsmuster betreffen hier grundsätzlich zwischenmenschliche Konstellationen, also die Sozialstruktur. Auf dem internalen Analyseniveau betrachten wir hingegen die Motivstruktur, also das Wirkungsgefüge der Antriebe, Hemmungen und Kognitionen innerhalb des einzelnen Individuums. Die egoistische Variante des Eudämonismus legt eine Betrachtung auf externalem Analyseniveau nahe. Moralisches Handeln läuft hier, wie in Abbildung 3.2 dargestellt, auf Verteilungsgerechtigkeit hinaus, also auf ein Gleichgewicht der Wunscherfüllung zwischen den Individuen der Gruppe. Dieses Balanceprinzip verlagert sich nun bei der hier betrachteHARMONIE ten Variante des Eudämonismus auf das internale Niveau (Abbildung 3.3). Unser Verhalten ist aus dieser Sicht die Resultante einer Vielzahl divergierender Antriebe. Manche davon dienen dem Eigennutz (Ego), manche dem Wohle anderer (Altr). Es ist ihr Konflikt, der unsere Eudämonie mindert. Um diese zu optimieren, sollte man also zwischen den widerstreitenden Impulsen Frieden stiften und im eigenen seelischen Haushalt für Ausgewogenheit sorgen. Glück ist somit internale Balance; man Individuum fühlt sich am wohlsten, wenn man „im Lot“ ist. Wir wollen das Abbildung 3.3 Das Gleichgedie harmonistische Version des Eudämonismus nennen.
Ego
Altr
wichtsprinzip auf internalem
Wenn man diesen Gedanken noch ein wenig weiterspinnt, könnte man Analyseniveau vielleicht sogar überlegen, ob die Natur es nicht so eingerichtet hat, dass Unmoral ungesund ist. Offensichtlich ist das bei den meisten alten Speiseverboten; aber vielleicht gilt es ja noch viel genereller. Wie, wenn ein Leben außerhalb der rechten inneren Balance krank macht – psychisch zumindest, aber dann in letzter Konsequenz auch psychosomatisch? Moral als Prophylaxe gegen Krebs und Herzinfarkt – warum nicht? Du sollst Vater und Mutter ehren, „auf dass es dir wohlergehe und du lange lebest auf Erden“, hatte das vierte Gebot immerhin verheißen – das könnte in der alten Weisheit wurzeln, dass der Seelenfrieden einer organischen Familienbindung die Immunkräfte stärkt!
Externale Balance, also soziale Gerechtigkeit, ist dann nicht ein Kompromiss widerstreitender Egoismen, sondern die gemeinsame Manifestation gleichlautender Harmoniewünsche. Der Staat entsteht nicht, um die Individuen vor einander zu schützen, sondern um ihre Kooperation zu koordinieren und so zu jener Beruhigung beizutragen, bei deren Verlust unser Gefühl für Behaustheit in der Welt Einbuße leidet. Als früher Verkünder einer harmonistischen Morallehre gilt Sokrates. Wenn er die Tugend (areté) auf Einsicht (epistéme) gründet, dann spricht daraus die Hoffnung, dass dort, wo das Glücksverlangen am besten durch Ordnung des inneren Haushaltes erfüllt wird, die Vernunft der effizienteste Wegweiser ist. Man müsse die Dinge und vor allem sich selbst nur richtig und frei von Täuschungen erkennen, dann sähe man schon, was zu tun sei.
58 Kapitel 3. Auf der Suche nach Letztbegründung In der Neuzeit hat die harmonistische Variante des Eudämonismus vor allem im Lager der englischen Empiristen Befürworter gefunden. So lehrte etwa Locke, die Menschen hätten ursprünglich in Freiheit und Gleichheit gelebt, es habe kein Ranggefälle zwischen ihnen gegeben. Denn sie verstünden von Natur aus, dass man auch andere als unabhängig zu betrachten habe und ihnen kein Leid zufügen dürfe. Auf der Basis solcher Vorgaben sei es dann zum Gesellschaftsvertrag gekommen. Auch für Hume galt als psychologische Tatsache, dass uns oft das Wohl Anderer am Herzen liegt und dass wir das Bedürfnis empfinden, ihnen Gerechtigkeit angedeihen zu lassen. Der Mensch sei eben von Natur aus ein Gemeinschaftswesen. Der schon genannte Holländer Hugo Grotius darf hier ebenfalls nicht unerwähnt bleiben. Sein Hauptwerk, mitten in den Wirren des dreißigjährigen Krieges entstanden, trägt den Titel De iure belli et pacis; der Begriff „bellum“, wörtlich „Krieg“, wird darin so weit verstanden, dass er alle Rechtsstreitigkeiten überhaupt umfasst. In der Vorrede des Werkes arbeitet der Verfasser heraus, dass das Recht mehr sei als der Vorteil des Stärkeren. Der Mensch suche von Natur aus nicht nur seinen Vorteil, Grundprinzip seiner Natur sei vielmehr das Geselligkeitsbedürfnis, und auf dessen sachlichen Implikationen fuße eigentlich der Rechtsgedanke. Am klarsten kommt die in Abbildung 3.3 wiedergegebene Auffassung in der Philosophie von A. Shaftesbury zum Ausdruck, der direkt von einem moral sense des Menschen redet. Bei ihm klingt der Utilitätsgedanke kaum an; im Vordergrund steht ein ästhetisierender Impuls, ein der Menschennatur immanentes Verlangen nach dem, was die Gestaltpsychologen „Prägnanz“ genannt hätten. Der Mensch sei Träger sowohl egoistischer als auch altruistischer Impulse. Sittlichkeit bestehe aber nicht etwa im Sieg der letzteren über die ersteren, sondern in der Schaffung einer ausgewogenen Balance zwischen beiden. Die höchste Steigerung der Tugend (virtus) sei die Virtuosität, in der es gelingt, keine der in der Natur des Individuums angelegten Fähigkeiten und Neigungen verkümmern zu lassen. Auf dem Kontinent dachte man ähnlich. Leibniz hielt es für ein allgemeines Naturprinzip, an dem auch das Sittengesetz partizipiere, dass alle Wesen nach Vollkommenheit streben. Dem fügt er kühn hinzu, jeder Schritt in Richtung größerer Vollkommenheit sei lustvoll, jede Regression indessen mit Unlust verbunden. Insofern würde das Glückverlangen ganz automatisch auch das Streben nach Prägnanz der Persönlichkeit nach sich ziehen. Christian Wolff ergänzte das dahingehend, dass zur Vollkommenheit auch die Fürsorge für andere gehöre.
Hedonismus und Ungebundenheit Allerdings räumt Wolff ein, dass das Glücksverlangen nicht ohne weiteres von selbst die richtigen Schlüsse ziehe; Menschen können sich darüber täuschen, was ihnen wirklich zur Vervollkommnung gereicht. Damit spricht er das Dilemma an, dass Eudämonie durchaus kein klarer Begriff ist. Natürlich streben die Menschen nach Glück; aber das ist eine Tautologie: „Glück“ ist, wenn uns ein Wunsch in Erfüllung geht. Diese Bestimmung lässt die inhaltliche Frage offen. Wir haben ja nicht nur ein
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einziges, sondern viele Ziele, und das eine zu erstreben heißt in der Regel, auf das andere zu verzichten. Wir müssen also immer zwischen verschiedenen Glückszuständen wählen, und hier beginnt überhaupt erst das Problem der Moral. Das wurde schon in der unmittelbaren Nachfolge des Sokrates deutlich. Dessen Schüler hatten teilweise ihrerseits Schulen gegründet, und die beiden bekanntesten unter diesen unterscheiden sich gerade in der Frage, wie sie Glück definieren. Sie sind unter den Namen Kyrenaiker und Kyniker bekannt geworden. Bei ihnen entspringen die Ströme, die in der Folge, zu den Morallehren der Epikuräer und der Stoiker veredelt, die späthellenistische Ethik prägen sollten. Begründer und Hauptvertreter der erstgenannten Schule war Aristipp von Kyrene. Für ihn ist das einzig Unbezweifelbare im menschlichen Leben sein Streben nach sinnlicher Lust. Gradmesser ihrer Qualität ist ihre Stärke, weshalb auch Schmerz, Mangel, Leidenschaft und Gier, sofern sie die Intensität der darauf folgenden Befriedigung noch steigern, zum Glück beitragen können. Man bezeichnet diese Spielart des Eudämonismus als Hedonismus (vom griechischen hedoné = Genuss); und es ist immer wieder geargwöhnt worden, dass notwendigerweise hier landet, wer das Glücksverlangen als moralisches Letztprinzip ansetzt. Dass dies aber gar nicht so selbstverständlich ist, hat Goethe im Faust I gestaltet. In seinem Pakt mit Mephisto erklärt Faust seine Seele für verwirkt, sollte er jemals „zum Augenblicke sagen: Verweile doch, du bist so schön“. Und auf die lauernde Rückfrage Mephistos liefert er die schlüssige Begründung nach: Wie ich beharre, bin ich Knecht, Ob dein, was frag’ ich, oder wessen. Mit anderen Worten: Streben nach Lust macht abhängig, Abhängigkeit aber negiert Freiheit, und Freiheit – auch Freiheit vom Lustverlangen – ist ein noch höherer Wert als Lust selbst. Genau im Sinne dieser Position argumentierten die Kyniker, die zweite unter den kleineren sokratischen Schulen. Wirklich große Namen sind hier nicht zu nennen. Am ehesten ragt noch Antisthenes von Athen heraus; am bekanntesten geworden ist der kauzige Diogenes von Sinope, der angeblich in einer Tonne lebte (Abbildung 3.4). Für die Kyniker gipfelt die Wertwelt im Ideal der Autarkie. Auf die Spitze getrieben, führt dieses Prinzip, gerade umgekehrt wie der Hedonismus, zur Verachtung aller irdischen Vergnügungen, allen Reichtums, aber auch der Kultur, des Wissens, der Kunst, der Nation, der Religion, ja sogar – in unserem Zusammenhang besonders bedenkenswert – der Sitten und des Anstandes. Hiervon leitet sich die Bedeutung des Ausdrucks „zynisch“ ab. Die Sitten nämlich würden dem Menschen ja doch nur durch Schamgefühle aufgenötigt, also durch Hemmungen, die ihrerseits wieder die Abbildung 3.4 Diogenes. Karikatur von Freiheit der Entscheidung beschneiden. Allein die Wilhelm Busch
60 Kapitel 3. Auf der Suche nach Letztbegründung Erfahrungen der Stärke, der Unabhängigkeit, der Überwindung sind wert, erstrebt zu werden. Auch Asketismus kann sich also auf eine Art „Glücksverlangen“ berufen. Wer sich zu äußerster Bedürfnislosigkeit, zu Armut, Keuschheit und Gehorsam durchgerungen hat, wer die eigene Haut mit Geißeln blutig schlägt oder gar den Weg des Martyriums geht, den kann nichts und niemand mehr frustrieren.
Kritik des eudämonistischen Ansatzes Dass der Eudämonismus zwei so kontradiktorische Varianten hervorgebracht hat, macht deutlich, wie wenig das Glücksstreben als imperatives Apriori taugt. Wenn Schiller die Freude in der von Beethoven vertonten Ode mit den Worten besingt Alle Guten, alle Bösen folgen ihrer Rosenspur, so trägt er damit die Hoffnung zu Grabe, dass sich Moral – also eben die Unterscheidung der „Guten“ von den „Bösen“ – auf das Glücksverlangen gründen ließe. Glück ist eben keine eindimensionale Qualität. Man muss bei ihm zwischen Stärke und Niveau unterscheiden. Und wie schon der lateinische Sinnspruch weiß, hat das letztere beim konkreten Handeln oft nicht viel auszurichten: Video meliora proboque, Deteriora sequor zu deutsch: Ich sehe, was besser ist, und ich schätze es; aber ich folge dann doch dem Niederen. Die Stärke bricht sich von selbst Bahn, woher jedoch bezieht das Niveau die Mittel, sich durchzusetzen? Sokrates hatte gemeint, die Vernunft reiche aus, um in dieser Dynamik die wahren Optima zu orten; aber da hat er den Menschen wohl doch überschätzt. Man wird ihm Aristipp als Konsequenz nicht vorrechnen wollen; doch zeigt diese Entwicklung immerhin, dass die spannungsfreie Unterordnung des Wollens unter die Einsicht der psychologischen Realität nicht gerecht wird. Wer würde nicht Montesquieu recht geben, demzufolge die meisten Dinge, die uns Vergnügen bereiten, unvernünftig sind. Eudämonistisch betrachtet bedeutet „unmoralisches“ Verhalten lediglich, dass der Übeltäter eben sein Glück nicht so hoch treiben konnte, wie es theoretisch möglich gewesen wäre. Wer seine Mitmenschen beraubt, betrogen und massakriert hat, stirbt eines Tages seelisch verarmt, weil er nie das Glücksgefühl kennengelernt hat, das einem zuteil wird, wenn man so recht von Herzen gut war. Er hat sich damit selbst etwas angetan und sein oberstes Ziel, so glücklich wie möglich zu werden, verspielt. Schön blöd – aber schließlich ist das seine Angelegenheit. Auch in seiner aufgeklärtesten Form bringt uns der Eudämonismus also in der Frage der Legitimation keinen Schritt weiter. Was ist, wenn einer eben darauf verzich-
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tet, in seinem inneren Haushalt Ordnung zu schaffen, den Seelenfrieden zu finden und seine eudaimonia zu optimieren? Darf er das? Seine Mitmenschen, die durch seinen „Eudämonieverzicht“ (vulgo: seine Missetaten) benachteiligt werden und daher ihrerseits auf Glück verzichten müssen, werden natürlich meinen, er dürfe nicht. Aber dürfen sie das meinen? Wie man es auch dreht – den „Soll“-Prämissen, die mit dem Eudämoniegedanken in die Debatte eingebracht werden, fehlt eine Dimension, die wir für die Moral als konstitutiv empfinden. Es ist die Dimension der Verpflichtung.
Deontologische Begründungsversuche Das Prinzip Pflicht Pflicht setzt immer eine Instanz voraus, die mich zwingt, meinen Wünschen, und seien sie noch so edel, entgegen zu handeln. Begründungsversuche, die das Wesen der Moral nicht aus den natürlichen Neigungen, sondern umgekehrt aus deren Beherrschung verstehen, bezeichnet man als AUTORITÄT deontologisch, vom griechischen Wort deon für „Pflicht“. Auch die Pflichtethik rekurriert auf einen evidenten SollSatz als Prämisse. Es gibt neben dem Glücksverlangen noch eine zweite imperative Urerfahrung, deren Verbindlichkeit sich nicht hinterfragen lässt. Diese Erfahrung ist sozialer Natur und folgt aus der hierarchischen Struktur der menschlichen Gesellschaft. Das Erlebnis der Rangordnung stellt dem eudämonistischen Imperativ des „ich möchte“ als ebenso evident einen zweiten Imperativ in Gestalt des „ich muss, weil ein Stärkerer es will“ zur Seite. Für das Sprachgefühl steckt im Begriff des Sollens von vorn herein dieser autoritäre Charakter der Moral (Abbil- Abbildung 3.5 Das Autoritätsprinzip dung 3.5). In der Tat lässt sich die Zweifelsfreiheit eines Imperativs auf auf externalem eine logisch unanfechtbare, wenn auch philosophisch nicht Analyseniveau eben befriedigende Weise dadurch begründen, dass man die Zweifel schlicht verbietet. Die Legitimität von Normen gründet sich dann einfach darauf, dass jemand die Macht hatte, sie zu setzen. Die Frage nach einer Begründung erledigt sich dadurch, dass niemand sie zu stellen wagt. Macht rechtfertigt sich allein durch ihre Existenz. Man argumentiert nicht mit ihr, man kann sie nicht zur Rechenschaft ziehen, ihre Legitimation sind die Handschellen, Gummiknüppel und Bajonette, auf die sie sich stützt, der Galgen und das Höllenfeuer, mit denen sie drohen kann. Sie darf verlangen, was sie will. Mag sein, dass ihre Forderungen nicht schierer Willkür entspringen; aber es gehört zu ihrem Wesen, dass sie das prinzipiell könnten.
Ego
62 Kapitel 3. Auf der Suche nach Letztbegründung Bereits in der mittelalterlichen Moraltheologie wird diese Legitimationsbasis ausgelotet. Gott hatte zehnmal „Du sollst“ (bzw. meistens „Du sollst nicht“) gesagt; Jesus hatte das in der Bergpredigt ergänzt und vervollkommnet – das bedurfte höchstens noch der Auslegung, hatte sich aber keiner Rechtfertigung zu stellen. Allerdings war die Scholastik kühn genug, sich darüber Gedanken zu machen, warum Gott denn nun gerade solche und keine anderen Gebote gegeben hatte. Und darüber kristallisierten sich immerhin zwei gegensätzliche Meinungen heraus. Da war auf der einen Seite ein quasi naturalistisches Denkmodell. Sein Hauptvertreter war Thomas von Aquin. Gott wird hier als das summum bonum gedeutet, das den Menschen nach seinem Gleichnis geschaffen hat. Darum ist auch der Dekalog eine Manifestation des göttlichen Wesens; er könnte gar nicht anders lauten. Dem stand nun aber zeitgleich eine deontologische Alternative gegenüber. Schon deren gebräuchliche Bezeichnung als voluntaristisch lässt erkennen, dass hier das Sittengesetz allein auf den Willen – und das heißt, allen Beschönigungsversuchen zum Trotz, nichts anderes als die Willkür – Gottes gegründet wird. Diese Lehre vertrat Duns Scotus, der große Gegenspieler der Thomisten. Und sein Schüler Wilhelm von Ockham trieb die Argumentation dann auf die Spitze: Gott hätte den Menschen ebenso gut befehlen können, ihn zu hassen; und wenn er dies getan hätte, dann wäre dieser Hass eben eine verdienstvolle Haltung gewesen.
Das Gewissen Der voluntaristische Begründungsansatz atmet die Faszination der Freiheit, die ja schon bei den Kynikern in Antithese zum Prinzip des Begehrens getreten war und die hier nun in konsequenter Radikalität dem obersten Gesetzgeber zugestanden wird. Aber auch Freiheit verlangt nach Orientierung. Und hier bleibt der Voluntarismus ähnlich unbefriedigend wie der Positivismus: Er liefert die moralische Norm göttlicher Beliebigkeit aus. Die aber weckt in uns den Abwehraffekt des Untertanen gegenüber dem Tyrannen. Ontogenetisch wächst Moral am Spalier der Erziehung. Das erste Sollen folgt aus der Autorität der Eltern, aus der innerfamiGEWISSEN liären Rangordnung mit ihrer unlösbaren Koppelung von Gehorsam und Geborgenheit. In der Adoleszenz wird diese Autorität in Frage gestellt. Sie mag dann vielleicht durch andere Rangstrukturen abgelöst werden, doch gelten diese nie mehr mit derselben Unhinterfragbarkeit. Ohne Widerrede zu akzeptierende Kommandos als Basis einer Moral anzuerkennen, wäre Ego gleichbedeutend damit, sich in Unmündigkeit zu fügen. Aus diesem Dilemma gibt es nur einen Ausweg: Man muss selbst in Bezug auf die eigene Person die Rolle des Befehlsgebers Abbildung 3.6 Das Autoritätsprinübernehmen. Nur so lässt sich die moralische Urerfahrung, einer zip auf internalem Analyseniveau
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neigungswidrigen Pflicht zu genügen, mit dem Bewusstsein der Autonomie verbinden. Hier ist offenkundig das Gewissen angesprochen (Abbildung 3.6). Damit wird abermals, wie schon beim harmonistischen Eudämonismus, das Individuum in Teilinstanzen gegliedert, also der Übergang vom externalen auf das internale Analyseniveau vollzogen. Sokrates hatte dabei an ein demokratisches Parlament von Antrieben gedacht, in dem Moral Konsens bedeutet. Dem Gewissensbegriff aber liegt ein autokratisches Modell zugrunde; die Seele wird als ein absolutistischer Staat verstanden. Auch hier stellt sich freilich die Frage nach dem Unterschied von Freiheit und Willkür. Dafür gibt es nun in der Tat ein Kriterium: Willkür kann nur zu Unordnung führen, Freiheit aber ist kreativ. Aus Kreativität gehen Werte hervor. Freiheit, so ließe sich definieren, ist Undeterminiertheit, die Werte schafft.
Formalismus und die Ethik der Tat Es genügt hierfür nicht, wenn sich eine Handlung nur vor einem bereits existenten materialen Wertkanon bewährt. Sie müsste schon in der Lage sein, durch eine bestimmte Form ihres Vollzugs wirklich neue, vorher noch nicht existente Wertdimensionen zu erschließen. Damit gelangen wir zu einem wichtigen Kennzeichen praktisch aller deontologischen Ansätze in der Ethik. Sie sind, wie man sagt, „formal“. Formale Ethik verweigert die Auflistung materialer Handlungsziele im Sinne Schelers und beschränkt sich auf Verfahrensregeln, deren Befolgung auch neutrales Verhalten zu adeln vermag. Es gibt eine Formel, in die sich dieser Denkansatz kleiden lässt: Das Geheimnis der wertschaffenden Freiheit ist die Tat. Tätig zu sein bedeutet mehr als nur, sich zu verhalten. Letzteres kann fremdbestimmt sein, kann sich von äußeren und inneren Strömungen treiben und ziehen lassen oder in den Wirbeln und Brandungen des Für und Wider auf der Stelle verharren. Der Tätige indessen hat seine Existenz zu einem Entscheidungskern geballt und es auf sich genommen, „Tat-Sachen“ zu schaffen. Indem er dies aber wagte, hat er die Intensität des Seins vertieft und eben dadurch auch dessen Wertfülle vermehrt. Es gibt Anläufe aus den verschiedensten Richtungen, diesen Gedanken zu ventilieren. Dichter sind hier zu nennen, Shakespeare etwa, der im Hamlet die Gestalt des Zaudernden darstellt, aus dem das „Gewissen“ einen Feigling macht, indem es die „angeborene Farbe der Entscheidung“ mit „des Gedankens Blässe“ infiziert. Oder Goethe, dessen Faust sich nach kurzem Erwägen bei der ersten Zeile des Johannes-Evangeliums, wonach am Anfang „der Logos“ war, zu einer freieren Übersetzung durchringt: Geschrieben steht „Im Anfang war das Wort!“ Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort? Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, Ich muss es anders übersetzen, wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.
64 Kapitel 3. Auf der Suche nach Letztbegründung Bedenke wohl die erste Zeile, dass deine Feder sich nicht übereile! Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft? Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft! Doch auch indem ich dieses niederschreibe, schon warnt mich was, dass ich dabei nicht bleibe. Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat. Die Morallehre Jesu kommt diesem Gedanken erstaunlich nahe, wenn man das Gleichnis von den Talenten aus Matth. 25 heranzieht: Ein Mann wollte außer Landes reisen, rief seine Knechte und übergab ihnen sein Vermögen. Dem einen gab er fünf Talente (eine antike Münzeinheit), dem anderen zwei, dem dritten eines, jedem nach seinen Kräften, damit sie damit Handel trieben. Die beiden ersten Knechte taten dies und konnten es entsprechend vermehren. Nur der dritte fürchtete das Risiko und vergrub das Geld in der Erde. Als der Herr dann zurück kam, wurden die beiden anderen belobigt. Der letzte, der untätig geblieben war, suchte sich zu rechtfertigen, er habe vor dem Herrn Angst gehabt und daher nicht mit seinem Talent gewuchert, sondern es lediglich unversehrt bewahrt. Das nützte ihm aber nichts; der Herr war erzürnt, nahm ihm auch noch das Wenige weg und verstieß ihn in die Finsternis, wo Heulen und Zähneklappern ist.
In der Philosophiegeschichte begegnet uns diese Tat-Ethik bei den Stoikern, und es ist kein Zufall, dass dort auch erstmals der Begriff des Gewissens (syneidesis) im modernen Sinn auftaucht. Für die Stoa besteht Tugend einmal in Pflichterfüllung und Selbstüberwindung, zum anderen aber eben in der Forderung nach einem Leben der Tat, nach kraftvollem Zugreifen und entschlossenem Handeln. Und in der Aufklärung war es vor allem Fichte, der die Tat als moralisches Prinzip in den Mittelpunkt seiner Philosophie stellte: „Handeln, Handeln, das ist es wozu wir da sind!“
Der kategorische Imperativ Der Idee, dass Tätigsein sich selbst legitimieren könnte, ermangelt nicht eine gewisse intuitive Attraktivität. Sie ist tief in unserer sozialen Affektausstattung verankert. Erich von Holst entfernte einmal einer Ellritze operativ das Vorderhirn, in dem bei Wirbeltieren eine Art Zentrum der Bedenklichkeit sitzt. Das operierte Tier verlor so alle Scheu und schwamm überall hin, wo sich die anderen aus seinem Schwarm von selbst nicht hingetraut hätten. Sie folgten ihm aber blindlings, und so wurde es zum Anführer der Gruppe.
Der Führer, der keine Hemmung kennt, vermag andere mitzureißen, und beim Menschen hat das, wie noch zu besprechen sein wird, einen massiv exkulpierenden Effekt. Das gilt auch intrasubjektiv. Wenn es zur Tat kommt, muss das Gewissen geschwiegen haben, es hätte sonst Feige aus uns gemacht. Also ist es einverstanden gewesen.
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Gerade diese Analyse der subjektiven Wirkungszusammenhänge lässt freilich auch deren objektive Schwäche erkennen. Wenn das Gewissen keine Einwände erhoben hat, so kann das daran liegen, dass die Tat werthaltig war. Es kann aber auch von Gewissenlosigkeit zeugen. Faust, ausdrücklich auf das Tatprinzip eingeschworen, wird am Ende des II. Teiles der Tragödie gerade darin schuldig, dass er im Vollzug seiner letzten Kulturschöpfung das harmlose Greisenpaar Philemon und Baucis elend draufgehen lässt. Es dürfte kaum nötig sein, nach dem Ellritzenbeispiel auch noch an die von Hitler in die Metapher von den „abgebrochenen Brücken“ gekleidete Regel zu erinnern, man müsse sich „die Rückzugslinien selbst abschneiden … dann kämpfe man leichter und entschlossener“.
Kein Zweifel – der Elan der Tat allein legitimiert überhaupt nichts. Es kommt alles darauf an, ob er sich so explizieren lässt, dass aus ihm selbst heraus auch gewisse Ordnungsformen folgen. Als der berühmteste Versuch in dieser Richtung gilt der „kategorische Imperativ“ von Kant. Er existiert in zwei Fassungen – einer bekannteren Handle so, dass die Maxime deines Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung dienen könnte!
und einer weniger oft zitierten Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst!
Bereits in der Kantischen Ethik tritt dem Begriff der Freiheit also als gleich gewichtig der der Würde zur Seite. Beide definieren sich aus derselben Idee heraus: Der Mensch lebt genau dann in Würde, wenn er frei ist, und der kategorische Imperativ verpflichtet ihn zu dieser Freiheit. Das ist nun gewiss sehr lobenswert und unbedingt zu beherzigen. Ein Problem liegt nur darin, dass es sich bei diesem Imperativ um einen kategorischen handeln soll; denn das soll heißen, dass er nicht nur axiomatischen Charakter hat, also keiner weiteren Begründung fähig ist, sondern darüber hinaus auch keiner solchen mehr bedarf. Man könnte auf das unhinterfragbare Verlangen des Menschen zurückgreifen, sein Leben als sinnvoll zu empfinden. Das kann er aber nur, so ließe sich argumentieren, wenn er anderen dieselbe Freiheit einräumt, die er für sich selbst beansprucht. Denn die kognitive Ausstattung, die ihm nun einmal in die Wiege gelegt ist, nötigt ihn, sich mit anderen empathisch zu identifizieren. Mit einer solchen Argumentation wäre Kant aber gar nicht zufrieden. Sie ist eudämonistisch: Wer dem kategorischen Imperativ nicht folgt, der bringt sich eben um ein sinnvolles Leben. Das hatten wir schon. Aber eine Pflicht ist damit zunächst noch nicht begründet. Man muss also vom anderen Menschen her argumentieren: Es ist verpflichtend, den Freiheitsspielraum anderer nicht einzuschränken. Sonst könnten diese nämlich
66 Kapitel 3. Auf der Suche nach Letztbegründung nicht mehr sinnvoll leben. Warum aber soll das, was anderen gut tut, für mich verpflichtend sein? Gewiss, die anderen sorgen schon dafür, dass ich an meine Pflicht erinnert werde. Aber das wäre nur Nötigung. Pflicht wird es erst, wenn ich es verinnerliche und mir selbst befehle. Wie sollte der entsprechende Befehl meines Gewissens indessen sich selbst begründen können?
Kritik des deontologischen Ansatzes Auf diese Frage gibt es keine befriedigende Antwort. Kant selbst rekurriert hierzu auf die im vorigen Kapitel erörterte Konstruktion des „Bewusstseins überhaupt“, das die Intersubjektivität der Welterfahrung gewährleisten soll. Hören wir dazu noch einmal Jaspers: Das Bewusstsein überhaupt zeigt uns, worin wir alle als denkende Wesen übereinstimmen. Während in jeder Besonderheit der Subjektivität etwas Inkommunikables bleibt, verstehen wir uns in dem Allgemeinen des Bewusstseins überhaupt … selber mit einander und mit uns selbst identisch.
Diese Identifikation aller Subjekte im „Bewusstsein überhaupt“ soll die Matrix liefern, in der auch die Freiheit der Individuen zur unteilbaren Freiheit schlechthin verschmilzt. Diese würde dann sich selbst widersprechen, wenn sie sich in einem einzelnen Subjekt auf Kosten der übrigen entfalten wollte. In diesem Sinne liest man etwa bei Annemarie Pieper: Freiheit realisiert sich nur als Freiheit im Verbund mit anderer Freiheit und als Anerkennung anderer Freiheit.
Das klingt gut, solange man nicht versucht, es in die Umgangssprache zu übersetzen. Freiheit „realisiert sich“, heißt es da. Wie macht man das, „sich realisieren“? Das Argument soll wohl besagen: Begriffe wie „Freiheit“, „Pflicht“, „Würde“ usw. sind für das „Bewusstsein überhaupt“ nur widerspruchsfrei denkbar, wenn man das, worauf sie verweisen, auch anderen zubilligt. Angenommen aber, das träfe wirklich zu, so wäre damit noch nichts gewonnen. Denn wenn sich ein Begriff nicht widerspruchsfrei denken lässt, dann sagt das überhaupt nichts darüber aus, ob der gemeinte Gegenstand nicht dennoch existiert. Etwas, das zugleich Welle und Korpuskel ist, lässt sich selbst für ein „Bewusstsein überhaupt“ ja auch nicht widerspruchsfrei denken. Unser Kognitionsapparat übernimmt sich, wenn er die Beschränktheit seines Evidenzerlebens zum Richtmaß von metakosmischem Sein und Nichtsein erhebt. Abgesehen von den genannten erkenntnistheoretischen Bedenken darf auch noch ein empirischer Einwand nicht unerwähnt bleiben. Wenn Kant von „Neigungen“ spricht, dann hat er Antriebe des „niederen Begehrens“ wie Egoismus, Sinnlichkeit, Neid und Rachsucht im Sinn. Er berücksichtigt nicht, dass zu den naturgegebenen 1 Jaspers (1957) p. 442f 2 Pieper (2000) p. 224
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Neigungen auch fremddienliche Impulse gehören, und benötigt daher für die zwischenmenschliche Identifikation die Chimäre eines „Bewusstseins überhaupt“. Dass dieser Mangel auch damals schon erkannt wurde, verrät das vielzitierte Distichon, in dem sich Schiller über den kategorischen Imperativ mokierte: Gerne dient’ ich den Freunden, doch tu’ ich es leider mit Neigung, Und so wurmt es mir oft, dass ich nicht tugendhaft bin. Da ist kein anderer Rat, du musst suchen, sie zu verachten, und mit Abscheu alsdann tun, was die Pflicht dir gebeut. Während also die eudämonistische Letztbegründung die moralische Erfahrung insofern verfehlt, als sie der Selbsthemmung keinen Platz einräumt, kommen umgekehrt bei den deontologischen Versuchen die Neigungen zu kurz. Es gibt Werte, die zu verwirklichen dem Menschen gar nicht befohlen zu werden braucht, und wenn er ihrem Appell gern nachgibt, verliert sein Handeln nicht schon deshalb an moralischer Qualität.
Diskurstheoretische Begründungsversuche Die Transformation ins Soziale Damit haben wir den Horizont der historischen Vorschläge zur Letztbegründung einigermaßen abgeschritten. Bleibt zu fragen, welche Konsequenzen die Gegenwartsphilosophie aus diesem Nachlass zieht. Hier ragt unübersehbar ein Gedankengebäude heraus, das von Karl-Otto Apel begründet und von Jürgen Habermas ausgebaut wurde. Es wird als „Diskursethik“ bezeichnet und ist wohl der letzte großangelegte Versuch, der Geltung moralischer Normen einen epistemologischen Status zuzuweisen, der sich praktisch nicht mehr von dem empirischer Tatsachenbehauptungen unterscheidet. Auf den ersten Blick ähnelt die Diskursethik der kantianischen Moralphilosophie: Beide sind formal, beide verwenden für ihren Anspruch, das Geltungsproblem zu lösen, die – erkenntnistheoretisch freilich nicht eben klare – Chiffre „transzendental“, für beide sind „Freiheit“ und „Gleichheit“ die tragenden Pfeiler der Moralkonstruktion, und beiden haftet der puritanisch strenge Geruch an, die Verpflichtung zu verherrlichen und der Neigung zu misstrauen. In einer Hinsicht allerdings geht die Diskursethik andere Wege: Von einem Pathos der Tat ist hier nichts mehr zu spüren; an dessen Stelle tritt wieder, in Umkehr der Faustischen Intention, ein Pathos des Wortes, des Redens – anstandshalber sei präzisiert: des Miteinanderredens. Der Mensch erscheint nun nicht in erster Linie als einsamer Entscheidungsträger, sondern als Glied einer Gruppe; prototypisch für sein Handeln sind
68 Kapitel 3. Auf der Suche nach Letztbegründung nicht mehr der Hammer und das Schwert, sondern die Kommunikation. Habermas findet da schöne Worte, er spricht von „sprachlichen Bindungsenergien“, denen die Aufgabe zukommt, Individuen aus ihrer stummen Eingeschlossenheit in ihr Ego zu lösen. Für diese Vergesellschaftung der Moral könnte man durchaus pragmatische Argumente geltend machen. Am kategorischen Imperativ lässt sich ja in der Tat dessen gewissermaßen monologisierendes Format beanstanden. Das Subjekt soll allein entscheiden, ob die Maxime seines Handelns verallgemeinerungsfähig sei. Dass es dazu kognitiv überhaupt in der Lage ist, steht für Kant außer Frage, wird es doch durch seine Partizipation am „Bewusstsein überhaupt“ garantiert. Demjenigen jedoch, der im konkreten Fall handeln soll, hilft das nicht sonderlich weiter. Hier ist John Rawls1 mit der Empfehlung eingesprungen, man möge sich hypothetisch einen „Schleier der Unwissenheit“ vor die Augen ziehen und sich in einen „Urzustand“ versetzen, in dem man, neben dem Menschsein als solchem, noch durch keinerlei partikuläre Merkmale gekennzeichnet ist – nicht als Mitglied einer bestimmten Nationalität oder Kultur, nicht als Frau oder Mann, Erwachsener oder Kind, Gruppenmitglied oder Fremdling, Krösus oder Bettler, Herr oder Sklave; und erst wenn dies gelungen sei, solle man urteilen, ob man einer bestimmten Regel zustimmen wolle oder nicht. Das ist gewissermaßen eine Handanweisung für Perspektivenübernahme und insofern ein erster Schritt zur Praktizierung des kategorischen Imperativs. Der Diskursethik reicht das aber noch nicht. Sie zweifelt, mit Recht wohl, an der Kraft der Einzelnen, die eigenen Interessen hinreichend zu neutralisieren; bekanntlich ist die Kompetenz zum Du-Bezug oft schon überfordert, wenn es auch nur darum geht, dem Freund eine Krawatte zu schenken. Wirksame Abhilfe ist hier wohl doch nur so zu schaffen, dass man Individuen nicht nur im Geist, sondern leibhaftig aufeinander loslässt. Nur wenn sie sich kommunikativ auseinandersetzen, kann man hoffen, dass alle Bedürfnisse artikuliert werden und zum Zuge kommen. Wenn alles gut geht, mag sich dann das Verhalten der Beteiligten tatsächlich in einer Weise koordinieren, die einigermaßen im Interesse aller liegt und deren Risiken und Nebenwirkungen von allen akzeptiert werden. Das sind dann Sternstunden einer gelungenen Gruppendynamik. Aber die Diskursethiker verstehen sich nicht als Sozialingenieure. Sie machen aus ihrer Rezeptur einen Imperativ. Habermas nennt ihn den Universalisierungsgrundsatz und gibt ihm die Form Normen sind als ungültig auszuschließen, denen nicht alle potentiell Betroffenen zustimmen können!
Die Argumentation überhaupt Um diesen Gedankensprung nachvollziehen zu können, ist es erforderlich, die epistemologische Position von Habermas zu bestimmen. Das ist nicht so einfach, denn er beruft sich 1 Rawls (1975)
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auf Gewährsleute recht unterschiedlicher Couleur. Kant spielt eine ation überh ment aup u g wichtige Rolle; hinzu kommt aber auch die Reverenz gegenüber der Ar Soziale 6R]LDOH:HOW 6 R]LDOHWelt :HOW allem Idealismus abholden marxistischen Tradition, die Habermas kt.W kt kt.W W We l e j j e kt 1 e b lt stellenweise in die Nähe einer kritisch-realistischen Perspektive bringt. t su sub Wir erkennen in seiner Epistemologie unschwer das trialistische ICH DU Denkmodell Kants wieder (Abbildung 3.7, vgl. dazu Abbildung 2.6). Den unteren Pol bildet eine „objektive Welt beschreibungsunabhängig existierender Gegenstände“. Das ist ein mit kritisch-realistischer Substanz angereicherter Abkömmling des Ding-an-sich. Und wie bei Kant ist damit im Wesentlichen der Objektbereich von Naturwissenschaft und Technik gemeint. Dass diese Welt auch Objektive Welt andere Menschen bevölkern, wird zwar nicht explizit ausgeblendet, aber auch nicht thematisiert. Die „Gesamtheit legitim geregelter Abbildung 3.7 Die Epistemointerpersonaler Beziehungen und Interaktionen“ wird vielmehr aus logie der Diskursethik dieser Welt herausgenommen und konstituiert als eine „symbolisch strukturierte soziale Welt“ deren oberen Gegenpol. Dazwischen liegt die „subjektive Welt“, die Gesamtheit der Erlebnisinhalte, die einem Individuum „privilegiert zugänglich“ sind, wie etwa Wissensbestände, Gefühle oder Vorstellungsbilder. Die im trialistischen Schema seit Plato mitgedachte Unterscheidung zweier unabhängiger Erkenntnisakte arbeitet auch Habermas heraus: Aussagen über die objektive Welt ließen sich auf der Achse „wahr“-“falsch“ einordnen; die soziale Welt hingegen kenne nur die Kategorien „richtig“ und „unrichtig“, und auf diese beziehe sich auch der Geltungsanspruch der Moral. Richtigkeit dürfe man durchaus als Äquivalent der Wahrheit auffassen; denn bei beiden unterläge der Erkenntnisakt einschränkenden Bedingungen, die seine Universalität sicherstellen. Bei der Erkenntnis der Objektwelt würden die Beobachterperspektiven aller Subjekte automatisch dadurch koordiniert, dass sie sich auf dasselbe reale Objekt richten. Wahrheitsansprüche ließen sich daher empirisch prüfen. Die objektive Verankerung unseres Weltbildes sei hier „unverfügbar“, also nicht von uns gemacht, und „identisch“, also für alle dieselbe. Im Gegensatz dazu seien moralische Geltungsansprüche „eines rechtfertigungstranszendenten Bezugspunkts beraubt“, denn sie könnten nicht „durch eine ‚Welt‘ dementiert werden, die sich weigert ‚mitzuspielen‘“. Gleichwohl gebe es aber auch hier bei Kontroversen nur eine „einzig richtige Antwort“; denn die sozialen Wirklichkeit sei ja ihrerseits wiederum für alle dieselbe, also „identisch“. Allerdings sind ihre Inhalte im Unterschied zu denen der objektiven Welt nicht „unverfügbar“, denn sie müssten durch die Herstellung einer gemeinsamen Wir-Perspektive erst hervorgebracht werden. Dies geschehe durch die „Orientierung an einer immer weiter gehenden Inklu-
1 Habermas (1992) p. 68; (2000) p. 42ff
70 Kapitel 3. Auf der Suche nach Letztbegründung sion fremder Ansprüche und Personen“. Diese „regulative Idee“ könne dann durchaus die fehlende Bezugnahme auf eine objektiven Welt ausgleichen: Ein unter idealen Bedingungen diskursiv erzieltes Einverständnis über Normen oder Handlungen hat mehr als nur autorisierende Kraft, es verbürgt die Richtigkeit moralischer Urteile.
Auch Habermas sucht also die Gründe für die Universalität der Moral am oberen Pol des trialistischen Schemas. Dabei distanziert er sich jedoch von Scheler, der den Werten eine den Subjekten vorgeordnete Existenzform zubilligen wollte: Die ideal gerechtfertigte Behauptbarkeit einer Norm weist nicht … über die Grenzen des Diskurses hinaus auf etwas hin, das unabhängig von der festgestellten Anerkennungswürdigkeit ‚Bestand‘ haben könnte.
Vielmehr gehe es darum, die Moral am „inklusiven Bezugspunkt einer ideal entworfenen sozialen Welt legitim geregelter interpersonaler Beziehungen“ zu verankern – eine furchteinflößende Wortballung, die sich jedoch leicht als Abkömmling von Kants „transzendentalem Subjekt“ dechiffrieren lässt: An die Stelle eines überindividuellen Bewusstseins, das dort als Plattform für die Identifikation aller empirischen Subjekte die generelle Verbindlichkeit der Handlungsmaximen begründen sollte, tritt in der Diskursethik ein Kontext konsensstiftender Sprechhandlungen. Dass hier von mehr die Rede ist als von einem positivistischen Gesellschaftsvertrag, zeigt sich daran, dass jene normbegründende Instanz als „Argumentation überhaupt“1 apostrophiert wird, eine Formulierung, die beim informierten Leser unweigerlich die Assoziation des „Bewusstseins überhaupt“ wecken muss.
Performative Letztbegründung Wie aber könnte ein sozialer Prozess Letztbegründung leisten? Hier soll nun ein Kunstgriff weiterhelfen, dem Apel den Namen „Transzendentalpragmatik“ gegeben hat. Er benützt ein sprachphilosophisches Konzept, das in der Mitte des 20. Jahrhunderts von John Langshaw Austin eingeführt worden ist. Dessen so genannte Sprechakttheorie macht geltend, dass sprachliche Äußerungen nicht nur eine logische Dimension und demgemäß einen Wahrheitswert haben, sondern auch etwas bewirken – zum Beispiel als Versprechen, Entschuldigung, Lob oder Befehl. Den erstgenannten Aspekt nannte er „konstativ“, den letzteren „performativ“. Performative Äußerungen sind weder wahr noch falsch; sie können nur erfolgreich sein oder missglücken. Sie sind eigentlich kommunikative Handlungen. Auf dieser Unterscheidung basiert die Vorliebe für den ursprünglich von Michel Foucault geprägten Begriff Diskurs. Gegenüber einer bloß konstativ verstandenen „Diskussion“ läuft ein „Diskurs“ unter dem Aspekt der Auswirkungen ab, die er auf 1 Habermas (1992) p. 110
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die Teilnehmer und über diese hinaus hat; er ist also gewissermaßen von vornherein mit performativer Spannung aufgeladen. Damit gehen in ihn immer schon „normativ gehaltvolle Kommunikationsvoraussetzungen“ ein, denen sich die Rechtfertigungspraxis nicht entziehen kann. Die Doppelnatur des Sprechens meint die Transzendentalpragmatik als Brücke nützen zu können, die die Kluft zwischen Sein und Sollen überwindet. Da allenfalls ein Selbstgespräch rein konstativ bleiben kann, das Reden mit anderen Menschen aber unweigerlich performativ wird, scheint sich quasi von selbst zu ergeben, dass durch den bloßen Eintritt in einen Diskurs das Gesagte auf die Ebene der Verbindlichkeit angehoben wird. Jeder Partner einer Kommunikation mache diese nämlich schon durch seine bloße Teilnahme zu einem Diskurs. Indem er überhaupt mitredet, hat er bereits die Spielregeln anerkannt. Solche stillen Prämissen kann man herauspräparieren und dem Skeptiker, der sie relativieren möchte, dann aus der Tatsache seiner aktiven Präsenz beweisen, dass er sich in einen „performativen Widerspruch“ begeben würde, wenn er diese Voraussetzungen auf der Ebene der Sprechhandlung macht, auf der Inhaltsebene aber leugnet. Auch und insbesondere der oben genannte Universalisierungsgrundsatz folgt dieser Herleitung zufolge aus Prinzipien, die keiner argumentativen Begründung bedürfen, weil man sie bereits als gültig unterstellt hat, wenn man sich überhaupt auf einen Diskurs einlässt.
