Falsche Könige zwischen Thron und Galgen: politische Hochstapelei von der Antike zur Moderne [New ed.] 3631624662, 9783631624661

Das Phänomen politisch relevanter Hochstapelei, das heißt falscher Thronbewerber, die zeitweilig Herrschaft ausübten, Au

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German Pages 439 [443] Year 2012

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Table of contents :
Cover
Inhaltsverzeichnis
Einleitende Bemerkungen
I. Persisches Reich: der falsche Smerdis und die Lügenkönige
II. Das Zeitalter des Hellenismus
Seleukidische Experimente. Artemon
Philipp aus Megalopolis -Ein Nachkomme des großen Alexander?
Das Kuckucksei: Orophernes4von Kappadokien
Gegenschläge: falsche Seleukiden. Alexander I. Balas
Ein Nachspiel zu Balas: Antiochos VI.
Ein gekaufter Seleukide: Alexander II. Zabinas
Gegen Rom: Pseudophilippos- der letzte Makedone
Gegen Rom: Eumenes III. von Pergamon oder Aristonikos ?
Ein falscher Herodessohn oder Kaiser Augustus als Detektiv
Ein Nachtrag: echte Königssöhne als falsche Könige
III. Betrug im alten Rom
Ein falscher Revolutionär: der unechte Gracchus
Ein Enkel des großen Marius ?
Aus göttlichem Blut ? -Falsche Julier
Ein falscher Enkel des Augustus: Clemens alias Agrippa Postumus
Der falsche Drusus
Ein Sohn Caligulas? – Nymphidius Sabinus
Der dreifach wiedergekehrte Nero
IV. Fragwürdige Merowinger im Frankenreich
Gundowald
Der schattenhafte dritte Chlodwig
Merowinger dunkler Herkunft
Nachkommen der Merowinger?
Ein Exkurs: zum Fantasy-Revival der Merowinger
V. Byzantinische Geschichten
Der Fall Theodosios
Der Fall Tiberios
Thomas der Slawe alias Konstantin VI. ?
Gebeon
Der wiedergekehrte Michael VII. Dukas
Wieviel falsche Diogenes-Söhne?
Der vierfache Alexios
Die Laskaris-Legende
Zusammenfassende Bemerkungen
VI. Aus der Wunderwelt des Mittelalters: Balduin von Flandern
VII. Eine deutsche Krankheit ?: falsche Kaiser und Fürsten
Der falsche Kaiser Heinrich V.
Der unsterbliche Kaiser Friedrich und seine Wiedergänger
Giovanni di Cocleria
Zwischenspiel: der unfreiwillige Konradin
Die Epidemie der falschen Friedriche in Deutschland
Tile Kolup
In der Nachfolge Kolups – oder der ewige Friedrich
Die wunderbare Wiederkehr Heinrichs des Pilgers von Mecklenburg
„Trugwoldemar“ – oder Woldemar, Markgraf von Brandenburg?
Deutungsversuche der „deutschen Krankheit“
Nachspiele
Ein verstoßener Prinz? Heinrich der Unechte
Ein falscher Nassauer
VIII. Rätsel des Nordens
Falsche und echte Thronprätendenten in Norwegen
„Das übelste Geschenk an Norwegen“ – Harald Gille
Sigurd Slembe(djakan)
Thronwirren
Sverre und weitere Birkebeiner-Könige
Die Kuflunger- und Baglerkönige
Zusammenfassung
„The false Maid of Norway“
Ein Anwärter auf drei Kronen: der arme Olaf
Schweden: Der Daljunker
IX. England: Königliche Kriminalromane
Geheimnisse um Eduard II.
Vom Weiterleben Richards II.
Thronwirren als Vorgabe für die „Great Pretenders“
Lambert Simnel oder Eduard VI.
Der „greatest Pretender“ – Perkin Warbeck14 oder Richard IV.
Nachlese: -Ein falscher Eduard VI. und andere Gespenster
X. Frankreich
Ein echter Fünftagekönig: Jean I.
Giovanni di Guccio oder Jean I. ?
Ein letzter Valois? „François III.“
XI. Spanisches
Der falsche Alfons von Aragon
Ein namenloser Prophet
XII. Eine portugiesische Sehnsucht: Sebastian
Die Tragödie des echten Sebastian
Der Schelm von Peñamacor
Ein Bauern-Sebastian
Doña Anna d’Austria und der Pastetenbäcker Espinosa
Ein letzter Sebastian
Zusammenfassung
Literarisches Nachleben
XIII. Balkanländer 1
Bulgarien
Zar Peter oder Deljan?
Ungarn: drei falsche Prinzen namens Andreas
König Wladislaw. Ein polnischer Ungarnkönig auf Madeira?
XIV. Balkanländer 2: Rumäniens fragwürdige Moldau-Fürsten
Johann Jakob Basilides Heraklides Despota
Joan Voda (cel Viteaz oder cel Cumplit)
Joan Potcoava
Joan (Jancu) Sasul
Aaron Tiranul
Stefan Bogdan
Petru Cercel (Tschertschel) oder Peter mit dem Ohrring
XV. Balkanländer 3. Montenegro: der kleine Stephan oder Zar Peter III.
XVI. Russland 1: Die falschen Zaren Dimitri (Demetrius) und ihre Nachahmer in der Zeit der Wirren ab 1605
Der echte Dimitri und Zar Boris Godunow
Ein Rätsel aller Welt – Demetrius, der falsche Zar
Der falsche Peter Fedorowitsch („Petruschka“) und Bolotnikov
Ein zweiter Dimitri – der Schelm von Tuschino
Die „kleinen Samosvanzen“ und der dritte Dimitri
Ein Nachspiel der Dimitri-Legende: Iwan Dimitrowitsch
Die falschen Schuiskis
XVII. Russland 2 : Die Tragödien der Romanows und ihre Samosvanzen
Der unsichtbare Zarewitsch des Stenka Razin
Alexej Petrowitsch: der Sohn Peters d. Gr. und seine Doppelgänger
Die fragwürdige Thronfolge der Romanows und ihre Folgen
Ein bunter Samosvanzenstrauß
Peter III. (1762): Der ewige „Dritte Kaiser“
Pugatschow
Nach Pugatschow: Peter III. lebt weiter
Paul I. und seine Schatten
Großfürst Konstantin in sechsfacher Wiederholung
Zur Diskussion um das russische Samosvanzentum
XVIII. Aus Tausendundeiner Nacht: falsche Kalifen, Sultane und Schahs
Ein Vorspiel: Chakya
Der dreimal begrabene Hischam, Kalif von Cordoba
„Der mit der Feldflasche“ – ein falscher Omajade in Ägypten
Der verschwundene Kalif al-Hakim in Kairo und seine Wiederkehr
Getürkte Osmanen
Mustafa Düzme
Die Tragödie des Prinzen Mustafa und ihre Folgen
Kleinere Zwischenspiele
Sultan Yahya
„Padre Osman“
Persische Prätendenten: die falschen Safawiden
Der grausame Schah Ismail und seine mehrfache Wiederkehr
Eine Schwemme falscher Safawiden-Schahs in der Reichskrise des18. Jahrhunderts
XIX. Fernöstliche Geheimnisse: China
Ein Nachkomme der Sung-Kaiser?
Ein untergetauchte Kaiser: Jianwen ?
Die falschen Ming
XX. Peru: Die Wiederkehr der Inka
Juan Santos oder Atahualpa II.
Tupac Amaru II.
XXI. Eine Nachlese im 19. Jahrhundert. Ludwig XVII. und Kaspar Hauser
Das Schicksal Ludwigs XVII.
Der vierzigfache Ludwig XVII., eine Auswahl
Hervagault
Bruneau
Richemont
Naundorff
Meves
Williams
Exkurs: die Dunkelgräfin von Hildburghausen
Kaspar Hauser
Eine prekäre Dynastie – das Haus Hochberg-Baden
Kaspar Hausers Aufstieg zum Prinzen von Baden
Die „liberale“ Hauser-Kampagne
Nachspiele
XXII. Schlussbetrachtung Bedingungen und Strukturen politischrelevanter Hochstapelei
Literaturverzeichnis
Zur Einleitung
Zu Kapitel I (Persisches Reich)
Kapitel II (Hellenismus)
Zu Kapitel III (Rom)
Zu Kapitel IV (Merowinger)
Zu Kapitel V (Byzanz)
Zu Kapitel VI (Flandern)
Zu Kapitel VII. (Deutschland)
Zu Kapitel VIII. ((ordeuropa)
Zu Kapitel IX (England)
Zu Kapitel X (Frankreich)
Zu Kapitel XI (Spanien)
Zu Kapitel XII (Portugal)
Zu Kapitel XIII (Balkanländer 1)
Zu Kapitel XIV (Balkanländer 2, Moldau)
Zu Kapitel XV (Balkanländer 3, Montenegro)
Zu Kapitel XVI (Russland 1, Zeit der Wirren)
Zu Kapitel XVII (Russland 2, Dynastie Romanow)
Zu Kapitel XVIII (Islam)
Zu Kapitel XIX (China)
Zu Kapitel XX (Inka)
Zu Kapitel XXI (Nachlese, Ludwig XVII., Kaspar Hauser)
Personenverzeichnisse
I. Fürsten, in deren (amen falsche Prätendenten auftraten
II. Falsche Prätendenten
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Falsche Könige zwischen Thron und Galgen: politische Hochstapelei von der Antike zur Moderne [New ed.]
 3631624662, 9783631624661

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Gerhard Menzel

Falsche Könige zwischen Thron und Galgen Politische Hochstapelei von der Antike zur Moderne

PETER LANG Internationaler Verlag der Wissenschaften

Falsche Könige zwischen Thron und Galgen

B eiträge zur K irchen und K ulturgeschichte Herausgegeben von Christoph Weber

Band 24

Peter Lang

Frankfurt am Main · Berlin · Bern · Bruxelles · New York · Oxford · Wien

Gerhard Menzel

Falsche Könige zwischen Thron und Galgen Politische Hochstapelei von der Antike zur Moderne

Peter Lang

Internationaler Verlag der Wissenschaften

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlaggestaltung: © Olaf Gloeckler, Atelier Platen, Friedberg Abbildungsnachweis: Henry Creswicke Rawlinson: The Persian Cuneiform Inscription at Behistun.1846/47. Seite 21.

ISSN 0946-8803 ISBN 978-3-653-03354-0 (E-Book) DOI 10.3726/978-3-653-03354-0 ISBN 978-3-631-62466-1 (Print) © Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2012 Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. www.peterlang.de

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Inhaltsverzeichnis Einleitende Bemerkungen………………………………………………………9 I. Persisches Reich: der falsche Smerdis und die Lügenkönige……………….10 II. Im Zeitalter des Hellenismus………………………………………………..23 Seleukidische Experimente: Artemon 23, Philipp von Megalopolis 24. Das Kuckucksei Orophernes von Kappadokien 26. Gegenschläge: die falschen Seleukiden Alexander I. Balas 29, Antiochos VI. 34, Alexander II. Zabinas 35. Falsche Ptolemäer 39. Pseudophilipp, der letzte Makedone und seine Nachahmer 40, Aristonikos von Pergamon 44. Ein falscher Herodessohn 47. Echte Prinzen als falsche Könige: Pylaimenes von Paphlagonien und Ariarathes VIII. von Kappadokien 50 III. Betrug im alten Rom……………………………………………………….54 Vorspiele: ein Pseudo-Gracchus 54 und –Marius 56. Drei falsche Julier: Klemens oder der Kaiserenkel Agrippa Postumus 59, der falsche Drusus 61, Nymphidius Sabinus ein Sohn Caligulas? 63. Der mehrfach wiedergekehrte Nero 64 IV. Fragwürdige Merowinger im Frankenreich………………………………..72 Gundowald 72. Chlodwig III. 79. Merowinger dunkler Herkunft 81, Nachkommen der Merowinger? 82. Exkurs: zum Fantasy-Revival der Merowinger 83 V. Byzantinische Geschichten …………………………………………………85 Der Fall Theodosios 86, Tiberios-Beser 88, Thomas der Slawe als Konstantin VI. 91, Gebeon 93. Der wiedergekehrte Michael VII. Dukas 94. Wie viele falsche Diogenoi? 96 Der vierfache Alexios II. 99. Die Laskaris-Legende 104 Zusammenfassende Bemerkungen 105 VI. Aus der Wunderwelt des Mittelalters: Balduin von Flandern……………106 VII. Eine deutsche Krankheit?..........................................................................116 Der falsche Kaiser Heinrich V. 116. Der unsterbliche Kaiser Friedrich und seine Wiedergänger 118. Giovanni di Cocleria 119. Zwischenspiel: der unfreiwillige Konradin oder der Schmied von Ochsenfurt 121. Die Epidemie der falschen Friedriche in Deutschland 123: Tile Kolup 125. Die Nachahmer Kolups oder der ewige Friedrich 132. Die wunderbare Wiederkehr Heinrichs des Pilgers von Mecklenburg 134. Trugwoldemar oder Woldemar, Markgraf von Brandenburg? 136 Deutungsversu-

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che der „deutschen Krankheit“ 150 Nachspiele: Anna von Kleve 151, Heinrich der Unechte von Reuß 151. Ein falscher Nassauer 152. VIII. Rätsel der Nordens………………………………………………………155 Falsche und echte Thronprätendenten in Norwegen155: Harald Gille 156, Sigurd Slembe 157, Sverre und die Birkebeiner-Könige 160, die Baglerkönige 164. Zusammenfassung 166. „The false Maid of Norway“ 168. Der arme Olaf 169. Der Daljunker in Schweden 171 IX. England: Königliche Kriminalromane…………………………………...176 Geheimnisse um Eduard II.: John of Powderham und William the Galeys 176. Vom Weiterleben Richards II.: Maudeleyn und der schottische Richard Thomas Ward. 180 Die großen Prätendenten: Eduard VI. oder Lambert Simnel 184, Richard IV. oder Perkin Warbeck 187. Ein falscher Eduard VI. und andere Gespenster 197 X. Frankreich…………………………………………………………………200 Ein echter Fünftagekönig: Jean I. 200, Giovanni di Guccio oder Jean I. 201. Ein letzter Valois ? „François III.“ 206 XI. Spanisches……………………………………………………………….. 209 Der falsche Alfons von Aragon 209. Ein namenloser Prophet 211 XII. Eine portugiesische Sehnsucht: Sebastian……………………………… 213 Die Tragödie des echten Sebastian 213, Der Schelmensebastian von Peñamacor 215, Ein Bauernsebastian 216. Doña Anna d’Austria und der Pastetenbäcker Gabriel d’Espinosa von Madrigal 217. Ein letzter Sebastian (Marco Tullio Catizone) 220 Zusammenfassung 223. Literarisches Nachleben 223 XIII. Balkanländer 1…………………………………………………………..226 Bulgarien: Zar Peter oder Deljan 227, Ungarn: der falsche Arpade Andreas und andere fragwürdige Prinzen 228. Die Wiedergänger König Wladislaws. Ein polnischer Ungarnkönig auf Madeira? 231 XIV. Balkanländer 2…………………………………………………………..235 Rumäniens fragwürdige Moldaufürsten 236: Johann Jakob Basilides Heraklides Despota 238, Joan Voda cel Viteaz 243, Joan Potcoava (das Hufeisen) 245, Jancu Sasul (Joan der Sachse) 246, Aaron Tiranul (der Tyrann) 247, Stefan Bogdan und andere 249. Exkurs: Petru Cercel (der Ohrring) in der Walachei 251

7

XV. Balkanländer 3 – Montenegro Stephan Mali – der kleine Stephan oder Zar Peter III…...……………...254 XVI. Russland 1………………………………………………………………261 Die Seuche (das Samosvanzentum) der falschen Zaren zur Zeit der großen Wirren und ihrer Nachwirkungen. Der echte Zarewitsch Dimitri und Zar Boris Godunow 261. Ein Rätsel aller Welt: Dimitri, der erste falsche Zar 262. Ein Platzhalter: der falsche Peter (Petruschka) Fedorowitsch und Bolotnikov 278. Ein zweiter Dimitri oder der Schelm (Vor) von Tuschino 281. Die kleinen „Samosvanzen“ und der dritte Dimitri 284. Ein Nachspiel der Dimitri-Legende: Iwan Dimitriwitsch, der kleine Vor, Marina und Zarutski 287. Die falschen Schuiskis 289 XVII. Russland 2. Die Romanows und ihre „Samosvanzen“………………...290 Der unsichtbare Zarewitsch des Stenka Razin 291. Alexej Petrowitsch, der unglückliche Sohn Peters des Großen und seine Doppelgänger 293. Die fragwürdige Thronfolge der Romanows und ihre Folgen: ein bunter Samosvanzenstrauß im Namen der Romanow(a)s Peter II., Anna, Iwan VI., Elisabeth. 296. Peter III. der „Dritte Kaiser“ und sein Fortleben 301: Pugatschow als Peter III. 304, seine Nachahmer 314. Zar Paul I. und seine Schatten 314. Großfürst Konstantin in sechsfacher Wiederholung 315. Zur Diskussion um das russische Samosvanzentum 317 XVIII. Aus Tausendundeiner Nacht: Falsche Kalifen, Sultane und Schahs…320 Ein Vorspiel: Chakya 320. Der dreimal begrabene Kalif Hischam von Cordoba 321. Der mit der Feldflasche, ein falscher Omajade in Ägypten 324. Der verschwundene Kalif al-Hakim von Kairo und sein Weiterleben 325. Getürkte Osmanen: Mustafa Düzme (der Falsche) 329, die Tragödie des Prinzen Mustafa, Sohn Solimans des Prächtigen, und ihre Folgen 331, „Sultan Yahya“ 335, „Padre Osman“ 338. Persische Prätendenten, die falschen Safawiden: Der grausame Shah Ismail und seine Wiederkehr 340. Eine Schwemme falscher Safawiden-Schahs, die Reichskrise des 18. Jahrhunderts als Hintergrund einer Prätendentenwelle 343 XIX. Fernöstliche Geheimnisse: China……………………………………….348 Han-lin-erh, ein Nachkomme der Sung-Kaiser? 349. Der untergetauchte Kaiser Jianwen 349. Die falschen Ming 350

8

XX. Peru. Die Wiederkehr der Inkas………………………………………….353 Juan Santos oder Atahualpa II. 354, Jose Gabriel Condorcanqui oder Tupac Amaru II. 356 XXI. Eine Nachlese: Ludwig XVII. und Kaspar Hauser……..………..……..361 Das Schicksal Ludwigs XVII. 362 Der vierzigfache Ludwig in Auswahl 365: Jean-Marie Hervagault 365, Mathurin Bruneau 368, Richemont 370, Naundorff 372, Meves 378, Williams 379. Exkurs: die Dunkelgräfin von Hildburghausen 383. Kaspar Hauser 384. Eine prekäre Dynastie: das Haus Baden-Hochberg 386. Kaspar Hausers Aufstieg zum Prinzen von Baden 387. Die liberale Hauser-Kampagne 390. Nachspiele 395 XXII. Schlussbetrachtung: Bedingungen und Strukturen politischer Hochstapelei………………………………………………..397 Literaturverzeichnisse…………………………………………………………408 Personenverzeichnisse………………………………………………………...431

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Einleitende Bemerkungen Die vorliegende Arbeit ist dem Auftreten in irgendeiner Weise politisch relevanter, aber falscher oder fragwürdiger Thronbewerber gewidmet, die sich betrügerisch Identität mit echten Herrschern oder Thronanwärtern anmaßten. Es bleiben also Fälle bloßer krimineller Hochstapelei oder krankhafter Identitätsverwirrungen (wie etwa der bekannte Fall der angeblichen Zarentochter Anastasia) ohne politische Folgen außen vor. Als politisch relevant sind zu werten: tatsächliche zeitweilige Herrschaftserschleichung, das Auslösen von Kampfhandlungen und diplomatischer Aktionen sowie die allergische Reaktion etablierter Machthaber, oft ablesbar an den Sanktionen gegen diese Thronaspiranten. Auf kriminelle und psychopathische Begleit-und Folgeerscheinungen einzelner Prätendentenwellen muss freilich am Rande gelegentlich eingegangen werden. Die Geschichte solch falscher Thronbewerber ist in zahlreichen Einzeluntersuchungen und neuerdings auch, etwa in den Werken von Lecuppre und Bercé, für längere Epochen, wissenschaftlich behandelt worden. Wie aber Longworth in seinem Aufsatz über die russischen „Samosvanzen“ des 18. Jahrhunderts bemerkte: „without gaining the status of a major historical issue.“ 1 So blieb dieses Feld in seiner Gesamtheit weitgehend populären historischen Sammelbiographien überlassen. (Vgl Lvz.) Ohne die narrativ-historiographische Tradition der genannten Sammelwerke gänzlich zu verlassen, unterscheidet sich der vorliegende Versuch doch in folgender Hinsicht von diesen Vorläufern. • Durch seinen zeitlich weiter gespannten Ansatz sowie die stärkere Einbeziehung nord-und osteuropäischer sowie außereuropäischer Fälle, • den strengen Rekurs auf die historischen Quellen bzw. ihrer Aufarbeitung in der wissenschaftlichen Sekundärliteratur • das Aufgreifen der historischen Fachdiskussion um die einzelnen Prätendenten, ihre Echtheit, wahre Identität, ihre Hintermänner • den Ausblick auf die Interpretation der Prätendentenbiographien in der dramatischen und erzählenden Literatur. Einleitende Vor-und Zwischenbemerkungen (kursiv) dienen der allgemeinen historischen Einbettung der einzelnen Kapitel.

1

Longworth, Philipp: The Pretender Phenomenon in Eighteenth-Century Russia, in Past and Present 66, 1975, S. 61

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I. Persisches Reich: der falsche Smerdis und die Lügenkönige Vorbemerkung: Das altpersische Reich, der Schauplatz eines der berühmtesten und rätselhaftesten aller Beispiele politischer Hochstapelei, kann mit Fug und Recht das früheste wirkliche Weltreich der Geschichte genannt werden. Es umfasste mit dem Iran bis hin zum Indus, dem Zweistromland (Irak), Ägypten, Syrien-Palästina und Kleinasien die Mutterländer fast aller alten Hochkulturen, also nahezu die gesamte „zivilisierte Welt“seiner Zeit. Griechischer Hochmut mochte die Perser zuweilen als „Barbaren“ verspotten, aber auch bedeutende griechische Kulturzentren in Kleinasien standen unter persischer Herrschaft, und Griechen begaben sich gern in persische Dienste. Entstanden war dieses bemerkenswerte Reichsgebilde durch die Eroberungszüge Kyros des Großen. Dieser hatte von seinen Vorfahren zunächst nur ein kleines Vasallenkönigreich im Verbund des iranisch-kleinasiatischen Großreiches der Meder geerbt, etwa das Gebiet der heutigen Provinz Fars im Südwesten des Iran. Um 550 v. Chr.gewann Kyros die Herrschaft über das medische Reich, 547 entriss er dem Lyderkönig Krösus Westkleinasien, 539 zog er als Sieger in das altehrwürdige Babylon ein, womit ihm nun als „König der vier Weltteile“ auch das Zweistromland mit Syrien und Palästina zufiel. >ach seinem Tod 529 eroberte sein Sohn und >achfolger Kambyses 525-24 auch noch Ägypten. Selbstverständlich führte der glänzende und rasche Siegeszug der Perser auch zu Problemen. Wie sollten die Unterworfenen behandelt werden? Wie war das so rasch Erworbene in seiner bunten Vielfalt auf die Dauer zusammenzuhalten? Welche Rolle sollte dem persischen Stammesadel bei der Regierung des Reiches neben und mit dem König zukommen? Und wie war das einfache Bauern-und Hirtenvolk der Perser an der Beute zu beteiligen? Während Kyros all diese Frage behutsam und mit einem gewissen Taktgefühl anging, was ihm den Ruf eines edlen und großmütigen Herrschers eintrug, schlug Kambyses hier wohl schärfere Töne an und stürzte damit das junge Weltreich in eine Krise, die das Aufkommen des falschen Smerdis und der Lügenkönige ermöglichte. Aber nun zu den Hauptquellen dieser „Historie“. Dort, wo eine uralte Karawanenstraße sich von den Ebenen des Zweistromlandes in das iranischen Zagrosgebirge hinaufwindet, überrascht den Reisenden ein seltsamer Anblick. An einer schroffen, nackten Felswand des Behistun1-Massivs zeigt sich ihm in der schwindelerregenden Höhe von fast 100 Metern ein in das Gestein gehauenes monumentales Relief von etwa fünf Metern Breite und zwei

1

In der Literatur finden sich verschiedene Namensformen. (Bistun, Bisutun, Bisotun, Bisitun) Cook S. 66 leitet sie von „Bagastan“- Ort der Götter ab.

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bis drei Metern Höhe2. Beherrscht wird es von der lebensgroßen Figur eines bärtigen Mannes in altertümlicher Gewandung. Er trägt eine Art Krone. Links hinter ihm stehen, etwas kleiner, zwei Schild-und Bogenträger. Vor ihm aber, noch kleiner, sieht man eine Reihe von neun anderen Männern in verschiedenen Trachten. Alle erscheinen sie leicht gebückt, die Hände auf den Rücken gefesselt, ihre Nacken durch einen langen Strick verbunden, dessen Ende die königliche Hauptgestalt des Reliefs in ihrer Linken hält, während ihr Fuß auf eine am Boden liegende Gestalt mit flehend erhobenen Armen tritt. Über der ganzen Szene schwebt, vor einer geflügelten Sonnenscheibe, die Halbfigur eines ebenfalls bärtigen und bekrönten Wesens, das segnend auf das Geschehen unter ihm herabblickt. Links, rechts und unterhalb des Reliefs sind große Keilschrifttafeln in den Fels gemeißelt, kleinere Beschriftungen finden sich über einigen der Figuren. Freilich sind die Einzelheiten des Bildes, geschweige denn die Schrifttafeln, aus der Tiefe des Reiseweges mit bloßem Auge kaum zu erfassen. Insbesondere ist die am Boden liegende Gestalt durch eine Felsvorkragung verdeckt. Kein Wunder also, dass die Darstellung im Laufe der Jahrhunderte die phantasievollsten Deutungen erfuhr. Schon in der Antike schrieb man sie der sagenhaften Königin Semiramis3 zu, der Erbauerin der „hängenden Gärten“ von Niniveh, eines der sieben antiken Weltwunder. Die muslimischen Dorfbewohner späterer Zeiten in der Umgebung glaubten eine Koranschule oder eine Versammlung von Derwischen zu erkennen. Christliche Reisende des l7. und 18. Jahrhunderts vermeinten die zwölf Apostel unter dem Kreuz Christi entdeckt zu haben.4 Es blieb einem Engländer, Sir Henry Creswicke Rawlinson, vorbehalten, das Geheimnis des Behistun-Reliefs zu enträtseln. Rawlinson gehörte zu jenen wagemutigen Männern, auf deren Unternehmungsgeist und Tatkraft Macht und Größe des britischen Empires im 19. Jahrhundert beruhten. Geboren 1810 war er schon in jungen Jahren in den Militärdienst der Ostindischen Kompanie eingetreten und hatte sich als Offizier und Diplomat in Indien, Persien, Afghanistan, Arabien und im Irak bewährt. Vor seinem Tod 1895 sollte er sich später noch Meriten im Parlament von Westminster erwerben. Während seiner Tätigkeit als Militärberater des persischen Gouverneurs von Kermanshah stieß er 1835 auf das mysteriöse Monument von Behistun. In lebensgefährlichen Kletterpartien auf abenteuerlichen Hilfsgerüsten gelang es ihm, in mehrjähriger Kleinarbeit die Details des Reliefs zu erforschen und die Keilschrifttafeln exakt zu kopieren. Und was noch wichtiger war: er entschlüsselte die altpersischen und elamischen Keilschrifttexte (spätere Forscher erst konnten den akkadisch-babylonischen Teil der Inschriften entziffern). 1846 2 3 4

Eine gute Abbildung in Koch, bei S. 15, Tafel 1-3, Abbildungen auch bei Rollinger, S. 62-63 Bickerman und Tadmor S. 247 so der antike Historiker Ktesias Zu diesen Deutungen Dandamaev S. 10-13

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veröffentlichte Rawlinson seine Ergebnisse. Staunend nahm das interessierte Publikum zur Kenntnis, dass die Behistun-Texte einige der märchenhaftesten Erzählungen antiker Geschichtsschreiber bestätigten. Sie handelten von einem Betrüger, dem es angeblich gelungen war, in die Rolle eines echten Thronerben zu schlüpfen und so die Herrschaft über das persische Weltreich an sich zu reißen. Schon Herodot, der griechische „Vater der Geschichtsschreibung“, der seine „Historien“ etwa um 450 v. Chr. verfasste, tischte folgenden Roman auf (Historien, hauptsächlich 3. Buch, Kapitel 61 ff): Während seines Ägyptenfeldzugs wurde danach der persische Großkönig Kambyses auf seinen Bruder Smerdis eifersüchtig, weil dieser einen berühmten Bogen weiter zu spannen vermochte als jeder andere Perser (die Beherrschung des Bogenschießens galt bei den Persern als eines der Hauptmerkmale echter Männlichkeit). Er verbannte Smerdis in die Heimat zurück. Kurz darauf ängstigte Kambyses ein Traum, in dem ihm Smerdis als König erschien. Er sandte deshalb einen seiner Vertrauten nach Persien, mit dem Auftrag, den Prinzen heimlich zu ermorden, was dann auch während einer Jagd geschah. Vielleicht wurde Smerdis aber bereits auf seiner Heimreise im Roten Meer ertränkt. Der Mord wurde, wie gesagt, geheim gehalten. Auf der Rückkehr aus Ägypten überraschte Kambyses einige Zeit später die Nachricht, Smerdis habe sich zum König ausrufen lassen. Für Kambyses ein Ding der Unmöglichkeit. Fest entschlossen, diesem Spuk ein rasches Ende zu machen, verletzte sich Kambyses beim Aufbruch nach Persien jedoch beim Besteigen seines Pferdes am eigenen Schwert. Wundbrand setzte ein. Auf dem Sterbebett gestand der König seinem Gefolge den geheimen Brudermord und forderte die Perser auf, gegen den mysteriösen falschen Smerdis zu kämpfen, bei dem es sich wahrscheinlich um einen Meder handle, der auf diese Weise den alten Vorrang seines Volkes über die Perser wieder erschleichen wolle. Die persischen Großen hielten die Beichte des Sterbenden jedoch nur für einen tückischen Versuch, seinem verhassten Bruder und Nachfolger Schwierigkeiten zu bereiten. Kambyses aber hatte die Wahrheit gesagt. Während seiner langen Abwesenheit in Ägypten hatte sein Haus-und Güterverwalter, ein Meder aus dem priesterlichen Stamm der Magier, in Kenntnis von Kambyses Unbeliebtheit den Gedanken zu einem Staatsstreich in der Residenzstadt Susa gefasst. Als Gehilfen dazu gewann er seinen Bruder, der dem ermordeten Prinzen frappant ähnelte und der zudem ebenfalls, welch Zufall, Smerdis hieß. Dieser Smerdis war offensichtlich zudem mit allen Wassern gewaschen, denn schon König Kyros hatte ihm wegen eines schweren Vergehens die Ohren abschneiden lassen. Die Betrüger gaben nun vor, der angeblich nur verschollene echte Smerdis sei jetzt wieder aufgetaucht. Der falsche Smerdis übernahm die Rolle des echten, ließ sich zum König ausrufen und Herolde verkündeten im ganzen Reich seine Thronbesteigung. Mit dem Tod des Kambyses

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schien der Coup restlos gelungen. Der falsche Smerdis besaß sogar die Kühnheit, den gesamten Harem seines fürstlichen Namensvetters und dazu später den des Kambyses zu übernehmen. Immerhin war er klug genug, den Damen jedweden Kontakt untereinander zu verbieten. Die Regierung des Betrügers ließ sich nicht schlecht an. Herodot schreibt: „Er war gegen alle seine Untertanen von größter Milde und Güte…Smerdis hatte nämlich zu allen unterworfenen Völkern Botschafter geschickt und ihnen dreijährige Steuerfreiheit und Freiheit vom Heeresdienst gewährt“ (Buch 3, Kapitel 67). Das Ende des Betruges, nach achtmonatiger Herrschaft des falschen Smerdis, erzählt Herodot so: Einer der vornehmsten Perser, Otanes, schöpfte Verdacht, weil der König sich niemals in der Öffentlichkeit zeigte und keinem der Großen des Reiches persönliche Audienz gewährte. Otanes griff den Hinweis des Kambyses auf jenen medischen Hofbeamten auf, auch war ihm wohl die Existenz von dessen, dem echten Smerdis so ähnlichen, aber an den Ohren verstümmelten Bruders bekannt. Otanes ermunterte nun seine Tochter, die eine der Haremsdamen war, bei ihrem nächsten Beilager mit dem König nach dessen Ohren zu tasten. Sie fand sie nicht. Nachdem Otanes so für sich selber den Schwindel aufgedeckt hatte, zog er noch fünf weitere persische Adlige ins Vertrauen. Zu ihnen stieß noch ein entfernter Verwandter des Königshauses, der junge Dareios, der behauptete, den Betrug schon lange durchschaut zu haben, und der nun auf rasche Beseitigung des falschen Smerdis drängte. Die sieben Verschwörer erzwangen sich Zutritt zu den königlichen Gemächern. Im Handgemenge mit den Betrügern durchbohrte Dareios eigenhändig den falschen Smerdis. Nachdem man noch alle im Palast aufspürbaren Magier, Stammesgenossen der Thronräuber, erschlagen hatte, wurden dem Volk die abgeschnittenen Köpfe des falschen Smerdis und seines Bruders präsentiert. Herodot berichtet dann noch von einer Beratung der glorreichen Sieben über die zukünftige Staatsform des Reiches. Man entschied sich für die Beibehaltung der Monarchie und beschloss, denjenigen der Sieben auf den Thron zu setzen, dessen Pferd während eines gemeinsamen Ausritts bei Sonnenaufgang zuerst wiehere. (Otanes verzichtete auf diesen Wettbewerb.) Darius entschied das Pferdeorakel durch eine List für sich. Die ganze Erzählung Herodots steckt voller romanhaft-unwahrscheinlicher Einzelheiten und innerer Widersprüche. Sie können insbesondere an einer Nebenfigur seines Berichtes verdeutlicht werden. Es handelt sich um Prexaspes, den Mann, den Kambyses mit dem Mord an seinem Bruder Smerdis beauftragt haben soll. Herodot erwähnt, dass Kambyses einstens den Sohn des Prexaspes wegen einer an sich lächerlichen, aber grausamen Wette mit einem Pfeilschuss ins Herz tötete (Buch 3, Kapitel 34-35). Als Kambyses später von der Thronbesteigung des falschen Smerdis erfuhr, verdächtigte er zunächst – nach Herodot –

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Prexaspes, den Mordantrag nicht ausgeführt zu haben. Prexaspes überzeugte den König aber davon, dass hinter der Königsproklamation des angeblich noch lebenden Smerdis die beiden Magier stünden. Er veranlasste so die Beichte des sterbenden Kambyses vor den Großen des Reiches. Danach aber soll Prexaspes den Mord sofort wieder geleugnet haben. Den Betrügern kam dies gelegen. Sie versprachen Prexaspes hohe Belohnungen und Ehren, falls er bereit wäre, in einer feierlichen Rede vor allem Volk die Echtheit des falschen Smerdis zu bezeugen. Von den Mauern des Palastes herab begann Prexaspes tatsächlich diese Ansprache, bekannte dann aber unvermittelt die Wahrheit, rief die Perser zum Kampf gegen die Magier auf und stürzte sich kopfüber in den Tod. Herodot schreibt: „So starb Prexaspes eines ruhmvollen Todes, wie er denn sein Leben lang ein Ehrenmann gewesen war“ (Historien, Buch 3, Kap. 75). Es ist unerfindlich, warum Herodot einen Mörder und zeitweiligen Opportunisten als Ehrenmann bezeichnet, einen Mann, der auch die Ermordung seines eigenen Sohnes klaglos hinnahm. Warum sollte Kambyses auch gerade ihn mit dem Verbrechen an Smerdis beauftragt haben? Im Übrigen verschweigt Herodot gänzlich, welche Folgen das öffentliche Geständnis des Prexaspes hatte. Andere antike Quellen helfen leider nicht, die Fragen, die Herodots Bericht aufwirft, zu klären. Sie tragen eher zu weiterer Verwirrung bei. Unter ihnen sind die „Persica“ (persische Geschichten) des Ktesias besonders bemerkenswert. Sie sind uns leider nur in knappen Auszügen erhalten.5 Ktesias, ein Grieche aus Knidos in Kleinasien, hatte sich einige Jahre als Leibarzt der großköniglichen Familie am persischen Hof aufgehalten und für diesen auch diplomatische Missionen übernommen. Sein Geschichtswerk verfasste er nach seiner Heimkehr in den 390er Jahren v. Chr. Nach ihm verlief der Betrug etwas anders als in Herodots Darstellung: Kambyses Bruder Tanyoxarkes (also nicht „Smerdis“), Statthalter des Königs in den östlichen Reichsprovinzen, ließ den Magier Sphendates wegen eines Vergehens auspeitschen. Sphendates sann auf Rache für diese Schmach. Er verleumdete Tanyoxarkes am Hofe des Königs. Vergebens warnte die Königinmutter Kambyses vor der Falschheit des Magiers. Zwar versicherte Kambyses seiner Mutter, dem Verleumder keinen Glauben schenken zu wollen, ließ aber seinen Bruder auf Anraten des Sphendates mit einem Trank aus Stierblut vergiften. Wohl um vor der Mutter diesen Mord zu verheimlichen, wurde Sphendates, der eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Ermordeten hatte, in dessen Gewänder gekleidet und als Statthalter im Osten eingesetzt. Nur drei Eunuchen waren in das Geheimnis eingeweiht. Die Königinmutter belog man, Sphendates, der ja nun aus dem Palast verschwunden war, sei wegen seiner Verleumdungen der Kopf abgeschnitten worden. Übrigens sicherte man sich gegen eine Aufdeckung der Intrige ab. Der als 5

Eine kommentierte französische Übersetzung der Fragmente gibt Lenfant, zur Smerdis-Tanyoxarkes Geschichte S. 118 f.

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Prinz eingekleidete Sphendates wurde dem Obereunuchen des Hofes zur Probe vorgeführt. Der Eunuch, befragt, ob er Tanyoxarkes erkenne?, antwortete: „Wer soll es sonst sein?“ Danach erst zog Kambyses gegen Ägypten. Die Königinmutter erfuhr jedoch fünf Jahre nach dem Mord durch einen der Eunuchen die Wahrheit. Sie forderte, dass man ihr den falschen Tanyoxarkes-Sphendates ausliefere. Als man ihr dies verweigerte, vergiftete sie sich selbst. Ihr Geist erschien aber Kambyses mit schrecklichen Racheflüchen im Traum. Auf dem Heimmarsch aus Ägypten verletzte sich Kambyses mit einem Schnitzmesser am Oberschenkel und starb infolge dieser Verwundung zehn Tage später. Da er keinen Sohn hinterließ, fiel das Reich nun dem falschen Tanyoxarkes zu. Einer der drei in das Verbrechen eingeweihten Eunuchen deckte in einer Rede vor dem persischen Heer zwar den Betrug auf, fand aber keinen Glauben und musste, als Lügner bescholten, asylsuchend in einen Tempel fliehen. Er wurde herausgezerrt und man schnitt ihm den Kopf ab. Doch wirkten seine Enthüllungen nach. Sieben hochadlige Perser verschworen sich gegen Sphendates-Tanyoxarkes. Sie gewannen die Unterstützung der beiden noch lebenden Mitwisser. Diese Eunuchen öffneten den Sieben die Palasttüren. Man überraschte Sphendates-Tanyoxarkes im Schlafgemach mit einer babylonischen Konkubine. Verzweifelt versuchte er sich mit einem goldenen Stuhlbein als Waffe der Eindringlinge zu erwehren.Den Rest der Geschichte erzählt Ktesias wie Herodot. Ktesias Erzählung erscheint noch fragwürdiger als der Roman Herodots. Und vergebens sucht man in den gelegentlichen Hinweisen auf den falschen Smerdis-Tanyoxarkes, die sich sonst bei antiken Historikern oder Dichtern finden, etwa bei Aischylos, nach besseren Tatsachenbelegen.6 Aischylos erwähnt in seiner ca. 470 v. Chr. verfassten Tragödie „Die Perser“, noch vor Herodot also, einen persischen Herrscher namens „Mardos“ (-SMerdis-). Von diesem berichtet der „Schatten des Dareios“: „Als fünfter (-König über ganz Asien, nach Medos, dessen namentlich nicht genanntem Sohn, Kyros und dessen ebenfalls nicht namentlich genanntem Sohn, also Kambyses-) herrschte Mardos, eine Schmach dem Land und unseres Thrones Würde; den beseitigten durch List Artaphrenes, der edle, im Palast, und die Getreuen, denen’s Schuldigkeit gebot.“ 7 Auf eine Thronerschleichung des Mardos wird explizit nicht hingewiesen, nur auf sein gewaltsames Ende. Verwirrend auch, dass ein Artaphrenes (bei Herodot: Intaphernes, bei Ktesias: Ataphernes, einer der Sieben) hier als wichtigster unter den Verschwörern genannt wird, während Herodot Otanes (Ktesias nennt ihn Onophas) und allenfalls Dareios hervorhebt. 6 7

Eine Übersicht und Wertung der antiken literarischen Quellen gibt Dandamaev S.110120, auch Rollinger S. 42 f. Aischylos, Tragödien, Ins Deutsche übersetzt von Ludwig Wolde, Goldmanns Gelbe Taschenbücher 446, München o. J., S. 64

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Und auch der letzte in der Reihe antiker Autoren, der zusätzliche Informationen gibt und etwa um die Zeitenwende schrieb, Pompeius Trogus (Auszüge aus seinem Werk erhalten bei dem später schreibenden Historiker Justinus, hier Buch 1, Kapitel 9), erhöht noch das Durcheinander. Bei ihm ist der Ehrenmann des Herodot, Prexaspes, selbst ein Magier. Trogus nennt ihn auch Gometes. Ihm und seinem Bruder Oropastes sind auf Befehl des Kambyses wegen eines nicht genannten Vergehens die Ohren abgeschnitten worden. Gleichwohl beauftragt Kambyses den Prexaspes-Gometes mit dem Brudermord, den dieser auch ausführt, obwohl er bereits vom Tod des Kambyses erfahren hat. Er lässt seinen Bruder Oropastes, der dem ermordeten Thronerben ähnelt, dessen Rolle übernehmen. Der Betrug fällt lange nicht auf, weil die persischen Großkönige in erhabener Verborgenheit vor den Augen gewöhnlicher Sterblicher zu leben pflegen. (Man vergleiche hierzu Herodot!) Der weitere Bericht des Trogus folgt dann im Wesentlichen Herodot, nur lässt Trogus zwei der sieben Verschwörer im Kampf gegen die Thronräuber umkommen. Herodot spricht nur von schweren Verwundungen.Woher der so spät schreibende Trogus seine von Herodot abweichenden Informationen bezieht, ist bis heute ungeklärt. Alle diese Widersprüche, Unklarheiten und Unwahrscheinlichkeiten der antiken literarischen Quellen ließen Zweifel auch an ihrer gemeinsamen Kernaussage aufkommen: das persische Weltreich sei monatelang von einem Betrüger regiert worden. Die Entzifferung der Schrifttafeln am Behistun schien wenigstens diese Zweifel ein für alle mal zu erledigen. Rawlinson und einige nachfolgenden Forschungsexpeditionen, die seine Befunde ergänzten und verfeinerten, stellten fest, dass Relief und Schrifttafeln auf Geheiß des Großkönigs Dareios etwa in den Jahren 520-518 v. Chr. angefertigt wurden. Das Relief zeigt also Dareios als Hauptgestalt, hinter ihm zwei Getreue, vor ihm neun besiegte Feinde, zu seinen Füßen den falschen Smerdis. Die über der Szene schwebende Gestalt ist in ihrer Bedeutung noch ungeklärt – entweder ist es der von Dareios in den Schrifttafeln immer wieder angerufene Gott Ahuramazda oder der Genius des Dareios selbst8. Relief und Texttafeln sind schon während ihrer Entstehungszeit mehrfach erweitert und umgestaltet worden9. Bei den Texten handelt es sich um einen Tatenbericht des Großkönigs10, seine Thronbesteigung und sein erstes Regierungsjahr betreffend. In prätentiös-feierlicher Sprache – die einzelnen Abschnitte werden stets mit der Formel „Es verkündet Dareios der König“ eingeleitet – stellt der König sich zunächst als Auserwählten des Gottes Ahuramazda und Sproß der Königsfamilie der Achämeniden vor. Dann aber gibt er einen Bericht zum 8 9 10

Ahn, S. 208 Dazu zusammenfassend Rollinger, S. 46-47 Eine deutsche Übersetzung des vollen Textes bei Dandamaev S. 243-54 mit den Abweichungen in den verschiedenen Sprachfassungen in den Anmerkungen. Nach ihm die Nummerierung im Haupttext.

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Thronraub des Magiers, der bei ihm Gaumata genannt wird (Abschnitt 11-14, Zeilen 26-71). Nach dieser Darstellung ließ Kambyses seinen Bruder Bardiya „ vom gleichen Vater und der gleichen Mutter“ v o r seinem Ägyptenfeldzug heimlich töten. Gründe hierfür werden nicht angegeben. Während Kambyses sich in Ägypten aufhielt, kam es in Persien, Medien und anderen Gebieten zu Aufständen. In Paischiyauvada beim Berg Arkadrische (wohl in den persischen Stammgebieten gelegen) erhob sich der Magier Gaumata, der sich für Bardiya ausgab, am 14. Tag des Monats Viyaxna (- 11. 3. 522 v. Chr.-). Perser, Meder und andere Völker liefen zu ihm über. Am 9. des Monats Garmapada ( -1. 7. 522 v. Chr.-) riss er vollends die Herrschaft an sich und nahm den Königstitel an. Danach starb Kambyses „seines eigenen Todes.“ (Was immer dies auch heißen mag, - vielleicht Selbstmord?) Nach dem Behistun-Text sicherte Gaumata-Bardiya seine Herrschaft, indem er viele, die den echten Bardiya gekannt hatten, töten ließ. Er zerstörte alte Heiligtümer und beraubte „das Volk in seinen Wirtschaften“ seines Eigentums. „Niemand wagte etwas gegen Gaumata zu sagen, bis ich kam“ verkündet Dareios. „Am 10. Tag des Monats Bagayadisch (-29. 9. 522 -) tötete ich mit wenigen Männern den Magier Gaumata und die vornehmsten seiner Gefolgsleute. In der Festung Sikayauvatis im Bezirk Nisaya in Medien.“ (-Wohl in der Nähe von Behistun.-) Dareios gab danach den von Gaumata Beraubten ihre Weiden, das Vieh und die Sklaven zurück und restaurierte die zerstörten Heiligtümer. Ziemlich gegen Ende des langen nun folgenden Berichts über seine Siege in den Kämpfen gegen zahlreiche weitere Rebellen trägt Dareios die Namen seiner sechs Helfer gegen Gaumata-Bardiya nach. Der in den literarischen Quellen so hervorgehobene Otanes erscheint hier nur an zweiter Stelle. Dareios weist auch darauf hin, dass die Botschaft seiner Schrifttafeln in Kopien auf verschiedenen Materialien allen Völkern seines Reiches bekannt gemacht wurde. Tatsächlich sind in Ägypten und im Zweistromland Bruchstücke solcher Abschriften in verschiedenen Sprachen gefunden worden.11 Der Bericht des Dareios bestätigt also den Kern der antiken Erzählungen: das persische Weltreich sei monatelang von einem Betrüger regiert worden. In einigen wichtigen Punkten zu Orten und zeitlicher Abfolge der Geschehnisse weicht er von ihnen ab. Über politisch-soziale Hintergründe, Motivationen und Zusammenhänge des seltsamen Geschehens wird fast nichts mitgeteilt. Gerade diese zu erfassen, ist aber das Hauptanliegen der modernen Geschichtswissenschaft. Die Altorientalisten unter den Historikern sahen sich so bald wieder auf die literarischen Texte zurückgeworfen, die immerhin Hinweise in dieser Richtung geben. In oft 11

Demandt S. 94

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detektivischer Kleinarbeit wurde versucht, aus diesen anekdotenreichen Erzählungen einen plausiblen Ereigniszusammenhang herauszufiltern. Man versuchte, in einer Art Negativverfahren zunächst die Textteile auszuscheiden, die wahrscheinlich nur dem Bedürfnis nach literarischer Ausschmückung, kompositorischen oder moralisierenden Absichten ihre Entstehung verdankten. So konnte etwa der Namenswirrwarr der Quellen einigermaßen aufgeklärt werden. 12 Ausgehend von dem Bardiya der Behistun-Tafeln (gestützt durch „Barziya“ in babylonischen Urkunden) gelangt man über Mardiya- MardosMerdis zur Verballhornung (S)merdis. Der „Tanyoxarkes“ des Ktesias, der aus dieser Reihe ganz herausfällt, wird als Beiname des Bardiya gedeutet, im Sinne „der Riesenstarke“, was dann wieder zu der Bogenspann-Anekdote des Herodot passt. Ein anderes Beispiel ist die Aufklärung der „Ohrengeschichte“. Da das Behistun-Relief den Thronräuber mit Ohren zeigt13, muss es sich dabei um eine literarische Erfindung handeln. Alexander Demandt hat ihre Herkunft aus griechischen Missverständnissen über persische Kopfbedeckungen und anderen Traditionssträngen nachgewiesen.14 Immer wieder einmal wurde auch versucht, diese geistvollen, oft aber auch sehr spekulativen Detailentschlüsselungen zu einer Gesamtdeutung zusammenzufassen. Sie können hier nicht alle gewürdigt werden, aber ein besonders interessanter Entwurf, den Josef Wiesehöfer 1978 wagte, verdient doch, vorgestellt zu werden.15 Wiesehöfer geht dabei nicht auf die oft geäußerte Vermutung ein, es habe sich bei der Usurpation des Gaumata um den Versuch gehandelt, die Herrschaft der Meder wieder herzustellen. Dagegen spricht, dass Gaumata auf dem Behistun-Relief in persischer Tracht abgebildet wird und dass viele Meder später an der Seite von Dareios standen. Nach Wiesehöfer war Gaumata als Magier ein Priester der hochethischen Zarathustra-Religion und ein einflussreicher und vertrauter Beamter des Kambyses, der auch von dem geheimen Brudermord wusste. Am Ende der Regierung des Kambyses kam es, so Wiesehöfer, einerseits zu Spannungen zwischen dem selbstherrlichen König und dem persischen Adel, andrerseits zu gefährlichen Unruhen unter fast allen Völkern des Reiches, die durch hohe Steuer-und Militärdienstbelastungen während des Ägyptenfeldzugs bedrückt wurden. Um diesen Konflikten zu steuern und das Reich zu retten, setzte sich Gaumata aus moralisch-staatsmännischen Gründen an die Spitze der Opposition gegen Kambyses, und um sich zunächst die Anhängerschaft der Perser zu sichern, nahm er Zuflucht zu der Lüge, er sei ein Sohn des Kyros. Sein Regierungsprogramm mit Steuererlass und Milderung des Heeresdienstes zielte 12 13 14 15

Wiesehöfer S. 47. Bickerman und Tadmor S. 256 Demandt, insbesondere S. 98-101 Wiesehöfer, Zusammenfassung S. 166-67

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auf eine Versöhnung der Reichsbevölkerung mit der Herrschaft der Perser. Dazu musste er freilich jetzt die eher an einer Ausbeutungspolitik interessierten persischen Adligen ausschalten, z.B. durch ihre Enteignung und damit verbunden wohl auch durch die Zerstörung ihrer Hausheiligtümer (die sowieso der zoroastrischen Religion widersprachen). Gaumata fiel dann einer Verschwörung eben dieser Adligen zum Opfer. Gegen die Machtergreifung des reaktionären Adels unter Führung des Dareios kam es anschließend in fast allen Provinzen des Reiches zu Aufständen, die Dareios mühsam niederwarf – wovon die BehistunTexte in der Hauptsache berichten. Freilich übernahm Dareios mit seiner Berufung auf die zoroastrische Gottheit Ahuramazda formell den ethischen Anspruch des Gaumata. Wiesehöfers Deutung hebt also insgesamt das „Magiertum“ Gaumatas und die daraus erwachsenden religiösen und sozialen Motivierungen hervor.16 Von dieser Ehrenrettung des Betrügers war es dann nur noch ein Schritt zur Anschwärzung des Dareios. Es war der Forschung immer schon klar gewesen, dass die Behistun-Texte auch eine propagandistische Rechtfertigung der Machtergreifung des Dareios darstellten. Jetzt wurden ihre Unklarheiten und gewisse auffällige Einzelheiten, die Zweifel an ihrem Wahrheitsgehalt aufkommen ließen, mehr und mehr herausgearbeitet. Die Zeitangabe des Dareios, er habe das Reich genau innerhalb eines Jahres befriedet, stimmt nicht recht mit den Einzeldaten der Texte überein17. Die Ahnenreihe und Königsfolge, die Dareios für sich reklamiert, lässt sich nur schwer mit der ansonsten belegten Genealogie der Kyros- Dynastie in Übereinstimmung bringen.18 Seine Behauptung, er habe als einziger den Betrug des Gaumata durchschaut, klingt unglaubwürdig. Auch scheint es als unwahrscheinlich, dass das Verschwinden des echten Bardiya jahrelang unbemerkt geblieben sein soll, wenn der Mord, wie Dareios behauptet, v o r dem Ägyptenfeldzugs des Kambyses geschah. Kurzum, die ganze Gaumata-Geschichte sei von Dareios erlogen, um sich selbst zu legitimieren. Eine neuere Theorie besagt, Dareios sei auf die Idee, dieses Märchen zu erfinden, gekommen, da nach dem Sturz des angeblichen Gaumata, der in Wirklichkeit der echte Bardiya gewesen sei, tatsächlich eine Reihe falscher Thronprätendenten auftraten 19 Unter den zahlreichen Führern verschiedener Aufstände gegen Dareios, nachdem dieser vielleicht den echten Bardiya gestürzt hatte, gab es nämlich nicht wenige, die behaupteten, königlichen Blutes zu sein. Dareios

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Gegen diese Thesen Wiesehöfers und auch Königs, der Bardiya-Gaumata bereits 1938 noch extremer als Sozialrevolutionär deutete, allerdings Briant S. 115-17, der Gaumata-Bardiya viel pragmatischer darstellt. Zur Diskussion der Chronologie: Hinz, passim Darauf insistiert besonders Brosius. Sie folgert daraus: S. 57 „it was Darius, not Bardiya, who seized the throne without having any immediate legitimate claim to it.” Bickerman und Tadmor, S. 246

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nennt sie allesamt „Lügenkönige“. Auf dem Relief von Behistun sind sie als seine Gefangenen dargestellt. Die Inschriften berichten: Da war zunächst ein gewisser >idintu-Bel, dessen Vater in den Behistuntexten Ainara genannt wird, der aber behauptete, ein Sohn des letzten (neu)babylonischen Königs Nabonid zu sein. Er schmückte sich mit dem Thronnamen >ebukadnezar (III.) zu Ehren des berühmtesten unter den neubabylonischen Herrschern. (Babylonische Tontafeln, die nach ihm datiert sind, bezeugen, dass er sich bereits am 3. 10. 522, also wenige Tage nachdem Dareios die Macht ergriffen hatte, proklamieren ließ.) Es kostete Dareios immerhin zwei Schlachten an Euphrat und Tigris um ihn zu besiegen. Er wurde im Dezember 522 in Babylon selbst aufgegriffen und getötet. Es war das nicht der letzte Versuch, die babylonische Monarchie wieder herzustellen. Ende August – Anfang September 521 ließ sich ein Armenier namens Araxa, Sohn eines Xaldita, im Gebiet von Dubala als >ebukadnezar (IV.) zum König ausrufen. Es gelang ihm, die Stadt Babylon zu besetzen, doch wurde er von einem Feldherrn des Dareios Ende November besiegt, gefangen genommen und gepfählt. Auch er hatte sich als einen Sohn Nabonids ausgegeben. Auf ähnliche Weise unternahmen es zwei angebliche medische Prinzen, das Reich ihrer Väter wieder aufzurichten. Ein Fravartis (Phraortes), der sich Kschathrita (Kschathriva) nannte und sich als Nachkomme des Mederkönigs Kyaxares ausgab, gewann große Anhängerschaft. Er konnte sogar Truppen ins weit entfernte Parthien im Nordosten des Iran schicken. Sie brachten den dort als Statthalter residierenden Vater des Dareios in große Bedrängnis. Zum Schluss musste Dareios selbst gegen ihn ausziehen. Fravartis wurde im Mai 521 geschlagen und auf der Flucht in der Gegend des heutigen Teheran gefangen genommen. Sein Ende war grauenhaft. Dareios schnitt ihm eigenhändig Ohren, Zunge, Nase ab, ließ ihn so verstümmelt in der alten medischen Hauptstadt Ekbatana (Hamadan) zur Schau stellen und anschließend pfählen. Seinen Gefolgsleuten erging es nicht besser, sie wurden gehäutet. Einem anderen Meder, Tschitrantakhma aus dem Stamm der Sagartier, der auch behauptete, von Kyaxares abzustammen, war ebenfalls kein gutes Ende beschieden. Nachdem er sich eine Zeit lang als Machthaber im nördlichen Zweistromland gehalten hatte, wurde er im Mai 521 von einem Feldherrn des Dareios bei Arbela gefangengenommen und ebenso behandelt wie Fravartis. Alle diese „Lügenkönige“ versuchten, ehemals selbstständige Monarchien wieder aus dem persischen Reich herauszulösen. Andere Aufstände in Armenien und Elam (südöstliches Zweistromland), deren Anführer allerdings darauf verzichteten, sich als rechtmäßige Thronerben auszugeben, hatten ähnliche Zielsetzungen. Kühnere Absichten hatte wohl der interessanteste unter allen „Lügenkönigen“, der es wagte, sich wieder als Kambyses Bruder Bardiya auszugeben – und der damit die Herrschaft über das ganze persische Reich beanspruchte. Dieser zweite falsche Bardiya-Smerdis, sein eigentlicher Name war Vahyazdata, trat

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im Dezember 522 im Stammgebiet der Perser selbst auf. Er sammelte soviel Gefolgschaft um sich, dass er eine Expedition gegen den Dareios-treuen Statthalter in Arachosien (im Südost-Iran) ausschicken konnte. Auch nach Niederlagen gegen Feldherren des Dareios, aus denen er mit wenigen Reitern entkam, vermochte er neue Anhänger in Paischiyavada, also dort, wo der erste falsche Bardiya sich angeblich vor ihm erhoben hatte, zu sammeln. Erst am 16. 7. 521 wurde er endgültig besiegt und fand das übliche schauderhafte Ende der Lügenkönige. Insbesondere das Auftreten Vahyazdatas, der nun wirklich nicht der echte Bardiya sein konnte, legt den Verdacht nahe, durch ihn sei Dareios dazu inspiriert worden, auch den ersten, vielleicht echten Bardiya unter die Lügenkönige einzureihen. Dareios hätte so einen Staatsstreich gegen den rechtmäßigen König im Interesse des persischen Hochadels (dem alle seine sechs Helfer entstammten) kaschiert.20 Dieses Unternehmen hätte sich gegen einen legitimen Herrscher gerichtet, dessen politisch-religiöses-soziales Programm zugunsten der unterworfenen Reichsbevölkerung (wie bei Herodot belegt und in den Behistun-Texten vage angedeutet) den persischen Herren ein Dorn im Auge war. Die zahlreichen Aufstände überall im Reich nach dem Ende des Gaumata-Bardiya-Smerdis wären ein weiterer Beleg für diesen Zusammenhang.21 Auch die Knappheit, mit der Dareios den Fall Gaumata in seinem Tatenbericht behandelt, gibt zu denken. So erwähnt er nichteinmal den Vaternamen des Gaumata, wie er es für die übrigen Lügenkönige tut. Geschichtskonstruktionen dieser Art haben etwas Bestechendes, doch widersprechen sie allzu krass den erzählenden Überlieferungen. Die literarischen Quellen kreisen zwar mehr oder minder um romanhafte Palastintrigen, geben also für die wirklichen politisch-sozialen Hintergründe der Ereignisse auch wenig her: sie gehen aber alle von der Unechtheit des Bardiya-Smerdis aus. Auch ist kaum möglich, die Behistun-Tafeln als bloßes Propaganda- und Lügenmachwerk abzutun. Allzuoft (zweiunddreißigmal!) beschwört hier Dareios immer wieder seine Wahrheitsliebe (was allerdings einige Historiker besonders misstrauisch macht)22. Es bleibt aber doch sehr fraglich, ob selbst ein unumschränkt

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Briant S. 113, der schlichtweg summiert, die heutige Geschichtsforschung halte die Gaumata-Geschichte für eine bloße Erfindung des Dareios. Die Verdachtsmomente gegen Dareios fassen zusammen Wiesehöfer S.65-66 und Kuhot, S. 136-38.Bereits Ende des 19. Jhd. wurden in der Forschung Zweifel an der Darstellung der BehistunInschriften laut (Prašek, S. 264). Olmstead 1948, S. 109 und Nyberg 1954, S. 75 deuteten die Möglichkeit an, Bardiya-Smerdis sei echt gewesen, Dandamaev (1976) hielt Bardiya-Smerdis sicher für echt. Abwägend Rollinger S. 52-53 Cook S. 53 Cook, S. 52 „the story smells“

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herrschender Großkönig wie Dareios sich mit einer – gesetzt er habe den echten Bardiya entthront – derartigen Unwahrheit exponieren durfte.23 So bleibt nur zu hoffen, dass sich irgendwann einmal im Sande des Zweistromlandes oder unter den Ruinen der großköniglichen Paläste ein Dokument findet, mit dem sich die Rätsel um den „größten Skandal in der Geschichte des Altertums“ 24lösen lassen.

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So Prašek S. 266, Einwände gegen die moderne „Echtheitstheorie“ bei Wiesehöfer S. 66-73 Ahn S. 144

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II. Das Zeitalter des Hellenismus Zum Rahmen der Ereignisse: Mit dem Siegeszug Alexanders des Großen, König der Makedonen und „Schutzherr“ der Griechen, der das persische Reich eroberte und bis an die Grenzen Indiens vorstieß, öffneten sich um 330 v. Chr. riesige Gebiete für griechische Siedler, Kultur, Wirtschaft und Lebensart im Osten. Überall in diesen Regionen wurden neue Städte für griechische und makedonische Siedler aus dem Boden gestampft, mit Tempeln, Markthallen, Gymnasien, Sportstadien, Akademien und Bibliotheken in griechischem Stil, größer und prächtiger als im alten Mutterland. Griechisch wurde Weltsprache. Das Zeitalter der griechischen Weltkultur, die Epoche des „Hellenismus“ begann. Es entwickelte sich eine einheitliche Weltzivilisaton, die nach und nach auch in den bereits römisch dominierten Westen ausstrahlte. Im Gegensatz dazu stand allerdings der politische Zerfall des Alexanderreiches. Da Alexander keinen regierungsfähigen Erben hinterließ, rissen seine Generäle Teile des Reiches in langen und blutigen Kämpfen gegeneinander an sich und begründeten neue Herrscherdynastien. Unter diesen Alexander>achfolgern und ihren >achkommen, den sogenannten Diadochen, waren drei Dynastien besonders erfolgreich. Die Ptolemäer sicherten sich Ägypten, die Antigoniden Makedonien mit einer, allerdings schwankenden, Oberherrschaft über Griechenland, die Seleukiden aber zunächst den Löwenanteil (ihr Kernland bildete Syrien): freilich bröckelten von ihrem Großreich bald kleinere und größere Königtümer ab, wie Pergamon (Westkleinasien), Pontos (Schwarzmeerküste), Bithynien (>ordwestkleinasien) Kappadokien (Ostanatolien), Armenien, Judäa, Baktrien (im äußersten Osten des Reiches) u. a. Im Iran-Persien entriss ihnen das Steppenvolk der Parther große Gebiete. Alle diese Diadochenkönige führten trotz gelegentlicher dynastischer Heiratsverbindungen zahlreiche Kriege gegeneinander. (Ein Grund dafür, dass sie alle, einer nach dem andern, der neuen aufstrebenden Weltmacht Rom unterlagen.) In diesen Machtkämpfen entdeckten sie schließlich ein probates Mittel, den jeweiligen Gegner zu schädigen: die Lancierung falscher Thronbewerber. Als erste versuchten sich die Seleukiden in dieser Kunst. Seleukidische Experimente. Artemon Die erste Intrige solcher Art wagte möglicherweise die seleukidische Königin Laodike 247/46 vor Chr. Sie war die Cousine (oder Halbschwester ?) und Gemahlin König Antiochos II. Dieser hatte sich um 253 von ihr getrennt, um gemäß eines Friedensvertrages mit Ptolemaios III. von Ägypten dessen Schwester Berenike zu heiraten. Auch sollten die Söhne der Laodike zugunsten künftiger Kinder der Berenike von der Thronfolge ausgeschlossen werden. Allerdings wurde Laodike mit großen Besitzungen in Westkleinasien abgefunden. Sie nahm

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ihren Sitz in Ephesos (heute Efes). Es gelang ihr, Antiochus wieder zu sich zu locken. Er starb überraschend schnell 247/46 in Ephesos. Laodike soll nun einen Syrer niedriger Herkunft namens Artemon, der dem Verstorbenen ähnelte, auf das königliche Bett gelegt haben. Dieser Artemon oder falsche Antiochos beschwor, den Sterbenden mimend, das versammelte „Volk“, Laodike und ihren Söhnen als Erben zu huldigen. Gestützt auf dieses Vermächtnis riss Laodike, nachdem ihre Rivalin Berenike und deren Söhnchen ermordet wurden, in einem langwierigen Krieg gegen Ptolemaios III., der als Rächer seiner Schwester auftrat, die Herrschaft über das Seleukidenreich an sich – offiziell im Namen ihrer Söhne.1 Philipp aus Megalopolis -Ein (achkomme des großen Alexander? Vorbemerkung: Griechenland 192 v. Chr.: Fünf Jahre zuvor hatten die Römer in der Schlacht von Kynoskephalai in Thessalien (im heutigen >ord- Mittelgriechenland) König Philipp V. von Makedonien aus dem Hause der Antigoniden, weil er sich mit ihrem Erbfeind Karthago eingelassen hatte, besiegt und die griechischen Stadtstaaten und Stammesbünde von makedonischer Vorherrschaft „befreit“. Die befreiten Griechen hatten aber nichts Besseres zu tun, als sich sofort nach alter Gewohnheit untereinander zu bekämpfen. Eine der griechischen Kampfparteien, der Bund der Ätoler, rief fremde Hilfe herbei, den Seleukidenherrscher Antiochos III. Antiochos III., Urenkel des Dynastiegründers Seleukos, war es gelungen, das zerfallende Reich seiner Väter wieder notdürftig zusammenzufügen. Seine Schmeichler nannten ihn einen neuen Alexander und „Antiochos den Großen.“ Bereitwillig folgte er jetzt dem Ruf aus Griechenland, wohl wissend, dass er damit die Interessen Roms und auch Makedoniens schwer verletzte. Beide Mächte betrachteten Griechenland als ihr gegenwärtiges oder wiederzugewinnendes Einflussgebiet: sie boten jetzt, obwohl sie noch vor kurzem verfeindet

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Artemon wird nur kurz erwähnt bei Valerius Maximus, der zur Zeit Kaiser Tiberius (14-37 n. Chr) schrieb: Valerius Maximus, Denkwürdige Reden und Taten in neun Büchern, übersetzt von Friedrich Hofmann, Stuttgart 1829, Buch 9, Kap. 15, Auswärtige 1. S. 608. Maximus lässt offen, um welchen Antiochus und welche Laodike es sich handelt und gibt kein Datum. Artemon ist bei ihm noch ein Verwandter der Königin. Gaius Plinius Secundus (Naturgeschichte, 7. Buch Kap. 10. 9) und spätere Autoren übernahmen die Geschichte mit leichten Variationen (niedrige Herkunft Artemons). Bei modernen Autoren wird Artemon mit Antiochos III. und dessen Gemahlin Laodike in Zusammenhang gebracht. Die RE ordnet Artemon (Nr. 6), 4. Halbb. Stuttgart 1896 Antiochos III. zu. Im Artikel Laodike (Nr. 13), 23. Halbb. Stuttgart 1924 aber Antiochos II. Es handle sich um einen romantischen Roman oder um ptolemäische Verleumdungen.

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waren, als Verbündete Truppen gegen Antiochos auf, der eben in Thessalien gelandet war. In der kleinen thessalischen Stadt Pherai wurde Antiochos III. ein etwa dreißigjähriger Mann vorgestellt, der sofort das Interesse des Königs erregte: Philipp aus Megalopolis.2 Philipp war der Sohn eines gewissen Alexanders, der aus Makedonien stammte, aber in der griechischen Stadt Megalopolis (auf dem Peloponnes, der griechischen Südhalbinsel) aufgewachsen war und dort das Bürgerrecht erhalten hatte. Alexander war sehr reich. Auf der Insel Delos hat sich eine Tempelinschrift zu seinen Ehren erhalten – wahrscheinlich hatte er dem Tempel eine großzügige Stiftung vermacht. Im Übrigen rühmte er sich, von Herakles, einem Bastardsohn Alexanders des Großen, abzustammen. Herakles, Sohn der Alexander-Geliebten Barsine, wurde freilich von Alexander nie als Sohn anerkannt und war zudem im jugendlichen Alter von kaum 18 Jahren 309 v. Chr. ermordet worden. Alexander aus Megalopolis aber gab zur Bekräftigung seiner edlen Abstammung seinen eigenen Söhnen die makedonischen Königsnamen Philipp und Alexander, seine Tochter nannte er nach der Stammmutter der Seleukiden Apame, von der die Legende wissen wollte, sie sei eine natürliche Tochter Alexanders des Großen gewesen. (In Wirklichkeit war Apame, die Gemahlin Seleukos I., eine persische Hochadlige.) Das Töchterchen Apame verschaffte ihrem ehrgeizigen Vater die Genugtuung, seine Familie endlich wieder in königliche Ränge emporsteigen zu sehen. Sie heiratete Amynandros, den König der Athamanen. Amynandros regierte freilich nur ein kleines Berg-und Stammeskönigreich im heutigen Mittelgriechenland und hatte sich erst vor kurzem selbstständig gemacht. Immerhin hatte ihm Philipp V. von Makedonien für gelegentliche Hilfsdienste auch die Insel Zakynthos an der ionischen Küste überlassen. Amynandros, dessen kleines Reich inmitten der makedonischen, griechischen und nun auch römischen Interessenssphären lag, fand sich in der großen Politik nicht zurecht. Er überließ dem weltläufigeren Bruder seiner Gemahlin, Philipp aus Megalopolis, nicht nur die Statthalterschaft über das abgelegene Zakynthos, sondern auch die Außenpolitik. Für die Hilfe der Athamanen hatten die Ätoler dem ehrgeizigen Philipp den makedonischen Thron in Aussicht gestellt. Philipp, dem nachgesagt wurde, er sei „forte ingenio vanus“ (von Natur aus sehr eitel)3 mischte sich ins große Mächtespiel, indem er sich Antiochos III. als Nachkomme Alexanders des Großen mit Ansprüchen auf dessen makedonischen Thron vorstellte. Ob ihm Antiochos wie die Ätoler im Falle seines Sieges gegen Makedonen und Römer wirklich den Thron Makedoniens versprach, ist nicht sicher belegt. 2 3

Zu ihm: Bohm, S. 6-23,Gruen S. 462, 470, 476 So bei dem römischen Historiker Livius zitiert nach Bohn S. 6

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Der Seleukide schickte ihn jedoch auf das nahe bei Pherai liegende Schlachtfeld von Kynoskephalai, um die Überreste der dort 197 v. Chr. gefallenen Makedonen einzusammeln und unter einem Ehrenhügel bestatten zu lassen. Es wäre dies nach herkömmlichem Brauch eigentlich die Pflicht Philipps V. als König der Makedonen gewesen. Philipp aus Megalopolis trat hier an dessen Stelle. In den folgenden Kämpfen gegen Römer und Makedonen bewährte sich Philipp. Er verteidigte lange eine ihm von Antiochos anvertraute thessalische Festung gegen Philipp V. Auch in aussichtsloser Lage verweigerte er die Kapitulation vor dessen Unterhändlern. Erst dem später anrückenden römischen Konsul Manlius Acilius Glabrio öffnete er die Tore. Glabrio lieferte ihn dennoch an Philipp V. aus. Der begrüßte seinen Namensvetter höhnisch als Bruder, ließ ihn durch sein Feldlager führen, als Pseudokönig verspotten und schickte ihn in römische Gefangenschaft zurück. Sein weiteres Schicksal ist unbekannt. Auch die Athamanen spielten keine große Rolle mehr. König Amynandros verkaufte die Insel Zakynthos und bewarb sich später um die Freundschaft der Römer. Ein Sohn des Königs, Galaistes, taucht um 145 v. Chr. als General in ägyptisch-ptolemäischen Diensten auf. Er sollte in der Geschichte falscher Thronanwärter noch eine Rolle spielen. Antiochos III. verlor übrigens den Krieg gegen die Römer. Die Seleukiden mussten auf ihren Besitz in Kleinasien westlich des Tauros verzichten, den hauptsächlich Pergamon erhielt, eine enorme Kriegsentschädigung zahlen, abrüsten, d.h. auf Flotte und Kriegselefanten verzichten, und außerdem königliche Prinzen als Geiseln nach Rom schicken (189 v. Chr.). Die Idee, mit falschen Thronanwärtern Politik zu treiben, behielten die Seleukiden aber weiterhin bei. So gegen das Königreich Kappadokien. Das Kuckucksei: Orophernes4von Kappadokien Vorbemerkung: Kappadokien, in der heutigen Osttürkei, war als Provinz (Satrapie) des persischen Reiches seit etwa 400 v. Chr. von den >achkommen des Otanes, einem der Helfer des Dareios gegen den falschen Smerdis, regiert worden. Diese Statthalter- oder Satrapenfamilie behauptete ihre Stellung auch zur Zeit Alexanders und im Seleukidenreich. 225 v. Chr. machte sich Ariarathes III. selbstständig und nahm den Königstitel an. Mit den Seleukiden arrangierte man sich friedlich. Schon Ariarathes III. war mit einer seleukidischen Prinzessin verheiratet, sein Sohn Ariarathes IV. erhielt eine Tochter Antiochos III. zur Frau. Trotz ihrer persischen Abstammung gerierten sich die Herrscher Kappadokiens als eifrige Förderer hellenistischer Kultur. Die dauerhafte Bindung des kappadokischen Königreiches an die seleukidische Dynastie blieb jedoch ungewiss, 4

Zu Orophernes und insbesondere dessen Beziehungen zu dem Seleukiden Demetrios I.: Gruen 1976, S. 88-90

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denn die Ehe König Ariarathes IV. mit der Seleukidin Antiochis blieb leider lange Jahre unfruchtbar – jedenfalls was männliche Thronerben betraf. Die verzweifelte Königin unterschob ihrem Gemahl in ihrer Not zwei angebliche Söhne, Ariarathes und Orophernes. Erst als sie in höherem Alter doch noch einen echten Sohn des Ariarathes zur Welt brachte, gestand sie ihrem Gemahl den Betrug. Der Skandal sollte vertuscht werden. Die beiden falschen Prinzen wurden unter dem Vorwand von Studien und reichlich mit Geldmitteln versehen ins Ausland abgeschoben. Ariarathes ging nach Rom, und man hörte weiter nichts von ihm. Orophernes wurde nach Priene am Mäander (in Südwestkleinasien) geschickt. Ariarathes IV. starb 163 v. Chr. Königin Antiochis kehrte nach Syrien heim, wo sie in Palastintrigen geriet und ermordet wurde. Ihr echter Sohn von Ariarathes, eigentlich Mithridates mit Namen, bestieg als Ariarathes V. den Thron Kappadokiens. Er verfeindete sich aber bald mit seinem seleukidischen Vetter und Nachbarn Demetrios I., weil er ein Verlöbnis mit dessen Schwester löste (und damit ein politisches Bündnis kündigte), wohl mit Rücksicht auf Rom, mit dem Demetrios in Schwierigkeiten geraten war. Ariarathes aber wollte sich die Gunst der Römer erhalten. Dieses Zerwürfnis beschloss der nach Priene verbannte falsche Königssohn Orophernes auszunutzen, der sich noch immer als echten Prinzen und Thronberechtigten empfand. Er reiste im Sommer 160 v. Chr. an den Hof des Demetrios in Antiochia, und zwar nicht mit leeren Händen. Er versprach dem Seleukiden 1000 Talente (fast 30 000 Kilo Gold), falls dieser ihm den kappadokischen Thron verschaffe. Demetrios, empört über die Zurückweisung von Seiten des Ariarathes, ging auf den Handel ein. Der Charme des falschen Prinzen muss ein Übriges getan haben. Ihn besang noch zwei Jahrtausende später der griechische Dichter Konstantin Kavafis (1863-1933), inspiriert durch ein Münzbild des Prätendenten: „Jener auf dem Vierdrachmenstück, der eine lächelnde Miene zu zeigen scheint, ein edles, zartfühlendes Gesicht, 5 ist Orophernes, Sohn des Ariarathes.“

Ariarathes V. wurde von einer seleukidischen Armee aus seinem Reich vertrieben. Er floh zu seinem Schwager Attalos II. von Pergamon und von da nach Rom, um den Senat um Hilfe zu bitten. Aber auch Demetrios und Orophernes schickten Unterhändler nach Rom. Ihrem diplomatischen Geschick –und wohl auch seinem Geld - verdankte es Orophernes, dass der römische Senat, als 5

Zitiert nach Fritz J. Raddatz, Tagebücher Jahre 1982-2001, Reinbek bei Hamburg 2010, S. 724

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Schiedsrichter von beiden Parteien anerkannt, die Teilung Kappadokiens zwischen ihm und Ariarathes anordnete. Die Leute des Orophernes beugten sich nur scheinbar dem römischen Schiedsspruch. Sie versuchten, Ariarathes auf seiner Heimreise zu beseitigen, doch ihre Mordanschläge auf Korkyra (Korfu) und in Korinth misslangen. Ariarathes nahm, begleitet von pergamesischen Truppen, seinen Teil Kappadokiens in Besitz (157 v. Chr.). Orophernes hatte sich inzwischen bei seinen Untertanen unbeliebt gemacht. Man warf ihm allzu lockere „ionische“, d.h. griechisch-dekadente Sitten vor, die er sich in seiner Zeit in Priene zugelegt hätte. Auch forderte er, um seinem Gönner Demetrios die versprochenen 1000 Talente und die Bestechungskosten in Rom bezahlen zu können, immer neue Steuern ein. Dabei war bekannt, dass Orophernes der Stadt seiner Jugend, Priene, 400 Talente als eine Art Notgroschen zur Aufbewahrung anvertraut hatte. Als sich Orophernes dann auch noch an Tempelschätzen vergriff, war das Maß voll. Es kam zum Aufstand, und Ariarathes konnte sich wieder seines ganzen Reiches bemächtigen. Orophernes blieb nicht ganz mittellos. Die Bürger von Priene verteidigten sein Gelddepot gegen die Truppen, die Ariarathes und Attalos von Pergamon zur gewaltsamen Konfiskation der Gelder geschickt hatten. Die Priener verehrten Orophernes als ihren Wohltäter, denn er hatte ihre Stadt mit Tempelstiftungen und Ehrenstatuen verschönert. Orophernes selbst hatte sich indessen zu seinem alten Gönner Demetrios geflüchtet, der aber, etwas verstimmt über die laxe Zahlungsmoral seines Schützlings (Demetrios hatte bisher nur 600 von den 1000 versprochenen Talenten erhalten) und aus Scheu vor neuen gefährlichen Verwicklungen mit Rom, diesmal mit seiner Hilfe zögerte. Das wieder verärgerte Orophernes. Als es in Antiochia zu einem Volksaufstand gegen Demetrios kam, stellte sich Orophernes auf die Seite der Empörer. Als vermeintlicher Sohn einer Seleukidin mochte er vielleicht sogar Hoffnungen auf den Thron seines „Vetters“ hegen. Demetrios schlug den Aufstand nieder. Orophernes wurde trotz seines Verrats nicht hingerichtet, aber von jetzt an als Gefangener gehalten. Demetrios wollte ihn anscheinend bei passender Gelegenheit nochmals gegen Ariarathes ausspielen. Dazu kam es freilich nicht mehr, da Demetrios selbst das Opfer eines falschen Prätendenten wurde, den unter anderen Beteiligten auch Ariarathes V. von Kappadokien gegen ihn lancierte, nach der Devise: wie du mir, so ich dir. Was am Ende mit Orophernes geschah, darüber schweigen die Quellen (Polybios und Diodor).

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Gegenschläge: falsche Seleukiden6. Alexander I. Balas Nach den Experimenten mit Philipp aus Megalopolis und Orophernes von Kappadokien schien der seleukidische Hof zu Antiochia in Syrien die geeignete Anlaufstelle für falsche Thronbewerber, und so meldete sich bei Demetrios ein gewisser Andriskos, der behauptete, der rechtmäßige Erbe Makedoniens zu sein, das die Römer inzwischen unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Demetrios lieferte ihn aber um 153 v. Chr. nach Rom aus. Man sollte noch von ihm hören. Demetrios wollte mit dieser Auslieferung wohl sein gespanntes Verhältnis zu Rom verbessern. Er hatte wahrlich allen Grund für die Annahme, die Römer seien ihm nicht sonderlich wohlgesonnen. Demetrios, zweitgeborener Sohn König Seleukos IV., war Anfang 175 v. Chr. als Geisel für seleukidisches Wohlverhalten nach Rom geschickt worden. Das hatte sein Oheim Antiochos (IV.) ausgenutzt und ihn bei den Thronwechseln Mitte 175 v. Chr. um die Thronfolge gebracht. Nach dem Tode dieses Oheims 164 v. Chr. wurden die Ansprüche des Demetrios nochmals zugunsten von dessen Söhnchen (Antiochos V). übergangen. Demetrios, der in Rom in den vornehmsten Kreisen verkehrte und den dort ebenfalls als Geisel lebenden griechischen Historiker Polybios zu seinen engsten Freunden zählte, entwich 162 v. Chr. heimlich nach Syrien, gab sich dort als Thronkandidat der Römer aus, riss die Macht an sich und ließ seinen jungen Vetter (Antiochos V.) ermorden. Einen Günstling Antiochos IV., Timarchos, der sich im Osten des Seleukidenreiches zum König proklamieren ließ und von Rom anerkannt wurde, besiegte er 160. Alle diese Vorgänge mussten die römische Regierung mehr als befremden. Demetrios, ein menschenscheuer Trinker, machte sich überdies bei seinen lebenslustigen Syrern bald recht unbeliebt. Im Süden seines Reiches empörten sich zudem die Juden gegen seine hellenisierende Kultur-und Religionspolitik. Seine Intervention in Kappadokien zugunsten des Orophernes, seine Pläne zum Erwerb des ptolemäischen Zypern brachten nicht nur die Kappadokier, sondern auch die Herrscher Ägyptens und Pergamons gegen ihn auf. Diese ausgreifenden politischen Aktionen, aber auch sein Flottenbau und die Anschaffung von Kriegselefanten verstießen nebenbei auch gegen den Vertrag von 189 v. Chr mit Rom. Vergebens bemühte sich Demetrios dennoch mit immer neuen Gesten – etwa mit der Auslieferung des Andriskos - um die Nachsicht und das Wohlwollen dieser Macht. Attalos II. von Pergamon, Ariarathes V. von Kappadokien und Ptolemaios VI. Philometor von Ägypten wussten nach alldem jedoch nur zu gut, dass Rom sie nicht hindern würde, wenn sie gegen Demetrios vorgingen. Attalos insbe6

Zu den falschen Seleukiden ist pauschal auf die Standardwerke von Bouché-Leclerq und Bevan (Band 2) zur Geschichte der seleukidischen Dynastie sowie auf die jeweiligen Artikel in John D. Grainger, A Seleukid Prosopography, zu verweisen.

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sondere hatte das schon seit langem vorbereitet. Etwa 159 v. Chr. war ihm zu Ohren gekommen, dass in Smyrna (heute: das türkische Izmir) ein junger Mann, fast noch ein Kind, lebe, der dem 162 v. Chr. ermordeten Antiochos V. ungemein ähnele. Attalos rief den Knaben, Balas7 geheißen und von niederer Herkunft, zu sich, nannte ihn Alexander, gab ihn für einen Sohn Antiochos IV. aus und schmückte ihn mit der königlichen Stirnbinde, dem Diadem. Vielleicht sorgte Attalos auch dafür, dass der Name Alexanders auf der Siegerliste der großen Festspiele in Athen, zu dem der König von Pergamon enge Beziehungen pflegte, erschien: Alexanders Pferdegespann, wohl ein Geschenk des Attalos, gewann das dortige Wagenrennen. (Die Datierung dieses Sieges ist jedoch umstritten, er kann auch erst in die Regierungszeit Alexanders fallen.) Anschließend wurde der Junge an die syrische Grenze geschickt, in die Obhut des Dynasten Zenophanes, wohl priesterlicher Stadtherr von Olbia in Kilikien (Südostkleinasien). Alexander sollte dort wahrscheinlich den letzten Schliff für seine königliche Rolle erhalten. Auch konnte man von hier aus Propaganda für ihn nach Syrien hinein wirken lassen. Doch blieb er in den nächsten Jahren eher das, was man heute im Agenten- und Terroristengeschäft als einen „Schläfer“ bezeichnen würde. Erst als sich die Lage für Demetrios I. etwa um 153 v. Chr. immer schwieriger gestaltete, wurde er „aktiviert“. Hinzu kam, dass sich um diese Zeit ein weiterer Drahtzieher, ein Grieche, für das „Unternehmen Alexander“ zu interessieren begann. Dieser Grieche, Herakleides aus Milet8 war ein wahres Juwel für Alexander und seine königlichen Hintermänner. Er hatte vor 162 am Seleukidenhof als Schatzmeister gedient und offensichtlich auch gut verdient, denn er galt als schwerreich. Seine Schwüre auf die Echtheit des angeblichen Antiochos-Sohns Alexander waren in jeder Hinsicht schlichterdings Gold wert. 170 und 169 v. Chr. hatte er sich im Auftrag Antiochos IV. in Rom aufgehalten, er kannte also das dortige politische Getriebe. Vor allem aber hasste er Demetrios I. aus tiefstem Herzen, denn er war der Bruder jenes Timarchos, den Demetrios 160 beseitigt hatte. Dieser Mann nahm nun die Sache Alexanders in die Hand. Er fand für den jungen Thronanwärter sogar noch ein angebliches Schwesterchen, Laodike. Mit diesem Geschwisterpaar reiste er nach Rom. Sechs Monate lang sondierte er das Terrain und betrieb, wie man so sagt, „Landschaftspflege“, bevor er seine Schützlinge vor dem Senat präsentierte. Der junge Alexander empfahl sich den versammelten Vätern mit einer rührenden kleinen Ansprache, dann ergriff Herakleides das Wort. Seine Rede überzeugte das hohe Gremium. Ein Senatsdekret anerkannte Balas als echten Seleukiden und erlaubte ihm, seine Thronrechte geltend zu machen und im Notfall römische Hilfe anzufordern. Eine Gegengesandt7 8

Zu Balas vor allem Volkmann, passim, zu Balas als Imitator Alexanders d. Gr. Bohm S. 105-115 Zu Herakleides und seinem Bruder Timarchos vgl. Herrmann, passim

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schaft Demetrios’, die den Römern einen Sohn des Königs als Geisel anbot – den späteren Demetrios II. – fand kein Gehör. Herakleides begab sich mit seinen „Königskindern“ nach Ephesos im pergamesischen Kleinasien und warb an diesem Sammelpunkt Söldnertruppen an. Geld spielte dabei wohl keine Rolle. Pergamon, Ägypten und Kappadokien zahlten. 153/52 v. Chr. landete Alexander mit seinen Truppen im Hafen von Ptolemais ( heute Akko in Israel), dessen Garnison, wohl bestochen, zu ihm überlief. Zum zweiten Mal durfte Alexander hier das königliche Diadem anlegen. Die folgenden Kämpfe gegen Demetrios verliefen allerdings unglücklich. Auch von Herakleides hört man weiter nichts, auch nicht von der angeblichen Alexanderschwester Laodike.9 Alexander musste die aufständischen Juden um Hilfe angehen, deren Anführer, den Makkabäer Jonathan, er mit Privilegien und Ehrenzeichen überhäufte. Demetrios, der die Juden vorher eher drangsaliert hatte, versuchte es ihm gleichzutun, wurde aber von Alexander ausgestochen. Dennoch blieb die Lage immer noch unentschieden. Zum Glück für Alexander griff nun Ptolemaios VI. Philometor10 von Ägypten her militärisch ein. Seine Truppen zwangen Demetrios zu einer Entscheidungsschlacht, die lange hin-und herwogte, bis der tapfer kämpfende Demetrios mit seinem Pferd in einen Sumpf abgedrängt, umzingelt und niedergemacht wurde. Seine Witwe und einer seiner Söhne wurden ermordet. Zwei andere Söhne hatte Demetrios, reichlich mit Geld versehen, vorsichtshalber außer Landes bringen lassen. Der falsche Alexander konnte nun als Herr des Seleukidenreich seinen triumphalen Einzug in Antiochia halten. Er legte sich stolze Beinamen zu, die ihm, nach dem Beispiel Alexanders des Großen, der echten Seleukiden und der Ptolemäer, göttlichen Rang verliehen. So etwa „Euergetes“, (der Wohltäter) , „Eupatros“ (der Wohlgeborene) oder „Nikephoros“ (der Siegbringende). Seine Münzbilder belebten propagandistisch Erinnerungen an Alexander den Großen und seinen angeblichen Vater Antiochos IV. Um seine Stellung weiter zu festigen, bat er um die Hand einer Tochter Ptolemaios VI. Philometors, Kleopatra Thea11. Sie wurde ihm gewährt. Mit dieser Verbindung trat Alexander nebenbei in die echte Seleukidenfamilie ein, denn Kleopatra Thea war Enkelin einer Seleukidin und Urenkelin Antiochos III. Das Hochzeitsfest in Ptolemais, zu dem 9

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Nach Reinach, S. 41 und 44 lebte diese Laodike auf Rhodos und wurde mit Mithridates V. von Pontos verheiratet. Sie ließ ihren Gemahl ermorden, regierte für ihren Sohn Mithridates VI. Eupator, der sie 111 einkerkern oder ermorden ließ. Reinach hält sie für eine echte Seleukidin. Zu der Beziehung Balas-Ptolemaios VI. Philometor: Huß S. 582-88 Zu Kleopatra Thea, die in der Geschichte der echten und falschen Seleukiden noch jahrzehntelang eine bedeutende Rolle spielte: Macurdy S. 93-99 Sie wurde endlich 121 von ihrem Sohn Antiochos VIII. Grypos vergiftet.

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Ptolemaios VI. selbst anreiste und zu dem auch der Makkabäer Jonathan als Ehrengast eingeladen wurde, übertraf an Aufwand und Pracht alle bisherigen Fürstenhochzeiten. Kleopatra schenkte ihrem Gemahl auch bald einen Thronfolger. Alexander aber genoss seine königliche Stellung in Sauf-und Fressgelagen mit ordinären Prostituierten und allerlei Hofgesindel. Gelegentlich leistete er sich auch geistreichere Scherze. Zu seinem Hof gehörte der Philosoph Diogenes aus Seleukia bei Babylon, der sich als sittenstrenger Anhänger der stoischen Lehre gebärdete12. Alexander beschenkte den Moralprediger mit einem Priesterornat samt kostbarer Tugendkrone. Der philosophische Tugendbold verhökerte beides umgehend als Liebeslohn an ein Freudenmädchen. Alexander, dem das zu Ohren kam, bat Diogenes um einen Tugendvortrag vor der lockeren Hofgesellschaft. Diogenes sollte dazu seine neue Ehrentracht anlegen. Während der verlegene Philosoph sich noch in allerlei Ausflüchten erging, trat plötzlich besagte Liebesdienerin, in vollem Tugendschmuck prangend, in die fröhliche Runde. Der rhetorisch begabte Philosoph mag versucht haben, sich in eine Lobrede auf die geheimen Tugenden der Prostitution zu retten. Bei all dem fand Alexander kaum Zeit für trockene Regierungsgeschäfte, die er ganz und gar seinem Berater Ammonius überließ. So entging ihm, auf welch schwachen Füßen seine Herrschaft in Wirklichkeit stand. Die Begünstigung der Juden, denen er zum Teil seine Herrschaft verdankte, erregte viel böses Blut. Besonders aber verübelte man ihm in Syrien seine Abhängigkeit von Ägypten. Alexanders Münzfuß und Münzsymbole – der ptolemäische Adler – wurden von dort übernommen. Die Kontrolle über die Hauptstadt Antiochia wurde einem der engsten Vertrauten Ptolemaios VI. überlassen. Die Hauptstädter waren auch verärgert, weil der königliche Hof in Ptolemais verblieb. Als dann auch noch ein echter Seleukide, ein gleichnamiger Sohn Demetrios I., mit einem kretischen Söldnertrupp 147 v. Chr .an der syrischen Küste landete, drohte der sofortige Abfall der Antiochier. Alexander eilte in die Hauptstadt, ließ Kleopatra Thea und Ammonius aber in Ptolemais zurück und schickte einen Hilferuf nach Ägypten. Sein Schwiegervater ließ sich nicht lange bitten. Er setzte sich selbst an die Spitze seines Heeres und drang ungehindert bis Ptolemais vor. Alexander schien gerettet, aber dann geschah das Unfassbare. Ptolemaios VI. erklärte sich plötzlich gegen seinen Schwiegersohn. Die antiken Historiker geben verschiedene Gründe für diesen überraschenden Sinneswandel. Ptolemaios sei über die Luderwirtschaft Alexanders, die sich ihm in Ptolemais offenbarte, aufs äußerste empört gewesen. Andere Quellen berichten, 12

Carl Schneider, Kulturgeschichte des Hellenismus, 2. Band, München 1969 S. 267 lässt ihn, was eher zu seiner Geschichte passt, Anhänger Epikurs sein, nennt ihn jedoch auch Priester der Tugendgöttin Arete. Er soll nach dem Ende des Alexander Balas hingerichtet worden sein.

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Alexanders Minister Ammonius habe Attentäter auf Ptolemaios angesetzt, die Verschwörung sei aber aufgeflogen. Da Alexander sich aber geweigert habe, den zu ihm nach Antiochia geflohenen Minister auszuliefern, habe sich Ptolemaios von ihm abgewandt. Wie dem auch sei, mit der Kehrtwende seines Schwiegervaters begann die Katastrophe Alexanders. Er musste aus Antiochia fliehen, dessen Stadtkommandanten sich für Ptolemaios erklärten. Sein Günstling Ammonius wurde beim Versuch, in Frauenkleidung aus der Stadt zu schleichen, aufgegriffen und vom Mob erschlagen. Alexander selbst entkam nach Kilikien, wo es ihm gelang, frische Truppen anzuwerben. Sein Söhnchen, das er mit sich führte, gab er in die Obhut eines befreundeten Araberscheichs. Inzwischen hatte Ptolemaios seine Tochter Kleopatra Thea mit dem jungen Demetrios verheiratet und war nach Antiochia vorgestoßen. Dort wurde ihm von den Stadtkommandanten der Thron des Seleukidenreiches angeboten. Er verzichtete jedoch zugunsten seines neuen Schwiegersohnes Demetrios. Alexander seinerseits rückte nun aus Kilikien heran: unweit der Hauptstadt am Fluss Oinoparas kam es 145 v. Chr. zur Entscheidungsschlacht. Alexander wurde geschlagen und floh mit 500 Getreuen vom Schlachtfeld zu seinen arabischen Freunden. Ptolemaios konnte seinen Schlachtensieg nicht genießen. Der Trompetenschrei eines Kriegselefanten hatte sein Pferd scheuen lassen, der König war gestürzt und lag im Koma. Vergeblich versuchten ägyptische Ärzte seiner schweren Kopfverletzung mit einer Trepanation beizukommen. Alexander fand ein rasches Ende. Zwei Offiziere seiner Begleitung, die sich eine Belohnung durch den Sieger versprachen, ermordeten ihn. Sein arabischer Gastgeber, selbst wohl an dem Mord unbeteiligt, hielt es in der gegebenen Lage für angebracht, den abgeschlagenen Kopf Alexanders ins ägyptische Lager überbringen zu lassen. Ptolemaios, der noch einmal kurz aus dem Koma erwachte, war es vergönnt, sich vor seinem Tod an diesem Anblick zu weiden. Ein moderner Historiker hat Alexander als eine der „widerlichsten Gestalten“ der antiken Geschichte abqualifiziert. 13 Nun ist die Zeit der DiadochenEpigonen überreich an Gestalten, die nach heutigen Vorstellungen als unmoralische Monster zu gelten haben. (Etwa die Gemahlin des Balas, Kleopatra Thea, oder ihr Oheim Ptolemaios VIII. – zu diesen weiter unten). Gegen sie nimmt sich Balas relativ harmlos aus, zumal er zuerst nur eine etwas verkommene Marionette anderer Machthaber war. Aber selbst dieses Bild könnte überzeichnet sein. Eine der Hauptquellen zur Geschichte des Alexander Balas ist der zeitgenössische Historiker Polybios – und der war seinerzeit in Rom ein intimer Freund Demetrios I. und ließ kein gutes Haar an dessen Gegner. 13

Volkmann, S. 411 „Alexander gehört zu den wenig sympathischen Figuren jener Zeit“, er sei der „Totengräber“ der seleukidischen Dynastie.

