Hat Luther Paulus Entdeckt?: Eine Frage zur theologischen Besinnung [Reprint 2020 ed.] 9783112316948, 9783112305768


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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
A. Die vorreformatorische Entwicklung Luthers
B. Der reformatorische Fortschritt Luthers
Schluß
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Hat Luther Paulus Entdeckt?: Eine Frage zur theologischen Besinnung [Reprint 2020 ed.]
 9783112316948, 9783112305768

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STUDIEN DER LUTHER-AKADEMIE Herausgegeben im Auftrage des Vorstandes von Carl Stange, Göttingen

NEUE F O L G E / H E F T 7

HAT L U T H E R P A U L U S

ENTDECKT?

1959 VERLAG

ALFRED

TÖPELMANN

/ BERLIN

W 35

HANS POHLMANN

HAT LUTHER PAULUS E N T D E C K T ? EINE FRAGE ZUR THEOLOGISCHEN BESINNUNG

1959 VERLAG

ALFRED

TÖPELMANN

/ BERLIN

W

35

Alle Rechte, insbesondere das der Obersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es anch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen.

© 1959 by Verlag Alfred TSpelmann, Berlin W 35 (Printed in Germany)

Archiv-Nr. 6 7 / 5 9 Satz und D r u c k : T h o r m a n n & Goetsch, B e r l i n - N e u k ö l l n

Inhaltsverzeichnis Seite A. Die vorreformatorische Entwicklung Luthers K a p . I:

Luthers Ringen bis zum Jahre 1519/20

B. Der reformatorische Fortschritt Luthers K a p . II:

7 7 38

Entstehung und Entwicklung der reformatorischen Erkenntnis . .

38

1. Die Zeit bis 1520

38

2. 1520 — das Jahr des Fortschritts

48

3. Die Zeit von 1521—1525

82

K a p . III: Der theologische Abschluß der reformatorischen Erkenntnis

112

1. De servo arbitrio

112

2. Nachklänge

135

S c h l u ß : Hat Luther Paulus entdeckt?

146

A. Die vorreformatorische Entwicklung Luthers Kap. I. Luthers Ringen bis zum Jahre 1519/20 In einem etwa 50 Seiten umfassenden Heft hat unlängst Carl S t a n g e unter dem Titel „Die Anfänge der Theologie Luthers" (1957) den ersten Psalmenkommentar aus dem Jahre 1513/15 einer zusammenfassenden Betrachtung unterzogen — mit dem Ergebnis, daß hierin „von einem Durchbruch" der reformatorischen Theologie Luthers noch nicht die Rede sein kann; „es ist reine Scholastik, was uns in der Psalmenvorlesung begegnet" (S. 61). Veranlaßt ist der Verfasser zu dieser Untersuchung durch die Vermutung Heinrich Boehmers (1924), die m. W. mindestens bereits auf Loofs (1906) zurückgeht, daß Luther an der bekannten Stelle seiner Vorrede zu Band I seiner lateinischen Werke aus dem Jahre 1545 (EA var. 1, 22 f.) seine erste Psalmenvorlesung mit der zweiten verwechselt habe. Das hat zu der Auffassung geführt, daß Luther schon in den Jahren 1513/15 seine eigenen Wege gegangen und der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis eben schon in der ersten Psalmenvorlesung erfolgt sei. Dieser Auffassung von den Anfängen der Theologie Luthers stellt Stange seine These entgegen, die in dem Nachweis gipfelt, „daß Luther in seiner ersten Psalmenvorlesung sein neues Verständnis von Rom 1, 17 noch nicht besessen hat" (S. 14); er bewegt sich hier vielmehr „noch ganz in den Bahnen der mittelalterlichen Scholastik" (S. 15). Man kann diesem Nachweis um so eher zustimmen, als auch Stange ausdrücklich zugibt (S. 61), daß sich trotz allem die spätere Entwicklung Luthers im ersten Psalmenkommentar „von weitem" bereits ankündige, und zwar in der Kritik der Aristotelischen Ethik (S. 56) und in der starken Betonung der biblischen Begriffe caro und spiritus (S. 57). „in diesen beiden Gedanken macht sich die Eigenart des Gottesglaubens im Sinne des Evangeliums geltend: in ihnen darf man eine Andeutung der späteren reformatorischen Theologie Luthers sehen" (S. 61). Ohne meine Zustimmung zu Stanges These einschränken zu wollen, muß ich Zweierlei dazu bemerken: 1. Ich halte die genannten Spuren der späteren Entwicklung Luthers in der ersten Psalmenvorlesung für so bedeutsam, daß ich in ihnen bereits den ersten Schritt zur reformatorischen Erkenntnis erblicke, dem in der „lebendigen Sorge um das Heil seiner eigenen Seele" (S. 13) weitere Schritte 7

folgten, folgen mußten. Und 2. Ich halte es für das Verständnis der späteren Entwicklung Luthers für notwendig, sich gleichzeitig klar zu machen, daß sich die gleiche theologische Situation wie in der ersten Psalmenvorlesung auch noch bis hinein in die zweite Psalmenvorlesung (1519 ff.) findet, sodaß zum mindesten auch das Jahr 1519 noch nicht für die Vollendung der reformatorischen Theologie in Frage kommt. Bestätigt wird diese These u. a. auch durch den ersten Galater-Kommentar (1519). "Wenn das aber so ist, dann gewinnt die erwähnte Vorrede Luthers von 1545 noch einmal Bedeutung und muß noch einmal durchdacht werden. Und zwar handelt es sich jetzt um die Frage, was denn wohl Luther 1545 rückblickend mit dem „besseren Verständnis" der Psalmen (Stange) in der zweiten Psalmenvorlesung gemeint haben kann (EA var. 1, 23 : istis cogitationibus armatior factus ). MaW : was ist mit den cogitationes istae gemeint? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns den Zusammenhang klar machen. Es ist sicher, daß Luther mit den Worten armatior factus den Gedanken wieder aufnimmt, mit dem er diese Ausführungen begonnen hat: Interim eo anno (seil 1519) iam redieram ad Psalterium denuo interpretandum, fretus eo, quod exercitatior essem, postquam S. Pauli Epistolas ad Romanos, ad Galatas, et eam, quae est ad Ebraeos, tractassem in scholis (1, 22). Durch diese exegetischen Vorlesungen ist Luther also exercitatior (= geübter) geworden. Und zwar hebt er ganz besonders den Römerbrief heraus: Miro certe ardore captus fueram cognoscendi Pauli in epistola ad Romanos Die weiteren Ausführungen beschäftigen sich dementsprechend vorwiegend nur noch mit diesem, genauer gesagt, mit Rom 1, 17, und zum Schluß kurz mit Augustins Schrift De spiritu et litera. Und dann heißt es: Istis cogitationibus armatior (= gerüsteter) factus coepi Psalterium secundo interpretari (1, 23). Es ist also klar, daß Luther nach dem Excurs über Rom 1, 17 den Faden wieder aufnimmt und zum zweiten Psalmenkommentar (1519) zurückkehrt. Dabei erfährt jedoch das Wort exercitatior eine inhaltliche Erweiterung bezw. Erläuterung durch das nunmehr auftauchende Wort armatior: Luther war durch seine exegetischen Arbeiten nicht nur „geübter" geworden, sondern durch seine immer wieder neue Meditation über Rom 1, 17 zugleich auch „gerüsteter" für die neue Aufgabe am 2. Psalmenkommentar. Das also ist das „bessere Verständnis", von dem Stange spricht. Die Frage ist, worin dieses armatior bestand. Die Antwort liegt in den vorangegangenen Ausführungen und besteht in einem Doppelten: 1. in einem neuen Verständnis von Rom 1, 17 und 2. in der Entdeckung, daß 8

Augustin in seiner Schrift De spiritu et litera diese Paulus-Stelle in ähnlicher Weise interpretiert hat, wie Luther sie jetzt hat zu interpretieren gelernt. E s kann also kein Zweifel sein, daß, nach dieser Vorrede von 1545, Köm 1, 17 für die Entwicklung der Theologie des Reformators entscheidende Bedeutung gehabt hat. Stange redet von „Sdiicksalsbedeutung" (S. 13). Es kann aber ebensowenig zweifelhaft sein, daß mit der Erkenntnis von R o m 1, 17 die reformatorische Erkenntnis Luthers noch nicht vollendet war. Audi das geht einwandfrei aus dieser Vorrede hervor. Luther erklärt: nachdem er Rom 1, 17 begriffen hatte, las er Augustin, De spiritu et litera (postea legebam ), wo er wider Erwarten (praeter spem) darauf stieß (offendi), daß auch dieser die iustitia Dei ähnlich (similiter) interpretierte (wie Luther nach dem Turm-Erlebnis), nämlich: qua nos Deus induit, dum nos iustificat (9, 15. X , 209: . . . . iustitia dei, non qua deus iustus est, sed qua induit hominem, cum iustificat impium). Dann aber macht Luther den bedeutsamen Zusatz: E t quamquam imperfecte hoc adhuc sit dictum, ac de imputatione non clare omnia explicet, placuit tarnen iustitiam Dei doceri, qua nos iustificemur (1, 23). Dieser Satz läßt m. E. keinen Zweifel darüber, daß mit der an R o m 1, 17 gewonnenen Erkenntnis der iustitia Dei die reformatorische Theologie noch nicht ihren letzten Ausdruck gefunden hatte. Allerdings bereitet die Übersetzung eine gewisse Schwierigkeit, und zwar hinsichtlich des adhuc. Das Wort drückt die Bezogenheit auf eine Gegenwart aus. Aber welche Gegenwart ist gemeint? Sicherlich nicht die Gegenwart des Jahres 1545. Doch zweifelhaft könnte sein, ob die Gegenwart des Turmerlebnisses und der anschließenden Lektüre Augustins, also die Gegenwart von 1515/16, oder die Gegenwart des Jahres 1519, des Beginns des zweiten Psalmenkommentars. Im ersten Fall würde der Anfang zu dem adhuc vor dem Turmerlebnis liegen, etwa bei Augustin, und adhuc würde bedeuten: bis dahin; im anderen Fall würde der Anfang das Turmerlebnis sein und adhuc würde bedeuten: auch jetzt noch. Beides ist lexicographisch möglich. Was die erste Möglichkeit angeht, so steht dem sehr deutlich entgegen, daß Luther gerade kurz zuvor zur iustitia Dei erklärt hatte, daß er, der irreprehensibilis monachus, noch dazu der Augustinermönch, diese Vokabel gehaßt hatte, weil er usu et consuetudine omnium doctorum doctus erat, sie philosophice zu verstehen, d. h. als iustitia activa, qua Deus est iustus et peccatores iniustosque punit, und eben nicht als iustitia passiva! E s scheint mir ausgeschlossen zu sein, daß Luther in demselben Atemzug behauptet haben soll, daß seit den Tagen Augustins bis zum Turmerlebnis die 9

iustitia passiva „gelehrt" und „nicht gelehrt" sei. Denn der folgende Satz würde dann besagen, daß die iustitia Dei, wie sie Augustin verstand, nämlich als iustitia, qua nos Deus induit, dum nos iustificat, — so imperfect ihr Ausdruck war und so wenig klar die imputatio darin zur Darstellung kommt, dennodi bis 1515/16 „gelehrt" wurde! Gerade das aber hatte er soeben in Abrede gestellt! Das Turm-Erlebnis hätte nach dieser Exegese den Sinn, jener Unklarheit und Unvollkommenheit ein Ende gesetzt zu haben, d. h. die iustitia Dei als iustitia passiva verstanden und damit die imputatio klar zum Ausdruck gebracht zu haben. Denn das meint Luther damit, wenn er sagt: Et quamquam imperfecte hoc adhuc sit dictum, ac de imputatione non clare omnia explicet,....: die imputierte Gerechtigkeit oder die sola fides! Insofern hätte das Turm-Erlebnis den Reformator über Augustin hinausgeführt und wäre faktisch der Durchbruch der sola fides gewesen. Für den 2. Psalmenkommentar bliebe jedodi kein „besseres Verständnis" mehr übrig. Diese Deutung ist nidht nur exegetisch schwer zu reditfertigen, sondern widerspricht außerdem auch der Tatsache, daß Luther 1515/16 überhaupt noch nicht begonnen hatte, sich theologisch von Rom zu differenzieren! Es bleibt also nur die andere Möglichkeit der Exegese, daß mit dem adhuc die Gegenwart des Jahres 1519 gemeint ist, genauer gesagt, die Zeit zwischen dem Turm-Erlebnis bzw. der Lektüre von Augustin, De spiritu et litera, und dem Beginn des zweiten Psalmenkommentars. Hier bekommt das Turm-Erlebnis zwar auch seine entscheidende Bedeutung, indem von jetzt ab die iustitia Dei, qua nos iustificemur, „gelehrt" wurde, aber das war noch imperfecte dictum und de imputatione non clare omnia. Diese Auslegung läßt sich sowohl mit den oben zitierten Erfahrungen Luthers als Mönch als auch mit der Tatsache widerspruchslos vereinigen, daß Luther 1516 und noch später sich keines Gegensatzes zu der römischen Theologie bewußt gewesen ist. Audi die Tempora (sit dictum; explicet) fügen sidi dem ein. Das „neue" Verständnis von Rom 1, 17 ist nicht neu im Verhältnis zur älteren Theologie, sondern nur neu für den Mönch Luther, und d. h. neu für die katholische Frömmigkeit und Praxis (usus et consuetudo)! Und mit dem zweiten Psalmenkommentar beginnt die Zeit, in der Luther von dieser Grundlage aus die Loslösung von der römischen Theologie bis zur sola fides oder bis zur iustitia passiva vollzog. Darauf beziehen sidi die Worte: istis cogitationibus armatior factus. In diesem Zusammenhang ist es notwendig, ein Wort über die vorlutherische Exegese von Rom 1, 17 zu sagen. Bekanntlich hat Denifle in seinem Lutherwerk (I, 2 Quellenbelege. Die abendländischen Schriftaus10

leger bis Luther über justitia dei und justificatio. Mainz 1905) behauptet, daß die gesamte ältere Exegese in Rom 1, 17 die iustitia Dei nidit als die Gerechtigkeit verstanden hat, qua deus iustus est, sondern als die iustitia, die Gott uns gibt (vgl. Loofs, D G 1906. S. 688. Zur Sache vgl. auch K . Holl, die iustitia Dei in der vorlutherischen Bibelauslegung des Abendlandes. Ges. Aufs. III S. 171 ff.). Loofs hat diesem Nachweis vorbehaltlos zugestimmt, und auch Scheel hat sich in seinem „ L u t h e r " zu einer ähnlichen Auffassung bekannt. (Vgl. von kathol. Seite: Hans Küng, Rechtfertigung. Die Lehre K a r l Barths und eine katholische Besinnung. 1957. S. 243 ff.). Als Beleg f ü r die Richtigkeit der von Denifle verfodbtenen These erwähne ich nur außer Augustin auch dessen Antipoden Pelagius (zu R o m 5, 17: iustitia donatur per baptismum). Der spätere Gegensatz zwischen diesen beiden Theologen brach nicht an dieser Stelle auf und lag nicht in einem gegensätzlichen Verständnis der iustitia dei, sondern in dem Komplex, der mit der Erbsünde gegeben war und der in dem liberum arbitrium wurzelte. Ich nenne ferner Bernhard von Clairvaux (f 1153), bei dem sich in den Sermones in canticum der Satz findet: . . . non peccare dei iustitia est, hominis iustitia indulgentia dei und vorher: . . . credat in te, qui iustificas impium et solam iustificatus per fidem pacem habebit ad deum. Auch von Thomas gilt das in ähnlicher Weise (vgl. seinen Röm-Kommentar), sodaß es in der Tat unmöglich ist, in der vorlutherischen Theologie die iustitia dei nur als iustitia zu verstehen, qua deus iustus est et punit iniustos. Ähnliches gilt von der Formel: sola fides (Küng S. 243). — Daß die iustitia Dei damit noch nicht den Sinn der iustitia passiva hatte, dürfte sich von selbst verstehen. Denn es verband sieht mit ihr das meritum etc. Aber es ist eine sachlich völlig unberechtigte Vereinfachung, den Gegensatz zwischen Luther und Rom so aufzufassen, als ob Luther durch Paulus die Gnade wiederentdeckt habe. Das kann weder von der Theologie noch von der Frömmigkeit behauptet werden, und es hat weder dogmatisch noch praktisch seine Berechtigung (vgl. Pohlmann, Die Grenze für die Bedeutung des religiösen Erlebnisses bei Luther. 1920 S. 8). Auch das mittelalterliche Christentum ist Gnadenreligion! Das beweist u. a. der Begriff der iustitia dei. Aus diesem Tatbestand erklärt sich, daß Luther bereits in seinem ersten Psalmenkommentar, und zwar zum mindesten 1515 zu Psalm 142, 1 (deutsch: 143, 1), schreiben konnte: exaudi me in iustitia tua (non in mea iustitia, sed quam tu das et dabis mihi per fidem) WA 4, 443. Das wird damals für den Augustinermönch einfach ein Stück Tradition gewesen sein, vielleicht durch den Lombarden vermittelt, und überdeckt von dem Gedanken an den Gott, qui iustus est 11

et inniustos punit, jedenfalls vorläufig noch ohne jede aktuelle Bedeutung für ihn. Wir erinnern uns aus der Vorrede von 1545 der beiden Worte „praeter spem", mit denen Luther seinen Bericht über seine erste Lektüre von Augustins De spiritu et litera erläutert (1, 23). Diese beiden Worte zeigen, wie überrascht er nach dem Turm-Erlebnis war, als er den Gedanken von der iustitia dei, die Gott gibt, auch bei Augustin feststellen mußte, und sie bestätigten, wie wenig ihm vor dem Turm-Erlebnis der gleiche Gedanke als bloße Tradition zu sagen gehabt hatte. (Vgl. weiteres dazu unten S. 95.) Trotztdem liegt hier für das Verständnis der Entwicklung des Reformators ein nicht unbedeutendes Problem, ein Problem, das gleichzeitig die innere Situation Luthers beleuchtet. Es ist die Situation, in der ihn uns die Klosterkämpfe zeigen. Wenn man sagt, der Anfang alles Fortschritts sei die Kritik, so gilt das für die Theologie Luthers nicht! Vielmehr wurde Luther erst allmählich und Schritt für Schritt zur Kritik gedrängt, sodaß er nur mit Widerstreben zu seiner reformatorischen Erkenntnis gewissermaßen genötigt worden ist. Bis 1519 (Leipziger Disputation) war er ein ergebener Sohn der katholischen Kirche! Das galt demnach auch 1516 für das bei der Arbeit am Römerbrief durchbrechende Turm-Erlebnis mit Rom 1, 17. MaW, auch diese Entdeckung bezw. Erleuchtung war für ihn durchaus im Einklang mit der römischen Theologie — genau wie Ps. 142, 1 im ersten Psalmenkommentar! Immerhin, auch so war die Erkenntnis der iustitia dei ein Schritt auf dem Wege zur Reformation. Aber wir werden uns hüten müssen, in ihr den Durchbruch des reformatorischen Glaubens zu sehen. Dieser Durchbruch erfolgte erst nach 1519! Und er erfolgte auch nicht eigentlich im zweiten Psalmenkommentar, sondern in den großen reformatorischen Schriften des Jahres 1520. Luther schreibt daher 1545 auch nur, daß er 1519 istis cogitationibus armatior factus zum 2. Mal an die Interpretation der Psalmen herangegangen sei. Die Worte deuten nur an, in welcher Richtung sein Interesse sich bewegte und daß die Imputation im Hintergrund auf Klärung wartete. Das Bild, das diese zweite Bearbeitung der Psalmen — sie umfaßt ja nur Ps. 1-21 (deutsch: 22) — bietet, entspricht dem durchaus (EA op. lat. Bd. 14-16). Man spürt ihr das Ringen mit dem Stoff viel mehr an, als eine Exegese erwarten läßt. Daher auch die innere Bewegtheit der Theologie und deren Entwicklung innerhalb des Kommentars. Leider fehlt bis heute noch eine gründliche Untersuchung des zweiten Psalmenkommentars unter entsprechendem Gesichtspunkt. Daß mit dem Turm-Erlebnis noch nicht letzte reformatorische Erkenntnis erreicht war, wird auch durch den Ausdruck bestätigt, mit 12

welchem Luther die Wirkung jener Erleuchtung beschreibt. Er sagt: Hic me prorsus renatum esse sensi et apertis portis in ipsam paradisum intrasse (1, 23). Und wenige Zeilen später: ita mihi iste locus Pauli (seil. Rom 1, 17) fuit vere porta paradisi. Man hat gemeint, in diesen Ausdrücken etwas wie den entscheidenden Durchbruch des reformatorischen Glaubens finden zu sollen. Aber ich stimme C. Stange auch darin zu, wenn er darauf hinweist, daß sowohl das Gefühl des Neugeborenseins wie das Gefühl des Versetztseins ins Paradies für Luther nur den Sinn einer leidenschaftlichen Bewegtheit seines inwendigen Menschen hat. In diesem Sinne hat es dann „Schicksalsbedeutung" (S. 13 f.). Im übrigen muß man sich darüber klar sein, daß beide Ausdrücke zunächst einen subjektiven, menschlichen Zustand bezeichnen, der als Begleiterscheinung bedeutsam ist, aber, für sich genommen, genau so wenig mit Heil zu tun hat wie unter gleichen Voraussetzungen ein Friede hinter Klostermauern. MaW, auch ein solcher Friede ist noch kein Beweis für das tatsächliche Heil! Das, was Luther unter Heilsgewißheit verstand und was er suchte, war sehr viel mehr als bloße Beseligung. Es war das extra nos gegründete Heil selbst. Aber was Luther an Rom 1, 17 erlebte, das war zunächst religiöse Entdeckerfreude eines meditabundus dies et noctes und eines Menschen, den er selbst mit den Worten characterisiert hat: ardentissime sitiens scire, quid S.Paulus vellet (1, 22). Gewiß, es war ein Schritt weiter auf dem Wege zur Heilsgewißheit, ein Schritt zu dem extra nos, das ihm in der hl. Schrift gegeben war, — aber mehr auch nicht! Allein, — ich habe mit diesen Ausführungen bereits vorgegriffen. Ich muß zunächst die These weiter erhärten, daß das entscheidende Jahr für die reformatorische Erkenntnis 1519 bzw. 1520 war. Und zwar will ich noch einmal zu der Vorrede Luthers aus dem Jahre 1545 zurückkehren, um mit einem Selbstzeugnis Luthers zu belegen, daß ihm erst die Leipziger Disputation über das Papsttum sowie dessen Theologie und Frömmigkeit die Augen geöffnet und den Bruch auf der ganzen Linie hervorgerufen hat. Zum Verständnis muß ich vorwegnehmen, daß der I. Band der opera M. Lutheri, für den diese Vorrede geschrieben ist, nur bis zum Jahre 1519 umfaßt, während andere Schriften vom Jahre 1520 ab in weiteren Bänden folgen sollten (EA var. 1, 23 f.). Doch schon den zweiten Band hat Luther nicht mehr erlebt; er ist von Melanchthon bevorwortet. Es scheint so, als ob diese Caesur nicht zufällig oder willkürlich gewählt ist und als ob Luther, wenn er in seiner Vorrede von seinen scriptis prioribus (16) redet, alle seine Schriften bis zum Jahre 1520 meint, denen er die posteriora scripta ab 1520 gegenüberstellt 13