Kritik des diskurstheoretischen Ansatzes Was soll man zu solcher Beweisführung sagen? Man fühlt sich auf fatale Weise an das sogenannte ontologische Argument des Anselm von Canterbury erinnert. Dieser hatte gelehrt, zum Begriff Gottes gehöre die absolute Vollkommenheit, und es sei ein logischer Widerspruch, wenn diese nicht auch die Existenz einschlösse – also existiere Gott. Die transzendentalpragmatische Konstruktion ist von ähnlicher Machart. Wieso hat die Tatsache, dass ich mich auf eine Debatte über Rechte und Pflichten einlasse, automatisch zur Folge, dass ich dabei auf Privilegien zu verzichten bereit sein muss? Mag man mir immerhin einen „performativen Widerspruch“ nachweisen; wo aber steht geschrieben, dass kognitive Dissonanz unmoralisch sei? Formal beruht der diskurstheoretische Anspruch, so etwas wie eine Letztbegründung zu leisten, auf einem Zirkelschluss. Die gemeinsame Normfindung funktioniert nämlich nur, wenn sie auf die „richtige“ Weise vonstatten geht. So muss insbesondere sichergestellt sein, dass alle von ihr Betroffenen sich daran beteiligen können, sie sollten ferner jede Ansicht vorbringen und jeder Behauptung widersprechen dürfen, und sie müssen schließlich ehrlich sein und man muss ihnen das auch glauben. Wer solcherart aber überhaupt den Willen zur sozialen Symmetrie aufzubringen bereit ist, hat bereits alle die moralischen Vorleistungen erbracht, die aus dem Diskurs erst resultieren sollen. Er hat das Kaninchen, das dann aus dem Zylinderhut gezaubert wird, vorsorglich bereits in diesen hineingesteckt.
72 Kapitel 3. Auf der Suche nach Letztbegründung Es ist schwer zu beurteilen, ob Habermas selbst dem rationalistischen Stützwerk seiner Konstruktionen reale Tragkraft zutraut, oder ob er sich der Gebärde vernunftgeleiteter Argumentation im Grunde nur als Alibi bedient, während er bei Nacht und Nebel an das naturrechtliche Vorverständnis seiner Leserschaft appelliert. Jedenfalls finden sich bei ihm Passagen wie die folgende:1 Mit dem „Zweck“ von Argumentation überhaupt können wir nicht so arbiträr verfahren wie mit kontingenten Handlungszwecken; dieser Zweck ist mit der intersubjektiven Lebensform sprach- und handlungsfähiger Subjekte so verwoben, dass wir ihn aus freien Stücken weder setzen noch umgehen können.
Diese „intersubjektive Lebensform“ ist doch wohl nichts anderes als eine sorgsam verklausulierte Umschreibung der Conditio Humana, vulgo: der Natur des Menschen. Ein paar Seiten später beruft sich Habermas dann noch einmal auf die Begründungskraft von „im Sozialisationsprozess naturwüchsig erworbenen Intuitionen“. Auf so eine Formulierung muss man erst einmal kommen. Man verneigt sich entwaffnet vor derlei Meisterstücken bemäntelnder Begriffsdichtung, die das klassische Gegensatzpaar von „naturwüchsig“ und „sozialisiert“ ganz nebenbei zu einem friedlichen Amalgam einschmilzt, um in gesellschaftspolitisch unanstößiger Suada einzuräumen, dass man ohne die diskrete Abstützung auf naturalistische Argumentationshilfen nicht auskommt. Im Klartext formuliert heißt das alles doch wohl nichts anderes, als dass es eben zum menschlichen Wesen gehöre, Konflikte argumentativ zu lösen, weshalb denn sein eigenes Menschsein verrate, wer sich dem Diskurs verweigert.
1 Habermas (1983) p. 104f
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Zwischenbilanz Die philosophische Ethik versteht sich darauf, die wesentlichen Fragen zu stellen (z. B. worin besteht das wahre Glück des Menschen? Oder: Soll der Mensch überhaupt nach Glück streben?) Das impliziert aber nicht ohne weiteres auch die Kompetenz, diese Fragen zu beantworten. Zwar hat hier die Kunst evidenzgenerierender Sprachspiele seit je in hohem Ansehen gestanden. Einschlägige Spekulationen werden auch gern mit dem Reizwort „denknotwendig“ gewürzt. Aber denknotwendig ist eben nicht dasselbe wie seinsnotwendig. In diesem Kapitel haben wir die namhaftesten Anläufe Revue passieren lassen, das Problem der moralischen Letztbegründung zu lösen, und gezeigt, wieso sie dabei scheitern. Naturalistische Ansätze argumentieren mit einem Naturrecht und entkommen damit nicht dem naturalistischen Trugschluss. Intuitionistische Ansätze schreiben der Evidenz ein Begründungspotential zu, das sie nicht besitzt. Eudämonistische Ansätze versuchen, moralische Normen auf die Unhinterfragbarkeit des Glücksverlangens zu gründen. Damit verliert die Moral aber den Charakter der Verbindlichkeit. Deontologische Ansätze kranken in reiner Form an ihrer inhaltlichen Unbestimmtheit, sofern sie nicht auf die epistemologische Chimäre eines überindividuellen Bewusstseins rekurrieren. Diskurstheoretische Ansätze konkretisieren zwar das „Bewusstsein überhaupt“ zur Realität der faktischen Gesellschaft, erheben aber für die Teilnahme am Diskurs bereits die Sollforderungen, die der Diskurs erst begründen soll. Diese Bestandsaufnahme legt die Konsequenz nahe, philosophische Argumentationsfiguren nachfolgend nicht weiter zu verfolgen. Nun wäre die Auseinandersetzung mit dem philosophischen Zugang aber unvollständig, wenn wir übersehen wollten, dass es in der Gegenwart auch Strömungen gibt, die den rationalen Rahmen radikal sprengen wollen und nicht aus dem Geist, sondern aus der Leidenschaft heraus philosophieren zu können beanspruchen. Die Richtung nennt sich die „Postmoderne“, und wir sollten wenigstens einen Blick darauf werfen, ob es ihr gelingt, das Begründungsproblem auf unorthodoxen Wegen zu lösen.
Kapitel 4 Münchhausens Zopf Das Elend der Philosophie Philosophia perennis? Man mag sich wundern, dass die erkennbare Unmöglichkeit einer Letztbegründung moralischer Maximen niemanden entmutigt, sich immer wieder erneut daran zu versuchen. In der Philosophie geht es aber eben anders zu als in den empirischen Wissenschaften: Sie wächst nicht an der Überwindung vergangener Irrtümer. Es gibt in ihr kein Fundament unangefochtener Einsichten, das von Generation zu Generation weitergereicht, ausgebaut und erweitert würde. Probleme, die heute aktuell sind, verschwinden morgen wieder, tauchen übermorgen in anderer Gestalt abermals auf, werden aus der eigenen Asche neu geboren, und keine „Lösung“ kann ihre ewige Reinkarnation stoppen. Die Philosophie dreht sich wie ein gigantisches Kaleidoskop, produziert unverdrossen Muster, denen es gelingt, in den Augen der Zeitgenossen innovativ auszusehen, ohne dass doch die Achse des Rades wirklich vorwärts rückt. Optimistische Adepten nennen dieses endlose Wellenspiel philosophia perennis, ewige Philosophie. Ursprünglich verband sich mit diesem Begriff wohl tatsächlich die Erwartung, es gehe hier zu wie in den empirischen Wissenschaften, wo ungeachtet aller nicht zu vermeidenden Umwege und Sackgassen doch die Tiefe und Breite der Einsicht stetig und irreversibel zunimmt. Spätere Autoren, unter ihnen etwa Nicolai Hartmann, bezogen die Zeitlosigkeit dann nur noch auf die behandelten Probleme. Dem kann man zustimmen, sofern sich damit die Einsicht verbindet, dass diese Probleme eben den Metakosmos betreffen, weshalb Evidenzgefühle – das einzige Regulativ, auf das sich philosophische Spekulation berufen kann – als Navigationshilfen ausfallen. Was ist Philosophie eigentlich für eine Wissenschaft? Um es vorab einzuräumen – sie hat eine ehrwürdige Geschichte. Ursprünglich einmal waren Philosophie und das, was wir heute Wissenschaft nennen, bedeutungsgleich. Aristoteles war Physiker, Biologe, Psychologe und noch viel mehr in einer Person. Descartes erfand die analytische Geometrie, Leibniz die Differentialrechnung, Newtons Hauptwerk trägt immerhin noch die „philosophia naturalis“ im Titel, Kant stellte eine kosmologische Theorie auf. Sogar Goethe hat noch einen Kieferknochen entdeckt, wenngleich seine gegen Newton anrennende Farbenlehre bereits die Unzulänglichkeiten einer nur Evidenzgefühle kultivierenden Spekulation gegenüber der experimentellen Forschung deutlich macht. Inzwischen aber hat sich alles gründlich geändert. Schuld daran trägt die vielberufene Wissensinflation. Heutzutage kann kein Einzelner mehr den enzyklopädischen Überblick behalten, den die Philosophie für sich beansprucht. Längst sind daher die Erfahrungswissenschaften unter Mitnahme ihrer professionellen Kompetenz aus ihr
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exiliert. Seitdem musste sie sich zunehmend auf Mängelverwaltung einstellen. Der ursprüngliche Anspruch, „die Tatsachen zu Ende zu denken“ blieb dabei schon aus Gründen der Selbstachtung aufrechterhalten; nur sind eben die Tatsachen, die es zu Ende zu denken gilt, nur noch dem verständlich, der empirisch intensiv in sie eingedrungen ist.
Das Münchhausen-Trilemma Es ist verständlich, dass sich die Philosophie angesichts dieser Sachlage auf Fragen zurückzieht, die nur fachübergreifend formulierbar sind und sich daher disziplingebundener Engführung widersetzen. Dazu gehört das Problemfeld der Wissenschaftstheorie einschließlich der Epistemologie, und dann eben vor allem die Ethik. Leider klaffen aber gerade hier Anspruch und Ertrag hoffnungslos auseinander. Hans Albert hat in der Nüchternheit des kritischen Rationalisten alle Versuche, auf spekulativem Wege das Problem der moralischen Letztbegründung befriedigend zu lösen, mit dem Bemühen verglichen, sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen. Er spricht in diesem Sinn vom „Münchhausen-Trilemma“: Alle Anläufe zum Aufweis allgemeingültiger Moralprinzipien seien schließlich in einer von drei Sackgassen gelandet – entweder liefen sie auf einen unendlichen Regress hinaus, oder die zu gewinnenden Folgerungen seien zirkulär, also bereits in den Voraussetzungen enthalten, oder die Schlusskette breche irgendwann bei einem axiomatischen Prinzip ab, dem durch eine spitzfindige Spekulation die erstaunliche Potenz angedichtet wird, sich selbst beweisen zu können. Bei dieser Sachlage ist eine Methodologie der Objektivitätskontrolle, wie sie die empirischen Wissenschaften entwickelt haben, auf dem Boden der Philosophie gar nicht ernsthaft in Angriff genommen worden. Man stochert nicht freiwillig in Wunden herum, die nicht heilen wollen. Die breite Mehrzahl derer, die sich heute ex professo zu Fragen der Ethik äußern, richtet ihr Bestreben ganz im Gegenteil überwiegend darauf, durch unablässige Betonung des hohen Evidenzgrades moralischer Prinzipien erst gar keine Zweifel an deren Legitimität aufkommen zu lassen. Am sinnvollsten ist es noch, wenn Philosophen zu Historikern der eigenen Disziplin werden. Lehrstühle, die diesbezügliches Wissen sammeln und weitergeben, werden immer ihre akademische Bedeutung behalten. Wir brauchen in der Tat Archivare, die auf Verlangen zu Tage fördern können, was die Weisen in der Vergangenheit für Meinungen geäußert haben, wie sie die Welt anschauten, wie sie sich darüber stritten und wie der Streit irgendwann nicht etwa geschlichtet wurde, sondern seine Aktualität verlor. Das wird uns zwar nicht davor bewahren, erneut wieder in die alten Sackgassen zu geraten, wenn der Zeitgeist es verlangt; aber wir können das dann wenigstens auf hohem Niveau und unter Rückgriff auf gediegene Zitate tun.
1 Albert (1968)
76 Kapitel 4. Münchhausens Zopf Im Übrigen ist und bleibt Philosophiegeschichte nicht nur ein Schlüssel zum Selbstverständnis unserer Kultur, sondern auch eine hochinteressante Fundgrube für die Psychologie theoretischer Denkvollzüge. Wenn wir dem Spiel der Tentakeln unserer metaphysischen Sehnsüchte zuschauen, können wir wertvolle Einsichten in die Ordnungsprinzipien gewinnen, von denen es abhängt, ob uns eine Idee so einleuchtet, dass wir sie reflexhaft als „ewige Wahrheit“ in den Metakosmos projizieren. Dessen Antwort wird freilich immer die Gebärde bleiben, mit der der Weltgeist die Vertraulichkeiten Fausts zurückwies: „Du gleichst dem Geist, den du begreifst – nicht mir!“ Aber wer hört da schon hin. Spekulationen über eine unbedingte, ausnahmslose, eben kategorische Geltung moralischer „Wertverhalte“ werden nie aufhören, mit der unerschöpflichen Geduld eingekellerter Winterkartoffeln Keime zu treiben und Evidenzen zu produzieren, deren vitale Selbstgewissheit darüber hinwegtäuscht, dass da kein Fenster in der Mauer war, durch das ein orientierender Lichtschimmer hätte fallen können.
Postmoderner Karneval Das Ende der großen Erzählungen Auch wenn man es nicht wahrhaben mag: Das Wechselspiel philosophischer Ideen gleicht prozessdynamisch dem ewigen Wandel der Kleidermoden. Den von der Aufklärung bis etwa in die Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrschend getragenen Look kennzeichnet man daher einfachheitshalber mit dem passenden Etikett „modern“. Inzwischen wartet die Haute-Couture jedoch auch schon wieder mit einer „Post-Moderne“ auf, die ihre steingewaschenen Jeans besonders trendig auf den Markt wirft. Das Bemerkenswerte an ihr ist, dass sie aus der vorangehend dargestellten Fatalität der Philosophie außergewöhnlich drastische Konsequenzen zieht. Diese laufen auf einen Kollaps der Ratio hinaus – eine Apotheose der Beliebigkeit, deren Credo sich etwa wie folgt zusammenfassen lässt: Eine menschliche „Natur“ existiert nicht. Die Conditio Humana kennt keine Universalien; wenn etwas danach aussieht, so liegt das an der Ähnlichkeit gewisser materieller Randbedingungen, denen alle Menschen unterworfen sind. Wo immer solche Sachzwänge Spielraum lassen, und dieser Spielraum ist immens, dort gestaltet sich in ständigem Wandel der unerschöpfliche Formenreichtum der Kulturen. Es gibt kein erlebnisjenseitiges Korrektiv unserer Phantasie. Was „wahr“ oder „wirklich“ genannt zu werden verdient, definiert jede Gesellschaft in eigener Regie. Alle Versuche, Aussagen logisch zu begründen, fußen auf willkürlichen und keiner Beweisführung fähigen Prämissen. Rationalität ist eine Gruppenleistung des Entscheidens, nicht des Findens. Die spezifische Differenz des Menschen ist die Sprache. Sie erschließt unserem Geist überhaupt erst seinen ureigensten Lebensraum. Sie ist das wahre Perpetuum mobile seiner Kreativität. Ihre Ordnungsmuster bringt sie aus sich selbst hervor, sie werden ihr weder von der Logik noch von äußeren Sachzwängen noch gar von den
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Genen aufgeprägt; sie produziert vielmehr umgekehrt selbst die Regeln, nach denen wir denken, wahrnehmen, fühlen und handeln: Sie allein erfindet die Erzählungen, die die jeweilige Sprachgemeinschaft ihre „Welt“ nennt. Das Schlagwort „postmodern“ wurde 1979 von Jean-Francois Lyotard eingeführt, als Chiffre für das Unbehagen am Geltungsanspruch philosophischer Systeme überhaupt und vor allem an den Rezepten zur rationalen Legitimierung ethischer Verhaltensanweisungen. Lyotard spricht vom „Ende der großen Erzählungen“.1 Der Begriff der Erzählung, des „Narrativs“, ist eine Schlüsselmetapher der neuen Strömung. Wo die Moderne, dem Geist der Aufklärung verpflichtet, sich selbst immer bitter Ernst nimmt und überzeugt ist, durch harte Gedankenarbeit einen unersetzlichen Beitrag zur Weiterentwicklung der Kultur leisten zu müssen, glaubt die Postmoderne zwar an ständigen Wandel, aber nicht mehr an Fortschritt. Während die Moderne darauf besteht, als Wissenschaft zu gelten, bezieht die Postmoderne ihren Marktwert aus der Brüchigkeit dieses Anspruchs und zieht es vor, Philosophie aus der Perspektive des Künstlers, vor allem des Geschichten-Erzählers oder besser noch des Performance-Akteurs zu gestalten. Sie steigt herab vom Katheder, legt den Talar ab und maskiert sich in einem buntscheckigen, auf jeder neuen Party wieder auszuwechselnden Harlekinkostüm. Sie spielt mit der rhetorischen Frage, wie wirklich eigentlich die Wirklichkeit sei, sie spielt überhaupt gern und begründet dies in einer schrillen Kant-Rezeption damit, dass die Welt-an-sich ja doch nur chaotische Signale sende und alle vermeintliche Ordnung hausgemachte Fiktion sei. Philosophische Lehrmeinungen sind daher, so das Fazit, nicht imstande, irgendeine objektive Wahrheit anzuvisieren, und man sollte ihnen diese Funktion daher auch gar nicht erst ansinnen. Alle die universalen Ordnungsmuster, die menschliche Phantasie nicht zu kreieren ablässt, alle Mythen, Ideologien, Utopien, Doktrinen und Philosopheme, alle Versuche, das soziale Leben durch Gesetzeswerke zu ordnen und in die Matrix einer gerechten Welt einzubinden, sind „Meta-Narrative“, deren kategorischer Wahrheitsanspruch sich durch nichts rechtfertigen lässt und denen man daher keinen Glauben mehr schenken mag. Auch der „Diskurs“ ist in postmoderner Sicht kein erkenntnisstiftender Vollzug, sondern eine Inszenierung. Man spielt dabei mit, ist aber gut beraten, keine relevanten Resultate zu erwarten. Es gehört zum anarchischen Wesen der Postmoderne, dass man sie nicht über einen Kamm scheren kann. Aber allen ihren Vertretern ist doch gemeinsam, dass es ihnen nicht mehr um moralische Letztbegründung geht. Sie ersetzen diesbezügliches Bemühen durch eine Zelebration der persönlichen Betroffenheit, die im diskurstheoretischen Ansatz freilich auch schon heimlich angelegt war, aber unter dem Deckmantel transzendentalpragmatischer Rationalität getarnt blieb. Nun jedoch wird kräftig affektiver Dampf freigesetzt, ja geradezu hochgepumpt durch die plakative Konfrontation mit menschlicher Not, Machtlosigkeit und Entrechtung, für die sich allerdings in der Tat genügend Belege weltweit und aus der jüngeren Geschichte beibringen lassen. 1 Lyotard (1986)
78 Kapitel 4. Münchhausens Zopf Das kalte Licht der Rationalität, das Apel und Habermas von Kant übernommen haben, färbt sich hier dunkelrot im Kaminfeuer wieder entfachter Emotionen. Diese sind naturgemäß subjektgebunden und können der Dynamik des sozialen Miteinander eine immer nur ephemere Richtung weisen, besser gesagt, ein ganzes Bündel von Richtungen; denn schon das Subjekt selbst hat den Anspruch aufgegeben, als Einheit wahrgenommen zu werden. Letztlich bleibt also nur eine Collage aus Stilzitaten übrig, ein inkonsistentes Vielerlei, dem man lediglich in der Haltung einer Toleranz begegnen kann, die auf die Beliebigkeit des anything goes hinausläuft. An die Stelle der großen Entwürfe treten dann Sprachspiele einer populären Pragmatik, die innerhalb kleiner, überschaubarer Gemeinden Gleichgesinnter als von niemandem hinterfragtes Gewohnheitsrecht funktionieren und am besten nicht durch Legitimationszwänge irritiert werden sollten wie jener Tausendfüßler, den die Frage nach dem Prinzip seiner Bewegungskoordination nur unnötig ins Stolpern brachte.
Anti-Ethik Versucht man, die Postmoderne philosophiegeschichtlich einzuordnen, so werden Reminiszenzen an die Sophisten, die Kyniker oder in jüngerer Vergangenheit an Nietzsche geweckt. Das Kaleidoskop hat sich eben schon mehrmals gedreht, auch wenn es natürlich jedes Mal etwas anders glitzert. Den Verteidigern der Moderne fällt es demgemäß nicht schwer, das lästige Konkurrenzunternehmen als regressiv zu denunzieren. Habermas nennt die Postmoderne geradezu „neokonservativ“, also fortschrittsfeindlich. Er begründet dies mit ihrer Toleranz gegenüber Traditionen beliebiger Machart, denen sie keine Legitimation mehr abverlangt, weil sich diese auf Kriterien berufen müsste, die ihrerseits wiederum der eigenen Tradition entstammen und also nur deren Herrschaftsansprüche bedienen würden. Tatsächlich billigt die Postmoderne in der zum Programm erhobenen Beliebigkeit, mit der sie Prinzipien dekonstruiert und Maßstäbe relativiert, allen Traditionen gleiche Rechte und – bedenklicher noch – gleichen Zugang zu den Sozialisationsagenturen zu. Wenn man aber nicht mehr fähig und willens ist, Meinungen zu kritisieren, so überantwortet man sich in der Tat den Kräften des Hier und Jetzt. Jeder Impuls, das jetzt Bestehende in Richtung einer besseren Zukunft zu überschreiten, fällt dann sogleich unter Ideologieverdacht. Diese Haltung muss nicht nur verhältnisstabilisierend wirken, sondern hat auch keine Kraft zur Abwehr dogmatischer, ideologischer, autoritärer Strömungen und ebnet diesen damit den Weg. Man assoziiert mit der Postmoderne die Rede vom „Ende der Geschichte“, wobei unter Geschichte das Projekt der Arbeit an einer besseren Zukunft zu verstehen ist. Die „Gesellschaft“, die in der Sicht der Moderne noch das große Bezugssystem abgab, das zu schaffen uns aufgegeben ist, löst sich aus Sicht der Postmoderne in ein anonymes Kräftespiel ökonomischer und politischer Interessen auf, das niemand in seiner Komplexität zu überschauen und in seiner Eigendynamik zu steuern vermag. Und da man keine Macht hat, dem Unrechtspotential dieser Gewalten Widerstand zu leisten,
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ist man dazu auch nicht verpflichtet und darf sich eingeladen fühlen, in die Ästhetik des privaten Lebens abzutauchen. Damit erübrigt sich die Frage nach einer postmodernen Ethik. Normen aufzustellen ist nicht ihr Geschäft. Gleichwohl greifen postmoderne Argumente durchaus in den moralphilosophischen Dialog der Moderne ein und tragen dazu bei, ihn zum Entgleisen zu bringen – vor allem dadurch, dass sie gegenüber der künstlichen Sterilität der Diskursatmosphäre die brutale Affektdynamik des Lebens in Stellung bringen. Das beginnt schon bei der Definition des Sozialpartners. Wenn Habermas vom „Anderen“ spricht, so meint er immer jemanden, der in den Diskurs mit der Bereitschaft eintritt, mich ebenso symmetrisch einzubeziehen wie ich dies meinerseits ihm gegenüber vorhabe. Mit anderen Worten: Der Andere ist meinesgleichen. Existentielle Fremdheit ist in der Diskursethik nicht vorgesehen. Das lebensweltliche Faktum unaufhebbaren Andersseins und die dadurch bedingte konstitutionelle Asymmetrie der sozialen Beziehungen ist demgegenüber der Angelpunkt der postmodernen Anti-Ethik.1 Diese macht sich nicht mehr anheischig, die Sollgeltung moralischer Normen zu etablieren; stattdessen appelliert sie an die Eigendynamik des Mitgefühls, das nicht nach Vernunftargumenten fragt, wenn uns die angstvoll aufgerissenen Augen des zitternden Flüchtlingskindes anblicken.2 Moral verliert hier den Rang einer eindeutigen Handlungsanweisung mit Rechtschaffenheit als Erfolgsgarantie. Der existenzielle Entschluss kann Gutes beabsichtigen und doch furchtbare Konsequenzen haben. Ethik ist keine Anleitung zur Erzeugung einer besseren Welt, sondern bestenfalls eine Faustregel, die die Bereitschaft zum Eingehen moralischer Risiken nicht aus der Verantwortung entlässt. Es gibt keinen „Menschen überhaupt“, so lautet die postmoderne Botschaft, und daher ist die Gleichgewichtsbedingung des Diskurses unerfüllbar. Soziale Interaktion findet nicht auf einer Art Billardtisch statt, sondern in einem Gefälle von Abhängigkeiten, das immer wieder asymmetrischen Einsatz verlangt, freilich auch ständig droht, Gewalt und Willkür hervorzubringen. Letztlich herrscht wohl auch hier noch die schattenhafte Leitvorstellung einer gerechten Welt; aber deren Struktur ist nicht mehr durchschaubar, und sie hat sich zudem, aller Legitimationsmöglichkeiten beraubt, in den Status bloßer Wünschbarkeit zurückgezogen, den sie auch schon innehatte, bevor sich die Moralphilosophie der Zähne an ihr auszubeißen begann.
Der Souverän und das nackte Leben Homo sacer Man kann die postmoderne Dekonstruktion der Ethik nicht ansprechen, ohne einen Autor zu erwähnen, der die paradoxen Denkanstöße und die dadaistische Stiltechnik des Zeitgeistes bis zum Anschlag ausgereizt hat und von manchen geradezu als Zitier1 Derrida (1991), Lévinas (1992) 2 Bauman (1995)
80 Kapitel 4. Münchhausens Zopf autorität der Richtung betrachtet wird: den italienischen Modephilosophen Giorgio Agamben. Ob es sich lohnt, dem Sachgehalt seiner Thesen nachzuspüren, mag man bezweifeln; dafür sind sie zu manieriert, zu sehr auf Effekt geschneidert und zu wenig auf seriöse Belege gestützt. Aber als Symptom des Tagesgeschmacks haben sie doch diagnostischen Wert. Die Stoßrichtung von Agamben läuft gewissermaßen quer zu der von Habermas. Während dieser pretiöse Gedankenspiele komponiert, die unsere Sehnsucht nach einer vernünftigen moralischen Ordnung bedienen sollen, kontert Agamben mit der paradoxen Struktur politischer Realität, die alle die fein ersonnenen, glatt aufgehenden Kalküle zu Makulatur macht. Das moralische Urteilsvermögen, an dessen Kompetenz Habermas so unbeirrt appelliert, erweist sich als hoffnungslos überfordert angesichts von Fragwürdigkeiten, die uns freilich wundersam erspart bleiben, solange wir uns dem perlenden Wohlklang diskurstheoretischer Argumente anheimgeben. Agambens Texte haben wenig mit verständiger Argumentation zu tun, aber sie reißen tiefe Wunden in die emotionale Flanke unserer rationalen Selbstgewissheit. Sie stoßen uns darauf, dass einer moralischen Urteilskraft nicht viel Letztbegründungspotential zugemutet werden kann, die nur vermeintlich in der sanften Brise aufgeklärter Gedanken segelt, in Wirklichkeit aber in reißenden Strömungen dahintreibt, deren Gewalt sich aus Tiefen weit unterhalb der reinen Vernunft speist. Aus dieser Machtlosigkeit akademischer Spekulation kocht Agamben eine brodelnde Philosophie, die es grimmig auskostet, wie sich die Politik über die Meta-Narrative der Moralisten hinwegsetzt. Am häufigsten wird hierzu als Beleg sein Essay über den Homo sacer zitiert.1 Dieser Begriff bezeichnet eine altrömische Rechtsfigur. Sacer hat einen Doppelsinn ähnlich dem Wort Tabu: Es kann „heilig“ oder „verflucht“ bedeuten, man hat darunter ein Objekt zu verstehen, mit dem jedenfalls keine profane Kontaktnahme möglich ist. Ein homo sacer ist ein Mensch, der aus der menschlichen Gemeinschaft herausgefallen ist und zum Eigentum einer Gottheit wurde. Dieses Schicksal ereilte in der Antike beispielsweise jemanden, der einen Eid geleistet und dann gebrochen hatte: Damit war er dem beleidigten Gott verfallen. Jeder durfte ihn straflos töten, denn das wurde als die Rache der betrogenen Gottheit verstanden. Von dieser Figur her entwickelt Agamben nun die humane Kondition innerhalb der Matrix des modernen Staates. Die charakteristische Existenzform des homo sacer sei das Lager. Als aktuelles Paradigma führt er Guantanamo Bay an, als prototypisch aber natürlich die Konzentrationslager der Nazi-Herrschaft. Die dortige Judenvernichtung als „Holocaust“ zu bezeichnen erscheint ihm allerdings irreführend; das griechische Wort holokáutoma bezeichnet nämlich ursprünglich ein religiöses Brandopfer. Kennzeichnend für den Homo sacer sei jedoch, dass er zwar getötet, aber nicht geopfert werden könne. Diese defizitäre Bestimmung erörtert Agamben an Hand einer auf Aristoteles zurückgehenden Differenzierung. Für den Begriff des „Lebens“ gab es im Griechischen zwei verschiedene Bezeichnungen, zoë und bios. Deren Bedeutungskerne haben bis heute in der Gegenüber1 Agamben (2002)
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stellung von „Natur“ und „Gesellschaft“ überdauert: Zoë ist ein rein organisches, kreatürliches Vegetieren, ein nur noch „nacktes Leben“, bios hingegen die mündige Existenzform der im Rahmen der Polis soziokulturell eingebundenen Rechtsperson. Der homo sacer ist der auf die zoë reduzierte und daher für rituelle Vollzüge unbrauchbar gewordene Mensch.
Biopolitik Warum sollte nun aber eine solcherart reduzierte Form des Menschseins dessen Chiffre sein? Um dies plausibel zu machen, bedient sich Agamben des von Michel Foucault übernommenen Begriffes der Biomacht (biopouvoir). Macht ist ein Zentralbegriff der Staatsphilosophie Foucaults. Er sieht darin ein Medium ähnlich der Energie in der Physik, also nicht eine individuelle Persönlichkeitskonstante, sondern eine anonyme Feldkraft, die soziale Gebilde durchzieht und organisiert. In der Moderne tendiere sie zunehmend, die Leiblichkeit des Menschen, seine zoë, unter ihre Kontrolle zu bringen: also etwa das Sexualverhalten zu maßregeln, die „Volksgesundheit“ hygienisch zu überwachen, „Rassenpflege“ zu betreiben und sich durch eugenische Maßnahmen zum Sachwalter der natürlichen Selektion aufzuschwingen. Politik verstehe sich demnach zunehmend als Biopolitik. Agamben, dessen geschmäcklerisch dramatisierender Denkstil freilich nicht an Foucaults bohrende Erkenntnisleidenschaft herankommt, meint diesen dahingehend korrigieren zu müssen, dass er Biopolitik nicht etwa nur für die Endphase der abendländischen Geschichte reklamiert, sondern in ihr den Wesenskern von Politik überhaupt sieht. Die Macht als das konstitutive Prinzip des Staates erzeuge immer eine komplementäre Ohnmacht, die sie mit Bann belegen kann; jede Staatsform benötige also zu ihrer schieren Existenz ein von ihr zu verwaltendes „nacktes Leben“. Schon die griechische Polis sei ein aus Machtkämpfen hervorgegangener und auf Macht gestützter Rechtsraum gewesen, der sich nur durch Abgrenzung gegen einen rechtsfreien Hintergrund definieren konnte. Dasselbe gelte für den aus ihr hervorgegangenen modernen Staat. Selbst die Demokratien seien also im Grunde nur sublimierte, aber unter Belastung – etwa durch Terrorismus – schnell wieder zur Kenntlichkeit vergröberte Varianten einer administrativen Staatsidee, als deren unverrückbarer Prototyp das Konzentrationslager fungiere. Zur Stütze dieser auch von wohlwollenden Kommentatoren als abstrus klassifizierten und jedenfalls durch Sachargumente weitgehend unbeschwerten These stellt Agamben dem homo sacer die von dem Rechtsphilosophen Carl Schmitt übernommene Figur des Souveräns gegenüber. In dessen Kompetenz liegt der „Ausnahmezustand“, die Macht also, eine bestehende Rechtsnorm fallweise außer Kraft zu setzen. Schmitts berühmtes Zitat lautet „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet,“ wer also im Rahmen einer geltenden Rechtsordnung eben diese Ordnung jederzeit suspendieren kann, ohne sie annullieren zu müssen. In Agambens eigenen Worten: 1 Agamben (2002) p. 93f
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Souverän ist die Sphäre, in der man töten kann, ohne einen Mord zu begehen und ohne ein Opfer zu zelebrieren ... Souverän ist derjenige, dem gegenüber alle Menschen potentiell homines sacri sind, und homo sacer ist derjenige, dem gegenüber alle Menschen als Souveräne handeln.
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In dieser Polarisierung von Souverän und Homo sacer wird die ganze Wucht der Antithese zu Habermas deutlich. Der Schlüsselbegriff der Macht verdrängt hier den der Kommunikation. Während der Diskurs von einer Gleichheit aller Beteiligten ausgeht, rammt Agamben senkrecht in diese horizontale Ebene einer universalen Balance den Pfahl der Ungleichheit (Abbildung 4.1) Ob er aus seiner Diagnose moralphilosophische Konsequenzen zieht, und wenn ja welche, ist nicht klar zu beantworten. Überwiegend teilen Kommentatoren den Eindruck, er ziehe sich auf die übliche postmoderne Haltung des hic et nunc zurück und empfehle lediglich, sich jederzeit für personale Entscheidungen offenzuhalten, die allein vor dem eigenen Gefühl zu verantworten sind. Kein Wunder, dass deontologisch gestimmte Philosophen von ( 5 9 b 28 solcher Haltung not amused sind. Agamben dekonstruiert die tröstliche Erzählung von einer niederen, „nur rein biologischen“ Natur, die durch ein transzendentales „Überhaupt“ gebändigt und veredelt wird, und legt stattdessen mephistophelisch bloß, dass in der Kernsubstanz des Guten auch das Böse brütet, dass beide aus einem gemeinsamen Keim hervorgehen. Folgt man ihm, muss man konsequenterweise zugeben, dass Ethik nur in einem Zurücktreten vor sich selbst bestehen kann, in der Gebärde der Enthaltung vom Abbildung 4.1 Konfrontation Tätigwerden, das immer auch in die Schuld führen muss. der Gesellschaftsbilder von Agambens Position wendet sich gegen eine stillschweigend für Habermas und Agamben trivial erachtete Prämisse der modernen Ethik von Kant bis Habermas: Dass nämlich die Normen, um deren Letztbegründung man sich müht, selbstverständlich für alle Menschen gelten, und zwar in ihrer Eigenschaft als aufgeklärte und souveräne Individuen, die einander grundsätzlich gleich sind. Was Agamben demgegenüber in Stellung bringt, ist die in der Moral immer schon tiefinnerlich enthaltene, wenngleich auf direktes Befragen empört in Abrede gestellte Bereitschaft, die Menschen zu verschiedenen zu machen, einem Teil von ihnen die Licht-. anderen die Schattenseite zuzuweisen. Daher betont er, dass die Trennung von Souverän und nacktem Leben nicht etwa als Extremvariante abgetan werden dürfe, sondern im Verständnis von Legalität wesentlich mit enthalten sei. Die amerikanische Demokratie habe in ihren legitimen Machtstrukturen die Aussetzung des Rechts in Guantanamo hervorgebracht, nicht etwa als Bruch, sondern als Inklusion des Rechts, und sie habe das gekonnt, weil die Demokratie selbst ihre Entstehung dem Gewaltakt der Überwindung der menschlichen Natur verdankt. Während Habermas also an einem aufgeklärten Menschenbild festhält, dessen Emanzipationspotential ein besseres Leben als realisierbare Utopie verheißt, artikuliert Agamben das dumpfe Gefühl, dass die Beschäftigung mit Ethik und Recht keine Ange-
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legenheit der spekulativen Intelligenz ist, sondern an ein Höllentor urtümlicher Energien pocht. Dass moralische Vollzüge Kräften folgen, die der Kathedertiraden der Philosophen spotten und sie, wenn es wirklich ernst wird, wie ein Tsunami hinwegschwemmen. Das ist seine eigentliche moralphilosophische Botschaft, und es bleibt das unbehagliche Gefühl, dass er damit mehr Recht haben könnte als man ihm zuzugestehen geneigt ist.
Wassermusik Sprachbarrieren Wenn einer akademischen Disziplin die Fachkompetenz im eigenen Gegenstandsfeld abhanden gekommen ist, bleibt ihr im Grunde nur noch der Rückgriff auf den sogenannten gesunden Menschenverstand. Mit diesem aber lässt sich, wenn er schmucklos daherkommt, kein Staat machen. Niemand verzichtet indessen gern auf den Anspruch, Expertenwissen einzubringen. Und um diesen Effekt sicherzustellen, gibt es ein probates Rezept: Man muss den Eindruck erwecken, dass die Mittel der Umgangssprache nicht ausreichen, um die mitgeteilten Ideen zu transportieren. Dabei lässt sich nutzbar machen, dass einer verbalen Figur nicht ohne weiteres anzusehen ist, wieviel Gedankensubstanz sie transportiert. Es gibt nur ein sehr zweifelhaftes Kriterium für begrifflichen Tiefgang – nämlich Kompliziertheit und Schwerverständlichkeit. Immerhin müssen ja gewisse Konnotationen umgangssprachlicher Redewendungen, die in die Irre führen könnten, vermieden werden. Deshalb ist die mathematische Ausdrucksweise oft schwerfällig, und für eine strenge Wissenschaftssprache gilt dasselbe. Diese Beziehung lässt sich jedoch nicht umkehren: Ein Labyrinth substantivischer Kunstworte mag eine zuweilen unvermeidliche Begleiterscheinung begrifflicher Strenge sein, aber sie ist gewiss kein Garant dafür. Wer freilich in erster Linie als Autorität gelten möchte und im Übrigen nagende Zweifel an den eigenen Denkprodukten unterdrücken muss, greift nur allzu bereitwillig zum Instrument einer verschleiernden Sprache. Er wendet sich dann von vorn herein mit der hochfahrenden Geste der Abwehr unberufener Laien an einen ausgesuchten Kreis Eingeweihter und stellt seinen Tiefsinn durch Kryptik unter Beweis. Er fordert seinen Zuhörern Bergwanderungen in abstrakte Höhenregionen ab, in deren dünner Luft sie die substantielle Leere seiner Formeln nicht mehr registrieren, weil sie ihr Unverständnis der eigenen Atemnot zuschreiben. Seine Gefolgschaft wird er schon früh sozialisieren, sich in solcher Sprechtechnik zu üben und dies als Initiation zu begreifen. Gerade weil die so abgehandelte Materie aus Mangel an Gewicht im Grunde ja einfach zu bewältigen ist, wird es den Schülern allmählich gelingen, das Evidenzpotential der Trivialität hinter der rhetorischen Ikonostase aufzuspüren und sich dabei dennoch durch das Privileg des esoterischen Zugangs als Fachmann geadelt zu fühlen. Der Umstand, dass das Zutagetretende die Sicherheit des Längstbekannten vermittelt, wird dann nicht als Mangel, sondern als beglückende Bestätigung wahrgenommen.
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Der Wohlklang der Worte Die Begriffe, die da kunstvoll gefügt werden, benötigen in erster Linie ein Wurzelgeflecht von Konnotationen, die sich als Kondensationskerne für mehr oder minder hochgradige emotionale Aufladung eignen. Mit diesem Material spielt der Kundige wie ein Komponist. So wird das philosophische Werk zur Partitur. Die Darstellungsfunktion der Sprache weicht verbalen Klangbildern, deren verschwimmende Bedeutungshöfe zwar keine klaren Grenzen mehr zu ziehen, aber virtuos auf der Klaviatur gemüthafter Anmutungen zu spielen erlaubt. Manche nennen das „Begriffsdichtung“; angemessener wäre vielleicht ein Ausdruck wie „Begriffsmelodramatik“ oder „Begriffsklangkunst“. Diese Technik ist keine Erfindung der Postmoderne. Unerreichte Virtuosen darin waren Heidegger und Adorno. Deren preziöse Sprachmanier besticht in erster Linie durch ihre Ästhetik und rückt die erlesene Gediegenheit des Bildmaterials so in den Vordergrund, dass sie zur Hauptsache wird, während sich die gedankliche Substanz in die Dunkelzone einer gleichsam nebenbei mit transportierten Wolke unverbindlicher Assoziationen auslagert. Diese zu entschlüsseln wird dann dem Leser aufgebürdet, womit sich der Text der Bringschuld einer sachlichen Begründung diskret entzieht. Bei diesem Verfahren wird das, was eigentlich als problematisch zu diskutieren wäre, so elegant im Diplomatengepäck undeklariert mit über die kommunikative Grenze geschmuggelt, dass es sich der kritischen Prüfung mühelos entwinden kann. Etwas weniger drastisch bedient sich auch Habermas desselben Stilprinzips. Karl Popper hat das einmal in einer „Rückübersetzung ins Deutsche“ am folgenden Originalzitat vorgeführt: „Theorien sind Ordnungsschemata, die wir in einem syntaktisch verbindlichen Rahmen beliebig konstruieren. Sie erweisen sich für einen speziellen Gegenstandsbereich dann als brauchbar, wenn sich ihnen die reale Mannigfaltigkeit fügt.“
Dieser Text klingt auf erlesene Weise bündig und kompetent. Man meint zunächst, einer plumpen Verballhornung zu begegnen, wenn Popper lakonisch feststellt, die Passage besage genau das Folgende: Theorien sollten nicht ungrammatisch formuliert werden, ansonsten kannst du sagen, was du willst. Sie sind auf ein spezielles Gebiet dann anwendbar, wenn sie anwendbar sind.
Es dauert einige Zeit, bis man sich eingesteht, dass diese Übersetzung keine Parodie ist, sondern haargenau den Gehalt der Aussage wiedergibt. Sie lässt nichts weg, sie entwertet nichts, mehr steckt einfach nicht darin. Immerhin muss eingeräumt werden, dass Habermas seine Leserschaft nicht durch manierierte Wortneuschöpfungen á la Heidegger nervt. Man hat bei ihm ja zunächst durchaus das Gefühl luzider Verständlichkeit. Erst bei genauer Lektüre bemerkt man ein Stilprinzip, das im Zwielicht ästhetisch abstrahierender Metaphern das scharfe Profil der Aussagen soweit aufweicht, dass es sich dem nachfassenden Zugriff jederzeit wieder ent-
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winden kann. Es kostet Mühe, zum konkreten und möglicherweise banalen Bedeutungskern des Gesagten vorzustoßen. Sobald man in diesem ständig zugemuteten Entschleierungs- und Abschminkungsaufwand erlahmt, ist einem die Möglichkeit der kritischen Stellungnahme aus der Hand geglitten. Dafür entschädigt dann freilich wieder, dass solches Sprachspiel der gebildeten Öffentlichkeit die Illusion gibt, auf säkularer Ebene das zu ersetzen, was die Theologie nicht mehr leisten kann – es vermittelt Glaubensgewissheit, die Skeptiker kleinmütig erscheinen lässt.
Das Möbius-Band Die postmodernen Autoren, an sich stets bereit, an der Neo-Klassik der Moderne Anstoß zu nehmen, treiben sie dann freilich erst recht auf die Spitze, indem sie die Komposition verbaler Klangbilder in eine jedweder Rationalität bare Betroffenheitslyrik steigern. Habermas meint seine Thesen immerhin ernst. Die postmoderne Philosophie – mit der freilich bedeutsamen Ausnahme von Foucault – hat diesen Anspruch aber preisgegeben. Zwar – „gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, es müsse sich dabei doch auch was denken lassen“; aber die beschränkten Geister, deren Mephisto mit diesem Ausspruch spottet, verdienen Mitleid; sie haben Programmmusik erwartet, wo doch absolute Kunst geboten wird. Der Verzicht auf den Versuch, irgendeine Art verbindlicher Wirklichkeit abzubilden, zeigt sich hier nicht zuletzt an dem nur durch profundes Unverständnis zu entschuldigenden Dilettantismus, mit der postmoderne Autoren gewisse scheinbar paradoxe Figuren der Mathematik ausschlachten, um das Libretto von der Dekonstruktion der Vernunft in Szene zu setzen. Da beruft man sich auf die Fraktale, die nichtlineare Dynamik, die Selbstorganisation oder eine sogenannte „Systemtheorie“, und von all dem, das kann man getrost unterstellen, haben die Autoren nur die oberflächlichste Ahnung; aber sie benützen das Mystifikationspotential der emotionalen Assoziationen seines äußerlichen Erscheinungsbildes. Fachwissenschaftler haben das mit bissigem Spott quittiert. Am bekanntesten wurde diesbezüglich die sogenannte Sokal-Affäre. Ein Physiker der New York University namens Alan Sokal hatte im Jahr 1996 in einer der Postmoderne verpflichteten Zeitschrift eine Arbeit unter dem einschüchternden Titel Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity eingereicht, deren Botschaft sich so lesen ließ, als ob nicht nur die gesellschaftliche, sondern auch die naturgesetzliche „Realität“ eigentlich eine kulturrelative linguistische Konstruktion sei. Der Text bediente sich nicht nur gekonnt des postmodernen Vokabulars, sondern wimmelte auch von physikalisch kompetent klingenden, aber völlig unsinnigen Formulierungen. Natürlich hat das niemand gemerkt, und der Artikel wurde akzeptiert und triumphierend zitiert. Als der Fisch am Haken war, ließ Sokal die Bombe platzen und legte den Schwindel offen.
Die Bereitschaft der postmodernen Szene, mathematische und naturwissenschaftliche Metaphern auf den eigenen intellektuellen Standard herabzubuchstabieren, zeigt sich auch bei Agamben. Ihm hat es vor allem die Topologie angetan, eine mathematische Disziplin, die sich mit nichtmetrischer Räumlichkeit, also mit Nachbarschaftsoperationen wie Verformung, Dehnung, Stauchung, Verbiegung, Verdrillung usw. beschäftigt.