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Immerhin zeigte Alexander Balas am Ende doch überraschende Eigeninitiativen. Auch muss er schon in jungen Jahre die königliche Rolle mit einigem Geschick ausgefüllt haben. So ist dann auch gelegentlich vermutet worden, er sei vielleicht doch ein, wenn auch illegitimer, Seleukide gewesen. Antiochos IV. hatte nachweislich Konkubinen.14 Dass jüdische Quellen des Altertums, die Verfasser der Makkabäer-Bücher des Alten Testaments und Flavius Josephus, Alexander Balas schlichtweg als einen echten Sohn Antiochos IV. gelten lassen, zählt aus leicht verständlichen Gründen hier wenig. Aber es ist doch zu bedenken, ob ein Herrscher mit dem Familienstolz der Ptolemäer wie Ptolemaios VI. Philometer („der mutterliebende Gott“ – seine Mutter war die Seleukidin Kleopatra (I.)) - es war, so leicht bereit gewesen sein sollte, einem hergelaufenen Betrüger seine Tochter zur Frau zu geben. Ein (achspiel zu Balas: Antiochos VI.15 Der echte Seleukide Demetrios II. übernahm 145 v. Chr. endgültig den Thron seiner Väter. Er war jung, jähzornig und rachelüstern für die seiner Familie durch Balas und seinen Anhang angetane Schmach. Seine kretischen Söldner terrorisierten die Hauptstadt. Einen Aufstand der drangsalierten Bürger konnte Demetrios nur mit jüdischen Hilfstruppen niederschlagen, die dann ein wahres Massaker veranstalteten. Die seleukidischen, in makedonischer Tradition stehenden Haustruppen hatte Demetrios II. zum größten Teil entlassen. Er misstraute ihnen, weil sie dem Balas gehuldigt hatten. Zum Anführer dieser Truppen warf sich nun ein altgedienter Militär, Diodotos aus Apamaia auf. Apamaia, südlich von Antiochia, war eine der wichtigsten Garnisonen der alten Haustruppen. Diodotus war von Demetrios I. zu Alexander Balas übergegangen und dafür zusammen mit einem Günstling Ptolemaios VI. mit dem Kommando über Antiochia belohnt worden. Später hatte er sich zwar wieder rechtzeitig von Balas getrennt, aber doch versucht, die Thronbesteigung Demetrios II. zu verhindern, indem er Ptolemaios VI. Philometor das Diadem des Seleukidenreiches anbot. Jetzt musste er erst recht die Rache des jungen Demetrios fürchten. Er floh zu jenem Araberscheich, dem Alexander Balas sein Söhnchen Alexander anvertraut hatte. Es gelang ihm, in langwierigen Unterhandlungen die Übergabe des kleinen halbfalschen Prinzen zu erlangen. In Chalkis, einem Städtchen zwischen Antiochia und Palmyra proklamierte er das Kind als Antiochos (VI.)Theos Epiphanes Neos Dionysos (Antiochos, der erschienene Gott und neue Dionysos) zum König. Demetrios II., der Diodotus zunächst als bloßen Räuberhauptmann abtun wollte, wurde bald eines Besseren belehrt. Die Garni14 15

Ehling S. 146 Zu Antiochos VI. und Diodotos-Tryphon: Fischer passim

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sonen von Larissa und Apameia schlossen sich dem Aufstand an. Mit ihnen fielen große Waffenvorräte und vor allem die königlichen Kriegselefanten in die Hände des Rebellen. Demetrios musste 145/44 vor Chr. aus Antiochia fliehen. In den folgenden Jahren behauptete sich Diodotos als Regent und Erzieher Antiochos VI. im Kerngebiet des Reiches um die Hauptstadt, nahm wohl auch Kontakt zu den Piratennestern in Kilikien auf und machte die Juden Demetrios eine zeitlang abspenstig, während dieser die Küstenstädte am Mittelmeer und die Ostprovinzen auf seiner Seite hielt. Allerdings überwarf sich Diodotos etwa 142 mit den Juden, deren Anführer Jonathan er in eine Falle lockte und tötete. Jonathan aber hatte sich immer als besonderen Freund und Beschützer des kleinen Antiochos aufgespielt. Darauf brauchte Diodotos jetzt keine Rücksicht mehr zu nehmen. Er ließ, wahrscheinlich 142/41, verkünden, Antiochos sei während einer Operation verstorben, die wegen eines Steinleidens notwendig gewesen sei. Anschließend ließ er sich selbst von einer „ Heeresversammlung“ nach altem makedonischem Brauch zum König akklamieren. Er nahm den Thronnamen Tryphon (der Glänzende) an. Natürlich wurde ihm sofort die Ermordung Antiochos VI. unterstellt. Etwas Verwirrung in den zeitlichen Ablauf der Ereignisse bringt der jüdische Historiker Flavius Josephus. Obwohl die Münzprägung im Namen Antiochos VI. 141 endet, datiert Josephus die Ermordung des Antiochos erst in das Jahr 139/38. In diesem Jahr war Diodotos-Tryphon nämlich seinen Gegner Demetrios II. losgeworden, der an der Ostgrenze des Reiches in parthische Gefangenschaft geriet. Eine passende Gelegenheit, so Josephus, für Diodotos-Tryphon, sich seiner königlichen Marionette zu entledigen und die Herrschaft über das ganze Reich an sich zu reißen. (Flavius Josephus, Jüdische Altertümer, Buch XIII, Kap. 6-7). Nur in einigen Küstenstädten am Mittelmeer hielt sich die Gattin Demetrios II., Kleopatra Thea: ihre Kinder aus der Ehe mit Demetrios hatte sie klug genug bereits ins sichere Ausland bringen lassen. Ein gekaufter Seleukide: Alexander II. Zabinas Zwischenspiele: Kleopatra Thea verbündete sich in ihrem Kampf gegen Tryphon und ihr eigenes Söhnchen Antiochos mit einem echten Seleukiden, Antiochos VII. Sidetes, einem Bruder Demetrios II., ihrem Schwager also, der seinerzeit wie Demetrios ins schutzbietende Ausland verbracht worden war – nach Side an der Südküste Kleinasiens, daher sein Beiname. Mit diesem ihrem Schwager ging sie eine dritte Ehe ein, obwohl sie wusste, dass ihr zweiter Gemahl Demetrios in parthischer Gefangenschaft noch lebte. Allerdings hatte sie wohl erfahren, dass ihr Gatte dort inzwischen eine parthische Prinzessin geheiratet hatte. Thea und Antiochos Sidetes trieben Tryphon in >iederlagen und in den Selbstmord.

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Aus ihrer Ehe gingen weitere Kinder hervor. Antiochos VII. fiel allerdings schon 129 v. Chr. nach anfänglichen Siegen im Krieg mit den Parthern. Diese hatten inzwischen, wohl um auf seleukidischer Seite Verwirrung zu stiften, Demetrios II: freigelassen. Das Seleukidenreich, nachdem jetzt auch das Zweistromland an die Parther verloren war und die jüdischen Gebiete sich vollständig losgelöst hatten, auf Syrien beschränkt, versank im Chaos. Das hinderte den heimgekehrten Demetrios nicht, große Pläne zu schmieden. Hilfesuchend nämlich wandte sich an ihn die ägyptische Königin Kleopatra (II.). Eine interessante Dame: Sie war Schwester, Gemahlin und Mitregentin Ptolemaios VI. Philometors gewesen, hatte ihm mehrere Kinder geschenkt, darunter Kleopatra Thea und Kleopatra (III.), und nach seinem Tod 145 v. Chr. hatte sie ihren zweiten Bruder und Schwager Ptolemaios VIII. Euergetes geheiratet, der auch unter dem Spitznamen Physkon, der Fettwanst, unrühmlich bekannt war. Physkon hatte seiner Schwestergemahlin und Mitregentin gelegentlich übel mitgespielt. Ihr Söhnchen aus der Ehe mit Philometor, Ptolemaios VII., hatte er ermorden lassen. Einen gemeinsamen Sohn hatte er ihr im Laufe eines Ehestreits in Stücke gehackt als Geburtstagsgeschenk zugeschickt. Außerdem nahm er seine Doppelnichte und Stieftochter Kleopatra (III.) zum Ärger ihrer Mutter zur Zweitfrau und weiteren Mitregentin. Um 129 v. Chr. hing der Haussegen in dieser merkwürdigen menage à trois wieder einmal schief. Kleopatra (II.) versprach ihrem seleukidischen Schwiegersohn Demetrios den ägyptischen Staatsschatz und machte ihm Aussichten auf den Thron in Alexandria. Demetrios ergriff sofort diese vermeintlich großartige Chance, warb Söldner an und rückte an die ägyptische Grenze vor. Er wurde jämmerlich von den Truppen des Fettwanstes geschlagen. In Antiochia und Apameia war man indes der Herrschaft dieses Wirrkopfes leid. Man sagte ihm auch nach, er habe sich zu sehr „parthenisiert“. Auf seinen Münzen ließ er sich jetzt nach parthischer Sitte mit Vollbart darstellen. Außerdem fürchtete man neue Belastungen wegen seines sinnlosen ägyptischen Krieges. Die Antiochier wandten sich deshalb an Ptolemaios Physkon mit der Bitte, er möge ihnen einen neuen König aus seleukidischem Geblüt schicken. Gedacht war wohl an einen der Prinzen, die Kleopatra Thea seinerzeit vor Tryphon in ausländische Sicherheit gebracht hatte. Leider hatte Physkon keinen Zugriff auf diese Prinzen. Diese Großneffen Physkons lebten keineswegs, wie man in Antiochia wohl vermutete, in Ägypten. Aber die Bitte aus Syrien kam Physkon im Kampf gegen seine Schwestergemahlin Kleopatra (II.) und deren Verbündeten Demetrios zu gelegen, um abgeschlagen zu werden. Er wusste sich zu helfen. Es fand sich ein junger Mann, etwa zwanzig Jahre alt und von einigermaßen „seleukidischem“ Aussehen, in Wahrheit der Sohn des griechisch-ägyptischen Kaufmannes Protarchos und einer Sklavin, den Physkon nun als echten Seleukiden präsentierte. Es ist unklar, ob er ihn als Sohn des Ba-

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las ausgab – darauf deutet die Namenswahl Alexander für diesen Thronkandidaten – oder als Adoptivsohn Antiochos VII., vielleicht auch für beides. Antiochos VII. hatte Münzen im Stile des Balas schlagen lassen, was als Hinweis für die letzte Vermutung gelten könnte. Der junge Mann wurde über den Seeweg nach Antiochia gebracht und dort freudig begrüßt, obwohl die Antiochier den Betrug sehr wohl durchschauten, denn sie gaben Alexander den Spitznamen „Zabinas“, der „Gekaufte“. Die nun folgenden Kämpfe gegen Demetrios II. schienen sich endlos hinzuziehen. Doch schließlich wurde Demetrios in der Gegend von Damaskus 126/125 v. Chr. endgültig besiegt. Als Flüchtling versuchte er sich nach Ptolemais (Akko) zu retten, aber Kleopatra Thea, die dort residierte, versperrte ihrem (Ex)gatten die Tore. Er fand sein Ende vor Tyros, wo er wohl auf Befehl der Thea zu Tode gemartert wurde. Sie konnte ihm seine parthische Zweitehe nicht verzeihen. Alexander hätte nun das seleukidische Restreich an sich nehmen können. Er war zumindest in Antiochia wegen seiner jugendlichen Umgänglichkeit sehr beliebt. Auch schätzte man seine Milde. Drei Offiziere, die sich in Laodike gegen ihn verschworen, begnadigte er. Seine Münzbilder zeigen einen freundlich lächelnden jungen Mann. Er pflegte gute Beziehungen zu den Juden. Auch mit den Parthern, eigentlich Gönner seines Feindes Demetrios, wusste er sich gut zu stellen. Sie schickten ihm die Leiche Antiochos VII. in einem Silbersarg. Alexander vergoß in aller Öffentlichkeit heiße Tränen bei der endgültigen Bestattung seines angeblichen Adoptivvaters. Doch noch lauerte im Hintergrund Kleopatra Thea, herrschsüchtig und skrupellos. Sie hatte sofort nach dem Ende ihres ungeliebten Gatten Demetrios auch dessen (und ihren) ältesten Sohn Seleukos (V.) umbringen lassen, der ohne mütterliche Erlaubnis nach dem königlichen Diadem gegriffen hatte. Nun proklamierte sie einen ihrer jüngeren Söhne, Antiochos VIII. Grypos, zum Erben des Reiches. Natürlich fand dieser als echter Seleukide einigen Anhang. Schlimmer noch für Alexander aber war, dass sich seine ägyptischen Gönner von ihm abwandten: 124 v. Chr.versöhnten sich Ptolemaios VIII. Physkon, Kleopatra III. und ihre Mutter-Schwester-Gemahlin Kleopatra II. wieder einmal: und auch die Tochter-Schwester-Nichte Kleopatra Thea dürfte sich an diesen ptolemäischen Familienbund angeschlossen haben. Ihr Antiochos Grypos erhielt eine Tochter Physkons zur Frau. Alexander war für die Ägypter überflüssig und lästig geworden, zumal er sich nach dem Sieg bei Damaskus allzu selbstbewusst aufgespielt hatte. Er legte sich jetzt die Kultnamen „Epiphanes“ (der erscheinende Gott) und „Nikephoros“ (der Siegesträger) zu.

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In den Auseinandersetzungen der nächsten Zeit geriet Alexander, jetzt ohne Gelder aus Ägypten, im Kampf gegen Thea und Grypos bald in finanzielle Schwierigkeiten. In seiner Not vergriff er sich an einer goldenen Statuette der Siegesgöttin Nike im Zeustempel zu Daphne bei Antiochia. Die allgemeine Empörung über diesen Frevel tat er mit dem Scherz ab, Zeus habe ihm wohl den Sieg (griechisch: Nike) schenken wollen. Als er sich jedoch auch noch an das Kultbild des Zeus selbst heranwagte, brach ein allgemeiner Volksaufstand gegen ihn los. Er versuchte sich mit einigen zusammengerafften Schätzen zum Hafen von Seleukia am Mittelmeer zu retten. Gerüchte wollten wissen, er plane, sich nach dem Ende seines königlichen Gastspiels als wohlhabender Privatmann in Griechenland niederzulassen. Er wurde jedoch vor Seleukia von Räubern aufgegriffen und an Antiochos Grypos ausgeliefert. Über sein Ende (123/22 v. Chr.) widersprechen sich die antiken Quellen.16 Er hat sich nach ihnen entweder vergiftet oder ist von Grypos als Betrüger in Ketten gefesselt ausgestellt und dann hingerichtet worden. Der jüdische Historiker Flavius Josephus, der ihn als echten Seleukiden gelten lässt, berichtet, er sei ehrbar im Kampf gefallen. In den nächsten Jahrzehnten, bis zum Ende des Seleukidenreiches 64. v. Chr. bedurfte es keiner falschen Prätendenten mehr, um das Reich vollkommen zu zerrütten: die zahlreichen echten Nachkommen der Kleopatra Thea aus ihren Ehen mit Demetrios II. und Antiochos VII., echte Seleukiden, sorgten in fast ununterbrochenen Kleinkriegen zwischen Brüdern und Vettern für den Ruin der einst so glänzenden Dynastie. Der römische Feldherr Pompeius strich die letzten Thronbewerber aus diesem Diadochengeschlecht, Philipp II. und Antiochos XIII. einfach aus der Liste der römischen Vasallen-Kleinkönige –mehr waren sie nicht mehr. Syrien wurde römische Provinz. Allerdings trat dann merkwürdigerweise doch noch ein falscher Seleukide auf. Als in Alexandrien Ptolemaios XII. vom ägyptischen Thron vertrieben und seine Tochter Berenike (IV.) an seine Stelle gesetzt wurde, sollte für die junge Königin ein würdiger Prinzgemahl gesucht werden. Man verfiel auf die Idee, einen der entthronten Seleukidenprinzen nach Ägypten zu bitten: ein römisches Veto machte diesen Plänen ein Ende. Aber in Alexandrien tauchte 55 v. Chr. dennoch ein mysteriöser Seleukos auf. Vielleicht ein Bruder Antiochos XIII., wahrscheinlich aber ein Betrüger17. Die Königin war bereit, sich mit diesem an16

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Ehling S. 219: Eine der antiken Quellen, Diodorus Siculus, Buch 34-35, Abschnitt 28 fügt dem Bericht über seine Demütigung und Hinrichtung eine lange Betrachtung über die Launen des Glücks an. John D. Grainger, A Seleucid Prosopography, S. 66 hält ihn für einen Sohn Antiochos X. und der Kleopatra Selene, einen Bruder Antiochos XIII. Mit diesem sei er 75-73 v. Chr. in Rom gewesen. Sein Ende in Alexandrien wird auf 58 v. Chr. datiert. Dagegen hält ihn Max Leberecht Strack, Die Dynastie der Ptolemäer, zuerst Berlin 1897, Neudruck Aalen 1979, S. 69 für einen „falschen Prinzen.“ Zu den echten oder falschen Se-

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geblichen Prinzen zu verbinden. Doch bald offenbarten die Manieren dieses Mannes, dass er nicht aus edelstem Diadochengeblüt stammte, sondern eher ein stinkender Fischpacker gewesen war. Jedenfalls gaben ihm die spottlustigen Alexandriner diesen Spitznamen (griechisch; „Kybiosaktes“). Man ließ ihn erwürgen. Falsche Ptolemäer Lange bevor der Kybiosaktes den ptolemäischen Hof in Verlegenheit setzte, war bereits um 140/39 v. Chr. der Versuch unternommen worden, Ägypten mit einem falschen Thronanwärter zu beunruhigen. Hinter dieser Intrige stand der Athamanenprinz Galaistes18, Sohn des Königs Amynandros, ein Neffe also jenes ominösen Philipp aus Megalopolis, von dem bereits die Rede war. Galaistes hatte sich in die Dienste Ptolemaios VI. Philometors nach Ägypten begeben. Der Hofklatsch sagte den beiden ein mehr als nur freundschaftliches Verhältnis nach. Wie dem auch sei, Galaistes bewährte sich als Feldherr 145 v. Chr. in der Entscheidungsschlacht gegen Alexander Balas, aber der Tod Philometors brachte ihn um die Früchte seines Sieges. Er führte das ägyptische Heer in die Heimat zurück. Philometors Nachfolger Ptolemaios VIII. Physkon hielt den Günstling seines Bruders für gefährlich. Er entließ und enteignete Galaistes. Der gedemütigte General zog sich nach Griechenland zurück. Dort sammelte er andere von Physkon ins Exil getriebene Flüchtlinge um sich. Unter ihnen befand sich nach seiner Behauptung sogar ein ptolemäischer Prinz: diesen angeblichen Königspross schmückte Galaistes mit dem königlichen Diadem. Als 140/39 die Söldnertruppen Physkons in Alexandrien meuterten, weil ihre Besoldung nicht pünktlich ausgezahlt worden war, sah Galaistes seine Chance gekommen. Er landete mit angeheuerten Truppen und seinem Thronprätendenten in Ägypten, wahrscheinlich im Einverständnis mit Königin Kleopatra (II.), Witwe seines Gönners Philometor und jetzt in Zwangsehe mit Physkon lebend. Leider musste Galaistes aber erfahren, dass Physkon inzwischen die Meuterei beigelegt hatte. Ein reicher Höfling hatte dem König die fehlenden Soldgelder vorgestreckt. Auch hatte eine römische Gesandtschaft eine Versöhnung zwischen Physkon und Kleopatra (II.) erzwungen.

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leukidenprinzen als Heiratskandidaten für Berenike IV. auch Bevan Band 2, S. 268. Macury S. 182 nennt drei seleukidische „Thronbewerber“ in Alexandrien – einen echten Sohn der Kleopatra Selene, der vor der geplanten Heirat mit Berenike stirbt, dann einen echten Prinzen Philipp, der am römischen Veto scheitert, zuletzt den falsche „Kybiosaktes“. Über die Galaistes-Affäre ausführlich Diodorus Siculus, Buch 33 Kap. 20-22, dazu Huß S. 607

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Galaistes brach sein Unternehmen als aussichtslos ab. Sein weiteres Schicksal ist unbekannt, ebenso das Ende seines Prätendenten. Neuerdings sind Hinweise aufgetaucht, bei seinem Thronkandidaten könne es sich um einen echten Ptolemäer gehandelt haben. Ein sonst nicht weiter bekannter Prinz Ptolemaios wird für das Jahr 144/43 v. Chr. als Priester des vergöttlichten großen Alexanders erwähnt. Vielleicht hat sich Galaistes dieses jungen Mannes bedient.19 Galaistes angeblicher Königssohn war nicht der letzte falsche Ptolemäer. Auch die berühmte große Kleopatra (VII.), die letzte Ptolemäerin, Geliebte Cäsars und Mark Antons, wurde mit einem unechten Prätendenten konfrontiert Dieser Hochstapler gab sich für ihren Bruder, zeitweiligen offiziellen Gatten und Thronrivalen Ptolemaios XIII. aus. In den Thronkämpfen zwischen den Geschwistern war die Partei des jungen Ptolemaios im sogenannten „alexandrinischen Krieg“ den römischen Truppen Cäsars, die zugunsten Kleopatras intervenierten, 47 v. Chr. unterlegen. Auf der Flucht vom Schlachtfeld war Ptolemaios im Nil ertrunken. Um Zweifel über das tragische Ende des jungen Königs zu zerstreuen, ließ Cäsar dessen goldenen Prunkpanzer in Alexandria ausstellen. 41/40 v. Chr. trat aber in der Stadt Arados (in der damaligen römischen Provinz Syria) ein Mann auf, der vorgab, Ptolemaios XIII. zu sein 20 . Er sei gleich dem ägyptischen Gott Osiris neubelebt den Fluten des Nils entstiegen. Er fand einigen Zulauf. Auf Befehl Mark Antons mussten ihn die Bürger von Arados an Kleopatra ausliefern, die ihn sofort hinrichten ließ. Fast alle bisher behandelten unechten Thronbewerber der hellenistischen Epoche sind im Rahmen von Machtkämpfen und Intrigen der Diadochendynastien gegeneinander aufgestellt worden. Es handelte sich bei ihrem Auftreten sozusagen um zwischendynastisch-hellenistische Affären. Vielleicht noch interessanter aber ist die Tatsache, dass dieses so in Mode gekommene Kampfmittel bald auch gegen die bereits den ganzen hellenisierten Raum überschattende römische Vormacht eingesetzt wurde. Auch der letzte falsche Ptolemaios könnte vielleicht, da seine Ansprüche gegen die Römerfreundin Kleopatra gerichtet waren, als ein antirömischer Aspirant gedeutet werden. Leider weiß man zu wenig von ihm. Aber er hatte Vorläufer, die in dieser Hinsicht entschieden deutlicher zu fassen sind. Gegen Rom: Pseudophilippos- der letzte Makedone21 Vorbemerkung: Unter den hellenistischen Reichen nahm Makedonien, das Stammland Alexanders des Großen, eine besondere Stellung ein. Seine Könige waren in ihrem Reich keine Fremdherrscher wie die Seleukiden und Ptolemäer 19 20 21

Nadig S. 169, Anm. 181 Huß S. 731 Zu Pseudophilipp ausführlich: Rosen S. 117-130, Gruen S. 431-36

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in Syrien und Ägypten, sondern echte Volkskönige. Gleichzeitig bildete ihr Staat einen Schutzschild für die gesamte hellenistische Welt gegen die barbarischen oder halbbarbarischen Thraker, Illyrer und Gallier-Kelten. Gestützt auf die glänzende Militärtradition der Makedonen hätten die Regenten aus dem Haus der Antigoniden diese Schutzrolle auch gegen die Römer übernehmen können, wenn nicht die griechischen Stadtstaaten und Bünde in ihrer Verblendungt immer wieder gegen eine solche Schutzherrschaft gemeutert und die Römer sogar gegen die Makedonen zu Hilfe gerufen hätten. 197 v. Chr. war König Philipp V.von den Römern geschlagen worden, sein ehrgeiziger Sohn Perseus erlitt 168 dasselbe Schicksal. Er geriet mit seiner Familie in Gefangenschaft, wurde im Triumphzug durch Rom geführt und starb 165 oder 162 als Verbannter in Alba Fucens in Italien. Sein ältester Sohn Philipp starb, achtzehn Jahre alt, kurz nach ihm ebenfalls in Alba. Ein jüngerer Sohn Alexander schlug sich als Stadtschreiber einer italischen Kleinstadt durch. Die Römer teilten Makedonien zunächst in vier, streng voneinander isolierte, formell selbstständige Republiken auf. „Wie vom Himmel gefallen“ – so schreibt der zeitgenössische Historiker Polybius (Buch 36, Kap. 10) – erschien um das Jahr 150 v. Chr. ein neuer König der Makedonen: Philipp (VI.), als angeblicher Sohn des Perseus. Er kam mit einem Häuflein Bewaffneter, das ihm der thrakische Stammesfürst Teres (Thrakien lag im heutigen Bulgarien), ein Schwager des Perseus, und dessen Freund Barsabas überlassen hatten, und besiegte die schwachen Grenzstreitkräfte der makedonischen Republiken diesseits und jenseits des Strymonflusses (heute: Struma): ganz Makedonien fiel ihm zu, ja er stieß sogar in das griechische Thessalien vor. Ganz so überraschend wie Polybius es darstellt war das Auftreten dieses falschen Philipp freilich nicht. Polybius selbst kannte seine Vorgeschichte zum Teil. Der wahre Name des „Pseudophilippos“ war demnach Andriskos. Er war der Sohn eines Schmiedes oder Tuchwalkers oder Färbers in Adramytium oder Adramyttion im kleinasiatischen Königreich Pergamon. Wahrscheinlich trat er als Söldner in seleukidische Dienste und kam so nach Antiochia in Syrien. Seine Kameraden zogen ihn wegen seiner Ähnlichkeit mit dem unglücklichen Makedonenkönig als „Perseussohn“ auf. Er jedoch machte mit der Rolle des Königssohnes ernst und wandte sich an seinen „Onkel“ Demetrios I. – Perseus war mit einer Schwester des Seleukiden verheiratet gewesen. Andriskos bat seinen Oheim um Hilfe zur Wiedererlangung seines väterlichen Reiches. Ein kleiner Volksaufruhr in Antiochia zur Unterstützung dieser Bitten des makedonischen „Neffen“ und „Thronerben“ wurde jedoch von Demetrios niedergeschlagen, Andriskos gefangengesetzt und nach Rom geschickt. Die Römer hielten die ganze Affäre für eine mehr oder minder unbedeutende Spinnerei entweder des

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Andriskos oder sogar des Demetrios, der sich mit der Auslieferung dieses Halbverrückten nur bei ihnen einschmeicheln wolle (153 v. Chr.). Sie verbannten Andriskos unter lockerer Bewachung in eine kleine italische Stadt. Andriskos entwischte von dort ohne Mühe nach Milet in Kleinasien. Hier wurde er zwar wieder für kurze Zeit inhaftiert und den Römern angeboten, entkam aber nach Pergamon. Er verbreitete wohl jetzt eine romanhafte Geschichte über seine Herkunft. Danach war er angeblich ein Sohn des Perseus von einer Nebenfrau. Sein königlicher Vater habe ihn, versehen mit Dokumenten, die seine königliche Abstammung belegten, und mit Anweisung auf geheime Schätze, um ihn vor den Römern zu retten, einem einfachen Mann aus Kreta anvertraut. Auf seinem Totenbett habe der Kreter, inzwischen nach Adramytium übergesiedelt, seiner Frau die wahre Herkunft ihres Ziehsohnes verraten und die königlichen Urkunden übergeben. So erfuhr Andriskos von seiner hohen Abstammung. Ein erster Versuch, in Makedonien Anerkennung zu finden, blieb erfolglos. Und so verschlug es ihn in seleukidische Dienste – die weiteren Ereignisse bis zu seinem Auftauchen in Pergamon wurden bereits dargestellt. In Pergamon angekommen überzeugte er eine reiche Dame von seinen Märchen. Kallippe, so hieß die Leichtgläubige, war in längst vergangenen Zeiten einmal die Geliebte des Perseus gewesen und jetzt liiert mit einem gewissen Athenaios, den einige moderne Historiker mit einem gleichnamigen Bruder des Königs von Pergamon gleichsetzen. Sie schenkte Andriskos ein Diadem, königliche Gewänder und zwei Sklaven. So ausgestattet machte sich Andriskos auf den Weg nach Byzanz, wo er ehrenvoll empfangen wurde, und von da mit Empfehlungen der Kallippe zu seinen thrakischen „Verwandten“. Soweit die Vorgeschichte des Andriskos. Sein Erfolg in Makedonien beruhte möglicherweise darauf, dass er die einfache bäuerliche, in ihrem Herzen königstreue Bevölkerung gegen die in den makedonischen Republiken dominierende bürgerlich-städtische und romfreundliche Oberschicht mobilisierte. Es kam vielleicht sogar zu Enteignungen. Natürlich verschaffte dieses Vorgehen Andriskos oder Philippos (so nannt er sich als König) bei den Geschädigten den Ruf eines blutrünstigen Tyrannen. Die Thessalier, in deren Gebiete Andriskos inzwischen einmarschiert war, und wohl auch einige Makedonen, wandten sich an den römischen Senator Scipio Nasica, der sich auf Inspektionsreise im Osten befand: dieser schickte ihnen den Prätor Publius Juvent(i)us Thalna mit römischen und griechischen Truppen zu Hilfe. Juventus wurde besiegt und fiel (149/48 v. Chr.). Andriskos – Philippos stieg nach diesem Sieg in die große Politik ein. Er besetzte Thessalien, bedrohte so Griechenland und nahm Verbindung zu Karthago auf, das sich gerade in seinem letzten Verzweiflungskampf, dem dritten punischen Krieg, gegen die römische Übermacht auflehnte.

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Rom musste jetzt zwei veritable Legionen unter dem Prätor Quintus Caecilius Metellus gegen Andriskos aufbieten. König Attalos II. von Pergamon stellte den Römern seine Flotte zu Verfügung. Attalos wollte so auch allen Vedächtigungen zuvorkommen, die sich aus den pergamesischen Beziehungen des Andriskos ergeben konnten. In den ersten Gefechten siegten dennoch die Makedonen. Aus unerfindlichen Gründen teilte Andriskos jedoch seine Streitkräfte. Mit einem Teil zog er sich vorübergehend in Richtung Thrakien zurück. Gab es Unruhen in Makedonien gegen ihn? Wollte er frische Truppen anwerben? An die römische Front in Thessalien zurückgeeilt, musste er feststellen, dass Teile seiner Reiterei zu den Römern übergegangen waren. So unterlag er Caecilius Metellus in einer äußerst blutigen Schlacht in der Gegend von Pydna (148 v. Chr.). Es wird von 25 000 Gefallenen berichtet, mehr als unter Perseus 168 v. Chr. – ebenfalls bei Pydna- gegen die Römer fielen. Andriskos floh nach Thrakien. Doch der Thrakerfürst Byzes lieferte ihn an Metellus aus, in dessen Triumphzug in Rom Andriskos zur Schau gestellt wurde. Er wurde dann auf Befehl des Senats im römischen Staatsgefängnis erdrosselt (146 v. Chr.). Metellus erhielt den Ehrennamen „Macedonicus“ zuerkannt und stieg 143 v. Chr. zum Konsulat auf. Makedonien aber wurde endgültig römische Provinz. In der modernen Geschichtsschreibung wurde Andriskos, gestützt auf die romfreundlichen antiken Quellen Polybios und Livius, lange als abenteuernder Schwindler dargestellt22 , machtgierig und gewissenlos mit dem Schicksal des makedonischen Volkes spielend, über das er mit thrakischer Hilfe eine Schreckensherrschaft ausgeübt habe. Sein Unternehmen sei von Anfang an wahnwitzig gewesen – und historisch ein unbedeutender Zwischenfall. Erst der Althistoriker Klaus Rosen hat 1996 versucht, Andriskos-Philippos in gewisser Weise zu rehabilitieren. Er hält ihn für einen genuinen Vorkämpfer der volkstümlich-monarchischen Traditionen der Makedonen gegen den römischen Imperialismus. Rosen hält es für möglich, dass er tatsächlich ein natürlicher Sohn des Perseus war oder aus mit den Antigoniden versippten Adelskreisen stammte. Auch habe er durchaus Erfolgschancen gehabt. Der Ehrentitel „Macedonicus“ für Metellus und die Aufnahme des Andriskos in die makedonischen Königslisten als Philipp VI. bei einigen antiken Autoren beweisen nach Rosen, wie ernst der Thronkandidat zu seiner Zeit genommen wurde. Dass sein Unternehmen später offiziell von römischer Seite als unbedeutende Schwindelepisode abgetan wurde, führt Rosen auf den Einfluss innenpolitischer Gegner des Metellus zurück, die dem als konservativ verschrienen „Ma-

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So von B. Niese, Geschichte der griechischen und makedonischen Staaten seit der Schlacht von Chaironea, Band 3, Gotha 1903 S.331 –„ein verwegener Abenteurer“, und bei Hopp S. 93 „ein raffinierter Schwindler“.

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cedonicus“ den Ruhm nicht gönnten, eine echte Gefahr von Rom abgewandt zu haben. Ein Hinweis auf die mögliche Volksverbundenheit des Andriskos ist auch das Auftreten von zwei weiteren falschen Antigoniden in seiner Nachfolge, über die die antiken Quellen leider nur knappe Notizen geben. Um 143 trat in der Nestos-Gegend wieder ein angeblicher Perseus-Sohn Alexander auf (während der wirkliche Königssohn Alexander als Stadtschreiber in einem Winkel Italiens sein Leben fristete). Metellus verjagte ihn. (Dieser Alexander bezeugt bei dem antiken Autor Cassius Dio, Buch XXI= Zonaras 9, 27-28). Der römische Historiker Livius -Perioke Buch LII- erwähnt kurz für dieselbe Zeit (142) einen zweiten falschen Philipp. Dieser habe auch Sklaven rekrutiert, sei aber von dem römischen Quästor Lucius Tremellius unschädlich gemacht worden. Gegen Rom: Eumenes III. von Pergamon oder Aristonikos ?23 Vorbemerkung: Das Königreich von Pergamon in Westkleinasien hatte sich unter der Dynastie der Attaliden schrittweise vom Seleukidenreich gelöst. Früh schon hatten sich seine Herrscher mit Rom verbündet. Sie waren dafür reichlich mit ehemals seleukidischen Gebieten belohnt worden. König Attalos III. vermachte, da ohne direkten Erben, sein Reich dem römischen Volke. Doch sollten die Stadt Pergamon und die vom pergamesischen Reich abhängigen Griechenstädte in Kleinasien freie Stadtstaaten werden oder bleiben. Die Dynastie der pergamesischen Attaliden nahm sich von jeher etwas wunderlich unter den hellenistischen Herrscherhäusern aus. Sie pflegte einen eher bürgerlichen Lebensstil, „bürgerliche“ Heiraten waren nicht selten und ihr Familienleben galt im Gegensatz zu dem wüsten Treiben etwa der gleichzeitigen Ptolemäer und Seleukiden als moralisch vorbildlich. Der letzte allgemein anerkannte Herrscher, Attalos III., war allerdings ein Sonderling. Schon seine Abkunft gab zu Spekulationen Anlass. War er der Sohn Eumenes II. (reg. 197-159 v. Chr.) oder stammte er von dessen jüngeren Bruder Attalos II. (reg. 159-138 v. Chr.) ab und war von Eumenes nur adoptiert worden? Seine Mutter Stratonike, an der Attalos offensichtlich in kindlicher Liebe hing, eine Prinzessin aus Kappadokien, hatte beiden Brüdern nahegestanden und sie auch nacheinander geheiratet. Auf jeden Fall war Attalos III. eine merkwürdige Figur. Menschenscheu verbarg er sich im Palast, vernachlässigte die Regierungsgeschäfte und frönte seinen privaten Liebhabereien, vor allem der Botanik. Er soll sich vor allem mit Pflanzengiften beschäftigt haben und vor Menschenversuchen nicht zurückgescheut sein. Das Volk hielt ihn für einen Zauberer. Nach dem Tode seiner Ver-

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Zu Aristonikos vor allem Hopp S. 121-147, Gruen S. 594-603

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lobten und seiner Mutter führte er ein Schreckensregiment, weil er hinter diesen Todesfällen Mordanschläge witterte. Möglicherweise – Münzfunde deuten darauf hin – erhob sich schon zu dieser Zeit im Osten seines Reiches ein gewisser Aristonikos24 gegen ihn. (Neuerdings wird diese Münzeninterpration wieder bestritten, aber der Aufstand an sich ist nicht unwahrscheinlich.25) Dieser Rebell behauptete, ein Sohn Eumenes II. zu sein. Er stützte sich wohl zunächst auf höhere königliche Beamte und Offiziere und andere wohlhabende Kreise, die der Herrschaft des versponnenen Attalos leid waren. Einige antike Historiker berichten, er sei tatsächlich der Sohn Eumenes II. und einer Zither- oder Harfenspielerin gewesen (so etwa Livius und Plutarch), andere halten ihn eher für einen Betrüger (so Diodor, Strabon und am deutlichsten der Römer Velleius Paterculus). Unter modernen Historikern spricht sich etwa Daubner für die „Echtheit“26, Hopp für die Unechtheit aus. Das Testament Attalos III. zugunsten der Römer könnte nach Hopp auch den Zweck gehabt haben, den Heimfall des Reiches an einen solchen Rebellen und Gauner zu verhindern. Der überraschende Tod Attalos III. – der König erlitt einen Hitzschlag auf der Baustelle des mütterlichen Mausoleums – konfrontierte den Rebellen Aristonikos nun unmittelbar mit dessen römischen Erben. Freilich konnte er hoffen, dass die Bevölkerung des Reiches, dem drohenden römischen Joch abgeneigt, sich auf seine Seite schlagen würde. Auch befand sich Rom in einer schweren innenpolitischen Krise. Dort war soeben der Volkstribun Tiberius Gracchus mit seinem sozialen Reformprogramm gescheitert und von einer Meute konservativer Senatoren unter Führung von Scipio Nasica in aller Öffentlichkeit erschlagen worden. Übrigens hatte Tiberius Gracchus auch beantragt, die Kosten seines Programms aus dem pergamesischen Erbe zu bezahlen. Rom begnügte sich zunächst damit, die Lage zu sondieren. Es entsandte eine Senatskommission unter Scipio Nasica nach Pergamon (132 v. Chr.). Da Nasica während dieser Mission verstarb, kehrten die Senatoren nach Rom zurück. Inzwischen versuchte Aristonikos die Städte an der kleinasiatischen Küste für sich zu gewinnen, um eine militärische Intervention der Römer zu erschweren. Bei Leukai, wo er seine Residenz aufschlug, und Phokaia gelang ihm dies friedlich. Andere Städte und Inselstaaten (so Myndos, Samos, Kolophon) musste er gewaltsam unterwerfen. Einige weitere Küstenstädte verbündeten sich ge24 25 26

Zu Aristonikos auch Magie, Band 1 S. 147-152. Band 2 S. 1034 Anm. 2): Magie hält ihn für einen illegitimen Sohn Eumenes II. Zur Münzfrage Gruen S. 595 Daubner S. 53 „Dass er ein wirklicher und kein angeblicher Sohn des Königs war, steht fest.“ Die These, Aristonikos sei mit einem inschriftlich erwähnten Prinzenerzieher Attalos III. zu identifizieren, wird verworfen. Daubner bezweifelt auch gegen Hopp, dass Aristonikos bereits zu Lebzeiten Attalos III. rebellierte (ebd.).

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gen ihn. Unter Führung der Ephesier besiegten sie eine von ihm organisierte Flotte in der Seeschlacht von Kyme. Die griechischen Städte hatten von der römischen Senatsdeputation wohl die Zusicherung erhalten, Rom werde die Freiheitsklauseln des Attalos-Testaments beachten. Ein Zusammengehen mit Aristonikos hätte sie womöglich um diese Garantie gebracht. Ähnliche Überlegungen mochte der Stadtrat der Hauptstadt Pergamon anstellen. Er verweigerte Aristonikos den Zutritt und die Auslieferung der königlichen Schätze. Man dehnte das Vollbürgerrecht auf Halbbürger aus und entließ die kommunalen Sklaven in die Freiheit, um die Zahl der Wehrpflichtigen in einem etwaigen Kampf gegen Aristonikos zu vermehren. Bürger, die die Stadt verließen, um sich vielleicht Aristonikos anzuschließen, sollten ihre Rechte und ihr Vermögen verlieren. Endlich marschierten auch die Heere der romfreundlichen Nachbarfürsten von Bithynien, Pontos, Paphlagonien und Kappadokien gegen Aristonikos auf. Ariarathes V. von Kappadokien, den Römern wegen ihrer Hilfe gegen Orophernes verpflichtet und zudem ein Oheim Attalos III., fiel im Kampf. Es stand schlecht um Aristonikos, der sich mittlerweile den Königsnamen Eumenes (III.) zugelegt hatte. Er musste sich wieder in seine Ausgangsregion im inneren Kleinasien zurückziehen. In seiner Bedrängnis griff er nun zu einem äußerst gewagten Mittel: er erklärte alle Sklaven für frei. Er versprach wohl auch allen anderen Minderprivilegierten Rechtsgleicheit in seinem zukünftigen Reich. Als „Heliopoliten“ – Bewohner des „Sonnenstaates“- sollten alle seine Untertanen eine brüderliche Gemeinschaft gleichberechtigter Bürger bilden.27 Die Idee zu diesem Wagnis mag ihm der Philosoph Blossius aus Cumae, der in Athen studiert hatte, eingegeben haben. Blossius hatte sich als Freund und Ratgeber des Sozialreformers Tiberius Gracchus in Rom aufgehalten und war nach dessen Ermordung zu Aristonikos geflohen. Vielleicht hat auch das Beispiel der Stadt Pergamon auf Aristonikos gewirkt. Auf jeden Fall erhielt Aristonikos auf diese Weise beträchtlichen neuen Zulauf. Er warb aber auch thrakische Söldner an. So gestärkt gelang es ihm, den endlich unter dem Konsul P. Licinius Crassus Mucianus (130 v. Chr.) in Kleinasien gelandeten römischen Truppen zunächst bei Leukai eine schwere Niederlage zuzufügen. Mucianus selbst geriet auf seinem Abmarsch in Richtung Pergamon in Gefangenschaft und wurde von der Soldateska des Aristonikos niedergemacht oder auf eigenen Wunsch, um seiner Schmach zu entgehen, getötet: Aristonikos erhielt das Haupt des Konsuls verehrt. Erst eine zweite Invasionswelle der Römer unter dem Konsul Marcus Perperna drängte ihn zurück und schloss ihn in der Festung Stratonikeia ein. Ausgehungert musste sich Aristonikos ergeben. Als Gefangener nach Rom gebracht, wurde er dort im Staatsgefängnis erwürgt. Das Reich Pergamon wurde zur römischen Provinz „Asia.“ 27

Zur Wertung des Eumenes-Aristonikos als Sozialrevolutionär: Mileta, passim

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Deutsche Althistoriker haben um 1900 Aristonikos als einen antiken Sozialisten oder Kommunisten dargestellt und versucht, ihm Kontakte zu den großen Sklavenaufständen in Sizilien nachzuweisen. Seine Anfänge lassen an einer solchen Interpretation zweifeln. Sein Appell an die Sklaven kann auch nur seiner Notlage entsprungen sein, ohne dass dahinter irgendein menschheitsbeglückendes Prinzip gestanden haben muss. Die Anwesenheit des Philosophen Blossius in seinem Lager beweist in dieser Hinsicht nicht viel, da die genauen Lehren dieses Mannes nicht überliefert sind. Blossius beging nach der Niederlage des Aristonikos Selbstmord. Die falschen hellenistischen Prätendenten, die gegen Rom auftraten, unterschieden sich von anderen fragwürdigen Thronaspiranten, die im Laufe der Auseinandersetzungen zwischen den hellenistischen Reichen aufgetaucht waren. Sie mochten von diesen Vorläufern inspiriert worden sein, aber im Unterschied zu den meisten von ihnen waren sie keine bloßen Marionetten im Ränkespiel der Mächte, sondern agierten aus eigenem Antrieb. Sie waren auch nicht bloße machtgierige Intriganten und Opportunisten, sondern sie verbanden sich mit ernstzunehmenden politischen Strömungen: bei Andriskos, dem Pseudophilipp, waren es makedonisch-nationale, vielleicht auch soziale Bestrebungen, bei Aristonikos-Eumenes antirömisch-antimperialistische und sozialrevolutionäre Tendenzen. Ihre Unternehmungen waren nicht belanglose Episoden im Intrigenspiel der verfallenden Diadochendynastien, denn ihr Scheitern hatte ernste Konsequenzen von historischem Rang. Mit Andriskos verschwand das stolze, einst so ruhmreiche Makedonien endgültig von der politischen Landkarte, mit dem Sieg über Aristonikos griff Rom offen imperialistisch nach Asien hinüber. Ein falscher Herodessohn oder Kaiser Augustus als Detektiv28 Als hellenistischer Prätendent offen gegen Rom aufzutreten schien nach dem Ende eines Andriskos und eines Aristonikos wenig verlockend. Aber vielleicht konnte man die Römer wenigstens überlisten und sie dazu verführen, unechte Thronanwärter in ihren Vasallenkönigreichen zu akzeptieren oder gar zu fördern. Diesen tollkühnen Versuch unternahmen ein falscher jüdischer Prinz und dessen Hintermänner kurz nach dem Tode des jüdischen Königs Herodes (ca. 4 v. Chr.). Und sie schienen Erfolg zu haben. Augustus selbst, der Erbe Caesars und erster unangefochtener Alleinherrscher über das römische Weltimperium, empfing den waghalsigen Hochstapler in kaiserlicher Audienz, um sich ein Bild von ihm zu machen.Der Kaiser war mit der Geschichte des Herodes und seiner Familie gut vertraut. Großvater und Vater des Herodes hatten sich als eine Art Hausmeier in den Diensten der jüdischen Herrscherfamilie der Makkabäer oder Hasmonäer em28

Zum falschen Herodessohn: Flavius Josephus, Jüdische Altertümer, 17. Buch 12. Kapitel

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porgearbeitet. Die Hasmonäer hatten seinerzeit im Kampf gegen die Seleukiden einen neuen nationaljüdischen Staat errichtet, den sie als Fürsten, Könige und Hohepriester regierten. Herodes hatte sich aber , die Familienquerelen der Hasmonäer ausnutzend, 40 v. Chr. selbst auf deren Thron gesetzt. Allerdings versuchte er, sich durch die Heirat mit der schönen und stolzen Hasmonäerprinzessin Mariamne zu legitimieren. Die Söhne aus dieser Ehe, die in jeder Hinsicht nach ihrer Mutter gerieten, konnten als Thronerben die Anhänger der neuen und der alten Dynastie miteinander versöhnen. Herodes war nicht nur in dieser Hinsicht ein kluger Politiker. Er verstand es geschickt, sich jeder Wendung der römischen Machtverhältnisse anzupassen. Auch versuchte er einen Ausgleich zwischen jüdischer Tradition und hellenistisch- römischer Kultur zu finden. Seine Söhne von Mariamne, Alexander und Aristobulos, ließ er in Rom erziehen. Er besuchte sie dort. Die persönliche Bekanntschaft mit Augustus, die er schon 29. v. Chr. gemacht hatte, wird er bei dieser Gelegenheit erneuert haben. Dabei dürften Augustus auch die beiden Prinzen vorgestellt worden sein. Der Kaiser als Schutzherr des jüdischen Königreichs bestimmte sie zu Thronerben des Herodes, der auch noch Söhne von anderen Frauen als der Mariamne hatte. Augustus nahm auch an der Familientragödie teil, die seinen Freund Herodes später ereilte. Herodes heißgeliebte Gemahlin Mariamne hatte im Stolz auf ihre königliche Abstammung immer wieder ihre Schwiegerfamilie gedemütigt. Die Rache ließ nicht auf sich warten. Die beleidigte Familie verleumdete die Königin aufs übelste. Herodes ließ schließlich Mariamne von einem geheimen Familiengericht zum Tode verurteilen. Die heranwachsenden Söhne Alexander und Aristobulos, stolz auf ihre Herkunft wie ihre Mutter, Lieblinge auch des einfachen Volkes, vergaßen dem in ihren Augen plebejischen Vater diese Untat nicht, mochte sich Herodes auch in seiner Reue über den Tod der Mariamne bis an den Rand des Wahnsinns steigern. Die Söhne der Mariamne begannen gegen ihn zu wühlen. Herodes erhob Klage gegen sie bei Augustus. Er suchte den Kaiser in Aquilea in Norditalien auf. Die Beschuldigten wurden herbeizitiert, aber der Kaiser sorgte für eine rührende, tränenreiche Versöhnungsszene zwischen Vater und Söhnen. Allerdings gab der Kaiser jetzt seinem Freund Herodes vollkommen freie Hand bei der Regelung der Thronfolge. Neue Zerwürfnisse blieben nicht aus: der unerträgliche Hochmut der Prinzen lieferte ihren Feinden genügend Ansatzpunkte zu immer neuen Verdächtigungen. Wieder intervenierte Augustus. Er forderte eine gerichtliche Untersuchung der Vorwürfe. Das Gericht fand im heutigen Beirut in Anwesenheit römischer Statthalter mit 150 Beisitzern statt. Es gab Herodes freie Entscheidung über das Schicksal der Prinzen. Er ließ sie in die Stadt Sebaste verbringen, und nachdem neue Anschuldigungen gegen sie laut wurden, gab er den Befehl, sie

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zu erdrosseln. Soweit die Familientragödie, in die nicht zuletzt auch Augustus verwickelt war. Nun aber tauchte in der Stadt Sidon im heutigen Libanon nach dem Hingang des Herodes und der Teilung seines Reiches unter seine überlebenden Söhne ein junger Jude auf, der behauptete, Alexander, Sohn des Herodes und der Mariamne zu sein. Er selbst war wohl nicht auf diesen Einfall gekommen, sondern er war einem ehemaligen Höfling des Herodes wegen seiner frappanten Ähnlichkeit mit dem Prinzen aufgefallen, und dieser hatte ihn überredet, in die Rolle des Herodessohnes zu schlüpfen. Der Drahtzieher, der offensichtlich über gute Beziehungen in der jüdischen Diaspora verfügte, sorgte für einen wahren Triumphzug seines Schützlings durch die jüdischen Gemeinden auf Kreta, Melos und Puteoli in Italien. Juden, die den wahren Alexander gekannt hatten, ließen sich durch die Ähnlichkeit des Hochstaplers mit dem Prinzen zu Zeugen für seine Echtheit gewinnen. Überall überhäufte man den vermeintlichen Prinzen mit Geld und Geschenken, sodass er sich mit wahrhaft königlichem Pomp umgeben konnte. Man sah in ihm den Erben der glorreichen MakkabäerHasmonäer und hoffte, er würde wie seine Vorfahren einen wahrhaft selbstständigen jüdischen Staat errichten. Die römische Judengemeinde holte ihn im Wagen heim. Das Gerücht von seiner Ankunft erreichte Augustus. Der Kaiser beauftragte einen seiner Freigelassenen, Celadus, der während des römischen Aufenthaltes der Herodessöhne oft mit ihnen verkehrt hatte, den vorgeblichen Prinzen in Augenschein zu nehmen. Auch Celadus ließ sich von der Ähnlichkeit des Betrügers mit dem echten Prinzen blenden. Augustus blieb skeptisch. Er misstraute der Geschichte, der von Herodes beauftragte Henker habe die verurteilten Prinzen entkommen lassen und zwei andere junge Männer erwürgt. Der Kaiser konnte sich nicht vorstellen, dass sein kluger und vorsichtiger Freund Herodes sich so hätte täuschen lassen. Er ließ den angeblichen Alexander zu sich kommen und nahm ihn ins Verhör. Nach dem Schicksal seines Bruders Aristobulos gefragt, behauptete der falsche Prinz, dieser halte sich auf Zypern vor den Nachstellungen der Herodianer verborgen. Das war eine geschickte Antwort. Aber dem Kaiser fielen die rauen Hände und die plumpe Körperlichkeit des Betrügers auf. Er griff nun zu einer letzten List, die Wahrheit herauszufinden. Er sagte dem Delinquenten versuchsweise auf den Kopf zu, er sei entlarvt, doch wolle er ihm das Leben schenken, wenn er seine wahre Geschichte erzähle. Der falsche Alexander verlor die Nerven und gestand. Augustus hielt sein Versprechen und beließ ihm das Leben: der Prätendent wurde zur Ruderbank verurteilt. Seine Hintermänner wurden hingerichtet. Augustus konnte freilich nicht ahnen, dass nicht nur seinem Freund Herodes, sondern ihm selber eines Tages falsche Nachkommen zuwachsen würden. Auch die kaiserliche Familie sollte ihre herodianischen Tragödien erleben. Doch bevor auf diese römische Wirren eingegangen wird, sind noch zwei besonders kuriose hellenistische Affären nachzutragen.

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Ein (achtrag: echte Königssöhne als falsche Könige29 Etwa um das Jahr 107 v. Chr. beschlossen die Könige Nikomedus III. von Bithynien (in Nordwestkleinasien) und Mithridates VI. Eupator von Pontos (an der kleinasiatischen Schwarzmeerküste), das ihren Reichen benachbarte Gebiet von Paphlagonien zu besetzen und zu teilen. Bis dahin waren die abgelegenen Gebirgstäler dieses Landstriches im Besitz einer Anzahl kleinerer „Dynasten“, unter denen wohl eine Adelsfamilie mit dem Leitnamen „Pylaimenes“ tonangebend war. Mithridates konnte sich darauf berufen, dass vor längerer Zeit ein solcher Pylaimenes den Königen von Pontos angeblich seine Herrschaft vermacht hatte, Nikomedes dagegen handelte ohne jeden Rechtstitel. Die vertriebenen Dynasten klagten in Rom gegen ihre Entmachtung. Nikomedes machte darauf den Römern weis, in Paphlagonien herrsche immer noch ein Pylaimenes. Was er den Römern verschwieg, war die Tatsache, dass er einen seiner Söhne unter diesem Namen in seinem Teil Paphlagoniens als Regenten eingesetzt hatte. Rom, damals gerade in andere Kämpfe verwickelt, ließ diesen Betrug zunächst auf sich beruhen. Erst 95 v. Chr. verlangte es kategorisch die Räumung Paphlagoniens. Bithynien und Pontos, mittlerweile verfeindet, fügten sich, und die alten Kleinfürsten kehrten zurück. Inzwischen hatte Mithridates VI. Eupator in Kappadokien den PylaimenesTrick des Nikomedes nachgeahmt. Kappadokien hatte schon lange unter pontischem Einfluss gestanden. König Ariarathes VI. (regierte ca. 130-116 v. Chr.) war mit Laodike, einer Schwester Eupators verheiratet, die offensichtlich ihrem Gemahl die Zügel aus der Hand nahm. Als der König sich dieser Gängelung zu entziehen suchte, wurde er (116 v. Chr.?) von einem pontischen Agenten ermordet. Laodike regierte nun für ihren noch minderjährigen Sohn Ariarathes VII. Etwa 101 v. Chr. griff Nikomedes von Bithynien Kappadokien an. Mithridates eilte Schwester und Neffen zu Hilfe. Zur allgemeinen Verwunderung aber schwenkte Laodike zu Nikomedes über. Sie heiratete den Angreifer sogar. Vermutlich fürchtete sie zurecht, dass ihr Bruder seine Intervention zur Errichtung einer straffen „Schutzherrschaft“ über ihr Königreich ausnutzen werde. Sie hatte wohl selber längst Geschmack an eigenständiger Herrschaft gefunden. Ihre Befürchtungen sollten sich nur allzu bald erfüllen. Als der in Kappadokien zurückgebliebene Ariarathes VII. sich den Zumutungen seines Oheims und Retters widersetzte – er sollte ausgerechnet den Mörder seines Vaters als Berater an seinen Hof aufnehmen – erdolchte ihn Mithridates bei einem Treffen eigenhändig. Auf seinen Thron setzte Mithridates einen angeblichen Enkel Aria-

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Zu den paphlagonischen und kappadokischen Affären: Reinach S. 80-98, S. 109, S. 116, S. 154-55, S. 314 und Callataӱ S. 79, 194- 200, 206, 268-79, 315, 398: vor allem zur unsicheren Datierung der Ereignisse

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rathes V.30 als Ariarathes VIII. oder IX. Die Zählung (von modernen Historikern vorgenommen) schwankt, weil Laodike einen jüngeren Bruder ihres ermordeten Sohnes, den sie zur Erziehung nach Pergamon geschickt hatte, ebenfalls unter dem Namen Ariarathes zum König proklamieren ließ. Dieser Thronbewerber wäre dann als 8. Ariarathes mitzuzählen, denn wenn auch sein Einfall nach Kappadokien von Mithridates abgewiesen wurde und er kurz darauf starb, war er doch der letzte rechtmäßige Erbe aus dem alten kappadokischen Königsgeschlecht. Bei dem von Mithridates auf den Thron gesetzten Ariarathes VIII./IX. Eusebes Philopater handelte es sich nämlich in Wirklichkeit um einen Sohn des pontischen Königs selbst. Die angeblich königlich-kappadokische Abstammung des achtjährigen Knaben war wohl erfunden worden, um Laodike, die jetzt in Rom Klage gegen ihren Bruder erhob, zu diskreditieren. Sie hatte dort einen ausnehmend schönen Jüngling als einen weiteren angeblichen Ariarathes präsentiert. Sie hatte damit zwar keinen Erfolg, aber Rom beendete 95 v. Chr. nicht nur die paphlagonische Pylaimenes-Affäre, sondern auch die kappadokische Usurpation. Mithridates und sein Sohn mussten auf römisches Geheiß Kappadokien räumen. Die Kappadokier wählten mit Erlaubnis aus Rom einen einheimischen Adligen namens Ariobarzanes zu ihrem neuen König. Nicht uninteressant sind die weiteren Schicksale der beiden vorgeschobenen Prinzen. Der falsche Pylaimenes kann mit Sokrates Chrestos, einem Sohn Nikomedes III. mit einer griechischen Konkubine identifiziert werden. Dieser Sokrates war zugunsten seines Halbbruders Nikomedes (IV.), dem Sohn des alten Nikomedes mit einer Tänzerin, von der Thronfolge in Bithynien ausgeschlossen worden. Möglicherweise sollte er seinerzeit als Pseudo-Pylaimenes in Paphlagonien entschädigt werden. Jetzt wurde er mit seiner Mutter, einer Schwester und der stattlichen Summe von 500 Talenten in die benachbarte freie griechische Stadt Kyzikos am Marmarameer (damals: Propontis) abgeschoben. Es gelang ihm jedoch, am Hof seines Halbbruders Nikomedes (IV.) wieder Aufnahme zu finden, nachdem er diesem die Augen über die Liebschaften seiner Gemahlin Nysa (einer Tochter der Laodike aus ihrer Ehe mit Ariarathes VI.) geöffnet hatte. Nicht zufrieden mit der Stellung eines anerkannten Prinzen (mit dem Ehrentitel „Chrestos“, der Gute) und möglichen Thronfolgers reiste er nach Rom, um schon jetzt seinen Anteil an der Herrschaft einzuklagen. Dort abgewiesen begab er sich nach Kyzikos, ermordete seine Schwester, um sich wenigstens die vollen 500 Talente zu sichern, musste aber vor den darüber aufgebrach-

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Ariarathes V. Gemahlin Nysa ließ nach dem Tod ihres Gatten alle Prinzen ihres Hauses ermorden. Nur der jüngste Sohn des Königs, Ariarathes VI. , wurde verschont, für den sie dann lange die Regentschaft führte. Jetzt wurde behauptet, ein anderer Sohn Ariarathes V. habe die Anschläge der Nysa überlebt und sei Vater von Ariarathes IX. So Mc Ging S. 73

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ten Bürgern der Stadt fliehen. Auch aus Euböa in Griechenland wurde er vertrieben. Er hatte dort junge Römer in kriminelle Machenschaften verwickelt. Jetzt endlich begab sich „der Gute“ zu Mithridates VI., der ihm Truppen zur Eroberung Bithyniens lieh. Nikomedes wurde vertrieben: Sokrates nahm jetzt den Königsnamen Nikomedes für sich selbst in Anspruch. Seine Herrschaft 92-90 v. Chr. dauerte nicht lange. Eine römische Gesandtschaft unter Manlius Aquilius, führte Nikomedes IV. mit Waffengewalt spätestens 90 v. Chr.zurück. Mithridates, zu dem Sokrates wieder floh, ließ ihn ermorden. Er wollte zu diesem Zeitpunkt noch keinen Konflikt mit Rom. Eine der Intrigen des Sokrates sollte noch lange später Nachwirkung zeigen. Seine Anklagen oder Verleumdungen gegen die Königin Nysa führten dazu, dass Nikomedes IV. seinen Sohn aus dieser Ehe für untergeschoben hielt und sein Reich 74 v. Chr. den Römern vermachte. Der halbherzige Versuch einiger Bithynier, den Enterbten als Nikomedes V. zu proklamieren, wurde von den Römern rasch unterdrückt. Doch scheint der Prinz ein ansehnliches Privatvermögen behalten zu haben. Mit ihm oder seinen Nachkommen erlosch das königlich-bithynische Geschlecht 21 v. Chr. Mithridates VI. von Pontos nahm die römische Besetzung Bithyniens zum Anlass für seinen zweiten großen Krieg gegen Rom. Auch der echte Mithridates-Sohn und angebliche Ariarathes Eusebes Philopater von Kappadokien nahm kein gutes Ende. 93 und 90 v. Chr. unternahm Mithradates VI. zwei weitere Versuche, seinen Sohn in Kappadokien durchzusetzen. Der dort regierende Ariobarzanes wurde beide Male verjagt (wobei Mithridates seinem Verbündeten, Tigranes von Armenien, die Hauptarbeit überließ), aber von den Römern unter Sulla und dann Aquilius im Kampf mit den Armeniern wieder zurückgeführt. Als Mithridates schließlich 89/88 v. Chr. seinen ersten großen Krieg gegen die Römer wagte, in dem er ihnen zunächst ganz Kleinasien und Griechenland entriss, wurde auch Kappadokien nebenbei wieder besetzt und Ariarathes Eusebes noch einmal installiert. Der junge König wurde jedoch im Krieg gegen die Römer sofort mit einem Kommando in Makedonien betraut. Dort gebärdete er sich allzu selbstständig, verwässerte die strategischen Pläne seines Vaters und wurde auf Betreiben von dessen Generälen zum Tode verurteilt. Wohl ohne von diesem Urteil erfahren zu haben verstarb der Prinz bei einem Zug nach Thessalien. Jahrzehnte später fielen den Römern nach ihrem endgültigem Sieg über Mithridates (63 v. Chr.) Dokumente in die Hände, die bewiesen, dass der König seinen Sohn vergiften hatte lassen. Ein letztes Nachspiel der kappadokischen Prätendentenwirren erwähnt der antike Autor Valerius Maximus. Nachdem der Triumvir Mark Anton (41 oder 36 v. Chr.) den letzten König aus der Ariobarzanes-Dynastie, Ariarathes X., hingerichtet hatte, soll ein falscher Ariarathes, ein Mann barbarischer Herkunft,

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aufgetreten sein. „Caesar“ (gemeint wohl Octavian-Augustus) habe ihn köpfen lassen.31

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Valerius Maximus, vgl. Anm. 1), Buch 9, 15 Auswärtige 2, S. 612

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III. Betrug im alten Rom Der weitere Hintergrund: >achdem die Römer um 510 v. Chr. ihren letzten König aus dem damals kleinen Stadtstaat vertrieben hatten, wurden sie stolze Republikaner. Das Streben nach königlicher Macht wurde zu einem todeswürdigen Verbrechen erklärt. Und doch gab es hinter der Fassade der republikanischen Verfassung so etwas wie dynastische, um nicht zu sagen monarchische Tendenzen. Dies hing mit dem römischen Klientelwesen zusammen. Vornehme römische Familien sammelten Anhängerschaften um sich, denen sie ihren Schutz und ihre Förderung anboten, wofür diese „Klienten“ ihren „Patron“, durch einen Treueid verpflichtet, insbesondere bei den Wahlen zu den republikanischen Ämtern unterstützten. Diese Bindungen wurden beiderseits meist von Vater auf Sohn vererbt, woraus sich das Aufkommen wahrer Politikerdynastien ergab. Zunächst gefährdeten diese Verhältnisse die republikanische Verfassung nicht, da es viele konkurrierende solcher Klientelverbände gab. Dies wurde anders, sobald einzelnen hervorragenden Männern der römischen Führungsschicht unter Missachtung der republikanischen Traditionen (d.h. zeitlich begrenzte Ämter und Teilung der Amtsbefugnisse mit Kollegen) Machtstellungen zuwuchsen, die sie über ihre Konkurrenten erhoben. Anlass dazu gaben die zahlreichen Kriege, die daraus resultierenden sozialen Probleme und die >otwendigkeit, das wachsende Reich auf Dauer vernünftig zu verwalten. Hier mussten Einzelnen erweiterte Befugnisse, zeitlich verlängert und oft ohne Kollegen, eingeräumt werden. War es einem der römischen Amtsträger oder Feldherren gelungen, eine solche überragende Position zu erringen, so profitierte seine Klientel, die sich natürlich immens vergrößerte, davon – und diese Anhängerschaft wünschte sich die Fortdauer der errungenen Machtfülle für ihren Patron und dessen Familie. Damit war ein Ansatz zur schleichenden Entwicklung monarchisch-dynastischer Herrschaftsstrukturen gegeben. Ein falscher Revolutionär: der unechte Gracchus Der berühmteste deutsche Althistoriker, Theodor Mommsen, der für seine „Römische Geschichte“ 1902 den Nobelpreis für Literatur erhielt, sah im Wirken der beiden Brüder Tiberius und Gaius Gracchus den ersten Schritt zur Aushöhlung der republikanischen Verfassung in Richtung monarchischer Tendenzen.1

1

Theodor Mommsen, Römische Geschichte Band 2, 2. Aufl. 1857 S. 94 zu Tiberius Gracchus: „ein leidlich fähiger Mann, der eben nicht wusste was er begann, der im besten Glauben, das Volk zu rufen, den Pöbel beschwor und nach der Krone griff, ohne es selbst zu wissen.“

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Dabei traten beide Gracchen, obwohl mit den vornehmsten Familien Roms verwandt und verschwägert, als sozusagen „demokratische“ Fürsprecher der infolge langjähriger Kriegsdienste verarmten und landlos gewordenen, „proletarisierten“ Masse der römischen Bürger - (besser: Bauern-) soldaten auf. Die von ihnen als Volkstribunen vorgeschlagenen „Ackergesetze“ zielten darauf ab, auf Kosten der Oberschichten diesen römischen „Proletariern“ wieder eine gesunde bäuerliche Lebensgrundlage durch eine Umverteilung des Bodenbesitzes zu verschaffen. Aber um dieses Ziel gegen den Widerstand der Herrschenden nachhaltig durchzusetzen, strebten beide Gracchen die sofortige Wiederwahl als Volkstribunen an – was gegen alles Herkommen verstieß, denn dies hätte ihnen im mehrfachen Wiederholungsfalle eine einmalige Machtfülle verliehen. Ihren Gegnern verschafften sie so den Vorwand, sie des Strebens nach der Königswürde bezichtigen zu können. Tiberius wurde 133 v. Chr., sein Bruder Gaius etwa zehn Jahre später von ihnen zu Tode gehetzt. Bei vielen ärmeren Römern, die sich als ihre Klienten verstanden, blieb aber ihr Andenken lebendig. Diesen treuen Seelen mochte es gefallen, dass sich im Jahre 102 v. Chr. ein bisher unter dem Namen Lucius Equitius2 bekannter Mann aus dem Picenum (Gegend um das heutige Ancona) als Sohn des Tiberius Gracchus zu erkennen gab und vom zuständigen Beamten, dem Zensor Quintus Cäcilius Metellus Numidicus, seine Aufnahme in die römische Bürgerliste unter dem Namen der Gracchen beantragte. Metellus freilich lehnte das ab. Auch Sempronia, eine Schwester der Gracchen und allseits verehrte Witwe des berühmten (jüngeren) Scipio Africanus, des Zerstörers von Karthago, weigerte sich in aller Öffentlichkeit, vor eine Volksversammlung zitiert, Equitius als ihren Neffen anzuerkennen. Mit offenen Armen empfing den angeblichen Gracchussohn jedoch der damals interessanteste Politiker Roms, der Volkstribun Lucius Appuleius Saturninus. Dieser Saturninus hatte das Reformprogramm der Gracchen aufgegriffen, insbesondere zugunsten der aus dem Proletariat stammenden (zukünftigen) Veteranen, die der mehrfache Konsul Marius in das von ihm organisierte neue Berufsheer aufgenommen hatte. Einen Gracchussohn an seiner Seite zu haben, kam Saturninus sehr zu Pass. Seine Anhänger traktierten dann auch den hoch angesehenen Metellus, der immerhin schon einmal mit dem Konsulat des Jahres 109 v. Chr. das höchste Amt der Republik innegehabt hatte, für seine Weigerung, den angeblichen Gracchus anzuerkennen, mit einem Steinhagel. Das Zeugnis der Sempronia wurde einfach übergangen. Für das Jahr 99 v. Chr. stellte Saturninus den angeblichen Gracchus dann sogar als seinen Mitkandidaten für das Volkstribunat vor. Dies ging selbst dem mit Saturninus noch verbündeten Konsul Marius zu weit. Er ließ den Kandidaten „Gracchus“ verhaften, aber eine aufgebrachte Volksmenge erzwang seine Freilassung. Die Projekte des Saturninus, 2

Zu ihm Artikel Equitius in Realenzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaften (RE), 11. Halbband Stuttgart 1907, Sp. 322

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seine angestrebte Wiederwahl zum Volkstribunen und die zunehmende Gewaltbereitschaft seiner Anhänger veranlassten den Senat, den Staatsnotstand zu erklären und den Konsul Marius mit der Wiederherstellung der Ordnung zu beauftragen. Marius gehorchte und wandte sich gegen seine politischen Freunde. Auf dem Kapitolhügel eingeschlossen und von jeder Wasserzufuhr abgeschnitten, kapitulierte Saturninus mit seiner Gefolgschaft gegen das Versprechen der Straffreiheit, das Marius ihm gab. Die Senatorenpartei hielt sich nicht daran. Saturninus und seine Leute wurden gelyncht. Mit ihnen wohl auch der ominöse Gracchus. Ein Enkel des großen Marius ? Der große Marius, der sich in der Saturninus - Krise politisch zwischen alle Stühle setzte, galt in der senatorischen Elite als Emporkömmling. Er hatte sich im Militär hochgedient, einen Krieg der Römer in >ordafrika siegreich beendet und Rom in höchster >ot vor der Invasion der nach Italien eingedrungenen germanischen Kimbern und Teutonen gerettet. Man feierte ihn als Retter und neuen Gründer Roms. Er hatte das alte Bürgerheer durch eine Berufsarmee, in die auch landlose Proletarier aufgenommen wurden, ergänzt oder teilweise ersetzt. Er war der Abgott seiner Soldaten, die von ihm auch eine Versorgung nach Ende ihrer Dienstzeit erwarteten. Sie hofften auf die Zuteilung eines kleinen Bauerngutes. So erhielt Marius eine noch nie da gewesene Massenklientel, die zudem waffengeübt und gewaltbereit war. Sie verschaffte ihm nach einem ersten Konsulat 107 v. Chr. in den Jahren 104-100 eine Art Dauerkonsulat. Dergleichen hatte Rom noch nicht erlebt. Die Alleinherrschaft schien für Marius greifbar nahe. Durch sein Bündnis mit Saturninus und das spätere Abrücken von ihm machte Marius sich jedoch politisch untragbar. Zeitweilig ohne Anhang zog er sich ins Privatleben zurück. Erst 12 Jahre später gelang ihm ein dramatisches Comeback in den inzwischen ausgebrochenen Bürgerkriegen: er starb während seines siebten Konsulats 86 v. Chr. Sein Sohn Gaius Marius der Jüngere, Konsul des Jahres 82 v. Chr., beging nach einer >iederlage in den fortwährenden Bürgerkriegen Selbstmord. Aus den immer wieder ausbrechenden Bürgerkriegen dieser wirren Jahrzehnte ging schließlich ein Vetter des jüngeren Marius, Gaius Julius Caesar, als Sieger hervor. Der große Marius war mit Julia, einer Tante Caesars, verheiratet gewesen. In dem von Caesar nun als Diktator beherrschten Rom – allerdings war Caesar gerade damit beschäftigt, in Spanien seine letzten Gegner niederzuwerfen – trat plötzlich im Mai des Jahres 45. v. Chr. ein Mann namens Amatius (oder Chamates oder Herophilos) auf, der behauptete, ein Sohn des jüngeren

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Marius3 zu sein. Die alte Anhängerschaft des älteren und jüngeren Marius, ganze Handwerker- und Veteranenvereine, bejubelten den so überraschend aufgetauchten Erben ihrer Patrone fast so stürmisch, wie sie den siegreichen Caesar (auch ihn als Neffen des großen Marius) vor einiger Zeit bei seinem Einzug in Rom begrüßt hatten. Der so Gefeierte hatte die Stirn, den berühmtesten Redner und Rechtsanwalt der Zeit, den gewesenen Konsul Marcus Tullius Cicero, brieflich um seinen Beistand zu bitten. Cicero berichtete einem Brieffreund, ein Enkel des vielgerühmten Redners Licinius Crassus habe sich an ihn gewandt. Das wäre, falls er ein echter Marius sein sollte, sein Bittsteller auch gewesen, denn der jüngere Marius hatte eine Tochter des besagten Licinius geheiratet. Cicero empfahl dem angeblichen Marius- und Crassusenkel, sich wegen seiner Anerkennung an Caesar zu wenden. Der Prätendent hatte sich inzwischen noch weiter vorgewagt. Er lauerte den Damen des julischen Hauses, der Familie Caesars, bei einem ihrer Spaziergänge auf dem Janiculum-Hügel jenseits des Tibers auf, stellte sich ihnen als Verwandter vor und forderte sie auf, ihn in ihren Kreis aufzunehmen. Caesars Nichte Atia überging das Ansinnen des Frechlings schweigend, aber einige andere der Frauen waren nicht abgeneigt, den interessanten Fremdling näher kennen zu lernen. Der junge Begleiter der Damen, Octavian, Sohn der Atia, der spätere Kaiser Augustus, verwies den Zudringlichen wie schon Cicero auf die Entscheidung Caesars. Caesar verhielt sich nach seiner Rückkehr aus Spanien etwas rätselhaft. Er verbannte den Pseudo-Marius zwar aus Italien, ging aber nicht weiter gegen ihn vor. Nach Caesars Ermordung im März 44 v. Chr. erschien der Verbannte wieder in Rom. Er spielte den untröstlichen Verwandten des Ermordeten, rief die Bürgerschaft zur Rache auf und errichtete unter dem Beifall des einfachen Volkes an der Stelle, wo Caesars Leiche eingeäschert worden war, eine Gedenksäule und einen Altar. Der amtierende Konsul Mark Anton, selbst ein Vertrauensmann Caesars, sah in diesen Aktionen eine Störung seiner momentanen Politik, die auf einen Ausgleich mit der Partei der Caesarmörder hinauslief. Er ließ den Störenfried im April 44 v. Chr. aufgreifen – dabei gab es blutige Schlägereien und ohne Gerichtsurteil im Gefängnis erdrosseln. Zusammenrottungen der „Marianer“ wurden auseinandergetrieben. Cicero, dem es peinlich wurde, auf den angeblichen Licinius-und Mariusenkel halbwegs eingegangen zu sein, bezeichnete ihn später als üblen Hochstapler, einen entlaufenen Sklaven, der nichts anderes im Sinn gehabt hätte, als das Volk zu verhetzen und den gesamten Senat auszurotten. 3

zu ihm Meijer passim und Artikel Marius Nr. 16 in RE, 28. Halbband Stuttgart 1930, Sp. 1815

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Andere antike Autoren behaupten ebenfalls, der „falsche“ Marius sei ein bloßer Abenteurer, in Wirklichkeit ein Pferde-oder Augenarzt gewesen, möglicherweise griechischer Abkunft. Moderne Historiker schließen sich diesen Herabsetzungen nicht immer an. Man schließt nicht aus, es könne sich um einen natürlichen Sohn des jüngeren Marius gehandelt haben. Es wird auf das Verhalten Caesars hingewiesen, oder auf den nur schwer erklärbaren Erfolg des Mannes bei der einfacheren Bevölkerung. Auf jeden Fall aber bezeugt die ganze Affäre, wie leicht zumindest in den unteren Schichten Roms die Gefühle dynastischer Anhänglichkeit mobilisiert werden konnten. Von ihnen sollte nicht zuletzt der bereits erwähnte Gaius Julius Caesar Octavianus als Erbe des vergöttlichten Caesar profitieren, der, als Kaiser Augustus, der endgültige Begründer der neuen römischen Monarchie wurde. Aus göttlichem Blut ? -Falsche Julier Einiges an Hintergrund: Octavian-Augustus ging 31 v. Chr. als Sieger aus den langen römischen Bürgerkriegen hervor. Er rühmte sich, die gute alte Republik wieder hergestellt zu haben, in Wirklichkeit schuf er eine neue Monarchie. Mit einer unerhörten Ämterhäufung im Rahmen der „Republik“, als Konsul, Prokonsul-Statthalter und Oberkommandierender in den wichtigsten Provinzen, ausgestattet mit der tribunizischen Gewalt und zahlreichen Sondermandaten und Ausnahmerechten und –ehrungen war er im Grunde unumschränkter Herrscher. Freilich war, um die republikanische Fassade zu wahren, seine Stellung verfassungsrechtlich nicht erblich. Augustus ließ aber keinen Zweifel aufkommen, dass er die Fortdauer seiner Herrschaftsposition über seinen Tod hinaus wünschte – und zwar möglichst in der eigenen Familie. Schließlich hatte er die gesamte römische Bürgerschaft in seine- und damit der julischen Familie Klientel aufgenommen. Ein Problem bei der so angedachten Erbfolge war allerdings die traurige Tatsache, dass ihm ein Sohn versagt blieb. Andere >achfolgekandidaten aus seiner Familie, ein >effe und erster Schwiegersohn4, sowie zwei begabte Enkel, die ihm seine Tochter Julia aus ihrer zweiten Ehe mit Agrippa, seinem vortrefflichsten Feldherrn und Berater, schenkte, starben früh. Julias Tochter Agrippina, leibliche Enkelin des Augustus also, war aber mit Germanicus verheiratet, einem viel versprechenden jungen Mann und immerhin auch ein Enkel der dritten Gemahlin (Livia) des Augustus über ihren Sohn Drusus aus ihrer früheren Ehe 4

Marcus Claudius Marcellus (42-23), Sohn von Augustus Schwester Octavia, wurde 25 v. Chr. mit seiner Cousine Julia, Tochter des Augustus, verheiratet und galt als möglicher Nachfolger seines Onkels und Schwiegervaters. Valerius Maximus, Denkwürdige Reden und Taten in neun Büchern, Buch 9 Kap. 15, Römer 3, erwähnt, dass Augustus einen Hochstapler, der sich für den Sohn der Octavia ausgab, auf einem Kriegsschiff in Eisen legen ließ, wohl als Rudersklaven.

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mit einem Sproß des hochadligen Claudier-Clans. Zudem war Germanicus durch seine Mutter Antonia, Gemahlin des Drusus, ein Enkel der AugustusSchwester Octavia, also ein Großneffe des Augustus. Auf den zahlreichen Kindern dieses Paares beruhte die Hoffnung des Kaisers, seinem Blut die Herrschaft zu erhalten. Da aber Germanicus allzu jung für eine unmittelbare >achfolge erschien, sollte dessen Oheim Tiberius, neben Drusus ein weiterer Sohn der Livia aus der Claudier-Ehe, also Stief-und später Adoptiv-und zeitweilig als dritter Gatte der Julia auch Schwiegersohn des Augustus, zunächst die Herrschaft als Platzhalter übernehmen. Er musste Germanicus adoptieren. Eine gewiss etwas komplizierte Regelung. Sie schloss nämlich nicht nur die vorhandenen leiblichen >achkommen des Tiberius, sondern auch einen noch lebenden leiblichen Enkel des Augustus von der Erbfolge aus: Agrippa Postumus (d.h. der „>achgeborene“), den jüngsten Sohn der Augustustochter Julia, geboren erst nach dem Tode seines Vaters Agrippa. Ein falscher Enkel des Augustus: Clemens alias Agrippa Postumus Der echte Agrippa Postumus, geboren 12. v. Chr., war zusammen mit Tiberius 4 n. Chr. – nach dem Tode seiner beiden älteren Brüder – von Augustus adoptiert worden, ein Hinweis, dass der Kaiser ihn zu diesem Zeitpunkt noch als Erben in Betracht zog. Aber schon zwei Jahre später verbannte ihn der Groß- und Adoptivvater nach Sorrent, ein Jahr später auf das Inselchen Planasia südlich von Elba. Ein feierlicher Senatsbeschluss machte aus dieser familiären Maßnahme eine staatsrechtliche Sanktion. Der, wie der römische Historiker Tacitus schreibt, etwas „dummstolze und mit seinen Körperkräften prahlende“ junge Mann5 war wohl ein Opfer der Intrigen seiner Stiefgroßmutter Livia, Gemahlin des Augustus, die ihrem leiblichen Sohn Tiberius aus einer früheren Ehe und dann ihrem Enkel Germanicus so die Nachfolge sichern wollte. Angeblich gab es sogar einen Geheimbefehl des Augustus, im Falle seines Hinscheidens seinen Enkel Agrippa sofort zu töten, um den Regierungsantritt des Tiberius abzusichern. Augustus starb am 19. 8. 14 n. Chr. – als die Nachricht davon Planasia erreichte, wurde Agrippa Postumus von einem Offizier seiner Bewachung niedergemacht. Er soll sich, obwohl waffenlos, heftig gewehrt haben. Der Offizier meldete Vollzug an Tiberius. Der wusste von keinem Geheimbefehl des Augustus. Aber ein Berater des verstorbenen Herrschers, Sallustius Crispus, hatte in dessen Namen die Mordinstruktion nach Planasia überbringen lassen. Er rechtfertigte sich mit dem ominösen Geheimbefehl. Tiberius schwankte, ob er nicht den ganzen Vorgang zur Untersuchung vor den Senat bringen sollte, aber Crispus und seine Mutter Livia beredeten ihn, die Staatsraison erfordere, die 5

Tacitus, Annalen, Buch 1, Kapitel 3

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ganze Sache zu vertuschen. So wurde (nach Tacitus) „das erste Verbrechen des neuen Regimes“6 unter die Decke gekehrt. Aber im Jahre 16 n. Chr. kam in Etrurien, der heutigen Toskana, das Gerücht auf, Agrippa Postumus lebe noch, es sei ihm gelungen, von Planasia zu entkommen. Immer wieder, mal hier, mal da, meist bei Nacht, gab sich ein Mann mit langem Haar und Bart, wie sie der Totgesagte getragen hatte, Neugierigen als Agrippa Postumus zu erkennen7, die sich auf das Hörensagen zusammengefunden hatten, der Augustusenkel werde sich ihnen zeigen. Ihm floss Geld zu, er schaffte sich eine Leibgarde an und wagte sich zu Schiff nach Ostia, dem Hafen der Hauptstadt. Auch hier hatte die Fama sein Kommen angekündigt. Eine jubelnde Menge empfing ihn. Tiberius beauftragte Sallustius Crispus mit der Angelegenheit. Crispus wollte unnötige Gewalt und peinliche Tumulte vermeiden. Er schmuggelte zwei seiner Helfer in die Leibgarde des falschen Agrippa ein, die den Ahnungslosen in einem günstigen Augenblick überwältigten, fesselten und in den kaiserlichen Palast nach Rom verschleppten. Kaiser Tiberius selbst verhörte den Gefangenen. Es handelte sich um einen Sklaven-Freigelassenen des echten Agrippa Postumus, namens Clemens: der ähnelte seinem Herrn nicht nur stark, sondern war ihm auch treu ergeben. Als sich die Nachricht verbreitete, Augustus liege im Sterben, fasste er den Entschluss, seinen Herrn zu befreien und zu den Armeen an der germanischen Front zu bringen, die ihn vielleicht gegen Tiberius zum Herrscher proklamieren würden. Noch bevor er Planasia erreichte, erfuhr er von der Ermordung seines Herrn und Freundes. Um ihn zu rächen, beschloss er, in seine Rolle zu schlüpfen. Von Tiberius befragt, wie er Agrippa werden konnte, soll er geantwortet haben: „ So wie Du Caesar“– gemeint waren List und Tücke. Tiberius ließ ihn in einem abgelegenen Winkel des Palastes töten .Um kein weiteres Aufsehen zu erregen, wurde nach möglichen Hintermännern nicht weiter geforscht. Der Zulauf für Clemens-Agrippa Postumus beweist deutlich, dass die Überzeugung, die blutmäßige Abstammung von dem unter die Götter erhobenen Augustus gebe ein Anrecht auf die Herrschaft, weit verbreitet war. Die offizielle staatsrechtliche Theorie, die Herrschergewalt sei ein von Senat und Volk übertragenes Amt, das jedem Tüchtigen., z. B. Tiberius, unabhängig von seiner Blutsabstammung zufallen konnte, vermochte sich dagegen nur schwer zu behaupten. Zur energischen Verfechterin des Blutsrechts machte sich Agrippina die Ältere, Schwester des echten Agrippa Postumus, Witwe des früh verstorbenen Germanicus, Tochter der Julia und des Agrippa und damit leibliche Enkelin des Augus6 7

Tacitus, Annalen, Buch 1, Kapitel 14 Zur Geschichte des falschen Agrippa Postumus: Tacitus, Annalen, Buch 2, Kapitel 39 und 40

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tus, für sich und ihre inzwischen herangewachsenen Söhne Nero und Drusus. Bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit rieb sie Tiberius ihre Herkunft aus „himmlischem Blut“ (so Tacitus) unter die Nase. Tiberius versuchte sie vergebens mit der Bemerkung „Glaubst du, weil du nicht herrschest Töchterchen, dass dir Unrecht geschieht?“8 in ihre Schranken zu weisen. Der falsche Drusus Agrippina hasste Tiberius. Sie streute das Gerücht aus, der Kaiser habe ihren Gemahl Germanicus, seinen Neffen und Adoptivsohn, vergiften lassen und wolle auch sie vergiften. An der Hoftafel wies sie vor aller Augen ostentativ Obst zurück, das Tiberius ihr reichte. Sie organisierte Demonstrationen für ihre Söhne Nero und Drusus. Tiberius schickte sie deshalb 29 n. Chr. in Verbannung, ebenso ihren älteren Sohn Nero. Beide starben im Exil. Der etwas jüngere Drusus wurde kurz darauf von seiner eigenen Frau bei Tiberius denunziert, auch er strebe nach der Herrschaft. Tiberius hatte ihn nach Capri, wohin er sich für lange Jahre zurückgezogen hatte, eingeladen. Jetzt wurde Drusus dort verhaftet und in den kaiserlichen Palast nach Rom verbracht, in dessen unterirdischen Gewölben man ihn später verhungern ließ. Zuletzt soll er die Füllung seiner Matratze gekaut haben. 31 n. Chr. war er auf Antrag des Tiberius vom Senat zum Staatsfeind erklärt worden, sein Tod fiel in das Jahr 33. (Die Überreste der unglücklichen Prinzen Nero und Drusus wurden nach dem Tode des Tiberius 37 n. Chr. auf Befehl ihres jüngeren Bruders Gaius, jetzt Kaiser „Caligula“, feierlich im Mausoleum ihres vergöttlichten Urgroßvaters Augustus beigesetzt.) 31 n. Chr. aber war bereits auf den griechischen Kykladeninseln ein junger Mann aufgetaucht, der sich für den damals noch in Haft lebenden Drusus ausgab.9 Kaiserliche Freigelassene bezeugten, dass Drusus aus seinem Verließ entkommen sei. Der Prätendent sprach von Plänen, sich nach Ägypten oder Syrien zu begeben, um die dortigen Truppen, die dem Andenken seines Vaters Germanicus besonders verbunden wären, gegen Tiberius aufzurufen. Während er von Insel zu Insel reiste und wohl auch die kleinasiatische Küste berührte, wobei er wachsenden Zulauf fand, machte sich Poppäus Sabinus, der Statthalter des Tiberius in Griechenland (damals: „Achaia“) und Makedonien zu seiner Verfolgung auf. Sabinus erfuhr, dass der rätselhafte Mann sich am Ende nur noch als Sohn des Marcus Silanus ausgab, worauf sich seine Anhänger zerstreut und er sich nach Italien eingeschifft habe. Der genannte Marcus Silanus war immerhin 15 n. Chr. Konsul und wurde 34 n. Chr. der erste Schwiegervater des späteren Kaisers Caligula. Aus dieser Verbindung ließen sich wohl mancherlei Spekulationen über die Hintermänner der um den falschen Drusus bestehenden Verschwörung 8 9

Sueton, Cäsarenleben, Tiberius Kap. 53 Die Geschichte des falschen Drusus erzählt Tacitus, Annalen, Buch 5, Kapitel 10

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gegen Tiberius anstellen. Aber Tacitus, dem wir hauptsächlich die Kenntnis dieser ganzen Affäre verdanken, schreibt nur lakonisch: „Weiter habe ich über den Anfang und den Ausgang dieser Sache nichts vernommen.“ Der mehr als hundert Jahre nach Tacitus schreibende Historiker Cassius Dio setzt das Auftreten des falschen Drusus in Griechenland und Kleinasien allerdings in das Jahr 34 n. Chr., also nach dem Ende des echten Prinzen, und bemerkt, der junge Mann habe viel Aufsehen erregt, sei aber verhaftet und zu Kaiser Tiberius gebracht worden10 Aufgrund dieser insgesamt etwas dürftigen Quellenlage lassen sich nur mehr oder minder begründete Vermutungen über die Hintergründe der Affäre aufstellen. So wurde angenommen, gegen Tiberius opponierende Kreise, Freunde der älteren Agrippina und ihrer Familie, hätten den Prätendenten ins Spiel gebracht, um die Öffentlichkeit wieder einmal auf das Schicksal der unglücklichen Prinzen Nero, Drusus und ihrer Mutter aufmerksam zu machen oder Kaiser Tiberius deren Beliebtheit vorzuführen. Ganz anders dagegen argumentiert C. J. Tuplin. Nach ihm wurde der falsche Drusus von niemand anders als dem allmächtigen Günstling des Tiberius, dem Prätorianerpräfekten Seian, lanciert. Seian habe Tiberius mit dieser Intrige vollends gegen die Germanicus-Familie aufbringen wollen und auch Marcus Silanus, der ihr wahrscheinlich schon durch die Verlobung seiner Tochter mit Gaius-Caligula nahe stand, mitverderben wollen, indem er seine Marionette auch als dessen Sohn firmieren ließ.11 Mit dem Regierungsantritt des Gaius, bekannter unter seinem Beinamen Caligula, schien das göttlich-augusteische Blut, auf das die stolze Agrippina sich so entschieden berufen hatte, endlich 37 n. Chr. zur Herrschaft gelangt. Durch seine Mutter Agrippina und Großmutter Julia war Caligula ein leiblicher Urenkel des Augustus. Aber der junge Herrscher verfiel dem Caesarenwahnsinn und wurde 41 n. Chr ermordet. An seine Stelle trat – eine Verlegenheitslösung - sein Onkel Claudius, Bruder seines Vaters Germanicus, der nicht einmal wie sein Oheim Tiberius und sein Bruder wenigstens durch Adoption in die heilige Familie des Augustus aufgenommen worden war. Da Claudius bereits einen Sohn, Britannicus, besaß, schien damit die leibliche Nachkommenschaft des vergöttlichten Augustus endgültig aus der Herrschaft verdrängt. Aber es gab sie noch. Noch lebte die jüngere Agrippina, Schwester des Caligula, ebenso ahnenstolz und machtbegierig wie ihre Mutter. Und sie hatte aus der Ehe mit dem 40 n. Chr. verstorbenen Cn. Domitius Ahenobarbus einen Sohn Lucius, der jetzt der einzi-

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Cassius Dio, Römische Geschichte, Buch 58, Kapitel 25, 1. Zu den Hypothesen um den falschen Drusus: Tuplin (1987) besonders ab S. 787: sowohl Tuplin als auch die von ihm erwähnten Vertreter der Agrippina-These gehen davon aus, dass der falsche Drusus, wie bei Tacitus bezeugt, im Jahre 31 n. Chr. auftrat, halten also die Datierung bei Cassius Dio für unzuverlässig.

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ge männliche Sprössling göttlich- augusteischen Blutes war. Für Agrippina, und nicht nur für sie, war dieser Junge der legitime Anwärter auf die Herrschaft. Protegiert von einer ihren Ambitionen günstig gesinnten Hofclique brachte es Agrippina dahin, die vierte Gemahlin ihres Onkels väterlicherseits Claudius zu werden, der dann auf ihr Betreiben den jungen Lucius unter dem Namen Nero adoptierte und ihn mit seiner Tochter Octavia verheiratete. Britannicus wurde zur Seite gedrängt und der letzte noch lebende männliche Spross des Augustus, Nero, trat 54 die Nachfolge des Claudius an. Der junge Kaiser verfiel wie sein Onkel Caligula dem Caesarenwahn und entwickelte sich zu einem Monster, das nicht einmal vor der Ermordung des Adoptivbruders, der Mutter und der Gattin zurückschreckte. Nachdem sich die Heere in Gallien, Germanien und Spanien 68 gegen ihn erhoben und schließlich sogar die Prätorianergarde in Rom von ihm abfiel, beging er bekanntlich Selbstmord. Ein Sohn Caligulas? – (ymphidius Sabinus12 Während man in Rom auf das Eintreffen des in Spanien zum Kaiser proklamierten und vom Senat als solchen anerkannten Servius Sulpicius Galba wartete, spielte sich der von Nero abgefallene Präfekt der Prätorianergarde Gaius Nymphidius Sabinus als Herrn der Stadt auf. Er riss Neros gewaltiges Privatvermögen an sich und nahm den Kastraten Sporus, den Lustknaben Neros, zur Frau. Seinen Amtskollegen Tigillinus zwang er zum Rücktritt und verlangte von Galba, ihn als alleinigen Kommandeur der Garde zu bestätigen. Seinen Prätorianern versprach er im Namen Galbas großzügige Ehrengeschenke. Den greisen Kaiser, der aus einer der angesehensten Adelsfamilien Roms stammte, gedachte er anscheinend als seine Marionette zu gebrauchen. Er selber kam aus eher fragwürdigen Verhältnissen. Sein Großvater Callistus13 hatte es als Sklave, Freigelassener und Minister des kaiserlichen Haushalts zu unermesslichem Reichtum gebracht: das Atrium seines Palastes sollen nicht weniger als 30 Säulen aus reinem Onyx geziert haben. Callistus Tochter Nymphidia wurde eine der Mätressen des Caligula. Und so konnte ihr Sohn, der 12 13

Plutarch, Lebensbeschreibungen: Galba Kap. 8-9, 13-14, Nymphidius Nr. 5 in RE 17. 2, Stuttgart 1937, Sp. 1605 f. Zu (Gaius Julius) Callistus vor allem: Sigrid Mratschek-Halfmann, Divites et praepotentes. Reichtum und soziale Stellung in der Literatur der Prinzipatzeit, Historia Einzelschriften 70, Stuttgart 1993, S. 49, S. 157, 173, 295: sein Vermögen betrug 200 Millionen Sesterzen. Er war unter Kaiser Claudius als Minister-Sekretär „ a libellis“ für die Bearbeitung der Bittschriften an den Kaiser zuständig. Mit seinen Kollegen, den Freigelassenen Narcissus und Pallas, bildete er die eigentliche „Reichsregierung“. Er starb um 52 n. Chr.