(ib.). Denn letztere charakterisiert er mit den Worten, daß er in ihnen jene früheren pro summa blasphemia et abominatione halte und verwünsche (exsecror). Das erinnert stark an Ausführungen in De captivitate . . . (1520) sowie an spätere Ausführungen. Jedenfalls ist mir aus der Zeit bis 1520 keine Schrift Luthers bekannt, in welcher er ein derartiges Urteil über frühere Schriften gefällt haben sollte. Wird schon auf diese Weise das Jahr 1520 als Einschnitt in der theologischen Entwicklung Luthers charakterisiert, so wird in weiteren Darlegungen die Leipziger Disputation (1519) ausdrücklich als die große Wende in seinem Verhältnis zu Rom herausgestellt, durch die er von seinem papistischen Wahn, der ihn bis dahin gefangen hielt (papista insanissimus, ebrius, submersus in dogmatibus papae 1, 16), befreit wurde. Und diese Befreiung ging so weit, daß er, zwar nicht sofort, sondern erst 1520, in dem Papst notwendig den Teufel erkannte: papam necessario esse ex diabolo (1, 20). Und sie begann damit, daß er dem Papst das ius divinum bestritt. In diesem Zusammenhang stellt Luther zusammen, wie weit er bis dahin bereits in seiner Erkenntnis gekommen war: er wußte die heiligen Schriften fast auswendig, hatte aus ihnen primitias (!) cognitionis et fidei Christi geschöpft, scilicet, Non operibus, sed fide Christi (nicht: sola fide!) nos iustos et salvos fieri, und hatte schließlich in Leipzig (de quo loquor) erkannt und öffentlich verteidigt (defendebam publice), daß der Papst non esse iure divino caput ecclesiae (1, 20). Mit den primitiae cognitionis et fidei Christi kann nach Luthers eigenen Erläuterungen nur das 1515/1516 gewonnene Verständnis von Rom. 1, 17 (1, 22 f.) gemeint sein; es wird charakteristischerweise als „Erstlingsfrucht" bezeichnet, womit sein noch unvollendeter Zustand gemeint sein wird (1, 23). Ihre Vollendung sowohl wie die Konsequenz aus dem Gedanken, daß der Papst non iure divino das Haupt der Kirche sei, gehört zu den unmittelbaren Auswirkungen von Leipzig. Denn Luther erkannte sehr bald: Quod (enim) ex Deo non est, necesse est ex diabolo esse (20). Damit war der göttliche Nimbus des Papstes gefallen, und Luther aus dem Bann der Gewohnheit (consuetudo) als eines inneren Zwanges befreit, — gemäß einem Ausspruch Augustins: Consuetudo, si ei non resistitur, fit necessitas (20). Dieser innere Zwang wird mit den Worten beschrieben: . . . quam difficile sit eluctari et emergere ex erroribus, totius orbis exemplo firmatis, et longa consuetudine velut in naturam mutatis (1, 20). Das galt um so mehr, als Luther von sich sagt: Ego serio rem agebam (im Gegensatz zu Eck und Genossen), ut qui diem extremum horribiliter timui, et tarnen salvus fieri ex intimis medullis cupiebam (1, 16). Es verband sich also die „Furcht 14

des letzten A u g e n b l i c k s " und d a s Verlangen nach d e m ewigen Heil mit d e m göttlichen N i m b u s des P a p s t e s , der seinerseits, indem er jenes V e r l a n g e n stillen sollte u n d stillte, eben dadurch noch g e s t ä r k t u n d erhöht wurde. A u s dieser necessitas, d. h. a u s dieser inneren Zwangslage, w u r d e L u t h e r b e f r e i t , als ihm die K o n s e q u e n z seines L e i p z i g e r Zugeständnisses, daß der P a p s t nicht nach göttlichem Recht das H a u p t der Kirche sei, zum Bewußtsein k a m . D a s geschah unter d e m E i n d r u d c der Streitschriften der Eck u n d E m s e r u n d f a n d seinen ersten Niederschlag in L u t h e r s Schrift D e captivitate . . . ( A n f a n g O k t o b e r 1520), nachdem er noch erst wenige M o n a t e vorher in der Schrift „ V o m Papstt u m zu R o m wider den hochberühmten R o m a n i s t e n zu L e i p z i g " ( E n d e J u n i 1 5 2 0 ; W A 6, 2 7 7 — 3 2 4 ) seine Entscheidung von Leipzig wiederholt hatte. L u t h e r b e g a n n jetzt, in d e m P a p s t den Antichrist zu sehen. Was dieser innere Wandel f ü r L u t h e r b e d e u t e t e , k o m m t in den Titeln d e r beiden Schriften des J a h r e s 1520 zum A u s d r u c k : D e c a p t i v i t a t e . . . u n d D e libertate . . . ! L e i p z i g und, was sich d a r a n anschloß, riß ihn aus allen bisherigen Illusionen hinsichtlich des Papsttums heraus, ent-fesselte buchstäblich in ihm die Kräfte, die in ihm seit Jahren verborgen gereift waren und die er selbst als primitias cognitionis et fidei Christi bezeichnet hat, und führte ihn aus der Gefangenschaft der Kirche zur Freiheit eines Christenmenschen ! D a m i t brach ein neues Dasein f ü r ihn an. K e i n Wunder, daß er schwere B e d e n k e n hatte, alle seine W e r k e g e s a m m e l t h e r a u s z u g e b e n ; viel lieber hätte er seine f r ü h e r e n vernichtet gesehen (1, 15), ein Wunsch, den er schon 1520 hinsichtlich seiner Schriften ü b e r den A b l a ß und über das P a p s t t u m ( E A var. 5, 16 f.) ausgesprochen hat. D i e schicksalhafte B e d e u t u n g des J a h r e s 1 5 1 9 k o m m t auch in der Schrift „ V o n Konzilien und K i r c h e n " (1539; W A 50, 4 8 8 — 6 5 3 ) z u m Ausdruck. L u t h e r schreibt darin F o l g e n d e s : „Ich h a b e v o r 20 J a h r e n gelehrt, daß allein der G l a u b e ohne W e r k e gerecht mache, wie ich noch i m m e r tue. W ä r e aber d a z u m a l einer a u f g e s t a n d e n , der da gelehrt hätte, Möncherei und N o n n e r e i sollte A b g ö t t e r e i und die M e s s e der rechte Greuel heißen: hätte ich solchen K e t z e r nicht verbrennen helfen, so hätte ichs doch gehalten, ihm w ä r e recht geschehen. U n d ich unbedächtiger N a r r k o n n t e nicht die F o l g e sehen, die ich müßte nachgeben, daß, wo es der G l a u b e allein täte, so k ö n n t e es die Möncherei und Messe nicht tun " (Buchwald (B), B d . 2, 103 f.). D e r s e l b e Ged a n k e auch E A v a r 1, 16 (1545): . . . ut p a r a t i s s i s m u s f u e r i m , omnes, si p o t u i s s e m , occidere, aut occidentibus c o o p e r a r i et consentire, qui p a p a e vel una syballa obedientiam detractarent. D i e s e W o r t e veranschaulichen, bis zu welchem G r a d e L u t h e r auch noch nach der E r k e n n t n i s 15

der sola fides sine operibus u n d nach d e m B r u c h mit d e m P a p s t t u m in diesem b e f a n g e n gewesen war. A b e r sie enthüllen mehr. N i m m t m a n nämlich die „ 2 0 J a h r e " als runde Z e i t a n g a b e ernst, dann k o m m t m a n wieder etwa auf das J a h r 1 5 1 9 oder 1520, seitdem L u t h e r die sola fides sine operibus gelehrt h a b e n will. Mit dieser Zeit verbindet sich also auch hier f ü r die E r i n n e r u n g L u t h e r s die endgültige F o r m u l i e r u n g seiner reformatorischen E r k e n n t n i s durch das sola fide, — also nicht mit d e m J a h r e 1512 oder g a r f r ü h e r u n d nicht mit d e m J a h r e 1515. U n t e r diesen U m s t ä n d e n erhebt sich nun a b e r die F r a g e nach d e m Sinn und der B e d e u t u n g des Thesen-Anschlags. Wir sind gewohnt, den 31. O k t o b e r 1517 als die erste M a n i f e s t a t i o n der R e f o r m a t i o n zu betrachten 1 ). Diese A u f f a s s u n g geht davon aus, daß der Durchbruch der R e f o r mation durch den Durchbruch des neuen Verständnisses von R o m 1, 17 bei L u t h e r veranlaßt ist. D a s w ä r e zeitlich durchaus möglich, d a dieses neue V e r s t ä n d n i s auf alle F ä l l e d e m Thesenanschlag v o r a n g e g a n g e n ist, — nach L u t h e r s Selbstdarstellung, wie wir sahen, w ä h r e n d der Arbeiten a m R ö m e r b r i e f 1515/1516. E s läßt sich a b e r nicht mit der T h e s e vereinigen, daß die große W e n d e im L e b e n L u t h e r s erst nach der Leipziger D i s p u t a t i o n eingetreten ist. Natürlich k a n n m a n auch unter diesen U m s t ä n d e n einen inneren Z u s a m m e n h a n g zwischen d e m T u r m - E r lebnis und d e m Thesenanschlag zugeben. A b e r m a n k a n n weder den letzteren noch das erstere als den Durchbruch der R e f o r m a t i o n anervon Rom. 1, 17 kennen, sofern es feststeht, daß das neue Verständnis nur für Luther „neu" gewesen ist, aber nicht im Verhältnis zur vorlutherischen Theologie. D e r tatsächliche Sinn u n d die tatsächliche Bedeutung des 31. O k t o b e r s 1517 wären u n t e r diesen U m s t ä n d e n andere. Sie sind jenes geschichtliche Ereignis, das die R e f o r m a t i o n , zwar nicht darstellt, a b e r hervorgebracht u n d erzeugt h a t ! M a n k a n n ohne B e d e n ken sagen: ohne den 31. O k t o b e r w ä r e es, geschichtlich betrachtet, überh a u p t nicht zu einer R e f o r m a t i o n durch Martin L u t h e r g e k o m m e n ! Ins o f e r n ist das E r e i g n i s dieses T a g e s eine der Ursachen der R e f o r m a t i o n . Dieser A u f f a s s u n g entspricht die Selbstbeurteilung L u t h e r s : d e r Thesenanschlag ist die äußere Ursache der R e f o r m a t i o n , — nicht ihre Wirkung bezw. ihr A u s d r u c k ! Was hat L u t h e r gewollt, und welche Motive h a b e n ihn a m 31. X . 1517 geleitet? M a n wird in Ü b e r e i n s t i m m u n g mit L u t h e r antworten m ü s s e n : der Thesen-Anschlag war nach F o r m und Inhalt eine innerkatholische Angelegenheit! 1 ) Vgl. hierzu die Auseinandersetzung Aland contra Volz, Das Datum des Thesenanschlags betreffend. Deutsches Pfarrerblatt 1957/20 und 1958/11. Die Frage hat ein rein akademisches Interesse.

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Von besonderer Wichtigkeit ist schon die Tatsache, daß Luther sich überhaupt nicht bewußt gewesen ist, den Papst angreifen zu wollen und angegriffen zu haben. In der mehrfach erwähnten Vorrede aus dem Jahre 1545 schreibt er nicht nur von seiner geradezu wahnsinnigen Papisterei (papista insanissimus), die ihn, wenn er gekonnt hätte, zum Mörder an allen Widersachern des Papstes hätte machen können (1,16), sondern er schreibt auch ausdrücklich, daß er 1517 in seinem Kampf gegen den Ablaß als Volksprediger (concionator) und junger Doktor der Theologie sich gewiß gewesen sei, den Papst auf seiner Seite zu haben: in iis certus mihi videbar, me habiturum patronum papam, cuius fiducia tum fortiter nitebar, qui in suis decretis clarissime damnat quastorum (ita vocat indulgentiarios praedicatores) immodestiam (1, 16). Und von seinem Thesenanschlag (Disputationis schedulam) und einer Predigt über den Ablaß in deutscher Sprache sowie von seinen Resolutionen (1518 — paulo post) schreibt e r : . . . , in quibus pro honore papae hoc agebam, ut indulgentiae non damnarentur quidem, sed bona opera caritatis illis praeferrentur (1, 17)2). Der ganze Kampf gegen den Ablaß einschl. des 31. Oktobers diente also nach dem Willen Luthers der Ehre des Papstes und war nicht gegen den Ablaß schlechthin gerichtet, sondern gegen die Maßlosigkeit (immodestia) der Ablaßprediger. Trotzdem wird er beim Papst angeklagt, nach Rom zitiert: et consurgit totus papatus in me unicum (17). Das hat ihn aufs Höchste überrascht ), sodaß er schreiben konnte: casu enim, non voluntate nec studio in has turbas incidi, Deum ipsum testor (16). K-D. Schmidt trifft das Richtige, wenn er sagt: „Gott machte aus der seelsorgerlichen Treue eine kirchengeschichtliche Stunde." (KG i. Gr. S. 335) Eine innerkatholische Angelegenheit wird die Ursache der Reformation! Und zwar auf dem Wege über Leipzig! Denn die von Rom entfesselte Verfolgung führte den armseligen Mönch (pauperculus Frater 1,17) bis zu der Erkenntnis, daß der von ihm einst wahnsinnig verteidigte Papst der Antichrist sei! So wurde er zum Reformator. Auch daraus geht deutlich, hervor, daß Luther noch 1517 sich keines Gegensatzes, auch keines theologischen Gegensatzes, gegen Rom bewußt 2 ) Vgl. Wider Hans Vorst (1541): „Denn ich dazumal besser päpstisch war, wie Mainz und Heinz selbst je gewesen sind noch werden mögen, und die päpstlichen Dreckete klärlich dastanden, daß die Quaestoren die Seelen nicht aus dem Fegfeuer mit Ablaß lösen könnten" (B 4, 311). Ferner Tischreden EA Nr. 1680 (1538). Die Summe seiner Ablaßthesen sei die: „es sei besser Geld den Armen zu geben als für die Ablässe." 3 ) Luther schrieb 1541, er habe damals gehofft, der Papst sollte ihn schützen, und er sei sicher gewesen, der Papst würde den Tetzel verdammen und ihn, Luther, segnen! B 4, 311.

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Studien der Lutherakademie 7/Pohlmann

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gewesen sein kann. Diese Tatsache wird durch L's Schriften völlig bestätigt. Und zwar nicht nur für die Ablaßfrage, sondern auch für die Fragen des Mönchtums, der Sakramente und der Rechtfertigung. Erst nach 1517 entwickelte sich der Gegensatz in der Auseinandersetzung mit dem Papsttum und seiner Theologie, und dieser Prozeß fand in den Jahren nach 1519 seinen Abschluß, v. Amsdorf schreibt 1555 — in der praefatio der Jenaer Ausgabe von Luthers Werken — zu den Jahren 1517 bis 1521 (d. i. die Zeit vom Thesenanschlag bis Worms): quod lux spiritus sancti subinde clarior et firmior in mente ipsius facta s i t . . . Und er fügt hinzu: daß seine Gegner ihm fulminibus iniustarum criminationum et condemnationum die Gelegenheit gegeben hätten, accuratius scrutandi scripturas, quae solae sunt monstratrices et testes minime fallentes veritatis (EA var 1, 5). Und an anderer Stelle unterscheidet er bei Luther gewissermaßen eine Zeit negativer Bemühungen, nämlich der Überwindung römischer Irrtümer in der Rechtfertigungslehre, unter Berufung auf die Schrift (revocavit ecclesiam ad fontes), und eine Zeit des positiven Aufbaus seiner eigenen Rechtfertigungslehre, die sich daran anschloß (denique) und in der er, als einzigen Weg und Zuflucht des Heils, den Glauben sine omnibus operibus usw. aufzeigte (monstravit; EA var 1, 9). Zutreffender kann der Tatbestand kaum erfaßt und dargestellt werden. Überhaupt ist die Jenaer Ausgabe der Werke Luthers auch noch an einer weiteren Stelle eine Bestätigung dafür, daß ein Jahrzehnt nach Luthers Tode (ao 1556) auch bereits die von mir vertretene These über die Entwicklung der reformatorischen Theologie als selbstverständlich galt. In der Vorrede zu den Disputationes D. M. Lutheri de praecipuis Christianae doctrinae articulis ab anno 1519 usque ad annum 1545 propositae et explicatae (EA var. 4, 323-492) ist von dem Inhalt der meisten der abgedruckten Disputationen (materiae) gesagt: . . . . , in quibus animadvertet pius lector, postquam adversarii purae doctrinae Evangelii oppugnare res veras a D. Luthero traditas coeperunt, paulatim doctrinam salutarem magis magisque illustratam esse (4, 328). Der Leser dieser Zeit wird also geradezu dazu angehalten, sein Augenmerk darauf zu richten, daß in ihnen die Heilslehre allmählich mehr und mehr aufgehellt worden ist. Das deckt sich dem Sinne nach mit der Feststellung v. Amsdorfs: lux spiritus sancti clarior et firmior in mente ipsius facta est. Und die allmähliche Erleuchtung der Heilslehre von 1519 an scheint dem Zeitabschnitt des positiven Aufbaus der Rechtfertigungslehre bei v. Amsdorf zu entsprechen. Andrerseits kann man unschwer die folgenden Worte aus der genannten Vorrede zu den Disputationen mit dem von v. Amsdorf angedeuteten negativen 18

Zeitabschnitt in Einklang bringen: Multum enim lucis addunt Propositionibus prioribus sequentes. Mit den propositiones priores wären dann die Disputationen Luthers vor 1519 gemeint, d. h. von 1516 bis 1519 ). Das wiederum würde sich sehr gut dem Gesamtbild einfügen, das Luther selbst 1545 in seiner Vorrede zu Bd. I der op. lat. gezeichnet hat (EA var. 1, 23) und von dem oben gesprochen ist. Die Auffassung, welche die Jenaer Lutherausgabe von dem Werden Luthers hat, ist insofern sehr bedeutsam, als sie aus der Zeit der Auseinandersetzung zwischen Lutheranern und Philippisten und aus der Gründungszeit der Universität Jena stammt und erkennen läßt, daß schon damals die These feststand, daß sich Luthers Heilslehre nachweislich erst ab 1519 „allmählich mehr und mehr" geklärt hat, nachdem die römische Heilslehre zwischen 1517 und 1519 abgebaut worden war. Zu der Entwicklung Luthers gehört aber auch — und nicht zuletzt — seine Entwicklung hinsichtlich der Schriftfrage. Der Abbau der päpstlichen Autorität, einsdbl. der Tradition, hatte notwendig eine Stärkung der Autorität der Bibel zur Folge. Die bisherige Entwicklung hat gezeigt, daß Luthers Kampf ausschließlich dem Autoritätsanspruch des Papstes galt, aber dabei nicht etwa der Autonomie des Menseben dienen sollte. Luthers Bruch mit dem Papsttum war nicht Ausdruck einer grundsätzlichen Autoritätsfeindschaft zu Gunsten einer autonomen Selbstautorität; er war vielmehr Ausdruck der unbedingten Autorität Gottes gegenüber allem Bloß-Menschlichen. Zu dieser göttlichen Autorität gehörte die hl. Schrift. Das bedeutete, daß letztere in dem Augenblick, wo der Papst seine Autorität für Luther verlor, zur alleinigen Richterin über den Glauben wurde. Gleichzeitig bedeutete ea aber auch die Befreiung der Schrift = Auslegung von jeder traditionsgebundenen Bevormundung. Das war noch nicht ohne Weiteres der Weg in die Wissenschaft, aber es war der Weg zum reformatorischen Verständnis der Bibel, und dieses reformatorische Verständnis führte dann weiter zur Freiheit der Wissenschaft. Es ist in diesem Zusammenhang beachtlich, daß Luther etwa gleichzeitig mit der Autorität des Papstes die allegorische Schriftauslegung, mit der man im Grunde alles beweisen kann, über Bord warf. Noch im ersten Teil des zweiten Psalmenkommentars hat er sich ihrer kräftiglich bedient, während er im zweiten Teil sie ausdrücklich ablehnt (EA op. lat. 16, 316ff. zu Psalm 21, v. 19). Von Thomas und allen Thomisten sagt er mit Bezug auf ihre Schriftauslegung: Ubi enim sunt, qui Paulum *) Vgl. C. Stange, Die ältesten ethischen Disputationen L's. 1932. Photomechanischer Druck.

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vel evangelium digno et genuino sensu tractaverunt? Schon vorher, im Herbst 1520, war er in der Schrift De captivitate... von Origenes abgerückt, auf den die Lehre von dem vierfachen Schriftsinn zurückgeht. Seine Meinung war jetzt die, quod verbis divinis non est ulla facienda vis, neque per hominem, neque per angelum, sed, quantum fieri potest, in simplicissima significatione servanda s u n t . . . (EA var. 5, 31). Und 1524/25, in der Schrift „Wider die himmlischen Profeten..." (WA 18, 62-214), nennt er die allegorische Schriftauslegung „ein geistlich Gaukelspiel" und meint •—• allerdings irrtümlicherweise —, daß des Origines Bücher „solches geistlichen Gaukelspiels halber" verdammt worden seien. Es ist nun aber außerordentlich lehrreich, zu sehen, wie Luther Hand in Hand mit dieser Verwerfung der allegorischen Schriftdeutung dazu übergeht, eine neue, ihm eigentümliche Schriftdeutung auszubilden. Schon in De captivitate . . . , und zwar in der Abwehr der Transsubstantiationslehre, klingt der neue Grundsatz der communicatio idiomatum an: Sicut ergo in Christo res se habet, ita et in sacramento, non enim ad corporalem inhabitationem divinitatis necesse est transubstantiari humanam naturam, ut divinitas sub accidentibus humanae naturae teneatur. Sed integra utraque natura vere dicitur: Hic homo est Deus, hic Deus est homo. Quod etsi philosophia non capit, fides tarnen capit. Et maior est verbi Dei autoritas, quam nostri ingenii capacitas (EA var. 5, 34). Und in der Schrift „Wider Latomus" (1521) wird dieses Verständnis der Zweinaturenlehre zum Grundsatz für das Verständnis der gesamten Heilslehre erhoben (EA var. 5, 518 f.). Aus der späteren Zeit erwähne ich „Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis. 1528" (WA 26, 261 ff.); den Großen Galater-Kommentar von 1531/35 (zu Gal 3, 10 in der Responsio ad argumenta, quae adversarii opponunt contra doctrinam et iustitiam fidei; EA Gal I S. 382ff.); die Schrift „Von Konziliis und Kirchen" 1539 (in den Äußerungen zum antinomistischen Streit); und aus dem Jahre 1543 die Disputatio de communicatione idiomatum (EA var. 4, 461-466). Besonders aufschlußreich ist der Gr. Gal-Kommentar. Mir scheinen diese Gedanken bis jetzt wenig beachtet zu sein. Sie spielen aber bei Luther ganz besonders für die Exegese des Paulus, und zwar für den späteren Nachweis der sola fides bei ihm, eine entscheidende Rolle in der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern und mit der Schrift. So kritisch man diesem exegetischen Prinzip gegenüber sein muß, — die Tatsache, daß Luther es angewandt hat, ist Beweis für die Freiheit, die er durch die Loslösung vom Papsttum erlangt hat. Unzweifelhaft gehört dieser theologisch-exegetische Grundsatz mit zu der Maxime „Was Christum treibet" (Vorrede zum Jac. 20

Brief 1522. E A 63, 156 f.). Weiterer Gedanken zu dieser hochbedeutsamen Frage enthalte ich mich um so leichter, als die Stellung Luthers zur Schrift erneut einer umfassenden Untersuchung bedarf.