86 Kapitel 4. Münchhausens Zopf Ein typisches Objekt topologischer Analyse ist das sogenannte Möbius-Band, ein zweidimensionales Gebilde, das nur eine einzige Seite hat, bei dem also die Unterscheidung von „außen“ und „innen“ gegenstandslos wird (Abbildung 4.2). Agamben benützt diese Struktur, um den Scheintiefsinn einer zum Paradox zugespitzten Ideenassoziation mit dem arglose Gemüter beeindruckenden Gütesiegel der Mathematisierbarkeit zu versehen. Es geht um die etwas komplizierte Überlegung, dass das „Lager“ ein rechtsfreier Raum ist, der gleichwohl innerhalb des vom Recht kontrollierten Territoriums liegt. Es wird also einerseits von den Grenzen des Staats eingefriedet, steht aber gleichwohl, anders als das legal gereAbbildung 4.2 Das Möbius-Band gelte Gefängnis, doch auch wieder „außerhalb“ des Rechts. Das nimmt Agamben zum Anlass, nicht nur über „einschließende Ausschließung“ und „ausschließende Einschließung“ zu fabulieren, sondern den „Ausnahmezustand“ als Zone paradoxer „Ununterscheidbarkeit von Außen und Innen“ zu mystifizieren und den Leser glauben zu machen, dass genau für diese paradoxe Beziehung, in der nicht nur Ausnahme und Regel, sondern auch Naturzustand und Recht ineinander übergehen, das Möbius-Band ein streng exaktes topologisches Modell abgebe. Die Mathematik wird damit endgültig zum Collage-Material einer philosophierenden Pop-Art entwürdigt, bei der es nur noch darum geht, Aussagen zu „dekonstruieren“, indem man sie mit ihrem Gegenteil gleich valide setzt. Das ist die Kontrapunktik der neuen Begriffsmusik. Bei Christian Morgenstern liest man in den „Galgenliedern“: Immerzu, immerzu rauscht das Wasser ohne Ruh’. Andernfalls, andernfalls, spräch es doch nichts andres als Bier und Brot, Lieb und Treu, und das wäre auch nicht neu. Dieses zeigt, dieses zeigt, dass das Wasser besser schweigt. Lasset uns denn aufhören, mitdenken zu wollen. Vielleicht können wir ja mitsingen, mitsummen, zumindest mitempfinden. Ist es wirklich zuviel verlangt, sich von Agamben ergreifen zu lassen, wenn er uns etwa vor Augen führt:1 Die souveräne Gewalt öffnet eine Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen Gesetz und Natur, Außen und Innen, Gewalt und Recht; trotzdem ist der Souverän genau derjenige, der die Möglichkeit offenhält, zwischen ihnen zu entscheiden, und zwar im selben Maß, wie er sie vermischt.
1 Agamben (2002) p. 75
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Er unterscheidet, indem er vermischt, das ist doch eigentlich leicht nachzufühlen, wenn man sich erst einmal hineingegeben hat in den suggestiven Zweivierteltakt: Gesetz und Natur, Außen und Innen, Gewalt und Recht, Bier und Brot, Lieb und Treu ... Das Wasser ist weise genug, stattdessen besser zu schweigen. Aber wer wird sich schließlich vermessen, der Weisheit des Wassers gleichkommen zu wollen?
Zurück zu den Sachen Müssen wir nun also, nachdem schließlich auch noch die zertretenen Luftschlangen vom postmodernen Faschings-Kehraus entsorgt sind, aus der philosophiegeschichtlichen Revue das Fazit ziehen, Moral sei eine illusionäre Dimension der Conditio Humana? Das wohl doch nicht. Die Kultur ist nicht auf die Fähigkeit des Menschen angewiesen, der Natur zu entsteigen und sich more geometrico selbst zu konstruieren. Das moralische Selbstverständnis des Menschen bedarf keiner Letztbegründung. Es speist sich aus nie versiegenden vitalen Quellen und wird seine objektivistischen Prothesen immer wieder verlässlich aus eigener Kraft ausschwitzen wie das Chitinskelett eines sich häutenden Insekts. Moral ist keine Fiktion, sondern psychologische Realität. Wenn wir die Verhaltensregeln der Völker vergleichen, wenn wir in der Geistesgeschichte zurückblicken, wenn wir den Dekalog, das Gesetzeswerk Hammurabis, die Weisheiten des Tao oder die Bergpredigt nebeneinanderlegen, wenn wir Kinder beliebiger Herkunft und Hautfarbe befragen, was man zu tun und zu lassen habe, so drängt sich die Einsicht auf, dass Menschen allerorts und zu allen Zeiten weitgehend übereinstimmend prinzipiell, wenn auch nicht in den konkreten Ausführungsbestimmungen, dieselben Maßstäbe anlegen, nach denen sie Handlungen und Charaktere moralisch bewerten. Wenn Moral gleichwohl zu einem Problem wird, das immer wieder von neuem philosophische Auseinandersetzungen einfordert, so liegt das nicht daran, dass ihr die Universalität mangelt, es liegt vielmehr an ihren immanenten Widersprüchen. Diese zeigen sich vor allem in drei Dimensionen: Zum einen hängen moralische Wertungen vom jeweiligen Standort ab und können daher nicht intersubjektiv zur Deckung gebracht werden. Was die eine Menschengruppe verteufelt, verherrlicht die andere. Wohlgemerkt: Nicht über die Handlung als solche, sondern über die Person, die sie ausführen darf, besteht dabei Dissens. Man braucht sich nur den unterschiedlichen Wertgehalt des Begriffs „Kreuzritter“ im Abendland und in der islamischen Welt zu vergegenwärtigen. Das „Reich des Bösen“ liegt immer beim anderen. Dieses Paradox gründet im Widerspruch der Perspektiven und ist nicht durch einen „Diskurs“ behebbar. Zum anderen wird auch der Einzelne, der moralisch handeln will, immer wieder mit dem Dilemma konfrontiert, dass er gar nicht umhin kann, bei der Befolgung der einen Maxime eine andere zu verletzen. Als Helmut Schmidt den Befehl zur gewaltsamen Beendigung des Geiseldramas von Mogadischu gab, um den gefährlichen Makel der Erpressbarkeit von der Bundesrepublik abzuwenden, überantwortete er damit Martin Schleyer dem Tod. Er konnte nur schuldig werden, wie auch immer er sich entschieden hätte.
88 Kapitel 4. Münchhausens Zopf Und drittens schließlich, das ist wohl der dunkelste Punkt, könnte nur blauäugige Naivität daran vorbeisehen, dass sich mit der Bereitschaft zum moralischen Urteil nicht durchwegs menschenfreundliche Anmutungen assoziieren lassen. Moral ist nicht nur ein Reglement, mit dem man die Wohlanständigkeit des eigenen Verhaltens sicherstellt, sondern auch – und vielleicht in erster Linie – eine Basis, auf der man über fremdes Verhalten Gericht hält. Und wenn das Urteil negativ ausfällt, wozu oft höchst fragwürdige Kriterien genügen, dann gehört es zum Wesen der Moral, in ihre eigene Antithese umzuschlagen. Hexenprozesse, Lynchjustiz, ja sogar die Vernichtungslager der Nazi-Herrschaft beziehen ihr destruktives Potential aus einem Fundus moralischer Affekte, die lediglich aus der Perspektive der Betroffenen, nicht aber für die Akteure selbst pervertiert erscheinen. Die nachfolgenden Kapitel handeln somit nicht nur von der nobelsten, humansten, segensreichsten Errungenschaft der Menschheit, der Krönung des Schöpfungswerkes; sie handeln auch zugleich von der gefährlichsten, mörderischsten, grausamsten, erbarmungslosesten Eruption menschlicher Motivdynamik, der mehr Unschuldige sinnlos ihr Leben opfern mussten als den schlimmsten Naturkatastrophen oder irgendeiner Äußerung pathologischer Bestialität. Man kann verstehen, dass dieses monströse Gebilde immer wieder die Philosophie auf den Plan gerufen hat, von der man dann erwartete, sie würde all jene Paradoxien und Widersprüche wundersam aufheben und die Lösungen womöglich noch an ein Firmament zeitloser Geltung heften. Es hätte freilich nicht der postmodernen Eulenspiegeleien bedurft, um zu zeigen, dass sie damit gründlich überfordert ist. Aber tun wir den Philosophen mit dieser Einschätzung vielleicht Unrecht? Geht es ihnen denn überhaupt darum, Wahrheit zu suchen in dem Sinne, den der Empirist mit diesem Begriff verbindet? Wollen sie wirklich Sachaussagen auf ihre objektive Belastbarkeit prüfen – oder loten sie sie nicht vielmehr auf ihr Potential als Nährboden moralistischer Orientierungshilfen aus! Das würde nämlich auch ihre eigentümliche Sprache erklären, die ja in der Tat nach dem Prinzip konstruiert ist, die harte Scholle banal-evidenter Tatsachenbehauptungen stilistisch so umzupflügen, dass eine möglichst reiche Flora moralistischer Assoziationen darauf gedeihen kann. Philosophieren hieße dann also einfach, die moralistischen Bedürfnisse der Menschheit bedienen. Von all dem, was es früher außerdem geheißen hat, ist heute nicht mehr viel übrig. Wenn das freilich zutrifft, dann ist es an der Zeit, den philosophischen Zugang zu unserem Thema zu verlassen. Wir suchen in diesem Buch nicht nach Anhaltspunkten, nach denen sich das Weltgeschehen verbindlich bewerten lässt. Wir wollen die Moral weder begründen noch auch dekonstruieren; wir wollen einfach schlicht ihre psychologische Dynamik analysieren. Damit bleiben wir bewusst hinter dem Anspruch zurück, den die Philosophie bedienen zu können meint. Es wird sich aber zeigen, dass wir auch so noch tief genug in das Wesen von Gut und Böse eindringen können.
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Zwischenbilanz Somit hat auch die Nachlese in der postmodernen Literatur den Verdacht bestätigt, dass wir uns von der philosophischen Ethik allenfalls kritische Einwände und vor allem lohnende Fragestellungen erwarten können, aber nicht die Kompetenz, darauf auch belastbare Antworten zu geben. Wir werden daher von nun an den direkteren Weg gehen und uns Auskunft bei der empirischen Forschung holen, bei der sich ja auch Philosophen bedienen müssen, wenn sie des Spekulierens müde werden. Es gibt kein Tatsachenwissen darüber, was das Gute wirklich ist, weil kein Gegenstand existiert, der zu dieser Frage passt. Wohl aber kann man mit Gewinn fragen, was Menschen für das Gute halten, warum das so ist und was es für Konsequenzen hat. Bevor wir die Philosophie aber ganz hinter uns lassen, müssen wir noch auf ein zweites Thema zu sprechen kommen, das zwar, ebenso wie die Epistemologie, nicht selbst zum Gegenstandsbereich der Moral zählt, diesen aber wesentlich mitfundiert. Es handelt sich um den Problemkomplex des psychophysischen Zusammenhanges, und hier speziell um die Frage, wie das Urerlebnis des freien Willens mit dem bewährten heuristischen Prinzip der geschlossenen Naturkausalität in Einklang gebracht werden kann. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass die Evidenzen, die sich hierzu einstellen, der Klasse zugehören, die wir metakosmisch genannt haben. Bei dieser Sachlage ist man noch am ehesten bereit, Denkanstöße seitens der Philosophie zu begrüßen; denn verglichen mit den Neurowissenschaften, die heute in der unverwüstlichen Selbstgewissheit eines auf die dunkle Röhre des Magnetresonanztomographen geschrumpften Weltbildes die Deutungshoheit über das Leib-Seele-Problem beanspruchen, kann sie wenigstens den Aktivposten einer profunden Allgemeinbildung ins Feld führen.
Kapitel 5 Mechanik und Intentionalität Freiheit und Vorhersagbarkeit Das Leib-Seele-Problem Der Entscheidung, uns für den Rest des Buches von philosophischen Erwägungen zu dispensieren, steht noch eine gewichtige Hürde im Weg: Wie sollen wir es mit der Frage nach der Freiheit halten, mit jenem vertrackten Rätsel unseres Selbstverständnisses, das alle Reflexionen über die Moral wie ein unentrinnbares Gravitationszentrum umkreisen? Folgt man der zeitgenössischen Diskussion, so drängt sich der Eindruck auf, die Sache sei entschieden, die Hirnforschung habe längst die fälligen Beweise erbracht, dass der freie Wille eine Illusion ist. Unsere „Entscheidungen“ würden nämlich ausschließlich von unserem Gehirn getroffen, und in diesem laufe nun mal alles determiniert ab. Zur Stütze dieses Standpunktes beruft man sich gern auf das Kausalitätsprinzip. Hirnprozesse seien ein natürliches Geschehen und unterstünden daher dem Naturgesetz. Was in einem Moment geschehe, sei durch den Zustand der Welt im vorausgehenden Zeitpunkt bereits festgelegt. Für die Einschaltung von Willensakten bestehe da kein Spielraum. Wer so argumentiert, vergisst jedoch, dass die Unterstellung lückenloser Naturkausalität nicht das Ergebnis empirischer Forschung sondern ein heuristisches Prinzip unseres wissenschaftlichen Denkens ist, das sich im Geltungsbereich der klassischen Physik – und nur dort! – bewährt hat. Ob es zu einer veridikalen Beschreibung bewusstseinsbegleiteter Hirnprozesse taugt, ist damit noch längst nicht gesagt; denn das Leib-Seele-Problem ist metakosmisch, und wir sind gut beraten, wenn wir beim Versuch seiner Lösung nicht blindlings den Evidenzen der naiven Mechanik vertrauen. Natürlich darf man sich den Willensakt auch nicht einfach als einen Eingriff des „Ich“ in das Hirngeschehen vorstellen. Dann könnten Neurophysiologen, die an dieser naiven Sicht faktisch partizipieren, nämlich auf Experimente verweisen, aus denen hervorgeht, dass sich Handlungen, die subjektiv als frei erlebt werden, schon Sekundenbruchteile vor dem gefühlten Willensentscheid durch unbewusst bleibende Bereitschaftspotentiale im frontalen Kortex vorbereiten. Wir müssen hier auf das in Kapitel 2 entwickelte Denkmodell zurückgreifen, demzufolge in den Bewusstseinserscheinungen der Bedeutungsgehalt zerebraler Nachrichten zum Erleben gelangt. Damit ist zwar noch nicht viel erklärt, denn es gehört ja nicht automatisch zum Wesen einer Nachricht, dass ihr Inhalt qualitativ zu sich selbst erwacht – als Farbe, Wunsch, Lust oder Schmerz. Auch haben keineswegs alle Hirnvorgänge eine solche phänomenale „Innenseite“. Worin sie sich von anderen, unbewusst bleibenden neuronalen Ereignissen unterscheiden, ist unbekannt; Neurowissen-
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schaftler beginnen erst, darüber zu forschen – das Stichwort lautet NCC (Neuronal Correlates of Consciousness). Die schiere Existenz der Subjektivität bleibt also ein ungelöstes Rätsel. Aber das Modell hat immerhin den Vorzug, dem Evidenzzwang kausaler Denkschemata zu entkommen, die in diesem metakosmischen Problemfeld mehr schaden als nützen. Zwischen einer Nachricht und ihrer Bedeutung besteht keine Interaktion. Weder wirkt das Bewusstsein auf das Gehirn noch umgekehrt – die beiden sind auf eine Weise, die unser Vorstellungsvermögen übersteigt, identisch. Wieso das so schwer nachzuvollziehen ist, liegt an einer vertrackten Doppeldeutigkeit der Begriffe „Leib“ und „Seele“. Einerseits denkt man dabei an das Gehirn und sein Bewusstsein. Wir wollen hierfür nachfolgend die Termini physisch und psychisch resevieren (Φ und Ψ in Abbildung 5.1). Nach dem Gesagten gilt, dass die auf beiden Ebenen beschriebenen Ereignisketten streng parallel ablaufen, ohne dass eines der beiden Korrelate als Ursache NCC des anderen beansprucht werden kann. Wenn wir die Ebene Ψ, also das Bewusstsein und seine Inhalte, jedoch phänomenologisch beschreiben, sehen wir uns genötigt, innerhalb desselben nochmals, aber in ganz anderem Sinn, leibliche Abbildung 5.1 Zur terminologiund seelische Inhalte zu unterscheiden. Wir erleben unseren Leib (L) schen Trennung der Begriffsund unser seelisches Ich (S) als unabhängige Akteure, zwischen paare „physisch“–„psychisch“ denen durchaus phänomenale Kausalität in beiderlei Richtung und „leiblich“–„seelisch“ herrscht. Wir müssen also säuberlich trennen, ob wir vom psycho-physischen Parallelismus (Φ | Ψ) als ontologischem Sachverhalt oder von der Leib-Seele-Wechselwirkung (L↔S) als phänomenaler Gegebenheit reden. Im naiven Realismus des Alltags vergessen wir diese Unterscheidung ungestraft. Wenn wir sie aber im wissenschaftlichen Disput nicht beachten, denken wir auch die Beziehung zwischen den Ebenen Ψ und Φ nur als Kausalität, die wir dann in der einen oder anderen Richtung behaupten oder aufwendig widerlegen zu müssen meinen. Bei konsequent parallelistische Betrachtung wird die Frage indessen gegenstandslos, ob zunächst das Gehirn „entscheidet“ und dann das Willenserlebnis nachfolgt, oder ob es sich umgekehrt verhält. Wenn dem Entschluss Prozesse außerhalb der Neuronal Correlates of Consciousness vorangehen, so würde man phänomenologisch eben sagen, dass sich der Entschluss „unbewusst“ vorbereitet hat. Ob es im Gehirn insgesamt determiniert zugeht oder nicht, steht auf einem ganz anderen Blatt.
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Zuweilen werden Befunde angeführt, die zeigen, dass der subjektive Eindruck, frei gehandelt zu haben, irren kann. Wenn man vor neurochirurgischen Eingriffen durch transkranielle Magnetstimulation gewisse Hirnpartien aktiviert, kann es geschehen, dass der Patient beispielsweise den Arm hebt und überzeugt ist, dies freiwillig getan zu haben. Aber was beweist das schon? Schließlich ist jede Evidenz fehlbar. Wenn ein Amputierter frühmorgens aus dem Bett steigt und dabei zu Fall kommt, weil er auf sein Phantombein treten wollte, so erinnert uns das daran, dass sich jede phänomenale Erfahrung, und sei sie noch so eindringlich, als Illusion erweisen kann. Ich kann
92 Kapitel 5. Mechanik und Intentionalität also gewiss nicht aus dem Gefühl der Freiheit schließen, dass der so erlebte Handlungsimpuls wirklich indeterminiert erfolgte. Es könnte sich um eine Phantom-Freiheit handeln. Andererseits wäre es auch reichlich kühn, wollte ich aus der Existenz von Phantomgliedern folgern, die Überzeugung, einen Leib zu haben, sei prinzipiell illusionär. Evidenz und Veridikalität mögen zuweilen auseinanderfallen, normalerweise pflegen beide aber doch einigermaßen manierlich zu korrelieren. Dass eine Erlebnisqualität grundsätzlich als Illusion angelegt ist, wäre ein Unikum.
Moral und Gesetz Festzuhalten bleibt immerhin, dass die Evidenz der Freiheit aus sich heraus nichts beweist. Und die Sachlage, schon von der Epistemologie her undurchsichtig genug, wird noch komplizierter, wenn wir gewahr werden, dass auch diese Evidenz selbst nicht frei von Paradoxien ist. Kehren wir noch einmal zum alten Königsberger Weisen zurück und erinnern uns an einen seiner am häufigsten zitierten Aussprüche: Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.
Bewunderung und Ehrfurcht nötigt Kant am Himmel die Vollkommenheit der kosmischen Ordnung ab. Sie ist erhaben, aber völlig determiniert. Wenn er im gleichen Atemzug das moralische Handeln anführt, so fällt sogleich der Gegensatz der beiden Bilder ins Auge; denn dieses Handeln versteht sich eben als frei von Determination. Allerdings spricht Kant sicher nicht ohne Grund vom moralischen Gesetz. Jedes Gesetz erzeugt Ordnung, leitet das Geschehen in vorhersagbare Bahnen. Wie passt das mit der eben angesprochenen Freiheit zusammen? Sehen wir, ob sich diese Ambivalenz wenn nicht auflösen, so doch wenigstens analysieren lässt. Wir benötigen dafür eine Klärung des Begriffes „deterministisch“, die etwa folgendermaßen lauten könnte: Ein Prozess heißt deterministisch, wenn er mit anderen Prozessen so zusammenhängt, dass deren exakte Beobachtung erlauben würde, ihn irrtumsfrei vorherzusagen.
Diese Definition drückt eine Erwartung aus; sie impliziert also nicht, dass eine exakte Beobachtung auch durchgeführt wird oder überhaupt möglich ist. Ist moralisches Handeln in diesem Sinne deterministisch? Auf den ersten Blick würde man die Frage verneinen. Andererseits stimmt es aber, dass wir einen wetterwendischen, unberechenbaren Menschen, jemanden, bei dem man nie weiß, woran man ist, kaum als moralisch hochstehend erachten würden. Gerade im Gegenteil: Auf einen Menschen „von Charakter“ möchten wir uns verlassen können; Vorhersagbarkeit des Verhaltens ist bei ihm also ein Gütezeichen. Allerdings ist diese Beziehung nicht etwa umkehrbar. Spätestens die Rückfallneigung verfrüht entlassener Sexualstraftäter macht deutlich, dass Vorhersagbarkeit als solche auch nicht als Erweis von „Charakter“ herhalten kann.
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Das Jaynessche Prinzip Um das Problem zu präzisieren, ist es erforderlich, ein Konzept zu erörtern, das eigentlich der Wissenschaftstheorie entstammt. Es wird üblicherweise als Analyseniveau bezeichnet. Seit dem Auseinanderfall der vormals allumfassenden philosophischen Fakultät ist man gewohnt, die aus ihr hervorgegangenen Disziplinen nach der Komplexität ihres Gegenstandsgebietes in eine hierarchische Ordnung zu bringen. Man sagt von ihnen, sie forschten und dächten auf unterschiedlichem „Analyseniveau“, mit der Elementarteilchenphysik als mikroskopischer Basis und den Kulturwissenschaften am anderen, makroskopischen Pol (Tabelle 5.1). Jede dieser Disziplinen arbeitet mit für sie typischen Konzepten, die naturgemäß immer komplexere Phänomene bezeichnen. Die Prozesse auf höherem Analyseniveau lassen sich geschlossen beschreiben, ohne dass man dabei gezwungen wäre, auf die Terminologie niederer Stufen zurückzugreifen. Diese Erkenntnis, der die akademischen Disziplinen ihre relative Autonomie verdanken, findet ihren formalen Ausdruck im sogenannten Jaynesschen Prinzip: Wenn eine makroskopische Erscheinung experimentell reproduzierbar ist, dann sind alle mikroskopischen Details, die nicht unter der Kontrolle des Experiments standen, für das Verständnis der Erscheinung irrelevant.
Allerdings ist dieses Prinzip nicht unbegrenzt beanspruchbar. Je höher man das Analyseniveau wählt, desto großzügiger muss man die Bedingung der „Reproduzierbarkeit“ auslegen. Die makroskopische Ordnung lockert sich dann zunehmend, sie wird immer mehr zu einer nur noch statistisch gültigen Regelmäßigkeit, bei der Ausnahmen in Kauf zu nehmen sind. Wir kommen somit nicht umhin, einen Begriff wie „schwach geordnet“ oder „schwach determiniert“ einzuführen und uns damit abzufinden, dass die Disziplinen am oberen Ende von Tabelle 5.1 es meist typische Konstrukte nur mit bloßen Regelmäßigkeiten solcher Disziplin Art zu tun haben. Insbesondere mensch- Soziologie Ethnologie Norm Rolle Stereotyp liches Verhalten gehört zu den schwach Psychologie Erregung Frustration determinierten Prozessen. Übersprunghandlung Verhaltensbiologie Dieser Umstand könnte dazu verfühpostsynaptisches Potential ren, das Determinismusproblem der Mo- Neurophysiologie Spike-Frequenz ral durch einen bequemen Trick zu unMutation terlaufen. Wir könnten die schwache Biochemie Natrium-Pumpe Ordnung des makroskopischen Verhaltens kurzerhand als Spielraum der Freiheit Atomphysik Elektronenbahn Superstring reservieren. Aber dieser Trost währt nicht lange; denn damit wäre das Problem über- Tabelle 5.1 haupt nicht gelöst. Prozesse, die nur bei makroskopischer Betrachtung frei erscheinen, könnten sich ja immer noch als streng deterministisch entpuppen, sobald man zu einem niederen Analyseniveau absteigt. Diese Art von „Willensfreiheit“ würde uns als Selbsttäuschung imponieren.
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Quantensprünge Nun steht freilich noch ein letzter Notausgang offen: Ganz an der Basis, auf niederstem Analyseniveau, unterliegen alle Prozesse der Heisenbergschen Unschärferelation. Auf atomarer Ebene lässt sich nicht mehr mit strenger Determination argumentieren. Der Physiker Pascual Jordan hat seinerzeit versucht, diesen Sachverhalt in dem Sinn zu nutzen, dass er die Willensfreiheit geradewegs als Erlebniskorrelat neuronaler Quantensprünge deutete. Fast alle seiner Kollegen haben das damals verworfen. Bernhard Hassenstein persiflierte den Vorschlag Jordans in kongenialer Anlehnung an Morgensterns „Galgenlieder“ wie folgt: Ein Wirkungsquant fliegt durch das Dorf, es sucht das Hirn des Herrn von Korf. Es findet dort in dem Gewühl ein ganz bestimmtes Molekül. Von Korf ist grad in schwerer Not: „Ess’ Wurst- ich, oder Käsebrot? Das Quant, das wirft sich in die Brust: „Du glaubst, du willst! Allein: Du musst! Nie kannst die Freiheit du erringen. Doch ich bin frei und kann dich zwingen!“ Elektron „9“ sprach: „Spring’ mich doch!“ Das Quant: „Ich überleg’s mir noch.“ Dann hat durch es Elektron „8“ ’nen akausalen Sprung gemacht. Von Korf nahm daraufhin spontan die Wurst und fing zu essen an. Und nahm die Sache ganz im Stillen dann als Beweis für freien Willen. Dem Quant hat das den Rest gegeben: Freiwillig schied es aus dem Leben. Das Gedicht ist amüsant, weshalb man ihm gern verzeiht, dass es in der Weise, wie es Jordans Idee karikiert, deren unzulängliche Denkvoraussetzungen teilt. Anstatt die Vorstellung zu ventilieren, als frei erlebte Entscheidungen seien mit akausalen Prozessen in der Hirnmaterie identisch, wird die Beziehung in einen Dialog gekleidet und damit als kausale Interaktion getrennter Akteure gedeutet. Elementarteilchen kann sich der Autor offenbar nur als statistisch unabhängige Kügelchen vorstellen, deren NanoEffekte chancenlos an den Barrieren neuronaler Datensicherung abprallen. Solange aber niemand sagen kann, wovon es abhängt, ob ein materieller Prozess bewusstseinsbegleitet abläuft, wissen wir auch nichts über die dort geltende Physik; daher
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lässt sich nicht ausschließen, dass für psychophysisch relevante Quanteneffekte nichtlokale Zusammenhänge besonderer, an lebloser Materie nicht auftretender Art gelten könnten. Insgesamt bleibt die Kritik viel zu sehr in den Evidenzen klassischer Physik befangen, als dass sie metakosmischen Problemstellungen gewachsen wäre. Über die neuronalen Korrelate des Bewusstseins zu spekulieren, ist heutzutage einfach verfrüht.
Dimensionen anschaulicher Kausalität Die Achse der Intentionalität Welche Bilanz haben wir also zu ziehen? Jedenfalls wird man vom „Kausalgesetz“ keine Entscheidung unserer Frage erwarten können. Freilich bleibt immer noch das Problem, dass dort, wo sich das Naturgeschehen allenfalls der Determination entwindet, Zufall zu walten scheint. Den aber empfinden wir als sinnlos. Wir sind kognitiv nicht in der Lage, dem physikalischen Mikrogeschehen die auf Seite 63 geforderte wertschaffende Potenz zuzubilligen. Angesichts metakosmischer Fragestellungen muss jedoch allemal mit kontraintuitiven Effekten gerechnet werden. So wie das Verständnis atomarer Zusammenhänge durch die Komplementarität von Welle und Korpuskel verdunkelt wird, stoßen auch im Phänomen der Willensfreiheit zwei Evidenzen unserer Kausalitätswahrnehmung aufeinander, deren Evolution auf so getrennten Wegen verlief, dass sich zwischen ihnen nie eine Synthese ausgebildet hat. Wir sind ihnen schon in Kapitel 1 in der Unterscheidung von Gründen und Ursachen begegnet. Der Philosoph Daniel Dennett1 hat vorgeschlagen, beiden einfach verschiedene kognitive Standpunkte zuzuordnen und, je nach Bedarf, zwischen diesen zu wechseln. Er nennt sie die „intentionale“ und die „physikalische“ Denkhaltung. In Anbetracht des auf Seite 40 Erörterten kann man vermuten, dass diese sogar auf getrennte phylogenetische Wurzeln zurückgehen. Auf der einen Seite benötigen soziale Lebewesen eine gewisse Verständnisgrundlage für das, was sie von ihren Gruppenmitgliedern zu erwarten haben. Hierfür ist es nötig, das Geschehen als eingebettet in Bezugssysteme von Zielstrebigkeit zu verstehen, als getrieben von Wünschen und Affekten. Das ist das Material, aus dem sich das intentionale Verursachungsverstehen formt. Daneben hat sich aber, schon weit unterhalb der Anthropoidenstufe, noch eine spezifische Werkzeugintelligenz entwickelt. Auch diese hat ihre eigenen Kategorien – die Kausalität von Stoß und Zug, Ordnungsmuster wie Impuls, Energie und Kraft, vielleicht auch ein Verständnis einfacher Erhaltungssätze. Wir wollen hier von mechanischer Kausalität sprechen; auf sie richtet sich die von Dennett „physikalisch“ genannte Denkhaltung. 1 Dennett (1996) p. 27
96 Kapitel 5. Mechanik und Intentionalität Die intentionale Haltung nimmt man ein, wenn man irgendetwas – eine Person, ein Tier, einen Computer, was auch immer – als ein zielstrebig agierendes Handlungssubjekt auffasst. Sein Verhalten erscheint dann als sinnvoll und wertgerichtet, seine Zustandsbeschreibungen schließen die Dimension der Erwünschtheit oder Unerwünschtheit ein. Dennett betont, dass es für die Einnahme einer solchen Perspektive keine sachlich zwingenden, sondern allein pragmatische Kriterien gebe. Manche Sachverhalte lassen sich einfach besser in einem intentionalen Format beschreiben; bei anderen taugt besser die Denkhaltung des Physikers, der seiner Welt mit der mechanischen Kausalität der Naturgesetze zu Leibe rückt und Effekte dadurch erklärt, dass Energie von der Ursache auf die Wirkung übertragen wird. Man kann sich das an Hand des sogenannten Newton-Pendels veranschaulichen (Abbildung 5.2), das hier insofern von Interesse ist, als es die anschauliche Erwartung diskret narrt: Eigentlich erzeugt unser Wahrnehmungsapparat den Eindruck mechanischer Verursachung nur dann, wenn der Impuls durch unmittelbare Berührung oder über bewegte Zwischenträger vermittelt wird. Tatsächlich sieht es aber so aus, als bräche sich der Kraftfluss am Widerstand der in stoischer Ruhe verharrenden mittleren Kugeln, wodurch der Abprall der rechten Kugel ein wenig den Eindruck der Mutwilligkeit erweckt – natürlich wider unseren besseren Wissens, darauf beruht jedoch eben die Beliebtheit dieses Spielzeugs für Erwachsene.
Mechanische Kausalität ist in Bezug auf die Sinnfrage neutral; sie kann Sinn höchstens übernehmen und weiAbbildung 5.2 Das Newtonsche Pendel tergeben. So wäre etwa die Aktivität einer Billardkugel, die, vom Queue angestoßen, ihren Impuls auf eine zweite Kugel überträgt, als bloß mechanischer Effekt zu werten. Das Billardspiel selbst ist natürlich ein von Interesse getragener und begleiteter, also sinnvoller Prozess, aber die Quelle seines Sinnes liegt im Spieler: Dessen Aktivität kann als intentional charakterisiert werden, der so erzeugte Sinn wird dann von der Mechanik der angestoßenen Kugel nur übernommen und weitergeleitet.
Die Achse der Determination Häufig erleben wir eine intentionale Aktivität zugleich als frei. Damit sind wir bei einer zweiten Dimension anschaulicher Kausalität. Freiheit, so schwierig auch ihre metaphysische Bestimmung sein mag, lässt sich phänomenologisch recht eindeutig beschreiben: Wir konstatieren sie immer dann, wenn eine Aktivität von dem Eindruck begleitet wird, dass sie auch anders ablaufen könnte, dass ihr Effekt also das Ergebnis einer Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten war. Es ist nun aber keineswegs so, dass dieser Eindruck auf intentionale Akte beschränkt bleibt. Determiniertheit ist eine eigene Dimension (Abbildung 5.3)! Ich könnte beispielsweise beschließen, an einem Würfelspiel teilzunehmen. Das ist ein
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intentionaler, zielgeleiteter Entschluss, und ich erlebe ihn als frei. Wenn der von mir geschüttelte Würfel dann aber auf eine Vier rollt, so erlebe ich diesen Teil der Handlungskette nur noch mechanisch – und doch nicht als zwangsläufig. Der Würfel hatte eben sechs „Möglichkeiten“, und welche von diesen eintrat, war eine Frage bloßen Zufalls. Ich müsste schon einigermaßen abergläubisch sein, um hinter dieser „Wahl“ eine intentionale Instanz (wie etwa das „Schicksal“) zu argwöhnen. Auch mechanische Effekte können somit als undeterminiert erfahren werden; wir nennen sie dann stochastisch oder aleatorisch (von lat. alea = Würfel). Damit gewinnen wir immerhin einen zumindest phänomenologischen Zugang zur Unterscheidung von Freiheit und Zufall: Es kommt darauf an, ob die Nichtfestgelegtheit als mechanisch oder als intentional erlebt wird. Auch was wir mit Abbildung 5.3 Die Achse der DeterminaWillkür meinen, lässt sich jetzt klarer sagen: Sie ist die tion unter intentionaler und mechanidegenerative Form einer Freiheit, der die intentionale scher Perspektive Deutbarkeit und damit aller Sinn verlorengegangen ist. Häufiger mag es vorkommen, dass mir mechanische Effekte als deterministisch erscheinen. Ich erlebe sie dann als naturgesetzlich, ohne das begleitende Gefühl, dass es zum beobachteten Verlauf auch noch Alternativen gegeben hätte. Am eigentümlichsten vielleicht ist schließlich der phänomenologisch unabweisbare Tatbestand, dass man auch intentionale Akte als determiniert erfahren kann. Sie erscheinen dann als durch eine innere Notwendigkeit diktiert, der man nicht entrinnen kann. Von dieser Art ist das Gefühl, das uns überkommt, wenn uns die Katze morgens einen frisch geschlagenen Singvogel aufs Kopfkissen legt. Wir können nicht umhin, diesen Akt als intentional zu erleben, und zugleich fühlen wir, dass sie gar nicht anders kann, dass sie keine Alternative hat, als eben ein Raubtier zu sein. Intentionalität und Notwendigkeit sind also tatsächlich keine Erlebnisgegensätze!
Die Achse der Autonomie Von den beiden vorgenannten Bedeutungsdimensionen abermals unabhängig ist schließlich drittens die Achse der Selbst- oder Fremdbestimmtheit. Im Normalfall, außer allenfalls im Status pathologischer Paranoia, erleben wir das Weltgeschehen nicht nach dem Modell der klassischen Physik als lückenlos kausal vernetzt, sondern eher als lockere Versammlung kurzgliedriger Verursachungsketten, die beginnen, weil irgendwer „angefangen hat“, und dann auch wieder enden. Der umgangssprachlichen Rede von „Ur-Sachen“ und „Aus-Wirkungen“ liegt unreflektiert diese Unterscheidung zugrunde. Erleben wir die betreffende Kausalkette zugleich als intentional, so verwenden wir zur Kennzeichnung dieser Unterscheidung in der Regel die Begriffe spontan und reak-
98 Kapitel 5. Mechanik und Intentionalität tiv. Wenn Zugvögel sich etwa im Herbst in Schwärmen versammeln und schließlich abfliegen, so wirkt dieses intentionale Geschehen auf uns spontan, einem aufkeimenden Drang entspringend, der keiner äußeren Anstöße bedarf. Erscheint eine Verhaltensabfolge hingegen als nachgeordnetes Glied einer intentionalen Kausalkette, als Antwort auf einen Reiz etwa, so nennen wir sie reaktiv. Es könnte der Eindruck aufkommen, dass der Ausdruck „Reaktion“ eher eine mechanische Verursa- Abbildung 5.4 Zur Unterscheidung chung nahelegt – schließlich verwendet der Chemiker der Eindrucksaqualitäten „Reagenzgläser“, und auch die behavioristische Rede „spontan“ und „frei“ von „Reiz und Reaktion“ war rein mechanistisch gedacht. Aber das ist schon Fachjargon. Das unbefangene Sprachgefühl hingegen würde uns zwar erlauben, einen Satz wie Das Reh reagierte auf den Schuss, indem es davonsprang
zu bilden, nicht jedoch Das Reh reagierte auf den Schuss, indem es tot umfiel
denn hier liegt eben nur ein mechanischer Effekt und keine intentionale Handlung vor. Normalerweise bedenken wir nicht, dass die Dimensionen Spontaneität und Freiheit phänomenologisch unabhängig sind (vgl. Abbildung 5.4): Wesentlich für Spontaneität ist, dass ein Ereignis anschaulich am Beginn einer Kausalkette steht, also keines Anstoßes durch andere Ereignissen bedurfte. Wesentlich für Freiheit ist hingegen, dass ein Geschehen von dem Gefühl begleitet wird, es hätte ebenso auch anders verlaufen können.
Abbildung 5.5 Die Erscheinungsweisen der Dimensionen Determination und Autonomie abhängig von ihrer Einbettung in die intentionale bzw. mechanische Hemisphäre
So ist etwa in dem eben angeführten Beispiel die Flucht auf jeden Fall als eine Reaktion auf den Schuss (und eben nicht als spontane Handlung) zu verstehen, wobei ganz gleichgültig ist, ob wir sie außerdem als notwendig erleben, weil die Instinkte dem Tier gar keine andere Wahl lassen, oder als frei, wie beispielsweise bei einem Soldaten, dem zuzumuten wäre, seine Panik zu unterdrücken.
Mechanisch aufgefasste Prozesse, die als Endglieder einer Wirkungskette erscheinen, bezeichnen wir als abhängig. Wenn wir sie ursächlich nennen, weisen wir ihnen hingegen eine kausale Anfangsposition zu. Ein plötzlicher Kälteeinbruch im Mai etwa, oder ein Erdbeben, kommen für uns „aus heiterem Himmel“, sie folgen gefühlsmäßig nicht aus irgendetwas anderem. Die moderne Wissenschaftssprache nennt sie „chaotisch“. Dabei
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können sie außerdem stochastisch sein wie zum Beispiel ein Quantensprung; mindestens vage einfühlbar ist aber auch die Rede vom „deterministischen Chaos“. Abbildung 5.5 fasst die unterschiedenen drei Dimensionen phänomenaler Kausalität zusammen. Dominant ist dabei die vertikal angeordnete Polarität einer intentionalen und einer mechanischen Hemisphäre des Begriffsfeldes. Die Äste der beiden anderen Achsen tragen verschiedene Bezeichnungen je nachdem, in welche der beiden Hemisphären sie eingebettet erscheinen.
Die historische Erschließung der drei Dimensionen Von dem dargestellten Bedeutungsraum anschaulicher Kausalität hat die Naturphilosophie in ihrer Geschichte unterschiedlichen und oft nur selektiven Gebrauch gemacht. Bei Aristoteles spielte die Intentionalität eine dominierende Rolle. Abläufe, die sich nur mechanisch beschreiben ließen, traten in seinem Weltbild nur in der Rolle von Störquellen auf. Für die neuzeitliche Physik wurde eine diametral entgegengesetzte Haltung kennzeichnend; hier erscheint mechanische Kausalität als das alleinige Erklärungsprinzip. In ihrer klassischen Phase von Galilei bis Newton engte sich das Verständnis der Kausalität noch weiter auf strikt deterministische und lückenlos abhängige Prozesse Abbildung 5.6 das Kausalitätsverständnis ein (Abbildung 5.6). Das Weltgeschehen erscheint hier als der klassischen Physik ein gigantisches, selbstgenügsames Räderwerk ohne Freiheitsgrade, dessen ewige Rotation keine Stellhebel und Lenkräder benötigt, dem eine intentionale Sinngebung wesensfremd bleibt und allenfalls nachträglich angedichtet werden könnte, indem man es der Weisheit eines Schöpfergottes entstammen lässt. Phänomenologisch betrachtet war das sicher eine Verarmung, allerdings wurde diese im Zuge der weiteren wissenschaftlichen Entwicklung schrittweise behoben (Abbildung 5.7). Den Anfang machte die Quantentheorie, die mit der Unschärferelation den Determinismus aufbrach und den Zufall in die Weltordnung einbezog. Dann kam noch die moderne Theorie der Selbstorganisation, die Synergetik, die auch dem Chaos, der Unvorhersagbarkeit, der Selbstorganisation wieder einen Platz Abbildung 5.7 Das Kausalitätsverständnis der modernen Naturwissenschaften in der Weltordnung einräumte.
100 Kapitel 5. Mechanik und Intentionalität Mit der Dimension der Intentionalität verhielt es sich komplizierter. Im Prinzip bleibt sie der empirischen Wissenschaft fremd. Aber es gab – nicht zwar in der Physik, wohl aber in den Ingenieurwissenschaften und in der Biologie – empirische Gegenstandsfelder, die nachgerade zu einer intentionalen Beschreibung einluden. Um dieser Verführung nicht nachgeben zu müssen, fand man Wege, die es möglich machten, teleologische Denkfiguren durch mechanistische Konstrukte nachzubilden. Da war einmal die Kybernetik, die sich mit dem Konzept des „Sollwertes“ die Zielstrebigkeit einzuverleiben verstand, und zum anderen die darwinistische Evolutionstheorie, die die Zweckmäßigkeit entmythologisierte, indem sie sie als Selektionseffekt erklärte. Das vormals global als „mechanistisch“ verstandene Denken spaltete sich damit selbst in zwei Pole auf, die seitdem zuweilen durch die Termini „funktional“ und (im engeren Sinn) „kausal“ unterschieden wurden.
Moral und Intentionalität Das Trolley-Problem Für die Erklärung der äußeren Natur ist die Intentionalität damit entbehrlich geworden. Die Psychologen jedoch haben es nicht so einfach. Soweit sie nicht in behavioristischer Manier auf die Beschreibung von Erlebnistatbeständen überhaupt verzichten wollen, müssen sie Intentionalität jedenfalls als phänomenologische Kategorie ernst nehmen. Gerade für die Psychologie der Moral ist diese sogar von grundlegender Bedeutung. Wenn wir uns nämlich Rechenschaft geben, an welcher der drei Dimensionen anschaulicher Kausalität moralische Fundamentalkategorien wie Schuld und Verantwortung festzumachen sind, begegnen wir einem eigentümlichen, aber überaus folgenreichen Paradoxon: Unter den drei Bedeutungsachsen erschließt allein die der Intentionalität den Zugang zur Moral. Dass Intentionalität zumindest unentbehrlich für die moralische Einbettung von Handlungen ist, versteht man leicht. Sie ist es ja, die die Brücke zur Wertwelt schlägt. Aber die Aussage reicht weiter: Es kommt bei der Schuldfrage vornehmlich auf Intentionalität als solche an und viel weniger darum, was genau das Ziel der Intention war. Das ist eine überraschende These, die der Erläuterung bedarf. Am besten nachvollziehbar ist sie im Falle der Haftpflicht. Diese kann auch eintreten, wenn man selbst überhaupt nichts getan hat, was den Schaden herbeiführte. Bei den nordkalifornischen Yurok-Indianern waren günstige Fischereigründe Privateigentum. Der Inhaber konnte Fremden erlauben, diese Fangplätze vorübergehend mit zu benützen. Tat er dies aber, so übernahm er zugleich die Verantwortung für den Gast. Wenn dieser unglücklich ausrutschte und sich dabei verletzte, so musste der Gastgeber Schadenersatz leisten. Ein weiteres Beispiel: Wer ein Kanu besaß, war verpflichtet, Durchreisende damit über den Fluss zu setzen. Brannte ihm aber während dieser Dienstleistung das Haus nieder, so hatte ihm der Fahrgast den vollen Schaden zu ersetzen.1 1 Hoebel (1968) p. 73f
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Auch bei selbstverursachten Schäden ist Absichtlichkeit keine notwendige Bedingung. Immerhin richtet sich nach ihr die Härte der verhängten Sanktion, so etwa in unserem Rechtssystem in der Unterscheidung von Mord und fahrlässiger Tötung. Aber selbst Fahrlässigkeit setzt noch immer Intentionalität voraus; man hatte irgendwelche neutrale Ziele verfolgt und dabei nicht genügend achtgegeben. Wenn der angerichtete Schaden rein mechanisch zustande kommt, stellt sich die Schuldfrage überhaupt nicht. Interessanterweise gilt Fahrlässigkeit häufig nicht als mildernder Umstand, wenn die andere Intention, bei deren Verfolgung eine an sich unbeabsichtigte Straftat unterlaufen ist, ihrerseits normwidrig war, wenn man also beispielsweise aus Versehen bei einem Einbruch einen Brand verursacht hat.
