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German Pages 360 [362] Year 2022
Lutz Fiedler studierte Ur- und Frühgeschichte, Quartärgeologie und Ethnologie. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen in der Steinzeitforschung: Behausungsbau, Technik der Steingeräteherstellung, Deutungsmöglichkeiten von Ausgrabungsbefunden und Artefakttypen, Kulturentwicklung im zirkummediterranen Raum sowie kritische Anthropologie.
Lutz Fiedler Faustkeile
Faustkeile sind nur eine der Werkzeugarten, die von Menschen in der Zeitspanne von 2 Millionen bis vor 40 000 Jahren angefertigt wurden. Diese kaum vorstellbare lange Tradition und deren geographische Verbreitung über Afrika, Asien und Europa hinweg sowie während extrem wechselnder Klimaphasen war tief verwurzelt im Denken, Planen und Sozialwesen unserer frühen Vorfahren. Lutz Fiedler geht dieser Entwicklung hier nach und zeigt, welche kulturellen Grundlagen der Vergangenheit das Wesen unserer eigenen Gegenwart bestimmen.
Lutz Fiedler
Faustkeile Vom Ursprung der Kultur
www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27499-4
Lutz Fiedler Faustkeile
Lutz Fiedler
Faustkeile Vom Ursprung der Kultur
Dr. Fritz-Rudolph Herrmann in Dankbarkeit gewidmet
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar
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Inhalt
English summary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil 1 Einführung in die wissenschaftliche Thematik und Zeit der Faustkeilkultur A. Datierung, Umweltgeschichte, frühe Menschenarten . . . . . . . . . . B. Kurze Entdeckungs- und Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . C. Beschreibung der Faustkeilgestalt und deren besondere Merkmale . . D. Artefakt, das „künstlich“ durch Menschen hergestellte Objekt . . . . . E. Abschlag, Kern, Gerät, Werkzeug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Hart und weich geschlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Verbreitung und Fundgebiete von Faustkeilen . . . . . . . . . . . . . .
15 15 17 24 45 45 51 59
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Teil 2 Essays zum Faustkeilphänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primitiv oder urtümlich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Fähigkeit, etwas zu instrumentalisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kultur und natürliche Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hacken, sägen und spalten – die Funktionen der ersten Faustkeile . . . . . . . . . . . . . Ein ‚Schweizer‘ Taschenmesser der Altsteinzeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzeption und Anfertigung von Faustkeilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die großen Fragen: Wie, warum, wann und wo? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie wir uns 2 Millionen Jahre Faustkeilzeit vorstellen können . . . . . . . . . . . . . . . Was wir über Faustkeile denken und was die Hersteller darüber dachten . . . . . . . . . . Fotografie und wissenschaftliche Zeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Funktion, Methoden, Einsicht, kommunikatives System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kommunikation und Selbstverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kulturelle Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Und noch mal anders gesagt, was „Konzepte, Methoden …“ meint: . . . . . . . . Natur und schöpferische Fähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Holz- und Knochengeräte, Feuerstellen und Behausungen – sowie Interpretationsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundbedingungen des Wissens, der gedanklichen Speicherung, der Wissensübertragung und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kultur; die Sache der Identität und Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kultur, ein symbolisches System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wandern ist des Archäologen Lust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Natur oder Kultur? Flussterrassen als urgeschichtliche Archive . . . . . . . . . . . . . . . Uralt und durch die Kräfte der Natur überformt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67 69 76 78 82 88 93 96 103 103 114 121 121 123 127 130 133 135 143 147 152 160 163
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Inhalt
Stimmt die Kennzeichnung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorgabe, Imagination und Realisierung – Geist und Ding . . . . . . . . . . . . . . . . . Ist es möglich, einen Faustkeil in der Umgebung meines Wohnortes zu finden? . . . . . Hauptsächlich verwendete Gesteinsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zuweisung der Gesteinsarten und Materialien. Die Belege klassifizierenden Denkens ‚Handspitzen‘ und ‚Schaber‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Polyeder, kugelige Kerne und abgesplitterte Klopfsteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Spitzen‘ und ‚Bohrer‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Do it yourself . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die „verrückten“ Sammler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung und Veränderung von Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Klassifizierung von urgeschichtlichen Menschen, Zeiten und Kulturen . . . . . . . . Tradition, Technokomplex oder Kultur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaft und Schöpfungsgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaft als eine Art des fundierten Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paläoanthropoplogie: Die Vermessung, Einordnung und Bewertung des Menschen . . . Das Ding hat jemand gemacht, der dein eigener Vorfahre war . . . . . . . . . . . . . . . Die ansprechende Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der gelungene Faustkeil ist Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nackt oder wie der antike Herkules oder doch richtig angezogen? . . . . . . . . . . . . Ein Faustkeil auf der Briefmarke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fälschungen, Repliken und Originale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Faustkeile in wissenschaftlichen Kulturschubladen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Faustkeil zur Blattspitze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaftliche Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veränderter Geist, verändertes Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verändertes Leben – veränderte genetische Muster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frühe Steingeräte in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Die Archäologie der Faustkeilepoche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Steingeräte vor den Faustkeilen – das Oldowan . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Das Aufkommen der ersten Faustkeile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Das Altacheuléen; die frühe Faustkeilzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Das Jungacheuléen und das Mittelpaläolithikum mit Faustkeiltradition. Vielfalt der Geräteformen und Inventarzusammensetzungen . . . . . . . . . 3.5 Der Anfang und das Ende der Faustkeilkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.1 Typologische Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.2 Zusätzliche Erläuterungen von Begriffen der Altsteinzeitarchäologie in lexikalischer Reihenfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Literatur zu den behandelten Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
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English summary: Handaxes. From the origin of culture
Handaxes (or bifaces) are the most significant tools made by those early ancestors that can, without doubt, be called humans. These special stone tools make us understand how cultural behaviour developed and established itself. In this context it is necessary to discuss briefly the well-known tool connected strategies and insights by several animal species. The unavoidable conclusion is then, that such behaviour of humans and animals has the same basis and cannot be regarded separately (Corbey 2005). Therefore, we should ask whether or not the earliest stone artefacts from Koobi For a or Turkana West, Lake Turkana in East Africa (2.5 to 2.6 my years old) are undoubtful proofs of human acting? Be the answer yes or no, they represent a small but important step towards an irreversible tool tradition. Technology developed from that period of Tukana West onwards (Bunn, Harris, Isaak et. al. 1980). This can be seen in the Oldowan tool kit. Artefacts from that stage were generally produced by a well-defined flaking technology (Leakey 1971). The knowledge of this early technology spread from southern Africa via eastern and north-western Africa (Sahnouni 1998 a–b, 2018) to southern Europe (Roe 1995) and Asia (Gabunia et. al. 1999). What was the reason for this wide distribution? Did early men, at that time, have a kind of instinct for a special way of working stone or was there more behind it? The handaxe came in by the late Oldowan level of tool making, showing an advanced technological insight and a clear morphological and functional conception. Stone tools were not simply produced because man had the necessary striking techniques at his disposal, but with intention to use them for foreseeable special purposes. Thus, they belong to the conception of social life. Consequently, all members of early human groups knew what tools were, how they were manufactured, what they had to look like, and what special purposes they were produced for. Such knowledge was passed on within a system called tradition. Tool production, tool use, and tool necessity were stored up in the memory as kinds of
„pictures and short movies in the brain“. These abstract, symbolic, neuronal images could be realized virtually in all matching situations of daily life (Fiedler 1993 a, 1997 b, 2002 a–b). It cannot be maintained that a vocal language is necessary to keep up such a tradition. But thinking and acting following logical lines or steps towards a defined aim is a basis for the grammatical structure of language (Fiedler 1993 a). To understand a work process means to understand what I do as well as to understand what another person does while working. This is a way of self-awareness (or self-perception), and it is a basis for communication, too (de Waal 2021). Oldowan tools are classified into several functional types: cutting tools, scrapers, drills, chopping tools, polyhedrons, hammer stones and anvils (Leakey 1971, Leakey & Roe 1994). All these tool-types are related to special tasks. Each of them is related to a range of aims. So, a stone-hammer serves to produce flakes, a flake is the blank for a denticulate scraper, a ‚denticulate‘ serves for wood working, a wooden digging stick is necessary for the group’s subsistence. Oldowan tool types are normally linked in a socio-technological system. In this respect they differ from tool-use by animals. It is a particularly human organization of life and could be called proto-cultural. The Oldowan stage of culture ended about 1.8 my years ago. In Bed II of the Olduvai Gorge geological sequence the Oldowan changed its character towards the Lower Acheulean (Handaxe Culture or Early Acheulean; Leakey 1971, Leakey & Roe 1994, Stiles & Partridge 1997). In comparison with the Oldowan most of the Acheulean tools have much more clearly defined shapes, especially cleavers, handaxes (bifaces), picks (pics in French and German), and knives (Clark 1970). So it is possible to say that the abstract, mental images of tools were more complex than in Oldowan times (Fiedler 1998 a–b, 2002 b). A handaxe, for example, was not easy to realize. The manufacturer of such a tool (or some other member of his group) had to look out for the suitable raw material. He had to know where in the 7
English summary
home range it could be found. He also had to look for good hammer stones and for bones or ivory as ‚soft‘ hammers. His first job was to split off a heavy flake (much more than 20 cm in diameter) as a blank for the final handaxe. Prepared flakes without the former cortex of the rock were better than simple cortex flakes. Preparation normally started before flaking off the blank. The experienced person who struck off such a flake needed to have perfect control of his work, i. e. control of several components: the weight of the hammer stone, the strength of the blow, the point where the hammer stone should hit the block of rock, the angle of the striking direction, and the underground onto which the struck-off flake was to fall. Fashioning a handaxe of a blank flake started with heavy blows along its edge. Thus, the planned handaxe got its first rough shape. Then the roughout had to be reversed and shaped in the former manner again. It now should have a crudely ovate contour. After correcting the shape with several further blows a different hammer was needed. A smaller one or a so-called soft hammer of ivory or bone was now necessary. From this on the worker needed to split off a series of flat and thin flakes, to form both a sharp cutting edge around the contour and flat surfaces on both sides of the tool (Fiedler 2007). To finish the handaxe it got an elongated ovate shape and two more or less straight cutting edges, down from the tip to the basis. Such a handaxe served to butcher carcasses of large game, like elephants, rhinos, or hippos. It could also be used for wood working, carving, scraping, and cutting. On the African plains, where raw materials for stone tool production were rare, hand axes carried by the hunters also served as cores for the production of light duty flakes (Fiedler 2002 a). Millions of such elaborated Acheulean hand axes have been found in Africa, Asia, and Europe. One wonders, why all that labour-intensive work in order to obtain a cutting tool? Could not a simple, substantial, sharp flake have fulfilled nearly all the demands on a handaxe? The explanation can only be found in a strong cultural tradition. Several of the „pictures in the brain“ have gradually been developed into determining, imperative symbols. Thus, a butchering tool for big game had to look like a right handaxe. 8
In this way it had been manufactured by fathers, grandfathers, and all the – mythological – ancestors. In doing so, the world could be held in the necessary balance. A further cultural reason is group identity: every person able to carry out the traditional tasks was accepted as a full member of the social group. The urgent need for each individual to belong to their human group forced them to do things in the right way. This, not the technological abilities of the early humans, can explain more than one million years of the Acheulean culture. Rapid technological changes and innovations may, thus, have seemed to be dangerous for man and the world. The imperative cultural pressure on the one hand, and the feeling of safety on the other, have been in balance over the longest period of humans’ existence (Fiedler 2002 a). Progress came only very slowly and on the quiet (Clark 1991, 1999). What is valid for hand axes is relevant to cleavers, wooden spears, fire places, huts, hunting methods, and the social organization of the Acheulean, as well. All the different archaeological finds from that period bear witness to an extremely slow development. Changes came late, about 400 000 years ago, when the Levallois technique had become common in the world of the Upper Acheulean. From then on – during the Middle Palaeolithic – innovations came ever faster, until the beginning of the Upper Palaeolithic, 40 000 years ago (Fiedler 2009). The coherence of Lower Palaeolithic groups of humans depended on two points: their biological relationship, and their own tool making, tool using, techno-social environment. This cultural system above nature ‚instrumentalizes‘ the natural environment, in order to be in control of subsistence. This also demands control of the group’s behaviour. What does this mean, if we want to understand the challenges of early human existence, particularly with regard to cognition, intelligence, communication, planning, and comprehension of life? A well-functioning techno-social system like the Acheulean needs to be stored up in mind by all members of the community, in a huge number of connected details. These details are definitely elements of the whole indivisible system: home range, animals, plants, resources, dangers, hunting, social range, social behaviour, tool types, tool manufacturing, tool use, fire, food preparation, food shar-
English summary
ing, dwelling construction, preparation of hides, clothing, transport, and so forth. These form a large body of objects, functions and actions, held in mind as mental (i. e., neuronal) pictures and abstract scenarios. All the abstract, imaginary, and symbolized objects of human comprehension (like „mountains“, „rivers“, „bushes“ or „stones“) and functions (like „hunting“, „gathering“, „sharing“, „manufacturing“, for example) stood above all possibilities of their real appearance. This gave man the necessary distance to ponder and ‚talk‘ about matters, and, thus, for planning. In the Acheulean system the abstract, symbolically stored tool types, methods of manufacturing, and aims of tool production could be put into practice as real objects and actions. Accordingly, all the abstract ideas/concepts had their counterpart in reality as well as in signs, gestures or phonetic symbols. And phonetic symbols should have existed as an archaic spoken language, too. In this way, the Acheulean system was realized and represented permanently by each individual and the entire community. Therefore, we cannot say that only anatomically modern man was capable of abstract or sym-
bolic representation, and that realization of symbols was a characteristic of anatomically modern man only. It is an ability of man since his first appearance two million years ago. Some archaeologists hesitate to call the Acheulean a culture. They prefer to call it, neutrally, a ‚techno-complex‘. This means that the term culture in relation to Palaeolithic finds is a doubtful one in our science. For those critics, culture seems to be a phenomenon of recent societies, especially our own. But the scientific view on artefacts is a view on technology, forms and styles, which means it is our view on conceptions and the knowledge of ancient societies. Conceptions, methods, techniques, symbol supported knowledge, communication, and tradition together are what we call culture (Cassirer 1944). Finally: Handaxes just were pointed tools with sharp edges in the very early Acheulean, but symmetrically well worked objects later on. Some of them seem to have been finished more perfectly than it was necessary for their tasks. So they give us insight into the first realization of aesthetics in handicraft, and – maybe – into what can be called the roots of art.
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Vorwort
Das vorliegende Buch ist eine möglichst verständliche wissenschaftliche Darstellung, in der anhand von Faustkeilen das Entstehen und Wesen von Kultur, die intelligenten und ästhetischen Leistungen unserer frühen Vorfahren sowie die spannenden Möglichkeiten ihrer Erforschung angeboten werden. Und da die frühen Steingeräte alle von einer Systematik der Herstellung und Nutzung zeugen, liefern sie zugleich Einblicke in die damit verbundenen gedanklich erfassten Konzepte, somit auch in bestimmte Bereiche der geistigen Fähigkeiten. Der Versuch diese zu beschreiben, gelingt selbstverständlich nicht ohne den stillschweigenden Vergleich mit unserem heutigen Denken und Handeln. In diesem Bezug erkennen wir dann zeitlose Muster unseres allgemeinen kulturellen Verhaltens und unseres Wesens als Menschen. Die Grundlagen für derartige Betrachtungen liefern die erhaltenen Objekte unserer Vergangenheit. Das sind vor allem Artefakte aus Stein, die glücklicherweise millionenfach erzeugt wurden und unter günstigen Bedingungen bei Ausgrabungen oder Geländebegehungen gefunden werden können. In der vorliegenden Arbeit stehen dabei Faustkeile im Mittelpunkt. Sie waren zu keiner Zeit als Waffen konzipiert, sondern waren Werkzeuge, die vor allem beim Zerlegen großer gejagter Tiere sehr nützlich, wenn nicht gar unentbehrlich waren. Ihre formalen Varianten, ihre Herstellungsweisen und nicht zuletzt ihre historische fast zwei Millionen Jahre währende Entwicklung von urtümlichen Anfängen zu formaler, symmetrischer und ästhetischer Vollendung wird hier in zahlreichen Fotos und Zeichnungen vor Augen geführt. Alle hier vorgelegten Fotografien und Zeichnungen der Artefakte werden von Ausführungen
flankiert, die sowohl die archäologischen Gesichtspunkte als auch Aspekte betreffen, die die Verbindung zu unserer Gegenwart, unserem Verständnis des Menschseins und dem konstitutiv Schöpferischen des menschlichen Tuns herstellen. In dieser Weise ist das Werk als Bildband und Lesebuch ausgelegt, das nicht ein anstrengendes Durcharbeiten vom Anfang bis zum Ende verlangt, sondern in dem neugierig geblättert werden kann. Die Essays des Mittelteils ähneln den Sätzen eines Konzerts, in denen ständig Haupt- und Nebenthemen in neuen Variationen erklingen. Die Komplexität einer umfassenden kulturanthropologischen Autopsie des Phänomens ‚Faustkeil‘ scheint mir nur in dieser Weise darstellbar. Die Leser bitte ich daher um Nachsicht bezüglich inhaltlicher Wiederholungen. Diejenigen, die es in üblicher Systematik mögen finden Im Teil 1, Einführungen, einen Überblick über die zeitlichen Dimensionen der Faustkeilepoche sowie Definition dessen, was Faustkeile sind. Gegen Ende der Texte, Seite xxx, finden sich nochmals Fachinformationen. Wer sich aber von den Abbildungen führen und neugierig machen lassen möchte, kann auch auf die anfänglichen Belehrungen verzichten. Anzumerken ist noch, dass in diesem Buch der Begriff der Kultur auf den Menschen bezogen wird. Ich bin davon überzeugt, dass beispielweise blattläusehaltende und -pflegende Ameisen, Bienen, alle Rabenvögel, Delphine und Wale, Elefanten, Schneeaffen und Bonobos strukturell und mental über Kulturen verfügen, die wir durchaus bemerken, aber die uns wegen der großen Andersartigkeit doch trotz ethologischer Erkenntnisse weniger komplex zu sein scheinen als unsere eigene, was aber letztlich anthropozentrischer Hochmut sein könnte.
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Vorwort
Abb. 1: Neozoikum. Um den zeitlichen Rahmen, in dem die Entwicklung der gegenwärtigen Pflanzen und Tierarten sowie zu guter Letzt auch des Menschen vor Augen zu führen und die Leser mit den wissenschaftlichen Begriffen vertraut zu machen, wird diese Tabelle vorangestellt. Wichtig ist dabei, dass unsere Zeittabellen von unten – alt – nach oben – jung – zu lesen sind. Das Tertiär ist die vorletzte geologische Epoche; das Pleistozän (auch Quartär genannt), die darauffolgende Epoche. Und heute leben wir im Holozän. Die ersten Nachweise von Leben auf unserem Planeten sind sehr viel älter und werden bei mehr als 4 Milliarden Jahren veranschlagt. Abb. 2: Das Eiszeitalter (Pleistozän) in Jahreszahlen und mit einer Klimakurve. Die genauen Positionen von Funden darin werden umso unschärfer, desto älter sie sind. Für sehr viele Artefaktvorkommen werden von der Forschung aus Vorsicht und Bedenken nur jüngst mögliche Altersangaben akzeptiert. Dabei werden Irrtümer, die auf eine außerordentlich grobe Periodisierung des Pleistozäns im 20. Jahrhundert zurückgehen, weiterhin tradiert und nur sehr behutsam korrigiert. Die meisten wichtigen Funde des älteren Paläolithikums stammen aus geologischen Stratigraphien. Aber die entsprechenden Schichten lassen sich nicht einfach von oben nach unten abzählen, weil die natürliche Abtragung dazu geführt hat, dass deren Folgen nur in den allerseltensten Fällen komplett erhalten sind. Und leider beruhen fast alle radiometrischen Datierungen auf statistischen Mittelwerten und Wahrscheinlichkeiten, in denen der sedimentbedingte Ionenaustausch oder atomare Wanderungen kaum zu berücksichtigen sind. Sie liefern daher bedingte Vorstellungen über die relative zeitliche Einordnung in einem theoretischen Chronologiegerüst. Und weil das so ist, ändern sich darin Datierungen im Laufe der Forschungsgeschichte nicht selten. Die Stratigraphie der pleistozänen Rheinterrassen könnte seit Neuem wieder zu so einer Änderung führen. Deshalb sind in Grauschrift Artefaktfunde eingetragen, die plötzlich mit den Datierungen früher afrikanischer Vorkommen in Konkordanz treten könnten. Die ebenfalls angegebene globale Erdmagnetisierung kann nur dann eine Datierungshilfe sein, wenn darin feststellbare Wechsel nicht nach Gutdünken dem einen oder anderen Ereignis – wie zuweilen geschehen – zugeschrieben werden. Hinzuweisen ist auf die Tatsache, dass vor dem Mittelpleistozän kaum richtig vollkaltzeitliche Temperaturphasen vorhanden waren, sondern durchgehend Klimabedingungen herrschten, die für Tier und Mensch erträglich waren. Darauf beruhten anfänglich auch fast konstante Bedingungen für ausgedehnte Steppen in weiten Teilen Europas und Vorderasiens. (Die Tabelle beruht auf der Grundlage von Preuss, Burger & Siegler 2015)
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Vorwort
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Teil 1 Einführung in die wissenschaftliche Thematik und Zeit der Faustkeilkultur A. Datierung, Umweltgeschichte, frühe Menschenarten Der längere Abschnitt der eigentlichen Menschheitsgeschichte fand im Eiszeitalter (Pleistozän oder Quartär) statt. Dieser geologischen Epoche ging eine allmähliche Abkühlung des Klimas im Neogen voraus, die nach Ansicht der Geologie vor etwa 2,4 Mio. Jahren (neuerdings wird auch 2,6 genannt) schließlich einen deutlicheren Wendepunkt markierte (Abb. 1). Der neue erdgeschichtliche Abschnitt zeigte sich in den heutigen tropischen Gebieten aber nicht als dramatisch kühler, sondern nur als regenreicher, so dass beispielsweise die Sahara begrünt und lebensfreundlicher war. Dagegen herrschte in Europa, dem angrenzenden Asien und Nordamerika ein eher trockenes Klima (Austrocknung des Mittelmeeres), das am Ende des Altpleistozäns zur Vereisung der nördlichen Gefilde sowie der Hochgebirge führte (Abb. 2). Skandinavische Gletscher reichten periodisch bis an das südliche England heran und bedeckten dann auch die gesamte Norddeutsche Tiefebene. Allerdings war das Quartär nicht durchgehend kalt, sondern wurde immer wieder von kürzeren Warmphasen (Interglaziale), die oft mehr als zehntausend Jahre währten, unterbrochen. Die kälteren Abschnitte (Glaziale) dauerten im frühen Eiszeitalter länger als in dessen mittlerem und jüngeren Abschnitt, waren aber noch deutlich milder und können als Zeiten ausgedehnter Steppen mit Galeriewäldern entlang der Flusstäler gesehen werden. Die Tierwelt passte sich zunächst den Gegebenheiten an, bis sich erst zum Ende des Altpleistozäns die kennzeichnende Eiszeitfauna mit „modernen“ Mammutarten, Steppenbisons, kälteadaptierten Nashörnern, Pferden und arktischen Hirschen ausbildete. Die wissenschaftliche Unterteilung des Eiszeitalters basierte im vergangenen Jahrhundert auf der Überzeugung, dass es fünf maßgebliche Kaltzeiten mit den Bezeichnungen Donau, Günz, Mindel, Riss und Würm gegeben habe. Tiefseebohrkerne und Untersuchungen von arktischen Inlandeis-Strati-
graphien zeigen aber, dass diese alte Vorstellung vollkommen überholt ist, denn mindestens 28 längere Kaltphasen und viele dazwischengeschaltete wärmere und gemäßigte Phasen bilden das tatsächlich sehr wechselvolle Klimageschehen der letzten 2,5 Mio. Jahre (Abb. 2). Es würde den Umfang des vorliegenden Werkes vollkommen sprengen, darauf einigermaßen ausführlich einzugehen. Aber so viel scheint wohl sicher zu sein, nämlich dass die Datierungen von archäologischen Fundhorizonten des älteren und mittleren Paläolithikums in der Quartärsystematik des 20. Jahrhunderts grundsätzlich alle zu überprüfen sind. Das gilt sowohl für die Messergebnisse radioaktiver Isotope und sogenannter Thermolumineszenz als auch für faunengeschichtliche, magnetostratigraphische und geostratigraphische Zeitermittlungen, die zusammen ein gemeinsames chronologisches System bildeten und damit der Gefahr unterlagen, mögliche Zirkelschlüsse zu produzieren (Abb. 220). Die bisher ältesten sicheren Datierungen für Faustkeile liegen bei knapp 2 Mio. Jahren (Abb. 2). Louis Leakey fand als Erster einige wenige, höchstens handgroße Exemplare grober Machart in der untersten Schicht der Olduvai-Schlucht in Tansania (Ostafrika). Die übrigen Funde dieser ältesten archäologischen Schicht sind ziemlich unstandardisierte Abschläge, retuschierte Splitter und behauene Gerölle. Sie werden nach der Fundgegend unter dem wissenschaftlichen Begriff Oldowan zusammengefasst. Später stellte sich in anderen Regionen Ostafrikas heraus, dass diese Oldowan-Kultur mit urtümlichen Anfängen bis etwa 2,6 Mio. Jahre zurückreicht, und die wenigen Proto-Faustkeile aus der untersten Olduvai-Schicht schon die Entwicklung zu einer neuen Epoche anzeigen. Heute wissen wir also, dass das Oldowan schon im Pliozän (der letzten Stufe des Neogens, Abb. 1), also seit gut 2,6 Mio. Jahren entstanden ist. Sein Ende wurde durch technologische Neuerungen und eine damit optimierte Lebensweise eingeleitet, 15
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für das man als grobe zeitliche Marke 1,8 Mio. Jahre nennen kann. Das ist zugleich der Zeitpunkt, an dem es wahrscheinlich erstmals in den heute gemäßigten Zonen der nördlichen und südlichen Halbkugel zu kurzfristigem Permafrost (Dauerfrost im Untergrund) oder von Gebirgen ausgehenden Vergletscherungen kam. Konnte sich in Europa zu Beginn des Quartärs nur noch ein Teil der wärmeliebenden Tierwelt, beispielsweise der Südelefant, einige Jahrhunderttausende halten, blieb Ostafrika von dem Umweltwandel zunächst wenig betroffen, so dass den dortigen Menschen noch archaische geweihtragende Giraffen (Giraffa camelopardialis), altertümliche Pferdevorgänger (Stylohipparion), das Deinotherium (Elefantenart mit kurzen, hauerartigen Stoßzähnen im Unterkiefer), der Recki-Elefant, das Chalicotherus (großer Pflanzenfresser mit langen, bekrallten Vorderbeinen) und andere befremdliche Exemplare einer im Charakter spät-neogenen Tierwelt begegneten. Fossile Reste von Vormenschen und Menschen aus Asien und Europa belegen gegenwärtig, dass unsere frühen Vorfahren nicht allein in den klimatisch sehr günstigen Savannen Afrikas existierten, sondern auch in nördlicheren Steppenzonen. Schon das wäre ein Hinweis darauf, dass die bekannte Out-of-Africa-Hypothese der Menschheit nicht im vollen Umfang Gültigkeit haben könnte. Denkbar ist gegenwärtig, dass die ursprüngliche Entwicklung zu den frühesten Homininae nicht auf das östliche Afrika beschränkt war, sondern sich auf einem großen Gebiet zwischen Südafrika und dem südwestlichen Eurasien mit einer sukzessiven und weitführenden genetischen Vernetzung abspielte. Schließlich liegen ja aus Dmanisi im Kaukasus mehrere Schädel einer sehr ursprünglichen, noch an Homo rudolfensis erinnernden Homo erectus-Art vor, die ungefähr das gleiche Alter haben, wie deren früheste Nachweise aus Afrika. Außerdem fehlen in ganz Afrika trotz guter Fossilkenntnis bisher eindeutige Funde von unmittelbaren Vorformen der Homininae. Diese scheinen vor etwas mehr als 7 Mio. Jahren aus Europa und Vorderasien nach Afrika eingewandert zu sein. Denn aus diesen Gebieten kennt man entsprechende Wesen (Dryopithecus, Danuvius guggenmosi und Graecopithecus), die lichte Wälder bewohnten und aufrecht gehen konnten. Neuerdings stieß man 16
auch auf körperliche Überreste und in versteinertem Schlamm vorhandene Fußspuren eines aufrecht gehenden Vormenschen in Südosteuropa, die dem Graecopithecus zugeordnet werden könnten und etwa 7 Mio. Jahre alt sind. Er käme möglicherweise als direkter Vorläufer sowohl von dem afrikanischen Ardipithecus und den Australopithecinen (Vormenschen, Abb. 3) als auch von darauf folgenden ersten echten Menschen in Frage. Jedenfalls ist die geographische Zone der Menschwerdung keineswegs allein mit dem Fokus auf das östliche Afrika zu suchen und hat vielleicht auch keinen geographisch genau festlegbaren Ort im Sinne einer oft genannten Wiege der Menschheit, sondern spielte sich zwischen breit gestreuten Populationen und deren sukzessivem genetischen Austausch ab. Lange galt die wissenschaftliche Überzeugung, dass der sogenannte Homo habilis (vor 3 bis 2 Mio. Jahren) in Afrika der Vorfahre aller Menschen gewesen sei. Dann aber fand man Schädel, die tendenziell sogar etwas älter waren, die aber besser in die Entwicklung zum Homo erectus passten. Sie wurden als Homo rudolfensis beschrieben (Abb. 4). Gelegentlich wird das aber wieder bezweifelt und andere Funde werden als unsere Urahnen ausgeguckt oder der Rudolfensis wird als eine progressive Art des Habilis verstanden. Für diese, verkürzt als Habilinen bezeichneten Wesen, wurden als Vorfahren die Vormenschengruppen der Australopithecinen angesehen. Deren Verbreitung scheint bisher eher auf das östliche Afrika beschränkt gewesen zu sein. Ob dieses Wissensbild aber so bleiben wird, hängt von zukünftigen Fundumständen ab. Denn morphologisch deuten die fünf urtümlichen aber schon Erectus-ähnlichen Schädel von Dmanisi, Georgien (Abb. 5–6) auch auf eine eurasiatische Entwicklung hin. Bisher herrscht eine relativ sichere Übereinkunft darüber, dass aus den frühen Australopithecinen sich schon vor 3 Mio. Jahren Individuen entwickelten, die in verschiedener Weise jeweils progressivere Gene ausbildeten. In den genetischen Verbindungen solcher Wesen entstanden dabei zwar verwandte, aber noch nicht einheitlich in die Richtung zum späteren Menschen weisende Körpermerkmale von Individuen oder Gruppen, die sich in ihren Eigenschaften und schließlich auch Daseinsweisen immer wieder veränderten oder verbanden, bis schließlich der Typ des frühen Homo erectus entstand. Aber, wie schon bemerkt, könnten
Kurze Entdeckungs- und Forschungsgeschichte
auch weitere, bisher wenig oder nicht bekannte Vor- und Urmenschenformen an diesem Prozess maßgeblich beteiligt gewesen sein. Homo erectus (s. l.) existierte von knapp 2 Mio. bis maximal 0,4 Mio. Jahren vor heute in Afrika, Asien und Europa (Abb. 7). Seine letzte Form in Europa wird als Homo heidelbergensis bezeichnet, die recht eindeutig als Vorgänger des Neandertalers Homo sapiens neanderthalensis (vor 350 000 bis 28 000 Jahren) und schließlich des heutigen europäischen Menschen verstanden werden kann (Abb. 8–11). In Asien gibt es zeitgleich eine diesbezüglich etwas andere, aber insgesamt ähnliche Entwicklung, die jedoch ohne gewisse genetische Vernetzung mit der europäischen und afrikanischen nicht verständlich ist. Wenn man diese Zeit auf eine Messstrecke übertrüge, bei der 1 mm hundert Jahre bedeuten, dann läge das Ende der Steinzeit bei 4 cm und das Ende der letzten Kaltzeit des Eiszeitalters 12 cm vom Endpunkt „Heute“ entfernt. Der anatomisch gegenwärtige Mensch träte in Europa bei rund 35 cm auf, aber die Neandertaler würden die Strecke zwischen 30 cm und 3,5 m belegen. Homo erectus (im weiteren Sinn) ginge bis 20 m weit zurück und die zuvor lebenden Australopithecinenartigen Vorfahren begännen irgendwo zwischen 40 und 70 m. Die Dryopithecinen s. l. Europas, die möglicherweise die Vorfahren der afrikanischen Australopithecinen waren, könnte man bei mehr als 200 m eintragen.
Beunruhigend ist dabei, wie kurz der scheinbar so erfolgreiche „moderne“ Mensch auf dieser Erde lebt und ob er sich halten oder gar weiterentwickeln kann. Das aber wird er nur können, wenn er seine Ressourcen an Bodenschätzen, Wasser und Holz nicht in dem Maße ausplündert, wie er es in den letzten 200 Jahren immer radikaler gemacht hat. Die gleiche Radikalität ist heute erforderlich, die verbliebene natürliche Umwelt als notwendigen Lebensraum respektvoll zu bewahren. Der eigentlich schon längst obsolete wirtschaftliche Wachstumsgedanke in unserer Gesellschaft muss dann aber zugunsten anderer Lebensziele vollständig aufgegeben werden. Hoffen wir, dass das gelingt. Anmerkung: Die in diesem Kapitel in Schrägschrift gesetzten Bezeichnungen möchten hier als eindeutige Klassifizierung von Arten und Spezies gelesen werden. Das wird in den übrigen Teilen des vorliegenden Buches nur dann wiederholt, wenn es wirklich um eine sehr klar umrissene Gattung geht. Homo erectus und Homo habilis beispielsweise haben in der Realität aber eine morphologische und vermutlich auch genetische Variationsbreite, die sie einerseits mit ihrer Abstammung und andererseits mit den sich aus ihren eigenen Populationen heraus entwickelnden Nachfahren mehr oder weniger eng verbindet, so dass die archäologischen Funde gewöhnlich keiner präzise bestimmten humanbiologisch definierten Unterart zugeschrieben werden können.
B. Kurze Entdeckungs- und Forschungsgeschichte Zufällig gefundene Faustkeile, etwa beim Kiesabbau, fielen den Menschen gelegentlich auch im Altertum und im Mittelalter wegen ihrer eigentümlichen Form auf. Man hielt sie für sonderliche Steingebilde in Gottes vielfältiger Natur, so wie auch versteinerte Muscheln oder Ammoniten Ausdruck der unerforschbaren Gedanken und des Willens des Allmächtigen zu sein schienen. Erst mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert und der Kenntnis von Steingeräte benutzenden Völkern in Amerika oder Australien setzte ein keimendes Interesse für diese merkwürdigen und offensichtlich durch Menschenhand entstandenen Objekte ein. Der erste bekannt gewordene Faustkeil stammt aus London und wurde 1690 von dem Apotheker John Conye-
ars in einer Kiesgrube gefunden und 1715 in einer Schrift mit dem Titel De Rebus Britannicus Collectanae von J. Bagford publiziert. Weil auch Knochen eines Elefantenskeletts am Fundort lagen, interpretierte man den Stein als die Spitze eines mächtigen Speeres, mit dem die alten Britannier sich gegen die Kriegselefanten des römischen Eroberers Claudius gewehrt hätten. In Belgien verkündete der Arzt und Paläontologe Ph. Ch. Schmerling zu Beginn des 19. Jahrhunderts, dass die mit den „diluvialen“ Tierknochen gefundenen Feuersteinobjekte durch Menschenhand entstanden seien und von menschlicher Existenz vor der biblischen Sintflut kündigen würden. Aber erst als der Zolloffizier Boucher de Perthes 17
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Abb. 3: Australopithecus africanus. Skizze des Schädels 71 aus Sterkfontein (Südafrika) in Seitenansicht. Am auffälligsten ist die betonte Schnauzenpartie dieses Vormenschen. Im Gegensatz zu Menschenaffen fehlen dem menschenähnlichen Gebiss die Reißzähne. Datierung: Pliozän.
Abb. 4: Homo rudolfensis. Skizze des Oberschädels KNM-ER aus Koobi-Fora (Kenia). Dieser Typus gehört mit dem Homo habilis zu den frühen Urmenschen. Im Gegensatz zu Australopithecus springt das Gebiss nicht mehr so weit vor, ist die Kalotte größer und stehen die Augen nicht mehr dicht unterhalb der höchsten Schädelstelle. Datierung: etwa Ende des Pliozäns.
Abb. 5: Dmanisi-Schädel 5, Kaukasus, Georgien. Die Skizze zeigt einen Schädel mit sehr kräftigen Überaugenwülsten, einer sehr flachen Stirn und kräftig hervortretendem Gebiss. Wohl auf Grund ihrer Datierung werden die fünf Schädel von Dmanisi dem frühen Homo erectus zur Seite gestellt. Aber sie zeigen auch sehr urtümliche Merkmale, die an Australopithecus und Homo habilis erinnern. Sie machen deutlich, dass die Entwicklung zum frühen Menschen nicht linear, sondern in einem weitmaschigen genetischen Netzwerk verlief, in dem die Individuen jeweils sehr atavistische oder zugleich auch deutlich progressive körperliche Merkmale tragen können. Kulturelle Fähigkeiten lassen sich an den Schädeln keinesfalls ablesen; das erlauben nur Artefaktfunde (die es am Fundort reichlich gibt), Schnittspuren an Jagdbeuteresten oder andere Hinweise auf die Organisation des Daseins. Umskizziert (in der ‚Frankfurter Ebene‘) nach V. Vekunia, A. D. Lordkipanidze, G. R., Rightmire et al. 2002 in Science 297, p. 85–89.
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Abb. 6: Dmanisi 5 in Rekonstruktion und Lebensbild. Umskizziert nach V. Vekunia, A. D. Lordkipanidze, G. R., Rightmire et al. 2002 in Science 297, p. 85–89. Alter: frühes Altpleistozän.
Abb. 7: Homo erectus LH 18, Laetoli, Tansania, Skizze des Oberschädels in der Position der sogenannten Frankfurter Ebene. Man erkennt den krassen Unterschied zu Dmanisi. Die Augenhöhe befindet sich schon unterhalb des Oberen Drittels der Gesamthöhe. LH 18 ist allerdings auch einer der jüngsten Vertreter der Erectusgruppe, doch auch sehr ähnlich anderen afrikanischen Funden, wie dem von Nariakotome, der mindestens 500 000 Jahre früher einzuordnen ist. Alter: frühes Mittelpleistozän
Abb. 8: Unterkiefer des Homo erectus heidelbergensis. Die Datierung dieses Fundes beruht im Wesentlichen auf der Grundlage von Faunenvergleichen, die trotz allen Bestrebens nur eine ungefähre Altersangabe zulassen. Da man an seiner Fundstelle in der Sandgrube von Mauer bei Tiefbohrungen nicht auf erhoffte paläomagnetische Hinweise stieß, wurden die ‚Unteren Maurer Sande‘ simpel jünger als das Matuyama-Brunhes-Ereignis eingeordnet. Nach diesen Bemühungen publizierte man für Mauer ein Alter von wahrscheinlich gut 600 000 Jahren.
zwischen 1840 und 1860 aus Abbeville Faustkeile (Abb. 14) aus Schichten, in denen auch Knochen einer altertümlichen quartären Tierwelt zu finden waren publizierte, entstand eine größere wissenschaftliche Aufmerksamkeit und heftige Diskussion, in der sich schließlich die Überzeugung durchsetzte, dass diese Artefakte tatsächlich frühe Zeugnisse einer primitiven Kultur vor oder direkt nach dem „Diluvium“ (der Sintflut-Zeit), im späte-
ren Verständnis dem Eiszeitalter, gewesen sind. 1879 stellte dann der französische Archäologe Gabriel de Mortillet das „Acheuléen“ – benannt nach dem Fundort St. Acheul an der Somme – in den Beginn seiner allseits anerkannten Steinzeitgliederung (Foto 1). Schon vor ihm veröffentlichte Sir John Evans 1860 in der englischen Publikationsreihe Archaeologica paläolithische Steingeräte und schloss sich dann 1897 in seinem umfassenden 19
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Abb. 9: Oberschädel der ‚Frau von Steinheim‘. Morphologisch gehört dieser Fund schon in die Nähe der archaischen Sapienstypen. Allerdings könnte er, wenn er zweifelsfrei weiblich ist, ebenso dem späten Homo erectus nahestehen, weil die oft sehr unterschiedliche Gestalt des Schädels geschlechtsabhängig sein kann. Die provisorische Rekonstruktion des Kopfprofils weist auf einen relativ modernen Menschen hin. Das Alter des Fundes ist mittelpleistozän und dem jüngeren Acheuléen zur Seite zu stellen. (Schädel skizziert nach Alfred Czarnetzki in Hj. MüllerBeck, Urgeschichte von Baden-Württemberg, Stuttgart 1983; Rekonstruktionsskizze: L. Fiedler.)
Abb. 10: Neandertaler aus Ehringsdorf (oben) und LaChapelle-aux-Saints (unten). Zunächst sind diese beiden Männerschädel sehr ähnlich, aber der Ehringsdorfer wirkt „moderner“, weil er eine rundere Kalotte und ein weniger spitzes Gesicht hat, während der von LaChapelle alle Merkmale des typischen Neandertalers extrem vertritt. Allerdings liegen mindestens 150 000 Jahre zwischen den beiden, da Ehringsdorf viel älter ist und aus der vorvorletzten Warmzeit stammt, und der französische Fund aus der letzten Kaltzeit. (Ehringsdorf umgezeichnet nach E. Vlček 1991)
Werk Ancient Stone Implements den Gedanken Mortillets an. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wuchs dann das Interesse, genauere geologische Datierungen und eine mögliche wissenschaftliche Gliederung des älteren Paläolithikums zu erlangen. Das Bekanntwerden von Faustkeilen aus Europa, ganz Afrika und Indien verband sich nun mit den mitt-
lerweile entdeckten fossilen Skelettresten urtümlicher Menschen des Eiszeitalters aus den verschiedensten Fundorten der Welt. Besonders die Hypothese von H. L. Movius, nach der es einen sogenannten Faustkeilkreis in Afrika und Westeuropa sowie einen faustkeilfreien Abschlag- und Chopper-Kreis in Osteuropa und Asien gegeben habe, fand lange nachwirkende Anerkennung.
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Abb. 11: La Ferrassie, Schädel des Mannes in der ‚Frankfurter Ebene‘. Warum gerade dieser Schädel in vielen Veröffentlichungen als klassischer Neandertaler zu finden ist und auch Svante Pääbo ihn im Foto wissend lächelnd präsentiert, so ist das nicht unbedingt einleuchtend, denn „klassisch“ ist er keineswegs, sondern eher rätselhaft. Denn ihm fehlen das abgerundete Kinn und das spitze Gesicht. Sein Schädel gleicht dagegen haargenau dem des Ministers C. M. de Talleyrand (1754–1838), der ja wahrscheinlich ein „moderner“ Homo sapiens war (mündliche Information einer kompetenten französischen Gerichtsanatomin). Sind die Ferrassie-Gene schon auf Denisova-Merkmale untersucht worden? Es wäre vielleicht interessant. Wäre das Skelett dieses Mannes in der Umgebung von Brno (Brünn) in einem Grab aus der Zeit des jungpaläolithischen Ostgravettien gefunden, wäre er zweifellos nicht als Neandertaler identifiziert worden. La Ferrassie (Abri), Dordogne (Graphisch verändert nach J.-L. Heim in Delporte 1984)
Als wichtigste Entdeckung darf die 1951 von Louis S. B. Leakey und seinen Mitarbeitern veröffentlichte Schichtenfolge der Olduvai-Schlucht in Tansania mit einer stratigraphisch einzuordnenden Sequenz von Artefakten gelten, die sich radiometrisch zwischen fast 1,8 und 0,3 Mio. Jahren datieren ließen (Abb. 13). Auf Grund dieser weit zurückreichenden Datierungen galt es nun als sicher, dass der Ursprung der menschlichen Kulturentwicklung nicht in Europa lag, sondern in den tropischen Savannenzonen Afrikas und dort auf ein bisher nicht andeutungsweise geahntes Alter zurückging. Die Idee des afrikanischen Ursprungs trug in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts dazu bei, die Zeit des in Europa vorhandenen Paläolithikums (Altsteinzeit) auf maximal 600 000 Jahre beschränken zu wollen. Obwohl es dagegen gut begründbare Argumente gab, war dieser Gedanke trotzdem sehr erfolgreich. Erst mit den Entdeckungen von Atapuerca und Orce in Spanien, Ceprano in Italien oder
Dmanisi im Kaukasus änderte sich diese einschränkende Vorstellung zögernd. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeigten dann die Fundstellen von Pakefield und Happisburgh in England endgültig, dass der Mensch schon vor knapp 1 Mio. Jahren auch in gemäßigt kalten Klimaphasen weit nördlich der Alpen anwesend war. Artefakte aus altpleistozänen Rheinablagerungen lassen sich neuerdings sogar auf weit über 1 Mio. Jahre datieren. Die Datierungsdebatte hat damit eine zu erwartende und folgenreiche Wende gefunden. Die neueren Erkenntnisse werden sich durchsetzen. Danach wird es notwendig sein, sich vermehrt den eigentlichen kulturanthropologischen Bedeutungen des archäologischen Fundmaterials zuzuwenden und es auf die generellen Aspekte der kulturellen Entwicklung und Leistungen zu befragen. Denn die bedeutsamste Aufgabe der Urgeschichtsforschung liegt letzten Endes darin, die Anfänge und Eigentümlichkeiten menschlichen Daseins und Handelns besser zu verstehen.
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Teil 1: Einführung in die wissenschaftliche Thematik und Zeit der Faustkeilkultur
Abb. 12: Chopping-tool, Garusi-Quellgebiet (Tansania, Laetoli-Region, 743 904/964 6617, Thomas Kaiser). Obere Ndolanya Beds. Das aus Vulkanit hergestellte Objekt ist wahrscheinlich kein bloßer Kern zur Abschlaggewinnung gewesen, weil seine Schneide volumensymmetrisch einem massiven Talon gegenüberliegt und einige formgebende Nachbearbeitungsabhiebe erkennen lässt. Nach Ansicht der meisten Fachleute gehören derartige Artefakte zu den ältesten systematischen (und daher gut identifizierbaren) Steingeräten der Menschheit. Alter um etwa 2,5 Mio. Jahre. (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 13: Chopping-tool aus dem unteren Bed 2 der Olduvai-Sequenz. Geräte dieser Art gehören zu den charakteristischen Formen des Oldowan, der bisher ältesten Tradition mit systematisch erzeugten Werkzeugtypen. Alter etwa bei knapp 1,7 Mio. Jahren. (Zeichnung: L. Fiedler).
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Kurze Entdeckungs- und Forschungsgeschichte
Abb. 14: Faustkeil, biface à dos, älteste Somme-Terrasse bei Abbeville, Nordfrankreich. Der Zolldirektor Boucher de Perthes entdeckte schon im frühen 19. Jahrhundert in der höchsten Somme-Ablagerung Faustkeile zusammen mit Knochen des Elephas meridionalis und des frühen Elephas trogontherii, die in dem gemeinsamen Vorkommen einen guten Anhalt für eine Datierung um 1,5 Mio. Jahren liefern. Die Faustkeile wurden zunächst als äußerst primitiv angesehen und galten als Produkte einer vor dem eigentlichen Acheuléen liegenden Stufe der Faustkeilkultur. Nach afrikanischen Vergleichen stehen sie zwar nicht am Anfang dieser Tradition, sind aber tatsächlich voll altpaläolithisch. Das hier abgebildete Exemplar aus der Sammlung des Museums in Brünn hat eine bevorzugte Schneide und einen gegenüberliegenden Rücken, so dass es innerhalb des Faustkeilspektrums als ‚bifacial knife‘ oder Faustkeil mit Rücken zu benennen ist. Diese spezielle Form zeigt, dass auch die relativ summarisch behauenen Werkzeuge doch einem festen gedanklichen Kanon unterlagen und keine wild erzeugten Produkte ohne verwendungsbedingte Gestaltgebung waren. (Skizze: L. Fiedler)
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Abb. 15: Faustkeil von schlank-lanzettförmiger Gestalt aus Jaspis. Faustkeile dieser Art galten lange als die Werkzeuge des Acheuléen schlechthin. Auch in Lehrbüchern und populären Abrissen über die Urgeschichte finden sich vornehmlich Abbildungen dieser Art, so dass sich vielfach der allgemeine Eindruck eingeschlichen hat: So sieht der typische Faustkeil aus. Es ist aber nur eine der vielen Formen derartiger Geräte im Jungacheuléen (vergleiche auch Foto 139). ‚Western Dessert‘, nahe der Grenze zu Libyen, Ägypten, (Zeichnung: Beate Kaletsch).
C. Beschreibung der Faustkeilgestalt und deren besondere Merkmale Faustkeile sind aus Gesteinsstücken durch das kantennahe Abhauen zahlreicher flacher Scherben, die in der Fachsprache als Abschläge bezeichnet werden, geformt worden. Das dafür erforderliche Rohstück (Ausgangsform oder Grundform) kann beispielsweise ein größeres flaches Geröll, eine Felsgesteinplatte, eine Flintknolle oder ein zu diesem Zweck extra vorgefertigter voluminöser Abschlag sein. Die Ober- und Unterseite eines Faustkeils, also seine beiden Flächen, sind von leicht muldenförmigen Absprungspuren der weggeschlagenen Abschläge, den sogenannten Negativen, bedeckt (Abb. 15 und Fotos 2–8). Bei sehr alten Faustkeilen reichen diese oft nicht über die gesamte Oberfläche der Geräte (Abb. 19–22, Foto 15). Die jüngeren, entwickelteren Faustkeile tragen gewöhnlich flächenüberdeckende Negative und eine feine Kanten24
bearbeitung (Retusche), die durch sorgsames Behauen mit einem Schlagobjekt aus Geweih, Knochen oder auch Hartholz erzeugt wurde. Derart gestaltete Schneiden zeigen im Gegensatz zu denen der frühen Faustkeile einen beabsichtigt geraden, nur sehr leicht gewellten Verlauf (Abb. 24–26). Die Größen der Faustkeile schwanken gewöhnlich zwischen 6 und gut 25 cm Länge und 4 bis 12 cm Breite. Gelegentlich kommen aber auch Faustkeilchen weit unter 6 cm Länge vor (Foto 118). Abweichend von der beschriebenen Hauptart gibt es einerseits spitze Faustkeile mit massiven Querschnitten, deren Kanten keine besonders schneidende Funktion hatten (Abb. 30–31) und andererseits Faustkeile, die nicht in einer Spitze, sondern in einer breiteren Schneide enden (Abb. 32–37 und Foto 9). Die ersteren werden Pics (eine aus dem Französischen stammende Bezeichnung) und
Beschreibung der Faustkeilgestalt und deren besondere Merkmale
Foto 1: Kleiner Faustkeil (116 x 73 x 32 mm). Die Fundstelle im Stadtbereich von St. Acheul an der nordfranzösischen Somme hat durch ihren Bearbeitet Victor Commont wissenschaftliche Berühmtheit erlangt. Aber nicht alle gefundenen Artefakte des im Terrassenlehm quasi in situ befindlichen ‚Atelier Commont‘ sind in öffentliche Museen gelangt. Der vorliegende kleine Faustkeil wurde später durch den deutschen Archäologen Karl Brand erworben, nach seinem Tode von H. Quehl gekauft und später mir überlassen. Stratigraphisch befindet sich die Fundschicht unterhalb des Jungacheuléen und wird auch formaltypologisch wegen völligen Fehlens der Levallois-Technik als ein älteres Acheuléen verstanden. Der kleine annähernd ovale Faustkeil ist in summarischer Steinschlagtechnik erzeugt worden und hat einen kantigen, nur teilweise überarbeiteten Talon. St. Acheul, Atelier Commont, NW-Frankreich.
die letzteren Cleaver (englisch für Spaltkeil) genannt. Die Form, besser der Umriss eines gewöhnlichen Faustkeils, kann allgemein als mandel- bis herzförmig beschrieben werden, aber es gibt zahllose Varianten, die von gestreckt tropfenförmig über elliptisch bis zu schlank dreieckig oder sogar rund reichen (Abb. 15–41. Die seitlichen Kanten sind scharf, während das der Spitze gegenüberliegende untere Ende (der Talon) meistens massiv, weniger scharfkantig oder oft auch naturbelassen ist. (beispielsweise Foto 1, St. Acheul, ‚Atelier Commont‘).
Nur ausnahmsweise werden völlig frisch erhaltene Faustkeile gefunden; die meisten sind patiniert und besitzen deshalb eine helle Oberfläche, deren Färbung von der ursprünglichen des Ausgangsmaterials abweicht (Foto 1). Zusätzlich können sie aber auch mit Bodensubstanzen, vor allem Metalloxyden, imprägniert sein, so dass die Geräte viel dunkler als ursprünglich aussehen. Auch Biomineralisation kann ihre Oberfläche verändern, wie beispielsweise der sogenannte Wüstenlack, der schokoladenbraune bis schwarze Oberflächen bildet. Funde aus eiszeitlichen Flussablagerungen sind 25
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Foto 2: Mandelförmiger Faustkeil aus körnigem Feuerstein mit der größten Breite etwa in der Mitte seiner Längsachse. Soissons sur Aisne, NE-Frankreich.
Foto 3: ‚Limande‘, annähernd ovaler Faustkeil mit flachem Querschnitt. ‚Limandes‘ fehlt stets eine deutliche Spitze. Charente, SW-Frankreich.
durch den Wassertransport verschliffen und poliert worden, so dass die Kanten der Geräte verrundet sind und die Oberflächen Glanz tragen (Foto 10). Manche Faustkeile sind auch durch Windschliff
poliert worden. Dann ist ihre Oberfläche oft von zahllosen kleinen Grübchen bedeckt, die durch Ausblasung entstanden sind (Foto 7).
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Abb. 16: Ovaler (elliptischer) Faustkeil. Dieser Typ kommt am häufigsten im mittleren Acheuléen vor. Die Bearbeitung ist meistens sorgfältig und möglichst flachmuschelig. Die im Querschnitt relativ flache Variante wird in der französischen Terminologie als Limande (also Seezungen-gestaltig) genannt. Erg Murzuk S-Libyen (Zeichnung: Beate Kaletsch).
Abb. 17: Gestreckter massiver Faustkeil. Die meisten dieses Typus sind relativ grob bearbeitet und haben die größte Breite nicht an der Basis (‚Talon‘), sondern im unteren Drittel bis zur Hälfte der Gesamtlänge. Es sind kennzeichnende Formen des Altacheuléen. Djebl Bani, Südmarokko (Zeichnung: L. Fiedler).
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Abb. 18: Gestreckter massiver Faustkeil. Grabungsfund durch Thomas Kaiser. Dieser Typus ist auch unter den Funden von Abbeville vertreten und kommt im Tarn-Garonne-Bereich Südfrankreichs öfters vor. In Deutschland ist er unter den Funden von Ziegenhain „Reutersruh“ und Münzenberg vorhanden: Altacheuléen. Makuyuni, Tansania (Zeichnung: Beate Kaletsch).
Abb. 19: Faustkeil mit spitz zulaufendem Distalbereich und grober Kantenbearbeitung, Typ ‚Ficron‘. Die meisten Ficrons haben einen massiven Talon und nur partiell eine flächenübergreifende Bearbeitung. Oft kommen erhaltene Kortexflächen des Ausgangsmaterials vor. Formal stehen Ficrons den ‚Gestreckt massiven Faustkeilen‘ nahe. Überhaupt sind Übergangsformen zwischen den Faustkeiltypen eher die Regel als die Ausnahme. Erg Amguid-W, Zentralalgerien (Zeichnung: L. Fiedler).
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Abb. 20: Massiver spitzer Faustkeil, Ficron. Dieser altpaläolithische Faustkeil hat einen unbearbeiteten, sehr kräftigen Talon und ist beidflächig mit etwa 25 größeren Abhieben sowie einigen zusätzlichen kleineren Retuschen gestaltet worden. Dabei blieben im unteren Bereich Kortexreste oder Spaltflächen der Ausgangsform stehen. Bifaces dieser Art gehören auch im westeuropäischen Acheuléen zu den stratigraphisch frühen Formen. Amguid-W, Zentralalgerien (Zeichnung: Beate Kaletsch).
Abb. 21: Birnenförmiger Faustkeil. Diese Form ist zwar nicht übermäßig häufig, kommt aber besonders in Nordafrika an allen größeren Fundplätzen des älteren Acheuléen vor. Immer gibt es eine deutlich abgesetzte, verbreiterte Spitze am sonst sehr schlank zulaufenden distalen Teil Bereich des Werkzeugs. Ob die vorhandene Einschnürung durch die spezielle Verwendung entstanden ist, oder ob sie eher intentional angelegt wurde, ist nicht vollends erklärbar. Eine bloße Hypothese wäre, dass so eine besondere Faustkeilform zum Töten und Ausweiden großer Schildkröten gedient haben könnte. Erg Amguid-W, Zentralalgerien (Zeichnung: L. Fiedler).
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Abb. 22: Gedrungener, dreieckiger Faustkeil mit gerader Basis aus plattigem Quarzit. Dass nicht alle dreieckigen Faustkeile aus dem Mittelpaläolithikum stammen, belegt auch das Inventar aus dem ‚Atelier Commont‘ an der Somme, das als älteres Acheuléen klassifiziert wird und neben Faustkeilen ovaler Form und Ficrons auch mindestens ein derartiges Exemplar beinhaltet. Das hier vorgelegte Stück ist mit ‚hartem Schlag‘ bearbeitet und hat eine zungenförmige Spitze. Münzenberg, Zentralhessen (Zeichnung: Beate Kaletsch).
Abb. 23: Herzförmiger Faustkeil mit leicht gewölbter Dorsalfläche. Die Grundform des Gerätes war ein großer Abschlag. Die Bearbeitung erfolgte rundherum mit einem ‚weichen‘ Schlagobjekt aus Geweih oder Knochen, so dass alle Negative der abgespaltenen Abschläge wenig konkav sind und flächengreifend über die beiden Seiten verlaufen. Dieser Typ erscheint erstmals im Jungacheuléen und ist später sowohl eine Leitform des Moustérien de tradition acheuléenne (MTA) als auch des mitteleuropäischen Mittelpaläolithikums mit Keilmessern und massiven Blattspitzen. Wahlen, Zentraldeutschland (Zeichnung: L. Fiedler).
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Abb. 24: Herzförmiger Faustkeil mit unbearbeitetem Talon. Diese Form ist eine oft vorkommende Variante der herzförmigen Faustkeile. Sie kommt im gesamten Acheuléen vor und ist sogar bis zum Ende des Mittelpaläolithikums zu finden. Anfangs grob gestaltet, sind die jüngeren Vertreter meisten sorgfältig auf beiden Flächen überarbeitet und auch der Talon ist oft scharfkantig gestaltet, so dass anzunehmen ist, dass dann auch diese untere Kante einem Nutzungssinn unterlag. Mittelpaläolithikum von Wahlen, Zentraldeutschland (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 25: Dreikantiger Faustkeil mit konvexer Basis. Faustkeile dieser Art sind in Hessen nicht selten und am Fundort des hier vorgestellten Exemplars sogar häufig geborgen worden. Sie gelten deutschen Archäologen als Elemente der sogenannten Keilmessergruppen, die sowieso eine große Ähnlichkeit vieler Geräteformen mit dem westeuropäischen MTA erkennen lassen. Lenderscheid, Zentraldeutschland (Zeichnung: Hannelore Bosinski, überarbeitet L. Fiedler).
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Teil 1: Einführung in die wissenschaftliche Thematik und Zeit der Faustkeilkultur
Abb. 26: Dreieckiger Faustkeil mit gerader Basis. Viele (nicht alle) dieser Faustkeile weisen jeweils auf einer ihrer Flächen größere flache Bearbeitungsnegative auf als auf der gegenüberliegenden Fläche. Das rührt vom Herstellungsprozess her, weil die Grundform zuerst auf dieser Fläche fertiggestellt wurde und dann anschließend die zweite, die auch an beiden Kanten die Spuren der letzten formgebenden Nachbearbeitung trägt. Werkzeuge dieser Art kommen im Jungacheuléen und vor allem im Mittelpaläolithikum vor. Die weitverbreitete Überzeugung ist aber, sie seien kennzeichnende Formen des Moustérien de tradition acheuléenne (MTA). Charente (umgezeichnet nach Airvaux 2004).
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Abb. 27: Bootsförmiger Faustkeil. Bei diesem Typ ist in den meisten Fällen eine Seite flach gehalten und die andere aufgewölbt, teilweise dachförmig. So scheint es, als habe man einen ursprünglich ‚barrenförmigen Kern‘ in einen gut bearbeiteten Faustkeil verwandelt. Diese Form gibt es fast nur aus dem älteren Acheuléen (vielleicht als Varianten der Limandes). Im Mittelpaläolithikum gibt es eine beidendig spitze Variante der Doppelschaber (limace), die ebenfalls eine bearbeitete Ventralfläche haben kann und damit eine gewisse Ähnlichkeit zu den bootsförmigen Faustkeilen zeigt, aber deutlich kleiner und fragiler ist. Ziegenhain „Reutersruh“ (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 28: Massiver doppelspitzer Faustkeil. Derartige Formen begegnen dem Betrachter nur in altpaläolithischen Inventaren. Es sind gleichsam zwei gestreckte massive Faustkeile an einem Ausgangsmaterial. Ob solche Werkzeuge vorausdenkend im Falle der Beschädigung einer Spitze gemacht worden sind, ist fraglich. Vorstellbar ist eher, dass eine günstig gestreckte Grundform die Verwirklichung des spitzen Gerätes in doppelter Ausführung schlichtweg nur gestattete. Denn dass der Talon bei vielen gestreckten Faustkeilen sowieso spitz gearbeitet war (vergl. Makuyuni, Abb. 18), hatte wahrscheinlich weniger mit einer geplanten Verwendung des unteren Endes zu tun, sondern mit dem bifaciellen Zurechthauen eines schlanken rhombischen Querschnitts an einer gestreckten Ausgangsform. Erg Amguid-W, Zentralalgerien (Zeichnung: L. Fiedler).
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Teil 1: Einführung in die wissenschaftliche Thematik und Zeit der Faustkeilkultur
Abb. 29: Dreikantiger Faustkeil, Trieder. Man könnte annehmen, derartige Faustkeile haben nur deshalb einen dreikantigen Querschnitt, weil sie bei der recht groben Bearbeitungsweise des Altacheuléen zu dick geraten waren und aus diesem Grund mit von seitlich geführten Abhieben dünner gemacht werden sollten. Und in der Tat finden sich bei vielen dicken Faustkeilen auch derartige Spuren, die auf die Beseitigung störenden Materials hinweisen (vergl. den Verdünnungsschlag in der linken Seitenansicht des faustkeilförmigen Geräts in Abb. 62). Allerdings sind viele triedrische Faustkeile des Altacheuléen sorgfältiger bearbeitet als andere Bifaces im Faustkeilspektrum. Die Anzahl der Bearbeitungsnegative ist oft ungewöhnlich hoch – wie auch bei dieser Zeichnung zu erkennen ist. Also waren viele Trieder besondere Geräte, die in der Seitenansicht nicht selten die Silhouette eines Marabukopfes haben, dessen Schnabel ein leicht gekrümmter ‚Pic‘ ist (französischer Begriff im Gegensatz zum englischen Pick, der auch für mesolithische Spitzgeräte gilt). Amguid-W, Zentralalgerien (Zeichnung: L. Fiedler).
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Abb. 30: Pic, der aus einem länglichen Quarzitgeröll gefertigt worden ist. Der Form nach ähnelt das Gerät dem ‚gestreckten massiven Faustkeil‘, ist allerdings nur einflächig behauen. Der harte Kortex der Ausgangsform machte eine beidflächige Bearbeitung nicht notwendig, weil sich schon so eine stabile und scharfe Schneide an beiden Kanten des Pics ergab. In den Verbreitungsgebieten der Faustkeilkultur sind solche ‚Unifaces‘ überall dort vertreten, wo entsprechender Werkstoff zur Hand war. Pics sind so ein elementarer Bestandteil des frühen und mittleren Acheuléen. St. Lys, Garonnebecken, S-Frankreich (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 31: Pic aus einem Abschlag. Pics als einfachste Formen des Faustkeilspektrums sind teilweise auch aus großen Abschlägen realisiert worden. Sie alle dienten Zwecken, in denen es vor allem auf die Funktion als Spitzhacke ankam, bei der schneidende Längskanten weniger erforderlich waren als bei gewöhnlichen Faustkeilen. Das abgebildete Artefakt lag in einer kleinen Konzentration von ausschließlich altpaläolithischen Geräten. Assedjrad, SW-Algerien (Zeichnung: L. Fiedler).
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Teil 1: Einführung in die wissenschaftliche Thematik und Zeit der Faustkeilkultur
Abb. 32: Biface-Cleaver oder Faustkeil mit „entenschnabelförmigem“ Arbeitsende. Den Begriff des „Entenschnabels“ (duck bill biface) hatten die Verfasser der ersten Publikation über die Funde von Ternifine in Nordalgerien benutzt. In der französischen Typologie wurde dafür der Begriff „flaschenförmig“ (lagéniforme) benutzt, der ebenso sperrig ist. Denn eigentlich sind es mit ihren endständigen breiten Schneiden Werkzeuge mit der Funktion von Cleavern. Könnte man nicht sagen „Biface-Cleaver mit abgesetzter Schneide“? Es sind Formen, die im frühen und mittleren Acheuléen Afrikas und Westeuropas vorkommen, im Jungacheuléen aber fehlen. Das abgebildete Exemplar kommt aus dem Altacheuléen von Amguid-W in Zentralalgerien. (Zeichnung: Beate Kaletsch und L. Fiedler).
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Abb. 33: Faustkeilförmiger Cleaver. Dieser Typus ist meistens auf der Grundlage eines großen Abschlags gefertigt worden, der entweder den späteren Umriss schon vorgibt (wie im Fall des abgebildeten Werkzeugs) oder bei dem die langovale Form mit kräftigen Abhieben erzeugt worden ist. Diese Geräte waren nicht das Resultat zufälliger oder nachlässiger Gestaltung, wie es sie oft zwischen den einzelnen Faustkeiltypen gibt, sondern beabsichtigte Funktionsträger. Ihr zeitlicher Schwerpunkt liegt im Altacheuléen. Erg Amguid-W, Zentralalgerien (Zeichnung: Beate Kaletsch und L. Fiedler).
Abb. 34: Cleaver aus einem Kortex-Abschlag. Vor der Gewohnheit, für die Herstellung von Faustkeilen und Cleavern in aufwendiger Weise große Abschläge als Grundformen zu produzieren, wurden Cleaver aus einfachen Abschlägen gemacht. Allerdings wurde dieses Verfahren auch viel später noch angewendet, wenn landschaftlich bedingt keine Grundlagen der eleganteren Abschlagproduktion aus Felsgestein vorhanden waren. Aber das allgemeingültige Prinzip des Cleavers wird gerade an diesen einfachen Geräten am deutlichsten: Aus einem Abschlag wird ein scharfendiges Werkzeug gemacht, indem zwei gegenüberliegende Kanten behauen, dazwischen aber ein Teil des Abschlagrandes unbearbeitet stehen gelassen wird (übrigens auch das Prinzip von Scheibenbeilen im Mesolithikum des nördlichen Europas). Das hier vorgestellte altpaläolithische Gerät wurde bei Campsas, Garonnebecken, S-Frankreich, gefunden (Zeichnung: L. Fiedler).
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Abb. 35: Cleaver mit schmaler Schneide. Die Grundformen der meisten Cleaver sind große, gezielt produzierte Abschläge, seltener flache Gerölle oder Gesteinsplatten. Die Abschläge boten den Vorteil, dass eine vorgesehene scharfe Schneide schon vorproduziert war und nicht in Biface-Technik angelegt werden musste und dabei weniger effektiv zu nutzen war. Die meisten Cleaver mit schmalen Schneiden besitzen auch beidkantig scharfe Funktionszonen, so dass diese Geräte sowohl formal als auch in der Verwendung den gewöhnlichen Faustkeilen nahestehen. Das abgebildete Exemplar ist aus einem Kombewa-Abschlag gemacht worden und kommt aus dem Altacheuléen von Amguid-W. (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 36: Cleaver. In Gegenden, wo brauchbares Rohmaterial als anstehender Fels zugänglich war, bestand die Möglichkeit, sehr große Abschläge als Grundformen für die Herstellung von Faustkeilen und Cleavern zu gewinnen. Das geschah hauptsächlich auf zwei Wegen: Die Kombewa-Technik und die Tabelbala-Tachenghit-Technik. Letztere wurde erst im späten Altacheuléen entwickelt, während erstere früher in Erscheinung tritt (Erklärung dieser Techniken auf Seite 139). Der hier vorgestellte Cleaver ist aus einem – verkürzt – Tabelbala-Breitabschlag gemacht worden und gehört zu Funden des mittleren Acheuléen. Erg Mhredjibad, NW-Algerien (Zeichnung: L. Fiedler).
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Abb. 37: Cleaver mit schräger Schneide. Diese Geräte waren sehr effektiv für die Zerlegung von Fleisch erbeuteter Großsäuger und wurden schon vorbereitend für Jagdzüge produziert, weil das dafür benötigte Rohmaterial selbstverständlich nicht an jedem Ort zur Verfügung stand, an dem ein Elefant oder Nashorn seinen Verletzungen erlag. Auf unseren Expeditionen beobachteten wir Cleaver auf Reg-/Serir-Flächen (Kieswüsten) die teilweise über 100 km von Felsgesteinvorkommen entfernt lagen. Der abgebildete Cleaver wurde aus einem Kombewa-Abschlag hergestellt. Altacheuléen von Amguid-West, Zentralalgerien (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 38: Faustkeilmesser (bifacial knife). Eine besondere Art von Faustkeilen sind die mit einer zumeist unilateral, schaberartig behauenen/retuschierten Kante. Diese Faustkeile wurden grundsätzlich aus Abschlägen hergestellt. Zugleich erklären sie auch, warum der eigentliche Typ ‚Schaber‘ in Inventaren des älteren Acheuléen oft nur in einem geringen Anteil oder überhaupt nicht vorhanden ist. Man könnte sagen, er versteckt sich in Faustkeilen dieser Art, bei der eine scharfe Schaberkante eingeplant worden ist. 39 Amguid-W, Zentralalgerien (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 39: Faustkeil mit Rücken (biface à dos). Eine weitere Form der als Messer gedachten Faustkeile sind die mit steil behauenem oder kortexbelassenem Rücken. Sie kommen schon im Altacheuléen vor (vergl. Abb. 14). Zu einer besonders häufigen, manchmal ausschließlichen Produktion kam es erst im Mittelpaläolithikum Nordafrikas und des kontinentalen Europas in Form der ‚Keilmesser‘. Gafsa-NW, Tunesien (Zeichnung: Beate Kaletsch).
Abb. 40: Faustkeil aus Abschlag. Im strengen Sinn ist das kein Typ, weil Faustkeile prinzipiell auch aus Abschlägen gefertigt wurden. Doch nicht selten ist bei günstig gelungener Grundform ein großer Teil der Ventralfläche unbearbeitet belassen worden. Man kann also nicht davon ausgehen, dass unsere frühen Vorfahren Faustkeile quasi zwanghaft in kompletter Biface-Technik ausgeführt haben, wenn die Voraussetzung für die Gestalt eines brauchbaren Faustkeils schon in der Grundform vorlag. Das hier vorstellte Beispiel gehört zum (frühen) Mittelpaläolithikum und kommt aus Wahlen in Hessen (Zeichnung: L. Fiedler).
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Beschreibung der Faustkeilgestalt und deren besondere Merkmale
Abb. 41: Bifacoid. Zum Spektrum dieser faustkeilartigen Geräte gehören spitze oder zungenförmige Chopping-tools (wie das abgebildete Beispiel), faustkeilförmige Kerne und gedrungene Pics mit unklarer Intentionalität. Im Protoacheuléen von Souk-el-Arba-du Gharb gibt es sie so häufig, dass es berechtigt ist, festzustellen, dass sie an der Schwelle der Entwicklung zu den späteren Faustkeilen stehen (vergl. Abb. 98 und 107 und Foto 47). Festzuhalten ist jedoch, dass sie gelegentlich auch bis zum Mittelpaläolithikum noch vorkommen können. Münzenberg, Mittelhessen (Zeichnung: Beate Kaletsch).
Foto 4. Herzförmiger Faustkeil mit konvexen Kanten. Die größte Breite liegt im Bereich des Talons. Erg Issaouane, SW-Algerien.
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Teil 1: Einführung in die wissenschaftliche Thematik und Zeit der Faustkeilkultur
Foto 5: Gestreckter Faustkeil mit zungenförmiger Spitze; Variante der lanzettförmigen Faustkeile. Erg Ubari, S-Libyen.
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Foto 6: Lanzettförmiger spitzer Faustkeil. Seine größte Breite liegt im Bereich des Talons. Murzuk-Wüste, S-Libyen.
Beschreibung der Faustkeilgestalt und deren besondere Merkmale
Foto 7: ‚Entenschnabel‘- Faustkeil. Diese gelegentlich vorkommende Form hat immer deutlich konkave Kanten, eine davon abgehobene breitschneidige „Spitze“ und einen massiven Talon. Garat Khanfoussa, Zentral-Algerien.
Foto 8: Faustkeil mit distaler Schneide. Manche dieser Typen ähneln den ‚Entenschnabel‘- Faustkeilen und haben einen deutlich abgesetzten, breiteren Talon; andere sind annähernd parallelkantig und tragen oft eine massive Schneide (diese werden auch als BifaceCleaver oder oblong picks bezeichnet). Erg Mhredjibad, W-Algerien.
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Foto 9: Cleaver. Cleavertypen lassen meistens auf beiden Flächen ihre Herstellung aus großen Abschlägen erkennen, deren eine – zumeist nicht weiter retuschierte – Kante die Schneide bildet. Sie können an den Längskanten einfache oder gezähnte Bearbeitung aufweisen oder dort auch nach echter Faustkeilmanier bifaciell retuschiert sein. Das abgebildete Exemplar aus dem Jungacheuléen ist auf diese Weise realisiert worden und zeigt damit die technologische Nähe zu den eigentlichen Faustkeilen. Murzuk-Wüste, S-Libyen.
Foto 10: Pic. Die französische Bezeichnung Pic bezeichnet urtümliche Faustkeile, bei denen es mehr auf eine herausgearbeitete Spitze ankam als auf gut schneidende Längskanten, deren Wirkung diesbezüglich untergeordnet war. Erg Amguid – Westseite, S-Algerien.
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Artefakt, das „künstlich“ durch Menschen hergestellte Objekt
D. Artefakt, das „künstlich“ durch Menschen hergestellte Objekt Der Begriff ist Lateinisch und bedeutet „künstlich gemacht“, wobei ARS, die Kunst, hier als handwerkliches Können gemeint ist. So wie heute der Handwerker in Frankreich noch als artiste bezeichnet wird. Die Bezeichnung Artefakt begegnet uns heute nicht nur in der Archäologie, sondern auch in den Naturwissenschaften, wo alle bei Untersuchungen durch den Untersuchenden oder Andere versehentlich oder unvermeidlich eingebrachte Elemente so angesprochen werden. Artefakt ist allerdings in der Archäologie nicht nur ein Steingerät, sondern auch Keramik, Metallgegenstand, Schmuckstück oder Kunstwerk. Ursprünglich sollte mit dieser Bezeichnung ein Fund von natürlich geformten oder überformten Gegenständen, die bei Ausgrabungen auftreten, unterschieden werden. Ein spitzer Knochensplitter kann entweder eine natürliche Bruchform sein oder mit deutlichen Zurichtungsspuren absichtlich angespitzt worden sein. Ein faustkeilförmiger Stein kann natürlichen Ursprungs sein, ein Geofakt, oder er zeigt als Artefakt die Muster absichtlich (= intentional) abgehauener Abschläge der Herstellungstechnik (auch wenn diese in manchen Fällen durch Wind, Wetter und Flusstransport verschliffen sein können).
Nicht in allen Fällen unterscheiden Archäologen aber zwischen dem intentional hergestellten Artefakt und dem durch die Benutzung und deren Spuren modifizierten Stein. Klopfsteine beispielsweise können so beansprucht worden sein, dass sie deutliche Zonen von Narben erkennen lassen. So sind sie als Artefakte erkennbar. Die Intentionalität liegt also nicht in der Formgebung, sondern in der Verwendung des Steins. Ähnliches gilt für die bei dem Zurechthauen von Steingeräten entstandenen Abschläge, die als Abfälle, aber nicht als Ziel der Bearbeitung gelten können. Ihre Intentionalität ist Teil der künstlichen Technik; deshalb benennen wir sie genau wie die beabsichtigten Zielprodukte als Artefakte. Anders ist das mit eindeutig an einen Arbeitsoder Lagerplatz herbeigeschleppten, aber unbearbeiteten Gegenständen, die gleichsam künstlich an ihren Ort gebracht worden sind. Solche Dinge können Rohmaterialstücke, Bauteile von Behausungen, kuriose Steine und Fossilien oder Wurfobjekte sein. Sie werden als von Hand herbeitransportierte Sachen, als Manuporte (in Anlehnung an Latein) bezeichnet.
E. Abschlag, Kern, Gerät, Werkzeug In der archäologischen Fachsprache werden die Grundformen der durch Behauen entstehenden Artefakte folgendermaßen benannt:
Abschlag. Der Abschlag ist die Gesteinsscherbe, die gezielt von einem Kern oder zu bearbeitenden Werkstück abgehauen worden ist (Abb. 42).
erfahren haben, können Gerät genannt werden. Ebenso sind behauene Gerölle, Knollen und Gesteinsplatten Geräte. Der Begriff Gerät kann auch für Werkzeug benutzt werden, wenn es sich um ein gezielt bearbeitetes Objekt handelt, das jedoch nicht für eine Arbeit bestimmt oder geeignet war, beispielsweise Halbfertigfabrikate oder Restkerne (Abb. 43, 147). Grob bearbeitete Steinwerkzeuge verraten allerdings selten, ob sie auch benutzt wurden oder ob sie verworfene Produkte waren. Insofern lassen sich Geräte und Werkzeuge nicht scharf auseinanderhalten.
Gerät. Ein Gerät ist ein planvoll erzeugter und technisch gelungener, also geratener Gegenstand, beispielsweise ein Zielabschlag (oder eine Klinge), ob retuschiert oder nicht. Auch natürliche oder intentional erzeugte Trümmerstücke, die eine Zurichtung
Werkzeug. Werkzeuge können auch unbearbeitete Objekte sein, wenn sie zum Arbeiten benutzt wurden, beispielsweise Klopf- oder Hammersteine, Reibplatten, Arbeitsunterlagen und „Ambosssteine“. Abschläge und Klingen gelten dann auch als Werk-
Kern. Der Kern ist das Stück Rohmaterial, von dem Abschläge mit einem Hammerstein oder hartem Knochen, Geweih oder Elfenbeinstück abgehauen werden (Abb. 43 und Foto 147–149).
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Teil 1: Einführung in die wissenschaftliche Thematik und Zeit der Faustkeilkultur
Foto 11: Cleaver-flake als Grundform für Cleaver und Faustkeile (160 � 104 � 33 mm). Diese großen Abschläge sind im Wesentlichen präparierte Vorformen im Produktionsprozess. Gut gelungene Cleaver-flakes können aber gelegentlich nicht weiterbearbeitet worden sein, weil sie den formalen Ansprüchen bezüglich Cleavern oder Faustkeilen schon entsprachen. Das Foto zeigt in der linken Ansicht die Ventralfläche mit Bulbus und die durch einen kleinen Kreis gekennzeichnete Lage des Schlagpunktes. Die Dorsalfläche – rechte Ansicht – weist die Negative der zuvor am Kern gemachten Präparationsabschläge auf. Antiatlas, S-Marokko.
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Abschlag, Kern, Gerät, Werkzeug
Foto 12: Tabelbala-Tachenghit-Restkern der Cleaver-flake-Produktion (227 � 113 � 50 mm). Um gut geeignete Zwischenprodukte für die Herstellung von Faustkeilen oder Cleavern zu erlangen, wurden Kerne so präpariert, dass der Zielabschlag schon der angestrebten Endform entgegenkam. Daher haben diese Kerne meistens schon die Umrisslinie des gewünschten Produkts und ähneln insofern tatsächlichen Faustkeilen. Die rechte Ansicht im Foto zeigt das große Negativ des bereits abgetrennten Cleaver-flakes. Nicht auszuschließen ist eine gelegentliche Verwendung solcher Kerne als Pics. Erg Mhredjibad NW-Algerien.
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Teil 1: Einführung in die wissenschaftliche Thematik und Zeit der Faustkeilkultur
zeuge, wenn sie durch Retusche eine dienliche Modifikation erfahren haben oder durch Gebrauchsspuren eine Nutzung erkennen lassen. Zu den Werkzeugen müssen auch alle für eine instrumentale Benutzung bearbeiteten Gerölle, Trümmerstücke und Gesteinsplatten gezählt werden. Choppingtools, Faustkeile, Cleaver, Schaber, Bohrer, Messer und natürlich auch Holzspeere oder Grabstöcke bezeichnen wir generell als – beabsichtigte – Geräte und zugleich als verwendete/verwendbare Werkzeuge. Beispielweise sind in den vorliegenden Texten ‚Chopper‘ entweder nur Kerne, von denen einige Abschläge gewonnen wurden und dürften dann nicht Werkzeug genannt werden. Wenn ein Chopper aber als Hackinstrument geschaffen wurde, ist es ein Werkzeug (Abb. 12). Aber leider kann man nicht allen Choppern, Chopping-tools, Polyedern und vielen Abschlägen ohne weiteres ansehen, ob sie für eine Arbeit zugerichtet worden sind oder ob es nur Restkerne oder Bearbeitungsabfälle sind.
Foto 13: Kräftiger, sehr spitzer Faustkeil mit massivem Talon, der eine Kernfunktion hatte (158 � 77 � 60 mm). Als Einzelfund und weit entfernt von gutem Rohmaterialvorkommen, wurde dieses Gerät auf einem Jagdstreifzug mitgeführt und wurde bei einer Rast dort gelassen. Am Talon ist ein großes Abschlagnegativ erkennbar, das nicht der Formgebung des Faustkeils diente, sondern gezielt bei der Erlangung eines scharfen „Messers“ entstanden ist. Faustkeile waren bei derartigen Gelegenheiten nicht nur Geräte, sondern auch konzipierte Kerne. A-99–9, Murzuk-Wüste, S-Libyen.
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Abschlag, Kern, Gerät, Werkzeug
Foto 14: Faustkeil aus einem gestreckten Abschlag (145 � 84 � 33 mm). Wäre nicht die Spitze des Artefakts auf der Ventralfläche bifaciell bearbeitet, müsste es als beidkantig retuschierter Schaber bezeichnet werden. Der Fund macht deutlich, dass die archäologische Nomenklatur Unschärfen hat, die gelegentlich die Absichten der Gerätehersteller nicht eindeutig wiedergibt. In Deutschland bezeichnete G. Bosinski Funde der abgebildeten Art als ‚Herner Spitzen‘. Da sie alle zum Jungacheuléen gehören, kann man sie mit in die „Faustkeilfamilie“ einbeziehen. Der Bulbus des Abschlags ist auf der Ventralansicht (links unten) gut zu erkennen. Murzuk-Wüste, S-Libyen.
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Abb. 42: Abschlag aus Quarzit (gepunktete Signaturen für körniges Rohmaterial) – Dorsalfläche, Längsschnitt und Ventralfläche – mit den technologischen Details: 1 vom Kern stammender Kortexrest (gepunktete, nicht lineare Signatur). 2 Dorsalnegativ eines Abschlags, der vor dem hier gezeichneten schon am Kern entfernt worden ist (bogenförmige Signatur der Wallnerlinien („Schlagwellen“). 3 Rest einer am Kern vorhandenen natürlichen Spaltfläche (unterbrochene Signatur). 4 Retusche, kleine Negative der Kantenbearbeitung. 5 Schlagflächenrest des Kerns mit rundem Schlagpunkt an der Kante zur Ventralfläche. 6 Bulbus (Aufwölbung) auf der Ventralfläche unterhalb des Schlagflächenrests, 7 feine lineare Lanzettbrüche, die etwa radial vom Schlagpunkt aus verlaufen. (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 43: Barrenförmiger Kern. Dieser Fund stammt aus dem Grabungsgut, das Georg Cubuk in der Grube Hélin geborgen hatte. Es ist ein charakteristisches Exemplar mit gegenüberliegenden Schlagflächen und entsprechend gegenläufigem Abbau der Zielprodukte. Es ist möglich, derartige Kerne als Variante der diskoiden Kerne zu verstehen. Der Unterschied wird vom Ausgangsmaterial bestimmt; hier, weil eine extrem gestreckte Flintknolle nicht den zentripetalen, sondern nur einen bipolaren Abbau von erwünschten Abschlägen gestattete. Das Artefakt ist altpaläolithisch. 50 St. Symphorien, Carrière Hélin, Belgien (Zeichnung: L. Fiedler 1994).
Hart und weich geschlagen
F. Hart und weich geschlagen Es ist an Steingeräten meistens gut feststellbar, ob sie mit einem harten Stein, beispielsweise einem Quarz- oder Quarzitgeröll, hergestellt und beschlagen wurden, oder ob das Bearbeitungswerkzeug weicher als das eigentliche Werkstück war. Zunächst mag man verwundert sein, dass ein Kalkgeröll oder ein Geweihschlägel, die sich ja beide von Flint- oder Quarzitscherben einritzen oder sogar beschnitzen lassen, den überaus harten Silex bearbeiten kann. Aber nicht die Härte ist dafür ausschlaggebend, sondern das Gewicht (die Masse) des Hammers und die Geschwindigkeit, mit der er auf die Kante eines zu gestaltenden Gegenstandes auftrifft. Wer einen Porzellanteller auf dem Tisch festhält und mit seiner freien Hand kräftig auf dessen Rand schlägt, wird sofort feststellen, wie die relativ weiche Faust die relativ harte Keramik „bearbeiten“ kann. Der ‚harte‘ Schlag hinterlässt auf Silex gewöhnlich sehr viel tiefer in der Oberfläche des Werkstücks eindringende Dellen (‚Negative‘), wie ein ‚weicher‘ Schlag (Abb. 51). Ein harter Hammerstein gleitet wegen seiner in Bewegung gesetzten Masse bei einem gewöhnlichen Schlag weiter als beabsichtigt über die zu gestaltende Kante des Werkstücks und nimmt neben dem erwünschten Zielabschlag zusätzlich auch kleinere Partien der Bearbeitungskante mit. Daher besteht hier eine größere Gefahr, diese Kante steiler und damit stumpfer zu hinterlassen als es gewollt war. Ein weiches Schlagobjekt hingegen wirkt mit seiner ganzen hineingegebenen Energie viel deutlicher nur auf das abzuspaltende Teil und hinterlässt so eine gewollt scharfe Kante. Durch die Neigung zu flacheren Absprüngen beim ‚weichen‘ Schlag ist es möglich, der Oberfläche des Werkstücks eine ausgeglichenere Reliefierung zu geben, als das mit einem harten Hammerstein erreichbar wäre (Abb. 52). In der Phase der ersten Steinbearbeitung (Oldowan) wurde ausschließlich ein harter Hammerstein gesucht. Im folgenden Acheuléen änderte sich das zunächst noch wenig, aber in steinarmen Steppengebieten griff Homo erectus auch gelegentlich nach einem gefundenen harten Knochen oder Stoßzahnfragment, um einen Abschlag zu retuschieren oder einem beschädigten Cleaver wieder eine brauchbare Schneide zu geben. Deshalb lassen sich bei Ausgrabungen, beispielsweise in Bed II der Olduvai-
Schlucht Faustkeile finden, die teilweise weich bearbeitet wurden und entwickelter aussehen als fast alle anderen aus dem gleichen Fundhorizont. So liegt der Schluss nahe, dass es dem Homo erectus – bei aller gelegentlichen Erfahrung mit Ersatz-Schlagobjekten – aber zunächst nicht darauf ankam, flache „schön“ bearbeitete Faustkeile zu machen, sondern nur solche, die seinen Anforderungen entsprachen (Abb. 54–59 und Foto 17–28). Dieser Anspruch lässt sich mit dem Begriff der summarischen Gestaltgebung erfassen. Summarisch heißt dabei, das Werkstück ist fertig, wenn es sich den Vorstellungen davon angenähert hat. Am Beispiel des Faustkeils ist das so, wenn er einigermaßen symmetrisch ist, wenn er einigermaßen spitz ist und wenn seine Kanten irgendwie scharf sind (Fotos 21–22). Man kann das gut mit dem Dichten von Versen vergleichen, die einerseits ein anspruchsvoller Schriftsteller macht oder andererseits ein Mainzer Büttenredner, der seiner Karnevalsgesellschaft seine witzigen Weisheiten unter dem Motto „Hauptsache es reimt sich“ vorträgt. Der Karnevalsstimmung ist damit – summarisch – Genüge getan. Einem Dichter, wie Heinrich Heine, hätte dieses Gereime sofort Übelkeit erzeugt. Damit ist aber selbstverständlich nicht gemeint, dass Homo erectus eine karnevalistische Geisteshaltung besaß, sondern dass Steingeräte den vorgesehenen Zweck seiner technokulturellen Gemeinschaft erfüllen mussten – aber nicht mehr! Denn ein Mehr hätte das System des Lebens durch unnötige Zeitaufwendung und außergewöhnliche Pingeligkeit durcheinander gebracht. Erst der späte Homo erectus vom Typ des Homo heidelbergensis begann mehr und mehr nach funktionaler und formaler Perfektionierung seiner Steinwerkzeuge zu streben (Abb. 16). So gibt es beispielsweise von den Fundplätzen Boxgrove in England oder Nadaouiyeh in Syrien Faustkeile, die auf Grund ihrer ‚weichen‘ Bearbeitung aussehen, als hätte sie nicht ein Homo erectus, sondern ein entwickelter mittelpaläolithischer Mensch 300 000 Jahre später gemacht. Deshalb ist es auch ausgeschlossen, einen Faustkeil als einzelnen Oberflächenfund mit einer rein typologischen Zuweisung genauer zu datieren. Unter den Oberflächenfunden, aber auch im reichen Grabungsmaterial des Acheuléen-Platzes 51
Teil 1: Einführung in die wissenschaftliche Thematik und Zeit der Faustkeilkultur
Abb. 44: 1. Abschlag von einem ‚Barrenförmigen Kern‘ an seiner hypothetischen Grundform. 2. Barrenförmiger Kern, der nachträglich eine Umgestaltung in ein Chopping-tool erfahren hat. Der Abschlag ist ein in-situ-Fund aus der 1,3 Mio. Jahre alten t Na 5.1–2-Ablagerung der altpleistozänen Nahe. Der Kern wurde schon zuvor auf dem Outcrop dieser Terrasse nahe bei der Abschlagfundstelle geborgen. Münster-Sarmsheim „Kesslersberg“, Rheinland-Pfalz (Zeichnungen nach: L. Fiedler et al. 2019).