Gesamt-Ergebnis Nach diesen Darlegungen komme ich zu folgendem über die Entwicklung der reformatorischen Erkenntnis Luthers: 1. Die ersten Anfänge von Luthers Intuition lassen sich bereits im ersten Psalmenkommentar (1513/15) nachweisen. Wenn auch, im Ganzen betrachtet, die reformatorischen Ansätze darin spärlich sind und Luthers Theologie durchaus Scholastik ist, so verrät sie doch bereits einige wichtige Spuren der kommenden Entwicklung, die sich deutlich von der scholastischen Theologie und Frömmigkeit unterscheiden. So vor allem die Absage an jegliches meritum und die fides als fiducia zur Barmherzigkeit Gottes, nicht als mystischer oder supranaturaler Überbau des Wissens, also: fides = credere deo (WA 3, 331). Ich weiß mich in dieser Beurteilung letztlich mit C. Stange eins (aaO. S. 56 ff.) 5 ), der, wie bereits erwähnt, an zwei Stellen die spätere Entwicklung Luthers sich ankündigen läßt: in der Kritik gegenüber der Aristotelischen Ethik und in der starken Betonung der biblischen B e g r i f f e caro und spiritus (S. 61). Beides führt in letzter Tiefe zur lex spiritualis. Man darf diese, wenn auch nur spärlichen, Ansätze der reformatorischen Erkenntnis Luthers um keinen Preis unterschätzen, — auch wenn sie noch nicht ausgereift waren. Sie sind von grundsätzlicher Bedeutung und leiten die Überwindung der Gesetzesreligion ein, die in der katholischen Frömmigkeit lebt. Insofern sind sie das Ergebnis der Klosterkämpfe und mit diesen unauslöschlich (Zu den Klosterkämpfen vgl. K-D. Schmidt, der K G i. Gr. S. 278 ff.). Sie bilden gewissermaßen das Stammkapital Reformation, aus welchem auch die spätere Erkenntnis der iustitia Dei 6 ) Vgl. T. Bohlin, Gudstro och Kristustro. 1927. siehe b. Bring, a.a.O. S. 173, Anm. 21. Bohlin weißt auf die Verschiedenheit der Rechtfertigungslehre im 1. PsalmenKommentar und in der späteren Zeit hin. Durchaus mit Recht. Es ist keineswegs meine Absicht, das zu bestreiten. Am allerwenigsten geht es an, diese Verschiedenheit als „letzten Endes" doch nicht verschieden zu bezeichnen. R. Bring, Das Verhältnis von Glauben und Werken in der lutherischen Theologie. 1933/55, tut das, indem er zwischen einer theologischen und einer psychologischen Betrachtungsweise unterscheidet (S. 35 ff.) und meint, daß L. sich in den früheren Schriften „auf eine Weise ausdrückt, die den psychologischen Gedankengängen der katholischen Theologie nahesteht" (S. 173). Das bedeutet nichts anderes als einen Versuch, zu harmonisieren. Luther selbst hat, wie meine bisherigen Ausführungen bereits gezeigt haben, anders geurteilt, indem er von seinen früheren" Schriften abgerückt ist! Trotz Vogelsang, Die Anfänge von Luthers Christologie. 1929, muß also an dem bisherigen Ergebnis festgehalten werden.

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und der sola fides sine operibus bzw. der imputatio hergeleitet ist. Insofern wird das Mißtrauen erklärlich, das R o m Luther, im Gegensatz zu seiner Selbstbeurteilung, bei seinem Thesenanschlag entgegenbrachte, indem es ihn zur Rechenschaft zog. Mit dem meritum stand und fiel die römische Hierarchie und der sie tragende Grund der Gesetzesreligion! E s darf jedoch in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, daß Luther in seinen Klosterkämpfen, also auf dem Wege zur Überwindung des meritum und damit der Gesetzesreligion, eine zwar begrenzte, aber nicht unwesentliche Hilfe von Seiten des thomistischen Theologen Staupitz erfahren hat. Diese von Luther stets dankbar anerkannte Hilfe zeigt, daß auch mit der scholastischen Theologie sich religiöse K r ä f t e zur Überwindung der Anfechtungen Luthers verbinden konnten und verbanden — Staupitz war von der devotio moderna beeinflußt — ; aber sie zeigt in ihrer Begrenzung gleichzeitig die Stelle, an der die Scholastik versagte: das war der Sakramentarismus. Deshalb kam die Reformation erst durch die Auseinandersetzung mit dem Sakramentarismus zur Vollendung (De captivitate . . . ) , und diese wiederum wurde erst in dem Augenblick ermöglicht, wo die göttliche Autorität des Papstes als nichtig erkannt war, d. h. nach Leipzig (1519)! Noch Ende 1519 — in dem Sermon vom unwürdigen S a k r a m e n t . . . . — steht Luther dem Sakramentarismus verhältnismäßig unkritisch gegenüber und bewegt sich in Bahnen, die von der Überlieferung durchaus noch akzeptiert werden konnten (EA var. 5, 21 f.). Der Lösungsprozeß vom Papsttum vollzog sich also nach Leipzig nicht ruckartig, sondern allmählich und magis magisque. Das Ganze stellt eine Parallele zur Entwicklung des Verständnisses der iustitia Dei dar, deren reformatorisches Endergebnis auch bereits keimhaft im ersten Psalmenkommentar vorgebildet ist. 2. Damit stehen wir bereits bei dem zweiten Absnitt der reformatorisdien Entwicklung Luthers, bei dem Turm-Erlebnis. Worin bestand es? Wir müssen davon ausgehen, daß alles, was Luther in der Vorrede von 1545 (EA var. 1, 22) von seiner Entrüstung über Gott ausführt, in die Zeit vor der Rm-Vorlesung bzw. der neuen Entdeckung zu Rom. 1, 17 gehört und die im ersten Psalmenkommentar vorhandenen Erkenntnisse voraussetzt. Das bedeutet offensichtlich, daß sich die letzteren als nicht ausreichend erwiesen und Luther noch nicht zu befrieden vermocht hatten. Den Grund dafür gibt er selbst an. Er fühlte, daß er, wie sehr er auch als untadelhafter Mönch lebte, vor Gott ein Sünder sei mit einem quälend-unruhigen Gewissen und daß er nicht das Vertrauen aufbringen konnte, durch seine „Genugtuung" versöhnt zu sein. Darin 22

lebte die Erkenntnis der ersten Psalmenvorlesung, daß es vor Gott um der Erbsünde willen keinerlei meritum gibt! Das „facere, quod in se est", war — auch in der Gestalt der condiciones (WA, Tisdir. V. Nr. 6017) — ihm bereits als trügerisch entlarvt, denn sdion im ersten Psalmenkommentar hatte er mit der traditionellen Auffassung gebrochen, daß durch die T a u f e das peccatum originale toturn aboletur (WA IV, 383). Das Vertrauen zur misericordia dei aber, zu dem er sich schon im ersten Psalmenkommentar durchgerungen hatte, das credere deo, wurde durch das Evangelium selbst, und zwar durch eine einzige Vokabel des Röm-Briefes, durch die „Iustitia D e i " , auf eine harte Probe gestellt. E r verstand diese Vokabel als die Gerechtigkeit Gottes, mit der er die Sünder straft! So fing er an, Gott geradezu zu hassen. Das bedeutete die scheinbar ausweglose Krisis der Gesetzesreligion, die sich bei Luther bis zur Entrüstung über Gott verschärfte, indem er sich sagte: quasi vero non satis sit, miseros peccatores et aeternaliter perditos peccato originali omni genere calamitatis oppressos esse per legem decalogi, nisi Deus per evangelium dolorem dolori adderet, et etiarn per evangelium nobis iustitiam et iram suam intentaret (1, 22). Das war die innere Situation vor dem Turm-Erlebnis. Und worin bestand dieses selbst? E s bestand nach allem bereits Ausgeführten nicht darin, daß Luther an Hand von R o m 1 , 1 7 ein Verständnis von der iustitia Dei gewann, das im Gegensatz zu der römischen Exegese stand; vielmehr bestand es darin, daß er eines Tages Paulus verstehen lernte: ardentissime sitiens scire, quid S. Paulus vellet! Der Reformator berichtet darüber, daß er, meditabundus dies et noctes, auf den Zusammenhang der Worte geachtet habe (connexionem verborum), d. h. er fand den Sinn des Satzes „iustitia Dei revelatur in evangelio" in dem Habakuk-Zitat (2, 4): Justus ex fide vivit. Denn wenn der Gerechte ex fide lebt, dann lebt er dono Dei 8 ), sofern der Glaube Gottes Werk in uns ist; aber dann bedeutet die iustitia Dei, die im Evangelium offenbart wird, eben die iustitia, mit der der barmherzige Gott uns gerecht macht (iustificat), indem er den Glauben schenkt. Analogien dazu fand Luther in anderen Vokabeln mannigfach: opus Dei, virtus Dei, sapientia Dei, fortitudo Dei, salus Dei, gloria Dei (1, 23). Wie gesagt, — als Luther diese exegetische Entdeckung machte, wußte er sich in keiner Weise damit in einem Gegensatz zu den kirchlichen und theologischen Grundlagen des Papsttums. Denn jede kritische Einstellung gegenüber Rom lag ihm z. Z. der RömVorlesung noch ferner und wäre noch unvorstellbarer als 1517 z. Z. des 6 ) EA var 1, 23: iustitia, „qua iustus dono Dei vivit, nempe ex fide"; vgl. 1. Ps.Kom. WA 4. 266; 3, 532.

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Thesenanschlags! E r mußte also mit dieser Entdeckung das Bewußtsein verbinden, daß diese Paulus-Exegese für Rom zum mindesten akzeptabel gewesen ist, wahrscheinlich aber mehr als dies. Daß sie das tatsächlich war (s.o. S. 10f.), ist lange übersehen worden,kann aber nicht in Abrede gestellt werden. Das gilt auch noch für die Zeit nach Abschluß der Rom-Vorlesung (9. Sept. 1516 nach Boehmer), also für die „ältesten ethischen Disputationen Luthers" (C. Stange, 1932), deren früheste: Quaestio de viribus et volúntate hominis sine gratia am 25. 9. 1516 stattfand. Man darf nur nicht Luthers Stellung zum Papsttum an seiner Stellung zur Sdiolastik messen wollen. Denn die Sdiolastik war so weit gespannt, daß sie im Einzelnen für die verschiedensten Auffassungen Raum bot, sogar für die ,Theologia deutsch', die erst 1628 auf den Index gesetzt wurde. Kritik an der Scholastik, Meinungsverschiedenheiten innerhalb derselben waren durchaus möglich, ohne daß dadurch die Grundlagen der Kirche angetastet wurden. Deshalb konnte audi Luther der Scholastik und ihren verschiedenen Systemen gegenüber nodi so kritisch sein, — an den theologischen Grundlagen der Kirche rüttelte er damit noch nicht (Vgl. Disputation vom 4. 9 . 1 5 1 7 : Contra scholasticam theologiam; bei Stange, aaO S. 35 ff.), weder objektiv noch subjektiv. Denn diese der gesamten Sdiolastik gemeinsamen Grundlagen bestanden in der grundsätzlichen Auffassung des Christentums als Gesetzesreligion, verkörpert in der hierarchischen Institution des Papsttums. Und diese Grundlagen wurden grundsätzlich und endgültig erst durch die Leipziger Disputation zerstört! Die Bedeutung des Turm-Erlebnisses bestand also noch nicht darin, daß es in Luther die Grundlagen des Papsttums erschütterte, sondern sie bestand darin, daß er für seine bereits im ersten Psalmenkommentar niedergelegte Auffassung von dem facere quod in se est sowie von der gratia und der fides durch die iustitia Dei bei Paulus den Schriftbeweis erhielt und damit das eigene Heil auf ein extra nos gründen konnte. Natürlich war damit bereits faktisdi dem Papsttum die Axt an die Wurzel gelegt, aber bis Luther das erkannte und die Schlußfolgerung daraus zog, waren noch weitere Klärungen und Kämpfe erforderlich, insbesondere die innere Loslösung vom Papsttum selbst. Zunächst blieb er mit der Erkenntnis des Turm-Erlebnisses in den Spuren der kirchlich-theologischen Grundlagen. Der Beweis dafür liegt in der Rom-Vorlesung selbst. Die Auslegung der iustitia Dei durch den Satz: qua nos Deus misericors iustificat per fidem läßt zweierlei Deutungen zu, einmal die später von Luther gegebene als iustitia passiva (vgl. Gr. Gal-Kommentar) im Sinne der sola 24

fides sine operibus, und sodann diejenige des Rom-Kommentars, die Luther, analog zur iustitia Dei, auch in aliis vocabulis fand. Gemäß dieser Analogie bedeutet die iustitia Dei diejenige Gerechtigkeit, die Gott in dem Menschen effectiv schafft, d. h. so, wie seine virtus effective potentia und seine sapientia effective sapientia in ihm hervorbringt. Sofern also die effective Gerechtigkeit des Menschen darin besteht, daß der Mensch Gottes Gebote erfüllt, wird sie zur Gerechtigkeit Gottes, dadurch daß Gott den Menschen durch den Glauben an Christus zur Erfüllung der Gottesgebote fähig macht: Nullus (autem) reputatur iustus nisi qui legem opere implet. Nullus autem implet, nisi qui in Christum credit (vgl. Ficker, Rm I, 20, 17). Nur sofern Gott diese Gerechtigkeit durch seine Gnade ermöglicht, und nur auf diesen begrenzten Akt Gottes beschränkt, kann Luther gelegentlich im Röm-Kom. sagen: nostra consilia cessant et opera quiescunt (!) et efficimur pure passivi respectu dei ; und nur in diesem Sinne spricht er gelegentlich einmal von der iustificatio dei passiva, die ganz offensichtlich nichts anderes ist wie die Substantivierung des iustificari a deo des ersten Psalmenkommentars (WA 3, 287, 290) — im Gegensatz zu dem se ipsum iustificare. Luther bewegt sich damit also durchaus auf der Linie des ersten Psalmenkommentars (vgl. auch oben S. 23). Und diese Auffassung ist bis in das Jahr 1520 hinein zu verfolgen. Ich erwähne aus dem ersten Gal-Kommentar (1519) den Gedanken zu Gal 5, 21: vides, quam non sufficiat sola fides, et tarnen sola iustificat, quia, si vera est, impetrat spiritum caritatis (EA Gal 3, 429). Und aus dem „Sermon von den guten Werken" (Mai 1520) zitiere ich den Satz, „daß der Glaube alle Gebote erfüllt und alle ihre Werke rechtfertig macht, weil ja niemand gerechtfertigt ist, er tue denn alle Gebote Gottes" (B. Bd. 1, 14). Zusammenfassend kann man über die Bedeutung des Turm-Erlebnisses also Folgendes sagen: Luther wußte auf Grund eigener Nöte unter der Wirkung des Geistes Gottes bereits 1513/15, daß der mit der Erbsünde behaftete Mensch ex se ipso kein gutes Werk zu vollbringen vermag, daß er mithin auch keinerlei meritum vor Gott aufzuweisen hat, — auch nidit in der Form einer condicio zur Erlangung der Sündenvergebung —, sodaß er sidi ganz und gar auf den Glauben gewiesen sah. Aber jetzt erkannte er, daß dieser Erkenntnis des Geistes auch die Heilige Schrift nicht entgegenstand! Denn was ihn bis dahin noch quälte und beunruhigte, war die iustitia dei, von der Paulus schreibt! Sie schien offensichtlich im Widersdiprud» zu seiner Erkenntnis des ersten Psalmenkommentars zu stehen, indem sie den Glauben an Gottes misericordia in Frage 25

stellte. So wurde sie, diese iustitia dei, die Ursache einer erneuten Verzweiflung, in der er Gott sogar anfing zu hassen. Diese Ursache wurde durch das Turm-Erlebnis beseitigt, indem Luther Paulus aus dem Zusammenhang verstehen lernte: iustitia Dei ist die Gerechtigkeit, die Gott bei dem Menschen sucht und ohne die der Mensch nicht „gerecht" ist, die er aber, weil der Mensch sie ex se ipso nicht leisten kann, selber in ihm durch die fides wirkt, sodaß der Gerechte eben ex fide vivit (Rom 1, 17)! Auch damit blieb Luther immer noch im Rahmen kirchlicher Frömmigkeit und auf der Linie des ersten Psalmenkommentars. Denn der Satz: Justus ex fide vivit besagt etwas anderes wie seine Umkehrung: qui ex fide vivit, iustus est. Was nämlich zur Seligkeit notwendig war, waren auch jetzt noch die bona opera, also die iustitia der Gesetzesreligion, nur daß diese opera durch Gott selbst vermittelst des Glaubens ermöglicht wurden (Vgl. den Sermon von den guten Werken!). Aber der „Fortschritt" des Turm-Erlebnisses gegenüber dem ersten Psalmenkommentar lag im Bereich der Heilsgewißheit, indem Luther seine allerinnerlichsten geistlichen Erfahrungen durch die hl. Schrift bestätigt fand. Da diese, auch für Rom, göttliche Autorität besaß, war dieser Schriftbeweis das extra nos, das Luthers Heilsgewißheit stützte. Doch darüber kann jetzt nicht weiter gehandelt werden. Bei dieser Entwicklung Luthers bleiben jedoch noch zwei Fragen zu beantworten. a) Wie verhält sich dazu die Tatsache, daß Luther bereits 1515 im ersten Psalmenkommentar die iustitia dei — im Einklang mit der römischen Exegese — als die iustitia, quam tu das et dabis mihi per fidem, glossiert hat? MaW: wie ist es zu erklären, daß er nicht schon damals jene Erleuchtung empfand, durch die in ihm das Gefühl, von neuem geboren zu sein und an der Pforte des Paradieses zu stehen, bewirkt wurde? Wenn auch die Daten vom Ende der ersten PsalmenVorlesung und vom Beginn der Rm-Vorlesung nicht einwandfrei feststehen — letzteres schwankt zwischen April 1515 (Ficker) und Anfang November 1515 (Boehmer) —, so ist doch soviel klar, daß zwischen der Glossierung von Psalm 142, 1 und dem Turm-Erlebnis die Zeit nicht allzu lang zu bemessen zein wird. Aber wie kurz oder lang sie auch gewesen sein mag, — die Tatsache, daß Luther bei seiner Psalmenauslegung nichts 'von „Entdeckung" empfand, hingegen sein mühsam erlangtes Verständnis des Paulus als Erleuchtung bewertete, diese Tatsache muß erklärt werden. Zwar spricht Luther 1545 im Hinblick auf seine Schriften vor 1517 ff. von seiner imperitia sowie davon, daß er damals ineptissimus et indoctissimus gewesen sei (EA var. 1, 16); aber 26

dabei denkt er im Wesentlichen an seine Befangenheit im Papsttum, sodaß man eher urteilen könnte, daß er normalerweise sich schon längst die ältere Exegese von Rom 1, 17 hätte auch innerlich aneignen können oder müssen. Doch das war eben nicht der Fall. Hier liegt ein irrationales Moment seiner Entwicklung, das darauf hindeutet, daß diese sich nicht nur nach der Konsequenz des rationalen Denkens vollzogen hat. Man kann diese Tatsache nur damit erklären, daß seine Anfechtungen, die von der Gerechtigkeit Gottes ausgingen, nicht aus dem Denken stammten, sondern aus der Frömmigkeit, und daß sie erst während der Arbeit am Rom.Brief für ihn akut, d. h. erst durch den Röm.Brief in ihm geweckt wurden. Das schließt nicht aus, daß er sich dabei auch des Psalmes 70 (71), 2 erinnert hat. Es waren andere Nöte, die ihn jetzt befielen, und andere, mit denen er es in den Jahren vor der ersten Psalmen-Vorlesung zu tun hatte und die in dieser ihre teilweise Beantwortung fanden. Damals waren es die Fragen, die mit der Absolution und ihren Konditionen, also mit dem meritum und mit der fiducia, zusammenhingen; jetzt dagegen war es das Schriftwort, das ihn mit dem Ausdrude „iustitia Dei" in neue Zweifel stürzte, die schließlich doch die alten waren, -—• bis er mit einem Mal Paulus und damit faktisch auch die ältere Exegese verstand. Zur Zeit der ersten Psalmen-Vorlesung war also für ihn das Problem der iustitia Dei noch nicht aktuell, und nachdem es durch den Röm.Brief aktuell geworden war und er die Erleuchtung empfangen hatte, war der erste Psalmenkommentar nicht mehr aktuell. Es war folgerichtig, daß Luther sich 1519 zum zweiten Mal den Psalmen zuwandte. So bleibt nur die geschichtliche Tatsache festzustellen, daß die durch den Röm.Brief veranlaßte Anfechtung auch durch den Röm.Brief überwunden wurde. Nichts vermag vielleicht deutlicher den „Fortschritt" zwischen den Anfängen der reformatorischen Erkenntnisse des ersten Psalmenkommentars und dem Turm-Erlebnis zu demonstrieren als dieser „Einschnitt" zwischen dem ersten Psalmen-Kommentar und dem Röm.Brief-Kommentar. b) Die zweite Frage, welche beantwortet werden muß, betrifft das Verhältnis zu Augustin. Es darf bei der ganzen Untersuchung nicht außer Acht gelassen werden, daß der Rückblick L's in seiner Vorrede aus dem Jahre 1545 fast 30 Jahre nach den Ereignissen, die er schildert, geschrieben ist. Das bedeutet, daß schon allein deshalb die Möglichkeit besteht, daß Luther gewisse Dinge aus der Perspektive des ex post betrachtet hat. So ist es sicher, daß der Ausdruck iustitia activa und iustitia passiva für die Erkenntnis des Turm-Erlebnisses eine spätere Erkenntnis vorwegnimmt, nämlich die Erkenntnis des sola fide sine operi27

bus. Jedenfalls ist mir jener Terminus — iustitia activa und passiva — vor 1531/35 nirgends, d. h. also zuerst im Gr. Gal. Kommentar (EA Gal 1, 17 f.), begegnet. Wohl taucht im zweiten Psalmenkommentar zu Psalm 5, 12 die Unterscheidung von vita activa und vita passiva auf (EA op. lat. Bd. 14, 243 ff.), doch audi diese Begriffe haben nichts mit dem Gegensatz von institia activa und institia passiva zu tun. Und die Auffassung sämtlicher Schriften Luthers vom Rm-Kommentar an bis zur 2. Hälfte des Jahres 1520 entspricht hinsichtlich der Rechtfertigung keineswegs der Vorstellung, die er 1531/35 mit der iustitia passiva verbindet. Es ist deshalb offensichtlich, daß Luther in seiner Rückschau 1545 den Ausdruck iustitia passiva proleptisch gebraucht, indem er mit dem neuen Verständnis von Rom 1, 17 schon die erst später erfolgte letzte Klärung zusammengehaut, deren Anfänge er im TurmErlebnis erkennt. Das wird bestätigt, wenn man seine kritische Äußerung zu Augustin (EA var. 1, 23) richtig bewertet. Es handelt sich dabei um folgenden Satz: Postea legebam Augustinum de spiritu et litera, ubi praeter spem offendi, quod et ipse iustitiam Dei similiter interpretatur: qua nos Deus induit, dum nos iustificat. Darnach hat Luther erst nach dem Turm-Erlebnis (1515 oder 1516) Augustins Schrift De spiritu et litera gelesen und dabei festgestellt, und zwar „wider Erwarten", also zu seiner Überraschung, daß Augustin die iustitia dei „ähnlich" interpretiert hat. Wenn auch das „postea" eine recht ungenaue Zeitangabe ist, so scheidet m. E. auf jeden Fall die Möglichkeit aus, daß Luther diese Stelle aus der genannten Schrift wenigstens dem Inhalte nach bereits gekannt oder gar die Schrift selbst bereits 1515 gelesen habe. Denn zunächst muß erst einmal versucht werden, Luther zu verstehen, ohne ihn mit einem Irrtum zu belasten. Denn einem solchen stehen immerhin gewichtige Argumente entgegen: legebam, praeter spem und similiter. Diese Bemerkungen sind so deutlich und so konkret, daß es schwer ist, an ihnen vorbeizusehen. Aber sie scheinen in eine ganz andere Richtung zu weisen. Gerade die beiden letzten Äußerungen scheinen mir zu bestätigen, daß Luther diese ganzen Ausführungen über das Turm-Erlebnis und über Augustin aus der Perspektive des Jahres 1545 gegeben hat. Ex post muß er sagen, daß Augustins Interpretation der iustitia dei nur similiter der — nämlich späteren — Erkenntnis der iustitia passiva entspricht. Denn Augustin vertrat hinsichtlich der Rechtfertigung den Standpunkt des Röm-Kommentars! Und Luther hatte, wie die folgenden kritischen Bemerkungen: et quamquam . . . imperfecte . . . non clare beweisen, mittlerweile erkannt, daß er sich, wie übrigens an verschie28