Die moralpsychologische Relevanz der Intentionalität wird in der gegenwärtigen Debatte vor allem an Hand eines Gedankenexperimentes erörtert, das als das TrolleyProblem bekannt wurde. Es geht dabei um das folgende Paradox. Angenommen, ein Mensch namens Peter wird Zeuge, wie eine schwerbeladene Güterlore (engl. trolley) unbemerkt auf eine Gruppe von fünf Menschen zurollt, die auf dem Gleis laufen, weil das Gelände rechts und links davon aus irgendwelchen Gründen nicht begehbar ist (Abbildung 5.8). Deren Schicksal wäre besiegelt, wenn Peter nicht eine Weiche stellt, die die Lore auf ein Nebengleis lenkt. Dort läuft allerdings ein einsamer Wanderer, der dann überfahren würde; aber Peter könnte auf diese Abbildung 5.8 Trolley-Problem: Akzeptabler Eingriff Weise immerhin fünf anderen das Leben retten. Soll er den Hebel umlegen? Tausende Versuchspersonen, die per Internet befragt wurden, äußerten sich zustimmend.2 Das scheint zunächst die utilitaristische Maxime vom „größten Glück für die größte Zahl“ zu unterstützen. Dass es so einfach aber nicht geht, zeigt sich, wenn man das Szenario geringfügig variiert (Abbildung 5.9). Auch hier dieselbe Situation mit den fünf Leuten, die von der Lore bedroht werden; diesmal jedoch fehlt das Nebengleis. Auch hier gibt es einen Beobachter, wir wollen ihn Paul nennen. Er Abbildung 5.9 Trolley-Problem: Inakzepist auf eine Aussichtsplattform gestiegen und tabler Eingriff erkennt die Situation. Für einen kurzen heroischen Moment erwägt er, auf die Schienen zu springen, um die Menschengruppe zu retten; doch er wäre viel zu schmächtig, um die Lore aufzuhalten. Neben ihm aber steht ein unglaubliche dicker Mann, und wenn Paul sich entschließen könnte, diesen über das Geländer zu stoßen, käme die Lore sicher zum Stillstand. 1 Foot (1967), Thomson (1976) 2 Hauser (2006)
102 Kapitel 5. Mechanik und Intentionalität Auch hier würde einer geopfert, um fünf zu retten. Die utilitaristische Rechnung erbrächte dasselbe Resultat. Und doch – die meisten zu dieser Situation Befragten lehnen die moralische Berechtigung dieser Handlung entschieden ab. Worin besteht der Unterschied? Neuropsychologen konnten zeigen, dass im Gehirn von Versuchspersonen, die die Opferung eines einzelnen Unbeteiligten bei Peter billigen, bei Paul aber verurteilen, andere, emotionsnähere Zentren aktiv sind als bei jenen, die den Eingriff in beiden Fällen für angebracht halten1. Dieses Ergebnis wird gern an der Begriffsachse „persönlich“–„unpersönlich“ festgemacht: Wer eine „persönliche“ Verletzung akzeptiere, setze eher Gehirnpartien ein, die mit kalter Rationalität zu tun haben. Aber was heißt persönlich? Etwas weiter führt eine andere, eher funktionale Unterscheidung: Im Falle Pauls, so wird gesagt, sei die Tötung des Einzelnen ein „direkter“ Akt, während Peter den Tod des Wanderers nur „mittelbar“ in Kauf nehme. Der entscheidende Unterschied liege darin, ob man selbst die Ursache der Tötung war oder ob sie von einem anderen Akteur ausgeführt wurde. Hieraus lernen wir immerhin etwas darüber, wie unsere Intentionalitätswahrnehmung funktioniert. Bei Peter ist die auf Rettung der Fünfergruppe gerichtete Intention abgekoppelt von der Manipulation der Weiche, die als rein mechanischer Akt erlebt werden kann. Dass dann die Lore den Tod des einzelnen Wanderers bewirkt, ist ebenfalls ein mechanischer Effekt. Er mag sogar intentional erlebbar sein; aber dann wird die Intention der Lore zugeordnet (Abbildung 5.10a). Diese Möglichkeit hat Paul jedoch nicht; er kann nicht umhin, die Tötung als eigene Intention zu erleben (Abbildung 5.10b), womit sie zu einem schuldhaften Akt wird. Nur wenigen Befragten gelingt es offenbar, den Prozess soweit zu rationalisieren, dass sie auch die Opferung des dicken Mannes noch als rein instrumentell in eine mechanistische Betrachtungsweise einbeziehen und damit aus der erfühlten eigenen Intentionalität entlassen können (Abbildung 5.10c). Abbildung 5.10 Erklärung im Text
Notwendigkeit und Verantwortung Noch bedenkenswerter als die konstitutive Rolle, die die Intentionalität beim Verantwortungserlebnis spielt, ist die erstaunliche Irrelevanz der beiden anderen in Abbildung 5.5 unterschiedenen Achsen. So ist insbesondere keineswegs Spontaneität erforderlich, um eine Handlung schuldhaft erscheinen zu lassen. Die Ursünde im Paradies erfolgte nicht mutwillig, sondern als Reaktion auf die Verführung der Schlange; das wurde aber nicht als mildernder Umstand 1 Greene & Haidt (2002)
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anerkannt. Eher schon mag sich einer damit entschuldigen, dass er nur Befehle ausgeführt hat; aber im stillen Kämmerlein macht er sich gleichwohl Vorwürfe. Und er kann auch zur Verantwortung gezogen werden, es sei denn, er habe unter der Ausnahmebedingung des sogenannten Befehlsnotstandes gehandelt. Bei diesem kommt es jedoch nicht auf die Unterbindung der Spontaneität an, sondern wiederum auf die Intentionalität, die in diesem Fall überhaupt nicht bei dem völlig zum Werkzeug degradierten Ausführenden lag. Wäre dann aber nicht wenigstens die Erfahrung der Freiheit Voraussetzung für Schuldgefühle? Verblüffenderweise lautet die Antwort hier ebenfalls Nein. Der Mensch fühlt sich – und macht andere – durchaus auch verantwortlich für alles, was aus seinem Wesenskern mit innerer Notwendigkeit erwächst. Einer der Standardvorwürfe, deren sich die Vertreter einer biologischen Anthropologie immer wieder erwehren müssen, richtet sich gegen ihre Überzeugung, nicht nur „das“ Tier, sondern auch der Mensch stünde unter dem Einfluss angeborener Verhaltensprogramme. Angeboren wird von den Kritikern mit unveränderlich gleichgesetzt, womit erwiesen scheint, dass die Biologie gewisse fragwürdige Verhaltensbereitschaften des Menschen wie Fremdenhass oder männliche Untreue moralisch exkulpieren möchte. Hier liegt gleich ein doppelter Denkfehler vor. Erstens bedeutet – was ständig zu wiederholen offenbar nutzlos ist – anlagebedingt keineswegs veränderungsresistent, und zweitens würde auch Naturnotwendigkeit noch längst nicht von Verantwortungsgefühlen und Schuldzuweisung entbinden. Dieser Tatbestand ist für die Psychologie der Moral derart folgenreich, dass wir ihn etwas genauer betrachten müssen. Nach volkstümlicher Meinung treten Schuldgefühle nur auf, wenn ein negatives Ereignis durch einen persönlich kontrollierbaren Faktor verursacht wurde. Das glauben auch einige kognitivistische Psychologen; es stimmt aber nicht. Im Menschen regt sich schon von Kindheit an die hartnäckige Neigung, die Schuld an aller verspürten Unordnung bei sich selbst zu suchen, sofern die Bilanz zu eigenen Gunsten ausfällt. Dazu passt ein inzwischen gut belegtes Phänomen, das in der Fachliteratur die Bezeichnung existentielle Schuld trägt. In der Autobiographie von Marcel Reich-Ranicki stoßen wir auf die Feststellung1 Wer zufällig verschont wurde, während man die Seinen gemordet hat, kann nicht in Frieden mit sich selber leben.
Tatsache ist, dass gerettete KZ-Häftlinge, aber auch beispielsweise die Überlebenden einer Flutkatastrophe oder eines Eisenbahnunglücks, immer wieder von einem rätselhaften Schuldbewusstsein gegenüber ihren umgekommenen Schicksalsgenossen berichten. Sie haben deren Unheil nun wirklich weder befördert, noch hätten sie es verhindern können. Das einzige, was sie sich selbst zurechnen müssen, ist die verspürte Erleichterung, selbst noch einmal davongekommen zu sein. Und dieses Gefühl reicht, um das ganze Geschehen in ein Medium der Intentionalität zu tauchen, in dem das ungleich verteilte Glück als unverdient und daher schuldhaft erscheint. 1 Reich-Ranicki (1999) p. 303
104 Kapitel 5. Mechanik und Intentionalität Noch tragischer ist, dass der Eindruck fehlender Entscheidungsfreiheit nicht nur keinen verlässlichen Schutz gegen Selbstvorwürfe bietet, sondern auch andere nicht vor Schuldzuweisung bewahrt. Bekanntlich sah der Nationalsozialismus keinerlei Widerspruch darin, die „Minderwertigkeit der jüdischen Rasse“ einerseits für erbbedingt zu erklären und andererseits zur Zielscheibe moralistischer Verurteilung zu machen. Aber auch auf der Gegenseite wird nicht anders argumentiert. Es gibt Moralwächter, die sich in jedem Leitartikel um das angebliche Wiedererstarken des deutschen Rechtsextremismus sorgen. Es wäre interessant zu erfahren, auf welchen psychologischen Mechanismen die hier unterstellte Kontinuität basieren soll; jedenfalls klingt darin der Verdacht auf einen nicht abdressierbaren Charakterzug an. Zu den Risiken und Nebenwirkungen moralistischer Gesinnung gehört offenbar auch der Impuls, abwertende Urteile dadurch zu potenzieren, dass man den Täter für durch und durch unverbesserlich erklärt. Dieser Makel tritt an die Stelle des genetischen Defektes und leistet dasselbe; beide erzeugen eine Gnadenlosigkeit, die im Extremfall auch Ausmerzung legitim erscheinen lässt. Offenbar trennt unser Erleben gefühlsmäßig nicht zwischen unserer (ererbten) Natur und unserem (verantwortlichen) Selbst. „Angeboren“ bedeutet einfach soviel wie zutiefst im Herzen verankert, zum Kern des eigenen Wesens gehörig, die Person als intentionale Sinnquelle fundierend. Von Verantwortung entbindet es nicht. Weil Angeborenes von „innen“, Anerzogenes aber von „außen“ kommt, muss ich gerade für das Angeborene auch selbst Rechenschaft ablegen. Meine Verantwortung endet erst bei dem, was die anderen aus mir gemacht haben. Diese anderen sind austauschbar, es gibt ja beliebig viele von ihnen. Was „von außen“ kommt, lässt sich also ändern. Ich selbst hingegen bin ich selbst, meine Identität ist mein unentrinnbares Schicksal. Würde der intentionale Sinngehalt meines Handelns grundsätzlich wechseln, hätte ich mich selbst aufgegeben. Tatsächlich werden Damaskus-Erlebnisse immer als Identitätsbruch erfahren – „nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir“, schreibt Paulus. Das sind denn auch extreme Ausnahmefälle. In der Regel bleibe ich zu mir selbst verurteilt; ich handle gemäß meinem Wesen, ändern kann ich mich nicht. Für alle Folgen daraus trage ich gleichwohl die Verantwortung. Meine Schuld gründet darin, dass ich existiere. Dass demselben Vorverständnis auch die Theologie der Erbsünde und die kalvinistische Prädestinationslehre entspringen, sei hier nur am Rande angefügt.
Verstehen oder verurteilen An dieser Stelle gewinnen wir schließlich auch Zugang zum Kernanliegen der Diskursethik: Wenn Habermas von einer Alltagspraxis spricht, zu der wir „nur in performativer Einstellung“ Zugang hätten, wodurch erst das Netz moralischer Gefühle „eine bestimmte Unausweichlichkeit“ gewinne, so können wir die Kryptik dieser Aussage 1 Habermas (1983a) p. 55–58.
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lichten, indem wir „performativ“ einfach als „intentional“ lesen. Sie besagt dann: Wer sich auf das Leben einlässt, der kann nicht in der mechanischen Sphäre der Kausalität verharren, der muss zur intentionalen Weltsicht vorstoßen; dort aber, ob es ihm denn passt oder nicht, gerät er in die Dynamik von Verantwortung und Schuld, Verpflichtung und Engagement. Habermas wendet sich damit gegen die Vertreter jener Perspektive, die wir in Kapitel 1 die „empiristische“ genannt haben. Er nennt sie die des „konsequenten Skeptikers“ und hält sie für eine „Pathologie des modernen Bewusstseins“. Gegen diese Unfreundlichkeit wird man sich verwehren dürfen. Richtig ist aber immerhin, dass jemand, der Schuldzuweisungen entgehen möchte, tatsächlich den Weg wählen könnte, die intentionale in die mechanische Betrachtungsweise der Kausalität zu transformieren. Damit nämlich entfällt die Basis dafür, das Geschehen überhaupt in ein Bezugssystem von Werten und Wünschbarkeiten, von Interessen und billigender Inkaufnahme einzubetten. Egal also, ob der Empirist eine Handlung biologisch oder durch Sozialisation erklärt – entscheidend ist, dass er sich überhaupt aufs Erklären einlässt! Und hier liegt auch der Schlüssel für ein sonst schwer verständliches Denkhemmnis. Wenn es auf Schuldzuweisung ankommt, entsteht automatisch ein ideologisches Tabu der „Psychologisierung“! Das ist möglicherweise der Grund für den immer wieder zu beobachtenden antipsychologischen Affekt vieler Historiker, Soziologen und Juristen, ja es könnte sogar sein, dass das nie wirklich zur Ruhe kommende Misstrauen der Geistes- gegen die Naturwissenschaften überhaupt eigentlich der konstitutionellen Wertfreiheit empiristischer Weltbetrachtung gilt. Eine Reihe ideologischer Reaktionen, die rational schwer einzuordnen sind, wird aus dieser psychologischen Konstellation heraus verständlich. Eine davon ist ein gegenwärtig in der klinischen Psychologie ausgetragener Konflikt. Radikale Feministinnen beiderlei Geschlechts laufen Sturm gegen Bemühungen, Familien therapeutisch zu betreuen, in denen der Vater oder Stiefvater Kindsmissbrauch getrieben hat. Sie fordern bedingungslose Verurteilung, Ächtung, Verstoßung des Übeltäters. Das Dilemma liegt nun aber darin, dass es den Opfern des Missbrauchs damit nicht etwa leichter, sondern erheblich schwerer gemacht wird, mit ihrem Trauma fertig zu werden. Sie haben dringend eine gruppendynamische Aufarbeitung des Geschehenen nötig. Das geht nur schwer ohne die Einbeziehung und innerfamiliäre Resozialisierung des Täters. In dem Moment aber, wo man beginnt, sich für dessen Motive zu interessieren, und das heißt, wo man versucht, zu verstehen, wie es zu seinem Verhalten kam, hat man auch schon begonnen, ihn psychologisch zu exkulpieren: Das genau besagt ja der alte Sinnspruch „Alles verstehen ist alles verzeihen“. Wenn linke Ideologen nicht müde werden, eine Erforschung der biologischen Wurzeln des moralischen und besonders des unmoralischen Verhaltens zu tabuisieren, so steckt dahinter also die Angst, durch eine Mechanisierung der Handlungsabläufe dem Geschehen die intentionale Dimension vorzuenthalten und sich damit der Basis zu berauben, überhaupt jemandem die Schuld am Leid der Welt geben zu können. Am rechten politischen Flügel ist es freilich auch nicht anders. Als der britische
106 Kapitel 5. Mechanik und Intentionalität Premier John Major noch im Amt war, ereignete sich in Liverpool eine ziemlich grauenhafte Mordtat; ein seinerseits noch minderjähriger Täter hatte zwei 10-jährige Jungen umgebracht. Majors Kommentar lautete damals, man müsse endlich „mehr verurteilen, weniger verstehen!“ Wir brauchen jedenfalls nicht länger nach dem Grund für die Kommunikationsstörung in der Debatte zwischen Kronawitter und Trittin zu suchen, mit der wir das Kapitel 1 eingeleitet haben. Ihr Geheimnis ist die Unvereinbarkeit von mechanischer und intentionaler Deutung der Kausalität.
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Zwischenbilanz Dieses Kapitel hat seinen Ausgang bei dem traditionell philosophischen Thema der Willensfreiheit genommen, dann aber zunehmend auf die Phänomenologie des Kausalitätserlebens übergeleitet. Entscheidend an der Weise, wie wir Ursache-Wirkungsbeziehungen erleben, ist deren dreidimensionale Struktur, die von der naiven Psychologie des Alltags allerdings nicht differenziert wahrgenommen wird. Dominant ist dabei die vertikale Polarität von Mechanik und Intentionalität; in ihrem Licht erscheinen Spontaneität und Freiheit, die beiden anderen Achsen, in jeweils unterschiedliche Farbe getaucht. Hier sind vor allem zwei Merksätze in Erinnerung zu behalten: Das Bedürfnis, ein Ereignis moralisch zu bewerten, entsteht nur auf der Basis einer intentionalen Betrachtungsweise. Die Einnahme des intentionalen Standpunktes liegt im Ermessen des Betrachters; sie wird aber durch gewisse wahrnehmungspsychologische Randbedingungen nahegelegt oder behindert. Mit dieser Erörterung verlassen wir endgültig die philosophische Betrachtungsebene und wenden uns nunmehr den empirischen Fragen zu, die wir am Schluss des Kapitels 1 aufgelistet haben. Dabei wäre es freilich dem Denkfortschritt wenig förderlich, die dort genannten Themenblöcke – Inventur, Ätiologie und Realisation – schematisch der Reihe nach abzuhandeln. Um wirklich zum Kern des Problems vorzudringen, müssen wir diesen unter wiederholtem Wechsel der Perspektive in einer immer enger werdenden Spirale mehrfach umkreisen. Im nachfolgenden zweiten Teil des Buches wird es dabei zunächst darum gehen, wie unser moralisches Denken und Fühlen entstanden ist. Damit stellt sich die Frage der Evolution. Diese aber können wir heute nur noch darwinistisch deuten, und das heißt, wir müssen die Fitness als ihre Ultima Ratio akzeptieren. Hieße das nicht aber, den Wertekatalog, über den die Moral wacht, aus seinem Beitrag zum Fortpflanzungserfolg herzuleiten? Dieser Gedanke erscheint uns skandalös. Das Trialistische Denkschema verlangt geradezu, die Moral am Gegenpol der Natur anzusiedeln. Kann die Natur ihre eigene Antithese hervorbringen?
Kapitel 6 Die ultima ratio Psychologische Ordnungsversuche Moral als Motiv Wenn es der Moralphilosophie bis heute mit einigem Erfolg gelungen ist, einen Offenbarungseid in Sachen Letztbegründung zu vermeiden, so liegt das letztlich daran, dass sich ihre Gläubiger gar nicht leisten zu können meinen, an ihrer Solvenz zu zweifeln. Ohne die Garantie einer stabilen Wertordnung fürchten Menschen, ihr Gemeinwesen würde alsbald im Chaos vermüllen. Und das positivistische Vergleichsangebot ist im Grunde nichts wert; jede noch so menschenverachtende Diktatur könnte ihr Regime damit legitimieren. Aber hängt denn die Stabilität der Moral überhaupt wirklich vom Attest approbierter Ethiker ab? Sie hat doch offenbar bis heute überlebt, arg gezaust zwar zu manchen Zeiten und in manchen Weltgegenden, einschließlich der unseren, aber im Ganzen doch viel vitaler und regenerationsfähiger, als man erwarten müsste, wenn ihre Gesundheit ernsthaft auf die Heilkräfte akademischer Begriffsdichtung angewiesen wäre. Das Gewissen regt sich allemal von selbst, es hat seine eigene Weise zu urteilen und wartet nicht darauf, bis Ethik-Kommissionen Rechtfertigungsgründe für seine Gefühlsentscheide ausgeklügelt haben. Selbst wenn wir ratlos bleiben angesichts moralischer Dilemmata, bei denen jede ausdenkbare Alternative den Handelnden auf andere Weise schuldig werden lässt, hilft es nichts, beim Philosophen eine Fatwa in Auftrag zu geben. Was er anzubieten hat, ist doch nur eine nachträgliche Konstruktion, die auch nicht weiter trägt, als sie vom Gefühlsurteil bestätigt wird, und die daher bestenfalls helfen kann, diesem etwas mehr Profil zu geben. Wenn nun aber wirklich in unsere moralischen Entscheidungen immer schon ein Gespür für Gut und Böse eingeht, dessen Evidenz nicht auf rationalisierende Legitimation angewiesen ist, sondern dieser umgekehrt erst ihre Überzeugungskraft verleiht, dann tritt die Frage, wie das Gewissen sich den Weg, den es ohnehin einzuschlagen gedenkt, mit legitimierenden Argumenten pflastert, in den Hintergrund zugunsten der viel fundamentaleren, woher dieser Weg seine affektive Attraktivität bezieht. Und das ist dann ein Thema für die empirische Wissenschaft vom menschlichen Verhalten und Erleben, die Psychologie. Die Expeditionen, die diese mit dem Ziel unternommen hat, die Dynamik unserer Antriebe zu ergründen, haben sich von so mancher Fata Morgana in abwegige Gefilde locken lassen. Letztlich sind sie aber doch auf eine Stelle zugelaufen, an der ein feuerspeiender Drache lauert, der keinen weitergehen lässt, er hätte denn zunächst die Schicksalsfrage beantwortet: Wo ziehst du die Grenzen einer „biologischen“ Erklärbarkeit des Menschen? Was insbesondere hältst du von der Evolutionstheorie?
112 Kapitel 6. Die Ultima ratio
Der milieutheoretische Zugang Der Behaviorismus, der den größten Teil des 20. Jahrhunderts hindurch zunächst in Amerika und dann weltweit die akademische Psychologie dominierte, glaubte mit dieser Frage keine Probleme zu haben. Er hielt sich zwar für eine Naturwissenschaft, hatte dabei aber nicht die Biologie, sondern die Physik zum Vorbild. Für ihn war menschliches Verhalten daher einfach die aus allgemeinen Naturgesetzen vorhersagbare Reaktion auf Umweltreize. So etwas wie eine Zielstrebigkeit des Organismus, Habit H Hab abit für deren Sinngebung ein genetischer Bauplan in Frage kommen Habit H ab ab bit bi it könnte, war in diesem extrem milieutheoretischen Menschenbild nicht vorgesehen. Auch das behavioristische Denken orientierte sich an einem trialistischen Schema (Abbildung 6.1). Alles Verhalten resultiert demgemäß aus dem Zusammenwirken einer qualitativ neutralen, „drive“ genannten Triebenergie, die irgendwo im Organismus produziert wird, und einer Umwelt, die für die Steuerung und damit Abbildung 6.1 Das mechanistiauch für inhaltliche Vielfalt sorgt. Wo immer im Verhalten übersche Persönlichkeitsmodell des dauernde Regelmäßigkeiten zu erkennen sind, handelt es sich um Behaviorismus: Unter der erlernte Gewohnheiten, sogenannte habits. Diese machen den Einwirkung der Umwelt entstehen Gewohnheiten (habits), Kernbestand der Persönlichkeit aus. Sie kanalisieren die von sich aus völlig ungerichtete Triebenergie und geben dem Verhalten so die eine unspezifische Triebenergie (drive) kanalisieren seine individuelle Form, die aber natürlich von den Zufälligkeiten der Lerngeschichte abhängt. Bezüglich des Aspektgegensatzes von Mechanik und Intentionalität, den wir im vorigen Kapitel erörtert haben, nimmt dieses Erklärungsmodell eine dezidiert einseitige Position ein: Die intentionale Hemisphäre bleibt völlig ausgeblendet; „Sinn“ ist für den Behaviorismus keine wissenschaftliche Kategorie. Die Endzustände, bei denen das Geschehen zur Ruhe kommt, sind nicht etwa „Zielsetzungen“, sondern nur historisch verfestigte Gleichgewichtslagen in einem mechanischen Kausalnexus. Moralische Motivation reduziert sich auf ein Bündel von Habits, deren Konformismus aus der zufälligen Biographie individueller Belohnungs- und Bestrafungserfahrungen resultiert. Der große Aktivposten des Kognitivismus, der das behavioristische Paradigma dann ablöste, war die Wiederentdeckung der intentionalen Perspektive. Das Kontinuum der Antriebserlebnisse brach dabei in zwei getrennte Kategorien auseinander (Abbildung 6.2): Man unterschied nun zwischen „niederen“ Impulsen, die man Triebe oder Bedürfnisse nannte, und „höheren“, für die der Ehrentitel Motive reserviert blieb. Zu den ersteren zählten Hunger und Durst sowie das Verlangen nach Wärme, Schlaf, Atmung und Schmerzfreiheit, zu den letzteren die Beweggründe des theoretischen, religiösen, ästhetischen und eben auch des moralischen Handelns. Bei dieser Dichotomie wird nicht eigentlich an zwei verschiedene Sinngebungen gedacht; kognitivistisches Denken sträubt sich, die „Triebe“ überhaupt unter intentio-
Umwelt
Drive
Psychologische Ordnungsversuche 113
naler Perspektive zu sehen. Man belässt sie viel lieber im Geltungsbereich mechanischer Kausalität und tut sie als Begleitgeräusch zyklischer Abläufe in der Maschinerie der Eingeweide ab. Erst für das, was „Motive“ heißen soll, werden wirklich Sinnquellen reklamiert; diese transzendieren selbstverständlich die Natur und müssen dem Individuum daher von außen vermittelt werden. In dieser Hinsicht beruft sich die kognitivistische Betrachtungsweise ebenso auf Lernprozesse wie die behavioristische; aber diese werden nun nicht mehr als Produkt mechanischer Zufälligkeit gesehen, sondern man versteht sie als normgeleitetes Hineinwachsens in eine soziokulturelle Gemeinschaft. Die Umwelt, unter der sich die Theoretiker der Konditionierung immer nur das Labor mit seinen willkürlichen Belohnungs- und Bestrafungsplänen vorstellten, wandelt sich zur Gesellschaft.
Der schichttheoretische Zugang
SC SELL HAFT E G
Motive Triebe
NATUR Abbildung 6.2 Das Persönlichkeitsmodell des Kognitivismus: Das Antriebsgeschehen zerfällt in Triebe und Motive; Die ersteren unterliegen mechanischen Naturgesetzen, die letzteren entstammen der intentionalen Sinngebung der Gesellschaft
Im deutschen Sprachraum, wo der Behaviorismus nie wirklich Fuß fassen konnte, hatte die Motivationstheorie zunächst ganz andere Wege eingeschlagen. Als Orientierungsrahmen fungierte anfangs ein von Nietzsche her inspirierter und durch Ludwig Klages vermittelter lebensphilosophischer Kulturpessimismus. In der Folge verband sich damit der Gedanke einer genetisch fundierten Schichtenhierarchie, als dessen Impulsgeber vor allem Nicolai Hartmann zu nennen ist. Beide Ideenstränge liefen in der Persönlichkeitspsychologie zusammen, die damals „Charakterkunde“ hieß und in der zeitweilig sehr einflussreichen Strukturlehre von Philipp Lersch kulminierte. In dessen System spielt mechanistisches Denken keine Rolle. Motive heißen „Strebungen“, und ihre Intentionalität gliedert sich in drei Themenkreise, die als „lebendiges Dasein“, „individuelles Selbstsein“ und „Über-sich-Hinaus-Sein“ etikettiert werden. Wir treffen hier erneut auf das trialistische Schema, wenngleich in wiederum anderem Gewand (Abbildung 6.3). In der untersten Schicht geht es demnach nur um den anonymen vegetativen Lebensvollzug. Darüber lagert sich eine animalische Sphäre, erfüllt vom Drang nach der Konkretisierung als Einzelwesen. Die damit zwangsläufig verbundene Isolation wird schließlich wieder aufgehoben in der geistigen oder personalen Sphäre, in der sich das Subjekt in einen überindividuellen Sinnzusammenhang einzuordnen sucht. Lersch ordnet diesen drei Schichten die Lebensentwürfe der Pflanzen, Tiere und Menschen zu. Man darf das nicht zu plump interpretieren. Wenn er etwa unter den „Antriebserlebnissen des lebendigen Daseins“ Bedürfnisse wie den Tätigkeitsdrang und das Genussstreben aufzählt, so ist das natürlich nicht so zu verstehen, als hätten 1 Lersch (1956)
114 Kapitel 6. Die Ultima ratio die Pflanzen Triebe, und schon gar nicht die genannten. Was zum Ausdruck kommen soll, ist vielmehr, dass solche Strebungen beim Menschen dem Verlangen entspringen, sich selbst einfach nur als lebendig zu fühlen, wie es eben alle Organismen sind. Insofern man jedoch sein Leben als von anderen abgegrenztes Individuum führt, kann man sich nicht mehr in der pflanzlichen, wohl aber noch in der tierischen Existenzform wiedererkennen. Was aber heißt „über sich hinaus sein“ – worin ja offensichtlich das Specificum Humanum geortet werde soll? In dieser Kategorie begegnen wir der ideengeschichtlich bedeutsamen Legierung zweier Begriffsfelder, die uns in der Folge noch beschäftigen wird. Auf der einen Seite soll sie alle sozialen Antriebe abdecken, also etwa den Gesellungsdrang, das Bindungsverlangen und die HilfsAbbildung 6.3 Das Persönbereitschaft, auf der anderen den Schaffensdrang, die Liebe zur lichkeitsmodell der anthropoSache, die Religiosität und das Verantwortungsgefühl – Motive logischen Psychologie: Die also, die auf spirituelle Werte zielen. Schichten des Lebendigen Daseins, des Individuellen Was haben diese beiden Seinsbereiche miteinander gemein? Selbstseins und des Über-sichZugegeben – in beiden bekundet sich eine „über sich hinaus“ Hinaus-Seins, letztere gerichtete Intention; das liegt jedoch an der Doppeldeutigkeit der differenziert in eine soziale Präposition „über“: Diese kann vertikal gelesen werden wie in der (horizontal) und eine spirituRede vom „Himmel über mir“ und horizontal wie beim „Schritt elle Dimension (vertikal) über die Grenze“. Von dieser linguistischen Verbindung abgesehen haben wir es indessen mit heterogenen Themenfeldern zu tun. Vor allem verschleiert ihre Überblendung, dass sich allein die vertikale Raumsymbolik, cum granu salis, in ihrer Totalität für das spezifisch Menschliche in Anspruch nehmen lässt. Die horizontal auf andere, gleichgeartete Individuen – auf „Artgenossen“, wie der Biologe sagt – ausgerichteten Strebungen kann man der tierischen Existenz hingegen keineswegs pauschal absprechen. Individualität ist auf keiner phylogenetischen Stufe ohne ein soziales Gegenstück denkbar; Ich und Du stehen von Anfang an in einer polaren Relation. Alle drei von Lersch unterschiedenen Antriebsthematiken gehören nach seiner Überzeugung zur Natur des Menschen. Glaubte er also, die Moral habe eine instinktive Basis? Hierzu muss man in Rechnung stellen, dass die Philosophie der Schichtung, die seinem Denken zugrunde lag, in der menschlichen Existenz zwar das Endprodukt organischer Entwicklung sah, diese aber aus dem seinerzeit stilbildenden Geist des Vitalismus heraus deutete. Wir werden uns mit dieser Denkrichtung zu einem späteren Zeitpunkt noch genauer zu befassen haben; für den Moment genügt es, sie grob zu skizzieren. Vitalisten begriffen die Evolution in der Metaphorik des kreativen Schaffens. Der Künstler, unter dessen Hand ein Werk entsteht, skizziert zunächst ein paar Umrisse und arbeitet dann allmählich immer mehr Details in das Bild ein. Noch bevor er beginnt, schwebt ihm schon eine Idee vor, die Gestalt gewinnen will. Er hat sie noch nicht klar vor Augen, spürt aber doch hinreichend genau, ob seine Bemühungen sie
Anlage und Umwelt 115
verfehlen oder treffen. Die vorbereitenden Stadien tragen also zum Verständnis des Vollendeten im Grunde nichts bei. So ähnlich erscheint unter vitalistischer Perspektive auch die Evolution der Organismen von vorn herein auf ein Endziel ausgerichtet – etwa darauf, im Menschen zu einem Bewusstsein ihrer selbst zu gelangen. Die darwinistische Selektionstheorie denkt da anders. Nirgendwo in der Artenvielfalt, die schließlich im homo sapiens gipfelte, steckte dieser bereits als Leitbild. Das Niedere gewinnt seinen Sinn nicht daraus, dass das Höhere aus ihm entsteht, sondern es bildet ein selbstständiges Ganzes; es hat seine eigene ökologische Nische und seine eigenen Wege, sich an diese anzupassen, in ihr zu gedeihen und Frucht zu tragen. Es dient nur als eine ergebnisoffene Ausgangsbasis für alles, was danach kommt; es stellt das Baumaterial bereit, das sich künftige Formen so einpassen müssen, dass es ihren eigenen Belangen dient. Auch diese Betrachtungsweise legt das Bild einer Schichtung nahe, ja sie fordert es geradezu, da sie seine ursprünglich geologische Bedeutung aufgreift. Im Unterschied zum vitalistischen Ansatz deutet sie die Sinngebung des Ganzen aber nicht, wie man heute sagt, „top down“, sondern „bottom up“: Der Wertebereich des Über-sichhinaus-Seins erscheint nun nicht mehr als metaphysische Sollvorgabe, um deretwillen die Stufen des Organischen durchschritten werden mussten, sondern als Ausläufer einer Druckwelle, von deren Epizentrum die immerwährende Nötigung ausgeht, in der jeweiligen Folgegeneration möglichst viele Repräsentanten der eigenen genetischen Ausstattung zu hinterlassen. Das läuft freilich auf die schier blasphemisch anmutende Konsequenz hinaus, den Fortpflanzungserfolg als ultima ratio auch der höheren und höchsten menschlichen Strebungen, einschließlich der Moral, in Anschlag zu bringen.
Anlage und Umwelt Die Angst um die Freiheit Um zu dieser These nüchtern Stellung beziehen zu können, sind einige klärende Worte zum sogenannten Anlage-Umwelt-Problem am Platz. Dieses Themengebiet ist nicht einfach zu durchschauen; es enthält Fallstricke, über die auch der Fachmann stolpern kann. Sie lassen sich aber vermeiden, wenn man sich die Mühe macht, das Problemfeld auszuleuchten, bevor man es betritt. Der Kampf gegen eine evolutionsbiologische Herleitung des menschlichen Sozialverhaltens wird heute vom linken Flügel des Moralismus angeführt. Dabei geht es nur vordergründig um die Abwehr einer drohende Subordination humaner Werte unter den „Egoismus der Gene“. Die eigentlichen Beweggründe liefert das in Kapitel 1 erörterte Freiheitsverständnis. Man beharrt darauf, den Menschen als ein Wesen zu begreifen, das mit unbegrenzten Optionen auf die Welt kommt, lebenslang zwischen diesen wählen kann und als falsch erkannte Wege jederzeit wieder zu korrigieren vermag.
116 Kapitel 6. Die Ultima ratio Sachargumente prallen an dieser Utopie ab. Wenn sie ihr widersprechen, wird das nicht als kognitives Problem, sondern als Kriegserklärung verstanden. Es geht dann nicht mehr um die Prüfung ihres Wahrheitsgehalts, sondern um Schadensbegrenzung durch diffamierende oder ironisierende Eindämmung ihrer Publikumswirksamkeit. Der Streit entzündet sich gegenwärtig vornehmlich auf zwei Schauplätzen. Einer davon ist die Frage der Geschlechtsunterschiede. Er wird hier unter dem Feldzeichen des Gender Mainstreaming geführt. Sind Frauen und Männer von Natur aus anders, wird man als Frau geboren oder erst nachträglich zu einer Frau gemacht? Das andere Thema sind die Rassenmerkmale. Als dem unseligen Thilo Sarrazin bei der Vorstellung seines skandalumwitterten Buches der Satz vom „jüdischen Gen“ entschlüpft war, brach ein Sturm der Entrüstung in der deutschen Presse aus, von Politikern aller Parteien ganz zu schweigen. Von „wirren“, „pseudowissenschaftlichen“ Thesen war da die Rede und von „idiotischen Ausflügen in die Biologie“. Wobei die Kritiker oft selbst von Biologie ebenso wenig verstanden wie der solcherart Gescholtene. Zwillingsuntersuchungen, so konnte man etwa im „Spiegel“1 lesen, hätten zwar tatsächlich genetische Einflüsse auf Intelligenzunterschiede ergeben. Diese Differenzierung hänge aber vom sozialen Status ab. Bei Kindern aus der Unterschicht ginge sie praktisch auf null zurück. Der Autor des Artikels bietet für diesen Effekt selbst einen treffenden Vergleich an: „Wenn man Saatkörner in einen schlechten Boden steckt, dann wird aus keinem von ihnen eine große Pflanze wachsen.“ Richtig. Wenn das Gleichnis aber Sinn ergeben soll, dann ist es dahingehend zu ergänzen, dass diese Samen unterschiedliches Erbgut enthalten und auf besserem Boden sehr wohl zu Pflanzen verschiedener Größe heranwachsen würden. Das wäre indessen eine unerwünschte Assoziation. Der Autor bevorzugt daher die Ausdrucksweise, bei den „ärmsten Zwillingen schien der IQ fast ausschließlich durch ihren sozioökonomischen Status bestimmt zu sein“. Wenn man nicht genau liest, klingt das so: Reichtum lässt Unterschiede entstehen, Armut bringt sie zum Verschwinden, entscheidend ist also allein das soziale Milieu und nicht die Gene! Um diese frohe Botschaft mit aktuellem Nachrichtenwert aufzuladen, behauptet der Autor auch gleich noch, die Intelligenzforscher hätten bis vor kurzem das Gegenteil geglaubt und gemeint, kognitive Fähigkeiten seien „biologisch verdrahtet und würden sich in nahezu jeder Umwelt ausprägen.“ Damit artikuliert er freilich eher den Stand seiner eigenen Problemsicht als den der Fachwelt.
Adaptation und Bedeutung Das hier zugrundeliegende Missverständnis lässt sich in die folgenden drei Teilaussagen gliedern: 1 Blech (2010)
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Erstens: Menschliche Eigenschaften zerfallen in zwei klar trennbare Klassen – solche, die sich reversibel verändern lassen und solche, bei denen jede Veränderung unmöglich ist. Zweitens: Menschliche Eigenschaften zerfallen in zwei klar trennbare Klassen – solche, die ausschließlich von der Umwelt geformt werden und solche, die ebenso ausschließlich genetisch bedingt sind. Drittens: Beide Zweiteilungen sind deckungsgleich – alles Reversible ist umweltbedingt und alles konstante ist genetisch bedingt.
Diese Thesen werden zwar kaum je explizit formuliert; sie schlummern aber als Enthymeme in den Köpfen der Meinungsmacher. Es gab freilich auch eine Zeit, in der auch Wissenschaftler so dachten; aber das ist schon ziemlich lange her. Kurz nach der Erfindung des Mikroskops entstanden beispielsweise Zeichnungen, die im väterlichen Samen bereits die Körperform des gezeugten Kindes erkennen wollten (Abbildung 6.4). Die Umwelt liefert dem heranwachsenden Organismus nach dieser Vorstellung lediglich die amorphe Stoffgrundlage, während seine Gestalt ein konkretes genetisches Leitbild nachzeichnet. Diese Position wird Präformismus genannt. Moralistische Biologiegegner gehen noch immer von dieser naiven Vorstellung aus und meinen sie beim Kontrahenten bekämpfen zu müssen. Wenn wir in diesen Wirrwarr Ordnung bringen wollen, müssen wir zunächst ein tragfähiges Begriffsinventar bereitstellen1. Ausgangspunkt und Grundlage ist dabei die biologische Zentralkategorie der Adaptation. Optimierung der Fitness heißt nichts anderes als Anpassung an die Umwelt, genauer: an jene Aspekte der Umwelt, die die Nachkommenzahl direkt oder indirekt beeinflussen, also Selektion treiben. Abbildung 6.4 PräforWelche Aspekte sind davon betroffen? Wenn man die alte aristotelische mismus: Erste Skizzen Unterscheidung von Stoff und Form zugrunde legt, so ist es die Form, die menschlicher Spermasich – wiederum einer Form – anpasst. Jede Anpassung ist eine Abbildung. tozoen nach Erfindung Freilich kein Faksimile, aber dennoch eine An-Formung derart, dass dabei des Mikroskops Struktureigenschaften miteinander korrespondieren. Die Körpergestalt des Delphins, pflegte Konrad Lorenz zu sagen, ist eine „Abbildung“ der hydrodynamischen Eigenschaften des Wassers, und ein wenig poetischer hat Goethe denselben Gedanken mit den Worten ausgedrückt: Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, Die Sonne könnt’ es nie erblicken. Auf dem Konzept der Anpassung baut ein weiteres unentbehrliches Begriffssystem auf, nämlich das der Semantik. Wenn immer eine Form A sich an eine Form B anpasst, setzt das eine Beziehung voraus, die sich in die Worte kleiden lässt, A habe B „erkannt“ oder „Information“ über B erhalten. Auch hier verdient ein Ausspruch von Lorenz vor dem Vergessen bewahrt zu werden; er nannte das Leben als Ganzes einen „erkenntnisgewinnenden Prozess“. 1 vgl. dazu genauer Bischof (1998, 2009)
118 Kapitel 6. Die Ultima ratio Um nun dem Anlage-Umwelt-Problem gerecht werden zu können, ist es unerlässlich, den jetzt folgenden Satz zu verstehen: Die Information, die organismische Strukturen für die Anpassung an ihre Umwelt benötigen, kann auf genau zwei Wegen in sie eingehen: Der eine ist der direkte Umgang mit dem Anpassungsobjekt und die dabei individuell gemachten Erfahrungen, der andere ist überindividuell und führt über den genetischen Code, die Erbinformation in der DNA.
Auch im letzteren Fall musste eine Art „Erfahrung“ vorangehen – die Selektionserfahrung im Laufe der Stammesgeschichte.
Alimentation Der Punkt, auf den es ankommt, ist dabei, dass hier nicht von zwei Kausalfaktoren, sondern von zwei Informationsflüssen die Rede ist. Bleiben wir zunächst beim genetischen Informationsfluss. Seine präformistische Deutung greift natürlich viel zu kurz. Der Genotyp, also die in der DNA kodierte Erbinformation, ist keine Schablone, in die nur noch amorphe Füllmasse einzugießen wäre; er programmiert vielmehr Randbedingungen, unter denen sich das organismische Material selbst organisiert. Der Phänotyp, die ausgeformte Struktur des Organismus, resultiert also aus einem komplizierten Zusammenwirken der katalytischen Aktivität der Gene und des Gestaltungspotentials, das die einverleibte Materie von sich aus mitbringt. Wenn wir sagen, der genetische Code führe dabei Regie, so heißt das: Er stellt die Weichen für die an der Ausreifung beteiligten Stoff- und Energieaustauschprozesse, und zwar so, dass sie einen Organismus aufbauen, der unter den Umweltbedingungen, in denen dieser Code einst entstanden ist, adaptiv war. Was die Kausalfaktoren betrifft, so haben wir bei dieser Selbstorganisation also zwei Gruppen zu unterscheiden: Da sind einmal die aus der Umwelt stammenden materiellen und energetischen Ressourcen, aus denen sich der Entwicklungsprozess bedienen muss. Wir wollen diese Komponente unter dem Sammelbegriff Alimentation zusammenfassen. Aber auch der genetische Code muss natürlich, um überhaupt Einfluss zu nehmen, ursächlich in das Geschehen eingreifen. Er ist jedoch zu schwach, um zum Aufbau des Organismus selbst Materie oder Energie beizusteuern. Er hat rein steuernde Funktion: Er stellt Weichen, öffnet und schließt Ventile, die dann den Ablauf der alimentativen Prozesse lenken. Alimentation wird heute vor allem unter der Etikette „Epigenetik“ beschrieben. Damit bezeichnet man das Wirkungsgefüge, in dem während der Ontogenese alimentative Faktoren einzelne Geneffekte fördern oder hemmen und so gemeinsam mit diesen die phänotypische Struktur gestalten.
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Wissenschaftsjournalisten aus der zweiten Riege empfinden das offensichtlich als Befreiung vom Joch präformistischen Denkens und feiern es als den endlich gelungenen Nachweis, dass die Umwelt eben doch „das Erbgut“ beeinflusse. Das ist ungefähr so, als würde man sagen, man habe ein Computerprogramm „beeinflusst“, wenn man es aufgerufen und die abgefragten Parameter eingegeben hat.