„Reutersruh“ bei Ziegenhain in Nordhessen gibt es nur Faustkeile, die zugeschlagen, aber keine feinere Nacharbeit den Kanten tragen (Abb. 88). Schlagsteine wurden trotz des über mehrere tausend Geräte zählenden Inventars so gut wie nicht gefunden. Wahrscheinlich bestanden sie alle aus dem in der nahen Umgebung des Fundplatzes zugänglichen Basalt, der aber im ‚sauren‘ Sand der „Reutersruh“ 52
im Laufe von Hunderttausenden von Jahren komplett verwittert ist. Basaltschlagsteine lassen sich zwar nicht zu den ganz ‚weichen‘ Bearbeitungsgegenständen zählen, sind aber für den hier vorhandenen Werkstoff Quarzit besser geeignet als Quarz- oder Quarzitgerölle. Denn bei Verwendung sehr harte Objekte zerspringt Quarzit oft ungewollt und verhindert dann die Vollendung einer geplan-
Hart und weich geschlagen
Abb. 45: Einfache diskoide Kerne, Épannelés (Bezeichnung nach Collina-Girard) 1. Götzenhain, W-Hessen. Ein windgeschliffenes, einflächig bearbeitetes, sehr hartes Quarzartefakt, das nach Begleitfunden und geologischer Situation vermutlich aus dem frühen Altpleistozän (mit Steppenklima) kommt. Die Abschläge könnten nach Lage der Schlagpunkte in bipolarer Ambosstechnik gelöst worden sein. 2. Canals-Barazac, Garonnebecken, S-Frankreich. Der Kern besteht aus Quarzit und wurde nahe der Fundstelle Campsas auf gleicher Terrassenhöhe geborgen. (Zeichnung: L. Fiedler).
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Teil 1: Einführung in die wissenschaftliche Thematik und Zeit der Faustkeilkultur
Abb. 46: Diskoide Kerne. 1 Diskoider Kern aus Quarzit mit bevorzugter Abbaufläche. Acheuléen von Ziegenhain „Reutersruh“, Hessen (Zeichnung: L. Fiedler 1995). 2 Diskoider Kern mit wechselnden Abbauflächen. Altacheuléen von Amguid-W, Zentralalgerien (Zeichnung: Beate Kaletsch und L. Fiedler).
ten Faustkeilherstellung. Unter den von Luttropp und Bosinski (1971) vorgestellten Faustkeilen gibt es nur einen einzigen, der eine feine Kantenbearbeitung trägt. Es ist ein Oberflächenfund, der formenkundlich nicht zum älteren Acheuléen passt und
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hier zu einem zahlenmäßig gering vertretenen Mittelpaläolithikum mit Quina-Schabern, Keilmessern, rückengestumpften Abschlägen und einer Blattspitze aus Kieselschiefer gehört, die vor allem südlich der Kuppe auf dem Acker gefunden wurden.
Hart und weich geschlagen
Foto 15: Gestreckter Faustkeil des Altacheuléen mit deutlichen Spuren der Herstellung mittels eines harten Schlagobjekts (138 � 67 � 48 mm). Die Bearbeitungsnegative weisen diesbezüglich die charakteristischen tiefen Eindellungen auf. Nicht immer treten diese Merkmale so auffallend auf, weil die ‚harte‘ Steinschlagtechnik nicht nur mit sehr festen Quarzitgeröllen, sondern auch mit Objekten aus Vulkaniten oder festen Kalksteinen ausgeführt wurden. Außerdem erlaubte die von den Faustkeilherstellern gesteuerte Schlagenergie auch, den Impuls des Auftreffens etwas weniger hart wirken zu lassen. so dass die Abschläge entsprechend flacher absprangen. Es kam dabei auf das Erkennen der Zähigkeit des zu bearbeitenden Werkmaterials an. Beide Kanten haben – bedingt durch die Herstellungstechnik – einen unruhig-gewellten Verlauf mit den nützlichen Eigenschaften für einen Sägeschnitt, der eine schnelle Zerlegung der Jagdbeute erlaubte. Erg Amguid, S-Algerien.
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Teil 1: Einführung in die wissenschaftliche Thematik und Zeit der Faustkeilkultur
Foto 16: Herzförmiger Faustkeil des Jungacheuléen mit den typischen Merkmalen ‚weicher‘ Bearbeitung (139 � 82 � 34 mm). Alle Absplissnegative sind nur wenig eingedellt und verlaufen ausgestreckt über die gesamte Oberfläche des Werkstücks. Als Bearbeitungswerkzeuge kommen in solchen Fällen Stoßzahnfragmente, massive Knochen oder Geweihstücke in Frage. F. Bordes konnte diese Bearbeitung auch mit ausgetrockneten Schlägeln aus Buchsbaumholz auf Bergeracois-Silex nachvollziehen. Manchmal gelingt das ebenso mit angefeuchteten Kalksteingeröllen. Die Erzeugung gleichmäßig gerader Arbeitskanten an Steingeräten funktioniert erfolgreicher mit dem ‚weichen‘ als mit dem ‚harten‘ Schlag. Erg Murzuk, S-Libyen.
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Hart und weich geschlagen
Foto 17: Hart geschlagener, gestreckter Faustkeil des Altacheuléen (132 � 68 � 67 mm). Ein gut erhaltener Altacheuléen-Faustkeil, der am Rande einer Wegeböschung direkt nördlich des Antiatlas aufgelesen werden konnte. Sein Talon ist massiv und die Bearbeitung ist, wie die tiefen Negative zeigen, in Steinschlagtechnik ausgeführt. Wie bei dem zuvor abgebildeten Faustkeil bemerken wir, dass das in urtümlicher Technik erstellte Gerät die gelungene Realisation eines festgefügten inneren Bildes ist, in dem sich Rohmaterialwahl, Herstellungsprozess, Verwendungszweck und eindeutige Formvorstellung vereinen. SW-Marokko.
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Teil 1: Einführung in die wissenschaftliche Thematik und Zeit der Faustkeilkultur
Foto 18: Hart geschlagener herzförmiger Faustkeil des jüngeren Acheuléen. Obwohl das Gerät in urtümlicher Bearbeitungsweise realisiert worden ist, wird die Absicht deutlich, ein im Jungacheuléen zeitgemäßes herzförmiges Gerät zu realisieren. Faustkeile dieser Art sind ad-hoc Werkzeuge, die bei Jagdstreifzügen flink angefertigt wurden, um im üblichen Verfahren der Tierzerlegung gebraucht zu werden. Trotz seines archaischen Charakters gehört das von H. Quehl geborgene Artefakt in die komplexe und prozessuale Vorstellungswelt Jahrtausende Jahre alter Kultur unserer frühen Vorfahren. Murzuk-Region, S-Libyen.
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Verbreitung und Fundgebiete von Faustkeilen
Abb. 47: Protolevallois- oder Bergeracois-Kern mit anpassendem Abschlag. Bevor der noch auffindbare Abschlag abgehauen wurde, ist ein weiterer vom Kern gelöst worden, der aber von der Produktionsstätte entfernt wurde. Daher die Lücke in der Schnitt-Ansicht. Die erneute Feinpräparation am Schlagflächenrand lässt vermuten, dass der Kern noch nicht als restlos ausgebeutet verstanden wurde. Aber beide zusammengehörende Funde lassen vermuten, dass unvorhergesehene Ereignisse zur Aufgabe des Werkplatzes nötigten. Jungacheuléen oder Mittelpaläolithikum. Erg Chebbi, Marokko (Zeichnung: nach L. Fiedler 2014).
G. Verbreitung und Fundgebiete von Faustkeilen Ein Berber erklärte mir einmal in Marokko, dass Faustkeile seinem Volk schon immer bekannt gewesen seien, weil sie häufig und auffallend auf den vielen vegetationsarmen Flächen seines Landes wie Fossilien herumliegen. Sie wären als steinerne Zeugen von irgendwelchem Tun längst verschwundener, sagenhafter Riesen verstanden worden. Diese Erklärung macht verständlich, wie Menschen mit naheliegenden Deutungen das Befremdliche und Geheimnisvolle der Umwelt einzuordnen versuchen. In ähnlicher Weise erzeugten die ersten Faustkeilfunde in England und Frankreich die Vorstellung, dass es – selbstverständlich – in Europa eine ursprüngliche Morgenröte der menschlichen kulturellen Entwicklung gegeben habe. Dieser mo-
derne Mythos entsprang also einer beschränkten und damals allgemein verbreiteten europäischen Weltsicht und erfuhr in dieser Weise wissenschaftliche Bedeutung. Allerdings musste man auch sehr bald feststellen, dass paläolithische Steingeräte zusammen mit den Knochen ausgestorbener Tiere in vielen Gebieten der weltweiten imperialen Kolonien zu finden sind. So meldeten englische Militärs, Ärzte und Missionare Faustkeile aus Indien und Ostafrika, von Ägypten im Norden bis an das Kap im Süden. Und französische Forscher konnten zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Kenntnis nehmen, dass eben solche Funde in ganz Nordafrika bis hinunter nach Westafrika zu entdecken waren. Nur Ostasien schien frei von Faustkeilen zu sein, obwohl 59
Teil 1: Einführung in die wissenschaftliche Thematik und Zeit der Faustkeilkultur
Abb. 48: Abschlag der Bergeracois-Technik. Abschläge dieser Art unterscheiden sich von elaborierten LevalloisAbschlägen durch eine gröbere Schlagflächenpräparation und durch einen Schlagwinkel der deutlich größer als 90 ° ist. Auch die Form des Abschlags ist nicht durch präzise Präparation der Kern-Abbaufläche absolut festgelegt worden. Die Bergeracois-Technik ist technologisch eine Vorstufe und weniger ausgefeilte Art der eigentlichen LevalloisTechnik. Sie wurde aber im gesamten Mittelpaläolithikum neben der voll perfektionierten Schwestertechnik benutzt. (Zeichnung: nach L. Fiedler 2014).
frühe pleistozäne menschliche Überreste aus China und von Java dank der dortigen traditionellen Suche nach fossilen Knochen zu medizinischen Zwecken sehr bald bekannt wurden. In der berühmten Drachenknochenhöhle (Zhoukoudian) bei Peking forschte der französische Geistliche und Philosoph Teilhard de Chardin und fand mehrere Menschenschädel („Sinanthropus pekinensis“, ein Homo erectus) und zahlreiche Steinartefakte. Faustkeile konnte er nicht feststellen, denn sein Bild von Faustkeilen war das der zeitgemäßen französischen Publikationen, in denen 60
prachtvolle „Bifaces“ aus Feuerstein des JungAcheuléen abgebildet waren, die in den Kiesgruben an Somme, Seine und Loire vorkommen. Tatsächlich gab es aber auch in den Schichten von Zhoukoudian Faustkeile, wie beispielsweise zwei entsprechende Altfunde in der Sammlung des Senckenberg-Instituts in Frankfurt zeigen. Das eine ist ein grob behauenes, zugespitztes Exemplar aus Quarzit und das andere ein breitschneidiger Cleaver aus dem gleichen Material (Abb. 67 und 79). Beide Funde sind mit den Jungacheuléen-Exemplaren aus Nordfrankreich oder England tatsächlich nicht
Verbreitung und Fundgebiete von Faustkeilen
Foto 19: Proto-Faustkeil des späten Oldowan/frühen Acheuléen aus Quarzitgeröll (112 � 92 � 45 mm). P. Biberson zögerte vermutlich wegen des hohen geologischen Alters der Sedimente von Souk-el-Arba bei seiner Veröffentlichung der von dort stammenden Fundstücken, wie dem hier vorgestellten, von Faustkeilen zu sprechen. Aber diese einfachen Bifaces sind genau dort in viel zu großer Anzahl entdeckt worden, um als zufällig spitze Chopping-tools interpretiert werden zu können. Sie gehören eindeutig zu den ältesten Faustkeilen des Kontinents (> 1,7 Mio. Jahre). Ihre beabsichtigte spitze, beidkantig scharfe Formgebung könnte auf das Aufbrechen dickhäutiger Wildbeute hinweisen. Souk-el-Arba-du-Gharb, NW-Marokko.
ohne weiteres vergleichbar – wohl aber mit sehr ähnlichen Artefakten des älteren afrikanischen und europäischen Acheuléen. Heute sind der chinesischen Forschung zahlreiche Fundstellen mit großen Mengen entsprechender Geräte bekannt, die in diesem älteren Stil hergestellt worden sind und weit über 1 Mio. Jahre alt sein können. Die in den weiten Gebieten zwischen Westeuropa und China liegenden Landschaften sind ebenfalls nicht frei von eindeutigen Funden der Faustkeilkultur: Griechenland, das kaukasische Gebiet, die arabische Halbinsel, Pakistan und Indien. Die Vorstellung von einer faustkeilfreien alt- und mittelpleistozänen Menschheit, die bis in die sechziger Jahre des 20sten Jahrhunderts Lehrmeinung war, hat sich als Irrtum erwiesen. Nur in Amerika und Australien/Ozeanien lie-
gen bisher keine Zeugnisse einer menschlichen Anwesenheit im älteren Paläolithikum vor, weil die Besiedlung anscheinend erst sehr viel später einsetzte. Und selbstverständlich sind auch die beiden polaren Zonen der Erde frei von Artefakten aus der Zeit des Acheuléen. In dem von mächtigen eiszeitlichen Gletschern überfahrenen Skandinavien sind mögliche Überbleibsel erster Besiedlung weitestgehend zerstört. Aber in Afrika, Asien und Europa südlich des Skagerraks war die Faustkeilkultur verbreitet. Allerdings ist die Funddichte in Osteuropa und Sibirien (bisher) sehr gering und dort, wo Faustkeile (meistens in Form sogenannter Keilmesser) entdeckt wurden, stammen sie bisher überwiegend aus dem Mittelpaläolithikum, einer Zeit der nachklingenden Faustkeilkultur, die kaum über 300 000 Jahre weit zurückliegt.
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Teil 1: Einführung in die wissenschaftliche Thematik und Zeit der Faustkeilkultur
Foto 20: Gestreckter, annähernd mandelförmiger Faustkeil aus plattigem Quarz (167 � 99 � 49 mm). Das Foto gibt die Bearbeitung des hellen, transluzenten Quarzes nur unzureichend wieder. Die linke Ansicht lässt noch gerade erkennen, dass nur die Spitzenpartie flächig behauen ist; ansonsten sind die Kanten dieser Fläche relativ steil bearbeitet. In der rechten Ansicht greift die flächige Bearbeitung weiter über den ganzen distalen Bereich und ist auch an den Kanten flächiger als auf der Gegenseite. Das Alter der Fundschicht wird zwischen 1,5 und 1,7 Mio. Jahren angegeben. Olduvai Bed 2, EF-HR, Tansania.
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Verbreitung und Fundgebiete von Faustkeilen
Foto 21: Gestreckter Faustkeil aus einer Silexplatte (143 � 76 � 32 mm). Bei dem Werkstoff handelt es sich um einen gebänderten „Feuerstein“ zumeist dunkler Färbung. Der Faustkeil wurde mit annähernd 15 Schlägen hergestellt. Die bifacielle Bearbeitung greift auf beide Flächen, berührt sich aber nur im distalen Bereich des Artefakts. Fände man einen derartigen Gegenstand in einer Kiesgrube an der Themse, am Elbeufer bei Hamburg, im Kies der Sandinsel vor Helgoland oder im alpinen Gletschervorland, könnte man berechtigte Zweifel daran haben, dass es mit Sicherheit ein Artefakt ist. In der Sahara gab es glücklicherweise nie vereiste Flüsse oder gar Gletscher, selbst im Hoggar nicht, und Flüsse hatten dort nicht genügend Reliefenergie, um Steine zu zerschlagen; sie konnten nur kantige Felsbrocken abschleifen, bis völlig verrundete Gerölle daraus wurden. In dem vorliegenden Fall kommt hinzu, dass das Fundgelände (ursprünglich) von viel mehr als 1000 Faustkeilen und dazu vielen weiteren Geräten des Altacheuléen übersät war. Amguid – West, Zentralalgerien.
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Teil 1: Einführung in die wissenschaftliche Thematik und Zeit der Faustkeilkultur
Foto 22: Gestreckter Pic oder Faustkeil (168 � 76 � 61 mm). Das nur mit etwa 9 Schlägen aus einem Geröll herausgearbeitete schwere Hackgerät besteht aus paläozoischem Quarz/Quarzit. Wenn die formale Entwicklung von Faustkeilen von den Anfängen bis zum Mittelpaläolithikum in der Altsteinzeitarchäologie dank aussagefähiger stratigraphischer Befunde in Afrika nicht komfortabel zu erforschen gewesen wäre, würde mancher bei Funden, wie dem hier abgebildeten, keineswegs an einen Faustkeil denken. Denn die ersten publizierten Funde dieser Kategorie aus England und Frankreich waren dem Forschungsstand entsprechend fast nur „schöne“ Formen des Mittel- und Jungacheuléen. Und diese, wie eine Prägung funktionierende Imagination des Faustkeiltyps, durchzieht Lehrbücher, populärwissenschaftliche Darstellungen und museale Präsentation bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Und es dauert an, bis eine diesbezügliche umfangreichere Einsicht sich vollends entfaltet. Amguid – West, Zentralalgerien.
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Verbreitung und Fundgebiete von Faustkeilen
Foto 23: Gestreckter, spitz zulaufender Faustkeil, Typ ‚Ficron‘ (155 � 78 � 45 mm). Dieses spitze Hackgerät des Altacheuléen ist wegen seiner dunklen Patina eine der Ausnahmen des Fundplatzes „Amguid-West“ und stammt aus einem kurzen Gassi, das leicht ansteigend in den Dünenzug hineingeht und zeigt, dass der Sand glücklicherweise noch große Teile des fundträchtigen Regs überlagert und konserviert. Erg Amguid – West, Zentralalgerien (Foto: Sabine Jordan).
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Teil 1: Einführung in die wissenschaftliche Thematik und Zeit der Faustkeilkultur
Foto 24: Doppelspitzer Trieder (177 � 85 � 48 mm). Dieser Faustkeil aus dunklem Vulkanit repräsentiert eine zwar nicht häufige, aber doch sehr charakteristische Form früher Bifaces, die eindeutig zwei distale funktionsähnliche Enden hat. Eine direkte Fortführung entsprechender Tradition über das Altacheuléen hinaus geschah meiner Kenntnis nach nicht. Charakteristisch für Trieder ist neben dem annähernd dreikantigen Querschnitt auch die Bearbeitung der dritten Kante, die als dorsaler Grat – hier in der linken Ansicht des Fotos – deutliche, nach rechts weisende Bearbeitungsnegative trägt. Olduvai EF-HR, Tansania.
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Teil 2 Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 49: Die Kombewa-Abschlagtechnik. Obwohl schon früher verbreitet als die Tabelbala T.-Technik, ist die Kombewa-Technik erstaunlich. Denn von einem riesigen ersten Abschlag, gewöhnlich 30 cm bis 50 cm (!) im Durchmesser, wurde auf dessen Ventralfläche der eigentliche Zielabschlag abgehauen. Der Clou dabei war, dass beide Flächen des sekundären Abschlags nun aufgewölbte Ventralflächen waren. Das kam der Anfertigung von Faustkeilen und Cleavern daraus sehr entgegen, die ja möglichst volumensymmetrisch sein sollten. Jedenfalls ist der Aufwand erstaunlich, aber was noch erstaunlicher ist, ist die Tatsache, dass die Erfindung eines solchen Verfahrens keinesfalls ein Zufall sein kann, sondern aus der planerischen Intelligenz des Homo erectus s. l. erwachsen ist. Kombewa-Technik, Feuernutzung, die Kombinationswaffe Steinschleuder und die meisterlichen Holzspeere à la Schöningen belegen, dass Homo sapiens nicht der erste kluge Mensch war. (Graphik: nach L. Fiedler 2014 a)
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 50: Objekte der bipolaren Ambosstechnik. 1 Bipolar aufgearbeiteter Kern aus Quarz. Oldowan von Makuyuni, Tansania. 2 Chopper als „Amboss“ mit charakteristischer näpfchenartiger Zerstörungszone (pitted anvil oder Widerlager mit ‚Cupule‘) Altpaläolithikum von Zoukoudian, ‚Loc.1‘, China. Die in der bipolaren Ambosstechnik erzeugten Zerlegungsprodukte haben nur gelegentlich die Form echter Abschläge, denn vielfach sind es flache Splitter oder prismatische Späne. Es ist eine sehr urtümliche Technik, die höchstwahrscheinlich nach dem anfänglichen Zerschmettern von Steinen (durch Pithecinen), aber lange vor der freihand ausgeführten Abschlagtechnik entwickelt wurde. Ihre Produkte sind nicht in jedem Fall von solchen zu unterscheiden, die durch natürliche Bodendynamik (beispielsweise in Gletschermoränen) entstanden sind. Erst eine größere Menge davon in geschlossenen Fundzusammenhängen (wie beispielweise in Zoukoudian) erlaubt eine artifizielle Zuweisung. Zur Zerlegung harter Sileces wurde diese Technik aber bis ins Mesolithikum und sogar noch darüber hinaus benutzt. (Zeichnungen: L. Fiedler).
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Primitiv oder urtümlich?
Primitiv oder urtümlich? Wenn wir von primitiven Faustkeilen des frühesten Acheuléen hören, weil sie einfach und grob gemacht worden sind, so ist das Adjektiv ‚primitiv‘ in der Art unseres alltäglichen Sprachgebrauchs nicht wirklich passend. Denn damit bezeichnen wir beispielsweise ungehobeltes Verhalten oder dümmliche Sprüche.
Im Sinne von ‚primär‘, also erstmalig, würde es besser passen, würde aber trotzdem dem wahren Sachverhalt der damaligen Lebenswelt nicht gerecht. Denn einerseits waren Faustkeile ja eine Neuerung gegenüber der vorherigen Zeit des urtümlichen Oldowan (der technokulturellen Existenzform, die von Archäologen gerne als ‚mode 1‘
Abb. 51: Ein mit hartem Schlagstein in Form gebrachter Faustkeil des Altacheuléen. Deutlich sind die tief eingedellten Negative des in dieser Technik entfernten Materials zu erkennen. Amguid-W, Zentralalgerien (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 52: Ein mit Geweih oder Knochen in Form gebrachter Faustkeil des Mittelpaläolithikums. Die Abschlagnegative sind flach und greifen weit über die Oberfläche des Gerätes. Rörshain, N-Hessen (Zeichnung: L. Fiedler).
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Foto 25: Großer Trieder aus einem massiven, im Querschnitt dreieckigen Quarzitabschlag (192 � 88 � 51 mm). Auf seiner Ventralfläche ist das Gerät nur im Bereich des Talons bearbeitet. Dorsal ist der Mittelgrat nach beiden Seiten behauen. Linkslateral ist die gesamte Kante mit einer gleichmäßig gezähnten Retusche versehen, dagegen ist die rechte Kante relativ grob bearbeitet. Die Spitze des Trieders ist als eine deltaförmige Cleaverschneide ausgebildet, so dass in diesem Werkzeug verschiedene Anwendungsbereiche vereint sind und die Benennung als Trieder auch durch ‚schmaler Cleaver mit Sägekante‘ ausgetauscht werden könnte. Im mittleren Acheuléen sind Cleaver mit gezähnten Retuschen an einer Kante nicht ganz selten; im Jungacheuléen ist dagegen eine der Kanten manchmal als gut retuschierter Schaber ausgebildet. Die Doppelfunktion solcher Geräte ist also nicht Zufall, sondern unterliegt einem bei Bedarf realisierbarem Konzept. A-97–19. Murzuk-Wüste, S-Libyen.
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Primitiv oder urtümlich?
Foto 26: Ein faustkeilförmiger, an den Kanten bifaciell retuschierter Abschlag (110,5 � 72,5 � 29 mm). Nomenklatorisch ist dieses Artefakt nicht sicher zu orten, weil die Vorstellung dessen, was ein Faustkeil ist, auch bei Facharchäologen nicht ganz einheitlich ist. Zweifellos ist das Gerät bifaciell bearbeitet und hat eine mehr oder weniger an die Mandelform angenäherte Gestalt. Auszuschließen ist die Annahme, es sei ein Halbfabrikat, oder ein Protobiface im Sinne frühester Faustkeile. Am besten ist es, den Fund als eine Variante der Large cutting tools zu bezeichnen, dessen gezähnte Schneiden spezieller Zerlegung von Tierhaut oder sehnigem Fleisch dienten. A-99–19. Nördliche Murzuk-Wüste, S-Libyen.
bezeichnet wird) und andererseits sollte man verstehen, dass die beginnende Faustkeilkultur ja nicht durch dieses ‚Ding an sich‘ bestimmt wurde, sondern durch ein soziokulturelles System, das der menschlichen Gemeinschaft die Existenz sicherte und in dem die jeweilige Art von Faustkeilen absolut richtig war. Das urige Gerät des frühen Acheuléen war geeignet, die Häute getöteter Großsäuger schnell zu durchbrechen, so dass man rasch an das Fleisch
kam (Abb. 14, Foto 23). Das Fleisch selbst ließ sich damit ebenfalls flink herausfetzen. Das war genau das, was dem Dasein der menschlichen Gemeinschaften zur Beständigkeit verhalf. Die sorgsame, tranchierende Fleischgewinnung mit einem entwickelten Faustkeil oder einer Blattspitze wäre in jener Zeit unnötig oder sogar wegen der großen Beutegreifer unter der tierischen Konkurrenz gefährlich gewesen. Saubere Schnitte und dabei ein Portionieren in Steaks und Schnitzel hätte zu viel 71
Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 27: Breiter Proto-Faustkeil (116 � 79 � 33 mm). Auf dem von Georg Cubuk entdeckten Fundgelände einer hohen Rio-Carbonnes-Terrasse, das heute durch den Bau einer Autoschnellstraße verschwunden ist, fand Horst Klingelhöfer ein bifaciell bearbeitetes Artefakt, das in die Gruppe der von Cubuk entdeckten Proto-Bifaces passt. Der Fund könnte auch als ‚oblong pick‘ oder als Kern-Cleaver bezeichnet werden. Vergleichbare Formen treten im afrikanischen Developed Oldowan ebenso wie im frühen Acheuléen des Garonne-Gebiets oder von Münzenberg (Wetterau östlich von Frankfurt) gelegentlich auf. Sie besitzen stabilere Schneiden als Abschlag-Cleaver und hatten ein deutlich unterscheidbares Verwendungskonzept. Fuentes de Andalucia (Carmona-E, S-Spanien) (Foto H. Klingelhöfer).
Zeit gekostet. Man hätte leichter angegriffen werden können. Und zur Abwehr der Konkurrenz geeignete, ballistisch perfektionierte Speere als zielgenaue Fernwaffen waren vermutlich noch nicht üblich. Kurzum, was zu bestimmten Entwicklungsabschnitten der Menschheitsgeschichte gut und nützlich war, wird in späteren Epochen mit weiter entwickelten Techniken nicht mehr als ausreichend empfunden. Kulturen und Zivilisationsabschnitte waren und sind nur in ihrer jeweiligen Zeit funktionierende Systeme. In der Altsteinzeit waren sie 72
Systeme, die in die lebendige Umwelt einbezogen waren, und jede weiterentwickelte Optimierung bedeuteten jedes Mal Eingriffe in die Umwelt und damit deren Veränderung. Frühe Steingeräte waren urtümlicher als spätere, aber sie waren nicht primitiver in der umgangssprachlichen Bedeutung des Begriffs. Wenn der Ausdruck ‚primitiv‘ hier doch gelegentlich benutzt wird, dann im oben erwähnten Sinn von ‚primär‘ und urtümlich.
Primitiv oder urtümlich?
Foto 28: Faustkeil mit Cleaverschneide aus Vulkanitgeröll (142 � 110 � 46 mm). Das mit etwa 15 Abhieben realisierte Gerät hat eine kurze Querschneide, die durch einen gezielten, von der Kante her geführten Abschlag erzeugt wurde. In gleicher Weise wurden übrigens im Holozän mesolithische Kernbeile mit einem „Schneidenschlag“ versehen, um ihre Schärfe zu erzeugen. Das Gerät hatte vermutlich eine Beil-ähnliche Funktion und könnte wegen der Massivität der Schneide tatsächlich der Holzbearbeitung gedient haben. Durch den Windschliff sind die radialen Lanzettsprünge in den Abschlagnegativen deutlich hervorgehoben. Amguid – W, Zentralalgerien.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 29: Cleaver aus gestreiftem Messak-Quarzit (141 � 111 � 45 mm). Die Grundform des annähernd V-förmigen Gerätes war ein Kombewa-Abschlag, dessen zwei Ventralflächen weitgehend erhalten geblieben sind, weil die Gestaltung der Form überwiegend durch einseitige Kantenbearbeitung geschah. Nur der Talon wurde einflächig komplett mit wenigen Abhieben verdünnt. Im Zentrum des Geräts erkennt man ein kleines Fossil. Die relativ fragile Schneide wird eher der Zerteilung weichen Materials, beispielsweise Fleisch, gedient haben, als dem Durchhacken von Holzästen. Die meisten Fundstellen der Murzuk-Wüste südlich des Messaks wurden durch Ölsuchtrupps systematisch abgesammelt. Die weniger gut verkaufbaren Faustkeile und Cleaver wurden teilweise aussortiert und an den Rändern der Pisten angehäuft. Auch dieser Fund stammt, wie alle anderen der hier fotografierten MurzukArtefakte, von einem bereits geplünderten Platz – dieser hier des Jungacheuléen. A-02–12. Nördliche Murzuk-Wüste. S-Libyen.
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Primitiv oder urtümlich?
Foto 30: Faustkeil aus einem Quarzgeröll (135 � 93 � 51 mm). Am Fundort Amguid-West sind die meisten Faustkeile aus Geröll-Grundformen nicht so gestreckt wie diejenigen aus großen Quarzit-Abschlägen oder plattigem Quarz. Das örtlich verfügbare Rohmaterial beeinflusste die Form der Faustkeile des älteren und mittleren Acheuléen Afrikas entscheidend. Die Hersteller dieser Geräte haben schon beim Ausschau nach geeignetem Werkmaterial das abstrakte ‚Bild im Kopf‘ des Faustkeils mit den im Flusskies vorhandenen Geröllen abgeglichen und so das ihnen jeweils passendste Materialstück zur Bearbeitung aufgehoben. Dass – wie hier – im Fall der Wahl eines großen Quarzkiesels die breiteste Stelle des herausgearbeiteten Faustkeils nicht, wie zeitgemäß üblich, deutlich über dem Talon, sondern in dessen Bereich liegt, ergibt sich von selbst. Auch europäische Funde dieser Art (beispielsweise im südfranzösischen Garonne-Gebiet) sind unter diesem Aspekt zu bewerten. Amguid – W, Zentralalgerien.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Die Fähigkeit, etwas zu instrumentalisieren Kultur ist ein System, das fortwährend instrumentalisiert. Jeder von uns benutzt Sprache, Mitteilung, deren Botschaft ein anderer versteht oder als innere Sprache „im Kopf“, mit der wir Nachdenken und unsere logischen Schlüsse ziehen, um Verständnis zu erlangen. Wir benutzen dabei die vorhandenen, gesellschaftlich vorgegebenen Begriffe (und Zahlen, denn auch Mathematik ist eine – wenn auch extrem abstrahierte – Sprache). Jeder benutzt, instrumentalisiert Kleidung, um sich zu schützen. Für die Anfertigung von Kleidung instrumentalisieren wir Tiere als Wolllieferanten. Wir instrumentalisieren Gras-Abarten als Getreidelieferanten. Oder instrumentalisieren Wasser und Wind zum Antrieb von Elektroaggregaten. Schimpansen instrumentalisieren Stöckchen zum Termitenfischen, Steine zum Nüsseknacken oder Moospolster zum Wasseraufsaugen. Vögel instrumentalisieren Pflanzenfasern oder Tierhaare zum Polstern ihrer Nester. Köcherfliegenlarven instrumentalisieren – wahrscheinlich ohne Bewusstsein darüber – Sandkörner, um damit Schutzhüllen für sich zu schaffen. Jane Goodall hat als erste beobachtet und publiziert, wie sozial unterlegene Schimpansen andere innerhalb der Gruppe für ihre Zwecke Geeignete instrumentalisieren. Und seit frühgeschichtlichen Zeiten instrumentalisieren Machthaber ihre Untertanen – manchmal sogar, um sie zum weiteren Machtgewinn für sich als Krieger sterben zu lassen. Die früheste Instrumentalisierung scharfkantiger Steine dürfte weit vor dem Oldowan liegen, aber natürlich scharf gebrochene oder gezielt zertrümmerte Steine sind nur ausnahmsweise als Artefakte erkennbar. Doch lange Knochensplitter sind aufgrund ihrer Abnutzungsspuren als Grabwerkzeuge der Australopithecinen identifiziert worden. Vor etwa 2,4 Mio. Jahren begann Homo habilis/rudolfensis mit der systematischen Gewinnung von Abschlägen (Abb. 128). Seitdem wurden Steine zur Werkzeugherstellung instrumentalisiert und Werkzeuge dienten wiederum zu vielerlei speziellen Zwecken. Mit der Einsicht in die Abschlagtechnik und dem gezielten Instrumentalisieren der gewonnen Steinartefakte zum Schneiden, Schnitzen und Hacken begann die Urform der menschlichen Kultur. Als dann im entwickelten Oldowan vor gut 2 Mio. 76
Jahren Abschläge für bestimmte Zwecke durch die Bearbeitung ihrer Kanten optimiert wurden, festigte sich die technologische Intelligenz der frühesten Menschen maßgeblich. Sie sahen dabei auch, dass sie sich damit von den Tieren abhoben. Diese konnten zwar Nester bauen, Höhlen graben und Pfade ins Dickicht legen, jedoch wurde keine dieser Leistungen Grundlage einer weiterführenden Technologie. Aber der Mensch entwickelte vor knapp 2 Mio. Jahren aus der Oldowan-Technik die ersten Faustkeile, Cleaver und Pics und damit unterschiedliche, formal symbolisierte Gerätearten (Foto 19). Sie machten etwas, was eigentlich nicht in ihrer Umwelt vorzufinden war, sondern künstlich erzeugt werden musste. Dieses Künstliche distanzierte sich von der Natur und wurde Mittel, sie im Rahmen der Möglichkeiten zu manipulieren. Werkzeugtechnologie ist eine Sache des Verstandes und hat eine spezielle Logik bzw. gedankliche Grammatik. Um eine bestimmte lebenssichernde Leistung zu erbringen, musste erst dies und das geschaffen werden, ohne dass diese Leistung nicht zu erreichen war. So wurde Technik zu einem kulturellen System. Und eine funktionale Ähnlichkeit von Sprache und Technik liegt auf der Hand. Mit dem Wort Brombeere ist nicht auf Wasser hinzuweisen; mit einem Polyeder ließ sich kein Speer schnitzen. Sprachtechnik und Werkzeugtechnik bedeutet den richtigen Einsatz vorhandener Mittel in bestimmten logischen Schritten zum Ziel; das hat der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein deutlich gemacht. Deshalb ist es eine gute Annahme, den Beginn der eigentlichen, verbalen Sprachentwicklung mit den Anfängen der technologischen Entwicklung zu verknüpfen. Seitdem nahm die Hirngröße der Gattung Homo sehr markant gegenüber derjenigen der Australopithecinen zu. Kultur kann weitgehend als ein technosoziales System verstanden werden, wenn alles menschliche Können auf dessen Methoden, systematisches Handeln und geregelte Abläufe befragt wird. Das betrifft dann nicht nur die Werkzeugtechnik, sondern beispielsweise auch Jagdtechnik, Behausungsbau, Essenszubereitung, Heilkunde, schamanistische Praktiken, Weitlauftechnik, Kommunikationstechniken (Erzählkunst), Musikinstrument-Beherrschung usw. Der südwesteuropäischen Höhlenkunst liegen be-
Die Fähigkeit, etwas zu instrumentalisieren
Abb. 53: Chopping-tool. Dieses gut 7 cm lange und sehr einfache Steingerät diente einerseits als Schab- und Hackinstrument und andererseits als Kern und die davon gewonnenen kleinen, sehr scharfen Abschläge beispielsweise zum Zerschneiden von sehnigem Fleisch benutzt werden konnten. So einfach und urtümlich Chopping-tools auch sind, wurden sie schon elementar und wegweisend entwickelt, als es noch keine technologischen Vorbilder von Messern, Schabern oder Faustkeilen gab. Sie gehören zu den kennzeichnenden Werkzeugen des seit gut 2,6 Mio. Jahren existierenden Oldowan und erleichterten die Existenz frühester Menschen in den Anfängen bis zu dem, was schon weniger als 1 Mio. Jahre später als Kultur bezeichnet werden kann.
Abb. 54: Nur einflächig (unifacial) bearbeiteter Pic des Protoacheuléen. Das Alter dieses Objekts ist dasselbe wie das derjenigen der untersten Schicht von Olduvai, also mindestens 1,75 Mio. Jahre alt. Man erkennt aber klar, dass es eine deutliche Vorstellung über den Bezug von Form und Verwendungsmöglichkeit gab. Das Gerät musste spitz sein und scharfe Kanten haben. Das sind die Voraussetzungen für die einsetzende Entwicklung von Faustkeilen. Sie wurden an diesem Artefakt perfekt geliefert. Deshalb können wir sagen, der Fund ist urtümlich, aber nicht primitiv. Souk-el-Arba-du-Gharb, NW-Marokko (Zeichnung: L. Fiedler).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
stimmte Maltechniken zugrunde. Auch die frühe Besiedlung Australiens war nicht ohne nautische Techniken möglich. Nur wenige Kulturelemente sind von Technik ausgenommen. Dass ist beispielsweise der Glaube an nichtmaterielle Kräfte, die Lust am Singen und Spielen, Kreativität, Kontemplation, Xenophilie, Empathie, Altruismus, oder Erotik. Oder vielleicht doch nicht ganz? Die Instrumentalisierung der Sachen der natürlichen Umwelt war bei Homo erectus zunächst noch ein urtümliches kulturelles Geschehen. Der Umfang des Instrumentalisierens wäre bei ihm notfalls noch ohne verbale Kommunikation möglich gewesen, aber das planerische Denken, das für die Herstellung eines Faustkeils erforderlich war (S. 93), legt doch sehr nahe, dass das ohne Begrifflichkeit weder stets richtig funktioniert noch sich 1,5 Mio. Jahre lang gehalten hätte.
Auch heute noch sind alle unsere Ressourcen Teile der natürlichen Umwelt: Wasser, Erdöl, Erze, Luft, alle Nahrung usw. Hat unser begriffliches Denken den Zugriff darauf in ungeheurem Ausmaß ermöglicht, ist es allerhöchste Zeit, über notwendige, nachhaltige Beschränkungen nachzudenken. Ansonsten wird sich der Mensch trotz seiner gigantischen Zivilisation in weniger als fünfhundert Jahren von der Welt verabschieden müssen. Die Technik der Informationsdigitalisierung könnte darüber hinaus zu einem Verlust von Handlungsfreiheit, politischen Gestaltungsmöglichkeiten und vor allem Individualität führen. Bisher sieht es so aus, als kümmere das kaum jemand. Es ist nur zu hoffen, dass diese beunruhigenden Perspektiven nicht weiterhin verdrängt werden.
Kultur und natürliche Welt Es ist jedem erwachsenen Menschen bekannt, was ein Vogel, Baum, Berg, Strauch oder was eine Wolke und eine Welle ist. Die Namen dieser Sachen rufen in uns vage Bilder hervor. So können wir über diese Sachen nachdenken und verfügen, beispielsweise, wo in der Gartenhecke noch ein Strauch zu pflanzen ist und welcher Baum beschnitten werden muss. Unser Nachdenken über die natürlichen Sachen steht insofern über diesen, weil der Begriff und das vage Bild von Baum jederzeit hervorgeholt werden kann, auch dann, wenn wir in einem fensterlosen Raum säßen, auf dem Meer unterwegs wären oder uns sonst wo über Sträucher und Bäume Gedanken machen, wo sie nicht zu sehen oder real gegenwärtig sind. Außerdem wissen wir, dass der Begriff Baum den Begriffen Eiche, Kastanie, Palme oder Fichte übergeordnet ist, ebenso wie Eiche den Stieleichen, Korkeichen oder Traubeneichen übergeordnet ist.
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Die Sprache, die uns dieses Denken und Verfügen-können gestattet, ist Teil unserer Kultur, die wir mit den Menschen unserer näheren und weiteren Umgebung teilen. Andere verstehen uns, wenn wir über Wald, Wiesen und Bäume etwas zu sagen haben. Da wir fast alle entscheidenden Sachen begrifflich (also mit innerer Sprache) denken und so aus Bäumen Holz und daraus Schränke, Stühle, Boote und Papier machen können, ist zu sagen, dass nicht nur die Sprache klassifizierend über der Natur steht, sondern auch die von uns Menschen selbst geschaffene Kultur scheint nach unserem Selbstverständnis über die Natur geordnet zu sein – ist aber trotzdem den naturgesetzlichen, biologischen und evolutionären Grundlagen weiterhin unterworfen. Sprache ist seit dem Paläolithikum auch ein Mittel der Herrschaft des Menschen.
Abb. 55: Picartiger Faustkeil, der mit nur elf Abhieben seine Form und Funktionsfähigkeit erhielt. Die Vorstellung von einem geeigneten Werkzeug und der dafür erforderlichen Form muss vor der praktischen Realisierung dieses Objekts vorhanden gewesen sein. Und die Befähigung, das mit so wenigen gezielten Schlägen auf ein hartes Quarzitgeröll hinzubekommen bedarf Erfahrung und (Selbst-)Sicherheit. Wenngleich auch das Konzept summarisch zur Darstellung gelangte, so ist es doch in einer gewissen Genialität geschehen. Altacheuléen von Amguid-W, Zentralalgerien (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 56: Sehr massiver, noch an Chopping-tools erinnernder Faustkeil aus dem Altacheuléen von Amguid-W (Zeichnung: L. Fiedler).
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Foto 31: Faustkeil in Gestalt eines Bifacial knife (227 � 113 � 50 mm). Das Gerät wurde aus einem Abschlag hergestellt und die Umrissform, anders wie bei dem zuvor abgebildeten Faustkeil aus Geröllmaterial, frei herausgearbeitet. Linkslateral ist es grob bifaciell bearbeitet, während es rechtslateral mit einer flachen, zum Schneiden geeigneten Schaberretusche versehen ist, die nur im distalen Bereich auch bifaciell ist. Im Deutschen wäre der von K. H. Jacob-Friesen verwendete Begriff ‚Faustkeilschaber‘ angebracht, ist aber ganz aus der archäologischen Mode gekommen, so dass hier die englischsprachige Bezeichnung gewählt wurde, die von in Afrika tätigen Archäologen benutzt wird. Ich beziehe derartige Funde mit in die Großgruppe aller faustkeilartigen und gegeneinander nicht klar abgrenzbaren Geräte ein. Neuerdings werden sie alle auch in der englischsprachigen Fachliteratur unter dem Begriff large cutting tools (LCT) zusammengefasst. Erg Mhredjibad, Nordwestsahara Algeriens.
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Kultur und natürliche Welt
Foto 32: Großer Faustkeil des Acheuléen aus Quarzit mit Windschliff und bräunlicher Patina (241 � 123,5 � 57 mm). Mit seiner Länge von 24 cm fällt dieser Fund unter die Kategorie der großen Faustkeile, die in einigen Fällen sogar noch etwas größer als 30 cm gehen kann. Sollte deren Handhabung ähnlich wie bei „normal großen“ Bifaces gewesen sein, wird den ehemaligen Nutzern eine erheblich größere Körperkraft als gewöhnlichen heutigen Menschen eigen gewesen sein. Mauretanien ohne nähere Fundortangabe (Foto: Sabine Jordan).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Hacken, sägen und spalten – die Funktionen der ersten Faustkeile Die ersten Faustkeile wurden nicht einfach erfunden, sondern ergaben sich in der Weise, dass große scharfkantige Abschläge, die man zum Zerlegen von gejagtem und verendetem Großwild unbedingt brauchte, durch Abschlagen störender Ecken und Kanten besser greifbar gemacht wurden (Abb. 33). In Habitaten an Flussufern mit Kieseln und Geröllen, aus denen man Chopper und Chopping-tools machte (Abb. 130, 4–5), stellte sich mehr und mehr die Erfahrung ein, dass zugespitzte Formen für den eben genannten Zweck vorteilhafter waren. Eine vertraute Vorstellung von einem bestimmten Aussehen dieser handlich gemachten Produkte bestand anfangs sicher nicht, obwohl erfahrene Jäger dafür wahrscheinlich bald verschiedene individuelle Lösungen fanden und diese aus Gewohnheit reproduzierten. Es ist daher gut vorstellbar, wie aus Beobachten, Nachahmen und Einsicht heraus die Mitglieder einer Gemeinschaft über einige Jahrhunderte schließlich annähernd vergleichbare Formen für solche Zerlegungsgeräte fanden (Abb. 80, Foto 103). Tatsächlich liegen uns derartige Funde aus Ostafrika in der sogenannten Karari-Industrie vor, die auf eine Zeitspanne vor etwa 1,9 bis 1,6 Mio. Jahren datiert wird. Die dazu gehörenden Urfaustkeile wurden überwiegend aus massiven Abschlägen hergestellt, haben mehr oder weniger ovale Umrisse und sind in diese Gestalt durch einfaches, meist einseitiges Behauen der umlaufenden Kante entstanden (Abb. 94, Foto 26–27 u. 96). Große Abschläge als Werkstücke für diese Geräte konnten aber nur in solchen Gebieten erzeugt
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werden, wo geeignetes Gesteinsmaterial dafür vorhanden war. In anderen wildreichen Gegenden mussten die frühen Menschen sich mit Geröllen und Schotterstücken aus Flussuferbereichen oder von Meeresstränden zur Geräteherstellung begnügen. Gerölle sind meistens von Natur aus handlich, müssen aber eine scharfkantige Schneide oder Spitze erhalten, um den gleichen Zweck erfüllen zu können, dem die ostafrikanischen Urfaustkeile dienten. So entwickelten beispielsweise die Menschen der nordafrikanischen Steppen (im Gebiet der heutigen Sahara) und atlantiknahen Flussdeltas aus den ihnen schon vertrauten Choppern und Chopping-tools zugespitzte Formen, die den Karari-Geräten in ihrer Urtümlichkeit ähneln, aber einen handlichen Teil des Ausgangsgerölls als gut zu greifenden Knauf (Talon) behielten (Fotos 95–97, Souk-el-Arba). Datierungen für derartige Funde gehen auf das gleiche Alter zurück, das dem aus Ostafrika entspricht. In jedem Fall zielte die Funktion dieser frühen Ur- oder Protofaustkeile nicht auf ein präzises Schneiden, sondern auf die Möglichkeit, die Haut eines Büffels, Nashorns oder Flusspferdes zu durchstoßen und mit den Kanten des Gerätes das entstandene Loch weiter aufzureißen. Nur so gelangte man schließlich an das Fleisch der erlegten Beute. Mit kleinen, als Messer benutzbaren Abschlägen wäre das (wegen der Zähigkeit solcher Haut) nicht in kurzer Zeit möglich gewesen, wohl aber die anschließende Zerteilung der dann freigelegten Fleischmasse.
Hacken, sägen und spalten – die Funktionen der ersten Faustkeile
Abb. 57: Einfacher Faustkeil von Amguid-W (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 58: Einfacher Trieder von Amguid-W (Zeichnung: L. Fiedler).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 33: Gestreckt U-förmiger Cleaver aus „Jasper“ (154,5 � 75 � 34 mm). Der Geologe Jens Kulick fand das Objekt schon in den sechziger Jahren anlässlich seiner Studien in Südafrika. Die Herstellung des Geräts erfolgte in der Kombewa-Technik und anschließendem bifaciellen Gestalten der Kontur. Hinter dem Begriff Kombewa-Technik verbirgt sich ein langer und komplexer Arbeitsprozess, bei dem von einem zunächst erstellten „Riesenabschlag“ dessen Ventralfläche als erneute Abbaufläche für einen zweiten großen Abschlags vorgesehen war. Dessen bikonvexe Form erleichterte die Anfertigung volumen-symmetrischer Faustkeile und Cleaver. Meistens sind Reste der beiden Ventralflächen der Grundform noch bei derartigen Werkzeugen – wie auch bei dem abgebildeten Beispiel – erhalten geblieben. Die sorgsame Bearbeitung verweist den Fund in das Mittelpaläolithikum („Middle Stone Age“ in Südafrika). Die Schneide trägt partiell feine Gebrauchs- oder Georetuschen. Südliches Vorland vom Brandberg, Namibia.
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Hacken, sägen und spalten – die Funktionen der ersten Faustkeile
Foto 34: Herzförmiger Faustkeil aus ursprünglich schwarzem Feuerstein (71 � 49 � 15 mm). Am Hang der häuslichen Gartenterrasse des Besitzers der Tabaterie fand der Bildhauer Edmund Ashby um das Jahr 2000 herum diesen kleinen, bis auf eine kleine Beschädigung am Talon (dunkle Stelle) rundum messerscharfen Faustkeil des späten Mittelpaläolithikums. Er trägt eine intensiv marmorierte Patina. So würde kein noch so scharfes Foto seine hervorragende Bearbeitungsweise wissenschaftlich ausreichend erkennbar werden lassen. Die Bedampfung des Gegenstandes mit Silberjodid oder ein feinst auflösender Scan könnte hier Abhilfe schaffen. Ansonsten müsste der Fund in alter Manier gezeichnet werden. „La Tabaterie“ nördlich von Brantôme, Périgord, SW-Frankreich.
Foto 35: Annähernd mandelförmiger, unpatinierter Faustkeil des Jungacheuléen aus buntem Messak-Quarzit (147 � 100 � 42 mm). Die zwischen Gelb und Violett gescheckte Eigenfarbe des Werkmaterials ist visuell so intensiv, dass alle Einzelheiten der Bearbeitung völlig in den Hintergrund treten. Nur eine wissenschaftliche Zeichnung könnte die ‚weich‘ erzeugten Abschlagnegative sichtbar machen. An der Fundstelle dieses Faustkeils gab es außerdem perfekt gemachte LevalloisAbschläge und -Klingen aus dem gleichen bunten Gestein, so dass der Eindruck einer durchaus ästhetisch geprägten Auswahl des Rohstoffes entstehen kann. Ubari-Wüste, S-Libyen.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 36: Annähernd faustkeilförmiges Quarzobjekt (152 � 111 � 50 mm). Ein nicht genannt werden wollender langjähriger und sehr erfahrener Geländebegeher der altpleistozänen Terrassen des Roussillon fand dort zahlreiche Artefakte aus Quarz, von denen einige rötlich „patiniert“ waren und unterschiedliche Zustände von Windschliff aufwiesen. Das hier abgebildete Objekt ist nicht nur vom Wassertransport des Têt verrundet, sondern auch extrem windgeschliffen. Man kann es wegen seiner Form und noch erkennbarer ‚Stufenbrüche‘ möglicherweise als archaischen Faustkeil deuten, aber mehr wäre nicht statthaft. Denn die Grenze einer sicheren Bestimmung ist bei diesem Fundobjekt überschritten. Die aus unzähligen Begehungen erwachsene Kenntnis – nicht das Wunschdenken – könnte sehr wohl für die Interpretation als Artefakt maßgebend sein. Ansonsten gibt es von diesem speziellen Fundort ebenfalls rötlich verfärbte, aber gut bestimmbare Chopper, Chopping-tools, Polyeder, Pics sowie unstandardisierte Kerne und Abschläge, die von französischen Archäologen als Inventar eines vor-faustkeilzeitlichen Technokomplexes (mode 1) verstanden werden. Von geologischer Seite wird das durch Erosion freigelegte Sediment mit einem Alter von mehr als 1 Mio. Jahren datiert. „Mas Ferreal“, Roussillon, S-Frankreich (Verbleib: Reiss-Engelhorn-Museum, Mannheim).
Foto 38 (S. 87): Nur teilweise bifaciell bearbeiteter Faustkeil aus Geröllquarzit (136 � 86 � 49 mm). Das Objekt ist stark abgerollt; besonders die Grate zwischen den Bearbeitungsnegativen sind sehr verschliffen. Trotzdem wird keine Person vom Fach den Artefaktcharakter des Fundes bezweifeln, weil die Herstellungsmerkmale nicht nur vermutbar, sondern selbst im Foto klar interpretierbar sind. Die einheitliche Farbe des Artefakts und die Qualität der Aufnahme erlaubt diese Erkennbarkeit; eine wissenschaftliche Zeichnung wäre nicht unbedingt erforderlich. Victoria-Region, S-Spanien (Foto: Horst Klingelhöfer).
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Hacken, sägen und spalten – die Funktionen der ersten Faustkeile
Foto 37: Breitabschlag mit seitlicher, grob bearbeiteter Spitze. Das Artefakt wurde durch seinen Finder 2019 als Foto publiziert. Man erkennt in der rechten Ansicht des um 90 ° zur Schlagrichtung gedrehten Objekts die Ventralfläche mit Bulbus und die Auftreffzone des Hammersteins, mit dem die Grundform vom Kern abgespalten wurde. Die linke Ansicht zeigt die Dorsalfläche mit dem Negativ eines zuvor am Kern gelösten Abschlags, den Kortexrest des ursprünglichen Ausgangsmaterials sowie Bearbeitungsspuren an der linken Kante der Spitze. Der Fund stammt aus einer Kiesgrube, in der Terrassenschotter der Rhein-Hauptterrasse industriell abgebaut werden und wurde unmittelbar vor der Abbauwand aufgelesen. Zweifellos stammt er aus dem Kies, denn alle Decksedimente über dem Schotter müssen vor der dessen Gewinnung großflächig und rückstandslos abgeräumt werden. Der Fund ist durch den Transport im pleistozänen Rhein verschliffen, und daher beurteilen einige Archäologen den Artefaktcharakter derartiger Objekte skeptisch bis negativ. Bei einem fast verrotteten Einbaum oder einer im Flusskies gefundenen angewitterten Geweihaxt tritt diese Beurteilungsunsicherheit viel seltener auf. Dorsten-Schembeck, Niederrhein-Gebiet, W-Deutschland (Foto: Horst Klingelhöfer).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Ein ‚Schweizer‘ Taschenmesser der Altsteinzeit? Fast jeder Forscher, der sich mit dem Paläolithikum beschäftigt, ist der Überzeugung, dass Faustkeile Allzweckgeräte gewesen seien, mit denen man schneiden, schaben und hacken konnte. Und in der Tat weisen die Gebrauchsspuren-Untersuchungen auf derlei Tätigkeiten hin. Die Frage bleibt nur: Warum hat man deshalb in aufwendigen Arbeitsschritten Faustkeile gemacht, denn fast jeder größere einfache Abschlag hätte für diese Aufgaben doch auch gereicht? Vielleicht liegt die Antwort dazu nicht in den Gegenden, in denen das Rohmaterial zur Herstellung von Faustkeilen ausreichend zur Verfügung stand. Wer einmal die aus hartem quarzitischem Sandstein bestehenden Plateaugebiete der mittleren Sahara bereisen durfte, dem werden unschwer ausgedehnte Schlagplätze des Alt- und Mittelpaläolithikums aufgefallen sein, an denen hunderttausende von Abschlägen, Klingen und Kernen herumliegen. Fertige Werkzeuge sind dort selten und selbst dort, wo massenhaft sehr spezielle Kerne für Levallois-Spitzen die Oberfläche bedecken, liegt nicht eine einzige gelungene Spitze! Wie die Menschen des Mittelpaläolithikums den Abtransport sehr großer Mengen derartiger Grundformen in ihre Siedlungs- und Jagdgebiete überhaupt organisieren konnten, bleibt bisher ein ungelöstes Rätsel. Dennoch liegen auf den von Wadi-Rinnen durchzogenen Feinkies- und Sandflächen weitab der natürlichen Felsvorkommen altsteinzeitliche Rast- und Wohnplätze, an denen sich manchmal unglaubliche Mengen von Artefakten aus dem typischen Rohmaterial des Berglandes finden lassen. Einer dieser Plätze ist der Fundplatz A-02–12, der am Rande sehr hoher Dünen des Edeyen Murzuk auf eine Waditerrasse liegt, auf der sich der Boden eines ehemaligen flachen Seebeckens erhalten hat. Bis zum rohmaterialreichen MessakPlateau sind es von dort aus weit mehr als 50 km. Im gesamten Seebeckenbereich beobachtete ich große Mengen von Flachabsprüngen, die bei der Bearbeitung von Faustkeilen und Cleavern entstehen, die hier ebenfalls immer noch in beeindruckender Menge herumlagen (Abb. 187–188). Das Interessanteste dabei war, dass so gut wie alle Abschläge der Faustkeilbearbeitung, – auch die sehr kleinen – durch formgebende Retuschen ebenfalls in eindeutige Werkzeuge verwandelt worden sind. 88
Meine Begleiter und ich hatten den Eindruck, dass bis an diesen Platz große Kombewa-CleaverAbschläge gelangten (die jeder bis zu 3 kg wogen), die sowohl zu Cleavern als auch zu Faustkeilen verarbeitet worden sind. Da wir mehr Cleaver als Faustkeile an dem Platz antrafen (Fotos 9, 29, 66 u. 137), konnten wir annehmen, dass beide Arten wiederum auf Wanderungen gingen und an Orte gelangten, die noch weiter entfernt von der Herkunft des Rohmaterials waren und wo diese Geräte als „Allzweckwerkzeuge“ dienten. Und tatsächlich entdeckten wir auch weit über 100 km vom Messak entfernt noch Faustkeile aus dem charakteristischen bunt gestreiften Quarzit. Sie besaßen allerdings nicht mehr die perfekten Formen der am Platz A-02–12 noch vorhandenen Geräte, sondern waren eindeutig um- und nachgearbeitet. Bei einigen davon ließen sich größere Abschlagnegative am Talon beobachten, die nicht wie die ursprüngliche Faustkeilbearbeitung mit einem ‚weichen‘ Schlagobjekt abgetrennt worden sind, sondern mit einem Schlagstein (Foto13, Abb. 193). Wer die Fotos in diesem Band aufmerksam betrachtet, wird wohl bemerken, dass einige Cleaver, insbesondere die schlanken, die der Faustkeilform nahekommen, eine deutlich gezähnte Kante haben (Fotos 25, 105–106 und Abb. 126 und 155). Das ist sicher nicht auf eine nachlässige Art der Bearbeitung zurückzuführen, sondern bewusst so gemacht. Entweder ging es dabei darum, einer Schlaufenschäftung, wie sie von Beilen der Australier bekannt ist, einen festen Halt zu geben, oder aber darum, mit dem Gerät eine zusätzliche Funktion beim Zerlegen von Großwild zu erhalten. Da die meisten Cleaver, die wir finden, nur wenige Schäden an der zumeist dünnen Schneide haben, handelt es sich bei der überwiegenden Anzahl dieser Artefakte nicht um Werkzeuge zur Holzbearbeitung oder zum Graben, so dass eher eine Benutzung als Jagdbeil zur Zerteilung von Fleisch und Sehnen naheliegt. Weil einige Faustkeile mit ursprünglich schlanker Spitze kurz darunter eine seitliche Einkerbung aufweisen (Foto 75 und 111, Abb. 21), könnte es möglich sein, dass auch dieses Merkmal ein Hinweis auf Großwildzerlegung ist und entstand, als man solche Geräte zwischen Gelenke schlug und sie anschließend dabei – um letztere auseinanderzubrechen – drehte.
Ein ‚Schweizer‘ Taschenmesser der Altsteinzeit?
Abb. 59: Einfacher, Pic-ähnlicher Faustkeil von Amguid-W (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 60: Massiver Faustkeil von Amguid-W (Zeichnung: Beate Kaletsch).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 39: Faustkeil, der aus einer Nassbaggerei an der mittleren Weser kommt und entsprechend eine rezente laterale Beschädigung aufweist. Die Verwitterung im einbettenden pleistozänen Kies hat farbliche Veränderungen der Flintoberfläche zur Folge gehabt und vor allem attraktive ringförmige Matrix-Strukturen betont, die auf der nicht abgebildeten Rückseite noch größer und deutlicher sind. Hartmut Thieme überließ mir das Foto aus seiner noch nicht publizierten Monographie über das Acheuléen von Drakenburg (Fundbergung: Heinz Oldenburg).
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Mir scheint es, als seien wir einem weiteren Rätsel der Faustkeile mit diesen Beobachtungen nähergekommen. Man nahm den Faustkeil in seiner perfekten und symbolischen Formgebung als einziges Steinwerkzeug auf Jagdzügen mit, um es sowohl als Messer zum ‚Aufbrechen‘ der dickhäutigen Jagdbeute benutzen zu können, als auch um es für alle anderen anfallenden Aufgaben als Schaber oder Säge zu benutzen. Zugleich war besonders der kräftige Talon des Faustkeils eine Rohstoffquelle, von der scharfkantige Abschläge abgehauen werden konnten, die dann als Messer zum Schnitzen und Fleischschneiden oder zum Zuschneiden von Riemen oder Bekleidungen aus Tierhäuten dienten. Ebenso finden sich an massiven Talons einiger Faustkeile Narbenfelder, die belegen, dass solche Typen auch gelegentlich als Hammer benutzt worden sind (Abb. 168, rechte Ansicht, untere rechte Kante; Foto 53 links). Eine weitere Funktion von Faustkeilen aus Flint wurde kürzlich von französischen Archäologen erkannt. Schrammen und Kritzen auf den Flächen zeugen höchstwahrscheinlich vom Funkenschlagen mit Pyritknollen. Also wurden diese Geräte auch als Feuerzeuge verwendet. Der Faustkeil war für die damaligen Menschen also ein lebensnotwendiges Gerät und zugleich ein rituelles Symbol immerwährender Existenz, das in seiner Einzigartigkeit nicht einmal vergleichbar ist mit den doch nur als praktisch empfundenen Taschenmessern aus der Schweiz oder von Letherman, weil unsere heutigen Werkzeuge von der Nähnadel über die Drehbank bis zum Laserdrucker und Großraumflugzeug austauschbare Industrieprodukte sind.
Foto 40: Gestreckter Faustkeil (193 � 85 � 65 mm). Ein seriöser Sammler aus der Schweiz überließ mir diesen Fund. Es ist ein Faustkeil im Stil des Altacheuléen mit kräftigem Talon, großen, ‚hart‘ geschlagenen Bearbeitungsnegativen und fehlender Nacharbeit der Kanten. Das Objekt zeigt starken Windschliff, der selbst weniger harte Partien der Matrix herauspoliert hat, so dass die Oberfläche jetzt löcherig-porös wirkt. Obwohl stark von dieser Art der Erosion überformt, ist der Herstellungsprozess eindeutig ablesbar. Das Artefakt wurde „wechselseitig-gleichgerichtet“ produziert, d. h. während des Abschlagens in der linken Hand so gehalten, dass die Spitze auf den Hersteller zeigt. Nach diesem ersten Schritt der Kantenfertigstellung wurde das Werkstück gegen die Uhrzeigerrichtung um die eigene Achse gewendet und der Vorgang an der zweiten Kante wiederholt. Gerhard Bosinski wertet das als ein kulturtypisches Merkmal im Mittelpaläolithikum. Ich selber verstehe es weniger abgrenzend und halte es für eine individuelle Routine. In einigen Gruppen der Faustkeilhersteller wurde das später möglicherweise verbindliche Tradition. Erg Issaouane (SE-Algerien).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 41: Herzförmiger Faustkeil mit kräftigem Windschliff (147 � 1003 � 33 mm). Das deutlich überformte Artefakt stammt aus der Sammlung Hans Nettlau. Winderosion kann bei Artefakten aus Wüstengebieten nicht als Datierungsmerkmal benutzt werden, weil sie nur belegt, dass ein Objekt lange an der Oberfläche gelegen hat. So gibt es viele altpaläolithische Artefakte, die nach einem entsprechenden Vorgang wieder von Sediment überlagert wurden und erst gegenwärtig erneut sichtbar sind. Ebenso sind manche holozänen Steingeräte, die nie bedeutsam überlagert wurden, enorm starkem „gegenwärtigem“ Windschliff ausgesetzt. Das ursprüngliche Gesteinsmaterial aller lithischen Artefakte ist Natur. Durch die Zurichtung von Menschenhand wird es Kultur. Mit der Überformung durch Windschliff kann es wieder ein natürliches Gebilde werden. Aber wenn es noch als Artefakt erkennbar ist und geborgen werden kann, dann ist es ein archäologisches Denkmalobjekt. Bir Safsa bei Assuan, S-Ägypten.
Foto 42: Großer ovaler Faustkeil in Limande-Form (183 � 133 � 50 mm). Das Artefakt wurde von Rolf Braun entdeckt und dem Verfasser wegen seiner Besonderheit sogleich überlassen. Es ist nämlich aus zwei Fragmenten zusammengesetzt, die 3 oder 4 m voneinander getrennt lagen. Das größere Fragment hat eine relativ gut erhaltene Unterseite, die obere Fläche ist dagegen leicht windgeschliffen und trägt eine bräunliche Wüstenpatina. Das kleinere Fragment hat viel länger an der Oberfläche gelegen, ist stark windgeschliffen und tiefbraun patiniert. Für sich genommen wäre dieses Bruchstück von manchen Gutachtern gar nicht als bearbeitet akzeptiert worden. Erg Ubari (S-Libyen).
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Konzeption und Anfertigung von Faustkeilen
Konzeption und Anfertigung von Faustkeilen Faustkeile aus der Zeit des Homo erectus und des mittelpaläolithischen Menschen wurden nach feststehenden, gedanklich gespeicherten Vorbildern realisiert. Die damit verbundene Planungstiefe ist erstaunlich. Die Voraussetzung für die Erzeugung von Faustkeilen war selbstverständlich eine lebensnotwendige Situation, in der jeweils ein solches Gerät unabdingbar zur Verfügung zu stehen hatte. Mit diesem imaginären Wissen war auch verbunden, welches Rohmaterial geeignet war, wo man es finden konnte und mit welchen technischen Mitteln sowie handwerklichen Schritten es darzustellen sei. Das begann mit dem Suchen und Herbeischaffen von Rohmaterial und einem geeigneten Hammerstein. Oft waren einige Kilometer zu laufen, um an einer bekannten Fundstelle das Gesteinsmaterial zu sichten, auszuwählen und in einem Beutel oder Geflecht dann abzutransportieren. Dabei wurde das im Kopf vorhandene Idealbild eines Faustkeils gedanklich so lange in verschiedene Gesteinsstücke hineinprojiziert, bis passende schließlich gewählt wurden. Oft war es sogar notwendig, erst eine taugliche „Grundform“ von einem größeren Block abzuspalten. Dann wurde dieser so zurechtgehauen, dass sich davon ein großer, massiver Abschlag ablösen ließ, der für die Realisierung des gewünschten Gerätes passend war (Fotos 11– 12, Abb. 49, 77–78 und 214). Die nächste Schrittfolge gehörte der Bearbeitung. Zunächst wurde durch grobes Behauen rund um das Rohstück der beabsichtigte Umriss andeutungsweise mit einem Klopfstein herausgearbeitet (Abb. 81–82). Dabei musste der steinerne „Hammer“ jedes Mal mit großer Kraft in einem Winkel von etwa 50 ° bis 90 ° nahe der Kante des Rohstückes auftreffen und eine massive Scherbe nach der anderen entfernen, bis der Kern für den Zielabschlag die angemessene Gestalt hatte. Der Hersteller ließ sich bei diesem Vorgang stets von einem neuronal chiffrierten „Bild“ im Kopf leiten, das dem Endprodukt seiner Bemühungen schließlich die Form geben sollte. Nach dem Abtrennen des Zielabschlags wurde dieser umlaufend behauen, dann umgewendet und der Vorgang von der anderen Seite her wiederholt (Bild 82). In der entwickelteren Faustkeilzeit ge-
schah das mehrfach, bis die Ober- und Unterseite der Rohform von fast allen Partien seiner ursprünglichen Gesteinsrinde befreit war und das Werkstück annähernd eine flächen- und volumensymmetrische Mandelform erhalten hatte. Im älteren Acheuléen war damit der Herstellungsprozess beendet. Aber im jüngeren Acheuléen erfolgte dann eine Feinbearbeitung mit einem Schlägel aus Geweih oder Knochen, in der die Dicke des Gerätes, sein Kantenverlauf und die Schärfe der Schneiden in gewünschter Weise gestaltet wurden. Dabei wurde bei diesen letzten Arbeitsschritten jeder weitere Abhieb durch eine Kantenpräparation vorbereitet. An jedem Grat zwischen zuvor entfernten Abschlägen wurden dafür kleinste Splitter mit dem Schlagobjekt entfernt, um ihm die nötige Anfangskrümmung zu geben. Er diente dann als eine „Leitlinie“ für den gezielten Abhieb, der sich so flächengreifend über das Werkstück erstrecken konnte und es dabei zugleich dünner machte. Diese abschließende Gestaltung des Faustkeils erforderte vom Hersteller nicht nur – wie beschrieben – die gewünschte Endform in einem gedanklichen Bild gegenwärtig zu haben, sondern mit Materialkenntnis und handwerklichem Wissen jeden einzelnen Arbeitsschritt zu planen und dessen Ergebnis für die jeweils folgenden Bearbeitungsvorgänge schon vorauszusehen. War das Gerät schließlich fertig, konnte es seiner vorgesehenen Verwendung zugeführt oder bis zum geeigneten Zeitpunkt verwahrt werden. All diese erforderlichen gedanklichen Leistungen zur Herstellung von Faustkeilen und anderen Gerättypen des Acheuléen dürfen nicht außer Acht gelassen werden, wenn es den Wissenschaftlern der Paläoanthropologie um Schädelformen, genetische Zuweisungen und die Einordnung von menschlichen Fossilien in Abstammungslinien geht. Ohne die technologischen Leistungen zu verstehen, besteht die Gefahr, den frühen Menschen verhängnisvoll unterzubewerten. Die Illusion eines mit Fellfetzen bedeckten Halbmenschen ist nicht selten das traurige Ergebnis (beispielsweise die Rekonstruktion eines Neandertalers im französischen Nationalmuseum von Les Eyzies aus dem Beginn des 21. Jahrhunderts).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 61: Einfacher Faustkeil aus einem plattigen Feuersteinmaterial. Amguid-W (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 62: Massiver Faustkeil im Stil des „Abbevillien“ aus Bergerac-Feuerstein. Fund aus dem Aushub der im Westen um Bergerac herumführenden Umgehungsstraße. Der Werkzeugcharakter dieses Kerngerätes wird nicht nur durch seine zugespitzte Form, sondern auch durch die am Talon oben sichtbaren Verdünnungsabhiebe deutlich, die erst eine gute Handhabung des Instruments ermöglichten. Creysse, Dordogne (Zeichnung: L. Fiedler).
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Konzeption und Anfertigung von Faustkeilen
Abb. 63: Massiver Faustkeil des Acheuléen von Rainrod, Hessen, aus einem großen Quarzitabschlag, dessen eine Seite komplett, die andere Seite nur partiell überarbeitet worden ist. In der summarischen Art der Realisierung war das Werkstück dann fertig, wenn es der allgemeinen Vorstellung (dem inneren Bild) eines Faustkeils mit seinen funktional notwendigen Attributen entsprach (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 64: Einfacher mandelförmiger Faustkeil aus einem Quarzitabschlag von Mondavezan (oberes Garonne-Gebiet). Auch diese Abbildung zeigt einen Fund, der die einfachste Art der Realisierung des Faustkeilprinzips ist, nämlich eine spitze Form mit scharfgratigen Kanten. Neandertaler hätten sich wahrscheinlich nicht mit diesem Ergebnis zufriedengegeben, aber Homo erectus war die formale Perfektion nach dem Bilde „schöner“ Faustkeile noch unwichtig. Es kam nur auf die lebensnotwendige Funktionsfähigkeit an, und die war absolut erfüllt. Die Einfachheit hat dabei überhaupt nichts mit unzulänglicher Fähigkeit zu tun. Aufsammlung Jens Kulick aus den siebziger Jahren (Zeichnung: L. Fiedler).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Die großen Fragen: Wie, warum, wann und wo? Mit den im vorherigen Kapitel zur Konzeption und Anfertigung von Faustkeilen vorgetragenen Gedanken über die damit verbundene Planungstiefe, das technologische Wissen und die soziale Einbindung haben wir uns in die kulturanthropologische Interpretation der Faustkeile vorgewagt. Bisher ist das noch nicht zu Ende gedacht worden. Mir ist die Weiterführung aber sehr wichtig. Denn Faustkeile können noch mehr über die Grundlagen unseres Denkens und Handelns sowie über das aussagen, was wir gewöhnlich mit dem Begriff Kultur auszudrücken meinen. Zunächst ist es ja eine erstaunliche Sache, dass die Geräteform Faustkeil sich über eineinhalb Millionen Jahre lang in der Menschheitsgeschichte gehalten hat. Wenn die zu diesem Artefakt notwendige komplexe Technologie in den Gehirnen der Vorfahren jener Zeit vorhanden war und sie trotzdem über einen so langen Zeitraum die Notwendigkeit sahen, diese Form nahezu unverändert immer wieder zu realisieren, dann wird es darüber ja offensichtlich ein Einvernehmen in der Gesellschaft gegeben haben. In unserem heutigen Selbstverständnis stellt sich die Frage, warum die frühen Menschen, die doch eindeutig über die notwendige Kapazität an gedanklicher Speicherung der Technik und sinnvollen Nutzung ihres Ergebnisses verfügten, nicht in der Lage waren, damit eine weiterführende Technologie zu entwickeln. Warum dieses Verharren, wenn geeignete Denkfähigkeit vorhanden gewesen sein muss? Dass Denkleistung und sogar spontane Erfindungsgabe bei manchen Vogel- und Säugetierarten vorhanden sind, hat die Verhaltensforschung der letzten sechs Jahrzehnte beweisen können und allgemein bekannt gemacht. Aber ausgerechnet das „Gehirntier Mensch“ (Arno Schmidt) ist in hunderttausenden von Jahren nicht weitergekommen? Waren unsere frühen Vorgänger vielleicht doch einfallslose, gedankenarme und schicksalsergebene Trottel? Und wenn das so war, wieso haben sie dann so lange erfolgreich sein dürfen? Oder kann es sein,
dass wir etwas übersehen haben, weil wir modern denken und unter vollkommen anderen Bedingungen leben? Wir glauben, unsere kulturelle Welt sei weitgehend rational und unser alltägliches Handeln vollkommen erklärbar. Ist es jedoch nicht. Denn genau damit bringen wir seit dem Industriezeitalter unsere natürliche Umwelt durcheinander und gefährden die zukünftige Existenz maßgeblich. Unüberlegt knipsen wir alltäglich die elektrische Beleuchtung an, lassen Wasser aus dem Hahn laufen, drehen die Heizung auf angenehme Temperaturen, setzen die Spülung im WC in Gang, benutzen Klopapier, machen massenhaft Ausdrucke unserer PCInhalte oder nutzen Flugzeuge und demnächst sogar Elektroautos. Die nötige Energie und Rohstoffe sollen uns die Erde liefern, aber jeder weiß ja, dass das nicht endlos so gehen kann. Doch wir setzen auf unseren cleveren Erfindergeist und begeben uns in die Science-Fiction. Das hat auf der einen Seite mit der Aussicht auf Kapitalgewinne und auf der anderen mehr mit Hoffnung, Glauben und Optimismus als mit Verstand zu tun, oder? Jedenfalls ist jeder Einzelne von uns im Alltag nicht in der Lage, sein Denken grundsätzlich zu überdenken und sein Handeln total vernunftgemäß zu gestalten. Und das geschieht im Einvernehmen mit allen Nachbarn, Mitgliedern unserer Gemeinschaft und der gesamten „westlich“ orientierten Welt. In diesem Konsens billigen wir uns zu, dass unser Nachbar, unsere Mitarbeiterin, unsere Arbeitgeber usw. im Großen und Ganzen rational handeln und vernünftige Menschen sind. Und dass wir dieses vernünftige Handeln vorteilhafterweise teilen sollten. In Finken- oder Heringsschwärmen können wie erkennen, dass die Voraussetzungen für kollektives Verhalten ein naturgegebens Muster mit imperativen Zügen hat. Damit kommen wir nun allmählich der Frage nach dem Verhalten des Homo erectus näher, müssen aber noch auf das Phänomen der Identität eingehen. 1 Jede Leserin und jeder Leser hat unwider-
Der hier und im Folgenden benutzte Begriff Identität bedarf einer Erläuterung. Die persönliche Identität ist in den verschiedenen Lebensaltern eines Menschen selbstverständlich nicht konstant, sondern wird durch die soziale Umwelt und die Ereignisse des Lebens verändert und angereichert. Außerdem ist Identität kein statisches Element der Kultur, sondern ein wechselwirkendes, prozessuales. Mit den Begriffen der Gruppenidentität und gesellschaftlichen Identität ist in den hier abgehandelten Zusammenhängen nicht eine nationale Identität gemeint. Außerdem gibt es einen markanten Unterschied zwischen der Identität einer traditionell orientierten Gemeinschaft und der einer modernen westlichen Gesellschaft, die durch kulturelle und ökonomische Weltoffenheit, „weltanschauliche Toleranz“ und einer immer stärker
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Die großen Fragen: Wie, warum, wann und wo?
Abb. 65: Faustkeil aus kieseliger Grauwacke mit deutlich gewellten Sägekanten. Das Rohmaterial ist nicht das Beste. Deshalb gibt es aus derselben Schicht auch Faustkeile aus Strandgeröll-Quarzit, die aber wesentlich gedrungener sind und keine so langen Schneiden an den Kanten besitzen. Der Einfluss des Ausgangsmaterials auf die Geräteform tritt hier krass hervor. Der Fund stammt aus einer Ausgrabung von Pierre Biberson und wurde dort 1952 Prof. R. Bay zur Verfügung gestellt, weil der die Forschungsarbeit unterstützte. Acheuléen 1+2 (Altacheuléen der Sidi Abderrahmane-Stratigraphie), Casablanca, Marokko, Verbleib im Reiss-Engelhorn-Museum Mannheim (Zeichnung: L. Fiedler).
sprochen seine Identität. Wie erklärt und bemisst aber nun ein menschliches Individuum seine persönliche Identität? Wenn jemand gutaussehend, schlank, sportlich und fit ist, steht diese Beurteilung unabdinglich mit einem Vergleich zu anderen Menschen in Verbindung. Aussehen und Leistungsfähigkeit bemessen sich gesellschaftlich und an den Maßgaben der Gemeinschaft, in der man lebt. Und was diese Körperlichkeit betrifft, gilt auch für unser Verhalten, unseren Geschmack, unsere soziale Stellung. Aus all dem resultiert weitgehend unsere Selbstbeurteilung. Der verbleibende Teil unserer Identitätsbestimmung bezieht sich auf die ethischen Anforderungen der Mitmenschen bezüglich Arbeits- oder Einsatzwilligkeit, Gesetzestreue,
Verantwortungsbewusstseins, Anständigkeit, Höflichkeit usw., die wir ertragen und wohlweißlich möglichst erfüllen sollten. Keiner von uns läuft ohne weiteres nackt in der Straße herum, uriniert an das nächste Verkehrsschild oder grölt im Bus ein Kirchenlied. Das macht man nicht. Das passt nicht in den gesellschaftlichen Konsens. Wenn jemand es doch macht, ist er ein zu missbilligender Außenseiter. Die Identität der Mehrheit ist nämlich eine andere, denn man weiß sich zu benehmen und angemessen zu verhalten. Das Angemessene ist das, was die Allgemeinheit vorgibt – obwohl ich ein Individuum in abendländischer Tradition und selbst bestimmendem demokratischen Denken bin.
werdenden Globalisierung sowie von den Medien gesteuerten Verhaltensweisen und Überzeugungen gekennzeichnet ist. Trotzdem besitzt fast die gesamte heutige Menschheit gemeinsame identitäre Merkmale, z. B. moderne Medizin, mediale Information, Mathematik, Schriftsprache, Rechtssysteme, Maschinentechnik, Geldverkehr usw.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 66: Urtümlicher Faustkeil mit sehr unruhig gestalteten Kanten, ein Gerät zum „Aufbrechen“ erlegten Wildes und dem anschließenden Herausfetzen von Fleisch. Beutetiere als Jagdkonkurrenz, wie Hyänen, Wölfe und Bären machten es lebensnotwendig, bei der Nahrungsbeschaffung schnell und effizient zu sein. Die Herstellung „schöner“ Faustkeile hätte in der frühen Altsteinzeit eher die Existenz gefährdet als begünstigt. Cambernard, Garonnebecken, Südfrankreich (Zeichnung: L. Fiedler).
Jetzt sind wir beim Homo erectus: „Der Faustkeil kommt von den Ahnen. Sie haben den gemacht und damit richtig gelebt. Meine Familie weiß das ebenso, wie alle anderen Mitglieder meiner Gemeinschaft. Einen Faustkeil fertigen wir an, um diese oder jene notwendige Tätigkeit damit auszuführen. Die Schlagabfälle (Abschläge) können wir als Werkzeuge ebenfalls für uns klar bekannte Tätigkeiten gebrauchen. Jeder weiß, was ein Faustkeil ist, wozu, warum man ihn macht. Ein Faustkeil, so wie wir ihn kennen, ist richtig. Wer etwas an dem Faustkeil herumzumäkeln hat oder ihn gar verändern will, ist nicht normal, ja, er gefährdet mit seinen unverständlichen Ideen das immerwährende existentielle Dasein unserer Gemeinschaft. Und die Identität dieser Gemeinschaft ist die der Faustkeilhersteller und -benutzer, eben eine andere als die der Vögel, Rentiere oder Wölfe, deren Leben etwas unterschiedlich von uns verläuft.“ Ich sehe keine andere Möglichkeit, die Zeitdauer und die Verbreitung der Faustkeilkultur als mit einer für die Existenzfähigkeit absolut für notwendig erachteten Tradition zu erklären. An dieser quasi imperativen Tradition wurde das Verhalten jedes 98
Einzelnen gemessen und maß sich das Individuum selbst. Dessen Identität war ein Bestandteil der Gruppenidentität. Hört sich das nach einem totalitären System an? Im Unterschied zu einer traditionellen Gemeinschaft hat ein totalitäres System keinen echten Konsens seiner Mitglieder, sondern wird durch Gesetze, Erlasse und Befehle einer hierarchischen Obrigkeit zusammengehalten. Totalitäre Systeme orientieren sich nicht an der Natur, sondern an ihrer elitären „Übernatur“ der Herrenmenschen. Die Gleichheit ihrer Gesellschaft ist ausschließlich die Gleichheit der Untergebenen untereinander, aber nicht eine mit der der Herrschaftselite. Die Mitglieder einer Gemeinschaft – dass wusste schon J.-J. Rousseau – bestimmen sich selbst und wollen die Tradition verstehen, die Massengesellschaft braucht nicht zu verstehen, sondern tut scheinbar gut daran, opportunistisch zu reagieren. Schauen Sie sich doch um. Und damit erhebt sich die Frage: Treibt uns die zunehmende Technisierung mit ihren funktionalen und ökonomischen Zwängen mehr und mehr in eine „alternativlose“, totalitäre Zukunft?
Die großen Fragen: Wie, warum, wann und wo?
Foto 43: Grob zurechtgehauener Faustkeil (144 � 68 � 50 mm). Das Werkstück ist auf beiden Flächen sehr ähnlich bearbeitet und stark windgeschliffen. Seine Unterseite weist zudem Verkrustungen schwer löslicher Salze auf, die kaum abzulösen sind. Wie auch die Funde mit der Bezeichnung A-88–33, stammen die Artefakte unter A-99–12 von dem Reg, der dem Erg Amguid auf seiner Westseite unmittelbar vorgelagert ist. Das Altacheuléen trägt im Gegensatz zu den wenigen spät-mittelpaläolithischen Artefakten derselben Fundregion fast nie eine dunkle, glänzende Wüstenpatina und war bis zu dem Zeitpunkt, als einige schwere Trucks den Sand und Kies aufwühlten, weitgehend unter Sediment verborgen. A-91–12. Erg Amguid – West, Zentralalgerien.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 44: Gestreckter Faustkeil aus Quarzit mit deutlichem Windschliff (165 � 80 � 55 mm). Das Gerät wurde mit etwa 16 größeren Abhieben realisiert. Heutigen experimentellen Archäologen gelingt diese quasi geniale Herstellungsweise erst nach einiger Übung. Sie war aber im Altpaläolithikum eine Notwendigkeit, um rasch an das Fleisch erlegter oder erbeuteter Großtiere zu gelangen. Eine zeitaufwendige Faustkeilherstellung und mit sorgsamen Schnitten zu erfolgende Zerlegung der Muskeln und Innereien wäre in jener Zeit nicht unbedingt existenzsichernd gewesen, weil die Konkurrenz großer Hyänen und Raubkatzen immer zur Stelle war. So war umsichtige Eile bei der Nahrungsbeschaffung ein Gebot des Lebens. Amguid – W, Zentralalgerien.
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Die großen Fragen: Wie, warum, wann und wo?
Foto 45: Gestreckt herzförmiger Faustkeil aus grünlichem ‚Jasper‘ mit einseitiger hellgrauer Patina (118 � 74 � 44 mm). Trotz seiner kaum nachretuschierten Kanten könnte man diesen Fund dem Jungacheuléen zuweisen. Es ist allerdings möglich, dass die spitz-herzförmige Gestalt auch das Ergebnis einer Nachbearbeitung eines beschädigten Faustkeils in der Zeit des mittleren Acheuléen war und die vorliegende Form keine der gewöhnten Art, sondern eine, die sich aus notwendiger Situation ergab. Plateau Djado, Niger (Foto: Thomas Hombach).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 46: Mandelförmiger Faustkeil aus grünlichem ‚Jasper‘ (120 � 60 � 35 mm). Formal entspricht die Form dieses Fundes mit der größten Breite zwischen der Hälfte und dem unteren Drittel des Gerätes dem Schema des mittleren Acheuléen. Auch die partielle, formkorrigierende und schneidenbegradigende Nacharbeit der Kanten und Spitze sind sehr charakteristische Merkmale, die noch nicht dem Standard des Jungacheuléen entsprechen. Während eine der Flächen noch die grünliche Farbe des Ausgangsmaterials zeigt, ist die andere mit einer Verwitterungspatina bedeckt. Dieses Material kann bei längerer Verwitterung (durch Mikroorganismen) dunkelgrau werden. Agadez-Region, Niger (Foto: Thomas Hombach).