denen anderen P u n k t e n auch, betr. der Rechtfertigung von A u g u s t i n e n t f e r n t hatte. Denn ein E n t f e r n e n von ihm war es auf jeden F a l l , wenn er dem großen Kirchenvater und L e h r m e i s t e r Unvollkommenheit u n d Mängel nachsagt! Ex post ist es aber auch zu verstehen, wenn L u t h e r b e h a u p t e t , er sei „wider E r w a r t e n " auf jene „ähnliche" Interp r e t a t i o n Augustins gestoßen. D a s kann, j e n e m nachfolgenden kritischen S a t z ensprechend, eher bedeuten, daß er mehr, als daß er weniger e r w a r t e t hätte, — ex post, versteht sich, d. h. nachdem L u t h e r selbst die Schranken, die der Interpretation Augustins a n h a f t e t e n , b e s o n d e r s hinsichtlich der I m p u t a t i o n , in der iustitia passiva ü b e r w u n d e n hatte. D e n n diese Schranken h a f t e t e n auch dem T u r m - E r l e b n i s an (vgl. Rm.V o r l e s u n g ) ! E s ist nicht einzusehen, welcher Unterschied bestehen soll zwischen den Worten, mit denen L u t h e r das T u r m - E r l e b n i s beschreibt: iustitia Dei . . . , q u a nos D e u s misericors iustificat per fidem, und den Worten A u g u s t i n s : iustitia D e i . . . , qua nos D e u s induit, d u m nos iustificat. Die K r i t i k an den letzteren muß deshalb auch f ü r die ersteren gelten. I n s o f e r n bestätigen jene kritischen Äußerungen zu Augustin noch einmal den ex p o s t = Character des T e r m i n u s „iustitia p a s s i v a " f ü r das T u r m - E r l e b n i s . D a s heißt a b e r : f ü r das J a h r 1515/16 ist er proleptisch zu verstehen. — Wenn wir die theologische Entwicklung L u t h e r s in dieser Weise verstehen, d. h. wenn wir sie von innen verstehen, dann wird d a r a n jene K r a f t sichtbar, von der ich bereits mehrfach andeutungsweise sprach und die weit ü b e r das theologische D e n k e n hinausgeht u n d diesem voraus-gesetzt ist. E s ist seine F r ö m m i g k e i t , seine G o t t e r g r i f f e n h e i t , die sich von A n f a n g an in der F r a g e geäußert h a t : wie k r i e g e ich einen gnädigen G o t t ? Wir werden der Theologie L u t h e r s u n d i h r e m Werden niemals gerecht werden, wenn wir sie nur als das E r g e b n i s einer theologischen A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit der Scholastik b e g r e i f e n wollten u n d nicht vielmehr entscheidend als Ausdruck und E r g e b n i s seiner F r ö m m i g k e i t . E s ist keineswegs selbstverständlich, daß das so ist. U n d es ist keineswegs unnötig, das besonders hervorzuheben. D e n n es gibt gewisse Dinge, die ohne die Einsicht in diesen Z u s a m m e n h a n g dem L u t h e r f o r s c h e r unzugänglich bleiben. E s gibt nicht nur eine K o n s e q u e n z der L o g i k , es gibt auch eine K o n s e q u e n z der F r ö m m i g k e i t ! U n d welche von beiden bezwingender ist, kann nur der entscheiden, den es angeht. F ü r L u t h e r jedenfalls war die K o n s e q u e n z der F r ö m m i g k e i t das eigentliche m o m e n t u m agens auch f ü r seine Theologie. So war der Durchbruch des Verständnisses von R o m 1, 17 f ü r L u t h e r weit m e h r als eine bloße exegetische E n t d e c k u n g ; er w a r p r i m ä r ein Durchbruch auf d e m Wege 29

zur Heilsgewißheit, ohne daß diese damit schon erreicht war. A b e r ebendeshalb konnte Luther auch im ersten Psalmenkommentar von der iustitia dei reden, als ginge sie ihn nichts an und als hätte sie ihm nichts zu sagen! E r s t als die Beschäftigung mit dem Rom.Brief ihn durch diesen Begriff in seiner Frömmigkeit aufs Tiefste beunruhigte und ihn bis zum Haß gegen Gott erregte, da war der Augenblick gekommen, wo er „wuchs"! Nach Gründen d a f ü r zu suchen, wäre müßig, denn hier stehen wir vor der Irrationalität eines jeden Geschehens, insonderheit der Frömmigkeit, deren Konsequenz oftmals erst im Rückblick, d. h. ex post, erkannt werden kann. Deshalb hat es auch durchaus nichts Anstößiges an sich, wenn Luther seine eigene Entwicklung 1545 aus der Perspektive der R e i f e schildert. A u f g a b e der nachfolgenden Geschichtsforschung ist es jedoch, das Spiel der K r ä f t e zu erkennen und die verschiedenen F a k t o r e n herauszustellen. Deshalb muß im R a h m e n der Geschichtsforschung gesagt werden, was gesagt worden ist: das TurmErlebnis stellt mit dem neuen Verständnis von R o m 1, 17 zwar den entscheidenden Durchbruch reformatorischer Frömmigkeit dar, aber es ist nicht zugleich das Schlußstück der reformatorischen Theologie als Ausdruck dieser Frömmigkeit. Zwischen der Frömmigkeit und ihrem theologischen Ausdruck besteht noch eine Spannung, die von Luther, wie sein Bericht zu zeigen scheint (istis cogitationibus armatior factus), 1519 gefühlt und erkannt, aber noch nicht gelöst worden war. Ihre Lösung fand sie erst in der sola fides sine operibus 7 ). D e m Turm-Erlebnis voraufgegangen waren die K ä m p f e der Frömmigkeit mit dem meritum, dem facere quod in se est, und den condiciones. D a s Ergebnis dieser K ä m p f e galt auch jetzt noch! Und es zeigte sich schon jetzt, daß die letzte Phase der theologischen Entwicklung Luthers, also die Vollendung nach dem Turm-Erlebnis, darin bestehen mußte, die Erkenntnisse der beiden vorangegangenen Stationen miteinander zu verbinden. D. h. die Heilsgewißheit, nach der ihn verlangte, forderte, daß aus der iustitia Dei im Sinne des Turm-Erlebnisses alles das ausgeschieden wurde, was irgendwie auch nur die Gefahr oder Versuchung eines meritum in sich trug. Das bedeutete aber, daß die A u f f a s s u n g von Rechtfertigung, wie Luther sie noch im Römerbrief und später vertrat, sich nach der Konsequenz der Frömmigkeit weiter entwickeln mußte 7 ) Sollte es wirklich Zufall sein, daß ausgerechnet die Wendung „cogitatione armari" in De captivitate . . . auftaucht, und zwar an einer Stelle, an der Luther die pura fides begründet? Eadem cogitatione armari oportet et cuiusque conscientiam adversus omnes scropulos et morsus suos, ad hanc Christi promissionem indubitata fide obtinendam, . . . (EA var 5, 45). Man muß sich klar machen, daß diese Worte zeitlich vor EA var 1, 23 geschrieben sind.

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bis hin zur sola fides sine operibus ! Und das wiederum bedeutete den Bruch mit Rom, zu dem es der Beseitigung der göttlichen Autorität des Papstes bedurfte, die sich erst 1517 als das große Hemmnis einer Reformation enthüllt hat. Bis dahin war Luther keineswegs gewillt, den Papst zu bekämpfen, vielmehr hielt er sich immer noch in den Bahnen der kirchlichen Theologie — ohne zu merken, daß, zwar nidit durch seine Theologie, aber in seiner Frömmigkeit die Zündschnur bereits an die Fundamente Roms gelegt war. In dieser selbstverständlichen Ergebenheit gegenüber dem Papsttum finden wir ihn auch noch beim Thesenanschlag. 3. Damit habe ich mich bereits über den letzten Abschnitt in Luthers theologischer Entwicklung geäußert. Er wurde eingeleitet durch den Thesen-Anschlag und entscheidend bestimmt durch die Leipziger Disputation (s. o. S. 17 ff.). Das Fazit daraus zog Luther 1520 in der Schrift „Vom Papsttum zu Rom . . . " (WA 6, 285—324), so daß diese Schrift als die erste Hauptschrift der Reformation erkannt werden muß. Ich rede deshalb nicht von drei, sondern von vier großen reformatorischen Hauptschriften des Jahres 1520. Einzelheiten über diese Entwicklung bleiben der weiteren Darstellung vorbehalten, welche unter anderem die Bedeutung des Jahres 1520 zu untersuchen hat. Im Augenblick will ich nur noch auf eine andere nicht unwichtige Beobachtung aufmerksam machen. Wer sich die Entwicklung der Theologie Luthers vergegenwärtigt, dem muß auffallen, daß der Reformator in den Jahren nach 1519 bis etwa 1525 und auch noch in den beiden Katechismen, wiewohl er sich sehr oft über die Rechtfertigung vor Gott geäußert hat, diese doch niemals zum Thema einer theologischen Untersuchung gemacht hat wie etwa den Ablaß, das Papsttum, die Sakramente und das Mönchtum oder wie die Obrigkeit u. a. Ich füge hinzu: im Unterschied zu den späteren Jahren, in denen er in vielen Disputationen und Thesen ausdrücklich thematisch diese Frage behandelt hat. Das hat seinen Grund nicht darin, daß für den Reformator selbst die Rechtfertigung nicht schon von Anfang an die zentrale Bedeutung gehabt hätte, die wir ihr beizumessen gewohnt sind. Vielmehr kommt darin zum Vorschein, daß für Luther die Rechtfertigung ihrem Ursprung nach etwas anderes und d. h. mehr gewesen ist als ein Lehrsatz; sie ist für ihn das eigentliche, das zentrale Anliegen der Frömmigkeit gewesen, das sein gesamtes Leben erfüllt und alle einzelnen Fragen und Probleme begleitet hat und das deshalb auch in sämtlichen an ihn herantretenden Aufgaben mitgestellt war. Deshalb hat er sich ohne einen aktuellen Anlaß in dieser Zeit so gut wie 31

gar nicht zur Rechtfertigung geäußert, sodaß man sagen kann, er hat nie abstrakt dazu Stellung genommen, sondern stets nur konkret. Die Rechtfertigung war für ihn das Regulativ seines gesamten Lebens, das in toto Leben vor Gott ist. Das Wort „Materialprinzip" reicht für die wenigsten Situationen aus, denn sie, die Rechtfertigung, ist das Regulativ auch für seine Stellung zur Welt, aber nicht im Sinne eines Materialprinzips, sondern als regulierende Grenze (jedoch anders wie E. Wolf, Die Rechtfertigungslehre als Mitte und Grenze reformatorischer Theologie. 1950). Sämtlidie Äußerungen des Reformators über die Reditfertigung finden sich, gerade in den entscheidenden Jahren, in den verschiedenen Schriften dieser Zeit verstreut und in Verbindung mit ganz anderen Problemen. Erst als seine Gegner seine „Rechtfertigungslehre" angriffen, erst da hat er auch seinerseits thematisch zu dieser Frage Stellung genommen! So im Gr. Gal-Kommentar (EA Gal I, 376 ff.); aber audi im antinomistischen Streit und in verschiedenen Disputationen nach 1536 (EA var. Bd. 4). Diese Stellung der reformatorischen Reditfertigung innerhalb des Lebensganzen und zu allen einzelnen Lebensfragen gehört als ein wesentliches Stück mit zur deutschen Reformation. In ihr liegt auch die Antwort auf die Frage: Glaube und Werke, Evangelium und Gesetz. Und sie ist zugleich wieder ein Beweis dafür, daß die Theologie Luthers sich nicht nur durch das Studium der hl. Schrift und durdi die Auseinandersetzung mit der Scholastik bis zur Vollendung entwickelt hat, sondern daß dabei noch ein anderer Faktor eine wesentliche Rolle gespielt hat, nämlich die beständige Aktualität eines gottwohlgefälligen Lebens, kurz, die Frömmigkeit. Von hier aus ist es zu verstehen, daß der Abschluß der reformatorischen Theologie, die sola fides, sich erstmalig im Zusammenhang mit dem Sakramentarismus findet, nicht etwa in einer exegetischen Schrift oder in theoretischer Auseinandersetzung mit der römischen Rechtfertigungs-Auffassung. Denn der Sakramentarismus war es, an dem sich Luthers Anfechtungen im Kloster entzündet hatten, besonders das Bußsakrament, und hier vor allem die Absolution und ihre Bedingungen, aber dann auch und nicht minder das opus operatum der römischen Messe. Mit diesen Dingen wurde Luther nicht fertig, solange die göttliche Autorität des Papstes und mit dieser auch die römische Sakraments-Auffassung ihm feststand. Als jedoch diese Voraussetzung sich nach dem Thesenanschlag mehr und mehr als trügerisch und schließlich als teuflich erwies, da stand dem Reformator nichts im Wege, sich audi der theologischen Fesseln der Papstkirche zu entledigen und unbehindert den Pfad der Wahrheit zu gehen. So riß er zunächst die drei 32

Mauern nieder, hinter denen R o m sich verschanzte („An den christlichen Adel deutscher Nation . . . " ) , und dann drang er in das Innere der Burg ein (Kawerau)! Dieses Innere war dargestellt durch die Sakramente, jene Fesseln, die ihm so viele Nöte bereitet hatten. E s ist kein Zufall, daß in diesem Zusammenhang zum ersten Mal die sola fides als alleiniger Weg des Heils ohne Werke auftaucht, während die sola fides als Voraussetzung einer sich wiederholenden Vergebungsgewißheit ihm bereits längst klar gewesen war. Aber jetzt bedeutete sie das sine operibus für das gesamte Heil! Denn die Kritik an dem opus operatum und dem opus operantis führte dazu, den Ver/ieißimgscharakter der Einsetzungsworte des Abendmahls in den Mittelpunkt zu rücken und so alles Heil allein auf den Glauben zu stellen. Von „Rechtfertigung" wird verbis expressis nicht geredet; aber das Ganze ist Rechtfertigung vor Gott! Man braudit nämlich diese Gedanken nur von dem Abendmahl zu lösen und zu verselbständigen. Und das hat Luther getan! Er führt gelegentlich aus, daß in der Messe verburn Christi est testamentum, panis et vinum sunt sacramentum. Und dann sagt er, daß im „ W o r t " mehr K r a f t (vis) liege als im „Zeichen", denn (quia) homo potest verbum seu testamentum habere et eo uti absque signo seu sacramento (EA var. 5, 43). Damit will Luther ganz gewiß nicht für die Überflüssigkeit oder gar Abschaffung der Abendmahlsfeier eintreten; aber er will damit aussprechen, daß die Gabe des Abendmahls, nämlich die göttliche Zusage der Vergebung aller Sünden, einschließlich der zukünftigen (5, 55), auch unabhängig von dem Zeichen, als Wort wirksam ist. Crede, inquit Augustinus, et manducasti, sed cui creditur, nisi verbo promittentis? Ita possum quotidie, imo omni hora, missam habere, dum quoties voluero, possum verba Christi mihi proponere, et fidem meam in illis alere et roborare, hoc est revera spiritualiter manducare et bibere (5, 43). Diese Loslösung des Wortes vom Zeichen stellt die Brücke zur reformatorischen Rechtfertigungsauffassung dar. An anderer Stelle heißt es daher, die Messe sei „die Summa und der Inbegriff des Evangeliums (summa et compendium evangelii), denn was ist das gesamte Evangelium (universum evangelium) anders als die frohe Botsdiaft von der Vergebung der Sünden?" Unde et conciones populäres aliud esse non deberent, quam expositiones missae, id est, declarationes promissionis divinae huius testamenti, hoc enim esset fidem docere, et vere ecclesiam aedificare (EA var. 5, 54). Missa wird gleichbedeutend mit evangelium! In dieser Weise wird aus der Auseinandersetzung mit der römischen Messe die Lehre von der Rechtfertigung vor Gott — allein aus dem Glauben! Hinter dieser Auseinandersetzung aber steht, wie am 3 Studien der Lutherakademie 7/Pohlmann

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Anfang, die Frage: wie kriege ich einen gnädigen Gott?, steht m. a. W. die Frömmigkeit! 8 ) Es ist durchaus verständlich und gehört für Luther zur Konsequenz der Frömmigkeit, daß er zu gegebener Zeit — wieder aus einem bestimmten äußeren Anlaß — seine Schrift De servo arbitrio schrieb. Nichts ist abwegiger, als in dieser Schrift ein Abirren Luthers von der Frömmigkeit in die philosophische Spekulation zu erblicken. Das ist schon allein deshalb irrig, weil der Anlaß dieser Schrift ein eminentpraktischer, d. h. religiöser, war. Es handelte sich in der Schrift des Erasmus, auf die Luther antwortet, um den freien Willen und damit letztlich wieder um die Frage: wie kriege ich einen gnädigen Gott? Die katholische Lehre endete, wie Luther besonders in der Schrift über die Mönchsgelübde (1522; WA 8, 564—669) dargetan hat, beim meritum, dessen Überwindung für ihn schon am Anfang seines reformatorischen Weges stand. Das war, im Grunde genommen, der Kampf, um den es in der lutherischen Reformation ging! Er konnte also nicht schweigen, nachdem er abermals, noch dazu von einem so bedeutenden Manne wie Erasmus, angegriffen war. Aber wie sollte er der katholischen Doktrin beikommen? Man kann natürlich sagen, der Unterschied zwischen Erasmus und Luther lag in der Auffassung von der Erbsünde, sofern die römische Auffassung es verstanden hatte, mit der Erbsünde einen Rest von freiem Willen zu verbinden, und sofern sie lehrte, daß durch die Taufe das peccatum originale totum aboletur. Aber dieser Unterschied war bereits in der Schrift „Wider Latomus" von Luther dargestellt und abgehandelt worden, und zwar bis hin zu dem Satz: omne opus bonum est peccatum (EA var. 5, 419 ff.).9) Erasmus aber war mit seiner Formulierung des Themas weitergegangen als Latomus und hatte die Hintergründe dieser These und seiner Ablehnung derselben beleuchtet. Luther hatte ihm deshalb in aufrichtiger Dankbarkeit bescheinigt, „allein von allen anderen die Sache selbst (rem ipsam), d. h. den eigentlichen Kern der Sache (summam caussae)", angegriffen zu haben. Er hat hinzugefügt, er, Erasmus, habe ihm nicht zugesetzt „mit jenen fremden Sachen über das Papsttum, das Fegfeuer, den Ablaß und ähnliche Dinge . . . " . „Du einzig und allein hast den Nerv der Sache (cardinem rerum) gesehen und 8 ) Vgl. auch Assertio (Ende 1520), art. 15: cum enim in sacramento quolibet sit verbum promissionis, ut superius diximus (seil. art. 10), necessario sequitur, quod non opus ullum, sed fides exigitur. Quamquam verum sit, iidem non esse posse sine sequentibus operibus . . . (EA var 5, 197). 9 ) Vgl. auch Quaestio de viribus . . . (1516, b. Stange, a. a. O . ) : An homo ad Dei imaginem creatus, naturalibus suis viribus Dei creatoris praeeepta servare aut boni quippiam facere aut cogitare atque ad gratiam mereri meritaque cognoscere possit.

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das Messer an die Kehle gesetzt" (iugulum petisti, eigentl. = nach der Kehle greifen; WA 18, 786; Budiw.-Scheel E II S. 520). Dieser Nerv der Sache — cardo eigentl. Türzapfen, Angelpunkt — war der freie Wille, während der cardo totius ferme quaestionis bei Latomus die Frage war: Was ist Sünde? (EA var. 5, 455). Den freien Willen konnte Luther nicht nur mit dem Hinweis auf die Erbsündenlehre widerlegen (WA 18, 786) wie die Angriffe gegen diese von Seiten des Latomus. Das wäre darauf hinausgelaufen, von dem cardo rerum abzulenken zu einer „fremden Sadie" (alienum). So mußte Luther mit Erasmus aufs Ganze gehen. Berief sich Erasmus auf den freien Willen, so berief sich der Reformator auf das servum arbitrium. Aber während Erasmus den freien Willen nach Luthers Meinung nur postulieren konnte und während sein Schriftbeweis von ihm als mißglückt abgelehnt wurde, begründete der Reformator das servum arbitrium mit dem Gottesgedanken sowie mit der Schrift: Weil Gott der absolut freie Wille ist — andernfalls er nicht Gott wäre —, deshalb muß des Menschen Wille absolut unfrei sein! Es ist also nicht so, wie man gemeint hat, daß das servum arbitrium nur dazu diene, die Heilsunfähigkeit des Menschen zu begründen, und daß es deshalb mit dieser gleichzusetzen sei (vgl. Doerne u. a.); nein, es dient dazu, das liberum arbitrium zu widerlegen, das nicht anders widerlegt werden kann wie 'durch die Wirklidikeit Gottes. Denn das servum arbitrium ist die allein mögliche und darum notwendige religiöse Konsequenz aus der Gottestatsache und der Gottergriffenheit. Nur in dieser Form und in diesem Verständnis ist es Beweis gegen das liberum arbitrium, während es in jeder anderen Form gleichfalls nicht mehr als ein Postulat wäre. Das gilt besonders von dem Versuch, das servum arbitrium auf die Heilssphäre zu begrenzen, im übrigen aber entweder um der Selbstverantwortung des Menschen willen diese oder um der Gnade Gottes willen ein servum arbitrium in Dingen des Heils zu postulieren. Hätte Luther dem liberum arbitrium des Erasmus als dem letzten Grund der von ihm verteidigten römischen Frömmigkeit nichts anderes entgegenzusetzen gehabt wie die Heilsunfähigkeit des Menschen, dann hätte er, zumal diese in irgendeiner Form auch von Rom nicht geleugnet wurde, Behauptung gegen Behauptung, Postulat gegen Postulat, Frömmigkeit gegen Frömmigkeit gesetzt und wäre auch mit dieser Antwort dem jcardo rerum aus dem Wege gegangen! Das Bedeutsame an der Schrift De servo arbitrio ist also dies, daß Luther durch Erasmus genötigt wurde, den cardo rerum zum Thema seiner Ausführungen zu machen, so daß er dem Beweis für das servum arbitrium nicht ausweichen konnte! Dieser Beweis aber lag für ihn in Gott selbst bzw. in dem 3*

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Gottesgedanken. Es läßt sich der Nachweis führen, daß der Gottesgedanke Luthers von Anfang an als die leitende und gestaltende K r a f t im Hintergrund sowohl seiner Anfechtungen und K ä m p f e als auch seiner reformatorischen Erkenntnisse gestanden hat; daß er sich ab 1520, d. h. nach Leipzig, langsam in den Vordergrund schob und schließ« lieh 1525 in De servo arbitrio zum Schlußstein seiner reformatorischen Antwort auf die Heils- und Gewißheitsfrage wurde. Als solcher wurde er der Beweis für das servum arbitrium sowie die Grundlage seiner Theologie und enthüllte gleichzeitig den eigentlichen Gegensatz gegenüber Rom. Leider fehlt bis heute noch eine Untersuchung des katholischen Gottesgedankens in seiner Vielschichtigkeit und Mannigfaltigkeit; aber auch ohne sie dürfte feststehen, daß der die katholische Heilslehre bestimmende Gottesgedanke der Gottesgedanke der Gesetzesreligion ist, dem der Gottesgedanke Luthers entgegensteht. Dem inneren Zwang seiner Beweisführung mußte sich sogar sein Urteil über die Erbsünde anpassen. Indem er hinter die Erbsünde auf den Gottesgedanken zurückgriff, mußte auch sie ihr Antlitz wandeln. Luther muß nämlich zugeben, daß auch die Erbsünde dem liberum arbitrium Dei, nicht des Menschen, unterworfen ist, und d. h. daß auch sie letztlich von Gott gewirkt ist und auf Gott zurückgeht (WA 18, 712). Sein Wille ist ipsa regulaomnium !Insofern wird die Erbsünde mit in das servum arbitrium des Menschen einbegriffen, gewissermaßen als eine Manifestation desselben, so daß dieses umfassender ist als die Erbsünde. Die ganze Kompliziertheit dieser Frage kann jetzt jedoch nicht weiter verfolgt werden. Die Schrift De servo arbitrio hat Erasmus gegenüber den Vorzug, daß ihre Ergebnisse mutig und konsequent sind. Erasmus muß sich des öfteren den Vorwurf gefallen lassen, daß er sich selbst widerspreche, und zwar in seinen Hauptgedanken. Überdies beweist seine geistige Haltung deutlich den hervorragenden Führer der humanistischen Bewegung, d. h. er hat den inneren Drang zu nivellieren, indem er relativiert und analogisiert. Deshalb seine Neigung zur grundsätzlichen Skepsis und seine Abneigung gegen alles Gewisse — es sei denn dieses durch kirchliche Autorität sanktioniert! Ich habe, so schreibt Erasmus, „an festen Behauptungen so gar keinen Gefallen, daß ich mich leicht auf die Seite der Skeptiker schlagen würde, sofern es die unverletzliche Autorität der göttlichen Schriften und die Entscheidungen der Kirche erlauben, denen ich meine Vernunft überall unterwerfe, mag ich nun begreifen, was sie vorschreiben, oder nicht (Erasmus, opp. omnia, Leyden Bd. 9, S. 1215 D). Dadurch wird die Schrift des Erasmus als das charakterisiert, was sie ist: als Kompromiß des Humanismus mit Rom! Und Luthers Schrift ist die 36

kompromißlose Antwort sowohl an den Humanismus als auch an Rom! Deshalb bedeutete dem Erasmus die Frage der Heilsgewißheit als Problem nichts! Luther bemerkt dazu: „Welch ein Protheus ist in diesen Worten unverletzliche Autorität' und ,Entscheidungen (decreta) der Kirche 1 enthalten! Denn es erweckt den Anschein, als habest du große Ehrfurcht vor der heiligen Schrift und vor der Kirdhe und trotzdem deutest du an, du wünschtest dir die Freiheit (licentiam), ein Skeptiker zu sein. Welcher Christ würde so sprechen?" Und dann fügt Luther hinzu: „Wenn du das von notwendigen Lehren (de necessariis dogmatibus) sagst, quid magis impie possit aliquis asserere, quam optare licentiam nihil asserendi in talibus?" (Wa 18, 604; B E II, S. 221). Das ist zugleich einer der vielen Widersprüche, die Luther dem Erasmus nachweist. In der Tat, es leben zwei Welten in seinem Geist. Wie ganz anders Luther! Weldie Geschlossenheit und innere Konsequenz des Glaubens! Die Auseinandersetzung mit Erasmus ist ein Zeugnis dafür, daß die Konsequenz seiner Schrift D. s. a. weder verkrampft noch gemacht und gekünstelt, sondern die Konsequenz des Glaubens ist, hinter der nichts Geringeres als das Verlangen nacht Heilsgewißheit steht! E r hätte nimmer so reden können, wenn er seines Heils bei der Verteidigung des servum arbitrium nicht gewiß gewesen wäre. Aber er hätte auch nicht anders reden dürfen, wenn er nicht sich selbst mit Erasmus zusammen das Urteil hätte sprechen wollen! Denn servum arbitrium bedeutet für ihn nidit bloß Tieilaunfähigkeit, sondern es bedeutet auch Heils gewißheit. Und damit es das Eine wie das Andere bedeuten kann, muß es in dem absoluten liberum arbitrium Gottes, d. h. in der Gottheit Gottes, begründet sein! Erst mit De servo arbitrio ist deshalb die Enwicklung der Theologie Luthers abgeschlossen.