Der Ausdruck „Alimentation“ ist insofern etwas missverständlich, als er prototypisch an Umwelteinflüsse denken lässt, die zum Aufbau des Organismus einen förderlichen, also adaptiven Beitrag leisten. Tatsächlich sind die Prozesse, die wir unter diesem Begriff zusammenfassen, von sich aus aber ergebnisoffen. Sie können genauso gut auch Schädigung bedeuten, also etwa Unterernährung, Blindheit bei vorgeburtlicher RötelnInfektion der Mutter, verkümmerte Extremitäten als Contergan-Folge und überhaupt alle Infektion, Vergiftung, Verletzung oder Deprivation. Alimentativ sind Abbildung 6.5 Der Aufbau des Organismus einfach alle intra- und extrauterinen Umweltwirkun- (ORG) erfolgt durch Alimentation, die unter der semantischen Kontrolle des genetischen gen, die durch Material- und Energieaustausch den Codes abläuft. Dabei entstehen auch die genetischen Code in phänotypische Form umsetzen neuronalen Strukturen der Motivation (MOT), oder diese Form nachträglich verändern. die unter der semantischen Kontrolle der Die Zusammenhänge sind nicht ganz einfach zu Stimulation das Verhalten generieren. Die überblicken; wir wollen sie uns daher noch einmal dafür erforderliche Energie stellt der Organismus bereit, wobei alimentative Nebeneffekte an Hand von Abbildung 6.5 vor Augen führen. Für auftreten können (stimulative Alimentation). die Analyse alimentativer Prozesse taugen am besten Begriffe, die einer mechanischen Betrachtungsweise entstammen. Auch der genetische Code ist natürlich zunächst eine Angelegenheit der Biochemie; aber um ihn voll zu verstehen, können wir doch nicht auf eine intentionale Ausdrucksweise verzichten. Wir sagen beispielsweise, dass auf dem Y-Chromosom die „Anlage für die embryonale Ausbildung männlicher Gonaden“ sitze, beschreiben eine chemische Struktur also auf eine Weise, als handle es sich um einen Bauplan zur Ausbildung einer Form. Dabei schwingt immer die Vorstellung eines Leitbildes mit, wie sie für intentionale Interpretation typisch ist, obwohl es sich dabei nur um eine Redeweise handelt; denn die „Intention“, die hier zugrunde liegt, lässt sich natürlich nur metaphorisch aus der Selektion herleiten.
Stimulation Der Beitrag der Umwelt beschränkt sich nun aber nicht auf Stoffwechsel und Energiezufuhr. Der Organismus empfängt von außen auch Einwirkungen, die für sein Schicksal von höchster Relevanz sind, obwohl die transportierten Materialquantitäten so geringfügig und die auftretenden Kräfte so schwach sind, dass sie von sich aus gar keine alimentativen Effekte hervorrufen können. Solche Umwelteinflüsse nennen wir Stimulation.
120 Kapitel 6. Die Ultima ratio Sie ähneln dem genetischen Code insofern als auch sie, wenngleich in viel kürzerem Zeitmaßstab, Randbedingungen für den Ablauf organismischer Prozesse kontrollieren. Von sich aus könnten sie sich dem Körper gar nicht bemerkbar machen, hätte dieser nicht seinerseits besondere Ventil-Strukturen ausgebildet, die es ihm ermöglichen, sie zu detektieren und ihren Effekt zu verstärken. Stimulation baut nicht mit an der Morphologie, sondern greift auf deren Freiheitsgrade zu: Sie kontrolliert das Verhalten. Die hierfür erforderlichen materiellen und energetischen Ressourcen muss der Organismus selbst bereitstellen. Damit gelangen allerdings doch teilweise erhebliche Stoff- und Energieumsätze unter die Kontrolle der Stimulation, die auf diesem Weg indirekt auch alimentative Effekte freisetzen kann. Wir sprechen dann von stimulativer Alimentaton. Beispiele wären etwa die somatischen Auswirkungen von Psychostress, oder der Umstand, dass die zuverlässige emotionale Präsenz der Mutter sich als gedeihlich auch für die leibliche Entwicklung des Kindes erweist. Auch die Stimulation beschreiben wir in intentionaler Sprache. Sie informiert den Organismus über jene Umweltgegebenheiten, an die sich das Verhalten anpassen muss. Diese Information kann sie natürlich Abbildung 6.6 Unter den möglichen Verhalnur dann beisteuern, wenn sie mit anderen, alimentensmustern passt nur das weiß markierte zur Quelle der Stimulation. Dessen Wahl wird tativ und letztlich selektiv wirkenden Umweltfaktoentweder über den genetischen Code sicherren hinreichend hoch korreliert ist. gestellt oder von einer „angeborenen SchulAdaptation lässt sich mit der Passung eines meisterin“ kontrolliert, die den Erfolg der Wahl Schlüssels in ein Schloss vergleichen (Abbildung (affektiv) zu bewerten weiß 6.6). Das Verhalten ist der Schlüssel, das Schloss die Umwelt. Die Bandbreite physiologisch möglicher Verhaltensmuser ist einem Schlüsselbund vergleichbar, aus dem der Organismus eine Auswahl treffen muss. Dies kann prinzipiell auf einem von zwei Wegen geschehen. Auswahl heißt auf lateinisch Selektion; und in der Tat kann der evolutionär entstandene genetische Code das alimentative Wachstum neuronaler Reiz-Reaktionskanäle von vornherein so steuern, dass nur ein einziger, und zwar der passende Schlüssel ausgebildet wird. In diesem Fall nennen wir nicht etwa das Verhalten selbst, wohl aber dessen Angepasstheit „angeboren“. Die andere Möglichkeit ist die, dass die Natur dem Organismus nur einen Satz Rohlinge mitgegeben hat, die er sich selbst zurechtfeilen muss. Dann bleibt ihm nichts anderes übrig, als verschiedene Passformen herzustellen und einzeln durchzuprobieren, bis die richtige gefunden ist. In diesem Fall sprechen wir von einer „erlernten“ Anpassung. Hier wird die Information über das Schloss auf dem Wege der Stimulation erworben. Der genetische Code ist allerdings gleichwohl gefordert. Der Organismus braucht zwar kein Wissen mitzubringen, wie das Schloss beschaffen ist, aber er muss merken, wenn der zufällig gewählte Schlüssel passt. Er muss – angeborenermaßen! –
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die Effekte seines Verhaltens als zuträglich oder unzuträglich bewerten können. Auch Lernen also bedarf, wie man in der Ethologie zu sagen pflegte, einer innate schoolmarm, einer angeborenen Lehrerin, die Lust und Schmerz so zu verteilen weiß, dass sich die adaptive Reiz-Reaktions-Koppelung verfestigt. Die angestellten Überlegungen lassen erkennen, wie unzureichend die auf Seite 117 tabellarisch erfassten Denkvoraussetzungen sind. Die Subtilität des Gegenstandsfeldes fordert eine weit differenziertere Terminologie. In dieser lässt sich das Wesentliche etwa wie folgt auf den Punkt bringen: Die Wechselwirkung von Alimentation und genetischer Katalyse erfordert eine mechanische Beschreibung. Es ist unmöglich, den quantitativen Anteil beider Komponenten beim Aufbau des Organismus auseinander zu dividieren. Die Wechselwirkung von Stimulation und genetischem Code erfordert eine intentionale Beschreibung. Es ist prinzipiell möglich, die Beiträge beider Komponenten zur Adaptivität des Organismus zu trennen. Wenn eine Adaptation auf genetischer Information beruht, so schließt das prinzipiell nicht aus, dass sie durch individuelle Erfahrung, also unter Nutzung stimulativer Information, korrigierbar bleibt. Allerdings ist damit zu rechnen, dass die Korrektur auf affektiven Widerstand stößt und nur unter Energieaufwand gelingt.
Unausweichliche Folgerungen Was ergibt sich aus dieser Abklärung nun für die Phylogenese der Moral? Klar ist zunächst einmal, dass alimentative Effekte für das Thema irrelevant sind. Mag immerhin frühkindliche Verwahrlosung moralische Defizite verursachen so wie schlechter Boden das Größenwachstum von Pflanzen kümmern lässt, zur eigentlich entscheidenden Frage trägt das nichts bei. Bei dieser geht es darum, worin der adaptive Sinn der Moral besteht und ob er anerzogen werden muss oder nicht. Falls moralisches Verhalten ein Sozialisationsprodukt ist, gibt seine Funktion kein Rätsel auf; sie liegt dann im gesellschaftlichen Nutzen. Kritischer wird es indessen, wenn wir annehmen, dass Moral im genetischen Bauplan des Menschen angelegt ist. Dann stehen wir nämlich vor zwei Schwierigkeiten. Die eine davon betrifft interindividuelle Differenzen. Wäre Moral Erziehungssache, dann verstünde sich von selbst, dass Volksgruppen ihre Umgangsformen nach unterschiedlichen Traditionen regeln. Erfolgt die Adaptation aber genetisch, sind wir sehr bald bei der Frage des „Nationalcharakters“ und damit in der Gefahrenzone des Rassismus. Hier liegt der Sprengstoff von Sarrazins „jüdischem Gen“. Wir stellen dieses Themas vorerst zurück, werden im vierten Teil des Buches aber darauf zurückkommen. Die zweite Schwierigkeit liegt darin, dass bei einer genetischen Argumentation kein Weg daran vorbeiführt, die Funktion der Moral letzten Endes auf den Fortpflanzungs-
122 Kapitel 6. Die Ultima ratio vorteil zurückzuführen. Der emotionale Widerstand angesichts dieser Konsequenz ist schier unüberwindbar. Er entstammt der Bequemlichkeit unseres Denkens, das die auf Seite 35 erörterte Unterscheidung von Zielstrebigkeit und Zweckmäßigkeit übersieht. Selbstverständlich ist die Optimierung von Reproduktionsvorteilen nicht das Ziel irgendwelcher moralischen Impulse. Sie ist der Endzustand, in dem die Selektion zur Ruhe kommt – nicht weniger und nicht mehr. Als erstrebenswertes Ziel wird nur erlebt, was über Stimulation rückgemeldet wird. Wenn diese Rückmeldungen uns als eigenständige, unhinterfragbare Werte erscheinen, so widerspricht das keineswegs dem auf ganz anderer Ebene angesiedelten Gedanken, dass die Selektion vorzugsweise jenen, die sich von diesen Werten attrahiert fühlten, die Fortpflanzung gestattet hat. Wenn die innate school marm ein Verhalten in irgendeinem Farbton aus der reichen Palette positiver Gefühle belohnt, mit der die Natur sie ausgestattet hat, so braucht sie also nicht weiterzuerzählen oder auch nur selbst zu wissen, dass sie dabei letztlich am Fortpflanzungserfolg geerdet bleibt, dessen Gravitation, der unsichtbaren Sogwirkung eines Schwarzes Loches vergleichbar, aller organischen Funktionalität zugrunde liegt.
Das Eleusische Fest Kopernikus, immerhin Richard Dawkins, der ursprünglich, bevor er in die degoutanten Peinlichkeiten eines missionarischen Atheismus abglitt, ein kreativ und punktgenau argumentierender Interpret des Neodarwinismus gewesen ist, hat dessen Grundeinsicht wie folgt veranschaulicht:1 Jedes heut lebende Individuum kann folgendes aussagen: Nicht ein einziger meiner Vorfahren fiel einem Räuber oder einem Virus zu Opfer oder starb wegen eines fehlkalkulierten Tritts an einen Abgrund oder eines falsch eingeschätzten Griffs auf einem hohen Baumast, bevor er oder sie nicht wenigstens einen Nachkommen gezeugt oder geboren hatte. Nicht ein einziger meiner Ahnen war zu unattraktiv, um nicht wenigstens einen Paarungspartner zu finden; noch war er als Elternteil zu egoistisch, um nicht wenigstens ein Kind zu ernähren, bis es selbständig war. Tausende von Zeitgenossen meiner Vorfahren versagten in allen diesen Hinsichten, aber nicht ein einziger meiner Vorfahren versagte. Da alle lebenden Organismen ihre Gene von ihren Vorfahren geerbt haben und nicht von deren erfolglosen Zeitgenossen, besitzen alle lebenden Organismen überwiegend erfolgreiche Gene.
Sobald man diesen Gedankengang einmal verstanden hat, kann man sich seiner Stringenz gar nicht mehr entziehen. Aber wir sollten nicht das Trotzpotential hilflosen Fühldenkens unterschätzen, dem einzusehen zugemutet wird, dass schlechterdings alles, was wir kraft unserer artgemäßen Ausstattung tun und anstreben, einschließlich dessen, worin wir uns von Tieren unterscheiden, dem formschaffenden Regime der Selektion 1 Dawkins (1988)
Das Eleusische Fest 123
unterstellt sei – auch die Impulse des „Über sich hinaus Seins“ im edelsten Sinn, auch Wertebereiche wie Selbstverwirklichung, Religion, Kunst und nicht zuletzt Moral. Im Darwin-Jahr 2009 konnte man in der Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung einen Essay lesen, dessen Verfasser gegenwärtig das gelbe Trikot des deutscher Wissenschaftsjournalismus beansprucht.1 Der Autor stellt Darwin als einen gutmütigen Trottel dar, der seine eigenen Ideen nicht begriffen hat, dem aber immerhin alle die kinderleicht ad absurdum zu führenden Konsequenzen ferngelegen hätten, die die Ignoranten von der Royal Society dann in gründlichem Missverständnis seiner Anliegen daraus gezogen haben. Da heißt es etwa: Was würde Darwin wohl über diejenigen denken, die sich heute mit schrägen Thesen auf ihn berufen? Würde er einen Mann wie Richard Dawkins mögen, der sich heute als Stellvertreter Darwins auf Erden sieht? Und würde er eine Wissenschaft wie die sogenannte evolutionäre Psychologie schätzen, die all unser Sozialverhalten auf steinzeitliche biologische Prägungen zurückführt? … Gewiss hätte Darwin es nicht geschätzt, dass er heute ein zweites Mal von den Ökonomen unterwandert wird, die die Evolution und das Sozialverhalten des Menschen allein nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip ausgerichtet sehen: Moral sei verkappter Egoismus, Sex eine Investition in den Nachwuchs und Liebe ein Bindungskalkül. Robert Trivers, David Buss, Stephen Pinker und der genannte Richard Dawkins vertreten heute solche Ideen. Sie rufen „Darwin!“, aber in Wahrheit meinen sie nur sich.
Es entbehrt nicht der Pikanterie, wenn ausgerechnet Precht an Autoren, auf deren Kosten er sich zu profilieren gedenkt, den Hang zu eitler Selbstvermarktung wahrnimmt. Was soll man dann aber von seiner eigenen Überzeugung halten, der zufolge endlich der klärende Durchblick eines gelernten Germanisten gefordert sei, die banalen Missverständnisse der im Dunkeln tappenden Fachwelt zurechtzurücken? Hätte Dawkins recht, so setzten sich überall im Tierreich und beim Menschen langfristig immer die besten Gene durch. Wie aber konnte es dann geschehen, dass offensichtlich immer wieder Lebewesen entstanden und überlebten, die ihre Möglichkeiten zur Reproduktion nicht voll ausschöpfen? Haben meine Gene eine FehIzündung, wenn ich darauf verzichte, jedes attraktive Weibchen zu begatten, oder wenn ein Weibchen darauf verzichtet, die maximale Anzahl an Kindern zu gebären?
Die intellektuelle Armseligkeit solcher Fragen lernen Biologiestudenten in ihren Anfangssemestern zu durchschauen. Das gilt auch für ein Thema, das in unserer weiteren Diskussion noch eine zentrale Rolle spielen wird und bei Precht besonders schlecht wegkommt. Es betrifft das in der Evolutionsbiologie inzwischen fest verankerte Prinzip, dass eine genetisch fundierte Verhaltensdisposition, die die Fortpflanzungs-Chancen anderer auf Kosten der eigenen fördert, dann nicht ausstirbt, wenn die Nutznießer nahe Verwandte sind, da diese wahrscheinlich auch ihrerseits Träger eben jenes Erbgutes sind, das zu dem betreffenden Verhalten geneigt macht. Wir werden uns mit diesem Thema erst in Kapitel 10 beschäftigen; mag hier zunächst also nur stehen, was Precht darüber zu sagen weiß. 1 Precht (2009)
124 Kapitel 6. Die Ultima ratio
Eine Karikatur der Darwinschen Sicht ist bereits die von Dawkins gefeierte Idee der „Gesamtfitness“ des einflussreichen Biologen William Hamilton. … In Wahrheit ist die Idee der Gesamtfitness die Kopfgeburt eines Biologen, der an einer Wirtschaftsuniversität promovierte. Denn Verwandtschaftsbeziehungen spielen nur bei vergleichsweise wenigen Arten eine Rolle. Würmer, Käfer, Karpfen und Laubfrösche kennen keine Verwandten. Sie betreiben keine Brutpflege. Im Angesicht ihrer nahen Angehörigen regt sich nichts. Adlerküken stoßen jüngere Geschwister aus dem Nest, Krokodilmännchen fressen ihre Jungen, weil sie sie nicht als ihren Nachwuchs erkennen. Verwandtschaftliche Beziehungen, wie bei Elefanten oder Menschenaffen, sind eher die Ausnahme.
Die Ignoranz, deren es bedarf, um aus angelesenem Flachwissen solche Argumente zu klittern, mag es zu ihrem Selbstschutz wohl nötig gehabt haben, unter die Gürtellinie zu zielen und Hamilton, der mit Leib und Seele Biologe war, als Studenten einer „Wirtschaftsuniversität“ vorzuführen. Dass der akademische Werdegang von Herrn Precht mit weit mehr Berechtigung Zweifel an seiner naturkundlichen Fachkompetenz nährt, wird spätestens dann deutlich, wenn er seinen eigenen Gegenvorschlag zur Selektionstheorie unterbreitet: Darwins Evolutionstheorie … ist keine Bauanleitung für Theorien zur Erklärung der menschlichen Natur. Viele Details sind erschreckend unklar. Dass sich zum Beispiel in der Evolution tatsächlich immer die fittesten durchsetzen, kann man bezweifeln. Sind es nicht eher die glücklichsten? Man mag das stärkste Männchen auf dem Pavianfelsen sein, es nützt einem nichts, wenn ein Erdbeben einen tötet. Und wie der Zufall es will, überlebt ausgerechnet ein feiges Mickermännchen. Survival of the fittest? Nicht doch eher: Survival of the luckiest?
Hierzu erübrigt sich wohl wirklich jeder Kommentar. Dass für den Autor „viele Details erschreckend unklar“ sind, glaubt man nach diesen Einlassungen gern. Bescheiden wir uns also damit, dass es doch immerhin als Triumph der Aufklärung zu werten ist, wenn man sich wenigstens darauf einigen kann, dass Planeten um die Sonne kreisen und nicht um die Erde. Oder haben wir demnächst auch noch zu Kopernikus klärende Worte irgendeines Traiteurs bundesdeutscher Halbbildung zu gewärtigen?
Die Segnungen der Ceres Was dergleichen Argumente trotz ihres undiskutablen Niveaus interessant macht, ist die Siegesgewissheit, mit der sie vorgetragen werden. Denn diese verweist auf geistesgeschichtlich über lange Zeiträume gewachsene und gefestigte Denkmuster. Werfen wir also einen Blick zurück auf die Zeit, in der die Ideenwelt der Moderne zu sich selbst erwachte. Im Jahre 1799 veröffentlichte Friedrich Schiller im Musen-Almanach einen Preisgesang, den der Autor ursprünglich mit „Bürgerlied“ betitelte und später in „Das Eleusische Fest“ umbenannte. Sein Thema ist die Läuterung der barbarischen Naturmenschheit zur Humanität. Dieser Prozess erschien Schiller derart einschneidend, dass er ihn in die Allegorie eines himmlischen Eingriffs kleidete.
Das Eleusische Fest 125
Einem griechischen Mythos zufolge hatte sich einst die Göttin Ceres auf der irdischen Suche nach ihrer verlorenen Tochter nach Eleusis verirrt, wo ihr nach Lüftung ihres Inkognitos ein Tempel errichtet wurde. Zur Erinnerung an ihren Einzug in ihr Heiligtum wurden die Eleusischen Feste gefeiert, und Schillers Gedicht ist eine Hymne zu diesem Anlass. Er kennzeichnet Ceres als die Bezähmerin wilder Sitten, die den Menschen zum Menschen gesellt und in friedliche feste Hütten wandelte das bewegliche Zelt. Den vorherigen Naturzustand beschreibt der Dichter mit den Worten Scheu in des Gebirges Klüften barg der Troglodyte sich, der Nomade ließ die Triften wüste liegen, wo er strich, mit dem Wurfspieß, mit dem Bogen schritt der Jäger durch das Land, weh dem Fremdling, den die Wogen warfen an den Unglücksstrand! Es gab auch schon eine Art Religion, aber von einer Art, wie sich Bürgersinn eben den Naturzustand vorstellt: Keines Tempels heitre Säule zeuget, dass man Götter ehrt. … Nur auf grässlichen Altären dorret menschliches Gebein. Ceres gerät denn auch, als sie sich zu erkennen gibt, zunächst in eine widerliche Szene: Schwelgend bei dem Siegesmahle findet sie die rohe Schar, und die blutgefüllte Schale bringt man ihr zum Opfer dar. Sie sieht ein, dass da etwas geschehen muss; denn diese „elend“ und „heimatlos“ vegetierenden Wilden ähneln so gar nicht dem Ideal, das sich die Olympier einst erdacht hatten. Also macht sie sich ans Werk: „Dass der Mensch zum Menschen werde“, lehrt sie ihn, Schwerter in Pflugscharen umzuschmieden, mit durchschlagendem Erfolg: Und mit grünen Halmen schmücket sich der Boden alsobald, und so weit das Auge blicket, wogt es wie ein goldner Wald.
126 Kapitel 6. Die Ultima ratio Zeus segnet diesen Triumph der Monokultur mit einem Blitz aus heiterem Himmel, Und gerührt zu der Herrscherin Füßen Stürzt sich der Menge freudig Gewühl, Und die rohen Seelen zerfließen In der Menschlichkeit erstem Gefühl, Werfen von sich die blutige Wehre, Öffnen den düstergebundenen Sinn Und empfangen die göttliche Lehre Aus dem Munde der Königin. Ein zeitgenössischer Maler hat die Szene illustriert (Abbildung 6.7).
Abbildung 6.7 Illustration von Johann Martin Wagner (1817) zur 25. Strophe von Schillers „Bürgerlied“
Nachdem somit der Übergang zur Sesshaftigkeit vollzogen ist, halten alsbald auch Gesittung und Lebensart Einzug, und mit ihnen Handwerk, Kunst und Wissenschaft. Alle kommen, alle legen Hände an, der Jubel schallt, und von ihrer Äxte Schlägen krachend stürzt der Fichtenwald. Die jeweils zuständigen Götter steigen vom Olymp herab und bescheren den Menschen die Segnungen der Zivilisation: Thermis bringt das Recht des Grundbesitzes als Basis gesellschaftlicher Ordnung, Vulkan sorgt für die Industrialisierung, Minerva gebietet, Flüsse zu begradigen und im Interesse gut nachbarschaftlicher Verhältnisse Zäune zu ziehen, Apoll sorgt für den Einzug der schönen Künste. So wachsen Städte heran, Tempel werden erbaut, Hera stiftet die Monogamie und Ceres krönt das alles mit einem vielzitierten Segensspruch, in dem wiederum das trialistische Schema anklingt, diesmal im Bild des Menschen als Mittler zwischen erdverhafteter Kreatürlichkeit und geistiger Überwelt (Abbildung 6.8): Freiheit liebt das Tier der Wüste, Frei im Äther herrscht der Gott, Ihrer Brust gewaltge Lüste Zähmet das Naturgebot;
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Doch der Mensch, in ihrer Mitte, Soll sich an den Menschen reihn, Und allein durch seine Sitte Kann er frei und mächtig sein. Die dissonante Metaphorik der Verse ist schwer zu deuten. Der Gott ist frei, nun gut, das verstehen wir. Aber welchem „Naturgebot“ soll er gleichwohl unterworfen sein? Und was ist umgekehrt mit der „Freiheit des Tieres“ gemeint? Literaturhistoriker pflegen diese Passage als Umschreibung blanker Zügellosigkeit zu lesen; aber dazu passt nicht der Hinweis auf das natürliche Regulativ, das auch in der animalischen Seinssphäre die „gewaltigen Lüste“ zähmen soll. Gemeint ist wohl, dass sowohl das reine Geistwesen als auch die instinktgeleitete Kreatur aus sich selbst heraus im Lot sind und daher in vollendeter Individuation existieren. Was immer sie tun und lassen, folgt harmonisch aus innerer Notwendigkeit und lässt somit kein Gefühl der Unfreiheit aufkommen. Beide ruhen je für sich in inkommensurablen Welten. Der Mensch aber steht zwischen diesen Welten und ist daher vom Wesen her instabil. Als Individuum sich selbst überlassen, frönt er „wilden Sitten“ und erschöpft sich in einem Kampf aller gegen alle. Daher bedarf er der externen Ergänzung; seine Balance ist nur herstellbar, indem man „den Menschen zum Menschen gesellt“.
Gesellschaft als Übernatur
Abbildung 6.8 Die trialistische Anthropologie im Preislied Schillers
Auf Seite 114 haben wir die Problematik des Bildes vom „über sich hinaus Sein“ angesprochen, in dem Lersch die soziale Orientierung als spezifisch menschlich deutet und mit den geistigen Bedürfnissen zu einer Einheit verschmilzt. Wir erkennen hierin eine Parallele zu Schillers „Bürgerlied“. Der Dichter lässt eine Göttin vom Himmel steigen, um den Menschen zum Menschen zu machen; aber das Heilmittel, durch das sie das Wunder vollbringt, ist die Vergesellschaftung. Beide Prozesse, das himmlische Machtwort und der soziale Zusammenschluss, wecken offenbar auf verwandte Weise die Vorstellung eines die Natur transzendierenden Eingriffs. In den Kulturwissenschaften hat diese Assoziation dazu geführt, dass sich der Olymp schließlich vollends zur Gesellschaft konkretisierte und aus der göttlichen Segnung die Sozialisation wurde. Für den anderen, unteren Pol des trialistischen Schemas, für den sich zunehmend die Etikette „biologisch“ einbürgerte, blieb dabei nichts Wertvolles mehr übrig. Dieser Begriff meinte dann nicht mehr die Tiernatur in der paradiesischen Unschuld, die ihr der Spruch der Ceres immerhin zubilligt, er reduzierte sich vielmehr auf den unerlösten, sittenlosen Urzustand des kulturlosen Troglodyten. „Biologie“ wurde zur semantischen Antithese nicht nur der Moral, sondern auch der sozialen Bezogenheit überhaupt.
128 Kapitel 6. Die Ultima ratio Aus solchen Vorstellungen schöpft auch noch die Diskurstheorie ihre intuitive Suggestivkraft. Wie erinnerlich, gilt für sie als ausgemacht, dass wahre Menschlichkeit in der unteren, auch „naturwüchsig“ genannten Hemisphäre nicht zu verorten ist; dort träfe man ja nur auf das isolierte Individuum mit dem, was man seit Hobbes seiner Wolfsnatur zurechnet. Eigentlich human geht es aus solcher Sicht nur am oberen Pol zu, in der Welt der „Argumentation überhaupt“, in der der für soziale Verfassung prototypische Akt der Kommunikation selbst schon eine moralische Potenz hat.
Konsequent durchhalten lässt sich dieser Denkansatz freilich nur, wenn man sich eine theologische Hintertür offenhält. Dem Dichter lässt man eine Ceres ex machina als Allegorie durchgehen, den aufgeklärten Gesellschaftswissenschaften aber nicht. Das ist das Dilemma der Moderne: Der Mensch hat den übernatürlichen Adelsbrief zerrissen, will aber gleichwohl FreiKULTUR herr bleiben, und das erfordert eine Kampfansage an die Biologie, die ihn einem „Naturgesetz“ zu unterwerfen droht. Entsprechend schwer fällt es dann freilich, dem gesellschaftlichen Pol, von dem die Gegenkräfte ausgehen sollen, die Unabhängigkeit und damit die Kraft zu garantieren, den Menschen in seiner schwebenden Mittelstellung zu halten. Denn hier kommt man nicht so leicht um das überaus ärgerliche, aber zähneknirschend hinzunehmende Faktum der Evolution herum. Diese erdet die NATUR Conditio Humana wie mit Bleiplatten, und das trialistische Schema droht zusammenzubrechen, weil der Mensch auf die Abbildung 6.9 Der befürchtete Werteabbau durch die Ebene der Biologie herabgezogen wird (Abbildung 6.9). „Reduktion“ von Kultur auf Hier stehen nicht nur Sachfragen zur Debatte; es geht auch Natur in der Evolutionstheorie ganz handfest um Standespolitik. So meint etwa Paul Baltes, der als eine Art Doyen der deutschen Psychologie erheblichen wissenschaftspolitischen Einfluss ausgeübt hat:1 Es wäre für die Psychologie als die Wissenschaft vom Verhalten und Erleben des Menschen ein massiver Kunstfehler, wenn sie ihren Gegenstand primär von den Biowissenschaften behandeln ließe.1
Der Autor warnt unverblümt vor der „Hegemonie einiger weniger Wissenschaftszweige“, mahnt die „kulturelle Suche nach der Befreiung von biologischen Determinierungen“ an und propagiert ein „kulturbasiertes Neutralisieren, Kompensieren und Überlisten der Evolution“. Angesichts so starker Worte stellt sich unwillkürlich die Assoziation an Faust ein, der es an der Zeit fand, den Erdgeist herauszufordern (Abbildung 6.10). In der Tat: Was Goethe, freilich in zutiefst vitalistischer Überzeugung, als den Erdgeist einführt, ist nichts anderes als das Urbild der Kräfte, die wir heute zur Evolution entmystifiziert haben:
1 Baltes (1999)
Das Eleusische Fest 129
In Lebensfluten, im Tatensturm Wall ich auf und ab, webe hin und her! Geburt und Grab, ein ewiges Meer, Ein wechselnd Weben, ein glühend Leben, So schaff ich am sausenden Webstuhl der Zeit, Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid. Faust graute allerdings wenigstens noch vor der Elementargewalt, die er da beschworen hatte. Baltes lädt seine Leser aber nur leichtfüßig ein, sich von ihren jeweiligen Spezialgebieten zu distanzieren und „eher wie ein gebildeter Bürger“ zu denken. Für den sei nämlich ganz „trivial“, dass „das zivilisatorisch Menschlichste am Menschen“ allemal „das Geistige und Kulturelle“ sei, dem die „Vollendung des evolutionär Unvollendeten“ obliege, während „die durch die biologische Evolution entstandenen und im Genom ihren Niederschlag gefundenen (sic!) Selektionsgewinne eine lange Zeit zurückliegen,“ und sich inzwischen zunehmend als Fortschrittshemmnis erwiesen. Man darf die grammatische Unbeholfenheit hier getrost als Indikator der gedanklichen Substanz werten. Auf die kommt es aber auch gar nicht an. Seit Windelband und Dilthey es so erfolgreich unternommen haben, die angestammten Privilegien der Philosophie und ihrer als legitim anerkannten Tochterdisziplinen gegen den zunehmenden Vorwitz naturwissenschaftlicher Parvenus zu verteidigen, Abbildung 6.10 Faust und Erdgeist. wollen sich die Geisteswissenschaften, denen zuvor niemand Originalzeichnung von J. W. von die Zeichnungsvollmacht in Entscheidungen über den Men- Goethe schen streitig gemacht hatte, nicht auf einmal „fundiert“ und daher abhängig fühlen müssen von einer obskuren Kollegenschaft, die nur etwas von Ratten, Gänsen, Ameisen und allenfalls noch Affen weiß. Um deren Argumenten kritisch standzuhalten, ja um sie auch nur nachvollziehen zu können, fehlt indessen der Sachverstand. Also muss man versuchen, die Kompetenz, die man nicht hat, entbehrlich erscheinen zu lassen. Das gestaltete sich freilich im Laufe der Zeit immer schwieriger. Inzwischen ist nicht einmal mehr die via regia der Achtundsechziger gangbar, die die Biologie pauschal als „faschistisch“ an den Pranger stellen und dann politisch korrekt ignorieren konnten. Am ehesten verfängt heute noch der Appell an das Bedürfnis, die Urerfahrung der menschlichen Freiheit zu verteidigen. Dabei komponiert man das Gegensatzpaar „Natur“ und „Kultur“ in den dreidimensionalen Bedeutungsraum der Abbildung 5.5 hinein, wobei der Natur unter Rückgriff auf das Weltbild der klassischen Physik mit der mechanischen Kausalität auch die Qualitäten deterministisch und abhängig zugewiesen werden, während die Kultur sich nicht nur die intentionale Hemisphäre vorbehält, sondern diese
130 Kapitel 6. Die Ultima ratio gleich noch mit Freiheit und Spontaneität identifiziert (Abbildung 6.11). Diese Konstruktion taugt freilich schon deshalb nicht viel, weil die Polarität von intentional und mechanisch gar nicht einander ausschließende Seinsbereiche, sondern lediglich komplementäre Betrachtungsweisen anspricht. Die eigentliche Tücke liegt aber in der Reduktion der drei Achsen auf eine einzige. Wer einen evolutionären Zugang zum Menschen sucht, muss sich dann nämlich auch vorhalten lassen, er würde Edelwerte wahrer Menschlichkeit leugnen oder doch zumindest aus dem Blick verlieren. Es mag Naturwissenschaftler geben, die da mitspielen und sich in der ihnen zugewiesenen Banalität sogar gern wiedererkennen; aber die Sachlage ist nun einmal komplizierter.
Evolution und Historie
Abbildung 6.11 Das Kausalitätsverständnis der Kulturwissenschaften: Die Komplementarität von intentionaler und mechanischer Betrachtungsweise wird als Gegensatzpaar zweier Seinsbereiche gedeutet, wobei sich die drei Achsen der Kausalität auf eine einzige reduzieren
Die „erste“ und die „zweite“ Natur Eine nicht zu unterschätzende Barriere, die den Dialog zwischen der evolutionären Anthropologie und der kulturwissenschaftlichen Gegenposition behindert, ist der Umstand, dass die letztere einen privilegierten Zugang zur Zeitdimension für sich reklamiert. Das wird bereits an Schillers Gedicht erkennbar: Während sowohl der göttliche als auch der tierische Pol des trialistischen Feldes als stationäre Seinsentwürfe angelegt sind, muss der Mensch erst zum Menschen werden. Dabei denkt der Dichter aber nicht etwa an den Aufstieg von einer animalischen zu einer geistigen Stufe, sondern an die Verwandlung einer isolierten in eine soziale Existenzform: Der Prozess verläuft in der Raumsymbolik von Abbildung 6.3 nicht vertikal, sondern horizontal. Beide Deutungen laden die Zeitachse mit anderen Qualitäten auf. Sozialwissenschaftler haben an dieser Idee Gefallen gefunden; sie verwenden für ihr Entwicklungskonzept einen ausdrücklich von Evolution unterschiedenen Terminus und sprechen von Historie. Ihr Bestreben ist dann darauf gerichtet, die Relevanz des Evolutionsgedanken für das Verständnis der Menschwerdung zugunsten einer „historisch“ genannten Deutung in den Hintergrund zu drängen. Dies kann auf verschiedenen Argumentationslinien erfolgen. Am wenigsten befriedigt ein Denkansatz, der sich die enge Legierung der Bedeutungsfelder von „natürlich“ und „ursprünglich“ zunutze macht. Sie verleiht der Rede von der Natur einen Doppelsinn: Einerseits verweist Ursprünglichkeit zwar auf genetische Verwurzelung, womit die unerwünschte Assoziation tierischer Instinktsteuerung geweckt und das Schreckgespenst der angeborenen Determination beschworen wird.
Evolution und Historie 131
Zum anderen kann das Wort aber auch gerade umgekehrt als subjektiv erlebte Spontaneität verstanden werden. Aus dieser Perspektive gewinnt das „Natürliche“ die Bedeutung des in müheloser Anmut und innerer Selbstverständlichkeit glatt von der Hand Gehenden – im Unterschied zu allem, was aus bewusster Absicht stammt und angestrengter Aufmerksamkeit bedarf. Tatsächlich können nun Vollzüge, die überhaupt nicht zur Natur im erstgenannten, „biologischen“ Sinn gehören, die vielmehr zunächst einmal unter den wachsamen Augen der Mitwelt mühevoll erlernt werden mussten, im Laufe der Zeit so weitgehend aus bewusster Kontrolle entlassen werden, dass sie schließlich in jenem zweiten Sinn „natürlich“ ablaufen. Ein Prozess dieser Art stellt sich beispielsweise beim Künstler ein. Man sagt dann wohl auch, das Violinspiel, oder was es eben ist, sei ihm zur „zweiten Natur“ geworden. Die Rede von den zwei Naturen lässt sich nun trefflich benutzen, um den anthropologischen Anspruch der Biologie auszuhebeln. Wenn man bereit ist, rechtzeitig mit dem Weiterdenken aufzuhören, kostet es nicht mehr viel Aufwand, den Tatbestand, dass unter dem Einfluss von Gewohnheit „künstliche“ zu „natürlichen“ Bewegungsvollzügen werden können, in dem Sinne umzudeuten, dass auch das meiste von dem, was auf den ersten Blick wie ererbte Ausstattung erscheint, eigentlich das in Fleisch und Blut übergegangene Ergebnis einer Jahrtausende währenden Sozialisation sei. Das ganze leidige Anlage-Umwelt-Problem erledigt sich dann dadurch von selbst, dass alles „Biologische“ beim Menschen im Grunde ohnehin schon Kultur ist und damit dem Zuständigkeitsbereich der Sozialwissenschaften einverleibt werden kann. Der Reduktionismus lässt sich so geradezu umpolen. In diesem Sinne lesen wir etwa bei Adorno1 „Es ist in Wahrheit die zweite Natur die erste“. Evolution und Historie werden hier mit dem nie versagenden Kunstgriff der „Dialektik“ zu einer logischen Chimäre amalgamiert. Es komme, so heißt es dann, einerseits darauf an, das geschichtliche Sein in seiner äußersten geschichtlichen Bestimmtheit, da, wo es am geschichtlichsten ist, selber als ein naturhaftes Sein zu begreifen,
andererseits aber auch, die Natur da, wo sie als Natur scheinbar am tiefsten in sich verharrt, zu begreifen als ein geschichtliches Sein.
Im Hasch-Dunst der Achtundsechziger Jahre konnte man sich an solcher Lyrik berauschen.
Die Umpolung der Adaptation Während die eben skizzierte Argumentationslinie schon bei Ausleuchtung der verwendeten Begriffe ihre seriöse Interpretierbarkeit einbüßt, hat eine zweite immerhin einen 1 zit. n. Jütttemann (1988) p. 520
132 Kapitel 6. Die Ultima ratio gewissen empirischen Gehalt. Sie macht geltend, dass der natürliche Artenwandel eine vom Menschen unabhängige Umwelt voraussetzt. Der Mensch aber schaffe sich seine Umwelt selbst und habe damit als „erster Freigelassener der Schöpfung“ die Kontrolle über seine eigene Evolution in die Hand genommen. Wir haben es hier mit einem nicht aus den Charts zu vertreibenden Evergreen zu tun. Die Grundmelodie ist so simpel wie eingängig: Evolution und Historie, auch als „Naturgeschichte“ und „Zivilisierungsgeschichte“ apostrophiert, verlaufen auf unterschiedlichem Niveau. Die letztere ist für den „nicht-biologischen Ursprung des Psychischen“1 verantwortlich und somit als ReinkarNATUR nation des alttestamentlichen Gottes erkennbar, der einst dem Abbildung 6.12 Der Prozess der Adam die Seele einhauchte. kulturellen Selbsterschaffung, Man könnte zwar meinen, für die Autonomie des Individuums die den Menschen der Natur entreißt sei noch nicht viel gewonnen, wenn die kreatürliche Abhängigkeit von einem Schöpfergott nur gegen die von einer „Gesellschaft“ eingetauscht werde. Aber so dagegen zu halten hieße die dialektischen Sprunggelenke des homo sociologicus unterschätzen, dem es nicht schwerfällt, sich kurzerhand selbst mit dieser Gesellschaft zu identifizieren und so endlich zu dem zu werden, was er die ganze Zeit schon im Sinn hatte – nämlich sein eigener Schöpfer. Der biologistische Einsturz des trialistischen Schemas wird hier in sein Gegenteil verkehrt (Abbildung 6.12). Die höheren kognitiven Ausstattungen des Menschen sind dieser Sicht zufolge zwar auch im Zuge der Evolution entstanden, aber gewissermaßen nebenbei, im Dienste irgendwelcher längst irrelevant gewordener Überlebensziele. Dann jedoch hat der gleichsam versehentlich gezündete Funke einen Flächenbrand entfacht, die neuen Kompetenzen begannen ein Eigenleben zu führen, entfalteten ihre Schwingen und haben bald ihre amphibische Herkunft aus dem Auge verloren. Die Mayflower ist an den Gestaden einer neuen Welt gelandet und die Siedler haben die Teesäcke in die Bay geworfen.
KULTUR
Ihren Gipfel hat diese Bewegung im Existentialismus gefunden. „Menschsein heißt Menschwerden“, lesen wir in diesem Sinne etwa bei Jaspers oder „Der Mensch hat keine Natur, er hat nur eine Geschichte“ bei Ortega y Gasset.
Zugunsten der Idee, der Mensch sei nicht „Produkt“, sondern „Produzent“ seiner Evolution, wird vor allem das Argument angeführt, seine genetische Konstitution habe sich zunehmend nicht mehr an ein naturgegebenes Biotop, sondern an einen selbstgeschaffenen Lebensraum anpassen müssen. Das Schlimme an dieser These ist, dass sie stimmt. Die Naivität ihrer Verfechter liegt nicht in dem Szenario, das sie entwerfen, sondern in dem Optimismus, mit dem sie es begrüßen. 1 Jüttemann (1988) p. 4 u.10 2 zit.n. Landmann (1964) p. 48 u. 204
Evolution und Historie 133
Die Dekonstruktion der natürlichen Umwelt Der genetische Bauplan einer Spezies ist auf eine Umwelt zugeschnitten, der genügend Zeit zur Verfügung stand, ihre Selektionswirkung zu entfalten. Man nennt sie die natürliche Ökologie oder englisch das Environment of Evolutionary Adaptedness (EEA). Man kann davon ausgehen, dass die ökologischen Bedingungen, unter denen die altsteinzeitlichen Jäger und Sammler lebten, über viele Jahrmillionen hinweg einigermaßen konstant geblieben sind, sodass die menschliche Natur genügend Zeit hatte, sich an sie anzupassen. Erst spät in seiner Entwicklungsgeschichte, vor etwa zehntausend Jahren und anfangs nur an wenigen Stellen, hat der Mensch, zunächst durch den Übergang zur sesshaften Lebensweise, später zu Urbanisation und Industrialisierung, die Kulisse seiner Existenz selbst zu gestalten begonnen. Dabei hat er nun allerdings ganze Arbeit geleistet. Wer dies aber nur als triumphalen Fortschritt feiert, vergisst, dass die genetische Matrix menschlicher Verhaltensbereitschaften, die angeborene Eichung der Parameter unseres affektiven Gleichgewichts, von den allzu rezenten Neuerungen überhaupt noch nichts mitbekommen hat und in ihnen daher auch leicht in die Irre führt. Als Beispiel sei etwa unsere Ausstattung mit sogenannten unbalancierten Antrieben angeführt. Darunter ist Folgendes zu verstehen. Im Allgemeinen ist die MotiA1 H1 A 1 H1 vation der Lebewesen so geartet, dass die Einhaltung adaptiver Optima beidseitig kontrolliert wird. Den meisten Antrieben (A1 in Abbildung 6.13) ist also eine A 2 A2 Hemmung (H1) beigesellt, wodurch das Verhalten sowohl E E gegen Unter- als auch gegen Übertreibung abgesichert a b bleibt. Nun kann eine solche Gegensteuerung aber überflüs- Abbildung 6.13 (a) In der natürlichen Umwelt sorgt der unbalancierte Antrieb sig sein, wenn die Umwelt selbst ein Abgleiten ins Maß- A in Verbindung mit ökologischen Bar2 lose hinreichend unwahrscheinlich macht. Das dürfte rieren (dunkle Schattierung) dafür, dass noch in der Welt des Homo erectus beispielsweise für die die adaptive Endsituation (E) erreicht Nahrungsaufnahme gegolten haben. Hier konnte sich wird. (b) Wenn technische Eingriffe das ungestraft ein Antrieb (A2) behaupten, süße und fette Hindernis durchbrechen, wird das antriebsgesteuerte Verhalten dysfunktional Speise hemmungslos in sich hineinzufressen: Das Angebot war so beschränkt, dass gesundheitsschädliche Exzesse nicht zu erwarten waren und daher selektiv irrelevant blieben. Freilich wird ein derart ausgestatteter Mensch sehr wohl von einem Schlaraffenland träumen, in dem das durch die Kargheit der natürlichen Umwelt begrenzte Angebot so groß ist, wie seine unbalancierten und daher unersättlichen Antriebe es eigentlich wünschen würden. Und wenn er dann soweit ist, selbst die Gestaltung seiner Umwelt in die Hand zu nehmen (Abbildung 6.13b), wird eben bald in jedem zweiten Häuserblock eine Konditorei oder ein Fastfood-Restaurant entstehen – mit dem Resultat, dass das adaptive Optimum verfehlt wird.
134 Kapitel 6. Die Ultima ratio
Abbildung 6.14 Brütende Zwergwachtel beim Versuch, statt des aus dem Nest gerollten Eies einen Tischtennisball ins Nest zu holen
Wir haben es hier übrigens keineswegs mit einem auf den Menschen beschränkten Effekt zu tun. In der Tierethologie weiß man um die Wirksamkeit sogenannter Supra-Attrappen. Manche Vögel vernachlässigen ihre eigenen Eier, wenn man ihnen größere Objekte wie beispielsweise einen Tischtennisball darbietet (Abbildung 6.14).1 Evolutionär ist das belanglos, weil unter natürlichen Lebensbedingungen solche „überoptimalen“ Auslöser nicht vorkommen. Auch hier gibt es aber Ausnahmen: Der Sperrrachen des jungen Kuckucks ist gegenüber dem der Nestlinge der Wirtsart überoptimal und wird daher von den fütternden Eltern zum Schaden der eigenen Brut bevorzugt bedient.
Aber auch dort, wo unsere natürliche Ausstattung an sich dafür gesorgt hat, dass Antrieben eine angemessene Hemmung beigesellt ist, kann technischer Fortschritt ihre stabilisierende Wirkung unterlaufen, indem er das sensumotorische Feedback, wie die Regelungstechniker sagen, „aufschneidet“.