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unter Nero zum Prätorianerpräfekten aufstieg, das Gerücht verbreiten, er sei ein Sohn dieses Caesaren. Als Galba, noch nicht einmal in Rom angekommen, ihm wider Erwarten einen seiner eigenen Leute als Kollegen an die Seite setzte und sich weigerte, den Prätorianern die angeblich versprochenen Antrittsgeschenke auszuzahlen, witterte Nymphidius seine Stellung als mächtigster Mann des Reiches in Gefahr. Er entschloss sich zur Flucht nach vorn. Seine Abstammung von Caligula – und damit von Augustus -, an die er vielleicht selbst glaubte, schien ihm das Recht zu geben, nach der Herrschaft zu greifen. Er ließ sich von einem seiner vornehmen Freunde eine Ansprache an die Prätorianer entwerfen, mit der er sie anstacheln wollte, von dem greisen Geizhals Galba abzufallen und ihn selbst zum Herrscher auszurufen. Inzwischen aber hatte ein redlicher Offizier der Garde, der von den Absichten seines Chefs wusste, die Prätorianer vor einem solchen Unternehmen gewarnt, ihnen die Intrigen des Nymphidius beim Sturz Neros vorgehalten, Galbas edle Abkunft als Verwandten der Livia, der Gemahlin des Augustus, in Erinnerung gerufen und seine Mannen so von jeden Putschgelüsten abgebracht. Nymphidius erfuhr bei seiner Ankunft im Prätorianerlager von diesem Stimmungswechsel und spielte sich, um seine Haut zu retten, als treuen Anhänger Galbas auf. Es nutzte ihm nichts, sein Redekonzept wurde entdeckt, man erhob die Schwerter gegen ihn, vergeblich versuchte er zu fliehen. Seine Leiche wurde, umgeben von einem Gitter, auf einem öffentlichen Platze zur Schau gestellt. Von seinen Prätentionen, aus kaiserlichem Blut zu stammen, war nicht mehr die Rede. Jetzt erzählte man sich, er sei der Sohn des Gladiators Martianus gewesen, dem sich seine sittenlose Mutter hingegeben hätte. Diesem Fechter soll Nymphidius wie aus dem Gesicht geschnitten gewesen sein Der dreifach wiedergekehrte (ero 1936 erschien im Amsterdamer Querido-Verlag für deutsche Exilliteratur ein historischer Roman des jüdischen Erfolgsautors Lion Feuchtwanger: „Der falsche Nero“. Der Roman fand großen Anklang, denn man sah darin eine Satire auf die Machthaber des Dritten Reiches. Heinrich Mann schrieb dem Verfasser „ein großartiges Buch. Mir geht im Kopf eine Betrachtung um, die heißen würde: Feuchtwanger und der Weltruhm.“14 Zum Inhalt des Romans: Der als ehemaliger Günstling Neros aus dem römischen Senat ausgestoßene Lebemann Varro hat sich im Nahen Osten privatim riesige Reichtümer und großes Ansehen erworben. Vergrätzt wegen seiner Verbannung aus Rom und wegen Steuerforderungen des römischen Fiskus, be14

Zitiert nach Gisela Lütig, „Zu diesem Buch“ in: Feuchtwanger S. 363

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schließt er, dem römischen Statthalter in Syrien, vielleicht sogar dem jetzt regierenden Kaiser Vespasian, möglichst großes Ungemach zu bereiten. Unter seinen Klienten, die ihm in die Verbannung gefolgt sind, befindet sich der Inhaber einer Töpferei-Manufaktur, Terenz, der schon vor Jahren in Rom wegen seiner Ähnlichkeit mit Nero Aufsehen erregt hat. Nero selbst hat sein Amusement daran gefunden. Terenz teilt auch Neros Vorliebe für Gesang und Kitharaspiel. Varro gaukelt diesem Tropf nun vor, er halte ihn tatsächlich für den echten Nero, der, um seine Haut zu retten, in die Rolle des Töpfers geschlüpft sei. Anstelle des Kaisers habe man dann in Rom seinen Doppelgänger in den Tod getrieben. Terenz, der gerne schauspielert, lässt sich zögerlich aber geschmeichelt auf die Nero-Rolle ein. Varro verschafft ihm einen prächtigen Hofstaat, gibt ihm seine Tochter Marcia zur Frau und überzeugt damit die Priester und Kleinkönige an der Ostgrenze des Reiches von der Echtheit des falschen Nero, sogar ein Anwärter auf den parthischen Königsthron im Iran und Mesopotamien wird halbwegs für die Sache gewonnen. Hilfreich dabei sind der listiggerissene Knop, ein ehemaliger Sklave des Töpfers, und der von Varro umgarnte Haudegen Trebon, Kommandeur der römischen „Schutztruppe“ in einem der östlichen Kleinfürstentümer. Es gelingt den Verschwörern, die syrische Stadt Apameia zu überrumpeln. Jetzt verwandelt sich der bis dahin eher verunsicherte Terenz allmählich. Mehr und mehr beginnt er an seine Auserwähltheit zu glauben, an sein Charisma, das „Fran“, wie Feuchtwanger es nennt. Terenz gewinnt Kraft aus einsamen Meditationen in einer abgelegenen Höhle, wo er mit Fledermäusen mystische Zwiesprache hält. In Kumpanei mit dem findigen Knop und dem gewalttätigen Trebon als Anführer einer Schlägertruppe, die sich „die Rächer Neros“ nennt, errichtet er ein blutiges Schreckensregiment in Apameia. Um Terenz-Nero wird ein ins Lächerliche umkippender Personenkult getrieben. Ein monumentales Felsrelief verherrlicht ihn zusammen mit einer Riesenfledermaus. Die Drahtzieher der ersten Stunde, Varro, die Fürsten und Priester werden zur Seite geschoben. Doch die Herrlichkeit dauert nicht lange: wirtschaftliche Schwierigkeiten, Streitigkeiten zwischen Terenz, Knop und Trebon, der Abfall der zurückgesetzten Fürsten, eine drohende ernsthafte Intervention Roms und die persönliche Hohlheit und Nichtswürdigkeit des falschen Nero, die insbesondere bei der Konfrontation mit dem Mystiker-Asketen Johannes von Patmos zutage tritt, treiben das ganze Unternehmen dem Zusammenbruch entgegen. Akte, die frühere Geliebte des echten Nero, aus Rom angereist, weigert sich nach einigem Schwanken, Terenz zu unterstützen. Dieser flieht vor der sich anbahnenden Katastrophe an den parthischen Königshof. Dort wird er auf Betreiben Varros noch eine Zeit lang als kaiserlicher Gast behandelt, aber schließlich einem Freundschafts-und Handelsvertrag mit Rom geopfert und ausgeliefert. Nach grausamen Verspottungen wird er mit seinen Spießgesellen Knop und Trebon in der syrischen Pro-

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vinzhauptstadt Antiochia gekreuzigt. Akte bittet sich seine Asche aus, um sie in der Gruft des echten Nero beizusetzen. Varro taucht als Bettelmönch unter. Es kann hier natürlich nicht weiter untersucht werden, inwieweit Feuchtwanger mit Terenz, Knop und Trebon eine Charakteranalyse Hitlers, Goebbels oder Görings gelungen ist, oder ob seine Schilderung des Terroregimes in Apameia die Wirklichkeit der hitlerischen Diktatur erfasst. Vielmehr soll im Weiteren auf den geschichtlichen Hintergrund des Romans eingegangen werden. Feuchtwanger selbst verweist am Ende seines Werkes in einem kurzen Absatz mit der Überschrift „Nachrichten über einen falschen Nero“ auf seine historischen Quellen: Tacitus, Sueton, Zonaras und Xiphilinos, die letzteren nach Auszügen aus Cassius Dio, zudem auf die neutestamentliche Apokalypse und das vierte Buch der Sibyllen.15 Diese Quellen berichten nun aber überraschenderweise gleich von drei verschiedenen falschen Neros. 16Das Auftauchen einer ganzen Serie solcher Gestalten scheint allerdings zunächst unerklärlich und phantastisch. Denn: wer außer einem todeslüsternen Vabanquespieler konnte das Bedürfnis haben, in die Rolle eines allseits verfemten Monstrums zu schlüpfen und ein ganzes Weltreich herauszufordern? Und waren nicht die Überreste des so schmählich untergegangenen echten Nero in aller Öffentlichkeit in der Grablegung der Domitier, der Familie seines leiblichen Vaters, bestattet worden? Und dennoch tauchte, so berichtet Tacitus17, im Frühjahr des Jahres 69 in Griechenland ein Sänger und Lyra – oder Zitherspieler auf, von dem das Gerücht ging, es handele sich um den aus Rom entkommenen Nero. Die Griechen kannten Nero, denn dieser hatte sich in den Jahren 66-67 in dem griechischen Heimatland aller Musen auf einer sogenannten „Kunstreise“ in zahlreichen Auftritten im Rahmen der griechischen Festspiele in Olympia, Delphi und Korinth und anderen Orten vor jubelnden Massen als Dichter, Sänger und Lyraspieler feiern lassen. Jetzt verblüffte der Hochstapler durch seine Ähnlichkeit mit dem gestürzten Herrscher ein sensationsgieriges Publikum. Er sammelte einen Schwarm von Abenteurern um sich, die er mit großzügigen Versprechungen köderte. Es gelang ihm, ein Schiff auszurüsten, mit dem er nach Ägypten oder Syrien aufbrechen wollte. Ein Sturm verschlug ihn auf die Kykladeninsel Kythnos in der Ägäis. Dort lagerten gerade Soldaten der römischen Ostlegionen, Veteranen und Urlauber auf dem Weg in ihre italienische Heimat. Einige gewann der falsche Nero für sich, andere ließ er von seinen Anhängern niederhauen. Auch bewaff15 16 17

Genaueres zu diesen antiken Quellen, insbesondere zur Apokalypse und den Sibyllen bei Champlin S. 10-17 Zusammenfassend zu den drei falschen Neros: Pappano passim, ebenso Tuplin 1989: dort besonders Datierungsfragen Tacitus, Historien, Buch 2, Kap. 8-9

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nete er Sklaven, die zu ihm entliefen. Piraterei auf vorbeifahrende Handelsschiffe verschafften ihm die Mittel zur Entlohnung seiner Leute. Aber Sisenna, ein römischer Centurio, den er zu umgarnen suchte und der wahrscheinlich als erfahrener Kriegsmann seine bunt zusammengewürfelten Trupps drillen sollte, entwischte von der Insel. Sisenna, so ist anzunehmen, alarmierte kurzerhand den nächst greifbaren römischen Befehlshaber. Es handelte sich um Calpurnius Asprenas, den Neros Nachfolger Galba zum Statthalter von Teilen Kleinasiens ernannt hatte, und der nun auf dem Weg dahin mit zwei Schnellkreuzern Kythnos anfuhr. Der falsche Nero lud die Kapitäne dieser Dreiruderer auf sein Schiff ein, appellierte an ihre Treue zum göttlichen Blut des Augustus und erhielt auch die Zusage, sie wollten sich mit ihren Mannschaften beraten. Sie kamen auch mit ihren Leuten zurück, allerdings nur, um auf Befehl des Asprenas das Schiff des falschen Nero zu entern. Der Schwindler wurde im Handgemenge getötet18. „Sein Kopf“, berichtet Tacitus, „bemerkenswert durch die Augen, die Haarfarbe und den unheimlichen Ausdruck, wurde nach Asien und von da nach Rom gebracht.“ – Selbstverständlich, um öffentlich ausgestellt zu werden. Es hieß nun, der Betrüger sei ein entlaufener Sklave aus der PontosRegion am Schwarzen Meer gewesen, oder ein Freigelassener aus Italien. Wie war der vorübergehende Erfolg dieses geheimnisvollen Mannes, von dem die Geschichtsschreibung seiner Zeit nicht einmal den richtigen Namen überliefert, zu erklären? Vielleicht gibt die von ihm für seinen Auftritt gewählte Bühne einen Hinweis – Griechenland. Die Griechen nämlich verehrten Nero. Seine Vorliebe für ihre musischen Traditionen, seine „Kunstreise“ an ihre heiligen Stätten, im Jahre 69 noch frisch in aller Erinnerung, hatte ihnen geschmeichelt. Auch hatte er formell den Griechen ihre alten Freiheiten zurückgegeben und das großartige Projekt eines Kanals durch den Isthmus von Korinth in die Wege leiten wollen.19 Im Übrigen aber war es in Rom selbst, was das Andenken Neros betraf, bereits zu einem Stimmungsumschwung gekommen. Der römische Pöbel und die Prätorianer hatten die Darbietungen und Feste Neros, seine Großzügigkeit, durchaus genossen. Auch der glänzende Wiederaufbau der Stadt nach dem verheerenden Brande im Sommer 64 hatte seine Popularität noch gesteigert. Seine Terrorakte hatten sich gegen Hof-und Adelskreise und die beim Volk verrufene Sekte der Christen gerichtet, die breiten Massen aber kaum berührt. Bald suchten Leute aus dem einfachen Volk das Domitiergrab auf, um dort Blumen und Kränze niederzulegen. Schon während der kurzlebigen Nachfolgeregime der Kaiser Otho und Vitellius war es zu einer Art amtlichen Rehabilitation Neros 18

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Tuplin 1989 deutet gestützt auf Formulierungen in anderen Quellen (Cassius Dio und Zonaras) die Möglichkeit an, der falsche Nero sei nach dem Kampf hingerichtet worden. Tuplin 1989 S. 391-93 zieht die Popularität Neros in der griechischen Welt eher in Zweifel.

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gekommen. Otho, selbst ein Vertrauter Neros, legte sich dessen Namen bei, und Vitellius veranstaltete eine Gedächtnisfeier für ihn.20Vor diesem Hintergrund ist das Auftreten des ersten falschen Nero nicht mehr ganz so unbegreiflich, wie es zunächst anmutet. Die Nero-Nostalgie nahm in den folgenden Jahren sogar noch zu, und so fühlte sich ein gewisser Terentius Maximus zur Zeit des Kaisers Titus (79-81) ermuntert, sich ebenfalls für Nero auszugeben.21 Terentius ähnelte Nero, auch war er wie dieser ein begeisterter Kitharaspieler. Er behauptete, 68 aus Rom entkommen zu sein. Er griff wohl auch auf einige alte Prophezeiungen zurück, die schon zu Lebzeiten Neros kursiert hatten und in verschlüsselter Form in die Sibyllinischen Bücher aufgenommen worden waren. Sie besagten, dass ein Herrscher in Rom (Nero?) zwar seinen Thron verlieren, aber aus dem Osten zurückkehren werde, um sein Reich wieder in Besitz zu nehmen.22 Terentius gewann so einigen Anhang in Kleinasien und schlug sich bis zum Euphrat durch. Dort nahm ihn der parthische Thronanwärter Artabanos IV. in seinen Schutz. Auch bei den Parthern war Nero in guter Erinnerung, denn er hatte im Jahre 66 einem parthischen Prinzen das umstrittene Armenien überlassen und ihn in einer prunkvollen Zeremonie in Rom eigenhändig gekrönt. Der König der Parther hatte noch 69 die Römer in einem Sendschreiben aufgefordert, das Andenken seines Freundes Nero in Ehren zu halten. Zusätzlich wollte der Thronbewerber Artabanos wohl Kaiser Titus Schwierigkeiten bereiten, da dieser ihm anscheinend die Anerkennung verweigerte. Fast wäre es wegen des Terentius, wie Tacitus andeutet, zu einem parthisch-römischen Krieg gekommen 23 : aber Artabanos konnte sich im parthischen Reich nicht durchsetzen, und Terentius wurde an Rom ausgeliefert und getötet. Ob es am parthischen Hof noch einen weiteren, also dritten falschen Nero24 gegeben hat, wird von heutigen Althisorikern kontrovers diskutiert. Ein Hinweis auf ihn findet sich in der Nero-Biographie Suetons, der erzählt, die Parther hätten in seiner eigenen Jugendzeit, zwanzig Jahre nach Neros Tod, also ca. 88, einen falschen Nero beherbergt. Er wurde wahrscheinlich später an die Römer

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Zu dem positiven Nero-Bild in der Antike: Jakob-Sonnabend, S. 168-176 Artikel Terentius Nr. 59 RE 2. Reihe Halbband 9, Stuttgart 1934 Sp. 666 Tuplin 1989 S. 397 datiert die entsprechenden Passagen im 4. Buch der Sibylle auf die Jahre 79/80. Die Möglichkeit, diese Orakel könnten Terentius inspiriert haben: ebd. S. 402 Tacitus, Historien, Buch 1 Kap. 2 Die wissenschaftliche Diskussion um den 3. falschen Nero bei Gallivan passim. Tuplin 1989 S. 372-82: vielfach wird angenommen, die antiken Quellen (Zonaras 11. 18 und Johannes von Antiochien fr. 104, Sueton) datierten Terentius Maximus falsch (79-81 oder 88). Aus den unterschiedlichen Daten dürfe man aber nicht auf einen dritten Nero schließen. Tuplin plädiert für einen dritten Nero. Er hält ihn (S. 386) für den gefährlichsten: Tacitus (vgl. Anm. 23) beziehe sich auf ihn.

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ausgeliefert.25 Aber vielleicht handelte es sich dabei immer noch um Terentius Maximus, der dann eben einige Jahre länger von den Parthern in Reserve gehalten worden wäre.26 Wie ersichtlich, diente das Schicksal des Terentius Maximus als Vorlage für den Roman Feuchtwangers, der die dürftigen Nachrichten der antiken Überlieferung phantasievoll zu einem historisch verkleideten Sittengemälde der NaziZeit anreicherte. Die Überlieferungen um die Wiederkehr Neros oder eines falschen Nero haben aber nicht nur den modernen Romancier inspiriert. Schon in der Antike bildete sich eine wahre Nero-Legende aus. In der christlichen Tradition, beginnend mit der Apokalypse des Johannes im ersten Jahrhundert bis hin zum Kirchenvater Augustinus im fünften Jahrhundert wurde Nero zu einem Vorläufer des kommenden Antichristen dämonisiert oder gar mit diesem identifiziert, also seine Wiederkehr für möglich gehalten. In jüdischen Legenden wird er oder einer seiner im Geheimen lebenden Nachkommen mit einem mysteriösen Herrscher aus dem Osten gleichgesetzt, der einst Schrecken und Verderben über Rom, das ihn verraten hat, bringen wird, auch als Gottes Vergeltung für die Zerstörung Jerusalems durch die Römer 70 n. Chr., denn Nero sei in den Osten entkommen und insgeheim Jude geworden. Als einer seiner Nachkommen wird im Talmud der große Rabbi Meir Baal Hanes, der „Erleuchtende Wundertäter“, erwähnt, der um 140 n. Chr wirkte und noch heute in Israel wie ein Heiliger verehrt wird.27 So wurde Nero, und dazu trugen nicht zuletzt die historischen falschen Neros bei, zum Urbild jener mythischen Gestalten, „von denen man glaubte, dass sie gar nicht gestorben wären, von denen man zuversichtlich erwartete, dass sie einige Zeit nach ihrem Verschwinden wieder erscheinen würden, und die zurückkämen, um die etablierte Ordnung umzuwerfen“, wie Edward Champlin in seiner 2003 erschienen Nero-Biographie resumiert.28 Für das römische Imperium aber war mit dem Sturz des echten Nero ein für allemal geklärt, dass das Kaisertum nicht an das Geblüt des vergöttlichten Augustus gebunden war. Vielmehr wurde es als eine Art Amt betrachtet, über dessen Vergabe theoretisch der römische Senat im Auftrag des Volkes entschied. Ein Erbrecht gab es also nicht. Jeder aus irgendeinem Grunde qualifizierte Mann konnte seine Legitimierung als Herrscher durch den Senat erlangen bzw. er25 26

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Sueton, Cäsarenleben, Nero Kap. 57 Nach Tuplin 1989, S. 382 Anm. 69 erwog der Althistoriker Syme diese Möglichkeit. Damit wären die verschiedenen Zeitangaben für die „parthischen“ Neros bei den antiken Autoren entschuldigt. Syme hält auch einen vierten.falschen Nero im Zusammenhang mit jüdischen Unruhen 116-17 für möglich: Tuplin ebd. Anm. 67. Zu Nero als Antichrist Blumental Anmerkung S. 18, zu Nero als jüdischem Proselyten ebd. S. 19, Bodinger S. 38 zur Verbindung Nero-Rabbi Meir Champlin S. 10 (übersetzt von Verf.)

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zwingen. Für Aspiranten auf die höchste Gewalt war es daher nicht mehr notwendig, sich als verschwundene und wiedergekehrte Prinzen auszugeben, und so blieb denn das römische Reich in den nächsten Jahrhunderten von derartigen Prätendenten verschont- abgesehen von kleineren Nachspielen.29 So erklärte sich im Rahmen des Aufstandes einiger germanischer und gallischer Stämme, die 69-70 unter der Führung des Batavers Julius Civilis die römischen Thronkämpfe nach dem Tode Neros ausnutzen wollten, um ein von Rom unabhängiges Reich zu gründen, der Lingone (Gaius?) Julius Sabinus zu einem Urenkel des großen Caesar. Er beabsichtigte, Trier zur Hauptstadt seiner zukünftigen Herrschaft zu erheben. Nach Niederlagen gegen den romtreuen Nachbarstamm der Sequaner zündete er sein Landgut an. Man glaubte, er und die Seinen seien in dem Brand umgekommen. Er versteckte sich jedoch mit seiner Frau Petronilla (bei Tacitus: Epponina, bei Plutarch: Eponima) in einem unterirdischen Gewölbe. Hier soll er neun Jahre überlebt haben. Seine Frau schenkte ihm sogar noch Zwillingssöhne. Nach seiner Entdeckung wurden er und seine Familie nach Rom vor Kaiser Vespasian gebracht. Vergebens flehte Petronilla den Kaiser um Gnade an. Sie wurde mit ihrem Gatten 79 hingerichtet. Die Söhne wurden verschont. Einer fiel später in Ägypten, ein anderer lebte in Delphi. Unter der Regierung des Kaisers Commodus täuschte der hochverdiente Condianus Sextus (Sextus Quin(c)tilius Condianus) Konsul des Jahres 180, seinen Tod bei einem Reitunfall vor, um der Ungnade des tyrannischen Herrschers zuvorzukommen. Der Betrug flog auf. Im ganzen Reich wurde nach dem Untergetauchten gesucht. Einige Statthalter versuchten, sich bei Commodus einzuschmeicheln, indem sie die Köpfe vermeintlich entdeckter Condiani nach Rom schickten. Nach der Ermordung des Commodus (192 n. Chr.) trat ein Hochstapler auf, der sich für den überlebenden Condianus ausgab und dessen Güter beanspruchte. Kaiser Pertinax entlarvte den Betrüger aufgrund mangelnder Griechischkenntnisse. Der echte Condianus hatte diese Sprache fließend beherrscht.

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Zu ihnen am ausführlichsten Cassius Dio, Buch 66, Kap. 3 und 16 (Sabinus), Buch 72 (Condianus Sextus) und Buch 79, 18 Kap. (Alexander). Dio stellt den geheimnisvollen Alexanderzug in den Zusammenhang mit der Erhebung von Elagabals Vetter Bassianus zum Adoptivsohn und Thronfolger des Kaisers unter dem Namen „Alexander“ im Jahre 221. Zu Sabinus auch Tacitus, Historien, Buch 4, Kap. 55 und 67. Tacitus erwähnt noch die Hochstapelei eines Sklaven namens Geta, der sich im Mai 69 für Scribonianus Camerinus aus der berühmten Adelsfamilie der Crassi ausgab. Camerinus hatte sich zur Zeit Neros in Istrien verborgen gehalten, wo seine Familie große Güter besaß. Er war ein Neffe des von Kaiser Galba als Nachfolger adoptierten L. Calpurnius Piso Frugi, der mit Galba im Januar 69 ermordet worden war. Geta sammelte allerlei Pöbel um sich, auch Soldaten. Sein ehemaliger Herr demaskierte ihn. Kaiser Vitellius ließ ihn kreuzigen. War Geta von einer noch vorhandenen Galba-Piso-Partei der Crassi als Versuchsfigur vorgeschoben? Immerhin spricht Tacitus von einem „bedrohlichen Anfang.“

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Inwieweit der Fall des falschen Condianus politische Hintergründe hatte oder nur eine rein kriminelle Hochstapelei darstellte, bleibt unklar. Vollkommen mysteriös war unter Kaiser Elagabal (218-222) das Auftauchen eines Mannes, der sich für den wieder erschienen Alexander d. Gr. ausgab, dem er außerordentlich glich. Er zog mit einem bacchantischen Gefolge von 400 Mann, Thyrsosschwinger, in Hirschkalbfelle gehüllt, von der Donau durch Thrakien, setzte nach Kleinasien über, hielt dort feierliche Opfer ab, vergrub ein hölzernes Pferd – und verschwand. Die Behörden griffen nicht ein, ja in vielen Gemeinden erhielt dieser falsche Alexander sogar (auf einen Wink aus Rom?) offizielle Gastfreundschaft..

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IV. Fragwürdige Merowinger im Frankenreich Der weitere Hintergrund: Auf den Trümmern des (west)römischen Reiches entstanden im Laufe der großen Völkerwanderung zwischen 400 und 570 n. Chr. eine Anzahl germanischer Königreiche. Von längerer Dauer und größerer Bedeutung waren jedoch nur das Westgotenreich in Spanien, das Langobardenreich in Teilen Italiens und vor allem das Frankenreich, das im Wesentlichen das heutige Frankreich, die Rheinlande und Süddeutschland umfasste. Daneben existierte immer noch das oströmisch-byzantinische Reich, das sich im 6. Jahrhundert. nochmals anschickte, die Römerherrschaft in ihrer ganzen ehemaligen Ausdehnung wiederherzustellen: >ordwestafrika, Teile Spaniens, vor allem aber große Gebiete in Italien selbst wurden tatsächlich zeitweilig zurück gewonnen. Auch die alte römische Provinz Gallien, das Reich der Franken, blieb im Blickfeld der Kaiser in Konstantinopel. Im Frankenreich regierte die Dynastie der Merowinger. Diese Herrscherfamilie hatte mit dem Reichsgründer Chlodwig zwar um 500 den christlichkatholischen Glauben der unterworfenen gallorömischen Bevölkerung ihres Reiches angenommen, doch überlebten heidnisch-germanische Vorstellungen insbesondere bei dem herrschenden Volk der Franken noch lange Zeit diesen Glaubenswechsel. Sie rankten sich vor allem um die Königsfamilie. Dem Blut der Merowinger schrieb man eine glücksbringende Kraft zu. Dieses Königsheil manifestierte sich in allen männlichen Sprösslingen der Familie, als ihr äußeres Zeichen galt das langwallende Haar der königlichen Abkömmlinge. Jeder Königssohn war zur Heilsbringerschaft und Herrschaft berufen. Je mehr Könige, desto mehr Heil für das Reich. Daraus ergaben sich allerdings in der Praxis dauernde Reichsteilungen, Gebietsstreitereien, Bruderkriege und letztlich chaotische Verhältnisse, die allmählich den Ruin der Dynastie herbeiführten. Die „Großen“ des Reiches nutzten die Zerwürfnisse innerhalb der Herrscherfamilie weidlich aus, um Politik auf eigene Faust zu treiben. >ur unter diesen Gegebenheiten ist das Schicksal einer der rätselhaftesten Gestalten der fränkischen Geschichte verständlich: des verstoßenen oder falschen Merowingers Gundowald. Gundowald Der Merowingerkönig Childebert (I.), Herr vor allem über die Gebiete zwischen Seine und Loire, mag nicht schlecht überrascht gewesen sein, als eine ihm unbekannte Frau ihn um Schutz für ihren Sohn Gundowald anging. Der dem Herrscher vorgestellte Knabe oder Jüngling, wohlerzogen und in allen Wissenschaften ausgebildet, trug das lange Haar der merowingischen Königssöhne, und seine Mutter behauptete denn auch, er sei ein Sohn von Childeberts Bruder, König Chlothars (I.), der zu dieser Zeit den Nordosten des Frankenreiches regierte.

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Chlothar, so erzählte die Frau, habe diesen Sohn ignoriert, und so bitte sie Childebert, sich seines Neffen und Blutsverwandten an Vaters statt anzunehmen. Als Zeuginnen für die königliche Abstammung benannte die Mutter des Knaben die Gemahlin König Chlothars, die inzwischen wie eine Nonne heiligmäßig lebende Königin Radegunde, und andere vornehme Damen (ca. 555/558). Chlothar erfuhr von diesem merkwürdigen Auftritt. Er bat seinen Bruder Childebert um die Übergabe des Knaben, musterte diesen genau und kam zum Schluss: „Den habe ich nicht gezeugt.“ 1 Erstaunlicherweise begnügte sich Chlothar aber damit, dem Jungen die königliche Haarpracht abscheren zu lassen. Andere Knaben, die ihm ungelegen waren, die Söhne etwa seines verstorbenen Bruders Chlodomar, hatte er eigenhändig umgebracht, um an ihr Erbteil zu kommen. Der fromme Bischof und Geschichtsschreiber Gregor von Tours, dem wir unsere Kenntnisse über Gundowalds Schicksale verdanken 2 , berichtet nichts über dessen Aufenthalt in den nächsten Jahren. Erst nach dem Tode Chlothars 561, der am Ende seines Lebens nocheinmal das ganze Frankenreich zusammengeerbt hatte, taucht Gundowald, jetzt wieder in königlichem Haarschmuck, am Hofe von dessen Sohn Charibert auf – der übrigens das ehemalige Reich seines söhnelosen Onkels Childebert zugeteilt bekommen hatte. Freilich schickte Charibert den angeblichen Prinzen dann zu seinem jüngeren Bruder Sigibert, der im Osten des Frankenreichs regierte. Sigibert ließ den so arg herumgestoßenen jungen Mann erneut scheren und verbannte ihn nach Köln. Dort durfte Gundowald sich bei der Ausmalung von Bethäusern betätigen, ob als Künstler oder bloßer Anstreicher, bleibt unklar. Danach aber nahm Gundowalds Leben eine phantastische Wendung. Es gelang ihm, aus Köln zu entkommen. Er ging nach Italien, gewann dort das Vertrauen des oströmisch-byzantinischen Feldherren Narses, heiratete, zeugte zwei Söhne und übersiedelte nach dem Tode seiner Frau schließlich an den kaiserlichen Hof in Konstantinopel. Dort entdeckte ihn nach vielen Jahren, etwa um 580, eine fränkische Gesandtschaft und berichtete in der Heimat von seiner Existenz.3 Im Frankenreich hatte sich inzwischen folgende politische Situation entwickelt. Die drei überlebenden anerkannten Söhne Chlothars (I.), in Gundowalds Verständnis seine Halbbrüder, hatten sich das von ihrem Vater nochmals vereinte Frankenreich und dann das Teilreich ihres 567 früh verstorbenen ältesten Bruders Charibert geteilt: Guntram(n) regierte Burgund, Chilperich (I.) erhielt Nordfrankreich (Neustrien), Sigibert (I.) den Osten (Austrasien). Alle drei besaßen aus dem Erbe Chariberts Gebiete in Südwestfrankreich und anderen Streubesitz. Sigibert war 575 ermordet worden, sein Reich wurde danach im Namen 1 2 3

Gregor von Tours, Fränkische Geschichte, Buch 6, Kapitel 24 Gregor von Tours, Fränkische Geschichte, Buch 6, Kapitel 24-26, Buch 7, Kapitel 10, 11, 14, 26-28 und 30-39, Buch 9,Kapitel 28 und 32. Dies vermutet Ewig 1984, S. 33

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seines Söhnchens Childebert (II.) von einer Adelsklique regiert, der es gelungen war, die Mutter des unmündigen Königs, die ehrgeizige Königin Brunichilde, etwa 581 aus der Regentschaft zu verdrängen. König Guntram war über die Entmachtung des königlichen Hauses in Austrasien erbost – er hatte Childebert (II.) adoptiert – und war auch über seinen Bruder Chilperich aufgebracht, der die Gelegenheit wahrgenommen hatte, seinem unmündigen Neffen Childebert (II.) einige Gebiete zu entreißen. König Guntram hatte sich also den Adel im Osten des Frankenreiches und seinen Bruder Chilperich zu Feinden gemacht und außerdem noch den oströmisch-byzantinischen Hof verärgert, weil er die Langobarden im Kampf um Italien gegen Byzanz unterstützte. Dies also die politischen Konstellationen, als die aus Konstantinopel zurückkehrende Gesandtschaft König Chilperichs von der Existenz Gundowalds zu berichten wusste. Die im Ostteil des Frankenreichs, in „Austrasien“, tonangebende Adelskoterie holte darauf zu einem Schlag gegen den ungeliebten Guntram(n) aus. Als ihr Abgesandter reiste der Herzog oder „Dux“, Guntram(n) Boso, ein in Intrigen aller Art bewährter Mann, nach Konstantinopel, um Gundowald heimzuholen und gegen König Guntram(n) auszuspielen4. Kaiser Tiberios II. Konstantinos, ebenfalls gegen König Guntram eingenommen, rüstete Gundowald mit Schiffen und beträchtlichen Mengen an Gold und Silber aus. Gundowald landete im Herbst 582 in Marseille – das zur Hälfte König Guntram, zur anderen Hälfte zu Austrasien gehörte. Der dortige Bischof Theodorus empfing auf Anweisung der austrasischen Großen den Thronanwärter mit feierlichem Pomp und stattete ihn zum Weiterzug nach Avignon aus, wohin die Schätze Gundowalds vorausgeschickt wurden. In Avignon nahm sie der Herzog oder Dux Eunius (Aeonius) Mummolus in Empfang, der soeben von König Guntram abgefallen war. Auf dem Weg nach Avignon muss Gundowald jedoch erfahren haben, dass Guntram Boso und die austrasischen Großen das Unternehmen gegen König Guntram abgeblasen hatten. Über ihre Gründe kann nur spekuliert werden. Vielleicht hatten es ihnen die Schätze Gundowalds angetan, die sich Guntram Boso und Mummolus teilten, nach verwickelten Kämpfen gegeneinander. Auch gab es 583 einen Volksaufstand gegen die regierende Adelsclique in Austrasien, hinter dem die ehrgeizige Königinmutter Brunichilde vermutet wird. Gundowalds Helfer waren also plötzlich von ihm abgefallen oder entmachtet worden. Gundowald war klug genug, sich für einige Zeit auf eine Insel vor der ProvenceKüste zurückzuziehen. Guntram Boso stritt jetzt vor König Guntram frech jede Beteiligung an der Gundowald-Unternehmung ab, auch hatte er sich schon vor-

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Goffart S. 94 nimmt an, Guntram Boso habe Gundowald schon am Hofe Chariberts kennengelernt. Grahn-Hoek S. 234 deutet an, dass nicht Guntram Boso, sondern Bischof Egidius von Reims der Hauptbetreiber des „Projektes Gundowald“ gewesen sein könnte.

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her gegen Bischof Theodoros, den er als Hauptschuldigen anschwärzte, und Mummolus gewandt. Ende 584 tauchte Gundowald wieder auf. Erneute Unruhen im Frankenreich ermunterten ihn, seine Erbansprüche nochmals ins Spiel zu bringen. König Chilperich war ermordet worden. Er hinterließ als Erben nur ein eben geborenes Söhnchen, den späteren König Chlothar II. Seine Witwe Fredegunde stellte sich und den Säugling unter den Schutz ihres Schwagers Guntram. Das wiederum passte einigen adligen Herren ihres Reiches nicht, die wohl gerne selbst die Regentschaft für den kleinen Chlothar an sich gerissen hätten. Auch fürchteten sie, Guntram könne als Vormund seiner Neffen Childebert (II.) und Chlothar (II.) und damit in Wirklichkeit Herr über das gesamte Frankenreich die in Verfall geratene königliche Autorität allzu stark restaurieren. 5 Einer dieser großen Herren, der Herzog oder Dux Desiderius von Toulouse, ergriff die Initiative gegen Guntram. Er überfiel in der Gegend von Toulouse den Brautzug, der die Tochter Chilperichs und Fredegundes, Rigunthe, nach Spanien geleitete und bemächtigte sich ihres reichen Brautschatzes. Er nahm Verbindung zu Mummolus in Avignon auf, bei dem sich inzwischen auch Gundowald wieder eingefunden hatte. Die drei schlugen sich in die Gegend von Limoges durch. Ihre vereinten Schätze verschafften ihnen genügend Zulauf. Im heutigen Brives-la-Gaillarde, nahe bei Limoges, wurde Gundowald von den Gefolgsleuten der beiden Herzoge nach alter fränkischer Sitte zum König ausgerufen, d.h. auf ein Schild gehoben und unter jubelnden Zurufen umhergetragen. Bei der dritten Runde durch die Menge wäre er allerdings beinahe vom Schild gestürzt, ein schlechtes Omen. Es schloss sich ein traditioneller Umritt des frisch gekürten Königs durch den Südwesten Frankreichs an. Die Bewohner der Städte und Ortschaften, auf die Childebert (II.) von Austrasien (aus dem Erbe Chariberts) Anspruch erheben konnte, ließ Gundowald auf diesen vereidigen, (gab es geheime Verbindungen zu Childebert bzw. dessen Mutter Brunichilde? 6 ) alle übrigen Gebiete, also die von Guntram oder Chilperich bzw. Chlothar II. beanspruchten, nahm er für sich selbst in Besitz. So gelangte er über Angoulȇme und Perigueux nach Toulouse und von da wieder nach Norden gewandt bis Bordeaux. Er gab seinem Anhang zu verstehen, dass er bis Paris vorstoßen wolle. Eine Reihe von Bischöfen, darunter Sagittarius von Gap und Bertram von Bordeaux7, ein Graf Waddo (von Saintes, Hausmeier der beraubten Rigunthe) und 5 6 7

Ewig 1988 S. 47 spricht von einer über alle Teilreiche vernetzte Adelsverschwörung gegen die königliche Autorität Ewig 1952 S. 684-85 Zu der Rolle von Bischöfen in der Gundowald-Affäre: Georg Scheibelreiter, Der Bischof in merowingischer Zeit, Wien-Köln-Graz 1983, S. 42, 116 f., 162. Der kriegerische Bischof Sagittarius, dem Gundowald das Bistum Toulouse versprach, verließ sogar seinen bischöflichen Stuhl in Gap, um dem Prätendenten in den Kampf zu folgen. Nach Schneider S. 104 hatte ihn aber bereits König Guntram 579 als Bischof von Gap

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ein Herzog Bladast aus der Gascogne schlossen sich ihm an. Auf seinem Zug, mit dem er sich die Herrschaft über die Gebiete zwischen der Dordogne und den Pyrenäen sicherte, kam es zu einigen bemerkenswerten Zwischenfällen. Der Bischof von Toulouse, der an Gundowalds Tafel Zweifel an dessen Abstammung andeutete, wurde von Mummolus und Desiderius mit Ohrfeigen und Fußtritten übel zugerichtet. In Bordeaux brach Mummolus mit List und Gewalt in das Haus eines syrischen Kaufmanns ein, um einen dort verwahrten Knochensplitter des Hl. Sergius zu rauben. Die Wunderkraft der Reliquie sollte Gundowald zum Sieg über ein inzwischen von König Guntram aufgebotenes Heer verhelfen. Nach Meinung des frommen Gregor von Tours leitete der freche Diebstahl jedoch eher das Ende Gundowalds ein, als göttliche Strafe für den Frevel. Unterhändler, die Gundowald an seinen „Bruder“ –wie er ihn nannte Guntram schickte, um eine gütliche Einigung zu erreichen, wurden in Fesseln gelegt und gefoltert, obwohl Gundowald sie mit geweihten Botenstäben ausgestattet hatte, die ihnen nach herkömmlichen Brauch Unverletzlichkeit garantierten. Guntram führte die Misshandelten zur Abschreckung auch seinem Neffen Childebert vor: dessen Mutter Brunichilde stand, wie erwähnt, wahrscheinlich im Verdacht, geheime Fühler zu Gundowald ausgestreckt zu haben. Für Guntram war und blieb Gundowald, wie er seinem Neffen deutlich machte, ein hergelaufener Müller- oder Wollkämmersohn, mit dem zu verhandeln unter jeder Würde sei. Hinter der ganzen Affäre stecke, so Guntram, die Absicht, das Frankenreich unter den Einfluss der Byzantiner zu bringen.8 Vor der heranrückenden Armee des unerbittlichen Guntram brachte sich Gundowald in die Festungsstadt St. Bertrand de Comminges in Sicherheit. Mit den dort angehäuften Vorräten hätte er der nun beginnenden Belagerung durch Guntrams Heerführer Leudegisil lange stand halten können. Den Verhöhnungen der Belagerer, die ihn als einen mehrfach geschorenen Betrüger und Anstreicher „Ballomer“ (was wohl ein „falsches Stück Vieh“9 meinte) verspotteten, antwortete er von der Stadtmauer herab mit einer würdigen Verteidigungsrede. Er sei aus Konstantinopel zurückgekehrt, da er erfahren habe, dass die Fortdauer des königlichen Geschlechts der Merowinger nur noch auf der Existenz zweier unmündiger Knaben – Childebert (II.) und Chlothar (II.) - beruhe, denn König Guntram habe keine Söhne. Er sei von allen Großen Austrasiens gerufen worden. „Erkennt hieraus, dass ich ein König bin, so gut wie mein Bruder Guntram. Wenn aber euer Gemüt mit bitterem Hass gegen mich erfüllt ist, so führt mich wenigstens zu eurem Könige, und erkennt er mich nur als seinen Bruder an, so

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absetzen lassen. Die bischöflichen Anhänger Gundowalds 1582 und 1584 aufgelistet ebenda S. 103, 105. Zur Rolle der Byzantiner in der Gundowald – Geschichte: Ewig 1984 S. 30-41 und Goffart S. 91-105, 114. Schneider S. 108, Anm. 234

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tue er, was ihm beliebt. Ist euch aber auch dies nicht genehm, so erlaubt mir, dahin zurückzukehren, von wo ich kam…“10 Vielleicht aber war es diese Rede, die einige von Gundowalds Gefolgsleuten an seinem unbedingten Durchhaltewillen zweifeln ließ. Sie begannen darüber nachzudenken, wie sie gegebenenfalls ihre eigene Haut retten könnten. Herzog Desiderius hatte sich schon vor einiger Zeit von Gundowald getrennt. Jetzt schlich sich Herzog Bladast heimlich davon. Mummolus, dessen Familie König Guntram in Geiselhaft genommen hatte, trat im Einverständnis mit Waddo und Bischof Sagittarius in geheime Verhandlungen mit den Belagerern ein. Er versprach, Gundowald in ihre Hände zu spielen. Diesem log er vor, er habe zwar Verbindungen mit Leudegisils Leuten aufgenommen, aber nur, um von diesen das Versprechen zu erhalten, Gundowald würde, wie es seinem Wunsch entspräche, mit sicherem Geleit zu König Guntram geführt. Dieser habe seine Meinung über Gundowald geändert „da ja so wenige von eurem Geschlecht übrig seien.“11 Gundowald witterte zwar Verrat, da Mummolos ihm anriet, ein goldenes Wehrgehänge, das dieser ihm verehrt hatte, zum Zeichen seiner Bescheidenheit abzulegen, ließ sich aber doch vor das Stadttor führen, das der Verräter eiligst hinter ihm schloss. Gundowald durchschaute jetzt den Betrug, rief mit lauter Stimme Gott als Rächer seiner Unschuld an, widersetzte sich aber seiner Abführung durch Leudegisils Schergen nicht weiter. Ein Graf Ollo stieß mit dem Ruf „Sehet das ist euer Ballomer, der sich rühmt eines Königs Bruder und Sohn zu sein“12 den Unglücklichen einen Abhang hinab, und als dieser sich wieder aufrichten wollte, zerschmetterte ein Steinwurf seinen Kopf. Seine Leiche wurde ins Lager geschleift, Haarlocken und Bart wurden abgerissen, die Reste unbegraben liegen gelassen. König Guntram ließ später Mummolus und Bischof Sagittarius töten, Desiderius, der noch rechtzeitig von Gundowald abgefallen war, wurde begnadigt, Waddo entfloh und kam in einer Privatfehde um, was aus Bladast wurde, ist unbekannt. Bischof Bertram von Bordeaux und ein paar andere Bischöfe, die Gundowald ebenfalls unterstützt hatten, kamen mit einer Strafpredigt Guntrams davon. Bischof Bertram war mütterlicherseits ein Vetter des Königs. Wer war aber Gundowald – Ballomer wirklich? Es kann als sicher angenommen werden, dass Gundowald selbst an seine königliche Abstammung glaubte. 13 Auch unser Gewährsmann Gregor von Tours, obwohl ein Lobredner König Guntrams, deutet an, dass man Gundowald für einen echten Merowinger halten könnte. So leitet er die Erzählung von dessen Ende mit der Schilderung von bösen Vorzeichen ein: solche Omina kündigen in Gregors Frankengeschichte sonst 10 11 12 13

Gregor von Tours, Buch 7, Kapitel 36 Gregor von Tours, Buch 7, Kapitel 38 ebenda Zu Gundowalds möglicher „Echtheit“ und seinen romanischen Beziehungen: GrahnHoeck S. 232-34.

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nur den – oft gewaltsamen – Tod eines echten Herrschers an.14 Die Aufnahme, die Gundowald bei Childebert (I.), bei Charibert, bei Narses und in Konstantinopel fand, weist darauf hin, dass es sich bei ihm um keinen gewöhnlichen Betrüger handeln konnte. Zumindest war seine Persönlichkeit außergewöhnlich. Dafür sprechen auch die Hinweise auf seine gute Erziehung und Bildung, die für den bloßen Sohn eines Müllers oder Wollkämmers doch erstaunlich wirken. König Chlothar, Gundowalds angeblicher Vater, stand im Ruf, ein ausschweifendes Leben zu führen, es ist also nicht unwahrscheinlich, dass Gundowald aus einer außerehelichen Liaison des Königs stammte. Auch ein gewisser Herzog Rauching von Soissons, 587 in einer gescheitertenVerschwörung gegen das Leben König Childeberts (II.) umgekommen, rühmte sich, ein Sohn Chlothars zu sein und forderte ein Herrschaftsgebiet in der Champagne für sich. 15 Falls Gundowald tatsächlich ein natürlicher Sohn Chlothars gewesen sein sollte, ist allerdings schwer erklärlich, warum dieser ihn so hart verleugnete. Bastarde waren keine Schande für einen Merowingerkönig, und die von Chlothar anerkannten Söhne Charibert, Guntram, Sigibert, Chilperich stammten von niedrig geborenen Müttern, vielleicht sogar ehemaligen Sklavinnen. Möglicherweise aber war Gundowalds Mutter keine Fränkin. Die feine Bildung, die sie ihrem Sohn angedeihen ließ, lässt vermuten, dass sie eine Gallorömerin aus gutem Hause war. Auch der Anklang, den Gundowald in Italien, Konstantinopel und bei der gallorömischen Geistlichkeit fand, kann aus seiner zu vermutenden teils gallorömischen Herkunft erklärt werden. Einer seiner wichtigsten Helfer, Mummolus, war ein Romane, vielleicht auch Desiderius. Einen halben Gallorömer mit vielleicht auch noch künstlerischen Neigungen seinen Franken als erbberechtigten Königssohn zu präsentieren, wollte Chlothar aber wohl nicht wagen. In diesen Zusammenhang würde sich auch leicht einfügen lassen, dass Gundowald seine größten Erfolge 584-85 in Aquitanien, dem damals noch weitgehend römisch oder romanisch geprägten Südwesten des Frankenreiches hatte. Nicht alle Angehörigen des Königshauses lehnten, wie bereits erwähnt, Gundowalds Ansprüche strikt ab. Childebert (I.) und Charibert, beide ohne Söhne, spielten vielleicht sogar mit dem Gedanken, den angeblichen Neffen bzw. Bruder zum Erben ihrer Reiche zu machen. Königin Fredegunde soll 585 versucht haben, geheime Botschaften an Gundowald zu richten. König Guntram verdächtigte auch seine andere Schwägerin, Brunichilde, solcher Kontakte. 16 Noch Jahre später, 589, schenkte er dem Gerücht Glauben, Brunichilde wolle sich mit einem Sohn Gundowalds vermählen. Die Königin musste sich mit einem feierlichen Eid gegen diese Unterstellung wehren.

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So argumentiert Hellmann S. 36 Ewig 1988 S. 80, Schneider S. 109 Zu den Kontakten Fredegundes und Brunichildes mit Gundowald: Ewig 1952 S. 685

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Gundowalds Söhne waren demnach der Katastrophe ihres Vaters entgangen und haben anscheinend im Westgotenreich Zuflucht gefunden. Die Intrigen und Kämpfe, die sich um das Auftreten Gundowalds ranken, offenbarten, wie weit das Machtgefüge des Merowingerreiches sich bereits in chaotischer Zersetzung aufzulösen drohte. An die Stelle geordneter Zustände unter straffer Führung durch die königliche Dynastie trat eine Art Adelsanarchie. Kein Wunder, dass auch nach Gundowald noch falsche Thronaspiranten zu verzeichnen sind.17 Der schattenhafte dritte Chlodwig Von einem falschen Merowinger, der unter dem Namen Chlodwig III. und als angeblicher Sohn des 673 verstorbenen echten Königs Chlothar III. lanciert wurde, berichtet allerdings nur die Lebensbeschreibung des heiligen Bischofs Leodegar von Autun.18 Andere Quellen, die sowieso für diese Zeit nur sehr dürftig fließen, schweigen über diesen Thronbewerber. Dafür gibt die Vita St. Leodegari ein überaus dramatisches Bild des Zeitgeschehens, in das der angebliche Königssproß verwickelt war. Unabhängig von der Person des falschen Chlodwig lässt sich im Zusammenhang mit seinem Erscheinen eine Art politisches Sittengemälde seiner Zeit entwickeln. Um 670 hatten die Merowingerkönige die reale Macht schon längst an den Adel in den mittlerweile als politische Einheiten stabilisierten fränkischen Teilreichen Neustrien (Nordfrankreich), Burgund und Austrasien (östliche Gebiete) verloren. Zu „Hausmeiern“ (Regenten) emporgestiegene Adlige führten selbstherrlich die Geschäfte anstelle der unmündigen oder unfähigen Könige. Freilich blieb der Glaube an das Königsheil der Merowinger bei den Franken immer noch ungebrochen. Jeder Machthaber war gezwungen, wollte er Anerkennung finden, seine Herrschaft im Namen eines Abkömmlings dieser Dynastie auszuüben.

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Auch einige als legitim geltende Merowinger könnten untergeschoben worden sein. König Guntram schöpfte Verdacht, sein Neffe Chlothar (II:), dessen Taufpate er werden sollte, sei nicht Sohn seines Bruders Chilperich, weil man die anberaumte Taufe dauernd verschob und ihm das Kind nicht zeigen wollte. Königinwitwe Fredegunde, drei Bischöfe und 300 Adlige leisteten aber einen Eid auf die Echtheit Chlothars. (Gregor von Tours, Buch 8, Kapitel 9) Von König Theudebert II., der 595-612 in Austrasien regierte, behauptete seine Großmutter Brunichilde, er sei der Sohn eines Gärtners. Theudeberts Bruder Theuderich, König in Burgund, machte sich diese Version zu eigen. Er rottete die Familie seines Bruders 612 aus. (Fredegar, Kapitel 27 und 38.) Die „Passio Leudegarii“ ins Englische übersetzt und kommentiert bei Fouracre, dort die Diskussion um den falschen Chlodwig III. S. 235-43, bes. Anm. 167, 170, 196. Vgl. Vita S. Leudegarii, Kap. 8 zu „Chlodwig III.“, auch Schneider S. 167-68

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Die Machtkämpfe der Adligen drehten sich deshalb vor allem auch um die Frage, wem es gelingen würde, sich eines echten Merowingers zu versichern: um 670 waren diese Heilsträger aber bereits sehr rar geworden. Nach dem Tode Chlothars III. von Neustrien und Burgund 673 gab es nur noch drei solch kostbarer Jünglinge. So einen Vetter Chlothars III., Dagobert II., der aber ausfiel, weil er ins irische Klosterexil abgeschoben worden war, und die beiden jüngeren Brüder Chlothars, Childerich II., der nominell bereits in Austrasien auf dem Thron saß, und Theoderich (III.). Dieser lebte in Neustrien und befand sich in der Hand des Hausmeiers Ebroin, der schon den verstorbenen Chlothar gelenkt hatte. Gegner Ebroins, geschart um den Bischof und Stadtherrn von Autun, Leodegar, riefen die Austrasier zu Hilfe, besiegten Ebroin, schickten ihn in Klosterhaft nach Luxeuil und schoren seinen Schattenkönig Theoderich. Der so thronunfähig gemachte König wurde ins Kloster St. Denis bei Paris gesteckt. Sein Bruder Childerich II. wurde zum Herrscher des Gesamtreiches ausgerufen. Der undankbare Childerich verbannte Leodegar jedoch ebenfalls ins Kloster Luxeuil, wo dieser vorübergehend Freundschaft mit Ebroin schloss. Sie sollte nicht lange dauern. Nach der Ermordung Childerichs II. 675 brachen die beiden gemeinsam aus ihrer Klosterhaft aus, aber dann trennten sich ihre Wege. Leodegar bemächtigte sich des einzigen verfügbaren Merowingers Theoderich in St. Denis, dessen Haar wohl inzwischen wieder nachgewachsen war. Ebroin hatte das Nachsehen. Er wusste sich zu helfen. Er zauberte in Austrasien, wohin ihn seine Flucht aus Luxeuil geführt hatte, einfach einen angeblichen Sohn Chlothars III. hervor, den er unter dem Namen Chlodwig (III.) zum König ausrief. Möglicherweise hatten ihm austrasische Adlige hier vorgearbeitet, da sie keine Lust verspürten, sich der um Theoderich (III.) gescharten neustrisch-burgundischen Koterie Leodegars unterzuordnen. Wer den Thronansprüchen des so plötzlich aufgetauchten Knaben Chlodwig skeptisch gegenüberstand, sollte durch das von Ebroin ausgestreute Gerücht, Theoderich (III.) sei längst verstorben, für die Sache gewonnen werden. Im Namen Chlodwigs zog Ebroin nun gegen die neustrischburgundischen Machthaber ins Feld. Einige seiner Leute, alte Feinde Bischof Leodegars, schickte er zur Belagerung von Autun vor, wo sich Leodegar allen Aufforderungen zum Trotz weigerte, dem falschen Chlodwig zu huldigen. Leodegar lieferte sich freiwillig seinen Feinden aus, um seiner geliebten Stadt weitere Belagerung und Plünderung zu ersparen. Man durchbohrte ihm die Augen und verstümmelte seine Lippen und Zunge. An Ebroin ausgeliefert wurde er vorerst zu ewiger Klosterhaft begnadigt, in der er Augenlicht und Sprache wundersamerweise wiedergewann. Jahre später wurde er aber der Mitwisserschaft an der Ermordung Childerichs ( II.) angeklagt und hingerichtet. Während sein Freund-Feind Leodegar diese Martyrien durchlitt, verfolgte Ebroin die um Theoderich gescharten Mannschaften quer durch Neustrien bis

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zur Kanalküste. Ihr Rückzug artete in wilde Flucht aus. Sie ließen die königlichen Schätze unterwegs liegen und vergaßen zuletzt sogar, den armen Theoderich weiter mit sich zu schleppen. Im heutigen Städtchen Crécy en Ponthieu bemächtigte sich Ebroin des Verlassenen. Im Besitz dieses echt königlichen Unterpfandes ließ er den falschen Chlodwig sofort fallen. Über dessen Schicksal ist nichts weiter bekannt. Mit dem Wechsel Ebroins zu Theoderich III. mussten sich jedoch seine und des falschen Chlodwig austrasische Anhänger leicht geprellt vorkommen. Sie beharrten zwar ebenfalls nicht mehr auf der Kandidatur des falschen Chlodwig, aber es gelang ihnen, einen noch besseren Trumpf auszuspielen, nämlich den im irisch-englischen Exil lebenden echten Merowinger Dagobert II. Er wurde mit Hilfe des Erzbischofs Wilfried von York aus seiner Verbannung zurückgeholt und in Austrasien auf den Thron gesetzt. Damit waren weitere anarchische Kämpfe angesagt, deren Schilderung dann doch allzuweit vom Thema der falschen Merowinger abführen würde… Merowinger dunkler Herkunft Der Wechsel Ebroins zu Theoderich, die Berufung Dagoberts aus fernen Landen beweisen aber doch, wie stark selbst bei den gewalttätigsten Machthabern dieser Zeit noch der Mythos des echten merowingischen Blutes wirkte. Er blieb selbst dann noch erhalten, als es der arnulfingisch-karolingischen Familie als Erbhausmeister gelang, das Reich nach ihren Vorstellungen neu zu ordnen. Auch sie mussten sich noch lange Jahrzehnte dem volkstümlichen Glauben an das Königsheil der „langhaarigen Könige“ beugen und formell irgendeinem Merowinger huldigen, den sie freilich nach eigener Auswahl auf den Thron setzten. Es können Zweifel angemeldet werden, ob ihnen (oder ihren Gegnern)immer wirklich echte Merowinger zur Verfügung standen.19 So wurde 715 ein etwa 45jähriger Mönch namens Daniel unter dem Namen Chilperich II. auf den Thron gesetzt, als Sohn des 675 ermordeten Childerichs. Mit Childerich II. war damals auch seine schwangere Frau Bilichild erschlagen worden: „was schmerzlich zu sagen ist“, wie eine Chronik aus dieser Zeit anmerkt.20 Das könnte als Hinweis darauf gedeutet werden, mit der Ermordung der Schwangeren sei der Stamm Childerichs ausgelöscht worden. 21 Übrigens war dieser merkwürdige Mönch Daniel zunächst von Rivalen der austrasischen Karolinger in Neustrien ins Spiel gebracht worden. Die Karolinger übernahmen ihn, nachdem ihr eigener Thronkandidat Chlothar IV. (717-7l8/19.) verstorben war. Die Echtheit dieses 19 20 21

Koch, S. 81-82, 86 Fortsetzer Fredegars (Die Taten der Frankenkönige), Kapitel 45 Nach Bund S. 343 wäre dieser Daniel- Chilperich nach der Ermordung seiner Eltern und seines älteren Bruders Dagobert von Dagobert II. (676-79) als Knabe ins Kloster gesteckt worden.

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Chlothars, angeblich ein Sohn Theoderichs III., ist ebenfalls umstritten22 . All dies bezeugt, wie schwierig es war, noch echtes Merowingerblut zu finden. Dass die Karolinger 737-43 den Thron unbesetzt ließen, wird zwar für gewöhnlich als Vorspiel ihrer eigenen Thronbesteigung interpretiert. Vielleicht aber fehlte es auch an zweifelsfreien merowingischen Kandidaten. Rätselhaft ist jedenfalls die Herkunft des letzten MerowingerSchattenkönigs Childerich III., den schließlich der Karolinger Pippin 751/2 absetzen und scheren ließ, „weil dieser (Childerich) fälschlich König genannt wurde“23, um selbst den fränkischen Thron zu besteigen. Childerich III. und sein Sohn Theuderich endeten beide als Mönche. Ließe sich das „fälschlich“ der Quelle nicht auch auf die Herkunft Childerichs beziehen? Gewöhnlich wird es auf die Machtlosigkeit des Königs hin interpretiert. Damit war das Haus der Merowinger zumindest im Mannesstamm endgültig erloschen. Aber der Mythos von der heilsbringenden Kraft ihres Blutes lebte fort, und so ist es nicht verwunderlich, dass immer wieder adlige Familien fiktive Nachkommen der Merowinger zu ihren Stammvätern erkoren. (achkommen der Merowinger? Schon im 9. Jahrhundert verfassten Mönche der Abtei Fontenelle das „Leben des Hl. Wandregisel“, in dem sie nebenbei die Abstammung der Karolinger von einer Tochter Blithilde des Merowingerkönigs Chlothar II. behaupteten, deren Existenz vorher nirgends erwähnt wird. Die Karolinger selbst haben sich einer solchen Abstammung zwar nicht gerühmt, doch mochte ihnen die Erfindung der frommen Mönche schmeicheln. Immerhin hatte schon Karl der Große für seine Sprösslinge auf eindeutig merowingische Namen zurückgegriffen wie Ludwig (Chlodwig) oder Lothar (Chlothar) und damit nicht verschmäht, eine Art Ansippung an das alte Königsgeschlecht anzudeuten. Sehr bezweifelt wird die gelegentlich vorgebrachte These, die erste Gemahlin des Hausmeiers Karl Martell, Chrotrud, also die Großmutter Karls d. Gr., sei eine Tochter des Merowingers Chlothar IV. gewesen.24 Eine wahre Flut merowingischen Blutes ergoss sich jedoch über den französischen Hochadel, als im 17. Jahrhundert die „Charta von Alaon“ auftauchte, eine lange Zeit verschwundene Urkunde des westfränkischen Königs Karls des Kahlen vom 21. Januar 845. Darin wurden zwei Söhne des Merowingers Charibert II. (regierte 630-32 in Südwestfrankreich - Aquitanien) erwähnt, von denen die späteren Herzöge von Aquitanien und Grafen von Lüttich abstammen sollten. Gestützt auf diese Urkunde konnten nun die Familien Gallard, Gramont, Montesquieu, La Rochefoucauld, Comminges und Lupé sich merowingischen Blutes 22 23 24

Erkens S. 461 Reichsannalen zum Jahre 750 Joch S. 52

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rühmen. Leider wurde die Charta im 19. Jahrhundert als eine Fälschung entlarvt.25 Ein Exkurs: zum Fantasy-Revival der Merowinger Noch 1962 hatte der österreichische Schriftsteller Heimito von Doderer in seinem Roman „Die Merowinger oder die totale Familie“ die blutrünstigverworrene Geschichte der Merowinger als Hintergrund für eine skurrile Farce über Wut und Gewalt in bürgerlichen Familien genutzt. Als Beispiel für solche Abgründe dienten Doderer der fiktive „letzte Merowinger des 20. Jahrhunderts“, der Brutalomacho Childerich III. von Bartenbruch und seine Sippe. Dem guten Andenken der spätantiken-mittelalterlichen Königsfamilie war diese Satire sicher nicht besonders förderlich. Die radikale Aufwertung der so schlecht beleumundeten Merowingerdynastie in der populärliterarischen und medialen Sphäre wurde aber bereits fünf Jahre später eingeleitet. Den Startschusss gab der Franzose Pierre Plantard, von Berufs wegen technischer Zeichner. Plantard, geboren 1920, war ein rühriger Mann, Gründer mehrerer Geheimbünde – von denen einige wohl nur in seiner Phantasie existierten – und Produzent einer Flut von Traktaten über verschwundene Schätze, mysteriöse Orden und dergleichen. Seine Erzählungen über eine „Prieuré de Sion“ genannte Templer-Geheimgesellschaft, angesiedelt in dem Burgstädtchen Rennes – le – Chȃteau am Nordrand der Pyrenäen und verfasst mit Hilfe des Journalisten Gérard de Sède, erregten einiges Aufsehen. In dieser vorgeblichen Enthüllungsschrift mit dem Titel „L’Or de Rennes“ („Das Gold von Rennes“, später: „Le Trésor Maudit“ – „Der verfluchte Schatz“), behauptete Plantard nichts Geringeres als der rechtmäßige König von Frankreich zu sein. Mit zahlreichen „Dokumenten“ aus dem französischen Nationalarchiv wies er seine Abstammung von dem Merowinger Dagobert II. nach: allerdings hatten Plantard und seine Gehilfen diese „Dokumente“ vorher dem Archiv untergejubelt. Plantards Geschichten faszinierten jedoch den BBC-Journalisten Henry Lincoln, der dann eine britische Fernsehserie über den geheimnisvollen Ort Rennes-le-Chȃteau drehte. Im Team mit dem Amerikaner Richard Leigh und dem Neuseeländer Michael Baigent, mit denen ihn das Interesse an der Geschichte der sagenumwobenen Templerritter zusammengeführt hatte, veröffentlichte er 1982 „Holy Blood Holy Grail“, ein Werk, in dem die Merowinger die denkbar höchste Rehabilitation erfuhren. Die drei Autoren konstruierten nichts Weniger als eine Blutsverbindung dieser Dynastie zu Jesus Christus und seiner angeblichen Geliebten oder Gemahlin Maria Magdalena. Die Templer und ihre im Verborgenen wirkenden Nachfolger in der Prieuré-Gemeinschaft hätten dieses Geheimnis bewahrt. Das Ziel der Prieuré sei heute, die Restauration der Je25

Von Jean François Rabanis (Les Mérovingiens d’Aquitaine. Essai historique et critique sur la Charte d’Alaon, Paris 1856)

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su-Merowingerdynastie als heilsbringende Herrscher über ein vereintes Europa zu erreichen. „Holy Blood Holy Grail“ verkaufte sich bis 2006 zweimillionenmal. Das Autorenteam ließ noch einige Folgewerke, darunter einen glänzend ausgestatteten Bild-Dokumentenband, vom Stapel. Sie bekamen noch Gesellschaft. Unter den zahlreichen Publizisten, die sich an ihren Erfolg anhängten, überragte alle der Amerikaner Dan Brown mit seinem Roman „The Da Vinci Code“, erschienen 2003, ein Bestseller, der in 44 Sprachen übersetzt wurde (deutsch 2004 mit dem Titel „Sakrileg“) und von dem allein bis 2006 fünfzig Millionen Exemplare über die Ladentische gingen. Die überaus erfolgreiche Verfilmung kam 2006 in die Kinos. Auch das Städtchen Rennes-le-Chȃteau profitierte. Jährlich machen sich hier etwa 100 000 Touristen auf die Spuren Maria Magdalenas, der „Prieuré de Sion“ und der Merowinger. Allerdings hat der letzte Merowinger Pierre Plantard noch vor seinem Ableben im Jahre 2000 durchschimmern lassen, nicht mehr an seiner Abstimmung von Dagobert II. und dessen (von ihm erfundenen) Sohn Sigibert IV. und Enkel Sigibert V. „le Plant d’Ard“, Ahnherren der Grafen von Razes, festhalten zu wollen. Leider ist Europa so wahrscheinlich endgültig um die Hoffnung auf seine Gesundung durch das merowingische Königsheil gebracht worden. Im Internet, aus dem die Informationen zu diesem Exkurs weitgehend stammen, blühen und gedeihen allerdings die Sagen um die erste Dynastie des Abendlandes ungehemmt weiter.

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V. Byzantinische Geschichten Einleitende Bemerkung: das oströmische oder byzantinische Reich, so genannt nach dem altgriechischen >amen „Byzanz“ für seine Hauptstadt Konstantinopel (heute: Istanbul), hatte sich 395 n. Chr. de facto, wenn auch nicht staatsrechtlich, endgültig von Westrom getrennt. Während das weströmische Reich in den Wirren der Völkerwanderung formell 476 n. Chr. unterging, bestand Byzanz weiter. Es beanspruchte, das Erbe des römischen Imperiums zu bewahren. In seiner langen Geschichte, die erst 1453 mit der Eroberung Konstantinopels durch die osmanischen Türken ein Ende fand, durchlief es mehrere Phasen von >iedergang und Wiederaufschwung. Zwar unterschied es sich vom alten Imperium durch das Übergewicht des Griechentums und seinen streng christlichorthodoxen Charakter, aber in vieler Hinsicht bewahrte es römische Traditionen. Dies galt insbesondere hinsichtlich der Thronfolgeregelung oder besser: >ichtregelung. Auch in Byzanz gab es keinen staatsrechtlich festgelegten Geblütsoder Erbanspruch auf den Thron. Wer immer sich der Akklamation des Volkes (vertreten durch das Heer oder die Zirkusparteien in der Hauptstadt), der im „Senat“ versammelten >otabeln und des Segens der Geistlichkeit (Krönung durch den Patriarchen von Konstantinopel seit dem 7. Jhd.) versichern konnte, galt als von Gott auserwählter Herrscher – solange, bis irgendein anderer Thronbewerber diese Voraussetzungen in seinem Sinne zu manipulieren wusste. Und dennoch: bei der einfachen Bevölkerung in Hauptstadt und Provinzen, bei den gewöhnlichen Soldaten und kleinen Beamten, entwickelte sich schon seit dem 4. Jahrhundert ein starkes Gefühl der Anhänglichkeit an die Familie des jeweiligen Kaisers, was den Intentionen der Herrscher sehr entgegenkam, die ihre Stellung aus den natürlichsten Gründen für ihre >achkommen zu sichern wünschten. Emporkömmlinge, die den Thron für sich gewannen, taten gut daran, sich dynastisch an ihre Vorgänger anzubinden, etwa durch Adoption und/oder Eheverbindungen. Sich als „purpurgeborener“ Prinz, d.h. als Sprössling eines früheren Throninhabers auszugeben, konnte mehr und mehr beim Wettbewerb um den Thron einen Vorteil bringen. Dies wurde schon früh genutzt. Seit dem 7. Jahrhundert traten Thronaspiranten auf, die sich als Abkömmlinge gestürzter Herrscher ausgaben. In den zur Verfügung stehenden Quellen werden diese ersten falschen „Porphyrogennetoi“ nur mit wenigen Sätzen gewürdigt. Bei der allgemeinen Dürftigkeit der Quellen für diese Zeit darf daraus allerdings nicht geschlossen werden, ihr Auftreten sei bedeutungslos gewesen.

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Der Fall Theodosios Im August des Jahres 583 geriet die Bevölkerung Konstantinopels aus dem Häuschen. Kaiserin Konstantina, Tochter Kaiser Tiberios (II.) und Gemahlin des regierenden Kaisers Maurikios, war mit einem gesunden Knaben niedergekommen. Es eröffnete sich damit die Möglichkeit, das Reich könne sich endlich wieder auf einen „purpurgeborenen“ Herrscher freuen. Das hatte man seit Theodosios II. (408-450), dem Sohn des Kaisers Arkadios, nicht mehr erlebt. Die Zirkusparteien der Grünen und Blauen stritten sofort um die Ehre, Paten des Neugeborenen zu werden. Die einen schlugen den Namen Justinian im Gedenken an die glorreiche Regierung dieses 565 verstorbenen großen Herrschers vor, die anderen drängten auf „Theodosios“, in Erinnerung eben an den letzten „purpurgeborenen“ Kaiser. Die Theodosios-Partei siegte. Der Hofdichter Evagrius wurde für sein Preislied auf den Neugeborenen mit konsularischen Ehren belohnt. Der päpstliche Gesandte in Byzanz (der spätere Papst Gregor I. d. Gr.) wurde einer der Taufpaten. Schon 590 wurde Theodosios die Kaiserkrone aufgesetzt, d.h. er wurde formell zum Nachfolger-Mitkaiser seines Vaters erhoben. Bei der Vermählung des inzwischen herangewachsenen „Porphyrogennetos“ (602) wurde Konstantinopel in einen achttägigen Festrausch versetzt. Er heiratete die Tochter eines „Patrizius“ (Patrikios war eine der höchsten Ehrentitel in Byzanz) Germanos, der wahrscheinlich aus der Verwandtschaft des großen Kaisers Justinian stammte. Endlich schien eine dauerhafte Dynastie etabliert, zumal Theodosios inzwischen noch eine ganze Reihe Geschwister erhalten hatte.1 Einige kurze Monate später endeten diese Hoffnungen in einem schauerlichen Blutbad. Der allzu streng und sparsam regierende Kaiser Maurikios war durch einen Soldatenaufstand unter dem General (oder Unteroffizier?) Phokas aus Konstantinopel vertrieben worden. Er wurde auf der Flucht aufgegriffen. Fünf seiner Söhne wurden vor seinen Augen abgeschlachtet, bevor auch ihn das Schwert des Henkers traf. Seinen ältesten Sohn hatte der fliehende Kaiser freilich nach Osten geschickt, um beim persischen Herrscher Chosrau II., mit dem Maurikios befreundet war, um Hilfe nachzusuchen. In seiner Bedrängnis aber hatte Maurikios Theodosios nach Praenetos (heute Karamüsel) zurückgerufen, ein kleines Städtchen auf der asiatischen Seite des Bosporus, wohin die kaiserliche Familie auf ihrer Flucht gelangt war. Dort eingetroffen stellte Theodosios fest, dass Vater und Brüder bereits nach Chalkedon, einem Ort gegenüber von Konstantinopel, zurückverschleppt und ermordet worden waren. Theodosios rettete sich in ein Kirchenasyl, wurde jedoch dort von einem gewissen Alexander, einem Mitverschwörer des Phokas, niedergemacht. Bald aber verbreitete sich 1

Zur Vorgeschichte des Falles Theodosios vgl. vor allem: Whitby und seine Kritik an den zeitgenössischen und späteren Hauptquellen Theophylakt Simocatta (Whitby 1988) und Theophanes Confessor (Whitby 1983 ). Auch Olster S. 15-68

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das Gerücht, Alexander habe, von dessen Schwiegervater Germanos bestochen, den um sein Leben flehenden Theodosios entkommen lassen und an seiner Stelle einen dem Verschonten ähnlich sehenden jungen Mann getötet. (Phokas ließ auf diesen Verdacht hin Alexander hinrichten. Alexander hatte tatsächlich versäumt, ihm den Kopf des Prinzen zu schicken.) Theodosios sei, so die weitere Fama, unerkannt durch die Städte des Ostens geirrt und vor Erschöpfung endlich umgekommen oder aber, wie eine spätere Sage wissen wollte, im Sinaikloster als heiligmäßig lebender Mönch untergetaucht.2 603 oder 604 verkündete entgegen diesen Vermutungen im nordsyrischen Edessa (heute: Urfa in der Türkei) ein gegen Phokas rebellierender General Narses, der vermisste Theodosios sei bei ihm aufgetaucht. Von den Truppen des Phokas belagert riefen Narses und dieser ominöse „Theodosios“ den persischen Großkönig zu Hilfe, und so geriet „Theodosios“ endlich an den Hof Chosraus II. Andere Quellen übergehen die Rolle des Narses und lassen den angeblichen Theodosios die alleinige Erfindung des persischen Großkönigs sein. Auf jeden Fall kapitulierte Narses vor den Truppen des Phokas, während König Chosrau den glücklich nach Persien geretteten „Theodosios“ von dem höchsten christlich-nestorianischen Geistlichen seines Reiches, dem „Katholikos“ Sabrisho ( amtierte 596-604), in der Stadt Nisibis (östlich von Edessa-Urfa) zum Kaiser krönen ließ. Der Katholikos hatte in früheren Jahren öfters zwischen Byzanz und dem Perserreich vermittelt und mit Kaiser Maurikios Heiligenreliquien ausgetauscht. Aber Chosrau ging noch weiter. Er forderte in einem Schreiben nach Konstantinopel die Byzantiner auf, seinen „Theodosios“ als ihren Herrscher anzuerkennen. Als er ohne Antwort blieb, eröffnete er als Rächer seines Freundes Maurikios – dieser hatte ihm vor Jahren zum persischen Thron verholfen – und zugunsten des Thronbewerbers Theodosios den Krieg gegen Byzanz. Der angebliche Theodosius wurde mit einem Kommando gegen die byzantinische Grenzfestung Dara bei Nisibis betraut, in der Hoffnung, die Besatzung würde ihn als ihren angestammten Kaiser anerkennen und überlaufen. Er blieb aber erfolglos. Chosrau musste Dara selbst erobern. Eine Verschwörung gegen Kaiser Phokas in Konstantinopel, an der sich die Exkaiserin Konstantina und der Schwiegervater Germanos des echten Theodosi2

Zum Überleben und der angeblichen Wiederkehr des Theodosios: Olster S. 69-92, Stratos Band 1, S.56-74, dort auch S. 56 eine Übersicht zu allen Quellen für den Fall Theodosios. Nach Stratos S. 55 gab es auch die Legende, bei dem Massaker an den Maurikios-Söhnen habe die Amme des jüngsten aus Anhänglichkeit an die kaiserliche Familie ihr eigenes Söhnchen den Henkern ausgeliefert, um den kaiserlichen Säugling zu retten. Der so gerettete Prinz habe sich später nach Sinai durchgeschlagen. Stratos (S. 74) selbst nimmt an, der echte Theodosios sei tatsächlich entkommen, aber wahrscheinlich im Elend geendet.

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os beteiligten, könnte von dem Auftauchen des Prätendenten mitinspiriert worden sein. Sie endete mit der Hinrichtung der beiden im Jahre 605. Zwar starb der ominöse „Theodosios“, den persisch-nestorianische Quellen als einen klugen und gebildeten jungen Fürsten preisen3, dann schon 606 (?), aber Chosrau setzte dennoch den Krieg fort, der Byzanz an den Rand des Untergangs brachte, bis Kaiser Herakleios nach dem Sturz des Phokas in langwierigen Kämpfen die Perser besiegte. Herakleios wurde Begründer einer neuen Dynastie (610-711). Sie endete mit Justininan II., der seinen Thron 695 verlor, aber 705-711 nochmals gewann. Auch nach dem Ende der Herakleios - Dynastie trat seltsamerweise ein angeblich dem Massaker der kaiserlichen Familie entkommener Prinz als Thronbewerber auf. Der Fall Tiberios Die Kaiser aus dem Hause des Herakleios retteten die Kerngebiete des Reiches, die Balkanländer und Kleinasien, vor dem Angriff der Perser, dann der Moslems, der Awaren. Bulgaren und Slawen und wurden so zu den eigentlichen Gründern des mittelalterlichen griechisch-byzantinischen Reiches. Als letzter Kaiser aus dieser Familie bestieg 685 Justinian II. den Thron, ein sechzehnjähriger Jüngling, jähzornig, arrogant, misstrauisch und sadistisch veranlagt. 695 wurde er gestürzt. Er wurde an Nase und Zunge verstümmelt und nach Cherson nahe der Krim verbannt. Dem „Rhinotmetos“ (dem „Schlitznasigen“) gelang es, ins Steppenreich der Chazaren zu entkommen. Der Khagan der Chazaren, Ibusir Gljawan, in byzantinischen Quellen Bouseros Gliabaros4 genannt, empfing Justinian mit allen Ehren, gab ihm seine Schwester zur Frau, die unter dem Namen Theodora getauft wurde, und versprach ihm wohl Unterstützung bei dem Versuch, seinen Thron wiederzugewinnen. In Konstantinopel regierte jedoch inzwischen Kaiser Tiberios (III.) Apsimaros (698-705). Dieser Herrscher witterte das Unheil, das sich im Norden zusammenbraute. Er trat in geheime Verhandlungen mit dem Khagan zur Auslieferung Justinians, tot oder lebendig, ein: und der Chazarenherrscher war durchaus bereit, die verführerischen Angebote aus Byzanz aufzugreifen. Justinian, von seiner Gemahlin gewarnt, floh jetzt zu den Bulgaren. Mit ihnen zog er 705 nach Konstantinopel, gelangte durch Wasserleitungsrohre mit seinen Leuten in die Stadt und bemächtigte sich wieder des Thrones. Die zweite Regierungszeit Justinians war, wie sich denken lässt, ein Racheund Schreckensregime. Ein gewisses politisches Geschick konnte man dem Wiedergekehrten dennoch nicht absprechen. Wenn es darauf ankam, wusste er 3 4

Goubert S. 96. Bei Goubert auch Angaben zu den orientalischen Quellen zum Fall Theodosios S. 95 f. Nach anderen Vermutungen war Bouserous nur ein Sohn oder Verwandter des Khagans

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seine Rachegelüste durchaus zu zügeln. Seinen treulosen Schwager, den Khagan, empfing er wahrscheinlich mit großem Pomp in Konstantinopel. Auf jeden Fall erhielt er seine geliebte chazarische Gattin samt dem Söhnchen Tiberios, das sie ihm inzwischen in der Ferne geboren hatte, zugeführt. Der kleine Halbchazar Tiberios wurde dem Volk als künftiger Kaiser vorgestellt und zusammen mit seiner Mutter 706 gekrönt. Kaum sechs Jahre alt durfte er den aus Rom zu Kirchenverhandlungen angereisten Papst Konstantin I. 710 – vorsichtshalber in Begleitung des Patriarchen von Konstantinopel – sieben Meilen vor der Stadtmauer mit großem Zeremoniell einholen. Vater Justinian befand sich in dringenden Geschäften gerade in Kleinasien. Während einer anderen Abwesenheit Justinians von Konstantinopel 711 wurde in Cherson ein Armenier, Bardanes, der sich Philippikos nannte, zum Gegenkaiser ausgerufen. Cherson hatte als ehemaliger Verbannungsort Justinians besonders unter dessem rachsüchtigen Terror gelitten. Philippikos zog, gestützt auf die Schwarzmeerflotte, kampflos in Konstantinopel ein5. Während Justinian nun nach Konstantinopel zurückeilte, spielten sich dort herzzerreißende Szenen ab. Die Kaiserinmutter Anastasia floh mit ihrem Enkel Tiberios vor den Schergen des Philippikos in ein Kirchenasyl am Blachernenpalast, behängte den Knaben mit Reliquien, drückte ihm einen Splitter des Hl. Kreuzes in die eine Hand und befahl ihm, sich mit der anderen am Altar festzuklammern. Vergebens. Die Verfolger entrissen dem Kind die Reliquien und zerrten es, um die Kirche nicht zu entweihen, auf die Schwelle des Gotteshauses, um es dort „wie ein Lamm abzuschlachten.“6 Justinian II. selbst wurde vor Konstantinopel gefangen genommen und enthauptet. Soweit die traurige Geschichte des echten Prinzen Tiberios und seines Vaters. Etwa 25 Jahre später – 737, in Byzanz regierte Kaiser Leon III (717-41) – trat im kleinasiatischen Pergamon nun ein junger Mann auf (syrische Quellen geben ihm den Namen Bescher/Baschir, Sohn eines Konstantin), der vorgab, Justinians Sohn Tiberios zu sein.7 Wahrscheinlich machte er seinem Publikum weis, die Schutz gewährenden Reliquien hätten ihn seinerzeit doch auf wunderbare Weise gerettet. Bei einem Plünderzug der Moslems geriet er in die Gefangenschaft des Emirs Soliman, eines Sohnes und Feldherrn des Kalifen Hischam. Von Soliman verhört, stritt der Gefangene zunächst, aus welchen Gründen auch immer, seine kaiserliche Herkunft ab, gestand sie aber zuletzt ein. Nach einer anderen Version handelte es sich um einen zum Islam konvertierten Christen,

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Zur Geschichte Justinians II.: Head 1970 Stratos, Band 5, S. 176 Eine der Hauptquellen zu Bescher-Tiberios neben Michael dem Syrer ist Theophanes Confessor, kritisch kommentiert bei Rochow S. 134, dort auch die weiteren Quellen angeführt.

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der von einem gewissen Theophantes als Kaisersohn propagiert, sich selbst bei den Moslems einfand8. Soliman, der sich in dauernden Grenzkämpfen mit Byzanz herumschlug, stattete den angeblichen Tiberios, um Kaiser Leon III. in Verlegenheit zu setzen, mit einem prächtigen Gefolge aus und sandte ihn an den Kalifenhof in Damaskus. Es wurden Botschafter ins byzantinische Reich eingeschleust, die die Wiederkehr des Tiberios verkündeten. Kaiser Leon zeigte sich beunruhigt.9 Leon befand sich zu dieser Zeit in schweren innen-und kirchenpolitischen Auseinandersetzungen, weil er in seinem Reich im sogenannten Bilderstreit streng gegen den volkstümlichen Ikonen-und Reliquienkult vorging. Kalif Hischam schickte seinen Schützling, wohl um ihn noch besser gegen den „irrgläubigen“ Leon ausspielen zu können, wie einige Quellen berichten, mit „Fahne und Szepter“ zum Gebet an die heiligen christlichen Stätten in Jerusalem und dann auf jeden Fall nach Edessa. Dort nahm der verwegene junge Mann in aller Öffentlichkeit in einer christlichen Kirche das Abendmahl mit eigener Hand vom Altar, um seinen apostelgleich-kaiserlichen und damit priesterlichen Rang zu demonstrieren. Er soll sich aber auch jüdische Gesänge angehört und von heidnischen Wahrsagern aus dem Leberorakel seine Zukunft deuten lassen haben. Seine religiöse Zuordnung bleibt demnach rätselhaft. Eine moderne Autorin10 glaubt in ihm einen „Athinganos“ ausmachen zu können, Angehörigen einer jüdisch-samaritanischen Sekte. Sie bringt ihn auch in Zusammenhang mit einem Juden, der den Vorgänger Hischams zu einem Bilderverbot für die christlichen Kirchen in Kalifenreich drängte und vielleicht später, zum Christentum konvertiert, zeitweilig als Berater Leons III. wirkte. Tatsächlich ist am Hofe Leons ein Patrikios „Beser“ nachweisbar, doch handelt es sich wahrscheinlich um eine zufällige Namensähnlichkeit zwischen dem Thronaspiranten und dem Patrikios. Es wird in den Quellen nur noch berichtet, dass der Betrug des falschen Tiberios später aufgedeckt und er selbst dann hingerichtet bzw. gekreuzigt worden sei. Ob dies bei den Moslems geschah , oder ob er in die Hände der Byzantiner fiel, bleibt unklar.

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Chronique de Michel de Syrie, ed. Chabot S. 503-504 So Michael der Syrer a.a. O. - Head 1972, meint allerdings: -„he (-Pseudo-Tiberios-) never posed a serious threat to Leo’s throne“ Patricia Crome S. 379

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Thomas der Slawe alias Konstantin VI. ?11 Nach den kurzlebigen Regimen, die nach dem Ende der Herakleios-Dynastie auftraten, begründete endlich Kaiser Leon III., gegen den der falsche Tiberios aufgestellt worden war, wieder stabile Verhältnisse. Er wurde zum Stammvater der sogenannten syrischen oder isaurischen Dynastie (717-802). Sie ging in den Machtkämpfen ihres letzten Sprösslings, Kaiser Konstantins VI. (780-797) mit seiner ehrgeizigen Mutter Irene unter. Konstantin VI. war 780 unmündig auf den Thron gekommen. Seine Mutter führte für ihn die Regentschaft, an der sie auch nach der Volljährigkeit ihres Sohnes festzuhalten versuchte. Da ihr Sohn sich durch wenig erfolgreiche Feldzüge gegen die Muslime im Osten und die Bulgaren im Westen und durch einen Scheidungsskandal diskreditiert hatte, wagte sie es, ihn im August 797 zu stürzen und blenden zu lassen. Es ist unklar, ob er unmittelbar an den Folgen dieser Grausamkeit verstarb oder noch einige Jahre in Haft überlebte. Irene, die erste im eigenen Namen regierende Frau in der römischbyzantinischen Kaiserfolge, wurde 802 selbst gestürzt. Sie starb 803. Den nachfolgenden Regenten gelang es nicht, neue Dynastien zu gründen. Erst Michael II. der Stotterer (820-29), der seinen Vorgänger und ehemaligen Kriegskameraden Leon V (813-20) Weihnachten 820 während des Gottesdienstes ermorden ließ, wurde zum Begründer einer neuen Herrscherfamilie. Gegen ihn erhob sich als Rächer Leons ein weiterer ehemaliger Kampfgenosse, Thomas der Slawe, der sich nun für den wiedergekehrten Konstantin VI. ausgab. 803 hatte ein Eremit in Philomelion den drei Kameraden Leon, Michael und Thomas geweissagt, dass zwei von ihnen den Thron besteigen, aber alle drei gekrönt würden. Ein für Thomas nach den Regierungsantritten Leons und Michaels rätselhafter Spruch. Thomas gewann die Armeen in Kleinasien für sich, versprach für die Armen einzutreten und die Korruption in Konstantinopel zu bekämpfen. Wahrscheinlich begünstigte er auch ethnische Minderheiten. Er schloss Frieden mit den Muslimen, die ins Reich eingefallen waren, und wurde mit Erlaubnis des Kalifen Mamun, der ihn auch sonst unterstützte, vom melkitischen Patriarchen Job von Antiochien, also auf muslimischen Hoheitsgebiet, zum Kaiser gekrönt. Er setzte mit 80 000 Mann nach Europa über, belagerte 821-23 Konstantinopel und konnte nur mit Hilfe der Bulgaren geschlagen werden. 823 von seinen eigenen Leuten in Arkadiopolis (heute Lüleburgaz in der europäischen Türkei) ausgeliefert, setzte Michael der Stotterer noch im Feldlager zeremoniell den Fuß auf seinen Nacken, ließ ihm Hände und Füße abhauen und auf einem Esel reitend dem Heere vorführen, wobei Thomas rufen musste: „Sei mir gnädig, Du der ein11

Zu Thomas allgemein: Köpstein passim, dort S. 63-65 die zeitnahen Quellen (Georgios Monomachos, Josephus Genesis, Theophanes Continuatus und der Brief Michaels II. an Kaiser Ludwig d. Frommen von 824) aufgeführt.

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zig wahre Kaiser.“ 12Nach einigen byzantinischen Quellen war Michael keineswegs gnädig, sondern gab den Befehl zur Pfählung seines ehemaligen Kameraden auf einer Lanze. Thomas Adoptivsohn Anastasios erlitt dasselbe Schicksal. Seltsamerweise gab sich, wie erwähnt, Thomas auch für den 797 geblendeten Konstantin VI. aus.13 Dies erscheint besonders befremdlich, da er schon 803 zusammen mit Leon dem Armenier und Michael dem Stotterer in eine Verschwörung gegen Kaiser Nikephoros I. (802-11) verwickelt war. Er war dann 803-bis 813 ins arabische Exil gegangen,14 hatte aber, unter Leo V. zurückgekehrt, ein Kommando in Kleinasien erhalten. Thomas der Slawe muss also seit langer Zeit in Byzanz allgemein bekannt, sogar prominent gewesen sein. Auch musste die Blendung Konstantins irgendwie wegerklärt werden, da Thomas keineswegs blind war. (Er hinkte allerdings, war aber sonst von ansehnlicher Statur, würdig grauem Haar, redegewandt und von nobler Haltung). Sein Auftreten als Konstantin bleibt mysteriös. Vielleicht trat er auch nur im Namen Konstantins auf15, oder, wie Michael der Syrer in seiner Chronik berichtet, als Sohn Konstantins. 16 In diesem Zusammenhang ist bedeutsam, dass Thomas seinen ersten Adoptivsohn „Konstantios“ nannte. Dieser Konstantios fiel schon 821 in die Hände seiner Feinde, wurde enthauptet, sein Kopf dann Kaiser Michael II. und von diesem dem Adoptivvater zugesandt. Allerdings versuchten auch die Kaiser Nikephoros I. (802-11), Staurakios (811) und Michael II. der Stotterer wenigstens durch Heiratsverbindungen (wie Thomas mit der Konstantin-Rolle) an die syrische (isaurische) Dynastie anzuknüpfen. Michael heiratete in zweiter Ehe eine Tochter Konstantins VI., die, ein Riesenskandal, aus dem Kloster geholt wurde. Vielleicht wollte Thomas ihn in der Rolle des wiedererstandenen Konstantin in dieser Hinsicht übertrumpfen.

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Johannes Skylitzes (ed. Wortley), S. 33-36, eine der Hauptquellen zu Thomas, Zitat S. 36. –Skylitzes lässt Thomas in langer Agonie danach sterben. Nach den Quellen: Brief Michaels II. an Ludwig d. Frommen und Georgios Monomachus, Köpstein S. 71. Köpstein vermutet, dies könne eine bloße Verleumdung sein. Oder Thomas habe den Namen Konstantin als Thronnamen geführt, wie er auch seinen Adoptivsöhnen die traditionellen Kaisernamen Konstantios und Anastasios gab. Ebd. S. 73-74 Anmerkung 81) Köpstein S. 68 vermutet, dass der Aufenthalt bei den Moslems eine Erfindung der Thomas feindlichen Quellen sein könnte. Vielleicht wäre Thomas nach dem Putschversuch 803 nur auf die Insel Prote verbannt worden. So John Wortley a.a.O. S. 33 Anmerkung 23: Wortley gibt andrerseits zu bedenken, dass ein Geblendeter doch nicht auf den Thron hätte zurückkehren können. (Nach der Verstümmelung Justinians II. und dessen Wiederkehr scheint dies aber nicht ganz ausgeschlossen). Ralph-Johannes Lilie S. 83, Anm. 11 bezeichnet die Behauptung der Quellen, Thomas habe sich für Konstantin ausgegeben, als unzuverlässig. Chronique de Michel de Syrie, Buch 12, Kap. 9, ed. J.B. Chabot, 3. Band, S. 37: für einen Sohn Konstantins war der etwa 50-60 jährige Thomas etwas zu alt.