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Wie wir uns 2 Millionen Jahre Faustkeilzeit vorstellen können
Wie wir uns 2 Millionen Jahre Faustkeilzeit vorstellen können Wir sind wohl alle der Meinung, dass die Steinzeit unendlich lange zurückliegt und können uns diese Spanne nicht als in Gefühlen Erlebbares vorstellen. Immerhin sagt uns der Verstand, dass ihr Ende – das Ende der Jungsteinzeit in Mitteleuropa – so weit vom Jahr Null entfernt ist, wie wir davon. Mit anderen Worten, sie endete etwa 2000 Jahre vor dem römische Kaiser Augustus. Die Eisenzeit begann nur 800 Jahre vor ihm. Folglich dauerte die Bronzezeit von 2000 BC bis etwa 800 BC. Einen Zeitmaßstab bis zum Anfang der Menschheit habe ich schon an anderer Stelle in diesem Buch vorgelegt (S. 13). Jetzt möchte ich die Zeit nochmals mit einem chronologischen Vergleich vorstellen, bei dem ich mich an einer Idee des Amerikaners David Brower orientiere, der 1995 den Mythos der göttlichen Schöpfung von sechs bzw. sieben Tagen dazu benutzte (nach Capra 1996). Er stellte sich vor, die Erde wäre an einem Sonntag genau um Mitternacht erschaffen. Die ersten Bakterien würden dann am Dienstagmorgen anfangen, die Welt zu besiedeln. Die ganzen Mikroben hätten so bis Donnerstag-Mittag Zeit gehabt, sich zu Mehrzellern zusammenzuschließen und dann die sexuelle Fortpflanzung zu entwickeln. Damit wären sie am Freitag gegen 16 Uhr fertig gewesen. Das geschah alles in den Urmeeren. Erst am frühen Samstag entwickelten sich die frühen (eokambrischen) Meerestiere: Urquallen, Würmer, Mollusken, Vorformen der Krebse und Insekten sowie Weichtiere mit einem Knorpelstrang als Rückgrat. Kurz nach 9 Uhr versuchen Pflanzen an Land zu überleben, die ab 10 Uhr langsam anfingen, Wälder zu bilden. Gegen halb 1100 werden diese Wälder von Amphibien (Lurche usw.) und großen Insekten bewohnt. Am Nachmittag, etwa zehn Minuten vor 17 Uhr erscheinen die großen Reptilien
(Saurier usw.), sterben aber plötzlich um 21.45 fast alle aus. Zunächst noch kleine Säugetiere nehmen ihren Platz ein, und um 1730 gibt es richtige Vögel. Aber erst um 22 Uhr sitzen in den Bäumen auch kleine Affen, aus denen 2340 die Urahnen der Menschenaffen hervorgehen. Acht Minuten vor Mitternacht erheben sich die noch äffischen Ahnen der Australopithecinen, um auf zwei Beinen herumzulaufen. Sie alle verschwinden schon fünf Minuten später wieder, nachdem sie sich einige Sekunden lang mit dem Homo habilis getroffen haben, der dann schon nach einer halben Minute dem Homo erectus für gut vier Minuten als Nachfolger Platz macht. Aus seinen Reihen tritt der erste (archaische) Homo sapiens hervor. Fünfzehn bis vier Sekunden vor Mitternacht lebt dann in Europa und im westlichen Asien der mittelpaläolithische Mensch. Fünf Sekunden vor Mitternacht erscheint der als modern bezeichnete Cro-Magnon-Mensch. Die geschriebene Geschichte beginnt genau zwischen einer halben und einer Sekunde vor dem Jetzt. Diese Zusammenstellung zeigt krass, wie wir Menschen einer Explosion gleich diesen Globus verändert haben. In kürzester Zeit, ohne Möglichkeit des Innehaltens, haben wir alles industrialisiert, normiert und betoniert. Ob das gut geht? Reißt diese Explosion uns mit in die Vernichtung oder sind wir in der Lage, im natürlichen Gefüge lebendiger Kräfte der Erde ein Partner zu werden? Pessimismus lähmt, Optimismus blendet. Tatkraft könnte nur helfen, wenn sie nicht vom blindwütigen Mut überholt wird, sondern wenn ihr der wahrhaftige Respekt vor der Natur die Richtung vorgibt. Daran müssen wir uns kompromisslos halten. Auch Präsidenten, Konzerne und Banken. Die am meisten.
Was wir über Faustkeile denken und was die Hersteller darüber dachten Die Archäologie bemüht sich, ihre Funde in einer wissenschaftlichen Systematik zu klassifizieren. Unter dem künstlichen Begriff Faustkeil (englisch und französisch biface) gibt es wiederum Untergruppen, deren Bezeichnungen zumeist an umgangssprachlich bekannte Formen angelehnt wurden: ovale, mandelförmige, dreieckige, lanzettförmige oder so-
gar flaschenförmige Faustkeile (Abb. 15–41, Fotos 1–10 ff). Dazu kommen weitere Formen wie die französisch bezeichneten Limandes (seezungenförmige), Naviformes (bootförmige), Ficrons (setzeisenförmige) und Pics (pickelartige) sowie die englisch benannten Cleaver (Spalter), und schließlich
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 67: Einfach gestalteter Faustkeil mit massivem Talon aus kieseliger Grauwacke. Das Ausgangsmaterial war wahrscheinlich nicht sehr lange ‚schnittfest‘. Wo kein geeigneteres zur Verfügung war, nutzte Homo erectus auch harten Sandstein, verkieseltes Holz, Stoßzahnmaterial, festen Kalkstein, Vulkanite und sogar Knochen zur Faustkeilherstellung. Viele Artefakte daraus sind seit den letzten 500 000 Jahren einfach der Verwitterung zum Opfer gefallen, so dass sich aus diesen Zeiten oftmals nur Kleingeräte aus besserem Silex oder Quarz finden. Homo erectus hat in seinem Verbreitungsgebiet die Faustkeilherstellung weder vergessen noch abgelegt. Zoukoudian bei Peking, ‚Loc. 1‘, Senckenberg-Institut Frankfurt (Zeichnung: L. Fiedler).
die deutschen Namen wie Keilmesser, Halbkeile und Fäustel bzw. Minaturfaustkeile. Es gab und gibt immer noch zahlreiche Versuche, diese Formen metrisch zu definieren, doch die Übergangserscheinungen zwischen diesen „Typen“ machen die Zuordnung der realen Funde schwer, weil dann Entscheidungen getroffen werden müssen, die nicht exakt in die formal oder metrisch geschaffenen Schemata passen. Meine bloße Vermutung ist, dass die Schöpfer der Faustkeile diese Klassen nicht hatten, außer vielleicht ovale (Abb. 16), dreieckige/herzförmige (Abb. 23–26), massiv spitze (Abb. 17–20) und breitschneidige (Cleaver, Abb. 32–37), selbstverständlich nicht unter diesen Namen, aber doch mit einem kennzeichnenden Begriff. Außerdem ist es in jedem Einzelfall schwer zu entscheiden, ob und wie das damals jeweils vorhandene Rohmaterial und die damit zur Verfügung stehenden Ausgangsformen die formale Gestaltung 104
eines Faustkeils maßgeblich beeinflussten (beispielsweise Abb. 56–58). Ebenso bleibt bei vielen Fundstücken unklar, ob nach den einstigen Vorstellungen nun ein perfekt gelungener Faustkeil vorliegt, oder ein schon beschädigtes und nachbearbeitetes Exemplar – oder was ein nicht fertiggestelltes, im Herstellungsprozess verworfenes Faustkeilhalbfabrikat sein könnte. Dazu kommen die offensichtlich vorhandenen und eindeutig formverändernden Nachschärfungen oder konzipierten Umgestaltungen. Manchmal sind solche sekundären Bearbeitungen offensichtlich, aber in vielen Fällen bleibt eine entsprechende Feststellung unsicher. Das bedeutet, dass formale, technologische oder metrische Klassifizierungsversuche von Faustkeilen auch in Zukunft zwar wissenschaftlich angemessen sind, aber doch weiterhin nur Annäherungsversuche an diese Objekte sein und nur in diesem Sinne als jeweilige Überzeugungen verstanden werden können. Und Archäologen, auch die experimentellen
Was wir über Faustkeile denken und was die Hersteller darüber dachten
Abb. 68: Schlank-mandelförmiger Faustkeil des Jungacheuléen aus Feuerstein. Auf einer Seite des Geräts (rechte Ansicht) ist von seiner Basis her eine Klinge abgeschlagen worden, die dem Werkzeug „entnommen“ wurde, ohne es danach zu verwerfen. Die Möglichkeit einer derartigen Zusatzfunktion gehört von Beginn an zum Wesen der Faustkeile. Gafsa-NW, W-Tunesien (Zeichnung: L. Fiedler).
Steinschläger unter ihnen, haben nur wenige konkrete Vorstellungen darüber, zu welchen speziellen Anlässen Faustkeile in der Altsteinzeit zu machen waren. Wir wissen auch nicht, ob unter ihnen bestimmte Formen, beispielsweise mit spitzen oder abgerundeten Enden, für ganz spezielle Anforderungen gefertigt wurden, ob einige perfekte davon vielleicht eher sakrale oder doch ganz profane Gegenstände waren, ob sie manchmal in Handhaben geschäftet wurden oder ob sie bestimmten Altersgruppen oder Geschlechtern vorbehalten waren. Gute Steinschläger können sie heute perfekt
nachahmen. Aber selbst, wenn damit Dickhäuter zerlegt oder Äste angesägt würden, es bleiben experimentelle Repliken und keine wahren Faustkeile, deren ehemalige Realität im einstigen Leben trotz allem forscherischen Scharfsinn nie vollständig zu erfahren ist. Aber ähnliche Probleme hätten zukünftige galaktische Archäologen, wenn sie auf einer von Menschen verlassenen Erde Autos fänden und darüber nachdächten, wozu sie alle, außer als Transportmittel, noch darüber hinaus konzipiert oder gebraucht worden sind (Statussymbol, Sport, Hobby usw.).
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Abb. 69: Gestreckter massiver Faustkeil. Das Werkzeug wurde aus dem in der Umgebung verfügbaren Blockquarzit hergestellt. Es ist ein relativ rasch hergestelltes Instrument zum Ausweiden von Jagdwild. Münzenberg „Hofland-E“, Mittelhessen (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 70: Spitzer Faustkeil mit massivem Talon. Bei vielen komplett bearbeiteten Faustkeilen ist es nicht sicher, ob die zahlreichen Abschlagnegative der im Gestaltungsprozess letzten Zurichtung Nachbearbeitungen verstumpfter oder ausgebrochener Kanten sind, oder ob das vorliegende Gerät von vornherein so gedacht und dargestellt worden ist. Die große glatte Fläche am Talon des hier gezeichneten Objekts lässt vermuten, dass es der Rest einer Schlagfläche eines kräftigen Abschlags ist, der dann als Grundform zur Verwirklichung des Faustkeils diente. Er würde dann ursprünglich eher leicht konvexe Kanten und eine zungenförmge Spitze gehabt haben. Die schlanke Spitzenpartie könnte also eine erforderliche Nachgestaltung sein, nachdem das Gerät heftiger Beanspruchung unterworfen war. Fundbergung von Norbert Kissel aus dem Acheuléen von Münzenberg, Zentralhessen (Zeichnung: Beate Kaletsch).
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Abb. 71: Keilmesser mit nur einer beabsichtigten scharfen Kante. In der Aufsicht sieht dieses Artefakt wie ein gewöhnlicher spitzer Faustkeil aus, aber der dreieckige Querschnitt und eine durch gezielte Bearbeitung stumpf gehaltene Kante machen nicht den Eindruck, als resultiere die Gesamtform aus einer summarischen Zufälligkeit. So lässt sich dieser Faustkeil den ‚Keilmessern vom Typ Bockstein‘ zur Seite stellen. Nach persönlichen Angaben des Finders R. Grahmann stammt der Fund aus den unteren Pleiße-Schottern. Demnach gehört er nicht zu den stratigraphisch jüngeren Funden, sondern zum Jungacheuléen mit einem Alter von mindestens 300 000 Jahren. Markkleeberg, Sachsen, persönliches Geschenk (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 72: Grobes Keilmesser mit ‚Schneidenschlag‘ aus Kieselschiefer (‚Ciemna-Messer‘). Bei diesem Werkzeug wird die Funktion durch den gezielten ‚Pradnik-Abhieb‘ deutlich, der eine relativ lange Schneide erzeugte, die besonders gut für einen skalpellartig geführten Schnitt geeignet war. Die halbbogenförmige Retusche an der Spitze des Messers wurde immer dann etwas tiefer erneuert, wenn dort die Schneide zu stumpf geworden war (Prinzip der heutigen Teppichmesser!) – wie in diesem Fall, in dem das Gerät schließlich abgelegt worden ist. Wegen der stratigraphischen Fundlage gehört das Werkzeug in die vorletzte Kaltzeit und ist mindestens 130 000 Jahre alt. Buhlen, N-Hessen, in situ aus Schicht 8 unten (nach Fiedler 2009).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 47: Protobiface (115 � 79 � 56 mm). Das Artefakt besteht aus „Feuerstein“ und ist durch Windschliff stark verändert. Vor allem der ursprünglich kreidehaltige Talon ist an einer Seite extrem stark ausgeblasen. Hätte es nicht einen Talon und grobe bifacielle Kantenbearbeitung, wäre der Fund nur ein Restkern oder ähnliches. Seine Gestalt läuft nicht auf eine Spitze, sondern auf eine chopping-tool-artige scharfe Schneide zu (vergl. auch Foto 27). Es ist damit gleichsam ein weiter entwickeltes Chopping-tool. Ob das Gerät aber Oldowan-zeitlich ist, kann vermutet, jedoch nicht behauptet werden. Ostsahara, Western Dessert, Grenzbereich Ägypten/Libyen.
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Foto 48: Einfacher Faustkeil aus Abschlag (84 � 66 � 24 mm). Dieser Faustkeil wurde von mir schon bei einer Exkursion 1964 gefunden. Er ist aus einem Abschlag hergestellt, von dem noch größere Partien auf der Oberfläche des Artefakts vorhanden sind: links die Ventralansicht mit dem Schlagflächenrest, rechtes die Dorsalfläche. Das Gerät ist an den Kanten bifaciell behauen und passt in den üblichen Rahmen der dort auf der „Reutersruh“ gefundenen Faustkeile, die ebenfalls oft partiell korrodiert sind und stilistisch in das ältere Acheuléen gehören. Auch die massenhaft vorhandenen diskoiden Kerne sowie einige Cleaver, Pics und Polyeder weisen auf das hohe geologische Alter dieser Funde hin. Daneben gibt es einige des ‚späten Mittelpaläolithikums mit Blattspitzen‘. Der Fundplatz ist ein landschaftsprägender Outcrop des tertiären Quarzits. Ziegenhain „Reutersruh“, NE-Hessen, Deutschland.
Foto 49: Herzförmiger Faustkeil mit Thermoaussprung (91 � 63 � 26 mm). Der Aussprung ist in der linken Ansicht am Talon links zu sehen. Er rührt entweder von einem frostrissigen Rohmaterialstück her und sprang bei der Bearbeitung ab, oder er platzte im kaltzeitlichen Klima danach fort. Vermutlich hätte es den Neandertaler nicht besonders gestört, denn viele Bifaces dieses Mittelpaläolithikums sind dünn und fern von den gebrauchsbedingten Anforderungen, die die Menschen im Altpaläolithikum an gewöhnliche Faustkeile hatten. Zu bemerken ist, dass das stark bräunlich patinierte Artefakt eine (nicht perfekte) ‚wechselseitig-gleichgerichtete‘ Retusche trägt. Wahlen, Mittelhessen, Deutschland.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 50: Mittelgroßer Polyeder (etwa 83 � 78 � 88 mm). Der mittlere Durchmesser dieses fast komplett von Kortex befreiten Artefakts liegt bei etwa 8 cm. Damit gehört er in die mittlere Größe derartiger Artefakte (die „Apfelsinen-großen“ Polyeder). Eine weitere deutlich unterscheidbare Gruppe hat Durchmesser zwischen rund 4 und 5 cm (Die „Mandarinen-großen“ Polyeder) und dann kommen noch betont größere, bis Straußenei-große vor, die aber weniger häufig zu finden sind als die anderen. Die gleichen Größengruppen haben Polyeder auch in Europa. Der Fund zeigt deutlichen Windschliff und ist hier kennzeichnenderweise nicht patiniert. Amguid – W, Zentralalgerien.
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Foto 51: Mittelgroßer Polyeder (Durchmesser um 9 cm). Wie die meisten altpaläolithischen Funde von Amguid trägt auch dieser Windschliff, aber keine Patina. Der für altpaläolithische Verhältnisse sehr sorgsam kugelig gestaltete Polyeder ist ein gutes Beispiel dafür, dass derartige Artefakte häufig von so vielen kleineren Abschlagnegativen überdeckt sind, dass eine funktionale Klassifizierung als kugeliger Restkern ganz ausgeschlossen ist. Die Mühe einer annähernd kugeligen Gestaltung solcher Objekte übersteigt auch ganz deutlich diejenige, die bei der gleichzeitigen Formgebung von Faustkeilen geleistet wurde. Ihre vom Oldowan bis in das Atérien nie aufgegebene Anfertigung überdauerte die Existenz von Faustkeilen und findet sogar eine Fortsetzung in den steinernen, kugeligen Geschossen, die mit den antiken Katapultmaschinen über beträchtliche Entfernungen abgefeuert wurden, ja vielleicht sogar in manchen Steinkugeln mittelalterlicher-frühneuzeitlicher Geschütze. Amguid – W, Zentralalgerien.
Was wir über Faustkeile denken und was die Hersteller darüber dachten
Foto 52: Polyeder aus örtlich anstehendem qualitätvollem Feuerstein, Durchmesser zwischen 8 und 10 cm, mit Kortexrest (der in der unteren Ansicht zu sehen ist) und weißer Patina. Da Polyeder seit dem Altpaläolithikum in nahezu gleicher Weise gemacht worden sind, ist hier die Zeitstellung in ein spätes Acheuléen oder das Mittelpaläolithikum durch die dünne weiße Patina relativ sicher, weil ältere Funde dort eine gräuliche oder sogar bräunliche Farbe erhalten haben. Gafsa NW, SW-Tunesien.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 53: Schmaler Cleaver/Retuscheur (109 � 51 � 32). Dieser kleine Cleaver wäre nicht bemerkenswert, wenn er nicht im Bereich des ehemaligen Bulbus von Schlagmarken übersät wäre. Neben seiner Funktion als „Faustkeil“, also als Meißel oder Spaltkeil sowie rechtlateral als Schaber und Schnitzgerät, bedeuten diese Einschläge, dass das Gerät als Retuscheur bei der Steinwerkzeugherstellung gedient hat. Denn kein anderes Werkmaterial hinterlässt so eindeutige Schlagspuren. Die Multifunktionalität dieses Cleavers kündet von der möglichen Verhaltensflexibilität innerhalb einer imperativen Tradition. Welche der genannten Nutzungen würden dem Fund die passende Bezeichnung in der archäologischen Nomenklatur verleihen? A-97–19. Murzuk-Wüste, S-Libyen.
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Foto 54: Restkern und Kratzer (41 � 31 � 11 mm). Als Restkern trägt dieses Objekt Negative dreier „Zielabschläge“, von denen der zuerst entfernte ein kleiner Levallois-Abschlag gewesen sein könnte. Die herstellende Person hat aber aus gleicher Position noch zwei weitere Versuche unternommen, die beide in einem Stufenbruch endeten und als misslungen gedeutet werden können. Um trotzdem aus dem relativ kleinen Werkmaterial noch an ein nutzbares Schneidinstrument zu gelangen, wurde es mit einer gezähnten Kante versehen, die eindeutig nicht zu der primären Gestaltung des Kerns, also seiner ‚Präparation‘ gehört. Nachbearbeitungen vergleichbarer Art gibt es an zunächst der Abschlaggewinnung dienenden Kernen gar nicht selten. In der Altsteinzeitarchäologie zwischen 1900 und etwa 1960 war diese Erkenntnis verbreitet, wurde aber eigentümlicherweise danach nahezu aufgegeben. Man begann „nüchterne Eindeutigkeit“ zu bevorzugen. A-99–21. Nördliche Murzuk-Wüste, S-Libyen.
Was wir über Faustkeile denken und was die Hersteller darüber dachten
Foto 55: Levallois-Spitze (65 � 40 � 13 mm). Knapp 15 km östlich der Fortruinen von Ouallene in SüdwestAlgerien öffnet sich eine beckenartige Serir-Landschaft. Auf den leicht hügeligen Kiesflächen am Randbereich dieses Beckens sind mehrfach Artefaktkonzentrationen des älteren Acheuléen feststellbar. In der Mitte des Beckens kartierten wir eine 12 m lange, leicht gebogene Steinsetzung des Atérien, die offensichtlich die Basis eines Windschirms war. In unmittelbarerer Nähe der Anlage fand H. Quehl die abgebildete Spitze (jüngeres Mittelpaläolithikum). Dabei ist anzumerken: Auf einer nördlich davon gelegenen Felsterrasse konnten wir eine große, annähernd ovale Steinsetzung, die nach Ausweis der damit verbundenen Artefakte eine Behausungsstruktur des Acheuléen ist, leider nur fotographisch festhalten (Fiedler 1994, Abb. 14), da für eine Vermessung keine Zeit mehr blieb. Der Bedeutung halber sei das hier angemerkt. Assedjrad, SW-Algerien.
Foto 56: Moustier-Spitze aus einem flachen Abschlag der Biface-Bearbeitung (51 � 34 � 11 mm), dessen nur teilweise erhaltener Schlagflächenrest relativ dünn ist. Möglicherweise ist er nicht einfach zufällig von der Basis eines Faustkeils abgespalten worden. Die Retusche entspricht der mittelpaläolithischen Tradition und ist sorgfältig angelegt. Im distalen Bereich der Ventralfläche gibt es ein Negativ, das für eine mögliche Nutzung als Geschossspitze zeugt. Auf dem Fundplatz gab es ausschließlich Artefakte des Jungacheuléen. Fast alle Werkabfälle, die bei der Nachbearbeitung von Cleavern und Faustkeilen anfielen, sind zu Schabern, Kratzern und Spitzen umgestaltet worden. Nördliche Murzuk-Wüste, S-Libyen.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Fotografie und wissenschaftliche Zeichnung Von Zeit zu Zeit tritt einem Archäologen die Frage entgegen, warum Fundgegenstände denn überhaupt gezeichnet werden müssen, wenn es doch die Möglichkeit der Fotografie gibt, die schneller realisierbar und objektiver in der Wiedergabe ist. Schließlich geht es ja um wissenschaftliche Korrektheit bei der Abbildungsvorlage – und Zeichnung sei doch immer eine graphische Interpretation. Die mit der Frage formulierten Argumente träfen sogar zu, wenn Wissenschaft nicht per se die Aufgabe des Verstehenwollens und damit die der Interpretation des Forschungsobjekts hätte. Gute zeichnerische Abbildungen sind immer das Ergebnis einer detaillierten Autopsie des untersuchten Objekts. Die Zeichnung muss in der Lage sein, einer nicht an der vorherigen Untersuchung des Objektes beteiligten Person die aus der Autopsie entstandenen Informationen möglichst deutlich und unmittelbar vor Augen zu führen. Während der Fotoarbeiten für diese Veröffentlichung wurde ganz besonders deutlich, wie sehr die Farben der aufgenommenen Steinartefakte von den Arten des Lichtes, dessen Helligkeit, seinem Einstrahlungswinkel und von der gewählten Wiedergabe in der Software abhängig sind. Keines der abgebildeten Objekte hat deshalb eine fotografisch objektive Farbigkeit. Ebenso sind die Fotografien wegen der relativ kurzen Abstände zwischen Kameralinse und Gegenstand eindeutig einer leichten zentralperspektivischen Verzerrung unterworfen; die sichtbaren Flächen eines Faustkeils haben also keinen einheitlichen Maßstab, weil diejenigen, die der Kamera näher waren, größer abgelichtet worden sind, als diejenigen die – zumeist randlich – weiter davon entfernt waren. Nur ein Scanner, dessen in winzigen Abständen weiterwandernder Messstrahl schließlich eine parallelperspektivische Projektion des Objekts erbringt, kann eine „fotografische Genauigkeit“ garantieren, die jedoch dem jeweiligen aktuellen visuellen Eindruck eines Betrachters nicht entspricht. Das könnten nur Hologramme erbringen, die aber in einem Buch nicht zu drucken sind und außerdem zur Kommunikation zwischen Interessierten bisher einer außerordentlich aufwendigen technologischen Ausstattung bedürfen. Die variierende Eigenfarbigkeit der Gesteine, aus denen die Artefakte gemacht worden sind sowie 114
die unterschiedlich intensive Alterspatina darauf können auch bei sehr guten Fotos entscheidende Bearbeitungsmerkmale mehr oder weniger stark „überstrahlen“ bzw. verbergen (Fotos 10, 23–24, 34–35, 141–144). In dem vorliegenden Faustkeilbuch ist der visuelle Eindruck, dem zunächst die Fotografie dient, zugleich das Mittel, die wissenschaftliche Zeichnung zu verstehen, die in jedem Fall genauere Informationen der Herstellungstechnik bietet als das Lichtbild. Deshalb sind hier vom selben Objekt gelegentlich beide Darstellungsarten gemeinsam gewählt. In den Zeichnungen sind die verschiedenen Ansichten eines Artefakts so platziert, dass die Seitenansichten auch auf der Seite zu finden sind, von der aus dabei auf den Gegenstand geschaut wurde. Die schraffierenden Innenzeichnungen der dargestellten Artefakte kennzeichnen die spaltmechanischen Eigenschaften jeder Fläche. Dabei geben die bogigen Linien den Ursprung und Verlauf des jeweiligen Abschlagvorgangs wieder, indem sie konzentrisch den Punkt umlaufen, auf den der Erzeuger des Artefakts mit seinem Schlagstein oder einem Geweihhammer das jeweilige Abspalten ausgelöst hat. Dass der Zeichner dabei zugleich Lichteinfall und Schatten simuliert sowie durch die Art der Linien (durchgezogene, gepunktete oder in Strichbündeln) Hinweise auf das Gesteinsrohmaterial liefert, verleiht der Grafik einen klaren wissenschaftlichen und auch ästhetischen Vorzug. Viele neuere Publikationen in internationalen fachwissenschaftlichen Zeitschriften verzichten allerdings gewollt auf Zeichnungen. Ihr Argument dafür ist, dass Zeichnungen einen Fund „schönen“ würde oder gar aus einem faustkeilförmigen Naturstein ein Artefakt hervorzaubern könnte. Damit verbergen sie aber die Hilflosigkeit mancher Archäologen, nicht zeichnen zu können oder zumindest keine geeignete Mitarbeiterin oder geeigneten Mitarbeiter zu haben, der in entsprechenden graphischen Fähigkeiten ausgebildet ist. Denn das Verdachtsmoment der zeichnerischen Verfälschung ist fadenscheinig, weil auch Fotografien manipulierbar sind. Nein, es geht vielen fotografierenden Archäologen vermutlich auch um die Möglichkeit, ohne größere Umstände ihre Funde bequem und schnell publizieren zu können. Dabei entfällt die akribische
Fotografie und wissenschaftliche Zeichnung
Abb. 73: Arbeitshaltung mit kleinen und großen Faustkeilen. Einen Faustkeil beim Arbeiten der altertümlichen Benennung gemäß in der Faust zu führen, würde sehr bald Sehnenscheidenentzündungen im Unterarm und am Ellenbogen auslösen. Experimente lassen beim Durchtrennen von dicker Ochsenhaut auf eine seitliche Handhabung schließen (Bild unten). Kleine Faustkeile dürften dagegen als Messer zwischen Daumen, Zeigefinger und Mittefinger während der Arbeit ergriffen worden sein. Da es auch im Oldowan schon sehr zahlreiche Geräte geringer Dimension gab, ist davon auszugehen, dass Homo habilis seine Hand wie der heutige Mensch benutzen konnte (Zeichnung: L. Fiedler nach Fiedler 2007).
Abb. 74: Triedrischer Faustkeil aus Basalt. Geräte dieser Art kommen vom frühen Altacheuléen bis ins mittlere Acheuléen vor. Zwei Deutungsmöglichkeiten ihrer besonderen Form kommen in Frage: 1. Das verfügbare Rohmaterial ließ nicht immer die Herstellung dünner Bifaces zu, so dass manche von drei Kanten aus behauen werden mussten, und 2. Es waren gezielt hergestellte Geräte mit besonders stabilen Spitzen. Ich möchte mich nicht auf eine dieser Erklärungen festlegen, weil manche gewöhnliche Faustkeile auch Verdünnungsabhiebe von einem Grat auf einer der beiden Flächen tragen, aber viele Trieder doch sorgsam nach einem festgelegten Konzept angefertigt worden sind. Am Fundort des hier vorgestellten Trieders fanden sich auch viele andere Faustkeile, aber eben auch eine bedeutende Anzahl derartiger Dreikanter, die offensichtlich einer traditionellen Funktion zugedacht waren – hypothetisch vielleicht mit dem Aufschlagen von Schädeln erlegter Elefanten. ’Ubeidiya, Jordan-Tal an der Grenze Syrien-Israel; Sammlung Bay/Schwab (Zeichnung: L. Fiedler).
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Abb. 75: Vierkantiger Pic. Auch diese Form kommt in ’Ubeidiya häufiger vor. Dass dieser Faustkeil zu den ungewöhnlichen Arten gehört und seine Anfertigung Geschick verlangt, macht ihn zu einer Sonderform des Altacheuléen. Wie auch Trieder dienten die vierkantigen Pics wahrscheinlich dem Aufhacken – beispielsweise von Knochenmasse. (Mesolithische Spitzgeräte dieser Art waren in Schäften gefasste Hacken und Totschläger.) Eine Schäftung dieses Typs ist wohl kaum für das Altacheuléen anzunehmen. Münzenberg, Zentralhessen (Zeichnung: Kaletsch/Fiedler).
Abb. 76: Triedrischer Pic mit flacher Unterseite und zungenförmiger Spitze. Dieses Gerät wurde aus Feuerstein angefertigt und ist ablagerungsbedingt leicht verschliffen. Seine dechselähnliche Form legt eine Verwendung als Holzbearbeitungsgerät nahe. Neben den eindeutig spitz gestalteten Triedern verkörpert dieser Fund eine zweite Gruppe mit scharfem bogenförmigem Ende (vergleiche Abb. 191–192). Madrid, Manzanares-Terrasse, Zentralspanien (Zeichnung: L. Fiedler).
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Fotografie und wissenschaftliche Zeichnung
Foto 57: Kleiner spitzer Faustkeil (92 � 54 � 26 mm). Der Lesefund ist aus einem Abschlag gefertigt und nicht besonders sorgsam gestaltet. Seine Form, Machart und Patina stellen das Objekt am wahrscheinlichsten in das Jungacheuléen. Das Objekt ist wie ein Faustkeil gestaltet, aber die gewisse Nachlässigkeit in der Bearbeitungseise könnte dafür sprechen, dass er nicht für eine entsprechende Funktion gedacht war, sondern für den Gebrauch als Bohrer oder steinerner Pfriem hergestellt worden ist. Creysse (Bergeracois, SW-Frankreich).
und vor allem verantwortungsvolle Autopsie des grafischen Umsetzens aller Merkmale. Zwar wird manchmal ein Ausgleich in schematischen Skizzen, die den Herstellungsprozess eines Steinartefakts erläutern sollen gesucht, aber auch damit sind Fehlinterpretationen nicht ausgeschlossen. Da liegt die Vermutung nahe, dass sie auch eine eilige WunschRealität implizieren könnten und deshalb nicht den Anspruch auf grundsätzliche Verlässlichkeit erfüllen. Letztenendes geht es bei diesem Problem vor allem um Wertschätzung. Wer zeichnet oder zeich-
nen lässt, widmet dem Fundobjekt deutlich mehr Aufmerksamkeit als es die Fotografie erfordert. Und schließlich, die Archäologie des 19. und 20. Jahrhunderts hat ihre Informationen über das Fundmaterial zeichnerisch dargeboten. Wer wäre so dreist zu behaupten, die heutige Fotografiererei wäre wissenschaftlich geeigneter und objektiver? Wenn es doch so wäre, hätte er ja ein Fach studiert, dessen Grundlage geschönte, fälschlich interpretierte und nutzlos grafisch dokumentierte Fundobjekte waren. Und außerdem: Wenn der Wissenschaftler ein Artefakt begutachtet, verstanden und fotogra117
Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 58: Moustier-Spitze (118 � 59 � 17 mm). Wenn die Kantenbearbeitung des hier vorgelegten Fundes steiler wäre, würde er zweifellos als spitzer Doppelschaber (racloir convergent) bezeichnet werden; alleine die flach angelegte Retusche stellt das Artefakt in die archäologische Klasse der mittelpaläolithischen Spitzen. Ob es sich bei derartigen Stücken tatsächlich um Speerspitzen handelt, ist mehr als fraglich. Wahrscheinlich waren sie spitze Messer, die, wenn ihre Schneiden stumpfer wurden, erneut retuschiert und sich mehr und mehr in Schaber verwandelten. Creysse (Bergeracois, SW-Frankreich).
fiert hat, muss das ja dem Kollegen und erst recht dem Fachfremdem genügen, oder? Falls die Leser genauere Auskünfte über die in Zeichnungen vorhandenen Informationen erlangen 118
möchten, finden sie sie in: Fiedler, Rosendahl und Rosendahl 2011, Altsteinzeit von A bis Z (wbg Darmstadt).
Fotografie und wissenschaftliche Zeichnung
Foto 59: Altpaläolithischer Bohrer aus ortsfremdem Quarzit (60 � 43 � 20 mm). Dietrich Mania hatte in Bilzingsleben den Befund eines großen ElefantenKugelgelenks, das über und über mit kleinen Einstichen versehen war. Offensichtlich wurde im Altpaläolithikum mit einem „Bohrer“ Tierhaut oder Leder perforiert, um dann mit Sehnen zusammengenäht werden zu können. Der Oberflächenfund stammt von einem Feld des Münzenberger Gebiets, auf dem ausschließlich Artefakte des Altacheuléen angetroffen wurden. Münzenberg „Eisengrund“, Mittelhessen, Deutschland.
Foto 60: Bohrer aus dem Mittelpaläolithikum (111 � 80 � 32 mm). In seiner einfachen Bearbeitungsweise gleicht dieser Fund auch altpaläolithischen Bohrern, die aber meistens viel kleiner sind. Versuche mit nachgestalteten Geräten dieser Art zeigten, dass sich harte Materialien, insbesondere Hölzer der afrikanischen Steppengebiete, nur sehr unzureichend mit derartigen Bohrern bearbeiten lassen. Das funktioniert nur bei brettartig dünn gespaltenem Holz einigermaßen gut. Der Hauptverwendungszweck solcher Bohrer lag vermutlich im randlichen Durchlochen von Tierhäuten, die dann als Bespannung von Behausungen oder Windschirmen dienten. Nördliche Murzuk-Wüste, S-Libyen.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 61: Gezähnter Schaber (83 � 46 � 28 mm). Es ist ein weiß patiniertes Gerät, das in gleicher Machart auch schon im Oldowan vorkommen könnte. Gezähnte Geräte dieser Art sind oft aus sogenannten Quina-Abschlägen hergestellt und diese verleihen ihnen oft bereits vorgegebenene ‚Rücken‘. Die Art der grob gezähnten Retusche verlangt mit einem harten Schlagstein und heftigem Impuls ausgeführte Schläge. Deshalb kommt eine derartige Bearbeitung unter natürlichen Bedingungen (also bei Geofakten) so gut wie überhaupt nicht vor. Dieses Argument stützt vor allem den Artefaktcharakter der Fundobjekte aus Bed 1 von Olduvai, denn auch herumstapfende Nashörner oder Elefanten sind nicht mit ihren Füßen in der Lage, an kleinen Abschlägen tief gezähnte Retuschen der im Bild gezeigten Art zu produzieren. Derartige ‚Gezähnte Geräte‘ tragen bearbeitungsgemäß oft Spitzen oder Zacken, die auch zum Bohren genutzt worden sein könnten. Auch der zuvor abgebildete Bohrer ist in seiner Bearbeitungsweise – nur zwei kraftvolle Abhiebe rechts und links – im Prinzip ein ‚Gezähntes Gerät‘. Gafsa NW, SW-Tunesien.
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Funktion, Methoden, Einsicht, kommunikatives System
Funktion, Methoden, Einsicht, kommunikatives System 1. Kommunikation und Selbstverständnis Bei der Beobachtung von verschiedenartigen Balzverhalten (als Methoden, Sexualpartner zu finden) von Tieren stellt sich heraus, dass trotz aller Ähnlichkeit innerhalb von bestimmten Arten die Befähigungen oder Ausführungen dabei unterschiedlich sind. Unterstellen wir solchen Verhaltensritualen einmal, dass sie biologisch vererbt werden, so sind sie von Individuum zu Individuum nicht dieselben, sondern lediglich ähnlich. Und jedes Individuum hat wiederum eine Spielweite von Möglichkeiten, dieses Balzverhalten zu variieren, in manchen Fällen durch Lernprozesse auch zu optimieren. Trotzdem haben die jeweiligen Arten abzugrenzende Balzweisen, die nur im Rahmen ihrer Charakteristika wirken. Also wird ein Sperling aus dem Kaukasus mit seiner Methode bei einer Sperlingsdame aus der Gegend von Cuxhaven zunächst wohl einige Schwierigkeiten haben. Denn die Cuxhavener haben ihre spezielle Individualität oder
Identität, die sich nicht nur im Aussehen, sondern auch im Verhalten unterscheidet. Eine direkte Übertragung tierischer Methodik auf menschliches Verhalten ist deshalb schwierig, weil unsere Einsichten in die Selbstwahrnehmung oder in das Eigenverständnis von Tieren ungemein begrenzt sind. Wir müssen gestehen, dass sowohl die neuronalen Prozesse als auch ihre Inhalte und Bedeutungen fast nicht mit unseren eigenen kompatibel sind, weil jede Art damit für das besondere Leben in seiner eigenen spezifischen Welt ausgestattet ist (Corbey 2005). Aber als Modelle lassen sich die Beobachtungen trotzdem benutzen. Die berühmte Ethologin Jane Goodall hat bei ihren Schimpansen im Gombe-Nationalpark beobachtet, dass abweichendes Verhalten einiger Gruppenmitglieder nicht akzeptiert wurde und letztlich sogar zu systematischem Totschlag führte. Die Forscherin konnte es nur so erklären, dass es dabei um kontrolliertes, bewusstes Verhalten ging. Der Bruch mit einer Tradition, oder genauer gesagt,
Abb. 77: Cleaver aus einem ‚cleaver flake‘ der ‚Tabelbala-Technik‘. Die Dorsalfläche dieses Cleavers ist mit Abschlagnegativen bedeckt, die größtenteils von der Präparation des ursprünglichen Kerns stammen. Die Schneide ist unbearbeitet, nur die Kanten sind (teilweise bifaciell) retuschiert. Cleaver diese Herstellungstechnik sind in Mitteleuropa selten, kommen aber insbesondere an den Quarzitfundstellen der Mittelgebirge gelegentlich vor. Ob das hier vorgelegte Fundstück vielleicht beilartig geschäftet war, unterliegt bloßer Vermutung. Acheuléen von Münzenberg, Mittelhessen (Zeichnung: Beate Kaletsch).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 78: Cleaver aus einem Breitabschlag der Kombewa-Technik. Auch dieses Stück ist ein „Handbeil“ und fand sich am Rande eines ehemaligen Flusslaufes zusammen mit Faustkeilen, Polyedern, Chopping-tools und einigen Kleingeräten, also in einer Situation ehemaliger Jagdlager des Altacheuléen. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass Cleaver stets für die Bearbeitung sehr harter Steppenhölzer benutzt wurden. Eher ist an die Verwendung als Metzger-Beil zu denken. Amguid-W, Zentralalgerien (Zeichnung: L. Fiedler).
mit einer von Allen getragenen Übereinkunft, wie das richtige Verhalten zu sein hat, wurde auf furchtbare Weise bestraft. Mit der Hominisation vor mehr als 2,5 Mio. Jahren begegnen uns im archäologischen Fundstoff (des Oldowan) erstmals eine Reihe deutlich klassifizierter Werkzeuge: Zu Grab- oder Wühlstäben instrumentalisierte Tierknochen, scharfkantige Steinabschläge, massive Chopping-tools (Foto 47) und globulare Polyeder/Polyhedrons (Fotos 50–51 u. 95). Die Steingeräte wurden mit kennzeichnenden Methoden zurechtgehauen, so dass ihre Bearbeitungsmerkmale vergleichbar sowie für den Archäologen eindeutig definierbar sind (Leakey 1971). Nun ließe sich annehmen, dass die einmal gelernten technischen Methoden der Steinbearbeitung schnell dazu geführt hätten, effektivere Werk122
zeuge herzustellen. Das war aber für die folgenden 500 000 Jahre nicht der Fall. An der handwerklichen Intelligenz kann das nicht gelegen haben, denn ein Faustkeil oder eine Spitze hätte sich mit den bekannten und schon ziemlich komplexen Methoden der Steinbearbeitung ohne weiteres herstellen lassen. Das geschah nicht. Vielmehr ist ein stereotypes Festhalten an dem Erreichten festzustellen. Damit war einmal die Daseinsform der frühesten Menschen grundlegend optimiert worden. Also scheinen Verhaltensänderungen so lange überflüssig gewesen zu sein, wie das Habitat stabil blieb. Abweichungen von den Gewohnheiten gefährdeten sogar den Erfolg und die Identität der Gruppen (Fiedler 2002 b). Das Gleiche gilt auch für die sich vor etwa 2 Mio. Jahren anbahnende Faustkeilkultur (das
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Acheuléen/Acheulean, Zeit des Homo erectus s. l.), die sogar trotz der Ausdehnung der Menschengruppen in unterschiedliche Lebensräume weit über eine Millionen Jahre lang erstaunlich stabil blieb – jedenfalls in dem für uns heutige Archäologen zugänglichem Fundmaterial. Erst im Mittelpaläolithikum, seit etwa 300 000 Jahren (Zeit der frühen anatomisch modernen Menschen), ist eine zunehmende Veränderung der Werkzeuginventare zu beobachten. Diese Veränderung steigerte ihre Geschwindigkeit bis vor etwa 45 000 Jahren und führte dann in einem vergleichsweise rasanten Wandel zum Jungpaläolithikum. Es ist nun möglich, die Hypothese zu formulieren, dass die jeweiligen charakteristischen Steingerätinventare/Tool kits sowie deren Herstellungstechniken (Konzepte und Methoden) als maßgebende Zeichen der Gruppenidentitäten verstanden worden sind. Aber hinter diesen Zeichen steht mehr als ihre formale Wirkung. Denn sie sind nicht deswegen entwickelt worden und im Umfeld der Menschen allgegenwärtig gewesen, weil die Handfähigkeiten und technischen Einsichten es einfach erlaubt hatten, technisch vollkommenere Artefakte zu schaffen, sondern sie wurden weiterentwickelt, weil es ein fast unbemerkbares, aber allmählich zunehmendes Verlangen nach besseren, jeweils optimalen sozioökonomischen Bedingungen gab, dem diese Werkzeuge dienen sollten. Das betraf den Nahrungserwerb, die Nahrungszubereitung, die Errichtung von Schlafstellen und Behausungen, die Feuernutzung, das Anfertigen von Bekleidung, den Transport, die Herstellung von Geräten aus organischen Materialien usw. sowie die damit verbundene optimierte Organisation der Gemeinschaft. Die Gerätschaft ist Ausdruck der Bedürfnisse – nicht aber potentieller Fähigkeiten. Auf eine modellhafte Weise vereinfacht könnte das im Acheuléen (‚mode 2‘ der Lebensführung) beispielsweise so funktioniert haben: Es bestand ein Bedürfnis nach ausreichender fleischlicher Nahrung. Mit Wurfsteinen, geschleuderten Knüppeln oder zurechtgebrochenen Speeren mit splitterigen Enden (‚mode 1‘ tools) war dies Bedürfnis nur bedingt zu befriedigen. Um besser geeignete Speere mit sorgfältig geformten Spitzen zu bekommen, wurden an Stelle der zuvor üblichen Choppingtools und grober Steinabschläge nun sowohl axtähnliche Cleaver als auch Schaber zum spanabhebenden Schnitzen gebraucht. Das dafür benötigte
Rohmaterial musste herbeitransportiert werden. Man brauchte also Beutel, Körbe oder ähnliche Behältnisse. Das Sammeln entsprechender Materialien sowie die ganze Kette operationaler Schritte, die zur Herstellung und Verwendung der Steingeräte führten, verlangt nach sozialer Gruppierung und Verteilung der Arbeit. Und schließlich musste die verteilte Arbeit belohnt werden, indem die nun besser zu erlangende Jagdbeute gemeinsam verzehrt wurde. Der Sinn des Ganzen musste verstanden und von allen Mitgliedern der Gemeinschaft akzeptiert werden. Damit geht eine größere soziale Bindung einher, in der die Identität des Einzelnen sich an der Identität der Gruppe orientiert und entwickelt. Es ergibt sich dann ein Denken, in dem das ‚richtige Handeln‘ als existentiell verstanden wird (Fiedler 2008). Die individuelle Fähigkeit, derartigen Handlungsvorgaben möglichst optimal zu entsprechen, wird von der Gruppe verbindlich gefordert. Zugleich sind die dafür ‚richtigen‘ Cleaver, ‚richtigen‘ Speere, ‚richtigen‘ Behältnisse und ‚richtigen‘ gemeinsamen Mahlzeiten die offenbar werdenden Zeichen der Identität. Dieses vereinfachende Modell könnte damit erweitert werden, dass dem, was ‚richtig‘ ist, der Mythos eines von Ahnen erstmals für die Menschen gestiftetes lebensnotwendiges Verhalten hinterlegt wird. Diese Logik ist so mit einem allgemeinen Weltverständnis verbunden. Das Bekenntnis dazu hat vermutlich ein rein nutzenorientiertes und auf Macht angelegtes Verhalten verhindert (Greve & Fiedler 1998). Die Basis von protoreligiösem Denken könnte also mit der Etablierung erster technosozialer Kultur entstanden sein.
2. Kulturelle Strategien Die Herausbildung des Menschen aus den übrigen Hominoidae ist von Anfang an nur unter dem Aspekt ihrer speziellen und eigentümlichen Erzeugung von Kultur zu verstehen. Sie schafften sich damit ein von der bisherigen Natur abgehobenes Existenzmilieu, das sich aber auch viel später, gegen Ende des Paläolithikums, mit Nützlichkeitsdenken und Kontrolle verband – was sich heute als verhängnisvoll erweist. Die jungpaläolithische „Höhlenkunst“ ist der Beleg für ein zumindest bildnerisches Beherrschen der Tiere und die darin enthaltene Imagination auf deren Fortbestand (Fiedler 1999). 123
Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Die ersten, seit mehr als 2,5 Mio. Jahren systematisch hergestellten Werkzeuge des Oldowan (‚mode 1 technology‘) lassen erkennen, dass sie nicht jeweils isolierte, quasi lineare Verbesserungen des Zerteilens, Grabens oder Schlagens waren, sondern gemeinsame Verbindungen zeigen, indem etwa ein steinernes Chopping-tool zur Herstellung eines Grabgerätes aus Holz oder Knochen diente und dieses wiederum der Erlangung von Nahrung. Die Vorstellung, Nagerbauten aufzugraben, um die Tiere dann töten und essen zu können, war mit einer langen Handlungsverknüpfung verbunden, die erst über diverse Zwischenschritte zum eigentlichen Ziel führte: 1. das Suchen von geeigneten Steinen, die einerseits als Hammer und andererseits als Rohstück zur Erzeugung eines Chopping-tools geeignet sind. 2. die Anwendung der Abschlagtechnik, (zum Know-how gehört dabei, welche Kraft notwendig ist, welche Zonen des Werkstücks der Schlagstein treffen muss und in welchem Winkel der Aufschlag zu erfolgen hat). 3. die Kontrolle der Abschlagtechnik um das formale Ergebnis des Typs Chopping-tool zu erzielen. 4. das Abhacken eines Astes und Zurechtstutzen zu einem brauchbaren Grabgerät. 5. das Suchen oder Aufsuchen des entsprechenden Nagerbaus. 6. das erfahrene, zielorientierte Graben – wahrscheinlich nur unter Mithilfe einer zweiten, ebenfalls erfahrenen Person möglich. 7. das eigentliche Erbeuten der Nahrung sowie dessen Aufteilung unter den an der Aktion beteiligten. In diesen Schritten wird klassifizierendes Denken konstituiert, denn der Hammerstein dient der Erzeugung eines Hackgerätes und dieses wiederum der Herstellung eines Grabgerätes. Außerdem sind dem Hammerstein und dem Chopping-tool spezifische Steinmaterialien zugeordnet und dem Grabholz organischer Rohstoff. Für die Erreichung des Ziels müssen dem Akteur nicht nur die prozessualen Schritte, sondern auch die feststehenden formalen und materiellen Bedingungen im Denken verfügbar sein. Außerdem muss der Mitakteur wissen, was der Partner macht und dieser wiederum muss davon überzeugt sein, dass der andere seine jeweiligen Handlungsschritte versteht. 124
Da die notwendigen Schritte zu solchen Aktivitäten nie unter denselben Bedingungen stattfinden, weil sie alle unendlich variantenreich sind, kann das notwendige Wissen dafür nicht in einem engen und starren Denkmuster (etwa wie 2 + 3 ist immer 5) abgelegt werden, sondern in Mustern, Zeichen oder Symbolen, die grundsätzlich allen tatsächlichen Situationen übergeordnet sind. Vermutlich sind die cerebralen Voraussetzungen für die Speicherung übergeordneter Muster schon sehr lange vor der Zeit der Hominoidae und spätestens bei den ersten gesellig lebenden Landwirbeltieren im Perm-Zeitalter entwickelt worden. Aber diese Muster dienten nur dem Erkennen und entsprechenden (logischen) Reagieren, nicht jedoch wie bei den ersten Menschen zum gemeinsamen strategischen Planen via sehr verschiedener, aber aufeinanderfolgender Handlungsschritte, die dann vor allem etwas realisieren, was es in der umgebenden Natur so nicht gibt. Die geistigen Voraussetzungen für die Realisierung des gedachten Neuen sind also hierarchisierende Klassifikation und Kooperation/Kommunikation. Die gedankliche Ebene aller Mitglieder einer Gemeinschaft muss auf die prozessualen und formalen Muster abgestimmt sein. Ebenso muss der Sinn und Nutzen auch aller Zwischenschritte im gemeinsamen Konsens feststehen. Das heißt, sowohl die gedankliche, abstrakte Ebene dieses Existenzmilieus, wie auch die realisierten Elemente, als sichtbare Zeichen dieses Milieus, müssen ‚selbstverständlich‘ sein. Das Selbstverständnis der Gemeinschaft ist durch enge Kommunikation kompatibel mit dem des Individuums. Eine Verbalsprache ist dafür nicht unabdingbare Voraussetzung, weil der entsprechende kybernetische Prozess auch über Vormachen und Nachmachen, Gesten und Gebärden sowie über die dinglichen Zeichen (Artefakte s. l.) stattfinden kann. Aber das klassifizierende Denken und die Produktion von Zeichen/Symbolen sind die Basis für verbalsprachliche Kommunikation. Da wir davon ausgehen dürfen, dass die differenzierten Lautäußerungen z. B. von rezenten Kapuzineraffen, Erdhörnchen und Rabenvögeln mit ihren protosprachlichen Ansätzen ganz gewiss in ähnlicher Weise bei den Australopithecinen & Co auch vorhanden gewesen sind, wird der Beginn des hierarchisch klassifizierten Vokabulars und seine situationsgebundene Grammatik unmittelbar mit den ersten „Toolmakers“ begonnen haben, um schließlich im
Abb. 79: Gedrungener Cleaver aus einfachem Kortexabschlag. Dieser Cleaver ist ein Grabungsfund aus der „Drachenknochenhöhle“ bei Peking, ‚Loc. 15‘. Er ist ein weiterer Beleg für Geräte des Acheuléen, dessen Typus aber zur Zeit der dortigen europäisch geleiteten Ausgrabungen nicht erkannt wurde. Sammlung des Senckenberg-Instituts Frankfurt. Zoukoudian, China (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 80: Nahezu unifacieller Faustkeil/Pic. Das aus hartem Quarzitgeröll angefertigte Gerät hat eine mandelförmige Gestalt und einen massiven, naturbelassenen Talon. Es ist nur mit vier bis sechs Abhieben in Form gebracht worden, zeigt aber eine relativ feine Nacharbeit an der Spitze und Verdünnungsabhiebe von dem bei der groben Zurichtung zunächst entstandenem Grat (wie bei Triedern). Dieses Fundstück veranschaulicht aufs Beste, was ein Protofaustkeil ist und welche gestalterische Intention dabei zur Darstellung gebracht wurde. Es kam auf eine annähernd spitz zulaufende Form und scharfe Kanten an. Man könnte sagen, die Symmetrie ergab sich von selbst aus der Ausgangsform des Gerölls, muss aber bedenken, dass das Geröll selbst von der herstellenden Person aus der Masse anderen Strandgesteins mit der formalen Vorstellung ausgewählt wurde, um den gewünschten Faustkeil möglichst gut realisieren zu können. Dabei ist nicht zu vergessen, dass das Objekt nicht um seiner selbst willen gemacht wurde, sondern für eine bestimmte Aufgabe geschaffen wurde, die es möglichst gut zu erfüllen galt. Protoacheuléen von Souk-el-Arba-du-Gharb, NW-Marokko (Zeichnung: L. Fiedler).
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Foto 62: Gestreckt dreieckiger Faustkeil (228 � 96 � 40 mm). Alle am gleichen Ort gefundenen Artefakte gehörten ausschließlich zum Jungacheuléen. Neben mandelförmigen Faustkeilen kommen auch lanzettförmige, herzförmige und seltener dreieckige Umrisse vor. Alle sind aus Messak-Quarzit gemacht, der in einer Distanz von über 50 km ansteht. Dieser Faustkeil war unter den noch auffindbaren eine Besonderheit. Seine Kanten sind sorgfältig gerade gearbeitet, kaum gewellt und laufen in einer dünnen, fragilen Spitze aus. Stellt man dieses Artefakt auf eine gerade Fläche, befindet sich die Spitze exakt in der Mitte über den beiden Eckpunkten des Talons. Die extreme Form geht weit über das Gebräuchliche hinaus und beweist handwerkliche und ästhetische Meisterschaft. Ähnliche Meisterschaft des Mittelpaläolithikums finden wir nur in einigen Blattspitzen des Jerzmanovizien realisiert, beispielsweise in denen der Ilsenhöhle unter der Burg Ranis in Thüringen. Dieser Faustkeil hatte mit größter Wahrscheinlichkeit keine Werkzeugfunktion, sondern diente der Bewunderung und könnte als Weihgabe am Fundplatz verblieben sein. Funde dieser Art gehören zweifelsfrei in den Bereich des Ästhetischen und Künstlerischen hinein. Sie belegen klar entsprechend Fähigkeiten in der Neandertaler-zeitlichen Epoche der Menschheit. Die Frage, ob der nordafrikanische Hersteller dieses Geräts anatomisch und genetisch proto-modern war, dürfte nur klassifizierende Paläoanthropologen interessieren. Denn geistige Fähigkeiten sind nicht rassistisch zu bewerten – so sehr auch in biologischen Merkmalen danach gesucht wird. Murzuk-Wüste. S-Libyen.
Acheuléen (Homo erectus, Homo antecessor, Homo heidelbergensis) voll ausgeprägt zu sein. Dieser Entwurf über Konzepte, Methoden, Techniken und Kultur kollidiert mit den engen Vorstellungen sehr vieler heutiger Anthropologen, die den Beginn der Kultur mit dem Aufkommen des „anatomisch modernen Menschen“ und der „Kunst“ im Jungpaläolithikum vor nur rund 40 000 Jahren in einen Zusammenhang stellen. Die narrativen, anthropozentrischen Elemente jener Vorstellung sind nicht geeignet, die Menschwerdung zu verstehen und müssen einer Betrachtungsweise aus größerer Distanz weichen.
3. Und noch mal anders gesagt, was „Konzepte, Methoden …“ meint: Es ist bisher nicht möglich, die frühesten ostafrikanischen Steinartefakte aus dem Zeitabschnitt zwischen etwa 2,5 und 1,8 Mio. Jahren BP (before present) in eine klare typologisch-chronologische Reihung zu bringen, obwohl es dazu einige Versuche gab: Pre-Oldowan Stage of Culture, Omo tool tradition und Karari Industry (Gladilin & Sitlivy 1987). Sie sind alle Bestandteile des Oldowan und lassen weniger eine technische Entwicklung als vielmehr habitatsabhängige, also rohstoffbedingte und aktivitätsspezifische Eigentümlichkeiten erkennen. Allerdings scheinen die mittels Retuschierung zu bestimmten „Typen“ umgestalteten Artefakte aus Bed I und dem unteren Bed II der Olduvai-Sequenz schon formale Festlegungen zu zeigen, die einen
Übergang zum frühen Acheuléen (Lower Acheulean) markieren. Zugleich sind sie die wahrscheinlich jüngsten Artefakte des Oldowan (M. Leakey 1971) und gehören schon in die Zeit des frühen Homo erectus s. l. (wie das menschliche Skelett von Nariakotome). Die frühen Oldowan-Artefakte sind archäologisch nicht deswegen klassifizierbar, weil es scharfkantige Steine sind, die in Schichten vorkommen, in denen auch Überreste von Homo habilis oder Homo rudolfensis gefunden worden sind, also von diesen Frühmenschen vielleicht benutzt worden sein könnten, sondern weil sie gemeinsame technologische Merkmale besitzen, die auf eine systematische Methode der Steinzerlegung und entsprechender Geräteproduktion zurückgehen (Fiedler 1998 a, b). Neben Grabgeräten aus Langknochenfragmenten, die schon aus der Zeit der Australopithecinen belegt sind, lassen sich dem Oldowan folgende Artefaktgruppen zuordnen: Kernsteine ohne Werkzeugcharakter, von Kernsteinen abgehauene scharfkantige Abschläge, Kernsteine mit Werkzeugcharakter (choppers, chopping-tools und Polyeder), Arbeitsunterlagen (pitted anvils) und retuschierte Abschläge (scrapers, pointed tools/drills and punches/outils écaillés – Abb. 129). Die technische Systematik ihrer Herstellung zeigt in ihrer Verbreitung von Südostafrika bis nach Äthiopien und Nordwest-Afrika (Clark 1970, Sahnouni et al. 2018) sowie neuerdings auch nach Asien und Europa eindeutig, dass sie allen damaligen Homininen (Menschenartigen) bekannt war. Ferner belegen die Chopping tools, Polyeder und 127
Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
retuschierten Abschläge, dass auch die mit der Schlagtechnik erzeugten Werkzeugformen gemeinsamen Gestaltvorstellungen unterlagen (Fiedler 2002 a, b). Da diese Gemeinsamkeiten so weit verbreitet waren, muss davon ausgegangen werden, dass es zuvor eine Zeit gegeben haben muss, in der mit zunächst unstandardisierten Steinzertrümmerungen brauchbare scharfkantige Splitter erzeugt worden sind und unter diesen Trümmerstücken gleichzeitig besonders geeignete Formen eine gedankliche Fixierung erfuhren. Die Instrumentalisierung geeigneter Steine, Stöcke usw., die aus der Beobachtung wildlebender Tiere bekannt ist, bildet die neuronale Basis für ein derartiges Verhalten. Insofern können wir nicht die Frage stellen, wie der frühe Mensch zu seinem protokulturellen Verhalten gekommen ist, sondern nur, was der Grund für die einzigartige Weiterentwicklung gewesen sein könnte (Fiedler 2005). Wir können den Grund dafür auch nicht im aufrechten Gang, der zunehmenden Handfähigkeit oder in der absoluten/relativen Vergrößerung des Gehirns bzw. in der beginnenden Faltung seines Kortex suchen, denn ebenso könnten diese cerebrale Entwicklung und körperliche Veränderungen eine Reaktion auf den intensiveren Werkzeuggebrauch gewesen sein. Der wahrscheinlich einzige Grund, den wir bisher verstehen können, ist der kognitive selbst. Auch hier können uns die ethologischen Beobachtungen an Primaten und anderen Säugetieren Modelle liefern. Denn nach unserer bisherigen Einsicht geht ein erfolgreiches Nützlichkeitsdenken mit Selbstwahrnehmung und Verständnis dessen, was der Andere tut, einher (de Waal 2021). Das bedeutet zugleich, dass die Vorteile Einzelner, die mit Werkzeugen geschickt umgingen, von anderen Gruppenmitgliedern verstanden und kopiert worden sind. So wurden entsprechende Verhaltensweisen im Konsens der Gruppe zur Tradition. Für solches protokulturelle Verhalten bieten die japanischen „Schneeaffen“ ein sehr eindrucksvolles Modell. Sie wärmen sich in heißen Quellen auf, sortieren Futter-Getreidekörner aus Sand und Staub aus, indem sie sie waschen und aufschwimmen lassen und würzen Knollenfrüchte im Meerwasser salzig. Jeweils ein Individuum hat damit angefangen und mittlerweile machen es alle nach. Von einem instinktiven Nachahmungstrieb zu reden hieße nur von einem 128
anthropozentrischen Standpunkt aus die Beobachtungsleistung und Einsicht dieser Tiere herunterzuspielen, um unser menschliches Alltagsverhalten davon abzusetzen (Corbey 2005). Bei den frühen Homininen gab es die Besonderheit, dass neben ihnen weitere Homininae existierten, die die Gruppe der Australopithecinen bildeten. Soweit wir wissen, war der Werkzeuggebrauch bei ihnen nicht so weit entwickelt, wie bei den Habilinen s. l. In der Konkurrenz beider Gruppen könnte nun die einzigartige Situation entstanden sein, dass sich aus der gegenseitigen Beobachtung bei den Habilinen eine besondere Selbsteinschätzung entwickelte, die wiederum den Konsens über den Werkzeuggebrauch in eine gleichsam imperative Tradition verwandelte. Allerdings kann eine zwingende Gruppenidentität auch durch inner-soziale Spannungen entstehen, wie sie J. Goodall bei den Gombe-Schimpansen schilderte. Abweichler wurden da sogar alle ermordet! Ein soziales Selbstverständnis, in dem die Identität des Einzelnen sich an der Identität der Gruppe entwickelt und misst, ist einerseits nutzenorientiert, vermittelt aber andererseits auch den Eindruck, besonders zu sein (so wie wir Menschen den Eindruck haben, etwas Besonderes unter den Wirbeltieren zu sein). Damit gewinnt die betreffende Gruppe eine mythische Vorstellung davon, dass der Schöpfergeist oder die Ahnen ihr ein außergewöhnliches, zugleich verpflichtendes Vermächtnis überlassen haben. Es wäre also zu überlegen, ob der Ursprung von Religion – so wie der Ursprung des kulturellen Verhaltens – mit dem Beginn eines ausgeprägten Werkzeugverhaltens zusammenfällt, zumindest aber seine Voraussetzung darin hat. Denn das stereotype Kopieren der Choppingtools und Polyeder im Oldowan (2,6–1,8 Mio. Jahre) und darüber hinaus im älteren Acheuléen (Lower Acheulean, 1,8–0,8 Mio. Jahre) kann gar nicht anders als mit einem dahinterstehenden Mythos des „ewigen“ Gleichgewichts erklärt werden, der verpflichtet, es nicht zu gefährden, sondern aufrechtzuerhalten. Vielleicht mag die Vorstellung von einem so frühen Mythos verunsichern, weil sehr viele Anthropologen der Meinung sind, Sprache, Abstraktionsvermögen und wirkliche Kultur habe sich erst in der Verbindung mit dem anatomisch modernen Menschen vor maximal 50 000 Jahren in einem sogenannten kulturellen Urknall entwickelt.
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Ich würde menschliches Verhalten gerne aus möglichst großem Abstand betrachten und soweit ich kann, die narrative, kulturell „westliche“ Selbsteinschätzung von dem was Mensch und Kultur sei, beiseitelassen. Denn das komplexe, prozessualtechnische und sozialökonomisch miteinander verwobene Werkzeugverhalten des Oldowan und folgenden Altacheuléen hebt den frühen Menschen soweit aus dem bisherigen Primaten-Status heraus, dass er seitdem in einem anderen, einmaligem und völlig neuen Existenzmilieu lebt, das in seiner gedanklichen Ebene über der Natur steht. Denn in ihm geschehen mehrere geistige/kognitive Funktionen zugleich: 1. Das klassifizierende Denken, in dem verschiedene Rohmaterialien verschiedenen Gerätearten zugewiesen sind (z. B. Hammersteine den zähen Geröllen, Choppers gut spaltbarem Gestein, Langknochen oder Stöcke den Grabgeräten usw.) sowie diesen Geräten jeweils besondere Funktionen, die wiederum miteinander in einem hierarchischen System verbunden sind und ebenso zu arbeitsteiligen Sozialordnungen gehören. 2. Das Symbolisieren der Gerätearten zu übergeordneten „Bildern im Kopf“, die durch bereitstehende Techniken jederzeit individuell dargestellt/realisiert werden können (Fiedler 2002). 3. Die szenische Musterbildung im Gedächtnis für die technischen Herstellungsschritte zur Realisierung der unterschiedlichen Gerätearten. 4. Die sinnbezogene Musterbildung, die die technischen Operationsketten mit den zu realisierenden existenziellen Bedürfnissen verbindet. 5. Die zeitbezogene Musterbildung, in denen die technischen Prozesse mit den übrigen sozialen, ökonomischen und topographischen Gegebenheiten abzustimmen sind. 6. Die mit diesen neuronal gespeicherten Symbolen und Mustern verbundene Wahrnehmung des Selbst und des Anderen. Man versteht, was ein anderer tut und weiß zugleich, dass der Andere überzeugt sein darf, dass er verstanden wird (Dialektik der Arbeit). 7. Die mit den formalen und prozessualen Mustern verbundene Stringenz, Konzepte in eine entsprechend sinnvolle „grammatische“ Ordnung der gestischen, mimischen und lautlichen Kommunikationen zu bringen, also eine verbindliche „Sprache“ zu finden.
Die in der Gemeinschaft abgestimmte gedankliche Speicherung der dinglichen und prozessualen Notwendigkeiten verleiht ihr die Verfügbarkeit über den Teil der damit instrumentalisierbaren natürlichen und sozialen Umwelt. Sie hebt den Menschen so scheinbar auf eine eigene Ebene, die über der Natur steht und sie zu beherrschen scheint. Diese Herrschaft wird durch den Mythos (der Gaben) sanktioniert, der mit der Befolgung der formalen und funktionalen gedanklichen Vorgaben zusichert, dass die Welt gleichsam im Gleichgewicht bleibt und damit die Existenz der Folgsamen nicht grundlegend gefährdet ist. Diese ins Spirituelle gehobene Verpflichtung dient zugleich der gegenseitigen sozialen Kontrolle. Ethischer Imperativ und Selbstdisziplin (einschließlich der Versöhnungsrituale) sind die beiden Seiten, die Kultur wahrscheinlich von Beginn an kennzeichnet. Zum Schluss noch eine Bemerkung zu den „Bildern im Kopf“, weil es überraschend erscheinen mag, dass zu Beginn des Werkzeugverhaltens und dann besonders ab dem frühen Acheuléen Geräte geschaffen wurden, die unserer narrativen Vorstellung nicht entsprechen, nach der das Archaische amorph und ungestaltig sein sollte. Denn die Polyeder des Oldowan und erst recht die Bifaces (Faustkeile) und Diskoide des Acheuléen zeigen Symmetrie und stereotype Reproduktionen runder herzförmiger oder mandelförmiger Umrisse. Darin könnten Nachahmungen von Früchten, Himmelskörpern oder Blattformen gesehen werden, also gleichsam die Suche nach Harmonie. Nein, Symmetrie (oder Komplementarität) ist ein universelles Prinzip der Natur, das nicht nur in Elementarteilchen und der Gravitation, sondern in Molekülen, Kristallen, Kieselalgen, Pflanzen, Würmern, Arthropoden, Säugetieren und allen cerebralen/neuronalen Systemen angelegt ist und in unendlich vielfältiger Weise ähnlich reproduziert wird. Wir können zwar anders, aber letzten Endes wird auch das Asymmetrische durch das, was es umgibt/umgrenzt, in Gleichgewicht und Harmonie gebracht. Die spitz zulaufenden Formen der Faustkeile erfüllen die funktionale Symmetrie des eindringenden Schneidens ebenso optimal wie die Zähne von Haifischen oder beutemachender Reptilien. Funktionalität ist eine natürliche Universale. Deshalb ist es logisch, dass sie im neuronalen Speicher „abgebildet“ und durch die gesteuerte Handfähigkeit des Menschen dargestellt werden kann. 129
Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Auch die früheste Paläokunst (rundliche Cupulen, parallele Strichbündel, Farbaufträge etc.) sind Realisationen universeller Rhythmik und Symmetrie, auch dann, wenn sie vielleicht nur im Hintergrund der somit sichtbaren „Botschaft“ standen. Menschen schaffen nicht die Welt, sondern instrumentalisieren sie. Deshalb gehorcht auch ihr selbsterzeugtes Existenzmilieu den Bedingungen der Natur und wird von ihr gelenkt.
Die formal definierte Gerätschaft (Typen) wie auch alle Arten einmal etablierter (und dann oft ritualisierter) Methoden sind die voneinander abhängigen Bestandteile der Kultur. Sie bieten den Menschen in ihren Traditionen allgegenwärtige Maßstäbe des Selbstverständnisses (Fiedler 1993 a, 1995, 2002 a, b). Sie machen zugleich dem Außenstehenden – besonders den Archäologen – Kulturen bestimmbar.
Natur und schöpferische Fähigkeit In der Rinde eines Baums kann sich von Natur aus ein ausdrucksvolleres Menschengesicht finden lassen, als es mancher Holzschnitzer anfertigen kann. In der Natur ist möglicherweise schon alles vorhanden, was Menschen jemals erschaffen könnten. Natur ist sowieso mehr als die Summe all dessen, was wir über sie wissen. Neuerdings entdeckt auch der moderne Mensch eine Art Seele und ein bestimmtes Maß von Handlungsfähigkeit bei Pflanzen. Das ‚grüne Volk‘ hat unglaubliche Fähigkeiten, von denen wir Modernen bisher nichts wussten. Und Australopithecinen? Sicher ebenso intelligent wie Kenzi, der amerikanische Bonobo oder Washoe, der Schimpanse, der die amerikanische Hörbehinderten-Sprache beherrscht. Aus dem späten/spätesten Neogen („Tertiär“) gibt es ja benutzte „Grabhölzer“ aus Knochen (S. Gaudzinski-Windheuser zitiert die Literatur in ihrem Subsistenzbuch 2005). Und nicht ganz selten melden „Bonehunters“ ja auch scharfkantig zerschlagene Steintrümmer aus den Schichten der Australopithecinen-Zeit. Nur sind sie von Trümmer-Produkten der Natur sehr schwer und nur ausnahmsweise unterscheidbar, wenn sie keine bestimmte Methode der Zerlegung erkennen lassen. Und Gebrauchsspuren braucht man nicht zu suchen, weil solche Dinge nie so lange benutzt wurden wie die systematischen Artefakte späterer Zeit. Denn es gibt einen prozessualen Zusammenhang zwischen Absicht, Funktion und Nutzungsintensität. Erst muss ein soziokulturelles Kommunikationsgefüge („Kultur“) für so etwas entstehen, damit entsprechende Ziele und dafür notwendige Verfahren ausgeübt werden. Siehe Kenzi, der Chopping-tools machen und Lagerfeuer entzünden kann, weil er in einem entsprechenden Kommunikations-Milieu gestrandet ist. Es bringt nichts wesentlich Neues, archäolo130
gisch weiter in die zeitliche Tiefe zurück zu schauen, um Relikte einer „eolithischen“ technischen Kultur zu finden, weil Fischotter sowieso Steine zum Aufschlagen von Muscheln benutzen, Vögel Hölzer und Zweige zum Nestbau modifizieren und verflechten und Ameisen Haustiere halten. Ansätze von Kultur hat die kosmische Intelligenz in der Natur schon vielfach angelegt. Lebewesen können die Modelle ihrer Existenz aus diesem Angelegten („Monaden“ G. W. Leibniz 1646–1716) in ihrem Lebensumfeld und ihrer biologischen Ausstattung gemäß aufgreifen. Ich brauche nicht zwingend nach den Werkzeugen von Schimpansen, Bonobos und Australopithecinen zu suchen, weil es das Instrumentalisieren von Umweltdingen, also auch Werkzeugverhalten, überall gibt und gab, aber in einem Rahmen, den wir als naturgemäß betrachten. In den obersten Dinotherien-Sanden bei Mainz kommen vereinzelt kleine, einfache Abschläge vor, wie C. Humburg feststellen konnte. Sind es nur Naturprodukte, ‚Eolithen‘, oder hat sie gar ein später „Dryopithecus“ gemacht? Und neuerdings liegen aus stratigraphischem Kontext einer nur wenig jüngeren Schicht Belege von systematisch bipolar zerschlagenen und behauenen Quarzitstücken vor, die möglicherweise älter als alle bisher in Afrika entdeckten Artefakte sind und wohl zu den Anfängen der beabsichtigten Steinzerlegung und entsprechendem Werkzeuggebrauch auch in Europa zurückführen könnten (Publikation in Vorbereitung). Menschliche Kultur wird für mich archäologisch erst interessant, wenn ich systematische Sachen finde, die sozioökonomische Konzepte preisgeben, also genau die, die das von der allgemeinen Natur abgehobene System der Kultur anzeigen. Abgehoben aber nicht im Sinne einer Unabhängigkeit, weil sie ja ohne Umweltbezüge und naturgesetzli-
Natur und schöpferische Fähigkeit
Abb. 81: Der Faustkeil von Makuyuni, hergestellt in Tabelbala-Tachenghit-Technik. Grabungsfund T. Kaiser in Makuyuni, Tansania (Zeichnung L. Fiedler).
che Mechanismen nicht bestehen könnte. Nein, es geht bei Kultur immer nur um das unumkehrbare System hierarchisierter Prozesse. Die protokulturellen Fähigkeiten von Vögeln und Säugetieren (Meisen, Neukaledonia-Krähen, Kapuzineraffen usw.) weisen dagegen alle noch keine Züge absoluter existenzieller Unerlässlichkeit auf. Jedenfalls nicht nach unseren Möglichkeiten der Einsicht in deren Verhalten und Lebensumstände. Die Natur bleibt für kulturelle Systeme der große Vorrat, aus dem unsere biologische Existenz, unsere Möglichkeit alltäglichen angemessenen Verhaltens, unsere kognitiven Möglichkeiten und schließlich auch unser Sinn für das Schöne kommen. Wie D. R. Griffin es 1984 sehr eindrucksvoll beschrieben hat, können Tiere sich zweifelsfrei wohl und behaglich fühlen, können genießen, verspielt und ausgelassen sein und sich schließlich sogar – wie im Fall eines Bären – sich an Sonnenaufgängen erfreuen. Und umgekehrt können sich Tiere über das gar nicht Schöne richtig ekeln. Roger Fouts konnte mit dem Schimpansen Washoe, der die Amerikanische Taubstummensprache (ASL) perfekt beherrschte,
sogar in zahllosen selbst oder von anderen mit dem Tier geführten Gesprächen über das Gefühlsleben und den Sinn des Schönen unwiderruflich darlegen, wie von Menschen einzig für sich beanspruchte ästhetische Gaben durchaus weit entwickelt bei unseren nächsten Verwandten vorhanden sind. Der Schock über die Fähigkeiten von Menschenaffen ging in der amerikanischen Verhaltensforschung soweit, dass sie mit Schimpansen und Bonobos seitdem lieber über eine Bildersprache auf Computertasten kommunizieren als über die American Sign Language (die Washoe übrigens auch von sich aus an andere Menschenaffen im Zoo weitervermittelte). Der Sinn des Homo erectus und mittelpaläolithischen Menschen für die harmonische und symmetrische Gestaltung eines Faustkeils ist demnach nicht ausschließlich in der kulturellen Entwicklung des Menschen zu suchen, sondern ist naturimmanent. Die Farben von Blüten locken so gesehen tatsächlich Tiere und Menschen gleichermaßen an, so dass das nicht über quasi mechanistische Auslöserreize passiert, sondern über einen angelegten Sinn 131
Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 82: Faustkeil von Makuyuni aus basaltischem Felsgestein und seine Herstellung. In der Umgebung der Fundstelle stand seinerzeit fast ausschließlich Vulkanit als anstehendes Material für die Werkzeugherstellung zur Verfügung. So mussten erst Grundformen geschaffen werden, die dann eine folgende formgebende Bearbeitung ermöglichten. Zuerst ging es darum, Ausschau nach homogenem und ausreichend hartem Basalt zu halten und ein geeignetes Schlaginstrument zu finden. Beides wurde durch die schon vorhandene Orts- und Umgebungskenntnis erleichtert. Auch der Herbeitransport des Materials musste organisiert sein – vielleicht in einer Tierhaut, vielleicht in einem Rindenstück geeigneter Größe. Und dabei stand von vornherein nicht die Herstellung eines Faustkeils im Vordergrund der Gedanken, sondern die Versorgung der Gruppe mit Fleisch (82, 0). War die Vorbereitung erledigt, arbeitete man aus dem mitgebrachten Gesteinsstück durch sehr kräftige Abhiebe einen großen, schon faustkeilähnlichen Kern heraus (82, 1). Da der Faustkeil dünn und scharfkantig werden sollte, schlug man von dieser Vorform mit einem geschickten, aber gewaltigen Hieb einen „Riesenabschlag“ von dessen Oberfläche ab (82, 2). Der gewonnene Abschlag wurde zuerst auf seiner Ventralfläche behauen (82, 3). Dann wurde das Werkstück gewendet und dorsal bearbeitet (82, 4). Zuletzt korrigierte man den Umriss mit kleineren Abschlägen nochmals auf der Dorsalfläche (82, 5). In der Vorstellung der ausführenden Person war jetzt der Faustkeil fertig (Abb. 81). Grabungsfund T. Kaiser in Makuyuni, Tansania (Rekonstruktionszeichnung: L. Fiedler).
für das Schöne. Fouts berichtete, dass Washoe immer gerne in Modezeitschriften geblättert hat, um sich die Fotos darin sehr genau anzusehen. Ich vermute, dass Amseln ihren melodiösen und sehr individuellen Gesang nicht nur aus Gründen der Territoriumsabsicherung machen, sondern auch aus Freude über einen schönen Sommerabend. Und die Natur hat die Form des Faustkeils schon lange vor der Existenz des Menschen in mancherlei Samen, Fruchtkernen, Blättern und sogar Fischkörpern verwirklicht. Vielleicht ist sie in den 132
geheimnisvollen Monaden, die der Philosoph Leibniz erkannt hatte, als eines der kosmisch gültigen Naturkonzepte angelegt. Andererseits sind uns auch direkte Nachahmungen von (fossilen?) Haifischzähnen in einigen Faustkeilen des westeuropäischen Mittelpaläolithikums bekannt, wobei die axiale Krümmung und abgesetzte Zahnwurzel exakt zu erkennen sind. Übrigens ein weiterer, nicht wegdiskutierbarer Beleg für die Fähigkeit zur figurativen Symbolik des Neandertalers und anderer gleichzeitiger mittelpaläolithischer Menschen.
Holz- und Knochengeräte, Feuerstellen und Behausungen – sowie Interpretationsprobleme
Alle künstlerischen Gestaltungen aus Menschenhand sind keine Entwicklungen alleine aus uns selbst, sondern Entdeckungen der Künstler, die aus der unendlichen Vielfalt des Angelegten schöpfen und es somit auch in einer „Sprache“ tun, die von jedem, der es möchte, verstanden werden könnte. Künstler finden ihren Ausdruck vor allem im Formalen – wobei das Formale hier im weitesten Sinn zu verstehen ist. Dabei ist es egal, ob es sich um Dichtung, Musik, Tanz, Architektur oder bildnerische Darstellung handelt. Denn durch die formale Struktur entsteht die künstlerische Aussage.
Sie findet sich in der bereits vorhandenen Welt, sei es im Rhythmus, in Harmonie oder Disharmonie, in der Ordnung oder im scheinbaren Chaos, in logischer Strenge oder in ekstatischem Ausbruch. Die Beispiele dafür sind unendlich vielfältig: die Wolken am Himmel, Sturm in den Bäumen, ein plätschernder Bach, Dünen, Vogelgezwitscher, Meereswogen, Atmung, Vulkane, rennende Tiere, Steppenbrände, aufbrechende Knospen, Gewusel in einem Ameisenhaufen, Schneelandschaften, Kristalle – und so weiter.
Holz- und Knochengeräte, Feuerstellen und Behausungen – sowie Interpretationsprobleme Als Dr. Hartmut Thieme von der Annahme ausging, dass in den mächtigen quartären Sedimenten des Braunkohletagebaus Schöningen auch Fundschichten mit Resten pleistozäner Tierwelt und wohl auch Artefakte zu entdecken wären und er diese dann in unerwarteter Menge auszugraben und zu dokumentieren begann, war das der wohl folgenreichste Zeitpunkt in der Altsteinzeitforschung des 20. Jahrhunderts. Denn mit den hölzernen Speeren und eindeutig vom Feuer angekohlten Holzartefakten die alle knapp 400 000 (oder doch mehr?) Jahre alt sind, wurde die seinerzeit sehr dominierende angloamerikanische Vorstellung (der ‚New Archeology‘) widerlegt, dass Neandertaler (der mittelpaläolithische Mensch) und Homo erectus tierhaft existierende und vollkommen unorganisierte Vormenschen gewesen seien. Trotzdem gibt es noch bis heute Wissenschaftler, die es für zweifelhaft halten, dass den Menschen der frühen Altsteinzeit die Feuernutzung gelingen konnte! Liegt das daran, dass diese Kollegen den französischen, italienischen, spanischen, tschechischen, russischen, asiatischen, afrikanischen oder deutschen Archäologen die Fähigkeit korrekter Befunddeutung einfach absprechen – oder liegt das an mangelnder Einsicht in entsprechende Ausgrabungen? Die hemdsärmelige Arroganz, mit der entsprechende Grabungsergebnisse bisweilen einfach ignoriert und sogar fortargumentiert wurden/werden, hat leider ein „Geschmäckle“ nach deutlich westlicher hegemonialer Kulturhoheit und einem neoliberalreaktionären Menschenbild. Übrigens sind auch die von Thieme und seiner
Mannschaft entdeckten Feuerstellen von Schöningen, die dort „ungewöhnlicherweise“ nicht auf mineralischem Boden, sondern auf organischen Seerandsedimenten lagen, von eben solchen englischpublizierenden Ideologen als natürliche Erscheinungen bewertet und kaum dokumentiert abgetragen worden. Dabei hatte der Entdecker sie für die erforderliche minutiöse Untersuchung aus seinen Notgrabungen ausgespart und unter Plastikfolie jahrelang geschützt. Sie entsprachen aber nicht den chemischen Analyseergebnissen von gewöhnlichen jungpaläolithischen Höhlen- und FreilandBefunden – und hätten ihnen selbstverständlich auch nicht gleichen können. Der bereits von H. Thieme publizierte „Bratspieß“ zeigt unwiderlegbare Brandspuren und ebenso die aus einer etwas tieferen Schicht zusammen mit Steingeräten und Knochen geborgenen Holzspäne. Die Urmenschen von Schöningen benutzten das Feuer, auch wenn einige immer noch nicht ausschließen, dass nicht zu bezweifelnde Brandspuren in zahlreichen alt- und mittelpaläolithischen Lagerstellen Belege zufälliger natürlicher Brände sein könnten. Die Deutung wiederholt sich leider: Lieber Natur als Kultur, denn die frühen Menschen können ja nach jenem Weltbild noch keine richtigen Menschen gewesen sein. In den französischen Höhlen L’Escale, Hortus und Lazaret wurden Feuerstellen schon vor der eben genannten Fachdominanz entdeckt und dokumentiert. Ebenso aus der Acheuléen-Freilandstation Terra Amata. Wie ist das zu ignorieren oder wegzudiskutieren? Diese Fundstellen sind nur Bei133
Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
spiele für europäische Entdeckungen. Ich selbst konnte eine bis 4 cm dicke Lage verbrannten Knochenschutts zwischen einer massiven mittelpaläolithischen Steinsetzung, Steinartefakten, Mammut-, Nashorn-, Saiga- und Wildpferdknochen in Buhlen (> 100 000 Jahre) ausgraben und publizieren. Brennt intentional zerschlagenes Knochenmaterial etwa von alleine mitten in einer Behausungsstruktur? Als Anfang 1995 einem süddeutschen Professor die Betrachtung erster Fotos eines Schöninger Holzgerätes (Wurfstock) angeboten wurde, lehnte er dies mit der Bemerkung ab, er müsse das Objekt zur fachlichen Beurteilung im Original begutachten, denn der Ausgräber hätte es wohlmöglich mit an den Enden abgerolltem Treibholz verwechselt! Vielleicht ist es nicht klug, solche Begebenheiten in diesem Buch zu veröffentlichen. Nestbeschmutzung? Nein, es sind gravierende Fehlleistungen überheblicher Forscher, die genannt werden müssen, um zukünftige Altsteinzeitarchäologen nicht wieder solchem Dilemma auszusetzen. Und da ich dabei bin: Auch Grablegungen und Behausungen der Neandertaler wurden in englischsprachiger Literatur bestritten. Sie seien nicht präzise genug dokumentiert und ausgegraben oder in einer Art Enthusiasmus überinterpretiert. Selbst der präzise erforschte und dokumentierte Lagerplatz der späten Homo erectus von Bilzingsleben wurde ebenfalls englischsprachig als Phantasmagorie des jahrzehntelang dort tätigen Ausgräbers bezeichnet! Warum wird in dieser Weise eine Demontage guter Archäologie betrieben und eine befremdliche Art selbstzerstörerischen Verhaltens, die nichts mehr mit sachlicher Kritik zu tun hat, gepflegt? Die drei elliptisch-gestreckten Behausungsstrukturen von Bilzingsleben sind nicht die einzigen Belege für Bauten aus der Zeit des Mittelpleistozäns. In der Höhle von Lazaret fand H. de Lumley eine an die Felswand angelehnte Struktur einer zeltähnlichen Behausung mit Pfostenlöchern der Trägerstangen sowie Steingeräte und die erwähnte Feuerstelle. In Nizza „Terra Amata“ dokumentierte dieser Ausgräber kleine Pfostensetzungen in verschiedenen Straten vor einem großen Felsblock. Auch wenn eine genaue Rekonstruktion einer einzigen Hütte dieser unterschiedlichen Pfostensetzungen nicht möglich ist, so könnte der Radius der eingegrabenen Pföstchen auf wiederholt errichtete große 134
Bauten von mehreren Metern Durchmesser hinweisen. Eine ähnliche Pfostenreihe wurde im Travertin von Stuttgart-Bad Cannstatt zusammen mit Knochen und Steingeräten dokumentiert. Diese Befunde fallen zeitlich alle in das Jungacheuléen – auch wenn der Eindruck der Steinartefakte dabei aus Gründen des verfügbaren, nicht optimalen Werkstoffs oft archaisch ist. Sowohl aus Cannstatt als auch aus Bilzingsleben sind Spuren langer, gerader Holzstangen im Travertin dokumentiert worden, die zu Recht als Speere der Art von Schöningen interpretiert wurden. Die gut erhaltenen Schöninger Speere sind meist über 2 m lang und haben ihren Schwerpunkt auf einem Drittel ihrer Länge von der Spitze aus gemessen. Von diesem Punkt aus sind sie sehr schlank und sich bis zur Spitze gleichmäßig verjüngend bearbeitet worden. Die meisten wurden aus Stämmchen einer extrem frostverträglichen Fichte geschnitzt und haben klimabedingte enge Wachstumsringe, die dem Holz ungewöhnliche Härte verleihen. Die ballistischen Eigenschaften dieser Funde entsprechen heutigen Sport-Wettkampfspeeren! Diese bewundernswerten Artefakte können nicht die ersten ihrer Art gewesen sein, sondern sind Ergebnisse einer sehr langsam entwickelten Tradition in der Zeit der Faustkeilkultur. Eine abgebrochene Eibenholzspeerspitze wurde schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Clacton-on-Sea gefunden. Sie lässt sich in die Hoxne-Warmzeit datieren und ist mindestens 300 000 Jahre alt, aber möglicherweise auch älter als die Speere von Schöningen. Allein dieser Fund hätte die amerikanische Hypothese vom aasfressenden Urmenschen widerlegen können. Doch er wurde dummerweise ignoriert bzw. als nicht beweisfähig abgelehnt. Als weiterer, aber jüngerer Beleg für eine Jagdwaffe muss die schlanke Lanze von Lehringen gelten, die gut erhalten zwischen/unter den Rippen eines Waldelefanten der letzten Warmzeit geborgen wurde. Sie stammt eindeutig aus der Neandertalerzeit. Auch sie hätte den Autoren der Aasfresserhypothese bekannt sein müssen, da sie knapp in der Mitte des 20. Jahrhunderts gefunden worden ist. Bei allen erwähnten und nicht erwähnten Geräten aus Holz (Bratspieß, Wurfholz, Lanze usw.) handelt es sich nicht um passende Stöcke, die nur
Grundbedingungen des Wissens, der gedanklichen Speicherung, der Wissensübertragung und Sprache
eine minimale Zurichtung aufweisen, sondern um mit Steingeräten sachgerecht geschnitzte Artefakte. Zweifelsfrei gehören sie zum wichtigen kulturellen Erbe der ganzen Menschheit. Das hat das Land Niedersachsen während der langen Ausgrabungsjahre von Hartmut Thieme nicht erkennen wollen (oder sollen?) und seine Untersuchungen wurden trotz eines internationalen Aufrufes nicht über sein sowieso gezahltes Gehalt und seine amtliche Ausstat-
tung hinaus unterstützt. Nach seinem Ausscheiden aus dem Amt wurden Prof. Dr. Nicolas Conard aber beträchtliche Summen für die Forschung in Schöningen zubilligte und auch für die Errichtung eines repräsentativen Museums vor Ort waren genügend Mittel vorhanden. Ist auch die Politik in Bezug auf die Wissenschaft parteiisch oder wird sie von nichtöffentlichen Hintergründen gesteuert?