UMWELT
Da ist einmal der in Abbildung 6.15 durch die Doppellinie (1) angedeutete Effekt. Er betrifft die Fälle, in denen die Werkzeugtechnik zwischen die Handlungsmotorik (MOT) und deren Auswirkung so viele verstärkende und distanzierende ZwischenglieSens der eingeschoben hat, dass die natürlich vor(1) gesehenen stabilisierenden Rückmeldungen unterbleiben. Vor allem ist hier die ErfinMot (2) dung von Fernwaffen zu nennen, durch welche die auch beim Menschen angelegten tötungshemmenden Mechanismen unterlaufen werden. Wer auf einen Knopf drücken A H kann, ohne sich das Schreien seiner verbren- Abbildung 6.15 Die Balance von Antrieb nenden Opfer anhören zu müssen, dem fällt (A) und Hemmung (H) ergibt eine Handes leichter, seine Zerstörungswünsche nahezu lungsmotorik (MOT), die durch sensoribeliebig zu eskalieren. Und wenn Kinder sche Rückmeldung (SENS) kontrolliert heutzutage stundenlang in Computerspielen wird. Dieser Regelkreis wird durch die Technikentwicklung an Stellen (1) und (2) destruktive Impulse ausleben können, ohne unterbrochen („aufgeschnitten“) die in der Realität zu gewärtigenden drastischen Konsequenzen zu erfahren, so ist dafür gesorgt, dass die entsprechende Desensibilisierung früh genug einsetzt. Eine weitere, mit (2) bezeichnete Doppellinie verweist auf den umgekehrten Effekt: Die modernen Massenmedien, und hier insbesondere das Fernsehen, bombardieren uns mit intensivsten Hemmsignalen ohne Handlungsmöglichkeit. Allwöchentlich sieht man in der Tagesschau, unmittelbar vor der Seifenoper, verzweifelt schluch1 Immelmann (1982) p. 247
Evolution und Historie 135
zende Mütter und verstümmelte, blutige Leichen in Großaufnahme. Handelnd eingreifen kann man nicht oder höchstens indirekt durch Einzahlung auf ein Spendenkonto. Dieselben Eindrücke, nur noch durch Special Effects etwas krasser aufbereitet, lässt man in Spielfilmen über sich ergehen, und wenn es gerade am schlimmsten wird, kommt übergangslos die Reklame für Zahnpasta oder das neue MercedesModell: ein Abstumpfungseffekt, dessen Folgen wahrscheinlich noch viel verheerender sind als die allein schon genügend schlimme Vorbildwirkung von Gewaltszenen.
Die Entmachtung der Selektion Nun bewirkt der zivilisatorische Fortschritt aber nicht nur Inkongruenzen der affektiven Einpassung in unsere selbstgeschaffene Welt. Er greift auf die Dauer auch nachhaltig in unsere genetische Ausstattung ein. Phylogenetischer Fortschritt beruht auf Mutation und Selektion. Dabei liefert die Mutation die „Ideen“. Die meisten davon sind aber nichts wert; es sind allein die ökologischen Bedingungen, die über das adaptive Niveau wachen, indem sie defekten Varianten die Chance verweigern, den Bauplan künftiger Generationen mitzugestalten. Nur die Umwelt kann also durch ihre Selektionswirkung die Funktionalität des Organismus dauerhaft gewährleisten (Abbildung 6.16). Kehrt sich diese Kausalrelation um, so verliert der ziellose Wildwuchs der Mutationen sein äußeres Korrektiv, kann es aber von sich aus nicht ersetzen. Jeder noch so bizarre Defekt in der genetischen Ausstattung der Spezies hat dann eine Chance, Abbildung 6.16 Die Organismen (schwarze seine eigene Nano-Prothese anzufordern, sich in der Formen) bleiben an die Eigendynamik der Population auszubreiten und die Lebensqualität potenti- Umwelt angepasst, solange diese das kausale Übergewicht behält (weiße Pfleile) eller Nachkommen weiter zu senken (Abbildung 6.17). Die These, dass Selektion unerlässlich ist, um die Aus- und dysfunktionale Verformungen durch breitung erblicher Erkrankungen einzudämmen, ist bri- Selektion tilgen kann sant, denn sie stößt das Tor zu eugenischen Erwägungen auf. Diese sind unter dem Eindruck ihrer menschenverachtenden Radikalisierung zur Zeit des Nazi-Regimes inkriminiert. Indessen schafft der Hinweis darauf, dass die Artikulation eines Problems politisch missbraucht werden kann, das Problem selbst nicht aus der Welt. Wir können uns auf die Dauer nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine fortgesetzte Verdrängung unweigerlich eine immer lahmere Menschheit in immer besseren Rollstühlen züchten würde. Es gibt immerhin Beispiele für eine humane, auf Freiwilligkeit und Aufklärung basierende Eugenik, so etwa die Gesundheitspolitik Zyperns, wo in fast jeder Familie ein Mitglied die rezessive Anlage zu Thalassämie in sich trägt, einer schweren Blutkrankheit, die bei Homozygotie lebenslange Medikation und Transfu-
Abbildung 6.17 Wenn die Organismen ihrerseits die Umwelt zur Anpassung zwingen (weiße Pfeile), kann sich die Regellosigkeit ihrer Mutationen unkorrigiert durchsetzen
136 Kapitel 6. Die Ultima ratio sion erfordert. Man mag die Nötigung zu derart invasiven Behandlungsmethoden als Sieg der Medizin über die Natur verbuchen; wenn es aber nicht in absehbarer Zeit gelingt, die Anzahl der genetisch belasteten Geburten zu verringern, droht das zypriotische Gesundheitssystem zusammenzubrechen. Die Behörden appellieren, mit vorerst noch ungewissem Erfolg, an Vernunft und Verantwortungsgefühl der Eltern, die medizinisch ausgeschaltete natürliche Selektion durch Selbstselektion zu ersetzen – übrigens unter Einsatz von frühdiagnostischen Methoden, die ethische Bedenkenträger hierzulande unter Berufung auf ihre direkten Telefonleitung zum Metakosmos empört verbieten.
Alles in allem sind jedenfalls Zweifel angesagt, ob wir uns bei dem Projekt, uns selbst neu zu erschaffen, nicht doch ein wenig übernehmen.
Der ungleiche Wettlauf Auch eine dritte These stellt „natürliche“ und „gesellschaftliche“ Entwicklung einander gegenüber, argumentiert aber mit dem unterschiedlichen Tempo beider Verläufe. Kulturwandel könne schließlich in wenigen Jahren leisten, wozu die natürliche Selektion viele Generationen brauchen würde; er habe diese also längst überholt. Wenn diese Vorstellung einen Sinn ergeben soll, dann müssten Evolution und Historie freilich in dieselbe Richtung laufen. Die Erwartungen, die der gesellschaftlichen Entwicklung Ziele vorgeben, müssten dieselben sind wie jene Selektionsvorteile, die den Trend der biologischen Evolution bestimmen. Das gibt uns Anlass, den Begriff der Entwicklung noch etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. In der Biologie bedeutet er einen Prozess, der sich unter der Ägide eines Adaptationsdrucks vollzieht. Gilt das auch noch, wenn wir ihn auf kulturelle Prozesse anwenden? Dass diese Frage zu bejahen ist, gehört zu den Sachverhalten, die Richard Dawkins zwar nicht entdeckt, aber doch durch griffige Formulierung und Etikettierung ins öffentliche Interesse gerückt hat. Tatsächlich sind die Kriterien, bei deren Erfüllung Evolution stattfindet, weit über die Biologie hinaus abfragbar. Selektion setzt nicht voraus, dass ihre Objekte Organismen sind. Natürlich kommen einem diese als erstes in den Sinn: Sie pflanzen sich fort und bringen dabei durch Mutation und sexuelle Rekombination immer wieder neue Varianten hervor, welche sich dann in einer selektiven Ökologie unterschiedlich gut behaupten können. Aber auch technische Artefakte unterliegen einer Selektion im Wechselspiel von Angebot und Nachfrage, auch ihnen liegt ein Reproduktionsvorgang zugrunde, wobei dem genetischen Code die Blaupause in der Schublade des Konstrukteurs entspricht. Und auch hier gilt, dass jeder vernünftige Industriebetrieb auf beständige Abänderung seiner Produktpalette bedacht ist, also dem Markt immer wieder Varianten anbietet, mit denen verglichen das bisherige Angebot als veraltet wahrgenommen wird. Nun sind technische Geräte immerhin wenigstens noch materieller Natur. Nicht einmal das ist jedoch erforderlich: Die Kriterien der Evolution lassen sich auch auf rein ideelle Objekte anwenden, also auf Schöpfungen der Kultur wie Mythen, Weltanschauungen und nicht zuletzt moralische Normen. In sprachlicher Analogie zum Begriff „Gen“ hat Dawkins für solche Inhalte die Bezeichnung Mem vorgeschlagen.1 1 Dawkins (1976) p. 206
Evolution und Historie 137
Meme sind geistige Formelemente, die von ihrem materiellen Träger, einem menschlichen Gehirn, durch Kommunikation auf andere übertragen, also kopiert werden können. Dieser Prozess kann auf freiwilliger Übernahme beruhen, er kann dem Druck der Sozialisation folgen, er kann durch Suggestion erschlichen oder durch Drohung erzwungen werden. Meme können bei jeder Replikation mutieren: Der Kopiervorgang ist für Abwandlungen, Weglassungen und Ausbau offen. Meme sind einer Selektion unterworfen. Ob sie tradiert werden oder in Vergessenheit geraten, hängt von ihrem Inhalt ab, der hier in Analogie zum phänotypischen Eigenschaftsprofil bei Organismen zu setzen ist. Nun kommt alles darauf an zu verstehen, nach welchen Prinzipien diese Selektion erfolgt. Was genau ist es, was ein Mem erfolgreich macht? Worin besteht das Wesen jener „Umwelt“, an die sich die Schöpfungen menschlicher Geistestätigkeit anzupassen haben? Dawkins spricht in diesem Zusammenhang relativ vage davon, erfolgreiche Meme hätten einen besonders großen „psychological impact“ oder „appeal“. Das bedarf dringend einer von ihm nicht mitgelieferten Präzisierung, zeigt aber bereits, worauf es ankommt: Es ist nicht die äußere Umwelt, die den Ideen Adaptation abnötigt, sondern irgend etwas im Menschen selbst. Bei technischen Geräten lässt sich jener innersubjektive Adaptationspol leicht lokalisieren: Es sind ihn erster Linie unsere natürlichen Bedürfnisse, für deren immer effizientere Befriedigung uns die Industrie die Instrumente zur Verfügung stellt. Das Fernrohr weitet unseren Sichtradius, das Auto macht uns mobiler, das Internet bedient unser Kommunikationsbedürfnis. Und jedes neu entwickelte Medikament soll helfen, Schmerzen zu lindern und den Tod hinauszuschieben. All das bestätigt die These, dass die geistige Entwicklung die biologische mit effizienteren Mitteln und in unschlagbarem Tempo fortgesetzt hat – sofern wir eben unter der geistigen Entwicklung den technisch-wissenschaftlichen Fortschritt verstehen! Wer würde nicht lieber in einem ICC reisen als in einer Postkutsche des 18. Jahrhunderts, und wer ginge nicht lieber heute zur Schutzimpfung, als sich von einem mittelalterlichen Bader die Pestbeulen ausbrennen zu lassen! Und doch ist das nur die halbe Wahrheit. Was wir der „rohen“ Natur gegenüberstellen, erschöpft sich nicht in den Errungenschaften von Technik und Wissenschaft. Hier sollte uns die Bildungssprache nachdenklich stimmen, die für das spezifisch menschliche Geistesleben zwei zumindest im Deutschen verschieden konnotierte Wortmarken anbietet – Zivilisation und Kultur. Der Begriff „Zivilisation“ schnürt die Vorzüge der Nützlichkeit und des Komforts zu einem Bündel, dessen Qualität wir eher als „äußerlich“ empfinden. „Kultur“ weckt dagegen die Assoziation von Verinnerlichung, Seelenadel, Dienst an ewigen Werten. Für die Zivilisation gilt ohne Frage, dass sie in beständigem Fortschritt begriffen ist. Kultur aber ist eine unaufhörliche Sinnsuche. Sie produziert zwar immer wieder einen turnusgerecht ausgerufenen „Wertewandel“. Aber wenn man genauer hinsieht, wandeln sich die Wertvorstellungen nicht unumkehrbar progressiv sondern, um nochmals ein
138 Kapitel 6. Die Ultima ratio übrigens von Claude Lévi-Strauss stammendes Bild zu verwenden, nach Art eines Kaleidoskops, das sich dreht und dabei neue Strukturen erzeugt, ohne dass das Zentrum der Rotation einen Schritt weiterwandert. Kultureller Wertewandel kann der biologischen Evolution nie und nimmer davonlaufen und will das auch gar nicht; er erscheint aus dieser Sicht vielmehr als eine stets dasselbe Gravitationszentrum umkreisende Selbstinterpretation der menschlichen Natur. Notorische Biologiefeinde halten sich die Ohren zu, wenn sie dergleichen hören, aber was haben sie ihm entgegenzusetzen? Lassen wir noch einmal Landmann zu Wort kommen: Wie wir uns ernähren und fortpflanzen, in welchen Beziehungen wir zu unserer Mitwelt stehen, wie wir unseren Nachwuchs aufziehen sollen … all dies, was wir an sich mit den Tieren teilen, was aber bei ihnen von der Natur geregelt wird, [bleibt] beim Menschen bereits seiner eigenen Regelung überlassen. … Das wird überall dort verkannt, wo man annimmt, es gebe ein gleichsam natürliches Kulturelles – einen „natürlichen Staat“, eine „natürliche Religion“ usf. –, das wie ein zeitloses Apriori im Wesen des Menschen beschlossen liege. … Wäre es so, dann stände all unser Kulturerzeugen nur vor der Aufgabe, jenes apriorische Bild einer innerlich notwendigen und einzig gemäßen Naturkultur zu finden und in die Tat umzusetzen. … Eine solche Naturkultur bleibt aber Traum und Wahn.
Der einhämmernde Duktus kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier nur behauptet, verkündet und verdammt, aber nicht argumentiert wird. Wer eine unliebsame Position als „Traum und Wahn“ diffamiert statt ihr mit Vernunftgründen entgegenzutreten, bekundet nur seine eigene Hilflosigkeit. Im folgenden werden wir genau das tun, was Landmann leichthin als absurd verwirft: Wir werden das Leitmotiv der Conditio Humana freizulegen versuchen, das von der Moral mit ihren unerschöpflichen Variationen umspielt wird. Dabei wird sich auch das Paradox auflösen, dem wir im I. Teil dieses Buches begegnet sind: dass eine rationale Letztbegründung allgemein als unmöglich zugegeben wird und dennoch die mit der Materie Befassten so reden, als läge sie offen zutage. Kulturelle Inhalte lassen sich durch die Natur nicht legitimieren, aber sie sind an sie adaptiert wie Pflanzen an ihre Ökologie. Damit ist zugleich gesagt, dass die menschliche Natur einen Selektionsdruck auf die Kultur ausübt. Es muss etwas in uns geben, das darüber entscheidet, ob ein Weltbild, ein Glaube, eine Handlungsmaxime lebensfähig ist, ob sich Missionare und Gotteskrieger finden, die solche Meme verbreiten, und Märtyrer, die für sie Zeugnis ablegen. Was aber kann das sein? Welches sind die Rätsel, die die conditio humana aufwirft und zu deren Lösung sie sich kultivieren musste? Es ist offensichtlich, dass wir eine Antwort auf diese Frage nur finden werden, wenn wir zunächst noch tiefer in die menschliche Natur selbst eindringen.
1 Landmann (1964) p. 194 u. 200f
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Zwischenbilanz Sozialwissenschaftler stellen der „naturwüchsigen“ Ausstattung des Menschen ein „höheres“ Prinzip gegenüber. Dieses, ursprünglich in der Übernatur beheimatet, wird zur „Gesellschaft“ säkularisiert. Auch diese muss freilich phylogenetisch entstanden sein, und alle Phylogenese orientiert sich letztlich an der Darwinschen Fitness. Um dieser These ihre Missverständlichkeit und damit ihr Ärgernis zu nehmen, war zunächst auf die Unterscheidung von Zweckmäßigkeit und Zielstrebigkeit zu verweisen: Zweck (Funktion) bezeichnet ein Anpassungsoptimum, in dem die Selektion zur Ruhe kommt. Er leitet sich immer vom Reproduktionserfolg her. Ziele sind Sollwerte von Antriebserlebnissen. Ihre Erreichung wird über Stimulation rückgemeldet und als befriedigend erlebt. Ihre Selektionsgeschichte wird dabei weder kognitiv noch affektiv bewusst. Sodann bedurfte es einer differenzierteren Sicht auf das Anlage-Umwelt-Problem. Hier lautet die wichtigste Regel: Die Begriffe „angeboren“ und „erworben“ sind nie auf ein Merkmal (Aussehen oder Verhalten) anwendbar, sondern nur auf dessen Angepasstheit! Sie geben dann an, ob die Information über die Umwelt im genetischen Code enthalten war oder durch Versuch und Irrtum vermittelt werden musste. Der Begriff „Umwelt“ ist dabei wie folgt zu differenzieren: Alimentation = Umweltwirkung, die unter Stoff- oder Energieaustausch an der „hardware“ des Organismus formt, Stimulation = metabolisch und energetisch irrelevanter, aber semantisch gehaltvoller Informationsfluss. Wir müssen ferner zwei gesellschaftliche Funktionen trennen: Zivilisation betrifft Errungenschaften von Technik und Wissenschaft. Sie tritt mit der biologischen Anpassung in Konkurrenz und kann sie wegen ihres größeren Tempos mit ständig wachsendem Vorsprung überholen. Kultur umfasst Wertebereiche wie Kunst, Religion und Moral. Sie hat keine instrumentelle Funktion, sondern dient der Selbstinterpretation der Conditio Humana. Ihr Wandel ist nicht progressiv, sondern oszillierend. Warum aber ist eine solche Selbstinterpretation nötig? Welche Probleme löst sie? Um diese Frage zu beantworten, ist es unerlässlich, die menschliche Natur selbst genauer in Augenschein zu nehmen. Zum Thema, was das spezifisch Menschliche ist und wie wir uns seine Entstehung aus der nichtmenschlichen Natur vorzustellen haben, haben Philosophen vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts Überlegungen angestellt, die zwar an mangelnder Tierkenntnis krankten, aber tiefer loteten als die diesbezüglichen Einlassungen der biologischen Fachwelt. Sie verdienen es daher, im folgenden Kapitel rekapituliert zu werden – als Hintergrundfolie, die es erleichtert, das heute verfügbare empirische Befundmaterial sinnvoll einzuordnen.
Kapitel 7 Mutmaßungen über den Menschen Die Frage Kants Randkontraste Immanuel Kant hat gesagt, alle Philosophie münde in die Frage „Was ist der Mensch?“ Das mag stimmen oder nicht; für unser Thema jedenfalls liegt hier in der Tat der Kern des Problems. Denn die Einbettung des Verhaltens in moralische Bezugssysteme ist nicht nur eine universale, allen Menschen gemeinsame Eigentümlichkeit, sondern auch ein Spezifikum des Menschen, so weit über alle vergleichbaren Erscheinungen im Tierreich erhaben, dass es offenkundig aus den dort waltenden Strukturprinzipien nicht mehr herzuleiten ist. Kants Gleichsetzung von Weltweisheit und Menschenkunde gilt freilich erst für die Neuzeit. Dem urtümlichen Denken ist die anthropologische Frage noch kein existentielles Anliegen. Die ganze Natur gilt ihm als beseelt, ihr Bild formt sich nach Maßgabe der menschlichen Selbsterfahrung. Tiere haben ihre eigene Sprache, ihre eigene Kultur. Noch Demokrit meinte, der Mensch habe seine zivilisatorischen Errungenschaften tierischen Lehrmeistern zu verdanken. Auch die Seelenwanderung zwischen Tier- und Menschenleibern ist ein ursprünglich weit verbreiteter Gedanke, und in dieselbe Richtung weist der totemistische Glaube an tierische Ahnen oder die Verehrung von Tiergottheiten. In eigentümlich paradoxem Kontrast zu dieser Auffassungsweise steht das ebenso alte Phänomen des Ethnozentrismus. In den Sprachen der verschiedensten Völker wird das Wort „Mensch“ und die allein diesem zukommende Wertschätzung nicht etwa der Menschheit insgesamt zugebilligt, sondern für die eigene Stammesgemeinschaft reserviert und schon den nächsten Nachbarn verweigert. Dieser scheinbare Widerspruch schwächt sich indessen ab, wenn man berücksichtigt, dass die „Auserwähltheit“, die der eigenen Gruppe vorbehalten bleibt, nicht eigentlich auf substantieller Andersartigkeit der Ausgeschlossenen, sondern auf deren zugeschriebener moralischer Minderwertigkeit gründet. Die anderen Völker sind Barbaren – unvernünftig, grob, heimtückisch, ohne Scham, sie fressen ekelhafte Nahrung, sind hässlich und von verabscheuungswürdiger Sittenlosigkeit. Sie sind nicht etwas wesenhaft vom Menschen Verschiedenes, sondern Degenerationsformen des Menschseins. Tatsächlich ist die Dynamik noch komplizierter (Abbildung 7.1). Den Ring des abwertenden Randkontrastes zu den unmittelbaren Nachbarn umschließt konzentrisch ein noch weiterer Saum von Wesen, die man nur noch vom Hörensagen kennt und nun umgekehrt geradezu idealisiert. So rühmte etwa schon Homer die Frömmigkeit der Äthiopier, die er als die äußersten Randvölker der bewohnten Erde ansah.
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Später, als von ihnen Genaueres und entsprechend Ernüchterndes bekannt wurde, traten an ihre Stelle die zuverlässiger unerreichbaren „Antipoden“. Analog zur räumlichen Distanzierung ist auch die zeitliche zu sehen, etwa die Konstruktion eines Goldenen Zeitalters in grauer Vorzeit. Auch die Verklärung des „Naturmenschen“ bei Rousseau gehört hierher, und demselben Impuls entspringt wohl die misanthropische Glorifizierung der Pferde bei Jonathan Swift. Erst als in der alexandrinischen und römischen Epoche die Abbildung 7.1 Randkontrast antiken Weltreiche entstanden, weitete sich das Identitätsbewusstsein so, dass es Menschen verschiedener Sprache, Rasse und Kultur wenn schon nicht gefühlsmäßig, so doch immerhin gedanklich einbezog. Damit verlor der naive Ethnozentrismus seine unhinterfragte Grundlage, und die Idee der Humanitas, der einheitlichen und einheitsstiftenden Natur des Menschen, gewann Profil. Worin bestand jedoch diese Natur? Logischerweise musste sie im Kontrast zum Nicht-Menschlichen bestimmt werden. Dieses aber hat, wie wir im vorigen Kapitel sahen, zwei Prototypen, festgehalten in Schillers Wort vom Menschen in der Mitte zwischen dem Tier und Gott. In der christlichen Denktradition haben die Sachwalter dieser beiden Pole mit wechselndem Erfolg versucht, das Bild des Menschen aus ihrer jeweiligen Palette einzufärben und demgemäß entweder in seiner Unvollkommenheit gegen die himmlische oder in seiner Überlegenheit gegen die tierische Sphäre abzugrenzen. Während sich der Mensch, solange er Gott gegenübergestellt war, vor allem von seiner Sündhaftigkeit her verstehen musste, weckte umgekehrt die Abgrenzung zur Tiernatur das Bedürfnis, sich in seiner Selbstdefinition auch eine Basis für die eigene Wertschätzung zu sichern. Und es lag nahe, dabei auf seine Fähigkeit und Hinneigung zur Moral zurückzugreifen. Die hochherzige Anstrengung, diese Würde der gesamten Menschheit zuzuweisen, führte damit aber notwendigerweise zu einer Bestialisierung der übrigen Natur. Der ethnozentrischen Randkontrast in Abbildung 7.1 erfasste von nun an auch die Tierwelt, oder jedenfalls deren unheimlich anthropomorphe äffische Repräsentanten.
Der Wettstreit der Perspektiven In der neuzeitlichen Geistesgeschichte ist die Deutung des Tier-Mensch-Überganges zunächst von anthropologisch interessierten Philosophen, dann zunehmend von Verhaltensbiologen in Angriff genommen worden. Zwischen diesen beiden Lagern hat jedoch praktisch kein fruchtbarer Gedankenaustausch stattgefunden. Der Grund hierfür lag in der Unvereinbarkeit der Denkstile. Erkenntnis speist sich aus zwei Quellen – der Tiefe des Nachdenkens und der Schärfe der Beobachtung. Beide Komponenten sind unverzichtbar und können einander nicht ersetzen. Offenbar verstehen sich aber nur wenige auf beide Künste gleich
142 Kapitel 7. Mutmaßungen über den Menschen gut. Im biologischen Lager trifft man gehäuft auf puritanische Empiriker, die kein schlimmeres Laster kennen als die Spekulation. Sie bringen ihr Leben mit dem Sammeln von Fakten zu, aus denen sie nur mit äußerster Vorsicht und, wenn es absolut unvermeidbar ist, auch Schlüsse ziehen. Sie misstrauen nicht nur allen hochfliegenden Antworten auf die Kantische Frage nach dem Wesen des Menschen, sondern halten im Grunde schon diese Frage selbst für unseriös. Unter den Philosophen wiederum sind die Epikuräer im Lehnstuhl überrepräsentiert, die voll Wohlgefallen den Rauchringen ihrer Phantasie nachblicken und alles, was ihnen einleuchtet, auch für wahr halten. Sie vertreten Behauptungen mit ungebremster Ansprüchlichkeit, während ihre Erfahrungsbasis ähnlich vernachlässigt bleibt wie die Hygiene am Hofe Ludwigs XIV. Ein zweiter Unterschied betrifft den Standort des Beobachters. Bekanntlich ist der Mensch das einzige Objekt, das sich von „innen“ und von „außen“ her verstehen lässt: Prototyp kann entweder ich selbst sein oder der Andere. Im ersten Fall rücken eher Erlebnistatbestände in das Blickfeld, im letzteren Verhaltensdaten. Und da die Innenbetrachtung auf mich selbst als ein Exemplar von homo sapiens beschränkt bleibt, die Außenbetrachtung aber gegenüber allen Lebewesen offen ist, erhält die Tier-MenschSchranke aus beiden Perspektiven eine ganz unterschiedliche Wertigkeit. Die philosophische Anthropologie sammelt ihre Evidenzen aus der Innenperspektive, und dies mit bestem Gewissen. Das führt fast zwangsläufig dazu, dass sie den Randkontrast der Conditio Humana zu den vormenschlichen Lebensentwürfen überzeichnet. Die durch das Existenzgefühl scheinbar legitimierte Gewissheit der Einzigartigkeit erzeugt eine so herablassende Haltung gegenüber Meerschweinchen und anderem Viehzeug, dass dieses keiner ernsthaften Beschäftigung für wert erachtet wird; jeder Ansatz zu einer vergleichenden Betrachtung erscheint dann als der Versuch, „vom Tier auf den Menschen zu schließen“. Anthropologische Philosophen reden daher auch immer nur von „dem“ Tier und meinen, der Aufweis eines offenkundigen Defizits beim Regenwurm belege bereits hinreichend eine entsprechende Unbedarftheit der gesamten animalischen Natur. Tierkundliches Wissen beschränkt sich für sie auf die gewissermaßen im peripheren Blickfeld nebenbei mitzunehmende Oberfläche. Man hat Tiere nie selbst wirklich eingehend studiert, nicht über sie nachgedacht, sich nicht verstehend auf sie eingelassen, ist nie über unerwartete Verhaltensnuancen in Erstaunen geraten, man ersetzt ihnen gegenüber das lebendige Zeugnis der Anschauung durch angelesenes Sekundärwissen und formt dann das Zitierte so zurecht, dass es ins vorgefertigte Bild passt. Den Biologen ist das ein Gräuel. Leider gebärden sie sich ihrerseits aber genauso tendenziös wie die Gegenseite. Zwar haben sie den Vorteil, wirklich etwas von Tieren zu verstehen; dafür fehlt ihnen wiederum der Blick für seelische Subtilitäten, wie er nur aus nachdenklicher Selbstbesinnung erwächst. Damit entgeht ihnen die stupende Vieldimensionalität und genuine Andersartigkeit menschlicher Verhaltensorganisation. So liest man etwa bei Ernst Haeckel: 1 Haeckel (1909) p. 63f
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Der Mensch besitzt keine einzige „Geistestätigkeit“, welche ihm ausschließlich eigentümlich ist; sein ganzes Seelenleben ist von demjenigen der nächstverwandten Säugetiere nur dem Grade, nicht der Art nach, nur quantitativ, nicht qualitativ verschieden.
Auch von Seiten der Ethologie, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts ihre Blütezeit hatte, waren zuweilen kulturkämpferische Platituden dieser Art zu vernehmen, wenn auch eher aus der Feder eifernder Hinterbänkler. Aber selbst ihre Exponenten legten in erster Linie Wert darauf, anthropozentrische Überheblichkeiten zu dämpfen. Tieferen Einsichten in die Conditio humana sind von ihnen nicht überliefert. Insgesamt bietet die Auseinandersetzung, die um die Mitte des 20. Jahrhunderts kulminierte, ein Bild beidseitiger Unbelehrbarkeit. Die Biologen bemerkten nicht, wie extravertiert ihr Menschenbild war, wie sehr ihm die Tiefendimension mangelte, die sich nur der reflexiven Begegnung des Forschers mit sich selbst erschließt. In diesem Sinn pries etwa Otto Koenig1 das „zentripetale“ Vorgehen der vergleichenden Verhaltensforschung und warf den Geisteswissenschaften vor, das Pferd gewissermaßen vom Schwanze her aufzuzäumen: Der Mensch ist hier nicht zentrales Ziel, sondern zentraler Ausgangspunkt. Damit verliert die gesamte Richtung an naturwissenschaftlicher Objektivität und wird in psychologischem Sinn zur menschlich-subjektiven Methode.
Man kann schwerlich umhin, gegenüber solchen Auswüchsen naiver Selbstgewissheit für die Angegriffenen Partei zu nehmen. Diese Sympathie kühlt sich indessen rasch wieder ab, wenn man auf der Gegenseite derselben Haltung begegnet. So meinte etwa Arnold Gehlen,2 wenn Biologen nicht verstünden, dass im Menschen „ein ganz einmaliger, sonst nicht versuchter Gesamtentwurf der Natur“ vorliege, so liege das gerade an ihrer Fixierung auf den Außenstandort. Damit zahlten sie den Preis ganz rücksichtsloser Vernachlässigung des menschlichen Innenlebens oder ganz kindlicher Vorstellungen von dessen Inhalten. Was ist Sprache? Was ist Phantasie? Was ist Wille? … Was ist „Moral“, und warum gibt es so etwas? Mit den Begriffen jener Theorie sind diese Fragen überhaupt nicht zu stellen, geschweige zu beantworten.
Als Abhilfe empfahl Gehlen gerade die von Koenig als „zentrifugal“ verteufelte Herangehensweise, die bei der menschlichen Innenschau ihren Ausgang nimmt. Dieser Stil der Auseinandersetzung hat im Grunde bis heute den Weg für eine kreative Synthese verbaut. Anthropologie ist noch immer nur in zwei gleich unzulänglichen Fragmenten verfügbar – in einer elitär philosophischen Version, die oft gehaltvolle Fragen stellt, aber uninformiert falsche Antworten gibt, und in einer vulgär biologischen Fassung, die die Antworten wüsste, aber zu undifferenziert ist, um die Fragen zu verstehen.
1 Koenig (1969) 2 Gehlen (1966) p. 14f
144 Kapitel 7. Mutmaßungen über den Menschen
Evolution und Metamorphose Außer durch Unterschiede im Wissenschaftsverständnis wird eine fruchtbare Kontaktnahme der zerstrittenen Lager aber auch durch Unzulänglichkeiten unserer angestammten Denkkategorien behindert. Gehlen beharrt darauf, man könne den Menschen „nicht unmittelbar vom Tier ableiten“.1 Die kursive Hervorhebung stammt vom Autor selbst; das Wort soll also eine Botschaft transportieren. Aber welche? Etwas später wird es durch „geradlinig“ und „direkt“ ersetzt, auch eher hilflose Umschreibungen. Gehlen will offenbar sagen, man könne Entwicklung nicht nur als quantitative Veränderung begreifen; der Mensch unterscheide sich vom Tier vielmehr qualitativ. Diese beiden Adjektive bezeichnen Kategorien, die sich unser kognitiver Apparat erschaffen hat, um Ordnung in die Fülle der Erscheinungen zu bringen. Ihr Bedeutungsgehalt scheint klar zu sein, solange man anschauungsnah argumentiert; für subtilere Analysen reicht ihre Tiefenschärfe aber nicht aus. Die Denkfalle liegt vor allem darin, dass sich beide Begriffe wechselseitig ausschließen: Ein Unterschied ist für uns anschaulich entweder qualitativ oder („nur“) quantitativ. Das aber kann zum Hemmschuh für unser Naturverständnisses werden. Die Physiker errangen ihre Fortschritte gerade durch den kognitiven Gewaltakt, anschaulich qualitative in eigentlich nur quantitative Unterschiede umzudeuten: Schall und Wärme wurden als mechanische Bewegung erkannt, Licht entpuppte sich als elektromagnetische Schwingung und so fort. Noch tiefer problematisiert wurde die Trennbarkeit qualitativer und quantitativer Unterschiede dann in der Biologie, und zwar gerade im Zusammenhang mit dem Fundamentalbegriff Entwicklung. In diesem Phänomenbereich beobachtet man ein kontraintuitives Paradox, das als Umschlag von Quantität in Qualität charakterisiert werden muss. Viele Namen sind dafür in Gebrauch: Von Hegel stammt die Rede von der „Dialektik“, später kam „Emergenz“ in Mode, die Theorie der Selbstorganisation handelt von „Phasensprüngen“ und die Biologen sprechen, etwa beim Übergang vom Larven- in das Imagostadium der Insekten, von einer „Metamorphose“. Alle diese Ausdrücke umschreiben den übergangslosen Bruch des Erscheinungsbildes während eines Prozesses, der aus anderen Gründen nur als stetige Übergangsreihe konzipiert werden kann. Unser kognitiver Apparat hält dafür keine intuitive Anschauungsgrundlage bereit. Wir neigen dazu, den Entitäten unserer Welt Beständigkeit zuzuweisen. Die Sätze von der Erhaltung der Materie, der Energie, des Impulses, der Ladung usw. wurden in der Physik so früh entdeckt, weil sie einem gebieterischen Ordnungsverlangen unseres Denkens entgegenkommen. Aber zuweilen schießt dieses Verlangen über sein Ziel hinaus. Wenn man auf die alte aristotelische Unterscheidung von Stoff und Form zurückgreift, so passen Erhaltungssätze eher zur Stoffnatur der Dinge. Stoff erleben wir als etwas, das nicht verschwinden oder neu entstehen kann. Er kann nur seine Anord1 Gehlen (1966) p. 17
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nung, seine Verteilung im Raum verändern. Diese ist aber noch nicht „Form“ im antiken Verständnis. Hierfür ist vielmehr erforderlich, dass in ihr ein Sinn erkennbar wird. Ein Müllhaufen, ein Chaos, ein „Schmarrn“, wie der Bayer an Hand einer zermanschten Mehlspeise veranschaulicht, ist „a-morph“, hat keine Form. Alle Veränderungen, zu denen der Stoff aus sich heraus fähig ist, betreffen solche sinnfreien Anordnungsmerkmale und verlaufen in stetigen Übergangsreihen. Das meinen wir, wenn wir „quantitativ“ sagen. Wo wir „qualitative“ Sprünge wahrnehmen, entsteht immer auch der Eindruck eines neuen Sinnprinzips. Damit aber erhebt sich die Frage, wo dieses herkommt. Im naiven Weltverständnis gilt nämlich auch für sinntragende Form ein Erhaltungssatz. Dem verdankte nicht nur der auf Seite 117 erwähnte Präformismus seine Überzeugungskraft, sondern schon die platonische Lehre von den ewigen Ideen. Und daher rührt auch unsere Schwierigkeit im Umgang mit dem Entwicklungsbegriff: Wir erleben die Metamorphosen, die sich im Zuge genetischer Prozesse ereignen, als qualitativen Zugewinn, als kreative Entstehung neuer Sinnprinzipien. Einem bloßen Kontinuum genetischer Umlagerungsprozesse, wie es die Evolutionstheorie unterstellt, vermag unsere Intuition keinen Zuwachs an Sinn zuzuordnen. Wenn der Mensch also „aus dem Affen hervorgegangen“ ist, dann trägt er, so will es scheinen, in sich auch noch immer das Äffische als Sinnprinzip. Wir stoßen hier erneut an die Unzulänglichkeit unserer am Orthokosmos geformten Denkkategorien. Es bleibt uns nichts übrig, als unser unstillbares Sinnverlangen und unsere tierische Deszendenz gemeinsam im engen Käfig unseres Begriffsapparates einzusperren, auch wenn es uns an unmittelbarer Einsicht in ihre Verträglichkeit mangelt.
Defizitäre Deutungsansätze Unzulängliche Definitionsversuche Für unser weiteres Vorgehen folgt aus dem Gesagten, dass wir die „philosophische“ und die „biologische“ Perspektive kombinieren müssen. Wir haben die subtilen Fragen ernst zu nehmen, die von Seiten der philosophischen Anthropologie aufgeworfen wurden; aber wenn wir sie zu beantworten versuchen, müssen wir den Reichtum des empirischen Materials nutzen, das die tierische Verhaltensforschung inzwischen zusammengetragen hat. Beginnen wir mit einer Bestandsaufnahme der philosophischen Anthropologie. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts häufen sich, namentlich im deutschen Sprachraum, diesbezügliche Bemühungen; man hat geradezu von einer „anthropologischen Wende“ gesprochen. Ihr eigentlicher Ideenlieferant war Ludwig Klages1, die Bekanntesten unter seinen Nach-Denkern waren neben Arnold Gehlen vor allem Max Scheler und Helmuth Plessner. 1 vgl. etwa Klages (1950)
146 Kapitel 7. Mutmaßungen über den Menschen Es fällt heutzutage nicht leicht, über Klages positiv zu sprechen; seine paranoid antisemitischen Ausfälle gegen Wolfskehl erschweren erheblich den unvoreingenommenen Blick auf seinen unbestreitbar kreativen und feinsinnigen Beitrag zur Anthropologie. Die historische Ehrlichkeit gebietet jedoch anzuerkennen, dass andere, häufiger genannte Autoren oft nur die die von ihm geschlagenen, zuweilen freilich ein wenig gewundenen Schneisen begradigt und zu bequemen Gedankenbahnen asphaltiert haben. Am ausgiebigsten hat sich Scheler bei Klages bedient, ohne seiner Quelle Reverenz zu erweisen. Er führt ihn lediglich als einen „neueren Schriftsteller“ ein, der „eigenwillig, aber nicht ohne Tiefe“ sei und da und dort schon ähnliche Gedanken wie Scheler selbst vertreten, das Wesentliche aber natürlich nicht oder falsch gesehen habe.1
Nicht alle in der modernen Anthropologie diskutierten Bestimmungsversuche lohnen eine gründliche Besprechung. Merkmale, die den Menschen formal von anderen Primaten abheben, sind leicht zu finden, doch besagt das noch nichts über ihre anthropologische Relevanz. Oft ist überhaupt nur die Ausdrucksform artspezifisch, während das zugrundeliegende Organisationsprinzip in etwas anderem Erscheinungsbild, allenfalls vielleicht um einige Nuancen ärmer, schon auf phylogenetisch früheren Stufen anzutreffen ist. Als beispielhaft wäre hier etwa die schon von Nietzsche und später vor allem von Plessner vorgebrachte Behauptung zu nennen, allein der Mensch sei in der Lage zu lachen und zu weinen. Im einen erweise sich seine Abkehr vom „tierischen Ernst“, im anderen seine Fähigkeit zum Mitleid mit sich selbst und in beiden die Erlösung aus kreatürlicher Unmündigkeit. Solchen Deutungen mangelt es ganz einfach an vergleichender Sorgfalt. Natürlich gibt es spezifische Anlässe, bei denen nur der Mensch zu lachen und zu weinen vermag; aber die darauf ansprechenden affektiven Strukturen sind phylogenetisch viel älter. Bei etwas profunderer Tierkenntnis hätte man das bemerkt und verstanden, dass es nicht um die Frage geht, ob man „Haha“ vokalisiert und ob Tränen die Backen herunterkullern. Auch um frühere Dauerbrenner wie den aufrechten Gang ist es heute ruhiger geworden. Noch Plessner3 konnte über ein „Strukturprinzip der Vertikalität“ phantasieren, demzufolge die Bipedalität der Freigabe des Gesichtes dient, auf dass es die persönliche Existenz spiegeln und das Einverständnis zwischen Menschen vermitteln könne. Nüchtern betrachtet bleibt vom aufrechten Gang an anthropologisch verwertbarem Ertrag nur der Funktionswandel der Hand von der Lokomotion zur Manipulation. Dieser Effekt wiederum wird meist, und wohl mit Recht, zum Werkzeuggebrauch in Beziehung gesetzt – auch so eine ehedem überschätzte Panazee. Wir deuten uns gern als homo faber. Schon Benjamin Franklin definierte den Menschen als das tool making animal, wobei er übrigens bereits den Ausweg vom bloßen Werkzeuggebrauch zur anspruchsvolleren Werkzeugherstellung beschritt. Leider ist auch diese Hürde noch nicht hoch genug, um nicht wenigstens von Schimpansen genommen zu werden; denn man weiß inzwischen, dass diese – und vermutlich auch noch weitere Tierspezies – Werkzeuge nicht nur benutzen, sondern auch bearbeiten, ja sogar herstellen. 1 Scheler (1962) p. 84 2 Plessner (1941, 1950) 3 Plessner (1961) p. 46f
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Im Moment ist als letzte Rückzugslinie noch der Umgang mit „Meta-Werkzeugen“ im Gespräch, Werkzeugen zur Werkzeugherstellung. Aber das klingt schon arg gequält und trägt nicht weit. So verläuft der ganze Gedankenfluss schließlich im Sande oder allenfalls bei der nicht zu leugnenden, aber doch nur noch graduellen Feststellung, dass die Werkzeugnutzung beim Menschen ganz unvergleichliche Komplexität erreicht.
Das „Mängelwesen“ Die Liste der unzulänglichen Definitionsversuche wäre noch mannigfach erweiterbar; wir wollen uns aber nicht länger bei ihr aufhalten. Um unsere Einmaligkeit substanziell zu fundieren, sind großräumiger angelegte Argumentationsmuster gefragt. Die hier zu nennenden Ansätze lassen sich grob in zwei Gruppen gliedern, die wir als defizitäre und innovative Deutungen unterscheiden wollen. Beginnen wir mit den erstgenannten. Sie suchen die beschämende Animalität, die wir nach dem Zeugnis Darwins in uns tragen, durch die Behauptung zu neutralisieren, diese habe sich beim Menschen verflüchtigt. Der Mensch habe sein tierisches Erbe von der Natur zwar zugesprochen erhalten, aber gewissermaßen nicht abgerufen. Der Gedanke erscheint in zwei Varianten, von denen die eine eher ontogenetisch, die andere phylogenetisch argumentiert. Die erstere beruft sich auf den holländischen Anatomen Bolk und wurde vor allem von Portmann propagiert. Der Mensch, so heißt es hier, unterliege einer „Retardation“, er sei, im Unterschied zu seinen Primatenverwandten, auf einer embryonalen Stufe stehengeblieben. Er komme zur Welt, noch bevor sich all die Spezialisierungen ausbilden konnten, die ein Affenjunges schon nahezu überlebenstüchtig geboren werden lassen. Die phylogenetische Variante desselben Arguments behauptet, der Mensch habe als Spezies die tierische Instinktausstattung überhaupt verloren. Dieser Gedanke findet sich schon bei Herder, der den Menschen als „das verwaisteste Kind der Natur“ bezeichnet hat. Der Charakter seiner Gattung bestehe aus „Lücken und Mängeln“. Am elaboriertesten wurde dieses Bild dann in der Anthropologie Arnold Gehlens ausgeführt. Dort liest es sich etwa so:1 Morphologisch ist nämlich der Mensch im Gegensatz zu allen höheren Säugern hauptsächlich durch Mängel bestimmt, die jeweils im exakt biologischen Sinne als Unangepasstheiten, Unspezialisiertheiten, als Primitivismen, d. h. als Unentwickeltes zu bezeichnen sind: also wesentlich negativ. [Der Mensch] hat einen geradezu lebensgefährlichen Mangel an echten Instinkten und er unterliegt während der ganzen Säuglings- und Kinderzeit einer ganz unvergleichlich langfristigen Schutzbedürftigkeit. Mit anderen Worten: innerhalb natürlicher, urwüchsiger Bedingungen würde er als bodenlebend inmitten der gewandtesten Fluchttiere und der gefährlichsten Raubtiere schon längst ausgerottet sein.