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B. Der reformatorische Fortschritt Luthers Der reformatorisdie Fortschritt konzentriert sich auf die zweite Hälfte des Jahres 1520. Wir werden bald sehen, daß die Gesamt-Entwicklung der reformatorischen Erkenntnis als ein Reifen und Wachsen eines Ganzen, eines Organismus, angesehen werden muß, so daß alle Einzel-Fortschritte nur aus dem Gesamt-Reife-Prozeß begriffen werden können. Ich will nun im Folgenden den Zeitpunkt näher zu bestimmen versuchen, an dem der entscheidende Durchbruch zur Reife hinsichtlich der Rechtfertigung sich am Ganzen vollzogen hat. Es ist, um es vorläufig so auszudrücken, die Ergänzung der sola gratia durch die sola fides. Sie ist eingeleitet durch die Schrift De captivitate Babylonica (Oktober 1520) und endgültig vollzogen in der Schrift De libertate Christiana (November 1520). So werden wir den ersten Zeitabschnitt bis zum Jahre 1520 rechnen können und den letzten Abschnitt von 1520 bis 1525 (D. s. a.). Dazwischen liegt das bedeutsame Jahr des „Fortschrittes" 1520. In einem weiteren Kapitel werde ich dann noch die Bedeutung des Jahres 1525 und die theologische Entwicklung nach 1525 beleuchten.

Kapitel II Entstehung und Entwicklung der reformatorischen Erkenntnis 1. Die Zeit bis 15201) Im Mittelpunkt dieses Zeitabschnittes steht für unsere Zwecke zunächst Luthers Vorlesung über den Römerbrief (1515/16 — Ficker 1908). Vorangegangen waren die Psalmen-Vorlesungen (1513/15). Sie sind insofern von Bedeutung, als sie bereits charakteristische Neu-Ansätze in Luthers Entwicklung zeigen, und zwar hinsichtlich des peccatum originale, der gratia und der fides; im übrigen aber halten sie in der Rechtfertigung die paulinische Linie (Rom 4/5) ein, nach weither das *) Vgl. die Dogmengeschichten, insbesondere von Loofs, Seeberg; ferner Karl Holl, Luther Bd. II. Otto Scheel, Martin Luther Bd. I. 38

iustum reputari oder das sine merito iustificari im Sinne des absolvi zugleich das neue Leben bedeutet: remissio peccati . . . ipsa resurrectio (WA 3, 30). Audi bejahte Luther in dieser Zeit noch den freien Willen (WA 4, 295) und ein congrue se disponere ad gratiam neben dem gratis esse der gratia (WA 4, 329) 2 ). Karl Holl hat darauf aufmerksam gemacht, daß in der Rechtfertigungslehre Luthers in der Vorlesung über den ßömerbrief ein harter Widerspruch enthalten sei (Luther S. 117). Er zitiert zunächst den Satz: qui iustificat per gratiam impium, i. e. qui ex se ipso non nisi impius est coram Deo (Ficker I, 37, 14). Und dann hält er daneben das andere Wort: nullus autem reputatur iustus nisi qui legem opere implet. Nullus autem implet, nisi qui in Christum credit (I, 20, 17). Sicher ist, daß das zweite Zitat den Sinn hat, daß die regeneratio die Voraussetzung für die Rechtfertigung ist, anders ausgedrückt: daß der Glaube an Christus in der regeneratio das Gesetz erfüllt und dadurch die reputatio ermöglicht3). Das wäre durchaus der paulinische Gedanke. Und mit diesem Gedanken vereinigt sich im Sinne des PI. sehr gut der erste Satz. Der Nachdruck liegt nämlich auf dem ex se ipso, an dessen Stelle das per gratiam tritt. Die Gesetzes-Erfüllung als Voraussetzung der iustificatio erfolgt demnach per gratiam, nicht ex se ipso! Deshalb kann Luther unmittelbar vor dem zweiten Zitat durchaus mit Recht sagen: Non enim, quia iustus est, ideo reputatur a Deo, sed quia reputatur a Deo, ideo iustus est (I, 20, 16 f. = Rdgl. zu Rom 2, 13). Wir können also feststellen, daß Luther in seiner Rom-Vorlesung Paulus richtig exegesiert und interpretiert. 4 ) Als Beleg dafür können noch andere Stellen angeführt werden. So das Bild vom Arzt und dem Kranken (Ficker II, 108); ferner die häufig auftretende Formel des simul peccator et iustus (Ficker I, 65, 24; II, 108; 176, 6) sowie, damit zusammenhängend, die Frage der Heilsgewißheit. Was die letztere angeht, so hat Luther z. Z. des Röm-Kom. noch keine Heilsgewißheit gehabt! In einer Randglosse zu Rom 8, 38 führt er die „Heilsgewißheit" des Apostels auf eine besondere revelatio Gottes zurück, ohne welche niemand seiner Erwählung ) Vgl. Loofs, DG 4 S. 697, 700. ) Vgl. hierzu Rdgl. zu Rom 3, 31, wo es heißt, daß per fidem et gratiam lex impletur. Auch WA 1, 105, 113. Diese Ausdrucksweise findet sich aber auch noch sehr viel später, z. B. in der Vorrede auf das AT (1523). 4 ) Loofs weist darauf hin, daß Luther im Verlauf seiner Rom-Vorlesung in anderer Hinsicht eine Entwicklung durchgemacht habe, nämlich hinsichtlich des freien Willens des Menschen: liberum arbitrium extra gratiam constitutum nullam habet prosus facultatem ad iustitiam, sed necessario est in peccatis. Bei dem von Holl angeführten „Widerspruch" kann man von einer ähnlichen Entwicklung innerhalb des RömKommentars offensichtlich nicht reden. 2

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gewiß sein könne (Loofs 707)°). Damit drückt er gleichzeitig aus, daß die paulmisch verstandene Rechtfertigung keine unmittelbare Heilsgewißheit in sich trägt. Möglich, daß hier der Ansatzpunkt lag, von dem aus Luther weitergetrieben wurde. Denn Heilsgewißheit war es ja doch, die er in seinen Klosterkämpfen suchte und die er schließlich in der sola fides fand, deren Entsprechung die absolute Treue Gottes war. Zunächst muß allerdings darauf hingewiesen werden, daß die sola fides bereits in der Röm-Yorl. auftaucht. So heißt es, daß die iustificatio per solarn fidem erfolge, qua dei verbo creditur oder: credendo ex toto corde verbis dei und sine adiutorio et cooperatione operum sive non merentibus operibus; in der iustitia legis sind die opera necessaria, ut vivas et salvus sis, aber fides sufficit sine illis operibus. 6 ) Man muß jedoch fragen, was 1516 f ü r Luther iustificatio bedeutet. Denkt man an die Klosterkämpfe zurück, dann weiß man, wie sehr Luther gerade mit der Anfechtung zu tun hatte, ob er die priesterliche Absolution auch auf sich beziehen dürfe. E r rang mit den condiciones und wurde allein durch den Glauben (Rom 1, 17) von seinen Anfechtungen befreit. Dieser Erfahrung gibt er auch in der Rom-Vorlesung Ausdruck. Denn unter iustificari versteht er zu dieser Zeit die non-imputatio iniustitiae oder die remissio peccatorum. E s ist für ihn dasselbe, zu sagen: cui deus reputat iustitiam oder: cui deus non imputat peccatum, i. e. iniustitiam (vgl. auch Rdgl. zu 2, 13). Nimmt man nun hinzu, daß f ü r Luther das peccatum originale, im Unterschied zur Tradition, schon 1515/16 mit der Taufe nicht als aufgehoben galt, und daß er die magische Lehre von der Gnade bereits verwarf, dann folgt daraus, daß die Rechtfertigung in dieser Zeit nicht etwa einen Heilszustanrf ausdrückte, sondern ein beständiges Werden in dem Rhythmus von Sünde und Vergebung. Wir sind als Christen mehr iustificati quam iusti . . . quia Semper adhuc iustificamur et in justificatione sumus (Rdgl. zu Rom 5 , 1 ) . Daraus ergab sich der f ü r diese Zeit geltende Sinn des simul peccator et iustus: peccator re vera, iustus in spe. Man sieht, wie hier die sola fides nicht als Ausdruck eines radikal-neuen Verhältnisses zu Gott das Heil als ein Ganzes bewirkt, sondern wie sie sich darauf beschränkt und nur dazu dient, in immer neuen Akten Vergebung 'der immer neuen Sünden zu gewinnen. Damit ist zwar der ganze Bußapparat der Kirche mit seinen 6 ) jikiEisiiat (Rom 8, 38) heißt „ich bin überzeugt" und liegt auf der Linie des dp(>aßd)v-Gedankens. •) Belege s. Loofs, S. 702. Außerdem Rom II, 91, 26: Non enim iusta operando iueti efficimur, sed iusti essendo iusta operamur. Ergo sola gratia iustificat. — Zur iustitia legis vgl. gleichzeitig die völlig andere Bedeutung im Gr. Gal-Kom. von 1531 (WA 40 I, 45; 175 f. u. ö.).

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condiciones ausgeschaltet und durch die sola fides ersetzt; an die Stelle der Gesetzes- und Werk-Ordnung ist die Gnaden- und Glaubens-Ordnung getreten. J a , es bedeutet f ü r Luther einen Rückfall in die erstere, wenn der Mensch timore poenae vel amore commodi handelt oder in seinen guten Werken sidi selbst gefällt (Rdgl. zu R o m 7, 6) 7 ). Allein, das Ganze steht — und 'darauf kommt es an — unter dem Leitgedanken der remissio peccatorum, soweit die peccata der Vergangenheit angehören. E s leuchtet also ein, daß Luther z. Z. der Rom-Vorlesung unter diesen Umständen noch keine absolute Heilsgewißheit hatte. Verbindet man nun die beiden Gedanken miteinander, nämlich a) den Gedanken, daß nullus reputatur iustus nisi qui legem opere (!) implet, und b) den Gedanken, daß die iustificatio in der remissio peccatorum per solam fidem erfolgt, dann kann der Sinn nur der sein, daß nullus legem implet nisi qui in Christum credit (s. o.)! D. h. nur der erfüllt das Gesetz, der allein durdi den Glauben an Christus die remissio peccatorum empfängt! M. a. W., Luther tritt schon in der Rom-Vorlesung für die Priorität der Vergebung vor dem guten Werk ein! In diesem Sinne ist R o m I, 20, 16 f.; II, 91, 26 zu verstehen. Was dabei allerdings auffällt, aber zu der damaligen inneren Situation Luthers durchaus paßt, ist, daß der Reformator z. Z. der Rom-Vorlesung noch keine einheitliche und eindeutige Terminologie hat: er gebraucht das Wort iustificatio das eine Mal für die durch die remissio peccatorum ermöglichte impletio legis und das andere Mal, gewissermaßen per Synekdochen 8 ), nur f ü r die remissio peccatorum als jenen grundlegenden, die impletio bedingenden Akt der Rechtfertigung. Aber das ist eine rein terminologische Angelegenheit, welche die sachliche Auffassung der Rechtfertigung dieser Zeit nicht berührt. Denn diese ist vor allem audi durch die Tatsache gesichert, daß Luther zu jener Zeit noch keine ffeifcgewißheit, sondern nur Vergeftimgsgewißheit kannte. Diese ist zwar f ü r den Reformator nach seiner entscheidenden Erkenntnis des Turm-Erlebnisses unbedingt verläßlich; aber nicht verläßlich ist die nach dem derzeitigen Verständnis der Rechtfertigung aus der Vergebungsgewißheit folgende renovatio. Wir werden bald erkennen, daß die ffei/sgewißheit jede Einbeziehung der renovatio oder der nova nativitas oder des novum esse 9 ) in die Rechtfertigung ausschließt, während es das Merkmal einer sich stets ) Sämtliche zuletzt angeführte Zitate bei Loofs, DG S. 700 ff. ) Die Synekdoche spielt für L. sprachlich eine ziemliche Rolle, z. B. EA 29, 266 f.; und WA 8, 62 f., 65 f. 9 ) Rdgl. zu Rom 12, 1, nach der die iustificatio das Fundament legt, super quo proponat cor stare ac confidere in aetermum, und die nova nativitas ist, quae dat novum esse. T 8

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erneuernden Vergebungsgewißheit ist, daß die Erneuerung des Glaubenden ein Bestandteil seiner Rechtfertigung vor Gott ist. Wäre das nicht der Fall, dann wäre Vergebungsgewißheit = Heilsgewißheit. Aber dazu fehlt ihr die Gewißheit der perseverantia sanctitatis. Deshalb wird hier die Formel simul peccator et iustus zum Ausdruck mangelnder Heilsgewißheit. Audi in der Vorlesung über den Hebräerbrief10) geht Luther darüber nicht hinaus (1517/18): solafides facit eos (seil, ad sacramentum eucharistiae accedentes) puros et dignos, quae non nititur operibus illis (seil, orationibus et praeparatoriis), sed in purissimo, piissimo, firmissimo verbo Christi dicentis: venite ad me omnes, qui laboratis et onerati estis, ego reficiam vos. In praesumptione igitur istorum (seil, verborum) accedendum est, et sie accedentes non confunduntur. 11 ) Auch hier erstreckt sich die sola fides also nur auf die Absolution, auf die remissio peccatorum, und auch hier ist die „Gewißheit" -— wenn man das Wort praesumptio einmal nicht wörtliche nimmt —, Vergebungsgewißheit, nicht ein für alle Mal und schlechthin ffei/sgewißheit.12) Im übrigen setzt die Hebräerbrief-Vorlesung überall die Erkenntnisse von 1513/15 (lex spiritualis) und 1515/16 (iustitia dei) voraus —jedoch ohne, wie wir noch sehen werden, die Erkenntnis von 1520 erreicht zu haben (vgl. z. B. Schol. 194, 16; 239, 6). In dem ersten Gal-Kommentar vom Jahre 1519 (2. Bearbeitung 1523, WA 2, 436—618; EA Gal. 3, 121—483) tauchen die Gedanken über die fides, die gratia und die iustificatio, einschließlich der sola fides, auf, welche Luther seit 1516 (Röm-Vorlesung und Hebr-Vorlesung) entwickelt hat. Was für diesen Zusammenhang das Wichtigste ist —: auch hier besteht die iustificatio in der remissio peccatorum, d. h. in der imputatio iustitiae (490). In diesem Sinne, d. h. im Sinne der Vergebungsgewißheit, sagt er: cave tu, ne aliquando sis incertus, sed certus . . . et solidus in fide Christi pro peccatis tuis traditi. Quomodo potest fieri, ut hanc fidem, si sit in te, non sentias? (458). Gleichzeitig wird die Grenze dieser Vergebungsgewißheit gegenüber der Heilsgewißheit deutlich, denn Luther kann sagen: vides, quam non sufficiat sola fides, et 10 ) Obgleich Luther, wie Melanchthon und Calvin, in die paulinische Herkunft des Hebr.-Briefes Zweifel setzte, legt er ihn offenbar doch so aus, als ob er paulinischen Ursprungs wäre. 11 ) Vgl. Loofs DG S. 711, Vogelsang, Hebr. Brief-Vorl. dtsch. S. 82 f. 12 ) Derselbe Gedanke in den Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtule (1518 — WA 1, 525 ff.): wer dem Priester crediderit cum fiducia, vere obtinuit pacem et remissionem apud deum, id est certus fit se esse absolutum, non rei sed fidei certitudine propter infallibilem misericorditer promittentis sermonem, quodeumque solveris etc. (thes. 7. WA 1, 542).

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tarnen sola iustificat, quia, si vera est, impetrat spiritum caritatis (591 = E A Gal 3, 429; vgl. 3, 440). Noch deutlicher (560): Christus . . . spiritum caritatis in corda eorum, qui credunt in eum, mittit, quo efficiuntur iusti.13) Es kann deshalb nidit wundernehmen, wenn Luther in der Auslegung zu Gal 2, 16 ff. erklärt: omnis, qui credit in Christum, iustus est, nondum plene in re, sed in spe. coeptus est enim iustificari et sanari (WA 2, 495). Bei aller Verwandtschaft dieser Gedanken mit den entsprechenden Ausführungen der Röm-Vorlesung hat es aber doch den Anschein, als ob sich im Gal-Kommentar etwas Neues zu regen beginnt. Und zwar macht sich das an zwei Stellen bemerkbar: 1. Luther bezieht hier die sola fides nicht mehr unmittelbar auf die remissio peccatorum und d. h. auf die Vergebungsgewißheit, und erst mittelbar auf den ganzen Rechtfertigungskomplex, und d. h. auf das Heil, sondern er bezieht sie unmittelbar auf das Ganze. Deshalb sagt er in Abweichung von der Röm-Vorlesung: vides, quam non sußiciat sola fides . . . ! Dort wie im Gal-Kom. steht also im Hintergrund immer noch der Gedanke, daß die Erfüllung des Gesetzes ein Bestandteil der Rechtfertigung vor Gott ist. Deshalb heißt es Rom: Semper . . . in iustiiicatione sumus, und im Gal: coeptus est enim iustificari. Und deshalb heißt es in beiden Auslegungen, daß das iustum esse nur in spe vorhanden sei, nicht re vera. Aber der Schwerpunkt der Betrachtung hat sich im Gal-Kom. von der remissio peccatorum gleichmäßig auf das Ganze der Rechtfertigung vor Gott verteilt. Das hatte 2. fast zwangsläufig zur Folge, daß die Vergebungsgewißheit anfängt, sich zur Heilsgewißheit auszuweiten. Nachdem Luther im Gal-Kom. erklärt hat: coeptus est enim iustificari et sanari, fährt er fort: intérim autem, dum iustificatur et sanatur, non imputatur ei, quod reliquum est in carne peccatum, propter Christum, und er begründet diese laufende non-imputatio peccatorum mit den Worten: qui (seil Christus), cum sine omni peccato sit, iam unum cum Christiano suo factus 14 ), interpellât pro eo ad patrem (495 = E A Gal 3, 229). Und an anderer l s ) Vgl. auch WA 2, 565, 567. — neque enim fieri potest, si Christum sincere audias, non etiam mox eum diligas, ut qui tanta pro te fecerit ac tulerit . . . sin autem non diligis, certum est, quod haec nec sincere audis nec pure credis pro te facta esse. WA 2, 492 : Non opéra implent legem, sed impletio legis facit opera. In diesem Sinne auch: Non iusta faciendo iustus fit, sed factus iustus facit iusta. 1 4 ) Sowohl der erste Gal-Kom. als auch besonders der zweite aus dem Jahre 1531 scheinen Stanges These wenigstens teilweise zu bestätigen, daß der Ansatz Luthers nicht paulinisch, sondern johanneisch sei. Vgl. dazu WA 40 I, 284 f. Aber man wird mit einer solchen These vorsichtig sein müssen. Zur Sache vgl. Franz Lau, Internationale Lutherforschung. Im Informationsblatt für die Gemeinden in den niederdeutschen luth. Landeskirchen. 1. Oktober-Heft 1956.

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Stelle: praecepta sunt necessaria tantum peccatoribus. at iusti quoque sunt peccatores propter carnem suam. quad tarnen non imputatur eis propter fidem interioris hominis15), qui deo conformis persequitur, odit, crucifigit peccatum in carne sua (497). 16 ) Deshalb kurz vorher: spiritus iusti iam per fidem sine peccato, nihil debens legi, corpus tarnen habet adhuc sibi dissimile et rebelle (497 = EA Gal 3,235). 17 ) Man sieht, neben den Gegensatz: in r e — i n spe tritt hier ein anderer Gegensatz: corpus — spiritus. Und dieser neue Gegensatz ist derart, daß er durch das „propter Christum" oder „propter fidem" interioris hominis ( = spiritus) schon kein Gegensatz mehr ist. Die absolute Heilsgewißheit tritt in Sicht.18) Das ist gegenüber der Rom-Vorlesung ein beachtlicher Fortschritt, wenn auch die ältere Vorstellung (in r e — i n spe) noch nicht abgestreift ist. 19 ) Es bleibt aber auch, abgesehen davon, immer noA die Verflechtung der Rechtfertigung mit der Gesetzeserfüllung. Und die Lösung, daß propter fidem interioris hominis die Sünde nicht angerechnet wird, vermag auf die Dauer nicht zu befriedigen, weil der Mensch damit wieder auf sich selbst und seine Selbstbeurteilung gewiesen ist und doch beständig merkt, daß er audi als Christ hinter dem erwarteten Haß und der Kreuzigung der Sünde in seinem Fleisch zurückbleibt. Wie leicht kann sich daraus wieder eine condicio entwickeln, die aufs Neue die Gefahr des meritum eröffnet! Überwunden kann diese Gefahr nur werden, wenn Rechtfertigung und Gesetzeserfüllung reinlich voneinander getrennt werden und das Heil ohne irgendeine sittliche Qualität des Menschen extra hominem, d. h. allein auf Gottes Gnade gegründet wird. Aber soweit war Luther noch nicht.20) M ) Von der Caritas interioris hominis spricht der Rom-Kom. Ebenso vom spiritus fidei (Rdgl. zu Rom 8. 30). l s ) WA 2, 497: si fidem spectes, lex impleta est, peccata destructa, nullaque lex superest, sed si carnem, in qua non est bonum, iam peccatores cogens fateri eos, qui iusti sunt in spiritu per fidem. 1 7 ) WA 2, 456: dum deo iustus est, carni et mundo peccator est. 1 8 ) Vgl. dazu WA 2, 513 - Cum autem divina promissio et praedestinatio fallax non possit esse, sine difficultate et consequentia infallibilierit, ut omnes sint fideles, qui promissi sunt, ut sie fides promissorum stet non necessitate operum et fidei illorum, sed firmitate divinae electionis. 1 9 ) Noch Oktober 1518, in einem Brief an Capito, hatte Luther eindeutig die Heilsgewißheit auf den gegenwärtigen Heilsstand beschränkt beschrieben, d. h. also auf die Vergebungsgewißheit: dixi neminem iustificari posse nisi per fidem, sie seil., ut necesse sit, eum certa fide credere sese iustificari et nullo modo dubitare, quod gratiam consequatur. si enim dubitat et incertus est, iam non iustificatur, sed evomit gratiam (WA 2, 13). Und im April desselben Jahres heißt es: vivimus in abscondito Dei (Col 3, 3), id est, in nuda fiducia misericordiae eius . . . Concl. IV Heidelb. Disputation b. Stange, a. a. O. S. 58. *•) Wenn wir zum Vergleich den Gr. Gal-Kom. aus dem Jahre 1531 hinzuziehen, dann finden wir dort das, was in dem Gal-Kom. von 1519 noch fehlt. Zu Gal 2 , 1 6 vgl.