Grundbedingungen des Wissens, der gedanklichen Speicherung, der Wissensübertragung und Sprache Wieso konnte sich ein Mensch der Homo erectusArt „den“ Faustkeil sowie alle damit verbundenen Notwendigkeiten, Fertigkeiten und gesellschaftlichen Einbindungen gedanklich vergegenwärtigen? Denn diese Sachen sind nicht als genetisch unterlegte Triebe vorhanden, sondern sind eindeutig mit Überlegungen verknüpft. Um diese Frage zu beantworten, muss weit ausgeholt werden. Manche Tiere verfügen über eine erstaunliche Fülle von lautlichen Äußerungen, die der Kommunikation dienen (Kapuzineraffen, Erdhörnchen, Krähen usw.). Kommunikation ist ein funktionierendes System, in dem Signale oder Informationen spezielle Reaktionen bewirken. Dieses System ist schon im Kosmos und in der atomaren Universalität angelegt, weil jedes Wirken einer Sache von einer benachbarten Sache bemerkt wird und Reaktion auslöst. Beispielsweise löst ein Gewicht auf einer Tischplatte eine Spannungsveränderung derselben aus und diese wiederum verhindert ein weiteres Eindringen in die Oberfläche. Einige Pflanzen können über chemische Substanzen kommunizieren, andere über schwache elektrische Ströme. Kommunikation läuft über codierte Merkmale – und dabei sind lautlich artikulierte Symbole (verbale Sprache) nur eine der Möglichkeiten unter manchen anderen. Schließlich können ja auch von Geburt an gehörlose Menschen lesen und schreiben, also visuelle Zeichen bestens verstehen. Was also ist in diesem Zusammenhang Wissen? Wissen Neutronen etwas über die Wirkung eines benachbarten Atoms? Wissen Pflanzen etwas, was in einem chemischen Signal an Bewirken steckt? Wissen Erdhörnchen, dass ein bestimmtes schnarrendes Quietschen den Angriff eines Falken bedeu-
tet. Und wissen wir bei dem Befehl ‚Stopp!‘, dass wir uns nicht weiter zu bewegen haben? Die letzte Frage können wir mit Ja beantworten. Bei den Erdhörnchen und Kapuzineraffen zeigen verhaltenswissenschaftliche Beobachtungen, dass sie wirklich lautliche Äußerungen anderer Gruppenmitglieder verstehen, also Verstand besitzen. Haben denn Pflanzen und Atome auch Verstand? Die Beantwortung hängt davon ab, ob wir im und hinter dem Universum so etwas wie eine Hyperlogik vermuten. Jedenfalls empfangen Tiere und Menschen Signale über ihre Sinnesorgane, die dann in elektrische Signale umgewandelt in Nervenbahnen weitergeleitet werden. Das bedeutet, in der Nervenelektronik/ Neuronik befinden sich dann nicht mehr die Signale selbst, sondern deren Übersetzung in spezifische elektromagnetische Impulse oder Muster. Die wiederum können entweder schon Nervenknoten zu einer Reaktion auf Muskelfasern, Verdauungsorgane oder Blutstoffe usw. anregen oder werden ins Gehirn geleitet und als jeweiliger Code in das komplexe Verständnis eingebracht. Sie treffen dort auf die „Tastatur des neuronalen Verstehens“, bilden spezifische „Akkorde“ in der ganzen Klangwelt unseres begreifenden Verstandes, in den sie einbezogen, verdatet, abgerufen oder auch wieder ausgesondert werden können. Ist das vollkommen zu verstehen? Die Wissenschaft bemüht sich darum. Die anfängliche Frage zielte auf das kulturbezogene Wissen und Erkennen. Jetzt stelle ich die rhetorische Frage: Wieso wusste ein Homo erectus, der einen anderen bei der Herstellung eines Faustkeils beobachtete, dass dieser einen Faustkeil machte? Der von den Nervenbahnen ins Gehirn geleitete 135
Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 83: Sehr einfach gemachter Faustkeil/Pic mit erheblichem Kortexanteil der Grundform. Auch bei diesem Fund ruhte bei der herstellenden Person ein Vorbild „im Großen und Ganzen“ im Gedächtnis, das es entsprechend summarisch zu realisieren galt. Es kam auf eine spitz zulaufende Form mit scharfen Kanten an. Das war über mehr als 1 Millionen Jahre die gemeinsame menschliche Vorstellung von dem, was ein Faustkeil zu sein hat. Es ist, wie bei der Kinderzeichnung eines Gesichts: ein Kreis, darin zwei Punkte als Augen und zwei Striche als Nase und Mund. Jeder Betrachter erkennt es als Gesicht; so ist es fertig und bedarf keiner Korrekturen. Campsas, Garonnebecken, S-Frankreich (maßgenaue Skizze: L. Fiedler).
sehr spezielle visuelle Eindruck traf dabei auf „die Tastatur des Verstehens“ und erzeugte den einzigartigen „Akkord“ Faustkeil. Das war aber nur möglich, wenn die Partitur dafür bereits bestand, denn sonst hätte der Verstand den speziellen Akkord Faustkeil nicht deuten können. Dass er es weiß, liegt selbstverständlich am Lernen. Die Form des Faustkeils, seine technologischen Merkmale und die Matrix des Gesteins müssen in der neuronalen „Partitur“ als spezielle „Notation“ abgelegt werden und dort verbleiben. Die enorme Leistung des Gehirns ist dabei, dass diese durch Lernen entstandene „Notation“ (Code, Chiffre) nicht nur den einmaligen Faustkeil beschreibt, der Anlass ihrer Aufzeichnung war, sondern von da an alle ähnlichen Faustkeile in allen möglichen Varianten der Form, Farbe und Größe mit beschreibt, mit symbolisiert. Was zuvor als „Partitur“ und „Notation“ bezeichnet wurde, müssen wir jetzt genauer als spe136
zielles neuronales Speichersystem verstehen, das nicht nur Eindrücke ablegen kann, sondern beim Eintreffen ähnlicher Eindrücke dem Verstand (Kognition) eine spezielle Meldung darüber liefern kann. Der Verstand produziert ein für ihn erkennbares inneres neuronales Bild vom Faustkeil. Dieses Bild hat selbstverständlich keine optische Qualität, sondern ist ein spezifisches, aber vollkommen abstraktes, prozessuales neuronales Muster, bei dem wir aber in der Lage sind, ein inneres visuelles Bild zu „sehen“. Man kann sagen: Muster, eine Struktur, ein Merkmal, ein komplexes Zeichen oder Symbol; etwas, das allgemeingültig eine jeweilig bestimmte Sache repräsentiert. Das Allgemeine und das Einzigartige bedingen sich dabei in einer Komplementarität. Nun sollten wir nicht glauben, dass diese enorme Denkleistung uns Menschen seit dem Homo habilis oder Homo erectus alleine auszeichnet.
Abb. 84: Mandelförmiger Faustkeil aus Geröllquarzit. Das Gerät wurde in ‚harter Steinschlagtechnik‘ realisiert. Gegenüber dem zuvor abgebildeten Faustkeil ist das symbolische Vorbild komplexer. Die knapp 40 Abschlagnegative und dazu korrigierende Retuschen führen vor Augen, dass dafür eine aufwendigere Herstellungsweise notwendig war. Die Ausführung erfolgte etwa so, wie es ein Schöpfer von sogenannter Volkskunst macht, wenn er eine Pflanze, ein Tier oder einen Menschen darstellt. Es ist immer noch summarisch in der Ausführung, aber auch anspruchsvoller als bei einem Anfänger des Zeichnens. So etwa könnte man sich den kulturellen Überbau des Homo erectus vorstellen, also nicht primitiv, aber auch nicht luxuriös. St. Clar, Garonnebecken, Südfrankreich (Zeichnung: L. Fiedler).
Foto 63: Dieser 112 � 76 � 29 mm messende Faustkeil hat beidflächig eine dunkle Wüstenpatina, was bedeutet, dass er durch einen natürlichen Prozess verlagert und dabei umgewendet wurde. Es ist ein ‚weich‘ überarbeiteter, exakt ovaler Faustkeil, der zugleich der LimandeForm nahesteht. Die meisten Artefakte der Fundumgebung stammen aus dem mittleren Acheuléen und tragen eine ähnlich schwarzbraune Patina. Erg Chebbi (S-Marokko).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 64: Mandelförmiger Faustkeil aus „Loire-Feuerstein“ (151 � 89 � 31 mm). Das Gerät wurde wahrscheinlich mit einem Kalkgeröll oder einem Stoßzahnfragment in Form gebracht und in dieser Weise perfekt gestaltet. Sein Oberflächenglanz weist darauf hin, dass dieser Faustkeil lange Zeit in strömendem Wasser lag und von mitgeführtem Sand poliert wurde. In diesem Erhaltungszustand fanden sich in den Sandgruben des Loire-Gebietes sehr zahlreiche Artefakte. Als Herkunftsgebiet wurde dem Erwerber Hans Nettlau auch nur die Angabe Touraine geliefert. Nach Form und Bearbeitungsweise ist der Fund einem mittleren Acheuléen zuzuordnen. Touraine, Zentral-Frankreich.
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Grundbedingungen des Wissens, der gedanklichen Speicherung, der Wissensübertragung und Sprache
Foto 65: V-förmiger Cleaver mit leicht geschweiften Kanten (190 � 147 � 51 mm). Das von Rüdiger Lutz entdeckte Gerät wurde aus einem Kombewa-Abschlag hergestellt und weist deshalb eine relativ gleichmäßige Wölbung beider Flächen auf. Ausgangsmaterial war Messak-Quarzit, der in gut 30 km nördlich des Fundortes vorkommt. Trotz der eleganten Form gehört dieser Cleaver, wie auch die übrigen Funde des Areals, nicht zum Jungacheuléen, sondern zu einer älteren Stufe der Faustkeilzeit. A-97–19. Murzuk-Wüste, S-Libyen.
Denn bei allen Tieren sind ebenfalls hunderte von neuronalen Mustern abgelegt, die Reaktionen erst ermöglichen. Ja, der Ruf eins Erdhörnchens: „Achtung, Falke!“ wird bei anderen Erdhörnchen die Flucht in den Bau auslösen, auch wenn sie selbst den gemeinten Falken noch gar nicht gesehen haben. Hier löst ein spezielles akustisches Signal diese Flucht genau so aus, als hätte jedes Tier ihn selbst gesehen. Das bedeutet, dass das zunächst visuelle, dann innere neuronale Bild eines Greifvogels durch ein weiteres Symbol bezeichnet, beschrieben oder benannt werden kann. Es hat quasi bei den Erdhörnchen einen akustischen Namen. Solche Namen können bei Tieren neben akustischen Symbolen auch Gesten, mimische Zeichen und Duftsignale sein. Wir Menschen benutzen vor allem akustische Signale oder wiederum deren Umsetzung in weiteren Zeichen auf Papier oder dem Bildschirm. Daneben sind uns natürlich auch Mi-
mik, Gestik und dingliche Ausstattungen als Mitteilungen vertraut (de Waal 2021). Alle diese Signale, Zeichen, Symbole – oder wie man sie nennen mag – bedeuten für sich alleine genommen allerdings nur wenig. Das Wort oder der Schriftzug FALKE löst zwar ein übergeordnetes vages Bild eines Falken aus, bleibt aber dann funktionslos, weil wir nicht wissen, welche Reaktion mit diesem Namen beabsichtigt ist. Erst wenn jemand das Wort in einem funktionierenden, prozessualen Zusammenhang setzt, hat es folgerichtig eine angemessene Wirkung, z. B. „Schau, da oben, ein Falke!“. Wenn alle Erdhörnchen im Bau sind und eines der dort anwesenden Tiere den speziellen akustischen Begriff von sich gibt, werden die anderen ihn nicht verstehen, weil der Warnruf nur außerhalb des Baues Gültigkeit hat. Oder was würdest Du, lieber Leser kapieren, wenn ich hier zusammenhanglos Wörter wie Badeanzug, Tomate oder Schuhsohle geschrieben hätte? Die akustischen 139
Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 66: Cleaver aus Kombewa-Abschlag, gelbgrauer Messak-Quarzit (170 � 126 � 45 mm). Das Gerät hat die Gestalt eines geöffneten U, die Schneide ist konvex gebogen. Es wurde auf beide Flächen greifend kantenbearbeitet. Dies geschah mit einem harten Schlagobjekt. Alle Cleaver kamen als Fertig- oder Halbfertigprodukte vom deutlich über 50 km entfernt liegenden Messak an den Fundort, weil große Kerne für die entsprechenden Abschlag-Grundformen hier nicht anzutreffen sind. Zerbrachen Cleaver an ihren fragilen Schneiden, wurden sie am Ort mittels „weicher“ Schlagtechnik zu Jungacheuléen-Faustkeilen umgearbeitet. A-02–12. Murzuk-Wüste, S-Libyen.
Symbole oder ihre Umsetzung in Schriftzeichen sind nur sinnvoll, wenn sie in einem funktionalen Zusammenhang stehen, eine dem Prozess der Kommunikation angemessene Grammatik haben (wie der Philosoph Ludwig Wittgenstein es verdeutlicht hat). „Du hast Dreck an deiner Schuhsohle!“ ist ein Satz, der benutzt wird, wenn er ein Hinweis auf etwas akut Vorhandenes ist. Das Warnsignal Falke hat diesen Zusammenhang in einer akuten Situation und einem notwendigen Prozess der schnellstmöglichen Schutzsuche. Wir dürfen wohl sicher sein, dass Homo erectus, wie andere Primaten auch, über Gesten und Laute verfügte, die etwas ausdrücken können, was andere dann verstehen. Unsere heutige akustische, verbale Sprache ist ganz sicher in ihren Anfängen schon sehr früh von unseren Vorfahren ent140
wickelt worden; in Ansätzen vielleicht vom aufrecht gehenden späten Dryopithecus s. l. oder Australopithecus, spezieller beim Homo rudolfensis und wahrscheinlich in einer robust einfachen Ursprache beim Homo erectus. Denn Überleben und Existenz wurden nicht nur mit der Entwicklung des Faustkeils, sondern auch mit entsprechend anderen, begleitenden Sachen gestützt. Es war günstig, über Zeichen und Symbole beispielsweise für Wasser, Flusspferd, Löwe, Silexgestein, Wolke und Regen zu verfügen. Wenn wir archäologisch wissen, dass dieser Mensch spezielles Gestein für spezielle Geräte, spezielles Holz für Speere und spezielle Felshohlräume als Unterschlupf instrumentalisierte, dann hat er wohl auch Lautfähigkeit instrumentalisiert und damit Sprache begründet. Das ist nicht nur hypothetisch gemeint, sondern zeigt sich seit dem
Foto 67: Breit-herzförmiger Faustkeil des Jungacheuléen (114 � 101 � 38 mm). Das Artefakt wurde aus einem ausgesuchten, extrem bunt gemusterten Messak-Quarzit hergestellt, der aus etwa 40 km Entfernung herbeitransportiert werden musste. Es ist total mit ‚weichen‘ Schlägen überarbeitet. A-02–14. Nördliche Murzuk-Wüste. S-Libyen.
Foto 68: Mandelförmiger Faustkeil des Jungacheuléen (137 � 88 � 24 mm) aus buntem Messak-Quarzit, sehr sorgfältig mit ‚weichen‘ Schlägen überarbeitet. A-02–14. Nördliche Murzuk-Wüste. S-Libyen.
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Foto 69: Lanzettförmiger Faustkeil des Jungacheuléen (225 � 98 � 38). Der Faustkeil wurde aus einer flachen Quarzitplatte hergestellt, wie Reste des Kortex auf beiden Flächen zeigen. Seine Lanzettform stellt ihn in das Jungacheuléen, also in den Zeitraum nach 500 000 Jahre vor heute. Auch die übrigen sichtbaren Artefakte im Umfeld des Auffindungsplatzes gehören in die gleiche Kulturstufe (vergl. auch Abb. 110). A-99–21. Nördliche Murzuk-Wüste, S-Libyen.
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Kultur; die Sache der Identität und Tradition
Foto 70: Herzförmiger Faustkeil aus Geröllquarzit (Länge etwa 11 cm). Das Garonne-Becken um Toulouse ist reich an alt- und mittelpaläolithischen Fundplätzen. Bei Grenade gibt es weit verstreut Artefakte des Mittelpaläolithikums, die sich ohne Probleme als Bestandteile des MTA beschreiben lassen. Der feinbearbeitete Faustkeil wurde in der ehemaligen Sammlung Hans Nettlau aufgenommen. Der Finder ist als P. R. angegeben. Grenade, Garonnebecken, S-Frankreich.
Homo habilis an Ausbuchtungen der linken Schädelpartie, die wichtige Gehirnregionen abdeckt, die der Sprachfähigkeit dienen. Beim Australopithecus
gibt es dieses Merkmal noch nicht. Aber bei Erdhörnchen auch nicht.
Kultur; die Sache der Identität und Tradition Die Begriffe Tradition und Identität habe ich jetzt mehrfach erwähnt. Jetzt möchte ich sie in Zusammenhang mit früher Kultur bringen. Ist es nachvollziehbar, wenn ich sage, nicht die Faustkeile, Cleaver und Schaber sind selbst Kultur, sondern das allen Mitgliedern der Gemeinschaft innewohnende, neuronal gespeicherte Bewusstsein darüber. Man kannte die Erfordernisse, die der Nutzung eines Faustkeils bedürfen; man wusste, wie man geeignetes Rohmaterial für dessen Herstellung sucht, es war allgemeines Gedankengut, den technologischen Prozess der Herstellung nachvollziehen zu können und man war sich in seinem Weltbild einig darüber, dass der Faustkeil in seiner festgelegten Gestalt schon von den Eltern, Großeltern, deren Eltern usw. gemacht worden ist und schließlich von sagenhaften Ahnen als Gabe den Menschen überlassen wurde. Das reale Objekt ist dann notwendiger Ausdruck dieses Denkens. Ohne die produzierten, rea-
lisierten Faustkeile hätte die geistige Kultur keinen wirklichen Sinn gehabt. Oder hätten Musik, bildende Kunst, Literatur oder Wissenschaft einen Sinn als bloßes Wissen darum, aber ohne Realisierung? Ebenso wären die Sachen der Kultur belanglos, wenn sie nicht an Funktionen oder Prozesse des Lebens gebunden wären. Deshalb ist es wichtig festzustellen, dass Kultur keine starre strukturelle Angelegenheit ist, sondern ein ineinander verwobenes, wechselwirkendes, funktionales System. Damit meine ich, dass man Kultur nicht mit einer Aufzählung von Kunst, Gesetzgebung, Gesundheitsdienst, Ökonomie, Sprache oder Religion usw. definieren kann, sondern ausschließlich mit dem vernetzten Funktionieren dieser Sachen in der Gesellschaft. Und es ist wichtig zu verstehen, dass die eben aufgezählten Elemente als Sachen der Kultur keineswegs eine verbindliche Bedeutung für die Definition von Kultur haben. Denn ein funktionierendes Gebilde aus mündlicher Tradition, Sternen143
Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 85: Kleiner Faustkeil aus einem Geröllfragment. Das Gerät wurde am Strand des Urrheins bzw. der darin einmündenden Nahe vor etwa 1,3 Mio. Jahren hergestellt. Flussgerölle standen in unbeschränkter Anzahl vor Ort zur Verfügung. Die Vorstellung von dem, was ein Faustkeil zu sein hatte und wie man den verwirklicht, war sicher nicht besonders anders als zu Zeiten von Makuyuni und dem zuvor abgebildeten Faustkeil. Aber geeignetes Felsgestein gab es hier nicht, sondern nur Quarz- und Quarzitgerölle. Man zertrümmerte sie, indem sie auf einen noch größeren Stein gestellt und mit der anderen freien Hand mittels eines schweren Schlagsteins und einem von oben geführtem kräftigem Hieb gespalten wurden. Dann wurde ein dabei anfallendes geeignetes Trümmerstück ausgewählt. Seine flache Spaltfläche wurde mit wenigen Hieben abgeflacht und die Form des gewünschten Gerätes vor allem von den dorsalen Kanten aus zugerichtet. Altacheuléen vom Outcrop der tNa 5,1–2 Terrasse, Münster-Sarmsheim „Linde“. (Zeichnung: Hannelore Bosinski und L. Fiedler, nach Fiedler und Hochgesand 1980).
kunde, meeresbiologischen Kenntnissen, nautischem und navigatorischem Wissen, Ahnenkult usw., wie wir es aus den ehemaligen Ethnien der Pazifischen Atolle kennen, ist nur ein Beispiel vieler möglichen Kulturen, in denen wir als Einzelne mit „westlicher“ Kultur verloren wären. Das macht es ja dem allein dokumentierenden und archivarisch denkenden Archäologen und erst recht dem Nichtwissenschaftler so schwer, sich die Epoche der frühen Steinzeit als etwas Kulturelles vorzustellen. Der Begriff des „steinebenutzenden Tieres“ eines populistischen amerikanischen Anthropologen konnte so überhaupt in die Öffentlichkeit gelangen. Man nennt die Beurteilung fremden kulturellen Verhaltens ausschließlich aus den vertrauten eigenen Sitten und Gebräuchen heraus Kulturanthropozentrik. Damit identifiziert zu werden bedeutet kein Lob, sondern Borniertheit. 144
In der Sprache, ihrer Grammatik und ihrem Vokabular spiegelt sich die Kultur symbolisch. Das Nachdenken über etwas findet weitgehend in stummer Sprache statt (weitgehend, weil Gedankengänge auch von inneren Bildern, Szenerien, Gerüchen, haptischen Erinnerungen und Gefühlen begleitet, bisweilen sogar beherrscht werden.) Im deutschen Begriff ‚überlegen‘ kommt sehr deutlich zum Ausdruck, dass die in Zeichen und Symbolen gespeicherte Welt im Kopf von uns Menschen seit dem Beginn der verbalen Sprache über die uns begegnende Wirklichkeit gestellt, darübergelegt ist. Denn wird beispielsweise Stein, Krähe, Nuss oder Straße gedacht, so steht jeder dieser Begriffe über allen Abertausenden von Steinen, allen einzelnen Krähen, allen Arten von Nüssen oder allen großen und kleinen Straßen, die es gab, gibt und geben wird. So gibt es im Denken von Anfang an eine hie-
Abb. 86: Großer ovaler Faustkeil aus Quarzit. Dieser Faustkeil ist wahrscheinlich aus einem großen Geröllabschlag gemacht worden. Mit dem auffallend großen Negativ auf der Ventralfläche erinnert der Fund an TabelbalaTachenghit-Kerne. Nach der Gewinnung dieses Zielabschlags ist dann ein gewöhnlicher Faustkeil aus dem Kern gemacht worden. Auch er stammt vom Outcrop der tNa 5,1–2 Hauptterrasse der altpleistozänen Nahe bei MünsterSarmsheim, wo dieser Fluss nach einigen hundert Metern in den Rhein mündete (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 87: Faustkeil aus einem fast handgroßen Abschlag von Gangquarz. Quarz der Fundgegend am Rhein ist ein hartes, schnittfestes Material, aber seine Bearbeitung wegen des kristallinen Gefüges und der allgemeinen Sprödigkeit sehr schwierig. Selten gelingt es, größere Abschläge herzustellen; gewöhnlich reißen sie an einem Lanzettbruch auseinander. Bei diesem Exemplar ist es aber gelungen. Seine Kanten sind bifaciell bearbeitet. Ich fand ihn im abstürzenden Sediment der Schicht H unterhalb des Brockentuffs in der Tongrube Kärlich. Seit seiner Erstpublikation wurde er nicht mehr in den ansonsten nicht seltenen Beschreibungen der Kärlich-Fundschichten erwähnt, obwohl seine Provenienz eindeutig ist. Die Fundschicht wurde verschiedentlich mit sehr abweichenden Altersangaben zwischen 250 000 und 450 000 Jahren erwähnt. Das macht ein großes Problem den Altsteinzeit-Altersermittlungen deutlich, die im 20. Jahrhundert zu stark von der Vorstellung von nur vier bis sechs Kaltzeiten im Pleistozän geführt wurden und sehr weit, oft allzu weit, von der afrikanischen Chronologie des Paläolithikums abwichen. Kärlich bei Koblenz, Schicht H (Landesmuseum Koblenz, Zeichnung: L. Fiedler).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 88: Faustkeil aus paläogenem/frühneogenem Blockquarzit. Im hessischen Bergland kommen im Umfeld des „tertiären“ Vulkanismus zahlreiche Quarzit-Outcrops vor, die fast alle schon seit dem Altpaläolithikum als Rohmaterialquellen genutzt wurden. Am bekanntesten ist davon die Kuppe „Reutersruh“, wo auch Grabungen des Instituts für Ur- und Frühgeschichte der Universität Köln durchgeführt wurden (Luttropp & Bosinski 1971). Leider fanden sich die vielen Artefakte nur in Würge- und Fließerden, so dass es keine aussagefähige Stratigraphie gab. Man kann aber von zwei hauptsächlichen Nutzungszeiten des Ortes ausgehen. Die große Masse aller Funde gehört zu einem älteren Acheuléen und eine geringe Anzahl von Funden ist mittelpaläolithisch. Viele Artefakte der älteren Zeit haben Korrosionsnarben im Laufe der letzten Warmzeiten erhalten. Das ist auch bei dem hier abgebildeten Faustkeil so. Er ist, wie alle Faustkeile von der „Reutersruh“, in Steinschlagtechnik ‚hart‘ hergestellt worden. Formenkundlich gehört er zu dem entwickelten Typ des ‚massiven gestreckten Faustkeils‘, der in die Zeit des (beginnenden) mittleren Acheuléen gehört und wahrscheinlich gar nicht jünger als seine afrikanischen Pendants ist. Ziegenhain „Reutersruh“, Hessen (Zeichnung: L. Fiedler).
rarchische Ordnung. Unter Nuss finden sich Haselnüsse, Wallnüsse, Kokosnüsse usw. und unter Haselnuss wieder botanische Unterarten. Dieses hierarchisch klassifizierende Denken macht in Kommunikation und geplanten Handlungen die Welt verfügbar. Über die Form und Herstellungstechnik der Faustkeile konnte verfügt werden, weil eine symbolische Erfassung in Bild, Funktion und kommunizerbarem Begriff im Gedächtnis und in Gedanken bestand. Das betrifft die gesamte, gedanklich erfassbare Welt. Damit ist die Kultur ein selbst geschaffenes abstraktes System „über“ wirklicher Natur und Sachkultur, die beide gedanklich begriffen und verfügbar sowie damit in der Realität manipulierbar sind. Wie weit dieses Ergreifen und Verfügen gehen kann, zeigt der Geist der modernen ‚westlichen‘ Zi146
vilisation. Techniker, Mediziner, Biologen, IT-Spezialisten, Manager und Politiker planen und denken über das nach, was an unbegrenztem Wachstum noch alles möglich ist. In der Zivilisation haben sich die Utopien von der traditionellen Kultur längst gelöst. Wenn die Euphorie des Beherrschens nicht mehr von einer kontemplativen Kultur zu kontrollieren ist, ist der Homo sapiens das endgültig letzte Glied in der Evolutionskette der Menschheit. Ist das ein zu düsteres Zukunftsbild? Angesichts der Genetik und Robotik wohl eher nicht. Eine nachsinnende, kontemplative Kulturanthropologie kann aber wohl keine Rezepte dazu liefern, wie Vernunft und Einsicht zukünftig Gier und monströse technologische Allmachts-Utopien kontrollieren könnten.
Kultur, ein symbolisches System
Kultur, ein symbolisches System Seitdem scharfkantige Abschläge nach einem allen Urmenschen bekannten speziellen technischen Prozess hergestellt wurden, war damit der wichtigste Grundstein von Kultur gelegt. Denn es ging nicht darum, derartige Gesteinsscherben erzeugen zu können, sondern um Erfordernisse, die damit erfüllbar sind. Anders ausgedrückt ging es darum, Steine zu instrumentalisieren, um wiederum mit diesen eine existentiell wichtige Sache zu erledigen. Der Sinn der Abschlagproduktion war auf die Sicherung und Optimierung des Daseins angelegt. So brauchte man beispielsweise diese Technologie, um Produkte zu bekommen, die das Schnitzen von Speeren ermöglichten – und Speere wurden benötigt, um Tiere zu töten. Erst durch das Erlegen von Wild gelangte man zu einem Anlass der Abschlagtechnik, nämlich dem Begehren nach Fleisch. Schon hier können wir sagen, dass Technik dann sinnvoll ist, wenn sie die Existenzfähigkeit des Menschen unterstützt – oder war sie es zumindest in 99 % der Zeit, in der es Menschen gibt. Und eine technische Kultur operiert linear, zielgerichtet und finalistisch, was sie in der ständig variierenden Natur-Umwelt anfällig für Krisen macht. Technik bleibt bis heute das Instrumentalisieren von Material, physikalischen Naturgesetzen, manchmal von Leben selbst und schließlich von unseren körperlichen sowie kognitiven (logischen) Fähigkeiten: Geräteherstellung, Grammatik, Körpertechnik, Jagdtechnik, Pflanzenanbau, Tierhaltung und -zucht, Fahrtechnik, digitale Technik usw. Kulturelle Technik ist außerdem ein kompositorisches System, wie es schon in der anfänglichen Ausführung über Schlagtechnik beispielhaft dargelegt wurde. Dieses System ist zwar in Anfängen schon im Tierreich vorhanden, beispielsweise bei Krähen, die die Technik des Nüsseknackens ausüben, indem sie Wallnüsse fliegend und aus angemessener Höhe auf gepflasterte Bürgersteige oder Straßendecken fallen lassen. Sie instrumentalisieren diese harten Flächen für die Nahrungszubereitung. Die Krähen haben das auch voneinander abgeguckt, gelernt. Es ist bei ihnen zu einer Tradition geworden; dem Keim kulturellen Verhaltens. In einem vorausgegangenen Kapitel war von „Bildern“ die Rede, die neuronal gespeichert und zum Abgleichen gespeichert sind. Wenn hier nun die Technik des Nüsseknackens als weitergegebene
Tradition der Krähen genannt wird, dann geht es dabei um mehr als um das Bild einer Sache. Es geht um einen Prozess, der szenisch, gleichsam als Filmchen erkannt, gelernt und damit gespeichert wird. Alle intelligenten Tiere können so etwas. Wohl alle Sachen, die zur Kultur gehören, haben diesen prozessualen Charakter: Wie man einen bestimmten Laut artikuliert, wie man schwimmt und taucht, wie man eine Hütte baut, Feuer macht und eine Feuerstelle anlegt, wie man einen Faustkeil zurechthaut, schließlich, wie man Auto fährt und sich im Verkehr verhält, usw. Ein Faustkeil ist also ein realisiertes Ding seines neuronalen Vorbildes. Er repräsentiert dieses allgemeingültige Vorbild in einer einmaligen Singularität, denn kein Faustkeil (und auch sonst kein Ding) gleicht einem anderen seiner Art vollkommen. Aber das Artefakt symbolisiert sein gedankliches Vorbild stellvertretend, ja, letztlich repräsentiert es alle Faustkeile, die es jemals gab oder – auf seine Vergangenheit bezogen – die zukünftig noch herzustellen waren. Das Singuläre und sein theoretisch unendlich Vieles bedingen sich also. Komplementarität ist eine Sache, die wohl den gesamten Kosmos betrifft – und lässt ordnende Logik und etwas Spirituelles hinter dem Sein erahnen (Haas 2000). Faustkeile als Dinge zu realisieren, einen Speer zu schnitzen und letztlich richtig werfen zu können als Tätigkeiten und schließlich nicht sichtbare Sachen wie Hunger, Wärme, Lust, Humor, Stärke, Gefahr, Vorsicht, Fürsorge, Freundschaft oder Verwandtschaft gehören alle zum kulturellen Speicherrepertoire. Weil sie nicht alle als quasi visuelle Imagination speicherbar sind, passt dazu die dafür erwähnte Metapher vom Bild im Kopf nur bedingt. Diese wichtigen, nicht dinglichen Sachen haben überwiegend soziale und emotionale Bezüge zueinander und müssen im Miteinander kommuniziert werden können. Eine bestimmte jeweilige Gebärde, ein besonderer beherrschbarer Gesichtsausdruck oder eine dafür reservierten Lautfolge sind eindeutig nicht die nichtsichtbare Sache selbst, sondern ihr bestimmter Ausdruck. Die Zeichen symbolisieren so das Immaterielle und können sogar dann kommuniziert werden, wenn kein unmittelbarer Anlass dafür besteht, sondern eine zeitliche Distanz sie davon trennt. Diese Sachen werden durch ihre Zeichen verfügbar, klassifizierbar und 147
Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 71: Großer, 32,5 cm langer Faustkeil in gestreckter Mandelform. Das Volumen-symmetrische Gerät wurde ‚hart‘ zurechtgehauen und partiell ‚weich‘ nachbearbeitet. Stilistisch gehört es in das frühe Jungacheuléen. Faustkeile dieser Größe sind dauerhaft kaum in nur einer Hand zu führen. Sie dienten wahrscheinlich dem (sogenannten) Aufbrechen von erlegtem Großwild wie Elefanten oder Nashörnern. Mauretanien, ohne nähere Angaben (Foto: Thomas Hombach).
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Kultur, ein symbolisches System
Foto 72: Herzförmiger Faustkeil aus grobkristallinem Quarz (146 � 105 � 32 mm). Das Gerät ist ein absoluter Einzelfund und könnte vielleicht zu einer Bestattung gehört haben, die längst vollkommen verschwunden ist. Denn es ist ein ungewöhnliches und bemerkenswertes Artefakt, weil es außerordentlich schwierig ist, einen Faustkeil dieser Form und Dimension aus dem sehr spröden Rohmaterial herzustellen. Beide Kanten sind sehr sorgsam und mit geradem Verlauf retuschiert worden. Außerdem ist das Objekt lichtdurchlässig. Es gehört formaltypologisch zum MTA. Massac (Argout-Tal, S-Frankreich).
verschaffen der Gemeinschaft eine notwendige Ordnung. Deshalb sind ihre verfügbaren Zeichen aber keineswegs abstrakter als die im Gedächtnis symbolisierten, chiffrierten stofflichen Sachen. Denn im Erkennen und ebenso im Vorstellen haben die sichtbaren Dinge wie Geräte, Kleidung, Hütten, Nüsse ja alle zu ihrer dinglichen Gestalt auch prozessuale Eigenschaften, die mit zu ihrem Anblick gehören. Jeder Urmensch, der einen Faustkeil sah, erkannte
ihn nicht nur als Ding, sondern wusste um seine Eigenschaften, wozu er dient und wie er herzustellen ist. Auch eine Krähe, die eine Walnuss erspäht, verbindet damit ja das Erbeuten, Aufknacken und schließlich Appetitstillen. Jede Art von Denkfähigkeit ist schon abstrakt durch den neuronalen Prozess der elektronischen Wellen, die in verzwickter Weise Sachen repräsentieren, aber diese keineswegs selbst sind. Das Zusammenbringen der abstrakten Symbole, ihre Klas149
Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 73: Limande (160 � 89 � 51 mm). Der Fund wurde um 1980 von H. Klingelhöfer entdeckt. Dieser gestreckt ovale Faustkeil ist ein sehr kennzeichnendes Artefakt des westeuropäischen „frühen“ Acheuléen, was tatsächlich aber ein mittleres ist. Es scheint, als sei der links noch sichtbare Kortexrest einst vom Hersteller durch Hämmern und Zermürben entfernt worden. Beide Flächen sind hellgrau-weißlich patiniert. St. Sauveur, SW-Frankreich (Foto: Horst Klingelhöfer).
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Foto 74: Runder Faustkeil (86 � 78 � 30 mm). Runde Bifaces sind im Jungacheuléen seltene Formen, kommen aber im Gesamtgebiet der Faustkeilkultur vor. Zwischen ihnen und bifaciell gearbeiteten runden Kratzern des Faustkeileund Keilmesser-führenden Mittelpaläolithikums gibt es sowohl in Europa als auch in Afrika keine scharfe Grenze. Das hier vorgestellte Exemplar kommt aus Westtunesien. Vielleicht ist es aus einem diskoiden Kern gemacht worden. Das letzte zentrale Abschlagnegativ (rechte Ansicht) wurde mit einem weiteren Abschlag und feiner Kantenretusche überarbeitet. Die umlaufende Schneide ist kaum gewellt. Gafsa NW, SW-Tunesien.
sifizierung und ihre logische Ordnung in den Gedanken ermöglichen nicht nur Sprache, sondern führen dazu. Da ja als Beispiele für Laute-nutzende Kommunikation schon Erdhörnchen und Kapuzineraffen genannt wurden, liegt die Entscheidung
nahe, nicht nur das Instrumentalisieren von Umweltdingen sowie logische technische Prozesse (das Krähenbeispiel), sondern auch Sprache nicht alleine dem Menschen zuzuschreiben, sondern ihre Wurzel im Tierreich zu erkennen.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Wandern ist des Archäologen Lust Im 19. Jahrhundert übte die Geschichte der spätantiken-frühmittelalterlichen Völkerwanderungszeit eine starke Faszination auf das ‚vaterländische‘ Denken aus. Bärenstarke Germanen aus dem düsteren Norden drangen nach Süden und Osten vor und eroberten bis nach Südeuropa und sogar Nordafrika riesige Gebiete! Das passte auch zum Bestreben des Deutschen Reiches, es nämlich den anderen Kolonialmächten gleichzutun. Südwestafrika und Tansania („Deutsch Ostafrika“) und sogar Teile Melanesiens („Bismarckarchipel“) wurden erobert und eine Zeitlang unter deutsche Verwaltung gestellt. Die Menschheit des beginnenden Industriezeitalters war in Bewegung. Große künstliche Kanäle verkürzten den Verkehr auf den Weltmeeren und Eisenbahnstrecken wurden kreuz und quer durch die Kontinente gelegt. Und die vielleicht größten Völkerwanderungen passierten akut mit den Eroberungen des nordamerikanischen Westens und Australiens durch Westeuropäer, die „kühn“ die ‚Segnungen‘ ihrer Zivilisation in die ‚gottlose barbarische Wildnis‘ trugen. In diesem Zustand des Zeitgeistes sannen Gelehrte natürlich auch über mögliche Wanderungen vor- und frühgeschichtlicher Völker nach. Indogermanen, so erschlossen sie, mit einem geheimnisvollen Ursprung in Asien, verbreiteten als Streitaxtvölker die arische Rasse samt ihrer Ursprache auf einem Gebiet von Indien bis nach ganz Europa hinein. Und die Funde von bronzenen und eisernen Waffen schienen doch deutlich zu zeigen, dass sie und ihre Herstellungstechniken als kulturelle Neuerungen durch Wanderungen verbreitet worden sind. In derartigen Hypothesen wird noch heute munter fortgedacht: Die Burgundische Pforte als „Durchzugsgebiet“, der „Donaukorridor“ als Einzugsstraße des Cro-Magnon-Menschen, das Niltal als „Flaschenhals“ jeweiliger modernerer Menschen aus Afrika, die dann Europa besiedelten („Our way from Africa“) und schließlich – wie könnte es auch anders sein – die Ausbreitungsrouten des Homo erectus von Ostafrika nach Asien und Europa. Dabei unterliegt keine dieser mannigfaltigen Routen einer seriösen, durch archäologische Fakten und endgültige Datierungen hinterlegten Grundlage. Sie alle werden mit relativ wenigen und letztlich durch vielerlei glückliche, aber damit auch zufällige Umstände der Entdeckung dieser oder jener 152
punktuellen Fundstelle rekonstruiert. Und so reizt es Anthropologen und Archäologen auch heute immer noch, ihre Phantasie zu mobilisieren und derartige Punkte zu Wanderrouten zu verbinden. Das wird auch gerne von den Medien aufgegriffen, die das dann einem verständigen Publikum sehr populär unterbreiten. Dass es dabei nur um Modelle und Hypothesen geht, aber nicht um handfeste Theorien, fällt in unseren postmodernen Tagen kaum auf – und wenn schon, es hat unterhalten und auf unsere wissenschaftlichen Fächer aufmerksam gemacht! Die fünf Funde sehr archaischer Frühmenschenschädel von Dmanisi (Georgien, Grenzbereich von Südosteuropa nach Asien), die alle noch morphologische Anklänge an den Homo rudolfensis aufweisen, aber insgesamt als Vertreter des frühen Homo erectus angesprochen werden, wurden bisher mit der populären Hypothese „Out of Africa“ erklärt. Dabei gibt es bisher keine aussagefähigen Homo erectus Funde in Afrika, die eindeutig älter als die von Dmanisi wären. Könnte man nicht aus diesem Umstand schließen, dass es schon viel früher als gedacht eine weite Verbreitung erster Menschen gegeben habe, die gar nicht mit Wanderrouten zu erklären ist, sondern wohlmöglich flächenhaft über die wildtierreichen Steppengebiete Afrikas und Asiens bis in das Schwarzmeergebiet hinein vorhanden war? Der asiatische Tiger ist von der nördlichen Tundragrenze bis in das südliche, tropische Indien hinein verbreitet gewesen. Wer fragt nun, wo kommt er her und auf welchen Routen hat er sich wohl voran gewagt? Gebirgspässe waren für Jäger und vielerlei Getier nie unpassierbar, zumal nicht in den sehr wechselhaften wärmeren Klimaabschnitten des langen Quartärs. Bäche, Flüsse und Meeresküsten, hochgelegene waldarme Plateaus, Steppen und Galeriewälder boten einen weitmaschigen Teppich, auf dem die fleischhungrigen Frühmenschen sich zusammen mit Löwen, Tigern und Wölfen bewegten. Es ist sogar ganz unwahrscheinlich, dass es Ausgangspunkte winziger Areale des menschheitlichen Ursprungs gab, sondern bestenfalls große Regionen, in denen die Kräfte der (biologischen) Evolution gleichsam experimentierten, bis ein gemeinsames Muster der ersten Homininae entstanden war. Nicht einmal Grenzen dieser Region dürf-
Wandern ist des Archäologen Lust
Abb. 89: Faustkeil aus einem Quarzgeröll. Das Gerät wurde in Steinschlagtechnik, aber sehr sorgsam hergestellt. Der Talon ist unbearbeitet und beide Kanten sind flächengreifend bifaciell gestaltet worden. Trotz des hohen Alters des Artefakt-Ensembles ist er außergewöhnlich aufwendig bearbeitet, ein Vorgang, der über die ansonsten häufige summarische Gestaltung hinausging und die Gestaltungsweise des mittleren Acheuléen vorwegnahm. Vielleich ist er das Produkt einer Mußestunde. Erg Amguid-W, Zentralalgerien (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 90: Faustkeil aus altpleistozänem Garonne-Sediment. Von diesem Stück gibt es auch ein Foto (Bild 83). Es ist ein sehr abgerolltes Quarzartefakt, das wissenschaftlich besser zeichnerisch vermittelt werden kann als mit dem Lichtbild. Es ist ein in-situ-Fund aus der „Mindel“-Terrasse. Campsas, Garonnebecken, S-Frankreich (Zeichnung: L. Fiedler).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 75: Sehr schlanker, spitz zulaufender Faustkeil (195 � 89 � 39 mm). Dieser Faustkeil des Jungacheuléen wurde aus buntem Messak-Quarzit hergestellt. An seiner Spitze sind rechts und links Einkerbungen zu sehen, die vermutlich gebrauchsbedingte Ausbrüche sind, die auf das Auswaiden und Zerlegen von Großwild zurückgehen, wie etwa dem Drehen/Verwinden des Faustkeils zwischen den Gelenken. Ubari-Wüste, S-Libyen.
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Foto 76: Großer gestreckter Faustkeil mit massivem Querschnitt (225 � 97 � 65 mm). Dieser große, mit knapp 25 Schlägen fertiggestellte Faustkeil hat einen gewellten Schneidenverlauf an beiden Kanten. Es ist ein sehr charakteristischer Faustkeil des Altacheuléen, in dem diese gestreckten Formen dominieren. Dennoch kommen zeitgleich auch gedrungene Typen vor, deren größte Breite meistens im unteren Drittel liegt. Auch breite Cleaver aus Abschlägen zeigen, dass die Proportionen von Geräten nicht imperativen Vorgaben unterlagen, sondern nach pragmatischen Einsichten realisiert wurden. Dennoch scheint es, als führe eine über Jahrhundertausende verlaufende Entwicklung von solchen schlanken Faustkeilformen schließlich zu mittelpaläolithischen Blattspitzen hin. Amguid – W, Zentralalgerien.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 77: Schlanker Faustkeil in Art der bifacial knifes (164,5 � 80 � 35 mm). Das Artefakt wurde aus einem Abschlag des örtlichen paläozoischen Quarzits (mit Spurenfossilien) hergestellt und an seiner linkslateralen Kante vollständig beidflächig bearbeitet. Rechtslateral findet sich nur eine dorsale Flächenretusche, die dem Gerät eine schaber- oder messerartige Schneide verleiht. Die ‚weich‘ erfolgte Bearbeitung fand im Mittelpaläolithikum mit Faustkeiltradition statt. Ähnliche flächenüberformte „Schaber“ sind in Europa aus dem Charentien und dem mitteleuropäischen Mittelpaläolithikum bekannt. Die Kultur des Homo sapiens neanderthalensis hatte zweifellos Bezüge zu der des archaischen Homo sapiens in Nordafrika – auch wenn manche physische Anthropologen das aus anatomischen und genetischen Besonderheiten (die in der Mitte des 20. Jahrhunderts als ‚rassisch‘ verstanden wurden) für unvorstellbar halten. Foum Zguid-Region (südlicher Antiatlas, Marokko).
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Foto 78: Gestreckter Faustkeil des frühen westeuropäischen Acheuléen (211 � 102 � 41 mm). Seine Größe und Form schließen eine Zuweisung zum Jungacheuléen aus. Es ist ein Kiesgrubenfund, der von H. Nettlau erworben und mir zur Bearbeitung überlassen wurde. Der Talon ist zwar behauen, behielt aber seine unregelmäßige Bruchform. Die linke Fläche des Faustkeils ist noch von einem beachtlichen Anteil des ursprünglichen Kortex bedeckt, was zeigt, dass das Werkzeug nicht aus einem Abschlag, sondern einem plattigen Flintobjekt hergestellt worden ist. Dieser Feuerstein ist körnig und hat wahrscheinlich einen ursprünglichen Sandanteil des Bildungs-Sediments. Dass das Objekt im pleistozänen Fluss verlagert wurde, belegen seine leichte Abrollung und glänzende Oberfläche. La Roche Posay „La Rivandière“, Zentralfrankreich.
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Foto 79: ‚Pick‘ (249 � 70 � 49 mm). Bei Felsbilderkundungen in Südlibyen wurde dieses Gerät im Steinschutt eines Wadigrunds aufgelesen. Nahe dabei befand sich eine von uns kartierte große Atérien-Station, so dass es möglich wäre, diesen ‚Pick‘ damit in Zusammenhang zu bringen. Denn trotz seiner Größe und groben Bearbeitung passt er nicht gut in das übliche Faustkeilschema. Da mir kleinere dreikantige oder bifacielle ‚Spitzgeräte‘ trotz ihrer Seltenheit aus dem Atérien bekannt sind (eines davon etwas angeschliffen), ist eine spät-mittelpaläolithische Datierung des hier vorgestellten Artefakts nicht auszuschließen. In den Messak-Felsbildern erscheinen manchmal wildhundköpfige Jagddämonen, die spitze, dolchartige Objekte in einer Faust halten. Ist dieses Fundobjekt mit seinem langen, griffartigen Talon sogar so etwas? Messak „Tin Iblal“, S-Libyen.
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Foto 80: Massive Blattspitze (100 � 94 � 23 mm). Die im Querschnitt massiven Blattspitzen gehören – wie die von Ehringsdorf, Rörshain und Wahlen – nicht in die spät-mittelpaläolithische Blattspitzenzeit (Jerzmanovizien), sondern in die Jahrtausende um die vorletzte Warmzeit, was am Fundort Weimar-Ehringsdorf durch die naturwissenschaftlichen Untersuchungen D. Manias als bewiesen gelten darf. Sie stehen also im Zusammenhang mit einem Mittelpaläolithikum, das kleine Faustkeile führt, von denen sich diese Blattspitzen technologisch und formal herleiten lassen. In Wahlen kommen unter den sehr zahlreichen Blattspitzen allerdings auch schon etwas dünnere und mit angedeuteten Schaftzungen vor, so dass der typologische Fortgang bis zum Jerzmanovizien (mit einigen gestielten Typen in Hessen) als wahrscheinlich angesehen werden kann. Rainrod, E-Hessen, Deutschland.
Wandern ist des Archäologen Lust
Foto 81: Mittelpaläolithische Blattspitze aus örtlichem Quarzit, (99 � 45 � 21 mm). Diese leider leicht verschliffene und extrem patinierte Blattspitze ist den zeitgleichen dieser Art aus Mitteleuropa außerordentlich ähnlich, besonders wegen der einfachen Bucht neben dem proximalen Ende. Sie gehört wegen ihrer Massivität keinesfalls zum Solutréen, sondern kann nur mit weiter östlich vorhandenen Kulturmanifestationen des späten Mittelpaläolithikums in Zusammenhang gebracht werden. In einiger Nähe dieser Blattspitze lag übrigens ein ebenso patinierter breit-herzförmiger Faustkeil des MTA auf dem Acker. Grenade (bei Toulouse, S-Frankreich).
ten sich belegen lassen, weil die Zeitdauer zwischen vielleicht 5 und 2 Mio. Jahren dieser Entwicklung natürlich wechselhafte Landschaften hervorbrachte und Vegetation und Tierwelt sich vielleicht verlagerten. Bisher sind viel zu wenige Fundstellen bekannt, die Wanderstrecken tatsächlich belegen könnten. Es kann auch nicht wie bisher alleine darum gehen, mit wenigen Skelettresten des Homo erectus seine wirkliche Verbreitung zu ermitteln. Die schon wesentlich häufigeren Entdeckungen von frühen Steingeräten im Gebiet zwischen der europäischen Atlantikküste und Ostasien wären besser dazu geeignet. Und wenn die physische Anthropologie Zweifel daran hat, dass Steingeräte keine Merkmale einer Menschenart tragen, dann sollte sich die Frage stellen, ob der Mensch sich ohne kulturelle Fähigkeit entwickelt haben könnte. Er ist zweifellos ein biologisches Lebewesen, aber seine Eigentümlichkeit des Geistes hat Kultur hervorgebracht. Und deren Zeugnisse aus der Frühzeit sind vor allem formal typische Steinartefakte. Und jedem, der sich damit befasst ist bewusst,
dass die Fundmöglichkeiten sowohl von Skelettmaterial als auch von Artefakten von chemischen Erhaltungsbedingungen, geomorphologischen Prozessen, geologischer Zugänglichkeit, Aufschlüssen und kenntnisreichen Beobachtungen abhängig sind. In Europa haben periglaziale Verhältnisse viele Hinterlassenschaften früher Menschen zerstört (Permafrost, Kryoturbation, Eiskeilbildungen, Bodenfließen, starke Verwitterung und besonders im Norden die Vergletscherungen). In Westafrika hat sich in den weitflächigen Lateritböden kein Fossil und kaum ein nicht extrem widerstandfähiger Stein erhalten. Zumindest entlang der westafrikanischen Küste müsste Homo erectus genau so verbreitet gewesen sein wie in Nord-, Ost- und Südafrika. Hier allerdings sind die Fundbedingungen extrem günstig und täuschen vielleicht das ursprüngliche Entwicklungsgebiet unserer ersten Vorfahren nur vor. Selbstverständlich gehört der Bereich des ostafrikanischen Grabens zu den Landschaften unserer Ursprünge. Dmanisi führt uns indes überzeugend vor Augen, dass die Gebiete am Omo, Awash und Olduvai River nicht dem Anspruch auf Ausschließ159
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lichkeit genügen. Der Fundreichtum des nordwestlichen Afrikas mit teilweise sehr alten Artefakten (Ain Hanech und Ain Boucherit) lässt hier einen weiteren Schwerpunkt vermuten, der Europa vor der Haustür liegt. Insofern ist eine völlig eigenständige Entwicklung vom Protoacheuléen bis zum Mittelpaläolithikum in Südwesteuropa zumindest fraglich, setzt allerdings eine Möglichkeit temporä-
rer Verbindungen bei Gibraltar voraus, die sedimentologisch nicht nachgewiesen werden kann. Das Meer selbst sorgt dort für die Ausräumung möglicher periodischer Ablagerungen. Allerdings gab es zu Zeiten der Dryopithecinen dort eine nachweisliche breite Landbrücke. Auf ihr kamen auch die Vorfahren der Mammute (Südelefant, Elephas meridionalis) nach Europa.
Natur oder Kultur? Flussterrassen als urgeschichtliche Archive Scharfkantige Steinsplitter waren die ersten in intentioneller Systematik gewonnenen lithischen Werkzeuge. Sie entstanden durch das gezielte Zerschmettern von Geröllen, Platten oder Knollen. Von anderen, durch natürliche Prozesse entstandenen Splittern und Fragmenten, lassen sie sich nicht unterscheiden. Wenn sie unter besonderen Bedingungen doch entdeckt werden, bliebe es eine Ermessensfrage, sie als Artefakte im Sinne paläolithischer Kultur zu bezeichnen. Denn ihre Herstellung liegt, wie man von Kapuzineraffen weiß, durchaus im Bereich tierischer Möglichkeiten. Natur und Kultur treffen sich dabei im Felde von Überschneidungen. Das ist ähnlich wie zu Beginn der Hominisation, als die körperliche Ausstattung noch über viele Jahrtausende eine diffuse Mischung zwischen ursprünglich Tierischem und keimendem Menschlichen war. Eine eindeutige Grenze zwischen Australopithecus und Homo habilis wird es in der Übergangszeit nicht gegeben haben. Die bisherige geringe Fundmenge täuscht aber diesen stufenlosen Wechsel vor. Bei den ersten in gezielter Systematik hergestellten Abschlägen verschiebt sich das Phänomen deutlich in Richtung „Mensch“, obwohl derartige Gesteinsscherben gelegentlich auch durch die Natur entstehen können, wenn beispielsweise Gerölle einen steilen Hang hinabstürzen oder durch Rutschungen zerscherbt werden. Neben den freihand geschlagenen Exemplaren gibt es aus früher Zeit aber auch solche, die in bipolarer Ambosstechnik erzeugt wurden, in der – beispielsweise – ein Geröll mit einer Hand auf einer harten Unterlage festgehalten und dann mit einem in der anderen Hand gehaltenen Stein senkrecht von oben aufgespalten wird (Abb. 218). Die dabei entstehenden Produkte sind nur als Artefakte interpretierbar, wenn sie deutlich retuschiert wurden 160
oder aber in Zusammenhängen gefunden werden, die eine natürliche Entstehung ausschließen. Richtige Abschläge sind jedoch die bei weitem am zahlreichsten erzeugten und benutzten Steinartefakte vom Oldowan vor 2 Mio. Jahren bis zum Beginn der Bronzezeit vor 4000 Jahren. Sie wurden von Homo habilis vermutlich täglich gebraucht, und wo Steine zugänglich waren, auch produziert (Abb. 122,2 und 130,1). Alleine in der Zeitdauer des Oldowan von mindestens 700 000 Jahren sind demnach Abertausende von Abschlägen entstanden, von denen die meisten ganz sicher geomorphologischen und bodenchemischen Prozessen zum Opfer gefallen sind, aber vermutlich liegen unten den Schichten der Vulkanaschen Ostafrikas noch unglaublich viele Exemplare in sicherer Verborgenheit. Nun fragen wir uns, wie viele Abschläge wohl der auf Homo habilis folgende Homo erectus (im weitesten Sinn) in seiner 1,5 Mio. Jahre dauernden Existenz angefertigt haben mag. Vermutlich mehr als der Homo habilis, weil sein sozialtechnologisches Verhalten komplexer geworden war. In diesem Punkt stoßen wir nun auf die Debatte, die europäische Archäologen führen, wenn es um die Funde von Abschlägen in alt- und mittelpleistozänen Flussablagerungen geht. Manche aus diesem Personenkreises zeigen gegenüber derartigen Funden bisher eine übertrieben skeptische Haltung: schließlich können ja natürlich entstandene Abschläge auch in den Fluss geraten und mit dessen übrigem Schotter sedimentiert worden sein. Wenn aber der Mensch Abschläge produzierte, dann sind sie sicher wesentlich häufiger an Flussufern liegen geblieben als natürliche Trümmerstücke in Abschlagform. Aber die Interpretation solcher Funde aus altpleistozänen Terrassen wird so lange behindert, wie Altsteinzeitforscher noch
Natur oder Kultur? Flussterrassen als urgeschichtliche Archive
Foto 82: Massiver, annähernd ovaler Faustkeil des Altacheuléen (140 � 90 � 58 mm). Das Gebiet der Touraine, besonders im Bereich der unteren Cher und Creuse, lieferte sehr zahlreiche steinzeitliche Artefakte, die im Zusammenhang mit pleistozänen Flussterrassen oder deren Umlagerungen in Schwemmfächern oder Hangschutt zutage treten und auch in Kiesgruben gefunden wurden. Der natürlich oft gelblich-beige („blonde“) gefärbte Loire-Flint erfuhr durch seine Einlagerung in eisenschüssigen Kiesen oft eine zusätzliche bräunlich-rötliche Patina. Bei dem hier gezeigten Faustkeil geht diese intensive Färbung auf tiefreichende pliozäne und altquartäre Bodenveränderungen zurück. Von daher ist dieser Fund keiner des Jungacheuléen, dem seine summarische Bearbeitung und Formgebung auch nicht entsprächen, die beide in optimaler Ausprägung die Merkmale des Altacheuléen repräsentieren. Stratigraphische und faunistische Fakten am ehemaligen Fundort des „Abbevillien“ in Nordfrankreich lassen es zu, das frühe Acheuléen im westlichen Europa dem Altpleistozän vor gut 1,5 Mio. Jahren zuzuweisen und es nicht als wesentlich jünger als das entsprechender Funde in Afrika zu verstehen. Aber Wissenschaft hat ihre narrativen Mythen, zu denen wohl auch gehört, dass Boucher de Perthes Artefakte und Faunenfunde vermischt haben soll. Abilly (südliche Touraine, Department Indre-et-Loire), Zentralfrankreich.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
an dem verblassenden Dogma festhalten, der Mensch sei erst nach dem Datum von 550 000 Jahren in Europa nachweisbar. Obwohl der Gegenbeweis mit artifiziellen Abschlägen längst vorliegt, mögen sie das alte Paradigma nicht aufgeben. Aus Deutschland gibt es bisher keine körperlichen Überreste (Knochen) von Menschen, die nachweisbar älter sind als die des Homo heidelbergensis, der an seinem Fundort Mauer etwa 600 000 Jahre alt sein mag. In Dorn-Dürkheim in der Pfalz fand J. L. Franzen über 150 Backenzähne des Elephas trogontherii in einer unnatürlichen Häufung innerhalb seines Grabungsareals mit wenigen Abschlägen und einem intensiv behauenen Polyeder. Der Befund weist eindeutig auf menschliche Aktivitäten hin. Seine stratigraphische Position liegt unterhalb einer messbaren paläomagnetischen Umkehrung vor wahrscheinlich 750 000 Jahren und muss deshalb älter sein. Wieviel älter, lässt sich nicht sagen, denn absolut unmittelbar unterhalb der Elefantenzähne lagen Knochen des auch aufrechtgehenden Vormenschen Dryopithecus aus dem Neogen (> 20 Mio. Jahre). So befindet sich zwischen diesen sehr alten und den jüngeren Knochen eine stratigraphische Sedimentationslücke, eine Diskordanz, die vermutbar auf erosive Aktivitäten des altpleistozänen Rheins zurückgeht. Abschläge, Schaber, Chopper und sogar ein Faustkeil (aus einem Abschlag) fanden sich nachweislich im Schotter der etwa 1,3 Mio. Jahre alten 200 m-Terrasse der Nahe bei Münster-Sarmsheim am oberen Mittelrhein. Sie kündigen von der Anwesenheit des Homo erectus s. l. (s. l. = im weiteren Sinn) vor etwa 1,3 Mio. Jahren (Abb. 205). Doch auch hier zweifeln Skeptiker unter dem Motto „Was sagen schon einige artefaktartige Steine im Schotter aus?“ Sind also die hier und an anderen ähnlichen Aufschlüssen geborgenen Abschläge als Nachweise menschlicher Anwesenheit zu verstehen oder nicht? Unter den Abschlägen von Münster-Sarmsheim gibt es einen Kombewa-Abschlag, also ein Produkt, das dadurch entstanden ist, dass von einem bestehenden großen Abschlag ein zweiter großer auf dessen Ventralfläche abgehauen wurde. Die Natur lässt so etwas wohl äußerst selten entstehen. Ein anderer Abschlag weist durch seine dorsalen Nega-
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tive darauf hin, dass er von einem Kern mit gegenüberliegenden Schlagflächen abgetrennt wurde – also auch ein in der Natur kaum auffindbares Spaltprodukt (Abb. 44,1). Und ein dritter Abschlag, der eine einwandfreie Retusche trägt, stammt von einem einflächig abgebauten diskoiden Kern (Epannelé), beides Formen, die im älteren Paläolithikum zum Typenstandard gehören (Abb. 122,1). Und schließlich ist der gefundene Faustkeil zweifelsfrei ein Faustkeil (Abb. 100). Es wird sicher nicht gelingen, den artifiziellen Charakter dieser Funde erfolgreich zu bezweifeln, aber man könnte versuchen, die Datierung der heute etwa 130 m über dem Rheintal liegenden Terrasse in Frage zu stellen. Doch gerade diesbezüglich spricht alles für eine korrekte, sehr gewissenhafte und nachvollziehbare Alterseinstufung (durch Professor Johannes Preuss et al. 2015). Dennoch gibt es auch unter den Naturwissenschaftlern einige, die sagen, in der Natur ist alles möglich – schließlich liefert sie die physikalische Voraussetzung urgeschichtlicher Steinschlagtechnik. Wenn man der festen Überzeugung ist, nur ein Menschenknochen aus dem Schotter würde die Anwesenheit des Menschen dort bestätigen, wird allerdings die Problematik von der Archäologie weg ins Unsinnige verlagert. Abschläge und andere Artefakte sind vom frühen Menschen zu zahlreich gemacht worden, als dass sie in den Habitaten an den größeren Flüssen, soweit sie als Sedimente konserviert sind, nicht sicher auffindbar sein sollten. Schließlich liefern die über alle Zweifel erhabenen mittel- und altpleistozänen Terrassen-Fundstellen an Omo, Draa, Themse, Somme, Seine, Loire, Garonne, Ebro, Elbe und Saale (um nur einige zu nennen) viele Tausende von Abschlägen, Kernen, Choppern, Schabern und Faustkeilen, so dass der Zusammenhang von Fluss und menschlicher Lebensweise dort überzeugend repräsentiert wird. Warum sollte das am Rhein und seinen Nebenflüssen anders gewesen sein? Die Einfachheit altpaläolithischer Geräteformen und die epochentypische Verwendung lokaler Gesteine – also nicht unbedingt Feuersteine – für die Werkzeugherstellung irritieren allerdings immer noch einige Wissenschaftler. Ob das Unverständnis oder Ideologie ist, bleibt ihr Geheimnis. 2
Mark Twain: „Never argue with stupid people. They track you down on their level and then beat you with their experience“.
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Uralt und durch die Kräfte der Natur überformt
Uralt und durch die Kräfte der Natur überformt Im Roussillon, einer Beckenlandschaft am Mittelmeer, die am Nordrand der östlich auslaufenden Pyrenäen liegt und zu einem großen Teil von pleistozänen Flüssen aufgeschottert wurde, fanden sich sehr zahlreiche altpaläolithische Artefakte, die aufgrund ihrer geomorphologischen Position unterschiedlichen Zeitabschnitten zwischen 600 000 und 1,2 Mio. Jahren (und mehr) zugewiesen werden konnten. Die ältesten ließen sich in das Altpleistozän stellen, einer Epoche, aus der in Europa bis dahin nur sehr wenige und in ihrem Charakter von vielen Archäologen angezweifelte Steingeräte bekannt geworden sind. Deshalb fanden die Fundstellen des Roussillon nach ihrer Publikation durch Jaques Collina-Girard 1975 auch bei altsteinzeitinteressierten Archäologen und Amateurforschern einige Aufmerksamkeit. Ein mir befreundeter ehemaliger schweizerischer Kriminalbeamter studierte die entsprechende geologische und archäologische Literatur sehr intensiv und machte sich sowohl mit der Terrassenfolge als auch dem Erscheinungsbild der damit verbundenen Fundstücke vertraut. So lernte er bald, gewöhnliche Gerölle und durch natürliche Prozesse gespaltene Steine von solchen mit identifizierbaren Abschlagnegativen menschlichen Ursprungs zu unterscheiden. Allerdings waren gerade die frühesten Artefakte von den ältesten Schotterterrassen oft durch Windschliff (oder ähnliche Prozesse) beträchtlich und in einigen Fällen fast bis zu Unkenntlichkeit verändert (Foto 36, Faustkeil, von dem die Natur nicht viel übriggelassen hat). Nur die jahrelangen Erfahrungen lieferten ihm mit gleichsam beruflicher Logik Erkennungsmuster, die ihn in die Lage versetzten, entsprechende Artefakte von Naturprodukten zu trennen. Seine Sammlung ist längst in einem bekannten Museum untergebracht. Allerdings gab es auch an der Arbeit von Collina-Girard von fachwissenschaftlicher Seite in Frankreich interne Kritik, so dass der Autor entsprechende Tätigkeiten jahrzehntelang nicht kontinuierlich fortsetzten mochte oder konnte. Das geschah in den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts, in denen auch Gelehrte aus Deutschland und Holland sich gegen die Anwesenheit von Menschen vor mehr als einer halben Millionen Jahre in Europa aussprachen und so vor al-
lem auch Funde aus dem Zusammenhang mit Flussterrassen vollkommen ablehnten. Dabei wurde ergänzend auf die achtzig Jahre zuvor erledigte Frage der sogenannten Eolithen aus dem europäischen „Tertiär“ angespielt, die nach heutiger wissenschaftlicher Einsicht fast alle nicht als Artefakte, sondern als Geofakte zu werten sind. Die frühesten Roussillon-Funde sind eindeutig mit dem Altpleistozän verbunden, das in der französischen Geologie als „Günz“ bezeichnet und von ihr mit gut 1,2 Mio. Jahren datiert wurde. Aus Ostafrika waren zur Zeit dieser Datierung aber schon Artefakte und ‚hominide‘ Skelettreste bekannt, die etwas mehr als doppelt so alt sind. Neuere Entdeckungen in Georgien (Dmanisi), Italien (Monte Poggiolo) und Spanien (Atapuerca und OrceRegion) belegen dagegen heute eine frühe Besiedlung Europas durch Menschen vor deutlich mehr als 1 Mio. Jahren. Die damit gefundenen Steinartefakte sind typische intentional erzeugte Abschläge und Kerngeräte; Faustkeile im strengen Sinn sind bisher dabei immer noch selten, so dass diese Inventare einschränkend als ‚mode 1‘ interpretiert werden. Durch die Neudatierung von pleistozänen Kiesablagerungen (‚Terrassen‘) des Mittelrheins und der Nahe durch Professor Johannes Preuss (Universität Mainz) konnten in der letzten Zeit darin eingelagerte Artefakte sogar zwischen 1,1 und mindestens 1,6 Mio. Jahre datiert werden (Abb. 126). Zwar wird von einigen Archäologen der Artefaktcharakter von Funden aus diesen lehmigen, sandigen und kiesigen Ablagerungen immer noch bestritten, aber dabei geht es möglicherweise nur um das Aufrechterhalten einer überholten, früher ostentativ verbreiteten These. Die Annahme, es hätte in Europa in der Zeit vor 0,6 Mio. Jahren noch keine Menschen gegeben und somit auch niemanden, der Steine an Flussufern des Rheins bearbeitet haben könnte, ist nun nicht nur durch Funde im westlichen, südlichen und ganz südöstlichen Europa (Dmanisi) wackelig worden, sondern auch in Frankreich und England kommen vermehrt Steinartefakte älterer Zeit zutage. Dass die diesbezügliche Forschung mit viel Erfahrung und Beurteilungsvermögen betrieben wird, ist selbstverständlich. Aber sie bleibt trotzdem an163
Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 91: Gestreckter Faustkeil aus einer Quarzplatte. Im Foto (Foto 20) sind die Bearbeitungsmerkmale nur unzureichend erkennbar. Die Zeichnung lässt es zu, alle Abschlagnegative deutlich wiederzugeben. Selten sind auch bei guten Fotos alle Einzelheiten einer Retusche zweifelsfrei zu deuten. Daher ist der Wert wissenschaftlicher Zeichnung nicht zu diskutieren – es sei denn, man hat nicht den Anspruch auf Korrektheit. Olduvai, Bed 2, ‚EF-HR‘ (Zeichnung: L. Fiedler).
greifbar, weil sehr einfache Artefakte, die nur aus örtlich vorhandenem sprödem Rohmaterial gemacht werden konnten, die technologischen Merkmale nicht so ausgeprägt tragen wie Flint, Kieselschiefer oder feinkörniger Quarzit. Und wenn derartige Steingeräte auch durch den Flusstransport oder Winderosion noch zusätzlich leicht verschliffen wurden (Fotos 3–38), ist es kein Wunder, dass damit nicht vertraute Archäologen sagen mögen, sie erkennen den Artefaktcharakter nicht und deshalb seien es auch keine Artefakte. Doch in situ geborgene Funde aus einer Terrasse haben trotz ihres geologisch gemeinsamen Alters meistens keine einheitlichen Erhaltungszustände. Das liegt am Wassertransport und der damit verbundenen Abrollung. Einige Artefakte wurden un-
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mittelbar in Sand oder Kies eingebettet und blieben relativ scharfkantig, andere wurden einige Dutzend Meter weit verfrachtet, und wieder andere waren sehr lange strömendem Wasser ausgesetzt, das Sand mit sich führte und die Kanten der Steingeräte sehr abschliff (Foto 84 und Abb. 127). Glücklicherweise liegen nun auch solche Funde vor, die eigentlich von keinem verständigen Archäologen mehr bezweifelt werden können, weil sie gut erhalten sind, alle technologischen Herstellungsmerkmale erkennen lassen und außerdem dem Bild gewöhnlicher altpaläolithischer Steingerätfunde gleichen. Nun muss sich zeigen, ob die frühere Ablehnung mit den Zweifeln der Erkennbarkeit einherging, oder ob sie aus fachpolitischen Gründen daherkam oder noch immer kommt.
Uralt und durch die Kräfte der Natur überformt
Abb. 92: Wurfstock aus dem Speerhorizont von Schöningen. Das Gerät war der erste artifizielle Holzfund, den Hartmut Thieme bei seiner Ausgrabung des Wildpferdjagdlagers machte. Später folgte die Freilegung und Bergung von mehreren über 2 m langen und sorgfältig geschnitzten Speeren aus dem Holz einer harten Fichtenart. Die archäologische Sensation bewirkte die endgültige Abkehr der von der sogenannten New Archaeology propagierten Aasfresserhypothese, die vorgab, erst der moderne Homo sapiens wäre zur organisierten Jagd fähig gewesen. Trotzdem wird von den Nachfolgern Thiemes in Schöningen behauptet, es hätte kein Jagdlager gegeben und alle dort entdeckten Tierknochen, Holzartefakte und Steingeräte seien zufällig zusammengeschwemmt. Feuerstellen und eine große Anzahl von zusammenfügbaren Retuschierabfällen in der Nähe von dazugehörigen Steinwerkzeugen widersprechen dieser ideologisch geführten Interpretation. Warum erreichen minimierende Aussagen in der Altsteinzeitarchäologie überhaupt eine Gefolgschaft, wenn es doch darum geht, in den Hinterlassenschaften früher Menschen kulturelle Leistungen zu erkennen, zu würdigen und darzulegen? Die postmoderne Konkurrenz der Wissenschaftler untereinander und die kurzzeitige Beliebigkeit „kompetenter“ Meldungen dürften sich nicht entfalten können, denn dafür wird diese Forschung nicht von der Gesellschaft getragen. Als Alter des Fundes ist die Warmzeit Stage 15a zu vermuten. Schöningen, Braunkohletagebau, SE-Niedersachsen (Zeichnung von Beate Kaletsch mit freundlicher Genehmigung des Ausgräbers).
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Abb. 93: Lebensbild von einem altpaläolithischen Camp. Anhand der Befunde von Bilzingsleben, Terra Amata, Buhlen oder nordafrikanischer paläolithischer Behausungsstrukturen wurde diese Skizze gezeichnet. Man kann viel an derartigen total hypothetischen Bildern kritisieren, aber sie verlangen, sich auf eine einfache Weise mit dem auseinanderzusetzen, was bereits wissenschaftlich bekannt ist und was tatsächlich zu interpretieren möglich ist. Dabei ergeben sich – ähnlich wie in der experimentellen Archäologie – Fragen, die möglicherweise wieder zu neuen methodischen Ansätzen in der archäologischen Arbeit führen. Da ich oft Gelegenheit hatte, die Spuren rezenter, heutiger Lagerplatzstrukturen und aufgegebener Behausungen nordafrikanischer Nomaden zu studieren, kann ich aus dieser Erfahrung auch bestätigen, dass die Interpretation der Befunde von Bilzingsleben durch Dietrich Mania der Realität voll entsprechen und die Kritik einiger eifernder Gelehrter daran unverständlich ist. (Skizze: L. Fiedler)
Abb. 94: Protofaustkeil im Stil der Karari-Artefakte. Georg Cubuk fand dieses Gerät Ende der sechziger Jahre in situ. Es ist von der Verwitterung her aus einem deutlich älteren Basaltabschlag des Oldowan gemacht und später an den Kanten bifaciell behauen worden. Der Erhaltungszustand ist nicht besonders gut. So entspricht der Fund wegen seiner ovalen Form und einem Abschlag als Grundform einerseits den Karari-Faustkeilen aus der Sterkfontein-Höhle und andererseits einigen Protofaustkeilen aus dem Maghreb. Olduvai-Schlucht, Bed 2, ‚HWK-East‘ (Zeichnung: L. Fiedler).
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Stimmt die Kennzeichnung?
Stimmt die Kennzeichnung? Die Steingeräte aus den ältesten Schichten der Atapuerca-Grabungsstätten (NW-Spanien) werden von den dort Forschenden als ‚mode 1‘ oder Oldowan beschrieben. Es sind Abschläge, einfache Kerne und einige relativ grob retuschierte Stücke. Ihre Gesamtanzahl ist bescheiden. Technologisch ähnliche Artefakte fanden sich in der Grotte Caune de l’Arago bei Tautavel (SFrankreich), aber in sehr großer Anzahl, darunter auch in prozentual verschwindender Menge einige Faustkeile. Sie werden zwischen 350 000 und maximal 600 000 Jahre datiert. Die ‚mode 1‘-Artefakte von Atapuerca sind allerdings viel älter und können um knapp 1 Mio. Jahre datiert werden. Etwas jünger, nämlich etwa 600 000 Jahre alt, sind dort ‚Be-
stattungen‘ von Menschen, die der Art des Homo heidelbergensis nahestehen. Als einziges Steingerät fand sich dabei nur ein sehr gut gearbeiteter Faustkeil im Stil des Jungacheuléen aus einem besonders schönen Rohmaterial. Nun könnte sich die Frage ergeben, ob der mengenmäßige Anteil von gewöhnlichen altpaläolithischen Werkzeugen in der Machart des ‚mode 1‘ zu der Menge von Faustkeilen in Höhlenstationen, wie den beiden genannten, eine einigermaßen verbindliche Proportion hatte. Wenn man den frühen Menschen als etwas betrachtet, das den tierischen Vorfahren bis auf die Fähigkeit, Steine zu behauen, noch weitgehend gleicht, dann könnte man voraussetzen, dass deren
Abb. 95: Diskoid aus Quarz, sehr windgeschliffen. R. Fladung und H. Mehl aus der Großgemeinde Dreieichenhain suchten viele Jahren im Bereich des Sprendlinger Horsts nach Artefakten. Neben einigen verstreuten Geräten des Jungpaläolithikums und späten Mittelpaläolithikums (u. a. eine Blattspitze) fanden sie vor allem große Mengen von extrem windgeschliffenen Artefakten aus sehr hartem Quarz (des ‚Rotliegenden‘ im Untergrund). Dieser ausgeprägte Windschliff (zusammen mit rosa Verfärbungen) deutet auf sehr lange Phasen einer gemäßigt kaltzeitlichen Steppenlandschaft hin, die es vor allem zu Beginn des Altpleistozäns zumindest zwei Mal gegeben hat. Die Artefakte sind diesem Alter entsprechend archaisch: Chopper, Chopping-tools, Epannelés, Diskoide und Protofaustkeile (Fiedler 1997 Abb. 36–37). Der hier abgebildete Diskoid ist einer der am aufwendigsten gestalteten Funde. Man könnte ihn auch als runden Faustkeil bezeichnen, doch scheint er – mindestens teilweise – seine Bearbeitung der ‚Bipolaren Ambosstechnik‘ zu verdanken, so dass er technologisch auch ein rundherum ‚Abgesplittetes Stück‘ sein könnte, das während der Herstellung auf seinem gesamten Umfang beschlagen und anschließend in gewöhnlicher Abschlagtechnik korrigiert worden ist. Wegen des Windschliffs kann nur in einem Teil des Sammelguts zweifelsfreie Artefakte erkannt werden; manche Stücke sind wieder zu Objekten der Natur geworden. Götzenhain, SW-Hessen (Zeichnung: Beate Kaletsch).
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Abb. 96: Beidflächig bearbeiteter Kern oder Faustkeil aus „Feuerstein“ des Altacheuléen. Wenn dieser Fund mittelpaläolithisch oder jünger wäre, könnte es nur ein grober diskoider Kern sein. Er gehört aber zu einem Komplex aus dem frühen Altpaläolithikum mit sehr vielen ähnlich grob bearbeiteten Faustkeilen. Der vor Ort verfügbare homogene Silex kommt nur in kleinen Formaten unter 10 cm größter Ausdehnung vor. So sind vor allem Kleingeräte, wie Kratzer, bohrerartige Stücke und gezähnte Schaber daraus gemacht worden. Vermutlich ist dieser Fund also bifunktional gewesen. Amguid-W, Zentralalgerien (Zeichnung: L. Fiedler).
Foto 83: Kleiner partiell bifaciell bearbeiteter Faustkeil (96 � 68 � 42 mm) aus Quarz/Quarzit (geologisch in situ aus einem kleinen Aufschluss nahe dem Wasserturm von Campsas). Der Fund ist deutlich verschliffen und stammt aus dem eher feinkiesigen Teil einer Terrasse, die von A. Tavoso als „Mindel“ eingestuft wurde, was seinerzeit als Datierung zwischen 800 000 und 1 Mio. Jahre bedeutete. Der 300 m weiter auf geneigtem Gelände gelegene Fundplatz der von Tavoso publizierten Artefakte habe seiner Vorstellung nach aber nicht in, sondern darauf seine stratigraphische Position. Dabei wurde übersehen, dass der erhaltene Teil der Terrasse der Rest einer mächtigen Kiesablagerung ist, die erosiv gekappt wurde und die Artefakte nicht darauf lagen, sondern inkorporierte Bestandteile der kiesigen Flusssedimente waren. Die dortigen Funde, unter den auch abgerollte Stücke sind, wurden von ihm als älteres Acheuléen eingestuft. Viele der aus Quarzit gemachten Faustkeile und Cleaver zeigen dementsprechend auch keine sorgfältig bearbeiteten Kanten, wie sie schon für das mittlere Acheuléen üblich wurden. Heute ist das Fundgelände durch Überbauung zerstört. Campsas (Tarn-Garonne-Becken), S-Frankreich.
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Stimmt die Kennzeichnung?
Foto 84: Chopping-tool aus Quarzitgeröll (87 � 87 � 48 mm). In der Terrassenfolge des Têt wird die Cabestany-Terrasse dem mittleren Altpleistozän zugeordnet. Der dort gemachte Fund ist leicht rötlich patiniert und moderat windgeschliffen, was beides von den örtlich tätigen Wissenschaftlern als Merkmale sehr früher Artefakte angesehen wird. Das Gerät ist von jeder Seite mit nur zwei bis drei Schlägen erzeugt worden. Die Abnutzung der zickzackförmigen Schneide könnte sowohl transportbedingt als auch durch heftigen Gebrauch entstanden sein. Die in das Foto eingepasste Zeichnung erläutert die technologischen Merkmale besser als es ein noch so gutes Foto vermag. Corneilla-la-Rivière, Roussillon, Cabestany-Terrasse, S-Frankreich.
Verhalten noch sehr instinktiv gesteuert war und deshalb auch in einer überschaubaren Gleichmäßigkeit ablief. Dann hätten die Leute von Atapuerca Faustkeile hergestellt, aber der Homo heidelbergensis von Mauer nicht, weil unter den drei Dutzend Artefakten seiner Fundschicht keine ansehnlichen Faustkeile vorhanden sind (Abb. 162). Wir hätten es dann also mit zwei unterschiedlichen ‚Kulturen‘ zu tun. Diesem Schluss stände jedoch ein ganz anderer
entgegen, der etwa besagt: Nein, das Werkzeugverhalten war im Altpaläolithikum keineswegs instinktiv gesteuert, weil es einerseits in dieser umfangreichen und formal vielfältigen Weise bei Tieren nicht vorkommt und andererseits auch nicht behauptet werden kann, dass die Neukaledonia-Krähen sich rein instinktgesteuert verhalten, wenn sie sich aus gefundenen Drahtstücken Werkzeuge zurechtbiegen, mit denen sie sonst nicht erreichbare Maden aus Holzspalten heraushakeln. Werkzeugverhalten 169
Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 85: Doppelschaber und Abschlag von einem ‚Barrenförmigen Kern‘. Mit einem knappen Dutzend anderer Artefakte sind beide Objekte in-situ-Funde mitten aus der 200 m-Terrasse der Unteren Nahe. Johannes Preuss datiert die Ablagerungen auf Grund ihrer Höhenlage und relativen Stratigraphie auf rund 1,3 Mio. Jahre und parallelisiert die real dafür in Frage kommende Paläomagnetik in den Cobb-Mountain-Event. Der Doppelschaber besteht aus Achat und wurde aus einem ‚hart‘ geschlagenen Abschlag gemacht. Seine beiden Kanten sind sorgfältig und relativ steil retuschiert (im Foto ist die rechte Kante zur besseren Beurteilung etwas angehoben). Der kaum abgerollte Abschlag hat eine Kortex-Schlagfläche mit nahe beieinander liegenden Schlagpunkten. Die Dorsalfläche zeigt Abschlagnegative aus gegenläufiger Richtung, so dass er von einem Kern stammt, der gegenüberliegende Schlagflächen aufwies. Beide Artefakte können trotz ihrer frühen Datierung nicht einer ‚mode-1-Industrie‘ zugeschrieben werden, sondern sind, wie auch weitere Artefakte derselben Fundstelle belegen, als Acheuléen zu klassifizieren. Münster-Sarmsheim, Gebiet des Oberen Mittelrheins, W-Deutschland. Abbildung nach Fiedler, Humburg, Klingelhöfer, Stoll & Stoll 2019 (Humanities).
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Stimmt die Kennzeichnung?
Foto 86: Gestreckter Faustkeil aus Geröllquarzit (150 � 81 � 51 mm). Flüchtig gearbeitete ad-hoc-Faustkeile kommen bis zum Ende des Mittelpaläolithikums gelegentlich vor, aber nicht in der gestreckten Form mit zur Mitte tendierender größter Breite, wie bei dem vorliegenden Exemplar. Es ist ‚hart‘ geschlagen und dabei mit knapp 25 größeren Abhieben fertiggestellt worden. So ist es ein typischer Faustkeil des Altacheuléen, dessen Zeitstellung auch alle anderen Funde des Platzes entsprechen. Victoria-Region, Andalusien, S-Spanien. (Foto Horst Klingelhöfer)
hat einen intelligenten Aspekt und mit dem Umfang solchen Verhaltens geht auch das Maß technologischer Intelligenz und Einsicht einher. Ich bin deshalb davon überzeugt, dass das Verhältnis von Faustkeilen zu den übrigen einfachen Geräten von Tautavel nichts mit einem starren Formenkanon zu tun hat, der imperativ anzufertigen war, sondern dass die Ausprägung der Werkzeugtypen und deren Anteile zueinander mit den öko-
nomischen Verhältnissen zu tun hatten, unter denen die jeweiligen Menschengruppen an den jeweiligen Rast- oder Wohnstätten günstigerweise ihr Dasein bestreiten konnten. Das heißt, in einer Gegend, in der es die jahreszeitliche Möglichkeit gab, große Dickhäuter zu jagen und dann zerlegen zu können, ist mit einer anderen Auswahl von Steingerättypen zu rechnen als dort, wo periodisch die Niederwildjagd und das Sammeln von Muscheln, 171
Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 87: Massiver gestreckter Faustkeil des Altacheuléen (160 � 86 � 67 mm). Auch dieser Faustkeil wurde mit weniger als 25 Abhieben fertiggestellt. Das summarische Konzept der Steingerätetechnologie war zur Zeit des Altacheuléen in Afrika und Europa gleichermaßen verbreitet. Die eigentliche Herstellungsdauer – ohne Suchen nach bestmöglichstem Ausgangsgeröll und Schlagstein – dauerte dabei maximal 5 Minuten. Vom Steinschläger verlangte das Erfahrung, Kraft, Geschick und eine Portion Genialität. Vergleichbar ist das etwa mit einer expressionistischen, schnell hingeworfenen Skizze – beispielsweise von Matisse. Jungacheuléen-Faustkeile sind dagegen, um buchstäblich im Bilde zu bleiben, Ölgemälde der alten Meister. Victoria, Andalusien, S-Spanien. (Foto Horst Klingelhöfer)
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Vorgabe, Imagination und Realisierung – Geist und Ding
Krebsen, Wurzeln und Früchten im Vordergrund der Existenzsicherung standen. Wir kennen das ja aus der Archäologie an den Küsten fast aller Kontinente: In den Muschelabfallhaufen kommen fast nur grobe Steingeräte vor, die einen ‚mode 1‘-Aspekt oder bestenfalls den des frühen ‚mode 2‘ haben. Hat man das Glück der guten Erhaltung organischer Substanzen an derartigen Stellen, findet man Fischreusen, Angelhaken, Paddel oder gar Einbäume/Pirogen einer Kultur, die weit davon entfernt ist, der des Oldowan zu ähneln. Damit wird eindeutig, wie irreführend die Kennzeichnungen ‚mode 1‘ oder ‚mode 2‘ sein können. Sie bezeichnen nicht die wirkliche Kultur und Existenzweise der Menschen, die primitive oder
fortschrittlichere Steingeräte anfertigten, sondern sind reine Klassifizierungen des technologischen Stils von Artefaktinventaren. Und sie lassen auch keinen Schluss darauf zu, ob sie wirklich zum PräAcheuléen oder zum Acheuléen gehören. Das ist nämlich das Gute an diesen traditionellen Bezeichnungen: Sie beschreiben Kulturstufen oder -epochen. Zugleich fordern sie von Ausgräbern, den Stil jeweils wenig umfangreicher Artefaktinventare nicht unbegründet in einem modernen, aber nicht immer sorgfältig betrachteten Klassifizierungssystem unterzubringen. Die Bestimmung von Artefaktensembles ist nicht in einer Art Quiz möglich, in dem unter den vorgegebenen Antworten eine davon zutreffend ist.
Vorgabe, Imagination und Realisierung – Geist und Ding Faustkeile wurden – wie schon erwähnt – nicht um ihrer selbst willen hergestellt, sondern um erforderliche Aufgaben damit zu erfüllen. Die dazu gehörende gedankliche Leistung umfasst demnach mehrere Gesichtspunkte: 1. Die existenziell wichtige Verwendung des Gerätes, 2. seine dazu passende Gestalt, 3. die technologische Kenntnis der Anfertigung und 4. ein Wissen zur Erlangung des geeigneten Werkstoffs. An dem imaginären Bild der Form im Kopf orientierte sich die zu realisierende Darstellung eines Faustkeils. Dass in diesem Formenbewusstsein auch schon Grundlagen des ästhetischen Denkens und des Kunsthandwerks wurzelten, wird der Betrachter anhand mancher in diesem Buch vorliegenden Fotografien unschwer erkennen. Natürlich haben Urmenschen gewusst, dass in ihren Köpfen einerseits das vollständige Bild des Faustkeils gibt und andererseits den wirklichen Faustkeil aus Stein. Diese zwei Sphären, nämlich die geistige Imagination und die reale Dingwelt, müssen ihnen als etwas Zusammengehöriges erschienen sein und schon früh zu der Vorstellung von Seele und Körper geführt haben. Das Zwischendrin ist die rätselhafte, zauberhafte Kraft des gezielten Darstellens, des Realisierens, die dem Menschen mehr eigen ist als den Schmetterlingen, Vögeln, Bisons oder Steppenelefanten.
Sogar das Feuer ist von ihm selbst erzeugbar. Wieso? Woher kommt das? Es ist vermutlich eine Gabe mythischer Ahnen, vielleicht sogar der Erde und des Kosmos. Vielleicht kommt es auch zu den Menschen aus einer Sphäre, die den Träumen ähnlich ist, eine Spukwelt, in der Gut und Böse, Freude und Angst, Glück und Leid vorkommen sowie auch Gegenwart, Vergangenheit und zukünftige Illusion. Vielleicht leben all die toten Ahnen und alle gestorbenen Tiere in dieser Spukwelt fort und können die reale Welt von dort aus sehen, wie wir Menschen in unseren Gedanken kurzfristig Tiere, andere Menschen, Berge, Flüsse, Hütten, Feuerstellen und Werkzeuge uns vorstellen können, gleichsam innerlich sehen. Die Anlage aus Gruben und Hügelchen, die die mittelpaläolithischen Menschen von La Ferrassie geschaffen haben, liefert mit ihren deutlich gegensätzlich orientierten Elementen den klaren Hinweis darauf, dass ihnen die grundsätzliche Dualität/ Komplementarität der Mächte des Daseins vertraut war: Leben und Tot, Kindheit und Alter, Tag und Nacht, Imagination und wirkliche Sachwelt. Wenn diese Deutung korrekt sein sollte, ist daraus aber nicht das abzuleiten, was wir Religion nennen. Es wäre aber ein Verständnis des Lebens, eine kontemplative Weltsicht und auch das Fundament eines bewussten geistigen Seins.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 97: Kleiner, ‚massiver gestreckter‘ Faustkeil aus örtlich anstehendem Quarzit. Hätte das Gerät keinen massiven Talon und eine beidflächig gestaltete schlanke Spitze, dann könnte es als gestreckter Kern zur Gewinnung kleiner Abschläge angesehen werden. Manche der diskoiden Kerne dieser Fundstelle weisen Nachbearbeitungen auf, die nur mit einer beabsichtigten Nutzung dieser Exemplare sinnvoll zu deuten sind. Da kaum Gerölle in der direkten Umgebung zu finden waren, liegt der Verdacht nahe, dass diskoide Kerne als Chopping-tools und diskoide Faustkeile gebraucht worden sind. Ziegenhain „Reutersruh“, Hessen (Zeichnung: Beate Kaletsch und L. Fiedler).