1 Gehlen (1966) p. 33
148 Kapitel 7. Mutmaßungen über den Menschen Mit den „echten Instinkten“, deren „lebensgefährlichen Mangel“ Gehlen dem Menschen attestiert, bezieht er sich auf den Sprachgebrauch der Ethologie. In deren Verständnis bildet den Kernbestand eines Instinkts ein genetisch programmierter Mechanismus, der dafür sorgt, dass Erbkoord. die Muskeln und Drüsen in einer funktionell sinnvoll koordinierten Prozessgestalt aktiv werden. Diese Erbkooraktionsspezif. ¬ Energien dination, wie man sie auch nennt, wird von zwei verschiedenen Instanzen her aktiviert (Abbildung 7.2). Zum Abbildung 7.2 Die ethologische Instinkteinen ist da ein innerer Antrieb, eine Quelle, die den lehre Instinkt mit „Energie“ versorgt. Diese wird aktionsspezifisch verstanden; Hunger, Furcht, Wut usf. sind also separate Antriebsqualitäten und nicht etwa austauschbare Erscheinungsformen einer allgemeinen Aktivation. Diese Antriebe liegen normalerweise gleichsam unter Verschluss; damit sie die ihnen zugehörige Erbkoordination auch in Gang setzen, müssen sie erst von der Reizseite her freigegeben werden. Hierfür sind antriebsspezifische Detektoren zuständig, sogenannte Auslöseschemata, die auf passende Reizkonfigurationen ansprechen, also beispielsweise im Falle des Hungers auf eine erreichbare Nahrungsquelle. Jakob von Uexküll hatte dieses Konstruktionsprinzip radikalisiert. Er lehrte, dass Tiere überhaupt nur wahrnehmen können, was für ihre artspezifischen Vitalinteressen relevant ist. Für diesen skotomisierten Ausschnitt aus dem tatsächlichen Weltgeschehen reservierte er den Begriff „Umwelt“. Während Uexküll dazu neigte, dasselbe Prinzip auch auf die menschliche Wahrnehmung auszudehnen, machte Gehlen, ähnlich wie auch Scheler und Plessner, das anthropologische Spezifikum gerade umgekehrt daran fest, dass hier der Reizeinstrom nicht lediglich AusReizlösefunktion für instinktgebundene und damit themaòƪ Ǧ tisch spezialisierte Aktivitäten habe. Der Mensch bekomme von der Natur nicht mehr gezeigt, was für ihn wichtig ist. Er nehme daher nicht nur das unmittelbar Lebensdienliche wahr, ihm werde auch alles zunächst Neutrale interessant. Ǧ ¬ ò
Die sensorische Rückmeldung ist bei ihm demnach von sich aus interessenfrei objektiv, sie spiegelt nicht Abbildung 7.3 Die Abwandlung der Instinktlehre in der Anthropologie Gehlens mehr eine unentrinnbar mit der organismischen Bedürfnislage verklammerte Umwelt, sondern vermittelt Erkenntnis der Welt als solcher, und es bleibt dem frei entscheidenden Ich überlassen, aus dieser kognitiven Ausgangslage heraus seine Handlungsmuster zu entwerfen (Abbildung 7.3). Die Inhalte der Wahrnehmung werden beim Menschen von bloßen Stichwortgebern für vorgefertigte Handlungsabläufe zu selbstgesetzlich in sich ruhenden Dingen mit einer Eigenbedeutung, deren er sich zunächst erkennend bemächtigen muss, um ihnen dann erst einen je wechselnden subjektbezogenen Funktionswert zuzuweisen. Auslöseschemata
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Passend zum defizitären Gesamtkonzept betrachtet Gehlen auch diese „Weltoffenheit“ als eine zunächst problematische Folge des Instinktverlustes:1 Der Mensch ist weltoffen heißt: er entbehrt der tierischen Einpassung in ein AusschnittMilieu. Die ungemeine Reiz- oder Eindrucksoffenheit gegenüber Wahrnehmungen, die keine angeborene Signalfunktion haben, stellt zweifellos eine erhebliche Belastung dar. … Der Mensch unterliegt einer durchaus untierischen Reizüberflutung, der „unzweckmäßigen“ Fülle einströmender Eindrücke, die er irgendwie zu bewältigen hat. Ihm steht nicht eine Umwelt instinktiv nahegebrachter Bedeutungsverteilung gegenüber, sondern eine Welt – richtig negativ ausgedrückt: ein Überraschungsfeld unvorhersehbarer Struktur.1
Der Hiatus Der unterstellten „Entdifferenzierung der Instinktresiduen“ ordnet Gehlen noch eine weitere Konsequenz zu. Nach gängigem Denkmodell ist jedes Lebewesen zur Erfüllung seiner lebensdienlichen Vollzüge mit vitalen „Energiereserven“ in angemessener Höhe ausgestattet. Das muss auch noch für den Menschen gelten. Wenn ihn die Natur auch nötigt, seine Ziele selbst zu definieren, so erfordert deren Verfolgung doch jedenfalls erheblichen Kraftaufwand, und diese Kräfte müssen ihm mit auf den Weg gegeben worden sein. Sie können nun aber nicht mehr aktionsspezifisch, d. h. eingebunden in die instinktiven Zielsetzungen bereitgestellt werden, sondern nur noch gewissermaßen pauschal und blanko – in Form einer anonymen, chaotisch brodelnden Antriebsenergie. Die einschlägige Vokabel heißt Antriebsüberschuss. Um seine Handlungen von den erratischen Impulsen dieser freigesetzten Urkraft unabhängig zu machen, war der Mensch genötigt, „beide Seiten sozusagen ‚auszuhängen‘ oder einen ‚Hiatus‘ freizulegen“.2 Das Wort kommt vom lateinischen hiare = gähnen, in der Linguistik wird es zur Kennzeichnung des Glottisschlages zwischen zwei getrennt auszusprechenden Vokalen (wie in „Ko-operation“) verwendet. Hiatus bedeutet also soviel wie eine gähnende Kluft.
Diese Idee geht wiederum auf Klages zurück. Dessen Schlagwort vom „Geist als Widersacher der Seele“ zielt im Grunde genau auf jenen Gehlenschen Hiatus. Wenn Klages vom „Geist“ redet, meint er eigentlich den Willen, den er gern auch als „Kürwille“ apostrophiert. Während zwischen der Seele des Tieres und seiner Umwelt ein „lebensmagnetischer Zusammenhang“ herrsche, habe sich beim Menschen „zwischen seine Seele und die Bilder der Welt etwas hineingeschoben“ – nämlich das „zerstörende Willenswerkzeug“ als Ausdruck „eines stattgehabten Bruches mit der Natur“.3 Schon Klages also stellte den „wollenmüssenden“ Menschen dem Tier als „getriebenem Wesen“ gegenüber, das „im 1 Gehlen (1966) p. 35f 2 l.c. p. 53 3 Klages (1951) p. 138
150 Kapitel 7. Mutmaßungen über den Menschen Weltzusammenhange darin steht“. Scheler griff den Gedanken dann in der Formel vom Menschen als dem „Neinsagenkönner“ auf, bevor Gehlen ihm mit seinem „Hiatus“ das griffigste und dauerhafteste Etikett angeheftet hat. Als Bestätigung der Prämisse, dass der Mensch mit freien, thematisch ungebundenen Energiereserven ausgestattet sei, wurde die explorative Neugier und der mit dieser strukturell verwandte Spieltrieb angesehen. Es war freilich nicht ganz einfach, diese Eigentümlichkeit exklusiv für den Menschen zu reservieren. Man hätte ihn nur zu gern als Homo ludens definiert,1 wäre da nicht der unleugbare Tatbestand, dass auch schon Tiere explorieren und spielen. Um aus dieser unerwünschten Gemeinsamkeit doch noch ein anthropologisches Privileg zu destillieren, bleibt nur das Argument, bei Tieren sei die Phase des explorativen und spielerischen Weltbezugs auf Kindheit und Jugend beschränkt; allein der konstitutionell retardierte Mensch dehne jene juvenile Zuständlichkeit auf die gesamte Lebensspanne aus. Und Gehlen2 begründet die „biologisch paradoxe“ Explorativität des Menschen durch die „konstitutionelle Riskiertheit des Menschen“, die ihrer bedürfe „als die korrelative Kraft, die dieses Risiko tragbar macht“. Von dieser Sachlage her verspricht er sich Zugang zu dem „großen und rätselhaften Phänomen“ jener „Leidenschaft, das Leben selbst aufs Spiel zu setzen“.
In letzter Konsequenz laufen die defizitären Bestimmungsversuche darauf hinaus, das Wesen des Menschen offen zu lassen. Die Tiernatur ist beiseite geräumt, was zurückbleibt, verweigert sich der Aufforderung, Kontur zu zeigen. Die menschliche Verhaltensorganisation bleibt der kreativen Entscheidung des Subjekts selbst überantwortet gemäß Herders Wort vom Menschen als dem „ersten Freigelassenen der Schöpfung“. Damit wird der Mensch im Kern unbestimmbar. Sein Wesen besteht darin, dass er gar keines hat.
Innovative Deutungsansätze Reflexion Wenn man Gehlens Ausführungen mit ein wenig Sensibilität für evolutionäre Prozesse liest, fragt man sich, wieso der Autor nicht merkt, dass seine Betrachtungsweise Ursache und Wirkung verwechselt. Seine Texte klingen, als habe den Menschen zunächst einmal ohne Vorwarnung irgendeine kosmische Katastrophe ereilt, woraufhin dann eiligst die Schöpferkraft der Conditio humana als Heilmittel erfunden und eingesetzt werden musste. Wenn schon, müsste es doch wohl andersherum gelaufen sein: Ein voll funktionsfähiger Organismus etwa auf Schimpansen-Niveau hat sich durch evolutionäre Metamorphosen bislang brachliegende Wirkungsfelder erschlossen, und die neu erworbenen Fähigkeiten mögen dann tatsächlich manches bisher Nötige überflüssig gemacht haben, sodass es sekundär abgebaut werden konnte. Damit erhebt sich aber die Forderung, positiv zu sagen, worin diese innovativen Kompetenzen denn nun bestanden haben. 1 Huizinga (1939) 2 Gehlen (1966) p. 60
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Auch hierzu hat die neue Anthropologie Denkanstöße beigesteuert. Ein zentraler Ansatzpunkt war dabei das Selbsterleben. Am subtilsten hat sich wiederum Klages zu diesem Thema geäußert. Von ihm stammt die zunächst dunkel erscheinende, aber inhaltsreiche Formel „Dinge sind in die Welt projizierte Iche“.1 „Ding“ ist die Kategorie, mit der Klages den distanzierenden Modus menschlicher Weltwahrnehmung kennzeichnet; für die Erlebnisinhalte der in ihre Umwelt eingebetteten Tiernatur verwendet er dagegen den Ausdruck „Bilder“. Den Akt, in dem der menschliche Geist Bilder zu Dingen erstarren lässt, setzt Klages nun parallel zu einem entsprechenden Wandel der Selbstwahrnehmung. Tiere sind demnach ichlose Lebewesen. Zwar verfügen sie nach Scheler, der diesen Gedanken aufgegriffen hat, bereits über eine sensuelle Rückmeldung der eigenen Zuständlichkeit und insofern eine Art von Selbstinnewerden. Erst beim Menschen aber gelange das personale Aktzentrum zu einem Bewusstsein seiner selbst. Der Geist vermag also nicht nur die Umwelt zur Welt zu weiten, sondern auch seine eigene Verfassung gegenständlich zu machen. Er allein kann daher auch nur im vollen Wortsinn auf sich „reflektieren“ – also nicht nur etwas bemerken, sondern bemerken, dass er es bemerkt. Denselben Gedanken drückt Plessner dann durch die Rede von der menschlichen Exzentrizität aus. Allein der Mensch sei zur Reflexion fähig, allein ihm sei es gegeben, das Bezugssystem seiner Weltorientierung aus sich heraus zu verlagern, sich selbst in Relation zur Welt zu lokalisieren. In einer geradezu an Agamben anklingenden Diktion kleidet er das in die Formel „innerhalb seiner Perspektive außerhalb ihrer stehen ist die Position des Menschen.“ Leider hat Plessner diese kognitive Kompetenz dann zu einem paradigmatischen Verhalten in Beziehung gebracht, das die abstrakte Figur der „Reflexion“ gleichsam unmittelbar ins Sinnenfällige übersetzt: zum Erkennen des eigenen Spiegelbildes:3 (Tiere) haben kein Ich und kein Mich, können ihr Spiegelbild nicht als das ihre erfassen und bewohnen deshalb auch anders ihren Leib als der Mensch.3
Das ist insofern unverständlich, als ihm eine Buchveröffentlichung4 bekannt war, die photographisch belegt, dass bereits Schimpansen Manipulationen am eigenen Gesicht unter Zuhilfenahme von Spiegeln ausführen (Abbildung 7.4). Er meinte allen Ernstes, diese klare Dokumentation von Selbsterkennen durch den Verweis auf Fische entkräften zu können, die ihr Spiegelbild für einen Schwarmgenossen halten! Plessner nimmt dieses Bild auch zum Anlass, sich über das Phänomen der Nachahmung Gedanken zu machen.5 Er glaubt das Verhalten der Schimpansin dahingehend interpretieren zu können, dass es nur eine hohe Bereitschaft zum Mitmachen zeige, die sich aus dem „Herdeninstinkt“ erkläre. Nachmachen sei etwas ganz anderes und komme bei Tieren überhaupt nicht vor. 1 2 3 4 5
Klages (1966) p. 145 Scheler (1962) p. 41 Plessner (1982) p. 230 Hayes (1951) Plessner (1961) p. 40ff
152 Kapitel 7. Mutmaßungen über den Menschen Unter „Mitmachen“ versteht Plessner den stammesgeschichtlich uralten Effekt, der in der Ethologie als Stimmungsübertragung und in der Psychologie als Gefühlsansteckung bezeichnet wird: Die Wahrnehmung fremden Ausdrucksverhaltens kann bewirken, dass der Beobachter automatisch in dieselbe Motivlage gerät; auf diese Weise erklären sich Phänomene wie etwa die Massenpanik. Plessner betont mit Recht die qualitative Andersartigkeit dieses Geschehens von Abbildung 7.4 Manipulation einer Schimpansin echter Imitation. Gefühlsansteckung vollziehe am eigenen Gesicht vor dem Spiegel nach Hayes fremde Bewegungen nur mit, ohne sie indessen „abzubilden“. Echtes „Nachmachen“ sei hingegen nur „in einem reziproken Verhältnis von Original und Abbild“ möglich. Und diese Reziprozität wird nun kurzerhand als Spezifikum des Menschen reserviert. In heutiger Diktion ist das, worauf Plessner hier abzielt, das Phänomen der Empathie. Er spricht von dem Vermögen, „von sich absehen und sich in ein anderes versetzen zu können“ und dabei doch des Umstandes eingedenk zu bleiben, dass der solcherart mitgefühlte fremde Zustand ein Zustand des anderen ist. Man bewundert die Subtilität, mit der er diese Verfassung mit der Fähigkeit zusammenschaut, sich selbst im Spiegel zu erkennen. Nur – spezifisch menschlich ist all das nicht, und das hätte er damals schon wissen können. Wir begegnen hier abermals einer phänomenologisch subtilen Begrifflichkeit, die sich selbst um ihren Ertrag bringt, weil sie es nicht für notwendig erachtet, ihre eigene Anwendung auf tierisches Verhalten mit derselben Sorgfalt zu überprüfen, mit der sie der Introspektion abgelauscht wurde.
Sprache Das Merkmal, das in der philosophischen Anthropologie wohl am häufigsten als spezifischer Neuerwerb des Menschen in Anspruch genommen wurde, ist die Sprache. Johann Gottfried Herder, Wilhelm von Humboldt und viele nach ihnen haben den Menschen explizit von seiner Sprachlichkeit her begriffen, und bis in die jüngste Zeit blieb sie die am wenigsten angefochtene Verteidigungslinie unseres Andersseins. Was aber ist das Besondere, anthropologisch Relevante an der Wortsprache? Hier gilt es zu beachten, dass auf diese Frage nicht etwa eine einzige, sondern zwei prinzipiell verschiedene Antworten diskutiert werden. Die eine Deutung herrscht in den Kulturwissenschaften vor; sie sieht in der Sprache primär ein soziales Phänomen. Sie lässt sich wie folgt formulieren: Sprache ist wesentlich kommunikativ. Ihre charakteristische Erscheinungsform ist das Gespräch.
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Gemeint ist: Anders als das Tier bewohnt der Mensch außer der Natur noch die Sphäre der Kultur, und dieses Universum ist aus dem immateriellen, ideellen Stoff der Sprache geformt. In der Gegenwartsphilosophie hat vor allem Hans-Georg Gadamer1 diese These vertreten. Dass auch Habermas so denkt, ist offensichtlich. Von dieser Deutungsperspektive wohl zu unterscheiden ist eine zweite, die am Individuum ansetzt. Diese Idee ist die interessantere, übrigens auch die philosophiegeschichtlich ältere von beiden; ihr Stammvater ist Aristoteles. Der logos, dessen Besitz dieser dem Menschen vorbehält, hat neben dem prototypischen Bedeutungskern des gesprochenen Wortes auch noch einen viel weiteren Hof von Konnotationen, die letztlich auf Ordnung und Vernunft hinauslaufen. Das in der Sprache sich manifestierende Privileg des Menschen besteht nach Meinung der attischen Philosophie im Drang nach Erkenntnis um ihrer selbst willen. Von Aristoteles über die scholastische Definition des Menschen als des animal rationale bis zu Linnés Spezifikation des homo sapiens geht hier eine ungebrochene Tradition, deren Quintessenz sich etwa so formulieren lässt: Sprache ist wesentlich ein Werkzeug der Begriffsbildung, also der Kognition. Sie ermöglicht die Vergegenständlichung der Welt.
Auch Plessner neigt dieser Version zu. Für ihn ist die Sprache ein Instrument, das dem Menschen erlaubt, die Fülle der ungefilterten Eindrücke durchzuarbeiten und sich so die Dinge verfügbar zu machen. Anders als die expressiven Vokalisationen der Tiere bekundet sich im gesprochenen Wort ja nicht bloß eine subjektive Gefühlsreaktion, sondern ein Begriff, der die Eindrücke in Besitz nimmt, objektiviert, fixiert und zur Darstellung bringt.2
Abbildung 7.5 Die Symbolik des Deutens erschließt der Existenz einen Horizont
In diesem Zusammenhang greift er auf einen Gedanken zurück, den auch wieder schon Klages in die Diskussion eingebracht hatte. Er sieht die Sprache in Zusammenhang mit der Geste des hinweisenden Deutens. In beiden bekunde sich Abständigkeit. 1 Gadamer (1966) 2 Plessner (1961) p. 41
154 Kapitel 7. Mutmaßungen über den Menschen Speziell beim Menschen, und nur bei ihm, sei die Eingebundenheit in die Welt einem Gegenübertreten gewichen (Abbildung 7.5). Nur dem Menschen erschließe sich ein „Horizont“, nur er habe einen Sinn für Ferne. Kein Tier betrachte den gestirnten Himmel über sich, ja kein Tier betrachte überhaupt irgendetwas, seine Sinneswahrnehmung sei immer schon eingebunden in die Funktionalität triebhafter Vollzüge. Klages spricht von einer spezifisch menschlichen Gewichtsverlagerung vom „Zugreifen“ zum „Anschauen“.1 Zur Begründung verweist er auf die Etymologie. Sowohl das Verbum „sagen“, lateinisch „dicere“, als auch „zeigen“ leiten sich aus dem indogermanischen Stamm „dik“ her. Etwas aussprechen und hinweisend auf etwas deuten hängen demnach sinngemäß zusammen. Der bedeutungsverwandte Stamm „weisen“ heißt eigentlich, „jemanden wissend machen“, am deutlichsten noch in dem Wort „unterweisen“ erkennbar. Aus alldem folgert Klages, dass zwischen Einsicht, Sprechen und Hindeuten ein Zusammenhang besteht, der erwarten lässt und verständlich macht, dass diese drei Kompetenzen auf einer entsprechenden Entwicklungsstufe, nämlich eben beim Menschen, gemeinsam auftreten.
Zeitbewusstsein Während der Begriff „Reflexion“ vornehmlich räumliche Assoziationen weckt, haben fast alle philosophischen Anthropologen die Analogie zu einer entsprechenden Distanzierung auch in der Zeitdimension herausgearbeitet. Sie definieren den Menschen als ein Wesen, das die Befriedigung seiner Bedürfnisse aufschieben kann. So liest man etwa bei Gehlen:2 Das Tier … lebt im jetzt, also problemlos: eine ihm nicht einsichtige und von ihm nicht beeinflussbare Ordnung … sorgt dafür, dass ihm die Mittel der Lebensfristung schon begegnen werden. … (Der Mensch aber) hat „keine Zeit“: ohne Vorbereitung des „morgen“ wird dieses morgen nichts enthalten, wovon er leben könnte. Deshalb kennt er die Zeit.
Interessant ist an dieser ohne Zweifel richtigen Beobachtung, dass sie wiederholt als Erweis dafür gewertet wurde, Tiere hätten noch keine Phantasie. Diese Folgerung ist zwar, wie wir noch sehen werden, objektiv unzutreffend, kommt aber der naiven Intuition entgegen. Wenn wir im Deutschen dem „Vorstellen“ das Synonym der „Vergegenwärtigung“ zuordnen und die lateinisch beeinflussten Sprachen entsprechend mit „re-praesentatio“ verfahren, so lenkt das unseren Blick auf den Tatbestand, dass alles Wahrnehmen im Jetzt erlebt wird und erst die Phantasie auch Vergangenes oder Künftiges in diese Erlebnisgegenwart hineinzuholen vermag.
1 Klages (1950) p. 266 2 Gehlen (1966) p. 51
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Abermals hat vor allem Klages diesen Gedanken ausgelotet. Er schreibt:1 Kein Tier hat Zeitbewusstsein, weil es vom Zeitstrom selber eine Erscheinungsform ist, der Mensch hat jeden Augenblick das Bewusstsein der Zeit, weil er die verhängnisvolle Gabe erlangte, auf das immer Geschehende hinzublicken, und die hat er dadurch erlangt, dass etwas in ihm zeitentzogen neben der Zeit sich befindet.
„Sein“ und „Geschehen“ versteht Klages als unversöhnliche Gegensätze. Das Seiende stehe „neben“ dem Geschehen, und das einzig Seiende im Fluss des Geschehens sei das Ich: Die Austreibung aus dem Paradiese ist identisch mit der Entstehung des Ichs; denn nur ein Ichwesen ist als Ichwesen seiendes Wesen, folglich ein Wesen mit dem Bewusstsein der Zeitlichkeit und mit dem Wissen um sein Begonnenhaben und Endenmüssen.
Das Tier lebe in einem „bildgewordenen Zeitstrom“; die „denkgegenständliche Welt“ hingegen geschehe nicht, sie existiere – so wie das Ich, das den Fluss des Lebens „verselbstet“ und in ihn „das Seiende eingefälscht“ habe. Die Formulierung klingt paradox, weil sie gerade das tierische Leben in die Zeit einbettet, den Menschen aber aus ihr heraushebt. Gleichwohl ist das Argument schlüssig: Das Tier weiß ja gemäß dieser Deutung noch nicht um seine Zeiteingebundenheit, während gerade der Mensch diesen Fluss deshalb bemerkt, weil er aus ihm heraustritt. In allen diesen Gedanken, so manieriert sie auch daherkommen mögen, stecken Keime tieferer Einsicht, die wir nicht achtlos übergehen dürfen. Es wird freilich darauf ankommen, die genannten Innovationen auf plausiblere Weise, als die Lebensphilosophie oder auch Gehlen das vermocht haben, in die phylogenetische Entwicklungslinie einzubinden.
1 Klages (1966) p. 142ff
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Zwischenbilanz Gerade die Frage nach dem Wesen des Menschen bedarf dringend interdisziplinärer Bemühungen. Tatsächlich stand die Geschichte der modernen Anthropologie aber bis vor kurzem im Zeichen von Grabenkämpfen zwischen Biologen und Philosophen, wobei keine der beiden Seiten eine sonderlich gute Figur machte. Biologen wussten zwar eine ganze Menge über Tiere, vermochten aber aus diesem Wissen keinen gehaltvollen Beitrag zu unserem Selbstverständnis zu destillieren; ihre Einlassungen klingen teilweise erschreckend primitiv. Philosophen andererseits konnten mit den nachdenklicheren Argumenten aufwarten, doch mangelte ihnen das „Materialgefühl“ für tierisches Verhalten und überhaupt die Bereitschaft, sich in das Wesen biologischer Abläufe einzudenken. Was eigentümlicherweise beiden Parteien noch immer gleich schwer fällt, ist die Würdigung des unstetigen, in Phasenübergängen verlaufenden Charakters der Evolution: Das Prinzip der Metamorphose: Natürliche Entwicklung folgt oft einem nichtlinearen Regime; dabei kann es zu einem dialektischen Umschlag von Quantität in Qualität kommen. Daher entstehen auch bei Prozessen, denen stetige Übergangsreihen zugrunde liegen, zuweilen ganz neue Sinngehalte. Philosophen haben in Verkennung dieses Grundsatzes qualitative Emergenzen gern als Indiz für die Unmöglichkeit angeführt, den Menschen aus der natürlichen Evolution zu erklären. Biologen, die es besser hätten wissen können, sind in dieselbe Falle gegangen und bemühen sich unnötigerweise, qualitative Sprünge zu leugnen. Insofern bleibt dem philosophischen Lager immerhin das Verdienst, dem Weiterdenken gehaltvolle Kristallisationskerne geliefert zu haben: Stichworte wie „Instinktenthebung“, „Exzentrizität“, „Weltoffenheit“, „Zeitbewusstsein“ und die Rede vom „Hiatus“, der den Menschen zum „Neinsagenkönner“ macht, stehen für Herausforderungen, denen sich eine biologische Betrachtung des Menschen nicht entziehen darf. Unter dieser Perspektive wollen wir im folgenden Kapitel unternehmen, die Umrisse einer auf heutigem Wissensstand argumentierenden evolutionären Anthropologie zu skizzieren. Der Leser sei darauf vorbereitet, dass die Moral dabei selbst noch nicht im Brennpunkt der Betrachtung stehen wird. Wir müssen zunächst den Prozess der Menschwerdung als solchen verstehen, bevor wir uns der Frage zuwenden können, wie die Dynamik des Sollens in ihn eingebettet ist.
Kapitel 8 Evolutionäre Anthropologie Das Kräftespiel der Instinkte Die instinktive Grundausstattung Im letzten Kapitel haben wir die Ansätze zu einer Bestimmung der Conditio Humana Revue passieren lassen, die in der philosophischen Anthropologie bevorzugt diskutiert wurden. Die Instinkte, die tierisches Verhalten ordnen, sind demnach beim Menschen degeneriert; von ihnen ist nur eine chaotische Triebenergie übriggeblieben, gegen die er sich durch den Hiatus behaupten muss. Die „Bilder“, in denen das Tier seine Umwelt erlebt, sind im Medium der Sprache zu den „Dingen“ einer offenen Welt erstarrt, von der er sich hindeutend distanziert. Er hat reflektierend sein eigenes Ich entdeckt, ist dadurch in dieser Welt exzentrisch geworden, und er lebt im Bewusstsein einer vergänglichen Zeit. Was von alldem lässt sich halten, und wie ist es allenfalls zu präzisieren, wenn wir es im Lichte der Kenntnis, die wir heute vom tierischen Verhalten haben, als historisch gestaffelte Kumulation phylogenetischer Metamorphosen verstehen? Beginnen wir unsere Betrachtung auf der untersten Stufe, bei der instinktiven Verhaltensregulation, wie sie in der Primatenreihe vor dem Entwicklungsstand der Menschenaffen zu beobachten ist. Unter einem Instinkt verstehen wir einen Mechanismus, der erklären soll, wie Organismen, die noch nicht denken können, zu adaptivem Verhalten fähig sind. Wie ein solcher Mechanismus prinzipiell funktioniert, wurde bereits an Hand von Abbildung 7.2 erläutert. Die Ethologen verwenden den Instinktbegriff allerdings oft in einem engeren Sinn, so als bezeichne er nur den allerletzten Abschnitt dieses Wirkungsgefüges, die erbkoordinierte Instinkthandlung, also Bewegungsfolgen wie Zubeißen, sich Kratzen, Lauern oder Kopulieren. Das hat historische Gründe, unter anderem den, dass sich an diesen Bewegungsmustern phylogenetische Verwandtschaftsbeziehungen ähnlich gut wie an anatomischen Strukturen aufweisen lassen. Gleichwohl hat sich ein Laborjargon, der Instinkt faktisch mit Erbkoordination gleichsetzt, als kontraproduktiv erwiesen. Gerade der motorische Abschnitt des Systems wurde nämlich im Zuge der Stammeseschichte am stärksten rudimentiert, und das hat dann der Meinung Vorschub geleistet, der Instinkt überhaupt sei beim Menschen einem Abbauprozess zum Opfer gefallen. In Wirklichkeit deckt das Konstrukt „Instinkt“ aber das gesamte System ab, einschließlich seiner sensorischen Detektoren und seiner internen Antriebe. Das zentrale Charakteristikum ist dabei weniger die konkrete Verhaltensgestalt als vielmehr die je besondere Funktion, die ihr bei der Einpassung in die ökologische Nische zukommt. Konkreter gesagt: Wichtiger als die Frage, wie ein Vogel beim Nestbau den Schnabel
158 Kapitel 8. Evolutionäre Anthropologie bewegt, ist der Umstand, dass er überhaupt zum Nestbau motiviert ist – anstatt, wie etwa ein Kuckuck, nach fremden Nestern Ausschau zu halten. Ein weiteres Merkmal des ethologischen Instinktbegriffs ist, dass er grundsätzlich im Plural verstanden werden muss. Die adaptive Einpassung in eine Nische ist immer bereichsspezifisch, sie orientiert sich an Themen – Nahrung, Brutpflege, Sicherheit usw. Man kann statt „Themen“ sogar noch etwas anspruchsvoller „Werte“ sagen, was natürlich nicht im moralischen Sinn zu verstehen ist; der Wertbegriff kennzeichnet hier nur Sollzustände spezifiAppetenzverhalten scher Angepasstheit, die als qualitativ unverwechselbare EndBefriedigung erfahren werden. handlung Verhaltensphänomenologisch betrachtet gliedert sich E N D DPROB PR OBLE LE EM M-M SITU SI ITU TUAAdie tierische Instinkthandlung gemäß Abbildung 8.1. Die SITU TUA AT TIO ON T ON ON Sequenz nimmt ihren Ausgang in einer Problemsituation, die dann durch eine geeignete Erbkoordination in eine adaptive Endsituation umgewandelt wird. Der Vollzug Rückmeldung der Erbkoordination wird sensorisch rückgemeldet und Abbildung 8.1 Der Ablauf einer instinktbildet das angestrebte Ziel der Aktivität; aus diesem gesteuerten Handlung zerfällt in einen Grunde bezeichnet man sie auch als Endhandlung. Auch flexiblen (Appetenzverhalten) und einen das von lat. consummare (=vollenden) abgeleitete Adjekerbkoordinierten Anteil (Endhandlung), tiv konsummatorisch ist in Gebrauch. der im Erfolgsfall die (adaptive) EndsituaNun setzt das instinktive Verhalten aber selten gleich tion herbeiführt. Rückgemeldet und als befriedigend („konsummatorisch“) erlebt mit der Endhandlung ein. In der Regel ist ihm eine Phase wird jedoch bereits die Endhandlung vorgeschaltet, die zwar erkennbar darauf ausgerichtet ist, die Endhandlung zu ermöglichen, im Übrigen aber keinen klar erbkoordinierten Vorgaben folgt. Sie wird als Appetenzverhalten bezeichnet. Auffällig ist an ihr vor allem eine beträchtliche und keineswegs nur rein quantitative Variabilität. Kopiert man mehrere Prozessgestalten gleicher Thematik übereinander, wie Abbildung 8.1 dies andeutet, so wird zwar die Endhandlung mehr oder minder gleich aussehen, die zielführende Appetenzphase aber kann jedes Mal auf ganz anderem Weg ablaufen. Der Grund ist leicht zu sehen: In der Regel kann die Endhandlung nur in einem Kontext erfolgreich ablaufen, der nicht ohne Weiteres gegeben ist. Die Beute des Raubtieres darf nicht zu weit entfernt sein oder sich durch Flucht entziehen; kein Flusslauf, Abhang oder Zaun darf im Wege stehen, kein überlegener Rivale sich nähern, und man darf auch nicht selbst durch irgendwelche Kräfte am Ort gebunden sein, z. B. durch ein Nest mit schutzbdürftigen Jungen. Der Motivationspsychologe Kurt Lewin ist der erste gewesen, der die funktionelle Äquivalenz solcher Hindernisse theoretisch herausgearbeitet und dafür den Symbolausdruck Barrieren eingeführt hat. Auch für den Zustand, den solche Barrieren erzeugen, hat seine Schule ein heute geläufiges Stichwort geprägt, man spricht hier von Frustration.
Das Kräftespiel der Instinkte 159
Der Coping-Apparat Die Appetenz dient dazu, die Barriere zu überwinden. Wegen dieser Funktionalität spricht man auch von „Bewältigungsverhalten“. In vorauseilendem Gehorsam gegen die einzige verbliebene Weltmacht wird dieser Ausdruck meist amerikanisiert und heißt heute Coping. Den hierfür verantwortlichen Mechanismus nennen wir den Coping-Apparat (Cop in Abbildung 8.2). Er kann im Unterschied zu den Instinkten auf kein vorgefertigtes usp Bewegungsprogramm zurückgreifen. Ihm bleibt nichts ơ anderes übrig, als nach dem Zufallsprinzip alle irgendwie verfügbaren Verhaltensmuster durchzuprobieren und sp sich zu merken, wenn eines davon die Lösung des Problems herbeiführt oder wenigstens näherbringt. Der Coping-Apparat erfordert unsere besondere AufAntrieb merksamkeit, weil er es ist, an dem fast alle phylogenetische Weiterentwicklung ansetzt. Manches spricht dafür, Abbildung 8.2 Erweiterung des Wirkungsdass er die Instanz ist, in der das neuronale Geschehen gefüges von Abbildung 7.2 durch den Coping-Apparat (Cop). Dieser versucht erstmals die Schwelle der Bewusstwerdung überschreitet. etwaige Barrieren durch AppetenzverhalJedenfalls hat er Eigenschaften, die ihn von den In- ten auszuschalten, wenn der betroffene stinkten prinzipiell unterscheiden. Da ist zunächst der Antrieb druch ein affektives Signal dies Umstand zu nennen, dass er nicht bereichsspezifisch ange- anfordert. Der Coping-Apparat bedarf einer unspezifischen (usp) Erweisterung legt ist. Alle frustrierten Antriebe können sich an ihn wender Wahrnehmung über die spezifischen den. Freilich muss er wissen, in wessen Dienst er gerade (sp) Auslöseschemata hinaus treten soll; denn je nach Problemlage werden sich unterschiedliche Appetenzstrategien als erfolgreich erweisen. Qualität Die aktivierten Antriebe sollten sich ihm gegenüber also identifizieren. Sie tun dies in der Erlebniskategorie der Lust Spannung Emotionen oder, wie wir auf der vormenschlichen Entwicklungsstufe sagen wollen, der Affekte. Diese müssen dem Coping-Apparat dreierlei Informationen übermitLösung teln – erstens, um welche Antriebsthematik es sich hanUnlust delt, zweitens, wie dringlich eine Lösung ansteht, und Abbildung 8.3 die drittens, ob die soeben von ihm ausprobierte Strategie ein Dreidimensionalität der Emotionen Schritt in die richtige Richtung war. Demgemäß weisen Gefühlserlebnisse drei Dimensionen auf (Abbildung 8.3):
BARRIERE
Cop p
Sie haben eine unverwechselbare Qualität, die die Wahrnehmungswelt passend zum betreffenden Antrieb einfärbt. Sie lassen sich auf einer Achse zwischen den Polen Spannung und Lösung einordnen, wobei letztere dem Coping-Apparat mitteilt, dass er seine Bemühungen einstellen kann. Und sie variieren auf der Dimension Lust-Unlust, wodurch der Coping-Apparat erfährt, ob sein gerade unternommener Versuch näher ans Ziel oder aber von ihm weg geführt hat. Sie fungieren also im Sinn der Lerntheorie als Lohn oder Strafe.
160 Kapitel 8. Evolutionäre Anthropologie Ein weiteres Charakteristikum des Coping-Apparates ist, dass er auf einen erweiterten Wahrnehmungsapparat zugreift. Er kann sich nicht auf Detektoren für einfache instinktspezifische Schemata (sp in Abbildung 8.2) beschränken. Würden in der Wahrnehmungswelt eines Hundes ausschließlich Triebobjekte vorkommen, dann hätte er die Glocke, die einst in Pawlows Labor zur Ankündigung der Futtergabe erklang, überhaupt nicht als beachtenswert wahrgenommen. Um lernen zu können, muss man auch Reizmuster wahrnehmen, die zunächst ohne vitale Bedeutung sind. Das führt uns für einen Moment zu den Erörterungen von Seite 38 ff. zurück. Die unspezifische Kognition des Copingapparates ist insofern von epistemologischem Interesse, als ihre Veridikalität von vorn herein auf Objektivität hin ausgelegt ist. Sie ist ja in Bezug auf Valenzen neutral, sodass parakosmische Missweisungen keinen Selektionswert hätten, ja geradezu kontraproduktiv wären. Da Instinkte auf keiner phylogenetischen Stufe ohne Appetenzverhalten auskommen, wäre es also ganz verfehlt, wenn man, etwa unter Berufung auf Uexküll, objektive Wahrnehmung dem Menschen vorbehalten wollte.
Unter den Maßnahmen, die dem Coping-Apparat zur Verfügung stehen, um eine Barriere zu bewältigen, lassen sich drei Typen unterscheiden (Tabelle 8.1). Die Coping-Strategie, an der die phylogenetische Höherentwicklung am nachhaltigsten angesetzt hat, ist die Umwegsuche. Am Anfang der Entwicklung steht hier der planlose, erratische Bewegungssturm. Schon der kann zum Erfolg führen wie wir von dem Schmetterling lernen können, der beim Flattern gegen die Fensterscheibe schließlich doch noch an den offenen Spalt gerät. Menschen in Panik tun es ihm gleich. Im Laufe der Phylogenese wurde dieses Verfahren dann aber schrittweise verfeinert und gipfelte schließlich im produktiven Denken, das ja im Grunde auch eine subtile Umwegsuche ist. Wir fassen dieses Strategiepaket daher unter der Bezeichnung inventives Coping zusammen. Gelingt es nicht, eine Barriere zu umgehen, bleibt die Möglichkeit, sie zu zertrümmern. Auf diesen Effekt bezieht sich die in der Sozialpsychologie ausgiebig diskutierte These vom engen Zusammenhang zwischen Frustration und Aggression. Eine dritte Möglichkeit wird bei der Aufzählung der Coping-Reaktionen meist außer Acht gelassen, obwohl sie eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt: Man löst das Problem, indem man jemanden anderen bittet, die Barriere aus der Welt zu schaffen. Diese Strategie kann man supplikativ nennen. Proto- alloplastisch: typisch hierfür ist das Weinen der Tier- und Menschenkinder. Invention Allen drei Reaktionen ist gemeinsam, dass sie in die äußere Situation eingreifen. Sie werden in der Literatur als alloplastisch Aggression bezeichnet (von gr. allos = der andere). Nun kann es aber gesche- Supplikation hen, dass die Barriere, wenn der Rauch verzogen ist, immer noch autoplastisch: dasteht und sich als die Stärkere erweist. Will man dann der Revision Frustration entkommen, so bleibt nur die Möglichkeit, sich selbst umzustellen. Diese Coping-Strategie nennt man dann Akklimatisation autoplastisch (von gr. autos = selbst). Hier unterscheiden wir zwei Tabelle 8.1 CopingFormen: Strategien
Das Kräftespiel der Instinkte 161
Wenn die Situation als gestört erlebt wird, dann kann das daran liegen, dass man sie nicht richtig wahrnimmt. Dann mag es sich lohnen, die eigene Kognition einer Revision zu unterziehen: sich die Augen zu reiben, einen Schritt zurückzutreten, die Perspektive zu wechseln. Dabei kann man sich freilich auch in die eigene Tasche lügen so wie jener Fuchs in der Fabel, der die unerreichbar hoch hängenden Trauben als „zu sauer“ abtat. Psychoanalytiker sprechen in solchen Fällen von Verleugnung. Während Revision eine gewisse Differenziertheit des kognitiven Apparates voraussetzt, findet sich eine zweite Variante von autoplastischem Coping schon auf einfachstem Entwicklungsniveau. die Ethologen sprechen hier von Akklimatisation. Sie beseitigt die Spannung eines behinderten Antriebs, indem sie einem anderen, besser realisierbaren den Vorzug gibt. Auch diese Maßnahme kann psychopathologisch ausarten; man nennt das dann Verdrängung.
Die Erschließung der Endsituation Die in Abbildung 8.1 dargestellte Verhaltensorganisation weist eine kontruktive Schwachstelle auf: Die Endsituation zu erreichen ist nur die Funktion, nicht aber das Ziel des Instinkts; sie wird nur angesteuert und nicht durch Rückmeldung in einen Regelkreis einbezogen. Steuerung ist jedoch ein vergleichsweise unzuverlässiges Verfahren; sie muss darauf vertrauen, dass der Prozess in standardisierte Umweltbedingungen eingebettet abläuft, die man nicht kontrollieren kann. Weit effizienter wäre es, wenn statt des Vollzugs der Endhandlung die Wahrnehmung der Endsituation selbst zum konsummatorischen Ziel des instinktiven Verhaltens ausgebaut würde. Es verwundert daher nicht, dass sich der Angriffspunkt der Kontrolle, und mit ihm das Erlebnis der Triebbefriedigung, im Laufe der Phylogenese immer mehr von der Endhandlung auf die Endsituation verlagert hat (Abbildung 8.4). Die kognitiven Mechanismen wurden so leistungsfähig, dass sich die Appetenzverhalten Appetenz zunehmend direkt auf die Endsituation richten konnte. Die erbkoordinierte Instinkthandlung büßte damit ihre Funktion ein. Allerdings verschwand sie nicht EN E ND D-PROBLLE PR EM M-Expr. S SIITU TUA A-spurlos; sie rudimentierte zur Ausdrucksbewegung und SIITUAT S TUA TU AT T ON T ON übernahm die kommunikative Aufgabe, den Gruppenmitgliedern die Intentionen des Akteurs zu signalisieren. Das also ist der wahre Anteil an Gehlens These vom Rückmeldung „Instinktverlust“. Der geschilderte Funktionswandel setzt schon bei den höheren Wirbeltieren ein, ist beim Men- Abbildung 8.4 Verschiebung der konschen allerdings am deutlichsten. Hier beobachten wir, summatorischen Rückmeldung von der vom Ausdrucksverhalten abgesehen, kaum mehr jenes Endhandlung auf die Endsituation. Die regelgebundene Spiel charakteristischer Bewegungsmus- Endhandlung verliert dabei ihre instrumentelle Funktion und rudimentiert zur ter, das die Ethologie der einfachen Wirbeltiere so reizvoll Ausdrucksbewegung (Expr), die gegebemacht. Menschliches Verhalten wird fast durchwegs vom nenfalls kommunikative Aufgaben Coping-Apparat organisiert und ist dementsprechend übernimmt
162 Kapitel 8. Evolutionäre Anthropologie flexibel und unvoraussagbar. Es wäre jedoch ganz abwegig, daraus auf eine Dekonstruktion der zugrundeliegenden Antriebsmechanismen überhaupt zu schließen. Während der Akzentwechsel von der Endhandlung zur Endistuation noch als gradueller Prozess vorstellbar ist, haben in der Anthropogenese aber auch Veränderungen stattgefunden, die als qualitative Sprünge bezeichnet werden müssen. Hier tauchten im Bauplan der Verhaltenssteuerung wirklich neue Konstruktionsideen auf. In der Primatenreihe ragen vor allem zwei solche Umbrüche heraus, von denen der erste beim Übergang zum Entwicklungsstand der Menschenaffen, der zweite bei der eigentlichen Menschwerdung erfolgte. Wir wollen sie in dieser Reihenfolge besprechen.
Die innere Probebühne Die Erfindung der Phantasie Der Coping-Apparat kommt seiner Aufgabe letztlich gemäß dem Prinzip von Versuch und Irrtum nach. Diese Methode aber birgt Risiken. Ein angehender Pilot, dem man bei seinem ersten Alleinflug empfehlen würde, er solle nun einmal „zu landen probieren“, bräuchte eine gehörige Portion Glück, um das Abenteuer zu überleben. Aber so geht man eben auch nicht vor. Der Flugschüler hat den Landeanflug zuvor schon dutzende Male im Simulator geübt, in realistischer Atmosphäre und dennoch ohne Gefahr. Genauso verfährt auch die Natur. Es ist ihr gelungen, wenigstens ihre Spitzenprodukte mit einem hinreichend leistungsfähigen „Simulator“ auszustatten. Dieser Apparat ist die Vorstellungsphantasie. Wir haben im vorigen Kapitel gehört, dass einige Philosophen diese Erlebnisdimension dem Menschen vorbehalten wollten. Nach allem, was wir heute wissen, dürften jedoch schon Raben, Papageien, Elefanten und Wale fähig sein, Handlungsketten auf einer Art „innerer Probebühne“ voraus zu entwerfen und dabei abzuschätzen, was das für Konsequenzen haben wird. In der Primatenreihe wurde diese kognitive Stufe allerdings erst von den Menschenaffen erreicht. Das ist der erste der beiden großen anthropogenetischen Entwicklungsschritte. Die Konstruktion eines solchen Simulators ist apparativ höchst aufwendig. Das Hauptproblem liegt darin, dass die Phantasie, in der man irgendwelche Appetenzstrategien voraus entwirft, von sich aus auch deren Konsequenzen liefern muss. Man kann sich vorstellen, den Stein loszulassen, den man gerade in der Hand hält; aber dann hat das Gehirn von sich aus dafür zu sorgen, dass er nicht mitten in der Luft schweben bleibt, sondern sich mit wachsender Geschwindigkeit senkrecht nach unten in Bewegung setzt. Wie jedem effizienten technischen Simulator, muss der Phantasie eine naive Physik implementiert sein, die immerhin so objektiv ist, dass es sich lohnt, sie als Realitätsmodell zu nutzen. Dass Schimpansen hier bald an eine natürliche Grenze stoßen, kann man an der Weise ersehen, in der sie mit Intelligenzproblemen umgehen. In den klassischen Versuchen Wolfgang Köhlers1 1 Köhler (1973)
Die innere Probebühne 163
ging es zum Beispiel oft darum, sich Zugriff zu einer an der Käfigdecke baumelnden Banane zu verschaffen. Die Lösung bestand darin, einige irgendwo herumliegende Kisten unter der Banane zu einem Podest zu stapeln (Abbildung 8.5). Wie man an den Blickbewegungen der Tiere verfolgen kann, nehmen sie diese Handlung tatsächlich „im Geiste“ vorweg. Bei der realen Ausführung kommen sie dann aber selten mit der Statik zurecht; ihre Turmbauten sind oft so wackelig, dass sie nur für die Dauer eines beherzten Sprunges halten und unter dessen Wucht sogleich wieder umstürzen.