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Gebeon Die Geschichte dieses Mannes hätten die byzantinischen Geschichtsschreiber wahrscheinlich nicht in ihre Chroniken aufgenommen, wenn sie nicht mit dem endgültigen Sturz einer Kaiserin und eines Patriarchen verknüpft gewesen wäre. Denn der wohl aus Dyrrhachium (Durres in Albanien) stammende, zunächst nur für verrückt gehaltene Sonderling, der sich einbildete, ein Sohn des 842 verstorbenen Kaisers Theophilos oder von dessen Gemahlin Theodora aus einer früheren Ehe zu sein, galt als harmloser Narr. Der bedauernswerte Epileptiker geriet jedoch in eine Hofintrige. Der damalige (seit 856) leitende Minister Bardas, der seine Schwester Theodora, langjährige Regentin für ihren Sohn, den minderjährigen Kaiser Michael III., entmachtet hatte, beschuldigte sie nun obendrein, sie habe, zusammen mit dem Patriarchen Ignatios, den Gebeon als Prätendenten ins Spiel gebracht. Bardas fürchtete, seine beim Volk überaus beliebte Schwester – sie hatte 843 die Verehrung der Ikonen wieder zugelassen - und der ihr treu ergebene Patriarch könnten seine Machtstellung wieder gefährden. Ignatios hatte Bardas bereits in aller Öffentlichkeit der Unsittlichkeit geziehen. Die angeblichen Verbindungen der Theodora und des Ignatios zu Gebeon lieferten Ende des Jahres 857 oder Anfang 858 den Vorwand für die Absetzung des Patriarchen und die Verbannung der Kaiserinmutter in ein Kloster. Hauptopfer der Intrige wurde jedoch der bedauernswerte Halbirre. Er wurde auf eine Insel im Marmarameer deportiert, geblendet, verstümmelt und getötet.17 Im Laufe der Jahrhunderte verstärkte sich in allen Schichten der byzantinischen Gesellschaft die Anhänglichkeit an die jeweils regierende Dynastie. Dies mochte damit zusammenhängen, dass es einigen Kaiserfamilien gelungen war, sich tatsächlich über mehrere Generationen an der Macht zu halten. Während in früheren Zeiten „edle Herkunft“ keine entscheidende Rolle bei der Bewerbung um den Thron zu spielen brauchte, setzte sich zusehends die Vorstellung durch, ein Kaiser müsse aus vornehmen Geblüt stammen. Die sogenannte „makedonische Dynastie“(867-1056) stammte so zwar mit Kaiser Basilieios I. von einem Mann ab, von dem behauptet wurde, er habe seine Karriere als Pferdeknecht begonnen, aber während eine solche Herkunft früher als Zeichen besonderer Gotteserwähltheit propagiert worden wäre, genierten sich die >achkommen dieses Bauernsohnes jetzt einer solchen Vorfahrenschaft. Basileios Enkel, der gelehrte Kaiser Konstantin VII. Porphyrogennetos (913-59), verbreitete die Legende, sein Großvater stamme väterlichseits von dem armenisch-parthischen Königs-

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Hergenröther S. 370-71 nach der Vita Ignatii des Niketas Paphlagonicos

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geschlecht der Arsakiden, mütterlicherseits von Konstantin dem Großen und Alexander dem Großen ab18. Auch muss sich die Vorstellung verbreitet haben, ein einmal gekrönter Herrscher dürfe nicht wieder abgesetzt werden: ein weiterer Beleg für die Stärkung monarchischer Legitimitätsansprüche. Usurpatoren beließen ihren Vorgängern deshalb im 9. und 10. Jahrhundert die formalen Herrschaftszeichen und agierten als deren Mitkaiser. Verschwand der Entmachtete dann schließlich doch in der Versenkung oder wurde heimlich zur Seite gebracht, so war der Weg frei für Betrüger, sich für den Verschwundenen auszugeben. >eben die vorgeblich enterbten Prinzen trat so ein neuer Typ von Prätendenten – die wiedergekehrten Verdrängten. Der erste in dieser Reihe war nach dem (in dieser Hinsicht umstrittenenen) Vorläufer Thomas-Konstantin der „Pseudokaiser“ Michael Dukas. Der wiedergekehrte Michael VII. Dukas Der echte Kaiser Michael VII. aus dem Hause Dukas war 1067 als unmündiger Knabe auf den Thron gekommen. Seine verwitwete Mutter heiratete auf Wunsch der Militärs und der hohen Beamtenschaft den Feldherren Romanos Diogenes, der zum Mitkaiser Michaels und eigentlichen Regenten erhoben wurde. Romanos IV. erlitt jedoch schon 1071 eine der katastrophalsten Schlachtenniederlagen der ganzen byzantinischen Geschichte im Kampf gegen die Seldschuken oder Türken, die nun ungehemmt in das kleinasiatische Kernland des byzantinischen Reiches eindrangen. Gegen das so geschwächte Reich brauten sich auch vom Westen her große Gefahren zusammen. Normannen unter Robert Guiskard besetzten 1071 die letzten byzantinischen Besitzungen in Süditalien und schickten sich an, auf die Balkanhalbinsel überzugreifen. Der aus türkischer Gefangenschaft zurückgekehrte Romanos wurde auf Betreiben eines Onkels des Schattenkaisers Michael umgebracht. Michael, der nun unter Leitung seines Oheims und seines Erziehers, des „Konsuls der Gelehrten“, Psellos, eines umtriebigen Intellektuellen, die Regierung übernahm, sah sich einem drohenden türkischnormannischen Zangenangriff gegenüber. Seine Berater drängten ihn, wenigstens den eroberungslustigen Robert Guiscard zu umgarnen, indem er um die Hand von dessen Tochter für sein eben erst geborenes Söhnchen Konstantin bat. Eine hohe Ehre für den Barbaren. Robert Guiscard ging auf das Spiel ein. Seine Tochter, die den griechischen Name Helene annahm, wurde 1074 zur Erziehung nach Konstantinopel geschickt. Ein Freundschaftsvertrag, der ihren Vater und ihren zukünftigen Schwiegervater zu gegenseitiger Hilfe verpflichtete, unterstrich die normannisch-byzantinische Annäherung. 18

Konstantin VII. Porphyrogennetos, Vom Bauernhof auf den Kaiserthron. Das Leben des Kaisers Basileios I., übersetzt, eingeleitet und erläutert von Leopold Breyer, Byzantinische Geschichtsschreiber 14, Graz-Wien-Köln 1981, S. 40-42

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Michael VII. erwies sich im Übrigen als ein regierungsunfähiger Schöngeist. 1078 wurde er durch den General Nikephoros Botaneiates gestürzt und auf dessen Befehl zum Mönch geschoren. Nikephoros III. heiratete, um sich dynastisch zu legitimieren, Michaels Frau, die schöne „Alanin“ Maria, eine georgische Königstochter. 1081 wurde Nikephoros seinerseits von Alexios Komnenos gestürzt, der immerhin eine Dukas zur Frau hatte. Der Exkaiser und Mönch Michael stieg jetzt zum Erzbischof von Ephesos auf. Seine Frau Maria bat ihn unter Tränen um Verzeihung für ihre Ehe mit Botaneiates: sie habe darin nur eingewilligt, um ihr Söhnchen Konstantin, jenen Verlobten der Normannenprinzessin Helene, zu retten. Alexios Komnenos nahm diesen Konstantin formell zum Mitkaiser und verlobte ihn mit seiner Tochter Anna, der berühmten späteren Historikerin. Man sieht bei all dem, welch starke Rolle inzwischen dynastische Legitimierung in Byzanz spielte. Die Normannin Helene war schon längst zu ihrem Vater zurückgekehrt.19 Am Hofe Robert Guiscards aber fand sich nicht nur sein Töchterchen Helene wieder ein. Auch der als ihr Schwiegervater 1074 in Aussicht genommene (Ex)kaiser Michael Dukas tauchte hier schon 1080 auf. In Wirklichkeit handelte es sich um den entlaufenen Mönch Michael Raiktor aus Salerno (oder Kroton?). Anna Komnena gibt in ihrem großen, ihren Vater Kaiser Alexios verherrlichenden Geschichtswerk, der „Alexias“, zwei etwas widersprüchliche Versionen über das Auftreten des, wie sie sagt, „frechsten aller Täter“.20 Nach der einen Variante muss Raiktor sich aus eigenem Antrieb und mit einem schriftlichen Hilfsgesuch Robert Guiskard aufgedrängt haben, nach der anderen hat ihn Guiskard selbst aus einem byzantinischen Kloster im süditalienischen Kroton für den geplanten Betrug „herausgefischt“. Jetzt umgab Guiskard den Prätendenten mit Dienerschaft und Leibgarde und versprach ihm entsprechend dem Vertrag von 1074 Hilfe zur Wiedererlangung des Thrones in Konstantinopel. Natürlich war dies alles nur ein Vorwand, um die alten normannischen Eroberungspläne auf dem Balkan wieder aufzunehmen. Ärgerlich war deshalb das Zeugnis eines normannischen Unterhändlers, eines gewissen Raoul oder Radulfs, den Guiscard zu Alexios geschickt hatte, um den Thron für seinen Schützling Michael zurückzufordern. Raoul brachte die Kunde, der echte Exkaiser Michael lebe wohlbehalten und in Ehren als Bischof von Ephesos in Konstantinopel. Guiskard „schnaubte vor Wut“ und der unliebsame Zeuge musste sich zu Guiskards Sohn Bohemund retten, der gerade mit seinem Vater in einer Fehde lag. Auch der beinahe entlarvte Raiktor schwur, den „Verleumder“ Rauol bei Gelegenheit kreuzigen zu lassen. 19 20

Zu den Verhältnissen in Byzanz zur Zeit Michaels VII.: Lauritzen, F. S. 251-266, Zonaras S. 131-61, und Cheneyt S. 87 Anna Komnena, Buch 1, Kap. 12, Abschn. 7 (S.55). Weiteres zu dem falschen Michael bei Anna Komnene: Buch 1, Kap. 15 Abschn. 3-5, Buch 3 Kap. 9 Abschn. 1, Buch 4, Kap. 1 Abschn. 3-4 (S. 56-65, 130 f., 143)

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Guiskard hielt also bedenkenlos an dem „Lügenkaiser“ fest, landete mit seinem Heer im heutigen Albanien und begann mit der Belagerung der byzantinischen Festung Dyrrhachium (heute Durres). Er ließ den vorgeblichen Michael mit großem Pomp und Musik vor die Mauern der Stadt führen, doch die Belagerten hatten nur Spott für diesen Aufzug übrig. Einige wollten in ihm nur einen ehemaligen Diener am kaiserlichen Hof wiedererkennen. Robert, der gehofft haben mochte, das Erscheinen ihres „Kaisers“ werde die Byzantiner zur Kapitulation verführen, sah sich getäuscht. Bei seinem weiteren Vordringen ins byzantinische Gebiet machte er deshalb immer weniger von dieser „Wunderwaffe“ Gebrauch. Nur wenige Städtchen anerkannten Michael- Raiktor. Guiskard wurde auch bald durch Aufstände in Süditalien von seinen östlichen Unternehmungen abgebracht. Das weitere Schicksal seines „Lügenkaisers“ ist unbekannt. Vielleicht hat er sich nach Frankreich durchgeschlagen. Anna Komnena zog am Ende die ganze Affäre um diesen Pseudo-Michael ins Lächerliche: „Wenn ich daran denke muss ich schmunzeln und ein Lachen kommt auf meine Lippen, während ich beim Schein der Lampe die Feder führe.“21 Leider musste sich Kaiser Alexios I., der Byzanz noch einmal aus Bedrängnissen aller Art rettete, nicht nur mit dem lästigen Pseudomichael abgeben. Es traten noch andere Betrüger dieser Art auf. Anna Komnena bemerkt, ihr Vater sei zu bedauern gewesen, „weil das Schicksal ihm diese Elenden noch zusätzlich (-zu ernsteren Sorgen-) als eine Art Possenstück auf die Bühne gebracht hätte.“22 Es bleibt in ihrem Geschichtswerk allerdings etwas unklar, wie viele solcher elenden Elemente sie uns vorstellen will, insbesondere gilt das für die Zahl der falschen Söhne des Kaisers Romanos Diogenes, auf die Anna Komnena hier wohl anspielt. Wieviel falsche Diogenes-Söhne? Der unglückliche Kaiser Romanos IV. Diogenes wurde bereits erwähnt. Er hatte mindestens drei Söhne. Konstantin, der älteste, stammte aus einer früheren Ehe, bevor Romanus die Mutter Kaiser Michaels VII. Dukas heiratete und zum Mitkaiser erhoben wurde. Aus der zweiten Ehe Romanus IV. mit der Kaiserinwitwe gingen zwei Halbbrüder des Michael Dukas hervor: Leon und Nikephoros. Konstantin, verheiratet mit der Schwester Theodora des späteren Kaisers Alexios Komnenos, fiel 1073 auf einem Feldzug vor dem syrischen Antiochia, Leon 1087/8 im Kampf gegen das Reitervolk der Petschenegen auf dem Balkan. Der dritte Bruder Nikephoros glaubte sich als „Pupurgeborener“ berechtigt, gegen Alexios Komnenos zu putschen. Nachdem er zunächst für seine Attentats21 22

Anna Komnena.Buch 1, Kap. 15, 5 ( S. 65) Anna Komnena. Buch 10, Kap. 2,2 (S. 321)

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versuche begnadigt worden war, wurde er nach dem gescheiterten dritten Anlauf endlich geblendet (1093/94). Die drei „Diogenoi“ wurden selbst von Anna Komnena als bezaubernd-weltgewandte junge Männer mit großem Anhang gerühmt. Schon 1087 trieb sich nun in Konstantinopel ein Subjekt „von nicht vornehmer Abstammung“, so Anna23, herum, wahrscheinlich aus der Stadt Charax in Bithynien (Nordwestkleinasien), ärmlich und in Felle gekleidet, das zu verstehen gab, es sei Konstantin Diogenes. Offensichtlich gab dieser falsche Konstantin Diogenes vor, im Kampf um Antiochia gegen die Türken-Seldschuken nicht gefallen, sondern nur zeitweilig in Gefangenschaft geraten zu sein. Die Witwe Konstantins, jetzt längst die Nonne „Xenia“, entlarvte ihn als Betrüger, und ihr Bruder Kaiser Alexios Komnenos schickte den „Schwager“ in die Verbannung nach Cherson nahe der Krim. Ebendort trat nun aber nach dem Bericht der Anna Komnena 1095 ein „Leon“ Diogenes auf. Es ist viel gerätselt worden, ob sich bei der Historikerin hier ein Schreibfehler eingeschlichen hat, und sie doch „Konstantin“ meint, also den Mann, der 1087 in Konstantinopel aufgetreten war, oder ob es sich um einen zweiten falschen Diogenes handelt.24 Dieser Diogenes schlug sich zu dem in die Ukraine eingefallenen Reitervolk der Kumanen durch und gewann deren Anführer für den Plan, ihn „auf den vom Vater angestammten Thron“ zu setzen, wofür er reiche Belohnung versprach. Im heutigen Bulgarien, in der damals byzantinischen Grenzstadt Goloé, wurde er tatsächlich als Kaiser empfangen, auch andere Städte schlossen sich ihm an. Er drang mit den Kumanen bis nach Adrianopel (heute Edirne in der europäischen Türkei) vor. Dort würde ihn, so machte er seinem Anhang weis, der Kommandant Nikephoros Bryennios, sein „Oheim“ mit offenen Armen empfangen. Bryennios hatte vor Jahren mit Romanos Diogenes einen feierlichen Bruderbund geschlossen, war also höchstens ein „angesippter“ Verwandter des Prätendenten. (Im Übrigen war dieser „Bryennios der Ältere“ Schwiegervater der Anna Komnena.) Bryennios aber verhöhnte seinen Pseudo-Neffen von der Stadtmauer herab: er erkenne seine Stimme nicht. Aber auch wenn sich Adrianopel ihm nicht öffnete, blieb der falsche Diogenes doch eine Gefahr. Ein gewisser Alakaseus, ein Freund Kaiser Romanos IV., erklärte sich in dieser Lage bereit, den Betrüger durch eine List unschädlich zu machen. Er begab sich im Auftrag Kaiser Alexios in die Festung Putza, ließ sich dort als Zeichen für angebliche kaiserliche Ungnade Bart und Haar scheren und lud als 23

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Die Berichte Annas zu den Diogenes-Söhnen und ihren Wiedergängern: Buch 9, Kap 6 (S. 305-16)/ Buch 10, Kap. 2 Abschn. 2-4, Kap. 3 Abschn. 1-4, Kap. 4 Abschn 2-5. (S.320-28) Zu den falschen Diogenoi insgesamt Mathieu passim. Zur Frage Leon-Konstantin besonders S. 134. Dazu auch Skoulates S. 8, 22, 75

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scheinbar von Kaiser Alexios gekränkter Überläufer den Diogenes zu sich, bewirtete ihn in Badestube und bei Tafel und ließ den arglos mit kleinem Gefolge erschienen Gast, der gerne etwas über den Durst trank, in einem günstigen Augenblick in Ketten werfen. Er verschleppte ihn dann an einen Küstenort, von wo ihn die Kaiserinmutter Anna Dalessena, die zu dieser Zeit in Konstantinopel die Geschäfte führte, von einem Flottenkommando abholen ließ. Auf der Fahrt nach Konstantinopel wurde Diogenes von einem türkischen Bediensteten des Flottenchefs auf Befehl aus der Hauptstadt geblendet. Wie gesagt bleibt undeutlich, ob die Diogenoi von 1087 und 1095 identisch sind. Um einen anderen Betrüger muss es sich jedenfalls bei einem Diogenes handeln, der im Schlepptau des normannischen Fürsten Bohemund bei dessen Aufenthalt am französischen Königshof 1105/06 auftrat25. Bohemund hatte sich am ersten Kreuzzug beteiligt und gegen vertragliche Verpflichtungen mit Kaiser Alexios das syrische Antiochien als selbstständiges Fürstentum an sich gerissen, statt es den Byzantinern zurückzugeben, die es vor einiger Zeit an die TürkenSeldschuken verloren hatten. In Frankreich warb Bohemund Mannschaften an, die ihm den Besitz Antiochiens gegen die Byzantiner sichern sollten. Ein byzantinischer Thronanwärter schien ihm in den zu erwartenden Auseinandersetzungen nicht ohne Nutzen. Die Vermutung eines modernen Quellenkommentators, der BohemundDiogenes könne gar der noch immer lebende Pseudo-Michael von 1081 gewesen sein, ist wohl etwas zu gewagt.26 Die Pläne Bohemunds zerschlugen sich bald. Rätselhafter noch als der nur kurz in einer Quelle erwähnte französische Diogenes erscheint auf jeden Fall ein weiterer Diogenes, von dem russische Chroniken berichten27. Nach ihnen bemächtigte sich ein Leon Diogenowitsch, der als ein „Zarewitsch“, also „Kaisersohn“, bezeichnet wird, im Jahre 1116 einiger Städte an der Donau. Kaiser Alexios soll dann zwei Sarazenen (Araber) ausgeschickt haben, die diesen ominösen Diogenes durch eine List bei der Stadt Distra überwältigten, blendeten und töteten. Dieser Prätendent soll sich auch mit russischen Fürsten verschwägert haben, sein Sohn Vasilko 1136 in innerrussischen Kämpfen gefallen sein. Erstaunlich ist, um die Diogenoi-Affären zusammenzufassen, auf jeden Fall das Auftreten einer ganzen Serie falscher Thronbewerber, die sich auf die Abstammung von einem nur kurzfristig regierenden, offiziell auch nur im Range eines Mitkaisers stehenden Herrschers beriefen. Wenn sogar solche Kandidaten einen gewissen Anklang fanden, so mussten falsche Prätendenten, die sich auf dynastisch viel eindeutigere Gegebenheiten bezogen, noch größere Erfolgschan-

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Ralph Baily Yewdale, Bohemund I. Prince of Antioch, Princeton 1917 S. 109 nach Ordaricus Vitalis Le Prevost in seinem Kommentar zu Ordaricus Vitalis, erwähnt bei Mathieu S. 137 Mathieu S. 138-41

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cen haben. Die Verlockung, solche Chancen wahrzunehmen, schuf dann noch eindrucksvollere Serien von Aspiranten als die der Diogenoi. Der vierfache Alexios Die Dynastie der Komnenen führte Byzanz zu neuer Blüte. Vielleicht war es auch nur eine Scheinblüte. Insbesondere Kaiser Manuel I.(1143-80), der sich in die Angelegenheiten Italiens, der Balkanstaaten, der Kreuzfahrerfürstentümer, Armeniens, der kleinasiatischen Türken-Seldschuken und aller christlichen Kirchen einmischte und eine glänzende Hofhaltung im Stile abendländischer Ritterherrlichkeit unterhielt, überspannte die Kräfte des Reiches und entfremdete sich überdies seinen orthodoxen Untertanen, denen alles Westlich„Lateinische“ verhasst war. Manuels Sohn Alexios (II.) bestieg den Thron mit knapp zwölf Jahren. Seine als Regentin eingesetzte Mutter Maria von Antiochia, eine Kreuzfahrerprinzessin aus französischem Hause, die ihr Söhnchen denn auch mit Agnes (in Byzanz in Anna umgetauft), einer Tochter Ludwigs VII. von Frankreich, verheiratete, war als „Lateinerin“ beim Volk verhasst, zumal sie sich auch noch einen jüngeren, korrupten und unfähigen Komnenenprinzen als Liebhaber und Berater zulegte. Ein Vetter Kaiser Manuels, Andronikos Komnenos, benutzte 1182 diese Situation, um einen militärischen Aufstand zu wagen. Die Bevölkerung Konstantinopels öffnete ihm die Tore. Ein Pogrom gegen alle „Lateiner“ in der Stadt folgte, Kaiserin Marie und ihr Liebhaber wurden hingerichtet. Das Todesurteil unterschrieb ihr Sohn Alexios, den Andronikos aus unwürdigen Verhältnissen zu befreien vorgab. Andronikos übernahm als Regent, später als „Mitkaiser“ die eigentliche Regierung, während sich Alexios, den sein „Oheim“ zu umschmeicheln wusste, jugendlichen Vergnügungen hingab. Allerdings wurde Andronikos des zuweilen etwas vorlauten Neffen bald überdrüssig. Er ließ ihn 1183 mit Bogensehnen erwürgen und in einer Bleikiste im Meer versenken. Der nunmehrige Alleinherrscher Andronikos heiratete im Alter von etwa sechzig Jahren die dreizehnjährige Witwe des Ermordeten, um sich dynastisch noch besser zu positionieren. Andronikos’ Schreckensherrschaft, die sich insbesondere gegen alle Lateinerfreunde richtete – also den ganzen Hofadel Manuels, aber auch die mit Venetianern und Genuesen eng liierte Geschäftswelt – führte bald zu Aufständen und Verschwörungen aller Art. Es konnte nicht ausbleiben, dass sich in die Kette der Unruhestifter auch, wie ein rächendes Gespenst, ein angeblich geretteter Alexios einreihte.

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Der erste falsche Alexios28: Auf den Marktplätzen der adriatischen Balkan- Küstenstädte tauchte 1184 ein schwarzgekleideter, vollbärtiger Mann auf, der sich Alexis Sikuntenos aus Philadelphia (in Kleinasien) nannte, sich als Mönch ausgab, aber durch seine körperliche Gewandtheit und Reitkünste leicht als ehemaliger Soldat erkennbar war. Seinem staunenden Publikum führte dieser abenteuerliche Mönch-Soldat wie ein geübter Schausteller, auch gegen Geld, einen jungen Mann vor, den er für den entthronten Alexios ausgab. Der Jüngling überzeugte mit seinem blonden Haar und einer Zahnlücke, die dem echten Alexios eigentümlich waren, sowie mit tränenreichen Geschichten über seine Flucht aus Konstantinopel ein leichtgläubiges, sensationshungriges Publikum. Geschenke aller Art flossen ihm zu. Zweifler aber meinten beweisen zu können, dass es sich bei dem angeblichen Alexios um einen Bauernburschen aus Vagenetia/Bagnetia (heute Vonizza), einem Ort südlich von Dyrrhachium (heute Durrazzo-Durres) handele, dessen Ähnlichkeit mit dem Exkaiser dem weltgewandten und geschäftstüchtigen Sikuntenos aufgefallen sei. Der Ruf des seltsamen Paares verbreitete sich bis an den Hof des normannischen Königs Wilhelm II. in Sizilien, der seit langem ein Auge auf die byzantinischen Balkanprovinzen geworfen hatte. Er hatte viele vor der Tyrannei des Andronikos aus Konstantinopel geflohene Byzantiner bei sich aufgenommen. Jetzt empfing er „Alexios“ und dessen Mentor in Palermo. Hier wären beide fast als Betrüger entlarvt worden, denn unter den Gästen des Königs befand sich ein anderer Alexios Komnenos, der als Neffe Kaiser Manuels die Unechtheit des so überraschend aufgetauchten „Cousins“ beschwor. Freilich mochte sich dieser Komnene selbst Hoffnung machen, mit Hilfe Wilhelms II. den Thron in Konstantinopel zu besteigen. Er musste also in dem Namensvetter und angeblichem Exkaiser einen Konkurrenten sehen. Darauf machten genuesische Kaufleute, ebenfalls aus Byzanz vertrieben, den König aufmerksam. Sie bezeugten ihrerseits die Echtheit des Prätendenten. Wilhelm II. hatte bei seinem Feldzug gegen Byzanz, den er 1185 eröffnete, also gleich zwei Thronkandidaten zur Hand. Bei seiner Landung vor Dyrrhachium befand sich zwar seltsamerweise Sikuntenos in seinem Gefolge, nicht aber dessen Schützling „Alexios“. Dieser war anscheinend an den Hof seines „Schwagers“, Philipp II. August von Frankreich, gesandt worden, um für weiteren Beistand zu werben. Am französischen Königshof verlieren sich seine Spuren, doch scheint er dort längere Zeit gelebt zu haben. Ein anonymer französischer Chronist berichtet, er habe durch seine großen Sprachkenntnisse Aufsehen erregt. Der Feldzug der Normannen führte bis vor die Mauern von Konstantinopel. Das kostete Andronikos den Thron. Er wurde in den Straßen der Stadt von der aufgebrachten Bevölkerung bestialisch zerfleischt. Zum Glück für seinen Nach-

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Hauptquelle: Eustatios. Brand S. 64, 161, 174. Hoffmann S. 43, Cheynet S. 118

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folger Isaak II. brachen die Normannen, verwildert durch ihre Beutegier und geschwächt von Seuchen, ihren Raubzug durch das Reich ab. Das korrupt-verschwenderische Regime Isaaks II. – (aus dem Hause Angelos, aber seine Großmutter war eine Komnene), das auf die Schreckensherrschaft des Andronikos folgte, erregte insbesondere in den Grenzprovinzen, die von den Überfällen der Türken-Seldschuken, Ungarn, Bulgaren, Serben und Piraten gequält wurden und zudem hohe Sondersteuern - angeblich für ihre Verteidigung – auferlegt bekamen, allgemeinen Unmut. Das ermunterte unternehmungslustige Abenteurer nach dem nicht ganz erfolglosen Vorbild des ersten falschen Alexios als Thronbewerber aufzutreten. Der zweite und der dritte Alexios29: 1191 machte im kleinasiatischen Mäander-Tal ein junger Mann von sich reden, der wohl aus Konstantinopel stammte, hauptstädtische Allüren zeigte, sich seine blonden Haare im modischen Stile des gestürzten Jungkaisers frisierte, dessen charmantes Lispeln nachzuahmen verstand und sich schließlich als Alexios II. zu erkennen gab. Er sei ihm gelungen, die Häscher des Andronikos zu erweichen, sie hätten ihn entkommen lassen. Unterstützt wurde der vorgebliche Alexios – sein eigentlicher Name soll Kausalones gewesen sein – von einem genuesischen Kaufmann, der ihn auch an den Hof des türkisch-seldschukischen Herrschers Kilidsch Arslan (II.) in Iconium (heute Konya in Kleinasien) begleitete. Als ein byzantinischer Sondergesandter – inzwischen hatte man in Konstantinopel von dem Auftreten dieses neuen Alexios erfahren – Kilidsch Arslan im Auftrage Isaaks II. über das Schicksal des wahren Alexios aufklärte, griff Kausalones diesen „Verleumder“ vor den Augen des Sultans tätlich an und beschuldigte seinen Gastgeber, die Freundschaft, die er mit Kaiser Manuel gepflegt habe, vergessen zu haben, indem er seinen Sohn Alexios schutzlos lasse. Kilidsch Arslan versuchte sich dennoch aus der Intrige herauszuhalten. Er gestattete Kausalones aber die Anwerbung von Söldnern in seinem Reich. Mit einer Mannschaft von etwa 8000 Mann unter dem Kommando eines Emirs Arsames konnte der Prätendant so in das byzantinische Mäandertal einfallen. Der dortige Gouverneur Alexios Angelos, ein Bruder Kaiser Isaaks II., musste sich zurückziehen. Einige seiner Höflinge liefen zu Kausalones-Alexios über, der als „Scheunenanzünder“ ungestraft die ländliche Gebiete verwüstete und dessen muslimische Mannen christliche Kirchen schändeten. Inmitten seiner Erfolge wurde jedoch Kausalones-Alexios in der Festung Pisa nach einem wüsten Trinkgelage von einem möglicherweise über seine Kirchenfrevel empörten Priester enthauptet. Sein Kopf wurde Gouverneur Alexios Angelos zu Füßen gelegt. Der hob ihn mit der Reitgerte auf und bemerkte, verblüfft wohl über die Ähnlichkeit mit dem echten Alexios: „Man

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Hauptquelle: Niketas Choniates (1) S. 224-27, Hoffmann S. 40-43, Brand S.86, 201 (Alexios aus Konstantinopel), S. 87 (aus Paphlagonien), Cheynet S. 123-24 (Kausalones),

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kann gut verstehen, dass die Städte sich diesem Mann angeschlossen haben.“30 Er schickte das wertvolle Stück zur Ausstellung nach Konstantinopel. Alexios-Kausalones fand kurze Zeit später 1192-93 in Paphlagonien, im mittleren Nordkleinasien, einen Nachahmer, der aber von dem byzantinischen „Chartularios“ Theodor Chumnos aufgegriffen, ausgepeitscht und hingerichtet wurde. Der vierte Alexios 31 : Aussichtsreicher war das Unternehmen eines weiteren Alexios-Wiedergängers, das sich gegen Kaiser Alexios III. Angelos richtete, der 1195 seinen Bruder Isaak II. gestürzt und geblendet hatte – während sich das Reich bereits in halber Auflösung befand. Der aus Kilikien (im Südosten Kleinasiens) stammende Thronbewerber begab sich an den Hof Masouts (eigentlich Muhyi-al-Din), der von seinem Vater Kilidsch Arslan (II.) die Herrschaft über Ankara geerbt hatte. Ein byzantinischer Gesandter, der im Namen Alexios III.die Auslieferung des Hochstaplers verlangte, wurde mit der Forderung nach Gegenleistungen geschockt. Masout forderte 500 Pfund Silber sofort, danach Jahrestribute von 300 Pfund und 40 Seidenkleider. Erbost über diese Unverschämtheit beschloss Alexios III. Ankara anzugreifen, musste aber feststellen, dass der falsche Alexios bereits mit seldschukisch-türkischer Hilfe in byzantinisches Gebiet eingedrungen war und dort sogar Steuern einforderte. In der Ortschaft Melangeia ereignete sich eine für die Zeit und das Legitimitätsverständnis der Byzantiner bezeichnende Episode. Alexios III. befragte die Bauern des Ortes, die offensichtlich vorher dem Prätendenten gehuldigt hatten, was sie dazu bewegt habe. Sie antworteten: „So glänzend ist sein dichtes Haar, als wäre es aus Gold, so wohlgewachsen ist er, so fest sitzt er zu Pferde, als wäre er an den Sattel genagelt“. Alexios schmähte den also Gerühmten als bloßen Landstreicher unedelster Geburt, bemerkte aber, dass selbst wenn es sich um den echten Exkaiser handeln sollte, dieser doch auf Gottes Ratschluss die Herrschaft verloren habe, während ihm, Alexios III., durch Gottes Gnade das Reich anvertraut worden sei. Ihm allein schuldeten die Reichsbewohner also im Augenblick Gehorsam. Darauf entgegneten die schlauen Bäuerchen: „Siehst du Kaiser, du weißt selbst nichts über das Kind und hältst seinen Tod für zweifelhaft. Sei uns darum nicht böse, wenn wir den Jüngling bedauern, auf den als Enkel von Herrschern die Herrschaft gekommen ist und der gegen Recht und Gesetz von Herrschaft und Vaterland vertrieben wurde.“32 In diesem kurzen Wortwechsel sind eine Reihe von Legitimierungsmerkmale, die in Byzanz eine Rolle spielten, erkennbar: persönliches Charisma und dynastischer Erbanspruch bei den Bauern, bloße vornehme Geburt und tatsächli30 31 32

Choniates (1), S. 227 Hauptquelle; Niketas Choniates (2), S. 25-27. Cheynet S. 130, Brand S. 135 f., 144 f., Hoffmann S. 41-43 Zitate nach Choniates (2), S. 27

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che Machtausübung (als Beleg göttlicher Erwähltheit) in der Argumentation des Kaisers, der sich übrigens zur dynastischen Legitimation den Beinamen „Komnenos“ zugelegt hatte. Strenggenommen war er also selbst ein falscher „Alexios Komnenos“. Nach zwei Monaten und nur mäßigen Erfolgen zog sich Alexios III. entnervt in die Hauptstadt zurück. Auch die von ihm beauftragten Generäle Vatatzes, der dann auch noch wegen einer Affäre mit der Gemahlin Alexios III. geköpft wurde, und Manuel Kantakuzenos richteten nichts Entscheidendes gegen den Pseudo-Alexios aus. Der fand sein Ende in der Festung Tzungra oder Gangra, wo er von einem anonymen Privatmann entweder erwürgt oder geköpft wurde. Die Kämpfe zwischen Masout von Ankara und den Byzantinern zogen sich noch lange hin. Der byzantinische Chronist Niketas Choniates, ein Zeitgenosse all dieser Ereignisse, deutet übrigens an, dass es vielleicht noch einen fünften falschen Alexios gegeben hätte. Meinte er damit vielleicht ironischerweise Kaiser Alexios Angelos-Komnenos? Zwischenbemerkung: die Alexios- Serie falscher Thronanwärter war ein Symptom für die tiefe Zerrüttung des Reiches. 1204 konnte so das „lateinische“ Ritterheer des 4. Kreuzzugs, der durch venezianische und byzantinische Intrigen vom Heiligen Land abgelenkt worden war, Konstantinopel erobern. Um >ikäa in Kleinasien hielten jedoch die Byzantiner unter der Dynastie Laskaris ein Restgebiet unter ihrer Kontrolle, von wo aus sie allmählich einige Provinzen, auch in Europa, zurück gewannen. Das „lateinische Kaiserreich“ der Kreuzfahrer wurde bald auf Konstantinopel selbst beschränkt, und auch dieses stand kurz vor der Rückeroberung, als 1258 Kaiser Theodor II. Laskaris in >ikäa starb und seinem erst siebenjährigen Söhnchen Johannes IV. die Krone hinterließ. Der sterbende Kaiser hatte den Großen des Reiches die heiligsten Schwüre abgenommen, seinem Sohn den Thron zu bewahren, und als der hochgeschätzte Feldherr Michael Palaiologos sich durch einen Putsch zum Regenten und dann zum Mitkaiser aufschwang, wurden auf Drängen des Patriarchen Arsenios diese Schwüre in feierlichster Form wiederholt. Michael VIII. Palaiologos erfüllte den innigsten Wunsch aller Byzantiner: er nahm im Sommer 1261 durch einen Handstreich Konstantinopel ein. Seine Popularität stieg ins Unermessliche und verführte ihn dazu, den jungen Johannes Laskaris Weihnachten 1261 blenden zu lassen und in ein Kloster zu verbannen. So verdankte die letzte byzantinische Dynastie ihren Thron einem flagranten Eidbruch, der ihre Legitimität schwer belastete.

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Die Laskaris-Legende33 Die Thronbesteigung der letzten byzantinischen Herrscherdynastie, der Palaiologen, war also mit der Schande eines meineidigen Thronraubs verbunden. Es war nicht verwunderlich, dass unter den rechtschaffenen Landbewohnern in Bithynien (Nordwestkleinasien) ein blinder Knabe im passenden Alter schon 1262 für den bedauernswerten Johannes Laskaris ausgegeben werden konnte. Die den Palaiologen freundlichen zeitgenössischen Quellen übergehen diese peinliche Affäre kurz. Sie berichten nur, dass die Unruhen schnell unterdrückt wurden. In Wirklichkeit zogen sich die Guerillakämpfe in den Bergen östlich von Nikäa zwischen kaiserlichen Truppen und bäuerlichen Banden lange hin. Das Angebot, ihnen den wahren Johannes Laskaris zu zeigen, lehnten die Landbewohner ab: man würde ihnen wohl nur einen Schauspieler vor die Nase setzen. Nur durch Amnestieversprechungen und auch Geldzahlungen konnte die Laskaris-Bewegung allmählich ausgetrocknet werden. Der verbleibende Rest der Aufständischen wurde dann allerdings gnadenlos massakriert. Der blinde Jüngling selbst rettete sich auf türkisches Gebiet. Michael VIII. hielt es danach für angebracht, für seine Usurpation in öffentlichen Bußzeremonien kirchliche Vergebung zu erflehen. Nach dem Muster der Alexios- und Dukasaffären tauchte am Hofe Karls von Anjou, seit 1266 Herr des ehemals normannischen Königreichs NeapelSizilien, 1273 ein weiterer angeblicher Johannes Laskaris auf. Karl von Anjou, der in der Nachfolge seiner normannischen und staufischen Vorgänger nach der Herrschaft auf dem Balkan schielte, protegierte diesen Thronkandidaten, musste aber auf päpstlichem Druck auf seine Pläne gegen Byzanz verzichten (Michael VIII. bot dem Papst gerade eine „Kirchenunion“ an), womit auch dieser falsche Laskaris wieder in der Versenkung verschwand. Es muss jedoch in Byzanz weiterhin eine Art von Laskaris-Partei existiert haben. Vor allem die Grenzbewohner und –milizen in Kleinasien, von den „nikaianischen“ Kaisern des Hauses Laskaris lange Zeit in ihren Kämpfen gegen die Türken besonders begünstigt und gefördert, fühlten sich von den Palaiologen zurückgesetzt. Michael VIII. wandte sich wieder mehr dem Westen zu. Sein Sohn Andronikos II., auf Ausgleich mit der Laskaris-Partei bedacht, besuchte später (1298/99) den geblendeten Exkaiser im Kloster, erleichterte seine Haftbedingungen und wollte ihn wohl zu einer nachträglichen förmlichen Abdankung zugunsten der Palaiologen bewegen. Laskaris starb um 1305. Aber immer noch wurden die Palaiologen den Schatten der alten Dynastie nicht los. Ein Johannes Drimys gab sich 1305 als Abkömmling der Laskaris aus. Nikaia war gerade in die Hand der Türken gefallen. Auf den Unmut der zahlreichen griechischen Flüchtlinge aus dieser Laskaris-Residenz mochte der falsche Prinz bei seiner 33

Zu den falschen Laskaris: Shawcross passim.

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Agitation gegen die Palaiologen gesetzt haben. Sein Schicksal bleibt im Dunkeln. Zusammenfassende Bemerkungen Das Auftreten falscher Prätendenten in Byzanz bezeugt, dass der dynastische Gedanke auch hier tief verwurzelt war. Zwar weniger zunächst bei den bürokratisch-militärischen und kirchlichen Eliten als in der breiten Bevölkerung. Während die Eliten lange noch am römischen Amtscharakter des Kaisertums oder an seiner Vergabe nach christlich-göttlichem, unvorhersehbaren Ratschluss festhielten, war die Anhänglichkeit des „Volkes“ an die jeweilige Herrscherfamilie doch ein politisch nicht unbedeutender Faktor. Dies ermöglichte schon früh das Auftreten und die ansatzweisen Erfolge von Hochstaplern, die sich für Abkömmlinge gestürzter Herrscher ausgaben (Theodosios, Tiberus-Beser, die Diogenoi) oder als diese selbst (Thomas der Slawe, Michael-Raiktor, die falschen Alexios und Laskaris). Im Laufe der Jahrhunderte muss sich der dynastische Gedanke auch in den Eliten mehr und mehr durchgesetzt haben. Davon profitierten die falschen Prätendenten. Sie traten nun, wie die Diogenoi, falschen Komnenen (Alexios) und Laskaris, in Serien auf. Ein besonders häufiges Merkmal der byzantinischen falschen Thronaspiranten ist ihr erstes Erscheinen außerhalb der Reichsgrenzen oder zumindest ihre Anbindung an auswärtige Mächte (Theodosios, Tiberios-Beser, Thomas der Slawe-Konstantin, Michael Dukas, die Diogenoi, in gewisser Weise auch die falschen Alexios-Komnenen). Zu vermuten sind dafür mehrere Gründe. Zunächst waren die Nachbarn des Reiches vielfach selbst daran interessiert, für derartige Unruhen zu sorgen oder sie weiter zu schüren. Dann mochte es den Protagonisten selbst leichter fallen, sich anfänglich vor einem relativ unwissenden Publikum zu produzieren. Sie fanden hier wohl auch eher Resonanz für dynastische Ansprüche als im Reich selbst, wo, wie gesagt, zumindest bei den Eliten lange Zeit andere Herrschaftslegitimationen bevorzugt wurden. Die Verknüpfung mit auswärtigen Mächten war aber auch zweifellos einer der Gründe für die relative Erfolgslosigkeit dieser Thronkandidaten.

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VI. Aus der Wunderwelt des Mittelalters: Balduin von Flandern Zu der wunderlichen Geschichte des falschen oder echten Grafen Balduin von Flandern bemerkte der Schriftsteller Julien Le Rousseau 1854,1 es handele sich um einen historischen Stoff, der eigentlich die dichterische Phantasie eines Shakespeares, Racines, Goethes oder Schillers entzünden hätte müssen. Das prallbunte Leben des Mittelalters mit Rittertum, Kreuzzügen und Abenteuern in den geheimnisvollen Regionen des Ostens, mit seiner Pilger-und Eremitenfrömmigkeit, mit Bürgerstolz und Bettlerwesen, Adels- und Mönchsintrigen, Minnesängern, Schelmenstreichen, Liebschaften hoher Damen und dergleichen mehr, finde sich in der Geschichte Balduins wie in einem Brennglas gebündelt wieder. Le Rousseau mag etwas übertreiben, unstrittig aber ist, dass das Auftreten des falschen Balduin in vieler Hinsicht das Muster für eine ganze Reihe ähnlicher Aventuren abgegeben hat. Die Historie des falschen Balduin soll deshalb der Geschichte anderer „falscher Könige“ des Mittelalters vorangestellt werden. Einführung: Die Bühne, auf der sich die Schelmengeschichte oder wenn man will die Tragödie des falschen Balduin abspielte, war das mittelalterliche Flandern – also die heute belgische Region zwischen dem Schelde-Fluss und dem Meer. Die damalige Grafschaft Flandern, teils nominell der Krone Frankreichs, teils dem deutschen Reich lehnsuntertänig, war um 1200 eine der fortgeschrittensten Regionen Europas. In den aufblühenden Gewerbestädten hatte sich ein vielseitiges Textilgewerbe entwickelt, dessen Erzeugnisse von Skandinavien bis nach Italien begehrt waren. Die flandrischen Städte wurden von Kaufleuten aus ganz Europa aufgesucht, sie wurden zum Dreh-und Angelpunkt des internationalen Handels und Geldwesens. Die prächtigen Rats-und Zunfthäuser, Kirchen und Hospitäler in Gent, Brügge, Ypern und zahlreichen anderen Städten kündeten vom Reichtum des Landes. Die Grafen von Flandern, zumeist eifrige Förderer dieser Entwicklung, konnten sich mit Königen messen. Freilich – wo viel Licht ist, da ist auch einiges an Schatten. Die Versorgung der übermäßig wachsenden Stadtbevölkerung mit Lebensmitteln war nicht immer gesichert. Es kam immer wieder zu Hungersnöten. Im Tuchgewerbe hatte sich das sogenannte „Verlagswesen“ausgebildet, d.h. selbstständige Handwerker wurden von den „Tuchherren“ (den Großhändlern) zu bloßen Heimarbeitern in ihren Diensten herabgedrückt oder wurden zu schlecht bezahlten Manufakturarbeitern. Es entstand eine proletariatsähnliche Unterschicht, die für manche Unruhen sorgte. Das Auftreten neuartiger Mönchsorden, der Bettelorden, vor allem der Franziskaner, die sich mit ihren, 1

Julien Le Rousseau, (Einleitung zu :)Baudoin IX Comte de Flandre, Drame Historique en cinq actes, 1854, S. 14

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die messianischen Endzeiten beschwörenden, Predigten besonders an die städtischen Unterschichten wandten, verstärkten diese Gärungen. Auf der anderen Seite sah sich der landsässige Adel durch den Erfolg der Tuchherren und Großkaufleute als führende gesellschaftliche Ranggruppe bedroht, auch das führte zu sozialen Spannungen. Und nicht zuletzt versuchten die benachbarten Mächte, vor allem Frankreich und England, das reiche Flandern für ihre Politik zu instrumentalisieren. Auf diese Weise wurden die Grafen und ihr Land in vielfältige Konflikte hineingezogen, die dem Interesse der Bevölkerung eher schadeten. In diesem Gemenge aus wirtschaftlichem Erfolg, religiösen und sozialen Spannungen und politischen Rivalitäten entwickelte sich nun um 1225 das Drama (oder Possenspiel?) des falschen Balduin. Aber zunächst zum echten Balduin. Graf Balduin (Baudoin) IX.2, geboren 1171, erbte 1194 von seiner Mutter die Grafschaft Flandern, 1195 von seinem Vater (als Balduin VI.) die benachbarte Grafschaft Hennegau. Er war ein volkstümlicher Herr3. 1199 war er während einer Hungersnot entschieden gegen Lebensmittelwucherer vorgegangen. Auch nach außen hin setzte er sich kräftig durch. 1200 erhielt er verloren gegangene Gebiete im angrenzenden Artois von Frankreich zurück. Seine Frömmigkeit wurde gerühmt. Pfingsten 1202 machte er sich auf, um am vierten Kreuzzug teilzunehmen. Seine Gemahlin Maria von Champagne, die zunächst die Geburt ihres zweiten Kindes abwartete, sollte ihm ins Heilige Land nachfolgen, sein jüngerer Bruder Heinrich schloss sich ihm sofort an. Doch führte der vierte Kreuzzug nicht nach Jerusalem. Venezianische und byzantinische Intrigen lenkten ihn nach Konstantinopel um, das 1204 endgültig in die Hände der Kreuzfahrer fiel und nun in ein „lateinisches Kaiserreich“ umgewandelt wurde. Gräfin Maria, die von diesen Vorgängen nicht rechtzeitig unterrichtet worden war und ins Heilige Land reiste, traf ihren Gemahl dort nicht an. Sie starb schon 1203/4 im palästinensischen Akkon. Ihre beiden Töchterchen hatte sie allerdings in Flandern zurückgelassen. Die Regierung Flanderns übernahm ein Regentschaftsrat. 2

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Zum echten und falschen Balduin ausführlich: R. L. Wolff passim, zum falschen Balduin auch Cohen S. 77-81, der insbesondere dessen messianische Züge hervorhebt. Weit ausgreifend zu den Ereignissen von 1225, mit engem Bezug auf die Primärquellen, die oft ausgemalt, aber auch abwägend gewürdigt werden: Cahour passim. Im Stile der Zeit (1850) oft mit moralischen Kommentaren. In der Legendensammlung „Livre de Baudoyn de Flandre“ aus dem frühen 14. Jahrhundert, wird er zunächst als eine eher düstere Gestalt vorgeführt, wohl um sein späteres Pilger-und Büßerleben besser zu motivieren. Er soll sogar mit einer Teufelsbraut verheiratet gewesen sein und die Ermordung seiner Retterin aus bulgarischer Gefangenschaft veranlasst haben. Cahour S. 83

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Ihr Witwer gelangte in Konstantinopel zu hohen Ehren. Balduin von Flandern und Hennegau wurde im Mai 1204 in der Hagia Sophia zum ersten lateinischen Kaiser von Konstantinopel gekrönt. Freilich musste er sein Kaiserreich erst noch erobern, denn zunächst hatten die Kreuzfahrer nur die Hauptstadt des byzantinischen Reiches in der Hand, die Provinzen des Reiches rissen byzantinische Prätendenten an sich, und das vor Konstantinopel gelegene Thrakien (Teil der heutigen europäischen Türkei) besetzten die Bulgaren. In einer Schlacht gegen die Bulgaren am 14. April l205 bei Adrianopel (heute Edirne in der europäischen Türkei) verschwand Balduin. War er gefallen? Oder in Gefangenschaft geraten? Papst Innozenz III. erhielt noch 1205 auf seine Nachfrage bei dem siegreichen Bulgarenzaren Kalojan (Joannitsa) die briefliche Mitteilung, Balduin sei in bulgarischer Gefangenschaft gestorben.4 Byzantinische Geschichtsschreiber des 13. Jahrhunderts5 konnten sich nicht genug damit tun, das Ende des verhassten Lateinerkaisers möglichst schrecklich auszumalen. Er sei in schwere Ketten gelegt und grausam verstümmelt zuletzt in eine Grube geworfen worden, wo er nach drei Tagen elendiglich krepierte. Kalojan habe seinen Schädel zu einem Trinkgefäß verarbeiten lassen. In Konstantinopel glaubten die Kreuzritter noch lange an sein Überleben. Erst im Mai 1206 wählten sie Balduins Bruder Heinrich zum neuen lateinischen Kaiser. Auf Gerüchte, Balduin halte sich, aus bulgarischer Haft entkommen, in einem Wald an der Schwarzmeerküste verborgen, schickte Heinrich später eine Suchexpedition aus. Sie blieb erfolglos. Auch in Flandern war man sich erst 1206 sicher, dass Balduin nicht mehr lebe. Der dreiköpfige Rat, dem er bei seiner Ausfahrt das Wohl seines Landes anvertraut hatte, proklamierte jetzt sein älteres Töchterchen Johanna zur regierenden Gräfin. Sie war sechs (oder acht?) Jahre alt. Die nächsten zwanzig Jahre litten Flandern und Hennegau unter den Intrigen und Familienfehden, die sich um ihre minderjährige Herrin entspannen. Gräfin Johanna wuchs als Lehnsmündel am französischen Königshof auf, wo sie elfjährig mit einem portugiesischen Prinzen verheiratet wurde. Ferrand (Ferdinand) von Portugal ließ sich jedoch als Sachwalter seiner Gemahlin auf ein Bündnis mit England und dem deutschen König Otto IV. gegen Frankreich ein, das dem Mündel Johanna einiges an Gebiet und Gerechtsamen abgepresst hatte. Die Verbündeten wurden 1214 bei Bouvines geschlagen, Ferrand geriet in französische Gefangenschaft. Für seine Freilassung forderte Frankreich exorbitante Summen, die Gräfin Johanna bis 1227 nicht zahlen konnte oder wollte. Der Heranwachsenden wurden allerlei Liebschaften nachgesagt. Legitime Nachkommen waren so lange Zeit nicht zu erwarten.

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Ein 1206 aus bulgarischer Haft befreiter Mitgefangener, Renier de Trit, „Herzog von Philippopolis“ bezeugte ebenfalls Balduins Ende im Kerker. Lecuppre S. 90 Wolff S. 290 nennt Nicetas Choniates und Georgios Akropolita

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Ihre Schwesterchen Margarete, deshalb präsumtive Erbin Flanderns, war in der Zwischenzeit in die Fänge eines großen Herrn aus dem Hennegau geraten. Dieser Bou(r)chard von Avesnes hatte, selbst 35 Jahre alt, gegen den Willen der noch in Frankreich weilenden Johanna und ihrer Räte, 1211 die neunjährige Erbin geheiratet. Johanna erklärte die Ehe für ungültig, da Bouchard bereits geistliche Weihen empfangen habe. Sie und ihre Räte klagten beim Heiligen Stuhl. Die sich daraus ergebenden Prozesse und Wirren zogen sich jahrelang hin. Etwa 1218 vollzog Bourchard gegen alle Proteste die Ehe tatsächlich. Margarete gebar ihm zwei Söhne. 1221 willigte Bouchard, zeitweilig in Gefangenschaft seiner Schwägerin geraten, endlich in die Auflösung der Ehe. 1224 widerrief er aber. Margarete hatte sich freilich bereits anderweitig verheiratet. Das Land seufzte unter all diesen Wirrungen, und die Erinnerung an die wohltätige Herrschaft Balduins gewann immer größeren Glanz. Sie nährte offensichtlich den Wunsch, er möge noch leben und eines Tages wiederkehren. Eine Hungersnot, der die selbst finanziell hart bedrängte junge Gräfin nicht abzuhelfen vermochte, förderte solche Stimmungen noch weiter. So wirklichkeitsfremd diese Wunschhoffnungen auch waren, gewannen sie etwa 1222 neue Nahrung. In Valenciennes wurden unter den dortigen Franziskanermönchen einige Adlige entdeckt, die wie Balduin am vierten Kreuzzug teilgenommen hatten, später in muslimische Gefangenschaft geraten waren und sich nach manchen Abenteuern über Portugal 1218 in ihre Heimat durchgeschlagen hatten. Zum Dank für ihre Errettung aus mancherlei Gefahren hatten sie gelobt, Mönche zu werden. Ein junger Verwandter hatte nun ihr Inkognito enthüllt. Konnte Balduin nicht ein vergleichbares Schicksal erlitten haben? Anfang 1224 trat ein geheimnisvoller Sendbote auf, der an die Armen Geschenke verteilte und die baldige Wiederkehr Balduins prophezeite. Und noch im selben Jahr fiel dem edlen Herrn Everard Radous IV. von Mortga(i)gne, Burgherr von Tournai, bei einem seiner Dörfer, Glauchon oder Glançon, zwischen Tournai und Valenciennes gelegen, ein seltsamer Einsiedler unbekannter Herkunft auf, der nach der Meinung des edlen Herrn eine gewisse Ähnlichkeit mit Balduin aufwies. Nur schien er etwas zu kleinwüchsig. Der Herr alarmierte dennoch andere Adligen, darunter den berüchtigten Bouchard von Avesnes 6 , aber auch Philipp von Namur-Courtenay, einen Vetter der Gräfin Johanna. Selbst ein vertrauter Rat Johannas, von bösen Zungen als ihr Geliebter gehandelt, Arnulf (Arnoul) von Audena(a)rde, stellte sich ein. Sie alle befanden, der Eremit müsse Balduin sein. Zweifel äußerten nur die adligen Franziskaner und zuletzt noch der Rat Arnulf. Später revidierte auch Everard Radous sein Urteil. Der langbärtige Einsiedler seinerseits machte sich über die wundergläubigen Herren lustig. Er verglich sie mit den verrückten Bretonen, die seit Jahrhunderten auf die Wiederkehr ihres sagenhaften Heldenkö6

Lecuppre S. 158 vermutet in Bouchard sogar den Hauptdrahtzieher hinter dem falschen Balduin.

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nigs Artus harrten. Aber dann ließ er sich doch erweichen, seine wahre Identität preiszugeben. Ja, er sei Balduin. Er zeigte den Herren seine Kampfnarben, die ihn zumindest als Ritter auswiesen. Auch hatte er als Folge seiner Haftbedingungen in Bulgarien einige Zehen verloren, sodass er hinkte. Sein Lese-und Schreibvermögen wiesen höhere Bildung nach7. Aus Bulgarien entflohen war er angeblich sieben Mal den Moslems in die Hände gefallen, habe in Syrien als Sklave gedient, sei aber mit Gottes Hilfe immer wieder entwichen, allerdings zwischendurch zwangsweise zum Islam übergetreten, wofür er nun als Eremit auf Geheiß des Papstes sieben Jahre Buße tun wolle. Er erbat sich, um das Gelübde zu erfüllen, von seinen getreuen Adligen noch einige Frist, ehe er sich öffentlich zu erkennen gebe. Von seinen viel vermögenden Anhängern glänzend ausgestattet zog er dann hoch zu Ross am 14. April 1225 in Valenciennes ein.8 Seine Großzügigkeit gewann ihm alle Herzen. Besonders liefen ihm die Scharen der einfachen Tucharbeiter zu. Pfingsten 1225, am 18. Mai, ließ er sich, in kaiserlichen Purpur gehüllt und frisch rasiert und gebadet als Graf von Flandern, Hennegau und Kaiser von Konstantinopel und Thessalonike huldigen, erteilte zehn Ritterschläge und vergab Ehrenämter und Lehen. Als Zeichen seiner Büßerfrömmigkeit und Volksnähe hielt er anstelle eines Szepters einen „Stab der Milde“ in der Hand. Brieflich mit kaiserlichem Siegel kündigte er der geliebten Tochter Johanna die Wiederaufnahme seiner Regierungstätigkeit an. Die Herzoge von Brabant, Löwen und Limburg anerkannten ihn, König Heinrich III. von England bat ihn schriftlich um Wiederbelebung des flandrisch-englischen Bündnisses gegen Frankreich. 9 Balduin hatte bereits (z. T. wohl vor seinem Triumph in Valenciennes ?), in einer Sänfte getragen oder auf einem Zelter reitend, Flandern durchzogen. Die Bürger von Gent, Brügge und fast aller anderen Städte des Landes überreichten ihm die Stadtschlüssel. Er zeigte sich dem Volk als liebevoller Großvater in Begleitung seiner kleinen Enkelsöhne, den beiden Knaben aus der Ehe Bouchards von Avesnes mit Margarete. Wenn Gott selbst auf die Erde gekommen wäre, wäre er nicht besser empfangen worden, schrieb ein damaliger Chronist10. Man küsste seine Narben, schlürfte sein Badewasser, seine Barthaare wurden als Reliquien gehandelt.

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Cahour S. 81 – der Chronist Philippe Mouskes behauptet allerdings, der echte Balduin selbst sei ein Verächter solcher Künste gewesen: Cahour S. 228 Cahour S. 159 erwähnt einen Aufenthalt der Gräfin Johanna in Valenciennes Ende April und schließt daraus, dass der Prätendent sich zwischenzeitlich in seine Klause zurückgezogen habe. Das Schreiben abgedruckt bei Cahour S. 172 mit dem auffallend frühen Datum Westminster, 11. April 1225. Philippe Mouskes (Mouske), Bischof von Tournai, der nach 1232 eine Reimchronik verfasste. Wolff S. 297

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Dörfer und Adelssitze, in denen man Zweifler an der Echtheit Balduins vermutete, wurden von seinen Anhängern grausam verwüstet, auch Kirchen und Klöster nicht geschont. Gräfin Johanna floh mit ihrer Schwester Margarete zu ihrem Lehnsherren König Ludwig VIII. von Frankreich. Die adligen Franziskaner hatten ihr zuvor nochmals den Tod ihres Vaters beschworen. Auch war das Auftreten eines falschen Kreuzfahrt-Heimkehrers in Flandern nichts Neues. 1176 hatte sich ein betrügerischer Eremit in der Nähe von Douai als den 1146 im Osten verschollenen Herrn Balduin d’Ardre ausgegeben. Er war dann samt den nicht unbeträchtlichen milden Gaben, die ihm zuflossen, wieder verschwunden.11 Dieser Vorfall mochte Johannas Misstrauen weiter nähren. Ludwig VIII. sicherte Johanna seine Hilfe zu. Es wurde ein Vertrag zur Regelung der Kosten eines eventuell notwendigen Feldzugs gegen „Balduin“ geschlossen. Vorerst schickte der König eine seiner älteren Tanten, Sibylle (Isabelle) von Beaujeu, eine Schwester des echten Balduin, an den Hof des Wiedergekehrten. Die Dame durchschaute zwar den Betrug, spielte dem angeblichen Balduin aber vor, unschlüssig bezüglich seiner Echtheit zu sein und gewann ihn so dafür, sich ihrem königlichen Neffen zu stellen. Das Treffen wurde in die Stadt Péronne anberaumt, und Balduin, wer er auch immer sei, sollte danach, unabhängig von der Entscheidung des Königs, drei Tage freien Abzug erhalten. Am 30. Mai 1225 fand die denkwürdige Zusammenkunft statt. Der König und seine Räte examinierten Balduin, der mit großem Gefolge eingetroffen war, über Vorfälle bei seiner einstmaligen Belehnungsfeier und diversen anderen Festivitäten am königlichen Hof, an denen der echte Balduin seinerzeit teilgenommen hatte. Ihnen fiel das schlechte Französisch des angeblichen Grafen und Kaisers auf – der redete sich mit seinen langen Wanderungen in Ländern fremder Sprachkultur heraus. Aber er verhedderte sich dann immer mehr bei den Einzelfragen und täuschte schließlich in seiner Not einen Schwächeanfall vor. Während Balduin zur Erholung auf seine Kammer gebracht wurde12, unterrichteten die Bischöfe von Orleans und Beauvais sowie der Abt von L’Aumȏne oder Petit Citeaux (bei Blois) den König, sie hätten in dem angeblichen Balduin einen gewissen Bertrand de Ray(n)s erkannt, einen fahrenden Sänger oder Jongleur und Dienstmannen eines Herrn aus der Champagne13 oder Burgund. Wahr11 12

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Cahour S. 126 Über den genauen Ablauf der Begegnung von König und Prätendent widersprechen sich die Quellen. Cahour S. 210 hält für wahrscheinlich, dass sich die beiden zu einem Morgengespräch trafen, danach jeder mit seinem Gefolge speiste (wobei der König bereits von den Bischöfen über den Betrug informiert wurde) und danach erst die strenge Befragung „Balduins“ anzusetzen wäre. Lecuppre S. 76 nennt in seiner Darstellung der Entlarvungsszene als Herrn des falschen Balduin Clarembaud von Chapes (heute Dept. Aube). „Balduin“ sei der Sohn eines Pierre Cordide (Cordièle) gewesen. Ebd. Anm. 3) vermutet Lecuppre mit „Rai(n)s“ könnte Reims gemeint sein. Ebenso S. 123.

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scheinlich habe er als dessen Gefolgsmann am vierten Kreuzzug teilgenommen. Er sei auch schon früher als Hochstapler berüchtigt gewesen und habe sich als Graf Ludwig von Blois ausgegeben. Der Graf von Blois war wie der echte Balduin 1205 bei Adrianopel verschollen. Als man Bertrand oder Balduin (am nächsten Morgen?) zum König zurückrief, musste man allerdings feststellen, dass der Vogel ausgeflogen war. Ludwig VIII. nahm die Sache mit Humor, stellte aber Johanna Truppen zur Verfügung, um ihren „Vater“ in Valenciennes, wo er wieder auftauchte, zu belagern. Der Rat der Stadt beschloss, den lästig gewordenen Mann an Johanna auszuliefern. Ein Volksaufstand verhinderte das. Zeitweise beherrschte die Anhängerschaft des falschen Grafen und Kaisers die Stadt. 14 Balduin-Bertrand aber suchte von selbst das Weite. Unterstützt und begleitet vom Abt Thierry des St.Johannes-Klosters, Hofkaplan im Hennegau, schlich er nächtens, wohlversehen mit seinen Schätzen, aus der Stadt. Ob er auf seiner weiteren Flucht versucht hat, mit Erzbischof Engelbert von Köln in Verbindung zu treten, bleibt unklar.15 Im Oktober 1225 wurde er, als Kaufmann verkleidet, bei Besançon in Burgund (oder in der Champagne?) aufgegriffen und an Ludwig VIII. ausgeliefert, der ihn Johanna übergab. Trotz der Bitte des Königs, den närrischen Kauz am Leben zu lassen, ließ ihn die Gräfin nach demütigenden Schandumzügen durch die Städte Flanderns und des Hennegaus in Lille, nachdem er unter Folter vor ihr seinen Betrug eingestanden hatte16, zwischen zwei räudige Hunde gekettet an den Pranger stellen und dann vor der Stadt aufhängen. Der Abt des St. Johannes – Klosters eilte herbei und bestattete ihn christlich.17 Die erbitterte Gräfin ließ die Leiche aus dem Grab reißen und wieder an den Galgen hängen. Die Stadt Valenciennes musste nach ihrer Kapitulation ein hohes Bußgeld zahlen, mit dem Johanna endlich ihren Gemahl Ferrand aus französischer Gefangenschaft lösen konnte. Das Andenken an Balduin-Bertrand blieb jedoch noch lange lebendig. Johanna (gest. 1244), später wegen ihrer mildtätigen Stiftungen „die gute Gräfin“ genannt, musste sich von seinen Anhängern als „Vatermörderin“ beschimpfen lassen.18 Einige zeitgenössiche Chronisten hielten den geheimnisumwitterten

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Pirenne S. 355 sieht darin eine erste demokratische Volksbewegung im ausgehenden Mittelalter Die Diskussion darüber bei Cahour S. 257 f. Albrecht von Stade S. 67 schildert Engelberts Einsatz für „Balduin“, eine Kölner Chronik und Philipp Mouskes behaupten, Balduin sei nicht bis zum Erzbischof vorgedrungen. Lecuppre S. 243 – einige Quellen behaupten, er sei bis zuletzt standhaft geblieben (so eine Chronik aus Tours). So Albrecht von Stade S. 67. Nach anderen Quellen handelte es sich um dem Abt des Zisterzienserklosters von Loos. Cahour S. 290. Lecuppre S. 37 (Anm.)

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Eremiten für den echten Balduin.19 Noch im 19. Jahrhundert haben angesehene Historiker ernsthaft die Echtheit des angeblichen Heimkehrers zu belegen versucht.20 Ein literarisches Denkmal setzte ihm endlich, da sich kein Shakespeare oder Schiller dazu gefunden hatte, der eingangs erwähnte Schriftsteller Le Rousseau 1854. (Den früheren Versuch eines gewissen Nepomucène Lemercier tut Le Rousseau als eine ganz unhistorische Liebesschmonzette um die Gräfin„Kaiserin“ Marie ab.) Das von ihm verfasste Drama weist eine Reihe von Eigentümlichkeiten auf, die sich bei vielen literarischen Arbeiten zum Thema der falschen Prätendenten immer wieder finden. Es soll deshalb etwas ausführlicher vorgestellt werden, als es vielleicht seinem literarischen Wert nach verdient. Le Rousseau will sich möglichst dicht an die historischen Quellen halten, geht aber, wie er sagt der Dramaturgie zuliebe, von der Echtheit des wiedergekehrten Balduin aus. Die ersten drei Akte seines Werkes sind denn auch den Taten Balduins als Graf von Flandern, auf dem vierten Kreuzzug, während seines lateinischen Kaisertums und in der bulgarischen Gefangenschaft gewidmet. Im vierten Akt setzt dann das Geschehen um den als Pilger-Eremiten nach Flandern zurückgekehrten Grafen und Kaiser ein. Zum Inhalt: In der Heimat will der durch viele Prüfungen charakterlich geläuterte Balduin nur noch seinen Frieden finden und dem Volk und seiner leichtlebigen Tochter in der Rolle eines einfachen Eremiten Lehrer und Berater sein. Aber das Volk erkennt seinen Herrn und zwingt ihn in den Palast. Seine Tochter Johanna verleugnet ihn. Um dem Land einen Bürgerkrieg zu ersparen, taucht Balduin wieder unter, wird aufgegriffen und vor das königliche Gericht gebracht. Hier erscheint unversehens auch seine Gemahlin Marie, die keineswegs im Heiligen Land verstorben, sondern so wie ihr Gemahl in bulgarische Gefangenschaft geraten ist und sich als einfache Pilgerin nach Flandern durchgeschlagen hat. In den Aufregungen der Verhöre sinkt sie jetzt allerdings entseelt zu Boden. Zwar spricht neben ihrer Aussage die wahrhaft königliche Haltung, die sein Herrscherblut bezeugt, für Balduin, aber aufgrund der Verleugnungen durch Johanna und einiger adliger Intriganten wird Balduin zur Hinrichtung nach Flandern eskortiert. Nach seiner Abführung tauchen jedoch neue Zeugen für seine Echtheit auf. Auch lässt sich 19

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Lecuppre S. 125 nennt die „Chronique de Saint Martin de Tours“, Albrecht von Stade, der seine Weltchronik 1232 bis 1256 verfasste, berichtet zum Jahre 1224 :über das Aufsehen, das der seltsame Eremit in Flandern erregte „ da dieser dem Grafen Baldewin sehr ähnlich war oder vielmehr weil er es selbst war“ (S. 66). Andrerseits berichtet Albrecht von Stade, der Bischof Konrad von Halberstadt habe den Tod des echten Balduin glaubwürdig bezeugt. Er schließt seinen Bericht lakonisch mit „jetzt noch fehlt die Entscheidung“ (über die Echtheitsfrage). S. 67 Wolff S. 299 erwähnt insbesondere den deutschen Historiker Eduard Winkelmann, der sich 1889 so äußerte. Cahour S. 174 diskutiert die entsprechende Behauptung des französischen Historikers Sismondi von 1823.

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das Volk im Gerichtssaal nicht von seinem Glauben an ihn abbringen. Selbst Johanna ist nun erschüttert. Sie willigt ein, Balduin aus den Händen seiner Büttel retten zu lassen. Der edle Graf kommt im Handgemenge zwischen seinen Bewachern und seinen Rettern um. Auf diese Nachricht versammelt man sich am Königshof zum gemeinsamen Gebet für den großen Grafen und Kaiser. Johanna fällt aus Reue in Ohnmacht. Soweit grob zum Inhalt des verwickelten Dramas. Für die Autoren populärer Dramen oder Romane zum Thema falscher Prätendenten ist wie gesagt vieles an den Konstrukten Le Rousseaus typisch. Sie entscheiden sich platt für die Echtheit oder Unechtheit des Prätendenten. Fällt die Entscheidung für die Echtheit wie bei Le Rousseau, dann ist der Protagonist beinahe zwangsläufig ein frommer, guter Edelmensch. Entgegen der Hypothese Le Rousseaus, der Ausgang von der Echtheit des Prätendenten erhöhe den Spannnungsbogen, erzeugt das mit dieser Voraussetzung verbundene Edelmenschentum des Helden eher Langweile. Le Rousseau versucht immerhin in der Idealfigur seines Balduin das Bild eines Herrschers zu zeichnen, der seinem Volk nur Ratgeber und Mahner ohne jeden Machtanspruch sein will. Er greift damit die zu seiner Zeit laufende Debatte um die Funktion eines liberal-konstitutionellen Monarchen auf. Ein solches unhistorisches Einflechten jeweils aktueller Problemthemen ist freilich bei nur allzu vielen Verfassern historischer Romane und Dramen zu bemerken. Diese Belehrungsabsichten verstärken zumindest für spätere Leser die latente Langweile. Um ihr zu entgehen, werden dann die historischen Fakten, so unwahrscheinlich sie an sich schon sind, noch mit scheinbar effektvollen Zusätzen aufgepuscht. (Bei Le Rousseau die mehrfachen persönlichen Begegnungen Johanna-Balduin, das Auftreten der Kaiserin Marie , die Reue der Johanna usw.) Die Zusicherung, sich an die quellenmäßig belegten Gegebenheiten zu halten, wird darüber meist vergessen. Sie wären gerade im Falle Balduins ein dankbares Feld für dichterische Bemühungen, da Bertrand-Balduin offensichtlich nicht einfach bloß einen aus dem Exil zurückgekehrten Herren darstellen wollte, der nur seine alten Machtbefugnisse wieder einforderte. Vielmehr verstand er sich offensichtlich auch als eine Art Messias und ließ sich dementsprechend verehren. Seine Beziehungen zu den Franziskanern, seine wahrscheinliche Herkunft aus dem Gauklermilieu, sein Verhältnis zu Adelskreisen und städtischen Unterschichten böten in diesem Zusammenhang genügend Anreize für fruchtbarere und gleichzeitig historisch gebundenere schriftstellerische Spekulation. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der falsche Balduin ein Muster für die Weiterentwicklung der politischen Hochstapelei im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit entwickelt hat.21 Dazu gehören das Rekurrieren auf einen 21

In diesem Sinne geht Schwinges S. 179, S. 182-199 immer wieder auf ihn ein.

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volkstümlichen Herrscher und dessen geheimnisvollen Abgang, sein angeblicher Aufenthalt im Kreuzfahrer-Osten, sein Büßertum als Eremit oder Pilger, sein (vorgetäuschtes?) Zögern, sich als heimgekehrten Herren entdecken zu lassen, sein Anknüpfen an die messianischen Sehnsüchte (städtischer) Unterschichten22, aber auch die Bereitschaft, sich zunächst von höheren Kreisen im Rahmen politischer Intrigen hochspielen zu lassen.

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Pirenne, S. 356 sieht in ihm geradezu einen Vorläufer der Wiedertäufer

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VII. Eine deutsche Krankheit ?: falsche Kaiser und Fürsten Der französische Historiker Gilles Lecuppre, der sich neuerdings ausgiebig mit dem Thema politischer Hochstapelei im Mittelalter beschäftigt hat, weist nach, dass von etwa dreißig bekannten Fällen dieser Art in West-und Mitteleuropa nicht weniger als zwölf in Deutschland, dem damaligen Heiligen Römischen Reich Deutscher >ation, zu verzeichnen sind. Er spricht von einer „deutschen Krankheit“. (Lecuppre 2008, S. 49) Und nicht nur zahlenmäßig, sondern auch zeitlich führt Deutschland in dieser Hinsicht, denn nahezu ein Jahrhundert vor dem falschen Balduin in Flandern trat bereits eine mysteriöse Figur auf, die sich für den 1125 verstorbenen römisch-deutschen Kaiser Heinrich V. ausgab. Der falsche Kaiser Heinrich V.1 Zwei in etwa zeitgenössische Quellen berichten über diesen geheimnisvollen Mann, wahrscheinlich einen Eremiten, der sich 1137/38 in Italien und/oder bei der Stadt Solothurn in der heutigen Schweiz als den an sich 1125 verstorbenen Kaiser Heinrich V. zu erkennen gab. Er soll diesem Herrscher ähnlich gesehen und vor allem dessen überlange Arme besessen haben. Auch wusste er mit mancher Einzelheit aus dem Leben des Kaisers aufzuwarten. Die Motive oder Hintergrundsintrigen, die diesen Hochstapler antrieben, sind vollkommen unklar. Der echte Kaiser Heinrich war kein besonders volkstümlicher oder charismatischer Herrscher gewesen. Er wird als ein eher düsterer und habgieriger Charakter beschrieben, der mit seinem Vater Heinrich IV., dem Kaiser des Investiturstreits, mit den Päpsten und den deutschen Fürsten manches hinterhältige Spiel trieb und dabei nicht einmal allzu großartige politische Erfolge erzielte. 1122 beendete er mit dem Konkordat von Worms den langwierigen Investiturstreit, der seinerzeit seinen Vater nach Canossa geführt hatte. Er rettete hier mit Mühe einen gewissen königlichen Einfluss auf die Vergabe kirchlicher Würden und der damit verbundenen weltlichen Herrschaften. Alles in allem also kein Mann, der zur Identifikation einlud. Zur Not ließen sich aus dem Zeitpunkt, den der falsche Heinrich für sein Auftreten wählte, Vermutungen ableiten. 1137/38 stand in Deutschland eine Königswahl an. Ein Bewerber um die Krone war der Hohenstaufe Konrad, der als Neffe des kinderlosen Kaisers Heinrich kandidierte. Lebte Heinrich V. noch, oder ging auch nur ein derartiges Gerücht um, wäre Konrads Kandidatur schwieriger geworden. Es gibt jedoch keinerlei Hinweise darauf, dass die Konkurrenten Konrads mit dem falschen Heinrich in Verbindung standen oder ihn auch nur wahrgenommen hätten. 1

Zu ihm Lecuppre 1989 passim und nochmals 2008, S. 50-51: als Quellen (mit Auszügen in den Anmerkungen in dem Aufsatz von 1989) nennt Lecuppre die Chroniken des Richard von Poitiers (gest. 1170?) und des Fortsetzers des Sigebert von Gembloux

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Im Schweizer Jura sorgte die angebliche Wiederkehr Heinrichs V. allerdings für einige Unruhen, es soll zwischen den Anhängern und Feinden des Prätendenten zu tödlichen Schlägereien gekommen sein. Der ominöse Heinrich wurde schließlich in das Kloster Cluny in Burgund überstellt, dessen berühmter Abt Petrus Venerabilis, d.h. „der Verehrungswürdige“ (gest. 1156), ihn als Mönch aufnahm. Über sein weiteres Leben ist nichts bekannt. Die Aufnahme des falschen Heinrichs ausgerechnet in das Kloster Cluny gibt aber wiederum zu denken, da Cluny eben nicht irgendein Kloster war, sondern das Hauptzentrum jener Kirchenreformer, die den Investiturstreit ausgelöst hatten. Ein seltsames Nachspiel hatte das Auftreten des vorgeblichen Kaisers bei einigen englisch-„angevinischen“ Geschichtsschreibern des 12. und 13. Jahrhunderts.2 Möglicherweise angeregt von Nachrichten über den Pseudo-Heinrich behaupten sie, Heinrich V. habe sich 1125 nur für tot ausgeben lassen, um in mönchischer Abgeschiedenheit für seine Sünden zu büßen. Nach ihnen hätte der echte Heinrich noch lange entweder in Cluny, im englischen Chester oder im französischen Angers gelebt. Die Verbreiter dieser Märchen wollten mit ihren Erzählungen wohl dem englischen Königshaus der Anjou-Plantagenet schaden. Die Witwe des echten Heinrichs war nämlich die Normannin Mathilde, seit 1120 die Erbin Englands. Sie heiratete nach Heinrichs Tod in zweiter Ehe den Grafen Gottfried Plantagenet von Anjou, Herr auch in Angers. Diese Ehe wäre aber im Falle des Weiterlebens ihres ersten Gatten ungültig gewesen und die daraus hervorgegangen Nachkommen, also die englische Königsdynastie, demnach nichts als Bastarde. Bei modernen Historikern wird der falsche Kaiser und erste Vorläufer mittelalterlicher Polithochstapler wegen des geringen Echos, das er fand, auch wegen der Fragwürdigkeit seiner Identitätswahl, als – im Gegensatz zu BalduinBertrand in Flandern- wenig stilbildend eingeordnet. Nur sein „Eremitentum“ finde sich auch als Element bei späteren Betrugsgeschichten. Im Übrigen fehlte ihm anscheinend noch das geeignete Umfeld von politischgesellschaftlichen Wirren, Wundergläubigkeit und Erlösungshoffnungen, aus denen seine Nachahmer ihre zeitweilig erstaunlichen Erfolge ziehen konnten, unter ihnen besonders die falschen Friedriche, die sich für den 1250 verstorbenen Kaiser Friedrich II. ausgaben.

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Lecuppre 1989, S. 193-95. Genannt werden Geoffroy de Vigeois (um 1160), Roger de Hoveden (gest. 1201), Gautier Map (um 1200), Giraud de Cambrie (gest. 1223), Vincent de Beauvais (gest. 1264), Guillaume de Nangis (Ende 13. Jhd.)

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Der unsterbliche Kaiser Friedrich und seine Wiedergänger Zur Vorgeschichte: Der echte Kaiser Friedrich II., „das Erstaunen der Welt“ war eine der schillerndsten Gestalten des Mittelalters. Zu Weihnachten 1194 als Sohn des römisch-deutschen Kaisers Heinrich VI. aus dem Geschlecht der Hohenstaufen und der >ormannenprinzessin Konstanze, Erbin des Königreiches >eapel-Sizilien, geboren, wurde er auf Betreiben seines Vaters 1196 zum ersten Mal zum römisch-deutschen König, d.h. >achfolger seines Vaters, gewählt, doch als sein Vater 1197 starb, übergingen die deutschen Fürsten seine Thronansprüche. 1198 starb auch seine Mutter Konstanze. Sie setzte Papst Innozenz III. zum Vormund ihres Söhnchens ein. Der Junge wuchs unter dubiosunklaren Verhältnissen im sizilianischen Palermo auf, einer Stadt, in der normannische, arabisch-sarazenische, jüdische, griechisch-byzantinische und italienische Traditionen aufeinander trafen. Der heranwachsende König zeigte sich wissbegierig nach allen Seiten offen. 1208 übernahm Friedrich die Regierung seines süditalienischen Erbreiches, 1211 wählte eine deutsche Fürstengruppierung ihn, von seinem Vormund Innozenz III. angestachelt, zum Gegenkönig des in Rom in Ungnade gefallenen deutsch-römischen Königs und Kaisers Otto IV. (aus dem Welfenhause). 121215 folgte der Siegeszug des umjubelten „Kindes von Pule“ (d.h. aus ApulienSüditalien) durch Deutschland mit dem Höhepunkt seiner Krönung in Aachen. Die braven Deutschen staunten nicht schlecht über das orientalischsüdländische Gefolge und Gepränge ihres neuen Königs. 1220 schloss sich die Kaiserkrönung in Rom an. Der Kirche verpflichtet, gelobte Friedrich einen Kreuzzug. Da er die Einlösung seines Versprechens immer wieder hinausschob und auch sonst die Kurie in Rom zusehends durch seine italienische Machtpolitik brüskierte, wurde er 1229 gebannt. Das hinderte ihn nicht daran, sich endlich auf den Kreuzzug zu begeben. Zuvor heiratete er in seiner zweiten von drei (oder vier?) Ehen die Erbin des (zum größten Teil längst wieder in moslemische Hand gefallenen) Kreuzfahrer-Königreichs Jerusalem. Der gebannte Kreuzfahrer erreichte durch diplomatische Verhandlungen mit den Moslems die (vorübergehende) Rückgabe Jerusalems, wo er sich 1229 eigenhändig zum König krönte, um anschließend den heiligen Stätten der Moslems seine Besuchsreverenz zu erweisen. Weitere Konflikte mit der Kirche blieben nach einer kurzen Entspannung nicht aus. Der Versuch Friedrichs, ganz Italien seiner Herrschaft zu unterwerfen, der Aufbau eines rein weltlichen Beamtenstaates in >eapel-Sizilien, seine heidnische Hofhaltung und seine muslimische Leibgarde führten 1239 zur Erneuerung des kirchlichen Bannes und 1245 zu seiner feierlichen Absetzung und der Verfluchung seiner >achkommenschaft auf einem Konzil zu Lyon. In den Kämpfen zwischen Papst und Kaiser entfalteten beide Parteien eine rege Propaganda.

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In sie mischten sich Extremisten aus dem Lager der Bettelorden ein, die so genannten „Spiritualen“. Sie griffen auf die Prophezeiungen des Abtes Joachim von Fiore (1145-1202) zurück, der für das Jahr 1260 den Beginn eines neuen Zeitalters, des „Dritten Reiches“ angekündigt hatte. Um diese Zeit sollte ein Vorläufer des Antichrist oder dieser selbst die alte Kirchen-und Gesellschaftsordnung grausam-mutwillig zerstören, dann aber ein neuer Führer die ersehnte Ära irdischer Glückseligkeit, eben das „Dritte Reich“, herbeiführen. Friedrich wurde nun bald als der große Zerstörer, bald als der rettende Führer gedeutet.3 Sein plötzlicher Tod 1250 entsprach beiden Erwartungen nicht. Die darob verstörten Propheten beider Couleur besannen sich in ihrer Verlegenheit auf eine geheimnisvolle Stelle in den sibyllinischen Büchern, in denen von einem Herrscher die Rede war, der „lebt und nicht lebt“, was auf eine mögliche Wiederkehr Friedrichs hin interpretiert wurde.4 Der Wiener Weltchronist Jans Enikel (oder Enenkel) reimte: „>iemand weiß die Märe, wo er hingekommen wäre. Ob er tot sei seit der Zeit, darüber ist noch Streit.“5 Bestärkt wurde der Glaube an ein Fortleben Friedrichs durch die Vision eines sizilianischen Mönches, der angeblich zur Todesstunde des Kaisers eine Prozession von 5000 Rittern, den Kaiser an der Spitze, aus dem Meer steigend im Ätna verschwinden gesehen hatte. Auch dem Abt von Montserrat im fernen Katalonien erschien der Kaiser in einem Traumbild als zukünftiger Retter des Heiligen Grals. Alle diese Phantastereien musste das Auftreten kaiserlicher Wiedergänger geradezu provozieren. Sie ließen denn auch nicht lange auf sich warten. Giovanni di Cocleria6 In der Gegend am Ätna, wo nach der Legende Friedrich verschwunden sein sollte, tauchte folgerichtig sein erster Wiedergänger kurz nach 1260 auf, also auch um das von den spiritualistischen Propheten anvisierte Datum. Vornehme Almosengeber entdeckten in einem Bettlerhaufen einen älteren Mann, der dem legendären Kaiser ähnelte. Von ihnen mit Fragen bedrängt zog sich der verwirrte Mann als Eremit in die Wälder am Ätna zurück. Um seine Ähnlichkeit mit 3 4

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Dazu Norman Cohn, Kaiser Friedrich II. als Messias Unter den zahlreichen Biographen Friedrichs II. geht insbesondere Eberhard Horst auf die sibyllinischen Prophezeiungen ein. Nach ihm heißt es bei der erythräischen Sibylle in Bezug auf einen namentlich nicht genannten Herrscher: „Verborgenen Todes wird er die Augen schließen und fortleben: tönen wird es unter den Völkern, er lebt und lebt nicht, denn eines der Jungen und von den Jungen der Jungen wird überleben.“ Später wurde das damit angedeutete Fortleben des Herrschers in seiner Dynastie weggelassen. Der Herrscher in eigener Person sollte weiterleben. Horst 1992, S. 331. Dazu auch Christian Jostmann, Sibilla Erithea Babilonica, Papsttum und Prophetie im 13. Jahrhundert, Hannover 2006 Zitiert nach Redlich S. 531 Zu ihm: Schneider passim, mit Anführung aller Primärquellen

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Friedrich zu verbergen, ließ er sich einen Bart wachsen. Vergebens: sizilianische Adlige wussten den im Grunde doch habgierigen Alten mit verführerischen Angeboten von Geld und Ehren an sich zu locken. Sie gaben ihn zunächst im Orte Canturipe (Centorbi) für den wiedererstandenen Kaiser aus. Sendschreiben mit kaiserlichem Siegel wurden in alle Welt verschickt. Der Kaiser habe sich 1250 nur zur Buße zurückgezogen und wolle nun wieder seine Herrschaft aufnehmen. Bei den besagten Adligen handelte es sich neben dem einflussreichen Bartolomeo di Mileto um die Brüder und Neffen des ehemaligen GroßstallmeistersGroßkanzlers-Generalvikars für Kalabrien und zeitweilig auch Sizilien, Pietro Ruffo, den König Manfred, unehelicher Sohn und seit 1254/1258 Nachfolger Kaiser Friedrichs im Königreich Neapel-Sizilien, 1257 ermorden hatte lassen. 7 Ruffo hatte die Thronansprüche des noch unmündigen, in Deutschland aufwachsenden legitimen Friedrich-Enkels Konradin gegen den Bastard Manfred vertreten. Die Propagierung des falschen Friedrich, in Wahrheit ein gewisser Giovanni di Cocleria (auch: Calceria/Calcaria), sollte den unglücklichen Ruffo rächen. Andere Adlige schlossen sich der Sache an. Papst Urban IV., über die sizilianische Bewegung informiert, ermunterte die Rebellen in ihrer Unternehmung. Ein etwas erstaunliches Verhalten angesichts des abgrundtiefen Hasses, mit dem die Kirche ansonsten das Andenken Friedrichs zu verunglimpfen pflegte. Aber gegen den mächtigen Kaisersprössling Manfred war jedes Mittel recht. König Manfreds Statthalter auf Sizilien musste einschreiten. Er war gezwungen, die Stadt Castrogiovanni, das antike Enna, wo der falsche Friedrich seine Residenz genommen hatte, regelrecht zu belagern. Von der Aushungerung bedroht, lieferten die Bürger der Stadt den „verschlagenen Greis“ endlich in die Hände seiner Feinde. Zwei seiner engsten Vertrauten, Guglielmo di Malacucina und Andrea di Bartoluccio halfen bei dem Verrat. Der falsche Kaiser wurde gefoltert – wobei er seinen eigentlichen Namen preisgab – und mit elf Spießgesellen 1262 in Catania gehängt. Auch die beiden Verräter entgingen ihrem Schicksal nicht. König Manfred ließ sie später blenden und aufknüpfen. Sie hatten dem falschen Friedrich doch zu nahe gestanden. Ob bei der Niederschlagung dieser Bewegung Riccardo Filangieri, dem Generalvikar Manfreds auf Sizilien, oder Heinrich von Ventimiglia, Grafen von Ischia, den Manfred in einem späteren Brief dafür lobte, das Hauptverdienst zukam, bleibt unklar.8 Manfred, der sich um die Jahreswende 1261/62 bereits für einen Zug nach Sizilien gerüstet hatte, brauchte jedenfalls nicht mehr selber einzugreifen. Seine Visitation der Insel 1262 belegt aber die Bedeutung, die er der Cocleria-Affäre beimaß. Möglicherweise war Manfred auch alarmiert, weil kurz vorher bereits in Apulien ein falscher Friedrich aufgetreten war: doch ist die Quelle hierzu, eine Erfurter Chronik, sehr unbestimmt. Vielleicht liegt eine Verwechslung mit dem sizilianischen Fall vor. 7 8

Zu Ruffo und Giovanni di Cocleria: Rill S. 292, S. 298-304 Schneider S. 60

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Zwischenspiel: der unfreiwillige Konradin9 Die Kirche verfolgte auch die Nachkommen Friedrichs als „Vipernbrut“. Der Papst als Lehnsherr übertrug das staufische Erbkönigreich Neapel-Sizilien an Karl von Anjou, einen Bruder des Königs von Frankreich. König Manfred fiel 1266 in der Entscheidungsschlacht gegen Karl von Anjou. (Der zeitgenössische italienische Chronist Salimbene erwähnt übrigens kurz, dass Karl von Anjou später einen oder mehrere falsche Manfrede hinrichten ließ, von denen aber sonst weiter nichts bekannt ist.)10 1268 machte sich aber Konradin von Schwaben, der blutjunge Enkel Kaiser Friedrichs und Neffe Manfreds, in einem abenteuerlich-romantischen Unternehmen auf, Karl von Anjou aus seinem, Konradins, angestammten Königreich zu vertreiben. Er wurde gefangengenommen und in Neapel öffentlich hingerichtet. Das traurige Schicksal des letzten Staufers rührte Mit-und Nachwelt zu Tränen. Man wünschte, der tapfere Heldenjüngling möge auf irgendeine wunderbare Weise der schmählichen Hinrichtung entgangen sein. Vielleicht zuerst unter versprengten deutschen Söldnern Konradins in Süditalien, vielleicht aber erst in Pisa oder unter Studenten in Pavia entdeckten Kommilitonen einen Jüngling, dessen Liebenswürdigkeit, Bildung, Charme und Aussehen an den volkstümlichen Kaiserenkel erinnerten. Der junge Mann entzog sich jedoch den Gerüchten, er sei Konradin, durch Flucht in die Schweiz. Die Fama von der Wiederkehr Konradins eilte ihm jedoch voraus. In Zürich sammelten sich begeisterte Neugierige um ihn. Der Rat der Stadt setzte ihn jedoch (so eine spätere Nachricht) als Unruhestifter in Haft. Auch der echte Konradin hatte sich bei den Ratsherren vor seinem Italienzug unbeliebt gemacht. Er hatte als Herzog von Schwaben die Oberhoheit über die Stadt eingefordert. Bischof Eberhard II. von Konstanz und Abt Berthold von Sankt Gallen, über die Vorfälle in Zürich unterrichtet, ließen den jungen Mann durch Boten vernehmen. Diese blieben unschlüssig, was von dem jungen Mann zu halten sei. Er selbst behauptete, nicht derjenige zu sein, für den man ihn ausmachen wolle, aber er sagte auch „bald werdet ihr den sehen, den ihr ersehnt.“11 Bischof Eberhard II. von Konstanz, in früheren Jahren ebenso wie der Abt von St. Gallen einer der Erzieher Konradins, ließ den rätselhaften Jüngling zu sich rufen. Die Konstanzer empfingen ihn mit großem Jubel. Der Bischof seinerseits entlarvte ihn als Betrüger, doch konnte der also Beschuldigte nachweisen, dass er selbst sich niemals für Konradin ausgegeben habe. Er habe in Pavia studiert, aber das Klima nicht vertragen und sei 9

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Zu ihm ausführlich mit Angabe aller Primärquellen, hauptsächlich der „Notae Weingartenses“, verfasst um 1270 und entdeckt 1855, Schreibmüller passim. Dort auch Ausführungen zur literarischen Verarbeitung der Geschichte des falschen Konradin S. 126-31 Schneider S. 59 Zitiert nach Redlich S. 531

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nun auf dem Weg in seine fränkische Vaterstadt Ochsenfurt, wo er das Schmiedegewerbe seines Vaters fortführen wolle. Der einsichtige Bischof, der es sich auch nicht mit seinen von „Konradin“ begeisterten Konstanzern verderben wollte, entließ ihn gnädig in seine Heimat. Auf dem Weg dorthin muss um 1270 das Erscheinen des „Schmiedes von Ochsenfurt“ in Basel noch zu einigem Aufsehen und Tumulten geführt haben. Doch ist der junge Hans Stöcklin – so nennen ihn spätere Quellen – wohl unversehrt in die väterliche Werkstatt zurückgekehrt. Erst der Chronist Andreas von Regensburg gibt um 1350 an, er sei enthauptet worden. Die Geschichte des „Schmiedes von Ochsenfurt“ belegt ein eigenartiges Phänomen: es muss in diesen mittelalterlichen Umbruchszeiten eine Erwartungshaltung oder sogar ein Verlangen nach der Wiederkehr von Herrschern oder deren Abkömmlingen gegeben haben, die aus irgendeinem Grund die Einbildungskraft des „Volkes“ beschäftigten. Harmlose Individuen, die ungewollt solche Phantasien auf sich zogen, mussten in interessante Versuchungen geraten. Sie konnten dann auch sehr leicht dazu gebracht werden, sich für die politischen Machenschaften höherer Kreise verwerten zu lassen. Man denke an den bereits erwähnten Giovanni di Cocleria. So hat man auch vermutet, dass Anhänger des Landgrafen/Markgrafen Friedrich von Meißen-Thüringen (genannt der Freidige oder der Gebissene), durch seine Mutter ein echter Enkel Friedrichs II., dem man gelegentlich die deutsche Königskrone zudachte, den Konradin-Wirbel um den „Schmied von Ochsenfurt“ inszeniert hätten, um die Wirksamkeit des Staufermythos zu testen. Hans Stöckl(e)in, oder wie auch immer der wackere Schmiedesohn aus Ochsenfurt geheißen haben mag, hat sich offensichtlich, abgesehen von seinem oben zitierten rätselhaften Satz über den „Ersehnten“, auf die Dauer aus allen Versuchungen und verlockenden Schlingen befreit. Ein solcher Charakter verdiente wahrhaft eine literarische Würdigung. Sie ist ihm auch – in regionalem Rahmen – zuteil geworden. Schon ein Franziskanermönch Martin erfand um 1300 eine reizvolle Geschichte um Stöcklin. Dieser wurde, so der Mönch, vom Heere Konradins nach dessen Hinrichtung wegen seiner Ähnlichkeit mit dem unglücklichen Stauferspross zum König ausgerufen und führte den verlorenen Haufen von zuletzt 300 Mann in einem achtmonatigem Marsch nach Deutschland zurück, um sich dann in seine Schmiede zurückzuziehen. Der Journalist, Jurist und Dichter Ludwig Braunfels (1810-85) verwertete diese Erzählung in seiner Ballade „Der Schmied von Ochsenfurt“. Darin folgt der Schmied etwas verspätet dem Zug Konradins nach Italien und trifft dort nur noch auf die versprengten Reste von dessen geschlagenem Heer. Als die Leute Konradins den Schmied, der ihrem Herrn sehr ähnlich sieht, erblicken:

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„…schallt es aus der Schaar Der Konradin, er ist’s fürwahr. Befreit hat ihn der Engel Hand, Nun hilft er uns ins deutsche Land. Sie heben klirrend auf den Schild, Sie tragen jubelnd durchs Gefild Den guten Schmied aus Frankenland. Der denket „Hier ist Gottes Hand. Gab er mir Konradins Gestalt, Gab er zu helfen mir Gewalt.“ „Ja“ ruft er laut „mit starker Hand 12 Führ ich Euch heim ins deutsche Land.“

Ein heutiges Ochsenfurter Hotel „Zum Schmied“ verwertet den Stoff dieser Sagenballade in seinem Werbeprospekt im Internet, und auch die Website der Stadt Ochsenfurt greift darauf zurück. Seinerzeit beliebt war ein Reimepos des Schulmannes Ernst Weber (18731948) „Hans Stock, der Schmied von Ochsenfurt. Ein Sang für die deutsche Jugend“, das um 1900 mehrere Auflagen erlebte und seinen Helden sehr pädagogisch als ehrenwerten Bürgermeister von Ochsenfurt enden lässt. Weniger bekannt war das Drama des Ochsenfurter Pfarrers M. K. Hörschel „Der Schmied von Ochsenfurt oder acht Monate König“ (1893). 1936 griff der überaus fruchtbare sudetendeutsche Dichter Hans Watzlik (1879-1948) in seinem historischen Roman „Der Rückzug der Dreihundert“ den Stoff auf. Der Schmied, bei ihm ein Niederbayer namens Hans Grundewald, wird Zeuge der Hinrichtung Konradins und von einem Grafen von Trüdingen überredet, als angeblich geretteter Kaiserenkel die dreihundert letzten Getreuen Konradins in die deutsche Heimat zurückzuführen, wozu der Adlige und seine Standesgenossen selbst nicht fähig sind.. Der Held stirbt am Ende tödlich verwundet. Die Epidemie der falschen Friedriche in Deutschland13 Zur Vorgeschichte: Friedrich II. hatte sich nur selten in Deutschland aufgehalten (1212-20 und 1235-37). Um sich den Rücken für seine italienischen Projekte freizumachen, hatte er die deutschen Fürsten mit Privilegien bedacht, die sie zu fast selbstständigen Regenten ihrer Länder beförderten. Er trug damit zur territorialen Zerrüttung des Reiches und den sich daraus ergebenden chaotischen Verhältnissen in Deutschland bei. Die gegen ihn und nach ihm gewählten Schat12 13

Zitiert nach Alexander Schöppner, Sagenbuch der bayrischen Lande, 2. Band Nr. 668 S. 217, München 1852 Zusammenfassend und mit umfangreichen Quellenangaben zu denn einzelnen Fällen: Struve passim

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tenkönige der im Grunde „kaiserlosen, der schrecklichen Zeit“ waren hilflos. Erst der 1273 gewählte König Rudolf von Habsburg vermochte sich wieder einigermaßen durchzusetzen und den ärgsten Übeln etwas zu steuern. Gerade er aber wurde mit dem Auftreten falscher Friedriche konfrontiert, die man eigentlich eher zu Zeiten seiner schwachen Vorgänger während der „kaiserlosen Zeit“, dem „Interregnum“ erwartet hätte. Überhaupt ist der recht späte Rückgriff auf Friedrich II. auch angesichts von dessen für Deutschland nicht besonders segensreichen Politik schwer verständlich. Es kann sein, dass der Friedrich-Mythos der joachimitischen Spiritualen einige Zeit brauchte, bis er wirklich volkstümlich wurde. Er wurde aber bereits nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland zu Lebzeiten des Kaisers von einem Dominikaner Albert in Schwaben propagiert. Friedrich werde als Züchtiger und Reiniger der Kirche ein neues Zeitalter heraufführen. Ein Chronist Jordanes von Osnabrück verkündete 1280 die zu erwartende Wiederkehr des Kirchenverfolgers oder Heilsbringers. Dieser Mythos hatte mit der realen Person Friedrich kaum etwas zu tun, wirkte aber wohl deshalb glaubhaft, weil Friedrich für die Deutschen eine Figur in geheimnisvoll-exotischer Ferne geblieben war, auf die alle möglichen kirchenkritischen Wünsche und Sehnsüchte projiziert werden konnten. Rudolf von Habsburg, der als „Pfaffenkönig“ galt, war in dieser Hinsicht eher ein Ärgernis. Auch sonst enttäuschte der nüchtern-pragmatische, einfach und sparsam lebende „König mit der langen Nase“ die Volksphantasien hinsichtlich kaiserlichen Glanzes und Herrlichkeit. Einige seiner Einzelmaßnahmen, z.B. harte Besteuerung der Städte, führten zu zusätzlichen Spannungen. In der elsässischen Stadt Kolmar, deren Bürgerschaft sich besonders heftig gegen die neue Steuer des „dreißigsten Pfennigs“ wehrte, trat dann auch 1283 der erste falsche Friedrich auf.14 Er tauchte jedoch spurlos unter, als König Rudolf auf Kolmar marschierte. Es ist die Vermutung geäußert worden, Tile Kolup, der erfolgreichste aller falschen Friedriche, der kurze Zeit danach am Niederrhein auftauchte, sei identisch mit diesem verschwundenen „Bruder Heinrich“ gewesen. Einen Beweis dafür gibt es nicht.15

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Zu der ganzen Serie der falschen Friedriche und auch zu Konradin: Redlich, S. 531541, der darin einen Beleg für „soziale Gärungen, Strebungen und Gelüste(n) der unteren Schichten des Volkes, namentlich in den Städten“ sieht und auf den falschen Balduin in Flandern verweist (S. 540-41). Voigt für die Identität S. 146 „Schwerlich sind in den Rheingegenden zwei Friedriche gleichzeitig aufgetreten, was doch den Glauben des Volkes auf eine allzu hohe Probe gestellt hätte.“ Cohn, Stupor Mundi, S. 626

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Tile Kolup16 Die Karriere des berühmtesten falschen Friedrich begann allerdings sehr unerfreulich. In Köln hatte der Rat der Stadt im Sommer 1284 (oder schon 1283?) einen vielleicht geistesgestörten älteren Mann verhaften lassen, der auf den Marktplätzen zuerst andeutungsweise, dann ganz offen behauptete, er sei Kaiser Friedrich. Da er auch in der Haft hartnäckig immer wieder den Satz „ich bin Kaiser Friedrich“ wiederholte, beschloss die Obrigkeit, ihn drastisch von seinem Wahn zu kurieren. Auf dem Neumarkt setzte man ihn auf einen Leiterthron, stülpte ihm eine Flitterkrone im Wert von einem halben Pfennig über den Kopf und gab ihm dem Spott der Menge preis, die ihm den Bart ausriss und ihn endlich durch eine Mistpfütze schleifte. Vergebens jammerte der Arme „Ich sterbe, ich der Kaiser.“17 Die Stadtbüttel warfen ihn endlich zum Tor hinaus. Kurze Zeit später quartierte er sich in einem Gasthof in Neuss ein, damals eine aufblühende Handelsstadt am linken Niederrhein, in Konkurrenz zu Köln. Dies mag ihn dorthin geführt haben. Er lud angesehene Bürger zu großzügigen Festivitäten und überzeugte sie durch seine Erzählungen aus alten Tagen, die von Veteranen Friedrichs bestätigt wurden, er sei Kaiser Friedrich. Den um sein Geld besorgten Wirt soll er vor die Stadt geschickt haben, wo ihm drei Mohren als Kämmerer Friedrichs die Schätze ihres angeblichen Herrn zeigten. (diese Geschichte taucht allerdings erst etwa dreißig Jahre später in der „Reimchronik Ottokars“ auf, die auch sonst die Ereignisse um den falschen Friedrich phantasievoll ausschmückt). Auch beschloss der Rat der Stadt, dem wiedergekehrten Kaiser Kredit zu gewähren. Tatsächlich muss der Friedrich – Imitator über erhebliche Geldmittel verfügt haben. In einem knappen Jahr verschwendete er angeblich 5000 Mark Silber, eine damals beträchtliche Summe18. Über ihre Herkunft wurde und wird noch immer viel spekuliert. Joachimitische Geheimsekten, „Manichäer“, deren Großmeister er gewesen sein soll, andere Ketzer, gegen König Rudolf intrigierende Fürsten oder Juden, die unter den neuen Steuerlasten seufzten, werden als Spender vermutet. Der Neusser Kaiser baute allmählich einen Hofstaat auf, vergab Titel und Ämter, errichtete eine Kanzlei, führte das kaiserliche Siegel und sandte Sendschreiben in alle Welt. Bei dem Enkel des echten Friedrich, dem Mark-und Landgrafen von Meißen und Thüringen, Friedrich dem Freidigen oder Gebissenen, und bei Herzog Heinrich dem Wunderlichen von Braunschweig zumindest fanden sie wohlwollende Beachtung. Neugierige zogen nach Neuss, um den Wiedererstandenen zu sehen. Sein würdiges, aber gewinnendes Wesen, schönes weißes Haar, seine „leuchtenden Augen“, die Leidensgeschichte aus den Zeiten 16 17 18

Zu ihm mit beigefügtem Dokumentenanhang: ausführlich Meyer passim, auf neuere Erkenntnisse zu Kolup geht Sauer 1999 ein. Zitate nach Meyer S. 22 Voigt S. 146 nach einer sächsischen Chronik

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seiner Verborgenheit, seine wahrhaft kaiserliche Freigebigkeit gewannen ihm viele Herzen. Er gab vor, im Heiligen Land gewesen zu sein, um Buße zu tun, dann wäre er in türkische Gefangenschaft geraten, auch habe er sich wie ein Wurm unter der Erde verborgen gehalten und den sagenhaften Priesterkönig Johannes besucht. Er begann wirklich zu regieren. Die Friesen, bedrängt von Graf Florenz (Floris) V. von Holland, erbaten seine Hilfe. Er ließ den Grafen über den Bischof von Utrecht und den Herzog von Brabant Verwarnungen zukommen und drohte ihm gegebenenfalls mit einem Gerichtsverfahren. Der Graf antwortete mit einem Spottbrief an „das unvermutete Gespenst“ in Neuss.19 Andere Herrschaften nahmen den Herrn in Neuss wie erwähnt ernster. Die Fürstäbtissin Berta von Essen, Gräfin von Arnsberg, erbat und erhielt von ihm das Vorrecht, sich ihren Vogt (d.h. hier: weltlichen Schutzherren) selbst auswählen zu dürfen. Der Erzbischof von Köln hatte ihr das untersagt.20 Aus Städten in der Lombardei und vom italienischen Grafenhaus Este kamen Anfragen, was es mit dem Kaiser in Neuss auf sich habe. König Rudolf wurde aus Neuss aufgefordert, das deutsche Reich als Lehen Friedrichs auf einem Reichstag in Frankfurt aus dessen Händen anzunehmen. Etwas spät und zögerlich ging jetzt der Kölner Erzbischof und Landesherr Siegfried von Westerburg gegen den Neusser Kaiser vor. Sein langes Säumen mag sich aus den Streitereien erklären, in die er mit König Rudolf wegen einiger Zollstationen und dem Königsgut Kaiserswerth verwickelt war: das Spektakel in Neuss kam dem Erzbischof als Nadelstich gegen den König nicht ganz ungelegen. Im Frühjahr 1285 zeigte Siegfried sich mit kleinem Gefolge vor der Stadt und forderte die Auslieferung des Betrügers. Da die Neusser aber schon lange im Hader mit ihrem Landesherrn lagen21, wurde sie ihm verweigert. Siegfried zog erfolglos ab, begab sich aber im April 1285 nach Nürnberg zu König Rudolf, söhnte sich mit ihm aus und unterrichtete ihn über die Gefahren, die von Neuss her drohten. Zurückgekehrt bereitete er einen ernsthaften Zug gegen die Neusser und ihren Kaiser vor.22 19 20

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22

Der Brief in Übersetzung bei Sauer S. 10.-11. Redlich S. 534 bezweifelt die Echtheit dieser erst im 18. Jhd. aufgefundenen Dokumente. Noch 1289 wurde die Äbtissin deshalb und anderer Anklagepunkte wegen von Erzbischof Siegfried vor ein geistliches Gericht geladen. Der Erzbischof verglich sie mit einer wilden Sau. Regesten der Erzbischöfe von Köln S. 181 Redlich S. 534 und Sauer S. 11, die auf Auseinandersetzungen um 1255 eingeht. Die Spannungen zwischen Neuss und dem Erzbischof werden allerdings von Erich Wisplinghof, Geschichte der Stadt Neuss, Neuss 1975 S. 75 bestritten – aber es gab auch nach ihm Auseinandersetzungen um die Gerichtshoheit zwischen Stadt und Landesherrn. Ein Neusser Bürger hatte deswegen erfolgreich beim Hofgericht König Rudolfs appelliert. Zur Datierung der Ereignisse können die Regesten der Erzbischöfe von Köln beitragen. Danach traf Siegfried Rudolf in Nürnberg am 2. 4. 1285, zog im Mai gegen Neuss, er-