Abb. 98: Chopping-tool. Es wäre genauso gut möglich, den Fund lediglich als unvollständigen diskoiden Kern zu bezeichnen. Die abweichenden Vorstellungen unter den Wissenschaftlern in der Deutung derartiger Objekte werden obsolet, wenn ein sehr wahrscheinliches „Sowohl-als-auch“ bedacht wird. Aus Australien ist bekannt, dass die Ureinwohner Chopper zum Herauslösen großer Holzstücke aus Bäumen benutzten und die vom Stein zuerst entfernten Abschläge als „Schaber“ zur Weiterbearbeitung gebrauchten. Warum sollte Homo erectus eine Trennung zwischen Kern und Gerät nach Art der archäologischen Wissenschaft gemacht haben? Münzenberg, Zentralhessen (Zeichnung: Beate Kaletsch).
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Vorgabe, Imagination und Realisierung – Geist und Ding
Foto 88: Gezähnter Schaber (67 � 43 � 14,5 mm). Schaber gehören im älteren Acheuléen eher zu den seltenen Geräten. Dieser hier wurde aus einem gestreckten Geröllabschlag gefertigt, dessen Ventralfläche mit der Bulbusregion erhalten geblieben ist. Sie blieb unbearbeitet. Die Dorsalfläche besteht aus dem Kortex der Ausgangsform und wurde rechtslateral mit einer kräftigen gezähnten Retusche versehen. Münzenberg „Eilo“, Mittelhessen, Deutschland.
Foto 89: Gezähnter Schaber mit Rücken (70 � 40 � 18). Der Bulbus der Grundform ist ventral komplett erhalten. Die Schlagfläche ist glatt. Stilistisch und technologisch gehört dieses Gerät noch in das mittlere Acheuléen. Ubari-Wüste, S-Libyen.
Foto 90: Kleiner Kratzer aus paläozoischem Geröllquarzit (49 � 45 � 16 mm). Das ist eines der für Münzenberg so typischen Kleingeräte. Es ist ventral bearbeitet und hat auf der Dorsalfläche nur Kortex. Wozu dienten all diese Kleingeräte der Faustkeilzeit in Olduvai, Bilzingsleben, Tautavel oder an der Somme? Einige tragen Gebrauchsspuren, die auf Holzbearbeitung hinweisen, also Dienste leisten, die auch größere Geräte erfüllen würden. Ihr häufiges und geographisch weitreichendes Vorkommen findet in Publikationen bisher nur randliche Aufmerksamkeit. Münzenberg „Eilo“, Mittelhessen, Deutschland.
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Foto 91: Chopper oder grober Kratzer (90 � 118 � 52 mm). Das Gerät wurde aus einem Geröllspaltstück (paläozoischer Quarzit) vor allem durch das bogenförmige Behauen einer breiten Kante hergestellt. Diese Bearbeitung hinterließ eine gezähnte Arbeitskante. Ähnliche Geräte sind aus dem gesamten Altpaläolithikum bekannt, ohne dass ihnen betonte Aufmerksamkeit gewidmet wird – ja, wie sogar im Fall von Bilzingsleben einige Gelehrte meinen, so etwas entstehe gewöhnlich durch die Natur und wäre als Geofakt zu werten. Da dient wissenschaftlich geforderte Vorsicht und Skepsis alleine dem Verbergen von blamabler Unerfahrenheit. Münzenberg „Eilo“, Mittelhessen, Deutschland.
Foto 92: Archaischer Faustkeil und Kern (210 � 102 � 61 mm). ‚Barrenförmige Kerne‘ mit gegenüberliegenden Schlagflächen sind gestreckte Varianten der diskoiden Kerne. Im Acheuléen waren sie verbreitet, wenn das Ausgangsmaterial der Geräteherstellung in länglichen Formen vorkam. Der vorliegende Fund kommt aus einem Gebiet, in dem Quarzitblöcke durch Frosteinwirkung in zahllose brauchbare Trümmerstücke zerfallen waren. Diskoide Kerne, massive Abschläge, Polyeder Cleaver und archaische Faustkeile zeugen von der Nutzung dieses Materials im älteren Acheuléen. Das Foto zeigt einen Faustkeil, dessen Grundform ein ‚Barrenförmiger Kern‘ war. Vergleichbare Artefakte kommen auch auf anderen Fundstellen des Acheuléen in Deutschland vor. Rainrod ‚B‘, Hessen, Deutschland (Foto: Horst Klingelhöfer).
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Vorgabe, Imagination und Realisierung – Geist und Ding
Foto 93: Kleiner Faustkeil (67 � 46 � 28 mm). Zu den großen und grob gemachten Faustkeilen von Rainrod fanden sich auch eine Anzahl kleinerer Exemplare, die ebenfalls in Steinschlagtechnik bearbeitet und summarisch gestaltet sind. Das vorliegende Exemplar wurde aus einem einfachen Breitabschlag gefertigt, dessen Schlagflächenrest – in der rechten Ansicht, rechte Kante – gut zu erkennen ist. Der Fundplatz ist ein Outcrop des tertiären Quarzits. Rainrod ‚B‘, Hessen, Deutschland.
Foto 94: Bifacial knife des Oldowan/Altacheuléen (139 � 58 � 31 mm). Der Fund stammt von einer hohen Waditerrasse im SW des Messak-Vorlandes (etwa im SW der ehemaligen „Polizeistation“, die für den Felsbildertourismus zuständig war). Das Gerät ist aus einem extrem gestreckten quarzitischen Geröll angefertigt worden und sehr grob an einer Kante sowie einem Ende bifaciell behauen. Die bearbeitete Kante hat einen zickzack-förmigen Schneidenverlauf, der sich ungefähr über die Hälfte der Gesamtlänge der Grundform erstreckt. Der Rest ist unbearbeitet und bildet den Griff dieses „Messers“. Es passt technologisch zu den übrigen dort zu beobachtenden Artefakten sehr archaischen Charakters, bei denen Faustkeile nicht vorkommen (oder vorkamen?). Das Gerät ist eines der wenigen Beispiele für die individuelle Innovationsfähigkeit des Homo erectus s. l., denn eine gleichartige Geräteform, quasi ein side-chopper mit Handgriff, ist dem Autor bei seinen zahlreichen Geländefahrten in den ariden Gebieten Nordafrikas niemals begegnet. Dass es keine weiteren Nachahmungen gab, lag wahrscheinlich an der einsetzenden Entwicklung der Faustkeile, in der ein anderes Messerkonzept verwirklicht wurde. A-02–4. Nördliche Murzuk-Wüste, S-Libyen (Foto: Sabine Jordan).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 95: Chopping-tool (90 � 67 � 39 mm). Die Fundstelle Souk-el-Arba wurde von Pierre Biberson auf Grund stratigraphischer Parallelen im Umland (die faunendatiert werden konnten) auf etwa gleich alt wie der unterste Horizont der Olduvai-Schlucht datiert. Viele der Funde (im Kiesabbau) sind auch entsprechend archaisch, wirken aber anders als die ostafrikanischen, weil hier das Ausgangsmaterial die örtlich vorhandenen Quarzitgerölle waren. Das hier gezeigte Chopping-tool wird allein durch drei größere Abschlagnegative geformt. Souk-el-Arba-du-Gharb, NW-Marokko.
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Vorgabe, Imagination und Realisierung – Geist und Ding
Foto 96: Protofaustkeil/Pic (132 � 97 � 54 mm). Das örtlich verfügbare Geröll-Ausgangsmaterial machte es wegen seinem glatten und harten Kortex oft unnötig, Pics oder Faustkeile bifaciell zu gestalten. Hier ist also die einflächige Bearbeitung kein Merkmal dafür, dass solche Funde außerhalb der Tradition des frühen Acheuléen stehen. Funde gleicher Art sind aus Spanien, Südfrankreich und China ebenfalls neben vielen bifaciellen bekannt geworden. Souk-el-Arba-du-Gharb, NW-Marokko.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 97: Proto-Faustkeil des späten Oldowan/frühen Acheuléen aus Quarzitgeröll. (112 � 92 � 45 mm). P. Biberson zögerte vermutlich wegen des hohen geologischen Alters der Sedimente von Souk-el-Arba bei der Veröffentlichung von daraus stammenden Fundstücken, wie dem hier vorgestellten, von Faustkeilen zu sprechen. Aber diese einfachen Bifaces sind genau dort in zu großer Anzahl entdeckt worden, um als zufällig spitze Chopping-tools interpretiert werden zu können. Sie gehören eindeutig zu den ältesten Faustkeilen des Kontinents (> 1,7 Mio. Jahre). Ihre beabsichtigte spitze, beidkantig scharfe Formgebung könnte auf das Aufbrechen dickhäutiger Wildbeute hinweisen. Souk-el-Arba-du-Gharb, NW-Marokko.
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Vorgabe, Imagination und Realisierung – Geist und Ding
Foto 98: Gestreckter Faustkeil aus plattigem Quarz (127 � 69 � 36 mm). Am Talon sitzt noch eine (nicht mitgemessene) Verkrustung von 2 mm. Die distale Partie dieses nur summarisch behauenen Faustkeils ist beidkantig bifaciell recht steil bearbeitet, so dass der Querschnitt sich dort einem auf die Spitze gestelltem Quadrat annähert. Der proximale Talon ist fast unbearbeitet. Die größte Breite liegt auf der halben Länge des Gerätes, was recht kennzeichnend für frühe Faustkeile ist. Über die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts galten die Faustkeile aus Bed 2 der Olduvai-Schlucht mit etwa 1,6 Mio. Jahren als die ältesten des afrikanischen Kontinents. Mittlerweile kann das Entstehen der Faustkeiltradition auf mindestens 1,8 Mio. Jahre zurückverfolgt werden (vergl. Abb. 91). Olduvai MK, Tansania.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Ist es möglich, einen Faustkeil in der Umgebung meines Wohnortes zu finden? Faustkeile wurden in Deutschland vom nordwestlichen Schleswig-Holstein bis zum südlichen Alpenvorland gefunden. Die wenigsten davon wurden bei wissenschaftlichen Ausgrabungen geborgen. Die meisten fanden sich auf ackerbaulich genutzten Flächen, bei der Kiesgewinnung oder bei großen Baumaßnahmen. Bevorzugte Fundmöglichkeiten bestehen dort, wo Jahrtausende langer Ackerbau durch die damit verbundene Erosion tiefer liegende Bodenschichten freigelegt hat. Das betrifft vor allem flachhügelige bis mittelgebirgige Landschaften, aber nicht Moränengebiete, Marschlandschaften oder gar das Wattenmeer. Dort liegen erhaltene pleistozäne Böden unter Schutt, Kolluvium oder Meeresschlamm. Allerdings zeigen zahlreiche Funde vom Boden der
Nordsee, dass hier Land im Eiszeitalter trocken lag und von Tieren und Menschen besiedelt war. Wer sich also aufmacht und gepflügte, gut abgeregnete Felder im schneefreien Winter begeht, hat nach wochen- oder oft jahrelangem vergeblichem Bemühen wahrscheinlich irgendwann das Finderglück, mittelpaläolithische Steingeräte und möglicherweise einen Faustkeil zu finden. Aber viele Fundstellen sind schon bekannt und werden von ihren Entdeckern auch regelmäßig abgesucht. Es geht also darum, unbekannte neue Stellen zu erschließen. Und wenn sich dieses Glück einstellt, dann ist die entsprechende Denkmalfachbehörde nach den Bestimmungen aller deutschen Bundesländer davon zu unterrichten, sowie dort eine sogenannte
Abb. 99: Faustkeilartiger Pic. Kennzeichnend für das menschliche Verhalten im frühen Paläolithikum ist, dass die Lebensumstände keine präzise Gestaltgebung von Geräten verlangten, sondern die summarische Formgebung vorherrschend war. Ein Faustkeil war realisiert, wenn er eine scharfe Spitze und schneidende Kanten hatte. Beides trifft bei diesem Gerät zu. Die Sparsamkeit der Zurichtung steht aber derjenigen nahe, die uns zur Klassifizierung von Pics dient. Die verschwommene Grenze zwischen diesen Gerätearten erlaubt es nicht, Pics aus der Gruppe aller Faustkeilformen auszuschließen. Cambernard, Garonnebecken, Südfrankreich (Zeichnung: Karin Fiedler).
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Ist es möglich, einen Faustkeil in der Umgebung meines Wohnortes zu finden?
Abb. 100: Ovaler Faustkeil aus einem Abschlag. Bei der Veröffentlichung der in-situ-Funde des Fundplatzes wehrte sich einer der Gutachter dagegen, das Gerät Faustkeil zu nennen. Wir folgten ihm, indem wir die Bezeichnung ‚Large cutting tool‘ wählten, weil damit alle faustkeilartigen Werkzeuge gemeint sind. Die Kritik an unserer Benennung rührt daher, dass die Gestalt der Grundform keine Darstellung eines gewöhnlichen breiten Talons zuließ, sondern dort eine kortexbedeckte Einbuchtung vorhanden war. Den Homo erectus hatte das jedoch nicht gehindert, einen bifaciell bearbeiteten Faustkeil daraus zu machen. Wer sich mit dem Acheuléen wissenschaftlich ausreichend genug beschäftigt und dabei unzählige Faustkeile gesehen hat, dem ist selbstverständlich klar, dass es sich bei dem hier gezeigten Fund um einen letztlich gewöhnlichen ovalen Faustkeil handelt. Münster-Sarmsheim „Kesslersberg“, Nahemündungsgebiet in den Rhein (Zeichnung: L. Fiedler).
Nachforschungsgenehmigung zu erwirken, die in der Regel seriösen Findern auch erteilt wird. Und selbstverständlich sollten auch der oder die Grundstückseigentümer um Erlaubnis gefragt werden, ob man noch nicht eingesäte Flächen absuchen darf. Bei manchen Bauern muss man aber sehr zäh werben oder gar die Unterstützung der Denkmalfachbehörde erwirken, bis sie Verständnis zeigen. Die modernen Ackermaschinen zerstören einmal hochgepflügte Steine im Laufe der Zeit völlig. Für die Begehung von Kiesgruben oder Nassbaggereien gilt das Genannte ebenso. Und ganz wichtig: Beschriften Sie Ihre Funde unbedingt mit Fundortsnamen, Abkürzungen sind
möglich, aber nicht bloße Katalogziffern. Denn Ihr Nachlass kann oft nicht so gehandhabt werden, wie Sie es verfügt haben. Und Artefakte ohne Fundortsangaben sind wissenschaftlich nahezu wertlos! Wenn die Funde beschriftet, sachgemäß gelagert und für Wissenschaftler zugänglich gehalten werden, gibt es von Seiten der zuständigen Fachbehörde auch kaum einen Grund, Ihre Funde – es sei denn zur kurzfristigen wissenschaftlichen Bearbeitung – einzuziehen. Grundgesetzlich ist Eigentum geschützt – jedenfalls solange, wie es anderen Menschen oder der Allgemeinheit im Beschaffen und Bewahren des Kulturguts keinen Schaden zufügt.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Hauptsächlich verwendete Gesteinsarten Als Faustkeile in Europa um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bekannt wurden, orientierte sich die Vorstellung davon an Abbildungen von eindrucksvoll ausgearbeiteten Exemplaren aus Feuerstein, die in Südengland und Nordfrankreich entdeckt worden sind (Fotos 2 und 58). Auch nach hundert Jahren werden verständlicherweise Darstellungen perfekt gemachter Faustkeile immer noch in Einführungen in die Urgeschichte, Lexika und manchen Lehrbüchern für Schulen und Hochschulen verwendet. Auch der Gedanke, dass der Feuerstein (englisch und norddeutsch: Flint) für die Herstellung ausschlaggebend war, hat sich damit gehalten. Viele der in diesem Buch abgebildeten Faustkeile bestehen allerdings nicht daraus, sondern aus anderen harten Gesteinsarten mit einigermaßen feinkristalliner oder feinkörniger Textur. Natürlich trifft das nicht nur für die Faustkeile zu, sondern auch auf die übrigen Steingeräte wie Messer, Schaber und Bohrer. Feuerstein ist dabei nur eine Variante in der Familie der Silikatgesteine mit einer Matrix (inneren Textur), die hauptsächlich aus feinem Chalzedon besteht. Reiner Chalzedon ist ein Stein mit sogenannter faseriger Kristallstruktur. Dabei sind diese Kristalle mit bloßem Auge gewöhnlich gar nicht erkennbar, weil sie klein und dicht miteinander verbunden sind. Chalzedon ohne größeren Anteil von Kristallwasser hat eine Härte, die über derjenigen des gewöhnlichen Stahls liegt. Er ist aber spröder als Metall, was die Voraussetzung für eine Bearbeitung in Schlagtechnik bietet. Ganz vereinfacht kann man sagen, dass Feuerstein ein Chalzedon der Kreidezeit ist, während Chalzedone aus dem Jura als Hornsteine bezeichnet werden. Diesen Satz werden Mineralogen aber ablehnen, weil beide Benennungen nicht wissenschaftlich sind und sich nur aus der Volkssprache ableiten. Denn aus der Kreidezeit und dem frühen Paläogen gibt es beispielsweise im westlichen Frankreich eine Fülle von Feuersteinvarianten (dort alle unter dem Begriff Silex zusammengefasst), die mineralogisch zu unterscheiden sind. Zwischen Hornstein und Feuerstein gibt es in diesem Sinne
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außer geologischem Alter und manchmal Farbdichtigkeit keinen besonderen Unterschied. Beide Silikatgesteinsarten gehen auf Abscheidungsprozesse toter Kieselalgen im Wasser und erneute Biomineralisation zurück. Im Durchlicht dünner Abschläge zeigen sie oft schemenhafte, dicht an dicht gedrängte kugelige Strukturen, die man für in den Chalzedon eingebundene helle Sandkörner des mesozoischen Meeresboden halten könnte, tatsächlich sind es aber die kugeligen, glaskopfartigen Kristallisationsformen des Chalzedons. Auch Kieselschiefer (Radiolarit) ist ein im Wasser gebildetes Mineral, wie die darin eingebetteten Radiolarien (Einzeller mit Kieselskelett) zeigen. Er stammt hauptsächlich aus dem Karbon-Zeitalter. Andere harte Silikate wie Achat, Karneol, Jaspis und vor allem Quarz gehen auf terrestrische Ursachen zurück, bei denen hoher Gesteinsdruck oder hohe Temperaturen mit im Spiel waren. Neben den bisher erwähnten Silikatgesteinen gibt es eine zweite Gruppe, die durch Verkieselung von Sand, Sandstein, Ton oder organischen Substanzen, vor allem Holz, entstanden ist. Zumindest teilweise geht dieser Verkieselungsprozess auf die Löslichkeit von Kieselsäure in heißem Wasser zurück, das dann unter Druck unterhalb der Erdoberfläche andere Stoffe quasi imprägniert hat; aber auch das wieder unter Beteiligung von Mikroorganismen. Der bekannteste Rohstoff ist dabei der Quarzit, der aus dicht verkieseltem Quarzsand besteht (aber weder in der Genese noch in der Matrix nur wenig mit dem kristallinen Quarzit – englisch: quartzite – der Grundgebirge zu tun hat). Getrennt von der Familie echter Silikate gibt es als zweite Gruppe der für die Steingeräteherstellung benutzten Gesteine diejenige, die vulkanischen Ursprungs ist oder auch zu feinkristallinen Tiefengesteinen gehört. Das ist das dunkle vulkanische Glas Obsidian, sowie Basalt, Phonolith, Andesit und Rhyolith. Sie alle verwittern leichter als Silikatgesteine und bilden dabei Patina aus, die oftmals die zerstörungsfreie Analyse der eigentlichen Gesteinsart sehr erschwert.
Hauptsächlich verwendete Gesteinsarten
Abb. 101: Gezähnte Geräte/Schaber aus „Süßwasser-Feuerstein“. In den intermontanen Becken der heutigen Sahara sammelten sich zufließende Gewässer zu zahlreichen Seen, an denen Menschen ihre Lager errichteten. Faustkeile aller Art, Chopping-tools und Polyeder wurden aus dem dort gewöhnlich vorhandenen Geröllmaterial gefertigt, das die Bäche und Flüsse aus geologisch unterschiedlichen Liefergebieten herbeigeführt hatten. In den Gewässern selbst bildeten sich sporadisch kleine plattige Chalcedon-Anreicherungen, die zwar eine harte und homogene Matrix hatten, aber sich von ihren Dimensionen her nicht zur Anfertigung von gewöhnlichen Geräten des Acheuléen eigneten. Sie wurden aber ausgewählt, wenn es darum ging, kleine scharfkantige und schnittfeste Werkzeuge zum Schnitzen oder Zerteilen anderer harter organischer Materialien zu erlangen. Diese Auswahl findet sich an sehr vielen Stationen des (frühen) Acheuléen. In den Publikationen erscheinen sie oft nicht oder nur am Rande, waren aber unerlässlicher Bestand im tool kit jener Zeit. Manchmal sind sie die einzigen Steingeräte, die erhalten blieben, weil andere aus verwitterbaren Materialien längst vergangen sind. Amguid-W, Zentralalgerien (Zeichnung: L. Fiedler).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 102: Gezähnter Schaber aus Kieselschiefer. Das Ausgangsmaterial Kieselschiefer hat sich im Mittelpaläolithikum Hessens einer großen Bedeutung erfreut, so dass Faustkeile, Keilmesser, Schaber und Blattspitzen vorzugsweise daraus hergestellt wurden. Im Altpaläolithikum fand diese Bevorzugung nur dort Ausdruck, wo das Material in der unmittelbaren Umgebung auch verfügbar war. Das trifft bei dem hier gezeigten ‚Gezähnten Gerät‘ nicht zu. Das Rohmaterial ist also ein ‚Manuport‘ aus der Ferne. Für die gewöhnliche Bearbeitungsweise der Fundregion ist die typische altpaläolithische Zähnung der Schneide sehr sorgsam gemacht. Das weist auf eine gewisse Wertschätzung des aus diesem Material gefertigten Messers durch den Homo erectus hin und belegt eindeutig ein klassifizierendes Bewusstsein bei der Materialwahl. Münzenberg, Zentralhessen (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 103: Keilmesser aus Feuerstein. Das Werkzeug wurde im Beisein des Autors auf einer Kuppe des anstehenden guten Quarzits („Fossküppel“) aufgelesen, der hier massenhaft zur Produktion von Steingeräten vom Mittelpaläolithikum bis zum Neolithikum diente. Feuerstein ist hier ein Exot, der in einer Mindestentfernung von 100 km erstmals in Thüringen vorkommt. Die Größe und die Bearbeitung zeigen, dass dieses Gerät länger in Gebrauch war, bis zum heutigen Fundort transportiert wurde und dort durch den qualitätvollen Quarzit ersetzt werden konnte. Seine weite Wegstrecke führt damit auch vor Augen, wie bedeutsam den Neandertalern der Feuerstein in einer Landschaft des Quarzits und Kieselschiefers gewesen war. Lenderscheid, Nordhessen (Zeichnung: Beate Kaletsch und L. Fiedler).
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Hauptsächlich verwendete Gesteinsarten
Abb. 104: Pic aus Quarzitgeröll. Wenn das Fundstück wesentlich kleiner wäre, würde es als ‚Bohrer‘ zu klassifizieren sein. In der Funktion jedoch hat es die gleiche Bedeutung, nämlich ein Loch zu erzeugen. Bei dem gezeigten Fund ging es möglicherweise darum, die abgezogene Haut eines erlegten Tieres zu perforieren. Amguid-W, Zentralalgerien (Zeichnung: L. Fiedler).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 99: Spitzer, grob kantenbearbeiteter Faustkeil mit annähernd dreikantigem Querschnitt (150 � 66 � 45 mm). Das Objekt wurde mit gut 35 Schlägen aus einer Quarzitausgangsform hergestellt. Vor allem im distalen Bereich ist es triedrisch gestaltet. Die flache Unterseite ist relativ sorgsam bearbeitet, so dass diesem Ficron bei der Formgebung besondere Aufmerksamkeit zuteilwurde. Diese Beobachtung trifft auch bei zahlreichen anderen triedrischen Faustkeilen zu. Amguid – W, Zentralalgerien.
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Hauptsächlich verwendete Gesteinsarten
Foto 100: Faustkeil aus einem Quarzgeröll (129 � 77 � 52 mm). Dieser Faustkeil ist nur sparsam in der distalen Hälfte bifaciell behauen. Mehr war offensichtlich nicht nötig im summarischen Konzept der frühen Faustkeilkultur. Zugleich impliziert das eine Großzügigkeit der Hersteller in Bezug auf die Einsicht in die Funktion derartiger Werkzeuge. Amguid – W, Zentralalgerien.
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Foto 101: Gedrungener Faustkeil aus Quarz (120 � 81 � 47 mm). Das Instrument ist aus einem kräftigen Geröllabschlag gemacht worden. Seine Dorsalseite (links) ist mit wenigen Abhieben an beiden Kanten bearbeitet; die Ventralfläche (rechts) ist flächendeckend überarbeitet. Hier ist feststellbar, wie sehr die Gestalt des Ausgangsmaterials die Formgebung der Faustkeile im Altacheuléen beeinflusst hat. Die größte Breite liegt bei derartigen Geröllfaustkeilen oft nicht, wie sonst bei Altacheulformen üblich, deutlich über dem Talon, sondern genau dort. Amguid – W, Zentralalgerien.
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Hauptsächlich verwendete Gesteinsarten
Foto 102: Doppelspitzer Faustkeil (178 � 60 � 44 mm). Doppelspitze Faustkeile sind im Altacheuléen nicht unbekannt (beispielsweise ’Ubeidya im Jordan-Graben). In Amguid entdeckten wir zwei Exemplare – das hier abgebildete ist besonders schlank. Es ist aus Quarzit gemacht und hat wegen seiner nur in Form gehauenen, aber nicht nachretuschierten Kanten zwei wellige Schneiden. Erst im Mittelpaläolithikum wurden doppelspitze Jagdmesser als ‚Blattspitzen‘ wieder vermehrt, aber mit großer Sorgfalt hergestellt. Amguid – W, Zentralalgerien.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 103: Pic aus Quarzabschlag (138 � 71 � 56 mm). Das Bild zeigt einen einfachen Pic mit glatter Unterseite, die aus der Ventralfläche der Grundform besteht. Der Bulbus und der Schlagpunkt (durch Signatur gekennzeichnet) sind erhalten. Der Pic wurde mit 6 oder 7 Schlägen in seine Form gebracht. In Europa sind derartige Pics vor allem von Terra Amata, einem Stadtteil in Nizza (Nice) bekannt geworden. Amguid – W, Zentralalgerien.
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Foto 104: Gesteckter Faustkeil mit flacher Unterseite und Cleaver-Schneide (127 � 61 � 44 mm). Dieser schlanke Faustkeil besteht aus einem Quarz-Geröllabschlag, dessen Unterseite komplett überarbeitet wurde. Auch die Dorsalfläche ist weitgehend von Abschlagnegativen bedeckt, die aber wegen der Wölbung des Kortex relativ steil ausfielen. Daher wirkt das Pic-artige Gerät mit seiner Cleaver-förmiger Spitze und dem gestrecktem Talon unstandardisiert und noch sehr summarisch realisiert. Amguid – W, Zentralalgerien.
Hauptsächlich verwendete Gesteinsarten
Foto 105: Faustkeil-Cleaver mit zungenförmiger Spitze (152 � 90 � 58 mm). Dieses Gerät vermittelt den zutreffenden Eindruck, dass es im frühen Acheuléen zwischen Cleavern und Faustkeilen formale Übergangsbereiche gibt, die eine eindeutige archäologische Klassifizierung nicht zulassen. Dieses abgebildete Gerät wurde aus einem massiven Geröllabschlag gefertigt und nur im Talonbereich beidflächig behauen, während der zungenförmige distale Bereich die belassene Schärfe der Abschlags-Grundform behalten konnte, was technologisch, aber nicht formal für einen Cleaver spricht. Die deutlich gezähnte Kante rechtslateral (ventral gesehen die linke Kante) findet Vergleiche auch bei manchen anderen Cleavern. Amguid – W, Zentralalgerien.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 106: Sehr schlanker Cleaver aus einem Quarzit-Breitabschlag (138 � 60 � 25 mm). Die Längskanten des windpolierten Werkzeugs sind hauptsächlich „wechselseitig-gleichgerichtet“ grob behauen, so dass sie leicht gezähnt wirken und damit neben der Beil-ähnlichen Funktion eine für viele Cleaver typische, zusätzliche sägeartige Nutzung hatten. A-88–33. Erg Amguid – West, Zentralalgerien.
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Die Zuweisung der Gesteinsarten und Materialien.
Die Zuweisung der Gesteinsarten und Materialien. Die Belege klassifizierenden Denkens Es fiel schon bei den von H. de Lumley publizierten Funden von Terra Amata und Tautavel auf: Neben Faustkeilen, Cleavern und Choppern aus hartem, kieseligem Kalkstein oder Grauwacke waren sehr zahlreiche Kleingeräte aus Silex, wie gezähnte Schaber, Quinson-Spitzen, Bohrer und Kratzer vorhanden. Der Grund dafür war in beiden Fällen die natürliche Größe des örtlich verfügbaren Rohmaterials, wo vor allem spröder Quarz und ganz selten Silex nur in kleinen Geröllen zur Ver-
fügung stand. Für benötigte Pics, Faustkeile und Chopping-tools musste man auf weniger stabile Rohmaterialien zurückgreifen. Gleiches gilt für die gesamte Zeit des Acheuléen an vielen Fundstellen der Welt, beispielsweise Zoukoudian in China, Bed 2 in der Olduvai-Schlucht in Tansania, ’Ubeidya in Israel, Vertesszöllös in Ungarn, Soleihac in Frankreich oder Bilzingsleben in Deutschland. Daraus geht eindeutig hervor, dass der Homo erectus heidelbergensis eine empirische Einsicht in die Qualität der unterschiedlichen Gesteins-Roh-
Abb. 105: Der Humangenetiker Svante Pääbo mit Neandertalerschädel. Es gibt ein vielpubliziertes Foto, das diese Szene zeigt. Eine Struktur im Hintergrund des Fotos, die offensichtlich von einem Einrichtungsstück des Raumes stammt, in dem die Aufnahme gemacht wurde, weist darauf hin, dass das Bild horizontal aufgenommen, aber für eine Publikation nach links gekippt worden ist. Wenn man das Bild, wie in der Skizze geschehen, entsprechend zurückdreht, hat der Neandertalerschädel wieder die korrekte Position. Dann verschwindet der Eindruck eines flachschädeligen, deutlich prognaten „Wilden“ zugunsten eines Menschen, der uns nahesteht. Fotos scheinen die Wirklichkeit unbeeinflusst wiederzugeben, aber können durchaus einen massiv manipulativen Charakter haben.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
materialien besaß und bei der Suche und Auswahl der für seine Zwecke am besten geeigneten Ausgangsarten über nutzungsorientierte „mineralogische“ Kenntnisse verfügte. Das Fehlen von größeren Geräten – die eigentlich für das Acheuléen kennzeichnend sind – an manchen Fundstellen jener Zeit geht in jedem dieser Fälle auch auf den Mangel an größeren geeigneten Rohmaterialbrocken zurück; so beispielsweise in Mauer bei Heidelberg (Foto 151) oder bei der Wildpferdjäger-Station Schöningen, ebenso bei Isernia la Pineta in Italien. Vielleicht besaßen die Bewohner jener Stellen sogar Faustkeile, ließen sie aber wegen ihres regionalen Wertes zum Leidwesen der heutigen Archäologen nicht an ihren Lagerplätzen zurück. Wo qualitätsvoller, volumenreicher Silex häufig ist, wie beispielsweise in Südengland, oder Nord- und Westfrankreich, finden sich aber in den Schottern pleistozäner Flüsse liegengelassene Faustkeile oft in erstaunlicher Menge. Es ist selbstverständlich, dass die frühen Menschen nicht wildreiche Gegenden mieden, nur weil kein gewohntes Rohmaterial für ihre Werkzeuge vorhanden war. Die Ersatzmaterialien Muschelschalen, Tierzähne, harte Knochensplitter, brüchiger Schiefer, Basalt, schnell stumpf werdender Kalkstein oder Holz entziehen sich leider wegen ihrer Verwitterungsanfälligkeit bis auf einige Ausnahmen der archäologischen Beobachtung. Die uns wie selbstverständlich erscheinende Auswahl von sehr unterschiedlichen Werkstoffen
für jeweils ganz bestimmte Zwecke weist beim Homo erectus auf ein eindeutig zuordnendes, klassifizierendes Denken hin. So benutzte er auch das möglichst härteste Holz für die Speere von Schöningen und Clacton-on-Sea. Natürlich sind zuordnende Verhaltensweisen auch beim Nestbau und Auspolstern derselben sowohl bei Vögeln als auch bei Kleinsäugern oft anzutreffen, beschränken sich aber darauf. Schimpansen und einige andere Affen können allerdings Steine zum Nüsseknacken, Stöckchen zum Termitenangeln oder Moospolster zum Aufsaugen von Wasser gezielt benutzen. Dem vormenschlichen Werkzeuggebrauch liegt derartiges klassifizierendes Wissen schon eindeutig zugrunde. Zu diesem Thema soll aber noch hinzugefügt werden, dass bei sehr frühen Ausgrabungen und bei Aufsammlungen in Kiesgruben zu Beginn der 20. Jahrhunderts vor allem auf große Geräte, vorzugsweise Faustkeile, mehr geachtet wurde als auf solche, die aus kleinen Abschlägen gemacht worden sind. Die hielt man für untypisch und daher nicht so wichtig. Moderne Untersuchungen zeigen aber, dass an Lagerplätzen des Acheuléen oft viel mehr dieser Kleingeräte vorhanden sind als Faustkeile, beispielsweise am Fundplatz La Ferme de L’Epinette à Cagny in Frankreich. Den Menschen des Acheuléen waren sie also unentbehrlich und vermutlich genauso wichtig oder sogar oft notwendiger als die schweren Werkzeuge.
‚Handspitzen‘ und ‚Schaber‘ In diesem Buch stehen schwere Schneid- und Hackgeräte im Vordergrund und deshalb könnte der Eindruck entstehen, all die anderen Steingeräte des Altpaläolithikums seien nur Nebenprodukte der Faustkeilkultur. Dieser Eindruck wäre vollkommen falsch. Denn unnötige oder ungeeignete Werkzeuge hätten die altsteinzeitlichen Menschen gar nicht erst angefertigt. Aus der heutigen Perspektive können wir auch nicht sagen, ob ein großer spitzer Schaber mit flächengreifender Retusche (Foto 26, Abb. 38 und 149) in der Vorstellungswelt von Homo erectus funktional etwas ganz anderes war als ein flacher Faustkeil gleicher Größe. Beide Geräte haben eine Spitze, scharfe Seitenkanten und einen Talon. Für uns Ar196
chäologen sind es zwei unterschiedliche Formen mit der Vermutung auf unterschiedliche Funktionen. Spitze Schaber (Foto 56), französisch Racloirs convergent – und wenn der Schlagflächenrest schräge zu Längsachse liegt Racloirs déjeté – haben einen unscharfen Übergangsbereich zu den Pointes moustérien, „Handspitzen“, die F. Bordes im Gegensatz zu spitzen Schabern als geeignet für die Schäftung als Speerspitze definierte (Foto 58). Aber wieso wusste er, wie was geschäftet werden sollte? Der Unterschied liegt in den Dicken dieser Artefakte, so dass man sagen kann, alle massiveren Exemplare sind spitze Schaber, alle dünnen und gestreckten Moustérien-Spitzen (Foto 157) könnten geschäftet gewesen sein.
Abb. 106: Herzförmiger Faustkeil mit geraden Kanten. Der Fund besteht aus einem homogenen Vulkanit und ist kaum verwittert. Er muss erst in geologisch jüngster Zeit an die Oberfläche gekommen sein. Es gab in seiner Umgebung keine weiteren Artefakte. Seine Grundform ist ein Abschlag, der dorsal ganzflächig und ventral partiell flächenüberarbeitet ist. Dies geschah zweifellos mit einem ‚weichen‘ Schlagobjekt. Dies und die sehr exakte Formgebung machen ihn zu einem ungewöhnlichen Fund in Hessen, so dass die Vermutung naheliegt, dass er vielleicht eine Grabbeigabe oder ein sonstiger ritueller Gegenstand war. Auch im Vergleich mit anderen Faustkeilen des Mittelpaläolithikums in Deutschland ist dieser Fund ein handwerklich besonders ästhetisches Objekt. Atzbach, Mittelhessen (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 107: Gedrungener ovaler Protofaustkeil aus einem Quarzgeröll. Die meisten altpaläolithischen Artefakte des Fundareals sind „genial summarisch“ in schnellen Arbeitsgängen hergestellt worden. Deshalb ist der Aufwand, der diesem Protofaustkeil zuteil geworden ist, erstaunlich. Man darf daraus schließen, dass bei ihm kein Zeitdruck vorhanden war – oder dass es ein nachgearbeitetes, ehemals gestreckteres Objekt war, das so eine Chopping-toolartige Gestalt bekam. So zeigt sich die Möglichkeit handwerklich perfektionierter Bearbeitung schon in Ansätzen im Altacheuléen. Amguid-W, Zentralalgerien (Zeichnung: L. Fiedler).
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Abb. 108: Gestreckter massiver Faustkeil. Die Form dieses altpaläolithischen Artefakts ist zwar mit der ‚harten‘ Steinschlagtechnik realisiert worden, wirkt aber bei aller Einfachheit harmonisch. So lässt sich sagen, der herstellenden Person ist es gelungen, das abstrakte ‚Bild im Kopf‘ eines gleichsam idealen Faustkeils umzusetzen. Diese Vorstellung wurde von allen Mitmenschen des frühen Acheuléen geteilt, weil der Typ des gestreckt massiven Faustkeils in dieser Zeit dominiert und auch auf dem Fundgelände, von dem das hier vorgeführte Gerät stammt, hundertfach vorkommt. Da kaum einer dieser Art, wie es sonst im jüngeren Acheuléen üblich war, durch Retuschen korrigiert oder verändert worden ist, erschließt sich dem heutigen Betrachter das gedankliche Konzept, nach dem er reproduziert und dargestellt worden ist (vergl. auch Abb. 18). Amguid-W, Zentralalgerien (Zeichnung: Beate Kaletsch und L. Fiedler).
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‚Handspitzen‘ und ‚Schaber‘
Abb. 109: Gestreckter massiver Faustkeil aus Quarz. Was zu dem zuvor abgebildeten Fund ausgesagt wurde, trifft auch auf diesen Fund zu: Er ist die gelungene Realisierung des neuronalen Bildes eines in der damaligen Tradition üblichen Altacheuléen-Faustkeils. Amguid-W, Zentralalgerien (maßgenaue Skizze: L. Fiedler).
In den nordafrikanischen Inventaren des dem Moustérien sehr ähnlichen Atérien gibt es auch viele recht massive Spitzschaber, die ebenso einen Stiel haben wie die den Moustíer-Spitzen ansonsten ähnlichen Atérien-Spitzen. Aber dort gibt es diese Formen auch mit asymmetrisch oder schief sitzenden Stielen, was den Verdacht nahelegt, nicht alle waren Waffenspitzen, sondern diverse Werkzeuge mit einer zapfenartig bearbeiteten Basis, der ursprünglich in einem Griff aus organischem Material steckte (Abb. 147). So weisen auch spitze Schaber des europäischen Alt- und Mittelpaläolithikums Gebrauchsspuren auf, die vom Schnitzen und Schneiden zeugen und sie damit vor allem als Werkzeuge und weniger als
Waffenköpfe kennzeichnen. Dennoch ist selbstverständlich nicht auszuschließen, dass auch Speerspitzen als Messer dienten, wie wir von den kleinwüchsigen San-Stämmen Afrikas wissen, die nämlich ihre eisernen Speerspitzen von den Schwarzen eintauschten, aber sie dann sowohl als Waffe als auch Messer gebrauchten. Die meisten Schaber sind aber nicht spitz retuschiert, sondern haben leicht gebogene oder gerade Arbeitskanten. Manche sind sehr flach retuschiert, so dass die Absicht, sie als Schneidwerkzeuge zu benutzen, deutlich hervortritt (Abb. 144). Andere tragen steilere Retuschen und sie könnten in ihrer Mehrheit mehrmals nachgeschärfte, also nachretuschierte Geräte sein, die dann nach weiterer Nut199
Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 110: Lanzettförmiger Faustkeil. Das populäre Bild eines „richtigen“ Faustkeils wurde über 100 Jahre lang von Abbildungen wie dieser bestimmt. Geräte dieser Art sind aber nur für das Jungacheuléen repräsentativ und weit davon entfernt für die gesamte lange Zeit der Faustkeilkultur zu stehen. Die flache Muschelung der beidseitigen Bearbeitung und die fast geraden Kanten konnten nur mit einem Schlagobjekt aus Knochen, Geweih oder Stoßzahnmaterial gelingen. Die Zeichnung gibt das unveränderte Bild eines Gerätes wieder, das keine gebrauchsbedingten Ausbrüche oder korrigierende Nachbearbeitungen von Schäden hat. Dies und seine Größe führen uns das gelungene Konzept des traditionellen Faustkeils aus der Zeit zwischen 500 000 und 300 000 Jahren BP vor Augen. Murzuk-Wüste, S-Libyen (Zeichnung: L. Fiedler).
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‚Handspitzen‘ und ‚Schaber‘
Foto 107: Cleaver mit diagonaler Schneide (171 � 104 � 58 mm). Dieser Cleaver ist aus einem speziellen ‚cleaver flake‘ hergestellt worden, der wahrscheinlich in Kombewa-Technik erzeugt worden ist. Die unbearbeitet belassene Schneide steht auffallend schräg zur Längsachse des Geräts, dessen Kanten und Talon bifaciell behauen sind und eine U-förmige Gestaltung erhielten. Das Artefakt gehört zum Altacheuléen, in dem schon die Anfänge der Kombewaund Tabelbala-Tachenghit-Technik entwickelt worden sind (wie am Erectus-Fundort Ternifine), die beide bis ins Jungacheuléen hinein zur Gewinnung von Grundformen der Faustkeilproduktion beibehalten worden sind. Im westeuropäischen Acheuléen kommen diese Techniken nur sehr selten vor, weil dort das dominierende Feuersteinmaterial gewöhnlich nicht in ausreichend großen Blöcken oder Knollen vorhanden ist. Amguid – W, Zentralalgerien.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 108: Gestreckt mandelförmiger Faustkeil im Stil das Altacheuléen (153 � 86 � 62 mm). Das massive Gerät wurde mit kraftvoll geführten Schlägen vollkommen beidflächig bearbeitet. Eine feinere Nachbearbeitung der Kanten unterblieb, so dass beide einen stark wellenförmigen Verlauf aufweisen. Da auch der schwere Talon vollkommen beidflächig gestaltet wurde, gehört dieser Fund vielleicht schon zum Mittelacheuléen. A-97–19. Murzuk-Wüste, S-Libyen (Foto: Sabine Jordan).
zung nicht nochmals umzuarbeiten waren und abgelegt wurden. Übrigens gibt es genügend Hinweise darauf, dass zunächst unretuschierte Abschläge als „Schaber“ benutzt wurden und sie erst durch Nacharbeit abgenutzter Arbeitskanten zu dem wurden, was wir heute Schaber nennen. In Italien (‚Campitello‘) wurden zwei derartige unretuschierte Abschläge sogar in einer dunklen Masse geschäftet gefunden (Abb. 145). Schaber sind gewöhnlich die am meisten vorkommenden retuschierten Geräte im älteren Paläolithikum. Anfangs sind sie grob ‚gezähnt‘ retuschiert (Foto 154), seit dem Jungacheuléen dann oftmals sorgfältig flach an den Arbeitskanten (Foto 155–156 und Abb. 217, 4). Einige französische Archäologen sehen (oder sahen) auch in faustkeilähnlich gestalteten Artefakten Schaber. Das trifft besonders auf Keilmesser mitteleuropäischer Provenienz zu. Sie werden dann als Racloires à retouche biface klassifiziert (Abb. 208–209, Foto 162). 202
Ähnliches gilt für einen Teil des afrikanischen Acheuléen, in dem bifaciell behauene Geräte mit nur einer betont schneidenden Kante als bifacial knifes bezeichnet werden. Diese wiederum werden zusammen mit allen Faustkeilen und massiven Schabern unter dem Begriff Large cutting tools (LCT) subsummiert. Ein Gutachter kritisierte, dass ein von uns als „gut gearbeiteter Faustkeil aus einem großen Abschlag“ bezeichnetes Artefakt aus dem Kies einer altpleistozänen Nahe-Hauptterrasse kein Faustkeil sei. Der Fund hat die Faustkeilform und ist beidkantig bifaciell bearbeitet. Sein Talon ist von der Abschlag-Grundform her nicht besonders massiv und zudem auch asymmetrisch. Also benannten wir das Exemplar als LCT um und machten den Gutachter diesbezüglich hoffentlich zufriedener. Trotzdem bleibt dieses Artefakt ein Faustkeil (Abb. 100).
‚Handspitzen‘ und ‚Schaber‘
Foto 109: Massiver dreikantiger Faustkeil, Trieder des Acheuléen (137 � 56 � 68 mm). Die beiden Ansichten im Foto machen durch die von den Längskanten ausgehenden Bearbeitungsnegative deutlich, dass dieses Gerät bewusst in einen dreikantigen Querschnitt gebracht worden ist und somit auch drei bifaciell beschlagene Längsgrate besitzt. Wozu intentional behauene triedrische Pics benutzt worden sind, erschließt sich nicht durch eindeutige Gebrauchsspuren. Die Massivität im Talonbereich lässt ahnen, dass diese Geräte eine auf die Spitze gerichtete Durchschlagskraft haben sollten. Denkbar ist also, dass sie zum Aufbrechen von Schildkröten, Zerschlagen von Knochenmaterial an Elefantenschädeln (Aveolen), in denen die Stoßzähne sitzen, oder vielleicht auch zum Zertrümmern von Termitenbauten dienten, um an deren essbare Larven zu kommen. Dies sind aber nur modellhafte Vermutungen. A-97–19. Murzuk-Wüste, S-Libyen.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 110: Schwerer Faustkeil des Altacheuléen (227 � 118 � 128 mm). Das Gerät aus grauem Quarzit stammt aus einem kiesigen Areal in der nördlichen Murzuk-Sandwüste, wo in einem Radius von etwa 60 m neben Artefakten jüngerer Zeit ein deutlicher Anteil von Altacheuléen-Typen mit teilweise sehr großen Faustkeilen, Cleavern und Polyedern zu beobachten war. Das hier fotografierte Objekt ist ausschließlich ‚hart‘ geschlagen und auch die wenigen sekundären, kantenregulierenden kleineren Abschlagnegative haben die gleichen technologischen Merkmale. Trotzdem gehört dieses Gerät zu den wenigen relativ sorgfältig und weniger summarisch gestalteten Formen des Platzes. Dieses Artefakt vermittelt den deutlichen Eindruck der Realisation einer klaren und umfassenden Formvorstellung. Trotz der charakteristischen und urtümlichen ‚harten‘ Schlagtechnik jener Zeit gelang es dem Hersteller, eine Flächen- und Umriss-symmetrische Form zu realisieren. Bemerkenswert sind außerdem Einschlagspuren auf einer der Flächen, so als ob mit dem Faustkeil längere Zeit gehämmert wurde. A-99–9. Nördliche Murzuk-Wüste, S-Libyen.
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‚Handspitzen‘ und ‚Schaber‘
Foto 111: Faustkeil mit schlank ausgezogener Spitze in „Duck bill“-Form (155 � 70 � 44 mm). Bifaces dieser Art kommen im Jungacheuléen nicht mehr vor. Häufig befinden sich unterhalb der Spitze seitliche Einkerbungen, die als Gebrauchsretuschen gewertet werden können, denn die schlanke Form des distalen Bereichs derartiger Werkzeuge weist darauf hin, dass sie für das tiefe Eindringen in einen begrenzten Bereich gestaltet worden sind, wo sie anscheinend auch in drehende Bewegung gesetzt wurden (beim Zerlegen der Jagdbeute?). A-99–14. Nördliche Murzuk-Wüste, S-Libyen.
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Foto 112: Spitzer, lanzettförmiger Faustkeil (193 � 82 � 43 mm). Seine Lanzettform würde ihn in das Jungacheuléen stellen, aber die Größe, Bearbeitungsweise und Massivität lassen es zu, dieses Gerät formaltypologisch einem älteren Acheuléen zuzuweisen. Auch die begleitenden Artefakte an seinem Fundort gehören nicht in das Jungacheuléen. A-99–25. Nördliche Murzuk-Wüste, S-Libyen.
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‚Handspitzen‘ und ‚Schaber‘
Foto 113: Dreikantiger Faustkeil, Trieder (188 � 70 � 73 mm). Dieses Exemplar aus auffallend weinrot geflecktem Messak-Quarzit fand sich im Umfeld anderer Artefakte im Stil des mittleren Acheuléen. Obwohl die Fundstelle schon erkennbar abgesammelt worden war, zeigte sie immer noch ein reiches Gerätespektrum, wobei der Trieder ebenso wie Cleaver, Kerne, Abschläge und unscheinbare Faustkeile offenbar nicht dem Beuteschema der Sammler entsprachen. A-99–26. Ubari-Wüste, S-Libyen.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 114: Biface mit Cleaverschneide (234 � 104 � 57 mm). Solche Faustkeile sind im älteren Acheuléen nicht selten und wurden auch vom „Homo-erectus-Fundplatz“ Ternifine in NE-Algerien bekannt. Von diesen Formen gibt es keine scharfen Abgrenzungen zu „Entenschnabelfaustkeilen“ einerseits und andererseits zu Cleavern, die nicht aus Abschlägen hergestellt worden sind. F. Bordes nannte diesen Typ ‚flaschenförmig‘. Erg Mhredjibad, Nordwestsahara Algeriens.
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‚Handspitzen‘ und ‚Schaber‘
Foto 115: Biface-Cleaver (203 � 110 � 50 mm) aus Quarzit. Nicht alle Cleaver dieser Art haben eine so deutlich abgesetzte distale Partie, die den Umriss ‚flaschenförmig‘ erscheinen lässt, sondern haben parallele Kanten (relativ häufig im Fundgebiet Münzenberg in Deutschland). Die Schneiden der Biface-Cleaver sind allgemein weniger fragil als die der Cleaver aus Abschlägen. Im Fall des hier vorgestellten Werkzeugs wurde die Schärfe durch einen speziellen, seitlich von der Längskante geführten Abhieb erzeugt – eine Technik, die im Mesolithikum zur Schneidenschärfung von Kernbeilen wieder aufgegriffen wurde. Es wäre also vorstellbar, dass die Biface-Cleaver des Acheuléen ebenfalls zu derberen Arbeiten gedacht waren als ihre Namensvettern, die aus Abschlägen gemacht worden sind. Indes ist gerade die Schneide des abgebildeten Cleavers ähnlich dünn wie die eines der gewöhnlich aus großen Abschlägen erzeugten Geräte. Aus dem Jungacheuléen sind mir diese speziellen Formen nicht bekannt, sollen aber in Nordfrankreich noch ganz selten vorkommen. In Afrika sind sie gemeinsam mit den sehr ähnlichen ‚oblong picks‘ nur im frühen Acheuléen vertreten. Erg Mhredjibad, Nordwestsahara Algeriens.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 116: Trieder aus Vulkanit (204 � 109 � 52 mm). Dieser Trieder hat nur rechts am Talon die sonst häufige Bearbeitung des dorsalen Grats, ist aber dennoch ein sehr typischer Vertreter seiner Art. Trotz der ‚harten‘ Steinschlagtechnik sind die beiden Kanten des Werkzeugs sehr sorgsam und scharfkantige bearbeitet, was sonst ungewöhnlich im frühen Acheuléen ist, aber gerade bei triedrischen Faustkeilen sehr oft vorkommt. Wie alle Funde vom gleichen Ort, stammt auch dieser aus der ehemaligen Sammlung Hans Nettlau. Erg Mhredjibad, Nordwestsahara Algeriens.
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Polyeder, kugelige Kerne und abgesplitterte Klopfsteine
Polyeder, kugelige Kerne und abgesplitterte Klopfsteine Scharfkantig behauene apfelsinengroße Steine (Fotos 50–52 und 159; Abb. 129,9, 135–137, 210–211) finden sich gelegentlich schon im Oldowan vor gut 2 Mio. Jahren. Sie scheinen im nordwestlichen Afrika dieser Zeit (Ain Hanech, El-Kherba und Ain Boucherit, Algerien) noch häufiger zu sein als in Ostafrika. Oftmals sind sie aus etwas minderwertigerem Rohmaterial gemacht als sonstige Abschläge und Werkzeuge. Was war der Grund für ihre sehr zahlreiche und sicher nicht zufällige Produktion? Denn dass sie nicht alle Restkerne der Abschlaggewinnung waren, ist an den oftmals sehr kleinen Negativen abgetrennter Abschläge zu erkennen. Und warum hätte man beispielsweise Kalksteine so intensiv behauen sollen, wenn als Ausgangsmaterial zur Abschlaggewinnung viel härtere Vulkanite,
Quarzite und Silexarten zur Verfügung standen und auch genutzt wurden? Eine einleuchtende Erklärung liegt wohl in der frühen Erkenntnis, dass kantige Brocken effektivere Wurfgeschosse zum Vertreiben von Hyänen oder Löwen sind als abgeschliffene Kiesel, die beim schrägen Auftreffen auf Fell sogar abgleiten, während eckige Steine beim Auftreffen eine größere Schockwirkung haben. Noch wirkungsvoller als per Hand geworfen, scheinen sie im Acheuléen dann mit einer riemenartigen Schleuder abgeschossen worden zu sein. Dabei wurde der Stein in seiner Lederhalterung in eine schnelle Kreisbewegung („um den Kopf gewirbelt“) gebracht und dann durch Loslassen eines Endes des Riemens abgeschossen (Abb. 137). Polyeder
Abb. 111: Mandelförmiger Faustkeil aus Feuerstein. Neben den lanzettförmigen sind auch mandelförmige sehr charakteristisch für das Jungacheuléen. Der hier gezeigte Grabungsfund durch Hartmut Thieme hat eine natürliche Delle in der Mitte einer der beiden Seiten. Die Flächenbearbeitung spart diese ‚Cupule‘ eindeutig aus, obwohl das handwerkliche Geschick ausgereicht hätte, die gesamte Oberfläche zu überarbeiten. Das weist auf einen besonderen Gestaltungswillen hin, der nach heutigem Verständnis einer künstlerischen Absicht unterlag, seinerzeit aber wohl eher in den Bereich des Mystischen, Zauberhaften gehörte. Das Gerät scheint praktisch unbenutzt zu sein und unterscheidet sich in seiner Eleganz von den meisten anderen, die im Grabungsareal geborgen wurden. Vermutlich wurde es in einer Art Weihe am Jagdlager/Atelier zurückgelassen. Ochtmissen, südlich der Elbe bei Lüneburg, Niedersachsen (nach H. Thieme 1997, Zeichnung: B. Kaletsch).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 112: Faustkeilherstellung. Das Zurechthauen eines Faustkeils kann in sitzender oder stehender Position geschehen. Heutige Flintschläger benutzen gerne die sitzende Position, wobei sie ein dickes Leder auf die Schenkel legen und dort das Werkstück während der Bearbeitung festhalten. Das erhöht die zielgenaue Treffsicherheit des in der anderen Hand geführten Schlagobjekts. In dieser theoretischen Rekonstruktion ist der späte Homo erectus mit einem genähten Wams/Poncho und Mokassins bekleidet. Beide Kleidungsstücke sind mit einfachen Mitteln herstellbar. Als ewig nackte oder mit einem über der Schulter hängenden Löwenfell hätten unsere Vorfahren in Europa und Asien keine Möglichkeit gehabt, dauerhaft zu überleben.
wurden so erfolgreich, dass sie sich in Inventaren bis zum Ende des Paläolithikums in Nordafrika (Atérien) finden lassen. Erst mit der dort durch kleine Pfeilspitzen nachweisbaren Bogenbewaffnung – seit gut 20 000 Jahren – traten Polyeder in den Hintergrund der Steingerät-Inventare. In vielen Gegenden der Sahara finden sich Polyeder auch weit abseits von Artefaktkonzentratio212
nen. Das stützt zusätzlich die Annahme ihrer Funktion als Schleudergeschosse, die in der ehemaligen Steppenvegetation verlorengingen. Polyeder fanden sich in Deutschland in/auf altpleistozänen Schotterablagerungen des Rhein-Mosel-Gebiets ebenso wie im altpaläolithischen Fundgut von Münzenberg, Ziegenhain und Rainrod in Hessen. Nur sehr wenige davon weisen sich durch
Polyeder, kugelige Kerne und abgesplitterte Klopfsteine
Foto 117: Faustkeil in der Art von einem ‚bifacial knife‘ (121 � 71 � 37 mm). Die Grundform des Gerätes war ein Tabelbala-Abschlag, dessen teilweise erhaltene Ventralfläche in der rechten Ansicht der Abbildung zu erkennen ist. Sie wird rechts von einem sparsam bifaciell gestalteten, steilen Rücken begrenzt. Die linke, dorsale Ansicht zeigt linkslateral wenige große Abschlagnegative der Rückenbearbeitung und rechtslateral eine sauber ausgeführte schaberartige Retusche. Obwohl alle Faustkeile auch für eine schneidende Funktion konzipiert waren, sind Geräte der hier vorgestellten Art eindeutig schwere Messer mit einer bevorzugten Arbeitskante. Sie wurden im gesamten Zeitraum des Acheuléen hergestellt. Das hier vorgestellte Beispiel stammt aus dessen jüngerem Abschnitt. Nördliche Murzuk-Wüste, S-Libyen (Foto: Sabine Jordan).
Foto 118: Miniaturbiface des Acheuléen aus dunkelrotem Gestein (29 � 26 � 11 mm). Derartig kleine Faustkeile gehören schon seit Beginn der Faustkeilkultur zum festen Gerätebestand. Sie sind schon in Bed 1 der OlduvaiSchlucht vorhanden, obwohl größere Faustkeile darin ganz selten sind. Deshalb ist wahrscheinlich auszuschließen, dass es sich bei diesen Minifaustkeilen um spielerische Nachahmungen durch Kinder von Geräten der Erwachsenen handelt, sondern um relativ sorgfältig gestaltete Geräte, die möglicherweise aus der Reihe kleiner bifacieller Chopping-tools heraus entwickelt worden sind. Auch im europäischen Altpaläolithikum (Bilzingsleben, Mauer, Schöningen, Münzenberg usw.) sind diese Kleingeräte vertreten. A-97–19. Murzuk-Wüste, S-Libyen.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 119: Kleiner Biface das älteren Acheuléen (60 � 37 � 17 mm). Faustkeilförmige bifacielle Geräte in Kleinformaten unter 5 cm, gelegentlich sogar unter 2,5 cm Länge, sind in allen umfangreichen Inventaren des Acheuléen vorhanden. Ihnen wird in der Fachliteratur bisher nur eine untergeordnete Aufmerksamkeit geschenkt oder sie werden mit gesonderten Bezeichnungen aus dem Formenkreis der Faustkeile sogar aussortiert, obwohl es eindeutig fließende Übergänge zwischen den Größengruppen gibt. Selbstverständlich könnten so kleine Faustkeile auch Nachahmungen von Werkzeugen der Erwachsene durch Kinderhand sein, aber ihr Vorhandensein an Stellen, wo die Beschaffung von größer dimensionierten Rohmaterialen ein Problem war, sind derartige Minibifaces nicht selten. Das weist darauf hin, dass dort ihre Nutzung notwendig und nicht spielerisch war. Meine Beobachtungen ergaben, dass heutige Kinder, mit denen man das Bearbeiten von Steinen geübt hat, erst ab etwa 12–13 Jahren in der Lage sind, einigermaßen „richtige“ Faustkeile zu realisieren. Insofern dürften Bifaces, wie das im Foto abgebildete Exemplar, nur ausnahmsweise das Resultat rein spielerischer Vergnügen sein. In Deutschland sind Miniaturfaustkeile u. a. aus Markkleeberg, Bilzingsleben und Mauer publiziert worden. A-99–15. Nördliche Murzuk-Wüste, S-Libyen.
Foto 120: Polyeder aus einem Quarzitgeröll (91 � 70 � 57 mm). Etwa die Hälfte seiner Oberfläche besteht noch aus dem Kortex der Ausgangsform. Die summarische Bearbeitung mit überwiegend kleinen Abschlägen zeigt, dass hier kein kugeliger Kern zur Abschlaggewinnung vorliegt, sondern die intentionale Gestaltung einer grob vielflächigen Form mit scharfen Graten. Polyeder kamen noch bis in das Mittelpaläolithikum vor, wurden aber in später Zeit sorgsamer behauen. Der abgebildete Fund gehört mit ziemlicher Sicherheit in das frühe Acheuléen oder sogar in das Oldowan. Das Artefakt ist allseitig windgeschliffen. A-97–17. Nördliche Murzuk-Wüste, S-Libyen.
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Polyeder, kugelige Kerne und abgesplitterte Klopfsteine
Foto 121: Breiter Cleaver aus rötlichem Quarzit (139 � 93 � 34 mm). Dieser Cleaver könnte aus einem TabelbalaTachenghit-Abschlag hergestellt worden sein, einer Technik, die bis in das Altacheuléen zurückreicht, aber zunehmend bis zum Ende der Faustkeilkultur angewendet wurde. Der Kortexrest auf der Dorsalfläche wäre dabei aber ungewöhnlich. Die linke Ansicht zeigt die Ventralfläche mit teilweise erhaltenem Bulbus, den der Hersteller aber mit flüchtigen Abhieben zu verdünnen versuchte. Beide Kanten des Geräts sind bifaciell behauen, die Schneide besteht aus einer scharfkantig belassenen Kante der Grundform. A-97–17: Nördliche Murzuk-Wüste, S-Libyen.
Narbenfelder auch als Schlagsteine zur Steinbearbeitung aus. Einige der grob kugelförmigen und überall scharfkantig erscheinenden Fundobjekte könnten allerdings auch aufgebrauchte Kerne zur Abschlaggewinnung gewesen sein, vor allem dann, wenn keine kleineren Absplissnegative darauf vorhanden sind, die sonst der Hinweis auf eine beabsichtigte, intentionale Gestaltung derartiger Objekte sind. Experimente erfahrener Steinschläger zeigen ebenfalls, dass die Interpretation von Polyedern als bloße Restkerne nur gelegentlich zutreffen könnte, denn ihre gezielte Gestaltgebung ist fast so schwer wie die Formgebung eines Faustkeils. Ebenfalls könnte diskutiert werden, ob Polyeder aus Klopfsteinen entstehen, wenn sie lange benutzt
werden und dabei rundherum absplittern. Tatsächlich kommen auf experimentell genutzten Schlagsteinen neben größeren Abplatzflächen auch Negative von kleineren Absplissen vor. Aber stets finden sich auch typische Narbenfelder von zahllosen Auftreffpunkten, die den Charakter von Klopfsteinen deutlich werden lassen. Sehr lange benutze Klopfsteine können eine nahezu perfekte Kugelgestalt erhalten. Entsprechende Objekte wurden in fast allen altsteinzeitlichen und noch jüngeren kulturellen Zusammenhängen gefunden. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das nicht sehr beabsichtigte Entstehen derartiger Klopfkugeln auch absichtlich nachgeahmt wurde. Im ‚Charentien‘ Westfrankreichs (einem Pendant des Moustérien der Dordogne) wurden derartige 215
Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 122: U-förmiger Cleaver (141 � 91 � 37 mm). Die Grundform, aus der dieser Cleaver hergestellt wurde, war ein Kombewa-Abschlag, also ein Abschlag von der Ventralfläche eines „Riesenabschlags“. Bis auf die Schneide sind die Kanten beidflächig komplett beidflächig behauen. Gewöhnlich ist diese Bearbeitung bei Cleavern weniger sorgfältig ausgeführt als bei den zeitgleichen Faustkeilen, weil es offensichtlich nicht um Arbeitskanten ging, sondern nur um die Gestaltgebung dieser Geräte. Aber es gibt Sonderfälle, bei denen mindestens eine Kante auch eine schneidende Zusatzfunktion hatte. A-99–19. Nördliche Murzuk-Wüste, S-Libyen.
Kugeln gefunden, deren Entstehung als beabsichtigt interpretiert wurde, um „Bolakugeln“ zu erlangen. In den Inventaren des afrikanischen Altpaläolithikums werden solche sehr runden Objekte Sphaeroide genannt. Die Bezeichnung wurde gelegentlich auf Klopfkugeln nichtafrikanischer Fundorte übertragen. Anzumerken ist hier, dass sich in Mägen von Krokodilen oft Steine finden, die solchen Sphaeroi-
den ungemein ähneln. Die Echsen nehmen Steine auf, weil sie sie in ihrem Verdauungsorgan zum Zermalmen von heruntergeschlungenen Knochen, Gehörnen oder Schnäbeln verschlungener Beutetiere brauchen. Die starke Beanspruchung erzeugt Absplitterungen, Narbenfelder, Abschliff und vor allem glänzende Polituren an derartigen „Magenwerkzeugen“.
‚Spitzen‘ und ‚Bohrer‘ Im Altpaläolithikum wurden zahllose Abschläge und auch Trümmerstücke mit wenigen kräftigen Abhieben zu sehr spitzen Geräten zugeformt 216
(Abb. 129, 6–7 und 132,1; Fotos 59–61). Daneben sind auch einige vorhanden, die wie kleine Pics aussehen. Diejenigen, die aus gestreckten Abschlägen
‚Spitzen‘ und ‚Bohrer‘
Foto 123: Massiver Cleaver aus lokalem Flint (170 � 101 � 60 mm). Das Gerät wurde am Rande eines großen Ackers aufgelesen. Es ist grob in Steinschlagtechnik behauen und auf den hervortretenden Mittelgraten zur besseren Handhabung eindeutig verstumpft worden. Ein derart massiver Cleaver könnte im Gegensatz zu den aus Abschlägen gemachten als Axt beim Abschlagen von Holzstämmen (als Elemente beim Behausungsbau – oder für die Speerherstellung) benutzt worden sein. Im afrikanischen Fundmaterial des älteren Acheuléen wäre dieses Gerät nichts Besonderes; in Europa sind derartig massive Cleaver aus Feuerstein ungewöhnlich. Aus Sammlung Edmund Ashby. St. Sauveur, SW-Frankreich.
gemacht wurden, nennt man Tayac-Spitzen; diejenigen, die sehr breite Abschläge als Grundformen haben und meistens quer zu deren Schlagrichtung ausgearbeitet wurden, werden als Quinson-Spitzen bezeichnet. Deren Grundformen stammen oft vom Behauen flacher Ausgangsmaterialien, beispielsweise plattigen Geröllen. Manche dieser angespitzten Abschläge sind extrem fragil und können nicht für Arbeiten in harten Materialien benutzt worden sein. Dietrich Mania fand bei seinen Ausgrabungen in Bilzingsleben ein dickes Kugelgelenk von einem Elefanten, das mit zahllosen kleinen Eintiefungen versehen war. Er deutete es zutreffend als Unterlage beim Durchbohren von Tierhaut. Da es noch keine Nähnadeln gab,
hat man offensichtlich die Löcher zum Zusammennähen der Häute mit Stein oder auch Knochenspitzen vorgebohrt. Das harte nicht gefettete Ende einer Tiersehne lässt sich dann wie eine Nähnadel durch derartige Löcher führen. Größere spitz zugerichtete Steingeräte könnten ebenfalls zur Leder- oder Hautverarbeitung gedient haben, wenn Bespannungen von Hütten oder zeltähnlichen Behausungen zusammengenäht oder -gebunden werden mussten. Am mittelpaläolithischen Jagdlagerplatz Buhlen fand ich einige dieser „Bohrer“ hauptsächlich rund um die aus Steinen gesetzte Hüttenbasis verteilt. Auch wenn derartige Bohrgeräte in der archäologischen Literatur als Spitzen bezeichnet werden, 217
Foto 124: Massiver ovaler Faustkeil (148,5 � 88,5 � 35 mm). Dieser Faustkeil ist ein Kiesgrubenfund und besteht aus einem gekörnten Feuerstein, der bräunlich patiniert ist. Die ovale bis mandelförmige Gestalt des Faustkeils stellt ihn in das mittlere Acheuléen, was auch zu der relativ einfachen, aber offensichtlich mit einem Kalkstein oder einem massiven Knochen gehauenen Bearbeitungsweise passt. Geschenk von Hans Nettlau. Soissons sur Aisne, nordöstliches Frankreich.
so eignen sich weder Tayac- noch Quinson-Spitzen wegen ihrer massiven Querschnitte zum Schäften als Speerspitzen. Blattspitzen mit teilweise flächigen Retuschen (Abb. 115–116) oder perfekt beidflächiger Überarbeitung finden sich erst im Mittelpaläolithikum. Sie lassen ihren Ursprung stilistisch und technologisch in den sogenannten Faustkeilblättern des späten Acheuléen deutlich erkennen.
Abb. 113: Tunesische Briefmarke der 70er Jahre mit einem Faustkeil von El Mektar nordwestlich von Tunis. Andere Briefmarken mit dem Motiv des Faustkeils gibt es aus Südafrika und Sri Lanka (Aufgestöbert: H. Klingelhöfer).
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Do it yourself
Abb. 114: Gedrungener doppelspitzer Faustkeil. Faustkeile dieser Art sind – wenngleich nicht häufig – typisch für das Altacheuléen. Aber im späten Acheuléen Frankreichs und Mitteleuropas erscheinen sie gelegentlich wieder als massive Blattspitzen (beispielsweise in Weimar-Ehringsdorf). Amguid-W, Zentralalgerien (Zeichnung: L. Fiedler).
Do it yourself Jedem, der die Technologie von Steingeräten begreifen möchte, ist anzuraten, wenigsten einmal zu versuchen, Abschläge selbst herzustellen. Wer bei mir das Zeichnen von Artefakten gelernt hat, musste immer zuerst eine Einführung in die Abschlagtechnik über sich ergehen lassen. Denn nur wer weiß, wie Wallnerlinien, Lanzettsprünge, Kernfüße, Stufenaussprünge oder „Schlagaugen“ entstehen, kann sie im Fundmaterial erkennen, deuten und in die zeichnerischen Symbole korrekt umsetzen. Wenn demnächst Laserscanner die Aufgabe des Erzeugens von publikationsgeeigneten Abbildungen übernehmen, dann könnte leicht ein Teil des
genauen Hinschauens und der Fähigkeit des klaren Identifizierens technologischer Merkmale verloren gehen. Um Erfahrungen mit dem ‚weichen‘ Schlag oder der Steinschlagtechnik zu machen, zu wissen, was zu tun ist, um Biface-Geräte flächig bearbeiten zu können, wie Kerne hinsichtlich programmierter Abschlagformen zu präparieren sind, wie die Levallois-Technik zu realisieren ist oder welche Sorgfalt angewendet werden muss, wenn man serienmäßige Schmalklingen herstellen will, dann geht das nur über die experimentelle Artefakterzeugung. Ich habe Genies erlebt, die all das nach einem 219
Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 115: Massive Blattspitze aus Quarzit. Die Funde an der Sandgrube von Rörshain (unweit der Fundstelle „Reutersruh“) gehören zu einem Mittelpaläolithikum mit zahlreichen Faustkeilen im MTA-Stil, Levallois-Technik und blattförmigen Geräten, besonders massiven Blattspitzen. Sie dürften nicht jünger als 150 000 Jahre sein, da sie sich typologisch und technologisch sehr von den in Hessen gut vertretenen Blattspitzen-Fundstellen im Stil des Jerzmanovicien deutlich unterscheiden. Rörshain, Hessen (Zeichnung: Karin Fiedler).
Jahr schon beherrschten und Willige, die ein Leben lang lernten. So hatte ich mit Achtzehn zum ersten Mal versucht, echte Levallois-Abschläge zu erzeugen und bin erst mit 75 Jahren dahintergekommen, um es ohne ständige Fehlversuche zu können. Wenn ich in einem Workshop begabten Steinschlägern zugesehen hätte, wäre ich wahrscheinlich sehr viel früher in der Lage gewesen, dieses Können zu erlangen. Aber ich wollte es selbst herausbekommen. Die Techniken der Steinzeitmenschen sind heute absolut reproduzierbar. Was nicht reproduzierbar ist, ist die ganze Breite der Lebensumstände, Bedingungen und Projektionen, die mit der Steingeräteherstellung eng verbunden waren. Wir selbst 220
erlernen vielleicht die Kunst der Bearbeitung und erzeugen dann Kunstwerke, beispielsweise elegante Faustkeile, schöne Blattspitzen oder makellose Cleaver, doch diesen Erzeugnissen fehlt das Leben. Selbst wenn ich ein Steinmesser benutze, um eine Kartoffel zu schälen oder Fleisch damit zu tranchieren, sind diese Tätigkeiten keine notwendigen Ziele meines Tuns. Aber in der Steinzeit wurden Messer und Schnitzgeräte aus einer Notwendigkeit heraus gemacht. Daher wissen wir trotz aller erfolgreicher Gebrauchsspurenanalysen nichts über die Alltäglichkeit und wirkliche Aktualität des Anfertigens von Steinwerkzeugen. Aus der Sicht eines Neandertalers auf heutige Experimentatoren würde es vielleicht heißen: „Schön, dass der oder die das kann.
Do it yourself
Abb. 116: Blattspitze des jüngeren Mittelpaläolithikums. Das Artefakt ist aus nordischem Flint hergestellt worden und ist im Querschnitt weniger unruhig als es aussieht. Sehr oft kommt eine kleine Kerbe am unteren Ende vor, die etwas mit der Schäftung zu tun hat. Fraglich ist dabei, ob die großen, über 7 cm langen Exemplare als Speerspitzen geeignet waren. Die Vermutung liegt nahe, dass sie nichts anderes als Messer waren. Ilsenhöhle unter der Burg Ranis, Thüringen (L. Fiedler, umskizziert nach W. Hülle 1977).
Aber wozu macht er oder sie sich eigentlich die Mühe – und zerstört obendrein so viele gute Feuersteinknollen!“ Und dennoch, viele experimentelle Steinschläger reizt es einfach, einen guten Faustkeil hinzukriegen. Die Form übt einen fast magischen Zwang aus. Er muss symmetrisch werden in Aufsicht und Querschnitt und seine Kanten müssen möglichst geradlinig verlaufen. Man könnte diese Mühe vielleicht mit der der Kalligraphie vergleichen, wo es um die schöne, ausdrucksstarke Form geht. Jeder auch noch so nüchtern denkende Steinschläger hat das Gefühl, bei der Erschaffung der perfekten Form sorgfältig vorgehen zu müssen. In-
sofern könnte man das Reproduzieren solcher Geräte als Kunsthandwerk bezeichnen, denn die Objekte sind Darstellungen des inneren Bildes, die Realisierung der Imagination. Und das Herstellen ist auch eine meditative und zugleich retrospektive Kunst. Sie bringt den Steinschläger dem planerischen, konzeptionellen Denken der Neandertaler oder anderer Frühmenschen näher und erzeugt dann einen Respekt, der andere akademische Prähistoriker nicht erreicht, die nur durch Vermessen, Berechnen, Einstufen und Datieren zu ihren erwünschten Ergebnissen gelangen.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Die „verrückten“ Sammler Viele Entdeckungen steinzeitlicher Funde gehen nicht auf institutionelle Wissenschaftler zurück. Manchmal sind es aufgeschlossene Beobachter bei Bauarbeiten, die Knochen oder sogar scharfe Steinsplitter als etwas Besonderes erkennen und ihre Entdeckung an die Gemeindeverwaltungen oder sogar an die Denkmalfachbehörde weiterleiten. Aber die weitaus meisten Entdeckungen werden von Sammlern gemacht, die bei Feldbegehungen oder bei dem Inspizieren von Baugruben, Kiesabbaustellen und Trassenaufschlüssen auf Objekte ihres Interesses stoßen. Die Mehrzahl unter ihnen verfügt über wissenschaftliche Kenntnisse und besitzt die Verantwortung, gierige Wühlerei in Befundsituationen zu unterlassen. Sie setzen sich nach Entdeckungen baldmöglichst mit dem zuständigen Amt für archäologische Denkmäler oder mit entsprechenden Museen in Verbindung. Für Fundstellen, die ackerbaulich erschlossen sind, ist gewöhnlich eine Nachforschungsgenehmigung vom Denkmalamt für zukünftige Begehungen zu erhalten. Und der oder die Grundstückseigentümer bittet man auch besser darum, auf ihren
Feldern im späten Winter vor der Einsaat „Steine“ suchen zu dürfen. Die Mehrheit Artefakte-sammelnder Menschen sind Männer. Und es ist nicht ungewöhnlich, dass andere Familienmitglieder nicht hellauf begeistert sind, wenn es den Vater oder Ehemann immer wieder hinauszieht und er dann am Samstag mit schmutzigen Schuhen zu spät zum Mittagessen kommt. „Hast Du nicht schon genug Steine in deinen Schränken oder im Keller?“ ist da eine oft gestellte Frage. Die Nachbarn, die über kurz oder lang von dem seltsamen Hobby erfahren, amüsieren sich vielleicht darüber, dass jemand bei Wind und Wetter im Gelände herumstreift und glaubt, wertvolle Steine zu finden. Und daheim verbringt der seine Freizeit auch noch damit, jeden gefundenen Krümel mit den notwendigen Angaben zu beschriften! Und schließlich kann es auch passieren, dass selbst ein Archäologe oder eine Archäologin, die vorwiegend mit – beispielsweise – Hinterlassenschaften des Mittelalters beschäftigt sind, nicht gerade ein begeistertes Verständnis dafür aufbringen können,
Abb. 117: Archaischer Faustkeil aus einem Quarzitgeröll. André Tavoso publizierte in seinem Werk über die altpaläolithischen Funde im Garonne- und Tarngebiet (1978/1986) auch Fundstellen an dem Argout, die seiner Meinung nach „Günz“ oder „Günz ancien“ sein sollen. Der abgebildete Faustkeil stammt von einer so datierten Terrasse. Gerade am Argout wäre eine Terrassengliederung und Datierung mit neuen Methoden möglich und wünschenswert. Damiatte, S-Frankreich (Zeichnung: L. Fiedler).
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Die „verrückten“ Sammler
Abb. 118: Gestreckter Massiver Faustkeil. Georg Cubuk entdeckte Ende der sechziger Jahre etwa 10 km östlich von Carmona (Andalusien) an einer Stelle Artefakte, wo die höchste Terrasse des Rio Carbonnes durch Hangerosion angeschnitten war, die dort im Anschnitt zu sehen waren oder sich auch aus dem Schotter gelöst hatten. Diese Terrasse wurde in der damaligen geologischen Karte als plio-pleistozäne Ablagerung beschrieben. Mit archaischen Faustkeilen und Cleavern sowie dominierenden Geröllgeräten schien ihm hier ein sehr frühes Acheuléen vorhanden zu sein. Wir diskutierten die Funde ausgiebig, aber sie konnten erst nach seinem Tod publiziert werden (Fiedler & Cubuk 1988). Der hier abgebildete Faustkeil ist unter allen anderen des Fundortes der entwickelteste. Heute ist die Stelle mit einer Raststätte überbaut. Carmona-E, Fuentes de Andalucia (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 119: Gedrungener Faustkeil aus Quarz (95 � 62 � 45 mm), leicht verschliffen. Im unteren Bereich stehen die beiden Kanten des Geräts annähernd parallel zueinander und sind in den Seitenansichten stark zickzackförmig ausgebildet. Die größte Breite liegt typischerweise nicht am Talon, was den Altacheuléen-Charakter des Fundes zusätzlich betont. Die Fundumstände sprechen dafür, dass er umgelagert ist und ursprünglich von der altpleistozänen „Mas Ferreol-Terrasse“ stammt. Millas, Roussillon (S-Frankreich), obere „Cabestany-Terrasse“ (Zeichnung: L. Fiedler).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 120: Getreckter massiver ‚Uniface‘. Man erkennt gut, dass dieser Faustkeil aus einem Abschlag/Spaltstück eines Gerölls hergestellt worden ist, denn die Bearbeitung erfolgte nicht voll flächendeckend. Die Bearbeitung wurde mit einem Schlagstein durchgeführt. ‚Weiche‘ Schlagtechnik kommt in Campsas nicht vor. Neben gewöhnlichen gestreckten Faustkeilen, Cleavern, Polyedern, Choppern und Chopping-tools ist der Anteil von Kleingeräten, die gewöhnlich aus Quarz, ganz selten aus Flint gemacht wurden, relativ hoch. So ist das ganze Inventar formenkundlich ein Altacheuléen. Im Vergleich zu den datierbaren Funden von den Rheinterrassen in Deutschland dürften diese südfranzösischen Artefakte ebenfalls ein Alter von deutlich über 1 Mio. Jahre haben. Campsas, Garonnebecken, S-Frankreich (Zeichnung: L. Fiedler).
dass jemand „schon wieder mit so ollen Steinen“ ihre Aufmerksamkeit haben möchte. Das kann dann den begeisterten Amateurforscher schon in Betrübnis und zu Zweifeln an der wissenschaftlichen Ethik versetzen. Gewöhnlich stößt der „verrückte Sammler“ aber irgendwann doch auf die richtige Fachperson, die ihm Anerkennung zollt, zu seiner Entdeckung gratuliert und ihn zu weiterer Sammlungsvermehrung anhält, bis eine publikationsfähige Menge von Objekten vorhanden ist. Und die meisten dieser Fachleute besitzen heute auch den Anstand, nicht nur den Entdecker in ihrer Publikation zu erwähnen, sondern ihn direkt daran zu beteiligen. Ein großes Problem ergibt sich aber, wenn ein Artefakte-sammelnder Mensch auf schon bekannte Fundplätze gehen möchte, die noch obendrein von einem Feldbegeherkollegen betreut werden. Also heimlich bei Nacht und Nebel da herumstapfen, das geht gar nicht. Dann sollte der Gedankenaustausch gesucht und ein gemeinsamer Samstag224
morgentermin im Gelände abgesprochen werden. Dabei ist es selbstverständlich, dass der Besucher alle seine Fundstücke vorzeigt und eventuell darum bittet, das eine oder andere Stück behalten zu dürfen. Genauso möchte er ja von der sammelnden Konkurrenz schließlich auch behandelt werden. Was aber gar nicht und auf keinen Fall in Frage kommt, ist das Sammeln aus kommerziellen Gründen. Wer als Sammler ernst genommen werden möchte, handelt nicht heimlich mit Artefakten! Und wenn er es doch tut, wird er eines guten Tages erwischt und wird ein Gerichtsurteil abwarten müssen. Der freie Handel mit alten Kulturgütern ist mittlerweile in den meisten europäischen Ländern verboten. Ausgenommen davon sind Objekte aus alten Sammlungen, deren Fundorte und genaue Herkunft nicht mehr ermittelt werden können. Das heißt aber nicht, dass eine lebenslang zusammengetragene Sammlung nichts wert ist. Bei der Abgabe einer solchen Sammlung an staatliche Stellen
Entwicklung und Veränderung von Kultur
oder kommunale Museen ist eine angemessene Vergütung durchaus einforderbar. Und Länder und Gemeinden sind wohlberaten, wenn sie für eine derartige Eventualität einen Fonds angelegt haben. Trotzdem soll es ausnahmsweise Fälle geben haben,
in denen auch in staatlichen Stellen das Fundmaterial nicht sachgemäß verwaltet oder sogar aussortiert wurde. Das lag dann immer daran, dass keine ausgebildete Fachperson zur Stelle war – ein eindeutiges Versagen der Kulturpolitik.
Entwicklung und Veränderung von Kultur Politiker wissen im Allgemeinen was Kultur ist und verlangen von sogenannten Zugewanderten, die Kultur ihres neuen Landes nicht nur zu respektieren, sondern zu teilen. Kultur ist dabei in erster Linie Sprache, Arbeit, ausreichende Kenntnis der his-
torischen und verfassungsgemäßen Belange und die Teilhabe an Sitten und Gebräuchen der Eingesessenen. Okay, aber Kultur ist kein festgefügtes Etwas, sondern ein sich stetig veränderndes Gebilde. Schon jeder neu geschriebene Roman, jedes neue
Abb. 121: Einige kleinere Geräte des Altpaläolithikums von Münzenberg. 1 Chopping-tool, 2 Miniaturfaustkeil, 3 gezähntes Gerät, 4 behauener Abschlag. (Zeichnungen: B. Kaletsch & L. Fiedler in Fiedler 1991).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 122: Frühe Artefakte aus Rheinhessen. 1 retuschierter Abschlag, in situ aus der tNa 5,1–2 von Münster-Sarmsheim, 2–3 Artefakte aus dem pliozänen Schotter der Ur-Nahe, Aspisheim (Zeichnungen: L. Fiedler).
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Abb. 123: Faustkeil aus Gangquarzgeröll. Der Fund stammt aus denudierten Terrassenschottern der Unteren Mosel, die als Outcrop zutage treten. Wegen der spröden, grobkristallinen Matrix der Ausgangsform ist das Gerät relativ sparsam bearbeitet worden. Der Kortex am Talon zieht sich linkslateral bis zur halben Länge des Artefakts hoch, so dass das Gerät auch als Faustkeil mit partiellem Rücken bezeichnet werden könnte. Das Alter dürfte dem der Münster-Sarmsheimer Funde mit etwa 1,3 Mio. Jahre entsprechen. Koblenz-Bisholder (nahe Winningen), Unteres Mosel-Tal (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 124: Massiver, nur teilweise beidflächig bearbeiteter Faustkeil aus Geröllquarzit. Der Fund wurde von A. v. Berg nahe einer kleinen Schotterentnahmestelle auf etwa 190 m ü. NN auf der sogenannten jüngeren Moselhauptterrasse geborgen. Schon zuvor wurden dort Artefakte entdeckt, die alle sehr urtümlich sind: Chopper, Chopping-tools, Polyeder, behauene Abschläge oder Spaltstücke sowie ein weiterer Faustkeil aus Gangquarzgeröll (Abb. 124). Nach der Terrassenstratigraphie des Mittelrheins (Preuss et al. 2015) könnte das Alter demjenigen der t Rh 4 oder schon t Rh 5 entsprechen und zwischen 1,2 und 1,5 Mio. Jahre liegen. Koblenz-Bisholder (nahe Winningen), Unteres Mosel-Tal (Zeichnung: L. Fiedler).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 125: Ovaler Faustkeil, ‚Limande‘ (162 � 96 � 27 mm). Das Objekt ist beidflächig komplett mit Herstellungsnegativen überdeckt, an denen man sehen kann, dass erst die hier nicht sichtbare Unterseite des Geräts und im Folgenden die Fläche dieser Ansicht fertiggestellt wurde. Das häufigste Vorkommen von Limande-Formen ist eindeutig altpaläolithisch. Das hier gezeigte Werkzeug ist indes sehr sorgsam mit einem ‚weichen‘ Schlagwerkzeug bearbeitet worden, so dass man auch an eine jüngere Alterszuweisung denken könnte. Da aber ‚weich‘ geschlagene Faustkeile aus Boxgrove in Südengland mit einem seinerzeit unerwarteten frühen Alter um die 550 000 Jahre datiert wurden und auch aus dem „Speerhorizont“ von Schöningen ‚weich‘ geschlagene Artefakte vorliegen, ist diese schon im mittleren Acheuléen Afrikas genutzte Bearbeitungstechnik auch in Europa kein Beleg für ein mittelpaläolithisches Fundalter. Geschenk von Prof. Dr. R. Grahmann. Fournival, Department Oise, Nordfrankreich.