Sprachliche Präadaptation Die Kompetenz, eigenes Handeln auf einer imaginären Bühne im Voraus zu entwerfen, reicht indessen allein nicht aus, um produktives Problemlösen zu erklären. Phantasie ist noch keine Intelligenz. Mentales Probehandeln erfordert eigene Kategorien kognitiver Verarbeitung. Wenn wir versuchen, diese am produktiven Denken der Schimpansen festzumachen, stoßen wir auf ein Themenfeld, dessen anthropologische Relevanz zwar außer Frage steht, meist aber in ganz anderem Zusammenhang erörtert wird. Es geht um den inzwischen gut gesicherten Tatbestand, dass Abbildung 8.5 vorgeplanter Schimpansen, Bonobos und Gorillas lernen können, auf eine nicht- Bau eines Podestes bei triviale Weise mit sprachlichen Symbolen umzugehen. Die Tiere sind Schimpansen zwar mangels geeigneter Stimmwerkzeuge zu keiner Lautsprache fähig, lassen aber erstaunliche Kompetenzen erkennen, wenn man zu besser geeigneten a Medien wechselt. Den Anfang machte der erfolgreiche VerURW " $SIHO such des Ehepaars Gardner, einem Schimpanb senweibchen die Gebärdensprache der Taubstummen beizubringen.1 Bald darauf konnten URW )DUEHYRQ $SIHO David und Ann Premack an Hand von Plasc tiksymbolen, die magnetisch an einer Tafel hafteten, sogar einen an „Schrift“ gemahnenden URW QLFKW )DUEHYRQ %DQDQH Symbolgebrauch nachweisen.2 Abbildung 8.6 Die sprachliche Verwendung von Plastiksymbolen an einer Magnettafel in den Versuchen von Premack
Abbildung 8.6 illustriert die Art der von den Premacks durchgeführten Versuche. Wenn Tieren, die zuvor natürlich die Bedeutung der Zeichen lernen mussten, die Anordnung a vorgelegt wurden, ersetzten sie das Fragezeichen durch das Symbol für „Farbe von“ (b). Wurde aber das Zeichen für „Apfel“ durch das für „Banane“ ersetzt, fügten sie ein Verneinungssymbol ein (c).
1 Gardner & Gardner (1969) 2 Premack & Premack (1983)
164 Kapitel 8. Evolutionäre Anthropologie Die Bedeutung dieser Befunde liegt darin, dass sie die auf Seite 152 f. aufgeworfene Frage entscheiden helfen, ob Sprache im Dienste der Kommunikation evolviert oder vielmehr primär ein Instrument des begrifflichen Denkens sei. Entscheidend ist hier nämlich, dass Menschenaffen zwar über die kognitive Ausstattung verfügen, den Symbolgebrauch zu erlernen, dass sie von den damit verbundenen Möglichkeiten aber spontan in freier Wildbahn keinen kommunikativen Gebrauch machen. Dort genügen ihnen zur Verständigung in allen vitalen Belangen, einschließlich der kooperativen Jagd, weiterhin Ausdrucksbewegungen aus altem Primatenerbe. Man kann nun aber schwerlich argumentieren, dass ein Verwendungszweck, der unbeachtet bleibt, den Selektionsdruck ausgeübt haben sollte, dem die betreffende Kompetenz ihre Entstehung verdankt. Daher gewinnt die Alternative an Gewicht, der zufolge die Kategorien der Sprache primär als Instrumente der Begriffsbildung, als Inventar des produktiven Denkens entstanden sind und beim Menschen dann erst sekundär auch kommunikativ eingesetzt wurden.
Das Lächeln der Cheshire-Katze Was genau ist nun aber mit den hier beschworenen neuen Kategorien gemeint, und inwiefern können sie dem produktiven Denken nützlich sein? Betrachten wir dazu die Erscheinungsformen der Schimpansensprache etwas genauer. Das eigentlich Aufregende liegt darin, dass Gebärden oder Plastikfiguren Wahrnehmungsinhalte mit Dingcharakter sind. Man kann sie als selbständige Einheiten identifizieren, als Bauelemente mit anderen verketten. Dinge sind Identitätskerne. Sie können Eigenschaften haben, an ihnen können Prozesse ablaufen, und zwischen ihnen können einfache Relationen, etwa der Lage oder der Kausalität, bestehen. Solche Attribute sind unselbständig; sie können aus eigener Kraft nicht wie das Lächeln von Lewis Abbildung 8.7 die Schwierigkeit, „das“ (reifizierte!) Carrolls Cheshire-Katze allein im Raum übrigbleiLächeln der Cheshire-Katze bildlich darzustellen ben, wenn die Katze weggelaufen ist (Abbildung (Quelle: Wikimedia commons) 8.7). Das ist nun aber genau die Fähigkeit, die sie haben müssen, wenn Plastkiksymbole als Platzhalter nicht nur Substantiven wie „Apfel“ oder „Banane“, sondern auch Adjektiven wie etwa „rot“ zugeordnet werden sollen. Schimpansen gehen also mit Attributen von Dingen so um, als handle es sich dabei selbst um Dinge. Diese Leistung wird als Verdinglichung oder Reifikation bezeichnet. Verdinglichung ist ein linguistisches Universale. Im Deutschen erlaubt es, zum Verbum „lieben“ das Substantiv „die Liebe“ und zum Adjektiv „schön“ die „Schönheit“ zu bilden; andere Sprachen bieten analoge Wortbildungen an. Das Wesen dieser Kognitionsleistung wird verkannt, wenn man sie, wie es zuweilen geschieht, als bloße Abstraktion abtut. Abstraktion ist die isolierte Reaktion auf ein
Die innere Probebühne 165
Merkmal unter Missachtung der übrigen. Das können auch schon Tiere auf relativ einfachem kognitiven Niveau. Hühner lassen sich beispielsweise darauf dressieren, von zwei Futterschalen immer die jeweils größere aufzusuchen. Sie identifizieren sie dann eben an ihrer relativen Größe; aber das Ding, auf das es ankommt, bleibt die Futterschale selbst. Plessner hat einmal festgestellt, man könne es wohl eine „Abstraktion“ nennen, wenn Affen „Ähnlichkeiten im Figuralen, auch Reihenfolgen“ erfassen und insofern „nicht ans einzelne gefesselt“ seien, „aber sie können das Spitze, Dreieckige, das jeweils Dritte und anderes nicht als solches für sich von der Situation, in der sie auftreten, lösen. Das Generelle im begrifflichen Sinn bleibt ihnen verschlossen.“1 Damit hat er das Wesen der Verdinglichung genau erfasst, nur dass er sie irrigerweise als Specificum Humanum reklamierte.
Wieso ist nun Verdinglichung eine Kategorie des produktiven Denkens? Das lässt sich am ehesten verstehen, wenn wir nochmals auf Köhlers Versuche zurückkommen. Nehmen wir an, ein Schimpanse sitzt in seinem Gehege; hoch über seinem Kopf baumelt eine Banane. In seiner Welt gibt es jedenfalls Dinge, z. B. die Banane, eine Kiste in der Käfigecke und nicht zuletzt auch ihn selbst. Diese Dinge haben Attribute, die Banane ist z. B. wohlschmeckend und sie hängt hoch oben. Um mit solchen Attributen kreativ umgehen zu können, ist nun erforderlich, dass sie zunächst verdinglicht und damit ihrerseits zu potentiellen Trägern von Eigenschaften, Prozessen und Relationen gemacht werden (Abbildung 8.8). Indem der Schimpanse also beispielsweise die „Höhe“ der Banane selbst zu einem Ding macht, kann er sie zu der ebenfalls reifizierten „Höhe“ der Kiste in Rela- Abbildung 8.8 Um das Werkzeugs als geeignet tion setzen. Aus dem Vergleich beider ergibt sich für die Erreichung der Banane zu verstehen, muss die Relation zwischen „der“ Höhe der dann die Lösung des Problems. Nun möge eine weitere Banane, statt an der Decke Banane und „der“ Höhe der Kiste bzw. zwischen „der“ Enge der Gitterstäbe und „der“ Schmalheit zu hängen, außerhalb des Käfiggitters am Boden lie- der Stange erkannt werden gen. Jetzt kann derselbe Prozess erneut ablaufen, nur dass anstelle der „Höhe“ nunmehr die „Weite“ ihrer Entfernung und die „Enge“ der Gitterstäbe geeignete Reifikationen wären. Das Ergebnis könnte dann so aussehen, dass das Tier die Passung zu den Attributen „Länge“ und „Schmalheit“ eines Bambusstabes erkennt und mit diesem die Banane hereinharkt. Wie unerlässlich ein reifizierender Zwischenschritt ist, zeigt sich, wenn er ausfällt. Wolfgang Köhler berichtet, dass die dümmeren unter seinen Versuchstieren, wenn sie durch Beobachtung und Instruktion gelernt hatten, Bananen mit einer Kiste von der Decke zu holen, dann bei der zweiten Aufgabe auch wieder die bereits „bewährte“ Kiste an das Gitter schleppten, obwohl sie dort als Lösungswerkzeug natürlich ganz ungeeignet war. Die Kiste war hier unter dem Belohnungsdruck der erfolgreich gelösten ersten 1 Plessner (1961) p. 42
166 Kapitel 8. Evolutionäre Anthropologie Aufgabe gewissermaßen „mit Haut und Haaren“, als konkretes Ding eben, mit der erreichten Banane assoziiert worden (Abbildung 8.9). Es wäre aber eben darauf angekommen, eine kausale Relation zwischen lösungsrelevanten Attributen zu stiften.
Der Hiatus der Selbstkontrolle Das Problem des Antriebsmanagements Wir haben bereits mehrfach festgestellt, dass Instinkte im Plural anfallen. Von ihnen hat jeder seine eigenen Ziele, und diese liegen oft in ganz verschiedener Richtung. Da sie dann nicht gleichzeitig angestrebt werden können, müssen die entsprechenden Antriebe im Regelfall um die Priorität konkurrieren. Das Prinzip, nach dem dabei die Entscheidung zustande kommt, ist bei allen Tieren, einschließlich der Menschenaffen, der einfache Stärkevergleich. Nehmen wir an, zwei Antriebe A und B seien gleichzeitig aktiviert (Abbildung 8.10). Jeder von beiden hat seine eigenen Detektoren (DA und DB) Abbildung 8.9 Eine Assoziation „der“ Kiste mit für spezifische Auslöseschemata und steuert separate „der“ Banane führt zum Versagen bei der zweiten Aufgabe motorische Programme (MA und MB) an; die letzteren seien inkompatibel. In dieser Lage trachtet jeder von beiden den anderen zu unterdrücken. Wenn nun beispielsweise A deutlich stärker aktiviert ist als sein Konkurrent B, setzt er sich durch, und der andere wird gehemmt (x). Tatsächlich ist diese Form des Konfliktmanagements nun allerdings nicht eben die effizienteste. Ein findiger Ingenieur würde das System eher so konstruieren, dass im Konfliktfall nicht allein die Stärke des Antriebs ausschlaggebend ist. Ob es sich lohnt, einem Impuls zu folgen, hängt immer auch wesentlich von der Aussicht auf Realisierung unter den jeweils gegebenen Bedingungen ab. Möglicherweise ist das Ziel in vorhersehbarer Zukunft viel besser erreichbar, sodass es sich lohnen würde, ein wenig zu warten und etwas anderes vorwegzunehmen, das zwar noch nicht gar so dringend, aber momentan gerade günstig zu erledigen ist. Diese Idee klingt bestechend; aber sie ist offenbar apparativ so aufwändig, dass allein der Mensch es geschafft hat, sie zu verwirklichen. Damit stoßen wir nun erstmals Abbildung 8.10 Laterale Inhibition zweier im Zuge unserer phylogenetischen Analyse Antriebe A und B. Der stärkere von beiden unterdrückt den schwächeren (x) auf ein echtes Specificum Humanum.
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Die Erschließung der Zeitdimension war phylogenetisch viel komplizierter zu verwirklichen als die Orientierung im Raum. Am Anfang der kognitiven Entwicklungsgeschichte kann von Zeitbewusstsein überhaupt noch keine Rede sein. Tiere auf einfacher Instinktstufe reagieren unmittelbar auf aktuelle Ereignisse. Beim Antrieb zählt allein seine gegenwärtige Stärke, die Detektoren melden, was jetzt der Fall ist, und das motorische Programm drängt auf sofortigen Vollzug. Es mag durch äußere Barrieren noch gehemmt sein, sodass der Coping-Apparat eingreifen muss; aber sobald die Hindernisse beiseite geräumt sind, wird der Trieb ohne weitere Hemmung befriedigt. Was künftig geschehen mag und wie einem dann zumute sein wird, liegt jenseits des kognitiven Horizontes. Dieses Prinzip gilt auch für das sogenannte „Anlegen von Vorräten“. Caniden beispielsweise vergraben unverzehrte Nahrungsreste, auf die sie später zurückgreifen können. Sie tun dies mit einem typischen motorischen Programm, dessen Vollzug sie offenbar als solcher, ganz unabhängig von seinen Konsequenzen, befriedigt. Dazu existiert eine amüsante Schilderung von Lorenz.1 Er beschreibt, wie sein Hund im Wohnzimmer mit einem Knochen in eine dunkle Ecke stürmte und die Beute dort „vergrub“ – mit allen erforderlichen Scharrbewegungen der Pfoten, abgeschlossen durch das mit quietschender Schnauze auf dem glatten Parkett vollzogene „Glattstreichen“ der Unterlage. Anschließend kam er fröhlich schwanzwedelnd zurück, ungerührt von dem Umstand, dass der Knochen nach wie vor weithin sichtbar war. Es würde schwer fallen, in einem solchen Verhaltensmuster die Sorge für künftigen Hunger zu erkennen.
Primäre und sekundäre Zeit Die Verhältnisse wandeln sich erstmals qualitativ mit der Erfindung der Phantasie. Das war wohl auch der tiefere Grund, warum Philosophen diese immer so gern dem Menschen vorbehalten wollten: Sie spürten richtig, dass mentales Probehandeln nicht ohne eine Form von Zeitverständnis funktionieren kann. Wie wir auf Seite 154 schon feststellten, muss ein innerer Simulator, der Handlungen vorweg entwerfen kann, Zukunft „ver-gegenwärtigen“. Intelligente Problemlösungen müssen Handlungen und ihre Folgen antizipieren. Machen wir uns die erforderlichen Veränderungen an Hand von Abbildung 8.11 klar. Ein Antrieb A richte sich auf ein Ziel ZA, das aber wegen einer äußeren Barriere unerreichbar ist. Diese Situation ruft den Coping-Apparat auf den Plan, der seine Umweghandlungen in der Phantasie voraus entwirft. Er konzipiert Aktivitäten des vorgestellten eigenen Organismus (Ego) und antizipiert deren Folgeprozesse im simulierten Kausalnexus der wahrgenommenen Situation (Sit). Lässt sich voraussehen, dass diese Ereigniskette zielführend ist, wird sie in reales Verhalten umgesetzt. Man könnte zunächst meinen, dass damit die These widerlegt sei, Zukunftsantizipation sei ein Spezifikum des Menschen. Genauere Beobachtung der Abläufe nötigt uns jedoch zu einer differenzierteren Sicht auf die Dinge. Das Ehepaar Boesch hat an der Elfenbeinküste eine Schimpansengruppe beobachtet, die von Zeit zu Zeit zu Wanderun1 Lorenz (1949) 2 Boesch & Boesch (1984)
168 Kapitel 8. Evolutionäre Anthropologie gen in ein Gebiet aufbrach, wo eine bestimmte Art von Nüssen vorkommt, deren Schale so hart ist, dass man Werkzeuge braucht, um sie aufzuschlagen. Die gibt es aber nicht im Nussrevier, das wissen die Tiere und nehmen daher vorsorglich schwere Steine mit. Der Fußmarsch dauert bis zu einer halben Stunde. Das ist ohne Zweifel eine beachtlichen Antizipationsleistung. Die Geschichte ist nun aber noch nicht zu Ende. Wenn die Schimpansen nämlich satt sind, erlischt offensichtlich ihr Interesse an den SteiAbbildung 8.11 Primärzeit. Die in der Phantasie nen. Sie werfen sie achtlos beiseite, anstatt das in vorentworfene Handlungskette entfaltet sich dieser Gegend seltene und daher wertvolle Werktemporal im Bezugssystem der aktuellen Antriebslage A. Sie endet daher bei dem angezeug zum abendlichen Nistplatz mitzunehmen, strebten Ziel (앰). Bei Erlöschen des Antriebes fällt um für künftigen Hunger gerüstet zu sein. Wenn das Erleben wieder auf die Präsenzzeit zurück sie das nächste Mal aufbrechen, geht eine völlig neue Handlungskette los: Sie sind „in Gedanken“ wieder einmal mit den Nüssen beschäftigt, dabei „fallen ihnen“ Steine ein, und wenn sie einen liegen sehen, nehmen sie ihn mit. Der Begriff „Antizipation“ ist somit zu unscharf, um das Wesentliche einzufangen: Es kommt nicht darauf an dass, sondern was antizipiert wird! Betrachten wir unter dieser Perspektive noch einmal die Abbildung 8.11. Der ganze Prozess von der Erinnerung des Futterplatzes und die antizipatorischen Werkzeugbeschaffung bis zum Verzehr der Nüsse kann günstigstenfalls in der Phantasie des Schimpansen vorentworfen werden – aber mehr eben nicht! Das Phantasiegeschehen und alle aus ihm erwachsenden instrumentellen Handlungen bleiben eingebettet in die Stimmungslage A, den Appetit auf Nüsse. Er ist es, der dafür sorgt, dass die Phantasie sich damit beschäftigt, wie man dorthin gelangt, wo die Nüsse wachsen, dass die Aufmerksamkeit für entsprechende Reize geschärft, das Gedächtnis für verwertbare Erinnerungsdaten sensibilisiert, die Handlungsschritte in die rechte zeitliche Abfolge gebracht werden. Ohne den aktuellen Appetit als organisierendes Prinzip lösen sich alle diese kognitiven Strukturen wieder in Nichts auf. Die Leistung der Menschenaffen soll damit keineswegs kleingeredet werden. Die problemlösende Phantasie wäre nichts wert ohne eine Art Zeitsinn, der die einzelnen geplanten Schritte zu einer funktional sinnvollen Folge aufzureihen gestattet. Und doch: Die erbrachten Antizipationsleistungen erfolgen stets im affektiven Bezugssystem der aktuellen Antriebslage. Die Imagination ist nicht weniger, aber auch nicht mehr als der Widerhall gegenwärtiger Bedürfnisse in einer vorweggenommenen Umwelt. Als Organisator des Phantasiegeschehens wirkt immer nur der momentan am stärksten aktivierte Antrieb, und das Zeitverständnis bleibt episodisch; es läuft jeweils wieder aus, wenn die Sättigung eintritt. Wenn der Appetit gestillt ist, dann ist es so, als drückte der Coping-Apparat auf eine Art „Clear“-Taste: Auf dem Bildschirm der Phantasie werden dann alle Eintragungen „gelöscht“, und die erlebte Zeit implodiert wieder zu strukturloser Präsenz. Tierisches Zeiterleben ist auch auf seinem höchsten Entwicklungsstand
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ausreichend als eine Kette kurzgliedriger, thematisch geschlossener Episoden beschreibbar. Und hier liegt nun der Unterschied zum Menschen: Die Phantasie beschränkt sich bei uns eben nicht auf Coping-Strategien zu aktuellen Antrieben, sondern sie vermag auch zu prüfen, was nach deren Erledigung sein wird, welche Veränderungen in der Umwelt und in den Ichzuständen zu erwarten sind und welche neuen Antriebslagen das aktivieren wird. Wir können, was kein Tier kann: künftige, momentan noch gar nicht „spruchreife“ Antriebe – wohlgemerkt: Antriebe, und nicht nur Mittel zu deren Befriedigung! – zu imaginieren und diese in die Prioritätenregelung einzubeziehen. Unter den wenigen Motivationstheoretikern, Abbildung 8.12 Sekundärzeit. Der Antrieb B, der die primärzeitliche Handlungsplanung organisiert, ist die uns für die Bedeutung dieser Errungenschaft momentan gar nciht aktiviert, sondern wird selbst in der sensibilisiert haben, war Sigmund Freud. Von Phantasie vorweggenommen. Dies geschieht unter der ihm stammt die Unterscheidung zwischen einem Regie einer antriebsunabhängigen Repräsentation des „Primärprozess“, der auf unverzügliche Triebbe- objektiven Ereignisablaufs (Weltgerüst), dem keine temporalen Grenzen gesetzt sind. Der aktuelle Antrieb A friedigung drängt, und einem „Sekundärprozess“, wird währenddessen vom Coping-Apparat unter Hemder diese im Dienste einer realitätsangepassten mung gesetzt (exekutive Kontrolle, x); seine affektiven Handlungsorganisation aufzuschieben vermag. Signale werden dabei zu Emotionen gedämpft Wir könnten demgemäß das temporale Bezugsystem der Schimpansen als Primärzeit bezeichnen; sie ist in Abbildung 8.11 durch Sanduhr-Symbole dargestellt, um zum Ausdruck zu bringen, dass diese Zeit einen Anfang und vor allem ein Ende hat. Auf der Stufe des menschlichen Zeitverständnisses ist dann jedoch eine echte Uhr erforderlich (Abbildung 8.12) oder, in einem anderen Bilde, ein Kalender, in den auch später zu erwartende Antriebslagen vorwegnehmend eingetragen werden können – ein temporaler Speicher, in dem alle die vielen Sanduhren künftiger Bedürftigkeit aufbewahrt und bei Bedarf von einem Fach ins andere umgelagert werden können. Dieses übergeordnete Bezugssystem muss ein Zeitgefühl nach dem Modell des Raumgefühls sein, ein Zeit-Raum, der das, was nacheinander abläuft, in eine geordnete Folge von reversibel abrufbaren Adressen kodiert. Diesen Zeitspeicher wollen wir Sekundärzeit nennen.
Santinos Munitionsdepot Es ist keineswegs trivial, wenn der kognitive Apparat des Menschen aus der Zeit einen Raum macht. Ein Raum ist nämlich ein System von Orten, die man reversibel wechseln kann. Man kann sich von einem zum anderen bewegen und dann wieder zurückkehren. „Bewegen“ und „zurückkehren“ aber sind Begriffe, die selbst schon eine implizite Beziehung zum Zeitablauf haben. Ich bin jetzt am einen Ort, etwas später am nächsten
170 Kapitel 8. Evolutionäre Anthropologie und noch später wieder am ersten. Bewegung ist immer Ortsänderung in der Zeit. In einer verräumlichten Zeit kann man sich bewegen, „auf Zeitreise gehen“, wenn auch nicht leibhaftig wie im utopischen Film, so doch immerhin in der Imagination. „Zeitreise“ ist somit eine „Zeitänderung in der Zeit“! Die zum mentalen Bewegungsspielraum gewordene Sekundärzeit setzt also logisch immer noch eine zweite, eine existentiell erfahrene, weiterhin irreversible Zeit voraus, die unerbittlich abläuft. Wir werden nachfolgend von der Annahme ausgehen, dass die Fähigkeit, im beschriebenen Sinn auf Zeitreise zu gehen, tatsächlich den Schlüssel zur Conditio Humana liefert. Es soll daher nicht unerwähnt bleiben, dass immer wieder einmal die Meldung durch die Presse geht, man habe die Sekundärzeit nunmehr auch bei Tieren entdeckt. Der bislang spektakulärste Bericht dieser Art datiert vom Anfang 2009. Er handelt von einem Schimpansen namens Santino in einem schwedischen Tierpark, der regelmäßig schon am frühen Morgen Steine aus dem Wassergraben um sein Gehege fischte und auf einem Haufen stapelte (Abbildung 8.13), mit denen er dann mittags die Zoobesucher am anderen Ufer zu bewerfen pflegte. Nach Meinung des biologischen Fachvertreters, der die Geschichte veröffentlichte, spricht dieses Verhalten für die Antizipation einer künftigen Bedürfnislage. Als Abbildung 8.13 Santinos Munitionsdepot Argument führt er an, dass das Steinesammeln ohne Anzeichen von Erregung, geradezu bedächtig vor sich ging. Diese Begründung trägt indessen nicht weit; denn auch die Schimpansen an der Elfenbeinküste besorgen sich auf dem Weg zur Nussregion ihr Werkzeug ohne Zeichen von Aufregung. Will man die Beobachtung im schwedischen Tierpark interpretieren, wird man die Vorgeschichte einbeziehen müssen. Santino hatte in seiner Gruppe zunächst eine AlphaPosition innegehabt. Dazu gehört regelmäßiges Imponierverhalten zur Entmutigung potentieller Rivalen. Nun war aber das Steinewerfen auffallend zeitgleich mit dem Tod des einzigen anderen Männchens in der Gruppe aufgetreten; die Imponiermotivation suchte sich offenbar von da an die menschlichen Besucher als Ersatz. Gerade bei dieser Motivation handelt es sich aber, anders als beim periodisch anwachsenden und dann durch Befriedigung jeweils wieder erledigten Appetit auf Panda-Nüsse, um eine ständig aktivierte Stimmung, bei der keine echte abschließende Sättigung eintritt. Als Alpha ist man gewissermaßen „immer im Dienst“. Santino hat also seinen Vorrat nicht für eine künftige, sondern für eine permanent bestehende Bedürfnislage gesammelt. Er konnte nur einfach schon früh am Morgen nicht länger warten, bis endlich gegen Mittag die Besucher auftauchen würden. Hier reicht durchaus die sparsamere Interpretation, dass nicht sein Motiv antizipiert war, sondern die Gelegenheit zu dessen Befriedigung!
Exekutive Kontrolle Wenn wir noch einmal zu den Thesen der philosophischen Anthropologie zurückblenden, wie wir sie im vorigen Kapitel Revue passieren ließen, so ordnen sich diese in die hier
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angestellten evolutionären Betrachtungen größtenteils recht organisch und weit schlüssiger ein. Insbesondere haben wir keinerlei Grund, die „Weltoffenheit“ und die „Zeitentbundenheit“ des Menschen als Widerspruch zu seiner Instinktausstattung in Anschlag zu bringen; sie erschließt dieser nur eine freilich auf tierischem Niveau unerreichte Weite. Wie aber steht es um das Herzstück der Gehlenschen Anthropologie, den „Hiatus“? Auch dieser findet in der evolutionären Anthropologie seinen Platz. Es geht dabei um das generelle Thema der Hemmbarkeit von Antrieben. In den vorangegangenen Abbildungen wurde diese durch einen mit x markierten Doppelstrich gekennzeichnet. Neuropsychologen reden hier meist pauschal von „exekutiver Kontrolle“. Bei diesem Sprachgebrauch bleiben freilich einige wichtige Unterschiede außer Betracht, die uns im Folgenden veranlassen werden, den Begriff in einem engeren Sinn zu verwenden. Dass der Organismus in der Lage sein muss, einen durch innere oder äußere Stimuli aktivierten Antrieb gegebenenfalls unter Hemmung zu setzen, gehört zu den generellen Konstruktionsprinzipien schon der einfachen Instinktstufe, wie sie in Abbildung 8.10 dargestellt ist. Dort obliegt die Aufgabe, einen Impuls in seine Schranken zu weisen, allerdings zunächst noch seinen direkten Konkurrenten, also anderen Antrieben. Etwas anders funktioniert dann bereits der Hemmvorgang, der das mentale Probehandeln auf der Entwicklungsstufe der Anthropoiden begleitet (Abbildung 8.11). Damit die in der Phantasie entworfene Handlung exekutiert werden kann, muss in diesem Fall nicht der Antrieb A, wohl aber dessen genetisch programmierte Bewegungskoordinationen MA deaktiviert werden. Dafür ist eine separate Instanz erforderlich. Eine gänzlich neue Situation ergibt sich dann schließlich, wenn der Mensch die Zeitachse als Pufferregister beim Antriebsmanagement nutzt und in den Wettstreit der Motive auch jene aufnimmt, die vorderhand noch gar nicht zur Aktualität erwacht sind, sondern nur im Modus der Antizipation erlebt werden (Abbildung 8.12). Es geht jetzt darum, nicht nur zukünftige eigene Handlungen, sondern auch die motivationale Stimmungslage, die diese Handlungen organisieren soll, in der Phantasie voraus zu entwerfen. Damit dies gelingt, müssen auch die Anreizwirkung der erwarteten Ereignisse sowie die künftige eigene Bedürfnislage imaginiert werden. Verglichen mit Antrieben, die durch aktuell erlebte Situationen geweckt wurden, fehlt es solchen vorgestellten Motiven sicherlich an Farbe und Durchschlagskraft. Wie sollen sie dann aber eine ernsthafte Chance haben, mit jenen in Wettstreit zu treten? Hierfür müssen Vorkehrungen getroffen werden, die die energetischen Niveau-Unterschiede abbauen. Und das ist nun die Stelle, wo der „Hiatus“ seinen funktionalen Sinn bekommt. Wir werden den Begriff der exekutiven Kontrolle nachfolgend für diesen Fall reservieren. Auf Seite 159 wurde gesagt, dass sich die Antriebe dem Coping-Apparat in der Sprache der Affekte bemerkbar machen. Auf vormenschlicher Stufe tun sie dies auf recht unzivilisierte, brachiale Weise, indem sie einander zu überschreien trachten. Bei uns jedoch dämpft der Hiatus die Stimmlage der Affekte soweit, dass auch das Murmeln antizipierter Bedürfnisse Gehör finden kann. Wir wollen dem dadurch Rechnung tra-
172 Kapitel 8. Evolutionäre Anthropologie gen, dass wir beim Menschen von Emotionen reden und den Begriff Affekt auf die Ausnahmefälle beschränken, in denen das Antriebsgeschehen die exekutive Kontrolle durchbricht. In der exekutiven Kontrolle kulminiert der Wechsel von der tierischen zur menschlichen Verhaltensorganisation. Ihr Charakteristikum besteht darin, dass die momentan aktivierten Antriebe ihr imperatives Mandat über den Coping-Apparat verlieren. Auf tierischer Stufe übernimmt der Instinktmechanismus ohne weitere Rückfrage wieder die Handlungsregie, sobald der Coping-Apparat den Zugang zum Triebziel frei geräumt hat. Beim Menschen aber errichtet die exekutive Kontrolle eine dauerhafte Barriere, die prinzipiell nicht erlaubt, Handlungen ungeprüft in Gang zu setzen. Der Coping-Apparat bleibt gewissermaßen immer wachsam, behält auf jeden Fall die Entscheidungshoheit, drückt die Affekte konstitutionell auf das moderate Niveau von Emotionen herab, lässt sich von diesen ständig über die gegenwärtige und künftige Antriebs- und Anreizlage informieren und will dann erst selbst entscheiden, welches Motiv er zum Zuge kommen lässt.
Die Grammatik der Kommunikation Der gemeinsame Bau am Weltgerüst Sigmund Freud hat den „Primärprozess“ an das von ihm so genannte „Lustprinzip“ gebunden; dem „Sekundärprozess“ ordnete er entsprechend ein „Realitätsprinzip“ zu. Wir können uns bei der Deutung der Primärzeit auf dieses Sprachspiel einlassen, wenn wir bei „Lust“ an die Befriedigung der aktuellen Motivlage denken. Auch das spezifisch menschliche Zeiterleben wird von hier aus tiefer verständlich; es steht in der Tat in einer besonderen Beziehung zur Realität. So wie wir die Sekundärzeit bisher charakterisiert haben, ist sie nichts anderes als ein leeres Gefäß, eine Folge unbeschriebener Kalenderblätter. Aus ihr allein ließe sich nicht vorhersagen, dass ich im kommenden Herbst den Wunsch zu ernten haben werde und daher jetzt im Frühjahr säen muss. Das alles kann nur folgen, wenn in diesem Kalender Eintragungen vorgenommen werden, und zwar Eintragungen, die den prospektiven realen Ablauf des Weltgeschehens betreffen; denn von diesem hängt es ja ab, in welchen Motivzuständen ich mich morgen befinden werde. Was mir Not tut, ist also ein Gerüst verlässlicher Extrapolationen dieses Ereignisablaufs. In Abbildung 8.12 steht dafür das Wort Weltgerüst. Es ist recht eigentlich das übergeordnete, das MetaBezugssystem, in dem die Szenarien der Einzelmotive ihren jeweiligen Platz finden. Das im Weltgerüst gesammelte Wissen ist von anderer Art als jenes, das die Vorstellungsphantasie benötigt, um mentale Coping-Leistungen im Rahmen einer bereits aktivierten Antriebslage auszuführen. Der weiß ausgefüllte Wirkungspfeil in den beiden letzten Schemazeichnungen erläutert den Unterschied. In Abbildung 8.11 weist er vom Ego zur Umweltsituation Sit. Das bedeutet, dass das Wissen um den Eigencharakter der Umwelt, das dem Simulator des Schimpansen implementiert ist, nur gleichsam
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passiv bereitliegt und sich erst darin zu erkennen gibt, wie die vorgestellten Dinge reagieren, wenn das Tier durch eigene mentale Probehandlungen imaginäre Kausalketten auslöst. In Abbildung 8.12 hingegen, beim Menschen also, ist dieser Pfeil vom Weltgerüst zum Subjekt hin gerichtet. Das Weltwissen hat sich verselbständigt, läuft ab wie ein Film und ist so authentisch, dass es seinerseits im Subjekt hypothetische Motivlagen wachzurufen vermag. Während Schimpansen wissen wollen, wie sie die hier und jetzt vorgefundene Umwelt abändern können, damit sich ihr momentan verspürtes Bedürfnis erfüllt, fragt der Mensch darüber hinaus, wie es mit dieser Umwelt weitergehen wird, womit sie ihn von sich aus als nächstes konfrontieren könnte, und welche Motive das in seinem künftigen Ich auslösen wird. Im Erfordernis eines Weltgerüstes gibt sich der aller unnötigen Mystizismen entkleidete Kern der Rede von der triebentbundenen „Weltoffenheit“ des Menschen zu erkennen: Das Weltgerüst darf selbst nicht unter der Ägide der Antriebe stehen, da es ja seinerseits in der Lage sein muss, diesen ihren Platz zuzuweisen. Das erfordert seine primär interessenlose Objektivität. An dieser Stelle beantwortet sich nun auch die Frage, warum erst der Mensch die sprachlichen Präadaptationen, die sich beim Schimpansen als Werkzeuge des Problemlösens ausgebildet haben, zu einem Vehikel der Kommunikation ausgebaut hat. Die Antworten, die die Fachliteratur hier anzubieten hat, sind dürftig und wirken zurechtgezimmert. Da kann man lesen, der Übergang zum Savannenleben habe nötig gemacht, sich über größere Distanzen zu verständigen. Andere meinen, die kooperative Jagd habe eine subtile Absprache erfordert. Das alles überzeugt nicht sehr angesichts des Faktums, dass sich auch andere Spezies an ein weiträumig verteiltes Gruppenleben anpassen mussten und einige davon, nicht zuletzt gerade Schimpansen, längst die kooperative Jagd erfunden haben. Sie alle lösen die dabei auftretenden kommunikativen Probleme nonverbal.
Es muss schon etwas Anspruchsvolleres gewesen sein, was dem Menschen die Entwicklung einer Mitteilungssprache aufgenötigt hat. Und hier bietet sich nun in der Tat am ehesten das Erfordernis an, ein hinreichend veridikales Weltwissen zu gewinnen. Mit dieser Aufgabe ist das einzelne Individuum hoffnungslos überfordert. Ein tragfähiges Weltgerüst lässt sich einfach nur im ständigen Informationsaustausch mit anderen errichten.
Universale Grammatik Man könnte meinen, dass im Rahmen dieses Buches das Thema Sprache über diese pauschale anthropologische Einordnung hinaus keiner weiteren Erörterung bedarf. Dem ist indessen nicht so; und das liegt daran, dass gegenwärtig in der Moralpsychologie die These en vogue ist, auch die Moral sei eine Art Sprache und daher nach denselben Prinzipien wie diese zu verstehen. Das nötigt uns, in das Problemfeld der Psycholinguistik wenigstens soweit einzutauchen, dass wir diese Argumentation verstehen und beurteilen können.
174 Kapitel 8. Evolutionäre Anthropologie Bis noch über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus beherrschte der Behaviorismus das Meinungsbild in der akademischen Psychologie. Er lebte in der Gewissheit, mit dem simplen Begriffsinventar der Lerntheorie das gesamte Verhaltensinventar von Tier und Mensch erklären zu können. Auch die Sprache durfte da keine Sonderstellung beanspruchen. Das war die Botschaft eines Buches, das Burrhus Skinner 1957 unter dem Titel „Verbal Behavior“ veröffentlichte. Das Selbstbewusstsein, mit dem der Behaviorismus das Monopol auf eine „naturwissenschaftliche“ Behandlung psychologischer Fragestellungen reklamierte, löste handfeste Trotzreaktionen aus. Einer der Wortführer auf der Gegenseite war der Linguist Noam Chomsky, der bereits zwei Jahre nach Erscheinen von Skinners Werk diesem so massiv in die Parade fuhr, dass seine Kritik inzwischen als Eröffnungssalve für das behavioristische Waterloo gewertet wird. Worum es bei der Auseinandersetzung letztlich ging, war die Herkunft von Struktur. Die Behavioristen beharrten darauf, dass die Ordnungsformen des Verhaltens nicht von irgendwoher fertig abrufbar sind, sondern nach universal gültigen Gesetzen aus einem Ausgangsmaterial beliebig austauschbarer Reize und Bewegungsimpulse hervorgehen. Aus dem zufälligen Zusammentreffen dieser Atome, so glaubte man zu wissen, ballen sich jene größeren Komplexe, die dem naiven Verstehen als sinnvolle Gestalten erscheinen – vom zielführenden Lauf einer Ratte durch ein Labyrinth bis hin zum „verbalen Verhalten“ des Menschen. Dagegen also hatte Chomsky Front bezogen. Um seine Position beurteilen zu können, sollte man drei Aspekte trennen – sein Anliegen, seine Lösungsidee und den Weg, auf dem er sie zu konkretisieren trachtete. Sein Anliegen war es, die Tabula-Rasa-Theorie der Behavioristen zu widerlegen. Er plädierte dafür, dass der Kognitionsapparat von sich aus bereits Ordnungsformen mitbringt, die er dem sinnlichen Material aufprägt, oder besser, die er in ihm wiedererkennt und deren er sich bei diesem Anlass zunehmend bewusst wird. Er führte unter anderem entwicklungspsychologische Argumente an: Kinder lernen ihre Muttersprache viel schneller als es bei deren Komplexität möglich wäre. Sie erwerben alle dieselben syntaktischen Formen, obwohl jedes mit einem ganz unterschiedlichen Lernmaterial konfrontiert wird. Und vor allem: Dieses Material ist in der Regel nicht frei von Fehlern und Lücken. Das Kind rührt daraus aber keinen phonetischen Brei an, sondern artikulierte Sätze, in denen mit der Zeit immer prägnanter die korrekte Grammatik transparent wird.
Chomskys Lösungsidee atmete den Geist der damals aufkommenden Informatik. Deren Denkstil legte nahe, für die Ordnung des Verhaltens Programme verantwortlich zu machen und diesen eine strukturelle Basis in der Hardware des Gehirns zuzubilligen. Während man Chomsky soweit zustimmen kann, werden doch Vorbehalte angesichts des Weges geweckt, den er einschlug, um diesen Lösungsansatz umzusetzen. Betrachten wir dazu eine Schemazeichnung, mit der er in einer neueren Arbeit1 seine 1 Hauser et al. (2002)
Die Grammatik der Kommunikation 175
Theorie veranschaulicht (Abbildung 8.14). Man erkennt darin zwei konzentrische Kreisflächen; diese sollen die Apparatur darstellen, die dem Sprachvermögen zugrunde liegt. Von dem äußeren Kreis wird angenommen, dass wir ihn mit einigen Tieren teilen, der innere sei spezifisch menschlich. In diesem inneren System steht eine Art Trommel, die sich beliebig oft zu drehen vermag; außerdem erkennt man Puzzleteile, die aber, abweichend vom herkömmlichen Spiel, vielfältig kombiniert werden können. Das Rad soll ausdrücken, dass man aus solchen Teilen durch wiederholte Rekursion Ketten von unbegrenzter Länge bilden kann. Die Puzzleteile sind beschriftet, und im dargestellten Beispiel formen sie einen Satz, mit dem Chomsky berühmt geworden ist:
kon konzeptuellko intentionales i Sys System s colorless green andere Systemee furiously
ideas sleep sensumotorisches System
Abbildung 8.14 Chomskys Modell der Sprachproduktion
farblose grüne Ideen schlafen wütend
Der Satz ist semantisch sinnlos; gleichwohl wurde er grammatisch korrekt geformt. Er soll veranschaulichen, dass die syntaktische Ordnung einer Aussage nicht davon abhängt, ob man sich unter ihrem Inhalt irgendetwas vorstellen kann. Die Syntax wird in der Abbildung durch die Stanzform der Puzzleteile symbolisiert, die deren Passung einschränkt, aber immer noch eine unerschöpfliche Fülle von Kombinationen ermöglicht. Chomskys Interesse galt speziell der Syntax, von der er annahm, dass sie für Skinners Erklärungsansatz unerreichbar bleibt. Nun sind die syntaktischen Strukturen der natürlichen Sprachen aber recht verschieden. Chomsky musste also zu zeigen versuchen, dass sie gleichwohl Varianten einer einzigen Universalgrammatik darstellen, die als genetisches Programm im Gehirn so implementiert ist, dass das Kind außer dem Vokabular nur noch ein paar untergeordnete Ausführungsbestimmungen zu lernen hat, die man für die jeweilige Muttersprache in die Leerstellen dieser Schablone einzusetzen hat. In der Folge wurde indessen klar, dass es so einfach doch nicht geht. Wir brauchen hier keine Details zu erörtern; jedenfalls erkannte man, dass die Sprachproduktion in erheblichem Maß auf die Arbeit der im äußeren Ring dargestellten Hilfsapparaturen zurückgreifen muss. Hierzu gehört in erster Linie ein „konzeptuell-intentionales System“, und damit sind offensichtlich die kognitiven Subroutinen gemeint, mit denen bereits das Wahrnehmungssystem die Reizmannigfaltigkeit kategorial vorstrukturiert. Auch die Vokalisation legt der Grammatik gewisse Beschränkungen auf; die SyntaxDrehtrommel muss also auch mit einem „phonetisch-artikulatorischen System“ abgestimmt werden. Und vielleicht sind, in Abbildung 8.14 links außen angedeutet, noch weitere Hilfsapparaturen zu berücksichtigen. Im Laufe der Zeit sah sich Chomsky zu einer immer weitergehenden Verengung und zugleich Radikalisierung seines Ansatzes gezwungen. Am Ende kam eine Theorie heraus, die als das „Minimalistische Programm“ bekannt wurde. Hier blieb als einzige
176 Kapitel 8. Evolutionäre Anthropologie spezifisch menschliche Errungenschaft die Rekursivität übrig, die Möglichkeit, das Resultat einer syntaktischen Operation erneut in die Drehtrommel zu stecken und auf diese Weise strukturierte Wortketten beliebiger Länge zu erzeugen.
Die kommunikative Funktion der Syntax Chomsky-bashing gehört unter Linguisten mittlerweise zum Volkssport. Dabei werden allerdings vornehmlich Einwände laut, die sich auf den „ahistorischen“ oder gar „biologistischen“ Tenor seines Ansatzes beziehen. Worin er wirklich zu kritisieren ist, liegt indessen auf einer anderen Ebene. Auf Seite 163 hatten wir der Zeichenverwendung der Schimpansen den Status einer Protosprache zuerkannt. Dem steht nun aber der gewichtige Einwand entgegen, dass ihr ausgerechnet dasjenige durchaus fehlt, was nach Chomsky eine Sprache überhaupt erst ausmacht, nämlich eine syntaktische Struktur. Nichts weist darauf hin, dass Schimpansen durch geregelte Aufeinanderfolge oder gar morphologische Abwandlung der verwendeten Symbole irgendetwas zum Ausdruck bringen wollten. Damit ist die Frage aufgeworfen, was die Syntax überhaupt für eine Funktion hat. Hierzu müssen wir bedenken, dass die Sachverhalte, die bei einer Mitteilung kommuniziert werden, normalerweise eine vieldimensionale Mannigfaltigkeit darstellen. Sie sind in raumzeitliche Verhältnisse eingebettet, bilden einen mehr oder minder reichen Kausalnexus und stehen in mannigfachen qualitativen Relationen. Das Spiel kognitiver Prozesse läuft also in einem Merkmalsraum ab, dessen Freiheitsgrade es erlauben, eine Fülle voneinander unabhängiger Beziehungen simultan zu vergegenwärtigen (Denkstrukturen in Abbildung 8.15). Wenn solche Inhalte einem externen Kommunikationspartner mitgeteilt werden sollen, ist es erforderlich, sie eindeutig auf gesprochene Sätze zu kodieren. Diese aber bilden eine eindimensionale Zeitreihe.
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