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Nur wenige Monate später als der Gal-Kommentar lag der „Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams Christi . . . " unter der Presse (November 1519. WA 2, 738—758; dazu 9, 791—793. — B 3, 259 ff.). Ich werde später noch einmal auf diese Schrift zurückkommen. Sie ist die erste ausführliche Darstellung der Lehre Luthers vom hl. Abendmahl. Aber einige Hinweise mögen schon jetzt erfolgen. Zunächst ist es vielleicht nicht ganz ohne Bedeutung, daß Luther in diesem Sermon so gut wie gar nicht von der sola fides (B 3, 266), sondern nur von der fides redet. Audi ist nicht von Rechtfertigung die Rede, sondern das eigentliche Thema dieses Sermons ist die communio, die Gemeinschaft der Heiligen, da „Christus mit allen Heiligen ist ein geistlicher Körper" (B 3, 267). Aber die Heilsauffassung, welche dabei zum Ausdruck kommt, zeigt, gerade weil Luther nicht als Exeget des Paulus in die Erscheinung tritt und deshalb die Terminologie der Rechtfertigung fehlt, in welchem Verhältnis für ihn in dieser Zeit Glaube und Werke zueinander stehen. Zweierlei ist hervorzuheben: 1. Das Sakrament soll ein opus operantis werden, nicht ein opus operatum (B 3, 280).21) Zum opus operantis wird es durch den Glauben. „Darum sieh zu, daß das Sakrament dir sei ein Opus operantis, das ist ein brauchliches Werk, und Gotte gefalle nicht um seines (seil des Sakramentes) Wesen willen (seil das wäre opus operatum), sondern um deines Glaubens und guten Brauches willen" (280 f.). Der Glaube macht also offensichtlich die Feier des hl. Abendmahles zu einem gottgefälligen (nicht verdienstlichen) Werk, einem opus operantis! 2. Die Heilswirkung des Abendmahls, bestehend in der communio — Luther sagt „das Werk dieses Sakraments" (266) — bedeutet, daß dem Sünder „Christus, alle Heiligen mit allen ihren Werken, Leiden, Verdiensten, Gnaden und Gütern" „zugesagt, gegeben und zugeeignet wird" (276, 277, 267); und zwar dadurch, daß der Mensch „festiglich glaubt, es geschehe also" WA 40 I 218 = EA Gal 1,181 (b. Althaus, Gottes G o t t h e i t . . . S. 12). Ferner: WA 40 I, 45, EA Gal 1, 19; 2, 154, 185 u. a. Auch für den Gal-Kom. 1519 findet sich bei Iwand zusätzlich Material. Wie man angesichts dieser Unterschiedlichkeit Auszüge aus beiden Kommentaren zum Gal-Brief bzw. aus dem Kom. zum Gal. von 1531/35 und der Vorlesung z. Gal. von 1516/17, die in dem Gal-Kom. von 1519 mitverarbeitet ist, „zusammenarbeiten" kann, ist mir unverständlich; vgl. Dr. Martin Luthers Erklärung des Gal-Brief es. Stuttgart. 2. Aufl. 1925. Es wäre m. E. — im Gegenteil — ein lohnendes Thema, die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede beider Gal-Kommentare herauszuarbeiten. — Nach einem Brief Luthers an Staupitz vom 3.10.1519 (Enders II, 182) war er selber, Luther, von seinem ersten Gal-Kom. nicht recht befriedigt. Mag sein, daß dieses Gefühl mit dem noch nicht völlig gelösten, aber irgendwie geahnten Problem der Heilsgewißheit zusammenhing. 2 1 ) Mit dieser Unterscheidung greift Luther zwei scholastische Termini auf, wandelt aber den Begriff des opus operantis (oder operans) im reformatorischen Sinne um.

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(276 f.)-22) In der Sprache der Reditfertigung geredet, ist das also eine reputatio iustitiae alienae. Dieser Gedanke weist in die unmittelbare Nähe der Werkfrömmigkeit, zumal er sich nicht auf die reputatio iustitiae Christi beschränkt23), sondern auch „alle Heiligen mit allen ihren Werken etc." mitumfaßt. Das geschieht zwar ohne Verdienst des Glaubenden, aber doch im Sinne einer Gesetzeserfüllung durch die Werke anderer und auf diesem Umwege im Dienst der eigenen Heiligung. Das letzte Zeugnis aus der Zeit bis 1520 soll der „Sermon von den guten Werken" sein (Mai 1520. WA 6,196—276; 9, 226—301 [Hdschr.]; B 1, 3 ff.). Besonders aufschlußreich ist folgender Satz: „Das ist die Meinung S. Pauli an vielen Orten, wo er dem Glauben so viel gibt, daß er sagt: ,der gerechte Mensch hat sein Leben aus seinem Glauben, und der Glaube ist das, darum er als gerecht vor Gott geachtet wird. Stehet denn die Gerechtigkeit im Glauben, so ist es klar, daß er alle Gebote erfüllt und alle ihre Werke rechtfertig macht, weil ja niemand gerechtfertigt ist, er tue denn alle Gebote Gottes'" (B 1, 14. Unterstreichung von mir). Von dieser Grundlage aus sind alle weiteren Ausführungen zu verstehen. Die Auffassung von der Reditfertigung, die darin zum Ausdruck kommt, entspricht durchaus derjenigen der Rom-Vorlesung (Ficker I, 20, 17; s. o. S. 39) und ebenso derjenigen des Gal-Kommentars von 1519; (s. o. S. 42 ff.).24) Und man muß hinzufügen, daß diese PaulusInterpretation Luthers durchaus zutreffend ist. Sie bleibt es auch, wenn der Reformator fortfährt: „Wiederum können die Werke niemand vor Gott rechtfertigen ohne den Glauben. So sehr verwirft mit offenem vollem Munde der heilige Apostel die Werke und preist den Glauben, daß etliche, durch seine Worte geärgert, sprechen: Ei, so wollen wir kein gutes Werk mehr tun. Solche verdammt er aber als Irrige und UnverVgl. hierzu auch den Sermon von der Bereitung zum Sterben (1519. W A 2, 680—• 697) und die Schrift Tessaradekas consolatoria (WA 6, 99—134). Und dann 1522 das Gegenteil davon in der Schrift über die „Mönchsgelübde" (B E I S. 251 — E I = Ergänz. Band I). Bei der reputatio iustitiae Christi ist entscheidend zu berücksichtigen, daß f ü r Luther Jesus als die 2. Person der divinitas Gottes gilt, so daß sein Werk f ü r uns Gottes Werk ist. Vgl. Tessaradekas (Febr. 1520. W A 6, 133 f.). Siehe auch Anm. 24. M ) Es ist richtig, wenn Loofs darauf hinweist, daß Luther damit rechne, daß der Glaube (der Verzeihung f ü r Nicht-Getanes einschließe) alle Gebote erfülle (DG S. 736, Anm. 13). Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß L. von „Rechtfertigung" redet, die ohne die Erfüllung der Gebote nicht möglich ist! Es ist eben doch so, daß L. zur Zeit des Sermons noch etwas von satisfactio weiß (B 3, 276/77; 6, 133 f.). In einer Klosterpredigt (1514—1517) heißt es: scite, quod pater . . . nobis reputet iustitiam filii sui, i. e. suam ipsius (WA 1, 140). 1519 in dem Sermon vom Abendmahl wird der Gedanke sogar auf die Verdienste der Heiligen ausgedehnt.

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ständige." Verfolgen wir diesen Gedanken weiter, dann ist zunächst darauf hinzuweisen, daß Luther sagen kann: „Wenn wir es recht ansehen, so ist die Liebe das erste oder geradezu gleich mit dem Glauben" (13). In aller Harmlosigkeit nennt er den Glauben „das erste und höchste, allerbeste W e r k " oder „ d a s H a u p t w e r k " (B 1, 6, 8 , 1 3 u. ö.). E s ist das Werk des ersten Gebotes. Daneben steht das Werk des zweiten Gebotes (1, 22 £f.). D a s bedeutet, daß er auch das Beten, Loben und Danken, als den rechten Gebrauch des Namens Gottes, als „ W e r k " bezeichnet. Dasselbe gilt vom dritten Gebot (1, 38 ff.) und von der zweiten Tafel des Gesetzes (64ff.). Luther stellt hiernach also den Glauben als Werk dar — nicht wie die Gegner als habitus (8). Aber er stellt ihn als Werk über alle anderen Werke, so daß dies Werk des Glaubens „allein alle anderen Werke gut, angenehm und würdig" macht, während die Gegner ihn „neben andern Tugenden gesetzt h a b e n " (8). Das ist zweifellos der Rest seiner bisherigen Werk-Frömmigkeit. 2 5 ) Sicher ist, daß er sich damit in der Bahn der paulinischen Rechtfertigung bewegt, nadi welcher der Glaube „alle Gebote erfüllt und alle ihre Werke rechtfertig macht, weil ja niemand gerechtfertigt ist, er tue denn alle Gebote G o t t e s " (14). Luther führt in dem Sermon den Nachweis, daß ein Werk nur dann gut ist, wenn es aus dem höchsten und edelsten Werke, dem Glauben, kommt (13). Alle anderen Werke sind ohne dieses Hauptwerk nichts „denn lauter Gleißen, Scheinen, F ä r b e n " , ja, sie sind, „als ob die anderen Gebote ohne das Erste wären und kein Gott wäre" (von mir gesperrt, 13). Wer da meint, ohne Glauben, d. h. ohne Zuversicht und Vertrauen auf Gott, die Gebote erfüllen zu können, der ist ein falscher P r o f e t (Matth. 7), der sich Gott durch viele gute Werke „gefällig machen" und ihm „seine Huld a b k a u f e n " will, „gleich als wäre er ein Trödler oder Tagelöhner, der seine Gnade und Huld nicht umsonst geben wollte" (14). Die falschen P r o f e t e n sind also diejenigen, welche die Gebote äußerlich erfüllen, statt aus Liebe zu Gott. Soldie Werke „mag ein Heide, J u d e , Türke, Sünder auch t u n " (8). Gute Werke tut man dagegen, wenn man getrieben wird von Glauben und L i e b e zu Gott (27). Und von dem „Gesinde und den Arbeitsleuten" sagt er, sie 2 5 ) Nur von den Zeremonien gilt: Die „Schwachgläubigen" soll man „sanft und mit säuberlicher Muße wieder heraus in den Glauben führen, wie man mit einem Kranken umgeht, und zulassen, daß sie etlichen Werken eine Weile lang um ihres Gewissens willen noch anhangen und treiben als nötig zur Seligkeit, solange sie den Glauben noch nicht recht fassen, auf daß nicht, so wir sie geschwind herausreißen wollen, ihre schwachen Gewissen ganz zerschellt und verwirkt werden und weder Glauben noch Werke behalten. Aber die Hartköpfigen, die, in den Werken verstockt, nicht achten, was man vom Glauben sagt, auch dawider fechten, soll man fahren lassen, damit ein Blinder den andern führe, wie Christus tat und lehrte" (B 1, 20).

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sollen alles „in einem einfältigen Glauben" tun, „nicht daß sie durch die Werke groß verdienen wollten, sondern daß sie das alles in göttlicher Huld und Zuversicht (darin alle Verdienste stehen) lauter und umsonst tun aus Liebe und Gunst zu Gott" (80). Diese Liebe zu Gott ist aber „gleich mit dem Glauben". „Denn — sagt Luther — ich möchte Gott nicht trauen, wenn ich nicht dächte, er wolle mir günstig und hold sein, wodurch ich ihm wieder hold werde und bewegt, ihm herzlich zu trauen und alles Gutes mich zu ihm zu versehen" (13). So hängen alle Gebote in dem ersten Gebot, d. h. im Glauben zusammen. „Also liegen alle Werke im Glauben — darum sind außer dem Glauben alle Werke tot, sie gleißen und heißen so gut sie können" (95. Vgl. 13) .26) Fassen wir diesen Überblick über die Zeit von den Anfängen des reformatorischen Aufbruchs bis 1520 in wenigen Sätzen zusammen: 1. Die grundsätzliche Auffassung von der Rechtfertigung aus dem Glauben ist überall die, daß die guten Werke ein Bestandteil der Rechtfertigung sind, nicht als persönliche Verdienste, aber als Glaubensgerechtigkeit. 2. Soweit von der sola fides geredet wird, ist diese auf die Verge&imgsgewißheit beschränkt und betrifft nicht die //eiisgewißheit schlechthin. 3. Die kommende Weiterentwicklung deutet sich bereits an. Und zwar geht sie von der Frage der Heilsgewißheit aus. Hier liegt die besondere Bedeutung des Gal-Kommentars von 1519. 2. 1520 — das Jahr des Fortschritts In seiner Dogmengeschichte vertritt Friedrich Loofs die Ansicht, daß Luthers Auffassung des Christentums seit Sommer 152027), an seiner späteren Überzeugung gemessen, im wesentlichen fertig war und daß auch die drei großen reformatorischen Hauptschriften vom August, 26 ) B 1, 63: „Darum siehe, ein wie hübscher güldener Ring sich aus diesen dreien Geboten und ihren Werken selber macht, und wie aus dem ersten Gebot und Glauben das zweite bis ins dritte fließt; das dritte wiederum durch das zweite bis ins erste treibt. Denn das erste Werk ist glauben, ein gutes Herz und Zuversicht zu Gott haben. Daraus fließt das zweite gute Werk, Gottes Namen preisen, seine Gnade bekennen, ihm alle Ehre allein geben. Darnach folgt das dritte: Gottesdienst üben mit beten, Fredigt hören, dichten und trachten nach Gottes Wohltat, dazu sich kasteien und sein Fleisch zwingen." 27 ) Das wäre also seit Erscheinen des Sermons von den guten Werken (Anfang Juni 1520) und der Schrift „Von dem Papsttum zu Rom . . . " (WA 6, 285ff.; Ende Juni 1520).

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Oktober und November des Jahres „keinen wesentlichen Fortschritt" in Luthers Erkenntnis bedeuteten (S. 733 f.). Wir werden sehen, daß sich diese Auffassung von der Entwicklung der reformatorischen Erkenntnis Luthers nicht im vollen Umfang aufrechterhalten läßt, daß vielmehr an der entscheidenden Stelle, die Rechtfertigung betreffend, gerade der Oktober und November des Jahres 1520 eine wesentliche Klärung gebracht hat. Loofs ist in seinem Urteil offensichtlich davon abhängig, daß er zum Verständnis Luthers zwischen der „Selbstbeurteilung" des Reformators bzw. des Christen überhaupt und der „objektiven Lehre" unterscheidet (S. 763 u. ö.). Die iustificatio ex sola fide sei der Grund für die Zuversicht der Geltung des Christen vor Gott; sie kommt, wie Loofs sagt, „nur als Regulator der Selbstbeurteilung des Christen in Betracht", und zwar im Gegensatz zu der katholischen Lehre' de iustificatione, nach welcher diese sich erstmalig in der Taufe und dann, sich wiederholend, in der Buße als Akt Gottes verwirklicht, aber damit gleichzeitig die Frage beantwortet, „wie der Sünder fähig werde zu guten Werken" (763). Loofs meint nun, daß auch für Luther diese zweite Frage von Anfang an bis an sein Lebensende eine große Rolle gespielt habe. E r erwähnt für die spätere Zeit (1535) die Disputation von Heinr. Weller und N. Medier (WA 39 I, 4 0 — 6 2 ; E A var. 4, 382; Drews S. 4—32), wo es thes. 65 heißt: iustificatio est revera regeneratio quaedam in novitatem, und wendet sich damit gleichzeitig gegen A. Ritsehl (1. Aufl. Rechtf. u. Versöhnung, Bd. I S. 178). Was Loofs hier ausführt, ist zweifellos nicht falsch, und viele Theologen folgen ihm darin heute noch; auch hat die vorliegende Untersuchung den Sachverhalt in ihrer Art bestätigt. Aber das Problem ist ein anderes. Die vorliegende Untersuchung hat uns nämlich auch und ganz besonders vor die Frage gestellt, ob das Verhältnis zwischen iustificatio und regeneratio von Luther ebenfalls seit dem Durchbruch seiner neuen Erkenntnis zu allen Zeiten in derselben Weise aufgefaßt worden ist oder ob etwa doch die drei großen reformatorischen Hauptschriften in dieser Beziehung einen Fortschritt gebracht haben. Diese letzte Frage muß bejaht werden! Schon die sehr verklauselierte Ausdruc&sweise in der erwähnten Disputation von 1535 muß beachtet werden: die iustificatio ist in der Sache (revera), d. h. in Wirklichkeit, eine Art (quaedam) Wiedergeburt in novitatem. Vor allem aber hält 'dieselbe Disputation eindeutig ander iustificatio sola fide fest (thes. 25.66/67). Vergleicht man damit etwa die Schrift De libertate christiana, so kann man diesen Gedanken sogar im Einklang mit ihr gelten lassen. „Durch den Glauben fährt er (der Christ) über sich in Gott, aus Gott fährt er wieder unter sich durch die Liebe und bleibt

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Studien der Lutherakademie 7/Pohlmann

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doch immer in Gott und göttlicher L i e b e " (B 1, 316). Aber man muß dabei von dem Verhältnis der iustificatio zur regeneratio absehen! Schaltet man diese F r a g e ein, dann reicht jedoch die Unterscheidung von christlicher Selbstbeurteilung und objektiver Lehre für Luther keineswegs aus. Denn audi die Selbstbeurteilung ist f ü r ihn „ L e h r e " , wenn auch nicht „objektiv", d. h. magisch-sakramental verstanden, sondern „subjektiv", d. h. als „Beruhigung des Gewissens", als Heils- oder Glaubensgeuuß/ieit. Indes das Objektive, welches Luther in dieser Heilsgewißheit suchte — genau so wie die katholische Kirche ein Objektives hatte — , lag f ü r ihn nicht wie für R o m in einer Kirchenlehre, sondern war, wie wir von Anfang an haben beobachten können, Gott selbst, der lebendige, wirkliche Gott, der sich auch in der Heilsgewißheit, in der Selbstbeurteilung des Christen, in seiner Rechtfertigung vor ihm kundtat. Luther war kein religiöser Individualist, der sich mit einer bloß subjektiven Gewissensberuhigung zufrieden geben konnte; er war auch kein Transzendentalist (Seeberg), nein, er verstand unter Heilsgewißheit stets die persönliche Gewißheit einer objektiven, d. h. transsubjektiven Wirklichkeit! Deshalb immer wieder jene innere Dynamik von dem in nobis zu dem extra nos, von der Heilsgewißheit zur Gotterkenntnis und jene Polarität zwischen der sola gratia und der sola fides. Inwiefern die sola fides ein Ausdruck für das extra nos wird, das sollen die folgenden Ausführungen deutlich machen. Der erste Schritt aus der römischen Frömmigkeit heraus war für Luther die Erkenntnis von der entscheidenden Bedeutung des Glaubens für die Frömmigkeit und Rechtfertigung des Menschen vor Gott. Dieser Schritt bedeutete die Überwindung des meritorischen Gedankens innerhalb der christlichen Frömmigkeit und in diesem Sinne die sola gratia. Diese reformatorische Erkenntnis war ihm an R o m 1, 17 aufgegangen und verband ihn für alle Zeiten mit Paulus. J a , Luther ging zunächst eine große Strecke mit ihm und erkannte, daß alle Werke ohne den Glauben tot seien. „Also liegen alle Werke im Glauben" (Sermon v. d. g. Werken, B 1, 95). Auf diese Weise wurden Glaube und Werke aneinander gebunden, aber derart, daß Gottes Werk und Gnade beide umfaßte und die Rechtfertigung a) durch den Glauben als Gottes Werk begonnen und b) durch die Heiligung als Gottes Werk vollendet wurde. Zeugnisse f ü r diesen ersten Schritt sind vor allem die Rom-Vorlesung, der Gal-Kommentar von 1519 und der Sermon von den guten Werken. Aber schon der Gal-Kommentar drängte darüber hinaus (s. o. S. 42 ff.), wenngleich seine Gesamtausführungen als in sich widerspruchsvoll 50

wirken und — vielleicht gerade deshalb, Luther selber nicht befriedigten. Aber es findet sich im Cal-Kommentar immerhin ein wichtiger Ansatz für die weitere Entfaltung der reformatorischen Gedanken Luthers. Dieser Ansatz liegt in der Aufteilung des Christenmenschen in spiritus und corpus, ein Gedanke, der dann in der Schrift Tessaradekas consolatoria aus dem Februar des Jahres 1520 weitergesponnen wird 28 ) und in De libertate christiana (Nov. 1520) zur vollen Entfaltung kommt. Erst in dieser letzten Schrift aber vollzieht sidi der zweite Schritt: indem er den Zusammenhang von Glauben und Werken zwar als notwendig und unveräußerlich beibehält (B 1, 309), trennt er jedoch beide grundsätzlich voneinander in Hinsicht auf die Rechtfertigung. Das bedeutete, daß sich der Schwerpunkt von den Werken auf die Person, d. h. auf den Menschen verlagerte. Damit vollzog sich gleichzeitig die Loslösung der Rechtfertigung aus der Gesetzesreligion. 1. In der Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen" geht Luther, nachdem er die beiden Sätze von der Freiheit und Dienstbarkeit (1. Kor 9; Rom 13) als Leitwort vorangesetzt hat, dazu über, zu erklären, „daß ein jeglicher Christenmensch zweierlei Natur ist, geistlicher und leiblicher". Der geistlichen Natur entspricht die Freiheit, der fleischlichen die Dienstbarkeit (B 1, 295, 306; latein. EA var. 4, 206—255). Zu solcher Freiheit kommt es allein durch den Glauben ohne alle Werke, so daß der Mensch, um fromm und selig zu sein, nichts weiter bedarf als des Glaubens. Wenn der Christ trotzdem ein dienstbarer Knecht und jedermann Untertan ist und wenn er auch als freier Christenmensch gute Werke tun muß, dann liegt das daran, daß er nicht nur ein geistlicher und innerlicher Mensch ist, sondern zugleich auch ein äußerlicher und leiblicher. Wenn es in der Rom-Vorl. heißt, es sei töricht, anzunehmen, idem esse sub lege non esse et omnia licere (Rdgl. zu R 6, 15), so ist der effektive Sinn dieses Wortes derselbe wie die Gedanken der Freiheit eines Christenmenschen; typologisch jedodhi sind beide Ausführun28 WA 6, 99—134 (B 6, 3—60): Nach Buchw.-Kawerau, Luther-Kalendarium, schon im Dezember 1519 im Druck. Diese kleine Schrift ist in mehrfacher Hinsicht sehr lehrreich, nicht zuletzt wegen des reformatorischen Gottesgedankens. Trotzdem steht Luther hier noch durchaus mitten in der paulinischen Rechtfertigungsauffassung. Aber sie zeigt gleichzeitig, daß Luther schon das Problem der Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen" mit sich herumgetragen hat. „Wie es unmöglich ist, daß Christus in seiner Gerechtigkeit Gott nicht gefallen sollte, ebenso unmöglich ist es, daß wir in unserem Glauben, durch den wir an seiner Gerechtigkeit haften, nicht gefallen sollten. Daher kommt es, daß ein Christenmensch ein allmächtiger Herr aller Dinge ist, der alle Dinge besitzt, gänzlich ohne alle Sünde . . . " B 6, 59. Vgl. dazu Gal-Kom. 1519.