Musikstück verändert die bisherige Kultur. Unsere meisten wichtigsten Nahrungs- und Genussmittel sind erst zwischen dem 12. Und 18. Jahrhundert 228
zunehmend unentbehrliche Bestandteile europäischer Kultur geworden. Gegenwärtig ist Kultur einer übermächtigen Lawine technischer Neuerun-
Entwicklung und Veränderung von Kultur
gen ausgesetzt, die vertraute Gebräuche und Daseinsformen tiefgreifend verändern. Und schließlich tun Sport, Kino, Spiele, Restaurants, Ferienreisen und vieles andere mehr ihr Übriges, die Kultur ständig zu verändern. Gut, wenn man den Verstand besitzt, das als Bereicherung zu verstehen. War das, was wir heute erleben, in ähnlicher Weise auch schon bei unseren frühen steinzeitlichen Vorfahren so? In gewisser Weise veränderte jede neue Geschichte, die Frauen von ihren sammelnden Streifzügen zu erzählen hatten, den kulturellen Bestand einer Gemeinschaft. Jeder üppige Jagderfolg und jede neue Hungerszeit veränderten die Geschichte und das Wissen der Gemeinschaften. Selbst den fast imperativen Vorgaben bei der Herstellung von Geräten, den einzuschlagenden zyklischen Wanderrouten oder der Verweildauer unter bestimmten Abris haben Veränderungen des Klimas, rohmaterialarme Jagdgebiete oder Tierepidemien kurzfristige oder fortwährende Abweichungen vom gewohnten Verhalten abverlangt. Beispielsweise ist der extrem klüftige Kieselschiefer des Marburger Landes das einzige verwendbare Rohmaterial für Steinartefakte im engeren Umkreis. Aber ganz sicher sind das Lahntal und die begleitenden Berge als gutes Jagdgebiet nicht gemieden worden. Trotzdem findet man selten schöne paläolithische Steinartefakte in dieser Gegend. Wenn man genau hinsieht, gibt es auf den weiten Schotterflächen bei Fronhausen oder am Rande des Amöneburger Beckens immer wieder Kieselschieferbruchstücke, die an geeigneten Stellen Gebrauchsretuschen tragen. Aber Abschläge und Kerne kommen dort nicht massenhaft vor. Hier waren Neandertaler & Co also in der Lage, ihren Bedarf umzustellen und ein gewohntes Verhalten bei der Steingeräteherstellung und -nutzung zeitweise aufzugeben. Das muss als Beispiel genügen, um deutlich zu machen, dass auch im Paläolithikum Kultur kein zementiertes Gefüge haben konnte, ja, nicht einmal haben durfte, wenn bestimmte Umweltbedingungen flexibles Verhalten verlangten. Die Veränderungen in den technologischen Ausstattungen zwischen 300 000 und 50 000 vor heute zeigen dazu sehr deutlich, dass die mittelpaläolithischen Menschen ihre Kultur zunehmend verändert haben. So kennen wir die Bestattungssitte in gestreckten Gräbern am Wohnplatz vor allem aus der Endphase des Mittelpaläolithikums in der
Foto 126: Faustkeil in typischer Limande-Form (123 � 74 � 33 mm). Das bräunlich patinierte Artefakt ist beidflächig identisch ‚weich‘ bearbeitet worden. Es ist ein Kiesgrubenfund, so dass die dunkle Patina kein verlässlich hohes Alter anzeigt, aber doch im Jungacheuléen Westfrankreichs nicht als unbedingt gewöhnlich bezeichnet werden kann. Auch sehr zahlreiche weitere Steingeräte gleicher Herkunft sind stilistisch dem älteren/mittleren Acheuléen zuweisbar. Les Canuis, Sablière St. Même, Charente, W-Frankreich.
letzten Kaltzeit. In diesen Jahrhunderten veränderte sich auch das Moustérien Frankreichs zum Châtelperronien. Kultur ist ein prozessuales System, aber kein statisches. Wir mögen stolz auf unsere mitteleuropäische Kultur sein, aber ein Verharren in ihren vermeintlichen festen Gefügen würde das Ende einer traditionellen Aufgeschlossenheit, vielleicht sogar das Ende dessen bedeuten, was wir als abendländische Kultur hochhalten.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 127: Faustkeil des mittleren Acheuléen (137 � 80 � 43 mm). Alfred Rust brachte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von seinen Entdeckungen in Syrien zahlreiche Artefakte mit, die ihm als Anschauungs- und Lehrmaterial dienten. Im hohen Alter verschenkte er davon einige an Freunde und Wissenschaftler. Dieser hier ist mandelförmig mit der größten Breite zwischen erstem und zweitem Drittel über dem Talon. Das und die reine Steinschlagtechnik der Herstellung stellen den Fund in das mittlere Acheuléen. Trotz seiner Verwitterungspatina ist gut zu erkennen, dass bei der Herstellung erst die eine und danach die andere Fläche zum Abschluss der Bearbeitung gebracht wurden. Auf einer der Flächen (rechts) sieht man eine Zone von Gebrauchsspuren. Die Leser werden bemerken, dass der Begriff Mittelacheuléen hier nicht benutzt wird. Das geschieht deshalb, weil sowohl die stilistische als auch die streng chronologische Abgrenzung des mittleren Acheuléen weder zu der älteren, noch zu der späten Faustkeilzeit möglich ist. Die Übergänge sind fließend. Die Form des hier vorgestellten Faustkeils kommt auch noch im Jungacheuléen manchmal vor, aber seine Bearbeitungsweise ist typisch mittleres Acheuléen. Nebek (Syrien).
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Foto 128: Faustkeil des Acheuléen (121 � 75 � 37 mm). Das dem vorangestellten Fund von Nebek sehr ähnliche Artefakt lag auf dem Aushub der im Bau befindlichen Umgehungsstraße von Bergerac. Es hat beidflächig eine leicht hellgraue Verwitterung, die im ganzen Gebiet Funde dieser Zeit auszeichnet. Die Bearbeitung des Faustkeils erfolgte in den letzten beiden Phasen zunächst auf der etwas weniger gewölbten Fläche und danach auf der gegenüberliegenden Fläche mit einem ‚weichen‘ Schlagobjekt sowie abschließend mit einem Knochenretuscheur für die feine Kantenzurichtung. Der gräulich patinierte Fund gehört nicht in das Jungacheuléen der letzten 300 bis 400 000 Jahre, sondern steht für ein entwickeltes mittleres Acheuléen. Die Zeichnung Abb. 184 desselben Objekts zeigt Schlagrichtungen und Kortexpartien eindeutiger als das Foto. Creysse (Bergeracois, SW-Frankreich).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 129: Spitzer Faustkeil, der aus einem gestreckten Abschlag, der länger als 15 cm war, hergestellt worden ist. Auf der Ventralfläche ist ein kleiner Rest der ursprünglichen Spaltfläche erhalten. Das Gerät ist kennzeichnend ‚weich‘ bearbeitet. Im Gegensatz zu einigen betont ästhetischen Faustkeile dieser Fundstelle ist der hier abgebildete Faustkeil ein Beispiel alltäglicher, banaler Formgebung von Bifaces im Jungacheuléen (145 � 84 � 35 mm). A-02–12, nördliche Murzuk-Wüste, S-Libyen.
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Die Klassifizierung von urgeschichtlichen Menschen, Zeiten und Kulturen
Die Klassifizierung von urgeschichtlichen Menschen, Zeiten und Kulturen Wenn jemand beginnt, sich für die Anfänge der Menschheit und der Kultur zu interessieren, begegnen ihm Begriffe wie Moustérien, Aurignacien, Homo heidelbergensis, Homo neanderthalensis oder Cro Magnon. Er prägt sich das ein und ist von keinem Zweifel befallen, dass diese wissenschaftlichen Bezeichnungen eine der Wirklichkeit entsprechende Wahrhaftigkeit besitzen. Obwohl er es aus seiner Alltagssprache kennt, dass Begriffe oft Sachen bezeichnen, die eine weiche Abgrenzung haben, überträgt er das nicht auf wissenschaftliche Klassifizierungen. Selbst Wissenschaftler mögen es meistens nicht, wenn ihre Definitionen diesbezüglich dort in Frage gestellt werden, wo es Grenzbereiche gibt. Am Beispiel der Alltagssprache soll das hier Gemeinte erläutert werden. Nehmen wir den Begriff Villa. An der Hamburger Elbchaussee wurden früher zahlreiche Villen gebaut, aber auch gut ausgestattete Einfamilienhäuser einerseits und Prunkvillen, die schon den Charakter kleiner Schlösschen erkennen ließen, andererseits. Wo liegen aber genaue Grenzen zwischen diesen Klassen? Kann die Abgrenzung durch Quadratmeter der Wohnflächen, durch Eingangsportale oder Dachflächen, durch Fensterformen oder architektonische Zierelemente definiert werden? Nein, es geht nicht, denn die Grenzen zwischen diesen Klassen sind weich. Nun zeichnet es Wissenschaft aus, dass ihre Begriffe und Klassen präzise sein sollen und über Eindeutigkeit zu verfügen haben. In der Biologie werden deshalb Stämme, Familien, Arten und Unterarten mit lateinischen Bezeichnungen versehen, die Unverwechselbarkeit beanspruchen. Das geht auch einigermaßen gut, weil die damit umrissenen Populationen anhand aller vorhandenen Merkmale überprüfbar sind. Aber die Klasse Homo heidelbergensis ist tatsächlich vage, weil der namensgebende Fund, der Unterkiefer von Mauer, nur in einem Exemplar vorhanden ist. Vor allem seine Datierung in das Mittelpleistozän veranlasste Anthropologen dazu, die jüngere Form des Homo erectus in Europa und Afrika diesem Typus hinzuzufügen. Doch die Variationsbreite dieser Funde ist nicht eindeutig und der Name ist eher provisorisch, ja er trifft exakt eigentlich nur auf den Kiefer von Mauer zu. Und der Übergang zu den Menschenfunden von Tautavel,
Steinheim, Swanscombe oder Ceprano ist schon alleine anhand des sogenannten Geschlechtsdimorphismus, also dem oft krassen Unterschied zwischen weiblichen und männlichen Skelett- und Schädelmerkmalen, gar nicht exakt fassbar. Das Gleiche trifft auch auf die eindeutigen Abgrenzungen von Alt-, Mittel- und Jungpleistozän ebenso zu, wie auf die Abgrenzungen von Moustérien zu Jungacheuléen oder von ‚Moustérien de tradition acheuléenne‘ zum Châtelperronien usw. All diese Begriffe dienen eigentlich nur der Übersichtlichkeit, der Verständigung über das, worüber man gerade redet oder schreibt. Ein Quartärgeologe machte mir einmal auf einer Tagung den Vorwurf, ich würde die Funde von Dorn-Dürkheim in das späte Altpleistozän stellen, aber der dort vorkommende Steppenelefant sei doch typisch für das Mittelpleistozän. Für einen Geologen mag diese sehr grobe Grenzziehung eine gewisse Berechtigung haben, aber Paläontologen wissen, dass der Steppenelefant auch schon im jüngeren Altpleistozän existierte. Die Grenzziehung zwischen diesen Zeitabschnitten wird zwar durch einen markanten Wechsel der magnetischen Erdpolarität definiert, aber Paläontologie und Quartärgeologie hatten in diesem Fall nicht die gleichen Perspektiven und Einsichten. Und ist es nicht möglich, dass Menschen, die vor dem magnetischen Wechsel geboren wurden, lange nach ihm alt wurden und damit sogar in zwei geologischen Epochen lebten? Die gezogene Grenze dazwischen ist nur wissenschaftlich festgelegt. Aber Grenzziehungen haben auch eine archäologische Realität, die nicht selten vehement von wissenschaftlichen Puristen verteidigt werden. Die Masse der Funde von Markkleeberg wurde früher gerne als „Levalloisien“ und nicht als Acheuléen beschrieben, weil Faustkeile dort sehr selten sind. Entweder wurden kaum welche gefunden, oder die Kiesgrubenarbeiter haben diese ansehnlicheren Artefakte als Andenken mit nach Hause genommen. Aber auch mit der geringen Anzahl von Faustkeilen ist dieser Fundkomplex insgesamt ein Acheuléen. Bei afrikanischen Forschern des 20. Jahrhunderts galt ebenfalls die Regel, ein Inventar nur dann als Acheuléen zu klassifizieren, wenn der Faustkeilanteil genügend groß war. Umgekehrt wurden faustkeilfreie Inventare oft als „Developed Oldo233
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wan“ bezeichnet, obwohl die Schaber, Spitzen und Abschläge in genau gleicher Art in Acheuléen-Inventaren vertreten sind. Der Gedanke, dass an solchen Plätzen die Faustkeile von den Herstellern nicht liegengelassen worden sind, schien den Forschern zu weit zu gehen. Noch merkwürdiger ist, dass in Frankreich mittelpaläolithische Fundinventare, in denen nur wenige gut retuschierte Werkzeuge, dafür aber flüchtig behauene Abschläge und sehr viel Schlagabfallmaterial vorhanden ist, als ‚Moustérien á denticulés‘ beschrieben wurden. Dabei ist derartiges Fundmaterial nur Ausdruck eines oder mehrerer flüchtiger Aufenthalte mittelpaläolithischer Menschen gewesen und nicht einer Kulturgruppe oder eines ‚Technokomplexes‘ des Mittelpaläolithikums. Eine nicht unbedeutende Frage betrifft die wie eine Selbstverständlichkeit behandelte Datierung des europäischen Alt- und Mittelpaläolithikums. Sie wurde ja traditionell auf der Basis von geologischen Schichten und darin vorkommender unterschiedlicher fossiler Tierwelt und kennzeichnender Pflanzen vorgenommen. In die überholte Einteilung des Eiszeitalters in vier hauptsächliche Kaltzeiten (Günz, Mindel, Riss und Würm) ließen sich bestimmte Tiergemeinschaften (Faunenvergesellschaftungen) einordnen, die wiederum dazu dienten, archäologische Fundstraten zu datieren. Seitdem man heute aber mindestens achtundzwanzig Kaltzeiten des Eiszeitalters erkennen kann, ist die faunistische und vegetationstypische Datierung nicht mehr so einfach. Bei nicht immer durchführbaren physikalischen Altersbestimmungen halten Archäologen aber an der faunistischen Datierung fest. So haben wir es vielleicht mit Zirkelschlüssen zwischen Geologie, Paläontologie und Archäologie zu tun, an denen auch physikalische Altersmessungen bisher nicht viel geändert haben. Wir wissen aber, dass die Erhaltung von geologischen Ablagerungen äußerst uneinheitlich ist und die Stratigraphie des Eiszeitalters tatsächlich mehr durch Überlieferungslücken als durch abzählbare Schichtfolgen gekennzeichnet ist. Und die schon als naiv zu bezeichnende Zuweisung eines einzigen feststellbaren magnetischen Feldwechsels in das Matuyama-Brunhes Ereignis vor knapp 0,8 Mio. Jahren hat zu erkennbaren Irrtümern in der Altersbestimmung früher menschlicher Hinterlassenschaften in Europa geführt. Neuere Erkenntnisse gehen dahin, dass das europäische Acheuléen entscheidend zu 234
jung datiert wurde und auch hier, wie in Afrika, deutlich vor mehr als 1 Mio. Jahren begann. Zum Schluss komme ich nochmals zur Klassifizierung von Menschenarten zurück. Wie aus vielen Bemerkungen zum Verhalten in Kommunikation und dinglicher Instrumentalisierung in diesem Buch hervorgeht, gibt es keine messerscharfe Grenze zwischen vollkommen menschlich und tierisch. Selbstverständlich verstehen wir Tiere aus unserem westlichen, aufgeklärten und modernen Denken. Anders als australische Ureinwohner, südafrikanische San, Algonkin-Indianer noch vor 150 Jahren oder teilweise heutige Halter von Papageien, Katzen, Hunden oder Pferden. Bei aller Tierliebe, sie sind anders als wir. Hunde stellen aber immer wieder fest, dass Katzen anders sind als sie selbst. Erfahrene Hunde respektieren das, unerfahrene nicht. Wir respektieren, dass unsere Urgroßeltern anders dachten und lebten als wir. Selbstverständlich. Obwohl wir uns alle in der Gesellschaft vor 100 oder 300 Jahren schwerlich zurechtfinden würden, halten wir unsere Vorfahren für richtige Menschen – trotz Pietismus, Kinderarbeit, Hexenglauben und Hexenverbrennungen, Inquisition, Sklaverei, drakonischer Justiz und, na ja, absolut unakzeptablen Verhaltens gegen die Ureinwohner Afrikas, Amerikas, Asiens und Ozeaniens. Wie empörend doch die ‚Annektion‘ der Krim durch Russland ist, Völkerrechtsverletzung, unmöglich, oder? Da wäre noch über Einiges nachzudenken. Ich meine eine gewisse Grenze zwischen Vormenschen und Menschen im Einvernehmen mit den meisten Paläoanthropologen zwischen Australopithecinen und den Habilinen (beispielsweise Homo rudolfensis) ziehen zu sollen. Das mache ich aufgrund der Technologie des Oldowan, die den Australopithecinen vermutlich fremd war. Könnten wir aber – nicht ganz korrekt – zwei Waisenbabys der Australopithecinen aus der Vergangenheit retten, sie sogleich gegen Grippe, Polio, Pocken, TBC usw. immunisieren und dann in einer Familie liebevoll aufnehmen und sie zusammen mit anderen Kindern im Kindergarten halbtäglich aufwachsen lassen, würden wir feststellen, dass sie viel weniger anders sind als wir. Sie würden lernen Fahrrad zu fahren, einzukaufen, sich durch Zeichensprache und beschränkten Möglichkeiten der Intonation verbal mit uns zu verständigen, bei Rot nicht über die Straße zu gehen, sich bei Tisch zu benehmen und wären vermutlich überragende Vol-
Tradition, Technokomplex oder Kultur?
leyballspieler. Sie wären Wesen, denen niemand die Menschenrechte absprechen dürfte, Sie wären möglicherweise in unserer zivilisatorischen Umwelt hilfsbedürftige Menschen, aber Menschen. Mit dieser Science-Fiction möchte ich verdeutlichen, dass es absolut unerträglich ist, sogenannte modere Menschen als richtige Menschen zu verstehen, aber mittel- und altpaläolithische Menschen als „hominine“ Halbmenschen. In den Medien, auch neuester Zeit, lesen und hören wir immer noch, dass der Mensch seit 35 000 Jahren in Europa ansässig sei – der richtige Mensch, versteht sich. Davor gab es hier diese halbnackten, ungewaschenen Wüstlinge ohne Messer und Gabel mit Keulen und tierischem Mundgeruch, die ohne zu zögern uns sofort getötet und gefressen hätten, oder? Die Vorstellungen vom Neandertaler waren seit seiner Entdeckung gewöhnlich die von einem dürftig fellbekleideten, kaum sprachfähigen und ziemlich unorganisierten wilden Jäger. Das Neandertaler-Skelett von La-Chapelle-aux-Saints wurde von Anthropologen in gebückter Haltung neben dem Skelett eines gerade aufgerichteten „typischen“ heutigen Europäers abgebildet, um die Unterschiede deutlich zu machen. Das war von Beginn an das Ziel der physischen Anthropologie, nämlich Unterschiede und nicht Ähnlichkeiten hervorzuheben. Wenn der berühmte Svante Pääbo noch heute erklärt, dass wir mit dem Neandertaler nur 2 bis 4 % der Gene teilen, ist das kein Versehen, sondern Absicht, denn tatsächlich teilen wir mit dem Neandertaler mehr als 99,9 % unserer Gene. Der verbleibende Rest kann – vergröbernd gesagt – auf bakteriell verursachte Veränderungen und Isotopenwanderung von Kohlenstoff usw. im Boden zurückgehen. Und dass die mitochondriale Zusatz-DNA auch in modernen Menschen nicht stabil ist, dürfte mittlerweile eine Binsenwahrheit der Humanbiologie sein. Die ganze Debatte um den mittelpaläolithischen Menschen (Neandertaler) spielt sich in einem Milieu einer immer noch rassistisch klassifizierenden Anthropologie ab, der es einzig auf Trennung und Abgrenzung ankommt. Eigentüm-
licherweise findet sie damit in der Öffentlichkeit ein großes Echo. Judenhass ist vor allem Rassismus. Wenn der in einer rassistisch arbeitenden Anthropologie einen wissenschaftlichen Background erhält, sollte diese Wissenschaft schleunigst einen Weltkongress abhalten, wo ihre Standpunkte und Ziele auf dem Prüfstand stehen. Aber anzumerken ist, dass selbst der im Nationalsozialismus geehrte Hans Weinert geschrieben hat, dass es unmöglich ist, die Skelettmerkmale eines Ariers von denen der Juden zu unterscheiden. Wie wäre es denn, einmal die absolut großen biologischen Ähnlichkeiten zwischen Neandertalern (mittelpaläolithischen Menschen), jungpaläolithischen und heutigen menschlichen Populationen (nicht einzelner Individuen) aufzuarbeiten? Und wie naiv ist es eigentlich, auf der Grundlage von vereinzelten Skelettfunden aus der Zeit zwischen 100 000 und 28 000 BP immer einfach davon auszugehen, man habe es mit zwei getrennten Populationen zu tun? In den Gemeinschaften der australischen Aborigines gibt es beispielsweise Personen, die einen Homo-erectus-ähnlichen Schädel haben und andere, die eine hohe Stirn und ein eckiges Kinn besitzen. Die sind aber alle miteinander verwandt, leben miteinander und wurden in nebeneinanderliegenden Gräbern bestattet! Anthropologen und Archäologen sollten schon längst aufgehört haben, ihre wissenschaftliche Klassifizierung des Menschen derart unbedarft in die Öffentlichkeit zu tragen. Auch dann, wenn sie bemerken, dass es einigen Stiftungen und sogar Regierungen ganz recht ist, die Annahme von Menschen und Untermenschen wissenschaftlich derart zu stützen. Kann ja sein, dass das beim nächsten Golfkrieg nützlich ist. Oder beim Abwurf von Massenvernichtungswaffen. Die Militärdoktrin sagt ja, eine Chance auf Gewinn beginnt erst, wenn mindestens die Hälfte der Zivilbevölkerung eliminiert ist. Durch zivilisierte eigene Militärs versteht sich. Wundern Sie sich, dass ein Kulturanthropologe so etwas in einem Buch über Faustkeile schreibt?
Tradition, Technokomplex oder Kultur? Die wissenschaftliche Urgeschichtsforschung nahm ihren Anfang in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das ist die Zeit der Industrialisierung Euro-
pas und seines Kolonialismus. Es lag damals nahe, ähnlich aussehende Fundkomplexe mit ihren kennzeichnenden Leittypen ethnisch zu interpretieren, 235
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Abb. 125: Kleiner ovaler Faustkeil aus Blockquarzit. Das Gerät wurde, wie alle Acheuléen-Artefakte des Fundplatzes, ausschließlich in ‚harter‘ Schlagtechnik realisiert. Sie gleichen damit dem Ensemble der Lese- und in-situ-Funde von Münster-Sarmsheim, die über 1 Mio. Jahre alt sind. So spricht nichts dagegen, den zeitlichen Ursprung auch dieser Ziegenhainer Geräte im Altpleistozän zu sehen. Ziegenhain „Reutersruh“, nordöstliches Hessen (Zeichnung: L. Fiedler nach Vorlage Hannelore Bosinski 1971).
weil auch die Annahme bestand, dass sich das in Museen häufende völkerkundliche Sammlungsmaterial ganz bestimmten „Stämmen“ mit jeweils eigenen Traditionen zuweisen ließ. Diese ethnische Interpretation altsteinzeitlichen Fundmaterials begann sich erst mit dem Ende des 20. Jahrhunderts abzuschwächen. Der Begriff Tradition wird jetzt wieder weiter gefasst – etwa so, wie F. Bordes sie in der Bezeichnung Moustérien de tradition acheuléenne benutzte (obwohl ihm selbst eine völkerkundliche Sicht auf das Paläolithikum wichtig war). Die noch vor wenigen Jahrzehnten bedeutsamen Untergruppen des west- und mitteleuropäischen Mittelpaläolithikums erweisen sich einerseits durch die genauen Untersuchungen der Produktionstechniken von Steingeräten und andererseits durch den Blick auf mögliche Zusammenhänge zwischen bestimmten Aktivitäten und Inventarausprägungen als durchlässig und damit wissenschaftlich nicht mit genügender Klarheit zu benutzen. 236
Selbstverständlich ist immer noch davon auszugehen, dass nur kleine Gemeinschaften mit jeweils großen Streifgebieten Europa bewohnten und reiche Erfahrungen, die im traditionellen Verhalten eingebunden und mündlich (narrativ) vermittelt wurden, ihnen die Existenz sicherte. Aber kleine Gemeinschaften wären für sich nicht aufrecht zu erhalten gewesen, wenn sie sich nicht genetisch durch Kontakte mit benachbarten Gruppen ausgetauscht hätten. Mit diesem erforderlichen Austausch fand unweigerlich auch eine Verbreitung technologischen und mythologischen Wissens statt. Im gesamten afrikanischen und europäischen Bereich bis tief nach Asien hinein war die LevalloisTechnik bekannt, wenngleich sie nicht überall aus rohstoffbedingten Gründen im gleichen Umfang ausgeführt werden konnte. Sie ist der eindeutige Beleg für Informationsfluss einerseits und Tradition andererseits. So ist der Begriff der Tradition im Alt- und Mittelpaläolithikum eher auf die Lebensmodelle der
Tradition, Technokomplex oder Kultur?
Foto 130: Gestreckt mandelförmiger Faustkeil (183 � 98 � 40 mm). Geräte dieser Form mit sorgsamer beidflächiger Bearbeitung erschienen gelegentlich schon vor etwas über 1 Mio. Jahren in Afrika, dominieren aber besonders im Zeitraum zwischen etwa 0,5 und 0,3 Mio. Jahren. Sie wurden aber zugleich mehr und mehr von eher herzförmigen Faustkeilen abgelöst. Einzelfunde können so formaltypologisch nur unzureichend datiert werden und finden, wie in diesem Fall, sehr provisorisch eine Zuschreibung zu einem „jüngeren Acheuléen“. A-97–19, Murzuk-Wüste, S-Libyen (Foto: Sabine Jordan).
Menschen in sehr langen Zeitabschnitten anwendbar als auf lokale Inventare, die wegen lokaler Bedingungen besonders gestaltet wurden. Die jeweils bedeutsam unterschiedlichen Inventarausprägungen einzelner Fundstellen lassen sich im Gegensatz zur ethnischen Klassifizierung sehr viel besser mit dem seit den siebziger Jahren aufgekommenen Begriff der Technokomplexe kennzeichnen. So gehören auf den großen Kiesebenen (Reg oder Serir) des ariden Nordafrikas Geröllgeräte wesentlich häufiger zu paläolithischen Inventaren als in Gebirgs- oder Küstenregionen, wo zur Werkzeugherstellung geeignetes Felsgestein zugänglich war. Ein anderes Beispiel unter vielen anderen bietet
die Fundstelle Mauer am Alt-Neckar. Im Uferbereich des Flusses ließen sich nur einigermaßen harte Sandsteinstücke und kleine Hornsteingerölle finden (Foto 151). Bis auf einen Miniaturbiface bestehen die anderen Artefakte zumeist aus kleinen Hornsteinabschlägen, die manchmal zu Schabern oder Bohrern retuschiert wurden. Das gefundene Inventar ist also durch die örtliche Umwelt geprägt, aber ganz sicher nicht durch eine auf Kleingeräte beschränkte „Stammeskultur“. Die jeweilige Kultur, der sie entstammen, bot flexible Muster des Verhaltens an. Sonst hätte es keine Weiterentwicklung der Menschheit gegeben; sie wäre vielmehr in starren, sie einschränkenden Regeln schon vor Hunderttausenden von Jahren verkümmert. 237
Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 126: Cleaver aus sprödem Gangquarz. Es ist außerordentlich schwierig, aus dem mittelrheinischen Gangquarz größere Abschläge herzustellen. Meistens zerreißen sie schon im Prozess der Produktion. Gemeinsam mit dem Cleaver wurde ein zweites, ähnlich großes Abschlaggerät aus gleichem Material mit zuspitzender Bearbeitung und behauenem Talon gefunden. Dieses Artefakt wurde zusammen mit weiteren ähnlichen Funden von Johannes Preuss im Aushub eines Schurfs entdeckt, der in die vollkommen denudierte 217 m-Terrasse am Mittelrhein hineingetrieben war. Ihr Alter entspricht dem des ältesten Acheuléen aus der Olduvai-Sequenz. Es sind die ersten Artefakte in Europa, die durch die Terrassenforschungen des Entdeckers ausreichend präzise dem Altacheuléen zur Seite gestellt werden können und somit auch für eine Anwesenheit von Frühmenschen im relativ milden Altpleistozän nördlich der Alpen Zeugnis ablegen. Die genauen Angaben zur Lage der Fundstelle kann zurzeit noch nicht gemacht werden und wird provisorisch mit LK angegeben (Zeichnung: L. Fiedler).
Wissenschaft und Schöpfungsgedanke Die einzelligen Lebewesen haben eine erstaunliche Anpassung während der Abkühlung der Erde und der Entwicklung einer Sauerstoffatmosphäre vollzogen (Bakterien, Pilze, Algen). Man könnte sogar sehr gut sagen, die Fähigkeiten zu existenzerhaltenden Reaktionen sind schon in der atomaren und molekularen Materie vorhanden, weil rein physische Einwirkungen bei ihr Reaktionen auslösen, also naturgesetzliches, sachgemäßes Verhalten vorgegeben ist. Ist die Logik der Naturgesetze nun ein sich selbst entwickelndes System gewesen oder steckt hinter der Möglichkeit der Selbstentwicklung ein intelligenter Plan? „Von nix kommt nix“, sagt unsere alltägliche, 238
gewöhnliche Vernunft. Sie ist ungeeignet hinter ihrem eigenen Sein vollkommene Klarheit zu erlangen. Deshalb entwickelt sie mythische Modelle der Erklärung. Seit hundert Jahren wissen wir aus der experimentellen Physik, dass Elektronen eines Atoms mit denen eines anderen Informationen austauschen können. Da gibt es also eine mikrokosmische Logik und Intelligenz. Wir wissen auch, dass Atome sowohl als Materie erscheinen können als auch in Wellenstruktur, also als Kräfte. Nach dem Kenntnisstand der Astrophysik ist das alles in Bruchteilen von Sekunden schon nach dem sogenannten Urknall entstanden. Von alleine, also aus der Gleich-
Wissenschaft und Schöpfungsgedanke
Abb. 127: Chopping-tool aus Quarzitgeröll, leicht verwaschen und patiniert. Der Fund wurde anlässlich einer geologischen Exkursion geborgen. Er lag im spärlich zutage tretenden Schotter der sogenannten Cabestany-Terrasse des altpleistozänen Têt. Deren Datierung wird von den dort tätigen Geologen mit mehr als 1 Mio. Jahre angegeben, könnte aber nach Art der Funde auch wesentlich älter sein. Faustkeile treten erst etwas häufiger in der deutlich jüngeren Butte-du-Four-Terrasse auf. Corneilla-la-Rivière „Plan den Bourgat“, Roussillon, S-Frankreich (Zeichnung: L. Fiedler).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 128: Abschlag und Chopping-tool aus „Basalt“. Die Entdeckung altpaläolithischer Artefakte im Laetoli-Gebiet geht auf die Expedition von Thomas Kaiser zurück (Fiedler, Kaiser & Schrenk 2005). Sie traten aus den dortigen oberen Ndolanya-Schichten durch die ständige Erosion an die Oberfläche. Später besuchte ich dieses Gebiet nochmals anlässlich der privaten Expedition Burgauer/Schwab. Der hier vorgestellte Abschlag zeigt Gebrauchsspuren in Form feiner, quer auf der distalen Kante verlaufender Riefen. Er muss grabend oder schabend benutzt worden sein. Das Chopping-tool trägt auf seinen Seiten Spaltmerkmale der bipolaren Ambosstechnik. Die Schneide des Artefakts wurde dagegen in freihändiger Abschlagtechnik erzeugt. Ihre symmetrische Position sowie zwei bis drei formkorrigierende Negative an der Kante weisen auf die beabsichtigte Werkzeugfunktion hin. Das Alter der Fundschicht wird mit etwa 2,5 Mio. Jahren angegeben. Laetoli-Steppe, Tansania (Zeichnungen: L. Fiedler).
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Wissenschaft als eine Art des fundierten Glaubens
förmigkeit des Nichts, in der eine ungeheure Energie plötzlich irgendwie losbricht. Aber ein Nichts, eine Gleichförmigkeit, schlummernde Energie, eine Störung darin, die zu einem Ausbruch führt, kann nur eine Henne sein, die urplötzlich Eier legt. Ohne Vorbedingung kann es nach den Denkmöglichkeiten unseres kognitiven Schädelinhalts kein „Nichts“ geben, das in einem „Nichts“ etwas auslöst. Es geht nicht anders; auch die „Henne“ kommt aus einem Ei und hat deshalb eine Mutter. Selbst das alte ostasiatische Modell eines unermesslichen Rads der Zeit, dass sich in seinem eigenen mythischen Selbst in einer nur wenig veränderten Wiederholung allen Seins dreht, ist ja ein „Etwas“, das in seinem Wesen und seiner Funktion nicht aus dem Nichts als ein Etwas da sein kann. Und als frühe Menschen irgendwann anfingen, über den Sternenhimmel, über die Erde und die ganze Natur sowie schließlich über sich selbst und
ihr eigenes Denken nachzudenken, haben sie schon das erkannt, was auch unsere Erkenntnisgrenze bedingt. Der Anfang von allem ist und bleibt nur in einem Mythos denkbar. Die erst seit einigen Jahrzehnten bekannten Nanobakterien sind offensichtlich die kleinsten Spuren von irgendeiner biologischen Ur-Lebendigkeit. Sie sind überall, in allen Dingen, auch im Mondgestein und in Meteoriten. Scheinbar ist auch der Keim des Lebendigen mit der Entwicklung der Materie zu Beginn des Kosmos verknüpft. Die sogenannten primitiven Völker der Erde wussten schon, dass alles lebendig ist: die Steine, das Wasser, die Berge, die Wolken und der Himmel. Die Aborigines Australiens wussten das schon, als Cook kam und noch nicht einmal ahnte, dass unsere biologischen Vorfahren Tiere waren. Ich nehme an, die Neandertaler wussten es ebenso; wussten es auf mythologische Art.
Wissenschaft als eine Art des fundierten Glaubens Wissenschaft ist nicht nur eine Sache des Abendlandes, denn die Mayas oder Chinesen beispielsweise hatten auch Wissenschaftler. Wissenschaftler sehen sich die Sachen der Welt genau an, analysieren sie und ergründen Ursache und Wirkung. Dabei versuchen sie möglichste Klarheit zu schaffen und benutzen oft die Mathematik, um in deren Sprache Verhältnisse und Fakten darzulegen. Was Wissenschaft aussagt, ist auf den Punkt gebracht und muss richtig sein. Ein Apfel und noch ein Apfel sind zwei Äpfel. Wissenschaft hinterfragt aber auch das scheinbar Faktische. Ein kleiner Apfel und ein großer Apfel sind auch ein kleiner und ein großer, also zwei, aber nicht Gleiche. Und wann ist ein faulender Apfel noch ein Apfel? Sind ein frischer Apfel und ein schimmeliger, fast schon unkenntlicher Apfel auch wirklich zwei Äpfel als reale, seiende Äpfel? Beinahe ja, wenn ich an eine ehemalige Gemüsehändlerin in La Tour Blanche denke. Da kommt zur reinen Mathematik also höchst subjektive Ansichtssache hinzu und zeugt von zwei unterschiedlichen Realitäten. Mathematik reduziert die Realität also auf einen kleinsten, ziemlich abstrakten Nenner. Das wirkt sich auf so viele statistische Berechnungen und Erkenntnisse aus, dass man sagen kann, Falschaussagen sind in jeder Sprache möglich – auch in der Mathematik. Und dabei
dämmert die Erkenntnis, dass es auch mit der ganzen Wissenschaft gelegentlich so ist. Wer glaubte, die Welt sei eine Scheibe, der irrte, obwohl ihm die Realität zeigte, dass jemand, der zu weit auf das Meer herausfuhr, vielleicht vom Winde noch weiter abgetrieben wurde, nicht mehr zurückkommen konnte. Er ist demnach bestimmt über den Rand der Scheibe ins Nirgendwo gestürzt. Wer in der Renaissance dann glaubte, die Erde sei eine Kugel, der irrte auch, denn sie ist (auch ohne Berge und Täler) keine absolute Kugel, sondern hat Buckel. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind demnach nicht unbedingt die reine Wahrheit, sondern versuchen sich der Wahrheit anzunähern. Und wenn sie nahe genug dran ist, kann man jedes Mal sagen, zuvor glaubten wir, aber nun … Selbstverständlich gibt es Fakten. Wenn bei einer Ausgrabung ein rotbrauner Abschlag gefunden wird und einige Meter weiter ein rotbrauner Kern, dann versucht man, ob dieser Abschlag sich anpassen lässt. Passt er nahtlos an eine Negativfläche, dann ist er zweifelsfrei von diesem Kern abgehauen worden. Passt er aber nicht dran, ist nicht zu behaupten, er stamme nicht von diesem Kern, denn beim weiteren Abbau des Rohmaterialstücks könnte die Passfläche des Abschlags ja auch zerstört worden sein. Das Faktische hat Erkenntnisgrenzen. 241
Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 131: Jungacheuléen-Faustkeil à bout coupée (154 � 105 � 40 mm). Bei einer Rast an einem ausgetrockneten und mit Seekreide gefülltem größeren Becken in der Murzuk-Sandwüste entdeckte ich ein bifaciell bearbeitetes Gerät, dass nur knapp 2 cm aus der Seekreide herausragte. Mit dem Taschenmesser entfernte ich die Seekreide auf einer Seite des Fundes und sah einen senkrecht im Sediment steckenden Faustkeil. Während der zuerst sichtbare Teil des Artefakts eine bräunliche Wüstenpatina trug, war der Rest unpatiniert und gleichsam produktionsfrisch. In unmittelbarer Umgebung des Fundes waren keine anderen Artefakte sichtbar, aber am Rande des Beckens, etwa 15 m von diesem Fund entfernt lag ein zweiter Faustkeil ähnlicher Form, allerdings nur mit einer leicht abgeschrägten Spitze. Faustkeile dieser Art gehören in Westeuropa nicht zum eigentlichen MTA, sondern zu einem ausklingenden Acheuléen der vorletzten Kaltzeit. Auch diese beiden Faustkeile sind aufgrund ihrer feinen Bearbeitung in das ausklingende Acheuléen zu stellen. A-97–7, nördliche Murzuk-Wüste, S-Libyen.
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Wissenschaft als eine Art des fundierten Glaubens
Foto 132: Faustkeil mit leicht abgeschrägter Spitze (166 � 101 � 39 mm). Dieses Gerät fand sich etwa 15 m entfernt von dem zuvor beschriebenen Faustkeil am Rande eines intermontanen Beckens und dürfte ein liegengebliebenes „Jagdmesser“ des späten Acheuléen sein. A-97–7, nördliche Murzuk-Wüste (etwa bei 26 °30 N/10 °00 E), S-Libyen.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 133: Faustkeil mit bräunlicher Patina (107 � 83 � 35 mm). Dieser Fund wurde in der ehemaligen Sammlung Hans Nettlau fotografiert. Er zeigt eine interessante Asymmetrie der Kanten, von denen eine betont gerade, die andere konvex verläuft. Die Zufälligkeit ist dabei ausgeschlossen, weil im Mittelpaläolithikum sehr präzise gearbeitet wurde und ein klares Formenverständnis vorhanden war. In Mitteleuropa kommen nämlich derartige Faustkeile in der sogenannten Keilmessergruppe ebenso wie im westeuropäischen MTA vor. Eine zufällige Konvergenz? Gafsa-Region, SW-Tunesien.
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Wissenschaft als eine Art des fundierten Glaubens
Foto 134: Herzförmiger, bräunlich patinierter Faustkeil (91 � 74 � 32 mm). Um Gafsa herum gibt es zahlreiche paläolithische Fundstellen. Vermutlich stammen einige der Objekte mit bräunlich-beiger Patina der Sammlung Nettlau aus Bereichen südlich der Stadt. Sie gehören alle in das frühe Mittelpaläolithikum. Gafsa, SW-Tunesien.
Der deutsche Anthropologe Hans Weinert schrieb Ende der dreißiger Jahre, es sei eindeutig, dass der Homo sapiens vom Homo neanderthalensis abstamme. 1990 erklärte uns die genetische Paläoanthropologie, wir stammen auf keinen Fall vom Neandertaler ab. Heute, ab 2015 sagt sie, auch Neandertaler seien in unserer Vorfahrenreihe vertreten. Kann man den Anthropologen oder ihrer Wissenschaft glauben? Meine Enkelin (11 Jahre alt) sagte: Nein, kann man nicht. Und als ich sie fragte, kann man Wissenschaft trauen, sagte sie: Ja, Wissenschaft sei doch ganz genau. Ich gab ihr darauf die Ansicht des großen deutschen Philosophen Ernst Cassirer zu Kenntnis, der die Wissenschaft unter die Weltbilder bzw. Mythen der Menschheit
einordnete. Das tat er, weil er schon vor Thomas S. Kuhn wusste, dass die paradigmatische Wahrhaftigkeit der Wissenschaft stets nur über bestimmte Epochen als wirklich wahr gilt, aber Menschen nicht immer an deren Wahrhaftigkeit festhalten können und dann irgendwann an neue Wahrheiten glauben. Man denke nur an die Lichtgeschwindigkeit, die vor einigen Jahren zweifelsfrei als eine konstante höchste aller Geschwindigkeiten galt. Kindergarten-Kids konnten das übrigens schon vorher nicht verstehen. Aber bitte, ganz ruhig, die Zeit des Homo erectus gab es tatsächlich. Und Faustkeile wurden auch von ihm gemacht. Und unter anderem beweist das, er konnte deshalb wirklich denken. 245
Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Paläanthropologie: Die Vermessung, Einordnung und Bewertung des Menschen Für uns Heutige sind die in diesem Buch vorgestellten Faustkeile reale Objekte, Fundstücke und Forschungsgegenstände – ähnlich wie beispielsweise versteinerte Ammoniten oder Stachelhäuter. Derartige Dinge werden durch Wissenschaft verständlich. Für die Gerätehersteller vor einigen hunderttausend Jahren waren Faustkeile dagegen erforderliche Werkzeuge, die einen Sinn innerhalb der Existenzsicherung hatten. Ihre Hersteller besaßen eine Vorstellung von der damit zu erledigenden Arbeit, vom Nutzen dieser Arbeit für ihr Dasein und ebenso vor allem, was zur Herstellung dieser Geräte notwendig war – von der Rohmaterialbeschaffung bis zur speziellen Steinbearbeitungstechnik sowie über die zu realisierende Gestalt. Die damit verbundene umfassende gedankliche Leistung, Vorstellungskraft und Umsetzungsfähigkeit ist mit dem leider noch populären Bild des primitiven, fellbekleideten und wenig geistvollen Höhlenmenschen nicht vereinbar. Wie kommt es aber dazu, dass das Bild des dummen Steinzeitmenschen überhaupt so populär wurde? Hätten die gefundenen Steinartefakte und Feuerstellen nicht die Voraussetzung dafür sein müssen, den frühen Menschen – in seinen Vermögen, die Sachen der Welt sachgerecht instrumentalisieren zu können – als unseren intelligenten Vorfahren zu verstehen? Eine Grundlage für die Blödianisierung des Urmenschen kommt aus der gesellschaftlichen Stimmung des 19. Jahrhunderts. Die ersten fossilen Menschenfunde erregten die Gemüter, weil sie gegen die wörtlich verstandene Schöpfungsgeschichte des christlichen Abendlandes sprachen. Man wollte diese Überreste nicht als Belege früher Menschen akzeptieren, sondern bestenfalls als tierhafte „Affenmenschen“, die wie andere Primaten ein Nebenprodukt dieser Schöpfung waren. Der Gedanke einer natürlichen Evolution des Menschen erschien vielen Zeitgenossen unverständlich. Auch bei den Fachgelehrten bedurfte es einer Gewöhnung. Allerdings gelang das nicht allen mit der Untersuchung dieser Knochen beschäftigten Anatomen und Anthropologen in vollem Umfang. Die falsche Vorstellung findet sich weniger bei den ersten Ausgräbern und Erforschern von Steinartefakten, sondern bei den Anatomen und physischen Anthropologen des 19. Jahrhunderts. Sie wa246
ren erfahren im Vermessen von Affenskeletten, geraubten Gebeinen verstorbener oder ermordeter australischer Ureinwohner und Indianer oder Hingerichteter. Gemäß des kolonialen Hochmuts bezüglich einer Überlegenheit europäischer Rasse und mit der Überzeugung eines radikalen Darwinismus stellten sie den Homo erectus als Pithecanthropus (= Affenmensch) und den Neandertaler als krummbeinigen Frühmenschen (Homo primigenius) dar und verglichen diese mit Gorillas „in den niederen, darin noch ganz tierhaften Zuständen der Menschheit“ (Prof. Dr. med. H. Klaatsch 1920, S. 160). Derartige wissenschaftliche Aussagen passten haargenau in die rassistische Beurteilung der Kolonialvölker als nämlich nicht vollwertig entwickelte Menschen sowie in den Glauben an die schicksalhafte Bestimmung der nach Fortschritt strebenden westlichen Völker und ihrer Zivilisation. Hinter dieser Weltanschauung stand verborgen das Herrschaftsstreben über Natur und Mensch sowie die Gier nach wirtschaftlicher Macht und Gewinn. Aber vermutlich war das den Anatomen und Anthropologen jener Zeit gar nicht bewusst. Ihnen genügte ihr Ansehen in der Gesellschaft. Ihre Wissenschaft war staatstragend, ideologisch systemstützend. Dem interessierten Bürger vermittelten sie das Gefühl, etwas Besonderes unter allen übrigen Lebewesen der Erde zu sein und zur „Krone der Schöpfung“ zu gehören. Und so wie man in Zoos mit Vergnügen „wilde“ Orang-Utans oder Schimpansen betrachtete, so amüsierte man sich oder erschauerte behaglich bei der Betrachtung rekonstruierter Urmenschenskelette oder danach geschaffener Gemälde und Karikaturen blöd dreinschauender oder blutrünstig die Zähne bleckender „Vormenschen“ aus dem Diluvium/Pleistozän. Dem gegenüber standen aber auch seit dem Ende des 19. Jahrhunderts viele ausgewogene, respektvolle und verantwortungsbewusste Darstellungen des frühen Menschen. Hier sei beispielsweise G. Wandel genannt, der entsprechende Skulpturen und zahlreiche Graphiken hinterlassen hat. Die physische Anthropologie steht als Naturwissenschaft auch heute noch in dem Dilemma, durch Messen, Bestimmen und Beurteilen zu übergreifenden Aussagen kommen zu müssen. In dieser
Das Ding hat jemand gemacht, der dein eigener Vorfahre war
Tradition muss sie sich aber den Vorwurf gefallen lassen, dass sie damit auf das klassifizierende Sortieren fossiler Menschenreste zielt. So sind manche Aussagen aus dem technologisch spitzenmäßig gerüsteten und hochangesehenen Max-Planck-Institut in Leipzig wohl als Beleg eines immer noch martialischen und eigentlich gestrigen Menschenbildes zu verstehen. Der Leiter dieses Instituts äußerte sich in Fernsehbeiträgen und Interviews des Öfteren in ziemlich unqualifizierter Weise: „In Museen und Fachbüchern“, sagt Hublin, „komme der Neandertaler inzwischen meist wie ein völlig moderner Mensch daher“. Direktor Hublin dagegen tritt dafür ein, den Blick für die Unterschiede zu schärfen. Deshalb hat es ihn auch gestört, wie begeistert vielerorts gefeiert wurde, dass noch im heutigen Europäer Erbgut des Neandertalers fortlebt. „Die Leute haben daraus eine rührende Lovestory gemacht“, spottet er. Dabei lehre die Geschichte, meint er, dass auch Frauenraub und Vergewaltigung am Anfang genetischer Vermischung stehen könnten. Viel zu friedfertig stellten sich auch viele Forscher das Zusammenleben der beiden Rivalen Homo sapiens und Neandertaler vor. Hublin zumindest hält es für wahrscheinlich, dass es der moderne Mensch war, der dem europäischen mittelpaläolithischen Menschen das Verderben brachte. Eines aber habe er inzwischen gelernt: „Wenn ich so etwas öffentlich sage, dann ernte ich wütende Proteste.“ (Johann Grolle, Spiegelredakteur, DER SPIEGEL 36/2011, Seite 118–120).
Das Zitat steht am Schluss eines Beitrags, der ironisch mit „Rivalen um die Weltherrschaft“ betitelt ist und damit einerseits die „Begegnung“ von Neandertalern mit dem „modernen Menschen“ vor rund 40 000 Jahren meint und andererseits die Machtausübung des mit sagenhaften Geldmitteln geförderten Max-Planck-Instituts aus Leipzig innerhalb der globalen anthropologischen Wissenschaft. Diese Ferne vom Bemühen um ideologische Ausgewogenheit und Distanz zu narrativen Denkmustern ist in dem vorgestellten Beispiel eigentlich nicht zu überbieten. Aber offensichtlich beeindruckt sie diejenigen, die hinter der Finanzierung einer solchen Einrichtung stehen. Der Ausweg aus dem Dilemma der traditionellen Paläoanthropologie besteht darin, sich auch der Kulturanthropologie zu öffnen und darin Kompetenz zu erlangen. Das sehen glücklicherweise schon viele Köpfe dieser Fachrichtung so. Richtig erfrischend wäre auch eine Abhandlung, in der endlich einmal nicht die anatomischen Abweichungen von Schädeln und deren Details, beispielsweise von nordafrikanischen archaischen Sapienten und europäischen „Neandertalern“ im Vordergrund ständen, sondern explizit ihre Ähnlichkeiten herausgestellt würden. Das wäre neu und würde zu überraschenden Ergebnissen führen – vielleicht etwa so: „Übereinstimmung zu 95 % und damit mehr als zwischen modernen Amerikanern und modernen Japanern.“
Das Ding hat jemand gemacht, der dein eigener Vorfahre war Denkmäler der kulturellen Vergangenheit stehen in allen zivilisierten Ländern der Welt unter Schutz. Es geht dabei nicht nur um öffentlich sichtbare große Bau- und Kunstdenkmäler, sondern beispielsweise auch um Zeremonien, Bücher, Möbel, Bilder, Kleinplastiken, Keramiken und schließlich archäologische Funde. Es wäre ganz falsch zu denken, Alltagsgegenstände fielen nicht unter diesen Denkmalbegriff, denn Kultur und Identität einer Bevölkerung drückt sich nicht nur in prächtigen und einmaligen Objekten aus, sondern auch in den Dingen des alltäglichen Umgangs. Die 1954 beschlossene Haager Konvention hat das noch gar nicht berücksichtigen können, weil der Zweite Weltkrieg mit seinen Flächenbombardements derart viele bewusste und ge-
zielte Zerstörungen mit sich gebracht hatte, dass man zunächst nur an so etwas wie Kirchen, Schlösser und stadtbildbestimmende Bauten gedacht hatte. Bei archäologischen Funden besteht Einigkeit über den Schutz bedeutender, hervorragender und einzigartiger Objekte in Museen und anderen Sammlungen. Aber was ist mit einer einfachen Bronzenadel, einer Feuerstein-Pfeilspitze oder einem Faustkeil? Sind diese Dinge auch für die Bevölkerungen von Ländern oder Regionen wichtig, die bisher nur gelegentlich Interesse daran zeigten? Öffentliches Interesse ist selbstverständlich in den allgemeinen Zeitgeist und damit in den jeweiligen Bildungsanspruch einer Epoche eingebunden. Da 247
Abb. 129: Oldowan-Artefakte, Ausgrabungsfunde Thomas Kaiser. 1 Chopper, 2 ‚Ausgesplittertes Stück‘ der bipolaren Ambosstechnik, 3 Minibiface, 4 Kratzer, 5 Schaber, 6–7 Bohrer, 8 Abschlag mit Bucht, 9 Polyeder; alle Funde aus Quarz bis auf N °7 Basalt. Makuyuni, Tansania (Zeichnungen: L. Fiedler 2005).
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Abb. 130: Oldowan-Artefakte aus Ostalgerien: 1–2 ventral retuschierte Abschläge, 3 Chopping-tool, 4–5 Chopper. 83 km südlich El Adeb Larache an der Piste von In Amenas nach Zaoutallaz, algerische Ostsahara (Zeichnungen: L. Fiedler 1986).
Abb. 131: Pic oder gedrungener, einseitig bearbeiteter Faustkeil. Unter den Geröllgeräten Marokkos sind einflächig bearbeitete, faustkeilähnliche Werkzeuge nicht selten. Sie kommen schon sehr früh vor und halten sich sporadisch bis zum Ende des Mittelpaläolithikums. Man kann also Einzelfunde nicht per se als Zeugnisse eines Protoacheuléen interpretieren. Der hier vorgestellte Fund kommt von einem Fundplatz, den Pierre Biberson mehrfach erwähnt oder beschrieben hat, nämlich aus dem altpleistozänen, geröllreichen Schotter des Gharb (früher Rharb). Heute ist die Fundstelle komplett ausgekiest. Auf Grund der Stratigraphie und Geomorphologie konnte Biberson den Schotter auf etwa das gleiche Alter wie dasjenige der untersten Schicht (Bed 1) der Olduvai-Schlucht datieren. Die Artefaktformen dieses Fundplatzes lassen vermuten, dass spitz zugearbeitete Chopping-tools, cleaverartig behauene Abschläge und Pics, wie der hier vorgestellte, gemeinsam bei der Entstehung erster wirklicher Faustkeilformen formale und technologische Vorbilder waren. Derart „Entwickelte“ wurden hier ebenfalls in demselben Flusskies mehrfach gefunden. Souk-el-Arba-du-Rharb, NW-Marokko (Zeichnung nach Fiedler 1993 b).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 132: Protofaustkeil und Bohrer. Wie der zuvor beschriebene Pic kommen auch diese Geräte aus dem altpleistozänen Schotter des Gharb. Die Grundform des Biface war ein massiver Geröllabschlag, dessen Ventralfläche relativ eben war. Seine Bearbeitung lässt einerseits noch eine Nähe zu spitzen Chopping-tools erkennen, aber andererseits sind durch große Abschläge die Längskanten bis zum Talon des Gerätes herunter bearbeitet worden, was dem Artefakt eine gestreckte Faustkeilgestalt gab. Kleingeräte, wie der darüber abgebildete Bohrer, sind ein wichtiger Bestandteil der Gerätespektren seit dem Oldowan und werden erst im Jungacheuléen von größeren, ‚weich‘ retuschierten Formen aus Abschlägen abgelöst. Souk-el-Arba-du-Gharb, NW-Marokko (Zeichnung nach Fiedler 1993 b).
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Das Ding hat jemand gemacht, der dein eigener Vorfahre war
Abb. 133: Einfacher Cleaver aus einem Geröllabschlag. Manche großen Abschläge, die als Cleaver zu gebrauchen waren, mussten anfänglich nicht weiter zugerichtet werden. Aber störende Ecken oder Ausbuchtungen der Grundform konnten mit wenigen Schlägen entfernt werden. Die Vorzüge solcher Bearbeitung wurden schnell deutlich und so entstanden die ersten „echten“ Cleaver – wie das hier gezeigte Artefakt. Souk-el-Arba-du-Gharb, NW-Marokko (Zeichnung nach Fiedler 1993 b).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 134: Uni- und bifaciell behauene Protofaustkeile. Souk-el-Arba-du-Gharb, NW-Marokko (Zeichnung nach Fiedler 1993 b).
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Abb. 135: Polyeder in zwei Größenklassen. Souk-el-Arba-du-Gharb, NW-Marokko (Zeichnung nach Fiedler 1993 b).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 136: Zwei Polyeder der mittleren Größenklasse. 1 Souk-el-Arba-du- Gharb aus Quarzit; 2 Amguid aus ‚Feuerstein‘ (Zeichnungen: L. Fiedler u. Beate Kaletsch).
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Abb. 137: Felsbild eines Steinschleuderers der ‚Jägerischen Periode‘ aus dem Messak, Wadi ‚Imrâwen‘. Obwohl diese Darstellung aus einer sehr viel jüngeren Periode der Steinzeit stammt, zeigt sie die Verwendung der Steinschleuder bei der Jagd. In der über Schulter und Armbeuge gehängten Tasche trägt der Jäger weitere Schleudersteine (Polyeder). Der Gebrauch solcher Projektile reicht vom Oldowan bis zum Ende des Mittelpaläolithikums. (Zeichnung gedreht und leicht verändert nach Jean-Loïc Le Quellec 1998, Art rupestre et préhistoire du Sahara. Bibliothèque scientifique Payot, Paris).
Foto 135: Elliptischer Cleaver (88 � 67 � 24 mm) aus einem Abschlag des bunten Messak-Quarzits. Den Herstellern der Geräte des Fundareals war die Farbigkeit des Ausgangsgesteins offenbar wichtig, weil sonst der weite Transportweg von etwa 50 km nicht verständlich ist. Das Werkzeug ist, wie im Jungacheuléen üblich, beidkantig bifaciell behauen. A-02–14, nördliche Murzuk-Wüste. S-Libyen.
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Foto 136: Rundlicher Cleaver aus Messak-Quarzit (119 � 99 � 23 mm). Die Grundform war ein großer runder Zielabschlag von einem speziell dafür präparierten Protolevallois-Kern. So ist die Dorsalfläche des Cleavers (rechte Ansicht) im zentralen Bereich von Abschlagnegativen der Kernpräparation überdeckt, die randlich von den Bearbeitungsspuren der Kanten gekappt werden. Die Ventralfläche (links) ist an der Basis komplett und von dort ausgehend auch an den Kanten hoch bis zur Schneide überarbeitet worden. Die runde Form des Cleavers war schon zu Beginn der ersten Arbeitsschritte so geplant und wahrscheinlich für eine Aufgabe konzipiert, die sich von der unterschied, die ebenfalls im Jungacheuléen mit geradschneidigen Cleavern verrichtet wurde. A-02–6, nördliche Murzuk-Wüste, S-Libyen.
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Foto 137: U-förmiger Cleaver mit leicht schräg stehender Schneide (131 � 89 � 35 mm). Dieser breitschneidige Faustkeil wurde aus einem Kombewa-Abschlag hergestellt. Er ist an beiden Kanten bifaciell ‚hart‘ behauen, fand sich aber auf einem Platz, an dem nur Jungacheuléen vorhanden waren. Außerdem spricht die konsequente Bearbeitung für diese Zeit, denn viele ältere Cleaver sind eher summarisch in Form gebracht worden. A-02–12, Murzuk-Wüste, S-Libyen.
selbst einige Fachleute beim Anblick eines leicht abgerollten Faustkeils unsicher werden können, ob es sich dabei um ein Artefakt handelt, ist bisher nicht zu erwarten, dass ein derartiges Objekt in der breiten Bevölkerung seine Würdigung findet. Denn in den Schulen wird die „Vorgeschichte“ von diesbezüglich meistens nicht speziell kenntnisreichen Lehrkräften nach dem Lehrplan in maximal vier Wochenstunden – wenn überhaupt – abgehandelt. Das war und ist aber nicht in allen Zeiten und Ländern so. Vielleicht liegt es bei urgeschichtlichen Objekten daran, dass sie so uralt sind und die Menschen sich nicht mit den „blöden“ Steinzeitmenschen
identifizieren wollen. „Steinzeit – Nein Danke“ hieß in Deutschland einmal das Motto der Atomindustrie und war als Autoaufkleber weit verbreitet. Und die ebenfalls weit verbreitete Comicfigur von Fred Feuerstein ist zwar lustig, aber zugleich auch abstrus und lächerlich, denn sie führt uns ganz gezielt vor, wie zivilisiert, technisch fortschrittlich und luxuriös wir moderne Menschen doch sind – Steinzeit, Nein Danke. Und jeder Konsument derartiger Witzfiguren empfindet sich dabei in einer behaglichen Hochmütigkeit. In der unterhaltsamen Phantasiewelt des Fred Feuerstein soll ja nur die spießige Konsumwelt der meisten Durchschnittsbürger bestätigt und gefestigt werden. 257
Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 138: Mandelförmiger Faustkeil (97 � 51 � 28 mm). Die braune Verwitterungspatina stellt den Fund in das mittlere Acheuléen. Damit geht auch die formaltypologische Einordnung bestens einher. Sie kann aber nicht bedeuten, dass mandelförmige Faustkeile ausschließlich in den mittleren Abschnitt der Faustkeilkultur gehören, aber dort ist der höchste Anteil dieser ovalen Typen gegenüber älteren und jüngeren Zeitstufen festzustellen. Gafsa NW, Südwesttunesien.
Tut derartiges Machwerk aber nun tatsächlich unseren frühen Vorfahren Unrecht, oder kann es in die Reihe phantasiegeladener, nur unterhaltsamer Science-Fiction gestellt werden? Ich bin mir nicht sicher, denn ich habe mir Fred Feuerstein im TV auch angesehen und mich amüsiert – allerdings mit meinem authentischen Steinzeitwissen im Hintergrund. Und so bin ich tatsächlich unbeschadet davongekommen! Mein Nörgeln über den Bildungsmangel (der durch das Konsumstreben gefördert wird) habe ich aber behalten.
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Und deshalb möchte ich gerne bewusstmachen, dass die in diesem Buch gefeierten Faustkeile Zeugnisse unseres Millionenjahre dauernden kulturellen Werdens sind. Und übrigens ist wirklich jeder Faustkeil von einem persönlichen Verwandten jedes einzelnen heute lebenden Menschen gemacht worden. Seine Gedanken sind darin verewigt. Man braucht sich dafür nicht zu interessieren. Aber man sollte die Würde dieser Zeugnisse nicht missachten.
Die ansprechende Form
Die ansprechende Form Es gibt in der Natur und in der sie nachahmenden bildenden und architektonischen Kunst Formen, auf die wir Menschen uns innerlich angesprochen fühlen. Das ist beispielsweise der Kreis, die Umrisslinie vielerlei Früchte, der Sonne und des Vollmondes sowie Flecken auf Schmetterlingsflügeln oder der Pupille im Auge. Viele Früchte und Blätter haben elliptische, ovale, herzförmige oder lanzettähnliche Formen: Wassertropfen, Oliven, Pflau-
men, Birnen, Nüsse usw. Auch die Blätter mancherlei Pflanzen lassen sich so beschreiben (und haben eine mathematisch darstellbare Ordnung). In der antiken und mittelalterlichen Ornamentik sind sie ebenso häufig zu finden, wie im Kunstgewerbe, in Möbel- und Architekturformen. Derartige Konturen beobachten wir im stilvoll verlegten städtischen Pflaster ebenso wie im Design von Schmuck oder Modeartikeln. Ist das ein bloßes Ge-
Abb. 138: Chopping-tool und gestreckter Faustkeil des Altacheuléen. Fast alle Werkzeugarten des Oldowan waren im Acheuléen weiterhin Tradition: unstandardisierte Kratzer, Polyeder, Diskoide, Chopper und Chopping tools. Nur Cleaver und Faustkeile sind unter den Steinwerkzeugen neu. Der hier gezeigte Faustkeil wurde aus einem kräftigen Abschlag hergestellt, dessen Ventralfläche nur an einer Kante flächig behauen wurde; die andere passte schon von der Abschlag-Grundform her. Trotz der summarischen Zurichtung mit etwa 20 Abhieben, ist das Gerät am dorsalen Grat der Spitze verdünnt worden. Damit zeigt sich, dass der frühe Homo erectus s. l. durchaus ein genaues, für die Funktionalität des Werkzeugs entscheidendes Formenverständnis hatte. Nur die Ästhetik des Jungacheuléen fehlte in dieser Tradition noch. Amguid-W, Zentralalgerien (Zeichnungen: L. Fiedler).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 139: ‚Weich‘ behauener Faustkeil des jüngeren Acheuléen. Aufsammlung Pachur, Zentralsahara (Zeichnung: L. Fiedler).
fallen an einfachen harmonischen Mustern oder ist es möglich zu behaupten, wir Menschen hätten ein Bedürfnis nach dem Anblick von Objekten, die einer grundsätzlichen, natürlichen und nicht weiter zu abstrahierenden Gestaltung entsprechen? Eigenartigerweise besitzen schon Steinartefakte, die von Menschen lange vor den Neandertalern hergestellt worden sind, derartige Konturen. Bei den ältesten Faustkeilen, die vor mehr als eineinhalb Millionen Jahren gemacht worden sind, lässt sich erstmal ein andeutungsweises Bestreben nach formaler Einfachheit und Symmetrie feststellen. Auch die kantigen Polyeder dieser Zeit vermitteln die Ahnung, dass eine runde Frucht bzw. die Kugel dafür ein gewisses ‚Vorbild‘ waren. Im Laufe der Jahrhunderttausende verfeinerten die Werkzeughersteller ihre Kunst, so dass im Jungacheuléen
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und Mittelpaläolithikum nicht selten Faustkeile dargestellt wurden, denen wir auch heute eine überzeugende formale Schönheit nicht absprechen können (Abb. Titelbild, ein mandelförmiger Faustkeil aus dem Jungacheuléen). Experimentierende Archäologen müssen meistens einige Jahre lang üben, bis sie es schaffen, die Schlagtechnik der mittelpaläolithischen Menschen so weit zu beherrschen, dass sie in der Lage sind, einen gleichmäßigen herz- oder mandelförmigen Faustkeil herzustellen, der denen entspricht, die schon vor 300 000 oder 50 000 Jahren entstanden sind. Aber über den Ehrgeiz hinaus, so etwas zu können, ist es zugestandenermaßen auch immer die Freude am Gelingen der schönen Form, der diese Experimentatoren antreibt.
Der gelungene Faustkeil ist Kunst
Der gelungene Faustkeil ist Kunst Es ist kaum vorstellbar, dass die ersten Hersteller von Faustkeilen vor knapp 2 Mio. Jahren ein ästhetisches Vergnügen an einem gelungenen Faustkeil hatten. Denn ‚gelungen‘ bedeutete nur, dass er funktionstüchtig sein musste. Wenn es einem Steinschläger gelang, so ein Instrument mit wenigen sieben bis fünfzehn Schlägen aus einem großen Kiesel oder einem plattigem Stein zu machen (Fotos 22 u. 43, Abb. 160 u. 174), dann war er sicher nicht unzufrieden mit seiner Leistung. Vielleicht sahen dabei auch seine Gruppenmitglieder in ihm einen starken, lebenstüchtigen Menschen. Doch wäre es nicht denkbar, dass mit dem Eindruck von Stärke und Lebenstüchtigkeit auch ein Gefühl von Qualität dämmerte, dessen Ausdruck ein Objekt gelungener Arbeit ist, wie vielleicht ein geeigneter Wühlstab, ein großer scharfer Abschlag oder ein schwerer spitzer Faustkeil? Vielleicht lag es an diesem Gefühl, mit dem die Qualität von Faustkeilen im Laufe von hunderttausenden von Jahren verbessert wurde. Wer auch immer einen Faustkeil zurechtschlug, es war seine
Absicht, ein gutes Exemplar herzustellen. Diese Fähigkeit, praktische Güte zu beurteilen, war sicher in jeder der damaligen Menschengruppen irgendwie vorhanden. Selbstverständlich war dabei nie Erfindergeist, Innovation oder die Alternative zum Bisherigen im Spiel, denn die Garantie für Existenz war ja das Bewährte, die Tradition. Dafür ist die unendlich langsame Entwicklung der Steingerätetechnik der eindeutige archäologische Beweis. Von den ersten sehr groben bis zu den ersten, serienhaft gezielt symmetrischen Faustkeilen vergingen etwa eine halbe Million Jahre! Dass das vor allem eine Qualitätsverbesserung war, wird deutlich, wenn man sich jeweils ein Bild eines Urfaustkeils und eines des Altacheuléen vor Augen führt (Fotos 21, 44, 97, Abb. 168–169 u. 178). Man kann es vielleicht so ausdrücken: Es war ein langer Weg vom Willen, ein einfach nur richtig funktionierendes Gerät herzustellen, bis zur traditionellen Realisierung formal ‚richtiger‘ Werkzeuge. Richtig wurde es dann vor etwa 1,3 Mio. Jahren,
Abb. 140: Mit ‚weichem‘ Schlagobjekt bearbeiteter Faustkeil des Jungacheuléen. Nördliche Murzuk-Wüste, S-Libyen (Zeichnung: L. Fiedler).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
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Der gelungene Faustkeil ist Kunst
wenn ein Faustkeil zwei gewellte, aber scharfe Kanten, eine ebenso scharfe Spitze, eine symmetrische Verteilung seines Volumens und eine etwa keilförmige Seitenansicht hatte. Damit war nicht nur eine funktionale, sondern zugleich damit eine formale Qualität erfüllt (Abb. 168–176, Foto 108). Jedes erwachsene Gruppenmitglied trug damit das Bild eines formal richtigen Faustkeils im Kopf, das real darzustellen immer dann erforderlich war, wenn es in einer existentiellen Situation angebracht oder sogar notwendig wurde Mit der praktischen Realisierung eines geistig vorhandenen Bildes und Bemessen, wie gut oder passabel es auch jeweils verwirklicht worden ist, entwickelte sich zwangsläufig auch etwas, das man ästhetisches Bewusstsein nennen kann. Es ist dabei ganz eindeutig mit dem der Funktionalität verknüpft. Beides sind ebenfalls Qualitätsbemessungen bei heutigen Gebrauchsgegenständen: Essbestecken, Vasen, Kleidungsstücken, Motorrollern oder Möbeln. Der Schritt vom Kunsthandwerk zum Kunstwerk ist dabei ein fließender. Im Jungacheuléen finden wir schließlich vereinzelte Faustkeile, deren formale Vollendung deutlich über eine bloße Funktionalität hinausgeht (Foto 62). Da das Wesen von Kunst nicht alleine Funktionalität, formale und herstellungstechnische Qualität, sondern auch ihr Ausdruck ist, können wir
nun sagen, in jedem fertigen Faustkeil wird auch die kulturelle Identität der Hersteller, ihr Wissen um existentielle Aufgaben sowie deren soziale Einbindung und ihr individuelles handwerkliches Leistungsvermögen zum Ausdruck gebracht. Möglicherweise stößt das soeben Gesagte bei einigen Leserinnen oder Lesern auf ein gewisses Unbehagen und erweckt Zweifel, ob die womöglich noch behaarten Urmenschen tatsächlich unter dem Aspekt eines beabsichtigten Künstler-Daseins gesehen werden können. Das ist auch nicht die Absicht hinter den voraufgegangenen Zeilen. Niemand dieser Vorfahren konnte ein Bewusstsein von dem haben, was wir heute unter Kunst verstehen. Es gab keinen Kunstbetrieb und keine Museen, keinen Kitsch und keine anspruchsvolle Malerei. Aber jemand, der heute das Essen bereitet und für andere auf den Tisch bringt, den passenden Wein dazu auswählt und gefälliges Porzellan hingestellt hat, wird kaum Kunst dabei im Kopf haben. Dennoch sind das Bereiten und geschmackvolle Darbieten von Speisen selbstverständlich etwas, was in den Bereich des künstlerischen Tuns gehört. Es ist ein urmenschliches Bedürfnis und gehört zu unserem Wesen. Die Entwicklung der Faustkeile und des ästhetischen Empfindens bestätigen, dass das auch beim Urmenschen so war.
Abb. 141: Allgemeingültiges Typenspektrum des Jungacheuléen am Beispiel ägyptischer Funde: 1 retuschierte Levallois-Spitze, 2 Miniaturfaustkeil, 3 Levallois-Klinge, 4 einfacher Schaber, 5 Levallois-Abschlag, 6 Faustkeil. Diese Geräte fanden sich tatsächlich alle zusammen auf einer Fläche von etwa 50 � 50 m, so als habe jemand vor 350 000 Jahren den Einfall gehabt, die bedeutsamsten Leittypen unter den Steinwerkzeugen seiner Zeit dem Wissenschaftler, der sie später finden sollte, als Musterkatalog zu präsentieren. Leider war ein so höchst wissenschaftlich orientiertes Wesen nicht unter allen damaligen Menschengruppen in Afrika, Asien oder Europa die Ausnahme, denn in der damaligen Realität gab es selten einen Anlass, diese Werkzeuge zusammen für spätere Akademiker an einem Ort zu produzieren. Das lag einfach daran, dass nicht alle dieser Typen an jedem Ort gebraucht wurden und manchmal, wegen nicht verfügbarem Rohmaterial, auch gar nicht herstellbar waren. Und wenn sie sich doch finden, wie etwa bei Grabungen in einer sehr lange benutzten Kalksteinhöhle in der südlichen Dordogne, dann liegt es nicht daran, dass uns eine komplette Visitenkarte ihrer Leistungsfähigkeit abgegeben werden sollte, sondern daran, dass solche Stationen als vorübergehender Unterschlupf jahrhundertelang zu den verschiedensten Anlässen aufgesucht wurden und so am Ende ein Steingerät-Inventar des ‚Typischen Jungacheuléen‘ zusammengekommen ist. Und selbstverständlich sind die hier vorgestellten Typen nicht die einzigen, die gemacht werden konnten, denn die Umwelt-, Sozial- und Traditions-Situationen erforderten in ihrem gemeinsamen komplexen Milieu des Daseins, weitere Möglichkeiten der handwerklichen/technologischen Existenz zu kennen oder – in Ausnahmen – auch zu improvisieren.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 139: Faustkeil aus Jaspis (150 � 78 � 41 mm). Das Objekt fand sich in einer Zone sehr spärlicher Artefaktverteilung, so dass anzunehmen ist, es gehörte nicht zu einem auf längere Zeit belegten Lagerplatz, sondern zu einem Jagdlager. Neben einem sehr viel kleineren Biface mit geraden Kanten gab es nur diesen größeren Faustkeil. Doch das vorhandene Inventar, ansonsten mit Levallois-Produkten, einem Schaber und einer Spitze, reicht aus, den Fund eindeutig dem Jungacheuléen zuweisen zu können (siehe auch Abb. 217). Ostsahara, nahe der ägyptisch-libyschen Grenze.
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Nackt oder wie der antike Herkules oder doch richtig angezogen?
Nackt oder wie der antike Herkules oder doch richtig angezogen? Man kommt nicht daran vorbei, Urgeschichtsforschung bedarf der Vermittlung nach Außen, wenn sie Anerkennung finden will. Schon am Anfang meiner Kasseler Zeit (1979) verfasste ich ein Führungsbüchlein zur Altsteinzeit. Da gehörten dann auch Rekonstruktionen des altsteinzeitlichen Lebens hinein. Ich zeichnete also einen AcheuléenMenschen, der gerade dabei war, einen Faustkeil anzufertigen. Ganz nackt hätten die damaligen Menschen in Mitteleuropa wohl nicht auf Dauer überleben können. Die kleinen Bohrer von Bilzingsleben implizieren, dass Tierhäute zum Zweck des „Nähens“ damit perforiert worden sind. Also zog ich den Mann mit einer Art von Wams an, der aus Lederteilen an den Schultern mit grober Naht zusammengesetzt war. Und Mokassins sollte er auch tragen, so in Art von zugeschnittenen Lederbeuteln und mit Schnürsenkeln (Abb. 112). Alles Phantasie. Aber den Urmenschen wie den Herkules im Park von Kassel mit umgehängtem Löwenfell auszustatten, behagte mir ganz und gar nicht. Der „Wilde Mann“ mit Keule à la Herkules hatte lange genug das Bild unserer frühen Vorfahren geprägt. So war der jedoch ganz bestimmt nicht gekleidet. Und die Keule zum Tot-
schlagen der Rivalen, Bären oder Mammute war auch nur ein Relikt antiker Supermann-Mythen. Neuerdings färbt die Kleidung des spätneolithischen Ötzi stark auf Rekonstruktionsversuche vom Leben der Neandertaler und anderer Urmenschenarten ab. Das ist besser als das Herkules-Vorbild, weil auch Ötzi teilweise lederbekleidet war und in den Hochalpen – also unter „periglazialen“ Bedingungen – herumlief. Und jungpaläolithische Menschen könnten sehr ähnlich angezogen gewesen sein. Vielleicht auch Neandertaler in etwas einfacherer Art? Doch schleicht sich hier nicht der Gedanke ein, Neandertaler seien „primitiv“ gewesen? Hätten sie 300 000 Jahre lang unter zumeist wirklich vollkaltzeitlichen Bedingungen in Europa und Vorderasien ohne Kleidung leben können? Mammute und Wollnashörner brauchten eine dichte Behaarung als Kälteschutz. Menschen mussten ihren Kälteschutz selbst herstellen. Natürlich weiß man von den Feuerlandindianern, dass sie nicht nähten, aber doch Umhänge aus dicken Guanako-Fellen trugen. Ähnlich schützten sich die Aborigines in Südaustralien mit Känguru-Fellen in den dortigen Wintern. Aber so kalt, wie in den Eiszeiten Europas wurde es in den ge-
Abb. 142: Herzförmiger Faustkeil mit flacher Unterseite. Das ist ein kennzeichnender Typ des Mittelpaläolithikums in der Tradition des Acheuléen sowohl in Europa als auch in Nordafrika. Er ist immer mit ‚weichem‘ Schlagobjekt bearbeitet; manchmal ist der Talon weniger sorgsam gestaltet als die Kanten. Wahlen, Mittelhessen (Zeichnung: Karin Fiedler).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 143: Dreieckiger Faustkeil des westeuropäischen Mittelpaläolithikums. Dieser Typ gilt als Leitform des MTA (Moustérien de tradition acheuléenne). Entgegen der Meinung meiner meisten Kollegen halte ich diese Erscheinung nicht für eine separate Tradition innerhalb Zeit der Neandertaler, sondern lediglich für eine durch multiple Situationen bedingte Ausprägung der aus Stein gemachten Werkzeuge – also Größe, Form und Qualität des verfügbaren Rohmaterials, besondere Ereignisse der Subsistenz, Aufenthaltszeit in einer Gegend, Gruppenzusammensetzung usw. Dabei schließe ich aber nicht aus, dass sich in Gruppen, die weit entfernt voneinander leben, individuelle Eigenheiten entwickeln können, die dem heutigen Archäologen als bedeutsame kulturelle Unterscheidungsmerkmale erscheinen, den damaligen Menschen aber eher nebensächlich waren. Laussel, Dordogne (Abb. nach F. Naber 1974).
nannten Ländern doch nicht: keine Eiskeile, keine Kryoturbation, kein Permafrost bis in 35 m Tiefe! Es nützt nichts, wir haben uns den Homo erectus des Nordens in Pakefield und Happisburgh
vor knapp 1 Mio. Jahren bekleidet vorzustellen. Und die mittelpaläolithischen Menschen stammen ja von ihm ab.
Ein Faustkeil auf der Briefmarke Auf einer tunesischen Briefmarke der frühen Neunziger Jahre prangt als Motiv ein schöner Faustkeil aus der Gegend von Gafsa (El Mektar, Abb. 113). Tunesien ist ein muslimisches Land mit dem allgemein festen Glauben an die Heilige Schrift. Da ist die Besinnung auf die Zeit der Faustkeile und Menschen, die noch „ungläubig“ waren, nicht so ganz selbstverständlich. Aber das stärkt die Wahrnehmung der Tunesier ein altes Kulturland zu sein, das ältere Traditionen hat als beispielsweise die USA. Und selbstverständlich wird damit jedem Bürger deutlich gemacht, diese alten Steine sind nicht irgendwelche Steine unter Millionen von anderen eigentümlich geformten Felstrümmern, sondern als Zeugnisse früher Landesbewohner etwas ganz Besonderes! Die deutsche Post hatte zwar auch mal ein Mammut auf einer Marke, aber noch keinen Faustkeil. Soweit ich weiß, hat auch in Frankreich noch nie ein Biface eine Briefmarke geziert. 266
Hünengräber und Fischschwanzdolche aus einer Zeit, die nur 4 bis 6000 Jahre zurückliegt, sind zumindest in Norddeutschland selbst uninteressierten Menschen schon oft als Bilder begegnet, aber als Faustkeile werden bestenfalls neolithische Flintbeile bezeichnet, weil die meisten Menschen nicht wissen, dass die Geschichte ihrer Landschaft eine bestimmt mehr als hundert Mal so alte Vergangenheit verzeichnet. Dabei hat das niedersächsische Landesmuseum in Hannover so schöne Faustkeile in seinen Sammlungsbeständen. Da liegt vielleicht eine politische Aufgabe. Denn neben einer stolzen „Bildungsaufgabe“ wäre zugleich das Image der dortigen Landesregierung in Bezug auf die skandalöse Missachtung der Forschungen H. Thiemes in Schöningen auszubessern. Denn es geht schlicht um Wertschätzung kontra Phlegma oder Ignoranz.
Ein Faustkeil auf der Briefmarke
Abb. 144: ‚Weich‘ retuschierter Schaber. Die altpaläolithische Pferdejagdstation von Schöningen lag am Rande eines in seinen Uferzonen teilweise verlandeten Sees. Geeignete Schlagsteine zur Steinbearbeitung waren in diesem Bereich nicht unmittelbar zu finden. Gemäß ihrer Erfahrung konnten die Menschen aber die Knochen erlegter Pferde als Schlagobjekte zum Retuschieren benutzen. In dieser Weise ist der vorliegende Schaber mit seiner sehr sorgfältig erscheinenden Retusche eine Ausnahme unter den sonst gewöhnlich gröber, manchmal gezähnt bearbeiteten Abschlägen jener Zeit. Schöningen, südliches Niedersachsen, ‚Wildpferdjagdlager‘ (Zeichnung: L. Fiedler, hier mit freundlicher Genehmigung des Ausgräbers Hartmut Thieme).
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Abb. 145: 1 Messer mit erhaltener Schäftung und Breitschaber. Dass schon im Mittelpaläolithikum Steingeräte, insbesondere messerartige Formen, in Birkenteer oder anderen organischen „Mastix“-Produkten geschäftet waren, ist seit der Publikation Dietrich Manias über seine Grabungsfunde von Königsaue bekannt (Mania & Toepfer 1973). Aufsehenerregende Funde dieser Art, die fast doppelt so alt wie die von Königsaue sind, wurden kürzlich von Campitello (Italien) bekannt gegeben. Sie belegen deutlich, dass auch unretuschierte gelungene Abschläge oft wichtige Werkzeuge waren (skizziert nach Pressefoto). 2 Breitschaber aus Quarzit. Dieser mit sorgfältiger stufiger Retusche versehene Schaber könnte durchaus ein zunächst kaum retuschiertes geschäftetes Gerät gewesen sein, dessen gebrauchsbedingt verstumpfte Schneide mehrfach nachretuschiert worden ist, bis es zuletzt verworfen wurde und heute als archäologischer Typ eines Schabers mit ‚Quina-Retusche‘ klassifiziert wird. Abb. 146: Schlanker Faustkeil, wie er kennzeichnend für einige mitteleuropäische Fundinventare mit Keilmessern ist. Als typologisch wichtig, werden dabei der grob belassene dicke Talon, die gestreckte spitze Form und – zumindest partiell – die wechselseitig-gleichgerichtete Kantenbearbeitung angesehen. Möglicherweise sind derartige „Typen“ aber auch Geräte, die durch mehrfache Nachbearbeitung unbrauchbar gewordener Schneiden ihre schlanke, bisweilen leicht gekrümmte Form erhalten haben. Das Material des Fundes ist örtlicher Chalzedon („Basalthornstein“). Treis an der Lumda, Mittelhessen (Zeichnung: Fiedler).
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Abb. 147: Gestielte Geräte des nordafrikanischen Mittelpaläolithikums. Spitzen, Bohrer, Schaber und Kratzer, aber auch ansonsten unretuschierte Abschläge sind im nordafrikanischen Mittelpaläolithikum mit einem Stiel versehen worden, der zweifelsfrei einer Schäftung diente. Sie sind nicht an allen Fundstellen jener Zeit zu finden – vor allem deshalb wohl nicht – weil sie mit ihren Handhaben aus organischen Materialien keine Wegwerfprodukte waren, sondern beim Verlassen der Lagerplätze mitgenommen wurden. Trotzdem dienen sie der Archäologie zur Klassifizierung einer besonderen Kulturgruppe, dem Atérien. Sie ist sonst vor allem durch ihre Levallois-Abschläge, -Spitzen und -Klingen gekennzeichnet und kann so als Teil des über große Gebiete Afrikas, Asiens uns Europas verbreiteten ‚Levallois-Moustérien‘ verstanden werden. Das allerdings selbst auch nur dort erscheint, wo gutes Gesteinsrohmaterial die Verwendung der Levallois-Technik opportun erscheinen ließ. Messak-Gebiet, S-Libyen (Zeichnungen: L. Fiedler).
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Foto 140: Annähernd dreieckiger Faustkeil mittelpaläolithischer Art (109 � 73 � 26 mm). Hergestellt aus buntem Messak-Quarzit ist dieser Biface zwar nicht extrem sorgfältig bearbeitet, aber typisch für das Mittelpaläolithikum. Alle die gesamte Oberfläche des Geräts überdeckenden Abschlagnegative zeugen von ‚weicher‘ Bearbeitung. Kennzeichnend für Faustkeile dieser Art – auch denen West- und Zentraleuropas – ist, dass eine der beiden Flächen, die zunächst überarbeitet wurde, größere Abschlagnegative trägt als die andere, die im Folgenden gestaltet wurde. Zuletzt wurden die Kanten ‚wechselseitig-gleichgerichtet‘ retuschiert. Die Übereinstimmung in derartigen Bearbeitungsdetails mit denen mancher europäischer MTA- Faustkeile (vergl. Foto 143, Lenderscheid) werte ich als Hinweise darauf, dass europäische Neandertalertaler kulturell und damit auch genetisch nicht von der Bevölkerung benachbarter Kontinente isoliert waren, wie Evolutionsgenetiker es bisher erfolgreich vertreten. A-99–14a. Nördliche Murzuk-Wüste, S-Libyen (Foto: Sabine Jordan). Foto 141: Gestreckt herzförmiger Faustkeil (111 � 70 � 26 mm). H. Nettlau fand diesen mittelpaläolithischen Faustkeil auf dem heute zerstörten Flurstück „Birkit“. Er ist aus grobem örtlichem Quarzit gefertigt und mit Rostspuren bedeckt, die er durch die Pflüge der Landwirte in den letzten 200 Jahren erhalten hat, ohne dabei zu zerbrechen. Formal steht er in etwa den „Micoque-Keilen“ Bosinskis nahe und würde von dessen Schülern heute in die sogenannten Keilmessergruppen gestellt werden. Diese gängige Zuweisung fast aller Faustkeilfunde Westdeutschlands mag eine der Ursachen dafür sein, dass französische Autoren bisher davon ausgingen, es gäbe östlich des Rheins kein Acheuléen – was falsch ist. Der Fundplatz lag an einem heute zerstörtem Outcrop des tertiären Quarzits. Oberaula-Hausen, NE-Hessen.
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Fälschungen, Repliken und Originale
Fälschungen, Repliken und Originale Wenn die Steinesammlung von Opa, der schon so lange tot ist, auf dem Dachboden oder im Keller auf Regalen schon total eingestaubt ist, dann fragt sich die Familie, ob man die „Klamotten“ nicht in die Mülltonne schmeißen sollte. Aber gelegentlich haben Urenkel dann doch die Idee, dass sich vielleicht davon noch etwas auf dem Flohmarkt „verkloppen“ ließe. So landen Faustkeile und andere Artefakte eines Morgens auf Markttischen. „Sind die echt?“ fragen manche, die vorbeigehen. Auf fast allen Stücken hat Opa Nummern hinterlassen, die den Eintragungen in seinem Fundund Inventarbuch entsprochen haben. Das aber ist längst verschwunden. Was die Ziffern auf den Steinen jetzt bedeuten, kann niemand mehr sagen. Sind die Stücke aus seiner Sammlung alles Originale oder hat er auch Repliken aufbewahrt, die ein guter Flinttechniker selbst gemacht hatte? Manche Museumsleiter finden es gar nicht gut, dass solche modernen Faustkeile gemacht werden und vielleicht irgendwann als „echte“ Funde wieder auftauchen. Denn schon zwischen 1880 und 1914 schlugen Kiesgrubenarbeiter in England und Nordfrankreich Faustkeile selbst, weil die Nachfrage bei Besuchern und Sammlern gar nicht mehr mit originalen Stücken gedeckt werden konnte. Und in einigen Fällen gelangten diese Fälschungen später sogar als „Echte“ in Museumsausstellungen.
Meistens lässt sich aber schon an Patina und Oberflächenerhaltung sofort erkennen, ob es sich um Originale oder Repliken bzw. Fälschungen handelt. Außerdem sind viele Steinschläger, so wie auch die damaligen Kiesgrubenarbeiter, nicht in der Lage, Faustkeile genauso anzufertigen, wie es Frühmenschen gemacht haben. Heutige seriöse Flinttechniker verfügen aber über gute Sachkenntnisse und haben den Ehrgeiz, ihre Repliken perfekt hinzubekommen. Sie wollen damit nicht fälschen, sondern zu Erfahrungen gelangen, die auch Neandertaler oder Homo erectus mit Silex gemacht hatten. Wir wüssten ohne diese Erfahrungen nichts über ‚harten‘ und ‚weichen‘ Schlag und die Unterschiede beim Bearbeiten von Feuerstein, Achat oder Vulkaniten sowie über die unterschiedlichen technologischen Merkmale, die das Erkennen und Analysieren tatsächlich alter Steinartefakte überhaupt erst ermöglichen. Aber wie das Beispiel von Opa zeigt, müssen Repliken mit einer eindeutigen, nicht entfernbaren Beschriftung als solche kenntlich gemacht werden. Das gilt erst recht für Originale, denn ohne identifizierbare Fundortangabe auf dem Stück ist es wissenschaftlich ziemlich wertlos geworden und tatsächlich nur noch eine Antiquität auf dem Flohmarkt. Aber selbst dort ist sie ein kulturelles Zeugnis der Vergangenheit.