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Angesichts dieser Gefahr verließ der vorgebliche Friedrich die Stadt. Im Juni 1285 erschien er mit Gefolge in der freien Stadt Wetzlar. Er wurde mit Jubel empfangen. Wetzlar schien ihm oder seinen Hintermännern als Sprungbrett für weitere Unternehmungen besonders geeignet. Die Stadt hatte soeben mit Frankfurt, Friedberg und Gelnhausen einen Bund gegen die Steuerforderungen König Rudolfs geschlossen. König Rudolf23, der gerade Kolmar belagerte, wurde indessen von seinen Beratern Burggraf Friedrich von Nürnberg, Graf Eberhard von Katzenelbogen, Graf Friedrich von Leiningen und wie schon zuvor von Erzbischof Siegfried, der nach seinem Sieg über Neuss mit seinen Truppen zu ihm stieß, gedrängt, mit dem falschen Friedrich aufzuräumen, der nicht zu unterschätzen sei. Rudolf hatte bisher die Angelegenheit für einen bedeutungslosen Narrenstreich gehalten, jetzt aber meinte er „was zu toll ist, ist zu toll.“24 Er schickte seine Berater mit Delegationen aus den königstreuen Städten Mainz, Worms u. a. als Unterhändler nach Wetzlar voraus. Der Stadtrat, erschrocken über das drohende Anrücken des königlichen Heeres, gab die Sache des falschen Kaisers verloren. Er schloss am 22. Juni 1285 einen Ausgleich mit dem König, erklärte sich bereit, dessen Steuerforderungen nachzukommen, und erhielt dafür eine Bestätigung aller bisher erworbenen Privilegien als Reichsstadt. Stillschweigend wurde wohl auch die Auslieferung des falschen Kaisers verabredet. Im Ausgleichsvertrag wurde sie nicht erwähnt, wohl um kein Aufsehen zu erregen, denn die einfache Bevölkerung, oder wie ein Chronist bemerkt, der „Pöbel und die Gemeinen“ hingen dem falschen Kaiser an. Möglicherweise kam dieser aber erst nach dem 22. Juni nach Wetzlar. Er wäre also geradezu in eine Falle gegangen. Der Ausgelieferte wurde vom königlichen Marschall Heinrich von Pappenheim an seinen Sattelriemen gefesselt ins Lager des inzwischen vor Wetzlar eingetroffenen Königs geführt. Rudolf hatte ihn, neugierig „ob er es ist oder nicht“25, noch vor seiner Auslieferung in der Stadt durch Burggraf Friedrich, Eberhard von Katzenelbogen und Gerlach von Breuberg verhören lassen und nahm ihn jetzt endlich selber ins Gebet. Der Greis wusste sich in diesen Verhören erstaunlich gut zu halten und beharrte darauf, der Kaiser zu sein. Rudolf, der in seiner Jugend zeitweilig am Hofe Friedrichs, seines Taufpatens, gelebt hatte, hielt das angesichts der Rüstigkeit des Alten für ganz unmöglich: der echte Friedrich hätte um die 90 Jahre gezählt. Der König überließ den Verhafteten seinen Folterknechten. Sie erpressten von ihm das Geständnis, ein Bauernsohn

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hielt von Rudolf am 7. 7. freie Hand gegen die Stadt und gewährte ihr bereits am 9. 7. Pardon (S. 146-48). Zu Rudolfs Vorgehen gegen Kolup: Karl Friedrich Krieger, Rudolf von Habsburg, Darmstadt 2003 S. 192-93 Meyer S. 40 Zitiert nach Sauer S. 12

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namens Tile Kolup (hochdeutsch: Dietrich Holzschuh) aus Friesland zu sein, ein Zauberer und Nekromant. Ein vom König eingesetztes Gericht, wahrscheinlich unter dem Vorsitz Erzbischof Siegfrieds, verurteilte den Geständigen als Ketzer und Zauberer zum Tode auf dem Scheiterhaufen, unabhängig davon, ob er nun der echte oder falsche Friedrich sei – denn auch der echte Friedrich galt als Ketzer. Die Strafe wurde vor den Toren der Stadt Wetzlar, im später so genannten „Kaisergrund“ am 7. Juli 1285 in Anwesenheit Rudolfs und anderer hoher Herren vollzogen. Darunter befanden sich u.a. Erzbischof Erich von Magdeburg, Bischof Vollrad von Halberstadt, die Grafen von Anhalt und Wernigerode und die bereits erwähnten Berater des Königs. Tile Kolup und ein oder zwei Anhänger wurden auf einem Wagen gefesselt den Flammen übergeben. Auf dem Weg zur Hinrichtung beteuerte der Verurteilte jedoch bereits wieder, der echte Friedrich zu sein: auch werde er aus den Flammen neu erstehen. Er werde in drei Tagen in Frankfurt am Main seine Anhänger um sich sammeln. In der Asche des Scheiterhaufens wurde, so berichtet Ottokars Reimchronik26, bis auf ein kleines „Beinlein“ keine Knochenreste gefunden. Aus diesem Beinlein oder Knöchelchen wurde dann in späteren Legenden noch ein bloßes „Bohnlein“ oder Böhnchen, das als Beweis für das Weiterleben des unsterblichen Friedrich herhalten musste. Die Stadt Neuss überließ König Rudolf dem Gutdünken Erzbischof Siegfrieds. Dieser stellte seinen Neussern merkwürdigerweise im September 1285 einen Gnadenbrief aus. (Wussten die Neusser etwas von Verwicklungen ihres Landesherren in die Anfänge der Affäre? Hatten sie ihn damit erpresst ? 27 ) …..Im Übrigen deutet die Sturheit, mit der der falsche Kaiser auf seiner „Identität“ bestand sicher auf einen psychopathischen Fall hin, aber sie hat auch etwas Faszinierendes, das auf Mit-und Nachwelt wirkte. Auch als zumindest teilweise Geistesgestörter zeigte Kolup bemerkenswertes politisches Gespür, indem er die Rivalität zwischen den Städten Köln und Neuss, die Streitereien der Neusser mit ihrem Erzbischof und Landesherren und später die Städteopposition gegen die Steuerpolitik Rudolfs zu nutzen versuchte. Er muss auch, darauf weisen seine Finanzen hin, andere Helfershelfer gehabt haben. Eine spätere Quelle behauptet, erst diese Hintermänner hätten ihn, einen friedlichen Familienvater, halb gegen seinen Willen in die Friedrich-Rolle gedrängt28 (dies steht freilich im Widerspruch zu der Beharrlichkeit, mit der er an seiner Rolle festhielt). An die joa26

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Ottokars Österreichische Reimchronik zu Tile Kolup S.421- 426: Ottokar schrieb Anfang des 14. Jhd. Er verwechselte bereits Neuss und Wetzlar und datierte falsch auf 1276, trug aber viel zur Legendenbildung um Kolup bei und spielte auf eine mögliche Wiederkunft an: „ez war von gotes kraft, daz er liphaft solde noch beliben und die pfaffen vertriben.“ (S. 426) Zur mehrdeutigen Haltung Siegfrieds: Sauer S. 11-12. So Johannes von Winterthur (1348). Struve S. 322

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chimitischen Friedrich-Prophezeiungen scheint er nicht sehr intensiv angeknüpft zu haben. Er war in Neuss und Wetzlar durch seine Freigebigkeit bei den städtischen Armen beliebt. Ihn deshalb zu einem Sozialrevolutionär zu stilisieren, geht aber wohl zu weit. Die überlieferten Fakten zu Tile Kolup spiegeln offensichtlich nur die Oberfläche des Geschehens wieder, und wenn der Historiker sie nur im begrenzten Maße durch eigene Konjekturen vertiefend deuten darf, so wird die literarische Verarbeitung und Interpretation der Kolup-Geschichte bei aller Bindung an die Quellen umso interessanter. Solche literarischen Bemühungen können sicherlich dazu beitragen, die Gestalt Tile Kolups facettenreicher zu deuten. Angesichts des tragischen Endes erscheint allerdings die Umdeutung der Geschichte Tile Kolups in eine Komödie zunächst etwas befremdlich, aber 1934 wagte sich Emanuel Stickelberger mit „Tile Kolup. Eine Bettlerkomödie“, erschienen in Stuttgart und aufgeführt in Basel, an ein solches Unternehmen. Bei ihm ist Tile ein Landstreicher, Possenreißer, Gänsedieb – und ehemaliger Diener am Hofe Friedrichs II. Zwei fahrende Scholaren, mit denen er zufällig zusammentrifft, entdecken seine Ähnlichkeit mit dem Kaiser. Auch weist er zu ihrer Freude wie der echte Friedrich ein charakteristisches Muttermal auf. Sie verbreiten dann ohne Wissen Tiles in Köln das Gerücht, Friedrich werde wiederkehren. Als Tile dann in Köln erscheint, findet er schon ein genügend vorbereitetes Publikum, darunter sogar hochgestellte Patrizier, das ihn als Kaiser ausmachen will. Er geht auf den „Spaß“ ein, fragt sich „Bin ich der Narr oder die andern?“ –und hält auch zuliebe der jungen, entlaufenen Nonne Gertrud, einer Adligen, die er unter seinen väterlichen Schutz nimmt, an der Rolle fest, auch bei den Demütigungen auf dem Kölner Neumarkt. Seine vermögenden Kölner Gönner haben ihn aber bereits nach Neuss empfohlen. Die dortige Hofhaltung Tiles, mit den spitzbübischen Scholaren als Kanzler, malt Stickelberger dann ironisch aus. Tile verfällt allmählich in eine Art Autosuggestion: „Glaub ich’s, dann bin ich’s“ und „Ich muss selbst daran glauben“. Gerechtfertigt sieht er sich auch durch seine Regierungsdevise, die er vor Bettlern und Bürgern, denen er Steuerfreiheit verspricht, verkündet: „Ihr sollt alle glücklich werden“. Auch gelingt es ihm, sein „Töchterchen“ Gertrud mit dem Herzog von Geldern zu verheiraten. Nach seinem Umzug nach Wetzlar erkennt er die Aussichtslosigkeit seiner Lage angesichts der Streitmacht König Rudolfs. Er schickt das Paar Gertrud-Geldern fort, legt seine kaiserlichen Kleider ab und verschwindet als Bettler in der Menge, bereichert um die Erkenntnis: „Nur der Bettler ist der wahre Kaiser.“ So umgeht der Autor Stickelberger das traurige Ende des historischen Tile Kolup. Bei aller Komik des Stückes ist festzuhalten, dass es ernsthaft und nicht uninteressant bemüht ist, auf mögliche psychologisch-subjektive Motivationen und soziale Hintergründe für die Hochstapelei einzugehen. Auch Tilman Röhrig in seinem umfangreichen Roman „Wie ein Lamm unter Löwen“ (erschienen Bergisch-Gladbach 1998) mildert das grausame Ende

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Tiles auf dem Scheiterhaufen ab. Tile darf mit Hilfe der Henkersknechte ein rasch wirkendes Gift einnehmen, bevor ihn die Flammen verschlingen. Auf mehr als 600 Seiten wird die Vorgeschichte Tiles geschildert, eingebettet in ein breites Panorama der Stauferzeit. Tile, ein aufgewecktes Findel-und Bettlerkind, erzwingt sich Zugang zum Tross des jungen Friedrich, findet adlige Gönner und steigt in die „sarazenische“ Leibwache des Kaisers auf. Nach dessen Tod wird er Laienbruder im Kloster Weißenburg, betätigt sich als Kunstschnitzer und lebt mit seiner Frau Katharina in idyllischen Verhältnissen auf seinem kleinen Bauerngut. Beliebt macht er sich bei Mönchen und Laien durch seine unterhaltsamen Erzählungen über seine Zeit im kaiserlichen Gefolge. Erst auf den folgenden zweihundert Seiten steigt der Autor in die eigentliche „Betrugsgeschichte“ ein. Ihr Drahtzieher ist hier Erzbischof Siegfried von Köln, der im Streit mit König Rudolf liegt und auf den Gedanken verfällt, zu dessen Schaden den Hohenstaufenkaiser wiederkehren zu lassen. Er beauftragt den gewissenlosen Prior Jacobus, einen sittlich gänzlich verkommenen Schwulen (was im Weiteren die Einführung pikanter Sexszenen ermöglicht), einen geeigneten Kandidaten für die Friedrich-Rolle ausfindig zu machen. Jacobus verfällt auf Tile, von dessen Ähnlichkeit und Verbundenheit mit Kaiser Friedrich er erfahren hat. Er betäubt und entführt den Ahnungslosen, setzt sein Bauerngütchen in Brand, wobei die geliebte Katharina umkommt, und beseitigt die Helfer und Zeugen dieses Anschlags. Allgemein wird angenommen, auch Tile sei dem Brand zum Opfer gefallen. Den inzwischen in Brauweiler wiedererwachten Tile begrüßt Jacobus als Kaiser und dient ihm die Rolles eines „Volkskönigs“ gegen den habgierigen Rudolf an. Er erpresst den Widerstrebenden mit der Drohung, seine geliebte Katharina, die man zur Geisel genommen habe, zu töten. Tile, der von dem grausamen Ende seiner Frau nichts weiß, lässt sich auf das Gaukelspiel ein. Er wird bei seinen Auftritten in Köln und Neuss unter Drogen gesetzt. In Neuss findet er Anhang, weil er einen echten „Falkenring“ Friedrichs, den er als Knabe geschenkt erhielt, vorweisen kann. Sein würdiges Auftreten, seine intime Kenntnisse über das Leben Friedrichs tun ein Übriges. Tile wächst in seine Rollte so vortrefflich hinein, dass selbst der windige Jacobus vor seiner Majestät ins Schaudern gerät. Tile entfaltet mehr und mehr selbstständige Initiativen. Durch eigene Spione erfährt er hinter dem Rücken des Jacobus vom Tode seiner geliebten Katharina. Obwohl jetzt nicht mehr erpressbar, bleibt er nun aus eigenem Willen in der Rolle des Kaisers. Er versteht sich als Vollender des Werkes seines über alles verehrten ehemaligen Herrn. „Friedrich sprach aus ihm“. In Wetzlar tritt er als vielumjubelter „Volkskaiser“ auf. Sein Selbstbewusstsein ist inzwischen soweit gestiegen, dass er sich freiwillig in die Hände von König Rudolfs Leuten begibt. Verzweifelt darüber vergiftet sich sein ehemaliger Mentor Jacobus. Im Verhör bei Rudolf beeindruckt Tile mit seinem „Herrscherblick“, aber auch mit seinen Intimkenntnissen über Friedrich. So wissen nur er und Ru-

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dolf, dass Friedrich sich über eine Prophezeiung erboste, sein Taufkind Rudolf werde einst die deutsche Krone tragen. Die Folter beendet Tile absichtlich mit einem nichtssagenden Geständnis, er sei ein „einfacher Mann. Ich heiße Tile Kolup“. Dabei hat er bereits seinen Folterknecht von seiner Echtheit überzeugt. Erzbischof Siegfried, mit König Rudolf versöhnt und von diesem als Richter bestellt, verurteilt ihn nicht als falschen Thronprätendenten und damit Hochverräter, sondern als Zauberer und – falls er der echte Friedrich sein sollte – als Ketzer. Auch das Volk, das ihn zur Richtstätte begleitet, glaubt weiter an ihn. Und der Henker gestattet ihm eben deshalb das gnädige Ende mit dem vom Prior Jacobus ererbten Giftwürfel. Tile empfindet seinen Tod als endgültige Vereinigung mit seinem Herrn und Kaiser. Röhrig greift mit der Figur des von intriganten Hintermännern in die Rolle des Thronaspiranten gedrängten Hochstaplers, der dann aus ideellen Motiven diese Rolle fortführt, ein Erklärungsmuster auf, das schon Schiller in seinem Fragment gebliebenen Drama über den falschen Zaren Demetrius verwandte. Seine buntbewegte Erzählung, die vor Krassheiten nicht zurückscheut, hat sicher der Gestalt Tile Kolup zu neuer Popularität bei den Liebhabern mittelalterlicher Historienromane verholfen. In der Nachfolge Röhrigs, auf den er verweist, hat so der Neusser Autor Frank Kurella in einem historischen Kriminalroman „Das Pergament des Todes“ , Meßkirch 2007, die Geschehnisse um Kolup aufgegriffen. In diesem Historienkrimi bleiben die Psychologie und die politischen Hintergründe des falschen Kaisers jedoch, wie der Autor selbst in seinen Nachbemerkungen einräumt, unklar. Tile Kolup will hier einfach nur das angenehme Leben eines Kaisers führen und nutzt die Wirkung seiner majestätischehrwürdigen äußern Gestalt in diesem Sinne aus. Etwas mehr wird auf die Gründe eingegangen, die Stadträte und Wirte dazu bringen konnten, das kaiserliche Schauspiel zu unterstützen: Kurella schildert die Gewinn-und Karrieresucht der Neusser. Im Übrigen liegt der Schwerpunkt der Erzählung auf einem Mordkomplott gegen den falschen Kaiser, in das die Hauptfigur des Romans, der Straßenjunge und Dieb Markus, verwickelt wird, weil er versehentlich das „Pergament des Todes“ entwendet, das den Mordauftrag an zwei Berufskiller enthält. Hinter dem Anschlag steht ein geheimnisvoller Alter, ein „Legat“ des Erzbischofs Siegfried, der diesen als Marionette führt und befürchtet, der Neusser Kaiser, gleichgültig ob echt oder falsch, könne die Macht Siegfrieds – und damit seine eigene – untergraben. Der Straßenjunge wird zum Retter des Kaisers und erhält von ihm das vertrauliche Geständnis, doch nur der einfache Friese Tile Kolup zu sein. Der Junge rät dem „Kaiser“, sich vor weiteren Anschlägen zu retten und auf einer vorgetäuschten Reise zu einem Reichstag in Frankfurt unauffällig wieder in die Anonymität unterzutauchen. Leider hält sich der falsche Kaiser nicht an diesen klugen Ratschlag. Aber nicht nur in der Populärliteratur, auch in der allgemeinen Folklore lebt das Andenken an Tile immer wieder einmal auf.

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Beispiele: Bereits um 1910 wurde in Neuss eine Likörstube „Tile Kolup“ eröffnet.29 Auf dem Hessentag 1985 in Alsfeld zeigte die Stadt Wetzlar im Festzug einen Wagen, auf dem der falsche Kaiser Tile Kolup thronte. 30 In einem langjährigen Beschäftigungs-und Arbeitsprojekt widmete sich eine W(etzlarer)A(rbeits)L(osen)I(initiative) dem Thema mit verschiedenen Workshops. Im Juni 2003 wurde ein Tile-Kolup-Umzug veranstaltet und am 19. 6. ein humoriges Theaterstück „Tile Kolup – Kaiser werden leicht gemacht.“ aufgeführt, in dem der Arbeitslose Tile Kolup sich auf die vom Wetzlarer Rat ausgeschriebene Stelle eines Kaisers bewirbt. Er wird am Ende begnadigt. Am 16. 11. 2005 wurde ein Tile-Kolup-Denkmal eingeweiht. Auf einem Oktogon, das auf Castel del Monte, die berühmte süditalienische Burg Friedrichs II. verweist, erhebt sich ein mit Mosaiksteinen verzierter „Flammenthron“, eine Anspielung auf das Ende Kolups und zugleich eine Einladung, sich mit ihm zu identifizieren, indem man sich auf diesem Sitz niederlässt.31 In der (achfolge Kolups – oder der ewige Friedrich Eines solchen Flammenthrones bedurfte es nach Kolups Ende im Jahre 1285 nicht, um zur Nachahmung des falschen Kaisers aufzumuntern. Er selbst hatte seine Wiederkehr innerhalb von drei Tagen in Frankfurt angesagt. Und tatsächlich fand sich ein sonst Unbekannter, der behauptete, der wieder auferstandene Kaiser zu sein. Aus Frankfurt muss er sich allerdings schleunigst verabschiedet haben, denn er wurde auf einem Friedhof in Gent verhaftet, entkam noch einmal und wurde schließlich in Utrecht gehängt. Fast noch weniger weiß man über einen falschen Friedrich, der in Lübeck kurz nach Tile Kolup auftrat. Er wurde vom Ratsherrn Heinrich Stenck(e), der noch den echten Friedrich gekannt hatte, entlarvt. Man ersäufte ihn. „Ein Sack war sein Sarg, das Wasser sein Friedhof“ vermeldet eine zeitgenössische Chronik.32 Zuletzt wurde in Esslingen 1295 ein falscher Friedrich verbrannt, der sich nebenbei auch als Falschmünzer betätigt hatte. Die vielen tatsächlich auftretenden falschen Friedriche, am Ende weit über die mögliche Lebenszeit des echten Friedrichs hinaus, mussten in der Volksphantasie die Vorstellung unterstützen, Friedrich sei aufgrund mysteriöser Kräfte noch immer am Leben und habe noch eine geschichtliche Mission zu erfüllen. 29 30 31 32

Gerhard Kallen, Tile Kolup, in Neusser Jahrbuch 13, 1968 S. 9-12 Schwinges, S. 180 Internet-Seite der WALI. Zum Lübecker Fall Voigt S. 148 Diskussion zur Chronologie. Die Ersäufung erst bei einer späteren Bearbeitung der älteren Quelle (Chronik Detmars von ca. 1390) durch Corner (1438). Vielleicht trat der Lübecker Friedrich schon 1284 auf und floh ins Rheinland, wo er sich dann in Tile Kolup verwandelt hätte.

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Johannes von Winterthur fasste um 1348 diese „joachimitischen“ Spekulationen zusammen, die er selbst als haltlos verwarf. Der sich dereinst wieder offenbarende Friedrich wird die Kirche verfolgen und zerstören und alle gesellschaftliche Ordnung umstürzen, indem er die Töchter der Armen den Reichen zu Frauen gibt.33 Solche Visionen beflügelten dann wohl anfällige Schwarmgeister, sich als Wiedergänger Friedrichs zu empfinden. 1368 trat im thüringischden Nordhausen ein Flagellant, umringt von einer Büßerschar, als neuer Friedrich auf. Er wurde verbrannt. Noch 1547/1549 behauptete ein Schneider in Langensalza, Friedrich zu sein. Dabei war der Mythos des dereinstigen kaiserlichen Wiederkehrers und Heilsbringers bereits seit Anfang des 16. Jahrhundert von Friedrich II. auf seinen Großvater Friedrich Barbarossa übergegangen, der bis heute im Kyffhäuser schlafend auf seine Stunde wartet.34 Das schmähliche Ende der meisten der falschen Friedriche, die in Deutschland zwischen 1283/84 und 1295 auftraten, hätte allerdings, so sollte man meinen, vor weiteren Abenteuern dieser Art abschrecken sollen. Aber ein seltsames Ereignis im Jahre 1298 gab solchen Unterfangen neuen Auftrieb. Es handelt sich um die tatsächliche Wiederkehr eines lang verschollenen Fürsten, um die Geschichte Heinrichs des Pilgers, Herzog von Mecklenburg. Da sie mit dem Auftreten falscher Heinriche verknüpft war und darüber hinaus späteren Prätendenten Auftrieb gab, darf sie nicht übergangen werden.

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„Es wird kommen unser Heiland Friedrich II. in gewaltiger Majestät und wird die verrottete Kirche läutern und verbessern. Er wird kommen und muss kommen, selbst wenn er in tausend Stücke zerteilt oder zu Asche verbrannt ist. Es ist im Rate Gottes beschlossen und kann nicht anders sein. Wenn er das Reich wiederum hat, wird er die Tochter des armen Mannes dem reichen Manne zum Weibe geben, er wird den Nonnen und Beginen Männer und den Mönchen Frauen geben. Den Witwen und Waisen und allen anderen Bedrückten und Beraubten wird er das Beraubte zurückerstatten…Die Priester und Mönche aber wird er mit solchem Ingrimm verfolgen, dass sie, wenn sie nichts anderes haben, mit Mist ihre Tonsur bedecken, damit man sie nicht als Priester erkennt.“ Zitiert nach der Übersetzung von Sauer S. 14 Zur Übertragung des Friedrich –Mythos von Friedrich II. auf Friedrich I. Barbarossa: Olaf B. Bader, Wie der Enkel zum Großvater wurde, in Damals. Das Magazin für Geschichte 42, 2010 S. 72-73. Zunächst wurde Friedrich im 15. Jhd. vom Ätna in den Kyffhäuser versetzt, Johannes Prätorius meinte 1687, es sei unklar, welcher Friedrich hier schlafe, 1703 behauptete Henning Behrens, es sei sicher der Rotbart. Voigt S. 135 datiert die erste belegte Umsetzung der „Kaisersage“ auf Barbarossa in einem „Volksbuch“ von 1519.

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Die wunderbare Wiederkehr Heinrichs des Pilgers von Mecklenburg 35 Herzog Heinrich I. von Mecklenburg, geboren um 1230, war ein frommer Mann. 1264 zur Regierung gekommen beteiligte er sich an zwei „Kreuzzügen“ gegen die damals noch heidnischen Bewohner Livlands (heute Lettland). 1270 wollte er sich dem Kreuzzug König Ludwigs IX. des Heiligen von Frankreich anschließen. Da dieser aber vor Tunis scheiterte, was Heinrich wohl in Marseille erfuhr, reiste der Mecklenburger als bloßer Pilger ins Heilige Land. In der Hafenstadt Akkon ließ er seine Wertsachen im Haus des Deutschen Ordens zurück. Auf dem Weg nach Jerusalem - zwischen Christen und Moslems waren wieder einmal Kämpfe ausgebrochen – wurde Heinrich mit seinem Gefolge im Januar 1272 überfallen und anschließend nach Kairo verschleppt. Viele seiner Begleiter kamen bei dem Überfall um, einige Überlebende wurden nach Akkon zu (ergebnislosen) Verhandlungen über ein Lösegeld geschickt, die übrigen verstarben in der Gefangenschaft. Nur ein treuer Diener blieb Heinrich erhalten, Martin Bleyer aus Wismar. Martin erlernte die Seidenweberei und hielt damit sich und seinen Herrn über Wasser. Die Nachricht von der Gefangenschaft Heinrichs erreichte Mecklenburg spätestens 1275. Langwierige Auseinandersetzungen um die Regentschaft des Landes verhinderten Lösegeldverhandlungen, und schließlich hielt man Heinrich für tot. Als 1287 das Gerücht aufkam, er lebe noch, hinterlegte seine Gemahlin Anastasia 2000 Mark Silber – eine recht beträchtliche Summe – beim Rat von Lübeck für den Deutschen Orden in Akkon. Die Ordensritter sollten ihre Verbindungen im Heiligen Land zum Loskauf Heinrichs einsetzen. 1288 verzichteten die Ordensritter auf das Geld und schickten die 1272 bei ihnen hinterlegten Wertsachen zurück. Es bestehe keine Aussicht mehr, Heinrich freizubekommen. Eine Urkunde von 1298 belegt, dass Heinrich II. von Mecklenburg, der seit 1283 als Regent amtierte, seinen Vater für tot hielt. Und gerade in diesem Jahr tauchte der Totgesagte wieder auf. Ein Regierungswechsel in Kairo, eine Genesungsfeier des neuen Sultans Ladyin (Lagdin) Malek al Mansur nach schwerer Krankheit, hatten zur Freilassung Heinrichs und seines treusorgenden Martin geführt.36 Der Fürst war dann über Griechenland nach Rom gereist, um Papst Bonifaz VIII. Pfingsten 1298 einen Brief des Sultans zu überreichen. In Rom traf ihn der Stadtschreiber von Lübeck, Alexander Hüne, der ihm am päpstlichen Hof und bei seiner Heimreise behilflich war. Herzogin Anastasia und ihr Sohn Heinrich schickten dem wohl aus Lübeck angekündigten Heimkehrer zwei ihrer Räte entgegen, ältere Herren, die den Pilger noch gut gekannt hat35 36

Zu Heinrich I. dem Pilger: Rische S. 8-20 Die Herausgeber der Reimchronik Ernst von Kirchbergs (s.u.) verweisen auf die Existenz einer islamischen Quelle (Makrizi) zu Genesungsfeier und Gefangenenfreilassung (ohne Namensnennung Heinrichs)- Kirchberg S. 76.

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ten. Sie sollten die Identität des Ankömmlings vorsichtshalber überprüfen. Die beiden vermochten in dem zum Skelett abgemagerten Mann ihren Fürsten nicht wieder zu erkennen: im Gespräch aber überzeugte er sie von seiner Echtheit. Anastasia durfte ihren Gemahl in Hohen Viecheln am Ufer des Schweriner Sees in die Arme schließen, am 28. 7. 1298 zog er unter allgemeinem Jubel in Wismar ein. Er starb 1302. Sein treuer Martin, urkundlich als Grundbesitzer in Wismar nachgewiesen, war ihm schon 1299 vorausgegangen.37 Die Zögerlichkeit, mit der Herzogin Anastasia auf die frohe Botschaft von Heinrichs Wiederkehr reagiert hatte, war nicht unbegründet. Schon zweimal hatten sich ihr Betrüger aufdrängen wollen, die sich für Heinrich ausgaben. Sie hatten der Überprüfung durch die beiden Räte Detwig von Oertzen und Heino von Stra(h)lendorf nicht standgehalten, die auch 1298 wieder in dieser delikaten Angelegenheit tätig wurden. Der eine der Betrüger war seinerzeit bei der Mühle in Börzow in der Stobenitze (oder Stepenitze) ersäuft, der andere vor Sternberg verbrannt worden. So romanhaft die wahre Geschichte des Pilgers Heinrich, wie sie als Faktum in sonst nüchternen zeitgenössischen Lübecker Chroniken überliefert ist, bereits erscheint, so wunderlicher wurde sie von den nachfolgenden Generationen weiter ausgeschmückt. Bezeichnend hierfür ist eine wohl auf Anregung eines Enkels des Heimkehrers um 1378 verfasste Reimchronik. Ihr Verfasser, Ernst von Kirchberg38, behauptet, Heinrich sei mit dem König von Frankreich, mit der Königin von „Marsilien“ (Marseille ?) und der Königin von Zypern verwandt gewesen, die er auf seiner Reise besuchte. Seine Gefangennahme soll just beim Gebet im Tempel zu Jerusalem geschehen sein. Nach dem Bericht Kirchbergs schmachtet dann Heinrich jahrzehntelang im Kairoer Kerker, nur sein ergebener Diener Martin erleichtert ihm die strenge Haft, indem er die Gefängniswärter besticht. Das notwendige Geld verdient sich Martin als „Byssus“Weber. Endlich kommt in Kairo ein neuer Sultan an die Macht, ein ehemaliger Christ, der an der Seite von Heinrichs Vater Johann in Livland gekämpft hat, in mongolischer Gefangenschaft zum Islam konvertiert ist und dann in moslemischen Ländern als tapferer Soldat zu den höchsten militärischen Ehren gelangt sein soll. Er lässt den Sohn seines mecklenburgischen Freundes Johann frei. Als Heinrich dann auf der Heimfahrt noch einmal in muslimische Gefangenschaft fällt, löst ihn der Sultan aus und schickt ihn reich beschenkt nach Rom. Kirchberg verdanken wir auch die Nachricht über die zwei falschen Heinriche, von denen er sagt, sie seien aus fremden Landen nach Mecklenburg ge37

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Die Abenteuer Heinrichs des Pilgers bei Wigger S. 39-86, dort S. 43 Auflistung der Primärquellen (Chronik des lübischen Kanzlers Albrecht von Bardewiek vom Jahre 1298 bis 1301, Lübecker Jahrbücher bis 1324, Chronik Detmars (ca. 1390), Hermann Kromer 1438), Reimchronik Ernst von Kirchbergs 1378). Auch Vitense S. 94 und 98100. Kirchberg, Kapitel 134-35, S. 318-24

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kommen, aber hier „…worden beyde gesterbit und jemerlich virterbit.“ 39 Ein genaues Datum für diese Vorfälle wird nicht angegeben. Da die Reimchronik in vieler Hinsicht als glaubwürdige Quelle gilt, ihr Verfasser sich also durchaus um historische Korrektheit bemühte, sind die phantasiereichen Zusätze zur Geschichte Heinrichs des Pilgers als ein weiterer Beleg dafür zu werten, welch hanebüchenen Unwahrscheinlichkeiten Kirchberg und seine Zeitgenossen hinzunehmen bereit waren. Die wundersame Rückkehr des lang verschollenen mecklenburgischen Fürsten erleichterte später das Auftreten des wohl erfolgreichsten deutschen Pseudo-Prätendenten. Sein Erfolg war so groß, dass bis heute spekuliert wird, ob es sich nicht doch wie bei Heinrich dem Pilger um einen echten Wiederkehrer handeln könnte, den 1319 angeblich verstorbenen Markgrafen Woldemar von Brandenburg.40 „Trugwoldemar“ – oder Woldemar, Markgraf von Brandenburg?41 Zum historischen Rahmen: Der >iedergang der königlichen Reichsgewalt im „Heiligen Römischen Reich Deutscher >ation“ während des 13. Jahrhunderts führte keineswegs unmittelbar zur Auflösung des Reiches in klar abgegrenzte, in sich geschlossene Landesherrschaften oder „Territorien“. Vielmehr schufen sich eine Reihe von hochadligen Häusern für uns heute verwirrend anmutende Machtkonglomerate aus eigenem Grundbesitz, Lehen, Pfändern, Kirchenpfründen, Privilegien, rechtlich erworbenen oder angemaßten Hoheitsrechten und Titeln, Anwartschaften und dergleichen, oft über weite Gebiete gestreut – und lösten sie durch Erbteilungen oft auch schnell wieder auf. >eben den Habsburgern, Luxemburgern, Wittelsbachern und vielen anderen ist hier auch das Geschlecht der Askanier zu nennen. Zunächst waren sie Grafen von Ballenstedt und Aschersleben im heutigen Sachsen-Anhalt, dann Markgrafen der >ordmark, sehr tätig bei der sogenannten deutschen Ostkolonisation, der Erweiterung der deutschen Siedlung über die Elbe hinaus, und wurden deshalb seit ca. 1140 unter dem >amen „Markgrafen von Brandenburg“ geführt. 1180 wurden sie von Reichs wegen mit den östlichen Resten des alten Herzogtums Sachsen belehnt. Die Familie teilte sich dann in einen gräflich-anhaltinischen (mit dem Stammbesitz), einen herzoglich-sächsischen (mit zwei Linien in Lauenburg und Wittenberg) und die markgräflich-brandenburgischen Zweige mit >ebenlinien auf. Die Herzöge von Sachsen (wobei es Streit zwischen den beiden Linien gab) und der Markgraf von Brandenburg zählten zu den sieben Kurfürsten, die seit ca. 1250 den deutschen König wählen durften. Unter allen askanischen Fürsten stach be39 40 41

Kirchberg S. 323 Auf Heinrich den Pilger als „Präzedenzfall“ für Woldemar verweisen ausdrücklich Schultze Band 2, S. 76 und bereits Klöden 3. Teil S. 186 Zum falschen Woldemar zusammenfassend neuerdings Schubert, S. 351-57

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sonders Markgraf Woldemar von Brandenburg hervor. Die Erinnerung an diesen vielgerühmten Fürsten blieb über seinen frühen (1319 vorgetäuschten?) Tod hinaus lange lebendig und gab letztlich den Anstoß für seine überraschende Wiederkehr. Der echte Markgraf Woldemar (bei einigen Autoren auch Waldemar genannt), geboren um 1280, regierte 1304-19.42 Er vereinte durch verschiedene Erbfälle den gesamten Besitz des brandenburgischen Zweiges der Askanier in seiner Hand und wurde damit einer der länderreichsten Fürsten seiner Zeit. Er war in zahlreiche Fehden oder „Kriege“ mit seinen Nachbarn, den Herzogen von Mecklenburg, Pommern, dem Deutschen Orden, dem Fürstbischof von Magdeburg und dem Markgrafen von Meißen, dem Fürsten von Rügen und sogar dem König von Dänemark verwickelt, bei denen Siege und Niederlagen in bunter Reihenfolge wechselten. Auf jeden Fall stürzten sie ihn in immer größere Schulden, die ihn zu Landverpfändungen und zur Veräußerung von Hoheitsrechten zwangen, was der inneren Ordnung seiner Lande nicht bekam. 43 Das tat seinem Ruf als ritterlichem Kämpen keinen Abbruch. Der körperlich kleine, aber angeblich mit Riesenkräften begnadete Markgraf tat sich bei manchem Turnier hervor. Die glanzvollen Ritterfeste in Rostock (1311) und Wismar (1319), an denen er teilnahm, wurden zum Anlass, ihn als „der vürste stolz“ zu preisen, so der Minnesänger Heinrich Frauenlob44. Er soll auch ein wenig exzentrisch gewesen sein. Nach einer etwas schwereren Niederlage bei Gransee im Kampf gegen die Mecklenburger 1316, bei der er sich auch eine entstellende Gesichtswunde zuzog, dämpfte sich seine Kampfeslust wohl etwas, und er wandte sich im Verein mit der Bürgerschaft der märkischen Städte der inneren Befriedung seiner Gebiete in Auseinandersetzung mit dem aufsässig gewordenen Raubadel zu. Er starb 1319. Erst eine um 1370 verfasste Chronik Heinrichs von Hervord gibt das genaue Todesdatum mit dem 14. August und berichtet über seine Fiebererkrankung, seinen Tod und die Einbalsamierung, die neuntägige Aufbahrung und ein prächtiges Begräbnis im Kloster Chorin. Erhalten ist jedoch eine Urkunde aus Bärwalde, in der Woldemar am 14. 8. 1319 für das Kloster Chorin stiftet und Anordnungen für seine Beisetzung dortselbst trifft.45

42 43

44 45

Zu ihm: Schultze, Band 1, S. 215-242 Zu dem askanisch-brandenburgischen Besitzkomplex und seinen inneren Zuständen in dieser Zeit: Peter Hahn, Brandenburg während der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Zwischen Expansion und Krisenbewältigung, in: Die „Blüte“ der Staaten des östlichen Europa im 14 Jahrhundert, herausgeg. von Marc Löwener, Wiesbaden 2004, S. 205-28 Schultze S. 218 Zu dem mysteriösen Tod des echten Woldemar und der prekären Quellenlage insbesondere Klöden, Teil 2, S. 313 f.

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Da er aus seiner 1309 geschlossenen Ehe mit Agnes, einer entfernten Cousine, keine Kinder hinterließ und sein unmündiger Vetter und Erbe Heinrich schon 1320 starb, wurde die Mark Brandenburg als erledigtes Reichslehen angesehen. Die askanischen Herren in Anhalt, Wittenberg und Lauenburg machten sich als nächste „Agnaten“ Hoffnungen darauf. König (später Kaiser) Ludwig der Bayer, der über die Neuvergabe des Lehens entschied, enttäuschte sie bitter. Er belehnte 1323 seinen elfjährigen Sohn Ludwig mit der Markgrafschaft.46 Der Bajuware und Wittelsbacher Ludwig (zum Unterschied zu seinem 1330 geborenen gleichnamigen Bruder Ludwig dem „Römer“ später „der Ältere“ oder „der Brandenburger“ genannt), seit 1333 selbstständiger Regent der Mark, wurde mit seinen Brandenburgern und sie mit ihm nicht glücklich. Er weilte oft in seiner süddeutschen Heimat, besonders seit er 1342 die Erbin Tirols und Kärntens, Margarete Maultasch, geheiratet hatte. Er brachte auswärtige Berater und Beamte ins Land, machte viel Schulden, legte sich deshalb mit den Städten und Ständen seines Landes an und galt zudem als sittenloser Schürzenjäger. Mit seinem kaiserlichen Vater (dann nochmals wegen seiner Ehe mit der Maultasch, die er einem Luxemburger abgejagt hatte) von der Kirche gebannt, war er in die Konkurrenzkämpfe der Habsburger-, Luxemburger- und Wittelsbacher-Dynastien verwickelt und ließ darüber die Mark ins Chaos versinken. Das Land vermochte sich jahrzehntelang kaum von den gewaltigen Schäden erholen, die ein Einfall der Polen-Litauer 1326 ihm zugefügt hatte. Nach dem Tode seines Vaters 1347 setzte Ludwig dessen Kampf gegen den 1346 gewählten Gegenkönig Karl IV., einen Luxemburger, fort, dem er die Herausgabe der Reichsinsignien verweigerte. In dieser misslichen Lage für Fürst und Land, als sich Ludwig im Sommer 1348 gerade wieder einmal nach Tirol begeben hatte, ereignete sich ein schier unglaubliches Wunder. Auf der Burg Wolmirstädt des Erzbischofs Otto von Magdeburg erbettelte sich ein Landstreicher oder „Dauerpilger“, ein „Begarde“, wie man damals sagte, einen Trunk Wein. Als er den Becher zurückreichte, fand sich darin ein kostbarer Siegelring, der dem verstorbenen Markgrafen Woldemar gehört haben musste. Über die Herkunft des Ringes von Erzbischof Otto in der Beichte befragt, gestand der Begarde, er selbst sei Markgraf Woldemar. Sein Begräbnis 1319 wollte er nur vorgetäuscht haben, ein fahrender Gaukler sei an seiner Stelle beerdigt worden. So habe er ungestört 28 Jahre lang Buße tun können für seine blutschänderische und deshalb durch Gottes Zorn kinderlose Ehe mit seiner Base Agnes. Der Papst hätte ihm diese Buße auferlegt. Jetzt könne er sich nach vollbrachter Buße wieder als Markgraf offenbaren, nicht um für sich selbst die Mark wieder einzufordern, sondern sie für das Haus der Askanier, seine wittenbergischen und anhaltinischen Vettern, zu retten. 46

Zur bayrisch-wittelsbachischen Herrschaft in Brandenburg bis zum Auftreten des falschen Woldemar: Schultze Band 2, S. 24-74

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Die reizvolle Geschichte mit dem Siegelring erzählt erst ein Bericht aus sehr viel späteren Zeiten.47 Zeitgenössische Quellen geben nur das Faktum, dass im Sommer 1348 bei Erzbischof Otto von Magdeburg ein greiser Begarde als angeblicher Woldemar mit der erwähnten Büßergeschichte auftauchte. Der Erzbischof alarmierte sofort die askanischen Fürsten. Herzog Rudolf von SachsenWittenberg, der den echten Waldemar noch gut gekannt hatte und sich gerade am Hofe Karls IV. aufhielt, sein Sohn Rudolf der Jüngere und die Grafen Albrecht und Woldemar von Anhalt eilten flugs nach Wolmirstädt, um ihren wiederauferstanden Oheim zu begrüßen, den sie für echt befanden. Schon Zeitgenossen konnten sich des Verdachts nicht erwehren, die ganze Angelegenheit sei eine Intrige der Askanier gewesen. 48 Insbesondere Herzog Rudolf wurde beschuldigt, den angeblichen Woldemar, den Zweifler wegen seiner Trägheit als einen bloßen „Mehlsack“ verspotteten, in jahrelanger Kleinarbeit auf seine Betrügerrolle vorbereitet zu haben. Allerdings erst in einer verloren gegangenen Reimchronik des 15. Jahrhunderts, aus der spätere Geschichtsschreiber schöpften, wurde wahrscheinlich aus dem mit dem Spottnamen „Mehlsack“ belegten Mann ein wahrhaftiger Müller oder Bäcker mit dem Namen Jakob Rehbock (Jeckel Rebuck) oder Meinicke/Mennicke aus Hundeluft bei Zerbst oder Beelitz.49 Noch später wurde erzählt, dieser Mann sei zuerst wegen seiner Ähnlichkeit mit Woldemar in Pommern aufgefallen, dort habe man ihn auf seine Rolle dressiert und ihm die Gesichtsnarben des echten Markgrafen beigebracht 50 . Unter den moderneren Historikern hat sich insbesondere Emil Werunsky in seiner „ Geschichte Karls IV. und seiner Zeit“ (zuerst 1882) dafür ausgesprochen, die Sache sei von Herzog Rudolf von Sachsen-Wittenberg, Graf Albrecht von Anhalt und Bischof Otto von Magdeburg auf Anregung Karls IV. eingefädelt worden.51 Vielleicht handelt es sich hier um bloße Verleumdungen, aber unglaubwürdig klingt auf jeden Fall die Büßergeschichte. Die Ehe des echten Woldemar mit Agnes war nicht blutschänderisch. Agnes war nur die Tochter eines WoldemarVetters zweiten Grades. Sie und ihr Gemahl hatten nur einen gemeinsamen Ur-

47 48

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Ernst Brottuf in seiner Genealogie der Fürsten von Anhalt 1566, Tschirch S. 244 So Detmars Lübische Chronik, die Magdeburger Schöppenchronik und die Lebensbeschreibung des Halberstädter Bischofs Albrecht II. (dort auch zuerst der falsche Woldemar als „Mehlsack“), Annalen des Juden Michael von Löwen aus Würzburg vgl. Tschirch S. 240-41, ebenda S. 241 weitere Angaben von Quellen und frühen Historikern zur Echtheitsfrage. Ausführlich zur Quellenlage besonders Klöden, Teil 3 Vorrede und Teil 4 S. 338-53. Schultze Band 2, S. 77. Name Meinicke zuerst in einer Chronik des Konrad Bote 1480, Name Rehbock bei Thomas Kantzow ca. 1530/30, so Tschirch S. 243-44 Klöden, 4. Teil S. 353 nach einer Quelle aus dem Jahre 1464 (Instruktion Kurfürst Friedrichs II. von Brandenburg an einen seiner Gesandten.) Werunsky S. 126

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großvater, Albrecht II. von Brandenburg (gest. 1220). 52 Vorsichtshalber hatte sich Woldemar seinerzeit auch noch eine Dispens Papst Klemens V. eingeholt, es bleibt also ganz unerfindlich, warum er 1319 wegen dieser Heirat in abgrundtiefe Seelenqualen gestürzt sein sollte. Freilich muss der Mann, der 1348 bei Erzbischof Otto auftauchte, gleich ob er sich aus eigenem Antrieb als Woldemar ausgab oder von irgendwelchen Hintermännern lanciert wurde, eine seltsame Figur gewesen sein. Einerseits wusste er mit durchaus fürstlichem Gehabe zu beeindrucken und machte bei feierlichen Anlässen eine passable Figur, andrerseits werden gewisse bizarre Ausfälle angedeutet. Ein Chronist bezeichnet ihn als „delirus“. 53 Von seinen askanischen „Verwandten“ wurde er zeitweilig behandelt, als ob er eines Vormundes bedurfte. Zunächst aber feierten sie mit ihm überraschende Triumphe. In seinem Namen wurden eine ganze Reihe märkischer Städte mit neuen Privilegien förmlich überschüttet. Für Woldemar wurde eine Kanzlei eingerichtet, die im August 1348 fleißig entsprechende Urkunden fabrizierte. Der wiedergekehrte Woldemar siegelte sie korrekt im Stil des früheren Markgrafen. Die beglückten Städte öffneten ihm bereitwillig und kampflos ihre Tore. Am 27. 8. 1348 zog er in Begleitung seiner fürstlichen Verwandten in Rathenow ein, am 29. 8. in die Stadt Brandenburg, am 1. 9. empfing er in Cremmen die Herzoge Albrecht und Johann von Mecklenburg und Barnim von Pommern-Stettin, die ihn als „lieben Oheim“ begrüßten, am 5. 9. war er in Prenzlau, am 9. 9. in Angermünde und am 20. 9. huldigten ihm die Berliner.54 Der große Historiker Leopold von Ranke führt diese Erfolge auf die dynastische Anhänglichkeit der Brandenburger an die Askanier und ihre Abneigung gegen die landfremden Wittelsbacher zurück: „nur ungern und schwer gewöhnen sich von Alters her die Völker, die angestammten Fürstengeschlechter nicht mehr an der Spitze zu haben.“55 Der aus Tirol herbeigeeilte Markgraf Ludwig, im Augenblick so verschuldet, dass er sein Reitpferd versetzen musste, sah sich Ende September auf Frankfurt an der Oder und die Neumark jenseits dieses Flusses beschränkt. Außerhalb dieses Gebietes gab es nur wenige Städte, die dem Wittelsbacher treu blieben, so etwa Brietzen, dass dann später auch den Ehrennamen „Treuenbrietzen“ erhielt. Der Gipfel des Erfolges für die Askanier und ihren Woldemar, mit dem sich mittlerweile auch Magdeburg, Mecklenburg und Pommern gegen entsprechende Zugeständnisse territorialer und rechtlicher Art förmlich verbündet hatten, war jedoch das Eingreifen König Karls IV. auf ihrer Seite. 52 53 54 55

Europäische Stammtafeln, Neue Folge, herausgeg. von Detlev Schwennichen, Marburg 1980 Tafel 68/69 Klöden, Teil 3 verweist auf eine erzbischöfliche Magdeburger Chronik Zum Verhältnis der Städte zu „Trugwoldemar“: Tschirch, passim. Leopold von Ranke, Zwölf Bücher Preußischer Geschichte, Band 1 und 2, Leipzig 1874, S. 53

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Karl IV. kam in seiner Auseinandersetzung mit den Wittelsbachern das Auftauchen Woldemars sehr gelegen. Er rückte mit Heeresmacht ins Märkische vor. Im Herbst 1348 belagerte er Ludwig in Frankfurt an der Oder. Zwar gab er die Belagerung nach neun Tagen überraschend auf, aber inzwischen hatte er durch eine achtköpfige Untersuchungskommission die Echtheit Woldemars feststellen lassen. Mitglieder dieses Ausschusses waren allerdings vor allem die askanischen Fürsten gewesen. Sie beriefen sich aber auf zahlreiche Aussagen von Zeugen aller Stände, selbst aus dem gemeinen Volk, zugunsten des angeblich Wiedergekehrten. Karl erklärte sich sicher ohne Zweifel von der Echtheit Woldemars überzeugt, die er für vollständig bewiesen hielt. Im Feldlager zu Heinrichsdorf oder Heinersdorf bei Münchberg belehnte der König. am 2. 10. 1348 schließlich Woldemar und als dessen Erben die Askanier von Wittenberg und Anhalt feierlich mit der Mark Brandenburg, wofür er sich freilich als Entschädigung für die Kosten seiner Intervention die Lausitz abtreten ließ. Woldemar durfte bei der Feier den Ehrenplatz neben dem mit Purpur ausgeschlagenen Thron des Königs einnehmen. Spöttisch behauptete der König in einem Brief an die Stadt Hagenau, der Wittelsbacher Ludwig hätte die Belehnungsfeier von den Zinnen der Frankfurter Stadtmauern her mit ansehen müssen. Das konnte wegen der gegebenen Entfernungen nur metaphorisch gemeint sein. Anschließend drohte Karl allen Gegnern Woldemars die Reichsacht an, ermahnte die Brandenburger zum Gehorsam und bestellte den wiederbelehnten Markgrafen zusammen mit dem Erzbischof von Magdeburg zum Exekutor eines dreijährigen Landfriedens in den Marken. Woldemar erhielt jedoch die Erlaubnis, sich einen Vertreter für diese schwierige Aufgabe zu ernennen. Vielleicht kann dies als ein Hinweis verstanden werden, dass auch Karl den Eindruck erhalten hatte, auf die geistige Stabilität seines Schützlings sei kein dauernder Verlass. Dies hinderte Karl IV. aber später nicht daran, sich nachträglich die Kurstimme Woldemars zu seiner Königswahl geben zu lassen. Im Januar 1349 hatten die Wittelsbacher nämlich in Frankfurt am Main einen ihrer Vertrauten, den Grafen Günther von Schwarzburg, mit den Stimmen einiger Kurfürsten (den beiden wittelsbachischen Pfalzgrafen, Ludwig von Brandenburg selbst, Sachsen-Lauenburg) zum Gegenkönig gegen Karl erheben lassen. Die Karl treuen Fürsten, seine Wähler von 1346 (Trier, Mainz, Köln und Sachsen-Wittenberg), hatten sich darauf zu einem Fürstentag in Köln versammelt, um ihrerseits Karl in seiner Königswürde zu bestätigen. Ob Woldemar selbst dabei anwesend war, ist unklar, aber eine von ihm unterzeichnete Erklärung vom 17. Februar 1349, mit der er seine Wahlstimme für Karl abgab, wurde dort bekanntgemacht. Die askanischen Verwandten und die übrigen fürstlichen Verbündeten Woldemars konnten nun die Ernte des „Unternehmens Woldemar“ einfahren. In Erb-und Abtretungsverträgen erhielten sie ihre Belohnungen. Diese Verträge standen zum Teil im Widerspruch zu dem Versprechen, die Markgrafschaft

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nicht aufzuteilen, das einer märkischen Ständeversammlung in Spandau am 6. 4. 1349 – an der die Vertreter von 36 Städten teilnahmen - im Namen Woldemars gegeben wurde. Die politische Großwetterlage machte jedoch bald alle Hoffnungen der Woldemar-Partei zuschanden. Karl IV. ließ sie in Stich. Er söhnte sich im Mai 1349 mit den Wittelsbachern aus. Diese ließen ihren Gegenkönig fallen und Karl gab ihnen freie Hand in der Mark Brandenburg, wenn er auch noch auf eine Anfrage märkischer Städte, wie sie sich nun verhalten sollten, in einem Schreiben vom 15. August 1349 Woldemar als seinen „Fürsten und Schwager“56 bezeichnete. Wahrscheinlich wollte er Woldemar noch in der Rückhand haben, sollten sich seine wittelsbachischen Vertragspartner illoyal verhalten. Markgraf Ludwig überließ die märkischen Angelegenheiten mehr und mehr seinem tatkräftigen jüngeren Bruder Ludwig dem Römer. Der rückte mit größerer Truppenmacht in die Mark Brandenburg ein, garantierte allen, die von Woldemar abfielen, volle Amnestie für ihre Anhänglichkeit an den „gewissen erdichteten Woldemar“ und verbündete sich mit Dänemark. Es kam zu einem zähen Ringen der feindlichen Lager, das unentschieden hin und her wogte. Das gerade in dieser Zeit von der großen Pest geplagte Land musste zusätzlich alles Folgeelend dieser Kämpfe erdulden. Auf einer Konferenz in Spremberg am 2. Februar 1350 einigten sich endlich die erschöpften Parteien, vertreten durch die bayrischen Ludwige, die Mecklenburger, die Dänen und Anhaltiner, König Magnus II. von Schweden als Schiedsrichter anzurufen. Woldemar, von dem man kaum noch hörte (seit Juli 1349 ist nur eine Urkunde mit seinem Namen erhalten), war an diesem Abkommen unbeteiligt. Jetzt aber griff überraschend noch einmal Karl IV. ein. Er erklärte das Spremberger Abkommen für ein hochverräterisches Delikt, weil es einer auswärtigen Macht die Entscheidung über Reichsangelegenheiten anheim stellte. Er beorderte die Übeltäter zu einem Fürstentag nach Bautzen, aber nur die Wittelsbacher erschienen. Karl verzieh ihnen den Spremberger Missgriff und wandte sich nun ganz von den Askaniern und Woldemar ab. Diese allein wurden nun für die Spremberger Abmachungen verantwortlich gemacht. Auch wurde ihnen vorgeworfen, mit ihren Erb-und Abtretungsverträgen widerrechtlich über Reichslehen verfügt zu haben. Eine erneut von Karl eingesetzte zwölfköpfige Prüfungskommission unter dem Vorsitz des Pfalzgrafen-Kurfürsten Ruprecht, eines Wittelsbachers, erklärte am 14. Februar etwas gewunden, dass sie im Falle einer Vereidigung eher schwören würde, der vorgebliche Woldemar sei nicht des weiland Markgrafen von Brandenburg Konrad Sohn, als das Gegenteil zu behaupten. Eine endgültige Entscheidung über die Echtheit Woldemars wurde allerdings auf einen Hoftag in Nürnberg am 6. Apri1 1350 verschoben. Aber 56

Klöden 3. Teil, S. 332

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schon in Bautzen erhielten die Wittelsbacher ihre Belehnung mit der Mark Brandenburg, und die Märker wurden ihnen gegenüber zum Gehorsam aufgefordert. Dafür übergaben die Wittelsbacher endlich König Karl die von ihnen nach dem Tode ihres kaiserlichen Vaters einbehaltenen Reichsinsignien. In Nürnberg wurde dann auch das Verdikt gegen Woldemar bestätigt. Karl IV. beklagte nun öffentlich, dass er seinerzeit durch die Zeugnisse des Magdeburger Erzbischofs und der Askanier irregeleitet worden sei. Merkwürdigerweise wurde die Erklärung gegen Woldemar reichsrechtlich sehr unbestimmt gelassen und aufallenderweise auch keine Sanktionen gegen den zum Betrüger erklärten Markgrafen und seine fürstlichen Anhänger verkündet. Die Kämpfe in der Mark zogen sich des allen ungeachtet noch jahrelang hin, unterbrochen von Waffenstillständen und Schiedversuchen, aber das diplomatische Geschick Ludwigs des Römers führte nach und nach zum Übertritt vieler märkischer Städte und Adelsfamilien sowie der meisten auswärtigen Verbündeten Woldemars auf seine Seite. Sein Bruder Ludwig der Ältere trat ihm die Mark schon 1351 auch formell ab, behielt sich aber bis 1356 die Kurstimme vor. 1355 schlossen selbst die askanischen Fürsten Frieden mit den Wittelsbachern. Gegen eine Entschädigung von jeweils 10 000 Mark Silber verzichteten die Grafen von Anhalt und der Herzog von Sachsen-Wittenberg endgültig auf das märkische Erbe, das sie sich von ihrem Woldemar wiederholt zusichern hatten lassen. Auch Karl IV. suchte den Ausgleich mit den Protektoren des falschen Woldemar. In der berühmten Goldenen Bulle zur abschließenden Regelung der deutschen Königswahl bestätigte er Herzog Rudolf von Sachsen-Wittenberg 1356 die Kurfürstenwürde, auf die bis dahin auch Sachsen-Lauenburg Anspruch erhob. Graf Albrecht II. von Anhalt wurde von König Karl bei den Fürstentagen zu Nürnberg und Metz im selben Jahr huldvoll empfangen.57 Woldemar selbst durfte 1355 noch ein letztes Mal urkunden, nachdem man schon lange kein Lebenszeichen mehr von ihm erhalten hatte. Er entließ die wenigen Städte, die ihm in der Uckermark und im Havelland noch treu geblieben waren (Prenzlau, Templin, Brandenburg, Görtzke), aus ihren Gehorsamseiden. Die Grafen von Anhalt ehrten ihn weiterhin als Verwandten, gewährten ihm Asyl in Dessau und bestatteten ihn wahrscheinlich 1356 oder 1357 in einer Seitenkapelle der dortigen Schlosskirche St. Marien mit fürstlichen Ehren. (Seine Grablegung ist leider schon längst verschwunden.) Hielten ihn die Askanier doch für den echten Markgrafen? Das Festhalten dieser Fürsten an Woldemar, auch als er ihnen keinen weiteren Vorteil mehr einbrachte, macht jedenfalls mehr als in anderen ähnlichen Fällen die Frage nach Echtheit oder Falschheit des Prätendenten schwierig und interessant.

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Zum Arrangement der Askanier mit Karl IV. vgl. Michael Lindner, Es war an der Zeit. Die Goldene Bulle in der politischen Praxis Kaiser Karls IV. in: Die Goldene Bulle, herausgeg. von Ulrich Hohensee u.a., Berlin 2009 Band 1, S. 141-168

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In den 15 erhaltenen annähernd zeitgenössischen darstellenden Quellen wird Woldemar wie erwähnt fast durchweg als ein Betrüger und eine Marionette der Askanier, Karls IV. oder des Magdeburger Erzbischofs vorgestellt. Nur zwei dieser Quellen räumen die Möglichkeit ein, er sei vielleicht doch der wirkliche Markgraf gewesen. Unter späteren Historiographen hat als einer von wenigen der Anhaltiner Hofgeschichtsschreiber Ernst Brottuf(f) 1556 aus leicht verständlichen Gründen für die Echtheit Woldemars plädiert. Historiker des Barocks und der Aufklärung sprechen fast durchweg von Betrug.58 Ernst zu nehmen sind allerdings die Argumente Karl Friedrich Klödens für die Echtheit Woldemars, der mit seinem Werk „Diplomatische Geschichte des Markgrafen Waldemar von Brandenburg“, erschienen in Berlin 1844-45 in vier Teilen, eine wahrhaft monumentale Untersuchung zu Woldemar vorgelegt hat. Klöden (1786-1855) hatte sich aus ärmlichsten Verhältnissen zu einem bedeutenden Reformer des preußischen Schulwesens und zu einem wahrhaft enzyklopädisch gebildeten Wissenschaftler von Rang emporgearbeitet. Sein Urteil hat einiges Gewicht. Mit dem Hinweis auf die Geschichte Heinrichs des Pilgers von Mecklenburg verteidigt er allgemein die Möglichkeit einer wirklichen Rückkehr lang verschollener Fürsten und bemerkt zum Fall Waldemar: „Es ist eine psychologische Unmöglichkeit, in einer solchen Zeit einen Betrug von der Art durchzuführen, wie ihn neuere Geschichtsschreiber angenommen haben. Welch eine große Zahl von Theilnehmern von der Oder bis zur Rheine wäre dazu erforderlich gewesen, und wie Wenige vermochten in einer so aufgeregten Zeit ihres Herzens Meinung nur oberflächlich für einige Tage verhehlen….ich halte ihn überwiegend eher für den rechten.“59 Hätte Klöden recht gegen die zahlreichen zeitgenössischen und modernen Zweifler an der Echtheit Woldemars, dann wäre auch seine Folgerung bedenkenswert: „Eine innere Geschichte dieses merkwürdigen Charakters, wenn sie je möglich wäre, müsste eines der merkwürdigsten Seelengemälde liefern.“60 Leider geben die historischen Quellen zu Woldemar, sei er nun echt oder falsch, zu wenig Anhaltspunkte, aus der sich Persönlichkeit, Charakter und Psychologie dieses „merkwürdigen“ Mannes erschließen ließen. Und damit öffnet sich für die literarische Würdigung Woldemars ein weites Feld, das dann auch sehr ausgiebig beackert wurde.61 Es kann hier nur exemplarisch auf einige dieser literarischen Deutungsversuche und „Seelengemälde“ eingegangen werden. Unter diesen Versuchen sind bemerkenswert besonders das Drama „Waldemar“(1806) und das Lustspiel „Der falsche Waldemar“ (1814) von Achim von Arnim, der als Herausgeber der Liedersammlung „Des Knaben Wunderhorn, zu58 59 60 61

Vgl. oben Anm. 49) Klöden, 3. Teil S. VI Klöden, 3. Teil S. 441 Zu dem falschen Waldemar/Woldemar in der schönen Literatur vgl. Übersicht bei Elisabeth Frenzel, Stoffe der Weltliteratur, 3. Auf. Stuttgart 1970 S. 776

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sammen mit seinem späteren Schwager Klemens Brentano, zu den großen Romantikern der deutschen Literatur zählt. Das Drama von Arnims zeigt in den Anfangsszenen den echten Waldemar auf dem Höhepunkt seiner Ritterpracht als Gastgeber und Schiedsrichter der Könige von Norwegen, Schweden und Dänemark am Vorabend seiner prunkvoll geplanten Hochzeit mit der blutjungen Agnes, der Tochter eines entfernten Vetters. Hinter diesem äußeren Glanz aber lauert das Verhängnis. Waldemar leidet an einer Seelenkrankheit, die er nur überwinden kann, indem er sich jede Nacht in einen Steinsarg einschließen lässt, den nur ein treuer Diener am Morgen durch eine geheime Vorrichtung öffnen kann. Agnes muss in dieses Geheimnis eingeweiht werden. Auch belastet Waldemar eine andere Verstrickung. Er hat vor Jahren der schönen Magelone, die er als arme Pilgerin traf, ein schriftliches Heiratsversprechen, mit eigenem Blut unterzeichnet, gegeben, das er freilich nicht einlöste. Aus ihrer Verbindung entsprang jedoch ein Töchterchen, das Magelone dann vor Waldemar verbarg. Sie brachte es seines Wissens irgendwo im Süden bei einer Müllerfamilie unter, weil Waldemar das uneheliche Kind gegen den Willen der Mutter in ein Kloster stecken wollte. Magelone ist zur Amme, dann Erzieherin und mütterlichen Freundin von Waldemars jetziger Braut Agnes geworden. Sie setzt nun Himmel und Hölle in Bewegung, um die Ehe ihres Schützlings mit Waldemar zu verhindern, zunächst wie es scheint, aus egoistischen Motiven. Der Grund ist jedoch ein anderer. Magelone, die sich auch noch als norwegische Königstochter zu erkennen gibt, die ihr Vaterland verließ, um sich einer Zwangsehe zu entziehen, offenbart ein schreckliches Geheimnis: Agnes ist in Wahrheit die Tochter Waldemars. Magelone hat nicht ihre und Waldemars Tochter Margarete der besagten Müllerfamilie übergeben, sondern die ihr als Amme anvertraute kleine Askanierin, in deren Wiege sie dann ihr eigenes Kind legte. Waldemar hat inzwischen zwar den kirchlichen Ehebund mit Agnes geschlossen – zum Glück aber die Ehe noch nicht vollzogen. Schaudernd vor seinem Beinahe-Inzest, zerknirscht in Reue über seinen Verrat an der Königstochter Magelone, muss Waldemar zudem erkennen, dass Agnes ihn zwar wie einen Vater kindlich verehrt, dass ihr Herz aber seinem jungen Gefolgsmann Otto von Braunschweig gehört. In dieser qualvollen Situation fasst Waldemar den Entschluss, sein Leben als einfacher Büßer zu beschließen, und um Agnes (als angeblicher Witwe) den Weg zu einer Neigungsehe mit Otto freizumachen, täuscht er seinen Tod und sein Begräbnis vor. Soweit der erste Teil des von Arnim entworfenen dramatischen „Seelengemäldes“. Mit dieser Konstruktion gibt Achim von Arnim, bei aller ihr anhaftenden Künstlichkeit, der überlieferten Begräbnis-und Büßergeschichte eine tiefere Motivation als die angebliche Reue über die bloße Ehe mit einer weitläufig Verwandten. Doch handelt er sich damit für die Fortsetzung des Dramas im späteren Lustspiel „Der falsche Waldemar“ ein Problem ein: er hat seinem Publikum oder seiner Leserschaft weisgemacht, der echte Waldemar habe tatsächlich als

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Büßer weitergelebt – es wäre dann wenig plausibel gewesen, den später Wiedergekehrten als falschen Waldemar darzustellen. Achim von Arnim fand aus diesem Dilemma einen überraschenden Ausweg. In seiner Komödie ließ er sowohl den echten Waldemar wie auch einen falschen auftreten. Daraus ergibt sich ein höchst verschlungenes Handlungsgeflecht. Ein paar Kostproben mögen genügen: Eckhardt, ein treuer Diener des echten Waldemars und in dessen Geheimnisse eingeweiht, hat von Magelone inzwischen den Aufenthaltsort der seinerzeit vertauschten kleinen Askanierprinzessin erfahren, die sich selbst nun für die Müllerstochter Margarete hält. Ihre Zieheltern sind verstorben und sie ist gewillt, um die Mühle weiterzuführen, den Müller-Altgesellen Jan Rehbock zu heiraten, einen ansonsten übel beleumdeten Säufer und Aufschneider. Dabei wird sie bereits von einem Junker Otto umworben, den ein Jagdzufall in ihr abgelegenes bayrisches Waldtal verschlagen hat. Was sie nicht ahnt: der sich als harmloser Jäger gebende Otto ist der jüngste der Söhne Kaiser Ludwigs, ein Bruder des Markgrafen Ludwig von Brandenburg und Ludwig des Römers von Bayern. Eckhardt, der all diese Verwicklungen durchschaut, hat seinen Herrn, den als Pilger herumirrenden echten Waldemar zu einem Treffen im Mühlental aufgefordert, um die Verhältnisse zu klären. Von ihm erfährt nun Waldemar, gerade von einer Wallfahrt nach Santiago zurückgekehrt, vom desolaten Zustand seiner Heimat und von der Sehnsucht der Brandenburger nach ihrem so früh verstorbenen Markgrafen. (Eckhard: „Die Leute hätten gern Euch aus der Erd gekratzt, so haben sie Euch stets vermisst.“62) Waldemar legt sein Pilgerkleid ab und macht sich auf den Weg zur Mühle, auch Eckhardt entfernt sich. In diesem entscheidenden Augenblick betritt der vollberauschte Bräutigam Margaretes, Rehbock, die Szene, kleidet sich im Säuferübermut in das zurückgelassene Pilgerhabit und ergeht sich in Phantasien über Prophezeiungen seiner seligen Mutter, er werde einst zu höchsten Fürstenwürden aufsteigen. („Meine Mutter hat mir oft gesagt, ich könnte Herzog sein so gut wie einer.“63) So entdeckt ihn der treue Eckhardt, der ihn für seinen Herrn hält, denn Rehbock im Pilgerkleid ähnelt dem Markgrafen Waldemar wie aus dem Gesicht geschnitten. Eckhard nimmt den vermeintlichen Waldemar in sein Schlepptau. Rehbock lässt sich, noch immer benebelt und in Herrscherlaunen, auf die Verwechslung ein, und wenn er später davon spricht, er sei doch nur ein Müller, so hält Eckhard diese „Müllertollheit“ nur für einen leicht erklärbaren Altersschwachsinn seines Herrn, denn der echte Waldemar hat in seiner Jugend eine spielerische Vorliebe für Mühlen gehabt. Der Diener schleift den Müller nach Brandenburg, zu den maßgeblichen Herrschaften, und so nimmt das Schicksal seinen Lauf, bis hin zur Vorstellung bei König Karl IV. Die Bauernschläue Rehbocks sorgt im Verlauf der Handlung auch für manch bühnenwirksame Gaudi. Und als der Müller vor Frankfurt an der Oder 62 63

von Arnim S. 94 von Arnim S. 101

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dann doch seiner anstrengenden Fürstenrolle überdrüssig wird („ich lebte wie im Rausch, jetzt bin ich nüchtern“64), setzt man an seine Stelle rasch einen anderen falschen Waldemar, einen gewissen Meinecke, um das Gesicht zu wahren und das politische Spiel durchzuhalten. Das Auftreten jetzt zweier falscher Waldemare führt dazu, dass sich auch andere Gestalten veranlasst fühlen, ihr Glück als Waldemare zu versuchen: „Ansteckend ist der Trug.“65 Und die in Frankfurt an der Oder belagerten Wittelsbacher Ludwige kontern mit einem falschen Ludwig, der König Karl als angeblicher Verhandlungspartner unterschoben wird…Das Spektakel endet in einer tollen Burleske der Verwechslungen und ihrer Auflösungen. Währenddessen ist der echte Waldemar vollauf damit beschäftigt, im fernen bayrischen Mühlental die Verhältnisse zwischen sich, der falschen Müllertochter und echten Askanierin, dem Junker-Herzog Otto und der jetzt auch noch herbeigeeilten Magelone ins rechte Lot zu bringen. Er folgt dann den Spuren des falschen Waldemars bis vor Frankfurt an der Oder und erkennt in den dortigen Wirren, dass er nicht mehr in diese Zeit passt. Er zieht sich wieder in das beschauliche Mühlental zurück, wo auch Magelone wieder auftaucht. Die beiden finden sich in friedlicher Altersidylle. Die falschen Waldemare Rehbock und Meinecke erhalten Unterschlupf am bayrischen Hof. Von Arnim ging es, wie man sieht, in diesem Lustspiel nicht eigentlich um einen dichterischen Beitrag zur Auflösung historischer Rätsel. Vielmehr nahm er den Waldemar-Stoff zum bloßen Anlass, in literarischer Verspieltheit das Genre der Verwechslungskomödie auf die äußerste Spitze zu treiben. Literarisch viel weniger ambitioniert kam das Trauerspiel „Waldemar der Pilger, Markgraf von Brandenburg“ (1811) seines Zeitgenossen Friedrich de la Motte-Fouqué daher. Fouqué war als Verfasser des romantischen Märchens von der schönen „Undine“ berühmt. Schon im Prolog seines „Waldemars“ wird unmissverständlich geklärt, dass der wiedergekehrte Waldemar der echte Markgraf ist: „Heut mal sollt Ihr mir glauben, Dass Pilger Waldemar der Ächte war. Sollt ganz vergessen, daß Ihr mancherlei Schon hörtet, las’t vom falschen Waldemar, 66 Ich weiß von keinem falschen Waldemar.“

Fouqué lehnt sich zunächst weit enger an die historischen Quellen an als von Arnim, jedoch ist bei ihm der Wiedergekehrte eben der edle, bußfertige echte Markgraf, der sich nur ungern aus seiner Pilgerrolle drängen lässt, um die Not 64 65 66

von Arnmim S. 214 von Arnim S. 216 Fouqué S. V.

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seiner Brandenburger zu lindern. Als er trotz seiner Erfolge durchschaut, dass seine Rückkehr nur zu Unruhen und Bürgerkriegen führt, in denen selbst Brüder sich gegenseitig umbringen, zieht er sich wieder zurück. Auf dem Weg in die Klausnereinsamkeit trifft er auf den im Wald verirrten Machtrivalen Ludwig den Römer, dessen Edelmut er erkennt und dem er seine geliebte Mark ans Herz legt. Er sendet ihm eine Abdankungsurkunde zu, was Ludwig zu dem Ausruf bewegt: „Das ist fürwahr ein Fürstenherz.“ 67Behütet von seinen askanischen Neffen beschließt Waldemar sein Leben als frommer Einsiedler, froh, dass das von den Wittelsbachern erfolgreich ausgestreute Gerücht, der wiedergekehrte Markgraf sei nur ein hochstapelnder Müller gewesen, ihn vor möglichen weiteren politischen Anmutungen schützt. Dem allzu fromm-erbaulichen Waldemar-Bild dieses „vaterländischen Schauspiels“ trat dann der Schriftsteller, Journalist und Kulturorganisator Willibald Alexis, auch er ein später Angehöriger der romantischen Schule, in seinem dickleibigen Roman „Der falsche Woldemar“ (1842) entgegen. Schon der Titel des Romans verrät, dass Alexis’ Woldemar unecht ist. Aber er ist dennoch kein Schurke: die Schurkenrolle weist Alexis anderen zu. Es handelt sich dabei um die Geistlichkeit (Alexis: „ Die Kutten brüten was.“), der die gebannten Wittelsbacher verhasst sind, und die schöne, rachsüchtige Gräfin von Nordheim, eine von Markgraf Ludwig verlassene Geliebte. Das Gerücht, im Volk glaube man, ein geheimnisvoller Pilger sei der wiedergekehrte Waldemar, bringt Priester und Gräfin auf den Gedanken, diesen Mann gegen die Wittelsbacher auszuspielen, gleichgültig ob er echt oder falsch wäre. Um seiner habhaft zu werden, wenden sie sich an den Anführer einer Räuber- oder Rebellenbande (die „Stellmeister“) namens Hans Menken. Dieser versucht, da auch er dem verstorbenen Markgrafen ähnelt, sich selbst für diese Rolle anzubieten, präsentiert dann aber doch den gesuchten Pilger. Von Meinike-Menken, den Geistlichen und der Gräfin bei Erzbischof Otto von Magdeburg und den askanischen Fürsten geschickt eingeführt, bewährt sich der Pilger aufgrund seines Aussehens und seines Wissens in der Markgrafenrolle. Aber er entwächst seinen Drahtziehern und mausert sich zum allseits verehrten und bewährten Landesvater. (Die Gräfin zu Mitverschworenen: „Ihr habt d e n nicht gemacht.“ Und Karl IV. der nicht an seine Echtheit glaubt, fragt.: „ wo lernte er so stehen, so blicken?“) Sein Zug durch die Mark Brandenburg, sein Empfang bei König Karl IV., das Feldlager vor Frankfurt und viele andere quellenmäßig halb oder ganz verbürgte Ereignisse geben dem Romanautor Gelegenheit, ein breites Historiengemälde der Zeit um 1350 zu entwerfen. Der Leser wird spannungssteigernd lange über die wahre Identität des falschen Waldemar im Unklaren gelassen. (Alexis lässt ihn vor der Gräfin meditieren: „Als ihr einen Betrüger suchtet, schlugen Euch seine (-Gottes-) Engel mit Blindheit und ihr griffet den echten Herrn“ und im Lager 67

Fouqué S. 125

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Karls IV. darf er sagen: „Glaubt ihr an meine Echtheit, dann bin ich echt.“) Erst spät erfährt man, dass es sich bei dem angeblichen Markgrafen um den Müller Jakob Rehbock handelt, vom Aussehen her ein Doppelgänger des echten Waldemar, der ihn einst selbst deshalb in seine Dienste genommen hat. Oft durfte der Müller in gefährlichen Situationen in die Rolle des Markgrafen schlüpfen, etwa während einer Schlacht vor Stralsund. Als der echte Waldemar vor Antritt seiner geplanten Bußfahrt auf dem Sterbebette liegt, beschließt Rehbock um des Seelenheils seines verehrten Herren willen dessen Pilgergelübde auf sich zu nehmen. Er erhält einen Ring seines Herrn. Nach langen Irrfahrten kehrt er in die inzwischen durch Kriege, in denen auch seine Familie umgekommen oder verschleppt worden ist, verwüstete und durch die Misswirtschaft der Wittelsbacher herabgekommene Heimat zurück. Er übernimmt die ihm angetragene Rolle im Geiste Woldemars („Sein Werkzeug bin ich“), um das Land zu retten. Aber er sieht ein, dass er das Land nur in neue Kämpfe verwickelt. In seinem Gegner Ludwig dem Römer erkennt er einen Fürsten, der mit starker Hand Ordnung schaffen kann, indem er etwa mit den „Stellmeistern“ aufräumt. Zu dessen Gunsten zieht er sich auf eine Burg seiner askanischen „Verwandten“ zurück. Der im Sterben liegende alte Graf von Anhalt, dem Zweifel an der Echtheit Waldemars gekommen sind, fragt ihn, ob er wirklich der Mann sei, der ihm in der Schlacht vor Stralsund einst als Held erschien, was Rehbock guten Gewissens bejahen kann. Und so wird er, nachdem er dem jüngeren Grafen von Anhalt seine wahre Geschichte gestanden hat, als „edler Pilger“ fürstlich begraben, auch vor sich selbst gerechtfertigt. („Weiß doch Niemand, so er sich recht fragt, was er selber ist.“) 68 Sicher hat Alexis, besser als seine literarischen Vorgänger, mit seinem Roman das von Klöden eingeforderte „Seelengemälde“ entworfen, freilich, und das könnte Klöden nicht akzeptieren, für einen falschen Waldemar. Einem Bewunderer sowohl Klödens als auch Alexis’, dem Kriminalschriftsteller „-ky“ (Pseudonym des Berliner Soziologieprofessors Hans Bosetzky) ist es in seinem 1997 erschienenem Roman „Der letzte Askanier“ gelungen, beider Standpunkte hinsichtlich der Identitätsfrage mit einer sehr überraschenden Wendung zu versöhnen. Und wenn auch, was Bosetzky selbst einräumt, „Der letzte Askanier“ sich stark an das Werk Alexis ’ anlehnt, so bleibt der Roman allein schon wegen der hier angebotenen originellen Lösung des „Rätsels Waldemar“ lesenswert. Sie soll hier nicht verraten werden. Der beachtliche Erfolg des „Trugwoldemars“ hätte leicht Nachahmer inspirieren können, aber in Deutschland traten danach keine weiteren falschen Fürsten von wirklich politischer Bedeutung auf.

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Die wörtlichen Zitate aus Alexis finden sich Buch 1, Kap.3 und 15/ Buch 2 Kap. 18 und 20/ Buch 3 Kap. 5 und 16. in der im Projekt Gutenberg DE digitalisierten, nicht paginierten E-Book Version, die der Ausgabe Berlin 1870 im Verlag Janke folgt.

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Deutungsversuche der „deutschen Krankheit“ Es wurde deshalb von einigen Historikern versucht, Erklärungen für die Beschränkung des Phänomens relativ Aufsehen erregender falscher Prätendenten auf das 13. und 14. Jahrhundert zu finden.69 Voraussetzung für ihr Auftreten wären: 1. die weit verbreiteten Wiederkehrlegenden dieser Zeit mit ihren messianischen Konnotationen als Ausdruck sozialer Spannungen. 2. die tatsächliche Wiederkehr verschollener Fürsten im Zeitalter der Kreuzzüge. Aber auch 3. Dynastische Brüche und 4. Die Unstetigkeit der in ihrem Herrschaftsgebiet wandernden Fürsten und ihrer instabilen Verwaltungsstäbe. Diese zeitgebundenen Gegebenheiten hätten im Rahmen dynastischer Machtpoker Anreiz geboten, dass kriminelle Hochstapler (Balduin von Flandern), mental gestörte Fanatiker (Tile Kolup) oder abgerichtete Marionetten (Woldemar) von interessierten, politisch vermögenden Kreisen hochgespielt werden konnten.70 Sobald die genannten Rahmenbedingungen wegfielen oder wie bei dem falschen Heinrich V. noch nicht gegeben waren, blieben Hochstapler dieser Art ohne politische Relevanz. (achspiele In Deutschland erwähnenswert ist allenfalls noch eine falsche Königin von England, die 1558 am Hofe des sächsisch-thüringischen Herzogs Johann Friedrich II. von Weimar auftauchte.71 Es handelte sich um eine Betrügerin, die sich für Anna von Kleve, die geschiedene vierte Gemahlin Heinrichs VIII. von England ausgab. Sie fand bei Annas Schwestersohn Johann Friedrich wohlwollende Aufnahme und wurde auf Schloss Grimmenstein (heute Friedensstein) in Gotha fürstlich einquartiert. Der Herzog mochte wohl von der Aussicht auf den englischen Kronschatz, den die falsche Königin ihm ankündigte, verführt worden sein. Nachfragen in Kleve zum Schicksal der echten Königin Anna ließen den Schwindel rasch auffliegen. Die echte Anna von Kleve war 1540 aus diplomatischen Erwägungen an Heinrich VIII. verheiratet worden. Die nie real vollzogene Ehe (Heinrich fand Anna physisch abstoßend) wurde sofort wieder geschieden, und Anna war, von ihrem Exgatten gut versorgt, 1557 in England gestorben. Die entlarvte Hochstaplerin behauptete nun, wenigstens ein illegitimer Spross des Hauses Kleve zu sein, eine Hofdame der Klever Prinzessin. Sie wurde vor Gericht gestellt, zum Tode durch „Streckung auf der Leiter“ verurteilt, aber zu lebenslanger Haft im Gefängnis zu Tenneberg begnadigt. Für jeden Sonntag wurde ihr eine Bratenmahlzeit mit Wein genehmigt. Ihr Todesjahr ist unbekannt. 69 70 71

Schwinges, S. 183-200, Schubert S. 349-50 Schwinges S. 182 zu dieser Typologie Bülau, Band 4 S. 271

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Neben dieser unbedeutenden Affäre wird in der Chronique scandaleuse der deutschen Fürstenhöfe gelegentlich ein „Heinrich der Unechte“ als angeblicher Prinz des Hauses Reuß und weiterer falscher Prätendent erwähnt. Da dieser Heinrich aber auch möglicherweise ein legitimer Sprössling der Reußen war, sich selbst sicher für einen solchen hielt, passt er nicht recht in die Reihe der politischen Hochstapler. Der Vollständigkeit halber aber soll seine Geschichte kurz gestreift werden. Ein verstoßener Prinz? Heinrich der Unechte72 Heinrich IV. (nach anderer Zählung Heinrich III.) von Plauen im Vogtland aus dem Hause Reuß, auch (Titular-)Burggraf von Meißen, war ein reich begüterter Herr. Seinen ältesten Sohn Heinrich – alle männlichen Mitglieder des Hauses Reuß trugen diesen Namen – ließ er wahrhaft fürstlich an den Höfen derer von Anhalt und Henneberg erziehen. Wie überrascht musste der junge Mann sein, als ihn sein Vater auf die Burg Hartenstein in Böhmen beorderte, um ihm zu eröffnen, dass er nur ein Bastard und der Sohn einer Magd namens Margarete Pigkler sei. Die Magd war als Zeugin zu der seltsamen Szene geladen. Gnädig versprach Heinrich seinem natürlichen Sohn eine Jahresrente und versuchte ihn beim Deutschen Ritterorden unterzubringen. Das Erbrecht an den väterlichen Herrschaften und Gütern wurde ihm freilich entzogen. Ging dieses merkwürdige Verfahren auf eine Intrige der Stiefmutter des jungen Mannes zurück? Barbara von Anhalt, die der alte Heinrich in zweiter Ehe geheiratet hatte, war jahrelang kinderlos geblieben. Sie hatte den jungen Heinrich, der als ein Spross aus der ersten standesgemäßen Ehe ihres Gatten galt, wie ihr eigenes Kind behandelt und – wie ihre Briefe belegten – als „Sohn“ angeredet. Doch dann hatte sie überraschend doch noch selber drei Söhne geboren, von denen allerdings zwei als Kleinkinder verstarben. Um ihrem überlebenden Sohn, dem späteren „Burggrafen“ Heinrich V. (IV.), das reiche reussische Erbe zu sichern, musste der erstgeborene Heinrich als Bastard zur Seite gedrängt werden. Der ließ sich diese Demütigung nicht gefallen. Nach dem Tode des Vaters 1520 nannte er sich Heinrich von Plauen und Meißen, gewann einige reussische Verwandte, aber auch andere Herren, Vertreter der angesehenen Häuser Nassau, Isenburg, Solms, Hanau und den Fürstabt von Fulda zu Zeugen seiner Ebenbürtigkeit und strengte Prozesse gegen Stiefmutter und –bruder an. Sie zogen sich vor verschiedenen Instanzen jahrzehntelang hin. Die Magd Margarete Pigkler und die Witwe Barbara blieben hartnäckig bei ihren Eiden gegen ihn. Vor allem aber machte sein Halbbruder Heinrich V. eine steile diplomatische und militäri72

Zu dem Fall Reuß: Bülau, Band 2 S. 1-33 und Allgemeine Deutsche Biographie, Band 11, Leipzig 1880 S. 577-79 ( Verf. Ferdinand Hahn)

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sche Karriere im Dienste der Habsburger, Kaiser Karls V. und dessen Bruder Ferdinand, damals König von Böhmen und Ungarn, die in den Auseinandersetzungen um das reussische Erbe das letzte Wort hatten. Sie entschieden 1544 endgültig gegen „Heinrich, der sich von Plauen nennt“. In der Zwischenzeit hatte sich der Enterbte in allerlei Kriegsdiensten durchgeschlagen und sich zum Hauptmann eines eigenen Fähnleins aufgeschwungen. Seine Gesellen, in schwarzen Röcken mit buntem Unterfutter, betätigten sich zwischen Kriegsdiensten in verschiedenen Armeen nebenbei auch als gewöhnliche Wegelagerer. Schon 1529 erwürgten und erstachen sie einen Advokaten, der Heinrich missliebig geworden war, und nach 1544 sanken sie gänzlich zu einer bloßen Räuberbande ab. Nachdem Heinrich 1548 in Nürnberg bei einem geplanten Anschlag auf einen böhmischen Kammerherrn aufgeflogen war, wurde er nach Augsburg an König Ferdinand ausgeliefert. Die Streckfolter, die der König anordnete, wurde ihm erspart, weil man einen Leistenbruch bei ihm feststellte. Für seine Raubüberfälle wurde er zum Tode durch das Schwert verurteilt, aber sofort zu lebenslanger Haft begnadigt. Im Gefängnis zu Agstein bei Melk an der Donau wurden für seinen Unterhalt fünf Taler die Woche ausgesetzt – eine nicht unbeträchtliche Summe. Es wurde ihm guter Wein, ein gedeckter Tisch, Bücher und die Erlaubnis zum Kartenspiel gewährt. Sein „Bruder“ Heinrich V., inzwischen Großkanzler des Königreichs Böhmen, soll dafür aufgekommen sein. Hinter dieser auffallend milden Behandlung eines Räuberhauptmanns durch König (später Kaiser) Ferdinand und seinen böhmischen Großkanzler könnte deren schlechtes Gewissen wegen der Verstoßung eines vielleicht doch echten Prinzen vermutet werden. Andere Nachrichten aber behaupten, der unglückliche Prinz sei auf Betreiben seines gnadenlosen Halbbruders nach Wien verbracht und dort in einem elenden Bretterkäfig gehalten worden sein.73 Sein Todesjahr ist unbekannt. Ein falscher (assauer74 In seiner Ausstellungsreihe „An’s Licht geholt – Schätze aus den Magazinen des Stadtarchivs“ präsentierte das Stadtarchiv Siegen im Juni 2008 Dokumente zu Charles Henri Nicolas Othon, dem „falschen Prinzen von Nassau-Siegen“. Dieser Karl Heinrich oder Charles Henri, der sich Fürst von Nassau-Siegen titulierte, konnte wahrhaft ein Mann von Welt genannt werden. Geboren 1745 brachte er sein beträchtliches mütterliches Vermögen als Lebemann und Glückspieler unter anderem an den Höfen von Versailles und Wien durch und rettete sich auf der Flucht vor seinen Gläubigern in die Expeditionsmannschaft des 73 74

Allg. Deutsche Biographie s.o. Zu ihm: Bülau ‚Band 3 S. 516-19 und Keller S. 117-121 (zu den Ansprüchen der Catherine Charlotte und ihres 1722 geborenen Sohnes)

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französischen Weltumseglers Bougainville. Er bewährte sich 1766-69 auf dieser Reise als geschickter Unterhändler bei den Eingeborenen der Südseeinseln. Nach seiner Heimkehr nach Frankreich trat er als Offizier nacheinander in französische, spanische und russische Dienste. In Spanien pflückte er Lorbeeren bei Kämpfen um Gibraltar und wurde zum spanischen Granden erster Klasse erhoben. In Russland brachte er es 1788 zum Vizeadmiral und kämpfte in mehreren Seeschlachten gegen Türken und Schweden. 1802 reiste er nach Paris, um Bonaparte seine Dienste anzubieten, aber ohne Erfolg. Er starb auf seinen ukrainischen Gütern bei Tynna 1808. Zu seinen Freunden oder Bekannten gehörten unter vielen anderen Casanova, den er im belgischen Modebad Spa kennenlernte, und Georg Forster, wie er selbst ein Weltumsegler (als Begleiter Cooks) und später als Revolutionär berüchtigt, den er im weißrussischen Grodno besuchte. Warum nannte sich dieser bemerkenswerte Mann aber bei all seinen Erfolgen und Titeln auch noch Fürst von Nassau-Siegen? Er konnte tatsächlich darauf verweisen, dass seine Großmutter väterlicherseits, Catherine Charlotte Mailly Marquise de Nesle (1688-1769), Nichte des Erzbischofs von Reims, mit Emanuel Ignaz (1678-1735), einem Sohn des 169199 in Nassau-Siegen regierenden Fürsten Johann Franz Desideratus verheiratet war. Emanuel Ignaz war allerdings nur das 24. von 25 (oder gar 29?) Kindern dieses Fürsten, zudem aus dessen dritter Ehe, die nicht ganz standesgemäß war. Gegen den Einspruch der übrigen Nassauer Fürsten waren die Nachkommen aus dieser Verbindung aber 1723 und nochmals 1731 nachträglich auf Betreiben katholischer Kreise reichsrechtlich für erbberechtigt (andere Angehörige des Hauses Siegen waren protestantisch) erklärt worden. Der katholische Emanuel Ignaz zeichnete sich in österreichisch-niederländischen Diensten, also im heutigen Belgien, aus. Seine Ehe mit Charlotte war unglücklich. Das Paar trennte sich 1716 von Tisch und Bett. Charlotte wurde in den österreichischen Niederlanden wegen Ehebruchs formell zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt, da sie aber in Paris lebte und wohl ihr Reimser Oheim für sie intervenierte, wurde sie nur zeitweilig in die Bastille verbracht und später in Klosterhaft gehalten. In Freiheit gesetzt brachte Charlotte trotzdem 1722 einen Sohn, Maximilian Wilhelm Adolf (gest. 1748) zur Welt. Hatten sich die Eheleute wieder versöhnt? Das jedenfalls behauptete 1735 Charlotte nach dem Tod ihres Mannes (der inzwischen wider alle Erwartungen im Zwergfürstentum Siegen zur Regierung gekommen war75, im Streit mit seinen protestantischen Verwandten). Zuvor hatte sie den Knaben Maximilian als Söhnchen einer ihrer Kammerfrauen ausgegeben und in einem Kloster bei Brüssel erziehen lassen. Jetzt erbat und erhielt sie 75

Sein Halbbruder Wilhelm Hyacinth (gest. 1743) war 1707 von Reichs wegen aufgrund schwerer Verfehlungen der Regierung entsetzt und die Verwaltung des kathol. Teiles von Nassau-Siegen dem Kölner Domkapitel anvertraut worden. Ignaz Emanuel erhielt als nächster Erbe Wilhelm Hyacinths 1727 formell die Oberaufsicht über diese Verwaltung. Keller S. 100-104 und S. 128

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die Bestätigung der ehelich-legitimen Geburt ihres Sohnes 1736 durch Papst Klemens XII. Der katholischen Kirche musste die Fortdauer der katholischen Linie des Hauses Nassau-Siegen am Herzen liegen, da bei ihrem Erlöschen protestantische Agnaten als Erben zu erwarten waren. Eben diese Verwandten, und auch der endlich wieder eingesetzte Fürst Wilhelm Hyazinth (vgl. Anm. 76), protestierten gegen die Ansprüche, die Charlotte für ihren Sohn erhob. Sie wiesen akribisch nach, dass Emanuel Ignaz seine Frau um 1722 nicht getroffen haben konnte. Eine Entscheidung des kaiserlichen Reichshofrats, an den sich Maximilian und seine Mutter 1744 in Frankfurt am Main wandten, gab den protestantischen „Verwandten“ 1746 recht. Das höchste französische Gericht, das Parlament von Paris, aber bestätigte der streitbaren Charlotte 1756 die Ehelichkeit ihres inzwischen verstorbenen Sohnes und damit den Anspruch ihres 1745 geborenen Enkels Charles Henri auf den Namen Nassau-Siegen. Charles Henri war aus der Ehe Maximilian Wilhelms mit Marie Madeleine Amelie de Mouchy, Tochter des steinreichen Marquis de Senarpont, hervorgegangen. Die Sache hätte durchaus zu weiteren Verwicklungen führen können, denn inzwischen war 1743 der Mannesstamm des regierenden Hauses Nassau-Siegen erloschen, und Charles Henri hätte durchaus wie sein Vater Ansprüche auf die Herrschaft in Siegen erheben können. 1802 soll er bei seinem Aufenthalt in Paris versucht haben, Napoleon für seine Sache zu gewinnen. Doch scheint er die Angelegenheit nicht allzu ernsthaft betrieben haben, auch weil seine Ehe mit einer polnischen Gräfin kinderlos geblieben war. Er begnügte sich mit dem wohlklingenden Fürstentitel. Und dieser wurde ihm von höchsten Herrschaften höflicherweise auch zuerkannt, wie ein Schreiben des Kurfürsten und späteren Königs von Bayern Maximilian IV./I. an den „cher prince de Nassau-Siegen“ aus dem Jahre 1791 belegt. Es war bei der Ausstellung des Stadtarchivs Siegen 2008 zu bewundern.

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VIII. Rätsel des (ordens Falsche und echte Thronprätendenten in (orwegen Vorbemerkungen: Trolle, das sind heutzutage etwas putzig-hässliche Gartenzwerge in skandinavischen Vorgärten und Souvenirshops. Im Mittelalter waren es unheimliche Dämonen, bald männlich, bald weiblich, bald Riesen, bald Zwerge, gutmütig oder bösartig, vor allem aber unberechenbar wie die >aturkräfte, mit denen sie verbündet waren oder die sie verkörperten. Man verdächtigte sie auch, Kleinkinder zu rauben, um ihre eigenen Wechselbälger in die Wiegen zu schmuggeln. Im 12. Jahrhundert hatten sie es wohl besonders auf die norwegische Herrscherfamilie abgesehen, denn in keinem Land der Welt- mit Ausnahme Russlands oder Rumäniens- fanden sich jemals innerhalb weniger Jahrzehnte so viele fragwürdige Königskinder wie hier. >orwegen, das war zu dieser Zeit immer noch das Land der raublustigen Wikinger oder >ordmänner. Aber auf ihren überseeischen Beute-und Kriegsfahrten an alle Küsten Europas waren sie bereits mit der höheren Kultur des christlichen Abendlandes in Berührung gekommen. >ach dem Vorbild dieser Länder entwickelten sich allmählich auch in >orwegen politische Strukturen, die über das halb anarchische Sippen-und Gefolgschaftswesen hinaus zur Entwicklung einer übergreifenden Königsherrschaft führten. Hinzu kam die Annahme des Christentums. Der >orwegerkönig Olaf der Heilige ließ sich 1013 in Frankreich taufen. Freilich drohte immer wieder die Zersplitterung des Königreiches in Kleinherrschaften mit eigenen Lokaltraditionen, begünstigt durch die physische Geographie des Landes. Die regierende Herrscherfamilie, die >achkommen Harald Harfagrs (d. h. „Schönhaars“, gest. 933), suchte hier einen Kompromiss, indem sie häufig ihre Abkömmlinge als Teilkönige über einzelne Regionen setzte. Sie mussten von den„Thingversammlungen“ der Gebiete bestätigt werden.1 Das Kirchenrecht setzte sich nur allmählich durch. Es hielten sich heidnische Traditionen insbesondere im Familienrecht. Als Seefahrer gingen die >ordmänner in ihrer Heimat, aber auch in Irland, Schottland, Island, den Orkneys, auf den Shetlands und sonstwo oft nebeneinander laufende eheähnliche Verbindungen mit Haupt-und >ebenfrauen ein, und auch im streng kirchlichen Sinne uneheliche >achkommen wurden als erbberechtigt angesehen. Das galt auch für die königliche Familie. Diese Gegebenheiten waren wohl die Voraussetzung für das Auftauchen einer Flut von Thronanwärtern im mittelalterlichen >orwegen, von denen eine nicht unerhebliche Zahl wohl als falsche Prätendenten zu gelten hat. Sie stürzten 1

Zur Thronfolgeregelung auch in Norwegen: Erich Hoffmann, Königserhebung und Thronfolgeordnung in Dänemark bis zum Ausgang des Mittelalters, Berlin und New York 1976, S. 14-16

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das Land, als wären sie böse Trolle, in ein Jahrhundert der Wirren. Den Reigen eröffnete Harald Gillekrist, d.h. Harald, der Diener Christi. „Das übelste Geschenk an (orwegen“ – Harald Gille2 1130 regierte in Norwegen König Magnus IV., jung, unerfahren, leicht aufbrausend, trinkfreudig und geldgierig. Schon am Hofe seines Vaters, König Sigurds des Jerusalemfahrers, hatte sich unvermutet ein Gast aus Irland – merkwürdigerweise in Begleitung seiner Mutter - eingefunden, der sich als Sohn König Magnus III. Barfot (Berfoetti) ausgab. Barfot (Barfuß), der Vater des Jerusalemfahrers, war 1103 in Kämpfen auf der grünen Insel gefallen. Der Ankömmling war bereit, durch die sogenannte Eisenprobe3 seine königliche Abkunft zu beweisen. Der Mann aus Irland, Harald Gillekrist („der Diener Christi“, so genannt, weil er kirchliche Weihen empfangen hatte), lief mit nackten Füßen über sieben glühende Pflugscharen, unter Anrufung des Hl. Columba und gestützt auf zwei Bischöfe. Der anwesende Königssohn Magnus wollte zwar bemerkt haben, dass Harald nicht wirklich fest aufgetreten sei. König Sigurd jedoch musste ihn als seinen Halbbruder anerkennen Er presste ihm aber das eidliche Versprechen ab, zu seinen und seines Sohnes Magnus’ Lebzeiten keine Ansprüche auf eine Mit-oder Teilregierung zu erheben. Aber der junge König Magnus hatte sich, seinem Vater 1130 auf dem Thron gefolgt, bei seiner Wesensart nicht verwunderlich, schnell Feinde geschaffen. Haralds Leutseligkeit und Freigebigkeit dagegen gewannen ihm viele Freunde. Sie überredeten ihn noch 1130 auf einer Versammlung in Tonsberg in Südnorwegen, sich zum König ausrufen zu lassen. Sein Eid, auf Thronansprüche verzichten zu wollen, wurde für erzwungen und deshalb für ungültig erklärt. Magnus musste ihn zähneknirschend als Mitkönig anerkennen, behielt sich aber die Verfügung über den Reichsschatz, die Reliquiensammlung seines Vaters und die königliche Flotte vor. Spannungen zwischen „Oheim“ und „Neffen“ blieben nicht aus, ein Treffen der beiden 1134 verschärfte ihre gegenseitige Abneigung. Man zog in den Kampf. Dem Heere König Magnus’ wurde eine heilsbringende 2

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Die Darstellung der norwegischen Königs-und Prätendentengeschichte 1130 bis 1177 folgt, soweit nicht anders vermerkt, der „Heimskringla“ (Weltkreis) Geschichte Snorri Sturlusons (1179-1241) in der Übersetzung von F. Niedner. Eine moderne Übersicht über die norwegischen Thronwirren 1130-1217 bietet Petrick 2002 S. 41-55. Es gab verschiedene Formen der „Eisenprobe“ – die schärfste Form war der Lauf über neun glühende Pflugscharen. Manchmal wurde nur das Anpacken eines glühenden Eisenstabes gefordert. Das Anfassen eines erhitzten Eisenstücks musste nicht immer schmerz-und folgenlos sein. Es genügte auch, dass die dabei erlittenen Verletzungen nach Zeugnis eines Priesters innerhalb von drei Tagen deutlich abheilten.