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gen völlig verschieden.28) Das kann am deutlichsten werden, wenn wir den Grundgedanken des „Sermons von den guten Werken" mit dem Grundgedanken der Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen" miteinander vergleichen. Ich wähle gerade den Sermon, weil diese Schrift typologisch der Röm-Vorlesung gleicht und zeitlich der Schrift „Von der Freiheit..." am nächsten steht. Bei einem solchen Vergleich muß allerdings beachtet werden, daß im Stadium einer Weiter-Entwicklung die Terminologie oft noch die gleidie ist wie im Vorstadium, so daß die gleichen Worte nicht mehr denselben Sinn bezeichnen. So redet z. B. Luther in der Fr. e. Chr. auch von dem Glauben als „Werk" (B 1, 297 f.), nennt ihn aber auch den „Werkmeister" (1, 302; vgl. 1, 95). Und er spricht gleichfalls davon, daß in dem Glauben alle Gebote „erfüllt" sind (298, 299, 302). Auch wird der Glaube noch „das erste Hauptgebot" genannt (302).30) Trotzdem muß gesagt werden, daß der Grundgedanke zur Rechtfertigung in der späteren Schrift ein anderer ist wie in dem Sermon. Luther läßt keinen Zweifel darüber, daß die Rechtfertigung nicht darin besteht, daß durch den Glauben sämtliche Gottesgebote erfüllt werden, sondern daß diese Erfüllung mit der Rechtfertigung nichts zu tun hat. Die Rechtfertigung ist abgeschlossen ohne diese Erfüllung, d. h. ohne alle Werke, allein durch den Glauben! So kann Luther sagen: „Das sei nun genug gesagt von dem innerlichen Menschen, von seiner Freiheit und der Hauptgerechtigkeit, welche keines Gesetzes noch gutes Werkes bedarf, ja ihr schädlich ist, so Jemand dadurch wollte gerechtfertigt zu werden sich vermessen" (306). Und wenige Seiten später: „So denn die Werke niemand fromm machen, und der Mensch zuvor fromm (= gerechtfertigt) sein muß, ehe er wirke, so ist es offenbar, daß allein der Glaube aus lauter Gnade durch Christum und sein Wort die Person genugsam fromm und selig macht und daß kein Werk, kein Gebot einem Christen not sei zur Seligkeit, sondern er frei ist von allen Geboten und aus lauterer Freiheit umsonst tut alles, was er tut, in nichts damit seinen Nutzen oder Seligkeit zu suchen — denn er ist schon satt und selig durch seinen Glauben und Gottes Gnade — sondern nur, um Gott darin zu gefallen" (309). Um den typologischen Unterschied in aller Klarheit hervortreten zu lassen, stelle ich noch einmal die Leitworte aus dem Sermon daneben: „Stehet denn die Gerechtigkeit im Glauben, so ist es 2 9 ) Dasselbe gilt für ein Wort wie das folgende: Non enim iusta operando iusti efficimur, sed iusti essendo iusta operamur. Ergo sola gratia iustificat (Rom II, 91, 26). Hier ist die iustificatio = remissio peccatorum. Vgl. De captivitate . . . : „Der Glaube aber ist kein Werk, sondern der Lehrmeister und das Leben der Werke." B 2, 417.

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klar, daß er alle Gebote erfüllt und alle ihre Werke rechtfertig macht, weil ja niemand gerechtfertigt ist, er tue denn alle Gebote Gottes" (B 1, 14). Der Fortschritt der späteren Schrift gegenüber dem Sermon ist unübersehbar: im Sermon führt der Glaube über die Erfüllung der Gebote zur Rechtfertigung und Seligkeit; —- in der christlichen Freiheit dagegen rechfertigt er ohne diese Erfüllung! 3 1 ) Sind somit in der Schrift „Von der Freiheit . . . " die Werke von der Rechtfertigung, die regeneratio von der iustificatio reinlich getrennt und ist damit das Heil allein auf den Glauben gestellt, so fragt sich nimmehr weiter, welchen typologischen Sinn es hat, wenn es in derselben Schrift trotzdem heißt, daß mit dem Glauben alle Gebote erfüllt werden. Dieser Gedanke gehört nämlich ebenfalls zur christlichen Freiheit und findet sich, wie schon erwähnt, des öfteren (1, 297, 298, 301, 302 u. ö.). Auch in der Beantwortung dieser Frage enthüllt sich jedoch, wie nicht anders zu erwarten, ein deutlicher Unterschied zwischen der Fr. e. Chr. und dem Sermon. Es ist damit nicht einfach der Gedanke aufgenommen, daß ein Werk erst dadurch gut wird, daß es im Glauben geschieht. Gemeint ist vielmehr mit der Frage, ob die Erfüllung bzw. Nichterfüllung der Gebote das Heil bzw. das Unheil des Menschen begründet oder nicht! Unter diesem Aspekt kann man den typologischen Unterschied, wie folgt, formulieren: Für den Sermon erfolgt die Erfüllung äußerlich-materiell durch den Glauben, so daß der letztere rechtfertigt, weil er tatsächlich gute Werke hervorbringt; für die christliche Freiheit dagegen erfolgt die Erfüllung innerlich-spirituell in oder mit dem Glauben, so daß der letztere rechtfertigt, indem und weil er materiell von allen Werken frei macht! 32 ) Das meint Luther mit dem geistlichen 3 1 ) B 1, 298: „Hier ist fleißig zu merken und ja mit Ernst zu behalten, daß allein der Glaube ohne alle Werke fromm und selig macht —. Und es ist zu wissen, daß die ganze heilige Schrift in zweierlei Worte geteilt wird, welche sind: Geibote oder Gesetze Gottes und Verheißungen oder Zusagungen." B l , 300: „Das ist die christliche Freiheit, der einzige Glaube, der da macht, nicht, daß wir müßig gehen oder übel tun mögen, sondern daß wir keines Werkes zur Frömmigkeit bedürfen und um Seligkeit zu erlangen . . . " . B 1, 308: „Also wird ein Christ, der, durch den Glauben gerecht, gute Werke tut, durch dieselben nicht besser oder mehr geweiht (welches nichts denn des Glaubens Mehrung tut) zu einem Christen . . . " . 8 2 ) Luther unterscheidet in den „Mönchsgelübden" zwischen „dem Wesen nach" und „dem Gewissen nach". B E I , 268: „Du selbst siehe nun zu, wie die Werke der zehn Gebote zu unterlassen und zu tun sind, welches Keuschheit, Gehorsam, Sanftmut, Freigebigkeit u. dgl. sind. Sie sind nicht zu unterlassen, sondern, daß ichs so sage, ihrem Wesen nach zu tun, aber nicht dem Gewissen nach, d. i. nicht als solche, die da verteidigen und rechtfertigen. Denn das hieße das Gewissen verderben und von Christus, seinem Bräutigam abziehen, mit dem es ein Fleisch ist, an allen seinen Gütern teilnehmend. Sondern frei und umsonst sind sie zu tun, zum Nutzen und

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und innerlichen Menschen, um den allein es sich bei der Rechtfertigung handelt (295, 306). Um des Glaubens willen sollen „alle deine Sünden vergeben, all dein Verderben überwunden sein, du gerecht, wahrhaftig, befriedigt, fromm, und alle Gebote erfüllt sein, und du von allen Dingen frei sein . . ( 2 9 7 ) . „Der Glaube, darin kurz aller Gebote Erfüllung steht, wird überflüssig rechtfertigen alle, die ihn haben, so daß sie nichts mehr bedürfen, daß sie gerecht und fromm seien" (298). „Ich habe kurz in den Glauben gestellt alle Dinge, daß wer ihn hat, alle Dinge haben und selig sein soll, wer ihn nicht hat, soll nichts haben. Also geben die Zusagen Gottes, was die Gebote erfordern, und vollbringen, was die Gebote heißen, auf daß es alles Gottes eigen sei, Gebot und Erfüllung" (299). „Also sehen wir, daß an dem Glauben ein Christenmensch genug hat. Er bedarf keines Werkes, daß er fromm sei. Bedarf er keines Werkes mehr, so ist er gewißlich entbunden von allen Geboten und Gesetzen. Ist er entbunden, so ist er gewißlich frei. Das ist die christliche Freiheit, der einzige Glaube, der da macht, nicht daß wir müßig gehen oder übel tun mögen, sondern daß wir keines Werkes zur Frömmigkeit bedürfen und um Seligkeit zu erlangen,..." (300). „Hier siehst du aber, aus welchem Grunde dem Glauben billig so viel zugeschrieben wird, daß er alle Gebote erfüllt und ohne alle anderen Werke fromm macht. Denn Du siehst hier, daß er das erste Gebot erfüllt allein, da geboten wird: Du sollst Deinen Gott ehren. Wenn du nun eitel gute Werke wärest bis auf die Fersen, so wärest du dennoch nicht fromm und gäbest Gott noch keine Ehre, und also erfülltest du das allererste Gebot nicht" (301 f.). Das bedeutet hier nicht etwa wie in dem Sermon, daß erst der Glaube die Werke „gut" macht, vielmehr heißt es abschließend: „Darum ist er (der Glaube) allein die Gerechtigkeit des Menschen und aller Gebote Erfüllung" (302). M. a. W., kein gutes Werk vermag Gott zu ehren und damit das erste Gebot zu erfüllen! Wir können hinzufügen: wenn aber kein gutes, dann erst recht kein böses Werk, und d. h. überhaupt kein Werk. „Darum ist es eine gefährliche, finstere Rede, wenn man lehrt, die Gebote Gottes mit Werken zu erfüllen, so die Erfüllung vor allen Werken durch den Glauben geschehen sein muß, und die Werke nach der Erfüllung folgen..." (302, Unterstreichungen von mir). Und von dem Christenmenschen wird gesagt: „Zu diesen Ehren (nämlich Vorteil des Nächsten, gleichwie die Werke Christi für uns frei und umsonst getan sind. Alsdann aber sind sie nicht mehr Gesetzeswerke, sondern Christi, der in uns durch den Glauben wirksam ist und in allem lebt; deswegen können sie ebensowenig wie der Glaube selbst unterlassen werden und sind nicht weniger notwendig als der Glaube." Vgl. auch B E I S. 284: „unter dem Gesetz ohne Gesetz". Rom II, 42, 32 ist typologisch anders aufzufassen. 54

König und Priester zu sein) kommt er nur allein durch den Glauben und durch kein Werk" (304). So schließt Luther den ersten Teil der Schrift ab mit den schon einmal zitierten Worten: „Das sei nun genug gesagt von dem innerlichen Menschen, von seiner Freiheit und der Hauptgerechtigkeit, welche keines Gesetzes noch guten Werkes bedarf, ja ihr schädlich ist, so jemand dadurch wollte gerechtfertigt zu werden sich vermessen" (306).'3) Der II. Teil der Schrift zeigt dann, in welcher Weise sich bei dem also Gerechtfertigten das Werk mit dem Glauben verbindet. Fragen wir, was nach dieser Darstellung ein gutes Werk ist, so heißt die Antwort: ein Werk, mit dem der Mensch sich nicht vermißt gerechtfertigt zu werden, das also weder das Heil begründen soll noch tatsächlich begründet, m. a. W., ein Werk, dem jede meritorische Absicht und Wirkung fehlt. 34 ) Ich habe absichtlich diese Stellen aus den Ausführungen Luthers in dieser Fülle aneinandergereiht, um von dem Grundgedanken der christlichen Freiheit einen geschlossenen Eindruck zu vermitteln. Nur wer der Meinung ist, daß Luthers Auffassung von Rechtfertigung mit derjenigen des Paulus identisch ist, kann über den Unterschied zu den Darlegungen 83 ) Ein besonders markantes Beispiel dafür, daß die Terminologie des Sermons auch noch in der Schrift von der christlichen Freiheit nachwirkt, findet sich auf Seite 299 der letzteren. Dort geht Luther — zweifellos in Erinnerung an seine Klosterkämpfe — davon aus, daß der Mensch „aus den Geboten sein Unvermögen gelernt und empfunden hat, daß ihm nun angst wird, wie er dem Gebote Genüge tue"; und er fügt hinzu: „sintemal das Gebot muß erfüllt sein oder er muß verdammt sein . . . " (Vgl. Sermon, B 1, 14). Damit beschreibt er typologisch die Gesetzesreligion, die durch den Grundgedanken dieser Schrift, „daß allein der Glaube ohne alle Werke fromm, frei und selig mache" (298), überwunden wird. Der beabsichtigte Sinn dieser Ausführungen ist also, zu zeigen, wie die Gesetzesfrömmigkeit durch die Glaubensfrömmigkeit abgelöst wird. Wenn er den christlichen Standpunkt mit den Worten beschreibt: „glaubst du, so hast d u ; glaubst du nicht, so hast du nicht", so kann man den Gegensatz dazu, d. h. den Standpunkt der Gesetzesreligion, in die Worte fassen: „erfüllst du, so hast d u ; erfüllst du nicht, so hast du nicht!" Trotzdem schafft Luther nicht eine neue Terminologie — wiewohl er deutlich mit dem Ausdruck ringt •—, sondern redet nach wie vor von der Erfüllung der Gebote, und zwar durch den Glauben! Das erweckt den Anschein, als ob auch jetzt noch der Glaube das „Hauptwerk" im Sinne des Sermons sein soll, während gerade die vorangehenden und folgenden Ausführungen (298, 300) die völlige Freiheit von allen Geboten zum Ausdruck bringen. „Kein gutes Werk hanget an dem göttlichen Worte wie der Glaube, kann auch nicht in der Seele sein, sondern allein das Wort und der Glaube regieren in der Seele." Hier bricht wieder die Zweiteilung des Menschen in Seele und Leib (295) durch, die f ü r die Gesamtauffassung der christlichen Freiheit grundlegend ist. Ihr entspricht die doppelte Theologie, dargestellt in Gesetz und Zusage ( = Wort). „Wie das Wort, so wird auch die Seele von ihm, gleich als das Eisen glutrot wird wie das Feuer aus der Vereinigung mit dem Feuer" (299 f.). — Ein weiteres Beispiel f ü r die Zähigkeit der Terminologie bietet das Magnifikat aus dem Jahre 1521. M

) Vgl. oben Seite 46 f.

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im Sermon hinweglesen. Hat man aber einmal ernsthaft diese Identität als Problem erkannt, dann wird der Unterschied eklatant. Denn man kann auch mit dem allerbesten Willen nicht sagen, daß diese Gedanken über die christliche Freiheit bzw. über die Rechtfertigung noch dieselben sind wie in dem Sermon. Fassen wir zusammen, so ist zunächst festzustellen, daß Luther auch in dem Sermon sehr deutlich dem Gedanken Ausdruck gibt, daß ohne Glauben kein Heil möglich ist. Aber der Sinn dieses Gedankens ist hier wesentlich anders wie in der zweiten Schrift. Zwar wird auch hier wie dort auf das erste Gebot Bezug genommen (B 1, 12, 23, 70 — vgl. 1, 307 f.), und der Inhalt dieses Gebotes in der Forderung des Vertrauens und der Zuversicht gesehen, also des Glaubens, wodurch Gott allein als Gott „geehrt" werden kann. Luther sieht also in beiden Schriften in dem Glauben die Erfüllung nicht nur des ersten Gebotes, sondern, da dieses die Grundlage aller anderen Gebote ist, auch die Erfüllung aller Gebote. Aber nun kommt es auf den typologischen Unterschied an, d. h. darauf, in welcher Weise diese Erfüllung gedacht ist. Und da heißt es in der „Freiheit eines Christenmenschen", daß der Glaube an die Stelle aller anderen Werke tritt und darum den Menschen von allen anderen Werken entbindet, während die Meinung im Sermon die ist, daß der Glaube erst die Erfüllung der Gebote Gottes ermöglicht und bewirkt, daß dadurch die Werke „gut" werden. Fragen wir also, was hier als ein gutes Werk angesehen wird, so heißt die Antwort: ein Werk, das aus dem Glauben geschieht! Jene ist die spirituelle oder geistliche Erfüllung, diese die materielle oder leibliche. „Dieser gründliche Glaube, Treue, Zuversicht des Herzens — so heißt es im Sermon — ist wahrhaftige Erfüllung dieses ersten Gebotes, ohne welche sonst kein Werk ist, das diesem Gebot genug tun kann. Und wie dieses Gebot das allererste, höchste und beste ist, aus welchem die anderen fließen, in ihm gehen und nach ihm gerichtet und gemessen werden, also ist auch sein Werk (das ist der Glaube oder Zuversicht zu Gottes Huld zu aller Zeit) das allererste, höchste und beste, aus welchem alle anderen fließen, gehen, bleiben, gerichtet und gemessen werden müssen" (B 1, 13). Zum dritten Gebot heißt es: „Also sehen wir, daß dies Gebot gleich wie das zweite nichts anderes sein soll denn Übung und Treiben des ersten Gebotes, das ist des Glaubens, der Treue, Zuversicht, Hoffnung und Liebe zu Gott, damit das erste Gebot in allen Geboten der Hauptmann, und der Glaube das Hauptwerk und das Leben aller anderen Werke sei (vgl. Anm. 30), ohne welche sie nicht gut sein können (B 1, 44, vgl. 66). Und zum vierten Gebot: „Wie nun in den anderen Geboten gesagt wird, daß sie im Hauptwerk gehen sollen, also auch hier" 56

(B 1, 70). Und so geht es weiter durch alle Gebote hindurch (86, 88, 91, 95). Der Sinn aller dieser Ausführungen aus dem Sermon ist völlig eindeutig. Ebenso aber auch der Unterschied zu den Darlegungen in der „Freiheit eines Christenmenschen" (vgl. B 1, 306). Wie schon die kurze Bemerkung von Loofs zu dem Sermon zeigt (s. o. Anm. 24), hat man sich offensichtlich nie bemüht, den Sermon und die Schrift „Von der christlichen Freiheit . . . " typologisch zu analysieren und miteinander zu vergleichen. Loofs war, wie gesagt, der Meinung, daß im Sommer 1520 die reformatorische Erkenntnis Luthers abgeschlossen war und die drei großen Hauptschriften des Jahres ihr nichts Neues hinzugefügt haben. Ebenso hatte Köstlin gemeint, der Sermon sei „nichts Geringeres als eine umfassende Anweisung zu einem sittlich guten Leben und Wirken, wie es Christen nach Gottes Willen üben sollen" (Luthers Theologie, 2. Aufl. 1901), d. h. also, auch er stellte ihn neben die Schrift von der Freiheit. Audi Ew. Schneider, der Herausgeber des Sermons in der Luther-Ausgabe von Buchwald (3. Aufl. 1905), rückt diese Schrift sehr nahe mit der Schrift von der Freiheit zusammen, indem er urteilt, der Gläubige fühle sieht nach den Darlegungen des Sermons „innerlich frei, zu tun und zu lassen, was er will" (S. XV). Er fährt fort: „Er bedarf weder der Anweisung, was gute Werke sind, noch des Antriebes, solche zu tun, sondern er kennt und verrichtet sie von selbst, hierzu bedarf es keiner Verbote, sündige Werke zu unterlassen, sondern er läßt sie von selbst" (ib). Auch dieser Auffassung muß widersprochen werden. Wie meistens, so wird auch von Schneider übersehen, daß die christliche Freiheit nur dem geistlichen Menschen, aber nicht auch dem fleischlichen oder leiblichen zugesprochen wird! Weil der Christ nicht nur Geist ist, sondern auch Fleisch, so „muß fürwahr der Leib mit Fasten, Wachen, Arbeiten und mit aller mäßigen Zucht getrieben und geübt sein . . . " (B 1, 306). Darin tritt klar zutage, daß die viel zitierte, aber ebensooft mißverstandene christliche Freiheit nicht identisch ist mit Gewissensfreiheit! Die von Luther verkündigte Freiheit ist geistlicher Art und auf den geistlichen Menschen begrenzt, d. h. sie ist Glaubensfreiheit, richtiger: Freiheit durch den Glauben! Während die sog. Gewissensfreiheit leiblicher Art ist und zu dem leiblichen Menschen gehört, der seinen Leib mit Fasten, Wachen und dergl. üben muß. Diese Gewissensfreiheit bedeutet aber für Luther nicht, wie Schneider meint, daß „sich der Gläubige innerlich frei fühle, zu tun und zu lassen, was er wolle". Das wäre Glaubensfreiheit. Aber sie bedeutet, daß der Mensch frei ist von allen menschlichen Autoritäten! Luther will im Sermon darlegen, wann und unter welchen Umständen ein Werk gut 57

ist! Auf diese Frage lautet seine Antwort: wenn es aus dem Glauben kommt. Dabei steht im Hintergrund der Gedanke, daß nur gute Werke rechtfertig machen. Und in diesem Zusammenhang kann man von Gewissensfreiheit bei Luthers Darlegungen reden. Er befreit im Sermon den Menschen nicht von den göttlichen Geboten und ihrer Erfüllung, sondern von menschlichen Autoritäten, wie solche in der römischen Frömmigkeit dem Christen immer wieder begegneten. Luther denkt nicht daran, daß der Christ etwa durch den Glauben in seinem sittlichen Verhalten „ungebunden" oder gar autonom sei, nein, er unterstreicht sehr deutlich: „Wer Gott traut, dem gibt er alsbald seinen heiligen Geist" (B 1, 9). Insofern bedarf der Fromme sehr wohl der „Anweisung, was gute Werke sind" und der „Verbote", „sündige Werke zu unterlassen". Aber er empfängt sie durch den heiligen Geist oder durch das Wort Gottes. Deshalb sagt Luther unter Berufung auf Matth. 19: wir müssen „die Unterscheidung der guten Werke aus den Geboten Gottes lernen und nicht aus dem Schein, der Größe oder Menge der Werke selbst, auch nicht aus dem Gutdünken der Menschen oder menschlichen Gesetzen oder Weise, wie wir sehen, daß geschehen ist und noch immer geschieht durch unsere Blindheit mit großer Verachtung göttlicher Gebote" (6). Und am Anfang des Sermons steht zu lesen: „Zum ersten ist zu wissen, daß es keine anderen guten Werke gibt, denn allein Gott geboten hat, gleichwie es keine Sünde gibt, denn allein die Gott verboten hat" (6). Das alles richtet sich deutlich gegen Rom. Was dagegen Luther mit der Gewissensfreiheit meint, zeigt er in der Art, wie er mit dem heiligen Geist, d. h. im Glauben, die 10 Gebote auslegt! Diese Auslegungen in ihrem Reichtum an frommer Lebensdurchdringung bedeuten weder Autonomie noch Freiheit vom Gesetz, sondern sie sind wahre Zeugnisse des Geistes, den Gott dem Glaubenden schenkt und an den der Glaubende gebunden ist, „daß nicht an ein oder etliche Werke allein jemand gebunden sei" (B 1, 18)! Im übrigen aber gilt: „Die Freiheit des Glaubens gibt nicht zu Sünden Urlaub, wird sie auch nicht d e c k e n . . . . " (B 1, 18). Wir haben also keinen Grund, in diesen Gedankengängen die reformatorische Rechtfertigung sola fide anklingen zu hören, — derart, daß der gläubige Christ von allen Werken frei, König und Priester sei, von dem es in der christlichen Freiheit heißt, daß ihm kein Ding zur Seligkeit schaden kann, vielmehr alle Dinge, „Leben, Sterben, Sünde, Frömmigkeit, Gutes, Böses" ihm zum Besten dienen müssen (Rom 8, 28. — B 1, 303). Die Freiheit, die Luther im Sermon den Christen zuschreibt, ist nicht die Freiheit vom Gesetz und seinen Werken, sondern die Freiheit von allen menschlichen Autoritäten so58

wie von jeder kirchlichen Reglementierung, eine Freiheit, die sich sehr wohl mit dem Gedanken verbindet, daß durch den Glauben die Gebote Gottes erfüllt werden und in dieser Erfüllung das Heil oder die Rechtfertigung liegt. So fügen sich also diese Gedanken sehr wohl in die Gedankenkonzeption des Sermons ein. Sie sind der Ausdruck für das geistliche Verständnis des Gesetzes im Gegensatz zu seinem Buchstaben (Vgl. Gal-Kom. 1519: WA 2, 500, 552). Demgegenüber deutet die Aufteilung des Menschen in einen geistlichen und einen leiblichen, wie sie in der Freiheit eines Christenmenschen zugrunde gelegt ist, bereits auf die doppelte Offenbarung Gottes und auf die Lehre von den zwei Reichen hin, über die in anderem Zusammenhang noch geredet werden muß. 2. So bestätigt in der Tat der Vergleich der Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen" mit dem „Sermon von den guten Werken", daß mit der ersteren ein neuer Schritt in der Herausstellung der reformatorischen Erkenntnis von Luther vollzogen worden ist. Bedenkt man nun aber, daß der Sermon Anfang Juni 1520 zur Versendung kam und Mitte November desselben Jahres (beide Daten nach Buchw.Kawerau, Luther-Kalendarium. 2. Aufl. 1929) die Schrift „Von der F r e i h e i t . . . " erschien, dann bleiben für diese Entwicklung nur gut fünf Monate zur Verfügung, und es entsteht die Frage: was hat sich in dieser kurzen Zeit ereignet ? Diese Frage wird um so dringender, wenn man hinzunimmt, daß Luther den Sermon in einem Brief an Spalatin vom 13. Mai 1520 für „das Beste alles bisher Geschriebenen" erklärt hat (B 1, XIII)35) und daß er sich nicht nur in der Schrift „An den christlichen A d e l . . . " (Mitte Juli 1520 im Druck), sondern auch noch im Magnifikat (1521) ausdrücklich auf sie beruft (B 1, 289; 6, 177 f.). Er ist sich also damals der Richtigkeit seiner Ausführungen im Sermon durchaus bewußt gewesen — im Unterschied zu seiner Beurteilung des Gal-Kommentars von 1519 —, und Anzeichen irgendeiner Unsicherheit finden sich nirgends in dieser Schrift. Das ist an sich keineswegs auffällig, denn in diesem Sermon kommt ein ursprüngliches reformatorisches Anliegen zum Ausdruck, das aufs allerengste mit den Klosterkämpfen verknüpft war: das geistliche Verständnis des Gesetzes! Es bildete bekanntlich die Grundlage sowohl für die Verzweiflung Luthers als auch für das sine merito, und es enthielt in sich die radikale Absage an alle menschliche Autorität in geistlichen Dingen. Diesen Grundgedanken des Sermons, auf den es Luther offenbar ankam, hat er zu keiner Zeit verleugnet. Trotzdem ist zu fragen: wodurch ist der Fort35 )

Wenn man von der Rechtfertigung absieht, mag das auch zutreffend sein.