Faustkeile in wissenschaftlichen Kulturschubladen Was ein „richtiger“ Faustkeil ist, wird von der typologisierenden Wissenschaft bestimmt. Den völlig unbekümmerten Herstellern und Benutzern dieser Geräte in der Altsteinzeit standen leider die Klassifizierungen moderner Wissenschaft noch nicht zur Verfügung. Sie mussten sich an das halten, was ihre Mütter und Väter für einen ‚richtigen‘ Faustkeil hielten und was nicht. Da sind – abgesehen vom heutigen und damaligen Namen für ein derartiges Werkzeug – Unterschiede in den Zuweisungen zu vermuten. War für die damaligen Menschen ein zufällig faustkeilförmig gebrochener Stein schon ein Faustkeil, oder war dieses Objekt nur dann ein „Faustkeil“, wenn es nach einem vermuteten Weltschöpfungsmythos in einem vorgezeichneten Arbeitsgang
möglichst perfekt hergestellt worden ist und dann wirksam in einem der Gemeinschft verpflichteten Prozess verwendet wurde? Für die wissenschaftliche Ansprache haben diese Unsicherheiten keine Bedeutung, weil wir für unsere Klassifizierung nur eine nüchterne formaltypologische und technologische Betrachtungsweise wählen können. Es geht dabei um Metrik und Proportionen. Gewöhnliche Faustkeile sind zwischen 6 und 25 cm lang. Es gibt aber einzelne Exemplare, die sogar 30 cm Länge überschreiten. Das Gewicht so großer Exemplare macht die Handhabung während der damit vorgesehenen Arbeit allerdings nicht einfach (Abb. 73). Waren solche großen Steingeräte also praktischen Aufgaben zugedacht, oder waren es gleichsam „künstlerische“ Objekte, die eher eine 271
Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 148: Breiter Cleaver aus einem Quarzit-Kortexabschlag, einfachste Form der Cleaver. Altacheuléen von Amguid, algerische Zentralsahara (Zeichnung: Beate Kaletsch).
imponierende Funktion hatten, oder waren es „kultische“ Formen, die beispielsweise den Ahnen geweiht waren? Aus Beobachtungen auf afrikanischen Fundstellen ist auch die Vermutung berechtigt, dass ihr Talon als Materialquelle dienen sollte, wenn solche Gegenstände traditionell auf Wanderungen/ Jagdzügen in rohmaterialarme Gegenden mitgeführt wurden. Faustkeile, die kleiner als 6 cm sind, können dagegen nur unzureichend für genau die gleichen Arbeiten gebraucht werden, die mit größeren Exemplaren möglich sind. Der Gedanke, ein Teil der so kleinen Geräte sei von Kindern aus der spielerischen Nachahmung des Tuns von Erwachsenen entstanden, ist nicht von der Hand zu weisen, zumal sie oft nicht die perfekten formalen Vorstellungen erfüllen (Abb. 97, Foto 57). Andererseits sind kleine faustkeilförmige, bifaciell bearbeitete Geräte von Fundstellen bekannt, wo das Rohmaterialangebot unzureichend war und zur Kleingerätigkeit zwang – beispielsweise Bilzingsleben, Mauer, Schöningen, Tautavel oder den zentraleren Bereichen des Olduvai-Beckens. Einen Hinweis auf diese Rohmaterialabhängigkeit finden wir auf dem der Olduvai-Region nahegelegenen Fundplatz Makuyuni. Dort sind alle Faustkeile aus dem leicht zugänglichen basaltähnlichen Vulkanit zwischen 7 und 17 cm lang, während das einzige Exemplar aus Quarz nur die Länge von etwa 5 cm erreicht (Abb. 190). Eine kindliche Nachahmung wäre hier auszuschließen, weil die 272
restlichen geborgenen Faustkeile (knapp 50 Stücke) nur das Verhalten der Erwachsenen zu erkennen geben. Der Minifaustkeil könnte also eher ein oftmals nachbehauenes, nachgeschärftes Objekt sein, das in dem materialreichen Gelände als nicht mehr brauchbar liegengelassen wurde. Bei allen Überlegungen zum Wesen der Faustkeile stoßen wir besonders bei den sehr kleinen Exemplaren auf die Frage, warum so ein Gerät mit großer Herstellungsmühe und vielen anfallenden Werkabfällen über so lange Zeit so erfolgreich sein konnte. Ein spitz zugerichteter Abschlag hätte in manchen Fällen die gleichen oder sogar bessere Nutzungsvorgänge erlaubt als ein kleiner plumper Faustkeil. Hier treffen wir einzig auf traditionelle Vorgaben im Denken und kulturellem Repertoire der Handlungsmöglichkeiten früher Menschen Wir haben schon an anderer Stelle dieser Arbeit feststellen müssen, dass „richtige“ Faustkeile weder von ungewöhnlich großen noch von den zahlreichen kleinen metrisch eindeutig zu trennen sind (Abb. 187–188 u. 204). Kompliziert ist auch eine klare definitorische Trennung von formal ganz eindeutigen Faustkeilen zu faustkeilähnlichen Schabern (Abb. 198), massiven Handspitzen, gedrungenen Blattspitzen, Halbkeilen oder Keilmessern. Wir sahen ja schon in dem Kapitel über Faustkeile, Cleaver und Pics (Seite 24 ff.), dass jede dieser drei Gruppen in der archäologischen Realität zwar gut beschreibbar ist, aber ebenso, dass ihre häufigen formalen Übergangsbereiche mit sich ähnelnden
Faustkeile in wissenschaftlichen Kulturschubladen
Abb. 149: Schlanker Cleaver aus einem Kortexabschlag. Altacheuléen von Amguid, algerische Zentralsahara (Zeichnung: Beate Kaletsch).
Abb. 150: Einfacher Cleaver aus einem Breitabschlag in diskoider Kerntechnik. Altacheuléen von Amguid, algerische Zentralsahara (Zeichnung: Beate Kaletsch).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 151: Schlanker Cleaver aus einem Tabelbala-Abschlag aus Vulkanit. Altacheuléen von Amguid, algerische Zentralsahara (Zeichnung: L. Fiedler).
und offensichtlich ineinandergreifenden Funktionen zu tun haben. Stephan Veil hat beispielsweise bei der Klassifizierung aller faustkeilartigen Artefakte seiner Grabungsfunde von Lichtenberg 1995 deutlich zu machen versucht, dass die schneidende Funktion (flacher) bifaciell bearbeiteter Geräte sie alle unter den Aspekt von Keilmessern stellt. Wenn er mit Keilmesser alle Faustkeile meint, die nur eine bevorzugte Funktionskante besitzen (bifaces à dos), dann ist dem zuzustimmen. Denn Faustkeile mit nur einer funktionsfähig bearbeiteten Kante kommen seit dem frühen Altacheuléen neben solchen vor, bei denen entweder die zweite Kante partiell oder bei de274
nen beide Kanten komplett funktionsfähig sind (Abb. 194). Diese Messerfunktion teilen Faustkeile u. a. auch mit Blattspitzen. In den jüngeren mittelpaläolithischen Fundschichten der Sesselfelsgrotte kommen flache Faustkeile und blattspitzenartige Geräte nebeneinander vor (J. Richter 1997). Das gleiche gilt für die Hauptfundschicht von Weimar-Ehringsdorf (D. Mania 1988 und 1997). Besonders bei letzterem sind diese Formen auch durch Übergangstypen verbunden, so dass auf sehr ähnliche, wenn nicht sogar gleiche Verwendungen geschlossen werden kann. Auch das späte Mittelpaläolithilum der Weinberghöhle von Mauern lieferte Faustkeile und
Abb. 152: Cleaver mit schräger Schneide aus Kombewa-Abschlag. Mittleres Acheuléen, Erg Mhredjibad (Zeichnung: L. Fiedler).
Foto 142: Annähernd dreieckiger Faustkeil mit einer abgerundeten Ecke. Der Fund ist ein recht typisches Beispiel für mittelpaläolithische Fundkomplexe in Hessen à la Rörshain und Wahlen. Die meiste Faustkeile dieser Art sind relativ dünn und gleichen auch denen des westeuropäischen MTA. Selbst die leicht abgeschrägte Spitze könnte für unmittelbare kulturelle Kontakte stehen, obwohl die Blattspitzen Mitteleuropas in Frankreich so gut wie nicht vertreten sind (vergleiche aber Foto 81). Wahlen, Zentral-Hessen.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 143: Dreieckiger Faustkeil des MTA (103 � 81 � 26 mm). An einer Ecke ist das Gerät alt beschädigt, Seine Bearbeitungsweise entspricht vielen westeuropäischen MTA-Faustkeilen: Erst wurde die Unterseite mit flächengreifenden Abhieben zugeformt und anschließend die Oberseite (rechts im Bild). Es ist nicht der einzige Fund aus dem Formenkanon des Moustérien de tradition acheuléenne von Lenderscheid. A. Luttropp widmete diesem Phänomen einen Aufsatz, der im Kölner Jahrbuch für Vor- und Frühgeschichte 5 erschien und deutlich machte, dass dieser Technokomplex nicht auf Westeuropa beschränkt ist (wie französische Forscher aber immer versichern). Der Fundplatz ist ein Outcrop des tertiären Quarzits. Lenderscheid „Vossküppel“, NE-Hessen, Deutschland.
faustkeilartige Artefakte neben perfekt gearbeiteten Blattspitzen (Bohmers 1951). Hier zeigt sich aber deutlich, dass die Gestaltung schlanker und zugleich im Querschnitt dünner Blattspitzen sich von der traditionellen Formgebung der Faustkeile und damit zugleich von deren beabsichtigter Nutzungsweise gelöst hatte. Auf die zeitlich älteren Funde von Ehringsdorf trifft das noch nicht zu, obwohl ein „Trend“ zu schlanken Bifaces deutlich wird. Zuletzt noch ein Wort zu Typologie und kulturellen Formengruppen. Nicht erst seit François Bordes Werk (1961) über die Typen alt- und mittelpaläolithischer Steinartefakte galten symmetrisch dreieckige Faustkeile mit geraden Kanten (Abb. 24–26) als kennzeichnend für das Mousterien de Tradition Acheuléenne. Er zeigte aber auch, dass derartige Faustkeile schon im jüngeren Acheuléen 276
vorkommen (Foto 62). Und M. Soressi weist nochmals 2002 ausdrücklich darauf hin, dass sie sogar noch im Châtelperronien, der ersten Phase des französischen Jungpaläolithikums, hergestellt worden sind. Damit stellt sich heraus, dass selbst sehr spezielle Typen der Faustkeile als Einzelfunde keine verlässliche Datierung liefern können. Das gilt ebenso für Faustkeile mit flacher Unterseite, Faustkeilblätter, herzförmige Faustkeile, Keilmesser und sogar für sehr altertümlich wirkende Faustkeile im „Abbevillien-Stil“. Erst wenn zahlreiche dieser jeweiligen Typen ein Fundensemble dominieren und weitere kennzeichnende Geräteformen sowie bestimmte Abschlag- oder Klingentechniken eine formenkundliche Einheit bilden, könnte eine Zuweisung zu dieser oder jener Facies, Formengruppe
Foto 144: Kleiner, annähernd dreieckiger Faustkeil (83 � 57 � 25 mm). Dieses Beispiel für Rörshainer Faustkeile hat eine „wechselseit-gleichgerichtete“ Kantenbearbeitung und einen unregelmäßig geformten natürlichen Talon. Die begleitenden Funde sind die eines Mittelpaläolithikums mit massiven Blattspitzen, Keilmessern und blattförmig retuschierten Schabern. Dessen Datierung wurde ausschließlich in der ersten Hälfte der letzten Kaltzeit gesehen, was mittlerweile (indirekt durch die Datierung des mittelpaläolithischen Inventars von Buhlen) als überholt verstanden werden kann und eher die vorletzte oder eine noch ältere Kaltzeit dafür in Frage kommt. Rörshain, NE-Hessen, Deutschland.
Foto 145: Annähernd dreieckiger Faustkeil aus örtlichem Quarzit (110 � 79 � 39 mm). Der Faustkeil gehört wegen der Form und der geringen Patina zu den mittelpaläolithischen Funden der Gegend bei Rainrod. Sein Talon ist fast unbearbeitet und beide Flächen sind zwar ‚weich‘ aber sehr nachlässig gemacht, so dass man an einen ad hoc benötigten Faustkeil denkt, der aber formal dem zeitgemäßen Stil des MTA entspricht. Der Fundplatz liegt am Hang des Schwalm-Tales; so ist denkbar, dass schweifende Jägergruppen der Neandertaler in dieser Landschaft waren. Rainrod, Mittelhessen, Deutschland.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 146: MTA-Faustkeil (111 � 67 � 24 mm). Dieser Faustkeil hat betont gerade Kanten. Das stellt ihn in die Reihe der triangulären Bifaces, wenngleich seine Basis wenig bearbeitet, grob belassen wurde. Kaum eine Person vom Fach würde zögern, das Gerät formaltypologisch in das Moustérien de tradition acheuléenne zu stellen. Da aber heute die Untergruppen des französischen Mittelpaläolithikums bei genauerem Hinsehen in Frage gestellt werden könnten, wird auch diese Zuweisung möglicherweise eher der archäologischen Klassifizierung als dem variantenreichen kulturellen Verhalten der Neandertaler gerecht. Aber sicher ist doch: Der Faustkeil gehört eindeutig in das (jüngere) Mittelpaläolithikum. Creysse (Bergeracois, SW-Frankreich).
oder einem bestimmten Inventartyp erfolgen. Allerdings ist dabei wieder zu bedenken, dass spezielle Inventarausprägungen eher spezielle lokale Aktivitäten der Menschen widerspiegeln, als dass sie denn selbständige kulturelle Erscheinungen des Mittelpaläolithikums sein könnten. Neandertaler hatten für die technologischen und formalen Gestaltungsweisen ihrer Geräte ein sehr reiches Repertoire zur Verfügung, aus dem sie bei gegebenem Anlass schöpfen konnten. 278
Eine Beobachtung, die ich diesem Kapitel als Schlussbemerkung noch anfügen möchte, ist die, dass die Faustkeile des frühen und mittleren Acheuléen ihre größte Breite gewöhnlich nicht am Talon, sondern deutlich darüber haben, aber solche des Jungacheuléen und besonders des Mittelpaläolithikums direkt am Talon. Dies ist aber keine absolute Regel, weil besonders diejenigen, die aus Geröllen angefertigt wurden, von deren ursprünglicher Form auch nach der Bearbeitung beeinflusst sind.
Vom Faustkeil zur Blattspitze
Vom Faustkeil zur Blattspitze Gelegentlich finden sich schon im mittleren Acheuléen Afrikas aus dünnen Abschlägen („Flachabsprüngen“) gemachte und an den Kanten beidflächig bearbeitete Faustkeilblätter. In ihrer Länge und Breite decken sie sich mit anderen Faustkeilen der unteren Größenkategorie (Fäustel, Minibifaces). Vielleicht waren sie einfach nur dünne Varianten der kleinen Faustkeile. Im Jungacheuléen nehmen solche Faustkeilblätter in schlanker Form zu und im älteren Mittelpaläolithikum erscheinen die ersten richtigen Blattspitzen (Abb. 114–116, Fotos 79–80). Im mächtigen unteren Kalktuff von WeimarEhringsdorf aus der vorletzten Warmzeit fanden sich zahlreiche „Fäustel“ (der forschungsgeschichtliche Name von Faustkeilen unter 6 cm Länge) und ebenfalls kleine massive Blattspitzen. In diesem Fundensemble macht sich bemerkbar, wie Blattspitzen Faustkeile allmählich ablösen. Gleiches ließ sich in Ungarn und ebenfalls in der süddeutschen Weinberghöhle beobachten. Diese Ablösung verlief aber nicht in einem kurzen Zeitraum, sondern eher über eine Spanne von 100 000 Jahren oder mehr und endete dann mit der jüngeren Blattspitzenkultur (Jercmanovicien/Lincombien) in Europa. Ob in den Anfängen dieser Entwicklung schon eine Schäftung beabsichtigt war, wissen wir nicht.
Aber unter den späten Blattspitzen zeigen einige entweder schulterförmige Einbuchtungen an ihrem unteren proximalen Ende oder sogar stielähnliche Schäftungszungen. Wahrscheinlich waren sie als Messer, einige vielleicht auch schon als Speerspitzen gedacht. Dann wäre aus dem Allzweckjagdmesser Faustkeil schließlich die steinerne Spitze einer Jagdwaffe geworden (Foto 81). Im mittelpaläolithischen Atérien Nordafrikas kommen neben asymmetrischen oder in ihrer Fläche gebogenen Spitzen mit Flächenretusche auch kleinere, niemals durchgebogene und besonders zur Schäftung geeignete Spitzen vor, die aus guten Gründen als Waffenspitzen zu interpretieren sind. Einige sind so klein, dass sie schon als Nachweis von Pfeil und Bogen gelten könnten. Die weltweite Verbreitung von paläolithischen Blattspitzen erreichte schließlich auch Amerika. Was Anlass zu der Vermutung gibt, dass mit dem schrittweisen technologischen Transfer über weite Entfernungen auch immer ein genetischer Transfer einherging. Europäer, Asiaten und Afrikaner sowie schließlich auch die Ureinwohner Amerikas sind auf langen Wegen seit Alters her miteinander verwandt.
Wissenschaftliche Probleme Wenn in Ausgrabungsinventaren Faustkeile vorhanden sind, dann wird der Fundstoff gewöhnlich als Acheuléen oder ein Mittelpaläolithikum mit (gewisser) Faustkeiltradition bezeichnet. Wenn aber keine Faustkeile dabei sind, handelte es sich nach Meinung vieler Archäologen des 20. Jahrhunderts um Clactonien, Tayacien, Charentien oder reines Moustérien. Mir fiel schon im Studium auf, dass das all zu schematisch gedacht sein könnte und ich stellte die Frage, ob die frühen Menschen vielleicht Faustkeile nur dann gemacht haben, wenn sie auch welche benötigten. Außerdem wäre es vermutlich auch dumm gewesen, die einst vorhandenen Faustkeile jedesmal am verlassenen Lagerplatz liegen zu lassen, wenn sie nur wenige Kilometer entfernt vorhersehbar benötigt wurden. So könnten, dachte ich mir, diese gängigen
Klassifizierungen in unterschiedliche Kulturen oder Traditionen vielleicht an der zu erforschenden Realität vergangener Zeiten vorbeigehen. Meine Gedanken fanden aber bei den meisten Kommilitonen und dem auf Altsteinzeit spezialisierten akademischen Lehrer keinen Zugang. Heute, 40 Jahre später, ist das Thema nicht mehr so aktuell – vielleicht weil meine damaligen Vorstellungen unabhängig von mir auch anderen Altsteinzeitforschern langsam einleuchteten. Allerdings hatte ich meine Zweifel zwischendurch auch mehrfach in Publikationen thematisiert und zusätzlich weitere Fragen zur kulturellen Klassifizierung von alt- und mittelpaläolithischen Fundkomplexen gestellt. Meine Kenntnisse mittelpaläolithischer Inventare in Südwestfrankreich hatten in mir die Überzeugung geweckt, dass all die Klassifizierungen alt279
Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 153: Cleaver aus einem Cleaver-flake der Kombewa-Technik. Altacheuléen von Amguid, algerische Zentralsahara (Zeichnung: Beate Kaletsch).
Abb. 154: Cleaver aus einem massiven Vulkanit-Abschlag. Altacheuléen von Amguid, algerische Zentralsahara (Zeichnung: L. Fiedler).
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Wissenschaftliche Probleme
Abb. 155: Parallelkantiger Cleaver aus einem Tabelbala-Abschlag. Altacheuléen von Amguid, algerische Zentralsahara (Zeichnung: Beate Kaletsch & L. Fiedler).
Abb. 156: Parallelkantiger Cleaver in Biface-Technik. Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: L. Fiedler).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 157: Rundlicher Cleaver mit behauener Schneide aus einem Blockquarzitabschlag. Altacheuléen von Münzenberg (Zeichnung: L. Fiedler).
und mittelpaläolithischer Kulturgruppen der dortigen und ebenso der deutschsprachigen Forschung nicht auf bestimmte imperative ethnische Traditionen hinwiesen, sondern jeweils bestimmte lokale und dynamische Verhältnisse spiegelten, unter deren Bedingungen sie zustandegekommen sind. Einerseits sind es die Möglichkeiten des regional vorhandenen und für die Steinwerkzeugherstellung geeigneten Rohmaterials. Kleine Knollen und Gerölle sind beispielsweise für die Herstellung längerer Abschläge oder das Anfertigen von Faustkeilen nicht oder nur sehr eingeschränkt brauchbar. Aus plattigem Silex oder geschichtetem Kieselschiefer sind bifacielle Geräte besser zu realisieren als beispielsweise Produkte der Levalloistechnik. Der hervorragend zu bearbeitende schwarze Feuerstein der südlichen Charente kommt in Knollen vor, die sehr oft kalkige Hohlräume haben und daher war diesbezüglich die diskoide Kerntechnik für die Produktion von brauchbaren Abschlagen geeigneter als die Levallois-Technik. Und im südöstlichen Frankreich boten fast nur die reichen Chalzedonvorkommen von Verdier beste Möglichkeiten für Levalloisprodukte. Der übrige Silex dieser Region hat oft eine rauhe Matrix, ist kleinformatig und zeigt oft 282
eine größere Härte und Sprödigkeit als der westfranzösische Flint. Folglich wurden auch hier weniger Levalloisabschläge gemacht als dort. Die unterschiedlichen Ausprägungen der mittelpaläolithischen Inventare haben hier also vor allem rohmaterialabhängige Vorbedingungen. Und der Unterschied zwischen Fundkomplexen aus Deutschland nördlich der Feuersteingrenze gegenüber denen aus den Mittelgebirgen und dem Voralpenland hat ebenfalls deutliche Bezüge zu bearbeitungstechnischen Bedingungen und Gestalten des verfügbaren Rohmaterials. Keilmesser und bifacielle Schaber sind im Süden dementsprechend häufiger als im Norden. Der zweite Grund für Unterschiede in Inventaren sind einfach die lokalen Tätigkeiten der saisonal wandernden Menschengruppen. Wo Bisons, Wildpferde oder Riesenhirsche gejagt wurden, brauchte man andere Steinwerkzeuge als da, wo man Bergschafe oder kleinere Hirscharten jagte oder wo man Lachse fing und Biber erbeutete. Außerdem mag die Zeitdauer der Aufenthalte für die Herstellung von Steinwerkzeugen auch eine Bedeutung bezüglich deren Gestaltgebung gehabt haben, ebenso ob Jungvolk unterwegs war oder
Veränderter Geist, verändertes Leben
ganze Sippenverbände. Möglicherwiese gab es auch traditionelle Vorgaben, an welchem Ort man Blattspitzen und Faustkeile (auf Vorrat) herzustellen hatte und wo diese Tätigkeit an anderen Stellen vielleicht als „schädlich“ erachtet wurden. Gaëlle Rosendahl sagte mir bei einem Gespräch über das sogenannte Micoquien, ihr sei bei ihren Recherchen zu ihrer Dissertation über den Fundplatz La Micoque kein einziges Inventar dieses postulierten Technokomplexes begegnet, dass annähernd ein gleiches Gerätespektrum aufgewiesen hätte. Diese Fundensembles seien alle nur dem Micoquien zugewiesen worden, weil eine Handvoll „Leitformen“ dazu veranlasst hätte, die aber innerhalb der einzelnen Inventare prozentual nur untergeordnet in Erscheinung getreten seien. Für sie stelle sich die Frage, was eigentlich „Micoquien“ (oder die „Keilmessergruppen“, wie das heute von manchen genannt wird) tatsächlich sei. Ich konnte dazu mehrfach feststellen, dass diese Inventare lediglich Ausdruck der technischen Möglichkeiten des mittelpaläolithischen Menschen und ihrer jeweiligen territorialen und ökonomischen Erfordernisse gewesen sind. Außerdem besteht eine große Übereinstimmung der mitteleuropäischen „Micoquien“Inventare mit denen des westeuropäischen Moustérien de tradition acheuléenne (dreieckige und herz-
förmige Faustkeile sowie solche mit D-förmigem Querschnitten, außerdem blattförmige Schaber, kleine Rundkratzer, Steilschaber usw.; Abb. 23–25, Fotos 140–146). Dieser Meinung bin ich auch heute noch und bezeichne diese Möglichkeiten als Ausschnitte des technologischen Repertoires, über das jene Menschen verfügten. Ausgenommen davon und unbedingt gültig sind die traditonellen Bezeichnungen der großen Kulturepochen Oldowan, Altacheuléen, Jungacheuléen und Mittelpaläolithikum. Lokal unterschiedliche Inventare kann man selbstverständlich anhand technologischer oder formenkundlicher Merkmale kennzeichnen, aber nicht dienlich ist es dann, daraus Formengruppen oder Technokomplexe zu konstruieren, die Differenzen ethnischer Traditionen sein sollen. Nicht einmal das Atérien Nordafrikas mit seinen eigentümlichen gestielten Geräten ist ethnisch zu definieren, denn es hat keine klare Grenze zu irgendeinem Mittelpaläolithikum am unteren Nil oder weiter südlich in Afrika. Gestielte Geräte werden dort nur sukzessiv seltener. Im Mittelpaläolithikum Europas sind sie sehr selten, aber es gibt sie vereinzelt in den Blattspitzeninventaren, beispielsweise in Wahlen.
Veränderter Geist, verändertes Leben Selbstverständlich sind die Kleinplastiken aus dem frühen Aurignacien Baden-Württembergs der Ausdruck eines „Sprungs“ im süddeutschen und circumalpinen Raum. Diese Darstellungen belegen, dass das Versorgungssystem und damit das soziale Gefüge gegenüber dem Mittelpaläolithikum bedeutend verändert wurde. Die vielen (meistens noch unretuschierten) Lamellen des Châtelperronien und – schon viel früher – des Rheindahlien (à la Tönchesberg, das N. Conard ausgrub) und selbst die wenigen aus Buhlen-4 – belegen eine Entwicklung der mittelpaläolithischen Jagdwaffen zu einem effektiveren Niveau. Denn solche Lamellen wurden als seitliche Schneiden an den Spitzen leichter Speere befestigt und weisen auf die mögliche, vor-jungpaläolithische Erfindung der Sperrschleuder hin, also dem Abschießen der Waffe mit Hilfe eines Hakenstabes. Effizientere Jagd muss als Ergebnis zu mitglie-
derreicheren sozialen Einheiten geführt haben, weil die ausreichende Versorgung darauf hinausläuft. Die anwachsenden Gruppengrößen führten dann in einer Art Zirkelfunktion wiederum zu höherem Nahrungsbedarf. Wir kennen das bei Karnivoren in der Natur, allerdings mit dem Unterschied, dass nach dem zwangsläufigen Eintreten einer Nahrungsmittelverknappung die Populationen der Beutegreifer wieder kleiner werden. Aber der Mensch ist in der Lage, strategisch anders zu agieren. Er verbessert seine Technik und weitet seine Jagdgebiete aus. Die Gruppen müssen mobiler werden. Aber dieser Umstand aus gewisser Verknappung und zugleich größeren Anstrengungen verändert auch den weltanschaulichen/mythischen Überbau. Denn die mittelpaläolithischen Menschen lebten vermutlich jahrtausendelang in einer Art gleichmütiger (fatalistischer) Pattsituation mit der 283
Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 158: Sehr einfacher Pic aus einem kantenbehauenem Quarzitgeröll. Altacheuléen von Amguid, algerische Zentralsahara (Zeichnung: L. Fiedler).
Natur, im Ausgleich oder in Harmonie, wie Romantiker sagen würden. Nun aber veränderte der Mensch sein Leben und Verhalten. Das „Paradies“ wurde der Taktik und dem Erfolg, ja, einem gewissen Streben nach Wachstum geopfert. Das alte Verständnis, ein Teil der Natur und darin schicksalhaft geborgen zu sein, kann mit der verbesserten Strategie des Lebens nicht mehr ganz in Einklang gebracht werden. Der Mythos von Schicksalhaftigkeit erweitert sich zu einem strategischen Mythos, in dem der Zugriff auf die Jagdbeute gleichsam durch die „Schöpfung“ naturgleicher Bildnisse („Höhlenmalerei“) gespiegelt wird. Die Perfektion und Beherrschung des Darstellens ist unmittelbarer Ausdruck eines Willens zur Herrschaft über das Jagd284
wild. Und dem Verlust der bedingungslosen Naturzugehörigkeit wird dadurch begegnet, dass man Mittlerwesen erdenkt, die zwischen dem Menschen und den Tieren stehen: Löwenmenschen, gehörnte Wesen mit Tierbeinen (sogenannte Zauberer oder Herren der Tierwelt) und dazu Schamanen, die in Trance diese Vermittlung auch szenisch zelebrieren. Ist nicht die Verlegung der gemalten Tiere in die Tiefe der Höhlen geradezu eine Offenbarung dafür, dass man nach Möglichkeit der Mutter Erde die getöteten und begehrten Tiere als Abbildungen in ihren Schoß bettet, in den verborgenen fruchtbaren Uterus der Natur? Das wäre eine manipulative Mystik zur Zauberei, die die hoffnungsvolle Er-
Veränderter Geist, verändertes Leben
Abb. 159: Grober Pic aus einem Quarzitabschlag. Altacheuléen von Amguid, algerische Zentralsahara (Zeichnung: L. Fiedler).
wartung beinhaltet, so mögen sich diese Tiere dann draußen massenhaft und verfügbar für die Jäger darbieten. Der biologische Menschentyp des alten robusten Homo sapiens wandelt sich durch veränderte Anforderungen und Verhaltensweisen zum grazileren. Vieles an strategischen Verhalten mit dem Wachstumsziel hat die Menschheit seit dem Jungpaläolithikum nie mehr verlassen und feiert es in der heutigen Moderne wesentlich intensiver. Und das ewige Wirtschaftswachstum ist unser Mythos, der keinen realen Bezug zu den natürlichen Ressourcen mehr hat, aber Glaubensangelegenheit der industrialisierten Moderne geworden ist. Wie das Jungpaläolithikum nach 30 000 Jahren zum Mesolithikum und Neolithikum überwechselte, so wird
auch die Moderne (in viel kürzerer Zeit) zu einem neuen Daseinsmilieu finden müssen – oder scheitern. Übrigens: Wenn man die „Moderne“ aus dem Blickwinkel der Kulturanthropologie betrachtet und ihren künstlerischen und architektonischen Stil sucht, dann findet man ihn weniger in der Malerei, sondern in den gigantischen Kultbauten der Konzerne, Banken, Versicherungen und Supermärkte. Natürlich auch in den fetischhaft gestylten Konsumgütern, wie Autos, Klamotten, teurem Design usw. So gesehen scheint es schon heute so zu sein, dass der Mensch über sich selbst hinausdrängt und vielleicht den Maschinen die Zukunft überlassen muss – und wie es aussieht, das schon mit Vergnügen praktiziert. 285
Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 160: Massiver Pic aus einem Quarzitgeröll, ähnlich einem Proto-Faustkeil. Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 161: Sehr massiver bifacieller Pic. Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: L. Fiedler).
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Abb. 162: Sehr massiver bifacieller Pic. Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: Beate Kaletsch).
Abb. 163: Massiver triedrischer Pic mit zungenförmiger Spitze. Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: Beate Kaletsch).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Abb. 164: Spitzer triedrischer Pic aus einem massiven Abschlag. Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 165: Spitzer Trieder mit dünn ausgezogener Spitze. Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: L. Fiedler).
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Veränderter Geist, verändertes Leben
Abb. 166: Trieder mit sorgsam bearbeiteter dreischneidiger Spitze. Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 167: Vierkant-Pic. Klassisches Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: L. Fiedler).
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Abb. 168: Primitiver Faustkeil oder Pic ad hoc bearbeitetes Gerät. Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: L. Fiedler).
Foto 147: Diskoider Kern aus örtlichem Feuerstein (92 � 98 � 34 mm). Dieser Restkern ist eine typische Form des (älteren) Mittelpaläolithikums. Er hat eine fast rundum verlaufende, vor dem eigentlichen Abbau brauchbarer Abschläge mit mehreren Abhieben angelegte Schlagfläche (rechte Ansicht). Auf der Abbaufläche ist deutlich das letzte Negativ zu erkennen, das die zuvor entstandenen teilweise kappt. Die gewonnenen kleinen Abschläge wurden meistens unretouchiert benutzt. Gafsa NW, SW-Tunesien.
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Foto 148: Diskoider Kern (Durchmesser um 70 mm, Dicke 22 mm). Dieser Kern hat eine bevorzugte Abbaufläche (in der rechten Ansicht), während die Gegenseite noch Kortexreste trägt. Es liegt bei ihm keinerlei Anzeichen für eine Präparation vor; der Abbau von Abschlägen erfolgte serienhaft und begann rund um die Ausgangsform auf der jetzigen Unterseite. Dadurch entstand die umlaufende Schlagfläche für die zuletzt gewählte Abbaufläche. Kerne dieser Art finden sich schon im Oldowan von Bed 1 der Olduvai-Schlucht, durchlaufen das Alt- und Mittelpaläolithikum und kommen sogar gelegentlich im Mesolithikum und Neolithikum noch vor. Aus der Technik des diskoiden Kernabbaus entstand im mittleren Acheuléen allmählich die Levallois-Technik präparierter Kerne. Creysse (Bergeracois, SW-Frankreich).
Foto 149: Diskoider Restkern aus Quarzit (111 � 113 � 53 mm). Eine Schlagflächenpräparation des Kerns erfolgte umlaufend, ohne dass Anzeichen einer Feinpräparation vorhanden sind. Dagegen zeigt die Abbaufläche neben dem kompletten Negativ des letzten Abschlags den Rest eines weiteren großen Negativs und die Nachpräparation der Abbaufläche. In seinem vorliegenden Zustand des Abbauprozesses ist dieser Kern als Protolevallois-Kern zu klassifizieren. Von besonderem Interesse ist dabei, dass die konkave Negativfläche dieses Restkerns als „Reibschale“ zum Herstellen von Hämatit-Farbpulver verwendet worden ist. Die intensive Rotfärbung lässt den Schluss auf eine diesbezüglich längere Benutzung zu. Da in seinem Umfeld auch Faustkeile lagen, kann dieses Artefakt in ein Mittelpaläolithikum mit Faustkeiltradition eingestuft werden. A-97–28. Erg Ubari, S-Libyen.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Verändertes Leben – veränderte genetische Muster Von den am nördlichen Eismeer lebenden Inuit ist bekannt, dass sich ein Teil ihrer Gene schon nach weniger als 300 Jahren verändert hatte, nachdem sie von Alaska aus abwanderten und ihre Lebensweise vollkommen auf die Jagd von Meeressäugern umstellten. Ebenso ist bekannt, dass in Zoos gehaltene Wildtiere ihr Erbmaterial oft schon in der nächsten Generation verändern, was sich beispielsweise im Skelettbau ausdrückt. Und schließlich weiß man auch, wie Wildschweine in wenigen Generationen zu Hausschweinen werden, wenn man sie in Pferchen hält, vor Beutegreifern schützt und für ihre Ernährung sorgt. Diese Beispiele ließen sich noch bequem erweitern. Sie zeigen das Ausmaß von Einflüssen einer veränderten Lebensumwelt auf vererbliche Körpermerkmale – und beim Beispiel Wolf/Hund auch auf Veränderungen neuronaler, quasi kognitiver Leistungen. Hatte vielleicht das Erscheinen neuer Menschenformen im Verlauf der paläolithischen Menschheitsgeschichte auch etwas damit zu tun, dass sich ihre Lebenswelt stets in großen Intervallen veränderte? Und wenn ja, was waren das für Veränderungen? Der erste Urmensch kann in der Gruppe der Habilinen (Homo habilis und Homo rudolfensis) gesehen werden. Diese Gruppe entwickelte die erste systematische Steingeräteherstellung und -nutzung, nämlich das nach Bed I in der ostafrikanischen Olduvai-Schlucht benannte Oldowan. Diese Gerätschaft bestand anfangs aus serienmäßig abgespaltenen Abschlägen und durch Behauen von Geröllen scharfkantig gemachten Steinen (Abb. 122, 129– 130). Die Werkzeuge sind archäologisch weniger durch ihre Formgebung als durch methodisch erzeugte Merkmale einer bestimmten Abschlagtechnik identifizierbar. Seit knapp 2 Mio. Jahren genügten den Frühmenschen diese nur scharfkantigen, aber formal nicht wirklich gestalteten Geräte nicht mehr. Sie begannen sie zweckmäßiger zu machen, indem sie durch sogenannte Retusche den Kantenverlauf der Abschläge den damit zu leistenden Arbeitsvorgängen anpassten. Ebenso schufen sie durch weiteres Bearbeiten aus großen Abschlägen und flachen Geröllen große Hack- und Schneidwerkzeuge (Abb. 123–127). Das bedeutet ja, sie begannen nach 292
der „Erfindung“ der Werkzeuge, sie nun allmählich auch effektiver zu machen. Diese gezielt bessere Nutzbarkeit hat ihre Ursache bestimmt nicht in der bloßen Fähigkeit, in Abschlagtechnik auch Kanten der Steine weiter zu behauen, sondern in bestimmten Erwartungen und Ansprüchen der Existenzsicherung und Lebensgestaltung. Und so wie aus Homo habilis mit der ersten umfangreichen Steingerätekultur sich der Homo rudolfensis herausbildete, so veränderte dieser sich wiederum mit den anspruchsvolleren Werkzeugen und einer entsprechenden Lebensform zu Homo erectus (s. l.) und der Faustkeilkultur. Die, wie wir schon sahen, gut eineinhalb Millionen Jahre dauerte und eine zunächst sehr langsame Enwicklung aufwies, aber im Jungacheuléen zunehmende technologische Fortschritte hervorbrachte (Abb. 186– 187). Der Übergang vom Homo erectus zum Homo sapiens neanderthalensis und anderen archaischen Homo sapiens-Formen ging wiederum mit der sich in den Steingeräten ausdrückenden veränderten Lebensweise einher. Nun kündigen dünne LevalloisProdukte und Schaber mit flach retuschierten Arbeitskanten von dem Willen, Fleich sauber zu portionieren, um es so trocknen zu lassen und als Vorrat zu halten, oder um Häute zu bestimmten Kleidungszwecken oder Tragetaschen kontrollierter zuschneiden zu können (Foto 155). Außerdem verstanden es diese Menschen, Klebstoffe zu entwickeln – beispielsweise Birkenpech – um Geräte zu schäften und Messern stabile Griffe aus organischen Materialien zu verpassen (‚Kompositwerkzeuge‘ im Fachjargon). Der Übergang vom archaischen Homo sapiens zum „heutigen“ Menschen war ebenfalls mit den sich steigernden technischen Veränderung der Gerätschaft verbunden: Schmalklingen, Lamellen, mikrolithische Speereinsätze, Speerschleudern, Nähnadeln, Schmuck usw. wurden zwischen 100 000 und 30 000 zunächst vereinzelt, dann in immer schneller zunehmender Weise zu dem frühen jungpaläolithischen Gerätebestand entwickelt (Abb. 116). In Afrika wurde dieser Prozess unter klimatisch stabileren Verhältnissen etwas eher als in Europa schon früher eingeleitet, so dass sich dort schon sehr archaische Formen des ‚anatomisch Modernen Menschen‘ seit mehr als 200 000 Jahre zeigten. Trotzdem
Frühe Steingeräte in Europa
begann dort eine volljungpaläolithische Kultur zu einem deutlich späteren Zeitpunkt, in Nordafrika erst mit dem sogenannten Epipaläolithikum vor gut 20 000 Jahren. Der gesamte Ansatz zu dieser Entwicklung lag eindeutig im Mittelpaläolithikum und zeugt von ganz neu entstehender Lebensweise und veränderten Existenzbedingungen. In Europa und seinen östlichen Randzonen trat damit der Denisova und daraus nachfolgend der ‚anatomisch moderne‘ CroMagnon-Mensch hervor. Die eben geschilderten Stufensprünge lassen nun den Eindruck aufkommen, dass es nicht die verbesserten Hirne der jeweils neuen Menschenform sind, die die neue Kultur entwickeln, sondern diese Innovationen wurden zuerst jeweils von den Vorgängern geschaffen. Das heißt, alle Lebensformen der Vorgänger wurden soweit entwickelt, bis sie am Ende eine letzte, unaufhaltsame Veränderung erfuhren und dass daraus hervorgehend eine biologische Anpassung der Verursacher an das neue Existenzmillieu erfolgte. In Anlehnung an die körperliche Veränderung vom Wildtier zum Haustier möchte ich das in Bezug auf den Menschen als Selbstdomestikation bezeichnen. Ob das auch in geringster Weise von den Menschen beabsichtigt war, ist zu bezweifeln. Auch Rinder haben unter der Domestikation ihre Hörner aufgerichtet und Schweine haben die Farbe ihrer Haut und Haare von Schwärzlich zu Rosa gewechselt. Absicht dieser Tiere hinterliegt diesen Vorgängen ganz sicher nicht. Allerdings könnte es sein, dass innerhalb der sich verändernden menschlichen Populationen neue körperliche Eigenschaften als attraktiver angesehen wurden und damit die Vermehrungsrate dieser Formen höher war. Ausdrücklich möchte ich auch den genetischen Einfluss (Genfluss) benachbarter Populationen, beispielsweise des Vorderen Orients und letzlich auch Afri-
kas in Bezug auf Europa bei derartigen Vorgängen nicht ausschließen. Aber das wesentliche Geschehen war autochton (und spielte sich bezüglich des Neandertalers kulturell in der Blattspitzenzeit sowie im westeuropäischen Châtelperronien ab). Ein gutes Beispiel für diesen Veränderzungsprozess bietet die genetische Ausstattung des sogenannten Denisova-Menschen, der in diese Übergangszeit zu datieren ist (um gut 40 000 BP). In ihm sind sowohl kennzeichnende Erbmerkmale der Neandertaler gemeinsam mit solchen des Cro-Magnon-Menschen vertreten. Damit bezweifele ich zugleich den Versuch, ihn als eigene Menschenform zu betrachten, dessen Ursprung 300 000 Jahre in einer Zeit zurückliegt, in der sich Neandertaler und andere progressive Formen vom Homo erectus „abgezweigt“ haben sollen. Diesem phantasievollen Rassismus getrennter reiner Linien muss einfach widersprochen werden. Die archäologischen Funde aus der DenisovaHöhle zeigen dazu ziemlich krass den technokulturellen Fortschritt, mit dem der Wandel verbunden ist. Der Darwinismus hat bis heute den Blick auf die Evolution des Menschen einseitig ausgerichtet, indem nur ein gleichsam zufälliges Spiel der genetischen Veränderungen mit der Anpassungsfähigkeit an ökologische Nischen verbunden wurde. Aber zumindest der Mensch hat die Fähigkeit, seine technoökonomischen Lebensmodelle selbst zu gestalten. Seine körperliche Ausstattung passt sich als Folge nicht an eine ökologische Nische an, sondern den fordernden selbstveränderten Lebensumständen. Lamarck war also doch ein sehr kluger Gelehrter – but nobody is perfect. So sind ausschließliche Hypothesen (die umgangssprachlich immer Theorien genannt werden) nie absolut gültig, sondern sind jeweils geeignet erscheinende Sichtweisen auf die komplexe Wirklichkeit.
Frühe Steingeräte in Europa Die Neudatierung der quartären Terrassen des Mittelrheins und der unteren Nahe durch Johannes Preuß 2014/2015 und die unerwartet alten Funde darin sind hier noch kurz zu thematisieren. Manche der mit dem Paläolithikum befassten deutschen Archäologen haben eine Abneigung, sich mit Artefakten aus pleistozänen Flussablagerungen
zu beschäftigen. Dabei gehen die Entdeckungen der bedeutsamen Fundmengen des späten Acheuléen im Leinetal bei Hannover oder der mittelpleistozänen Inventare aus den Pleißeschottern bei Markkleeberg zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf derartige geoarchäologische Entdeckungen zurück. Auch der Unterkiefer des sogenannten Heidel293
Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
berger Urmenschen stammt aus einer Flussablagerung des Neckars. Diese mitteleuropäischen Funde zeigten ebenso wie die zahlreichen Entdeckungen an den westeuropäischen Flusssystemen von Themse, Somme, Seine, Loire und Garonne, dass die seinerzeit breiten Flusstäler mit ihren mäandrierenden, vagabundierenden Gewässern, weiten Kies- und Sandflächen, Rohmaterial liefernden Schottern und nicht zuletzt ihrem Wildreichtum bevorzugte Lebensräume waren. Außerdem boten wasserumflossene Kiesinseln dem Menschen gewissen Schutz vor nächtlich anpirschenden Löwen, Bären und großen Hyänen. Treibholz lieferte überdies hinaus auch gute Möglichkeiten zum Errichten von witterungsschützenden Windschirmen oder Hütten (Abb. 93). Die zahlreichen archäologischen Objekte in den Flussablagerungen wurden in den jeweiligen pleistozänen Epochen bei den ständigen Verlagerungen der Haupt- und Seitenarme solcher Gewässer einfach abgespült und eingebettet. Wenn heute ein Faustkeil, Levallois-Abschlag oder schön retuschierter Schaber aus Feuerstein in einer entsprechenden Kiesgrube (der Mittel- oder Niederterrasse) gefunden wird, ist es kein Problem, darin eine Hinterlassenschaft von mittelpaläolithischen Menschen zu sehen. Wenn aber ein viel gröberer Faustkeil, ein sehr einfacher Abschlag und ein grob retuschierter Schaber aus Quarzit oder gar Quarz in einer hohen alten Rheinterrasse gefunden wird, dann stellen sich seltsamerweise bei einigen Fachleuten Zweifel ein. Schon das Rohmaterial bietet ihnen Erkennensschwierigkeiten der technologischen Merkmale und wenn dazu eine gewisser natürlicher Abrieb kommt, dann bewerten sie die Funde lieber als Geofakte, also natürlich geformte Flussschotter (Fotos 36–38). Bei sehr stark abgerollten Stücken ist diese Skepsis teilweise nachvollziehbar, aber nicht bei denen, die nur eine Abrasion der Kanten zeigen (Foto 27). Selbstverständlich gehört viel Erfahrung zur verlässlichen Bestimmung von Artefakten aus den eben erwähnten Rohmaterialien dazu. Diese Erfahrung kann man sich bei genügendem Interesse auch innerhalb eines Jahres aneignen. Auch ein Ornithologe erkennt einen dunklen flatternden Punkt in 40 m Höhe am Himmel als Lerche. Nur der Laie hat diese Erfahrung nicht. Und vielleicht interessieren ihn Lerchen auch überhaupt nicht. Seit der Mitte des letzten Jahrhunderts sind Ar294
tefakte von 130 m über dem heutigen Ufer liegenden Terrassenflächen im Bereich der unteren Nahe/ oberer Mittelrhein bekannt. Und seit den sechziger Jahren entdeckte ich auf den Outcrops (bergmännisch für Ausbiss oder sichtbarem Zutagetreten einer geologischen Formation) ebenso hoch gelegenen eiszeitlichen Schotterterassen am Mittelrhein und der unteren Mosel solche Artefakte. Faustkeile sind unter diesen Funden selten, aber Chopper, Chopping-tools, Kerne und Abschläge liegen mittlerweile in großer Anzahl vor. Sie alle machen keinen mittelpaläolithischen Eindruck, sondern wirken herstellungstechnisch und formenkundlich älter. Dieser archaische Eindruck bestätigte sich durch die damalige geologische Datierung der Schotter auf knapp 800 000 Jahre. Zur Zeit dieser Entdeckungen gab es bis auf drei nicht sehr maßgebliche Artefakte keinen weiteren Fund aus einem originalen Anschnitt der alten Kiese und Sande. Aber alle gefundenen Geräte befanden sich ausschließlich auf Flächen, wo die Bodenerosion die Schotter freigelegt und schon in ihrem oberen Bereich abgetragen hatte (Outcrops). Die geologische Herkunft meiner Funde schien mir daher relativ eindeutig. Aber die Kritik einiger Fachkollegen war ablehnend bis voreingenommen. Es galt ja auch die Regel, in Europa gäbe es keine Nachweise menschlicher Anwesenheit vor mehr als 500 000, maximal aber 600 000 Jahren. Zwischenzeitlich liegen solche Nachweise älterer Anwesenheit zahlreich aus Südwesteuropa und sogar aus England vor. Mein größtes Manko in der Beweisführung schien mir trotz aller persönlicher Gewissheit in den fehlenden Funden aus sicherem stratigraphischem Zusammenhang, also direkt aus den Schotteranschnitten in einer Baugrube oder Kiesgrube zu sein. Doch derartige Aufschlüsse waren mir nicht bekannt. Erst als ich 2014 erfuhr, dass zwei Amateurarchäologen in einer „neu“ angelegten Kiesgrube bei Münster-Sarmsheim im Nahemündungsgebiet Faustkeile entdeckt hätten, sah ich die Chance, an „in-situ-Funde“ zu gelangen. Tatsächlich hatten die beiden Männer der Familie Stoll einen interessanten Faustkeil vom Kiesgrubenboden aufgelesen und einige kleinere Artefakte „aus der Wand“ geborgen. Seitdem bemühten wir uns gemeinsam und erfolgreich weitere Funde direkt aus dem Anschnitt der Kiesschichten zu bergen. Allerdings betrachte ich die Fundstücke von der Kiessohle, also den Faust-
Abb. 169: Unifacial bearbeiteter Protofaustkeil oder Pic. Souk-el-Arba-du-Gharb, NW-Marokko, Protoacheuléen (Zeichnung: L. Fiedler).
Foto 150: Levallois-Abschlag (111 � 71 � 19 mm). Dieser windgeschliffene Abschlag lässt die Feinpräparation seiner Schlagfläche nur noch undeutlich erkennen, sie ist aber bogenförmig aufgewölbt, so wie es für die echte Levallois-Technik kennzeichnend ist. Die Flächenpräparation des ursprünglichen Kerns ist durch zentripetal angeordnete Negative erkennbar. Der Fund gehört mit einiger Wahrscheinlichkeit zu einem Mittelpaläolithikum mit gestielten Geräten (Atérien). Bei In Salah (Algerien, nördliche Sahara).
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 151: Artefakte des Homo erectus heidelbergensis von Mauer. Obere Reihe: hakenförmig beidkantig retuschierter Abschlag (Bohrer) sowie zwei kaum modifizierte Abschläge; untere Reihe: beidkantig retuschierte Spitze (42 mm lang), beidkantig retuschierter spitzer Abschlag und unretuschierter scharfkantiger Abschlag. Alle aus Jurahornstein und mit glänzender Wasserpolitur durch den sanft strömenden Ur-Neckar (Reproduktion mit freundlicher Genehmigung durch das Reiss-Engelhorn-Museum, Mannheim).
keil und einige Chopper, auch als originäres Terrassenmaterial, da absolut verlässlich alle Deckschichten vor dem Abbau des begehrten Terrassenkieses mit schweren Maschinen abgeräumt worden sind. Endlich war also der robuste Erweis erbracht, dass der Mensch zur Zeit der Terrassenbildung am Rhein anwesend war. Nun kam als zweiter Umstand hinzu, dass Professor Johannes Preuss von der Universität Mainz auf Grund der Auswertung von über 700 gezielt angesetzten Bohrungen am Oberen Mittelrhein und der unteren Nahe sich gezwungen sah, die Anzahl der bekannten pleistozänen Terrassen von bisher zwölf auf achtundzwanzig zu erhöhen. Ebenso stellte er fest, dass die frühere geologische Datierung der sogenannten Hauptterrasse auf etwa 800 000 Jahre unrealistisch ist, sondern ein ermittelbares Alter von 1,3 Mio. Jahre haben müsste! Zu diesen Terrassen gehört auch die, die uns 2015 bis 2017 Artefakte im in-situ-Zusammenhang lieferte. 296
Preuss hatte sogar Funde des Acheuléen an einem anderen kleinen Aufschluss in einer bedeutend höheren Terrasse gemacht, die etwa 1,6 Mio. Jahre alt ist! Zusätzlich gab es einen ersten Hinweis auf mögliche Steingeräte in noch älteren Sedimenten. Zur Erinnerung: Bed II in der OlduvaiSchlucht mit den ersten richtigen Faustkeilen ist zwischen 1,7 und 1,6 Mio. Jahre alt. Eine Entdeckung durch Christian Humburg, der sehr archaische Steinartefakte in einem kurzen in-situ-Abschnitt eines pliozänen Aufschlusses entdeckte, betrachten wir als Beweis dafür, dass auch ein Pendant in Mitteleuropa zum afrikanischen Oldowan vorhanden war. So frühe Funde hätte in Mitteleuropa wirklich niemand erwartet. Aber sie liegen jetzt vor und verändern unsere Vorstellung, die besagte, dass der Mensch erst vor maximal 0,6 Mio. Jahren aus Afrika in Europa angelangt sei. So konnten wir vermuten, dass auch die fünf Schädel aus Dmanisi im
Frühe Steingeräte in Europa
Foto 152: Protolevallois-Klinge (88 � 35 � 9 mm). Diese Klinge kommt auch aus einer älteren Sammlung. Ohne nähere Angaben passt sie gut in den Kontext anderer alt- und mittelpaläolithischer Klingen im Bergeracois, die noch nicht die Perfektion der Levallois-Technik auszeichnet, weil die Schlagflächen- und AbbauflächenPräparation noch primitiver ist. Zweifellos repräsentieren derartige Produkte eine beabsichtigte Klingenherstellung, die im Laufe der Zeit technologisch mehr und mehr weiterentwickelt wurde. F. Bordes fasste das unter dem Begriff Protolevallois-Technik zusammen. Um Verwechselungen auszuschließen, habe ich die Bezeichnung Bergeracois-Technik vorgeschlagen. St. Sauveur, Bergeracois.
Foto 153: Levallois-Klinge aus Flint (94 � 48 � 9 mm). Der Quartärgeologe Rudolph Grahmann fand diese Klinge bei einer Exkursion mit französischen Kollegen in den fünfziger Jahren. Ihre Schlagfläche trägt die typische, sorgsame Präparationsretusche mit schwach sinusförmiger Kontur. Präparationsnegative der Abbaufläche des Kerns erkennt man nur in Resten linkslateral; die übrigen Dorsalnegative sind Zeugnisse der serienhaften Gewinnung von Klingen oder gestreckter Abschläge. Dies ist ein Unterschied zwischen LevalloisKlingenkernen einerseits und Levallois-Spitzen- sowie -Abschlag-Kernen andererseits, bei denen die Fläche des Kerns für jeden Zielabschlag überarbeitet wurde. Die hier angewandte Technik kennzeichnet auch das Mittelpaläolithikum Afrikas, Europas und weiter Teile Asiens in vollkommen gleicher Weise. Damit erweist sich die Kultur der Neandertaler Europas nicht als isoliert vom Rest der damaligen Welt. Coudray, N-Frankreich.
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Teil 2: Essays zum Faustkeilphänomen
Foto 154: Ventral retuschierter Schaber (100 � 69 � 25 mm). Ventral kantenretuschierte Geräte nehmen im Verlauf des Alt- und Mittelpaläolithikums deutlich ab und können als archaisches Merkmal der Steingerätbearbeitung gewertet werden. Im Bergeracois kommt so etwas, wie im vorliegenden Artefakt, im Jungacheuléen nur noch selten vor. Das Artefakt fand sich im Aushub einer Baugrube. St. Sauveur, Dordogne, SW-Frankreich.
Foto 155: Schaber aus ‚Bergeracois-Abschlag‘ (97 � 51 � 13,5 mm). Der Schaber trägt im proximalen Bereich beidkantige Kerben, die darauf hindeuten, dass das Gerät für eine Schäftung gedacht war. Die schräge zur Grundform angelegte Schaberretusche wurde betont scharf gehalten und gibt damit den Hinweis auf eine schneidende Funktion. Die Grundform des Artefakts ist ein Protolevallois- oder Bergeracois-Abschlag von einem leger präparierten Kern. Gafsa NW, SW-Tunesien.
Kaukasus mit einem Alter von gut 1,7 Mio. Jahren eigentlich schon längst dafür sprachen, dass die alte Out-of-Africa-Hypothese bezüglich einer schubweisen Besiedlung der Welt von dort aus eine deutliche Schwäche erkennen lässt und dass schon in der Oldowan-Zeit der Mensch sich über die alten Kontinente verbreitet hatte. Der Ursprung der Menschheit kann nun nicht mehr allein im Gebiet des ostafrikanischen Grabenbruchs vermutet werden, sondern in einem erweiterten Bereich, dessen Grenzen bisher aber kaum bekannt sind.
Und kämen die oberrheinischen Dryopithecinen, die noch vor weniger als 20 Mio. Jahren als teilweise aufrecht gehende Menschenaffen lebten, oder noch mehr der vor ungefähr 7 Mio. Jahre nachgewiesene aufrechtgehende Graecopithecus nicht doch als Vorfahren der Australopithecinen in Frage? Die Forschung ist längst nicht an einem Punkt angelangt, an dem wir sagen könnten, wir wüssten alles über die Vorfahren der ersten Menschen.
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Frühe Steingeräte in Europa
Foto 156: Breitschaber aus Messak-Quarzit (60 � 99 � 28 mm). Das im typischen Stil des westeuropäischen Charentien, genauer des Quina-Stils, hergestellte mittelpaläolithische Gerät könnte gut für eine vollkommen gleichzeitige und sehr ähnliche technologische Entwicklung nördlich und südlich des Mittelmeeres stehen. Die von der Paläoanthropologie vollzogene Abgrenzung des Homo sapiens neanderthalensis von den frühen anatomisch ‚modernen‘ Menschen (Nord-)Afrikas ist schon wegen ihres technologisch gleichwertigen Verhaltens fraglich, aber direkte Kontakte der europäischen Mittelpaläolithiker über den Vorderen Orient nach Nordafrika gehen absolut sicher weit über hypothetisches Bestehen hinaus. Das Fundareal ist ein abgelegener verlandeter See mit erhaltenen Tierknochen in der Seekreide. Eine Einzelkartierung der sichtbaren und vor Ort belassenen Artefakte, die alle den Charakter des Jungacheuléen trugen, wurde von H. Quehl und dem Autoren durchgeführt. Das Gelände könnte als Grabungs-Schutzgebiet dienen. A-02–14, nördliche Murzuk-Wüste, S-Libyen.
Foto 157: Moustier-Spitze (66 � 40 � 18 mm). Der Finder (E. A.) erinnerte sich nicht mehr genau daran, wo er bei seiner Tour in das Bergeracois diese Spitze aufgelesen hat. Ihre Kanten sind relativ flach bearbeitet und das trennt den Typ von den ansonsten sehr ähnlichen spitzen Doppelschabern. Creysse oder St. Sauveuer, SW-Frankreich.
Foto 158: Einfacher Schaber (65 � 37 � 25 mm). Georg Cubuk fand diesen Schaber oberflächig bei einer FotoTour irgendwann um 1970 herum. Seine Retusche wirkt nicht besonders sorgsam gemacht, sondern eher wie flüchtig gezähnt. Derartige Geräte aus dem Charentien, Moustérien oder – was in diesem Fall wahrscheinlich ist – aus dem MTA können durchaus als ad-hoc-Instrumente verstanden werden, deren Form im Verlauf der Benutzung und durch wiederholtes Nach-Retuschieren entstanden ist. In seiner Einfachheit setzt so etwas die Tradition gezähnter Geräte des Altpaläolithikums fort und wäre als Einzelfunde typologisch undatierbar. Combe Capelle, Dordogne, SW-Frankreich
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3. Die Archäologie der Faustkeilepoche 3.1 Steingeräte vor den Faustkeilen – das Oldowan Der Beginn des Gebrauchs von Steinen als Werkzeuge erschließt sich nur aus dem Verhalten heutiger Affen. Bonobos, Schimpansen und Kapuzineraffen heben brauchbare Gerölle zum Hämmern auf oder zerschmettern auch Steine in scharfkantige Splitter. So ist zu Recht zu vermuten, dass die Anfänge der Benutzung von Klopfsteinen oder Splittern wahrscheinlich in der Zeit der frühen Australopithecinen geschahen. Von ihnen wissen wir, dass sie gefundene lange Knochensplitter oder Rippen benutzt haben, um Termitenbauten aufzugraben und so an die nahrhaften Insekten zu gelangen. Ausgesplitterte Klopfsteine und davon abgeplatzte „Abschläge“ mit einem Alter von über 3 Mio. Jahren wurden in Ostafrika (Lomekwi) schon ausgegraben. Aber diese interessanten Funde sind keine Zeugnisse einer allgemein und überall geübten systematischen Steinzerlegung zur Werkzeuggewinnung. So etwas ist erst – ebenfalls aus Ostafrika – seit der Zeit vor gut 2,5 Mio. Jahren bekannt. In dieser Zeit lebte der Homo rudolfensis. Nach Beobachtungen, die Christian Humburg wohl als erster an europäischen Funden machte, hat neben der Abschlagtechnik auch die bipolare Ambosstechnik (Abb. 218) einen deutlichen Anteil an der sehr frühen Gewinnung scharfkantiger Spaltstücke. Sie sind technologisch durchaus von den meisten wahllosen ‚Eolithen‘ unterscheidbar. Die Abschläge dieser ersten Werkzeugproduktion wurden gewöhnlich nicht weiter modifiziert, sondern so benutzt, wie sie waren (Abb. 128,1). Aber aus zusammensetzbaren Abschlägen aufeinander oder auch an ihrem Restkern ist zu erkennen, dass die Hersteller sich aus einer Serie von Abschlägen offenbar passende Stücke herausgesucht hatten. Aus dem Abschnitt vor etwa 2,5 Mio. Jahren liegen aus Ost- und Nordwestafrika die ersten modifizierten, also kantenbehauenen und damit passend gemachten Abschläge vor. Zu einem systematischen Retuschieren kam es dann in den nächsten 400 000 Jahren (Abb. 130,2). Es ist davon auszugehen, dass auch die Kerne, von denen einige Abschläge abgetrennt worden sind und die dadurch scharfe Kanten erhielten,
zum Hacken und Schaben benutzt worden sind. Diese Kerngeräte sind die Épannelés, Diskoide, Chopper und Chopping-tools. Die Ausgangsform für Chopper sind zumeist leicht abgeplattete Gerölle. An einer Kante wurde dieser Stein mit wenigen kräftigen Schlägen aus gleicher Richtung behauen. Die so bearbeitete Kante erhielt damit eine einigermaßen scharfe Kante mit einem Winkel um 55 ° (Abb. 129,1 u. 130, 4–5). Chopping-tools tragen dagegen eine bifacielle Bearbeitung einer Kante und deren Schneide ist entsprechend gewellt (Abb. 127, Foto 84). Die bei ihrer Herstellung abfallenden Abschläge tragen meistens noch ein Teil der ursprünglichen Gesteinsrinde auf ihrer Oberseite und auch die Schlagfläche besteht häufig aus diesem Kortex (Abb. 130, 1–2). So urtümlich diese Artefakte auch sind, haben sie sich doch bis zum Neolithikum gehalten. Dort wurden völlig abgenutzte, ansonsten unbrauchbare geschliffene Beilklingen nicht selten nochmals in der eben beschriebenen Weise zu Choppern oder Chopping-tools zurechtgehauen. Sehr bedeutsam sind die kugelig gearbeiteten, kantigen Polyeder. Ihre stratigrafische Zugehörigkeit zum Oldowan ist sowohl an der namensgebenden Fundstelle als auch schon früh von dem nordalgerischen Ain Hanech erwiesen worden. Neuere Grabungen an der nahe von Ain Hanech gelegenen Fundstelle Ain Boucherit (Sahnouni 2018) mit Abschlägen – teilweise grob retuschiert – Choppern und Kernen erbrachten ebenfalls Polyeder, alle mit einem Alter von deutlich über 2 Mio. Jahren. Die einst zahlreich geborgenen Artefakte von Souk-el-Arba-du-Rharb (oder Gharb) in Marokko dürften kaum wesentlich jünger sein. Pierre Biberson datierte sie schon Ende der fünfziger Jahre in die Zeit von Bed 1 der Olduvai-Sequenz. Auch hier liegen neben Choppern, Chopping-tools, diskoiden Kernen und Abschlägen zahlreiche Polyeder sowie erste, ungemein urtümliche Faustkeile vor (Abb. 131–135). Anzumerken ist noch, dass neuerdings auch aus China von hochgelegenen Lössplateaus Artefakte bekannt wurden, die ebenfalls etwas über 2 Mio. Jahre datiert sind. 301
3. Die Archäologie der Faustkeilepoche
3.2. Das Aufkommen der ersten Faustkeile Die meisten technischen Dinge unserer heutigen zivilisatorischen Umwelt sind offenbar Erfindungen: Rad, Getriebe, Pumpe, Glühbirne, elektrischer Herd, Radio, Computer, Atombombe usw. Bei genauem Nachdenken erkennen wir, dass die geistige Leistung dabei stets war, schon vorhandene naturgesetzliche Kräfte und Prozesse zu erkennen und sie in einer speziellen dinglichen Weise nutzbar zu machen. Denn Hebelkräfte, Verbrennung, Elektrizität, Wellen, duale Einheit, Informationsspeicherung oder atomare Kraft sind keine Erfindungen, sondern im gesamten Kosmos angelegte strukturelle und prozessuale Phänomene. Die Erfindung ist die Nutzbarmachung solcher Phänomene in einer jeweiligen Phase der zivilisatorischen Entwicklung und den darin entwickelten Bedürfnissen. Wahrscheinlich wusste jeder Homo rudolfensis vor 2,5 Mio. Jahren, dass man einen Kieselstein über den Boden kullern lassen kann. Er hat aber nicht den Schluss daraus gezogen, dass Lasten auf rotierenden rundlichen Objekten leicht über den Boden zu rücken oder zu transportieren sind. Denn dieser Schluss war in seiner existenzsichernden Ökonomie nicht erforderlich. Die Entdeckung des Rades war unnötig in einer Gemeinschaft, die vom Sammeln und Jagen lebte. Erst in der Jungsteinzeit wurde das Prinzip Rad beim Transport von Baumaterial für große Häuser, Kultanlagen, megalithischen Bauten, Erntetransporte und ersten Fernhandel genutzt. Keiner hat das Rad erfunden, es wurde aus untergelegten Rollen beim Rücken von Baumstämmen oder dem Umsetzen sehr großer Steine heraus allmählich entwickelt. Auch unsere heutigen Großflugzeuge sind keine Erfindung, sondern gehen auf erste „primitive“ Flugapparate der frühen Neuzeit und des späten 19. Jahrhunderts zurück. So gesehen ist der Faustkeil ebenfalls keine Erfindung eines cleveren Homo erectus, sondern das Ergebnis eines mehrere Jahrtausende langen Nutzens von scharfkantig gehauenen Steinen zu immer spezielleren Zwecken. Dabei ging es wahrscheinlich nicht einmal um das Prinzip besserer Nützlichkeit, sondern vielmehr um die in den Gesellschaften gespeicherte Erfahrung beim ‚Aufbrechen‘ getöteten
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Großwildes. Genügte anfänglich ein scharfer Knochensplitter oder ein irgendwie scharfkantiger Stein, so gelangte man doch über lange Zeiträume zu der Vorstellung, dass Steine mit zurechtgehauenen spitzen Kanten dazu dienlicher sind als nur zertrümmerte Steinfragmente. Erst wenn ein Gebrauch solcher „Chopper“ (Foto 95) lange zu einer festen Tradition geworden ist und sich immer mehr erweist, dass besonders konvex oder sogar spitz zugerichteten Steine es an sich haben, einen Zerlegungsvorgang von Wild damit günstiger zu vollziehen, fängt man hier und da an, das notwendige Steinwerkzeug dieser Gunst mehr und mehr anzupassen – und das obwohl die traditionelle Weise der Steinbenutzung den Erhalt der Gemeinschaft bisher voll gesichert hatte. Erst nach einer halben Million Jahren, in denen nur systematisch zerlegte Gesteinsscherben (Abschläge) und ebenso systematisch gestaltete grobe Chopper benutzt wurden, erschienen die ersten summarisch realisierten Faustkeile (Fotos 96–97) vor etwa 2,0–1, 7 Mio. Jahren. Bemerkenswert ist dabei, dass sich nach der Zeit des bloßen Scharfkantigmachens von Steinen dann mit der ersten Gestaltung formal bestimmter Artefakte auch der Wechsel vom Homo rudolfensis zu dem neuen Menschentyp des Homo erectus vollzogen hat. Daher ist denkbar, dass nicht das größere, leistungsfähigere Gehirn den Faustkeil entwickelte, sondern für erweiterte technokulturelle Konzeptionen eine passende Evolution des Gehirns und der übrigen körperlichen Ausstattung des Menschen stattfand. Dann hätte J. B. de Lamarck mehr Einsicht in Entwicklungen gehabt als C. Darwin. Die frühesten Faustkeile lassen sich bisher auf knapp 2 Mio. Jahre datieren. Es sind entweder kantenbehauene, in annähernd ovale Form gebrachte Abschläge (Abb. 31) oder spitz zugehauene Gerölle mit mehr oder weniger gezackten, welligen Kanten, die eine Art groben Sägeschnitts ermöglichten (Abb. 99, Foto 19). Die bei späteren Faustkeilen deutlich symmetrische Gestaltung erschien zunächst nur zufällig oder prototypisch.
3.2. Das Aufkommen der ersten Faustkeile
Abb. 170: Protofaustkeil aus massivem Quarzitabschlag. Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: B. Kaletsch).
Abb. 171: Einfacher Faustkeil aus einem Abschlag von quarzitischer Grauwacke. Casablanca, Sidi Abderahmane, in situ 22 m ü. NN durch Georg Cubuk geborgen. Altacheuléen (Zeichnung: L. Fiedler).
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3. Die Archäologie der Faustkeilepoche
Abb. 172: Gestreckter massiver Faustkeil. Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: L. Fiedler).
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3.2. Das Aufkommen der ersten Faustkeile
Abb. 173: Gestreckter massiver Faustkeil. Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 174: Gestreckter massiver Faustkeil. Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: L. Fiedler).
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3. Die Archäologie der Faustkeilepoche
Abb. 175: Einfacher Faustkeil aus einem Geröllfragment. Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 176: Einfacher Faustkeil aus einem Quarzitgeröll. Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: L. Fiedler).
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3.2. Das Aufkommen der ersten Faustkeile
Abb. 177: Einfacher Faustkeil aus einem Quarzitgeröll. Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 178: Einfacher Faustkeil aus einem Quarzgeröll. Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: B. Kaletsch & L. Fiedler).
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3. Die Archäologie der Faustkeilepoche
Abb. 179: Spitzer, gestreckter Faustkeil. Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: B. Kaletsch & L. Fiedler).
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Abb. 180: Massiver triedrischer Faustkeil mit zungenförmiger Spitze. Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 181: Massiver triedrischer Faustkeil mit zungenförmiger Spitze. Münzenberg, Zentralhessen (Zeichnung: L. Fiedler).
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Abb. 182: Massiver Faustkeil mit partiell unbearbeitetem Kortexrücken aus einem Hellaflinta-Geröll. Scheeßel, Nördliches Niedersachsen (Zeichnung: Ernst Prokop, leicht verändert).
Abb. 183: Massiver mandelförmiger Faustkeil aus einem Quarzgeröll. Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: B. Kaletsch & L. Fiedler).
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3.2. Das Aufkommen der ersten Faustkeile
Abb. 184: Mandelförmiger Faustkeil aus bräunlich-grau patiniertem Feuerstein, mittleres Acheuléen. Creysse (Trassenaushub), Dordogne (Zeichnung: L. Fiedler).
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3. Die Archäologie der Faustkeilepoche
Abb. 185: Mandelförmiger Faustkeil aus einem Quarzitabschlag (mit Kombewa-Negativ auf der Ventralfläche), Altacheuléen von Münzenberg, Zentral-Hessen. (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 186: Massiver mandelförmiger Faustkeil aus Münzenberger Blockquarzit, ‚harte‘ Bearbeitungstechnik. Gambach, Zentral-Hessen (Zeichnung: B. Kaletsch).
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Abb. 187: Faustkeil des Jungacheuléen in kennzeichnender Mandelform und ‚weicher‘ Schlagtechnik. Murzuk-Wüste, S-Libyen (Zeichnung: B. Kaletsch).
Abb. 188: Kleinere Faustkeile vom selben Fundplatz wie die Faustkeile Abb. 110, 140 und 187. Murzuk-Wüste, S-Libyen (Zeichnungen: L. Fiedler).
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3. Die Archäologie der Faustkeilepoche
Abb. 189: Kleine Faustkeile des Altacheuléen von Amguid-West, algerische Sahara (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 190: Miniaturfaustkeil aus Quarz von Makuyuni, Tansania (Zeichnung: L. Fiedler).
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3.2. Das Aufkommen der ersten Faustkeile
Abb. 191: Faustkeil mit intentional angelegtem, sehr scharfem ‚Bec‘ an der Spitze. Aus Feuerstein gemachtes Gerät des Altacheuléen von Amguid-W, Zentralalgerien (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 192: ‚Biface nucleiforme‘, vielleicht nur ein kleiner Kernstein in Faustkeilform oder aber Rest eines als Kern benutzten Faustkeils. Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: B. Kaletsch).
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3. Die Archäologie der Faustkeilepoche
Abb. 193: Faustkeiltyp ‚Ficron‘ mit basalen Abschlagnegativen am Talon, die das „Jagdmesser Faustkeil“ zugleich als Kern ausweisen, von dem in steinlosen Steppen auch benötigte scharfkantige Teile abgehauen werden konnten, ohne dass damit der Faustkeil als zerstört und nutzlos geworden betrachtet wurde. Älteres Acheuléen Nordafrikas (Berliner Sammlung P., Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 194: ‚Faustkeil mit Rücken‘ oder ‚Faustkeilmesser‘ bzw. ‚Keilmesser‘. Das aus einem feinkristallinem Quarzgeröll hergestellte Werkzeug hat eine faustkeilartige Spitze und eine bifaciell behauene scharfe Kante; die gegenüberliegende Kante, der ‚Rücken‘, wird durch den natürlichen Kortex der Grundform gebildet. Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: B. Kaletsch).
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3.2. Das Aufkommen der ersten Faustkeile
Abb. 195: Faustkeil mit einer unifacial bearbeiteten Kante. Eigentlich sind Werkzeuge wie dieses eine technologisch bedingte Sonderform gewöhnlicher Faustkeile, die aber im englischsprachigen Afrika als ‚bifacial knifes‘ bezeichnet werden. Die meisten davon sind aus Abschlägen (oft der Tabelbala-Technik) gemacht worden Solche Grundformen lassen es manchmal zu, dass nicht beide Kanten bifaciell bearbeitet werden müssen, sondern eine davon nur einer formgebenden, schaberartigen Retusche bedarf. Da solche Kanten gerader sind als bifaciell behauene, sind sie als „Schaber“ – beispielsweise bei der Holzbearbeitung – auch zu gebrauchen.
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3. Die Archäologie der Faustkeilepoche
Abb. 196: Bifacial knife, cleaverähnlicher Faustkeil mit einer scharfen Kante. Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: B. Kaletsch).
Abb. 197: Bifacial knife, Ficron mit einer schaberartigen Kante. Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: L. Fiedler).
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Abb. 198: Bifacial knife, gestreckter spitzer Faustkeil mit einer schaberartigen Kante. Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: B. Kaletsch).
Abb. 199: Bifacial knife, gestreckter Faustkeil mit kantigem Rücken und gegenüberliegender Schneide. Dieser Faustkeil trägt die vorangestellte Bezeichnung zu Recht, da er einen kantig belassenen Rücken und eine gegenüberliegende scharfe Schneide besitzt. Man könnte dazu auch Keilmesser sagen. Altpaläolithikum von Münzenberg, Zentral-Hessen (Zeichnung: L. Fiedler).
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3. Die Archäologie der Faustkeilepoche
Abb. 200: Chopping-tool mit drei Schlagnarbenfeldern. Es wurde aus dem Schotter der weitgehend erodierten 200 m-Terrasse oberhalb von Rhens-Brieden geborgen. Es könnte auch älter als diese Terrasse sein, weil auch die etwas höheren Terrassen alle weitgehend abgetragen sind und nur an einigen Rinnen als „Geröllskelette“ von ihrer Existenz zeugen. Mittleres Mittelrheintal (Zeichnung: L. Fiedler und H. Thieme).
Abb. 201: Chopping-tool oder schon Protofaustkeil aus Quarzgeröll. Zwischen sehr urtümlichen Chopping-tools, die mit nur drei bis fünf Schlägen zugerichtet sind und solchen, die eine sorgsam behauene Schneide haben, gibt es vielerlei Übergänge. Angesichts des hier vorgestellten Artefakts könnte man sich vorstellen, dass eine der Linien zur Entwicklung von Faustkeilen über derart aufwendig bearbeitete Chopping-tools verlief. Da wir aber auch Protofaustkeile aus Abschlägen kennen, geschah dieser Prozess nicht unilinear, sondern komplexer. Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: B. Kaletsch & L. Fiedler).
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3.3 Das Altacheuléen; die frühe Faustkeilzeit
3.3 Das Altacheuléen; die frühe Faustkeilzeit Die eben beschriebenen frühen Protofaustkeile wurden auch später noch immer dann hergestellt, wenn kein geeignetes Rohmaterial für die Anfertigung entwickelter Formen zur Verfügung stand oder wenn aus geringem Anlass keine Notwendigkeit vorhanden war, das aufwendige technische Prozedere zum Erlangen eines besseren Faustkeils durchzuführen. Dort, wo es in Afrika übereinander gestapelte Fundschichten der frühen Altsteinzeit gibt, am Omo, Awash oder in der Olduvai-Schlucht, lässt sich die Entwicklung von Faustkeilformen zwischen knapp 2 Mio. und 350 000 Jahren gut beobachten. Besonders alte Geräte sind eher summarisch gestaltet. Offensichtlich gab es nur die Vorstellung, ein Faustkeil sei dann fertig, wenn er spitz und mit irgendwie schneidenden Längskanten ausgestattet war. Die Faustkeile jener Zeit sind meistens mit re-
lativ wenigen Hieben – oft unter zwanzig – zurechtgehauen. Ihre Querschnitte sind massiv rhombisch, manchmal eher dreikantig (Abb. 83–84, 159–181). Neben gestreckt spitzen oder zungenförmigen Faustkeilen kommen breitschneidige Cleaver (148– 157) und faustkeilähnliche Messer mit nur einer betont scharfen Kante vor (Keilmesser oder ‚bifacial knifes‘, Abb. 196–199, Foto 177). Bei Faustkeilen, die in jener frühen Zeit aus großen Abschlägen hergestellt wurden, finden sich gelegentlich auch dünnere und etwas eleganter aussehende Exemplare. Aber ihr Gelingen unterlag wahrscheinlich eher dem Zufall als einer Standardvorstellung (Fotos 110–113). Vor rund 1,5 Mio. Jahren wurden Abschläge als Grundformen der Faustkeilherstellung häufiger. Das bewirkte eine einfachere Kantenbearbeitung und damit auch der Formgebung des Umrisses
Foto 159: Polyeder des Mittelpaläolithikums (110 � 111 � 94 mm). Polyeder aller Größenklassen sind auch noch im Mittelpaläolithikum der großen nordafrikanischen Ebenen ein wichtiger Bestandteil der Steingerätinventare. Felsbilder der sogenannten ‚Jägerischen Epoche‘ zeigen oftmals bewaffnete, häufig mit symbolischen „Masken“ (eher Clan- oder Namenshinweise?) versehene Männer, die Bögen und keulenförmige Gebilde in den Händen tragen. Dass es sich bei Letzteren nicht um Keulen, sondern um Steinschleudern handelt, geht aus den oftmals mit abgebildeten, deutlich beladenen Umhängetaschen hervor, die über Schulter und Armbeuge hängen. In ihnen wurden die Schleudergeschosse (Polyeder) getragen. Nördliche Murzuk-Wüste (Atérien-Lagerplatz), S-Libyen.
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Foto 160: Faustkeil mit asymmetrischem Talon (106 � 69 � 32 mm). Das Fundgelände nordwestlich von Gafsa liegt nördlich einer gestreckten Senke an einer ehemals zutagetretenden mesozoischen Kalkrippe mit qualitätvollem Feuerstein. Das hat Menschen vom älteren Acheuléen bis zum Capsien und sogar Neolithikum angezogen. Artefakte des älteren und mittleren Acheuléen sind gewöhnlich angewittert und dick patiniert, die des Jungacheuléen und Mittelpaläolithikums weiß oder marmoriert patiniert. Dem hier gezeigten Faustkeil entbehrt die für diese Typen oft vorhandene braune oder sandig hellgraue Verwitterungsoberfläche. Vermutlich lag er tief in schützendem Sediment. Gut erkennbar zwei Schärfungsabhiebe an der Spitze des Geräts. Stilistisch gehört es trotz der groben Machart vermutlich schon ins Mittelpaläolithikum. Gafsa NW (El Mektar), SW-Tunesien.
Foto 161: Mittelgroßer Faustkeil mit leicht angewitterter Oberfläche (154 � 86 � 36 mm). Wegen seines Erhaltungszustands, der gestreckten Form und offensichtlich ‚harter‘ Bearbeitung gehört dieser Fund nicht zu dem auf anschließendem Areal vorhandenen Jungacheuléen, sondern in eine ältere Zeit der Faustkeilkultur. Nördlich Murzuk-Wüste, S-Libyen.
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Foto 162: Keilmesser des späten Acheuléen oder des MTA (106 � 64 � 39 mm). Keilmesser dieser Art wurden in der französischen Archäologie als bifaciell gestaltete Schaber verstanden, wenn sie eine deutliche Spitze trugen auch als bifaces à dos, also Faustkeile mit Rücken. Der Name Keilmesser wurde von K. H. Jacob-Friesen für ähnliche Funde aus den Kiesgruben im Leine-Tal bei Hannover geprägt, die zum Jungacheuléen gehören. Erst viel später bezog G. Bosinski den Namen ausschließlich auf mittelpaläolithische Geräte seines „Micoquien“. O. Jöris sah ihr Vorkommen in einem schmalen Zeithorizont in der Mitte der letzten Kaltzeit. Heute wissen wir, dass Faustkeile und bifacielle Messer – beide mit Rücken – seit dem Beginn der Faustkeilkultur vorhanden sind und als spezielle Typen bis an das Ende des Mittelpaläolithikums in Europa und Nordafrika hergestellt wurden. Der hier gezeigte Fund gehört wahrscheinlich zum späten Acheuléen. Creysse (Bergeracois, SW-Frankreich).
(Abb. 170–185). Das wiederum könnte der Anlass dafür gewesen sein, auch Faustkeilen, für die Gerölle oder Felstrümmerstücke als Ausgangsformen zur Verfügung standen, mit einem besseren Gefühl für Symmetrie und Kantenschärfe anzufertigen (Abb. 183). Auch andere Steinwerkzeuge, wie Schaber und Bohrer (Fotos 59–60, 88–90) erhalten nach und nach eindeutigere Formen, bis auch sie vor rund 1,3 Mio. Jahren zu „Typen“ werden, die eine fester gefügte gedankliche Konzeption widerspiegeln. Al-
lerdings unterbleibt auch hier meistens die Sorgsamkeit für einen ganz ebenmäßigen Kantenverlauf noch sehr lange. Das ändert sich erst sehr langsam, wie es die Funde aus Bed III der Olduvai-Schlucht (vor etwa 0,8 Mio. Jahren) dann zeigen. Dort wurden die genannten Werkzeuge oft aus den besten verfügbaren Rohmaterialien hergestellt und sind häufig von geringer Größe. Sie können unter dem Begriff ‚Kleingeräte‘ subsummiert werden (Foto 54, 85, 90).
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3.4 Das Jungacheuléen und das Mittelpaläolithikum mit Faustkeiltradition. Vielfalt der Geräteformen und Inventarzusammensetzungen Es gibt für die Archäologie der Altsteinzeit keine Möglichkeit, eine messerscharfe Grenze zwischen dem Altacheuléen und dem Jungacheuléen zu bestimmen. Der Übergang ist fließend. „Schöne“ Faustkeile können vereinzelt schon sehr früh auftreten und grobe, nachlässig gemachte bleiben bis zum Ende der Faustkeilkultur keine ungewöhnlichen Funde. Deshalb sagen viele Wissenschaftler, es sei grundsätzlich unmöglich, Einzelfunde von Faustkeilen irgendeiner Epoche dieser Zeit zuzuweisen. Aber die schon früh entwickelte Vorstellung von einer „Evolution“ der Steingeräte von groben zu sauber bearbeiteten Geräten bestätigt sich doch, wenn es um Fundmengen und nicht um Einzelstücke geht. Außerdem zeigen auch herstellungsund bearbeitungstechnische Methoden den behutsamen Wandel von urtümlichen zu anspruchsvolleren Konzepten der Faustkeilrealisierung an. Die Kombewa- und Tabelbala-Tachenghit-Technik (Abb. 214, 217) zur Vorproduktion großer Grundformen für Faustkeile und Cleaver wurden offensichtlich schon im Altacheuléen entwickelt und bestimmen dann im frühen Jungacheuléen Afrikas (ab mindestens 800 000 BP) die Herstellungsweise von Faustkeilen. Zur Letzteren gibt es ein südafrikanisches Pendant, die Victoria-West-Technik, in der die Kontur der Kerne steiler behauen wurde und die Oberfläche des Zielabschlags im Prinzip
etwas sorgsamer präpariert wurde. Dahinter steht ganz sicher keine abweichende Tradition des Acheuléen, sondern die Reaktion auf Besonderheiten der unterschiedlichen Sorten von Quarzit, Basalt, Obsidian oder Chalzedon. Die formale Vielfalt der Faustkeile dieser Zeit reizt zur wissenschaftlichen Klassifizierung in elliptische, ovale, herzförmige, mandelförmige, tropfenförmige und flaschenförmige (Abb. 67–78, 123– 134). Die zahlreichen Zwischenformen, die die Zuweisung erschweren, lassen den Verdacht aufkommen, nicht alle seien in den Vorstellungen ihrer Hersteller entsprechend unserer formalen Untergliederung gemacht worden. Also stellt sich die Frage, ob vielleicht das verfügbare Rohmaterial in Volumen, Schlankheit oder Matrixeigenschaften mit für an einigen Fundstellen auffällig oft vorkommenden Formen verantwortlich ist. Archäologisch-experimentelle Herstellungen dieser Geräte in unterschiedlichen Rohmaterialien und unterschiedlichen Ausgangsformen mit wiederum unterschiedlichen Größen und Formen (Gerölle, Platten, Abschläge) weisen auf die Einflüsse der Ausgangsmaterialen für die Gestaltung von Faustkeilen hin. Dazu kommt auch die Wahrscheinlichkeit der gebrauchsbedingten Veränderung und Nachschärfung, die immer mit Materialreduzierung und Veränderungen der Form einhergehen (Abb. 74).
Abb. 202: Gezähnter Schaber aus einem Breitabschlag aus homogenem Silex. Derartige Geräte sind im Acheuléen gewöhnlich häufiger als Faustkeile. Besonders gut sind sie zum hobelnden Schnitzen geeignet. Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: L. Fiedler).
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Abb. 203: Gezähnter Schaber aus einem Quarzitabschlag. Wie viele Abschläge im älteren Acheuléen ist dieser Schaber ventral retuschiert. Lesefund auf dem Outcrop der 200 m-Terrasse von Münster-Sarmsheim. Altacheuléen (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 204: Diverse Kleingeräte des Altacheuléen von Amguid-W, Zentralalgerien (Zeichnung: L. Fiedler).
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Abb. 205: Breitschaber aus einem Quarzitabschlag, deutlich verrollt. Der Fund stammt aus dem gröberen Schotter im unteren Teil der 200 m-Terrasse von Münster-Sarmsheim am Rande eines Entwässerungsgrabens, den der Kiesabbau-Betrieb im Untergrund der Abbaufläche angelegt hat. Altacheuléen (Zeichnung: L. Fiedler).
Ebenso könnte die große Vielfalt der traditionellen Verwendungsmöglichkeiten die damaligen Steinschläger veranlasst haben, ihren Geräten spezielle Formen zu geben, beispielweise wäre es ja möglich, dass Exemplare, die bei der Bisonjagd bzw. der anschließenden Zerlegung der Beute etwas anders für die optimale Nutzung auszusehen hatten als solche, mit denen Nashörner, Flusspferde oder Elefanten zu zerlegen waren. Das deutet sich ja schon besonders in breitschneidigen Faustkeilen, den Cleavern, überzeugend an. Ob die Untersuchungen von nutzungsbedingten Beschädigungen und anderen Gebrauchsspuren hier einmal Klarheit schaffen können, sei dahingestellt. Bisher ist die archäologische Diskussion über die unterschiedlichen Faustkeilformen jedenfalls nicht zu einem überzeugenden Ergebnis gekommen – und wird es auch nicht, wenn nur jeweils eine Ursache gesucht und die Komplexität aus Vorstellung, Materialmöglichkeit, Um- und Nachbearbeitung sowie spezialisierte Verwendung nicht gemeinsam berücksichtigt wird. In der vorliegenden Arbeit wird die Zeit der Faustkeilkultur nur in Alt- und Jungacheuléen unterteilt. Es wäre selbstverständlich möglich, diese 326
Unterteilung zu verfeinern und ein Mittelacheuléen einzufügen, das dann den Zeitraum zwischen 1,2 und 0,6 Mio. Jahren ausfüllen könnte. Aber die Entwicklung der Steinartefakte verläuft in der gesamten Zeit der Faustkeile so langsam und zugleich nebeneinander her, dass es außerordentlich schwierig ist, irgendeinen genauen Aspekt zu sehen, der eine deutliche Dreiteilung zulässt. Dagegen ist die Zweiteilung eindeutiger. Ab der Zeit vor etwa 600 000 Jahren sind alle Faustkeile aus Silexgesteinen nach dem groben Behauen mindestens an Teilen ihrer Kanten nachretuschiert worden, so dass sie gleichmäßig gerade aussehen (Foto 116). Bei dem Zurechthauen von Faustkeilen werden deutlich mehr sogenannte weiche Schlagobjekte (Knochen, Geweih, Stoßzahn oder Kalksteingerölle) benutzt, die eine feinere Oberflächengestaltung ermöglichen (Foto 124). Neben grob retuschierten Schabern alter Art (sogenannten gezähnten Geräten) finden sich in den Inventaren des Jungacheuléen mehr und mehr solche, die „weich“ retuschiert sind und durchgehend relativ flach bearbeitete Schneiden haben (Fotos 154–156 und Abb. 217). Und – was wichtig ist – Nachweise für die Feuernutzung nehmen deutlich
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Abb. 206: Minibiface und Gezähnter Schaber. Bedeutet die ventrale Verdünnung des Schabers, dass schon Schäftungen in Handhaben aus organischem Material bei diesen Steinartefakten möglich war? Altacheuléen von Amguid-W, algerische Sahara (Zeichnung: L. Fiedler).
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Abb. 207: Rundlicher Kratzer aus dem Jungacheuléen von Igdi, Südmarokko. Wie auch im Mittelpaläolithikum Europas gibt es im nordafrikanischen Jungacheuléen und folgenden Mittelpaläolithikum rundliche „Kratzer“. Ihre spezielle Funktion ist unbekannt (Zeichnung: B. Kaletsch).
Abb. 208: Keilmesser oder bifacieller Schaber mit Rücken aus Quarzit. Mittelpaläolithikum von Wahlen, mittleres Hessen (Zeichnung: L. Fiedler).