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Kreuzessplitter-Reliquie aus der Sammlung seines Vaters vorangetragen. In einer Schlacht am Fyrileif siegte Magnus denn auch. Harald floh nach Dänemark. Der siegreiche Magnus aber entließ, geizig wie er war, um Kosten zu sparen seine Krieger in ihre Heimstätten. Das nutzte Gille aus. Mit dänischer Hilfe – die Dänen waren über Magnus verärgert, weil er die Verlobung mit einer dänischen Königstochter gelöst hatte – landete er in Bergen, überraschte Magnus und nahm in gefangen. Zu Weihnachten 1135 wurde Magnus kastriert und geblendet, und es wurde ihm ein Bein oder nach einem anderen Bericht die Füße abgehackt. Er wurde als Mönch in ein Kloster bei Trondheim (Nidaros) eingewiesen. Mit den Kämpfen zwischen Magnus und Harald Gille begann eine schier endlose Kette von Thronstreitigkeiten zwischen echten und falschen Thronanwärtern. Ein späterer Chronist nannte ihren ersten Auslöser Harald Gille mit Recht das „übelste Geschenk (- der Iren-) an Norwegen.“4 König Sigurd der Jerusalemfahrer hatte kurz vor der Ankunft Gilles im Traum eine bedrohliche schwarze Wolke über das Meer kommen sehen, die sich an der Küste in einen Baum mit vielen Verzweigungen verwandelte.5 Sigurd Slembe(djakan) Harald Gille, selbst ein fragwürdiger Kandidat, war zwar seit Ende 1135 Alleinherrscher, aber schon wurde ihm gemeldet, dass sich in Dänemark, auf den Orkneys, auf Island und in Schottland ein gewisser Sigurd herumtrieb, der sich rühmte, ebenfalls ein Sohn Magnus III. Barfots zu sein. Dieser Sigurd galt, bevor er sich als Königssohn offenbarte, als Sprössling eines Priesters namens Adalbrikt aus Südnorwegen und sollte selbst Geistlicher werden. Er wurde zum Diakon geweiht. Seine Mutter Thora stammte aus einer hochadligen Familie. Der junge Mann bestrickte durch ein angenehmes Äußeres, männliches Wesen und seine umfassende Bildung. Er hatte sich auch schon auf eine Kreuzfahrt ins Heilige Land begeben. Zahlreiche Anekdoten rankten sich um seine Streiche und Heldentaten. Spät von seiner Mutter über seine angeblich königliche Abkunft aufgeklärt, unterzog er sich zu ihrer Bekräftigung in Dänemark vor fünf Bischöfen klaglos der Eisenprobe. 1136 erschien der Abenteurer am königlichen Hof in Bergen. Gille verwarf die Ansprüche seines vermeintlichen Halbbruders und drohte ihn wegen eines früher begangenen Totschlags zur Verantwortung zu ziehen. Sigurd floh in ein Versteck. Er hatte jedoch selbst unter den Gefolgsleuten Gilles und unter den Geistlichen in Bergen, die dem König Gillekrist die grausame Behand4 5

Sverris Saga (vgl. Lvz.), Kap. 98 Der Traum in der „Morkinskinna“ (Schmutziges Pergament) genannten norwegischen Königsgeschichte aus dem 13. Jhd. In der englischen Übersetzung von Andersson und Gale S. 355, vgl. Lvz. Dort auch Näheres zur Eisenprobe Gilles.

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lung König Magnus’ nachtrugen, Anhang gefunden. Sie kundschafteten aus, dass Harald sich zu einem geheimen Stelldichein mit einem seiner Buhlweiber verabredet hatte. In der Nacht des 13. Dezembers 1136 wurde der wehrlose König im Bett seiner Beischläferin erschlagen. Die Empörung über diesen feigen Mord an einem Unbewaffneten, eine „Neidingstat“, war nun wiederum bei den Gille-Anhängern groß. Gilles Witwe Ingrid ließ in Trondheim für den Norden einen unehelichen Sohn ihres erschlagenen Mannes, Sigurd Munn, für den Süden ihren eigenen Sohn von Gille, Inge, zu Königen ausrufen. Sie kam damit klug den Lokaltraditionen des Südens und Nordens entgegen. Gegen die Gefolgschaften dieser Gille-Söhne musste sich Sigurd, wohlweislich aus Bergen geflohen, behaupten. Der Mörder und Thronprätendent, jetzt als der Krawall-Diakon (Slembedjakan) verrufen, proklamierte sich im Norden zum König und versuchte seine umstrittenen Erbansprüche zu verbessern, indem er den blinden und verstümmelten Exkönig Magnus aus der Klosterhaft befreite und sich von ihm zum Mitkönig ernennen ließ. In einer Schlacht gegen die Leute des Inge Haraldson wurden Slembe und Magnus 1137 geschlagen. Der zweijährige Inge, den man als Maskottchen auf das Kampffeld mitgenommen hatte, wurde allerdings im Getümmel fallen gelassen und war seitdem ein bedauernswerter Krüppel, deshalb auch Krokrygg, der mit dem Hakenrücken, genannt. (Eine andere Quelle behauptet, eine unvorsichtige Amme trage die Schuld an seiner Missbildung.) Der blinde Magnus wurde aus der Schlacht nach Dänemark gerettet. Slembe floh mit einigen wenigen Getreuen und setzte eine Zeit lang sein altes Abenteuer-und Piratenleben fort, schlug sich zu den Lappen in Nordnorwegen durch und gelangte auf deren Booten wieder in den Süden. 1139 traf er Magnus in Dänemark. Mit dreißig dort ausgerüsteten Schiffen segelten Magnus und Slembe auf Oslo zu. Aber die Anhänger der Gillesöhne Inge und Sigurd Munn verwickelten Slembes Geschwader im November 1139 vor dem heute schwedischen Holmengra in eine Seeschlacht. Magnus, der von Helfern in den Kampf getragen wurde, fiel durch einen Speerwurf. Slembe versuchte sich, als die Schlacht verloren ging, versteckt unter seinem roten Schild schwimmend, zu retten. Er wurde erkannt und aus dem Wasser gezogen. Während Magnus der Blinde ehrenvoll neben seinem Vater, König Sigurd dem Jerusalemfahrer, bestattet wurde, überließen die Sieger Sigurd Slembe den Verwandten eines von ihm vor langer Zeit in irgendwelchen Händeln erschlagenen Mannes. Sie verhöhnten ihn als frechen Hochstapler und Sohn eines Sklaven, bevor sie ihm die Beine brachen, ihn auspeitschten, pfählten und aufhingen. Sein abgeschnittener Kopf wurde ausgestellt und dann mit den anderen Überresten unter einem Steinhaufen verscharrt. Während der grauenvollen Tortur blieb Slembe stoisch gelassen. Er soll mit ruhiger Stimme Psalmen gesungen haben.

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Dieser merkwürdige Mann, den historische Quellen aus der Zeit als vielseitig begabt, listenreich und mit allen Vorzügen ausgestattet rühmen, muss auf viele Menschen faszinierend gewirkt haben. Dänische Freunde holten seine Gebeine zu einem christlichen Begräbnis nach Alborg. Sein buntbewegtes Leben hat den großen norwegischen Dichter Bjørnsterne Bjørnson 1862 zu einer Dramentrilogie inspiriert. Den ruhelosen Slembe dieser Dichtung treibt ein unersättliches Machtstreben umher, in dessen Dienst er bedenkenlos alle seine großen menschlichen Vorzüge und Begabungen verbraucht. Erst am Vorabend der Entscheidungsschlacht, deren Aussichtslosigkeit er einsieht und die er dennoch als eine Art Buße auf sich nimmt, gewinnt er inneren Frieden.6 Thronwirren Nach dem Ende Slembes wurde Norwegen im Namen der vier Söhne Harald Gilles regiert. Einer von ihnen, Magnus mit dem verkrüppelten Fuß, starb schon 1140 (oder 1145?). Die überlebenden drei Brüder gerieten, sobald sie mündig wurden, in Streit. Die unehelichen Söhne Gilles, Sigurd Munn, d.h. Schiefmund, und Eystein (Oystein), der 1142 aus Schottland kam, aber sofort als Haraldsohn Anerkennung fand, wurden 1155 und 1157 von den Gefolgsleuten ihres ehelichen Halbruders Inge des Buckligen besiegt und getötet. Der trotz seiner körperlichen Missbildung – sein Gesicht und sein blondes Haar sollen ihm aber doch eine gewisse Anmut verliehen haben –sehr beliebte Inge fiel jedoch nach wenigen Jahren der formellen Alleinherrschaft 1161 im Kampf gegen die Parteigänger eines illegitimen Sohnes des schiefmäuligen Sigurd, Håkon Herdibreidis, d.h .des Breitschultrigen, der jedoch seinerseits schon 1162 in einer Schlacht gegen Inges davongekommene Anhänger das Leben verlor – erst fünfzehn Jahre alt. Die Inge-Partei, angeführt von Erling Skakke (dem Schiefen), Inges Feldherrn und Berater, setzte ein Söhnchen Skakkes auf den Thron: Magnus V. Dieser Magnus Erlingson war durch seine Mutter Kristin ein aus legitimen Ehen stammender Enkel König Sigurds des Jerusalemfahrers und Neffe des unglücklichen geblendeten König Magnus IV., also wenigstens mütterlicherseits ein unbezweifelbar echter Sproß der Schönhaar-Dynastie. Dagegen waren alle Angehörige der Gille-Linie den Zweifeln über die Herkunft ihres Stammvaters Harald ausgesetzt – trotz der Eisenprobe von 1130. Sie rühmten sich selbst aber im Unterschied zu dem Skakkesohn der Abstammung in rein männlicher Linie aus dem alten Schönhaar-Geschlecht. 1163/64 wurde ein Thronfolgegesetz erlassen, nach dem jeweils der älteste eheliche Königssohn, soweit er würdig genug war, als Alleinerbe nach formeller 6

Deutsche Übersetzung in Gesammelte Werke Band 4, herausg. von J. Elias, Berlin 1927

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Bestätigung durch eine Reichsversammlung die Krone erben sollte. Dieses nach den Auseinandersetzungen der letzten Zeiten so notwendige und gut gemeinte Gesetz zeigte wenig Wirkung. Die Gefolgschaften der Gille-Nachkommen stellten immer neue dubiose Thronanwärter auf. -Schon 1162-63 beanspruchte ein angeblicher Halbbruder Håkon Herdibreidis Sigurd Markusfostre, den Thron. Er wurde von Erling Skakke, jetzt Königsvater und Regent, gefangengenommen und als Hochstapler hingerichtet. -1166 beunruhigte ein gewisser Olaf, ein angeblicher Urenkel König Magnus Barfots (über seine Mutter Maria und einen Eystein Magnusson), mit seiner „Hutjungs“-Bande die Upland-Region: es wäre ihnen beinahe gelungen, Erling in eine Falle zu locken. Aber dieser „Olaf der Unglückliche“ musste dann nach Dänemark fliehen, wo er 1169 starb. - Ein Harald, der sich rühmte aus einer Liebschaft zwischen Sigurd Munn (einem der Söhne Harald Gilles) und der späteren Gemahlin Erlings, der Königin-Mutter Kristin, hervorgegangen zu sein, wurde um diese Zeit geköpft. -Doch die Gille-Partei gab keine Ruh. Gilles Tochter Brigida und ihr Gemahl Jarl Birger zauberten 1174 einen angeblichen Sohn des 1157 umgekommenen schottischen Eystein Gilleson hervor. Um diesen Eystein Meyla („das Mädchen“, wegen seines zierlichen Wuchses) sammelten sich in den Waldgebieten an der südnorwegisch-schwedischen Grenze bäuerliche Banden. Angeblich waren die Leute des „Waldkönigs“ so arm, dass sie sich Beinkleider aus Birkenrinde anlegen mussten. Sie wurden deshalb als „Birke(n)beiner“ verspottet. 1176 wagten sie einen Angriff auf Trondheim von der Seeseite her, wurden aber wieder in den Süden abgedrängt. Nach einigen Niederlagen gegen den jungen König Magnus Erlingson, der sich hier seine ersten Sporen verdiente, wurde Eystein Meyla auf der Flucht erschlagen. Das verbleibende Resthäufchen seiner Birkebeiner scharte sich bald um einen anderen angeblichen Gille-Enkel: Sverre (Sverri, Sverrir) Sigurdson. Sverre und weitere Birkebeiner-Könige7 Das Vorleben Sverres erinnert ein wenig an die Schicksale Sigurd Slembes. Wie dieser war er in einer Familie von Geistlichen aufgewachsen. Seine Mutter Gunnhold hatte ihn im Alter von fünf Jahren aus Norwegen auf die FaröerInseln zu dem Bruder ihres Ehemannes Unas Kammmacher, Bischof Hroi, geschickt, der ihn für den Kirchendienst erziehen sollte. Zwar erhielt Sverre tat-

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Die Darstellung Sverres und seiner Gegenprätendenten folgt der „Sverris Saga“ des Abtes Karl Jonsson , verfasst zu Beginn des 13. Jhd. in der Übersetzung F. Niedners (vgl. Lvz). Die weiteren Thronwirren nach Sverres Tod nach der „Hakonar Saga Hakonarson“, ebenfalls in der Übersetzung von F. Niedner (vgl. Lvz.).

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sächlich die Priesterweihe, doch da er (wie Slembe) einen Totschlag beging, wurde er zu einem Flucht-und Wanderleben gezwungen. Mutter Gunnhold aber war inzwischen nach Rom gepilgert und hatte in einer Generalbeichte vor dem Papst bekannt, nicht Unas, sondern König Sigurd Munn sei der leibliche Vater ihres Sohnes Sverre. Der Papst befahl ihr, Sverre darüber aufzuklären, was dann auch bei einem Besuch der Gunnhold auf Faröer geschah. Sverre wusste zunächst nicht, was er mit dieser Enthüllung anfangen sollte. Er begab sich vorerst inkognito an den Hof des Regenten Erling Skakke, dann zu Jarl Birgi, um die politischen Verhältnisse zu sondieren. Nach der Niederlage Eystein Meylas und seiner „Birkebeiner“ schien eine erneute Thronkandidatur im Namen der Gille-oder Birkebeiner-Partei wenig verlockend. Sverre spielte mit dem Gedanken an eine Kreuzfahrt ins Heilige Land. Aber die bei Jarl Birgi auftauchenden versprengten Birkebeiner drohten ihn, der sich inzwischen vor dem Jarl als ein Sigurdson und Gilleenkel offenbart hatte, zu erschlagen, wenn er sich nicht an ihre Spitze setzen wolle. Vergebens versuchte Sverre sich mit dem Hinweis „Niemand weiß, aus welcher Familie ich stamme“8 wieder ins Inkognito zurückzuziehen, er musste sich des führerlosen Haufens von etwa 70 Mann annehmen. Auf einem abenteuerlichen und entbehrungsreichen Marsch durch unwirtliche, schneebedeckte Wald-und Berglandschaften schlug sich Sverre mit seinen Männern bis nach Trondheim durch. Mit kaum zweihundert Getreuen, die sich ihm unterwegs angeschlossen hatten, besiegte er hier ein königliches Heer von über tausend Mann. Er erbeutete dabei ein Banner des heiligen Königs Olaf. Eine Thingversammlung bei Nidaros-Trondheim erhob ihn nun selbst zum König (1177). Die Kämpfe zwischen Erlings und König Magnus „Herklungs“oder „Mützen“partei, auf deren Seite sich auch der Erzbischof von Nidaros stellte, dessen Bischofsmütze ihr den Namen gab, und Sverres Birkebeinern zogen sich noch jahrelang hin. In ihnen bewährte sich Sverre als kühl berechnender Stratege und geschickter Politiker. Schon 1179 fiel der Königsvater Erling vor Trondheim. Sverre hielt seinem Gegner die Leichenrede. Er rühmte ihn als edlen Mann, warf ihm jedoch den Thronraub an den Gille-Nachkommen Harald Herdibreidi und Eystein Meyla vor. Er selbst legitimierte sich in dieser Rede durch seine Erfolge. Mit ihm sei an die Stelle von drei Machthabern – Regent-Königsvater, König und Erzbischof – ein einziger Mann getreten. Ein Zeichen Gottes. Trotz des hiermit erhobenen Anspruchs auf Alleinherrschaft bot Sverre König Magnus Verhandlungen und Mitherrschaft an. Zweimal trafen sich die Rivalen zu Verhandlungen, ohne Ergebnis.

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Sverris Saga Kap. 9

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König Magnus, der sich in den folgenden Jahren immer wieder Verstärkung aus Dänemark holte, ertrank schließlich während einer Seeschlacht im Nora Fjord bei Firmreite nahe Bergen am 15. Juni 1184. Seine Leiche wurde nach zwei Wochen aus dem Meer gefischt. Sverre ließ sie ehrenvoll bestatten, ganz im Zeichen einer klugen Versöhnungspolitik. Sverre war nun Alleinherrscher. Doch trotz seiner Erfolge, die als Schiedsspruch Gottes aufgefasst wurden, plagten ihn Selbstzweifel an seiner königlichen Herkunft und Legitimität. (Der norwegische Nationalhistoriker Andreas Munch ist in seinem Drama „König Sverres Jugend“ erschienen Kristiania (Oslo) 1837 auf diese selbstquälerischen Grübeleien eingegangen.9) Er hatte sie, wie oben angedeutet, bei seiner ersten Begegnung mit den Birkebeinern anklingen lassen. Der üblichen Eisenprobe entzog er sich. Er suchte nach anderen Beweisen für die Rechtmäßigkeit seiner Herrschaft. Er fand sie in geheimnisvollen Traumvisionen. Schon vor seiner Geburt hatte seine Mutter geträumt, sie werde einen weißstrahlenden Felsen zur Welt bringen. Er selbst sah sich im Traum als Riesenvogel, oder der heilige König Olaf lade ihn in sein Badewasser und überlasse ihm sein Schwert, Schild und Banner. Später erschien ihm nächtlings der biblische Prophet Samuel und salbte ihn zum König. Vor der Schlacht bei Trondheim 1179, in der der Königsvater Erling fiel, wurde Sverre im Traum aufgefordert, Menschenfleisch zu essen, allerdings wurde ihm der Kopf des Opfers vorenthalten. Tatsächlich entkam König Magnus, das Haupt seiner Feinde, damals noch vom Schlachtfeld. Mit der Berufung auf diese Träume versuchten Sverre und die von ihm beauftragten Hofdichter Zweifel an der Abstammung und damit der Legitimität des Königs zu zerstreuen. (Verwirrend nicht nur für Sverre musste aber 1181, also noch während der Kämpfe mit König Magnus, das Auftauchen eines Erik Sigurdson sein, der beanspruchte, als Sohn Sigurd Munns und damit Halbbruder Sverres anerkannt zu werden. Während einer Pilgerfahrt ins Heilige Land war diesem jungen Herrn das Gerücht zugetragen worden, er könne ein Königssohn sein. Falls er mit einer brennenden Kerze in der Hand in den heiligen Fluss Jordan tauche und die Kerze nicht verlösche, sei der Beweis dafür erbracht. Das Wunder geschah. Der so als Königssohn ausgewiesene Junker begab sich in die Dienste Kaiser Manuels in Byzanz, lernte andere Herrscherhöfe kennen und kehrte endlich in seine norwegische Heimat zurück. Er war bereit, sich vor Sverre der berüchtigten Eisenprobe zu unterziehen. Sverre ließ das Gottesurteil nur unter der Bedingung zu, Erik werde niemals Teilhabe am Königtum fordern. Sverre betonte, dass nur ihm allein aufgrund seiner langjährigen Kämpfe und Anstrengungen die so mühsam errungene Herrschaft gebühre. Erik leistete den gewünschten Eid, fastete und bestand die Probe. Er zeichnete sich in Sverres Diensten glänzend aus, wohl 9

Dazu Kindlers Literaturlexikon, Sonderausgabe Zürich 1970, Band VI S. 5329-30, Eintrag „Kong Sverres Ungdom“

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in der Hoffnung, doch noch mit einer Teilherrschaft belohnt zu werden. Sverre versagte sie ihm. Enttäuscht zog Erik zu Plünder-und Eroberungsfahrten nach Estland, Schweden und Dänemark aus. Als strahlender Held nach Norwegen zurückgekehrt, wurde er von Sverre zum Jarl erhoben, mit dem Recht, sich eine eigene Haustruppe zu halten. Der überraschende Tod Eriks und seines Sohnes Markus 1190 setzte Sverre dem Verdacht aus, er habe diese beiden möglichen Rivalen vergiften lassen.) Im Übrigen bewährte sich Sverre als Herrscher. Er ordnete Verwaltung und Gerichtswesen neu und verwies die ehrgeizigen Kirchenfürsten des Landes, die der kirchenfreundlichen Herrschaft Erlings und Magnus V. nachtrauerten, in ihre Schranken. Das brachte ihm 1194 den Kirchenbann ein, um den er sich freilich wenig scherte. Er zwang sogar einige Bischöfe, ihn noch 1194 zum König zu krönen. Unabhängig von der Frage seiner Herkunft gilt er bei vielen Historikern als einer der größten Regenten Norwegens. Die Geistlichkeit aber verbündete sich mit den Resten der alten IngeErling-Magnuspartei gegen ihn und stellte eine Reihe von Gegenkönigen auf, vorgebliche Spößlinge früherer Herrscher. Sie machten Sverre und seinen Nachfolgern oft schwer zu schaffen. Noch auf seinem Sterbelager seufzte Sverre, die Königswürde habe ihm nichts als Mühsal, Unrast und Ärger gebracht. Doch die Familie Sverres konnte auch nach seinem Tode 1202 gegen all diese Rivalen die Herrschaft über den Hauptteil Norwegens behaupten. Auf Sverre folgte sein Sohn Hakon III. 1202-04, sein Enkel Guttorm (der Sohn Sigurd Lavards, der wegen Feigheit von der Thronfolge ausgeschlossen worden war) 1204 und dann Inge Bardson, Sohn der Sverre-Schwester Cäcilia 12041217. Endlich wurde Sverres Enkel, ein Sohn Håkons III., der junge Håkon IV. zum unumstrittenen Alleinherrscher Norwegens. Er war als Wickelkind 1204 von den Birkebeinern seines Großvaters vor dem Zugriff der Feinde seines Hauses in einem waghalsigen Fluchtmanöver auf Skiern über winterlich verschneite Bergwälder zu König Inge Bardson nach Trondheim gerettet worden. Daran erinnert noch heute jeden März ein in Norwegen überaus populäres sportliches Ereignis, eine Art Ski-Marathon, der Birkebeiner-Lauf über eine Strecke von 56 Kilometern. Bevor aber durch Håkon IV., später „Gamle“, der Alte, genannt, das Land unter der Sverre-Dynastie befriedet wurde, hatten Sverre und seine BirkebeinerNachfolger wie gesagt noch schwere Kämpfe gegen eine wahre Flut echter oder falscher Thronanwärter zu bestehen: gegen die Kutten-Kapuzen-oder Krummstab („Bagler“)- Könige, so genannt, weil sie zumeist von der Kirche protegiert wurden.

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Die Kuflunger- und Baglerkönige Der Spottname „Bagler“ für diese Thronbewerber kam zwar erst 1195 auf, aber schon hinter Jon Ingeson, der 1185 gegen Sverre in der Gegend um Oslo zum König ausgerufen wurde, standen wohl die Adels-und Kirchenkreise, die später als „Baglerpartei“ firmierten. Jon hatte vor seiner Erhebung als Zisterziensermönch in einem Kloster bei Oslo gelebt. Seine Anhänger wurden deshalb zunächst „Kuflungs“, d.h. (Mönchs)kapuzen oder -kutten genannt. (Sie standen in der Tradition der alten „Mützenpartei“ Erlings und Magnus V.) Der Mönch wurde für einen Sohn des 1161 gefallenen Königs Inge Korkrygg, des Buckligen, ausgegeben. Zweimal stießen die Kuflunger bis nach Trondheim vor, aber bei Seekämpfen vor Bergen 1188 fuhr sich Jons Schiff fest und wurde von Sverres Leuten geentert. Der falsche Mönch wurde erschlagen. An seiner Fußsohle entdeckte man eine von einer Sichel stammende Narbe. Ein Bergener Bürger erkannte daran seinen verschollenen Sohn namens Orm. Er beschwur dies vor König Sverre. Im Schlepptau Jons war dessen angeblicher Halbbruder Sigurd Brenni aufgetaucht. Nach Jons Ende beunruhigte er mit einer Bande von etwa 300 Mann die Grenzgebiete zum schwedischen Värmland. Von Sverres Leuten umstellt, schrie er laut heraus, dass er nur ein einfacher Bauer mit Namen Hedin Thorgrimson sei, bevor er tapfer kämpfend fiel. Nach Dänemark geflohene Kuflunger versuchten 1190 wieder in Norwegen zu landen. Sie führten ein angebliches Söhnchen König Magnus V. Erlingsson mit sich, Vikar geheißen, den ersten einer ganzen Reihe angeblicher Magnussöhne. Freilich war Magnus als eifriger Schürzenjäger bekannt gewesen, es kann also durchaus sein, das der eine oder andere dieser Magnussöhne wirklich königliches Blut aufwies. Die zurückkehrenden Kuflunger, auch „Varbelgs“ genannt, wurden zur See abgefangen, das Kind Vikar auf einem ihrer Schiffe entdeckt und erschlagen. Ein Thorleif Breitskegg, ehemaliger Mönch und durch ein Kreuzzeichen auf dem Rücke als gotterwählt ausgewiesen, fromm und redegewandt, machte als Sohn Eysteins aus Schottland von sich reden. Er wurde von Sverre-treuen Bauern erschlagen (1191). Den nächsten Magnussohn, stolz „Sigurd Kongsson“ genannt, lancierte eine Adelsverschwörung gegen Sverre. Ein unehelicher Sohn Erlings, Harald, – also ein „Oheim“ des Jungen, den Sverre im Rahmen seiner Versöhnungspolitik an seinem Hof aufgenommen hatte, und Olaf, ein weiterer Verwandter, waren die Hauptkonspirateure. Sie brachten den „Kongsson“ 1192 auf die damals norwegischen Orkney-und Shetlandinseln, wo ihn die „Oyskjeggene (Eyskeggs)“, die „Inselbärte“, zum König ausriefen. Sie landeten in Südnorwegen, gewannen auch einigen Anhang, aber ihr Kongsson ertrank bei Kämpfen vor Bergen 1194.

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Die Leiche des etwa Vierzehnjährigen wurde in Bergen ausgestellt, um seine Unechtheit zu beweisen. Aber die Werkstatt der Bagler-Königsmacher gegen Sverre blieb weiter fleißig. Die nach Dänemark exilierten norwegischen Kirchenfürsten, Erzbischof Erik und Bischof Nikolas von Oslo, präsentierten 1195 auf dem Markt von Helsingör einen weiteren „Magnusson“, Inge oder Ingri. Er wurde zwar als „Baglerkönig“ (König der „Krummstäbe“, d.h. der Bischöfe) verspottet, gewann aber doch in der Gegend um Oslo größere Gefolgschaft. Mit seinem Protektor Nikolas gelangte er bis Bergen, die Kämpfe zogen sich langwierig hin. Gelegentlich wurde auch verhandelt, aber seit 1199 behielt Sverre die Oberhand. 1202 wurde Inge von Bauern, die der dauernden Kriegswirren überdrüssig waren, erschlagen. Er soll in Wahrheit ein einfacher Däne mit Namen Thorgil gewesen sein. Die Birkebeiner Sverres verhöhnten ihn als „Thufuskit“, Haufenscheißer. An seine Stelle trat ein Erling, ebenfalls ein „ Magnusson“, der sich den Beinamen „Steinvegg“, Steinwand, erworben hatte. Dieser Erling war zuerst in Schweden aufgetreten und auf Ersuchen König Håkons III. Sverrisons dort auf einer Insel im Vättersee festgesetzt worden. Er hatte sich mit Hilfe einer Wärterin an der Steilwand seines Gefängnisses herabgelassen und war so entkommen. Ob allerdings der nun als Erling Steinvegg proklamierte Mann der Held vom Vättersee war, ist von einigen „Baglern“ später abgestritten worden. Man habe einfach einen kräftigen Mann als diesen Erling ausgegeben. Wer immer auch dieser geheimnisvolle Mann war, er unterzog sich der Eisenprobe, starb aber schon 1207. Damit schien der Vorrat an Magnus-Söhnen erschöpft zu sein, denn die Bagler-Partei erhob nun einen Philipp Simonson zu ihrem Anführer, einen Enkel der Königin Ingrid (der Gemahlin Harald Gilles) durch seine Mutter Margarete Arnadottir, die allerdings nicht aus der Ehe Ingrids mit Harald Gille stammte. Der Bruder Margaretes, Bischof Nikolas von Oslo, der „Königsmacher“, hatte seinen Neffen Philipp schon anstelle des ominösen Erling Steinveggs durchzusetzen versucht. Die jahrzehntelangen Thronwirren hatten das Land inzwischen ruiniert und die Parteien in pure Erschöpfung getrieben. Es wurden Verhandlungen angebahnt, und schließlich einigte man sich 1208/09 darauf, dass Philipp ohne Königstitel den Südosten auf Lebenszeit regieren sollte. Danach sollte das Land unter Sverres Enkel, dem „Birkebeiner“könig Håkon IV. vereint werden. Philipp heiratete auch eine Tochter Sverres, Kristin. Er starb erbenlos 1217. Einige seiner Leute versuchten den Friedenspakt zu umgehen und schoben nochmals einen „Magnussohn“ vor, den Priester Bene Skinnk(n)iv, der aber schon 1218 starb. Diese unentwegten „Bagler“ stießen auf fast einmütige Ablehnung und wurden als „Slittunger“, Lumpenpack, abgetan und galten zuletzt nur noch als „Ribbunger“, d.h. Räuberbande.

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Ihr letzter einigermaßen gefährlicher Prätendent war Sigurd, den sie für einen Sohn Erling Steinveggs ausgaben. Er hielt sich nach 1218 lange Zeit in der Gegend von Oslo, ergab sich aber 1223 gegen das Versprechen der Straffreiheit und späterer ehrenvoller Versorgung. Am Hofe festgehalten floh er jedoch als Mönch verkleidet aus Trondheim zu seinen Leuten im schwedischnorwegischen Grenzgebiet. König Håkon verwüstete diese Gegenden, auch das schwedische Värmland, darauf gnadenlos. Verhandlungsangebote Sigurds lehnte der König ab, denn er hielt den Ribbunger auf jeden Fall für einen unechten Thronbewerber. „Wir wissen auch nicht“, so meinte Håkon, „ob Sigurd ein Sohn Erling Steinwands ist oder nicht. Das aber wissen wir bestimmt, dass der (Erling-) nicht ein Sohn König Magnus war." Sigurd starb 1226 bei Oslo. Die Ribbunger versuchten darauf Knut Håkonson als Anführer zu gewinnen, der über seine Mutter Christine (Kristin) ein echter Enkel König Sverres war. Trotz Abraten seiner Mutter eilte Knut tatsächlich aus Schweden herbei, kämpfte aber wenig erfolgreich und ergab sich 1227. Er wurde begnadigt, immerhin stammte er aus der Gille-Sverre-Linie. Ein allerletzter Bagler-oder Ribbungerhäuptling namens Magnus wurde kurz darauf von verängstigten Bauern aufgehängt, die Håkons Vergeltung fürchteten, falls sie diesen Mann bei sich duldeten. Seit 1217 konnte das Land aber als im Wesentlichen befriedet gelten. Als König allgemein anerkannt war nun der Sverre-Enkel Håkon IV. Håkonson, den die Birkebeiner 1204 so heldenhaft vor dem Zugriff der Bagler gerettet hatten. Zwar hatte ihn damals König Inge Bardson als Sverre-Enkel anerkannt, aber er war unehelich geboren und an seiner Echtheit wurde später, selbst nach seiner Thronbesteigung nach dem Tod Inges 1217, gezweifelt. Als bereits regierender König lehnte er die Eisenprobe ab. Seine Mutter Inga unterzog sich deshalb 1218 für ihn dieser Prüfung, allerdings in ihrer leichteren Form. Sie wagte es, ein glühendes Eisen anzufassen. Als man nach drei Tagen den Wundverband löste, soll die Hand schöner denn zuvor gewesen sein. Kein geringerer als Henrik Ibsen hat diese Szene und andere Nachwehen der Thronwirrenzeit in seinem Drama „Kongs – Emmerne“ (Die Kronprätendenten) von 1864 aufgegriffen. Zusammenfassung Hinter der Flut norwegischer Thronanwärter verbirgt sich sicherlich das Bestreben einzelner Landesteile oder Thinggemeinden, die alten lokalen Teilkönigtümer wiederherzustellen, besonders der Gegensatz zwischen Trondheim-Nidaros und Oslo-Viken spielte hier eine Rolle. Verstärkt wurden diese Spannungen durch die Gegensätze zwischen Volkskönigtum (Birkebeiner) und Adels-und Kirchenkreisen (Bagler). Dass die Parteien sich bemüßigt fühlten, im Namen echter oder angeblicher Mitglieder der Schönhaar-Dynastie aufzutreten, verrät

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jedoch gleichzeitig die Tendenz, den unter dieser Herrscherfamilie angestrebten Zusammenhalt des Landes locker bewahren zu wollen. Die Leichtigkeit, mit der für diese widersprüchlichen Bestrebungen Thronanwärter, oft bloße Kinder, gefunden werden konnten, ergab sich aus der vorchristlichen faktischen Vielweiberei der Könige (die sich in dem „Seekönigreich“ der norwegischen Wikinger zudem noch oft als parallele eheähnliche Beziehungen in weit voneinander entfernten Regionen mit verschiedenen familien-und eherechtlichen Traditionen darstellte. So konnten dann unvermittelt „Königssöhne“ z. B. aus Schottland, Irland usw. auftauchen). Vor allem aber spielte dabei die erbrechtliche Gleichstellung aller Söhne aus diesen Verbindungen eine Rolle. Unter den zahllosen Prätendenten waren drei besonders wichtig: der aus Irland stammende Harald Gille, der möglicherweise unecht war, der höchstwahrscheinlich unechte Sigurd Slembe und schließlich Sverre, der offensichtlich selbst zuweilen an seiner Echtheit zweifelte. Die Hartnäckigkeit, mit der die Herklungs- Kuflunger-Bagler-Partei immer wieder Prätendenten gegen ihn und seine Nachkommen lancierte, mag auch auf den berechtigten Zweifeln an Sverres königlicher Abkunft gelegen haben. Da die seit 1217 mit Håkon IV. durchgesetzte Dynastie sich auf Gille und Sverre als Vorväter berief und selbst Håkon IV. noch als untergeschoben in Frage gestellt wurde, kann füglich darüber gerätselt werden, ob Norwegens Könige aus der Nachkommenschaft Gilles und Sverres sich blutmäßig von der ehrwürdigen Schönhaar-Familie ableiten lassen, der eine Traumprophezeiung die ewige Herrschaft über Norwegen verhieß. Wären Gille, Sverre oder Håkon IV. unecht, so böte Norwegen das einzigartige Beispiel für die dauerhafte Etablierung einer durch vielleicht sogar mehrfache Täuschungsmanöver erschlichenen Herrschaft. Freilich ist wohl Felix Niedner, der in den 1920er Jahren mit der „Thule“Sammlung die norwegischen Königssagas in Deutschland zu popularisieren versuchte, beizupflichten, wenn er zu den Gille-Sverre-Thronanwärtern meint, dass die „Frage ihrer Echtheit für sie und zuletzt auch für die Zweifler im Volk vollkommen zurücktrat vor dem Königsbewusstsein, das sie in ihrer Brust trugen, und vor dem königlichen Eindruck, den sie schließlich bei dem ganzen Volk hervorriefen.“10 Der große Dramatiker Henrik Ibsen hat in dem bereits erwähnten Drama „Die Kronprätendenten“ ebenfalls in dieser Richtung argumentiert. Ein letzter Rivale Håkons, dem der niederträchtige Bischof Nikolaus, der BaglerKönigsmacher, selbst nach der Eisenprobe der Königinmutter Inga nochmals böse Zweifel an der königlichen Abstammung Håkons eingeträufelt hat, bekennt vor seinem tragischen Tod: „Sag ihm (Håkon), auch in meiner letzten Stunde wisse ich nicht, ob er als König geboren sei: das aber wisse ich unwandelbar

10

Niedner, Sverris und Hakonsaga S. 14

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gewiss: er ist der, den Gott erkoren hat.“11 – Gemeint ist: erkoren zur Einigung, d.h. zur Formung der norwegischen Nation. Gegen die Dynastie der Sverre-Nachkommen traten bis zu ihrem Ende in der männlichen Linie 1319 keine falschen Prätendenten mehr auf, mit einer einzigen Ausnahme, wobei es sich pikanterweise um eine Frau handelte, die „falsche Margarete“ oder Maritte. „The false Maid of (orway“12 Zur Vorgeschichte: Die Nachkommen Sverres behaupteten sich nicht nur auf dem norwegischen Thron. Sie gewannen, wie ihre Eheverbindungen belegen, bei den Herrscherhäusern Europas trotz ihrer zweifelhaften Herkunft nicht geringes Ansehen. So vermählte König Alexander III. von Schottland 1281 seine Tochter Margarete mit König Erik II., einem Enkel Håkons IV. Im Ehevertrag wurde festgehalten, dass die Kinder aus dieser Ehe, ausdrücklich auch Töchter in Ermangelung männlicher Nachkommen, in beiden Königreichen erbberechtigt sein sollten. Margarete starb 1283 bei der Geburt eines Töchterchens, das ebenfalls Margarete genannt wurde. 1286 starb Alexander III.von Schottland ohne direkten männlichen Erben. Ungeachtet des Vertrags von 1281 beanspruchten Seitenverwandte unter anderem aus den Häusern Balliol und Bruce den schottischen Thron. Bis zur Klärung der Thronfolge übernahmen auf Beschluss eines schottischen Parlaments sechs „Guardians“ die Regierung des Landes. Jetzt intervenierte Erik von Norwegen für seine Tochter. Er nahm Verbindung zu König Eduard I. von England auf und stellte eine spätere Heirat Margaretes mit dem englischen Kronprinzen (dem nachmaligen Eduard II.) in Aussicht. Von der Vision einer zukünftigen Vereinigung der Königreiche Schottland, England und vielleicht sogar Norwegen begeistert, berief Eduard 1289 die schottischen Guardians nach Salisbury und nahm ihnen das Versprechen ab, Margarete, „the maid of Norway“ noch vor Ende des Jahres 1290 als ihre Königin zu empfangen. Die kleine Prinzessin wurde im norwegischen Bergen feierlich eingeschifft. Sie sollte Schottland nie erreichen. Sie erkrankte im September oder Oktober 1290 auf ihrer Seereise. Man ankerte auf den Orkneys, ihr Zustand schien sich zu bessern, aber dann verschied sie plötzlich in den Armen des Bischofs Narve (Marwe) von Bergen. Ihre Leiche wurde nach Bergen zurückgebracht und in der Christ-Kirche neben ihrer Mutter beigesetzt. Zehn Jahre später erstand Margarete wieder in Gestalt der „false Maid of Norway“.

11 12

Henrik Ibsen, Sämtliche Werke, Berlin 1966, S. 241 Zu ihr: Lecuppre S. 123 und Anderson passim

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König Erik II. starb 1299, es folgte sein Bruder Håkon V. Kaum hatte dieser die Regierung angetreten, wurde er über einen seltsamen Vorfall unterrichtet. In Bergen war eine etwa vierzigjährige fremde Frau, bereits grauhaarig, in Begleitung ihres Mannes aufgetaucht. Sie kam angeblich aus Lübeck und wusste eine merkwürdige Geschichte zu erzählen. Sie sei niemand anders als die Königstochter Margarete. Ihr Tod auf der Reise nach Schottland sei nur vorgetäuscht worden. In Wirklichkeit habe ihre Betreuerin Ingiborg Erlingsdatter sie nach Deutschland verkauft, wo sie aufgewachsen sei und geheiratet habe. Die Dame Ingiborg wollte sich angeblich an Erik II. rächen, weil dieser den Tod ihres Bruders verschuldet hätte. So unwahrscheinlich die Geschichte klang, die Frau aus Lübeck fand doch einigen Zulauf unter den Bürgern und Geistlichen in Bergen. Den aus Island stammenden Priester Haflidi Steinsson überzeugte sie etwa von ihrer Echtheit, indem sie ihn daran erinnern konnte, dass er bei der Ausfahrt der kleinen Margarete 1290 das „Veni creator spiritus“ angestimmt hatte. In einer isländischen Chronik, die für das Jahr 1320 den Tod Haflidis vermeldet, wird die Frau aus Lübeck dann auch als eine zu unrecht als Hochstaplerin verleumdete „Märtyrerin“ bezeichnet. Aber ihre Geschichte war ganz unwahrscheinlich. Zu vieles sprach gegen sie. Die Frau war viel zu alt, um Margarete zu sein. Die angebliche Intrigantin Ingiborg stand am Hofe Eriks II. bis an ihr Lebensende in hohen Ehren. Auch hatte der König die Leiche seiner Tochter gesehen. Die falsche Margarete wurde 1301 in Nordness bei Bergen verbrannt, ihr Mann geköpft. Wahrscheinlich war sie nur eine Marionette Lübecker Kaufleute, die über Handelsbeschränkungen in Norwegen erbost waren. Sie standen wohl in Verbindung mit einem aufrührerischen norwegischen Adligen, Audun Hugleikson, der 1302 gehängt wurde. Es muss auch später noch weiter heimlich gegen Håkon V. gewühlt worden sein, denn an der Verbrennungsstätte der falschen Margarete wurde eine Kapelle errichtet. Bischof Audfinn von Bergen musste 1320 die Wallfahrt dorthin verbieten. Diese Kapelle wurde wohl während der Reformation zerstört. Ein Anwärter auf drei Kronen: der arme Olaf13 Vorbemerkung: Königin Margarete I. (nicht unumstrittene) Erbin Dänemarks, verheiratet mit König Håkon VI. von >orwegen, regierte nach dem Tode ihres Mannes 1380 zunächst als Regentin für ihren Sohn Olaf beide Königreiche. Als Olaf 1387, kaum zum Jüngling herangewachsen, starb, übernahm sie die Herrschaft im eigenen >amen und gewann dazu auch noch 1389 die Herrschaft über 13

Zu ihm: Chronik des Johann von Posilge, in Scriptores Rerum Prussicarum 3. Band, herausg. von Dr. Theodor Hirsch und Dr. Ernst Strehlke, zuerst Leipzig 1866, Nachdruck Frankfurt am Main 1965 S. 260

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Schweden. 1397 wurde die Vereinigung der drei skandinavischen Reiche unter der „Semiramis des >ordens“ in der „Kalmarer Union“ bestätigt. Selbstverständlich schuf sich die machtbewusste und erfolgreiche Herrscherin viele >eider in ihren Königreichen und außerhalb. Ihre Feinde griffen bald auf das in Skandinavien so vielfach erprobte Mittel zurück, einen falschen Thronanwärter gegen sie aufzustellen. Über diesen falschen Olaf berichtet der zeitgenössische ostpreußische Chronist Johann von Posilge eine, wie er meint, „gemeliche geschicht“- d.h. eine „belustigende Geschichte“. Im Jahre 1402 tauchte danach in einem ostpreußischen Dorfe beim Städtchen Grudentz (Graudenz?) ein unbekannter armer und kränklicher Mann auf. Durchziehende dänische Kaufleute, die ihn zu Gesicht bekamen, erstaunten über die Ähnlichkeit des Fremdlings mit ihrem König Olaf, der, so lief ein Gerücht, von seiner herrschsüchtigen Mutter vergiftet worden sein sollte. War Olaf vielleicht dem Anschlag entkommen und hier untergetaucht? Der darauf angesprochene arme und kranke Mann bestritt, irgendetwas mit dem König zu tun zu haben. Die Dänen aber holten Freunde zu Hilfe, die mit Olaf bekannt gewesen waren. Kaum wurden diese des armen Kerls ansichtig, sanken sie vor ihm als ihrem König auf die Knie. Der Grudentzer Kaufmann Tyme von der Nelow, ein gutes Geschäft witternd, brachte den vermeintlichen Olaf nach Danzig und stellte ihn dort als König vor. Reiche Patrizier staffierten den wieder aufgefundenen Herrscher fürstlich aus. Es fand sich ein mysteriöser „Herold“, der den vermeintlichen König unter seine Fittiche nahm. Mit königlichem Siegel wurde ein Brief an die große Margarete geschickt, in dem die Wiederkehr ihres Sohnes angekündigt wurde. Der Papst habe Olaf, der sein Leben eigentlich in gottgefälliger Armut verbringen wollte, angewiesen, sein Reich zurückzufordern. Margarete ging, beraten wohl von dem ihr befreundeten Stralsunder Bürgermeister Wulf Wulflam, scheinbar auf das Spiel ein. Sie lud ihren angeblichen Sohn nach Kalmar. Er reiste in Begleitung einer Gesandtschaft des Deutschen Ritterordens an. Die Ordensritter stritten sich zu dieser Zeit mit Margarete um den Besitz der Ostseeinsel Gotland, und so genoss der Prätendent vielleicht ihre Protektion. Doch stellte sich in Kalmar schnell heraus, dass Olaf aus Grudentz, vorgeblich König von Dänemark, kein Wort Dänisch sprach. Er gestand, der Sohn eines Bauern Wolf und seiner Frau Margarete aus Eger zu sein. Seine Rolle als König haber er, arm und krank wie er war, nur auf das Drängen seiner Verehrer und um sich aus seinem Elend zu befreien, angenommen. Er wurde bei Lund auf der Straße zwischen Falsterbo und Skanor am 28. September 1402 verbrannt, mit einer Spottkrone auf dem Kopf und seinem Brief an Margarete auf der Brust. Sein königlicher Putz wurde einem Kloster übergeben. Sein Sie-

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gel wurde zerbrochen. Die Königin fühlte sich immerhin bemüßigt, Dokumente zum Tode ihres echten Sohnes bekanntzumachen. Und dennoch wollten Gerüchte nicht verstummen, der arme Olaf sei der wahre gewesen. Gewisse Körpermerkmale und sein Wissen über heimliche Dinge wurden als Beweis angeführt. „Wat dar wares anne is, dat is gode allenen bekannt“ hieß es in der zeitgenössischen Rufus-Chronik.14 Dieser Spruch könnte noch mehr für den letzten wahrscheinlich unechten skandinavischen Prätendenten gelten, der über hundert Jahre später in Schweden auftrat. Schweden: Der Daljunker15 Vorbemerkung: Die von der großen Margarete angeregte Kalmarer Union der nordischen Reiche blieb ein sehr zerbrechliches Gebilde. Die Schweden insbesonders scherten immer wieder aus. Unter den Reichsverwesern aus der einheimischen Familie Sture lösten sie sich de facto aus der Union, erst König Christian II. von Dänemark setzte sich 1520 mit einem Sieg über den Reichsverweser Sten Sture den Jüngeren und mit dem „Stockholmer Blutbad“ wieder als Unionskönig durch. Doch ein Verwandter der Sture, Gustav Wasa, vertrieb ihn schon 1521/22. Gustav nahm 1523 den Königstitel an. Der neue Herrscher, in den Kämpfen mit den Dänen hoch verschuldet, musste seine Staatskasse mit harten Steuern und dem Einzug von Kirchengütern füllen. Er wurde deshalb protestantischer >eigungen verdächtigt. Gegen die kirchliche Opposition griff Gustav entschieden durch. Hohe Geistliche wurden hingerichtet. All dies erregte besonders in dem Gebiet von Dalarne bei Bauern und Bergleuten, die 1521 zu den ersten Anhängern Gustavs gehört hatten und sich nun verprellt fühlten, großen Unmut. Sie mochten auch gehofft haben, Gustav werde die Wiedererrichtung des selbstständigen schwedischen Thrones nicht für sich, sondern für die mit dem Lande Dalarne eng verbundene Familie Sture anstreben. Schon die Bischofsopposition hatte vor allem auch in Dalarne gegen Gustav gewühlt. Anfang des Jahres 1527 verbreitete sich auf abgelegenen Höfen und Dörfern Dalarnes das Gerücht, Nils, ein Sohn des 1520 umgekommenen Reichsverwesers Sten Sture, der Erbe des Hauses Sture, habe sich bei seinen Dalkerlen gezeigt. Er nenne sich „den echten Erben Schwedens und demnächst mit Gottes Hilfe Hauptmann“16. Zwar schien der etwas zartgliedrige, aber sonst gut ausse14

15 16

Chronik des Rufus, in Die lübeckischen Chroniken in niederdeutscher Sprache, Chronik des Franziskaner Detmar nach der Urschrift Band 2, Hamburg 1830, S. 463 (als Ergänzung) zu ihm ausführlich: Carlow/Stavenov S. 51-69 Findeisen 2008 S. 89

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hende junge Mann, der solches von sich behauptete, für den echten Nils Sture, geboren offiziell 1512, etwas zu alt, aber er erklärte, man habe sein Geburtsdatum offiziell gefälscht, um zu vertuschen, dass er einige Jahre früher vorehelich geboren worden sei. Mit Geschichten über seine traurige Jugend und das Ende seines Vaters rührte er seine Zuhörer zu Tränen. Tatsächlich war auch der echte Nils Sture, der Sohn Sven Stures des Jüngeren und der Kristina Gyllensterna, großen Gefahren ausgesetzt gewesen. 1520 hatte ihn der Kanzler und Bischof von Westerås, Peter Jacobson, genannt Peder Sunnanväder, vor den Nachstellungen Christians II. nach Danzig gerettet. Beim Versuch der Heimreise war er in die Hand der Dänen gefallen und erst 1524, nach dem Sturz Christians, freigelassen worden. Wahrscheinlich sollte der Wasa beunruhigt werden. In Kalmar, wo er seine Mutter wieder fand, hatte es dann auch eine Verschwörung zu Gunsten des Jungen gegen Gustav Wasa gegeben. Der König bot dem Reichstag seine Abdankung zugunsten der Stures an, erhielt aber ein überwältigendes Vertrauensvotum. Gustav hatte Nils Sture danach als Pagen an seinen Hof genommen, wo dieser jedoch manche Demütigung ertragen musste. Sein Retter Peder Sunnanväder, der zur Bischofsopposition gegen den Wasa-König gehörte, wurde auf einer Schindmähre rückwärts sitzend durch Stockholm geführt und am 18. Februar 1527 schimpflich hingerichtet. Jetzt aber, so der „Daljunker“, wie der in Dalarne aufgetauchte junge Mann im Volksmund genannt wurde, sei er glücklich vom königlichen Hof entkommen und wende sich an seine getreuen Dalkerle, um mit ihrer Hilfe Gustav die angemaßte Herrschaft zu entreißen. Seine Erzählungen fanden Glauben. Sie wurden von einem gewissen Peter Grym, der im Dienst Bischofs Sunnanväders gestanden hatte, bestätigt. Grym, ein alter Haudegen, übernahm es auch, für den Daljunker eine bewaffnete Gefolgschaft zu rekrutieren. Dieser selbst begab sich zunächst nach Trondheim in Norwegen, wo Sunnanväder angeblich Gelder für ihn hinterlegt hatte. In Norwegen fand der Daljunker glänzende Aufnahme 17 . Die vielleicht reichste Gutsbesitzerin des Landes, Inger von Austraat, verlobte ihm ihre Tochter Eline. Vincens Lunge, ein berühmter dänischer Humanist und der Vertrauensmann des dänischen Königs Friedrich I. in seinem norwegischen Reich war ein Schwiegersohn der Inger. Mit der Unterstützung dieser hochvermögenden norwegisch-dänischen Freunde kehrte der Daljunker nach Schweden zurück. Er legte sich einen Hofstaat zu, schlug Münzen und schickte Drohbriefe nach Stockholm.

17

Zu den norwegischen Beziehungen des Daljunkers: James L. Larson, Reforming the North. The Kingdoms and Churches of Scandinavia 1520-1545, Cambridge Mass. 2010, S. 190, 247-49, 259-60, 291 und Christopher S. 25-26

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König Gustav hatte inzwischen die Dalkerle vor dem Schalk, der sich als Herrn Sten Stures Sohn ausgebe, gewarnt. Er schickte Truppen, aber auch Unterhändler nach Dalarne. Es gelang ihnen, mit den aufrührerischen Bauern und Bergleuten einen Waffenstillstand abzuschließen. Sie sollten ihre Beschwerden schriftlich einreichen, und ein Mann des Königs bot sich ihnen als Geisel an: sollte sich die Echtheit des Daljunkers erweisen, dürften sie ihn töten. Aber es wurde ihnen auch ein Brief Kristina Gyllenstiernas bekanntgemacht, der Mutter des echten Nils Sture. Sie bezeugte darin, dass ihr Sohn Nils bei ihr in Uppsala überraschend an der Pest gestorben sei. (Es hat sich auch ein Brief König Gustavs vom April 1527 erhalten, in dem er ihr die Entfernung ihres Sohnes vom königlichen Hof ankündigt. Der Junge sei zu faul und frech für den Hofdienst). Die Aufständischen formulierten ihre Anliegen: Nachlass der neuen Steuern, Bewahrung der kirchlichen Gebräuche, z. B. Fleischverbot an Freitagen, und das Verbot unzüchtiger Kleidung am Königshof, von der sie gehört hatten. Der König lud die Beschwerdeführer Monate später (nach seiner Krönung im Januar 1528) zu weiteren Verhandlungen nach Stora Tuna bei Borlänges ein, ließ die dort Versammelten aber dann von seinen Truppen umstellen. Verunsichert durch den Brief der Gyllenstierna, aber auch auf die Zusicherung hin, die minder Schuldigen sollten straffrei ausgehen und ihre Gravamina würden beherzigt werden, unterwarfen sich die Dalmänner und baten den König um Verzeihung und Gnade. Es kam dann auch zu verhältnismäßig wenigen Hinrichtungen. Peter Grym und der „Kanzler“ des Daljunkers, ein entlaufener Mönch, mussten unter anderen daran glauben. Der Daljunker selbst hatte sich schon längst wieder nach Norwegen gerettet18. Er versuchte Ende 1527 oder Anfang 1528 mit dort angeworbenen Leuten noch einmal einen Einfall nach Wärmland, weil sich das Gerücht verbreitet hatte, König Gustav sei gestorben. Oder hatte er dieses Gerücht selbst ausgestreut? Schweden stünde in Gefahr, nach Gustav an seinen ausländischen Schwager zu fallen, den deutschen Grafen von Hoya. Als allgemein bekannt wurde, der König lebe noch, brach der Daljunker dieses Unternehmen ab. Es kursierte allerdings noch eine Proklamation, in der er zum weiteren Widerstand gegen den König aufrief, der noch blutiger als Christian II. regiere, und in der den Schweden auf ewig und drei Jahre Steuerfreiheit versprochen wurde. Gedrängt von König Gustav forderte Friedrich I. von Dänemark und Norwegen jetzt den Beinahe-Schwager des Daljunkers, Vincenz Lund, auf, den Prätendenten nach Kopenhagen zu überstellen. Auf dem Weg dorthin entwischte der junge Mann seinen Bewachern. Nach anderen Berichten ließen sie ihn reichlich mit Geldmitteln ausgestattet frei. Er ging nach Rostock, vielleicht in der Absicht, mit dem Exkönig Christian II. in den Niederlanden Kontakt aufzunehmen. Aber auch in Rostock erreichte ihn der starke Arm Gustavs. 18

In der Literatur herrscht etwas Verwirrung über Art und Zeit der Aufenthalte des Daljunkers in Norwegen.

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Ein schwedischer Emissär, der Graf von Hoya, eben jener oben genannte Schwager Gustavs, verlangte die Auslieferung oder Aburteilung des Daljunkers.19 Auch ein Sekretär Gustavs tauchte in Rostock auf. Selbst Krystina Gyllenstierna wurde nochmals bemüht. In einem Brief an den Rat der Stadt Rostock entlarvte sie den „Daljunker“ als Betrüger. Vor dem Stadtgericht soll der angebliche Nils Sture gestanden haben, der uneheliche Sohn einer Häuslerin, ein Jöns Hansson aus dem Dorf Björksta in Westmanland zu sein, ein Stallknecht im Dienst zweier schwedischer Reichsräte, denen er höfische Sitten abschaute, die er aber bestohlen habe. Da seine „politischen“ Verbrechen für das Rostocker Gericht irrelevant waren, wurde er am 28. September 1528 als Dieb hingerichtet. Der Rat der Stadt und ihre Kaufmannschaft retteten so ihre guten Beziehungen zu Schweden. Ein aus Dänemark unternommener Rettungsversuch der einstmaligen StureVerschwörer in Kalmar kam zu spät. Seine Anführer verbreiteten später Gerüchte, auf schwedisches Verlangen sei der politische Prozess abgebogen worden, weil der Daljunker allzu viel Staatsgeheimnisse ausgeplaudert habe. Und so sei man auf die Verurteilung wegen der Diebstähle verfallen. Das seltsame Rostocker Verfahren könnte sogar als Hinweis auf die Echtheit des zu Unrecht als Hochstapler verleumdeten jungen Mannes gedeutet werden. Das Schicksal des Daljunkers hat noch 1834 den deutschen Arzt, Schriftsteller und Schauspieler Konstantin Moritz Reichenbach (1804-70) zu einem sentimentalen Historienroman „Der Dal-Junker, ein schwedisches Revolutionsgemälde aus dem 16. Jahrhundert“ inspiriert.20 In der schwedischen Historikerzunft ist dann im 20. Jahrhundert noch einmal eine scharfe Auseinandersetzung um Echtheit und Unechtheit des angeblichen Nils Sture in Dalarne geführt worden. Es wurde die Möglichkeit erwogen, der Daljunker könne zumindest ein Bastardsohn Sten Stures gewesen sein21. Der deutsche Historiker Findeisen hat diese Debatte 2008 lapidar zusammengefasst: „Bis heute ist nichts über Stand und Herkunft des Mannes bekannt geworden“.22 Ganz offensichtlich sind die Rostocker Geständnisse erpresst oder eine Erfindung der Wasa-Propaganda. Für die Verteidiger der Echtheit des Daljunkers bleibt aber immer noch der Brief der Kristina Gyllenstierna-Sture zum Tode ihres Sohnes ein Rätsel. Aber auch sie könnte unter dem Druck König Gustavs gehandelt haben. 19 20 21

22

Roberts S. 84 Vgl. Artikel zu Konstantin Moritz Reichenbach in Allgemeine Deutsche Biographie Band 27, Leipzig 1888 S. 671-72 H. Bornkamm/ H. Kellenbenz, Reformation und Gegenreformation (Zeitschriftenbericht) 1500-1648, in Historische Zeitschrift 171, 1951 S. 199 zu einem Artikel von S. Samuelson, Till diskussionen om daljunkern, in der Hist. Tidskr. 1948 S. 135-38. Bastard-Vermutung auch bei Roberts S. 57 Findeisen 2008 S. 89

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Die Möglichkeit, dass echtes Herrscherblut von erfolgreichen Machthabern ins Abseits gedrängt und verfemt wurde, ist gerade für Schweden nicht ganz von der Hand zu weisen. So wurde Gustav (1568-1607), ein Sohn König Eriks XIV. (regierte 1560-68, abgesetzt, gest. 1577) aus angeblich unebenbürtiger Ehe, von seinem Oheim Johann aus Schweden vertrieben. Er schlug sich als Sprachlehrer, Kurpfuscher und Alchimist durchs Leben, bis er am Hofe des Zaren Boris Godunow Asyl fand. Allerdings weigerte sich dieser Gustav, die Rolle eines Thronprätendenten auf sich zu nehmen, die ihm der Zar in der Auseinandersetzung mit Schweden zudachte. Ein Nachklang der langen Geschichte falscher Prätendenten in Skandinavien war wohl das Auftreten einer gewissen Anna Gyllander (1633-bis nach 1659), die man für die abgedankte Königin Christine von Schweden hielt, und die sich das auch gefallen ließ. Wie wenig ernst sie genommen wurde, zeigt die geringe Strafe, die sie erhielt: ein Monat Gefängnis und Landesverweis.23

23

Sie wird im Wikipedia-Verzeichnis zum Stichwort „Impostor Pretenders“ aufgeführt.

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IX. England: Königliche Kriminalromane Vorbemerkung: England darf sich einer der ältesten Monarchien der Welt rühmen. Aber nicht nur das Königtum als Institution ist alt, hinzu kommt, dass die königliche Blutslinie sich von Elisabeth II. bis auf König Cerdic von Wessex, gestorben 534, zurückführen lässt. Die Dynastien der Angelsachsen, >ormannen, Anjou-Plantagenet, Lancaster, York, Tudor, Stuart, Hannover, Sachsen-Koburg-Windsor bilden eine zusammenhängende, bestaunenswert stabile Abstammungsfolge. Diese Traditionskette blutsmäßiger Legitimität scheint im Gegensatz zu stehen zu den oft dramatischen Thronwechseln, an denen die englische Geschichte so reich ist und die Shakespeare und anderen die Vorlage für ihre berühmten Königsdramen lieferten. Sturz und geheime Ermordung, Hinrichtung und Vertreibung von Herrschern finden sich hier auffallend häufiger als in anderen europäischen Monarchien. In diesem Spannungsfeld zwischen Kontinuität und Unterbrechung, dessen Dialektik wohl eine genauere staatsrechlich-mentalgeschichtliche Untersuchung verdiente, konnte es nicht ausbleiben, dass unter dem Deckmantel, das so hoch geschätzte legitime Blutserbe gegen die oft gewaltsamen tatsächlichen Umstürze zu wahren, falsche Prätendenten lanciert wurden oder sich selbst in Szene setzten. England ist aber nicht nur das Land der traditionsreichsten europäischen Monarchie: es ist auch das Heimatland des Kriminalromans. Der Ruhm der großen englischen Kriminalautoren hat offensichtlich bis heute immer wieder auch angelsächsische Historiker inspiriert, mit detektivischem Spürsinn den Hintergründen der Prätendenten-Affären nachzugehen. Das Ergebnis waren oft kühne Hypothesen und anregende Kontroversen. So etwa im Falle Eduards II. und der Frage seiner Echtheit, seiner Ermordung oder seines geheimen Überlebens. Geheimnisse um Eduard II. “The troublesome Raigne and lamentable Death of Edward the Second, King of England”. So lautete der Kurztitel eines Dramas von Christopher Marlowe aus dem Jahre 1593. (Bertolt Brecht und Lion Feuchtwanger haben es 1924 für die deutsche Bühne adaptiert.) Und die Regierung Eduards II. (1307-27) war wahrhaft unruhig und Eduards Ende mehr als beklagenswert. 1 Der unglückliche König war Zeit seines Lebens von Günstlingen abhängig, mit denen ihn wohl mehr als nur freundschaftliche Gefühle verbanden. Sie beuteten ihn und das Land schamlos aus. Außenpolitische Katastrophen kamen hin1

Zu Eduard II.: Haines passim

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zu. Schottland, eben erst erworben, ging wieder verloren, Frankreich setzte seine Lehnshoheit über Eduards Besitzungen in der Gascogne im Südwesten des Landes durch. Die englischen Barone stellten den König jahrelang unter Kuratel. Der Versuch, ihre Vormundschaft mit Hilfe seiner Favoriten, Vater und Sohn Despenser, abzuschütteln, schien 1322 zu gelingen, endete aber in der tyrannischen Herrschaft der Despensers über König und Reich. Königin Isabella, Gemahlin Eduards II. und französische Königstochter, weilte gerade in Frankreich. Sie verband sich, in vieler Hinsicht frustriert, dort mit einem aus England vor den Despensers geflohenen Baron, Roger Mortimer. Die beiden warben Söldner an, landeten auf der Insel und Hoch und Niedrig lief zu ihnen über. Eduard hatte durch seine Misserfolge, seine Launen, seine Verschwendung und Günstlingswirtschaft, aber auch durch seine für unwürdig gehaltenen Vorlieben für plebejische oder „weibische“ Vergnügungen und Liebhabereien jeden Kredit verspielt. Januar 1327 wurde er zur Abdankung zugunsten seines Söhnchens Eduard (III.) gezwungen und nach einigem Hin und Her auf Schloss Berkeley bei Gloucester interniert. Für den unmündigen Eduard III. regierten Isabella und ihr Geliebter Mortimer, nun 1. Earl of March. Am 21. September 1327 kam der abgedankte König Eduard II. in Berkeley zu Tode. Sehr viel später verbreitete sich das Gerücht, man habe ihm als „Sodomiten“ eine glühende Eisen-oder Kupferstange in den After gestoßen.2 1330 entmachtete der junge Eduard III. Mortimer. Er wurde unter anderem des Mordes an Eduard II. angeklagt und hingerichtet. All dies bot Marlowe mehr als genügend Stoff für sein Drama über Eduard II., in dem er freilich den zunächst als frivol-verantwortungslos geschilderten Herrscher zu einem durch Demütigungen und Leiden gereiften Märtyrer werden ließ. Eine Episode, die schon früh darauf abzielte, Eduard verächtlich oder gar lächerlich zu machen, übergeht Marlowe freilich. Ein John de Powderham (Poydras) aus Oxford forderte 1318 den König zum Zweikampf auf, denn er, John, sei der wahre König Eduard von England.3 Eine Geistererscheinung, eine Katze, hatte ihm angeblich offenbart, dass eine Sau den echten Eduard, also ihn, als königliches Wickelkind schwer verletzt habe. Die darüber in Panik geratene Amme habe darauf den Prinzen gegen ein unverletztes Kind einfacher Eltern ausgetauscht. Dieser Wechselbalg sitze nun unrechtmäßig auf dem Thron, nenne sich Eduard II., verrate aber seine niedrige Herkunft durch seine unköniglichen Neigungen zu Schmiede-und Erdarbeiten. Die Erzählungen Johns, zuerst bei den Karmelitermönchen in Beaufort verbreitet, erregten einiges Aufsehen. Selbst Königin Isabella zeigte sich irritiert. Eduard ließ sich den merkwürdigen Mann nach Northampton bringen, wo er just das Parlament versammelte. Er begrüßte ihn spöttisch als Bruder, was sich John, 2 3

Quellendiskussion zur Pfählungsgeschichte bei Mortimer S. 1177 Zur Powderham-Affäre: Childs, passim und Haines S. 43 f.

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als echter König, von Seiten des Plebejerbankerts streng verbat. Der arme John wurde ins Gefängnis geworfen. Eduard wollte ihn als Narren laufen lassen, aber die versammelten Barone bestanden auf einer Untersuchung. Johns Eltern, der Vater ein Gerber (weshalb der Prätendent auch John Tanner genannt wurde), wurden in Exeter ausfindig gemacht, und John als ein Schreiber aus Oxford entlarvt. Der wahrscheinlich geistesgestörte Unglücksrabe wurde von Pferden geschleift, gehängt und seine Leiche verbrannt. Gehängt wurde auch die ominöse Katze4 Es ist zu vermuten, dass die Affäre von Gegnern Eduards hochgespielt worden ist, um dem König eine Art Warnschuss wegen seines unköniglichen Verhaltens zu versetzen. Powderham sollte nicht der einzige falsche Eduard bleiben. Als Eduard III. sich 1338 in den Rheinlanden aufhielt, um Bündnispartner für seine Auseinandersetzung mit Frankreich zu finden, trat in Köln ein William le Galeys (Wales) oder William the Welshman auf, der vorgab, der Vater des Königs, also Eduard II., zu sein. Eduard III. ließ diesen Kauz auf seine Kosten zu sich nach Koblenz bringen. In den königlichen Rechnungsbüchern finden sich Hinweise, dass noch Ende des Jahres in Amsterdam Geld für die Bewachung und den Unterhalt dieses Mannes floss, allerdings verhältnismäßig geringe Summen (13 Schilling und 8 Pence). Sie gingen an einen italienischen Wollhändler und Finanzagenten namens Francesco Forzetti. Von einer Bestrafung oder Verfolgung dieses William ist nicht die Rede. Die Sache bleibt mysteriös. Noch mysteriöser in diesem Zusammenhang ist der sogenannte FieschiBrief.5 Im Archiv des französischen Departements Hérault zu Montpellier wurde 1878 unter den dort deponierten Akten des alten Bistums Maguelonne – Montpellier ein Brief (d. h. seine Beleg-Kopie) des Prälaten Fieschi, Notar am päpstlichen Hof zu Avignon und später Bischof von Vercelli, gefunden. In diesem Brief aus dem Jahre 1336, wohl an König Eduard III. gerichtet, wird behauptet, Eduard II. sei aus Berkeley entkommen. Der Exkönig soll sich dann 18 Monate in Corfe Castle aufgehalten haben, anschließend 9 Monate in Irland, um sich zuletzt über die Niederlande und Avignon nach Italien durchzuschlagen. Er lebe jetzt als Eremit in der Nähe von Mailand. Das Dokument stammt sicher aus dem 14. Jahrhundert. Ob seine Aussagen der Wahrheit entsprechen, ist fraglich. Vielleicht handelt es sich um eine bloße Schreibübung oder eine Intrige des päpstlichen Hofes, der im Interesse Frankreichs (der große englisch-französische „Hundertjährige Krieg“ kam eben in die Gänge) Eduard III. in Verlegenheit setzen wollte.

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Eine ähnliche Geschichte ereignete sich bereits September 1238, als ein Mann aufgrund seiner „Königsmale“ am Körper sich berechtigt glaubte, König Heinrich III. die Herrschaft abzuverlangen. Er wurde hingerichtet. Walker S. 46, Anm. 48. Zur Diskussion um den Fieschi-Brief: Mortimer 2005 S. 1175-76, ders. 2006, Appendix III S. 497 ff.

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Auf jeden Fall aber ermunterten all diese Hinweise aus dem 14. Jahrhundert moderne Historiker dazu, ihren kriminalistischen Spürsinn zu beweisen. So hat der englische Historiker Jan Mortimer 2005 Argumente für das Überleben Eduards II. und die Glaubwürdigkeit des Fieschi-Briefes vorgetragen. • Schon seit 1328 gab es Gerüchte, der König lebe noch. 1329 drohte die englische Regierung (d.h. Roger Mortimer und Königin Isabella) Strafen für solches Gerede an. • Zwar wurde der balsamierte Leichnam Eduards II. in Gloucester lange ausgestellt, doch wahrscheinlich unter einem Wachstuch verhüllt. An seiner Stelle könnte eine Puppe oder die Leiche eines Wärters aus Schloss Berkeley, der bei der Flucht Eduards getötet wurde, beerdigt worden sein. • Anfang 1330 initiierte der Halbbruder Eduards II., Earl Edmund von Kent, eine Verschwörung zur Befreiung Eduards aus Castle Corfe. Er und seine Mitverschwörer, darunter immerhin ein bis vor kurzem amtierender Kastellan von Castle Corfe, glaubten also an das Überleben Eduards und sein Entkommen oder seine Verlegung aus Berkeley nach Corfe. Kent wurde hingerichtet. • Im Prozess gegen Mortimer im November 1330, der u. a. wegen des Mordes an Eduard II. angeklagt war, behauptete der als Zeuge oder Mitangeklagte berufene Lord Berkeley, „umquam scivit de morte sua usque in presenti parliamento isto“ (niemals etwas von seinem –Eduards- Tod gewusst zu haben bis zu dieser jetzigen Parlamentsversammlung). Natürlich musste der Lord wahrgenommen haben, dass Eduard für tot erklärt und bestattet worden war. Er konnte mit dem merkwürdigen Satz nur meinen, er habe nichts Genaues oder nichts über die Art des Todes gewusst. Aber auch dies ist verwunderlich genug. Freilich war Lord Berkeley im September 1327 nicht auf Schloss Berkeley anwesend. • Die genuesische Adels-und Bankiersfamilie Fieschi konnte sehr wohl als Kreditgeber in die Geheimnisse des englischen Hofes eingeweiht sein. Manuele Fieschi besaß Pfründen in England, seine Verwandten verkehrten am Hof. Ein Niccolinus Fieschi begleitete Eduard III. 1338 ins Rheinland, Francesco Forzetti war den Fieschi geschäftlich verbunden. • In einer Kirche in Cecima bei Mailand soll nach einer mündlichen Tradition oder Lokalsage ein englischer König bestattet worden sein. Die Fieschi hatten dort große Ländereien. Es kann also, schließt Jan Mortimer, durchaus sein, dass Eduard II. überlebte, England verließ und sich unter den Fittichen der ihm bekannten Familie Fieschi als Eremit (über den päpstlichen Hof in Avignon) nach Italien begab. Er habe sein Eremitentum ernsthaft als Buße für seine Verfehlungen auf sich genommen. 1338 nahm er dann wahrscheinlich unter dem Decknamen William le Galeys,

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d.h. „der Waliser“ (er war der erste Thronerbe mit dem Titel eines Prince of Wales gewesen) und unter dem Schutze der Fieschi auf neutralem Boden Fühlung mit seinem Sohn auf. Wahrscheinlich starb er um 1341 in Cecima. Jedenfalls besuchte Eduard III. ungefähr seit dieser Zeit öfters die Grablegung in Gloucester, wohin die sterblichen Überreste des Eremiten von Cecima in die prunkvolle, aber vielleicht bis dahin leere Gruft Eduards II. heimlich überfuhrt wurden. So Jan Mortimer. Vom Weiterleben Richards II. Die Schicksale König Richards II. (er saß 1377-99 auf dem Thron) wiesen verblüffende Parallelen zu der Geschichte seines Urgroßvaters Eduard II. auf. Auch Richard war launenhaft, verschwenderisch und von macht-und geldgierigen Günstlingen umgeben.6 Wie Eduard diskreditierten auch ihn außenpolitische Misserfolge gegen Schottland (1385) und Frankreich (mit dem er 1396 Frieden schloss), auch er wurde von den Magnaten des Reiches unter Kuratel gestellt (1388). Zeitweilig gelang es ihm wie seinem Urgroßvater diese Vormundschaft abzuschütteln und ein königliches Willkürregime aufzurichten (1397). Aber auch er wurde von einer Invasion exilierter englischer Barone aus Frankreich, diesmal angeführt von seinem Vetter Heinrich Bolingbroke aus dem Hause Lancaster, hinweggefegt. Er wurde 1399 zur Abdankung zugunsten Heinrichs gezwungen, zunächst im Tower festgehalten, dann jedoch in die Burg Pontefract südlich von York verbracht. Nach offizieller Lesart starb er hier überraschend schnell am 14. Februar 1400. Man verbreitete, er habe sich zu Tode gehungert. Sein balsamierter Leichnam wurde lange in St. Paul in London aufgebahrt, dann jedoch mit einem „stillen Begräbnis“ in der Abtei Langley bei London beigesetzt. Auch sein Schicksal wurde zur Vorlage eines Königsdramas: Shakespeares „The Tragedie of King Richard the Second“ von ca. 1595. Shakespeare folgte hier dem Muster von Marlowes „Eduard II.“, indem er Richard vom schuldbeladenen Willkürherrscher zum pathetisch- großen Dulder werden ließ. Bei soviel Parallelen konnte es zu guter letzt wohl nicht ausbleiben, dass bald wie bei Eduard das Gerücht auftauchte, er lebe noch. Zunächst hat anscheinend ein Geistlicher vom Hofe Richards, ein gewisser Maudele(y)n, vielleicht schon zu Lebzeiten Richards die Behauptung aufgestellt, der Exkönig sei aus Pontefract entkommen. Später muss er wohl selbst in die Rolle des Entflohenen geschlüpft sein. Er soll dem König sehr geähnelt haben. Seine genauen Unternehmungen und sein Ende sind nicht recht fassbar. Vielleicht ist er identisch mit

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Die fragwürdigen Charakterzüge Richards II. betont die Biographie von Anthony Steel, Richard II., Cambridge 1941, korrigierend dazu Nigel Saul, Richard II., New Haven und London 1997

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einem John Maurde, der wegen Teilnahme an einer Verschwörung gegen Heinrich IV. hingerichtet wurde.7 Während der ganzen Regierungszeit Heinrichs IV. geisterte im Volk die Sage vom Überleben Richards umher. 1402 oder 1403 rotteten sich bei Atherstone Bauernhaufen zusammen, denen man weisgemacht hatte, Richard werde sich ihnen am Johannistag zeigen. Sie wurden auseinandergetrieben. Die Hartnäckigkeit, mit der sich Gerüchte dieser Art in der einfachen Bevölkerung hielten, setzt in Erstaunen. Richard II. war kein populärer Herrscher gewesen. 1381 hatte er einen großen Bauernaufstand mit perfider Tücke niederwerfen lassen, nachdem er sich zuerst persönlich auf Scheinverhandlungen mit dessen Anführern einließ. Auch ist bemerkenswert, dass es in England selbst nicht zum Auftreten eines „falschen Richard“ (ob Maudeleyn als solcher auftrat, bleibt unklar) kam, der das Gerede um Richard für sich ausnutzte. Es blieb alles in diffusen Andeutungen. Der englische Historiker Paul Strohm legte 1996 einen gewagten Erklärungsversuch für dieses Phänomen vor. Er vertritt die These, dass die Aura des Königtums auf einen neuen Herrscher erst dann übergehe, wenn sein Vorgänger nach dem genau festgelegten Ritual einer königlichen Bestattung zur letzten Ruhe gebracht worden sei. Dies war bei Richard 1400 mit dem „stillen Begräbnis“ in Langley versäumt worden. Sein „Königtum“ ging also nicht vollständig auf Heinrich Bolingbroke über, seine irdische Existenz war nicht vollkommen beendet. Der Sohn Bolingbrokes, Heinrich V., habe dieses Legitimationsdefizit erkannt. Kurz nach seiner Thronbesteigung 1413 ließ er nämlich die sterblichen Überreste Richards mit pompösen Feierlichkeiten von Langley nach Westminster umbetten. An einzelnen Aktionen, das auch aus anderen, vielleicht gewichtigeren Gründen, bestehende Legitimitätsdefizit des Hauses Lancaster auszunutzen und dabei die Erinnerung an Richard ins Spiel zu bringen, hat es nicht gefehlt.8 Der Rebell Percy „Hotspur“, einer der bedeutendsten Magnaten des Reiches, spielte sich 1403 auch als Rächer Richards auf. Die Countess Oxford, Maude de Vere, verteilte in diesem Zusammenhang Nachbildungen von Richards persönlichem Emblem, eines weißen Hirschen, in der Bevölkerung. Der Aufstand scheiterte. König Karl VI. von Frankreich stand wohl hinter dem offenen Brief eines seiner Bediensteten, Jean Creton, fiktiv an Richard II. gerichtet, in dem 1402 das Überleben des Königs zumindest als wünschenswert propagiert wurde. Aber all diese Vagheiten führten in England wie gesagt nicht zum Auftreten eines leibhaftigen Prätendenten. Ein Grund dafür könnte, abgesehen von den Thesen Strohms sein, dass diese Rolle schlicht und einfach schon, wenn auch etwas unglücklich, besetzt war. Ein endlich personifizierter angeblicher Richard lebte nämlich am schottischen 7 8

Zu Maudelyn: Lecuppre S. 132, 139 Dazu Strohm S. 94-111 und Walker passim

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Hof, was seine Resonanz in England angesichts der alten schottisch-englischen Erbfeindschaft von vorneherein minderte. Ein “Vorbereiter“ dieses schottischen Richard war allerdings William Serle, ein Kanzlist und Vertrauter des echten Richard, der sich eines königlichen Siegels bemächtigt hatte und damit beglaubigte Briefe im Umlauf brachte. Sie bezeugten, Richard lebe in Schottland. In Schottland aber war dann im Januar 1404 tatsächlich ein Mann aufgetaucht, der sich für Richard ausgab.9 Er fand bei dem Regenten Schottlands, Robert Stuart, Herzog von Albany, Aufnahme. Serle, der nach Schottland eilte, um diesen köstlichen Fund zu besichtigen, war von der Person des Prätendenten enttäuscht. Es handelte sich um ein halbblödes Subjekt mit wenig königlichen Manieren, das zudem, ganz unköniglich-unfromm, sich vor dem regelmäßigen Besuch der Hl. Messe drückte. Dennoch warb Serle in England weiter für ihn. Serle wurde im Juli 1404 hingerichtet. Seine Rolle als Propagandist übernahm dann John Witlock (Wyghtlok), ein ehemaliger Stallmeister des echten Richard. Er und seine Freunde bildeten eine Verschwörerzelle in der Westminster Abbey. Von ihr wurden immer neue Aktivitäten zugunsten des schottischen Richard lanciert. 1409 wurden Pamphlete verbreitet, die seine Rückkehr ankündigten, 1413 versuchte man den Thronwechsel dieses Jahres auszunutzen, um Unruhe zu stiften, 1415 hängte man sich in die große Verschwörung gegen Heinrich V. zu Southampton ein, alles ohne Erfolg. 1416 appellierte man bei Kaiser Sigismund, der sich zu einem Besuch in London aufhielt, zugunsten des vermeintlichen Richard. 1417 nahm man Kontakt zu den aufständischen Lollarden (einer sozialreligiösen Bewegung) unter John Oldcastle auf. Die meisten Angehörigen dieser Zelle waren ehemalige Höflinge des echten Richard. Einige von ihnen, Whitlock, Richard Woolman und John Bekering wurden 1416/17 verurteilt. Bekering wurde gehängt, sein Kopf ausgestellt. Whitlock entkam aus dem Tower. Großen Anhang hat diese Richard-Sekte kaum gehabt. Indessen lebte der falsche Richard vergnügt am Hofe des schottischen Regenten. Albany scheint einen Narren an ihm gefressen zu haben. Seine Rechnungsbücher weisen nach, dass er 1406 bis 1417 die erkleckliche Summe von 733 Livres, 6 sous und 8 deniers für den Unterhalt dieses Prätendenten springen ließ. Am englischen Hof meinte man jedoch, diesen Richard als den nach Schottland gegangenen Gutsbesitzer Thomas Ward aus Trumpington identifizieren zu können. Man beschlagnahmte sein Gütchen von acht acres. Im Übrigen nahm man ihn nicht zur Kenntnis. Heinrich IV. lehnte es 1407 ab, seine Auslieferung zu verlangen. (Vielleicht fürchtete man doch insgeheim, durch unnötigen Wirbel das Andenken an Richard II. wachzurufen.) Thomas Ward alias Richard II. starb friedlich 1419. 9

Zur Geschichte dieses schottischen falschen Richard: Lecuppre S. 64, 84-85, S. 129, 149, 177, 187-89, 197-98, Strohm S. 98, S. 101-106,Walker S. 39-44

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Thronwirren als Vorgabe für die „Great Pretenders“ Vobemerkung: Auf das Legitimitätsdefizit des Hauses Lancaster wurde bereits hingewiesen. Es bestand hauptsächlich darin, dass nach der Abdankung Richards II. 1399 nach strengem Erbrecht die Thronfolge an die >achkommen seines älteren Onkels Lionel, nicht aber an die des jüngeren Onkels John Lancaster (meist John of Gaunt genannt, der Vater Heinrich IV. Bolingbrokes) fallen hätte müssen. Über Lionels Tochter Philippa war dieser fiktive Thronanspruch an die Familie Mortimer gekommen (>achkommen jenes ominösen Roger Mortimer 1. Earl of March, der Eduard II. gestürzt hatte). Die Mortimer selbst erhoben aber keine Ansprüche, obwohl es Verschwörungen zu ihren Gunsten gab.10 Erst als die letzte Mortimer-Erbin Anne in die Familie York einheiratete, wurden diese Erbansprüche wieder aufgewärmt. Die York stammten ebenfalls von einem (noch jüngeren) Oheim Richards II. ab. Sie waren ehrgeizige Anführer einer mächtigen Adelspartei. Jetzt konnten sie, als Erben Lionels, sogar den Thron fordern. Aus dem Konflikt zwischen der Lancaster-und Yorkpartei entwickelten sich die „Rosenkriege“, nach den Emblemen der Streitenden so genannt, Bürger-oder besser: innerenglische Adelskriege. 1461/71 siegten die York mit König Eduard IV. Der überlebende Erbe (allerdings rechtlich sehr fragwürdig) der LancasterThronrechte, Heinrich Tudor, Earl of Richmond, ging ins bretonische Exil. Eduard IV. starb 1483. Er hinterließ zwei minderjährige Söhne, Eduard (V.) und Richard, Herzog von York, unter der Regentschaft seines Bruders Richard, Herzog von Gloucester. Dieser internierte seine Mündel im Tower und ließ sie unter dem Vorwand, sie stammten aus einer ungültigen Ehe Eduards IV., zu Bastarden erklären, ohne Anspruch auf den Thron. Er selbst nahm die Krone als Richard III. an. Von den Prinzen im Tower hörte man nach einiger Zeit nichts mehr. Allgemein wird angenommen, dass Richard III. sie ermorden ließ. 11 Überhaupt gilt Richard, vor allem wegen des Bildes, das die TudorHistoriographen und auf sie gestützt Shakespeare in einem seiner bekanntesten Königsdramen von ihm entwarfen, als ein monströses Scheusal. Er überging nebenbei auch noch den Thronanspruch eines dritten Neffen. Es lebte noch der Sohn seines älteren Bruders George (Herzog von Clarence), Eduard, Earl of 10

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Der Bauernrebell Jack Cade, dessen Banden 1450 für einige Tage sogar London besetzten, nannte sich auch „John Mortimer“: welche Ansprüche er damit verknüpfte, bleibt unklar. Er geriet in einen Hinterhalt des Sheriffs von Kent, wurde tödlich verwundet, sein Leichnam gevierteilt. Seine Rolle als womöglicher Prätendent wird bei Lecuppre 78-79, 120, 144, 225 behandelt. Zur Diskussion um das Schicksal der „Prinzen im Tower“ Kendall S. 425-45, der die Hypothese aufstellt, Richard sei am Tode der beiden unschuldig.

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Warwick. Allerdings war Clarence 1478 nach einer „Bill of Attainder“ (Ehrloserklärung, auch der Nachkommen, Konfiskation des Besitzes) wegen Hochverrats hingerichtet worden. Ob dies genügte, auch seinen Sohn bei der Thronfolge zu übergehen, muss dahingestellt bleiben, da der Junge doch immerhin als Earl of Warwick anerkannt wurde. Richard hielt den Knaben vorsichtshalber in ehrenvoller Haft. 1485 verlor Richard III. den Thron an Heinrich (VII.) Tudor. Heinrich vermählte sich mit der ältesten Tochter Eduards IV. und vereinte so für seine Nachkommen die Ansprüche der Lancaster und York: das Ende der Rosenkriege. Sollte man denken. Noch aber gab es unbeugsame Yorkisten in England. In Flandern lebte zudem Margarete (1446-1503), Schwester Eduards IV. und einflussreiche Witwe Herzog Karls des Kühnen von Burgund, des Herren der gesamten Niederlande, (Stief)Schwiegermutter bald des (späteren) römischdeutschen Kaisers Maximilian. Sie war eine unversöhnliche Gegnerin Heinrich Tudors. In Irland fürchteten die mächtigen Fitzgeralds, von Eduard IV. und Richard III. als Stellvertreter (Lord Deputy) anerkannt, um ihre Stellung. Und auch Heinrich VII. selbst gab den Yorkisten einige Vorlagen. Zwar schmähte er vor dem Parlament Richard III. als „Kinderschlächter“, aber er erwähnte die „Prinzen im Tower“ nicht ausdrücklich. Er leitete auch keine Untersuchung über deren Schicksal ein, noch ließ er sie offiziell für tot erklären. Den jungen Warwick, auch er eine Hoffnung der Yorkisten, hielt er im Tower fest. Für die 1485 unterlegene York-Partei alles Anreize, die Rosenkriege baldmöglichst wieder aufzugreifen. Lambert Simnel oder Eduard VI. 12 Anfang 1487 erfuhr Heinrich VII., dass der junge Eduard, Earl of Warwick, in Irland aufgetaucht sei. Angeblich war der Earl aus dem Tower entkommen. Tatsächlich hatten einige irischen Magnaten, darunter sogar Gerald Fitzgerald, auch „Garret the Great“ oder schlicht „the Great Earl“ genannt, der 8. Earl Kildare und „Lord Deputy of Ireland“ (Stellvertreter des Königs in Irland), einen jungen Mann oder Knaben, der ihnen unter diesem Namen vorgestellt wurde, wohlwollend aufgenommen. Doch der echte Warwick saß immer noch im Tower. Auf einer Versammlung des königlichen Rates, unter dem Vorsitz Heinrich Tudors selbst, in Sheen im Februar 1487 wurde beschlossen, Boten nach Irland zu schicken, um die Herren über ihren Irrtum aufzuklären und ihnen Straffreiheit anzubieten, wenn sie von ihrem ominösen Warwick abließen. Die Boten wurden in Irland abgewiesen.

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Zu ihm: Gairdner S. 48-61, neuere Darstellungen bei Elton S. 33-41, 43 f., 46 f. 49 f., Goodman S. 99-105 und Mackie (Oxford History of England Band 7) S. 69-80, 120, 125

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In London griff man noch im Februar einen Priester aus Oxford, William Simons (Symonds u.ä.) auf, der mit dieser seltsamen irischen Geschichte in Verbindung zu stehen schien. Vor einem geistlichen Gericht (das Gerichtsprotokoll vom 17. 2. hat sich erhalten) gestand der 28jährige, er habe den Jungen, der da in Irland Aufsehen errege, den Sohn eines einfachen Orgelbauers, auf seine Prinzenrolle, zuerst als York, dann als Warwick, eingedrillt und nach Irland zu den yorkistisch gesinnten Fitzgeralds geschmuggelt. Auf Befehl Heinrichs VII. wurde darauf der echte Warwick am Sonntag, den 28. 2. 1487, hoch zu Ross vor aller Öffentlichkeit aus dem Tower zu einem Gottesdienst in St. Paul geführt. Aber selbst dieser Beweis gegen den irischen Warwick zog nicht ganz. John de la Pole, Earl von Lincoln, selbst über seine Mutter ein Neffe Eduards IV. wie Warwick, glaubte seinen Vetter nicht erkannt zu haben. Der vorgeführte Jüngling sei ein Double gewesen. Lincoln floh nach Flandern zu seiner Tante Margarete. Dort hatten sich schon andere Gegner Heinrichs VII. eingefunden, z.B. Francis Lovell, ein Jugendfreund und später Kämmerer Richards III., oder Sir Thomas Broughton, Besitzer großer Güter in Lancashire. Margarete hatte wohl auch Nachrichten aus Irland erhalten. Sie stellte Lincoln und Lovell die Mittel zu Verfügung, einen Söldnerhaufen von 2000 Mann unter dem deutschen Haudegen Martin Schwartz, einem Schustersohn aus Augsburg, anzuwerben. Die kleine Armee landete am 5. Mai 1487 in Irland. Sie wurde durch irisches Kriegsvolk, halbnacktes Gesindel, wie es später hieß, unter Thomas Geraldine Fitzgerald und Maurice Geraldine, Bruder bzw. Vetter Kildares, verstärkt. Vor dem Aufbruch nach England wurde der junge „Warwick“ von einem irischen Parlament in Drogheda unter dem Namen „Eduard VI.“ als König anerkannt, nur die Bürger von Waterford widersetzten sich diesem Beschluss. Am 24. Mai 1487, dem Himmelfahrtstag, wurde Eduard in der Christ Church zu Dublin in Anwesenheit der irischen Magnaten und unter der Mitwirkung der Erzbischöfe von Dublin und Armagh13 und der Bischöfe von Meath und Kildare feierlich gekrönt. Da die echte englische Krone nicht zur Hand war, schmückte der Bischof von Meath den Prätendenten mit einem der Jungfrau Maria gewidmeten Diadem aus einer der Dubliner Kirchen. Der junge König wurde, auf die Schultern des baumlangen Darcy of Platten gehoben, dem jubelnden Volk gezeigt. Es wurden Münzen auf Eduard VI. geschlagen. Am 4. 6. 1487 landeten 8000 Mann unter Lincoln und Schwartz an der Lancashire-Küste beim Pile of Fouldry nahe Furness Fells, wo man auf englischen Zulauf für den dort begüterten Landedelmann Broughton hoffte. Es stellten sich nur wenige Mannschaften ein. Auch ein Vortrupp, der die Stadt York 13

Nach anderen Berichten (J.D. Mackie S. 72) sollen sich der Erzbischof von Armagh und der Bischof von Clogher zunächst geweigert haben, den falschen Warwick anzuerkennen.

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zum Anschluss bringen sollte, blieb erfolglos. Am 16. 6. 1487 stieß man bei Stoke auf die zahlenmäßig weit überlegenen königlichen Truppen. Die dreieinhalbstündige Schlacht war äußerst blutig. Lincoln, Broughton, Thomas Fitzgerald und Schwartz fielen, Lovell blieb verschollen, „Eduard VI.“ geriet in Gefangenschaft. Iren und Engländer, die sich ergaben, wurden niedergemacht. Das Blutbad soll 4000 Opfer gefordert haben. Die deutschen Landsknechte durften abziehen. Erst im November gab es eine parlamentarische Untersuchung. „Eduard VI.“, ein schlanker zarter Junge von gutmütigem Wesen, etwa zehn Jahre alt, gab zu, ein einfacher Tischlersohn (spätere Tudor-Historiographen machten ihn u.a. zum Bäcker-oder Schustersohn) namens Lambert Simnel zu sein. Sein Vater habe ihn einem Priester in Oxford zur Erziehung übergeben, der ihm dann seine königliche Herkunft eingeredet und mit ihm seine Rolle einstudiert habe. Heinrich VII. hatte Mitleid mit dem Jungen, der von seinen Hintermännern nur als Marionette missbraucht worden war. Er stellte ihn als Küchenjungen ein. Später sollte er es bis zum königlichen Falkner bringen. Zuletzt wird er in den Diensten eines Sir Thomas Lovell erwähnt. Er lebte noch um 1525. Vielleicht wollte Heinrich VII. mit diesem Verfahren auch nur die Yorkisten lächerlich machen. Bei einem Gastmahl für irische Herren 1489 ließ er Simnel bei Tische aufwarten: diesen Tropf, so spottete Heinrich, hätten sie also zum König erhoben, demnächst würden sie wohl noch einen Affen krönen. Simnel durfte den Herren zuprosten. Der priesterliche Mentor Simnels wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Kildare – Heinrich wollte keine Probleme mit Irland – wurde als angebliches Opfer eines Betruges in seiner Stellung belassen. Das Parlament verhängte 28 „Bills of Attainder“, d.h. Ehrlosigkeitserklärungen mit Vermögenseinzug für andere Beteiligte an dem Unternehmen „Lambert Simnel“. Der milde Umgang Heinrichs VII. mit Simnel und seinen Hintermännern hat etwas Überraschendes und Verdächtiges. Das regte 1996 den detektivistisch arbeitenden Historiker Gordon Smith zu neuen Spekulationen an. Er kam zu dem Schluss, dass der in Dublin 1487 als Eduard VI. gekrönte Junge oder Jüngling nicht der Küchenjunge Simnel gewesen sein könne. Smith beruft sich dabei auf Widersprüche in den dokumentarischen Aktenquellen, Augenzeugenberichten und den ältesten erzählenden Darstellungen. So legt der Mentor des Prätendenten, der Priester Simon (Symond) im Februar 1487 ein Geständnis ab, wird aber dann nach anderen Aussagen erst bei Stoke im Juni gefangengenommen. Sein Vorname wird unterschiedlich mit Richard oder William angegeben. Er soll niedriger Herkunft gewesen sein. Wie konnte er seinem Zögling dann höfische Manieren beibringen? Der von ihm (oder waren es vielleicht zwei Brüder William und Richard?) produzierte „Eduard Warwick“ könnte allenfalls der Küchenjunge Simnel sein, nicht aber der in Dublin gekrönte „Eduard VI“.