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schritt in dem Verständnis der Rechtfertigung in der Zeit zwischen Juni und November 1520 veranlaßt worden? Daß es sich dabei nicht um eine zweite reformatorische Erkenntnis gehandelt hat, sondern um eine weitere Klärung der grundlegenden Intuition des Jahres 1516, ist schon auf Grund dieser kurzen Hinweise klar, wird jedoch auch durch die weitere Untersuchung erwiesen werden. Bleiben wir deshalb erst einmal bei der Frage: Was hat sidi in der Zeit zwischen jenen beiden Schriften ereignet? Bedeutsam für die Beantwortung dieser Frage ist die Schrift „De captivitate Babylonica", die Anfang Oktober 1520 im Druck vorlag (WA 6, 484-573; B 2, 375 ff.). In dieser Schrift taucht in der Auseinandersetzung Luthers mit der katholischen Sakramentslehre sehr oft das sola fi.de auf, so daß man in ihr die Brücke zwisdien dem Sermon von den guten Werken und der Freiheit eines Christenmenschen sehen muß. Diese Schrift Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche ist im August 1520 begonnen und am 6. Oktober 1520 im Druck erschienen. Luther schreibt darin am Schluß, er höre ein Gerücht, daß schon wieder päpstliche Bullen gegen ihn im Anzüge seien, durch die er zum Widerruf gezwungen oder für einen Ketzer erklärt werden solle. Gemeint war damit die Bann-Androhungs-Bulle gegen ihn, die am 15. 6. 1520 fertiggestellt worden war. Sie gewährte dem Reformator eine 60tägige Frist zum Widerruf. Da diese Bulle erst seit dem 21. 9. 1520 in Deutsdiland verbreitet wurde, ist es nidit ausgeschlossen, daß das Gerücht, das der amtlichen Verbreitung voraneilte, ihn bereits bei der Ausarbeitung der Sdirift geleitet und beeinflußt, ja, vielleicht ihn sogar zu dieser Sdirift veranlaßt hat. Sicher ist, daß er diese Sdirift ausdrücklich als ein Stück seiner Antwort auf die ihm noch nicht vorliegende Bulle deklariert hat. Denn er fährt fort: „Ist das wahr, so will ich, daß dies mein Büchlein (von der babyl. Gefangenschaft) ein Stück meines künftigen Widerrufs sein soll, . . . den übrigen Teil will ich mit Christi Gnade allernächstem veröffentlichen und zwar einen solchen, wie ihn der römische Stuhl bisher weder zu sehen noch zu hören bekommen hat . . . " (B 2, 511; Unterstreichungen von mir). Wenige Zeilen vorher nennt er die Sdirift „Von der babylonischen Gefangenschaft" „sein Vorspiel", das er „allen Frommen, die das lautere Verständnis der Sdirift und den ursprünglichen Brauch der Sakramente zu wissen begehren, gern und mit Freuden" darbiete (510). Daß mit dem „übrigen Teil", den er „allernädistens veröffentlichen" wollte, die Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen" gemeint ist, dürfte kaum zweifelhaft sein. Es ergibt sich einwandfrei aus den Datierungen: am 6. 60

Oktober 1520 erschien die Schrift „Von der babyl. Gefangenschaft" im Druck, und zwar lateinisch; einige Wochen später die Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen", deutsch und lateinisch. Ein genaues Datum scheint nicht bekannt zu sein.38) Aber am 12. Oktober 1520, bei der Zusammenkunft Luthers mit Miltitz, wird sie bereits abgeschlossen gewesen sein, und bald nach dem 12. Oktober desselben Jahres sandte Luther sie, wie er Miltitz zugesagt hatte, mit einem Brief an Papst Leo X. Daß dieser Brief auf den 6. September zurückdatiert ist (B 8, 343) hat seinen einleuchtenden Grund darin, daß Eck seit dem 21. 9. 1520 die Bulle „Exsurge, Domine" in Deutschland verbreitete und Miltitz dem Papst nicht Mitte Oktober ein Widmungsschreiben dieses mit dem Bann öffentlich bedrohten Mannes überreichen konnte. Tatsache ist also, daß auch diese letzte große reformatorische Schrift des Jahres 1520 bereits ihrem Inhalt nach festlag, als Luther am 6. Oktober desselben Jahres die Schrift „Von der babyl. Gefangenschaft" herausgab. Sie ist demnach „der übrige Teil", den Luther „allernächstens veröffentlichen" wollte und für den die babylonische Gefangenschaft nur ein „Vorspiel" war! Für Luther bilden also diese beiden Schriften eine sachliche Einheit und stellen seine Antwort auf die päpstliche Forderung des Widerrufs dar. Es ist unter diesen Umständen nicht zu verwundern, daß auch theologisch beide Schriften zusammengehören und sich das sola fide bereits in der Babylonischen Gefangenschaft sehr oft findet.37) Aber es ist nicht nur die Formel, welche beide Schriften miteinander verbindet, es ist vor allem die Sache selbst, die Auffassung von der Rechtfertigung oder von dem Verhältnis, in dem Gott zu dem Menschen und der Mensch zu Gott steht. Luther führt aus, daß Gott nie anders mit den Menschen gehandelt habe und handle als durch sein Verheißungswort. Und dann fährt er fort: „Wir hinwiederum können mit Gott niemals anders handeln als durch den Glauben an sein Verheißungswort. Nach Werken fragt er nicht, bedarf ihrer auch nicht, vielmehr handeln wir durch diese gegen die Menschen und mit den Menschen und mit uns selbst. Gott aber bedarf des, daß er in seinen Verheißungen von uns für wahrhaftig erachtet werde, daß man gelassen seiner harre und ihn also in Glauben, Hoffnung und Liebe verehre. Dadurch geschieht es, daß er seine Ehre in uns behauptet, indem wir nicht durch unser Laufen, sondern durch sein Erbarmen, Verheißen, Schenken alles Gute empfangen und haben" (B 2, 410 f.). Dieses eine Wort 38 ) 37)

Buchwald-Kawerau spricht von Mitte November. Vgl. B 2, 407, 409, 412, 420, 428, 466 u. ö.

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ist von so grundsätzlicher Bedeutung, daß es mit einem Schlage erhellt, daß Luther in der Schrift Von der babylonischen Gefangenschaft . . . ebenso weit von der Rechtfertigungs-Anschauung des Sermons von den guten Werken entfernt ist (B 1,14), wie er sich mit der entsprechenden Anschauung in der Freiheit eines Christenmenschen deckt (B 1, 306). ss ) Diese beiden Schriften gehören nicht nur redaktionell, sondern sachlich zusammen und bilden theologisch eine Einheit. Erst in dieser Zuspitzung lassen sie den eigentlichen Gegensatz erkennen, in welchem Luther zu Rom stand, so daß er selbst in diesen beiden Schriften gleichzeitig die Antwort sehen konnte, welche die erneute päpstliche Zumutung des Widerrufs zurückzuweisen geeignet war. Jede andere Auffassung von der Rechtfertigung traf den Gegensatz gegen Rom nicht grundsätzlich, sondern nur peripherisch in Einzelfragen wie z. B. in der Auffassung von der Erbsünde, der Gnade und des Glaubens. 3. Versuchen wir — soweit es möglich ist —, uns diese Entwicklung der theologischen Formulierung, diesen innerlichen Reife-Vorgang, näher zu bringen und verständlich zu machen! 3 S ) Vgl. auch B 2, 407: „Gottes Wort ist das allererste, darauf folgt der Glaube, dem Glauben die Liebe, die Liebe endlich tut alles gute Werk, weil sie nichts Böses tut, vielmehr des Gesetzes Erfüllung ist. Auf keinem anderen Wege aber kann der Mensch mit Gott übereinkommen und mit ihm handeln, als durch den Glauben, d. h. daß nicht der Mensch durch irgendwelche eigenen Werke, sondern Gott durch seine Verheißung der Urheber des Heils ist, also daß alles hanget, getragen und erhalten wird in dem Worte seiner Kraft, durch welches er uns gezeugt hat, daß wir wären Erstlinge seiner Kreatur." B 2, 426: „Nun ist aber die Messe ein Teil des Evangeliums, ja die Summa und der Inbegriff des Evangeliums, denn was ist das ganze Evangelium anders als die frohe Botschaft von der Sündenvergebung? Alles aber was über Vergebung der Sünden und Barmherzigkeit Gottes aufs Weiteste und Ausführlichste sich sagen läßt,' das ist im Wort des Testaments kurz zusammengefaßt. Daher sollten auch alle Predigten vor dem Volke nichts anderes sein als Auslegung der Messe, d. h. Erklärungen der göttlichen Verheißung dieses Testaments; denn das hieße Glauben lehren und die Kirche wahrhaft erbauen. Aber die jetzt die Messe auslegen, die spielen und trügen in allegorischen Erklärungen der menschlichen Zeremonien." B 2, 428: „Dies Testament Christi ist die einzige Arznei der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Sünden, wenn du nur mit ungezweifeltem Glauben dich daran hältst und glaubst, daß dir aus freier Gnade das gegeben wird, wovon die Worte des Sakramentes lauten. Glaubst du es aber nicht, so wirst du nie und nimmer durch keinerlei Werk und keinerlei Bemühen dein Gewissen stillen können. Denn der Glaube allein ist der Friede des Gewissens, der Unglaube aber allein die Beunruhigung des Gewissens." Im übrigen verweise ich auf die Ausführungen aus der „Freiheit eines Christenmenschen", wo Luther sagt, die Werke seien „tot", weil sie als „Dinge" Gott niemals ehren und loben können, „wiewohl sie geschehen und sich tun lassen Gott zu Ehren und L o b " (B 1, 302). — Man beachte auch, daß in „De captivitate" die Beschränkung der Gewißheit der remissio peccatorum auf die vorangegangenen und gegenwärtigen Sünden gefallen ist.

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a) Es ist kein Zufall, daB gerade an der theologischen Auseinandersetzung Luthers mit der römischen Sakramentslehre, dem Herzstück der römischen Frömmigkeit, die Rechtfertigungslehre des Reformators zu ihrer geschichtlichen Vollendung kam, — nicht umgekehrt. Dieser Weg entspricht dem Werdegang des Reformators von Anfang an. Seine Klosterkämpfe haben ihre Tiefe darin, daß seine Frömmigkeit, sein aufrichtiges Verlangen nach Gott mit der römischen Sakramentsfrömmigkeit zusammenstieß, deren totale Unzulänglichkeit er erlebte. Sie vermochte Luther den Frieden mit Gott nidit zu geben, weil sie den Menschen an Gott selbst überhaupt nicht heranbrachte! Das Sakrament, das den Weg zu Gott frei machen sollte, erwies sich als das große Hemmnis zwischen Gott und Mensch. Hier liegt auch ein Grund dafür, daß Luther aus der Sakramentskirche eine Predigtkirche gemacht hat. 39 ) Es ist deshalb ebensowenig Zufall, daß die beiden letzten reformatorischen Hauptschriften die Titel tragen: „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirdie" und „Von der Freiheit eines Christenmenschen". Sie spiegeln den Weg Luthers zur Reformation wider. Und zwar liegt der Nachdruck jeweils ebenso auf Gefangenschaft und Freiheit wie auf Kirdie und Christenmensch. Die Erlösung sowohl von der Gefangenschaft des Sakramentarismus als auch von der Papstkirche ist die Unmittelbarkeit des Zugangs zu Gott im Glauben, in welchem Gott und Mensdi einander begegnen, und zwar Gott in seinen Verheißungen und der Mensdi im Vertrauen auf Gottes Wahrheit in diesen Verheißungen — ohne Kirche und ohne Priester! Wenn sich bei Luther theologisch zwischen Gott und Mensch die Autorität der Bibel sowie der Kirchenlehre schob und dadurch die Unmittelbarkeit des Glaubens und der Begegnung mit Gott gestört zu werden scheint, so darf nicht übersehen werden, daß er religiös in dem Schrift wort Gottes Wort und in der Kirchenlehre die Lehre der Schrift erblickte, so daß typologisch dennoch die Unmittelbarkeit dieser Begegnung gewährleistet war bzw. sein sollte. Es bedurfte für Luther nur des Nachweises, daß sowohl das Papsttum als auch die römische Sakramentslehre wider die Schrift und damit wider Gottes Wort seien. Diesem Nachweis und damit zugleich der Beseitigung dieser Schriftwidrigkeit hatten bereits die beiden anderen großen reformatorisdien Schriften des Jahres 1520 gedient: die Schrift „Vom Papsttum zu Rom . . . " (Ende Juni 1520 im Druck vollen3 e ) Vgl. B 8, 120: „Im Papsttum hat man die Priester geweiht nicht zum Predigtamt, Gottes Wort zu lehren, sondern allein Messe zu halten und mit dem Sakrament umzugehen . . . Wir aber ordinieren Priester nach dem Befehl Christi und S. Pauli, nämlich zu predigen das rechte, reine Evangelium und Wort Gottes" (Tischreden EA Nr. 1700).

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det) und die Schrift „An den christlichen Adel . . . " (Mitte August 1520 erschienen). Wir haben es also faktisch nicht mit drei, sondern mit vier großen reformatorischen Hauptschriften zu tun. In diesen vier Schriften kam die Reformation zu ihrem, wenigstens vorläufigen, Abschluß. Und man muß die Dynamik, mit der die spätere jedesmal aus der früheren herauswuchs, erkennen, um die letzte von ihnen, „Von der Freiheit eines Christenmenschen", in ihrer Andersartigkeit hinsichtlich der Rechtfertigungsauffassung, als Schlußstein der Reformation verstehen zu lernen. Luther selbst hat den Zusammenhang dieser vier Schriften untereinander aufgedeckt. In der Schrift „Vom Papsttum" schreibt er, er möchte wohl leiden, „daß Könige, Fürsten und aller Adel dazu griffe, daß den Buben von Rom die Straße niedergelegt würde . . . Es ist zum Erbarmen, daß Könige und Fürsten so schlechte Andacht zu Christo haben und seine Ehre sie so wenig bewegt, daß sie solche greuliche Schande der Christenheit überhand nehmen lassen . . . Davon will ich mehr sagen, so der Romanist wieder kommt. Jetzt sei es zum Anheben genug gewesen. Gott helfe uns, daß wir die Augen einmal auf tun. Amen." (B 1, 162 f.). Die zweite Schrift, von der Luther vorausweisend spricht, ließ nicht lange auf sich warten. Es war die Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation: Von des christlichen Standes Besserung." Ein Begleitbrief an Nikolaus von Amsdorf vom 24. 6. 1520 beginnt mit den Worten: „Die Zeit des Schweigens ist vergangen, und die Zeit zu reden ist gekommen (Pred. Sal.). Ich habe, unserem Vornehmen nach (!), etliche Stücke zusammengetragen, christlichen Standes Besserung belangend, dem christlichen Adel deutscher Nation vorzulegen, ob Gott doch durch den Laienstand seiner Kirche helfen wollte . . . " (B 1, 203). Wenn man gesagt hat, es sei zu beklagen, daß gerade diese Schrift uns völlig im Unklaren lasse „über die unmittelbare Veranlassung zu ihrer Abfassung (Schneider b. Buchw. 1, 202), so mag diese Tatsache zutreffend sein; man vergißt aber dabei, daß uns der innere Zwang zu ihrer Abfassung um so klarer ist. Und darauf kommt es an, wenn wir uns um eine Antwort auf die Frage mühen, wodurch die letzte Fassung der Rechtfertigungslehre in der „Freiheit eines Christenmenschen" zustande gekommen ist. Der Erfolg der zweiten Schrift „An den christlichen Adel" beleuchtet die Situation: in einer Woche war die erste Auflage von 4000 Stück vergriffen! Das war zum mindesten ein Beweis dafür, daß Luther sich in der Dringlichkeit seiner Aufgabe nicht getäuscht hatte. Ähnlich wie diese zweite Schrift die logische und sachliche Fortsetzung der ersten ist, ist die dritte Schrift „Von der babylonischen Gefangen64

schaft der Kirche" die Fortsetzung der zweiten. Am Schluß der Schrift „An den christlichen Adel" schreibt Luther: „Ich habe bisher vielmal meinen Widersachern Frieden angeboten. Aber wie ich sehe, Gott hat mich durch sie gezwungen, das Maul immer weiter aufzutun und ihnen, weil sie nicht mäßig sind, genug zu geben, zu reden, bellen, schreien und schreiben. Wohlan, ich weiß noch ein Liedlein von Rom und von ihnen; juckt sie das Ohr, ich will es ihnen auch singen und die Noten aufs höchste stimmen. Versteht mich wohl, liebes Rom, was ich meine?" (B 1, 289). Mittlerweile war in Rom die Bannandrohungsbulle fertiggestellt (15. 6.). Vielleicht hatte Luther schon jetzt gerüchtweise davon Kenntnis. Deshalb dann die geheimnisvolle Anrede Roms. Jedenfalls, das „Liedlein von R o m " , das er zu singen ankündigt, war die dritte Schrift „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche"! Er beginnt mit den Worten: „Ich mag wollen oder nicht, ich muß wohl täglich gewitzter werden, wo so viele und so hohe Meister um die Wette mich drängen und bearbeiten". 40 ) Interessant ist diese Schrift besonders dadurch, daß er an mehreren Stellen sich nicht scheut, frühere Urteile zu korrigieren, aber nicht, um sie zu widerrufen, sondern um sie zu verschärfen! Das erste Urteil bezieht sich auf die Ablässe E r nennt ein vor zwei Jahren geschriebenes Büchlein, von dem er mit überlegenem Humor sagt, es gereue ihn „jetzt außerordentlich". Kawerau meint, es seien wahrscheinlich seine Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute vom Jahre 1518 (August) gewesen (B 2, 379). 41 ) Aber wie »eine „Reue" gemeint ist, zeigen seine weiteren Ausführungen. „Zu jener Zeit steckte ich noch in großer, abergläubischer Verehrung der römischen Gewaltherrschaft 42 ); daher meinte ich auch, man dürfe die Ablässe nicht gänzlich verwerfen, . . . " Doch seitdem habe er eingesehen, „daß sie nichts anderes sind als lauter Betrügerei römischer Schmeichler, damit sie ebenso den Glauben an Gott wie den Geldbeutel der Menschen zugrunde richten wollen." E r wünschte, daß seine sämtlichen Schriften vom Ablaß verbrannt würden und daß seine Leser sich stattdessen nur den einen Satz einprägten: „Ablässe sind eine nichtsnutzige

Erfindung

der römischen

Schmeichler"

(B 2, 379). Damit

war er gleichzeitig auch von seinen 95 Thesen des Jahres 1517 abgerückt! — Ein weiteres Urteil, das Luther korrigiert und zugleich ver40 ) Er denkt an den Franziskaner Augustinus Alvede und an eine anonyme Schrift eines Italieners aus Cremona, die zwar schon November 1519 geschrieben war, ihm aber erst jetzt in die Hand kam (B 2, 380). 4 1 ) WA 1, 522-628. Mittlerweile war die Schrift „Vom Papsttum zu Rom" und „An den christlichen Adel" geschrieben.

5 Studien der Lutherakademie 7/Pohlmann

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schärft, ist sein Urteil über das Papsttum. Noch vor wenigen Monaten erst—im Juni 1520 war seine Schrift „VomPapsttum zu Rom" im Druck erschienen, seit dem 5. 8. 1520 war die dritte Schrift — nach Kawerau — in Arbeit! — hatte Luther dem Papsttum nur das göttliche Recht abgestritten, ihm aber zugestanden, daß es menschlichen Rechtes sei (B 1, 380; vgl. 1,115,161 u. ö.). Das war die „Sache",um die es in jener Schrift ging. Und jetzt erklärt er freimütig, er wünschte, daß auch diese seine gedruckten Äußerungen verbrannt würden und nur der eine Satz festgehalten würde: „Das Papsttum ist das wilde Jagen des römischen Bischofs" (1. Mos. 10, 8 f.). Er fügt hinzu, den Beweis dafür haben ihm seine Gegner gegeben. — Eine dritte Korrektur seiner bisherigen Urteile betrifft die Messe, und zwar zunächst die beiderlei Gestalt des Sakraments für die Laien (B 2, 381 ff.), dann aber auch andere Fragen wie Transsubstantiation und „jener schreckliche Mißbrauch", durch den es geschehen sei, „daß heute in der Kirche wohl nichts so allgemein und so sehr geglaubt wird, als daß die Messe ein gutes Werk und ein Opfer sei" (B 2, 403). Zu diesen Selbstkorrekturen bemerkt Luther, daß er seit seinem „Sermon vom Sakrament des Leichnams Christi" (1519) „Fortschritte" „beim Nachsinnen auch über die Verwaltung dieses Sakramentes" gemacht habe. Damals habe er noch „in dem gemeinen Brauch" gesteckt und sich nicht darum bekümmert, „ob der Papst im Recht oder Unrecht sei". Jetzt aber wo er herausgefordert und angegriffen, „ja geradezu gewaltsam auf diesen Kampfplatz gezogen" sei, will er seine Meinung frei heraussagen, „mögen auch die Papisten allzumal darüber lachen oder weinen" (B 2, 387). So deckt sich, was er 1520 zu sagen hat, nicht mehr mit seiner Meinung von 1519. b) Über das Verhältnis der Schrift „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche" zur letzten Schrift in dieser Reihe, zur Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen", habe ich bereits ausführlich geredet (s. o. S. 59 ff.). Abschließend soll aber noch der Nachweis geführt werden, daß wir es bei diesen vier Schriften tatsächlich mit einer Schriftenreihe zu tun haben, die nicht nur durch Bezugnahme und Hinweise des Verfassers zusammengehalten wird, sondern vor allem durch die Dynamik der Sache selbst, und das heißt: durch den Gottesgedanken! Das Thema der ersten Schrift ist das Papsttum, genauer: der Anspruch des Papstes, seine Macht über die gesamte Christenheit aus göttlicher Ordnung herzuleiten. Damit wird die Kirche Jesu Christi nicht nur an einen Ort, sondern auch an eine menschliche Person gebunden! Demgegenüber lautet die Gegenthese Luthers: die Kirche ist nicht da, wo der Machtbereich des Papstes ist, sondern da, wo Christus 66

herrscht! Also: Christus steht wider den Papst, und der Papst ist der Antichrist! Diese Bezeichnung für den Papst taucht erst na