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Abb. 209: Bifacieller Schaber aus Quarzit. Mittelpaläolithikum von Rörshain, Nordhessen (Zeichnung: L. Fiedler).
zu (Grotte L’Escale, Terra Amata, Grotte von Lazaret u. a.). Außerdem zeigt die Entwicklung der Abschlagtechnik, dass jetzt Kernsteine für die Erlangung großer gestreckter Abschläge präpariert werden konnten (Protolevallois- oder BergeracoisTechnik, Abb. 47–48 und 215). Aber – wie ausgeführt – beginnen erste Ansätze zu all den eben genannten Merkmalen schon sehr viel früher. Standen beispielsweise zum Zurechthauen von Faustkeilen örtlich nur Kalkgerölle (oder ähnlich „weiche“ Steine) zur Verfügung, können auch Faustkeile mit den Merkmalen weicher Bearbeitung gelegentlich schon im älteren Altacheuléen vorhanden sein. Andererseits weisen Faustkeile aus minderwertigeren Rohmaterialien, beispielsweise Kieselkalke, wie sie in Nizza „Terra Amata“ benutzt wurden, kaum sorgfältig behauene Schneiden auf, weil feineres Retuschieren nur zur Verstumpfung geführt hätte.
Erst im Jungacheuléen wurden Schaber systematisch mit sorgfältig gearbeiteten Schneiden in großen Mengen produziert (Abb. 144 und 217,4 und Foto 156). Sie sind der Ausdruck dafür, dass der Anspruch an die Qualität der damit verrichteten handwerklichen Aufgaben maximal war. Die Holzgeräte von Schöningen, insbesondere die Speere mit ihren optimalen ballistischen Eigenschaften, sind beispielhafte Belege dafür (Thieme 1997). Das Ende des Jungacheuléen kann um die Zeit von 350 000 BP angesetzt werden, obwohl es nahtlos in das Mittelpaläolithikum übergeht. Die Zunahme von hochentwickelter, spezieller LevalloisTechnik und das Seltenerwerden von Faustkeilen sowie – nicht zuletzt – des sich neu herausbildende Homo sapiens neanderthalensis und anderer früher Homo-sapiens-Vertreter kennzeichnen dann das Mittelpaläolithikum in Afrika, Asien und Europa.
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3.5 Der Anfang und das Ende der Faustkeilkultur Bisher werden die allerersten Faustkeile in Afrika zwischen etwa 2 und 1,7 Mio. Jahre datiert. Es kommt aber dabei auch darauf an, was als Faustkeil definiert wird, denn die ersten von Homininen als Werkzeuge mit Faustkeilfunktion verstandenen und wie Faustkeile benutzten Geräte dürften in einer Grauzone zwischen spitz zugeschlagenen Choppern/Chopping-tools und kräftigen Abschlägen mit grob spitzbogig behauenen Kanten liegen. Auf der Fundstelle Souk-el-Arba-du-Gharb (oder -Rharb) in Marokko, einem gestrecktem FlusskiesOutcrop, fand Pierre Biberson in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts derartige Formen, zögerte aber sie als Faustkeile zu bezeichnen (Foto 19). Wir haben die Fundstelle bei einem touristischen Aufenthalt 1984 besucht. Sie war völlig ausgekiest worden. Nur im randlichen Bereich, wo der industrielle Abbau überhaupt nicht mehr lohnte, waren noch Gerölle in einer 10 cm mächtigen Lage vorhanden. Vereinzelt fanden sich an den Rändern des Abbaus tatsächlich noch einige Artefakte oberflächig in diesem Bereich. Nach den Abbildungen von Biberson und den Stücken, die ich selbst in Augenschein nehmen konnte, habe ich den Eindruck eines wirklichen Protoacheuléen mit urtümlichsten Faustkeilen, Cleavern, Chopping-tools, Polyedern und diskoiden Kernen. Bibersons formenkundliches Zögern ist eine typische archäologische Geschichte, die immer wieder passiert, wenn man sich mit der Forschungstradition identifiziert und deren passende Ideen oder Bilder als immer gültig versteht. Biberson hat das Alter dieser Funde mit stratigrafischen und faunistischen Quervergleichen demjenigen von Olduvai,
Bed 1 zur Seite gestellt. Für ihn konnten die faustkeilartigen Funde keine richtigen Faustkeile sein, weil es sie ja auch im Oldowan so gut wie nicht gab. Dennoch waren auch Louis Leakey an seinem Forschungsort einige seltene erste faustkeilartige Geräte schon bekannt. Aber möglicherweise sind auch sie nicht die ersten, weil es anderenorts (Lokalelei am Turkana-See) noch rund 100 000 Jahre ältere (übrigens meistens volumenreiche) geben soll. Einigermaßen „schöne“ Faustkeile, die ihren Namen nach Ansicht mancher Archäologen erst richtig verdienen (wie Fotos 76 u. 87), hatte Boucher de Perthes schon zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Abbeville an der Somme aus einer altpleistozänen Terrasse geborgen, deren Zeitstellung vor allem durch Knochen und Zähne des Elephas meridionalis als bewiesen gelten muss. Auch aus Südwesteuropa gibt es seit den Zeiten von Abbé Breuil Hinweise auf altquartäre Artefakte. Atapuerca, der Star unter den frühen Fundstellen Spaniens, hat (nach meinem bisherigen Wissen) neben den aufregenden menschlichen Resten leider viel zu wenige Artefakte geliefert, um sie dem Oldowan (mode 1) zuordnen zu können. Denn Artefakte primitiver Art sind zweifelsfrei die oft zahlreich begleitenden Geräte des frühen und älteren Acheuléen. Auch andere Fundstellen Spaniens, die bisher bis etwa 1,4 Mio. Jahre datiert wurden, sind durch die Kleinheit der Inventare ähnlicher Art gekennzeichnet, in denen Faustkeile bisher nicht vorhanden sind. Aus dem südöstlichen England (Happisburgh) schließlich stammen ein Faustkeil und einige ande-
Abb. 210: Polyeder der drittgrößten Kategorie, Quarzit. Altacheuléen von Münzenberg, Mittelhessen (Zeichnung: Beate Kaletsch).
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3.5 Der Anfang und das Ende der Faustkeilkultur
Abb. 211: Mittelgroßer Polyeder aus Quarzitgeröll. Altacheuléen von Gondorf, unteres Mosel-Tal, 200–220 m NN (Zeichnung: B. Kaletsch, Darstellung eines Steinschleuderers aus der gleichen Quelle wie in Abb. 137).
Abb. 212: Diskoider Kern aus Geröllquarzit mit einer zentripetalen Abbaufläche und keiner „Schlagflächenpräparation“, Épannelé. Eine für das ganze Altpaläolithikum dort genutzte Kernform, wo geeignete Gerölle zur Abschlaggewinnung zur Verfügung standen. Manche dieser Artefaktart wurden als Kratzer benutzt oder bilden Übergangsformen zu den ‚Unifaces‘, also nur einflächig bearbeiteten Pics oder Faustkeilen. Protoacheuléen von Souk-el-Arba-du-Gharb, NW-Marokko (Zeichnung: L. Fiedler).
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re Artefakte aus einer Schicht der Cromer Forrest Beds, die auf etwa 0,9 Mio. Jahre datiert wurde. All diese eben genannten Funde sind vermutlich zu wenige, um die archäologische Welt restlos davon zu überzeugen, dass Westeuropa sehr viel früher besiedelt war, als man es durch konkrete Datierungen und stratigrafische Hypothesen bisher glaubte. Aber sie werden dazu anregen, neue Datierungsmethoden in altpleistozänen Flussablagerungen anzuwenden, um die hier angedeuteten Hinweise auf derartig frühe Anwesenheit des Menschen zu widerlegen oder zu beweisen. Fundstellen mit Faustkeilen des Jungacheuléen werden in Westeuropa zwischen 0,7 und 0,3 Mio. Jahre datiert. Das entspricht auch in etwa dem Jungacheuléen Afrikas. Nur bedeutet das Ende des Acheuléen nicht das Ende der Faustkeile, die auch von mittelpaläolithischen Menschen in der Tradition des Acheuléen noch lange und bis zum Beginn der zweiten Hälfte der letzten Kaltzeit hergestellt wurden. Die letzten gehören in die Kultur des Châtelperronien, das vor knapp 40 000 Jahren schon einen teilweisen jungpaläolithischen Charakter hatte (Foto 34).
3.6.1 Typologische Systematik Cleaver, Pics, Faustkeile und andere Artefakte des Acheulèen und Mittelpaläolithikums Neben den charakteristischen ovalen, mandelförmigen, herzförmigen, tropfenförmigen oder annähernd dreieckigen Faustkeilen gibt es auch solche, deren Umrissform nicht auf eine sich verjüngende Spitze zuläuft, sondern auf eine mehr oder weniger breite keilförmige Schneide. Diese Geräte werden Cleaver genannt. Eine weitere Untergruppe der Faustkeile bilden solche, die überwiegend nur grob behauen sind und an beiden Längskanten keine besonders scharfen Schneiden besitzen, sondern eine massive Spitze tragen. Sie werden mit dem französischen Begriff als Pics bezeichnet. Hier also ihre näheren Beschreibungen: A. Cleaver Bei den Cleavern liegt die bevorzugte Arbeitskante quer zur Längsachse der Geräte (Abb. 148–157). Für sie trifft die Bezeichnung Faustkeil eigentlich mehr zu, als für die Hauptgruppe der spitzen Faustkeile, die formal wenig an einen Keil erinnern. Clea332
ver, besonders in den weit entwickelten Formen des Jungacheuléen und Mittelpaläolithikums könnten vielleicht und gelegentlich auch als axtförmige Werkzeuge geschäftet gewesen sein, aber die meisten dürften wie Faustkeile lediglich mit der bloßen Hand geführt worden sein. Man kann zwei Arten der Cleaver unterscheiden. Zu der ersten und etwas selteneren Gruppe gehören diejenigen, die wie die ‚normalen‘ Faustkeile aus einer massiven Grundform beidflächig herausgearbeitet worden sind (Biface-Cleaver oder hachereau sur bloc, Abb. 156); zur zweiten und häufigen Kategorie gehören diejenigen, die aus großen Abschlägen gemacht wurden und die als ‚typische Cleaver‘ gelten. Beide sind weder voneinander noch von den eigentlichen Faustkeilen klar zu trennen, weil es manchmal Zwischenformen gibt (etwa bei denen aus sehr dicken Abschlägen), bei denen eine eindeutige Zuweisung schwerfällt und dann willkürlich erfolgen muss (Foto 28). Denn manche ovalen Faustkeile sind in ihrem Umriss so breit, dass sie eher in eine Schneide, als in eine Spitze auslaufen (Abb. 86) Und insbesondere, wenn derartige breitspitzige Faustkeile auch gut erkennbar aus einem Abschlag als Grundform gemacht worden sind, sprechen die Kriterien ebenso für einen Cleaver (Abb. 33 u. 35). Deutliche Cleaver kommen im frühesten Stadium des Acheuléen (Protoacheuléen) selten vor, erleben aber dann im Altacheuléen ihre häufigste Verbreitung. Im Jungacheuléen sind sie seltener, werden aber bis weit in das Mittelpaläolithikum immer noch gelegentlich produziert – dann oftmals in sehr sorgfältiger Herstellung und Formgebung (Foto 33). Die seltenen ganz frühen Cleaver wurden aus scharfkantigen Spaltstücken und auch schon aus großen Abschlägen hergestellt. Wahrscheinlich wurden zunächst auch Abschläge als Cleaver benutzt, die nicht die später übliche Kantenbearbeitung hatten (Foto 11). Diese Kantengestaltung begann wohl damit, dass zunächst störende Ecken und Grate weggehauen wurden. Später wurde das systematisiert, so dass nur die distale Schneide scharfkantig blieb (Abb. 128,1). Lassen sich die ersten Cleaver als nützlich erkannte, brauchbare, aber wenig zugerichtete Werkzeuge beschreiben, so begann ihre systematische Herstellung schon vor gut 1,6 Mio. Jahren (Olduvai
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Bed II, ’Ubeidya u. a.). Zunächst musste dazu ein möglichst großer, aber zugleich massiver Abschlag erzeugt werden. Die dafür notwendige Ausgangsform war entweder ein geeigneter Felsblock oder ein Geröll. Viele der frühen Cleaver tragen auf der Fläche, die der Abspaltfläche gegenüberliegt, den Rest der natürlichen Oberfläche der Ausgangsform (Abb. 133). Weiter entwickelter sind zwei andere Herstellungstechniken. Die eine beruht darauf, dass von einem riesigen Abschlag ein zweiter von der gewöhnlich gewölbten Spaltfläche abgehauen wurde, der dann keine natürliche Gesteinsrinde mehr aufweist. Dieses Verfahren wird Kombewa-Technik genannt (Abb. 49 u. 152–153). Die andere Herstellungsweise rindenfreier Abschläge besteht darin, einen Kern rundherum soweit zu behauen, bis er eine längliche, annähernd ovale Form bekommen hat und seine Oberfläche von der Gesteinsrinde befreit ist. Als letzter Abschlag wird dann mit einem gewaltigen Hieb ein möglichst die gesamte Fläche erfassendes Zielprodukt abgetrennt. Diese Technik heißt Tabelbala-Tachenghit-Technik (Abb. 214, hier im Text auf Tabelbala-Technik meistens verkürzt). In beiden Fällen werden aber die lateralen Kanten durch Behauen in Form gebracht, so dass einzig die distale Querschneide als gewolltes Arbeitsende unbearbeitet bleibt (Abb. 77 u. 155). Der TabelbalaTechnik im Prinzip verwandt ist die Victoria-WestTechnik, die aber die jüngere der beiden Schwestern ist und eher auf Süd- und Ostafrika zu beziehen ist. Auch für die Herstellung flacher Faustkeile wurden derartige Cleaver-Abschläge genutzt. In manchen Fällen lässt sich auch nachweisen, dass an ihren schlanken Schneiden beschädigte Cleaver zu spitzen Faustkeilen umgearbeitet wurden. War von vornherein beabsichtigt, Cleaver für grobe Hackarbeiten nicht mit dünnen, zerbrechlichen Schneiden der Abschlag-Cleaver auszustatten, dann wurden sie wie viele Faustkeile aus massiven Grundformen beidflächig bearbeitet und auch an ihren Schneiden so behandelt. Viele dieser KernCleaver haben einen annähernd rechteckigen Umriss. Manchmal werden sie in der afrikanischen Literatur als ‚oblong picks‘ beschrieben, weil sie nur zum Hacken und Zertrümmern geeignet gewesen sind (Foto 8). Eine weitere Form dieser Art hat eine abgesetzte, rechteckig wirkende obere Partie, während die
untere dem Talon gewöhnlicher Faustkeile gleicht. F. Bordes hat sie als lagéniformes beschrieben, weil ihre Kontur derjenigen eine Flasche mit breitem Hals ähnelt. Im Altacheuléen ist deren „Spitze“ in der üblichen summarischen Technik bifaciell herausgeformt; dagegen im jüngeren Acheuléen meistens mit einem von der Kante geführten ‚Schneidenschlag‘ dünn und fragil gestaltet (Abb. 32, Foto 114–115). Auffällig viele dieser speziellen Faustkeilform wurden an der altpaläolithischen Fundstelle Ternifine (Algerien) entdeckt, von der auch Schädel des Homo erectus s. l. stammen. B. PICS Die eben beschriebenen Oblong picks gehören mit ihren keilförmigen breiten Schneiden zu den Cleavern. Die nun zu behandelnden Pics (französische Schreibweise) haben dagegen alle eine deutliche massive Spitze (Abb. 158–167). Die Zurichtungsweise von Pics erfolgte zumeist recht summarisch, flüchtig oder ad hoc, so dass eine eindeutige Trennung von Typen wahrscheinlich nicht mit den Absichten der Hersteller in Einklang zu bringen ist. Pics sind nur gelegentlich aus Abschlägen gemacht worden; meistens sind plattige Gerölle oder flache Felstrümmer die Ausgangsformen gewesen. Man könnte sagen, Pics seien die urtümlichsten Arten der Faustkeile, aber zeitlich lässt sich das nicht sicher belegen. Vom Fundplatz Dmanisi (~ 1,8 Mio. Jahre), gibt es einen bisher nicht publiziertes Pic, aber wahrscheinlich keinen einzigen Faustkeil. Das könnte auf die Ursprünglichkeit dieser Geräteform hinweisen. Da sie aber auch während der gesamten Altsteinzeit und darüber hinaus auch im nordischen Mesolithikum vorkommt, ist wohl urtümlich und einfach hier nicht mit ursprünglich gleichzusetzen. Es gibt Pics, die aus einem flachen Geröll durch wenige Schläge auf beide Kanten zugeformt worden sind (Abb. 158). Pics aus massiveren Ausgangsformen wurden (oder mussten?) manchmal an ihren Kanten bifaciell behauen werden (Abb. 162). Nicht selten sind multidirektionelle Bearbeitungen erkennbar, die oftmals einen Grat einbeziehen, der durch das Heraushauen der Umrissform stehen blieb (Abb. 165). Diese, dann im Querschnitt dreikantigen „Faustkeile“ werden Trieder genannt. Allerdings gibt es im jüngeren Acheuléen Afrikas Exemplare, wo diese Dreikantigkeit nicht auf die Notwendigkeit der Zuformung beruht, sondern 333
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eindeutig beabsichtigt (intentional) ist, um einem Faustkeil eine zum Bohren und Stechen sehr gut geeignete Spitze zu verleihen (Abb. 166). Ganz allgemein lassen sich die Pics als grob, manchmal nachlässig gemachte Faustkeile bezeichnen. Sie genügten zum Durchstoßen der Häute erlegter Dickhäuter, zum Aufbrechen von Gelenken oder Zerteilen von Knochen, um Mark herauszulösen, aber auch zum Wühlen im harten Boden, beispielsweise um an genießbare Wurzeln zu kommen. Das alles sind Arbeiten, zu denen sorgfältiger zugerichtete Faustkeile nicht unabdingbar waren. Ein Pic konnte aber auch dann gemacht worden sein, wenn das örtlich vorkommende Gestein die Anfertigung eines „schönen“ Faustkeils nicht zuließ oder wenn doch, dass Eile geboten war und die Zeit zur Herstellung eines perfekten Faustkeils fehlte – beispielsweise in einer Gefahrenlage durch Raubkatzen, große Hyänen oder Bären. C. Faustkeile im engeren Sinne Faustkeile stehen im Mittelpunkt der vorliegenden Veröffentlichung. Wer darin zunächst herumblätterte, hat schon in den Fotos bemerkt, dass ihre formal verbindenden Elemente so häufig sind, wie die Abweichungen untereinander. Zwischen den sehr schlanken und betont spitzen (Abb. 51) liegt bei vielen dieser Objekte außer den flächendeckenden Absprüngen der Bearbeitung kaum eine strenge Einhaltung einer dominierenden Umrissform vor. Aus den meisten Fotos geht auch nicht die jeweilige Dicke des Talons hervor, weil bis auf eine Ausnahme keine Seitenansichten aufgenommen worden sind. An ihnen würde man erkennen, dass die meisten Faustkeile an ihren unteren Enden deutlich dicker als an ihren Spitzen sind. In den Zeichnungen dagegen sind Seitenansichten immer vorhanden. Die meisten Faustkeile weisen von den Kanten ausgehende Absprungnegative der Bearbeitung auf beiden Flächen auf. Diese Negative können die Flächen vollständig bedecken oder nur teilweise darüber greifen. Besonders bei den sehr frühen Faustkeilen ist die vollständige Flächenüberarbeitung nur selten vorhanden und noch oft die Rinde (Kortex) des Ausgangsmaterials zu erkennen (Abb. 19 u. 175). Wurden Faustkeile vorwiegend aus Flussschottergeröllen angefertigt, dann gibt es unter ihnen nicht selten auch Exemplare, bei denen nur eine Fläche überarbeitet und die andere ganz oder teil334
weise naturbelassen ist. Die Bearbeitung der zweiten Fläche ist dann nicht notwendig gewesen, weil sie die ideale Wölbung schon hatte und die Schneidenschärfe der Kanten durch eine zweiseitige (bifacielle) Bearbeitung nicht verbessert werden konnte (Abb. 80). Da es aber alle Übergangsformen von nur einflächig bearbeiteten (unifaces, Abb. 123) über teilweise beidflächig bearbeitete (bifaces partiel, Abb. 83) zu vollständig beidflächigen (bifaces, Abb. 84) gibt, wird deutlich, dass unsere frühen Vorfahren die Bearbeitung flexibel handhaben konnten und sie weniger bedeutsam war als die Gesamtgestalt eines Faustkeils. Das trifft auch auf Faustkeile zu, die aus Abschlägen gemacht worden sind. Manchmal finden sich auch unter diesen solche Exemplare, die nur partiell bifaciell bearbeitet wurden (Abb. 170). Wenn die Form genügend herausgearbeitet war, sahen einige der Hersteller offenbar keinen Anlass, auch die zweite Fläche zu behauen. Dann wäre das Gerät nämlich kleiner und leichter geworden, was in jenem Moment vielleicht ganz unerwünscht war (Abb. 40, Foto 14). In einer Kies- und Lehmgrube bei Swanscombe im südwestlichen England fanden sich Faustkeile in zwei voneinander getrennten Schichten. Die eine davon lieferte überwiegen ovale Faustkeile, die andere deutlich mehr spitze. Das verfügbare Rohmaterial war in beiden Fällen der örtlich massenhaft vorkommende Flint. Wahrscheinlich sind auch hier für die unterschiedliche Gestaltgebung keine verschiedenen Traditionen die Ursache, sondern schlichtweg die jahreszeitliche oder klimabedingte unterschiedliche Jagdbeute und davon abhängige Zerlegungstechniken. Und gewiss darf aus diesem Schluss kein Dogma abgeleitet werden, denn auch individuelle Neigungen und Fähigkeiten sind bei Urmenschen absolut sicher vorhanden gewesen. Dabei genügen die Hinweise auf sehr junge und unerfahrene Gruppenmitglieder, auf Männer und Frauen sowie ältere Menschen, aber auch auf jeweilige Verweildauer an einem Jagdlagerplatz und die jeweilige Gruppengröße, also der Zeitfaktor und die soziale Ökonomie. Außerdem bleibt offen, ob zunächst alle Faustkeile von Swanscombe vielleicht spitz waren und die weniger spitzen wegen arbeitsbedingter Abnutzung nachbearbeitet worden sind. Dass die früheren Faustkeile vor über eine Million Jahren insgesamt gröber und summarischer (oft auch gestreckter) gemacht worden sind als die meisten vor 400 000 Jahren, wird an vielen Stellen
3.5 Der Anfang und das Ende der Faustkeilkultur
der vorliegenden Texte schon dargelegt. Dieser Unterschied liegt sicher nicht allein im jeweils geistig verfügbaren Vorbild von einem Faustkeil. Es liegt nämlich auch an den unterschiedlichen Lebensumständen. Die Neandertaler und ihre Verwandten in Afrika lebten in Sozialverbänden mit sehr viel überschaubareren und gefestigteren Tagesabläufen als ihre Urahnen. Daher war Zeit vorhanden, sich Mühe zu geben und Objekte zu realisieren, die den Vorbildern möglichst nahekamen. Und so entstanden auch manchmal Faustkeile, die über eine bloße Brauchbarkeit hinaus perfekt bearbeitet waren und formschön gestaltet worden sind (Foto 62). Dass es aber auch in diesem Lebensumfeld manchmal husch-husch gehen musste, zeigen uns Faustkeile im archaischen Stil, die von Leuten am Südfuß des Antiatlas (Igdi) bei einem kurzen Jagdstopp gemacht wurden. Die mitgefundenen echten Levallois-Klingen und -kerne belegen, dass diese Rast höchstens vor etwa 300 000 Jahren stattgefunden haben muss (Abb. 216). Die Faustkeile sehen aus, als seien sie vor einer dreimal so langen Zeit entstanden. Manchmal verhalten wir Menschen uns ganz schön urig. D. Andere Artefakte des Acheuléen und Mittelpaläolithikums Einerseits besitzen Faustkeile wegen ihres Alters und ihrer klaren symmetrischen Form eine gewisse Attraktion, die einige Menschen sehr interessant finden. Andererseits wurden Faustkeile forschungsgeschichtlich seit Gabriel de Mortillet als wichtigste Leitformen des Acheuléen verstanden und heute immer noch so betrachtet. Sie müssen auch für ihre frühen Hersteller eine große traditionelle Bedeutung gehabt haben, weil ihre mühevolle Realisierung sonst nicht so oft und langewährend stattgefunden hätte. Dennoch gibt es in dieser langen Menschheitsepoche erwartungsgemäß auch andere Steingeräte, die wichtige Bestandteile der instrumentalen Ausstattung waren. Zum einen sind das aus Geröllen oder Gesteinsplatten gemachte Artefakte und zum anderen aus Abschlägen hergestellte Werkzeuge. Gerölle dienten, wie schon erwähnt, als Klopfsteine – nicht nur zur Bearbeitung anderer Steine, sondern auch zum Zerschlagen von Röhrenknochen, um an das Knochenmark zu gelangen. Größere Gerölle und Platten wurden als ambossähnliche Arbeitsunterlagen benutzt (Abb. 50 u.
218). Einige davon tragen deutliche Narbenfelder oder sogar flache Grübchen, die durch intensive Nutzung entstanden sind (mit der englischen Bezeichnung ‚pitted anvils‘). Übrigens sind Grübchen auch als absichtlich erzeugte Markierungen“ (‚Cupulen‘) an Felswänden und auf Steinblöcken bekannt. Im späten Mittelpaläolithikum von Buhlen wurde eine massive Kalkplatte mit behauenen Kanten und natürlich flach-konkaver Oberseite offensichtlich als Fettlampe benutzt. Nicht auszuschließen ist, dass so etwas auch schon im jüngeren Acheuléen vorkam – und bisher unpubliziert ist. Aus dem Buhlener Mittelpaläolithikum (nördliches Hessen, vor knapp 100 000 Jahren) liegt auch eine größere Sandsteinplatte vor, die mit einer anderen abgeschliffen, geglättet wurde. Wahrscheinlich wurde sie als Reibplatte benutzt, auf der organisches Material bearbeitet, verarbeitet wurde. Desmond Clark hat so etwas auch aus dem afrikanischen Mittelpaläolithikum ausgegraben und interpretierte den Fund als Gerät, auf dem Pflanzenfasern nebeneinander weich gemangelt worden sind. Er sieht darin einen Hinweis auf die Herstellung von Geflechten, etwa von Lendenschurzen. Auch im nordafrikanischen ‚Atérien‘ (Mittelpaläolithikum) wurden Reibplatten systematisch benutzt. Sehr grob kugelig zurechtgehauene Steine, ‚Polyeder‘, sind schon aus dem Oldowan bekannt und wurden im gesamten älteren Paläolithikum hergestellt. Es waren offensichtlich sehr wichtige Geräte (Abb. 210–211). Ein Teil von ihnen könnte ihre Form zufällig als Kerne mit opportunistischer Abschlaggewinnung erhalten haben, aber viele sind von derart kleinen Abschlagnegativen bedeckt, die unmöglich von einer gewünschten Abschlaggewinnung stammen können. Außerdem bestehen viele dieser Polyeder aus Kalk, Basalt oder anderen Gesteinen, die für die Gewinnung brauchbarer Abschlaggeräte kaum tauglich waren. Wir interpretieren sie deshalb als scharfgratige Schleudergeschosse, die mit einer Lederschlaufe in ihre ballistische Bahn gebracht worden sind. Die Scharfgratigkeit verhinderte ein Abrutschen auf der Haut der Jagdbeute, wenn der Auftreffwinkel kleiner als 90 ° war. Die Schleudersteine erscheinen gewöhnlich in drei verschiedenen Größen: mandarinengroß, apfelgroß und nahezu strausseneigroß; letztere oft leicht gestreckt. Ihr unterschiedliches Volumen hatte wahrscheinlich einen Bezug zur Größe der Jagdbeute. In den vegetationsarmen Gebieten Afrikas finden sich 335
3. Die Archäologie der Faustkeilepoche
Abb. 213: 1 Schema der zentripetalen Abbaufolge von Abschlägen von einem diskoiden Kern mit einer bevorzugten Abbaufläche, 2 diskoider Kern ohne „Schlagflächenpräparation“ mit einer festgelegten Abbaufläche aus dem Jungacheuléen von Igdi, S-Marokko (Zeichnung: Beate Kaletsch).
solche Polyeder oft einzeln außerhalb von ehemaligen Lagerplätzen, die sich stets durch eine Vielzahl von Abschlägen, Kernen und Geräten zu erkennen geben. Zahlreiche Polyeder sind auch von den westdeutschen Fundstellen des Acheuléen bei Münzenberg, Ziegenhain, Rainrod oder Münster-Sarmsheim, Weiler und vielen anderen bekannt. Bei den Abschlaggeräten des Altpaläolithikums treten solche in den Vordergrund, die an einer oder zwei Kanten durch Behauen oder Retuschieren eine stabile Arbeitskante erhalten haben. Die einfachsten davon tragen grobe gezackte Retuschen und werden ‚Gezähnte Geräte‘ genannt (Abb. 202–203). Sie eignen sich als Schaber für spanabhebende Holzbearbeitung besonders gut, ebenso die ‚Gebuchteten Stücke‘, die nur einen starken Abhieb erkennen lassen und zum Abschaben rundlicher Schäfte geeignet waren. Eine feinere Kantenbearbeitung an Abschlägen ist in der frühen Faustkeilkultur ungewöhnlich. Erst 336
mit dem Jungacheuléen wird sie gegenüber den gezähnten Retuschen dominanter (Foto 158 und Abb. 217). Aber beide Bearbeitungsweisen halten sich bis über das Mittelpaläolithikum hinaus. Wenn ein Abschlag so an gegenüberliegenden Kanten bearbeitet wurde, dass diese in einem spitzen Winkel aufeinanderstoßen, kann das bedeuten, dass einfach zwei Schaberkanten sich treffen, ohne dass die dabei entstandene Spitze direkt beabsichtigt war, oder aber die Kantenretuschen sollten sich zu einer Spitze treffen (Tayac-Spitzen); ganz selten sind derartige „Spitzen“ auch bifaciell, faustkeilartig gestaltet worden. Nur in wenigen Fällen waren solche Spitzen als Waffenköpfe gedacht, da sie zum Schäften einfach zu dick oder flächenhaft zu durchgebogen waren. Bei Spitzen, die diese ungeeigneten Eigenschaften nicht hatten (Foto 157) und noch zusätzliche Bearbeitungen erkennen lassen, die die Basis schlanker oder dünner machen, kann das ein wahrschein-
3.5 Der Anfang und das Ende der Faustkeilkultur
Abb. 214: Tabelbala-Tachenghit-Kerne. In Südafrika werden Kerne dieser Art Victoria-West-Kerne bezeichnet. Gemeinsam ist ihnen allen, dass von ihnen große, möglichst über die gesamte Abbaufläche des Kerns greifende Abschläge gewonnen wurden, die als Grundformen für die Herstellung von Cleavern und Faustkeilen dienten. In Europa sind Kerne dieser Art nur in wenigen Acheuléen-Inventaren vertreten, aber in Afrika im gesamten Kontinent. Die Tabelbala-Technik erscheint gelegentlich schon im Altacheuléen, erreicht aber ihren Höhepunkt erst im Jungacheuléen. 1 Ziegenhain „Reutersruh“, 2 Tan-Tan, SW-Marokko (Zeichnung: L. Fiedler).
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3. Die Archäologie der Faustkeilepoche
Abb. 215: Levallois-Abschlagkern mit leicht aufgewölbter Schlagfläche. Die typische Levallois-Präparation ist oben am Kern noch deutlich erkennbar. Creysse, Bergeracois, SW-Frankreich (Zeichnung: L. Fiedler).
Abb. 216: Levallois-Restkern für einen Zielabschlag als Klinge (oder Spitze). Die Schlagfläche wurde in zwei Schritten präpariert, wobei der zweite erst die typische Levallois-Präparation war. Jungacheuléen von Igdi, S-Marokko (Zeichnung: B. Kaletsch).
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3.5 Der Anfang und das Ende der Faustkeilkultur
Abb. 217: Typische Geräte des Jungacheuléen. 1 retuschierte Levallois-Spitze, 2 sehr kleiner Faustkeil, 3 Levallois-Klinge, 4 einfacher Schaber, 5 Levallois-Abschlag. Ostsahara, nahe der ägyptisch-libyschen Grenze (Zeichnungen: L. Fiedler).
Abb. 218: Prinzip der bipolaren Ambosstechnik. Der aufzuspaltende Kern wird auf einem Unterlieger mit der einen Hand fixiert und mit einem in der anderen Hand gehaltenen massiven Schlagstein senkrecht von oben beschlagen. Die dabei erzeugten Spaltprodukte können teilweise freihand geschlagenen Abschlägen ähneln, sind aber in der Mehrzahl prismatische längliche Splitter/Scherben. Oft bleibt ein Restkern als sogenanntes ‚Ausgesplittertes Stück‘ zurück. Für diese Technik benutzte Schlagsteine und Unterliegen haben nach mehrfacher Nutzung durch die Zermürbung ihrer Gebrauchsflächen Grübchen (Cupulen) und werden dann als pitted anvils bezeichnet. Diese Steinzerlegungsmethode wurde als erste systematische Lithotechnik schon vor dem eigentlichen Oldowan entwickelt, hielt sich aber in Gegenden mit Achaten, Amethysten und Bergkristallen bis ins Mesolithikum und Neolithikum.
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3. Die Archäologie der Faustkeilepoche
lich geschäftetes Gerät anzeigen. Spitzen dieser Art erschienen aber erst im Jungacheuléen. Besonders wichtig waren im Acheuléen Kleingeräte, die aus Abschlägen und Trümmerstücken angefertigt wurden. Sie entbehren meistens einer formalen Typologie und sind nach jeweiligen Bedürfnissen an einer oder mehreren Kanten retuschiert. Viele sind mit Klopfsteinen retuschiert und weisen entsprechende halbsteil retuschierte Arbeitskanten auf. Manche davon sind gezähnt, gebuchtet oder bohrerartig spitz (Foto 61). In manchen altpaläolithischen Inventaren dominieren sie anteilsmäßig vor größeren Geräten. Daneben kommen auch sehr kleine Abschläge vor, deren die Handhabung störenden spitzen Ecken weggeschlagen worden sind (‚reduzierte Ecken‘, Abb. 121,3). Wenn sie darüber hinaus retuschiert worden sind, ist die Bearbeitung fein und flach. Derartige Artefakte könnten beispielsweise als Essmesser benutzt worden sein, weil Schneidezähne alt- und mittelpaläolithischer Menschenschädel oft Riefen haben, die vom Durchtrennen sehnigen Fleisches unmittelbar vor dem Mund stammen könnten. Beim Abrutschen des steinernen Messers wurden dann derartige Spuren hinterlassen. Die Gewinnung von Abschlägen vollzog sich einerseits bei der Herstellung von Großgeräten wie Faustkeilen, Pics oder Polyedern, aber andererseits auch unmittelbar von Kernen, von denen sie nach bestimmten Regeln serienhaft entfernt wurden. Die einfachsten dieser Kerne sind Gesteinsstücke, von denen nur ein oder wenige Abschläge abgehauen worden sind. So könnten manche steil behauenen Chopper und Chopping-tools keine Werkzeuge, sondern nur Reste der Abschlaggewinnung gewesen sein. Häufiger finden sich rundliche, relativ flache Restkerne mit einer bevorzugten Abbaufläche, seltener mit Abschlaggewinnung von beiden Flächen. Die Negative der weggeschlagenen Abschläge bedecken gewöhnlich diese Flächen komplett (Abb. 212–213). Diese ‚diskoiden Kerne‘ wurden schon im Oldowan entwickelt und hielten sich praktischerweise bis fast an das Ende der Steinzeit. Oft sind an ihren rückseitigen Kanten weitere umlaufenden Abschlagnegative zu sehen, die als Schlagflächen des Abbaus von Zielabschlägen dienten. Fehlen die Präparationen, was bei Geröllkernen häufig ist, klassifiziert man diese Kerne als Epannelés (Abb. 212). Nicht immer ist die ‚diskoide Kerntechnik‘ an 340
rundlichen Ausgangsformen vollzogen worden, sondern auch an länglichen Gesteinsstücken. Dann entstanden durch die genannte Abschlagtechnik barrenförmige Kerne (Abb. 43), die ebenso kennzeichnend für das Acheuléen sind wie die rundlichen diskoiden Kerne. Erst im Jungacheuléen wurden diese Kerne zu den Levallois-Kernen weiterentwickelt, bei denen eine sorgfältige Schlagflächenpräparation das Abtrennen besonders dünner Zielprodukte erlaubte. Eine Abbauflächenpräparation gestattete auch bei sehr vielen dieser Kerne die Gewinnung eines Zielabschlags mit geplanter Umrissform – sei dies eine Spitze, eine parallelkantige Klinge oder ein ovaler Abschlag (Abb. 215). Flache Restkerne wurden manchmal auch – analog zu massiveren Abschlägen – zu Schabern oder Kratzern retuschiert. Selten erscheinen im Jungacheuléen schon rundliche, flächig bearbeitete Kratzer, die formal den diskoiden Kernen ähneln, aber nie Kerne waren (Abb. 207). Sogenannte Ambosssteine, auf denen nicht geschmiedet wurde, die aber als Unterlage bei der Steinbearbeitung dienten und manchmal regelrecht schälchenartige Abnutzungszonen tragen, sollen hier als besondere Form der Werkzeuge nochmals genannt werden. Und selbstverständlich müssen die vielgestaltigen Geräte aus organischen Materialien erwähnt werden, von denen wir aber nur Wurfspeere, Wurfstöcke, Grabstöcke, Bratspieße und Klemmschäfte kennen, weil sie unter sehr günstigen Erhaltungsbedingungen schließlich von Hartmut Thieme in Schöningen geborgen werden konnten (Abb. 92). Sie lassen aber Schlüsse auf weitere Gerätschaften, wie Körbe oder Rindentaschen, vielleicht sogar Klanghölzer zu.
3.6.2 Zusätzliche Erläuterungen von Begriffen der Altsteinzeitarchäologie in lexikalischer Reihenfolge Manche Begriffe, die in den vorangegangenen Texten auftauchten oder die die Leser in wissenschaftlichen Magazinen, anlässlich von Reportagen oder Features und vielleicht auch in allgemein zugänglichen Büchern über Entdeckungen aus der Steinzeit finden, die aber nicht aus der täglichen Umgangssprache vertraut sind, sollen im Folgenden
3.5 Der Anfang und das Ende der Faustkeilkultur
möglichst verständlich und in alphabetischer Folge erklärt werden. Abbevillien ist ein etwas angestaubter Begriff, der für wenige französische Fundkomlexe steht, in denen vor allem grobe Faustkeile und Pics vorhanden sind. Er geht auf eine Entdeckung zurück, in der vor über 150 Jahren bei der nordfranzösischen Stadt Abbeville in einer Kiesgrube auf dem Hauptterrassenniveau der Somme derartige Steingeräte zusammen mit Knochen einer altertümlichen Tierwelt gefunden wurden. Zu ihr gehörten der frühe Steppenelefant, das etruskische Nashorn, der Soleihac-Hirsch und sogar der Südelefant Mammuthus meridionalis. Diese Fauna ist kennzeichnend für das Altpleistozän, also den frühen, ersten Abschnitt des Eiszeitalters. Der Zusammenhang der gefundenen Artefakte mit den Tierresten wurde später sehr skeptisch gesehen, weil Vergleichbares seinerzeit nirgendwo in Europa bekannt geworden war. Heute mehrt sich der Verdacht, dass diese Zweifel unberechtigt waren. Fundkomplexe vergleichbaren Alters aus Afrika beinhalten gewöhnlich ähnlich aussehende Faustkeile, wie die von Abbeville. Sie werden dem frühen Acheuléen zugeordnet. Diese Bezeichnung steht für die gesamte Zeit der Faustkeilkultur, so dass die französische Bezeichnung heute eher eine stilistische Bedeutung hat und somit nur wenig gebräuchlich geworden ist. Der Name Acheuléen wird heute international für die „Faustkeilkultur“ – des Öfteren auch in der englischen Schreibweise Acheulean – benutzt. Er steht für die längste Epoche der Menschheitsgeschichte, die vor mehr als 1,8 Mio. Jahren begann und im Mittelpaläolithikum vor etwa 300 000 Jahren endete (Abb. 219). Die dazugehörende Menschenform ist der Homo erectus s. l., in den letzten 100 000 Jahren des Acheuléen schon mit Übergangsformen zum Neandertaler, wie sie beispielsweise bei Tautavel, Montmaurin, Steinheim oder Swanscombe gefunden wurden. Die Verbreitung des Acheuléen begann möglicherweise von Afrika aus, ist aber schon im Altpleistozän von ganz Afrika über Süd- und Ostasien sowie vom Vorderen Orient bis Europa feststellbar. Im gesamten Verbreitungsgebiet sind Nachweise der Feuernutzung bekannt geworden, seien dies angekohlte Knochen und Hölzer oder seien es Feuerstellen wie beispielsweise in Terra Amata (Nizza). Auch der Behausungsbau hat Spuren in Terra Amata, Lazaret, Bad
Cannstatt und Bilzingsleben hinterlassen. Die Speere und andere Holzgeräte von Schöningen belegen – zumindest in einer jüngeren Phase des Acheuléen – eine qualitätvolle Bearbeitung von Holz. Die beiden kleinen Steinfiguren von Berekhat Ram (Golan-Höhen, Israel) und Tan-Tan (unteres Draa-Gebiet, Marokko) zeigen, dass Homo erectus spielerisch in der Lage war, visuelle Eindrücke in Steine zu übertragen. Der Beginn einer artikulierten Sprache müsste anhand der komplexen technologischen Zeugnisse schon früh im Acheuléen begonnen haben. Neben den Faustkeilen im weiteren Sinn (also auch Cleaver und Pics) gehören zu den Werkzeugen des Acheuléen Polyeder, Schaber, Kratzer und spitz retuschierte Abschläge. Im Jungacheuléen (ab mindestens 400 000 Jahren) beginnt die Gewinnung von dünnen Abschlägen und Klingen mittels der Levallois-Technik (Abb. 215–217). Australopithecus – Mehrzahl Australopithecinen – ist der bisher menschenähnlichste frühe Vorfahre. Seine Entdeckung geht auf einen Kinderschädel zurück, der sich in einem Steinbruch bei Taung im südöstlichen Afrika schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fand. Seitdem ist die Anzahl der ausschließlich im östlichen Afrika gefundenen Individuen erheblich gestiegen. Dabei zeigte es sich, dass neben einer grazileren Art (Australopithecus africanus) auch eine kräftigere Art (Australopithecus robustus) existierte, von der man annimmt, sie bewohnte hauptsächlich die Savanne, während Africanus Galeriewälder bevorzugte. Diese Funde gehören alle in den Zeitraum zwischen 4,5 und möglicherweise noch 2 Mio. Jahren. Von den Australopithecinen werden von der Paläoanthropologie der Sahelanthropus sowie der Ardipithecus geschieden, die beide ein wenig älter als Africanus sind (6 bis 5 Mio. Jahre), aber davon vor allem Ardipithecus als der direkte Vorfahre der jüngeren Formen verstanden werden kann. Unter den gut erforschten Fossilformen des Pliozäns und späten Miozäns fanden sich aber sonst keine Knochen von Primaten, die ganz sicher als Vorgänger der Australopithecinen-Gruppe in Frage kämen. Aus Letzteren sind dann im Nachfolgenden die ersten tatsächlichen Menschen in Afrika entstanden: Homo habilis und Homo rudolfensis, die offensichtlich beide Steinwerkzeuge herstellten und deutlich andere Proportionierungen des Schädelinnenraums aufweisen. Biface ist als „Zweiseiter“ der englische und 341
3. Die Archäologie der Faustkeilepoche
französische Begriff für Faustkeil und hat auch in der deutschen Fachsprache Eingang gefunden. Neuerdings werden im Englischen auch alle Faustkeile, Cleaver und Pis unter dem Begriff large cutting tools (LCT) zusammengefasst. Im Französischen sind ‚bifaces‘ über die engere Bedeutung hinaus generell alle beidflächig bearbeiteten Steinartefakte – also auch Keilmesser, blattspitzenähnliche Artefakte und entsprechend gearbeitete Schaber. Diskoider Kern und die Technik der Serienabschläge. Faustkeile sind die auffallendsten Steinartefakte des älteren Paläolithikums und vermitteln uns unmittelbar etwas vom handwerklichen Können und einem formalen Konzept ihrer Hersteller. Dennoch waren sie nicht die am häufigsten benötigten und entsprechend am zahlreichsten angefertigten Geräte. Seit der Frühstufe technischer Kultur, dem Oldowan, waren Abschläge, die als Messer benutzt werden konnten, überhaupt die wichtigsten Werkzeuge. Deshalb entwickelten die frühen Menschen sehr bald Techniken, mit denen entsprechende Produkte erfolgreich in Serie herzustellen waren. Die Ausgangsformen für die Kernsteine können Silexknollen, plattige Gerölle oder kantige Felsgesteinstrümmer gewesen sein. Sie wurden jeweils dem Kantenverlauf folgend rundherum behauen, so dass eine größere Anzahl von Abschlägen hintereinander abfiel. Die jeweils ersten dieser Serien hatten eine Kortexoberfläche, die nächstfolgenden dann nur halbe, weil der vorangehende Abschlag schon einen Teil der Gesteinsrinde entfernt hatte. Die Restkerne dieser Prozesse sind seltener einflächig, am häufigsten beidflächig mit Abschlagnegativen versehen (Fotos 147–149). Es gibt Exemplare, die eine deutlich bevorzugte Abbaufläche aufweisen und andere, die das nicht haben. Entscheidend dafür war die relative Dicke der Ausgangsform. Flachere haben eher eine bevorzugte Abbaufläche, die Negative der gegenüberliegenden Fläche dienten dann lediglich als Schlagflächen. Häufig haben die Restkerne einen rundlichen Umriss, sie können aber auch vieleckig oder gestreckt sein. Gestreckte Kerne gehen eher auf längliche Ausgangsstücke zurück. Die Abschläge solcher Kerne sind dann vorwiegend von den gegenüberliegenden Längskanten aus abgehauen worden und laufen nach ihren technoformalen Vorbedingungen meistens in scharfen Enden aus. Diese länglichen, als barrenförmige Kerne bezeichneten Reststücke sind 342
besonders aus Inventaren des Acheuléen bekannt. Der darin gepflegte Abbau der Abschläge von gegenüberliegenden Kanten aus könnte die technologische Grundlage für die Levallois-Klingentechnik geliefert haben. Diese insgesamt als diskoide Kerne bezeichneten Formen sind schon in dem 1,8 Mio. Jahre alten Bed I der Olduvai-Schlucht sehr zahlreich. Sie wurden in der gesamten Steinzeit bis in die geologische Gegenwart hinein immer wieder für die Gewinnung einfacher Abschlagserien erzeugt. In dem knapp 1 Mio. Jahre alten Bed III (1,15– 0,8 Mio. BP) von Olduvai lässt sich beobachten, dass zur Gewinnung größerer und flacherer Abschläge die diskoiden Kerne nicht nur durch den Abbauprozess einfach entstanden, sondern dass sie extra mit einer relativ steilkantigen Seite und einer flach gewölbten Gegenseite geschaffen wurden. Die steil behauene Kante der einen Seite diente dann als Schlagfläche für die Zielabschläge von der Abbaufläche gegenüber. Diese Kerne können als ‚präparierte Kerne‘ mit bevorzugter Abbaufläche für Serienabschläge bezeichnet werden. Sie bilden die technologische Voraussetzung für die Herausbildung der weiterentwickelten Levallois-Abschlagtechnik im jüngeren Acheuléen und folgendem Mittelpaläolithikum. Das Eiszeitalter wird wissenschaftlich als Pleistozän oder Quartär bezeichnet (Abb. 220). Diese jüngste erdgeschichtliche Periode begann nach dem Neogen vor knapp 2,4/2,6 Mio. Jahren und endete erst vor 12 000 Jahren mit der heutigen Warmzeit, die der bisher (?) letzte Abschnitt des Quartärs ist. Auf langwährende Kälteabschnitte (Glaziale) folgten stets kürzere Warmphasen (Interglaziale). Man geht heute von 28 solcher Wechsel aus, da aber das Klima auch während der jeweiligen Kaltzeiten erheblich schwankte, wäre eine rein numerische Erhöhung dieser Zahl möglich. Die Tierwelt dieser Kaltzeiten setzte sich naturgemäß aus dicht behaarten Säugetieren und kälteangepassten Vögeln zusammen, während in den Warmzeiten beispielsweise Steppenelefanten, Waldelefanten, Wildpferde, Flusspferde, Wildschweine und Hirsche lebten. In der Hochphase der letzten Kaltzeit war Skandinavien bis nach Schleswig-Holstein und Brandenburg von einem Riesengletscher bedeckt, dessen Eispanzer weit über 2 km dick war! Die darin und in anderen Vereisungsgebieten gebundenen Wassermassen fehlten den Weltmeeren, deren Spiegel
3.5 Der Anfang und das Ende der Faustkeilkultur
im Extrem bis 100 m tiefer lag als heute. Zwischen England, Dänemark und Deutschland war Festland, das von Tieren und Menschen besiedelt war, wie zahlreiche Funde von Baumstämmen, Tierknochen und Steinartefakten beweisen. Extreme Kaltzeiten dieser Art begannen erst mit dem Ende des Altpleistozäns vor etwa 1 Mio. Jahren. Zuvor waren sie milder und eine der Ursachen für die Ausbreitung riesiger Steppen in den heutigen gemäßigten Zonen Asiens und Europas. Glaubte man noch vor einigen Jahren, dass der Mensch sich in den Kaltzeiten des Mittelpleistozäns immer nach Süden in die mediterranen Zonen zurückgezogen hatte, so machen jetzt die 950 000 Jahre alten Funde aus Happisburgh in England deutlich, dass schon im späten Altpleistozän ein Verweilen in den Kaltzeiten möglich war. Die Voraussetzungen dafür waren unbestreitbar Kleidung, schützende Behausungen und die Nutzung des Feuers – Kulturgüter, die viele Archäologen noch in jüngster Zeit nicht für so frühe Urgeschichte für möglich hielten. Obwohl viele Pflanzen und Tiere der Kaltzeiten heute noch in den arktischen Tundren anzutreffen sind, hatten gerade die Kältemaxima in Europa keinerlei Ähnlichkeit mit dieser subpolaren Feuchtsteppe, weil sie extrem trocken waren. Nur im Frühjahr und Herbst gab es ausreichende Niederschläge, die zum Gedeihen üppiger Kräutersteppen mit einjährigen Pflanzenarten ausreichten. Auf diesen Steppen gab es wegen des reichen Nahrungsangebots große Herden von Mammuten, Steppenbisons, Wildpferden, Rentieren und vielen einzeln grasenden Wollnashörner. Diese zahlreichen Pflanzenfresser zogen Löwen, Hyänen und Wölfe sowie schließlich auch den Menschen an, die alle genügend Nahrung fanden. Die Menschen jagten die großen Tiere zunächst mit hölzernen Wurfspeeren und wahrscheinlich auch mit Schleudersteinen. In der Mitte der letzten Kaltzeit wurde die Speerschleuder eingeführt, mit der leichtere Speere mit höherer Geschwindigkeit über größere Distanzen als zuvor treffsicher abgeschossen werden konnten. Dann, am Ende des Eiszeitalters wurde die Erfindung des Jagdbogens immer häufiger genutzt, der weite Schüsse erlaubte und zusammen mit den Pfeilen auf den Streifzügen leicht zu transportieren war. In der Abfolge dieser Jagdwaffen ergibt sich nicht nur eine wachsende Distanz zum Wild und größere Treffsicherheit, sondern auch eine gesteigerte Geschwindigkeit des Tö-
tens. Damit war unzweifelhaft auch ein wachsender Jagderfolg verbunden, der es ermöglichte, größere Gruppen von Menschen zu ernähren. Dieser Wandel in der Sozioökonomie war sicher ein entscheidender Faktor in der biologischen Evolution zum anatomisch modernen Menschen, der sich seit der letzten Kaltzeit über die gesamte Erde ausbreitete. Faustkeilblätter sind dünne flache Faustkeile des Mittelpaläolithikums. Sie wurden fast immer aus Abschlägen hergestellt. Sie kommen oft in den sogenannten Keilmessergruppen vor, haben aber Vorläufer im Acheuléen. Dort sind sie zunächst nicht von kleinen Faustkeilen aus Abschlägen und Minibifaces klar unterscheidbar und dienten auch gemeinsamen Verwendungszwecken. Homo erectus. Dieser Name galt ursprünglich für die erste echte Menschenart nach dem sogenannten Tier-Mensch-Übergangsfeld. Später wurde er auf die Menschen zwischen dem Homo rudolfensis und dem mittelpaläolithischen Menschen angewendet. Mit der Entdeckung neuer und leicht voneinander abweichender menschlicher Fossilien wurden dann als weitere Benennungen u. a. die Begriffe Homo ergaster und Homo antecessor eingeführt. Dazu gehören auch Homo georgicus und Homo heidelbergensis. Es gibt aber keine einheitliche und deswegen auch keine abschließende Klassifikation dieser Fundarten, weil sie teilweise nur auf sehr fragmentarischen Schädelteilen einzelner Individuen beruhen. Deswegen besteht weiterhin die Berechtigung, den Sammelbegriff Homo erectus s. l. (sensu lato) zu führen. Die Verbreitung des Homo erectus reichte von Südafrika bis nach Java und China im Osten sowie nach Spanien im Westen. Die frühesten Datierungen für Funde dieser Gruppe liegen um 1,8 Mio. Jahren (Dmanisi im Kaukasus und Nariakotomé in Ostafrika). Die jüngsten Daten gehören zu solchen Individuen, die schon Andeutungen zur Entwicklung in Richtung der frühen ‚anatomisch modernen Menschen‘ erkennen lassen. Das sind beispielsweise der Heidelberger Mensch, die Menschenreste von Bilzingsleben oder die Funde von Tautavel, die alle im frühen oder mittleren Mittelpleistozän (750 000 bis etwa 300 000 BP) lebten. Danach kamen in Europa und dem Vorderen Orient Neandertaler sowie in Asien und Afrika ähnlich ‚moderne‘ Menschen. Mit dem Homo erectus ist die Faustkeilkultur in Afrika, Asien und Europa verbunden. Obwohl 343
3. Die Archäologie der Faustkeilepoche
nicht an allen Stellen, an denen entsprechende Skelettteile gefunden worden sind, auch Faustkeile entdeckt wurden, lassen die vorhandenen Steinartefakte große Übereinstimmungen in Herstellungstechniken, Bearbeitungsmerkmalen und Formgebungen erkennen. Dabei ist zu betonen, dass nicht Faustkeile, sondern Kerne, Abschläge, Kleingeräte und Choppers meistens den bedeutendsten Anteil unter der Werkzeugausstattung des Acheuléen haben. Faustkeile haben innerhalb aller Geräte meistens nur einen geringen prozentualen Anteil; oft fehlen sie ganz. Der Homo erectus hat sie nicht als seine Visitenkarten für Archäologen hinterlegt, sondern bei Bedarf angefertigt und oft nicht liegen gelassen, sondern zum nächsten Aufenthaltsort mitgenommen. Homo sapiens sapiens. Der ‚anatomisch moderne‘ Mensch wird als Homo sapiens, lateinisch für der „weise Mensch“, bezeichnet. Nach einem französischen Fund in der Grotte Cro Magnon – in Les Eyzies – wird er auch Cro-Magnon-Mensch genannt. Viele Anthropologen vermuten eine Einwanderung aus Afrika für das Erscheinen des CroMagnon-Menschen in Europa. Alternativ dazu könnte er sich hier aber auch aus den Neandertalern heraus entwickelt haben, beispielsweise durch unstabile epigenetische Prozesse, genetischen Austausch im Grenzbereich seiner Verbreitung, und Selbstdomestikation auf Grund veränderter sozio-kultureller Umwelt am Ende des Mittelpaläolithikums. Dann wäre der Denisova-Mensch aus dem nördlichen Asien ein guter und zeitlich passender Beleg für diesen Veränderungsprozess. Anatomisch als Homo sapiens sapiens zu bezeichnende Formen erscheinen in Afrika früher als in Europa, möglicherweise schon vor über 150 000 Jahren. Dort gehen sie auf den archaischen Homo sapiens zurück, zu dem in Europa auch der Homo sapiens neanderthalensis gehört. Im Übrigen ist Wert auf den Hinweis zu legen, dass zahlreiche Menschenschädel, die in Nassbaggereien zusammen mit eiszeitlicher Fauna gefunden wurden und überwiegend „modern“ wirken, auch entsprechend junge C14-Datierungen erbracht haben. Allerdings sind Wollnashornknochen oder Mammutzähne aus diesem Milieu nie oder fast nie datiert worden. Möglicherweise erbringen auch sie Daten, die 100 000 Jahre zu jung sind. Kleingerät. Da viele aus Abschlägen hergestellte Werkzeuge im Acheuléen oft von geringer Größe 344
sind – mit Längen zwischen 1,5 und 4 cm – wurden sie zu Beginn der paläolithischen Forschung gegenüber den großen Faustkeilen, Cleavern, Choppern und Kernen allgemein wenig beachtet. Als bekannte Ausnahme müssen die Funde aus Zhoukoudian (40 km südwestlich von Peking), besonders die Stellen 1 und 13 gelten, wo in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts sorgfältige Ausgrabungen vorgenommen wurden und neben Choppingtools, Choppers, Pics, Polyedern sowie einigen (unerkannten) Faustkeilen und Cleavern aus dunklem Quarzit (genauer: harter quarzitischer Sandstein) tausende von Splittern, Abschlägen und retuschierten Formen vorwiegend aus Quarz (88 %), viel seltener aus Feuerstein, geborgen wurden, die überwiegend unter 4 cm lang sind. Als Werkzeugtypen erscheinen darunter Bohrer, Kratzer, Stichel sowie gebuchtete und gezähnte Stücke. Erst die in den fünfziger Jahren publizierten Funde aus den unteren Schichten der Olduvai-Schlucht machten es deutlich, dass diese Gerätearten von Zhoukoudian keine Ausnahme innerhalb des frühen Paläolithikums sind, sondern offensichtlich zu den allgemein benötigten „Alltags-Werkzeugen“ gehörten. Sehr viele Fundstellen des Acheuléen in ganz Afrika, Süd- und Südwesteuropa sowie dem Vorderen Orient (’Ubeidiya) bieten mittlerweile die gleichen Werkzeugspektren. Trotzdem möchten einige mitteleuropäische Archäologen die kleingerätigen Fundstellen eher im Zusammenhang mit einer eigenen Tradition oder sogar mit einer Bindung an eine spezielle Menschenform sehen. Der Nachweis tatsächlich getrennter Menschenarten und einer klaren Unterscheidung der archäologischen Fundkomplexe im Sinne hier Acheuléen, dort „mikrolithische“ Kultur, ist allerdings schwerlich zu erbringen. Kratzer ist ein meistens aus einem kurzen Abschlag hergestelltes Gerät mit einer bevorzugt retuschierten Arbeitskante. Erst im Jungacheuléen wurden Kratzer gelegentlich auch aus gestreckten Abschlägen oder echten Klingen gemacht, die dann an einem Ende retuschiert wurden. Gebrauchsspuren lassen erkennen, dass sie zur Bearbeitung von organischen Materialien, besonders Holz und Leder, benutzt worden sind. Levallois-Technik ist eine Technik zur Gewinnung dünner, oft gestreckter Abschläge. Die Levallois-Kerne bedurften dazu einer sorgfältigen Zurichtung ihrer Abbaufläche sowie einer Schlag-
3.5 Der Anfang und das Ende der Faustkeilkultur
flächenpräparation in zwei Schritten. Im ersten wurde die Schlagfläche mit einem Klopfstein so hergerichtet, dass sie mit der Abbaufläche einen Winkel zwischen etwa 30 ° und 45 ° hatte. Dann wurde im zweiten Schritt mit einem ‚weichen‘ Schlagobjekt diese Kante solange vorsichtig nachretuschiert, bis dort ein Winkel von etwa 90 ° entstand (Abb. 215). Der schmale Streifen dieser Nacharbeit bildete einen Grat zu der ersten, groben Schlagflächenzurichtung. Auf diesen Grat musste beim Lösen des Levallois-Abschlags der ‚weiche‘ Klopfstein treffen. Nur so konnte ein Abschlag mit gewünschter geringer Dicke gewonnen werden (Abb. 217, 5). Am Abschlag blieb die Kontur der Feinbearbeitung erhalten und wird nach ihrer Ähnlichkeit mit der Kopfbedeckung der französischen Gendarme des 19. Jahrhunderts als ‚chapeau de gendarme‘ bezeichnet (Abb. 215 und 217, 1). Die Levallois-Klingentechnik unterscheidet sich von dem geschilderten Verfahren insofern, als gewöhnlich ein gestreckter Kern an beiden Enden mit Schlagflächen versehen wurde, die nicht feinbearbeitet zu sein brauchten. Klingen wurden davon so abgetrennt, dass der Kern oft gewendet wurde, also einmal die und das nächste Mal die andere Schlagfläche zu benutzen war. Dadurch erreichte man Zielprodukte, die keine oder nur eine geringe Flächenkrümmung hatten (Abb. 217, 3). Die eigentliche Levallois-Technik wurde im jüngeren Acheuléen (seit etwa 400 000 Jahren) entwickelt und dann bis zum Ende des Mittelpaläolithikums praktiziert. Daneben gab es eine einfachere Variante dieser Methode, deren Anfänge auf über 800 000 Jahre zurückgehen. Sie wird als Protolevallois-Technik beschrieben; man kann sie auch nach der fundreichen Region im westlichen Dordogne-Gebiet als Bergeracois-Technik bezeichnen, die dort mit dem lokalen älteren und mittleren Acheuléen verbunden ist, aber ebenfalls bis zum Ende des Mittelpaläolithikums genutzt wurde. Den Kernen dieser Methode fehlt die Feinbearbeitung der Schlagfläche. Deshalb sind die Abschläge weniger vorhersehbar konturiert und haben stumpfere Schlagwinkel. Echte Levallois-Spitzen konnten in diesem Verfahren kaum erzeugt werden. Dennoch kündigt auch die Protolevallois-Technik von einem vorausschauenden, planenden Denken und großer Beherrschung der Steintechnologie. Neandertaler fanden in wöchentlichen Maga-
zinen, populären Wissenschaftszeitschriften und der zugrunde liegenden Fachliteratur in den Jahren zwischen 1990 und 2005 eine bemerkenswerte Aufmerksamkeit. Sie wurden überwiegend als nicht mit uns verwandt und wegen mangelnder Überlebensfähigkeiten als ausgestorben oder sogar als vernichtet beschrieben. In dieser Literatur hielt man sie oft abwertend für nicht sozialfähig, technologisch unterentwickelt und genetisch in einer Sackgasse endend, damit unterlegen. Wieso ihm diese fragwürdigen Eigenschaften plötzlich angetragen wurden, ist archäologisch unerklärbar. Sie hatten ihren Ursprung in der Rassenideologie der Kolonialzeit und des menschenverachtenden Rassenwahns des 20. Jahrhunderts. Genetiker glaubten in den neunziger Jahren feststellen zu können, dass Neandertaler nicht zu den Vorfahren des ‚modernen Menschen‘ (ein Ausdruck, der in diesen Jahren Triumphe feierte) gehören konnten. Erst im Jahre 2010 wurde diese Aussage von den Protagonisten der Hypothese korrigiert. Trotzdem hält sich der Gedanke des blinden Zweiges der Menschheit bei denjenigen, die sich nicht mit einer natürlichen Abstammung abfinden mögen. Die archäologischen Zeugnisse eines fließenden Wandels zwischen dem von Neandertalern und anderen ähnlichen Menschenformen getragenen Mittelpaläolithikums zu dem folgenden Jungpaläolithikum waren eigentlich nie zu übersehen gewesen. Diese ‚Übergangskulturen‘ lassen sich nicht leugnen. Vor allem können sie nicht mit einem von außen kommendem technologischem Einfluss auf das späte Mittelpaläolithikum erklärt werden, weil sie alle deutlich lange vor dem Jungpaläolithikum beginnen. Vielleicht diente die ganze Aktion der Abwertung dem politischen Zweck derjenigen, die es als schicksalhaft verstanden haben möchten, dass Völker mit „überlegener Rasse“ und „überlegener Technologie“ Ethnien mit demgemäß „minderen“ Qualitäten überrollen und verdrängen. Damit sei auf die Geschichte Amerikas, Australiens, aber auch auf die Ölkriege der USA um die Jahrtausendwende angespielt. Neandertaler lassen in ihrer Skelettanatomie eine besondere Anpassung an die Lebensweise des Mittelpaläolithikums in den gemäßigteren Klimazonen Europas und Asiens erkennen. Auch ihre Mitochondrien-DNA (mtDNA) weist entsprechende Abweichungen vom durchschnittlichen heutigen Menschen auf, aber die Stamm-DNA ist 345
3. Die Archäologie der Faustkeilepoche
mit der unseren weit über 99 % verwandt. Sie ist maßgebend für den Bau des Körpers und seiner Organe und Träger des eigentlichen Erbguts. Ihre durchschnittliche Abweichung bei „dem“ Neandertaler von „dem“ heutigen Menschen liegt durchaus in der Variationsbreite gegenwärtiger Europäer. Die von der Anthropologie als Neandertaler klassifizierte Menschengruppe war von Beginn an nie von anderen Menschengruppen in geographischen Nachbarräumen getrennt. Daraus ergibt sich, dass ein fortwährender Genaustausch möglich und höchstwahrscheinlich war – auch mit den bisher nicht näher lokalisierten afrikanischen Menschen, die angeblich unsere einzigen wirklichen Vorfahren gewesen sein sollten. Der Denisova-Mensch aus dem nördlichen Mittelasien ist tatsächlich ein gutes Modell für diesen Genaustausch, aber ebenso wäre er das von seiner Datierung her gut passende Modell für eine Art Selbstdomestikation am Ende des Mittelpaläolithikums. Vermutlich trifft bei ihm beides zusammen. Genaustausch und biokulturelle Eigendynamik in der kulturellen Entwicklung finden aus dem gesamten Mittelpaläolithikum und dem beginnenden Jungpaläolithikum Afrikas, Asiens und Europas statt. Übereinstimmungen der Produktionsmethoden und Werkzeugtypen; auch die Lebensweisen ähneln sich, wenngleich südlich der „Neandertalerzone“ andere Umweltverhältnisse andere Varianten verlangten. Insgesamt gehören zu der Lebensweise aller mittelpaläolithischen Menschen die Jagd als Lebensgrundlage, Feuernutzung, die Levallois-Technik, Kenntnis der Klingenerzeugung, geschäftete Steingeräte, Benutzung von Rötel, Behausungsbau und Totenbestattung. Der Begriff Neandertaler (homo sapiens neanderthalensis) kann als Bezeichnung mittelpaläolithischer Menschen in Europa benutzt werden. Es muss aber bewusst sein, dass er keine Bedeutung im Sinne einer genetischen und kulturellen Isolation hat – ähnlich, wie auch die späteren, historischen Europäer niemals von Nachbarvölkern isoliert waren. Insofern ist er besser nur mit dem Begriff ‚mittelpaläolithischer Mensch‘ zu erfassen. Das Neogen ist die geologische Epoche vor dem Eiszeitalter, die wiederum in den älteren und langdauernden Zeitabschnitt Miozän und das jüngere, viel kürzere Pliozän unterteilt wird. Im 20. Jahrhundert kannte man diesbezüglich nur das Tertiär, aber das wurde international wegen seiner langen 346
Dauer und unterscheidbaren Tierwelt in Paleogen und Neogen getrennt (Abb. 1). Im Neogen existierten bereits die unmittelbaren Vorläufer der heutigen Tiere und Pflanzen. So zeigt beispielsweise der Fund eines Affen aus der Grube Messel in Südhessen, dass er anatomische Eigenheiten hat, die später zu Pongiden und schließlich Hominoiden führte. Die europäischen-westasiatischen Dryopithecinen stehen schon am Ende dieser Entwicklung (im jüngeren Miozän) und kommen als unsere direkten tierischen Vorfahren in Frage. Zu Ihnen gehört wahrscheinlich auch der Fund des Danuvius guggenmosi. Als deren Nachfolger kann Graecopithecus gelten. Am Ende des Neogens (im Pliozän) traten (als dessen Enkel?) in Afrika dann die Australopithecinen auf, die an der Schwelle zu den ersten echten Menschen stehen. Die frühesten erkennbaren Steingeräte wurden im Pliozän entdeckt und sind mindestens 3 Mio. Jahre alt (Abb. 1). Olduvai-Schlucht. In Landkarten Ostafrikas findet sich heute oft der Name Oldupai Gorge für dieses bedeutsame Fundareal früher Homininen und archaischer Steingeräte. Das Olduvai-Gebiet ist Teil des Serengeti-Nationalparks in Tansania. Es wurde als ergiebige Lagerstelle fossiler Tierknochen von dem deutschen Paläontologen Hans Reck in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entdeckt. Louis Leakey, der davon erfuhr, führte dann in den vierziger Jahren zahlreiche Untersuchungen durch, bei denen er von Anfang an die bedeutsame archäologische Sequenz erkannte. Die ersten Möglichkeiten radiometrischer Datierungen an vulkanischen Gesteinen erlaubte ihm bald, das Alter der unteren Fundschicht (Bed I) auf gleichsam „sagenhafte“ 1,7 Mio. Jahre bestimmen zu lassen. Diese Messungen sind später verfeinert worden. So datiert man jetzt das unterste Bed I auf nahezu 2 Mio. Jahre (Mercader, Akuku, Boiviu et al. 2021) und die höheren Lagen auf 1,8–1,6 Mio. Jahre, Bed II auf 1,7–1,2 Mio. Jahre, Bed III auf 1,15 – 0,8 Mio. Jahre; Bed IV auf 0,8–0,6 und schließlich die Masek-Beds auf 0,6–0,4 Mio. Jahre (R. L. Hay in Leakey & Roe 1994). Die Schlucht liegt im vulkanisch aktiven Bereich des afrikanischen Grabenbruchs; die Fundschichten sind deshalb durch Lagen von Lavaschlacken und Ascheschichten gut konserviert, so dass die Erhaltung von Knochen und Artefakten optimal ist. Die kulturellen Relikte aus Bed I gehören alle zum Oldowan. Es kommen dabei einfache und dis-
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koide Kerne vor, sehr viele Abschläge, die nur selten größer sind als 5 cm, kantenbearbeitete Abschläge in Form grober Kratzer, gebuchteter („Hohlschaber“), zugespitzter, bohrerartiger und ausgesplitterter Stücke, zusätzlich auch intentionale Abschläge aus hartem Knochen. Die schwereren Geräte sind Polyeder, Chopping-tools, Chopper, Arbeitsunterlagen mit zentralen Mulden und Klopfsteine. Die frühesten Faustkeile in der Art sehr grob zugerichteter Gerölle oder manchmal auch aus Abschlägen sind noch außerordentlich selten, aber abweichend von den Angaben in der Monographie von Mary Leakey 1977 und übereinstimmend mit Louis Leakeys erster Publikation 1951 auch im eindeutigen stratigraphischen Zusammenhang vorhanden. Bemerkenswert ist der Befund einer Behausungsstruktur in Form eines aus Steinen gesetzten Kreises. Er wurde sehr viel später von amerikanischen Archäologen mit wenig Berechtigung angezweifelt, indem man den Ausgräbern leider vorwarf, durch das kreisförmige Liegenlassen von Steinen diesen Befund absichtlich erzeugt zu haben. Man traute zwar Menschenaffen zu, Schlafnester in Bäumen zusammenzuflechten, aber dem Frühmenschen wollte man absprechen, einfache Zweighütten, die mit größeren Steinen umstellt waren, errichten zu können. In Bed II lieferte der untere Bereich auch nur Geräte des Oldowan, aber ab dem mittleren Bed II fanden sich dann frühe Zeugnisse des Acheuléen. Die Faustkeile haben Größen zwischen etwa 10 und fast 30 cm Länge, sind überwiegend sehr grob zugerichtet und belegen in der Mehrheit noch keine sehr eindeutige, eher eine außerordentlich summarische Formgebung. Im Gegensatz zu den Funden aus Bed I sind ab jetzt die Kleingeräte häufig aus hellem neogenen/altpleistozänen Chalzedon hergestellt, der eine Bildung des frühen Olduvai-Sees ist. Die kleinen aus Abschlägen hergestellten Werkzeuge stehen trotzdem eindeutig in der Tradition des Oldowan. Intentional geformte Polyeder und einfache Cleaver ergänzen diesen Gerätebestand. Bed III ist bisher archäologisch nicht so reich wie die darunter liegenden Beds, lieferte aber doch ausreichende Fundserien eines entwickelten Altacheuléen (Lower Acheulian), in dem neben Faustkeilen, Cleavern auch größere Abschläge vorkommen, die in einer entwickelteren Technik diskoider Kerne erzeugt worden sind. Dementsprechend fanden sich auch Schaber mit sorgsam retuschierten Schneiden.
Die wieder umfangreicheren reicheren Fundserien aus Bed IV unterscheiden sich nicht wesentlich von denen aus Bed III. Große Faustkeile und Cleaver aus Vulkanit und metamorphem Quarz sowie Chopping-tools, Polyeder, diskoide Kerne, Kleingeräte und Schaber bilden die Hauptanteile des Gerätebestandes. Erst in den Masek Beds tauchen Faustkeile auf, die überwiegend eine sehr gerade Kantenbearbeitung und eine eindeutig schlanke symmetrische Formgebung besitzen. Sie sind sehr viel öfter aus Quarz hergestellt worden als in den Schichten darunter. Diese Funde lassen sich nicht mehr als Altacheuléen klassifizieren, sondern sind stilistisch ein afrikanisches Jungacheuléen. Sie stammen aus einem Zeitraum, aus dem auch die meisten Funde des europäischen Acheuléen vorliegen. Nur wenige Faustkeile datieren hier bisher älter (Soleihac, Ceprano, Pakefield, neuerdings Münster-Sarmsheim und wahrscheinlich auch Bakers Hole sowie auch die älteren Funde von Abbeville). Nahe der Oberfläche, oder darauf auf den Plateaus über der Olduvai-Schlucht gibt es mittel- und epipaläolithische Steingeräte. Sie schließen eine nahezu 2 Mio. Jahre dauernde steinzeitliche Geschichte des Menschen ab, der sich trotz großer vulkanischer Aktivitäten letztlich bis heute in diesem Gebiet aufgehalten hat. Vielleicht gibt uns das die Hoffnung, dass Menschen, die mit und nicht gegen die Natur leben, auch weiterhin von ihr getragen werden. Paläolithikum (Abb. 219). Die biologische Menschheitsgeschichte im engeren Sinn begann mit der Entwicklung der Australopithecinen und ihrer Nebenarten vor mehr als 5 Mio. Jahren, also vor einer Zeit, die etwa doppelt so lang ist wie das Paläolithikum. Die ersten erkennbar bearbeiteten Steingeräte stammen dagegen aus der Zeit zwischen 3 und 2,5 Mio. Jahren. Dieser früheste Abschnitt kultureller Entwicklung ist das Oldowan. Von Anfang an gab es darin Geräte, die nicht nur einem unmittelbaren Zweck dienten, sondern Teile einer jeweiligen zum eigentlichen Ziel führenden Handlungskette waren. So diente beispielsweise ein Klopfstein dem Ablösen eines Abschlags vom Kern; der Abschlag wurde zum Anspitzen eines Stocks gebraucht; der Stock wurde zum Stochern und Ausgraben von essbaren Wurzeln oder Wohnhöhlen kleinerer Tiere benutzt; schließlich hatte die erbeutete Nahrung ihren Sinn in der sozialen Ökonomie. Derartige sukzessive 347
3. Die Archäologie der Faustkeilepoche
Aktionen sind in der Tierwelt nicht ausgeprägt verbreitet – und wenn, dann zumeist ohne oder nur mit beschränkten körperfremden Hilfsmitteln. Diese Hilfsmittel, Werkzeuge oder Geräte, bilden ein System und müssen in ihrer systematischen Verknüpfung in den neuronalen Vorgängen gespeichert und verfügbar sein. Sie haben ihre abstrakten Abbilder im Gedächtnis. Nach ihnen können sie real dargestellt werden. Deshalb ist es berechtigt, das Oldowan als tatsächlichen Beginn des kulturellen Verhaltens zu verstehen. Denn das Wesen der Kultur ist seine abstrakte, symbolische Verfügbarkeit der Welt. Wer die Träger des Oldowan waren, ist bisher nicht restlos geklärt, weil es zu jener Zeit unterschiedliche Arten der Homininen gab. Sehr wahrscheinlich waren es Frühmenschen von der Art des Homo rudolfensis, die Artefakte herstellten und weiterentwickelten. In Ostafrika ließ sich diese Entwicklung deutlich an zahlreichen Fundorten aus der Zeit zwischen 2,4 und 1,8 Mio. BP ablesen. Die Steingerättypen des Oldowan wurden umfangreicher und spezieller. Am Ende dieser Entwicklung stehen die Funde aus Bed I der Olduvai-Sequenz mit Kratzern, gezähnten Abschlägen, Bohrern, ausgesplitterten Stücken, Chopping-tools, Polyedern, Ambosssteinen mit Mulden sowie ersten faustkeilartigen Geräten. Das war vor etwa 1,8 Mio. Jahren. Dann folgt die lange Epoche der „Faustkeilkultur“ (Acheuléen), in der das erworbene Kulturgut so etwas wie eine optimale Funktionalität für die frühen Sammler- und Jägerpopulationen des Homo erectus hatte und deshalb kein Bedarf nach Änderungen vorhanden war. Erst mit der Ausbreitung des Menschen bis an die Grenzen der erreichbaren und zu nutzenden Welt veränderte sich diese Kultur, das Acheuléen, allmählich. Archäologisch sind ab etwa 0,5 Mio. Jahren an diverse Umweltverhältnisse angepasste und spezialisierte Steingerätinventare bekannt. Vor allem Schaber, Spitzen und Messer treten erkennbar in einigen dieser Inventare hervor. Das Leben in raueren Klimazonen verlangte nach der Anfertigung geeigneter Bekleidung und der Konstruktion dichter, wärmeschützender Behausungen, deren Spuren Dietrich Mania in Bilzingsleben dokumentieren konnte. Immer notwendiger wurde es ebenso, Methoden der Feuererzeugung zu entwickeln. Allerdings gibt es zu all diesen Erfordernissen kaum direkte und ganz eindeutige ar348
chäologische Zeugnisse. Nur die von Hartmut Thieme entdeckten und ausgegrabenen, auf knapp 400 000 Jahre datierte (aber wahrscheinlich älteren) Funde der Pferdejagdstation von Schöningen werfen bisher ein deutliches Schlaglicht auf diese Zeit. Hervorragend gestaltete Wurfspeere, Klemmschäfte, ein Bratspieß und ein doppelspitzer Wurfstock sowie weitere Holzartefakte sind in ihrer Erhaltung ein Ausnahmefall, der uns ahnen lässt, was noch alles aus organischem Material in der Zeit des späten Acheuléen und der beginnenden Neandertalerentwicklung vorhanden gewesen sein mag. Das Altpaläolithikum endete um etwa 400 000 BP. Vor allem die rasche Verbreitung der Levallois-Technik kündigt das Mittelpaläolithikum an. In Europa ist das die Zeit der Neandertaler. Hier folgt darauf das Jungpaläolithikum mit seinem Beginn zwischen 40 000 und 35 000 BP. Es endete mit dem Beginn des Holozäns und einem Übergang zur Mittelsteinzeit, dem Mesolithikum vor 12 000 Jahren. Paläomagnetismus. Die Ausrichtung des Erdmagnetismus hat sich im Verlauf des Bestehens unseres Planeten oftmals verändert (Abb. 219). Es sind wahrscheinlich die mobilen Kräfte des Erdinneren, die von Zeit zu Zeit ein Umkippen der Magnetisierung verursachen. Ohne dass die Achse der Erde in ihrer Stellung zur Sonnenumlaufbahn davon berührt wird, tauschen die magnetischen Pole ihre Orientierung aus. In den kurzen Zeiten dieses Wechsels bricht das globale Magnetfeld nahezu zusammen und seine uns sonst gegen die starke kosmische Strahlung abschirmenden Kräfte versagen dann weitgehend. Alle frei beweglichen eisen- und nickelhaltigen Teilchen orientieren sich wie kleine Kompassnadeln nach dem Magnetfeld. Werden sie aber im Sediment fixiert, behalten sie auch nach einem Wechsel des Erdmagnetismus ihre Position. Das machen sich die Paläowissenschaften zunutze, indem sie diese Orientierung mit empfindlichen Instrumenten messen und so feststellen können, ob die entsprechende Sedimentschicht ‚normal‘ oder ‚revers‘ magnetisiert ist. So sind beispielsweise Ablagerungen, die älter als etwa 0,8 Mio. Jahre alt sind, fast durchweg revers und die jünger als dieses Datum sind, normal magnetisiert. Dieser Umstand erlaubt eine präzise und weltweite Festlegung der Grenze zwischen Alt- und Mittelpleistozän. Die gelegentlich in den langen Magnetisie-
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rungsepochen eingeschalteten kurzfristigen Umkehrungen, sogenannte ‚events‘, erlauben zusätzliche chronologische Unterteilungen dieser „magnetischen Zeituhr“. Festzuhalten ist, dass in terrestrischen und fluviatilen Sedimenten nicht zu erwarten ist, dass es eine völlig komplett überlieferte paläomagnetische Sequenz darin gibt. Insofern ist eine diesbezügliche Datierung oft schwierig und gravierende Irrtümer sind nicht auszuschließen. Wurfspeer. Seit dem Fund eines fast 40 cm langen Spitzenbruchstücks von einem sorgfältig gestalteten Speer aus Eibenholz im torfigen Sediment des ostenglischen Fundgebietes bei Clacton-on-Sea im Jahr 1911 wusste man, dass Speere in der Jagd des Altpaläolithikums offenbar eine große Bedeutung hatten. Dennoch waren viele Wissenschaftler im Zweifel darüber, ob solche Jagdwaffen zu den effektiven Traditionen des frühen Menschen gehört haben könnten. Erst die durch H. Thieme gemachten Entdeckungen von einigen kompletten und anderen bruchstückhaften Jagdspeeren in einer Fundschicht des späten Altpaläolithikums von Schöningen (Niedersachsen) zeigten eindeutig, dass sie wirkungsvolle Jagdwaffen waren. Sie wurden zusammen mit von Menschen zerlegten Pferdeskeletten, Feuerstellen und Steinartefakten am Rande eines ehemaligen Sees ausgegraben. Die Speere sind zwischen etwa 1,80 und 2,30 m lang und bestehen in der Mehrzahl aus dem Holz der langsam wachsenden Fichte. Der Schwerpunkt aller Speere liegt vorne an der Grenze vom ersten zum zweiten Drittel. Von da ab verjüngt sich der Querschnitt gleichmäßig und gerade bis zur Spitze. Durch die Last des
darüber liegenden Sedimentes sind die Speere verdrückt worden, so dass sie heute besonders an ihren dünneren unteren Enden krummer aussehen, als sie es ursprünglich waren. Sie gleichen in ihren Proportionen genau heutigen sportlichen Wettkampfspeeren und haben eine optimale ballistische Qualität. Da sie in dieser Weise nicht eine spontane Erfindung der Schöninger Urmenschen gewesen sein können, muss ihnen eine lange Entwicklung vorangegangen sein. Wahrscheinlich ist, dass ihre Tradition bis in das Altacheuléen zurück reicht (Thieme 2001). Mit dieser Entdeckung wurde auch die von amerikanischen Archäologen propagierte „Aasfresserhypothese“ nichtig, die besagte, erst der sogenannte moderne Mensch sei zur systematischen Jagd auf größere Tiere befähigt gewesen. Diese auf keinerlei faktischer Grundlage aufgebaute Hypothese entwürdigte den Urmenschen als steinebenutzendes Tier und verherrlichte den Homo sapiens als modernen erfolgsgewohnten Herren der Welt. Der evangelikale US-Amerikaner mag so etwas. Spuren langer spitzer Holzstäbe gibt es auch von den altpaläolithischen Fundstellen Bilzingsleben, Kärlich-‚Seeufer‘ und Stuttgart-Bad Cannstatt. Dass auch diese Objekte Speere waren, wird erst durch die Funde von Schöningen deutlich. Ebenso ist jetzt rekonstruierbar, wie der komplette Speer von Clacton-on-Sea ausgesehen haben mag. Faustkeile von Kärlich-‚Seeufer‘ belegen zusätzlich, dass diese Speere nicht nur in die Zeit des späten Acheuléen gehören, sondern Bestandteile der Geräteausstattung dieser gesamten Kultur waren.
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Danksagung
Dieses Buch habe ich Dr. Fritz-Rudolph Herrmann gewidmet, der mir in seiner Zeit als leitender Direktor der Hessischen Landesarchäologie großes Verständnis für die vorneolithische Steinzeitforschung entgegenbrachte und sie als verpflichtendes Element gegenüber den vielen Zeugnissen der frühen Menschheit seines Verantwortungsbereichs verstand. Für seine diesbezügliche Offenheit möchte ich mich hier an erster Stelle bedanken! Die Idee, ein bisher in deutscher Sprache noch nicht vorhandenes Buch über Faustkeile zu schreiben, erschien mir und meinem Freund Norbert Kissel schon vor fast 20 Jahren als notwendig. Norbert, als Leiter einer großen Schule, übernahm zunächst den didaktischen Part und hatte vielerlei Vorstellungen zur Gestaltung des Ganzen, die auch im vorliegenden Werk realisiert werden konnten. Eine Phase zunehmender organisatorischer Arbeit und schließlich der Wechsel ins Hessische Kultusministerium ließen ihm aber leider keine Möglichkeit mehr, meinen sprunghaften Aktivitäten zu folgen. So möchte ich ihm aber für das wichtige anfängliche Brainstorming und seine wertvollen Anregungen nochmals an dieser Stelle sehr danken. Dieses Buch sollte von Anbeginn der Planungen nicht nur mit wissenschaftlichen Artefaktzeichnungen ausgestattet werden, sondern auch mit Fotografien. Deshalb bin ich allen denjenigen besonders dankbar, die mir diesbezügliche Objekte aus ihren Sammlungen zur Verfügung stellten. In der Reihenfolge des jeweiligen Umfangs sind das Hans Nettlau, Horst Quehl, Horst Klingelhöfer, Hermann Schlemmer, Christian Humburg, Joachim Hüttl und Thomas Hombach. Sie alle wünschten aus Gründen der Diskretion nicht namentlich unter den jeweils abgebildeten Objekten als Besitzer erwähnt zu werden. Dagegen sind die Zeichnungen mit Autorenschaft gekennzeichnet. Allerdings sind die jewei-
ligen Anteile daran durchaus gemischt. Beate Kaletsch hat meine eigenen Zeichnungen oft grafisch verbessert und ich ebenso ihre. Hier danke ich ihr herzlich für ihr Engagement, ihre umfängliche Kenntnis, ihren unermüdlichen Einsatz und ihre großmütige Geduld mit einem nicht immer einfachen „Chef“. Ebenso danke ich allen Kollegen und interessierten Freunden für die anregenden und oft tiefgründigen Diskussionen über den Aussagewert von steinzeitlichen Artefakten. Besonders möchte ich unter ihnen aber Hartmut Thieme, Christian Humburg und – nochmals – Norbert Kissel nennen. Das Freistellen der Objekte auf den Fotos von ungeeigneten Hintergründen oder Halterungen wurde dankenswerterweise von Lappiyul ParkHombach ausgeführt. Sie beriet mich auch bei der Wahl der farblichen Gestaltung. Jürgen Rust hat es wieder einmal unternommen, den englischen Text der Zusammenfassung auf sprachliche Feinheiten zu kontrollieren und gegebenenfalls zu verbessern. Es war mir ein Vergnügen, mit ihm gemeinsam Inhalte in einer anderen Sprach auf den Punkt zu bringen. Indes sorgte meine Frau Karin unter Inkaufnahme meines anhaltenden Wissenschaftsspleens und der damit verbundene familiären Unruhe für mein leibliches Wohlergehen. Und zu guter Letzt danke ich dem wbg-Verlag sowie besonders Herrn Dr. Jens Seeling und Herrn Dr. Jan-Pieter Forßmann für ihre Bereitschaft, in Zeiten eines tiefgreifenden Wandels auf dem Buchmarkt für ihr Entgegenkommen, Hilfe und Bereitschaft bei der Publikation. Und nicht zuletzt gilt mein Dank Frau Lea Eggers und ihrem Setzer-Team für die nicht einfache Arbeit, Texte und Bilder in ein optimal ausgewogenes Miteinander zu bringen.
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Abb. 219: Klimatabelle mit Eintragungen einiger bedeutender Fundstellen in Mitteleuropa und Afrika. Zu erkennen ist die Diskrepanz in den Datierungen des älteren Paläolithikums.
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Abb. 220: Klimatabelle analog Abb. 2 mit Eintragungen neuer Fundstellen in den Terrassen des Mittelrheintals mit vorläufigen Bezeichnungen (L. Fiedler).
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Lutz Fiedler studierte Ur- und Frühgeschichte, Quartärgeologie und Ethnologie. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen in der Steinzeitforschung: Behausungsbau, Technik der Steingeräteherstellung, Deutungsmöglichkeiten von Ausgrabungsbefunden und Artefakttypen, Kulturentwicklung im zirkummediterranen Raum sowie kritische Anthropologie.
Lutz Fiedler Faustkeile
Faustkeile sind nur eine der Werkzeugarten, die von Menschen in der Zeitspanne von 2 Millionen bis vor 40 000 Jahren angefertigt wurden. Diese kaum vorstellbare lange Tradition und deren geographische Verbreitung über Afrika, Asien und Europa hinweg sowie während extrem wechselnder Klimaphasen war tief verwurzelt im Denken, Planen und Sozialwesen unserer frühen Vorfahren. Lutz Fiedler geht dieser Entwicklung hier nach und zeigt, welche kulturellen Grundlagen der Vergangenheit das Wesen unserer eigenen Gegenwart bestimmen.
Lutz Fiedler
Faustkeile Vom Ursprung der Kultur
www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27499-4