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Die irischen Magnaten, denen dieser Simnel 1489 als Weinschenk vorgeführt wurde, erkannten ihren ehemaligen Schützling nicht, außer Lord Howth. Dieser Lord wurde von Heinrich VII. anschließend reich beschenkt - weil er auf die Komödie des Königs eingegangen war? Vor allem gibt zu denken, dass der in Dublin gekrönte Eduard VI. als 1516jähriger beschrieben wird, der Küchenjunge Simnel aber 1487 erst zehn Jahre alt war. (Der echte Eduard Warwick war übrigens 1475 geboren.) Bernard André, Prinzenerzieher am Hofe Heinrichs VII., deutet in seiner “Historia Regis Henrici Septimi“ um 1503 an, bei dem Dubliner Eduard könne es sich um einen illegitimen Sprössling Eduards IV. namens John handeln. In einem ersten Bericht über die Gefangennahme des Prätendenten bei Stoke durch einen gewissen Robert Bellingham wird dessen eigentlicher Name denn auch mit „John“, nicht mit „Lambert“, angegeben. Aufgrund all dieser Hinweise stellt Gordon Smith folgende These auf: In Dublin wurde wahrscheinlich ein wohlerzogener illegitimer Sprössling des Hauses York als Eduard VI. inthronisiert. Er fiel bei Stoke. Um die Yorkisten lächerlich zu machen, gab man einen harmlosen Knaben (den der Priester Simon oder die Brüder Simon möglicherweise gleichzeitig zu lancieren gedachten) für den angeblich gefangen genommenen falschen Warwick aus. Man wählte für dieses Kind den Namen „Lambert Simnel“. „Simnel“ erinnert an die „SimnelCakes“, die früher zur Fastenzeit gebacken wurden. Angeblich war ja das Auftreten des Prätendenten im Februar 1487, also zu Beginn der Fastenzeit, bekannt geworden. Und „Lambert“ könnte auf den Namen einer Mätresse Eduards IV, Elisabeth Lambert, anspielen. Der Name „Simnel“ hätte auch dem „Affenscherz“ Heinrichs VII. eine zusätzliche Würze gegeben, denn lateinisch „simia“ bedeutet „Affe.“ Mit solchen allzu fein gesponnenen Spekulationen ergänzt, werden die vielleicht im Ansatz berechtigten Zweifel Gordon Smiths an der Identität „Eduards VI.“ mit Simnel freilich eher selbst fragwürdig. Der „greatest Pretender“ – Perkin Warbeck14 oder Richard IV. Cork, 1491: In dem südwestirischen Hafenstädtchen erregte ein junger Mann Aufsehen, der soeben mit einem Handelsschiff aus Portugal angekommen war. Seine elegant-modische Seidenkleidung, seine höfischen Manieren, sein gefälliges Äußere15 und ein auffallend „yorkistisches“ Profil ließen bald allerlei Getuschel aufkommen. Es könne sich bei dem jungen Herrn keinesfalls um den ein14

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Zu ihm Hall S. 462-491, Bacon S. 106-186, Cussans passim, Gairdner S. 102-20, jüngere Darstellungen bei Mackie S. 116-122, 125, 138-147, 165-66, 171, Goodman S. 109-116, Pollard S. 360-65 Ein in Arras erhaltenes angebliches Portrait Warbecks zeigt einen hübschen, etwas verträumt wirkenden jungen Mann. Mackie S. 116

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fachen Handlungsgehilfen des bretonischen Kaufmanns Pregent Meno handeln, der er zu sein vorgab. Und einige der braven Corksmen glaubten auch bald ausgemacht zu haben, der geheimnisvolle Fremde müsse der Earl Eduard Warwick sein, dem es gelungen sei aus der Towerhaft zu entkommen, um bei seinen treuen Iren Zuflucht zu suchen. Bestärkt wurden sie darin durch einen gewissen John Taylor, der mit einem englischen Schiff in ihrem Hafen lag und dem jungen Herrn eine prächtige Rüstung verehrte. Der Bürgermeister von Cork nahm den angeblichen Handlungsgehilfen ins Verhör und konfrontierte ihn mit den umlaufenden Gerüchten. Der junge Mann stritt unter Eid ab, Warwick zu sein, aber als man hartnäckig immer weiter in ihn drang, das Geheimnis seiner sicher anderweitig vornehmen Geburt zu lüften, offenbarte er sich schließlich als Richard, Herzog von York, einen der so rätselhaft verschwundenen „Prinzen im Tower“. Und so wurde aus dem Kaufmannsgehilfen Perkin Warbeck (auch: Pierquin Wesbecque oder Piers Osbeck) aus Tournai in Flandern ein Anwärter auf den englischen Thron, nur weil er zu schwach war, sich den Phantastereien der Bürger von Cork zu widersetzen. So stellte Perkin Warbeck in seinem großen Geständnis 1497 seinen Einstieg in die Prätendentenschaft vor, die in einer Art Selbstlauf schließlich zu seiner Königsproklamation unter dem Namen „Richard IV.“ führte und viele Jahre lang halb Europa in Atem hielt. Etwas anders ließ sich Perkin alias Richard von York 1493 in einem Brief aus Dendermode in den Niederlanden an Königin Isabella von Kastilien (Spanien) vernehmen. Darin behauptet er, zwei Helfer, deren Namen er nicht nennen wolle, um sie nicht zu gefährden, hätten ihn, neun Jahre alt, nach dem Tode seines Bruders Eduard (V.) aus dem Tower gerettet und ins Ausland gebracht. Der eine seiner Retter sei nach England zurückgekehrt, der andere habe ihn in Portugal seinem Schicksal überlassen. Es sei ihm aber der Eid abgenommen worden, erst nach einer bestimmten Zahl an Jahren seine Identität preiszugeben. Dieser Moment sei nun gekommen, und er bitte die Königin um ihre Hilfe. Isabella hat dies Schreiben anscheinend ignoriert. Aber Warbeck hatte inzwischen längst andere hochvermögende Unterstützer gefunden. Außer dem angesehenen Altbürgermeister O’Water von Cork hatte sich freilich in Irland kein einflussreicher Freund für ihn wirklich engagiert. Die Grafen Kildare und Desmond hatten zwar ihr Wohlwollen signalisiert, sich aber, durch die Simnel-Affäre belehrt, auf keine weiteren Aktivitäten eingelassen. Immerhin hatten sie wohl ihre Beziehungen nach Schottland zu seinen Gunsten spielen lassen. Es ist unklar, ob Warbeck sich selbst 1492 nach Schottland begab, aber ein französischer Diplomat, Stephan Frion, der sich zu Unterhandlungen dort aufhielt, nahm Kontakt zu ihm in Schottland oder Irland auf. Frion, ein provenzalischer Abenteurer, hatte Heinrich Tudor während dessen bretonischem Exil als „französischer Sekretär“ gedient, sich dann aber an den Hof Karls VIII. von Frankreich verdingt. Er wurde bis 1496 ständiger Begleiter

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und Mentor Warbecks. Zunächst brachte er seinen Schützling im März 1492 nach Frankreich. Frankreich und England befanden sich seit 1491 in einem Konflikt um die Bretagne. Ein Thronrivale für Heinrich VII., ob echt oder unecht, war in Paris willkommen. Warbeck erhielt als Richard von York einen glänzenden Empfang am französischen Hof, Karl VIII. kam für seinen Unterhalt auf und umgab ihn mit einer livrierten Ehrengarde von 300 Mann unter dem Sieur de Concressault. Englische Exilanten von Rang sammelten sich um ihn. Die Herrlichkeit dauerte nicht lange, denn Karl und Heinrich schlossen 1492 Frieden, und eine der Friedensklauseln verpflichtete den französischen König, den von Heinrich verächtlich nur als „ce garçon“ (dieser Bube) bezeichneten Warbeck aus seinem Reich zu verbannen. Der „Bube“ reiste, sicher durch seinen zeitweiligen Erfolg in Frankreich ermuntert und mit einem Zehrgeld versehen (offiziell galt er als heimlich des Nachts aus Paris geflohen), an den Hof der Herzoginwitwe von Burgund, (d.h. der Niederlande) Margarete, Schwester Eduards IV. und somit seine „Tante“. Sie empfing ihn in Mecheln, glaubte yorksche Körpermerkmale an ihm zu erkennen, wies ihm 20 prächtig gekleidete Leibgardisten zu, gab ihm den letzten Schliff für seine Prätendentenrolle und empfahl ihn ihrem (Stief)schwiegersohn, dem Habsburger Maximilian. (Später wurde behauptet, Margarete habe den falschen Prätendenten, den sie ihren „White Rose Prince of England“ nannte, schon vor 1491 sozusagen „erfunden“, ihn eingewiesen und über Portugal nach Irland geschickt. Maximilian deutete an, Warbeck sei ein Bastardsohn Margaretes mit dem Bischof von Cambrai. Dieser Bischof ließ sich im August 1498 in London merkwürdigerweise den Häftling Warbeck vorführen.16) Der „Herzog von York“ durfte als Ehrengast an den Familienfeierlichkeiten des habsburgisch-burgundischen Hauses teilnehmen. 1493 erschien er in Wien bei der Beisetzung Kaiser Friedrichs III. (Maximilians Vater) und im selben Jahr bei der Huldigung der Stände vor Philipp dem Schönen (dem Sohn Maximilians) in Löwen. Ansonsten residierte der „Herzog“ zumeist in Antwerpen. „Richard von York“ schloss 1494 mit seiner „Tante“ Margarete und mit Maximilian regelrechte Verträge für den Fall seines Herrschaftsantritts in England. Margarete sollte ihre dortigen, von Heinrich VII. konfiszierten Güter zurückerhalten und 800 000 Kronen erstattet bekommen, die sie ihrem „Neffen“ vorgestreckt hatte. Mit Maximilian wurden Erbabmachungen getroffen. Dafür flossen Gelder an Warbeck. Warbecks Weizen schien auch in England zu gedeihen. Es bildete sich dort eine Verschwörung zu seinen Gunsten. Einige Yorkisten reisten an den Hof Margaretes. Heinrich VII. wurde nervös. Er verlangte durch seine Gesandten Edward Poyning (1494-96 dann Lord Deputy in Irland) und Dr. Warham (später Erzbi16

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schof von Canterbury) von den Räten Philipps des Schönen (dem noch minderjährigen Erben von Burgund und der Niederlande) die Festsetzung Warbecks. Seine Spione hatten, so behauptete er, herausgefunden, dass es sich bei dem vorgeblichen Herzog von York nur um einen gegen 1474 geborenen Hochstapler namens Perkin („Peterchen“) Warbeck aus Tournai handele, dessen Familie dort kleinere städtische Amtsstellen innehatte Sein mütterlicher Großvater Peter de Faro hütete die Schlüssel des Johannestors der Stadt. 17 Die burgundischen Räte verwiesen darauf, dass die (Stief-)Großmutter ihres jungen Herrn auf ihren Witwenbesitzungen souveräne Fürstin sei und dort als Schützling aufnehmen könne, wen sie wolle – leider. Der erboste Tudor verhängte darauf ein Handelsembargo gegen die burgundischen Niederlande, flämische Kaufleute wurden aus England ausgewiesen. Heinrich riskierte dabei sogar Tumulte Londoner Kaufleute, die sich dadurch geschädigt fühlten. Es gelang ihm aber, unter die Yorkisten, die sich am Hofe Margaretes um den falschen Richard scharten, zwei seiner Agenten einzuschmuggeln: Sir Robert Clifford und William Barkeley (Barley). Barkeley erlag angeblich dem Charme Warbecks. Clifford aber konnte Heinrich VII. die lange Namensliste der englischen Verschwörer überreichen, die er sich in den Niederlanden verschafft hatte. Prominentestes Opfer der nun 1494-95 erfolgenden Säuberungswelle war Heinrichs Hofkämmerer Sir William Stanley.18 Stanley hatte 1485 die Schlacht von Bosworth gegen Richard III. für den Tudor entschieden. Jetzt genügte seine von Clifford (dessen Mission in die Niederlande er im März 1493 selbst eingeleitet hatte) kolportierte Bemerkung, falls der Prätendent sich als echt erweise, werde er sich ihm selbstverständlich anschließen, um ihn aufs Schafott zu bringen (16. Februar 1495). Heinrich VII. entblödete sich nicht, die Hinrichtungs-und Begräbniskosten Stanleys aus seiner Privatschatulle zu begleichen, insgesamt 27 Ł 19 s. Vier weitere hochrangige Verschwörer wurden ebenfalls geköpft, die übrigen Beteiligen begnadigt. Clifford erhielt 500 Ł Judaslohn. Inzwischen holte man am Hofe Margaretes von Burgund zu einem großen Schlag aus. Man stellte Warbeck 15 Schiffe mit 1500 Söldnern unter Rodrique de Lalang (Lalain), einem erprobten Kämpen, und dem spanischen Offizier Don Fulcano de Guevara zu einem Landungsversuch in England zur Verfügung. Am 3. Juli 1495 ankerte diese Fotte an der Küste von Kent bei Deal. Ein Erkundungstrupp von 300 Mann, den Warbeck an Land schickte, (oder der von der Küstenverteidigung mit falschen Willkommenszeichen an Land ge17

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Später kam die Legende auf, Warbeck sei der Angestellte oder Sohn eines getauften Juden gewesen. Bacon (S. 106), der diese Gerüchte aufgreift, lässt Eduard IV. Taufpate Warbecks sein. Dazu Mackie S. 118 und Roth passim. Roth vermutet, dass Warbeck Angestellter des getauften Juden Sir Edward Brampton war, der ihn nach Portugal schickte, wo Warbeck dann in die Dienste Pregent Menos trat. Dazu W. A. J. Archbold, Sir William Stanley and Perkin Warbeck, in English Historical Review 1899, S. 529-34

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lockt wurde) fand jedoch keinen Zulauf aus der Bevölkerung und wurde von den örtlichen Milizen aufgerieben. Soweit Warbecks Männer nicht in diesen Scharmützeln fielen, wurden sie nach London gebracht und dort und auch an anderen Orten zur Schau gestellt und hingerichtet. Etwa 80 oder 150 sollen es gewesen sein. Warbeck selbst, der sein Schiff nicht verlassen hatte, segelte ab. Ob er nochmals kurz nach Flandern zurückkehrte oder sogleich den Weg nach Irland nahm, ist unklar. Jedenfalls tauchte er noch im Juli 1495 mit 11 Schiffen vor dem irischen Waterford auf. Auch hier fand er keinen Einlass, und der Versuch, die Stadt durch eine Belagerung – bei der ihm diesmal Earl Desmond mit 2400 Mann zu Hilfe kam – zu bezwingen, scheiterte am 23. Juli. Edward Poyning, jetzt Lord Deputy von Irland, entsetzte die Stadt. Warbeck floh nach Schottland. König Karl VIII. von Frankreich und Maximilian I. hatten ihm Empfehlungen für den schottischen Hof gegeben. König James IV. empfing ihn in Stirling-Schloss mit offenen Armen – im wahrsten Sinne des Wortes, denn er umarmte am 20. November den Ankömmling vor feierlich versammeltem Hof als königlichen Vetter. Warbeck alias Richard von York legte in einer glänzenden Rede sein trauriges Schicksal dar. Er verwies auf die perfiden Nachstellungen Heinrichs VII., der ihm treue Gefolgsleute wie etwa Clifford abspenstig gemacht habe. Der Hass, mit dem ihm der Tudor verfolge, sei ein Beweis für seine Echtheit. Warbeck erhielt eine monatliche Pension von 112 Ł , eine damals recht bedeutende Summe. Er wurde auch sonst mit Ehren überhäuft, und schließlich gab ihm James im Januar 1496 sogar seine Cousine Lady Catherine Gordon, Tochter des Earl George Huntley, zur Frau19. Am 20. September 1496 war es dann soweit. James stieß mit einem Trupp von 1400 Söldnern in Begleitung Warbecks nach Nordengland vor. Auch Roderick de Lalain und Concressaut erschienen wieder mit 60 deutschen Landsknechten aus Flandern. Eine Proklamation, in der sich Warbeck als Richard IV. zum rechtmäßigen König Englands erklärte, wurde verbreitet. Heinrich VII. sei ein Thronräuber, sein Regime tyrannischer als das Richards III. Zwar sei auch dieser aus Ehrgeiz zum Usurpator geworden, aber seine Regierung wäre ehrenhaft und gut gewesen. Heinrich dagegen umgebe sich mit dem Abschaum Englands und verfolge die heilige Mutter Kirche. In dieser Proklamation wurde auch eine allgemeine Amnestie für die Anhänger Heinrichs verkündet, wenn sie sich nur rechtzeitig von ihm abwandten. Auf Heinrich selbst wurde ein Kopfgeld von

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Die genaue Verwandtschaft der Dame mit König James IV. ist unklar, da ihr Vater dreimal verheiratet war und nicht gesichert ist, aus welcher der beiden letzten Ehen Catherine hervorging. Huntleys zweite Frau war Annabella Stuart, eine Tochter James I., seine dritte Lady Elizabeth Gray. Hierzu Gibson, in Ford, S. 354 Anm. 34 und Cussans S. 63

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1000 Ł verbunden mit einer jährlichen Leibrente von 100 Mark Silber ausgesetzt. Schottland stelle keine Forderungen an England. Man hoffte offensichtlich auf Massenzulauf. Der blieb jedoch aus. Heinrich VII. war von einem Spion am schottischen Hof, John Ramsey Lord Bothwell, von allen Plänen unterrichtet und hatte dementsprechende Vorkehrungen getroffen. James fühlte sich von Warbeck, der ihm ein allgemeines Überlaufen der Engländer in Aussicht gestellt hatte, getäuscht und enttäuscht. Er erlaubte seinen Leuten, sich durch Raub und Plünderung schadlos zu halten. Vergeblich protestierte Warbeck dagegen. Jetzt musste James einen energischen englischen Gegenschlag fürchten. Er versuchte ihn durch ritterliche Zweikampfangebote, dann durch Verhandlungen über spanische Diplomaten, die gerade die britischen Inseln bereisten, abzufangen. Heinrich VII. ging darauf ein. Er hatte sich im Zusammenhang mit größeren europäischen Bündnisprojekten auch 1496 mit dem burgundischniederländischen Hof ausgeglichen und sein Handelsembargo aufgehoben. Jetzt kam es zu einem schottisch-englischen Ausgleich. James heiratete später eine Tochter Heinrichs VII. Warbeck verlor alle seine Gönner. Gerade noch, dass James IV. ihn nicht auslieferte, sondern mit einer kleinen Mannschaft von Getreuen, etwa 30, auf einem Schiff mit dem bezeichnenden Namen „Kuckuck“ nach Irland abziehen ließ (Juli 1497). In Cork wurde er zwar von dem Altbürgermeister John O’Water (Atwater, Waters) freundlich aufgenommen, aber Kildare, jetzt wieder Lord Deputy von Heinrichs VII. Gnaden, verweigerte ihm jede Hilfe. Es wurde eng für Warbeck, das Häuflein seiner Getreuen schmolz dahin. Sein Mentor Frion hatte ihn schon in Schottland verlassen. Ein bankrotter Kaufmann, John Heron, der Schneider Richard (oder Edward) Skelton und der Schreiber John (oder Nicolas) Astley (Osteley, Ashley) bildeten jetzt den Kern seines Hofstaates. Einziger Trost für ihn mochte sein, dass Catherine Gordon ihm treu blieb und bereit war, sein Schicksal zu teilen. Noch einmal flackerte Hoffnung auf. In Cornwall war es zu Unruhen gekommen. Bauern und Handwerker hatten sich gegen eine Sondersteuer Heinrichs VII. für den geplanten Schottlandfeldzug, der dann eigentlich nicht stattfand, aufgelehnt. Der Aufstand war niedergeschlagen worden, aber es gärte noch in Cornwall. Warbeck ergriff die Chance. Mit zwei Schiffen und zwei einfachen Booten und etwa 70 (nach anderen Berichten: 120) Mann an Bord landete er am 7. September 1497 in der Gegend von Lands End in der Whitesand Bay. Diesmal erhielt er tatsächlich Zulauf. Etwa 3000 (oder sogar 8000?) Cornishmen sammelten sich um ihn. In Bodmin Moor ließ sich Warbeck vor ihnen als „Richard IV.“ zum König ausrufen. Seine Banner zeigten neben einem roten Löwen einen Knaben, der einem Wolfsrachen oder einem Grab entstieg. Ein deutlicher Hinweis auf sein angeblich so herzerschütterndes Schicksal. Er stieß mit seinen Leuten bis nach Exeter vor. Am 17. September wäre es ihm beinahe gelungen,

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die Stadt einzunehmen, doch wurde sie durch königliche Truppen gerettet. Warbeck zog sich mit seinen Leuten in ein Lager bei Taunton in Somerset, 30 Meilen nordwestlich von Exeter, zurück. Hier wollte man sich den Truppen des Königs zum Kampf stellen. Dazu kam es nicht, denn Warbeck stahl sich mit etwa 60 Begleitern, darunter Heron, Skelton und Astley, heimlich in der Nacht von dannen. Er schlug sich in das Klosterasyl von Beaulieu Abbey (bei Southampton) durch. Von hier aus verhandelte er mit seinen Verfolgern. Er ergab sich gegen Zusicherung seines Lebens. Vielleicht sorgte er auch für die Schonung seiner Leute in Taunton, die Heinrich, abgesehen von einigen Anführern, mit dem Leben davonkommen ließ. Allerdings bürdete er ihnen hohe Geldstrafen auf. Wie im Falle Simnel gibt die Milde zu denken, mit der Heinrich VII. den verhassten „garçon“ behandelte. Warbeck musste zwar am 5. Oktober 1497 in Heinrichs Lager bei Taunton ein umfassendes Geständnis unterschreiben, wurde dann aber, zu Pferde reitend, nach London gebracht, unterwegs von der Menge teils verspottet, teils bestaunt. In Exeter durfte er einen Brief an seine Mutter schreiben. Im November wurde er zu einer Art Ehrenhaft in Westminster verurteilt. Ein Fluchtversuch am 9. Juni 1498, bei dem er bis zum Kloster Sheen bei London gelangte, führte auch nur dazu, dass er in Westminster und Cheapside unter Verlesung seines Geständnisses im Stock sitzend zur Schau gestellt und anschließend in den Tower überführt wurde. Seine Frau Catherine Gordon, die er bei seinem Zug durch Cornwall auf dem Inselkloster St. Michael’s Mount (oder St. Buryan?) in Sicherheit zurückgelassen hatte, erhielt von Heinrich VII. eine Leibrente und wurde als Hofdame der Königin Elisabeth eingestellt. Die Königin schenkte ihr zusätzlich 160 Ł zur Kleiderausstattung.20 Sie heiratete nach der Hinrichtung Warbecks noch dreimal (James Strangeways, Christopher Ashton und Sir Mathew (Eduard?) Cradock) und starb 1537. (Sie wurde neben ihrem letzten Gatten in der Kirche St. Mary zu Swansea beigesetzt.) Wie gesagt, nach der Hinrichtung Warbecks – denn schließlich fand die Langmut Heinrichs VII. doch ein Ende. Auslöser für den Sinneswechsel des Königs war das Auftreten eines weiteren falschen Prätendenten Ein Augustinerpater namens Patrick in Kent verkündete Anfang 1499, der Earl of Warwick sei aus dem Tower entwichen. Ein Schuster-oder Seilmachersohn aus Suffolk oder London, ein gewisser Ralph Wilford21, vielleicht Student in Cambridge, gab sich denn auch bald als Warwick zu erkennen. Er erregte einiges Aufsehen, wurde aber rasch aufgegriffen und am 12. 2. 1499 gehängt. Heinrich VII. soll sich über den an sich wenig bedeutsamen Vorfall sehr aufgeregt gezeigt haben. Es wurde 20 21

So J. L. Laynesmith, The Last Medieval Queens. Englisch Queenship 1445-1503, Oxford 2004 S. 249 Zu ihm und den Befürchtungen und Intrigen Heinrichs VII. Bacon S. 177 f. Hall S. 490 nennt ihn Raufe Wilford.

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vermutet, dass spanische Diplomaten ihn bei Verhandlungen über die Heirat seines Sohnes Arthur mit der Infantin Katharina darauf hingewiesen hätten, seine Dynastie sei im Grunde noch ungesichert, da mit dem Earl of Warwick noch ein echter und legitimer Thronanwärter des Hauses York lebe und wie die Affäre Wilford zeige, auch noch Anklang im Volk finden könne. Es wurde deshalb schon früh der Verdacht geäußert, seitdem habe Heinrich VII. den an sich gänzlich unschuldigen und persönlich harmlosen, geistig wohl minderbemittelten echten Warwick verderben wollen. Vielleicht war schon das Auftreten Wilfords in Szene gesetzt, denn der Prediger Patrick wurde zu lebenslanger Haft begnadigt. Als letztes Mittel zur Vernichtung Warwicks diente dann Warbeck, den man so gleichzeitig loswerden konnte. Beide saßen sie im Tower ein. Jetzt erhielten sie benachbarte Räume zugewiesen. Über ihre Wärter John Attwood (auch Thomas Astwood genannt), und John Taylor (merkwürdiger Weise frühere Gefolgsleute Warbecks) konnten sie Kontakt aufnehmen, belauert wohl von Spionen Heinrichs. Entweder aus eigener Initiative oder angeregt von ihren Wärtern, entwarfen sie im August 1499 Pläne für eine gemeinsame Flucht. Sie wurden selbstverständlich verraten. Ein Mitverschwörer, Robert Cleymond, zeigte die Sache an. Warbeck wurde am 16. November 1499 vom königlichen Hausgericht zum Tod am Galgen verurteilt. Am 23 November schleifte man ihn auf Reisigbündeln (wollte man damit andeuten, dass er eigentlich den Feuertod verdient hatte?) vom Tower nach Tilbury, wo er nach öffentlicher Ablegung eines Geständnisses zusammen mit seinem Getreuen aus Cork, Altbürgermeister John O’Water, dessen Sohn sowie Attwood und Taylor gehängt wurde. Es wurde auch behauptet, man habe vorher sein Gesicht zerschlagen, um seine „yorkistischen“ Züge unkenntlich zu machen. Der echte York-Sprößling, Eduard Earl of Warwick, wurde standesgemäß am 29 November im Tower enthauptet. Dem als geizig verschrienen Heinrich VII. hatte der Kampf gegen Warbeck nicht weniger als 13 000 Ł - gekostet, den Aufwand etwa für ein Jahr königlicher Hofhaltung. Wer immer Warbeck in Wirklichkeit war, der junge Mann, der unter diesem Namen in die Geschichte einging, muss eine faszinierende Persönlichkeit gewesen sein. Selbst der Tudor-Historiograph Edward Hall (ca. 1498-1547) muss zugeben, dass er „von schönem Gesicht, gesetzter Miene, feinem Verstand, gewandt und erfindungsreich“ gewesen sei.22 Sein Erfolg an verschiedenen europäischen Höfen, aber auch bei den Bürgern in Cork oder den einfachen Landleuten in Cornwall lassen Zweifel daran aufkommen, ob er tatsächlich nur der simple Kaufmannslehrling und –gehilfe Perkin Warbeck war. In seinem „Geständnis“ von 1497 beschreibt er zwar minutiös die Stationen seiner Ausbildungen und Reisen vor 1491 und nennt die Namen seiner Lehrherren und Wirte, aber gerade das macht misstrauisch. Mit diesen Angaben sollte möglicherweise, 22

Hall S. 462 (Übersetzt von Verf.)

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auf Wunsch Heinrichs VII., die offizielle These seiner niedrigen Herkunft lückenlos untermauert werden. Das „Geständnis“ wirft trotz seiner scheinbaren Exaktheit Fragen auf. „Warbeck“ gibt z. B. an, dass er erst in Cork 1491-92 Englisch gelernt habe. Aber der einzige von seiner Hand erhaltene Brief weist eher darauf hin, dass er die Sprache in ihren Feinheiten beherrschte. Auch wird nirgends erwähnt, dass er durch irgendwelche englische Sprachschnitzer aufgefallen wäre.23 Erstaunlich ist auch die Hartnäckigheit, mit der er sechs Jahre lang, bei allen Rückschlägen, an seinen Ansprüchen festhielt. Selbst nach dem „Geständnis“ von 1497 belegen Fluchtversuche und –pläne seinen ungebrochenen Glauben an seine „Fortune“. Die Geschichtsschreiber der Tudor- und Stuartzeit konnten sich dies nur erklären, indem sie annahmen, „was er vortäuschte, glaubte er am Ende selbst“ (Bacon) oder „er wurde ein Opfer seines eigenen Betrugs“ (Vergil).24 Die Schriftstellerin Mary Shelley (1797-1851), berühmt als Schöpferin des „Frankenstein“, ging in ihrem Historienroman „The Fortunes of Perkin Warbeck“ von 1830 noch einen Schritt weiter. Bei ihr ist Perkin Warbeck einfach der echte Richard von York und ein Ausbund aller adligen und menschlichen Tugenden. Damit wird bei ihr seine Beharrlichkeit selbstverständlich. Freilich gerät Shelley dann in vielfache andere Erklärungsnöte, die sie mit äußerst abenteuerlichen Konstruktionen zu überbrücken sucht. So macht sie den Vetter Richards, den Grafen von Lincoln, zu seinem Lebensretter. Lincoln (der, wie oben dargestellt, in der Simnel-Affäre tätig wurde) soll, nachdem der ältere der beiden „Prinzen im Tower“ an gebrochenem Herzen gestorben war, für den jüngeren beim gemeinsamen Oheim Richard III. interveniert haben. Richard III. gestattet auf die Bitten Lincolns, dass sein Neffe York heimlich auf einem Landgut aufgezogen wird. (Schwer erklärlich wird dann das Engagement Lincolns für Simnel.) Vor Heinrich VII. muss der Knabe dann als angeblicher (Zieh)sohn des in London tätigen flämischen reichen Geldwechslers Warbeck nach Flandern gerettet werden. Er wird dann dem kühnen spanischen Seefahrer de Faro, einem Schwager Warbecks, anvertraut, kämpft mit diesem vor Granada, wird aber immer wieder von den Agenten Heinrichs VII. in Fallen gelockt, aus denen er stets um Haaresbreite entkommt. Diese Agenten, vor allem Clifford und Frion, gewinnt der edle Richard immer wieder mit Charme, Güte und Edelmut zeitweilig für sich, woraus sich die unwahrscheinlichsten Verwicklungen ergeben. Zu ihnen gehören nicht zuletzt ein heimlicher Besuch – bereits 1495- Richards im Tower bei dem armen Warwick oder noch heimlichere Begegnungen mit seiner Mutter und Schwester. Der bunte Bilderbogen dieser Abenteuerphantasien wird 23 24

Cussans S. 71 Zitiert nach dem Begleittext der BBC-Channel 4 –Sendung vom 4. 5. 2005 „The princes in the tower“ (Internet: Channel 4 –History- Perkin Warbeck) Übersetzt von Verf.

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nach und nach langweilig, weil Shelleys Richard von York eben der ewig gleiche Edelmensch bleibt. Und ein solcher war der historische Perkin Warbeck nun keinesfalls, selbst wenn er der echte Prinz aus dem Tower gewesen sein sollte. Übrigens hat die Echtheitsthese der Shelley in den letzten Jahren wieder Anhänger in der Historikerzunft gefunden. 25 Und auch ihre phantasievollen Ausschmückungen der Perkin-Geschichte haben bis heute Nachahmer immer wieder inspiriert. Allein das Schicksal von Perkins Gemahlin Katherine Gordon wurde 2007-2011 in mindestens drei Historienromanen ausgemalt.26 Weit interessanter als Mary Shelley und ihre Nachfolger behandelte zwei Jahrhunderte zuvor der Dramatiker John Ford (1586-1640?) das WarbeckThema. In seinem Stück „The Chronicle History of Perkin Warbeck. A Strange Truth” von 1634 werden zunächst in Szenen, die am Hofe Heinrichs VII. spielen, alle Argumente, die gegen die Echtheit Warbecks sprechen, aufgegriffen und der Prätendent dementsprechend verächtlich gemacht. Für das Publikum überraschend ist dann der Auftritt Warbecks am schottischen Hof. Warbeck besticht hier durch sein anmutig-gewinnendes und zugleich würdevolles Wesen. Vor allem aber duldet er nicht den geringsten Zweifel an seiner königlichen Herkunft. Als sein Mentor Frion ihn ermahnt, vor James IV. recht gut den Fürsten zu spielen, meint er empört „Als Fürst erscheinen ? Tod strafe solch’ Betrug im Keim…“. Er bleibt bis zu seiner Hinrichtung dabei, Richard von York zu sein. Vergebens versucht der Falkner Simnel ihn zu einem Geständnis zu überreden, das ihm – wie Simnel – die Gnade König Heinrichs erwirken könne. Voller Verachtung fährt Warbeck ihn an: „Du schäbiges Gewürm. Wie wagst Du es, so nah an mich heranzukriechen.“ Heinrich VII., vor dem Warbeck die Geheimnisse des Hauses York als Beweis seiner hohen Geburt enthüllt, tut dies alles als Einflüsterungen der Herzogin Margarete ab. Aber auch er muss halb bewundernd anmerken: „Was ist das für ein kühner Schurke!“ und „Gab’s jemals solche Unverschämtheit im Betrug? Gewohnheit, sicherlich, zu gelten als ein König, hat in dem Glauben ihn gestärkt, es auch zu sein.“ Ford überlässt es letztlich seinem Publikum, Warbeck zu glauben oder nicht. Aber er lässt seinen Helden auf jeden Fall als faszinierenden Charakter erscheinen, der, wer immer er auch sei, Respekt und vielleicht sogar Liebe ver25

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So bei Diana Kleyn: Richard of England, Mitcham (Australien) 2000 und Dorothea Preis, Vortrag gehalten vor der Richard III-Society in Upper Hutt, Neuseeland, Tagung vom 13.-15 Mai 2007. Ann Woe, Perkin. A Story of Deception, London 2003 lässt die Echtheitsfrage immerhin offen. Jan Arthurson, The Perkin Warbeck Conspiration 1491-99, Stroud 1994 hatte die Echtheit noch strikt verneint und in John Taylor den Drahtzieher der Affäre vermutet. Pamela Hill, Lady Kate, 2007 /Anne Easter Smith, The King’s Grace, New York 2009 (verwoben mit dem Schicksal einer unehelichen Tochter Eduards IV.)/ Sandra Rose, Pale Rose of England, New York 2011

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dient. Warbecks Frau Catherine Gordon nimmt denn auch bei Ford mit den Worten von ihm Abschied: „Wie immer diese Leute dich benennen, ich weiß es sicher, Du bist mein Gemahl.“27 Vielleicht noch differenzierter als bei Ford wäre die Psychologie des falschen Prätendenten möglicherweise in einem von Schiller lange geplanten Drama zu Warbeck ausgelotet worden.28 Nach den überlieferten Entwürfen sollte das Stück ausschließlich am Brüsseler Hof der Herzogin Margarete spielen. Diese Intrigantin hat, so Schiller, den Prätendenten „aufgebaut.“ Schiller wollte sich offensichtlich weit von den historischen Fakten lösen. So war vorgesehen, Stanley, Kildare, Simnel (der hier entlarvt und von Warbeck im Duell getötet wird) und den echten Earl of Warwick in Brüssel auftreten zu lassen und am Ende Warbeck als einen natürlichen Sohn Eduards IV. zu rechtfertigen. Interessant ist in unserem Zusammenhang nur die knappe Charakterskizze, die Schiller für Warbeck entwirft: „Warbeck spielt seine Rolle mit gesetztem Ernst, mit einer gewissen Gravität und mit eignem Glauben. So lange er den Richard vorstellt, ist er Richard; er ist es auch gewissermaßen für sich selbst, ja sogar zum Teil für die Mitansteller des Betrugs. Dieser Schein darf schlechterdings nichts Komödiantisches haben; es muss mehr ein Amt sein, das er bekleidet und mit dem er sich identifiziert…Nachdem der erste Schritt getan ist, hat er seine vorige Person ganz weggeworfen…Eine gewisse poetische Dunkelheit, die er über sich selbst und seine Rolle hat, ein Aberglaube, eine Art von Wahnwitz, hilft seine Moralität zu retten…“29 (achlese: -Ein falscher Eduard VI. und andere Gespenster Die erstaunlichen „Karrieren“ eines Simnel und eines Warbeck wirkten als verführerische Modelle sicher nach. Und so nimmt es nicht Wunder, dass sich, sobald erneut Probleme bei der Thronfolge auftraten, auch wieder falsche Prätendenten fanden. Dies war der Fall beim Tode Eduards VI. Der stets kränkelnde Sohn Heinrichs VIII. aus dessen dritter Ehe, der nominell 1546-53 regierte, starb mit kaum 16 Jahren am 6. Juli 1553 in Greenwich. Sein Vormund John Dudley, Herzog von Northumberland, erklärte, der jung König habe testamentarisch – unter Ausschaltung seiner Halbschwestern Maria und Elisabeth – seine Cousine Lady Jane Grey zur Thronerbin bestimmt. Um die Nachfolge der Lady zu sichern, verheimlichte Northumberland den Tod Eduards einige Tage, was später allerlei Gerüchten Nahrung gab.30 Northumberlands Staatsstreich misslang, Ma27 28 29 30

Zitate übersetzt von Verf. Schillers Werke. Nationalausgabe Band 12 S. 157-258 Ebenda S. 166-67 Vielleicht inspirierten diese Gerüchte Mark Twain zu seinem Roman „Der Prinz und der Bettelknabe“ (1882), in dem nach einem spielerischen Kleidertausch der Bettlerjunge Tom Canty lange für den Prinzen Eduard gehalten wird, während der echte Edu-

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ria, die ältere Halbschwester Eduards, setzte ihren Thronanspruch durch, Northumberland und später Jane Grey endeten auf dem Schafott. Maria die Katholische oder „die Blutige“ konnte sich ans Werk machen, die unter ihrem Vater und ihrem Bruder durchgesetzten Kirchenreformen aufzuheben und etwa 300 widerspenstige Protestanten auf den Scheiterhaufen zu schicken. Natürlich verbreitete sich sofort das Gerücht, Eduard sei von katholischen Verschwörern vergiftet worden, oder aber er habe sich vor deren Anschlägen gerettet und lebe im Verborgenen weiter. Um die Jahreswende 1553-54 wurden mehrere Personen wegen der Verbreitung solcher Gerüchte verurteilt. Anfang 1555 tauchte dann in Essex ein junger Mann auf, etwa 18 Jahre alt und dem verstorbenen König nicht unähnlich, der behauptete, Eduard VI. zu sein. Er erregte einigen Tumult, wurde sofort verhaftet und gestand im Mai 1555 vor Gericht, William Fe(a)therstone, ein Müllerssohn aus Marshalsea in Dorset zu sein. 31Er hatte sich als Lakai in London verdingt und sich so einiges an feineren Manieren aneignen können. Am 22. Mai wurde er zur Auspeitschung und Verbannung (aus London?) verurteilt. Man setzte ihm eine Narrenkrone auf und fuhr ihn in einem Karren zur öffentlichen Auspeitschung in Westminster. Anscheinend ließ man ihn danach als „missgeleiteten Irren“ laufen. Im Februar 1556 trat er jedoch wieder als Eduard VI. in London auf. Diesmal gab es kein Erbarmen. Er wurde am 4. März in Tilbury gehängt, seine Leiche gevierteilt und auf der London Bridge zur Schau gestellt. Er soll auch unter dem Namen William Constable Briefe verschickt haben, in der die Wiederkehr Eduards VI. angekündigt wurde. Die Empfänger solcher Briefe wurden aufgespürt und zum Teil auch bestraft. Die Behörden Marias der Blutigen hatten wohl zumindest den Verdacht, dass sich hinter Featherstone politisch nicht ungefährliche protestantische Machinationen verbergen könnten. Im Vergleich zu Simnel und Warbeck war die Geschichte des armen Featherstone freilich nur noch eine im Grunde belanglose Farce und gehört , was die Person des falschen Eduard selbst angeht, wohl eher in das Feld politisch uninteressanter psychiatrischer Erscheinungen. Dies scheint noch mehr bei einem Vorkommnis aus dem Jahr 1578 der Fall zu sein. 32Um einen Abenteurer namens Mantell scharte sich eine Gruppe offensichtlich hysterischer Frauen, die ihn für Eduard VI. hielten. Der Betrüger, der sich auch Blowyse und Johnson nannte, ließ sich das gefallen, anscheinend um die Frauen auszunehmen. Ein Mr. Collin aus Essex, dem die Sache zu Ohren kam, zeigte die Leutchen an. Mankell wurde zu einem Jahr Haft in Colchester

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ard das Elend der Armen durchleiden muss – bis Tom edelmütig auf seine Rolle verzichtet. Zu ihm: Bercé S. 365-66, Cornford S. 287 Zu dieser Affäre und den weiteren Fällen: Bercé S. 365-66, Cornford passim, Lecuppre S. 6 Anm., Bercé S. 376 erwähnt noch eine falsche Königin Henriette von England, die in Limoges auftrat (1628)

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verurteilt. Seine Freundinnen verhalfen ihm zur Flucht aus dem Gefängnis. Das Gericht hatte ihn als „Opfer von Wahnvorstellungen“ milde behandelt. Der wackere Mr. Collin verlangte allerdings als Belohnung für seine mutige Anzeige eine Handelslizenz für 400 Fässer Bier. Die Gerüchte um das Fortleben Eduards VI. wurden immer absurder, 1588 wurde ein Francis Nevell verhört, weil er in Wirtshäusern herumerzählte, der König lebe in Spanien oder Frankreich, und noch 1599 tischte ein Herumtreiber aus Wales, Thomas Vaughan, das Märchen auf, Eduard sei nach Dänemark entkommen und habe dort die Königin geheiratet. Zu weiteren Kuriosa dieser Art gehören ein für das Jahr 1587 erwähnter Sohn Elisabeths I. namens Arthur, oder ein Bartholomew Helson, der 1607 als ein seinerzeit aus der Wiege geraubter Sohn Marias der Blutigen von sich Reden machte. Solche Nachahmer hatte der große Prätendent Warbeck wahrlich nicht verdient.

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X. Frankreich Vorbemerkung: Französische Historiker zählen gerne die Merowinger und Karolinger als die ersten beiden königlichen Dynastien ihres Landes. Aber Frankreich als Monarchie und Staat ist im Wesentlichen ein Werk der „dritten Dynastie“, d.h. der Kapetinger, die in zäher Geduldsarbeit, ausgehend von der „Isle de France“ und ihrer Grafschaft Paris, die sie im 9. Jahrhundert gewannen, das in unzählige Herrschaftsgebilde zerfallene, kaum noch nominell bestehende westfränkische Königreich zum heutigen Frankreich zusammenfassten. Sie bedienten sich dabei sehr früh auch des altüberlieferten Königsheils-Mythos. Als „rois thaumaturges“ – wunderwirkende Könige –heilten sie nach ihrer Salbung und Krönung in Reims Kranke, die von den Skrofeln, der Hauttuberkulose, befallen waren. Hilfreich beim Aufbau der kapetingischen Herrschaft über Frankreich war auch der Umstand, dass jahrhundertelang, von 987 bis 1316, in ununterbrochen direkter Linie Söhne ihren Vätern auf dem Thron folgten Ein echter Fünftagekönig: Jean I. Am 5. Juni 1316 starb König Ludwig X. „der Zänker“ von Frankreich und Navarra (ein kleines Königreich in den Pyrenäen, das er von seiner Mutter erbte) als erster Kapetinger ohne einen Sohn zu hinterlassen. Aber es bestand noch Hoffnung: Königin Clementia, Prinzessin von Ungarn aus dem französischen Haus Anjou-Neapel, trug ein Kind unter dem Herzen. Ganz Frankreich hoffte auf einen Knaben. Die Königin flehte den Heiligen Johannes (den Täufer) um Beistand an. Tatsächlich gebar sie in der Nacht vom 13. zum 14. November 1316 den ersehnten Thronfolger: er sollte denn auch Johann (Jean) heißen. Er starb fünf Tage später, kurz nach oder sogar während seiner Taufe. Seine Halbschwester Johanna, aus einer früheren Ehe Ludwigs X., wurde vom Thronerbe ausgeschlossen. Eine Notabelnversammlung und das höchste Gericht Frankreichs hatten auf Betreiben und zugunsten eines Bruders Ludwigs X., Philipp von Poitou (als König jetzt Philipp V.), das sogenannte „salische Gesetz“ hervorgekramt oder erfunden, das Frauen königlichen Geblüts und ihre Nachkommen von der Thronfolge ausschloss. Philipp hatte sicherheitshalber auch noch das Gerücht ausgestreut, Prinzessin Johanna (Jeanne) sei aus einem Ehebruch ihrer Mutter Margarete (von Burgund), der ersten Gemahlin Ludwigs X., hervorgegangen. Zu diesem Ehebruch ist Folgendes zu bemerken: Königin Margarete, die erste Gemahlin Ludwigs X., Jeanne, die Frau Philipps von Poitou, und eine weitere Prinzessin, also drei verschwägerte Damen, hätten sich im Turm von Nesle am Pariser Seineufer, so die volkstümliche Legende, als veritable Nymphomaninnen ein Liebesnest eingerichtet. Es wurde sogar kolportiert, sie hätten ihre

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von der Straße herbei gelockten Liebhaber nach Gebrauch in der Seine ertränken lassen. (Der tatsächliche Skandal wurde 1314 von Isabella, Gemahlin Eduards II. von England und Schwester Ludwigs X., bei einem Besuch in Paris aufgedeckt. Einige der in die Affäre verwickelten jungen Männer wurden bestialisch hingerichtet.) Königin Margarete, die erste Gemahlin Ludwigs X., verstarb, in Haft gehalten, 1315. Vielleicht wurde sie erwürgt, um ihrer Nachfolgerin Clementia Platz zu machen, denn Ehebruch war nach katholischem Kirchenrecht kein Scheidungsgrund, der König aber zur Fortsetzung der Dynastie auf eine neue Ehe angewiesen.) An einem Hof mit derartigen Skandalen konnten noch ganz andere Dinge geschehen. Und so wurde bald gemunkelt, der kleine Fünftagekönig Jean sei keines natürlichen Todes gestorben. Der Verdacht fiel auf die regierende Gräfin Mahaut (Mathilde) von Artois, eine als ränkevoll und machtgierig verschriene Dame, die Schwiegermutter Philipps V., dem sie so den Thron verschafft hätte. Gräfin Mahaut war alles zuzutrauen. Sie hatte ihren minderjährigen Brudersohn Robert in langwierigen Prozessen um das Erbe von Artois gebracht, indem sie ihn als Spross einer ungültigen Ehe denunzierte. Jetzt konnte sie durch die Beseitigung des königlichen Säuglings hoffen, sich und ihre Tochter in der Gunst Philipps V. zu halten. Ihre Tochter Jeanne gehörte zu den Prinzessinnen vom Nesle-Turm. Während ihre Schwägerinnen in düsterer Klosterhaft endeten, verzieh Philipp V. merkwürdigerweise seiner Frau und ließ sich mit ihr krönen. Sie sei bloße Mitwisserin gewesen. Gräfin Mahaut konnte hoffen, Stammmutter künftiger Könige zu werden. Sie soll sich als „Patin“ des kleinen Jean bemächtigt haben. Später wurde behauptet, sie habe das Kind durch einen Nadelstich in den noch weichen Schädel umgebracht, eine Verletzung, die kaum nachweisbar war. Jean I., König von Frankreich, wurde zu Füßen seines Vaters Ludwig in St. Denis beerdigt. Eine Kinderstatue ohne Krone hat sich dort erhalten. Seine Halbschwester Jeanne erbte wenigstens das kleine Pyrenäenkönigreich Navarra, weil dort die weibliche Erbfolge galt. Seine Mutter Clementia zog sich in Klöster in Avignon und Aix-en-Provence zurück, starb aber 1328 in Paris. Sie wäre sicher sehr erstaunt gewesen, zu erfahren, dass ihr totgeglaubter Sohn noch wohlbehalten in Italien lebe. Giovanni di Guccio oder Jean I. ? Professor Tommaso di Carpegna Falconieri von der Universität Urbino überraschte 2005 sein Publikum im ersten Kapitel seines Werkes „L’uomo che si credeva re di Francia. Una storia medievale.“ (-„Der Mann, der glaubte König

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von Frankreich zu sein. Eine Geschichte aus dem Mittelalter“-) mit folgender Erzählung1: Im September 1354 forderte Cola di Rienzi, regierender „Senator“ der Stadt Rom, den ehrbaren Kaufmann Giovanni di Guccio Baglioni aus Siena dringend auf, in die heilige Stadt zu eilen, er habe ihm eine Mitteilung von äußerstem Gewicht zu machen. Baglioni zögerte, dem Ruf Colas zu folgen, denn der Senator war eine höchst abenteuerliche und nicht ungefährliche Figur. Rienzi hatte sich, obwohl von niedriger Herkunft, 1347 als demagogischer „Tribunus Augustus“ zum Herrn der von den Avignon-Päpsten verlassenen Stadt aufgeschwungen und ihren Bürgern versprochen, Rom wieder zum Mittelpunkt der Welt zu erheben. Abgesehen von einigen phantastischen Aufmärschen und Zeremonien war aus diesem Traum nicht viel geworden. Aus der Stadt vertrieben hatte Cola bei Kaiser Karl IV. in Prag Zuflucht gefunden, der ihn aber schließlich nach Avignon auslieferte. Papst Innozenz VI. hatte ihn dann aus dem Gefängnis entlassen, in der Hoffnung, der immer noch populäre Mann werde als „Senator“ die Römer wieder zum Gehorsam gegenüber der Kurie bewegen. Während seiner Herrschaft 1347 und auch jetzt - 1354 - wieder hatte sich Cola nicht allzu zimperlich gezeigt, wenn es galt, ihm unbequeme Rivalen oder lästig gewordene Freunde aus dem Weg zu räumen. Baglioni, den Cola nach Rom berief, zählte als Bankier, Woll-Brot- und Edelmetallhändler zu den Honoratioren in Siena und bekleidete zeitweilig auch städtische Ämter, wenngleich er auch wegen seiner Kleinwüchsigkeit gelegentlich als „Giannino“ („Hänschen“) bespöttelt wurde. Nach wiederholter Aufforderung Colas reiste er, neugierig geworden, Anfang Oktober 1354, sicherheitshalber als Landsknecht verkleidet, nach Rom. Er traf Cola bei einem Gastmahl auf dem Kapitol und war nicht schlecht überrascht, als dieser vor ihm auf die Knie sank und seine Füße küsste. In einem langen Nachtgespräch enthüllte ihm der Senator dann, er, Baglioni, sei niemand anders als Jean I., der rechtmäßige König von Frankreich. Und das verhalte sich so: zur Amme des 1316 geborenen Königs wurde die junge Adlige Marie de Cressay (Crécy, Carsix, Careix) ausgewählt, die just in einem Pariser Konvent heimlich von einem Söhnchen entbunden worden war. Der Vater dieses Kindes war Guccio di Mino de Geri Baglioni, ein „Bürgerlicher“, ein in Frankreich tätiger Agent des Sieneser Bankhauses Spinello Tolomei, den Marie gegen den Willen ihrer adelsstolzen Sippe klammheimlich geheiratet hatte. Guccio musste vor der Wut seiner unfreiwilligen Schwäger fliehen, versprach aber, wiederzukommen. Derweil brachte Marie, um ihre Familie zu schonen, ihr Kind diskret unter der Obhut einer älteren Verwandten, Leiterin des erwähnten Pariser Konvents, zur Welt. Jetzt zur Amme des Königs bestellt, 1

Benutzt in der Online-Version der englischen Übersetzung (Auszüge) „The Man Who Believed He was King of France“, Chicago 2008. Dort und bei Bréhaut passim auch die Geschichte des bzw. die Gerüchte um den echten Jean I.

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musste sie erleben, dass ihr eigenes Söhnchen plötzlich verstarb. In ihrer Angst, vielleicht Guccio zu verlieren, wenn kein gemeinsames Kind ihn an sie band, vertauschte sie die Säuglinge. (Nach einer anderen Version erfuhr sie von den Gefahren, die seitens der Gräfin von Artois auf den kleinen König lauerten und rettete ihn durch den Kindertausch, unter Aufopferung ihres eigenen Sohnes.) 1322 erschien Guccio di Mino bei Marie, nahm seinen vermeintlichen Sohn an sich und schickte ihn zur Erziehung zu Großvater Mino nach Siena. Woher wusste Cola di Rienzi von alledem? Nun, auf ihrem Sterbebett hatte Marie de Cressay 1345 einem spanischen Augustinermönch, Bruder Giordano, die Sache gebeichtet und ihn beauftragt, den jungen König, der irgendwo in Italien leben müsse, aufzuspüren. Bruder Giordano war ratlos, aber er wurde immer wieder von Traumvisionen heimgesucht, in denen ihm Jean versicherte, er lebe noch, oder in denen der junge König als Befreier Jerusalems erschien. Vor seinem Tod wandte sich Giordano schriftlich an einen Mitbruder Antonio, der sich in Italien auskannte, und Antonio schrieb an Cola di Rienzi. Rienzi, für jede Phantasterei offen (er glaubte selbst, vielleicht ein natürlicher Sohn des römisch-deutschen Kaisers Heinrich VII. zu sein, der 1312 in Rom gekrönt worden war2), gab zumindest vor, die Geschichte für wahr zu halten. Als ein Fingerzeig Gottes galt ihm schon das Datum auf Bruder Antonios Brief: der 25. August 1354, das Fest des heiligen Königs Ludwig, des Kreuzfahrers und Vorfahren Jeans I. Skeptischer war zunächst Giovanni di Guccio Baglioni, er sei und bleibe der Sohn seiner früh verstorbenen Eltern Guccio di Mino und Monna Maria. Rienzi ließ nicht locker: auch vor Jean seien königliche Kinder vertauscht worden, so etwas sei also möglich. Und da Guccio schon 1350 von einem französischen Ritter, der sich auf Pilgerfahrt zum Heiligen Jahr in Rom in Siena aufgehalten hatte, von Gerüchten über die Vertauschung Jeans I. gehört hatte, gab er schließlich nach. Es wurde beschlossen, im Namen des Senators von Rom, Briefe an alle Potentaten Europas mit der frohen Botschaft von der Wiederauffindung des legitimen Königs von Frankreich zu senden. Dazu kam es nicht, denn Cola di Rienzi wurde kurze Zeit danach (am 8. Oktober 1354) während eines Volksaufstands getötet. Guccio, der von Rienzi mit Briefen zu Kardinal Albornoz, Feldherr und Statthalter des Papstes im Kirchenstaat, geschickt worden war, hatte zwar durch Zufall von einer Verschwörung gegen Cola erfahren, war auch zurückgekehrt, um seinen Freund zu warnen, hatte damit aber keinen Erfolg gehabt. Professor Carpegna vermutet, Rienzi habe mit Guccio große Dinge geplant. Rienzi hatte sich, so Carpegna, schon vorher von einem geheimnisvollen Werk, dem „Oraculum Cyrilli“ aus dem Dunstkreis der Spiritualen, der Jünger des Endzeitpropheten Joachim von Fiore, inspirieren lassen. Er erwartete also wahr2

Gregorovius Band 2,2 S. 682

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scheinlich den endzeitlichen Erlöser-Herrscher, glaubte ihn zeitweilig vielleicht in Kaiser Karl IV. auszumachen. Der hatte solche Verstiegenheiten abgelehnt und Rienzi ans päpstliche Gericht in Avignon ausgeliefert. Der Phantast Cola glaubte wohl, Guccio als Jean I. in die Rolle des Endzeitsherrschers drängen zu können, und je unwahrscheinlicher dessen Vorgeschichte sich ausnahm, desto besser für seine Aura. Von der Entdeckung Guccios bzw. Jeans I. in Rom und dessen späteren Schicksalen erfuhr die Nachwelt, also auch Professor Carpegna, durch die „Istoria del Re Giannino di Francia“ („Die Geschichte König Hänschens von Frankreich“), die einem Tomaso (Tomasio) Agarazzi ( oder della Gazzai, ca. 13841430) zugeschrieben wird, der sich als angeheirateten Verwandten Guccios präsentierte und vorgab, dessen Memoiren zu veröffentlichen. Die „Istoria“ wurde später mehrfach überarbeitet und ausgeschmückt. Sie weiß wahrlich Abenteuerliches zu berichten. Danach deutete Guccio 1356 die schwere Niederlage des französischen Königs Jean II. in der Schlacht von Poitiers im Hundertjährigen Krieg gegen die Engländer, die zur jahrelangen Gefangenschaft des Königs führte, als göttlichen Hinweis auf die Illegitimität dieses Herrschers – und damit für seine eigene Legitimität. Guccio Baglioni umgab sich darauf mit einem königlichen Rat aus den vornehmen Familien Sienas. Er gewann später in Venedig den zum Christentum konvertierten Juden Daniello als eine Art Impresario und Kreditgeber für sich. Mit ihm reiste er 1359 zu seinem „Vetter“ mütterlicherseits König Ludwig von Ungarn. Ludwig empfing ihn nicht. Aber ungarische Hofbeamte spielten Baglioni und Daniello eine Kopie des königlichen Siegels zu. Beglaubigt mit diesem Siegel wurden im Namen Ludwigs Briefe in alle Welt verschickt, die die Echtheit des so überraschend aufgetauchten „Vetters“ des ungarischen Herrschers bezeugten. Anscheinend taten diese Briefe einige Wirkung. Baglioni konnte in Norditalien Landsknechte anwerben. Mit ihnen schlug er sich –zwischendurch auch wieder einmal verhaftet - bis ins Rhonetal durch. Im März 1360 erschien er vor der Papstresidenz Avignon und erhielt Audienz bei einigen hohen Prälaten. Hier nahm er Kontakt zu König Karl dem Bösen von Navarra auf, einem Sohn der Halbschwester Jeans I., also seinem „Neffen“, der ihm Verstärkung zuschickte. Eine zeitlang schien die Papstresidenz Avignon bedroht. Doch bei Scharmützeln in der Provence (das Gebiet gehörte der Königin Johanna von Neapel, aus dem Hause Anjou) wurde Guccio Baglioni vom stellvertretenden Seneschall der Provence bei Uzès gefangengenommen. Daniello verschwand mit seinen Geldern. Zunächst in Marseille festgehalten, unternahm Guccio nochmals einen Fluchtversuch, wurde eingefangen, wegen zahlreicher Verbrechen (darunter auch der Falschmünzerei und der Sodomie) angeklagt und nach Neapel verbracht. Im dortigen Gefängnis schrieb er angeblich seine Memoiren, die in die „Istoria del Rel Giannino“ eingegangen sein sollen. Er starb vor 1369 (wahrscheinlich 1363). In diesem Jahr setzte seine Witwe Necca in Siena ein Testament auf.

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Der berühmte Geschichtsschreiber der Stadt Rom im Mittelalter, Ferdinand Gregorovius (1821-91) hielt die Erzählung der „Istoria“, soweit sie von den Abenteuern Guccios handelten, für bare Münze, denn er bemerkte, Guccio sei ein Mann „dessen Schicksal einen der wunderlichste Romane des Mittelalters bilden“3. Auch der renommierte Literat und Politiker Maurice Druon, Mitglied der Academie française, griff in seinem mehrbändigen Historiengemälde „Les rois maudits“ („Die unse1igen Könige“, erschienen 1955-73) die Darstellung der „Istoria“ auf. Andere Historiker hielten die „Istoria“ für eine bloße Fiktion. Sie verwiesen auf die inneren Unwahrscheinlichkeiten der Erzählung. Zu denken gibt auch, dass die vielen Unternehmungen Guccios in Italien, Ungarn und Frankreich kaum in anderen nennenswerten zeitgenössischen Quellen erwähnt werden. Die „Istoria“ enthält im Detail falsche Fakten. So kann der Vater oder Ziehvater Guccios 1316 nicht als Agent des Bankhauses Tolomei tätig gewesen sein, da dieses schon 1311 fallierte.4 Gegen all diese Zweifler versucht jedoch Professor Carpegna wiederum Folgendes ins Feld zu führen: Es gibt sehr wohl Quellen außerhalb der „Istoria“ (und den in ihr als Anhang erhaltenen Briefen Cola di Rienzis). In Siena ist ein Guccio Baglioni 1342-58 urkundlich bezeugt. 1359 wurde dort einem Mann das Bürgerrecht entzogen, weil er behauptete, königlicher Abstammung zu sein. Auch ein Brief Papst Innozenz VI. an Königin Johanna von Neapel spielt auf einen falschen Prätendenten an. Zudem verrät der Stil, in dem große Teile der „Istoria“ abgefasst sind, dass sie aus der Feder eines Kaufmanns geflossen sein müssen. Sie stehen in der Tradition der in Italien damals sehr verbreiteten Geschäfts-und Lebensresumées von Bankiers und Großhändlern bei Übergabe ihrer Firmen an ihre Nachfolger, sind also ohne literarischen Ehrgeiz geschrieben und nicht für eine weitere Öffentlichkeit gedacht. Die Passagen in diesem Stil sind als der Kern der „Istoria“ und die echten Memoiren Guccios zu werten. (Nach Professor Carpegna Falconieri. ) Demnach kann also zumindest angenommen werden, dass tatsächlich ein Mann in Siena existiert hat, der glaubte, eigentlich König von Frankreich zu sein. Es bleiben aber berechtigte Zweifel, ob dieser Sienese wirklich all die bunten Abenteuer erlebt hat, von denen die „Istoria“ zu berichten weiss.5

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Gregorovius Band 2, 2 S. 741. Gregorovius weist jedoch darauf hin, dass es keine zeitgenössischen Dokumente zu Guccio gebe. Zum Schicksal des echten Jean I. und dem Fall Guccio auch Bercé S. 343 Verschiedene Rezensenten werfen Carpegna Falconieri vor, allzu sehr auf die „Istoria“ einzugehen. So Rosa Capuano, in Recensito 12. 8. 2010, Taylor in Times Higher Education 18. 9. 2008, Noel Malcolm in Telegraph 16. 10. 2008 So resumiert Prunai (Dizionario Biografico degli Italiani), Lecuppre S. 238 verteidigt gegen Prunai die „Istoria“ als eher glaubwürdige Quelle

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Ein letzter Valois? „François III.“ 6 Vorbemerkung: Die Linie Valois des kapetingischen Hauses regierte Frankreich 1328 bis 1589. Unter den letzten drei Valois- Königen, den Brüdern Franz II. (1558-60), Karl IX. (1560-74) und Heinrich III. (1574-89), die unter dem Einfluss ihrer Mutter Katharina von Medici standen, versank Frankreich in das Chaos protestantisch-katholischer Religionskonflikte, der sogenannten Hugenottenkriege (1562-98), die ihren schaurigen Höhepunkt im Hugenottenmassaker der Bartholomäusnacht von 1572 fanden. Mit der Ermordung Heinrichs III. 1589 trat zu den religiös bedingten Wirren noch ein Thronfolgeproblem. >ach salischem Gesetz fiel die Krone an Heinrich von >avarra aus der bourbonischen Linie der Kapetinger, der aber als Führer der protestantischen Hugenotten von der katholischen Mehrheit der Franzosen als König abgelehnt wurde. Die katholische Partei („die Liga“) proklamierte einen katholischen Oheim >avarras, den Kardinal von Bourbon, als „Karl X.“. Der Kardinal fiel jedoch in die Hände seines >effen und starb interniert bei Poitiers 1590. >avarra trat 1593, um sich mit der Mehrheit seiner Untertanen auszusöhnen, zum Katholizismus über. >ach und nach legten die katholischen „Ligisten“ denn auch die Waffen nieder. >ur in der Champagne und in Burgund hielten sich ligistische Extremisten, verstreute Trupps, als „Lothringer“ und „Burgunder“ bezeichnet. Sie hofften auf Hilfe aus Spanien bzw. den spanischen >iederlanden, denn Heinrich IV. befand sich seit 1595 im Krieg mit Spanien. Bei diesen katholischen, in der Nähe von Reims und Soissons marodierenden Fähnlein fand sich 1593 ein etwa zwanzigjähriger junger Mann ein, der mit Begeisterung die rote Schärpe der Ligisten trug und seinen Kameraden versicherte, er wünsche nichts sehnlicher als eine Wiederholung der Bartholomäusnacht. Den Kryptohugenotten Heinrich von Navarra wollte er im Zweikampf töten. Nach der Auflösung seiner Truppe 1595 nahm er bei dem Landarbeiter Jean Foissier Quartier, stellte sich aber dann beim Archidiakon und dem Kantor des Reimser Domkapitels unvermittelt als Franz (François) III., König von Frankreich, vor. Er behauptete, ein legitimer Sohn König Karls IX. aus dessen Ehe mit Elisabeth von Österreich zu sein. Seine Großmutter, Katharina von Medici, habe ihn unmittelbar nach der Geburt 1572 gegen ein Mädchen ausgetauscht, um ihrem Lieblingssohn Heinrich (III.) die Thronfolge zuzuschanzen. Vielleicht aber habe auch Karl IX. diesen Austausch vorgenommen, um sein Söhnchen vor den Nachstellungen der skrupellosen Medici zu retten. Auf jeden Fall wurde der königliche Knabe dem Landedelmann Gilles La Ramée zur Erziehung anvertraut. Diesen Herrn hielt der heranwachsende François für seinen Vater, bis ihm La Ramée auf dem Sterbebett die Wahrheit enthüllte und ihm gleichzeitig die bitte6

Zu ihm und den Affären 1597: Bercé S. 153-167

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re Mitteilung mache, er könne ihm, da er nicht sein Sohn sei, nichts vererben als ein Pferd und eine Arkebuse. Damit solle er sein Glück versuchen. Die Familie La Ramée trieb den armen Jungen von Haus und Hof. Der misstraute der Geschichte seiner königlichen Herkunft zunächst, konnte es sich doch um das Gefasel eines in geistiger Verwirrung Sterbenden handeln. Aber in einem Gasthof in Châteaubriant, wo er übernachtete, füllte sich seine Schlafkammer plötzlich mit überirdischem Glanz und Stimmen riefen ihm zu, er sei der Sohn König Karls IX. Der angebliche König François erklärte sich vor den Reimser Domherren bereit, zum Beweis für die Wahrheit seiner Erzählung das berühmte königliche Skrofelwunder auszuführen. Es gelang ihm. Die verdutzten Geistlichen ließen ihn vorerst seiner Wege gehen. Er suchte in der nächsten Zeit Wallfahrtsorte und Gedenkstätten in der Umgebung auf, wo er das Skrofelwunder wiederholte. Ende 1595 begannen er und sein Hauswirt Froissier, dem inzwischen auch Visionen zur Echtheit François III. zuteil geworden waren, bewaffnete Banden zu sammeln, wahrscheinlich mit Hilfe katholischer Adliger aus der Region. Jetzt griff endlich Pierre Dumours, königlicher Rat und Intendant der Champagne durch. Anfang 1596 wurde François gefangengenommen und am 28. Februar von einem Gericht in Reims zum Tod durch den Strang verurteilt, nach vorher zu leistender öffentlicher Abbitte. Er appellierte an den höchsten Gerichtshof des Landes, an das „Parlament“ in Paris. Im Verhör weigerte er sich dort standhaft, etwaige Hintermänner seiner Unternehmung zu nennen. Das Parlament bekräftigte das Reimser Urteil. Am 8.März wurde „ François III.“ von der Kathedrale Nôtre Dame, wo er wohl die Abbitte leistete, zur Exekution auf den Grève-Platz gebracht. Einige der Reimser Richter müssen ihn für einen bloßen geisteskranken Narren gehalten haben. Deshalb wurde wahrscheinlich der Appell an das Parlament zugelassen. Allerdings machte der Prätendent keineswegs den Eindruck eines Geistesgestörten. Im Reimser Gefängnis gewann er durch seine Redegewandtheit und Liebenswürdigkeit die Zuneigung seiner Mitgefangenen und Wärter. Besucher, die aus Neugierde kamen, nahm er ebenfalls für sich ein. Er wurde mit Geschenken überhäuft. Beobachter des Prozesses in Paris billigten ihm zu, er habe etwas „Königliches“ an sich gehabt. Vielleicht haben die überraschenden Enthüllungen seines „Ziehvaters“ und die Verstoßung aus der Familie La Ramée den sensiblen jungen Mann derart traumatisiert, dass ihm seine tief verletzte Psyche jene königlichen Visionen vorgaukelte, die ihn subjektiv zu „François III.“ werden ließen. Ihm wurde zum Verhängnis, dass er trotz dieser Störung genügend Geisteskraft und Organisationstalent behielt, um in der politisch labilen Situation von 1595-96 nicht ganz ungefährlich zu erscheinen – statt als bloßer Narr abgetan zu werden.

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Ein 1597 auftretender angeblicher Sohn des Kardinals von Bourbon (jenes „Karl X.“ der Liga) und ein gewisser Sebastian Soudain, der sich für Karl IX. selbst ausgab, endeten dann nur noch im Irrenhaus. Die Zeit der politisch auch nur im Ansatz bedeutenden falschen Prätendenten war in Frankreich vorbei – genau wie in England etwa gleichzeitig schon die falschen Tudor- Eduarde und andere ähnliche Figuren kaum noch für voll genommen wurden. In den Wirren und Nachwirren der großen Revolution trat sehr viel später freilich noch einmal eine ganze Serie von Psychopathen und Hochstaplern auf, die sich als „Ludwig XVII.“ ausgaben, den früh im revolutionären Gewahrsam verstorbenen Sohn des 1793 enthaupteten XVI. Ludwigs und der Marie Antoinette. Keiner von ihnen erlangte politische Relevanz. Ihre Geschichte soll deshalb in einem anderen Zusammenhang behandelt werden.

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XI. Spanisches Vorbemerkung: Mit dem Zerfall des (west)römischen Reiches im Laufe der großen Völkerwanderung war Spanien unter die Herrschaft der Westgoten geraten. Deren Königreich wurde 711 von den Moslems überrannt. >ur im >orden des Landes hielten sich christliche Herren: so in dem schmalen („westgotischen“) später Asturien genannten Königreich an der >ordküste und in dem baskischen Gebiet von >avarra in den Pyrenäen. Karl der Große errichtete dann um Barcelona die „spanische Mark“, deren „Markgrafen“ sich bald von fränkischer Oberhoheit emanzipierten. Die christlichen Herrscher Asturiens (bald in Leon und Kastilien geteilt), von >avarra, von dem sich später Aragon löste, und Barcelona-Katalonien, hinzu kam noch die Grafschaft, später das Königreich, Portugal (von Leon abgetrennt), eroberten mühsam in Jahrhunderte langen Kämpfen, in der sogenannten „Reconquista“ (Wiedereroberung), die iberische Halbinsel von den Moslems zurück. Einer der Helden der „Reconquista“ war König Alfons I. von Aragon und >avarra, genannt „El Batallador“, der „Kämpfer“. Er regierte 1104 bis 1134. Der falsche Alfons1 von Aragon Der „Batallador“ war ein rätselhafter Mann2. In nahezu dreißig Schlachten siegte er über die Moslems. Seine größte Ruhmestat war die Wiedereroberung von Zaragoza am Ebro 1118. Sein Versuch, 1109 das christliche Spanien durch eine Ehe mit der Königin Urraca (sie führte sogar den Imperatorentitel) von LeonKastilien einer Union näher zu bringen, scheiterte jedoch kläglich. Die Ehe war unglücklich und kinderlos. 1110/14 wurde die Verbindung wegen zu naher Verwandtschaft, zur Erleichterung der Eheleute, kirchlich für ungültig erklärt. Alfons gab sich gelassen. Er meinte: „Ein Mann, der sich dem Krieg widmet, bedarf der Gesellschaft von Männern und nicht von Frauen“. Da sein Bruder Ramiro geistliche Würden anstrebte, also wahrscheinlich auch keine legitimen Erben hinterlassen würde, vermachte Alfons sein Königreich testamentarisch 1131 den Ritterorden der Templer und der Johanniter (später Malteser genannt) sowie den Chorherren vom Heiligen Grab in Jerusalem zu gleichen Teilen. Er hielt sie für berufen, den neuen „Kreuzzug“, den er 1134 gegen die spanischen Moslems eröffnete, notfalls zu Ende zu führen. Er wurde in der Schlacht von Fraga bei Lerida am 17. Juli 1134 verwundet und starb am 7. September an den Folgen, nicht ohne am 4. September nochmals sein merkwürdiges Testament bestätigt zu haben.3

1 2 3

Zu diesem und die Diskussion um seine „Realität“: Arteta passim Zum echten Batallador und seinen Nachfolgern: Vones S. 89, 108 f.,112 Das Testament behandelt Lourie passim, ebd. S. 638 obiges Zitat des Alfons

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Adelsversammlungen in Navarra und Aragonien gingen über die Verfügung des „Batalladors“ hinweg und erhoben neue Könige. So für Aragon Ramiro den Mönch, der unverzüglich heiratete und eine Erbtochter, Petronilla, zeugte. Sie wurde noch in der Wiege mit dem Erben der Markgrafschaft Barcelona (Katalonien) verlobt. Ramiro verschwand 1137 wieder ins Kloster. Die geprellten Orden ließen sich später abfinden. In Aragon regierte im Namen Petronillas und dann ihres Söhnchens (Alfons II.) zunächst bis zu seinem Tode 1162 Petronillas Verlobter bzw. Gemahl Raimund Berengar IV. von Barcelona. 1162 wurde Alfons II. für mündig erklärt. Alfons II. (er regierte 1162-1196), auch er ein bedeutender „Reconquistador“, erwies sich als ein würdiger Nachfolger des „Batallador“: und dennoch bedrohte ihn der Schatten seines großen Vorgängers. Schon bald nach 1134 kamen Gerüchte auf, Alfons I. sei im Getümmel der Schlacht von Fraga unerkannt unter den Gefallenen geblieben und man habe an seiner statt irgendeinen beliebigen Leichnam beerdigt, oder er habe die Schlacht sogar überlebt und sei, der Schande der Niederlage wegen, als einfacher Büßer nach Jerusalem gepilgert. Jedenfalls tauchte in der Regierungszeit Alfons II. ein älterer Mann in Aragon auf, der sich diese Gerüchte zunutze machte und behauptete, der zurückgekehrte „Batallador“ zu sein. Er trat sehr würdig auf und wusste alte Kampfgenossen Alfons I. durch allerlei Erzählungen gemeinsam bestandener Heldentaten von seiner Echtheit zu überzeugen. Besonderen Zulauf fand er bei der einfachen Bevölkerung der Städte, die Alfons I. einst vom Joch der Moslems befreit hatte. Auch die Geschichte seiner Büßerzeit fand Glauben. Der echte Alfons war schließlich ein recht eigenwilliger Charakter gewesen. Ältere Chroniken (vor 1500) berichteten über das Auftreten des falschen Prätendenten nur als ein Faktum ohne Gewähr und ohne genaue Zeitangabe, als bloßes Hörensagen. Nur der erste große „moderne“ spanische Geschichtsschreiber, Jeronimo de Zurita y Castro (1512-1580), stellte das Erscheinen eines solchen Betrügers als erwiesene Tatsache für das Jahr 1162 dar. Spätere kritische Historiker hielten Zuritas Bericht über den angeblich wiedergekehrten „Batallador“ wieder für bloße Fiktion. Zu auffällig erinnerte auch Zuritas Erzählung mit dem Verschwinden des Königs in der Schlacht, seiner Büßerzeit, seiner Wiederkehr an gängige Schemata. Zudem kursierte ein Hinweis auf einen falschen König Sancho (III.) von Kastilien, der um 1153 aufgetreten sein sollte und ausdrücklich mit dem angeblichen Alfons verglichen wurde, aber nachweislich nur die Erfindung des Chronisten Juan d’Osma war, der um 1220 schrieb. Die Mär vom falschen Alfons konnte ein ebenso fiktiver Parallelfall sein. Doch dann wurde das Fragment einer etwa zeitgenössischen Kleinchronik aufgefunden, in der für das Jahr 1181 von der Hinrichtung eines Schmiedes bei Barcelona berichtet wird, der sich für Alfons I. ausgab und großen Zulauf hatte. Und schon im 19. Jahrhundert tauchten Schreiben Alfons II. an König Ludwig VII. von Frankreich auf, in denen um die Auslieferung eines betrügerischen

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Greises und Hochstaplers gebeten wird, der sich nach Frankreich gerettet habe. Leider sind die Schreiben undatiert überliefert. Aus ihrem inhaltlichen Zusammenhang lassen sie sich aber um 1178 ansiedeln. Es ist also anzunehmen, dass der falsche Alfons danach tatsächlich ausgeliefert wurde oder von selbst nach Katalonien zurückkehrte. Durch diese Quellenlage wurde endlich die Ehre des großen Historikers Zurita wiederhergestellt, auch wenn seine Datierung und der Ort der Hinrichtung des Pseudo-Alfons, den er angibt – Zaragoza –, fraglich bleiben. Wenn es den falschen Alfons tatsächlich gab, so erhebt sich natürlich die Frage nach seinen Hintergründen. War er von den Ritterorden lanciert, die über ihn das Testament des echten Alfons wieder in Gültigkeit bringen wollten? War er von alt-aragonesischen Traditionalisten gestützt, die sich gegen die Vereinigung mit Barcelona-Katalonien sträubten? Wir wissen es nicht. Ein namenloser Prophet4 Spanien zu Beginn des 16. Jahrhunderts: durch die Heirat Isabellas von Kastilien mit Ferdinand von Aragon war das christliche Spanien schließlich doch geeint worden. 1492 hatte dann auch die Reconquista mit der Eroberung Granadas ihren Abschluss gefunden. Mit der Entdeckung Amerikas in spanischem Auftrag eröffneten sich dem vereinten Reich glanzvolle Zukunftsperspektiven. Es gab jedoch ein dynastisches Problem. Die Erbin Isabellas und Ferdinands, Juana, war mit dem Habsburger Philipp dem Schönen, dem Herren auch des burgundisch-niederländischen „Reiches“ verheiratet. Philipp war 1506 früh verstorben. Seine Witwe Juana verfiel in eine Gemütskrankheit, die sie regierungsunfähig machte. Ihr ältester Sohn Karl, geboren 1500, wuchs in den >iederlanden auf. Für die Geisteskranke und den abwesenden Minderjährigen regierte bis 1517 Ferdinand von Aragon, der Vater bzw. Großvater, auch in Kastilien. Als nach dessen Tod der Erbe Karl (seit 1519 als Karl V. dann auch römischdeutscher Kaiser) zum ersten Mal in Spanien erschien, wurde er als Fremdling empfunden. Auch er fühlte sich hier zunächst nicht heimisch. Er reiste so bald wie möglich wieder ab. Besonders in (Aragon-)Katalonien, wo man zudem noch die kastilianische Präponderanz im vereinten Spanien fürchtete, kam es zu Unruhen. Die Aufstände mussten 1521 blutig niedergeschlagen werden. In der noch immer unruhigen Region tauchte Ende 1521 ein junger Mann von etwa 25 Jahren auf, von robustem Körperbau, aber mit asketischen Gesichtszügen und blauen Augen, für einen Kastilianer, dafür hielt man ihn, recht ungewöhnlich, nicht für einen Habsburger. Er kleidete sich zwar schlicht wie ein Matrose, sprach jedoch sehr gewählt. Er trat als ehemaliger Eremit auf und be4

Zu ihm: Bercé S. 317-21

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gann in dem Städtchen Xativa zu predigen. Zu Anfang bestritt er den Thronanspruch des Habsburgers Karl nicht, forderte jedoch, dieser müsse sich die Krone erst noch durch Werke echter Frömmigkeit verdienen. Zu Beginn des Jahres 1522 gab er sich dann selbst als den wahren Erben Spaniens zu erkennen. Er beanspruchte, der Sohn des 1497 verstorbenen Infanten und Kronprinzen Juan, eines Bruders der wahnsinnigen Juana, und der Margarete von Flandern, einer Schwester Philipps des Schönen, zu sein. (Es hatte also 1497 eine spanischhabsburgische Doppelhochzeit gegeben). Margerete hatte jedoch nach dem Tode ihres Mannes tatsächlich nur ein Mädchen und dieses tot geboren. Der Prediger in Xativa behauptete nun, Margarete habe einen gesunden Knaben, nämlich ihn, zur Welt gebracht, den burgundisch-habsburgische Intriganten sofort gegen ein totes Mädchen ausgetauscht hätten. Kardinal Mendoza aus Valencia habe den Knaben vor weiteren Nachstellungen gerettet und bei einer Hirtenfamilie in Gibraltar versteckt. Die Bürger von Xativa und Alzira waren begeistert, den wahren Erben Spaniens bei sich begrüßen zu dürfen. Vor einer Massenversammlung in Xativa am 22. März 1522 verkündete der Umjubelte sein Regierungsprogramm, zu dem ihn die Propheten Elias und Enoch während mehrfacher Visionen inspiriert hatten. Es handelte sich im Grunde um die Einführung einer neuen Religion. Nach ihr offenbarte sich Gott nicht in drei, sondern in vier Personen. Neben Vater, Sohn und Heiligem Geist gebe es noch das „Heilige Sakrament“. Entsprechend teile sich die Geschichte in vier Weltzeitalter auf. Der Freitag sei der heiligste Wochentag. Dies konnte als Reverenz gegenüber dem Islam gedeutet werden. Andrerseits versprach der selbsternannte Prophet und Thronanwärter jedoch die Ausrottung der Moriskos, d. h. der im Zuge der Reconquista zum Christentum konvertierten Moslems, die angeblich heimlich dem Islam die Treue hielten. Ihre Güter sollten an die Armen verteilt werden. Dies vor allem sorgte für neuen Zulauf. An der Spitze seiner Anhänger zog der Prophet gegen Valencia. Aber in Burjasote wurde er von königstreuen Milizen abgefangen und im Kampfgetümmel getötet. Sein Kopf wurde am Stadttor von Valencia zur Schau gestellt, der Körper verbrannt. Zwei Schwärmer, die als „reys encubiertos“ – verborgene Könige - in seine Fußstapfen treten wollten, wurden ebenfalls hingerichtet.

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XII. Eine portugiesische Sehnsucht: Sebastian Vorbemerkung: Portugal, zunächst nur eine kleine Grafschaft im (nordspanischen) christlichen Königreich Asturien-Leon, hatte sich im 11. Jahrhundert verselbstständigt und im Verlauf der Reconquista zu einem eigenständigen Königreich erweitert. Im 15. Jahrhundert brachen seine Seefahrer auf der Suche nach dem Seeweg nach Indien zu ihren welthistorischen Entdeckungsfahrten auf. Aber um 1550 hatte Portugal bereits den Höhepunkt seiner geschichtlichen Glanzzeiten überschritten, die Epoche seiner großen Weltentdecker und Kolonisatoren, die einst nach Afrika, Indien, nach Ostasien und Brasilien ausschwärmten, war dahin. Man hatte sich auf ihren Erfolgen ausgeruht. Adel und Handelsbürger hatten sich in den goldenen Zeiten König Manuels (1495-1521) einen Lebensstil zugelegt, der jetzt längst nicht mehr ihren Einkünften entsprach und sie nun in Verschuldung trieb. Auch die Staatskasse leerte sich. Aber immer noch hing man den Träumen von großen Unternehmungen und ruhmvollen Abenteuern nach. Die Tragödie des echten Sebastian Der größte Phantast in dieser Hinsicht war der König des Landes selbst: Sebastian1. Im Grunde war der junge Herrscher, geboren 1554, seinem Großvater 1557 auf dem Thron gefolgt und 1568 für mündig erklärt, ein körperlich und seelisch krankes Geschöpf. Er war aus beinah inzestuösen Familienverbindungen hervorgegangen. Seine Eltern waren Geschwisterkinder, seine beiden Großmütter waren Schwestern gewesen und stammten ihrerseits bereits aus Vetterehen. Der Heranwachsende hatte seine körperlichen Gebrechen mit exzessiven Leibesübungen zu überwinden versucht. Überanstrengungen hatten ihn mehrfach aufs beinahe tödliche Krankenlager geworfen. Seine Bildung wurde Jesuiten überlassen, die ihn im Geist eines asketisch-fanatischen gegenreformatorischen Katholizismus erzogen. Ein Gerücht wollte wissen, der königliche Jüngling habe sogar ein Keuschheitsgelübde abgelegt, denn nur ein von sinnlichen Begierden unbefleckter Herrscher könne von Gott zu großen Taten für die Christenheit berufen werden. Sebastians Missions- und Tatendrang richtete sich auf das moslemische Marokko und die dahinter liegenden afrikanisch-heidnischen Länder. Vergebens warnten ihn seine Großmutter, sein Großonkel Kardinal Heinrich und sein Oheim Philipp II. von Spanien vor diesem Abenteuer. Sebastian sammelte, da die portugiesischen Kräfte für das geplante Unternehmen nicht ausreichten, ein Heer aus deutsch-niederländischen, italienischen, spanischen und englischen Söldnern und nahm, da in der Staatskasse Ebbe herrschte, große Kredite auf, so1

Zu Sebastian, seinem Afrikafeldzug und den Ereignissen in Portugal in dieser Zeit: Disney, S. 167-203, Livermore S. 151-167, Oliveira Marques S. 215-227

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gar bei jüdischen „Neuchristen“. Angeblich ließ er sich, trotz dieser fragwürdigen Vorbereitungen siegesgewiss, bereits eine prächtige Krone anfertigen, mit der er sich zum Kaiser von Afrika krönen wollte. Nach der Landung in Marokko führte er seine unzureichend verpflegte Armee gegen den Rat seiner erfahreneren Offiziere bei glühender Hitze sofort gegen den zahlenmäßig weit überlegenen marokkanischen Feind. Die Schlacht bei Alkazarquivir (arabisch: al-Qasr al Sagier) am 4. August 1578 wurde zur Katastrophe. Fast das ganze portugiesische Heer von 18 000 Mann wurde niedergemetzelt. Sebastian selbst verschwand im Kampfgetümmel. Der siegreiche Scherif von Marokko ließ auf dem Schlachtfeld nach ihm suchen. Ein portugiesischer Kämmerling, Sebastião de Resende, fand die nackte, durch sieben Wunden entstellte Leiche des Königs, andere gefangene portugiesische Edelleute bestätigten die Identität. Die Überreste wurden gegen ein hohes Lösegeld Ende 1578 an Philipp II. von Spanien übergeben und 1582 nach Belem in Portugal überführt. Die Katastrophe von Alkazarquivir stürzte Portugal in eine der größten Krisen seiner Geschichte. Nicht nur verschwand in dieser Schlacht die Blüte seines jungen Adels, auch die königliche Dynastie fand damit ihr Ende. Zwar regierte 1578-80 noch der Großonkel Sebastians, Kardinal Heinrich, aber von diesem älteren geistlichen Herrn waren keine Nachkommen zu erwarten. Ein unehelicher Vetter Sebastians, der zudem noch als Prior von Crato für den geistlichen Stand vorgesehen war, ließ sich zwar als Antonio I. 1580 zum König ausrufen, gewann auch einige Popularität, wurde aber von den Eliten des Landes nicht anerkannt. Er ging ins französische Exil und versuchte von dort aus immer wieder in Portugal Fuß zu fassen, starb aber 1595. Schon 1580 setzte sich König Philipp II. von Spanien, über seine Mutter ein legitimer Enkel König Manuels des Großen, als Erbe Portugals durch. Portugal wurde in Personalunion mit Spanien vereint. Es drohte auf die Dauer seine nationale Identität zu verlieren. An der Schwelle zu einem neuen goldenen Zeitalter hatte sich Portugal gewähnt. Es waren auch nicht nur die Pläne Sebastians gewesen, die solche Hoffnungen geschürt hatten. Schon seit etwa 1540 liefen Prophezeiungen um, die Portugal ein neues „fünftes Zeitalter“ des Glücks und des Ruhmes verhießen, unter einem Herrscher, der sich dem Volk aus dem Verborgenen offenbaren werde. Ein getaufter Jude, ein Schuster aus Trancoso, Gonçales Anes, genannt „El Bandarra“, hatte mit seinen volkstümlichen Versen oder „Trovas“ solche Orakelsprüche in Umlauf gebracht. Jetzt war ein hoffnungsvoller junger König plötzlich verschwunden: konnte er nicht aus dem Verborgenen wiederkehren, um, geläutert durch seine Missgeschicke, die Weissagungen der „Trovas“ zu erfüllen?2 2

Brooks S. 39-40, Livermore S. 165-66 gibt Hinweise auf Messias-Erwartungen portugiesischer Juden seit 1503, die der Schuster von Trancoso dann wohl ins Christliche uminterpretierte.

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Gerüchte, Sebastian habe Alkazarquivir überlebt, tauchten sofort nach der Schlacht auf.3 Geschürt wurden sie von einem Vorfall an den Toren des portugiesischen Küstenstützpunktes Arzila in Marokko. Dort hatten sich vom Schlachtfeld geflohene Herren als den König und sein Gefolge ausgegeben, um sich den zunächst verweigerten Einlass in die kleine Festung zu erzwingen. Zwar hatten sie ihre Notlüge eingestanden, aber in der Stadt hielten sich allerlei Vermutungen, zumal die Flüchtlinge auffallend hastig auf ein auslaufendes Schiff gebracht worden waren. Wenig später wurde im Norden Portugals ein Arzt Sebastians zu einem geheimnisvollen Kranken in das abgelegene Haus einer Dame gerufen, die mit dem Busenfreund des Königs, Christovão de Tavora, verwandt war. Der Arzt muss mysteriöse Andeutungen über die Person des Patienten gemacht haben, denn König-Kardinal Heinrich bestrafte ihn zumindest zeitweilig mit „leichter Galeere“. Die Begierde, mit denen alle diese vagen Vermutungen in der Bevölkerung aufgegriffen wurden, musste früher oder später das Auftreten irgendeines „Sebastians“ provozieren. Es ließ nicht allzu lange auf sich warten. Der Schelm von Peñamacor Ein etwa zwanzigjähriger fremder junger Mann erregte durch seine muntere Freigebigkeit, seine Bildung und seine Gewandtheit in vielen Dingen Anfang 1584 im Städtchen Albuquerque Aufsehen. Er musste etwas Besonderes sein. Vielleicht war der Geheimnisvolle niemand anders als der verschollene König? Zwar entsprach das Äußere des jungen Mannes mit dunklem Teint und braunen Haaren nicht dem Bild des Königs, und während der König eher missgebildet war, bestach der Jüngling durch seine „Schönheit“. Aber wer von den Bürgern hatte je den echten Sebastian zu Gesicht bekommen? Vielleicht der Pfarrer des Ortes, der dann auch den in seinen Augen ärgerlichen Fremden aus der Stadt vertrieb. Der ging über Alcobaça, vielleicht seinen Geburtsort, in das an der spanischen Grenze liegende Peñamacor. Zunächst spielte er dort den Eremiten. Aber seine Erzählungen über die Schlacht von Alkazarquivir und ein paar Brocken Arabisch, die er darin einflocht, schürten bald wieder den Verdacht, er sei der aus muslimischer Haft entflohene König. Die Kenntnis eleganter Tänze, seine Gesangeskunst, sein Guitarrenspiel sprachen für eine höfische Erziehung des fröhlichen Einsiedlers. Zwei weitere Fremde, die sich für den Busenfreund des echten Königs, Cristovão de Tavora, und für den Bischof von Guarda ausgaben, fanden sich ein und organisierten einen kleinen Hofstaat um den Eremiten. Der echte Bischof von Guarda war als Anhänger des Priors Antonio und Verbreiter der Prophezeiungen des „El Bandarra“ bekannt. 3

Zu diesen Gerüchten und den darauf folgenden Auftritten der vier falschen Sebastiane: Brooks passim. Eine Zusammenfassung der Ereignisse 1578-1603 gibt Bercé S. 23-68

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Die Regierung in Lissabon erfuhr von diesem bunten Treiben. Sie ließ den seltsamen Eremiten und seine Freunde verhaften. Der Guitarrenspieler wurde auf einem Maultier sitzend in Narrenkleidung nach der Hauptstadt geführt. Dort vor Gericht gestellt verschwieg er beharrlich seinen wahren Namen. Man vermutete in ihm den Sohn eines Töpfers, den es als Hutmacherlehrling oder Hutverkäufer nach Lissabon verschlagen habe. Zeitweilig sei er auch in ein Karmeliterkloster eingetreten, aus dem man ihn wegen seiner Aufsässigkeit verwiesen habe. Seine Gewitztheit verließ den Angeklagten auch vor den Richtern nicht. Er selbst habe sich nie als König Sebastian bezeichnet, und wenn er es geduldet habe, dass seine Anhänger ihn mit „Hoheit“ titulierten, so wolle er darauf hinweisen, dass sich jederman privatim von seinen Freunden nennen lassen dürfe, wie es ihm und ihnen gefiele. Seinen wahren Namen gab er nicht preis. Der Erzherzog – Statthalter Albrecht König Philipps von Spanien und Portugal begnadigte den jungen Mann, nachdem er am Pranger ausgestellt worden war, um seine Unechtheit zu beweisen, zur Galeere. 1588 rettete der Galeerensträfling sich dann von einem gestrandeten Schiff der großen Armada nach Nordfrankreich. Sein weiteres Schicksal ist unbekanntDer falsche Tavora und der falsche Bischof von Guarda wurden allerdings gehängt. Sie galten bei dem Erzherzog-Statthalter wohl als die eigentlichen Anstifter der Peñamacor-Affäre. Ein Bauern-Sebastian Viel ernster als der Eremit von Peñamacor trat knapp ein Jahr später ein Einsiedler bei Ericeira, etwas nördlich von Lissabon, auf. Sich selbst geißelnd und laut über seine Sünden und das bittere Schicksal klagend, das er über Portugal gebracht habe, erregte er bald großes Aufsehen. Er glich mit heller Haut und rötlichem Bart dem verschwundenen König. Er wurde bald allgemein für diesen gehalten, zumal man zu wissen glaubte, Sebastian habe für die Katastrophe von Alkazarquivir sieben Jahre Buße im Verborgenen gelobt, und jetzt, 1585, werde er sich wieder offenbaren. Ein reicher Gutsbesitzer, Pero Afonso, nahm die Sache des vermeintlichen Königs in die Hand. Er überredete den Eremiten, sich als Sebastian zu offenbaren und warb unter den Bauern der Umgegend eine beachtliche Leibgarde für ihn an. Proklamationen und Briefe mit königlichem Siegel, die die Wiederkehr des Königs verkündeten, wurden in alle Welt verschickt. Nichteinmal der Erzherzog-Statthalter Albrecht wurde davon verschont. Der schickte zwei Beamte zur Untersuchung der Angelegenheit nach Ericeira. Afonsos Leute warfen die unglücklichen Kommissare von den Steilklippen des Städtchens ins Meer. Pero Afonso ließ sich seinen Einsatz von seinem „königlichen“ Protegé fürstlich belohnen. Er erhielt den Titel eines Marqués de Torre Vedras und seine

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Tochter wurde zur künftigen Königin von Portugal ausersehen. Andere Helfer erhielten ebenfalls Adelstitel oder wurden mit hohen Stellungen, etwa der des Bürgermeisters von Lissabon, beglückt. Man plante einen Marsch auf Lissabon. Die etwa tausendköpfige Bauernarmee wurde jedoch von vierhundert Mann regulärer Truppen abgefangen und aufgerieben. Der Eremit und sein General Afonso wurden gefangen genommen. Die anschließende gerichtliche Untersuchung ergab, dass es sich bei dem falschen Sebastian um einen Matteus oder Gonçalo Alvarès, Sohn eines Maurers von der Azoreninsel Terçeira und entlaufenen Novizen eines Franziskanerklosters bei Obidos handelte. Am 16. Juni 1585 wurde er hingerichtet. Ihm wurde eine Hand abgehackt4, dann wurde er – wie auch Afonso – in Lissabon gehängt, seine Leiche gevierteilt und die Teile einen Monat zur Schau gestellt. In Ericeira wurden zwanzig weitere Rädelsführer aufgeknüpft, viele Mitläufer auf die Galeeren geschickt. In den Verhören hatte Alvarès seinen Betrug eingestanden, sich aber als echt portugiesischen Patrioten gebärdet, der nur den Weg für den wahren Erben Portugals, den Prior Antonio, vorbereiten wollte. Ob der Prior oder hochgestellte patriotische „Antonisten“ bereits die heimlichen Drahtzieher hinter der „sebastianischen“ Bauernbewegung um Ericeira waren, muss dahingestellt bleiben. Aber ohne Zweifel fühlten die „Antoniter“ sich von da an ermuntert, den im Volk verbreiteten „Sebastianismus“ für sich auszunutzen. Doña Anna d’Austria und der Pastetenbäcker Espinosa Im Oktober 1594 hörte der Alcalde (Bürgermeister-Polizeichef) von Valladolid in Spanien, Rodrigo de Santillán, von einem Fremden in der Stadt, der mit wertvollen Juwelen prahlte, aus einem Einhornbecher zu trinken pflegte, Reiterkunststücke vorführte und in einfachen Schänken seltsame Reden schwang. Als de Santillán den Fremden sprechen wollte, versuchte dieser zu fliehen. Er wurde verhaftet. Nach der Herkunft der Juwelen befragt, gab der des Diebstahls Verdächtigte, der sich als Gabriel d’Espinosa, Koch und Pastetenbäcker aus Madrigal vorstellte, an, die Edelsteine seien ihm von Doña Anna d’Austria anvertraut worden. Doña Anna lebte als Nonne in dem Augustinerinnen-Konvent „Nuestra Señora de Gracia la Real“ zu Madrigal in der Nähe von Valladolid. Sie war die uneheliche Tochter Don Juans d’Austria. Dieser illegitime Sohn Kaiser Karls V. wurde seinerzeit als der Held der Seeschlacht von Lepanto gegen die Türken (1571) gefeiert. Sein Halbbruder, König Philipp II. von Spanien, verlieh dem 1568 aus einer Beziehung Juans zu Maria de Mendoza geborenen Töchterchen 4

Nach Konrad Bund, Thronsturz und Herrscherabsetzung im Frühmittelalter, Bonn 1979, S. 565 war das Handabhacken schon im spanischen Westgotenreich die Strafe für Thron-Usurpation

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den Rang einer Exzellenz und den Namen „d’Austria (von Österreich)“, d. h. er anerkannte sie als „natürliches“ Mitglied der habsburgischen Familie. Mit sechs Jahren wurde sie ins Kloster geschickt. Die Verbindung Espinosas zu dieser vornehmen Nonne bestätigte sich, denn der rührige Alcalde Santillán fing zwei Briefe der Dame an den in seinem Gewahrsam sitzenden Pastetenbäcker ab, und zwei weitere Briefe, die von dem Beichtvater der Doña Anna stammten. Seltsamerweise wurde Espinosa in diesen Briefen von Doña Anna mit „Herr“ und von dem Beichtvater sogar mit „Eure Majestät“ angeredet. Dem Alcalde schien es angebracht, König Philipp II. über diese Merkwürdigkeiten zu informieren. Der König ordnete eine Untersuchung an, über deren Fortgang er sich im Detail informieren ließ. Die Verhöre Espinosas, des Beichtvaters Miguel dos Santos und der Doña Anna zogen sich über Monate hin, weil die Untersuchungen auf Portugal ausgedehnt wurden und es auch zwischen weltlichen und geistlichen Instanzen Zuständigkeitskonflikte gab. Die Aussagen der drei widersprachen sich zunächst. Espinosa behauptete, von dos Santos verführt worden zu sein, vor Doña Anna in die Rolle des verschollenen Königs Sebastian zu schlüpfen. Der Beichtvater seinerseits gab vor, der Pastetenbäcker habe sich ihm von selbst als König zu erkennen gegeben. Und Doña Anna meinte im Gespräch durch das Klostergitter Espinosa als ihren Vetter Sebastian erkannt zu haben. Die Folge dieser Unklarheiten war, dass man die beiden Männer im März 1595 der Folter unterwarf. Die hier erpressten Geständnisse widerriefen sie allerdings später. Eine schon 1595 veröffentlichte „Historia di Gabriel de Espinosa….“ basierte auf den wie gesagt widersprüchlichen und in ihrem Wahrheitsgehalt schwer einzuschätzenden Verhöraussagen, schmückte diese jedoch mit allerlei Hörensagen und Anekdoten weiter aus, was die Verwirrung um den falschen Sebastian von Madrigal noch weiter förderte. Die Aussagen einer gewissen Ines Cid, einer Gefährtin Espinosas, die man bis nach ihrer Niederkunft mit einem gesunden Knaben im Januar 1595 mit der Folter verschont hatte, bestätigten nur das bunte Wanderleben Espinosas, das sie mit ihm seit 1591 teilte. Je nachdem man welches Gewicht Verhörergebnissen, Aussagen unter Tortur und den in der „Historia“ verarbeiteten Gerüchten der „oral history“ beimisst, können verschiedene Bilder des Geschehens in Madrigal entworfen werden. Ein mögliches Bild wäre folgendes: Doña Anna, schon als Kind und nicht aus eigener Berufung zu einem klösterlichen Dasein bestimmt, wuchs zu einer empfindsamen jungen Frau heran. Ihre romantischen Phantasien kreisten schon früh um die tragische Gestalt ihres Vetters Sebastian. Ihr war es mehr als nur willkommen, einen Portugiesen, eben Miguel dos Santos, vom Hofe des verschollenen Heldenjünglings als Beichtvater und geistlichen Betreuer erhalten zu können.

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Miguel dos Santos war Hofprediger in Lissabon gewesen, war als Anhänger des Priors Antonio nach Spanien ausgewiesen worden und trat 1587 oder 1589 sein Amt bei den Nonnen von Madrigal an. Er ging auf die Sehnsüchte seines vornehmen Beichtkindes Doña Anna ein, indem er ihr von eigenen Traumvisionen erzählte. Er habe sie an der Seite Sebastians ins befreite Jerusalem einziehen sehen. Dann tauchte der ominöse Gabriel d’Espinosa in Madrigal auf. Vielleicht hatten sich er und dos Santos schon vorher in Lissabon kennengelernt. Auf jeden Fall hatte Espinosa ein bewegtes Leben hinter sich. Er hatte als Söldner in verschiedenen Ländern gedient und sich dabei allerlei Sprachkenntnisse und Fertigkeiten angeeignet. Jetzt eröffnete er in Madrigal eine Pastetenbäckerei, ließ aber Angestellte für sich arbeiten und führte das Leben eines wohlhabenden Müßiggängers. In seinem Schlepptau führte er eine Haushälterin oder Geliebte, Ines Cid und deren Töchterchen Clara Eugenia mit sich. Vielleicht waren die beiden sogar seine Ehefrau und Tochter. Sein geheimnisvolles Vorleben, vor allem auch eine gewisse Ähnlichkeit mit König Sebastian, brachten Miguel dos Santos wohl auf die Idee, ihn bei Doña Anna als den wiedergekehrten Helden ihrer Wunschträume einzuführen. Die unglückliche Nonne schluckte den Köder, obwohl dieser „Sebastian“ mit seiner Korpulenz, seiner Halbglatze und auch wegen seines Alters kaum ihrem Idealbild entsprach. Das Halbdunkel der vergitterten Besucherzelle im Kloster mochte hier retuschierend wirken. Sie überhäufte Espinosa und seinen Anhang mit Geschenken, besonders schloss sie die kleine Clara Eugenia ins Herz. Inzwischen unterrichtete dos Santos die Anhänger Dom Antonios in Portugal und Frankreich von der Wiederkehr Sebastians. Jener Arzt, Manuel oder Pacheco Mendes, der vor Jahren von König-Kardinal Heinrich auf die Galeere geschickt worden war, fand sich in Madrigal ein, blieb aber skeptisch. Leichter ließen sich die Boten des Grafen von Redendo gewinnen. Auch sollen Agenten Dom Antonios in Madrigal erschienen sein. Was das eigentliche Ziel der sich anbahnenden Verschwörung war, bleibt unklar. Der durchtriebene Espinosa wollte vielleicht nur Beute machen, um dann bei passender Gelegenheit unterzutauchen. Sein Verhalten in Valladolid deutet darauf hin. Doña Anna sah sich als zukünftige Königin von Portugal und Jerusalem. Sie soll sich heimlich bereits mit dem falschen Sebastian verlobt haben. Miguel dos Santos hegte als der wahre Kopf der ganzen Intrige zweifellos politisch konkretere Ambitionen. Es wird behauptet, er habe Espinosa nur eine Zeit lang – mit den Mitteln und dem Prestige der Doña Anna – als Sebastian hochspielen wollen, um ihn dann in der Versenkung verschwinden zu lassen, nachdem der angeblich wiedergekehrte und wieder verschwundene oder „verstorbene“ König Dom Antonio zu seinem legitimen Nachfolger erklärt hätte. Um Doña Annas Kasse für ihre Zwecke noch schneller zu leeren, erfanden Espinosa und dos Santos rasch noch einen Halbbruder der Leichtgläubigen. In

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Valladolid sollte ein weiterer illegitimer Sprößling Don Juan d’Austrias aufgetaucht sein, der dringend der Hilfe seiner Halbschwester bedürfe. Und so wurde Espinosa mit den verhängnisvollen Juwelen dorthin geschickt, die den Verdacht des Alcalden erregten und zur Aufdeckung all der seltsamen Machenschaften in Madrigal führten. Nach endlosen Verhören wurden im Juli 1595 die Urteile gefällt. Espinosa wurde am 1. August in Madrid gehängt, seine Leiche gevierteilt und zur Schau gestellt. Auf dem Weg zur Hinrichtung soll er die begleitenden Priester verspottet haben. Erst beim Anblick des Galgens zeigte er Reue. Miguel dos Santos wurde am 19. Oktober – man musste ihn erst seiner geistlichen Würden verlustigt erklären – in Madrid hingerichtet, sein Kopf in Madrigal präsentiert. Doña Anna, die erklärte, sie habe an den falschen Sebastian geglaubt und ihre eheliche Verbindung mit ihm von der Zustimmung König Philipps und des Papstes abhängig machen wollen, wurde in das Kloster Nossa Señora de Graçia in Avila verbannt. Sie erhielt Sprechverbot, Zellenarrest und jeden Freitag musste sie bei Brot und Wasser fasten, auch sollte sie ihr Leben als einfache Nonne ohne jedwede Privilegien fristen. König Philipp III. milderte 1598 das harte Urteil seines Vaters, und Doña Anna stieg zur Vorsteherin eines der reichsten Frauenklöster Spaniens auf. Sie wurde 1610 Äbtissin von Las Huelgas in Burgos und starb 1634. Ein letzter Sebastian Venedig 1598: im Rotlichtviertel der Stadt quartierte sich ein armer, aber vornehm wirkender Herr ein, der sich bei seinem Wirt als einen Portugiesen und „Ritter vom Kreuz“ (ein Orden, den König Sebastian 1577 gestiftet hatte) ausgab. Merkwürdigerweise weigerte er sich, Portugiesisch zu sprechen. Er habe schwere Schuld gegen sein Vaterland auf sich geladen und sei nicht mehr würdig, dessen Sprache zu gebrauchen. Der Wirt unterrichtete in Venedig weilende Exilportugiesen, Gegner meist des in Lissabon etablierten spanischen Regimes, darunter auch Juden, von dem seltsamen Gast. Sie strömten herbei und lauschten begierig den Erzählungen des „Ritters“ über die Schlacht von Alkazarquivir und seine langen Wanderungen durch ganz Europa, die ihn zuletzt nach Rom, Verona und Ferrara und schließlich nach Venedig geführt hätten. Seine Besucher wurden bald zu Bewunderern des vielgereisten Mannes. Seine Kleinwüchsigkeit, ein leichtes Hinken, ungleich lange Arme erinnerten äußerlich an Sebastian, und so kam bald das Gerücht auf, der König sei in Venedig aufgetaucht. Zwar gab es auch unter den venetianischen Portugiesen Skeptiker, aber ein so hochgestellter Herr wie Giovanni Domenico Marco, Erzbischof von Spoleto, nahm den „Ritter“ in sein Haus auf Murano. Vor dem geistlichen Herrn verfiel der Gast in Weinkrämpfe, sobald das Wort „Alkazarquivir“ fiel.

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Dem spanischen Gesandten bei der Republik Venedig, Diego de Mendoza, wurde dieses Treiben zuviel. Er forderte die Verhaftung des „Ritters“, da es sich um einen Betrüger aus Kalabrien handele. Sie erfolgte am 24. 11. 1598. In venetianischer „Ehrenhaft“ wurde der geheimnisvolle Mann während der nächsten zwei Jahre nicht weniger als achtundzwanzigmal verhört. Er gab sich jetzt selbst als König Sebastian zu erkennen. In den Verhören hielt er sich gut, er wusste über viele Hofinterna aus Lissabon Bescheid, nach Venedig angereiste Exilportugiesen glaubten, ihn wiederzuerkennen. Wie der echte Sebastian überzeugte der schmächtige Mann durch angeübte Körperkräfte. Er hob einen stattlichen Besucher mit einer Hand auf und trug ihn durchs Zimmer. Im Übrigen wusste er schier unglaubliche Geschichten über seine Wanderungen seit 1578 aufzutischen. Aus der Schlacht von Alkazarquivir war er angeblich über Arzila nach Portugal entkommen, dort hatte ihn die Scham über sein Versagen in ein anonymes Wanderleben getrieben, das ihn in durch alle Herren Länder führte, bis in das Reich des sagenhaften Priesterkönigs Johannes. Aber plötzliche Visionen und ein frommer Mitpilger hatten in endlich bewegt, nach Jahren der Buße, sich wieder als König erkennen zu geben. Er plante, sich deshalb an Papst Klemens VIII. zu wenden. Leider wurden ihm aber Beweise seiner königlichen Identität, die er dem Heiligen Vater überreichen wollte, entwendet, und so hatte er sich als verarmter Edelmann und Bettler nach Venedig durchgeschlagen. Sein Ruf breitete sich in ganz Europa aus. Die Häupter der „Antoniterpartei“ – der Prior selbst war 1595 gestorben – begannen sich für ihn zu interessieren. Ihr wichtigster Sprecher, João de Castro in Paris, schickte einen seiner Getreuen, den Dominikaner Estevão Carara, genannt de Sampaio, einen berühmten Gelehrten, nach Venedig. Der bekam zwar den vermeintlichen Sebastian nicht zu Gesicht, ließ sich aber von den Anhängern des Häftlings von dessen Echtheit überzeugen. De Castro war ein einflussreicher Mann, ein Enkel des ersten portugiesischen Vizekönigs von Indien. Er war mit den Prophezeiungen des „El Bandarra“ vertraut und hatte sie selbst in einer Schrift auf die Wiederkehr Sebastians bezogen. Jetzt wusste er König Heinrich IV. von Frankreich, einen Gegner Philipps von Spanien und Portugal, für den in Venedig erschienen Prätendenten zu interessieren. Das venetianische Gericht der „Fünf Weisen der Terra Firma“ ließ schließlich die Frage der Echtheit auf sich beruhen, verbannte aber den unbequemen Gast am 15. 12. 1600 aus dem Gebiet der Republik. Auf der Ausreise erwarteten ihn de Castro und sein Gefolge, darunter Dom Christophoro, ein illegitimer Sohn des Priors Antonio, bereits im venetianischen Padua. Hier kam es am 15. und 16. Dezember zu rührenden Szenen, die de Castro später als sein „EmausErlebnis“ beschrieb. Der Prätendent zeigte seine königlichen Körpermerkmale, darunter jetzt auch eine Warze am Fuß und den längeren rechten Arm. Dass sein Teint zu dunkel war und sein Portugiesisch sich als fehlerhaft erwies (er hatte

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sich wohl während der Haft etwas davon angeeignet), wurde mit seinen langen Wanderungen durch Afrika und alle Welt entschuldigt. Man beschloss, nach Frankreich zu gehen, nahm aber den Weg über Florenz. Beim dortigen Großherzog Ferdinand Medici intervenierte der spanische Gesandte Mendoza. Am Ostermontag, den 23. April 1601, wurde der angebliche Sebastian dem Gouverneur von Orbetello, einem Besitz der spanischen Krone in der Südtoskana, ausgeliefert. Er wurde in das damals ebenfalls mit Spanien verbundene Neapel gebracht. König Heinrich IV. ließ in Florenz gegen dieses Verfahren protestieren, und auch Papst Klemens VIII. hätte die Frage der Echtheit des Prätendenten lieber unparteiisch klären lassen. In Neapel wurde der Delinquent im Castel del Uovo einquartiert. Am 8. Mai nahm ihn der spanische Vizekönig, Graf Lemos, höchstpersönlich ins Verhör. Lemos hatte den echten Sebastian gekannt und konnte keine Ähnlichkeit bei dem Vorgeführten entdecken. Er ließ aber dessen Porträt anfertigen und nach Madrid schicken. Im Übrigen behandelte er den „armen Schelm“, wie er ihn nannte, recht zuvorkommend. Die Untersuchungen in Neapel ergaben, so wurde offiziell mitgeteilt, dass es sich bei dem angeblichen Sebastian um ein Individuum namens Marco Tullio de Taverna oder Catizzone/Carzone aus einem Städtchen in Kalabrien handelte. Aus Messina herbeizitierte Verwandte schworen, ihn wiedererkannt zu haben. Er war, so diese Zeugen, als Kaufmann nach Portugal gereist und dort von Dominikanermönchen zu seinem Betrug angestiftet worden. Im April 1602 wurde Marco Tullio zu „leichter Galeere“ verurteilt und am 30. des Monats in Narrenkleidern auf einen Esel gesetzt und begleitet von drei Trompetern durch Neapel geführt. Seine Anhänger blieben dem Unglücklichen treu. Die sogenannten Verwandten galten ihnen als bestochene Meineidige. De Castro machte die angeblichen Qualen des Königs in den Verließen von Neapel publik und verglich dessen Vorführung in den Straßen der Stadt mit der Verspottung Jesu in Jerusalem. Graf Lemos habe auf dem Sterbebett im Oktober 1601 noch die Echtheit „Sebastians“ bezeugt. Man nahm geheime Kontakte zu dem Galeerensträfling auf, der keineswegs auf die Ruderbänke geschmiedet worden war, sondern auf dem Schiff wie in einem milden Hausarrest gehalten wurde. Er soll sogar zwei Diener zugeteilt erhalten haben. Sein Verehrer de Sampaio wechselte Briefe mit ihm und versuchte, ihn in Verbindung zum Kommandanten des Königs in Südspanien, dem Herzog von Medina-Sidonia zu bringen. Die Sache flog auf, Marco Tullio wurde nach San Lucar bei Sevilla gebracht, gefoltert und gestand am 22. April 1603 auf der Streckbank endlich, Catizzone zu sein. Der Teufel habe ihn zu seiner Hochstapelei verführt. Am 23. September 1603 schnitt man ihm die Daumen ab – wohl eine Erinnerung an die alte Usurpations-Strafe des Handabhackens - und hängte ihn auf. Die Leiche wurde gevierteilt. Sein Mitver-

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schwörer Sampaio und einige andere Helfer wurden am 20. Oktober in Cadiz gehängt. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich über die Serie der falschen Sebastiane etwa Folgendes bemerken: Die ersten beiden Betrüger wurden anscheinend von dem im Volk verbreiteten „Sebastianismus“ getragen oder sogar in ihre Rolle gedrängt. Ihr relativer Erfolg inspirierte dann „antonistische“ und zum Teil „neuchristliche-jüdische“ Exilportugiesen oft hohen Ranges, die Experimente in Madrigal und Venedig zu wagen. Die Neuchristen oder Juden fürchteten eine Übertragung der streng antijudaischen spanischen Inquisitionsgesetze auf Portugal durch Philipp II. Espinosa und Marco Tullio konnten sich also auf ein ganzes Netzwerk von Helfern im Hintergrund stützen. Dieses aufzudecken war möglicherweise der Grund für die ewig langen Verhöre im Falle Madrigal, vielleicht auch für die zunächst äußerst milde Behandlung Marco Tullios. Die Vermutung, man habe diesen noch eine Zeit lang als Köder für seine Hintermänner gebrauchen wollen, liegt nahe. Auf den bis heute fortlebenden „Sebastianismus“, den Mythos von der Wiederkehr oder einer Reinkarnation des Retterkönigs Sebastian kann hier nicht weiter eingegangen werden. Die Serie der falschen Sebastiane hat sicherlich zu seiner Verfestigung beigetragen. Literarisches (achleben Die schöne Literatur Portugals, der sich mit den falschen Sebastianen ein überaus reizvolles Thema anbot, ist auf die Fragen nach diesen Hintergründen kaum eingegangen. 5 Sie greift vor allem die wegen der Doña Anna so romantische Geschichte des „Pastetenbäckers“ auf. 1746 erschien ein Dreiakter „El Pastelero de Madrigal“, der wahrscheinlich auf älteren Vorlagen fußte, der Autor ist nicht genau auszumachen. Zunächst werden darin die Erfolge der Verschwörer ausgemalt. Selbst der strenge Alcalde von Valladolid wird zuletzt umgarnt. Auf Espinosas Abenteuer wird breit eingegangen. Er erscheint als bewundernswert gerissener „Berufsschwindler“. (Doña Anna wird aus Respekt vor dem Königshaus nicht auf die Bühne gebracht. Und der Pastetenbäcker verstrickt sich als ein veritabler Don Juan noch in andere Liebeshändel.) Doch plötzlich erscheint unvermittelt der „steinerne Gast“. Ein Geist verdonnert Espinosa und dos Santos zu Geständnissen und sie nehmen das bekannte böse Ende. Das Stück hatte Erfolg, wurde erweitert und umgedichtet.

5

Zur literarischen Verarbeitung des Themas in Portugal: Brooks S. 120-31

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1835 veröffentlichte der junge Patricio de la Escosura den Roman „Ni rey ni roque“ (Nicht König, nicht Schwindler.) Bei ihm ist Espinosa wirklich Sebastian. Belege will der Autor hierfür im Familienarchiv einer Adelsfamilie gefunden haben, die von Clara Eugenia abstammt, hier Gemahlin, nicht Tochter „Sebastians“, einer Dame aus hochadligen Kreisen, die der Herumirrende in Rom geheiratet hat. Es werden dabei die Fälle Madrigal und Venedig zusammengewürfelt. Hauptbösewicht ist Philipp II., der nicht nur Espinosa-Sebastian und dos Santos auf den Richtplatz bringt, sondern sogar den biederen Alcalden von Valladolid als lästigen Mitwisser seiner Intrigen garottieren lässt. Hauptanliegen Escosuras, als eines bekannten Liberalen, war es, die absolute Monarchie in der Gestalt Philipps II. in ihrer moralischen Verkommenheit anzuklagen. Der anscheinend immer noch lesenswerte Roman wurde 1961 neu aufgelegt. Beim breiten Lesepublikum zunächst weit beliebter war der mehr als 600seitige Historienschinken „El Pastelero de Madrigal“ (1862) von Manuel Fernández y Gonzales mit zahlreichen Neuauflagen. Die Abenteuer Espinosas, dessen Identität dunkel bleibt, werden zum Anlass einer bunt-oberflächlichen Revue wenig zusammenhängender Begebenheiten in exotischer Draperie. Größere Beachtung verdient das Drama „Traidor, inconfeso y martir“ – Der ungeständige Verräter und Märtyrer - (1849) des spanischen Autors José Zorrilla y Moral6. Sebastian-Espinosa, hier eine Figur von hohem Seelenadel, streut in diesem Theaterstück halb ungewollt untrügliche Beweise für seine Echtheit aus, will aber die so gewonnene Anhängerschaft nicht in sein vorhersehbares Schicksal verstricken. Im Verhör nimmt er deshalb die Rolle des betrügerischen Pasteleros auf sich. In der deutschen Literatur hat sich die Schriftstellerin Adelheid Reinbold (1800-1839) dem Sebastian-Thema zugewandt. Ihr mehrbändiger Roman „König Sebastian oder wunderbare Rettung und Untergang“ wurde postum 1839 (Dresden und Leipzig) von ihrem Freund und Verehrer Ludwig Tieck, dem großen Romantiker, herausgegeben. Bei Reinbold überlebt der echte Sebastian zunächst unerkannt als Gefangener und Sklave eines Beduinenstammes. Ein junger Mitgefangener, mit dem Sebastian eine stark homoerotisch gefärbte Blutsbruderschaft eingeht, entpuppt sich glücklicherweise als verkleidetes portugiesisches Edelfräulein, das auf der Suche nach ihren bei Alkazarquivir vermissten Verwandten in moslemische Gefangenschaft geraten ist. Die beiden schließen einen Ehebund vor Gott. Diesem edlen Paar wird ein anderes Pärchen gegenüber gestellt. Fatima, die ehrgeizige und listenreiche Tochter eines marokkanischen Ex-Wesirs, glaubt in einem verwundeten Portugiesen, den ihr Vater und sie auf dem Schlachtfeld von Alkazarquivir aufgelesen haben, den verschwundenen König auszumachen. Sie drängt ihren Schützling in diese Rolle, weil sie hofft, 6

Kindlers Literaturlexikon Band X, Zürich 1970 S. 9504-05, dort auch Hinweise auf frühere Werke zum Thema: z.B. das Schauspiel „El pastelero de Madrigal“ von Jeronimo de Cuellar (1622- nach 1685)

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an seiner Seite trostlosen Haremsgeschicken entgehen zu können….Kurz, der Knoten für höchst romantische Verwicklungen wird geschürzt. Und nebenbei entwickelt die Autorin als Vorläuferin von Alice Schwarzer eine geharnischte Kritik des Islams aus präfeministischer Sicht. (Vielleicht hat sich Reinbold von einem Drama des Engländers John Dryden (1631-1700) „Don Sebastian, King of Portugal“ (1689)7inspirieren lassen. Auch bei Dryden überlebt Sebastian in moslemischer Gefangenschaft, wird in allerlei Intrigen verwickelt, sogar in einen Beinahe-Inzest, und endet als Eremit.) Nüchterner ging Ernst Penzoldt (1892-1955) in seiner Novelle „Die Portugalesische Schlacht“ (1930)8 das Sebastian-Thema an. Für ihn ist der echte König ein Beispiel fehlgeleiteten und schuldbeladenen Heldentums. Mehr als Anhang und Posse geht Penzoldt auf die falschen Sebastiane ein, deren Geschichten er etwas unhistorisch miteinander verflicht. So wird der Pastetenbäcker von Madrigal nach Peñamakor versetzt und am Ende mit einer Pension abgefunden. Ein zusätzlicher Hohn auf alles fragwürdige Heldentum. Reinhold Schneider (1903-1958) hat in der Erzählsammlung „Zeugen im Feuer“ ein Stück der „Donna Anna d`Austria“ gewidmet. (Erschienen postum 1979)9 Er hält sich dabei zunächst eng an die historischen Fakten, gönnt dem Liebespaar Anna-Espinosa jedoch am Ende einige Tage auf einem Landgut bei Madrigal, wo sich ihre Liebe erfüllt und sie umringt von ihren Anhängern königlich Hof halten. Sie wissen, dass dieses Idyll nur kurze Zeit dauern kann. Aber, um Hölderlin zu zitieren: „Einmal lebt ich wie Götter, und mehr bedarf’s nicht.“ Eine Devise, die nicht nur den Espinosa der Schneiderschen Erzählung, sondern auch andere Prätendenten inspiriert haben mag.

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Kindlers Literaturlexikon Band III, Zürich 1970 S. 2829-30 nachgedruckt in Ernst Penzoldt, Die Erzählungen. Jubiläumsausgabe zum 100. Geburtstag, 5. Band, Frankfurt am Main 1992 S. 66-129 Reinhold Schneider, Gesammelte Werke Band 4, Zeugen im Feuer. Erzählungen, Frankfurt am Main 1979 S. 174-202

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XIII. Balkanländer 1 Vorbemerkung: Keine Region Europas kann sich rühmen, eine buntere und bewegtere Geschichte aufzuweisen als die Balkanhalbinsel. Die Vielfalt an Völkern und Volkssplittern, die sich hier nach dem Ende der römischbyzantinischen Herrschaft fanden, miteinander rivalisierten, sich vermischten, ineinander verzahnten oder bekämpften, das Schicksal des Balkans als Begegnungs- und Konfliktraum verschiedenster Religionen bzw Konfessionen, seine Lage in den sich überschneidenden Einflusssphären benachbarter Mächte und ihrer jeweiligen Kulturen führten zu einem spannungsvollen, oft verwirrenden Auf und Ab der Herrschafts- und Staatsbildungen, politischer Umstürze und kriegerischer Verwicklungen. Es wäre ein Wunder, wenn in einem solchen Umfeld sich nicht auch das Phänomen der falschen Prätendenten kräftig entwickelt hätte. Eine auch nur annähernd vollständige Erfassung aller derartigen Vorkommnisse in der langen Geschichte der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Balkanreiche und -fürstentümer ist kaum möglich. Es muss bei ausgewählten Beispielen bleiben. Sie sollen grob chronologisch und nach Ländern geordnet vorgestellt werden. Bulgarien Im siebten nachchristlichen Jahrhundert stieß aus der Ural-Wolgaregion das Steppenvolk der Bulgaren, verwandt mit der finnisch-ugrischen oder TurkVölkerfamilie, auf den Balkan vor. In Kämpfen mit Byzanz schufen die Bulgaren ihr sogenanntes „erstes Reich“, das viel umfangreicher als das heutige Bulgarien war. Sie bildeten darin die dünne Oberschicht über einer Vielzahl slawischer Balkanstämme. Spätestens im 9. Jahrhundert. wurden die Bulgaren (von Byzanz aus, also griechischorthodox) christianisiert und „slawisierten“ sich. 972 gewannen die Byzantiner das eigentliche (heutige) Bulgarien zurück, doch hielt und erweiterte der bulgarische „Zar“ Samuel (972-1014) aus dem Hause der Komitopouli („Grafensöhne“) auf heute makedonisch-serbisch-griechischem Gebiet ein „westbulgarisches Reich“, das den Byzantinern noch lange schwer zu schaffen machte. 1018 unterlag aber auch dieses Reich Kaiser Basileios II., dem „Bulgarenschlächter“. Trotz seines blutrünstig klingenden Beinamens behandelte Basileios die besiegten Bulgaren-Slawen eher schonend. Sie wurden nicht dem harten byzantinischem (Geld)Steuersystem unterworfen, sondern durften wie bisher ihre herkömmlichen Abgaben in >aturalien entrichten. Die königliche Familie, nach Konstantinopel exiliert, durfte sich dort mit den (später kaiserlichen) Familien der Diogenoi, Dukas und Komnenen verschwägern, behielt also ihren fürstlichen Rang.

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Zar Peter oder Deljan?1 Ärgerlich für die so in Konstantinopel arrivierten Komitopouloi2 war allerdings 1040 das Auftreten eines bis dahin unbekannten Enkels des Zaren Samuel. Nach einer anderen Quelle begnügte dieser Mann sich allerdings damit, ein unehelicher Neffe Samuels sein zu wollen.3 Dieser angebliche Komitopoulos, ein gewisser Deleanos (Deljan, slawisch: „der Sieger“, in Byzanz auch Dolianos, griechisch: „der Betrüger“ genannt), in Wahrheit wohl ein aus Konstantinopel entlaufener bulgarischer Sklave, nutzte die Empörung im ehemaligen Reich seines „Großvaters“ (oder „Oheims“) über die neuerdings verfügte Einbeziehung dieser Gebiete in das byzantinische Geld-Steuersystem aus. Auch war man auf dem Balkan verärgert über die Lancierung griechisch-byzantinischer Kandidaten für den erzbischöflichen Stuhl in Ochrid, der bis dahin „einheimischen“ Bewerbern vorbehalten war. Deljan überzeugte die Bulgaren und Slawen von seinen Führerqualitäten und ließ sich in Belgrad unter dem Namen Peter (II.) zum „Basileios (Kaiser) der Bulgaren“ proklamieren. Er stieß mit seinen Truppen, die ihm bulgarische Adlige zuführten, bis in die Gegend von Thessalonike (Saloniki) und noch weiter nach Griechenland vor. Er scheint ein energischer Herr gewesen zu sein. Einen Rivalen, den er verdächtigte, ihm die Führung des Aufstandes streitig zu machen, ließ er nach einer „Volksabstimmung“ über die Machtfrage steinigen. Sein Anspruch, ein Enkel oder Neffe Samuels zu sein, schien nach seinen Erfolgen auf dem Balkan endlich auch durch die Komitopouloi in Konstantinopel anerkannt zu werden. Alousianos, ein echter Großneffe Samuels, schlug sich 1041 aus Byzanz zu ihm durch. Alousianos gab sich zunächst als einfacher Flüchtling aus, ließ aber nach und nach erkennen, wer er sei, und gewann so allmählich Anhang unter den Aufständischen. Ein schwarzes Muttermal wies ihn als echten Komitopoulos aus. Deleanos musste ihn schließlich als Partner und „Vetter“ anerkennen. Alousianos behauptete, aus Byzanz zu seinem „Verwandten“ geflohen zu sein, weil ihn die kaiserliche Regierung mit Korruptionsvorwürfen (er hatte ein Kommando in Armenien innegehabt) traktiert, unter Hausarrest gestellt und Güter seiner Frau konfisziert habe. Deljan vertraute auf die Feindschaft Alousianos’gegen Byzanz. Er beauftragte ihn sogar mit der Belagerung von Thessalonike. In Wirklichkeit war Alousianos, der sich das Vertrauen seines „Vetters“ erschlichen und Anhänger in dessen Heer gewonnen hatte, eher ein Agent der Byzantiner. Als echter Komitopoulos wollte er wohl auch dem Hochstapler das 1 2 3

Zu Deljan: Die byzantinischen Quellen Michael Psellos Kap.39, Kap. 45 ff. S. 74-80, Johannes Skylitzes S. 384-88. Cheynet S. 49-51, S. 388-89 Zu dieser Familie: A. Leroy-Molingham, Les Fils de Pierre de Bulgarie et les Cométopoules, in Byzantion 42, 1972 S. 405-19 Zonaras S. 79

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Handwerk legen, der die Position der Familie in Konstantinopel gefährden konnte. Vielleicht spielte er, verbittert über seine Behandlung in Byzanz, auch zeitweilig tatsächlich mit dem Gedanken, sich selbst anstelle Deljans an die Spitze des Bulgarenaufstandes zu stellen. Dies unterstellt ihm jedenfalls der byzantinische Historiker Psellos. Das Unternehmen gegen Thessalonike, mit dem er von Deljan beauftragt worden war, führte Alousianos, vielleicht absichtlich, ins Fiasko. Zurückgekehrt lockte er Deljan in eine Falle. Er lud den „Vetter“ zu einem Gastmahl, setzte ihn unter Alkohol und mit einem Küchenmesser schnitt er ihm die Nase ab und stach ihm die Augen aus, machte ihn also nach byzantinischem Brauch herrschaftsunfähig. Danach floh er ins Lager Kaiser Michaels IV., der sich gerade anschickte, obgleich todkrank, höchstselbst gegen die aufständischen Bulgaren zu ziehen. Der Kaiser nahm kurz darauf den geblendeten „Zaren Peter“ gefangen und brachte ihn nach der endgültigen Niederwerfung des Aufstandes, Ende 1041, im Triumphzug nach Konstantinopel. Das weitere Schicksal des Deleanos ist unbekannt, wahrscheinlich verstarb er, oder wurde hingerichtet, noch 1041 oder kurz danach. Alousianos, den Psellos als einen umgänglichen Herrn von bemerkenswerter Intelligenz lobt, wurde mit einem hohen byzantinischen Titel belohnt und Schwiegervater des späteren Kaisers Romanos IV. Diogenes. Ungarn: drei falsche Prinzen namens Andreas Die Ungarn oder Magyaren, von ähnlicher ethnischer und geographischer Herkunft wie die Urbulgaren, drangen am Ende des 9. Jahrhunderts unter ihrem legendären Anführer Arpad in die bis heute von ihnen besiedelten Ebenen am Mittellauf der Donau, das antike „Pannonien“, ein. Das gefürchtete Reitervolk beunruhigte mit seinen Plünderzügen lange Zeit den Balkan, Deutschland, >orditalien und sogar Frankreich. Erst nach der >iederlage auf dem Lechfeld bei Augsburg 955 verwandelten sich die Ungarn allmählich in ein friedlicheres Bauern-und Hirtenvolk. Ihr Herrscher Stefan I. leitete endgültig die Christianisierung ein und erhielt 1001 aus Rom die Königskrone. Unter der Dynastie der Arpaden entwickelte sich das Königreich zu einer beachtenswerten Mittelmacht feudaler römisch-katholischer Prägung, die auch auf Kroatien, Siebenbürgen und die Slowakei übergriff. Den Kontakt zum westlichen Abendland vertieften dynastische Verbindungen der Arpaden insbesondere nach Deutschland, aus dem man auch Missionare, Ritterorden und städtische wie bäuerliche Siedler ins Land zog, vor allem ins heute rumänische Siebenbürgen. Die so eingeleitete gedeihliche Entwicklung wurde jäh durch den Mongolensturm 1241 unterbrochen. Das Land wurde entvölkert, vom Osten drangen die von den Mongolen vertriebenen Kumanen, auch sie ein Steppenvolk, ein, und in dem verwüsteten Arpadenreich kämpften verfeindete Adelsfraktionen um die

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Macht. Die letzten Arpaden waren oft nur noch Spielball rivalisierender Magnaten. Der junge König Ladislaus (László) IV. „der Kumane“(geb. 1262, regierte 1272-90) – seine Mutter war eine Kumanin – floh schließlich zu seinem mütterlichen Volk, wollte sich dort zu einem zweiten Attila aufwerfen, dem Christentum abschwören und Ungarn, d.h. die Magnaten, unterjochen. Da er sich dazu auch noch mit den Petschenegen, einem noch wilderen Steppenvolk im Osten, verband, erschlugen ihn 1290 die eifersüchtigen Kumanen. Er hinterließ keinen Erben. Ein entfernter Verwandter, Andreas genannt „der Venetianer“, wurde nach einigem Hin und Her von den Magnaten auf den Thron gerufen. Immerhin stammte er in männlicher Linie von dem Arpadenherrscher Andreas II., gest. 1235, ab. Seine Mutter war eine Venetianerin. Gegen diesen Seitenlinien-Arpaden trat nun schon 1290 ein angeblicher Bruder Ladislaus’IV. auf. Tatsächlich hatte ein solcher Bruder, Andreas geheißen, existiert, war aber schon 1280 noch als Kind gestorben. Der falsche Arpade Andreas,4 der jetzt an der Westgrenze des Reiches mit bewaffnetem Gefolge erschien, überzeugte einige Magnaten von seiner Echtheit. Er zeigte ihnen im Bad ein Muttermal, wie es der vor zehn Jahren verschwundene Prinz besessen hatte. Auch die als Heilige verehrte Nonne Kinga, Vaterschwester Ladislaus’ IV. und des echten Andreas, anerkannte den Prätendenten. Doch der dem „Venetianer“ treue Magnat Georg Baksa trieb die Banden des falschen Andreas aus dem Land. Der Betrüger wurde wenig später von seinen eigenen enttäuschten Anhängern erwürgt. Oder vielleicht doch nicht? In Ungarn folgte nach dem Tode des „Venetianers“, der 1301 als letzter Arpade ohne männlichen Erben starb, eine Zeit der Thronwirren. Die Nachkommen verschiedener Arpadenprinzessinnen, die nach Böhmen, Polen, Österreich und Neapel verheiratet worden waren, lösten sich in rascher Folge auf dem Thron ab, bis schließlich ein Prinz aus dem in Neapel regierenden französischen Haus Anjou die Oberhand gewann. Dieser Karl Robert ( Karl I. oder Karobert, 1301/08-1342), Sohn des Königs Karl II. von Neapel und der Arpadin Maria, einer Schwester Ladislaus IV., der auch Ansprüche auf den Thron in Neapel erheben konnte, die er freilich seinem Onkel Robert (1309-43) abtrat, wurde wohl 1317 von eben diesem Onkel unterrichtet, dass im fernen Mallorca ein ungarischer Prinz Andreas5 aufgetreten sei. Handelte es sich um den falschen Andreas von 1290, der vielleicht doch nicht erwürgt worden war und jetzt wieder auftauchte? Jedenfalls beanspruchte dieser Andreas, ein Arpade zu sein. Robert von Neapel verlangte seine Auslieferung, und sein Schwager, König Sancho von Mallorca (1311-1324), kam dieser Aufforderung nach. Der angebliche Arpade wurde im Schloss Somma bei Neapel interniert. Unter der Aufsicht der Königinwitwe/mutter Maria, lebte er dort noch 1322. Falls der ominöse Andreas 4 5

Zu ihm Hóman, S. 223 Zu diesem überaus mysteriösen Prinzen: Lecuppre S. 39-41, S. 281

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doch ein Arpade und vielleicht der 1280 verschwundene Prinz gewesen sein sollte, hätte es sich bei seiner Wärterin also um seine leibliche Schwester gehandelt. Die ungarisch-neapolitanischen Querverbindungen des Hauses Anjou könnten noch einen weiteren falschen Andreas hervorgebracht haben. Könnten: denn über ihn berichtet nur eine fragwürdige Quelle, die „Istoria di Re Giannino“, die bereits bei der Geschichte Jeans I. von Frankreich vorgestellt worden ist. Jean I. alias Giovanni di Guccio Baglioni will bei seinem Besuch in Ungarn von einem Mann gehört haben, der sich für den jüngeren Sohn Andreas König Karls I. (Karoberts) und Bruder König Ludwigs des Großen von Ungarn und Polen ausgab. Der echte Anjou-Prinz Andreas6 war mit seiner Cousine Johanna I., Erbin von Neapel als Enkelin König Roberts, verheiratet worden. Diese Verbindung sollte die Erbstreitigkeiten zwischen den ungarischen und neapolitanischen Anjous beilegen. Andreas galt als ein Mann von düsterem Aussehen und Charakter und stand zudem unter dem Einfluss intriganter Mönche, die der Dichter Petrarca als „heilige Teufel“ beschrieb. Die lebenslustige Johanna kam mit diesem Gatten, der sich nicht mit der Rolle eines bloßen Prinzgemahls begnügen wollte, nicht zurecht. Bei einem Jagdausflug wurde Andreas im Konvent St. Peter in Majella bei Aversa, wo man übernachtete, im Schlaf überfallen und nach einem geräuschvollen Kampf von einem jungen Verwandten Johannas erwürgt (1345). Nach einer anderen Version wurde er mit der falschen Meldung, ein wichtiger Brief sei angekommen, aus der Schlafkammer gelockt und getötet. An der Verschwörung waren neben Johanna selbst, die abstritt, den Kampflärm vor der königlichen Schlafkammer und auf dem Balkon vernommen zu haben, mehrere der neapolitanischen Anjous beteiligt. Zwar versuchte man mit einem pompösen Begräbnis des Opfers den Mord zu vertuschen, aber ohne Erfolg. Schließlich wurden 1346 ein paar Helfershelfer als Sündenböcke grausam hingerichtet. Ludwig von Ungarn ließ sich nicht täuschen. Er klagte Cousine Johanna offen des Mordes an und eröffnete 1347-50 Rachefeldzüge nach Neapel. 1351 kam es zum Ausgleich: Johanna blieb Königin. Der ermordete Andreas soll nun 1359 wieder in Budapest aufgetaucht sein.7 So berichtet die „Istoria“. Er habe seinerzeit die Mordpläne seiner Gemahlin durchschaut und sein Bett einem Kammerherren überlassen, der dann statt seiner ermordet wurde. 6

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Zu ihm und den ungarisch-neapolitanischen Verflechtungen,: Türr, passim. Romantisch ausgemalt, aber quellentreu werden die Intrigen um Andreas von Ungarn bei Alexandre Dumas d. Ä. in seiner 1839-40 erschienen Serie berühmter Kriminalfälle, Band 6, Johanna von Neapel, verfügbar als Online-Text „Joan of Naples“. Zu diesem falschen Andreas: Lecuppre, S. 96, 230, 239, 308: Lecuppre, der den Quellenwert der „Istoria“ verteidigt, sieht auch in dem Bericht eines venetianischen Gesandten aus Buda einen Beleg für das Auftreten dieses Prätendenten.

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Ludwig verhörte, so die „Istoria“, den Hochstapler im Beisein des Hofes und selbst der Königinmutter Elisabeth, die ihren Sohn Andreas 1343 in Neapel besucht hatte und ihm dabei einen kostbaren Ring als Talisman angesteckt haben wollte. Der Verhörte konnte dieses Beweisstück für seine Identität anscheinend nicht vorweisen. Er wurde als ein Schuster aus Böhmen entlarvt, wurde geschoren, man schlitzte ihm die Ohren auf und seine Nase wurde zerquetscht. So wurde er drei Tage ausgestellt. Er starb wohl an den Folgen dieser Behandlung. Wollte man mit der Entstellung des Delinquenten dessen frappante Ähnlichkeit mit dem Prinzen Andreas unkenntlich werden lassen? Sie hätte dem Publikum trotz allem zu denken geben können. König Wladislaw. Ein polnischer Ungarnkönig auf Madeira? 8 Schon der ungarische Anjou Ludwig „ der Große“ (1342-82) hatte als Sohn der polnischen Prinzessin Elisabeth seit 1370 die Krone Polens getragen. Die Verbindung der beiden Reiche war dann zwar wieder zerbrochen, doch mochte die Erinnerung daran 1440 einen Teil der ungarischen Magnaten um Johann Hunyadi dazu bewegen, den erst sechzehnjährigen König von Polen, Wladislaw Jagiello, ins Land zu rufen, gegen einen noch zu erwartenden Thronfolger aus der Habsburger Dynastie, den die Königinwitwe Elisabeth des letzten ungarischen Königs ( und als Enkelin Ludwigs d. Gr. eigentliche „Erbin“ Ungarns) vielleicht unter dem Herzen trug. Begünstigt wurde die Kandidatur Wladislaws von der Kurie, die sich von einer Vereinigung der beiden osteuropäischen Reiche die Errichtung eines Bollwerks gegen die zunehmende türkische Gefahr erhoffte, vielleicht sogar die Chance zu einem Kreuzzug gegen die Muslime. Der fällige Kampf gegen die Elisabeth- oder Habsburger-Partei in Ungarn ermöglichte jedoch erst 1443 einen Feldzug gegen die Türken. Er verlief siegreich, die Türken wurden zurückgeworfen und anerkannten ihre Niederlage in einem Waffenstillstands-oder Friedensvertrag, der ihnen jedoch eine starke Stellung auf dem Balkan beließ (1444). Wladislaw gab sich damit zufrieden, doch dann gewann der päpstliche Legat Kardinal Giuliano Cesarini den ehrgeizigen jungen König für die Fortsetzung des zum „Kreuzzug“ deklarierten Unternehmens. Serben, Rumänen (Walachen) und vor allem die mächtige Seerepublik Venedig seien für das Unternehmen bereits gewonnen. Die venetianische Flotte könne den Übergang der türkischen Hauptarmee von Anatolien nach Europa verhindern. Bedenken wegen der eben geschworenen Friedensbzw. Waffenstillstandseide seien angesichts der einmalig günstigen Lage hintanzusetzen, der Papst könne den König von seinen Friedensschwüren entbinden. Und so zog Wladislaw guten Mutes wieder in den Kampf. Sein Heer aus Polen, 8

Zum echten König Wladislaw (Ladislaus) von Polen und Ungarn: Bues S. 74-79.

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Ungarn, Serben und Rumänen und sogar einigen türkischen Söldnern, etwa 25 000 Mann, stieß bei Varna 9an der bulgarischen Schwarzmeerküste auf die Türken unter Sultan Murad II. mit 65 000 Mann. Die Venetianer hatten nicht nur nicht den Übergang des osmanischen Heeres nach Europa verhindert, sie hätten den Türken sogar, so behaupteten ihre Feinde, gegen gute Bezahlung beim Übersetzen Hilfe geleistet (Es waren wohl eher die alten Rivalen der Venetianer, die Genuesen). Und so erschien die türkische Hauptarmee, übergesetzt aus Kleinasien, vor Varna. Trotz dieses Verrates einiger Christen und dem Ausbleiben der Venetianer wagte Wladislaw die Schlacht. Das Waffenglück schien ihn zu begünstigen, doch dann verließen die Rumänen-Walachen das Schlachtfeld, um das türkische Lager zu plündern. Sie fehlten im Hauptkampf. Vergebens versuchte der junge Heldenkönig mit 500 seiner schweren polnischen Reiter den Tag mit einem Angriff auf das Janitscharen-Fußvolk des Sultans im Zentrum der Schlacht zu retten. Der König verschwand, wie auch sein unseliger Berater Kardinal Cesarini, im Kampfgetümmel. Später überbrachte einer der Janitscharen, Chodscha Kazer, Sultan Murad den Kopf des Königs. Er wollte Wladislaw vom Pferd gerissen und getötet haben. Murad ließ die Trophäe in Honig konservieren und später auf dem Heimmarsch und schließlich in seiner Residenz in Bursa (Kleinasien) aufgespießt zur Schau stellen. Der übrige Leichnam und die Prunkrüstung des Königs wurden nie gefunden. 10 Heute schmückt ein „Ehrengrab“ Wladislaws das alte Schlachtfeld bei Varna. Auf der polnischen Königsburg Wawel in Krakau wurde 1906 ein Kenotaph zur Erinnerung an den Heldenkönig errichtet. Einige Zeit nach der Schlacht von Varna geisterte das Gerücht durch Europa, Wladislaw lebe noch. Die Venetianer, denen man (in Thessalonike?) das Haupt des Gefallenen gezeigt hatte, erzählten von seinem Blondhaar. Aber Wladislaw war dunkelhaarig gewesen. Die angebliche türkische Trophäe war also vielleicht kein Beweis für seinen Tod. Man wisperte von einer Bußfahrt Wladislaws nach Jerusalem, wegen seines gebrochenen Waffenstillstands- oder Friedens-Eides.

9 10

Zur Schlacht von Varna: Babinger passim Die annähernd zeitgenössischen Quellen geben recht unterschiedliche Einzelheiten zur Schlacht. Der deutsche Dichter Michel Beheim (1420-ca. nach 1470) z. B. beschuldigt in seinem epischen Gedicht über König „Pladislavo“ die Venetianer des Verrats. Der König sei erst nach seiner Gefangennahme geköpft worden, sein Leib soll in einer orthodoxen („kriechischen“) Kapelle bestattet worden sein. Der Legat sei in Adrianopel gehäutet worden. Beheim beruft sich dabei auf einen Augenzeugen, den deutschen Söldner Hans Magest, der nach 15 Jahren aus türkischer Gefangenschaft heimgekehrt war.

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Im böhmischen Städtchen Stadice fand ein Mann wenige Monate nach Varna viel Zulauf, der sich für den „wiedergekehrten“ Wladislaw ausgab.11 Da er aber auch „König Arthur“ sein wollte, entlarvte er sich als schlichter Geisteskranker. Später erregte ein Eremit im Rheinland Aufsehen, den man ebenfalls für Wladislaw hielt. Polnische Adlige eilten herbei, um ihm zu huldigen. Er entpuppte sich als ein gewöhnlicher Landstreicher namens Jan Wilczyny Ryczywolu Rad. Am meisten Beachtung fand ein Heimkehrer aus türkischer Gefangenschaft, der 1459 in Posen auftauchte, sich durch vornehme Haltung auszeichnete und intime Kenntnisse des Lebens am polnisch-ungarischen Hofe vorwies. Auch er behauptete, Wladislaw zu sein. Der Gouverneur von Posen, Luke Hill, machte in ihm jedoch einen alten Bekannten, den adligen Herren Mikolaj Rychlik, aus, mit dem zusammen er vor langer Zeit am Hofe Wladislaws gedient hatte. Hill ließ ihn verhaften und forderte seine Hinrichtung. Andere polnische Herren protestierten dagegen und forderten eine Untersuchung des Falles durch den Reichstag. Auf dieser Reichsversammlung sprach sich die Königinmutter Sofia gegen den Prätendenten aus. Rychlik wurde mit einer Papierkrone an den Pranger gestellt und mehrfach ausgepeitscht, doch verzichtete man auf eine Hinrichtung. Wahrscheinlich hatte man feststellen müssen, dass Rychlik, in der harten türkischen Gefangenschaft seelisch erkrankt, in die Wahnvorstellung verfallen war, er sei der König, an dessen Seite er in Varna gekämpft hatte. Auch mochte sein hoher Stand berücksichtigt worden sein. Er starb noch 1459 im Gefängnis. Ein adliger Böhme, Lev von Rosmital, will dann 1466 im spanischen Medina del Campo den herumirrenden Büßer-Eremiten Wladislaw entdeckt haben. Der Eremit wies wie der König einen Fuß mit sechs Zehen auf. Allerdings schien er sehr vergreist.12 Eine andere Legende rankte sich um den geheimnisvollen „Ritter des Ordens der Hl. Katharina vom Sinai“ Henrique Allmão (Heinrich den Deutschen)13, der zur Zeit des portugiesischen Königs Alfons V. (genannt „der Afrikaner“, 1438/49 - 1481) auf Madeira auftauchte. Polnische Franziskaner sollen ihn als König Wladislaw erkannt haben, worauf Alfons ihn nach Portugal berief. Auf der Rückfahrt nach Madeira ertrank der mysteriöse Mann bei einem Schiffsunglück. Ein Sohn des Ritters kam angeblich ebenfalls auf hoher See ums Leben – bei der Reise nach Polen. In der Kirche Madalena del Mar zu Funchal auf Madeira findet sich ein Votivbild, die Großeltern Jesu, Anna und Joachim darstellend, wohl gestiftet von einer vornehmen Dame namens Anna, bei der Henrique sich einquartiert 11 12 13

Über die in Böhmen, Polen und Deutschland auftretenden falschen Wladislaws: Andrzej Nowak und Dariusz Osowski, Album Polski (Online-Text) Lecuppre S. 93-94 Zu Henrique: Artikel Wladyslaw III. von Varna in Wikipedia, dort weitere Links zu dieser portugiesischen Legende.

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hatte. Joachim soll die Züge König Wladislaws tragen. War Anna seine Geliebte? Waren sie gar verheiratet? Die Gestalt eines in einer Schlacht gegen die Ungläubigen verschwundenen und später als Büßer wiedergekehrten jungen Heldenkönigs ist anscheinend ein Lieblingsthema iberischer Legendentradition. Man denke an Alfons von Aragon oder an Sebastian von Portugal. Rätselhaft bleibt, warum dabei auch an den im fernen Varna verschwundenen Polenkönig legendenhaft angeknüpft wurde. Einer der größten spanischen Dichter, Lope de Vega (1562-1635), hat allerdings in sein Historiendrama „König ohne Königreich (Rey sin reino)“ 14 die Gestalt Wladislaws (beim ihm „el principe“, der Fürst, ein Bruder König Kasimirs von Polen) eingearbeitet. Als göttliche Strafe für seinen Eidbruch, die Sultan (A)murat auf ihn herabbeschwört, wird er schon am Ende des 2. Aktes auf dem Schlachtfeld von seinen Vasallen verlassen. Er stürzt sich den Türken mit dem Ruf entgegen: „Sterben will ich als König, als Soldat, mein Leben den Türken verkaufend, ich bin Ladislaus, der König.“ Ob er den ersehnten Heldentod gefunden hat, lässt de Vega offen. Das Schicksal dieses Königs hat auch im übrigen Europa Dichter inspiriert. In Deutschland besang etwa Michel Beheim (1420- nach 1470) den Helden „Pladislavo“. In diesem Sinne konnte der große polnische Renaissance-Poet Jan Kochanowski (1530-84) dichten: „Seine Gebeine sind in keinem heimatlichen Grab bestattet, sein Grab ist Europa.“15

14

15

Das Drama bezieht sich auf den Kind-König Ladislaus Postumus von Ungarn und Böhmen (1440-56), dessen Erbansprüche durch die Wahl Wladislaws III. zum König von Ungarn zunächst hintangesetzt wurden. Zitiert nach Bues S. 79

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XIV. Balkanländer 2: Rumäniens fragwürdige Moldau-Fürsten Die ältere Geschichte Rumäniens und speziell seiner nördlichen Teilregion, der Moldau, ist aucht geschichtsinteressierten Mitteleuropäern kaum bekannt. Und selbst in der rumänischen Geschichtswissenschaft gab es lange Dispute darüber, ob die Rumänen, >achkommen der im römischen Imperium romanisierten und später orthodox christianisierten Balkanvölker, vor allem der Daker, ihr heutiges Siedlungsgebiet (Rumänien) unter der Hoheit häufig wechselnder Herren verschiedenster Herkunft ständig beibehalten, oder sich im frühen Mittelalter als Wanderhirten in die Karpaten und andere Balkangebirge zurückgezogen hätten. Von da aus hätten sie erst seit dem 14. Jahrhundert das heutige Rumänien wiederbesiedelt und in den sogenannten „Donaufürstentümern“ Moldau und Walachei unter eigenen Fürsten politische Selbstständigkeit gewonnen. Die Fürsten, auch „Hospodare“ (Gospodare, d.h. „Herren“) oder „Woiwoden“ („Anführer des Volkes“) genannt, wurden von Versammlungen des Adels (der Bojaren) und der hohen Geistlichkeit durch Akklamation auf den Thron gehoben. Jedes männliche Mitglied der Fürstenfamilie kam als Bewerber in Betracht. Es gab also keine streng geregelte Erbfolge. Vielfache Thronwirren waren die Folge. Hinzu kam, dass die benachbarten größeren Mächte, d. h. UngarnSiebenbürgen, Polen, das Osmanische Reich, die im Laufe der Zeit alle eine viel umstrittene Oberhoheit über die Donaufürstentümer reklamierten, in diese Wirren eingriffen, um ihnen angenehme Kandidaten durchzusetzen. Der Stuhl oder Thron der Donaufürstentümer war mit beträchtlichen Einkünften verbunden. Beide Länder erlebten im 15. und 16. Jahrhundert eine wirtschaftliche Blüte. >ach dem Fall Konstantinopels 1453 galten die Hospodare zudem neben dem weit entfernten Großfürsten in Moskau als die weltlichen Beschützer der orthodoxen Christenheit in der >achfolge der byzantinischen Kaiser. Sie umgaben sich mit entsprechendem Zeremoniell.1 Daran änderte sich auch nichts, als sie unter eine zunächst lockere türkisch-osmanische Oberhoheit gerieten. Stefan der Große, Woiwode der Moldau (1457-1504), beugte sich zwar in den Verträgen von 1456 und in den Jahren nach 1486 der türkischen Übermacht, zahlte auch seit 1492 dauernd einen geringen Tribut von 4000 bis 5000 Golddukaten, rühmte sich aber dennoch ein „athleta Christi“ zu sein. Schon unter seinem ersten >achfolger wurde jedoch der Tribut verdreifacht, und seit 1538 verlangte die hohe Pforte (wie zuvor die Polen) ein Mitspracherecht bei der Fürstenwahl. Der gewählte Fürst musste sich in Istanbul persönlich vorstellen und dort feierlich inaugurieren lassen. Er erhielt die „rote Fahne“, eine Standarte mit zwei Pferdeschweifen und das Ehrengewand eines osmanischen Statthalters. Die Tributschraube wurde weiter 1

Zu den Zeremonien bei der Einsetzung der Hospodare Jorga, 1905 S. 19-20, 24, ihr Auftreten in Konstantinopel-Istanbul S. 40, auch Kantemir S. 18-20, S. 22

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angezogen. 1593 forderte die hohe Pforte bereits 65 000 Golddukaten. Dazu kamen jährliche „freiwillige Geschenke“ fast in derselben Höhe. Kein Wunder, dass die Woiwoden sich gelegentlich gegen dieses Joch auflehnten, worauf Istanbul auf ihren Sturz hinarbeitete und einen gefügigeren Prätendenten lancierte. Zeigten sich die Fürsten jedoch allzu willfährig gegenüber den osmanischen Oberherren, liefen sie Gefahr, durch ihre Bojaren und/oder durch Interventionen aus Ungarn-Siebenbürgen bzw. Polen verjagt zu werden. Angesichts der sich daraus ergebenden häufigen Thronwechsel schien es auch wagemutigen Abenteurern verlockend, sich unter dem Vorwand irgendeiner Verwandtschaft mit dem alten Fürstenhaus der Mușat-Rareș um die Woiwodschaft über die Moldau zu bewerben. Einige dieser fragwürdigen Gestalten errangen zeitweilig tatsächlich die Herrschaft über das Land. Schon im 15. Jahrhundert hatten sich im Hinblick auf ihre Herkunft umstrittene Anwärter auf die Fürstenstühle der Walachei und der Moldau geschwungen. Die Diskussion um die Echtheit dieser Fürsten und Thronbewerber hier darzulegen, wäre ein allzu aufwendiges und mühsames Unterfangen. Erwähnt sei nur, dass selbst die Abstammung Stefans des Großen unklar ist. Umstritten war auch Peter Rareș, (regierte 1527-38 und 1541-46) der allenfalls als ein illegitimer Sohn Stefans von einem polnischen Fischerweib gelten konnte. Auch Fürst Alexander (1552-61, 1563-68), nach seinem Geburtsort „Lapușneanu“ genannt war bestenfalls nur ein illegitimer Enkel des großen Stefan. Er legitimierte sich durch die Ehe mit Ruxandra, einer Tochter des Rareș. Zu den verwirrenden Familienverhältnissen der rumänischen Fürsten bemerkte der Chronist Mathias Miles (1619-86) aus Siebenbürgen: „Wenn ihr Wayda (-Woiwode-) mit frembden Weibern zuhält ihrem Türckischem Gebrauch nach/ außer ihrer Ehe-Frawen und solche von ihnen beschwängert werden/ nehmen die Kalugen (-Mönche-) stracks solche Bastarde zu sich/ nehren sie in ihren Klöstern/ und bezeichnen sie etwa mit einem Ken(n)-Mahl an ihren Leibern/ sie nachmahlen unfehlbar zu erkennen/ und von andern gemeinen Leuth-Kindern zu unterscheiden: Und wenn nachmahls ein Wayda ohne Erben abkahm/ wählten sie einen andern Herren über sich aus Denselbigen.“2 Mit dem Sturz des Lapuşneanu 1561 setzten mehrere Jahrzehnte währende Thronkämpfe ein, die zu einer wahren Inflation solch dubioser Thronbewerber führten. Der große rumänische Historiker Nicolae Jorga (1871-1940) versucht dieses Phänomen wie folgt zu fassen: „…rumänische Fürstensöhne gab es stets genug, und nach jedem Herrscher, der einige wenige Tage geboten hatte, erschien noch eine ganze Rotte neuer: Betrüger wussten außerdem den Unkundigen, an die sie sich wandten, oder den Bestochenen allerlei alberne Fabeln zu erzählen und verdoppelten noch die schon an sich beträchtliche Zahl…“. Zu den 2

Miles S. 79

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Betrogenen, die solche falschen Bewerber für sich gewannen, zählt Jorga vor allem einfache Bauern zwischen Pruth und Dnjestr. Zu den Bestochenen wären eher die Kosakenhorden aus der Ukraine jenseits des Djnestrs zu rechnen, die von solch eher grobgestrickt-bäuerlichen Prätendenten mit der Aussicht auf einen Plünderzug in die Moldau angeworben wurden, aber auch die Herren in Istanbul. Einen ganz anderen Typ von Abenteurern vertraten, so Jorga, Kandidaten, die sich bei westlich-christlichen Herrschern und polnisch-ungarischen Magnaten einschmeichelten, in der Hoffnung diese würden sie gegen die Osmanen stützen oder aber über ihren Einfluss bei der Hohen Pforte auf die Fürstensitze in der Moldau und Walachei lancieren. Dieser Typ ist nach Jorga eher „ ein feiner Jüngling, dem Hofleben ergeben und in Hofkünsten bewandert, der sich in vielen Sprachen elegant auszudrücken versteht…(er) erregt Bewunderung durch die zahlreichen, seltenen Eigenschaften seines Körpers und Geistes: seine braunen Augen glänzen, sein schönes schwarzes Haar wallt auf die breiten Schultern herab, kurz, er ist ein schöner, starker des Thrones würdiger Mann…In genealogischen Artikeln wird überzeugend nachgewiesen, dass der christliche Gast aus dem Morgenland ein echter Fürstensohn sei, dass er von den türkischen Feinden wegen seiner unerschütterlichen Liebe für den reinen christlichen Glauben verstoßen worden sei – und dass er endlich, nur er allein…der einzig Berechtigte, der heres (-Erbe-) Moldaviae oder Valachiae sei.“3 Voraussetzung für das Auftreten all dieser falschen Fürstensöhne war jedoch, wie bereits erwähnt, die mangelnde strenge Erbfolge in den Donaufürstentümern (verbunden mit der lockeren Auffassung von Ehe und Erbfolge des Gewohnheitsrechts. Scheidungen z. B. waren auch für Frauen überaus leicht gegen eine geringe Gebühr zu erreichen) und das Bestreben der benachbarten Mächte, in diesen Fürstentümern gefügige Marionetten zur Regierung zu bringen. Ganz zu schweigen von den Hof- und Finanzkreisen in Konstantinopel, die an jedem Thronwechsel mitverdienten, oder den Kosaken jenseits des Dnjestrs, die stets für einen Plünderzug im Namen irgendeines angeblichen Prinzen zu haben waren. Die genannten Faktoren wirkten sich alle deutlicher als in der Walachei in der Moldau aus, allein schon aus geographischen Gründen. Aber die Walachei stand auch unter schärferer osmanischer Kontrolle. Unsere Darstellung konzentriert sich deshalb vor allem auf die Hospodare der Moldau und den Zeitraum 1561-95. Danach setzten auch in der Moldau etwas geregeltere, eher von Istanbul (am Anfang im Verein mit oder auch gegen Polen) bestimmte Verhältnisse ein. Aus der Unzahl der Prätendenten während dieser Periode sollen einige länger regierende wahrscheinlich falsche Thronkandidaten hervorgehoben behandelt werden, ephemere Gestalten im Zusammenhang mit deren Geschichte gestreift werden. Den Reigen der hochstaplerischen Thronbewerber in der Moldau 3

Zitate aus Jorga 1905, S. 32-35

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während dieser Epoche eröffnete ein höchst merkwürdiger Mann: der rätselhafte Jakob Despota. Johann Jakob Basilides Heraklides Despota4 Er war angeblich Erbe der Herren (oder „Despoten“) von Samos und Paros in der Ägäis, auf jeden Fall aber ein Grieche, geboren um 1523 auf Samos, Rhodos oder Kreta. Seine erste Bildung erhielt er auf Chios. Früh durch die Türken aus der Heimat vertrieben, ging er an den Hof Heinrichs II. von Frankreich. Vielleicht auch zuerst nach Brüssel. Er rühmte sich, ein Nachkomme des antiken Heroen Herakles zu sein, wollte byzantinische Kaiser zu Vorfahren haben und prahlte mit seiner Verwandtschaft mit der ehemaligen serbischen Herrscherfamilie Brankovič und den russischen Zaren. Auch den Patriarchen Joasaph II. von Konstantinopel (amtierte 1555-65) zählte er zu seinen Vettern. Zuletzt hätte seine Familie, versehen mit dem byzantinischen Despoten (Fürsten)titel über die Inseln Paros und Naxos geherrscht.5 Möglicherweise war er aber auch nur als armes Flüchtlingskind, von einer vornehmen griechischen Exilantenfamilie in Brüssel aufgenommen und erzogen worden, deren Stammbaum er sich zulegte und zusätzlich aufpolierte. Zeitweilig tauchte er im französischen Montpellier unter dem Namen Jacques Marchetti als Student der Medizin (und der Theologie?) auf. Nach Liebeshändeln unter Mordverdacht geraten, rettete er sich zum Militär, zunächst in französischen, dann nach einem Seitenwechsel in den Dienst Kaiser Karls V. Er machte bei Kämpfen in Spanien, Italien, den Niederlanden Karriere. Der Kaiser bestätigte seinen erlauchten Stammbaum, schlug ihn zum Ritter und verlieh ihm den Titel eines Palatins. Das berechtigte den Despota u. a. dazu, Dichterkrönungen vorzunehmen. Dankgedichte von derart beglückten deutschen (neulateinischen) Poeten sind erhalten. Er selbst wurde zum Autor militärischer Werke. In der kaiserlichen Armee befreundete sich der aufstrebende junge Mann mit den protestantischen Grafen Volrad von Mansfeld und Günther von Schwarzburg. Sie oder Justus Jonas, der Sohn eines Luther-Vertrauten, vermittelten ihn um 1554 in die Lutherstadt Wittenberg, die er wohl mehrmals besuchte. Dort war der große Melanchthon, wichtigster Mitarbeiter Luthers, sehr von der Gelehrsamkeit des Griechen beeindruckt. Er empfahl ihn 1556 an die protes4 5

Zu ihm: Engel S. 202-10 (nach den Quellen Sommer und Gratiani), Petri und Armbruster passim, Benz S. 34-58 Auf Zypern lebte nach einer Biographie des Despota aus dem 18. Jahrhundert ein Bruder desselben, Jakob Didaskalos. Er wirkte als „Rhetor“ und Arzt. Sein Versuch, sich zum Herren der Insel zu machen, scheiterte. Die Venetianer, damals noch im Besitz Zyperns, ließen ihn hinrichten. Engel S. 39 nach Antonius Maria Gratiani: De Joanne Heraclide Despota, Vallachorum principe libri tres, et de Jacobo Didascalo Joannis fratre liber unus, Warschau 1759

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tantischen Höfe in Kopenhagen und Königsberg. Über Rostock, (Ost)preußen, wo er mit dem dort regierenden Herzog Albrecht Freundschaft schloss, und Polen (d.h. den Hof des polnisch-litauischen Fürsten Nikolaus Radziwill bei Wilna und den Humanistenkreis um die Magnatenfamilie Laski in Krakau)6 gelangte Despota endlich in die Moldau. In Polen hatte er möglicherweise bei einem Feldzug gegen Livland den moldauischen Fürsten Alexander Lapuşneanu als polnischen Vasallen kennengelernt. Er folgte ihm spätestens im Frühjahr 1558 in die Moldau. Der „schöne Fremdling, welterfahren, hochbegabt und milde“7 machte sich dort rasch beliebt. Er lernte zu den sechs Sprachen, die er bereits beherrschte, schnell Rumänisch. Der Fürstin Ruxandra, Gemahlin des Lapușneanu, schwatzte er sich als Verwandter auf: auch sie sei eine Heraklidin. Vielleicht gab er sich auch als ein Enkel Stefans d. Gr. aus. In einem Brief an Herzog Albrecht von Preußen lobte er 1558 die Gastfreundschaft des Fürsten Alexander. Alexander Lapușneanu hatte sich jedoch seit seinem Regierungsantritt 1552 durch extreme Grausamkeit und allzu engstirnige Orthodoxie unbeliebt gemacht. Sein Äußeres war wenig einnehmend, seine roten Augen gaben ihm etwas Unheimliches. Mit dem attraktiven und weltgewandten Despota konnte er sich nicht vergleichen. Dessen erste Verschwörung zum Sturz Alexanders wurde jedoch 1558 aufgedeckt. Er hatte sich von seinem preußischen Gönner Herzog Albrecht ein Waffendepot schicken lassen. Der misstrauische Lapuşneanu roch Lunte. Despota entkam über Kronstadt, wo er seinen berühmten Stammbaum8 drucken ließ, nach Käsmark in der heutigen Slowakei. Dort nahm ihn die polnische Magnatenfamilie der Laski, die er in Krakau kennengelernt hatte, in ihren Schutz. Albert Lasko stellte ihm 300 Reiter und 10 000 Gulden zur Verfügung. Vor allem empfahl er ihn bei Erzherzog Maximilian, später Kaiser Maximilian II., damals König von Böhmen. Dieser machte dann bei seinem Vater, Kaiser Ferdinand I., nach einigem Zögern weitere 8000 Goldgulden zur Anwerbung von Söldnern locker. Vielleicht war Despota sogar in Wien aufgetaucht. Er hatte den Erzherzog wohl mit dem Plan gewonnen, in der Moldau den Protestantismus einzuführen. Der Erzherzog neigte zu dieser Zeit heimlich zum Luthertum. Außerdem stand das Haus Österreich nicht nur mit den Türken, sondern auch mit den Fürsten von Siebenbürgen im Kampf um den Besitz von Ungarn. Ein mit Österreich verbündeter Fürst der Moldau hätte zur Umklammerung der Siebenbürger beitragen können. Despota vertrieb November 1561 von der Zips her kommend den Lapușneanu nach siegreichen Schlachten bei Verbia und Husch. Endlich hatte der zum Herrscher berufene Heraklidenspross sein Fürstentum gefunden.

6 7 8

Über die polnischen Verbindungen Despotas: Strohm S. 211-17 So Petri (nach Jorga?) S. 123 auszugsweise wiedergegeben bei Benz S. 253

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Er nannte sich in Schreiben an seine polnischen und österreichischen Gönner „Electus Princeps Moldauorum et terrarum Valachiae, legitimes heres et successor.“ Also: „Erwählter Fürst der Moldauer und der Länder der Walachei, rechtmäßiger Erbe und Nachfolger.“9 Die Briefe wurden mit der Purpurtinte byzantinischer Kaiser geschrieben. Despota fühlte sich zu Großem berufen. In Visionen wollte er drei Kronen auf seinem Haupt gesehen haben. Sein Herrschaftsanspruch stützte sich wohl kaum auf die Abstammung von früheren Fürsten der Moldau . Er bezog sich wohl eher moralisch auf seine Mission, als Erbe griechisch-römisch-byzantinischer Herrscher, seine romanischen Untertanen zu neuen Ruhmes-und Glanzzeiten zu führen, würdig ihrer antikenVorfahren. In seinen Proklamationen erinnerte er sie jedenfalls an ihre illustre Vergangenheit, ihre „Romanitas“10. Seine Hauptstadt Suceava wollte er prächtig ausbauen. In Kotnar(i) richtete er eine Lateinschule ein. Er lud berühmte Gelehrte zu sich: den Schwiegersohn Melanchthons, Kaspar Peucer, und den griechischen Lehrer seiner Jugend, Hermodoros Lestarchos, aus Chios. Peucer lehnte wohl ab, und der alte Lestarchos kehrte um, als er vom Sturz seines ehemaligen Schülers erfuhr. Ganz ohne Erfolg waren die Werbungen des Despota jedoch nicht. Aus Polen kam neben Stanislas Lubomirski der gelehrte Jan Lusinski (Johannes Lusinius), den er in Kotnari zum protestantischen Landesbischof ernannte. (Lusinski verstarb, vielleicht von orthodoxen Geistlichen vergiftet, aber schon 1562). Johannes Sommer (1542-1574) aus Pirna übernahm die Leitung der Lateinschule. Er wurde später ein viel geachteter Schulmann im siebenbürgischen Klausenburg und verfasste eine erste Biographie Despotas. Aber nicht nur zu einem Zentrum humanistischer Gelehrsamkeit wollte Despota sein Fürstentum erheben. Es sollte auch ein Hort der europäischen Reformation werden. Schon am 11. Dezember 1561 lud er mit der Proklamation von Vaslui alle verfolgten und bedrückten Protestanten in die Moldau ein. Die reformatorischen Initiativen des Despota fanden in der Welt der europäischen Reformatoren und Gelehrten große Beachtung. Selbst aus dem fernen Zürich sandte 1563 das dortige Haupt der Zwinglianer, Heinrich Bullinger, Ratschläge in die Moldau.11 Aus Tübingen nahm der Druckerei-Unternehmer Hans Ungnad, Freiherr von Sonneg, spezialisiert auf protestantische Schriften in kyrillischen Lettern für den Balkanraum, Kontakt auf. Bei all seinen Träumen von einem romanischen Königreich der Daker protestantisch-humanistischer Prägung, das vielleicht als Basis für die Befreiung seiner geliebten griechischen Heimat, insbesondere von Naxos und Paros, vom 9 10 11

Armbruster S. 135 Oţeata S. 217 Der Brief Bullingers abgedruckt und kommentiert bei: Gottfried W(ilhelm) Locher, Die Zwinglianische Reformation im Rahmen der europäischen Kirchengeschichte, in Archiv für Religionsgeschichte 70, 1979 S. 201-24

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türkischen Joch dienen konnte, versuchte Despota, sich politisch geschickt zu verhalten. Die für den Anfang notwendige Duldung durch die Osmanen erkaufte er sich durch pünktliche Ablieferung der fälligen Tribute. Er nahm ihre Erhöhung von 30 000 auf 50 000 Skudi klaglos hin und verpflichtete sich im Kriegsfall zu zusätzlichen Naturallieferungen, vor allen von Pferden. Den walachischen Mitfürsten Peter Timar suchte er durch Werbung um die Hand seiner Schwester ins Bündnis zu ziehen. Er besuchte orthodoxe Gottesdienste, um seine Untertanen hinsichtlich seiner Kirchenpolitik zu beruhigen. Auch der orthodoxe Patriarch Joasaph II. von Konstantinopel soll sich 1561 in der Moldau gezeigt haben oder doch von Despota kontaktiert worden sein.12 Auf die Dauer freilich konnte er seine Pläne nicht verbergen. Seine privaten Spöttereien über die Auswüchse der orthodoxen Volksfrömmigkeit wurden schnell allgemein kolportiert. Andrerseits fand man seine strengen Ehegesetze zu bigott. Er ließ mehrfach Geschiedene als Bigamisten hinrichten. Man verdächtigte ihn, insgeheim zu der radikal-protestantischen Sekte der Antitrinitarier oder Sozinianer zu gehören, vor der ihn selbst Bullinger warnte. Und schließlich kostete ihn der Unterhalt seiner deutsch-niederländisch-polnisch-ungarischen Söldner ebenso große Summen wie seine Hofhaltung, seine Bauten, Schulgründungen und die Geschenke, mit denen er die Osmanen hinhielt. Er beschaffte sie sich durch neue harte Steuern und durch Beschlagnahmung und Einschmelzung von Kirchengeräten. Seine Gebietsforderungen an Siebenbürgen vergrätzten nicht nur die dortigen Regenten, sondern auch deren osmanischen Schutzherren. Sie verlangten eine entschiedene Reduzierung des moldauischen Söldnerheeres auf 600 Mann. Der vorsichtige Walachenfürst Petru Timar verweigerte ihm die Hand seiner Schwester (oder Tochter?). Despota plante nun Petrus Sturz. Er wollte seinen Adoptivsohn Demetrios zum Woiwoden der Walachei machen. Despota selbst ehelichte dann die Tochter des Kastellans von Krakau, des Polen Zborowski, der allgemein als Anhänger des Antitrinitarismus galt. All dies führte zu einem großem, diesmal sogar volkstümlichen Aufstand der moldauischen Bojaren. Nachdem man Despota mit falschen Meldungen über einen drohenden Einfall der Krimtataren nach Osten weggelockt hatte, wurde sein Sturz eingeleitet. Die Abtrünnigen wählten einer der ihren, Stefan Tomşa, zum neuen Hospodar. Er soll niedriger Herkunft gewesen sein. Tomşa lud die wenigen von Despota zurückgelassenen ungarischen Söldner zu einem Trinkgelage und ließ sie niedermachen. Nicht besser erging es einem deutschen Fähnlein mit dem Hauptmann Joachim Kluger, der sich selbst mit knapper Not rettete, 12

Mathias Miles in seinem „Siebenbürgischen Würg-Engel“ S. 91-92 erzählt über das Verhältnis der Orthodoxen zu Despota jedoch eine echte Schauergeschichte. Die Geistlichen wollten demnach Despota mit einer vergifteten Hostie umbringen. Vorgewarnt zwang er die Priester, selbst die Gifthostien zu nehmen. Zu Joasaph auch Jorga, Byzance, S. 47

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in Niamz. Der aus dem Osten zurückgeeilte Despota wurde in Suceava eingeschlossen. Ohne Hilfe von außen und angesichts von Meutereien im eigenen Lager kapitulierte er nach drei Monaten. In prächtiger Aufmachung, sein Szepter in der Hand, ritt er am 6. November 1563 ins Lager Tomşas und bat kniefällig, den Rest seines Lebens in klösterlicher Abgeschiedenheit verbringen zu dürfen. (Der bereits erwähnte Historiker Jorga spottet über diese Szene als eine letzte theatralische Geste des begabten Schauspielers und Hochstaplers). Tomşa schlug mit einem Streitkolben auf den Wehrlosen ein und verhöhnte ihn mit den Worten: „Mönch willst Du sein, der Du nicht einmal ein Christ bist?“13 Ein tatarischer Gefolgsmann Tomşas versetzte Despota den Todesstoß. Seine Leiche wurde geschändet (gevierteilt?), der Schädel angeblich mit Stroh ausgestopft nach Istanbul geschickt. Später wurde berichtet, der wiedergekehrte Alexander Lapușneanu habe die Überreste des Despota ausgraben und in einem Sack gesammelt an einen Galgen hängen lassen. Jorgas vernichtendes Urteil über den Despota, den „bizarren Kreter“14, als einen der Schelme, deren allgemeine Charakterisierung durch den Historiker bereits zitiert wurde, begründete eine lange Tradition der Herabetzung des Despota. Erst neuerdings haben deutsche Kirchenhistoriker (Armbruster und Benz) eine Teil-Rehabilitation des seltsamen Mannes versucht. Danach waren seine Ansprüche auf vornehme Herkunft durchaus berechtigt: dass er sie bis ins absurd Antike verlängerte, entsprach einer allgemeinen Mode des RenaissanceHumanismus. Die Zeugnisse Melanchthons und vieler anderer belegen seine hervorragende Bildung, seine militärischen Fähigkeiten und seine ernsthafte Religiosität. Aus diesen Vorzügen schöpfte der selbstbewusste Mann wohl die moralische Berechtigung, sich auf den Thron eines Fürstentums zu setzen. Eines Fürstentums, das bei hohen Potentialen eben Gefahr lief, unter unchristlichem Joch anarchisch zu verlottern. Der große rumänische Nationaldichter Vasile Alecsandri (1821-90) setzte dem „Herakliden“ bereits 1879 in seinem preisgekrönten Drama „Despot Voda“ ein Denkmal. In diesem Drama scheitert der als genialer Visionär gezeichnete Protagonist an seiner Maßlosigkeit und Härte.15 Gegen Tomşa versuchten die habsburgischen Helfer des Despota einen Thronkandidaten Bogdan aufzubauen – man weiß sonst nichts von diesem Mann. 1565 machte dann noch ein „Verwandter des Despota“ von sich reden. Vielleicht war er identisch mit einem Aspiranten auf den Moldauer Thron, der sich 13 14 15

Benz S. 57, eine ausführliche Schilderung über Despotas Ende bei Wickenhauser 2, S. 213 So Jorga in seiner Histoire des Roumains et de leur civilisation. Bukarest 1922, S.102 (« bizarre crétois ») Kindlers Literaturlexikon Band 3, Zürich 1970 S. 2556-57 „Alecsandri schrieb die Tragödie eines genialen Herrschers, der, in vieler Hinsicht seiner Zeit weit voraus, seine politische Konzeption nicht verwirklichen konnte.“

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Stephan nannte und um diese Zeit bei Kaschau in der Slowakei auftrat. Es könnte aber auch der erwähnte Adoptivsohn Despotas, Demetrius, gemeint sein. Tomşa hatte diesen jungen Mann begnadigt, ihm allerdings die Nase aufschlitzen lassen, um ihn „herrschaftsunfähig“ zu machen. Der später zurückgekehrte Alexander Lapuşneanu überließ Demetrius den Walachen, die ihn 1565 töteten.16 Stefan Tomşa ließ die gelehrten Freunde des Despota, so weit er ihrer habhaft wurde, hinrichten, auch der Teufel, so meinte er, sei ein Gelehrter. Selbst die unschuldige Witwe Lusinskis wurde erwürgt. Die Schule in Kotnari wurde gesprengt. Die von Despota begünstigten polnischen Kaufleute wurden ertränkt oder vertrieben. Ähnlich erging es den deutschen und italienischen Handwerkern, die Despota ins Land gerufen hatte. Doch wurde Tomşa von den Osmanen nicht anerkannt. Er war nicht ihre Wahl. Weigerte er sich vielleicht auch, die hohen Tributzahlungen seines Vorgängers weiter zu leisten?. Mit Hilfe der Türken und deren Vasallen, der Krimtataren, kehrte der vertriebene Alexander Lapuşneanu zurück, Tomşa floh nach Polen. Auf Ansuchen der Hohen Pforte wurde er im Beisein des türkischen Gesandten Ibrahim, eines gebürtigen Polen, mit zwei seiner adligen Gefolgsleute am 5. Mai 1564 in Lemberg enthauptet.17 Alexander, fast erblindet, starb 1568, ihm folgte sein Sohn Bogdan, der 1572 wegen Familienhändel bei einem Besuch in Polen festgehalten und deshalb von der Pforte für abgesetzt erklärt wurde. Er starb nach langen Irrfahrten durch halb Europa 1574 in Moskau. Zar Iwan der Schreckliche ließ ihn hinrichten, weil er des Protestantismus verdächtigt wurde. Die Pforte ersetzte ihn durch einen, in Hinsicht auf fürstliche Herkunft, recht fragwürdige Gestalt. Joan Voda (cel Viteaz oder cel Cumplit)18 Die Hohe Pforte verkaufte den Fürstenstuhl für 220 000 Dukaten 1572 an einen ehrgeizigen Abenteurer, der als Joan Voda cel Viteaz oder cel Cumplit (Fürst Johannes der Kühne/Tapfere oder der Schreckliche, auch Iwonia gerufen) in die Geschichte einging. Er wurde auch „der Armenier“ genannt, weil seine Mutter 16 17

18

Zu den Gegenkandidaten Tomşas: Engel S. 210 1612- 18 (1611-15) und 1621-23 setzte die hohe Pforte einen gleichnamigen Sohn Tomşas gegen die polenfreundliche Movila-Partei (vgl. unten) auf den Thron der Moldau. Seine Echtheit wird in einigen Quellen bestritten. Es handelte sich um einen in türkischen Diensten vielbewährten alten Haudegen. Jorga, Osmanisches Reich, S. 365, Herrmann S. 223 Anm. 405. Wickenhauser 2, S.26 lässt diesen zweiten Tomşa nach seiner endgültigen Absetzung 1623 und Einziehung seines Vermögens in Konstantinopel sterben. Er soll nur Töchter hinterlassen haben. Bei Ursprung S.58 wird jedoch ein angeblicher Sohn Leon erwähnt, Hospodar der Walachei 1629-32 Zu ihm:Engel S. 216-21, Oţeata S. 219-20

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eine Armenierin war und er nach armenischem Ritus fastete. Er behauptete ein Sohn des Fürsten Stefan(ita) (1517-27) und damit Urenkel Stefans des Großen zu sein. Um 1561 machte er sich zuerst im Gefolge eines polnischen Magnaten in Lublin bemerkbar. Er war durch Edelsteinhandel reich geworden und hatte eine Familie in Moskau, die er auch nach seiner Thronbesteigung dort beließ. Während seiner Aufenthalte im osmanischen Reich soll er zum Islam übergetreten sein. Jetzt spielte er wieder den orthodoxen Christen. An die Regierung gelangt, legte er sich wie seine Vorgänger mit den allzu aufsässigen Bojaren an. Er duldete Bauernaufstände gegen diese adligen Herren und rief gegen sie auch Kosakentrupps ins Land. Allzu reiche Klöster enteignete er. 1574 ließ er Bischof Georghe (vielleicht auch nur dessen Leiche) wegen sodomitischer Verfehlungen verbrennen und zog das beträchtliche Vermögen des Hingerichteten ein.19 Auch diese Aktionen kamen vielen leibeigenen Bauern zugute. Mit seinen Gönnern in Istanbul überwarf er sich, als diese wieder einmal drastisch ihre Tributforderungen erhöhten. Der am Hof des Sultans einflussreiche Michael Kantakuzenos, Sprecher der byzantinisch-griechischen Gemeinde in Istanbul, der sich für Joan Vodas Beförderung zum Hospodar eingesetzt hatte, verlangte für sich allein nochmals 50 000 Dukaten. Joan Voda ließ alle diese Forderungen durch ein „Volksversammlung“ (der ihm ergebenen Bojaren und vielleicht auch Bauern) ablehnen. Darauf wurde er von der Pforte für abgesetzt erklärt und an seiner Stelle der walachische Fürstensproß Peter der Lahme ernannt. Joan fiel nun mit seinen Bauern und 1200 angeworbenen Kosaken in die Walachei ein, zerstörte eine dortige türkische Festung und stieß bis Bukarest vor, verlor aber dann die Entscheidungsschlacht am 10. Juni 1574 beim See Cakul gegen Türken und Walachen. Die moldauischen Bojaren gingen zum Feind über, ein starker Regen machte das Desaster vollkommen. Joan rettete sich zunächst in eine Wagenburg bei Roşcani, ergab sich aber nach drei Tagen auf Zusicherung seines Lebens. Man verwickelte ihn in ein vierstündiges Gespräch, bis man ihm endlich eine als Beleidigung des Sultans interpretierbare Äußerung entlockte. Er wurde auf der Stelle enthauptet. Seine Leiche wurde zwischen zwei Kamele gespannt zerrissen. Sein Kopf wurde in Bukarest zur Schau gestellt. Sein Andenken als „Volksfürst“ lebte noch lange. Spätere Prätendenten traten deshalb gerne als seine Brüder, Söhne oder Neffen auf. Bei den Kosaken trieb sich 1577 sogar ein falscher Joan Voda umher, mit dem zusätzlichen Spitznamen „Cretul“, der Krause. 1588 tummelte sich bei den Kosaken ein angeblicher gleichnamiger Sohn Joan Vodas, den sie aber auslieferten. Peter der Lahme ließ ihn hinrichten.

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Diese Episode bei Zach S. 26

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Peter (V.) Şchiopul („der Lahme“ oder „der Hinkende“)) , der 1574-91 mit zwei Unterbrechungen regierte, war durch seine Mutter Chiajna, Gemahlin des walachischen Hospodars Mircea III., immerhin ein Enkel des Peter Rareş. 20 Seine ehrgeizige Mutter, die in Istanbul als große Fürstin auftrat und über ausgezeichnete Beziehungen zu den tonangebenden Damen des großherrlichen Serails, aber auch zu dem rührigen Michael Kantakuzenos verfügte, hatte ihm denn auch den Thron der Moldau zum Spottpreis von 80 000 Dukaten verschafft. Peter sollte auch eine Schwester des Kantakuzenos heiraten. Seine allzu große Liebedienerei vor den Herren in Istanbul erzeugte viel Unmut. Joan Potcoava21 Diesen Unmut nutzte ein neuer Thronbewerber aus, der sich für einen Halbbruder – über die gemeinsame Mutter? – des volkstümlichen Joan cel Viteaz ausgab. Auch er hieß Joan, erwarb sich aber den Beinamen „Potcoava“, das „Hufeisen“, weil er mit bloßen Händen Hufeisen zurechtbiegen konnte. Unzufriedene Bojaren riefen ihn ins Land. Mit ihrer und der Hilfe polnischer Magnaten warb dieser raue Bursche am Dnjestr in der Ukraine 8000 Kosaken an und vertrieb im November 1577 den lahmen Peter. Er hielt sich nur einen Monat an der Regierung. Auf Befehl der Hohen Pforte führten Walachen und Siebenbürger deren Schützling Peter in die Moldau zurück. Das „Hufeisen“ floh ins Polnische. Aber auf ein Ansuchen aus Istanbul wurde er am Neujahrstag 1578 in Lemberg (heute Ukraine) enthauptet, wie einst Stefan Tomşa. „Von allen bewundert und beklagt“.22 Das „offizielle Polen“, König und „Republik“ (d.h. das Adelsparlament) distanzierten sich von dem „Privatunternehmen“ einiger Magnaten und Kosaken, die Potcoava unterstützt hatten. Man wollte damals Frieden mit den Osmanen. Ein „Bruder“ Potcoavas, Alexander, den die Kosaken im Februar 1578 bei einem weiteren Plünderzug in die Moldau zum Fürsten ausriefen, geriet in Gefangenschaft der Siebenbürger und wurde im moldauischen Jassy gepfählt oder starb an den Wunden, die er sich im Kampf zugezogen hatte. Andere Quellen berichten, man habe ihn nach Istanbul ausgeliefert, wo er zu Tode gemartert worden sei. 20

21 22

Dies wurde 1915 von dem rumänischen Historiker St. Nicolaescu aufgrund von Urkunden bestritten. Peter der Lahme werde hier mit Peter Timar ( dem Jungen) , Hospodar der Walachei 1559-67 verwechselt, Sohn des Mircea Ciobanul und der Ciagna (regierten mit Unterbrechungen in der Walachei 1545-59). Der lahme Peter sei Sohn eines anderen Mircea, der 1508- 10 zusammen mit seinem Vater Mihnea dem Bösen regiert habe. Damit wäre der lahme Peter ein Urenkel des berüchtigten Vlad Tepeş, besser bekannt als „Dracula“. Die so oft kolportierten Geschichten über die Initiativen der Chiajna zu seinen Gunsten entfielen. Zu ihm und seinem „Bruder“ Alexander: Engel S. 227, Hammer-Purgstall S. 32-33 Jorga, Osmanisches Reich S. 259

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Fast zwei Jahre regierte dann wieder Peter der Lahme, gestört immer wieder durch Einfälle der Kosaken 1578-79. In deren Schlepptau bewegten sich immer neue Prätendenten23: ein angeblicher Sohn Alexander Lapuşneanus, Peter, ein „Sohn“ Potcoavas namens Konstantin und ein anderer Konstantin, der behauptete, ein Sohn Stephan Lacustas (Fürst 1538-41) zu sein. Sie verschwanden mit ihren beutebeladenen Kosakenkumpanen so schnell wie sie aufgetaucht waren. Die Unfähigkeit Peter Schiopuls, diesen Plünderzügen ein Ende zu machen, brachte ihn in Misskredit bei seinen osmanischen Oberherren. Auch war sein korrupter Gönner und präsumtiver Schwager Kantakuzenos inzwischen in Ungnade gefallen und hingerichtet worden. 1579 sorgten endlich Intrigen in Istanbul für Schiopuls vorübergehende Exilierung ins syrische Aleppo (Haleb). Joan (Jancu) Sasul24 Ein Abenteurer aus Kronstadt in Siebenbürgen hatte sich an der Hohen Pforte die Hospodarenwürde erkauft. Dieser Joan (Jancu) mit dem Beinamen Sasul, „der Sachse“, war der Sohn eines Kronstädter Deutschen, eines gewissen Georg Weiß (nach anderen: Hannes Thiesen) und dessen Frau Katharina. Er arbeitete zunächst im Ledergewerbe. Die Mutter offenbarte aber dem Heranwachsenden, dass er in Wirklichkeit der Sprössling eines walachischen Woiwoden sei. Später behauptete Sasul, ein natürlicher Sohn des Fürsten Peter Rareş (1527-38 und 1541-46) zu sein. Er muss als Geschäftsmann im osmanischen Reich, auf Rhodos, in Istanbul, Erfolg gehabt haben. Jedenfalls heiratete er eine Dame aus dem alten byzantinischen Kaisergeschlecht der Palaiologen. Sein Geld, diese vornehme Versippung und die Andeutungen seiner Mutter hinsichtlich seiner Herkunft brachten ihn wohl auf den Gedanken, sich um den Thron der Moldau zu bewerben. Natürlich versuchte er als tüchtiger Geschäftsmann, seine Unkosten wieder aus dem Lande herauszupressen. Der spanische, in Istanbul tätige Bankier und Agent Bartolomeo Brutti, ein gebürtiger Albaner, bei dem er Kredit aufgenommen hatte, wurde sein überaus findiger Finanzverwalter. Belastend kamen Sondertribute anlässlich eines Persienfeldzugs des Sultans hinzu. Sasul brachte mit hohen Abgabeforderungen, etwa dem „Kuhzehnten“, nicht nur seine eigenen Untertanen gegen sich auf. Er machte sich durch allerlei Trakasserien auch die polnischen Viehhändler zu Feinden und unternahm Plünderzüge in die polnischen Grenzgebiete. Einen sonst nicht weiter bekannten Gegenprätendenten, den polnische Kosaken aufstellten, einen gewissen Joan Lapuşneanu, konnte Jancul gefangen 23

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Auflistung bei Jorga 1905, S. 33-34: dort die beiden weiter oben genannten Joan Voda und Joan Voda Cretul, Peter, die Konstantine und später zur Zeit Aaron Tiranuls auftretende „Kosakenprätendenten“ erwähnt. Zu ihm Engel S. 230, Herrmann 76 f.

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nehmen und im Pruth ersäufen lassen. Als ihn aber ein Aufstand der Moldauer 1582 endlich zur Flucht (mit 100 Wagen voll „Beutegut“) zwang, geriet er auf dem Weg nach Ungarn in die Hände der Polen. Er wurde, wie schon einige seiner Vorgänger, im Lemberg hingerichtet. Seine Witwe Maria führte in Lemberg später sein Handelsgeschäft fort.25 1595 bewarb sich ein „Sohn“ Jancus um den moldavischen Thron (vgl. unten S. 250/51). Da Jancu als ein großer Schürzenjäger gegolten hatte, könnte es sich durchaus um einen seiner illegitimen Sprösslinge gehandelt haben. Der lahme Peter durfte aus Syrien zurückkehren und zum dritten Mal den Moldauer Thron besteigen. Er hielt sich bis 1591, mit dem ominösen Brutti als Berater. Sein Versuch, seinem Sohn die >achfolge für ca. 260 000 Dukaten zu sichern, scheiterte. >eue türkische Tributforderungen und die Furcht, sein Sohn solle zum Moslem gemacht werden, trieben ihn dann zur Abdankung und ins erneute Exil. Er starb1594, zum Katholizismus konvertiert, in Bozen (Südtirol) an den Folgen einer Syphilis.. Er war mit katholisch-venetianischen Kaufmannsfamilien verschwägert und hatte schon während seiner letzten Regierungszeit Kontakte zur Kurie und dem Jesuitenorden aufgenommen. Er bot 1589 aus dem protestantischen Siebenbürgen vertriebenen Jesuiten Zuflucht (sein Sohn Stefan, gest. 1585?, wohl eher 1595, soll Jesuit geworden sein). Aaron Tiranul26 Die Hospodarenwürde erkaufte sich 1591 in Istanbul ein Mann, um den sich die seltsamsten Gerüchte rankten. So wurde erzählt, er sei ein ehemaliger Stallknecht oder gar ein getaufter Jude27, der sich bei der osmanischen Elitetruppe der Janitscharen eingeschmeichelt habe und sich die Herrschaft über die Moldau nicht weniger als eine Million Dukaten kosten ließ28: eine ganz unwahrscheinliche Summe. Dieser Aaron, der sich bald den Beinamen „Tiranul“, der Tyrann, erwarb, gab sich selbst für einen illegitimen Sohn des Fürsten Alexander Lapuşneanu (1552-61 und 1563-68) aus. Um seine Schulden in Istanbul bezahlen zu können, musste er sein Land gnadenlos auspressen. Er führte, nach dem Beispiel Jancul Sasuls, einen „Ochsenzehnten“ ein, d. h. jede Bauernfamilie musste einen Ochsen abliefern. War eine Familie dazu nicht in der Lage, mussten die Nachbarn mit zwei Ochsen einspringen. Andere Prätendenten fanden deshalb Zulauf. Ein „Jonasco“, den unzufriedene Bojaren proklamierten, und ein „weiterer Sohn“ des Ioan Voda (1572-74) 25 26 27 28

Nistor S. 73 Zu ihm und seinen Gegenkandidaten: Engels S. 233-39, Herrmann S. 80-83 und 92-94, Hammer-Purgstall S. 204. 224 f. Wickenhauser S. 29 Seton-Watson S. 60

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verschwanden 1592 erfolglos. Der letztere floh nach Polen und wurde in der Marienburg interniert. Aber noch 1592 musste Aaron vorübergehend (August bis Oktober) einem Peter Cazacul („Peter der Kosake“), auch der schöne Peter mit den langen Haaren genannt, weichen, der sich wie Aaron selbst für einen unehelichen Sohn des Alexander Lapuşneanu ausgab. Andere Quellen behaupten, er habe sich als ein Sohn des Despota zu erkennen gegeben. Seinen Beinamen verdankte er seiner Gefolgschaft, die er unter den ukrainischen Kosaken angeworben hatte. Zunächst schien es, als ob die Hohe Pforte den nach Istanbul geflüchteten Aaron fallen lassen wollte. Aber seine Gläubiger, darunter der englische Gesandte Eduard Barton, drangen auf seine Wiedereinsetzung. Die Osmanen, unterstützt von Siebenbürgern und Walachen, führten Aaron zurück. Der Cazacul wurde gefangengenommen, auf Befehl Aarons nasenverstümmelt und nach Istanbul überstellt, dort auf dem Fischmarkt drei Tage am Haken aufgehängt und dann erschossen. In Istanbul wusste man sehr wohl, dass Cazacul ein Betrüger sein musste. denn der echte Peter Lapuşneanu war schon vor Jahrzehnten in der osmanischen Hauptstadt an der Pest verstorben. (Schon 1579 hatte es einen falschen Peter Lapuşneanu bei den Kosaken gegeben: s. o.)29 Aber bald tauchte 1592/3 ein „Neffe“ und weiterer Rivale Aarons auf, ein „Sohn“ des Fürsten Bogdan (1568-72), Alexander cel Rau (der Böse). Auch er wurde als Gefangener nach Istanbul gebracht und dort angetan mit einer Paradeuniform aufgeknüpft. (Giurescu setzt in seiner rumänischen Zeittafel in umgedrehter Reihenfolge Alexander für Juni, Petru Cazacul für August 1592 an.30) Für die Dienste, die sie Aaron Tiranul so mehrfach geleistet hatten, erhöhten die Osmanen jetzt ihre Tributforderungen fast auf das Doppelte. Das schien ihren Schützling dann doch zu überfordern, zumal er bei einem Besuch in Istanbul, wo er die Tribute abliefern wollte, vollkommen ausgeraubt worden war. Aaron wandte sich von seinen Gönnern ab. Er ließ seine osmanischen „Berater“ überfallen und erschlagen. Zwei Türkenköpfe schickte er an Fürst Sigismund Bathory von Siebenbürgern, der zu dieser Zeit ebenfalls den Aufstand gegen die Osmanen probte. Die Walachei schloss sich an. Hinter dem „Aufstand der Vasallen“ stand natürlich das Haus Habsburg, dessen Unterhändler z. B. Aaron für den Fall des Scheiterns ein finanziell abgefedertes Asyl zusicherten.31 Aaron gelang es, mit Hilfe der Walachen und Siebenbürger eine Strafexpedition der Krimtataren (die als türkische Vasallen agierten) abzuwehren, die einen weiteren Thronbewerber namens (Stephan) Bogdan, angeblich einen Sohn Jancu Sasuls, ins Land führen sollten. Das Ende Aarons ist unklar: er verfeindete sich mit Fürst Sigismund Bathory. Der Siebenbürger wollte sich zum Oberherrn der Moldau aufschwingen und Aaron zu einem bloßen Statthalter herabdrücken. Bathory lancierte, als Aaron 29 30 31

Jorga 1905 S. 33 Giurescu 1972 S. 414-15 Jorga, Osmanisches Reich S. 298

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sich diesen Plänen verweigerte, zunächst einen Stefan Radul, dann einen vorgeblichen Prinzen des alten moldauischen Hospodarengeschlechts der Muşat-Rareş, den Halbzigeuner Stephan Razvan32, als Thronbewerber für die Moldau. Aaron geriet 1595 in Gefangenschaft und wurde nach Kronstadt verschleppt. Er starb dann entweder im siebenbürgischen Belgrad (Karlstadt/Alba Julia) oder wurde in Vinz (Vintu de Jos) vergiftet (1597). Später tauchte noch ein „Bruder“ Aarons, Jonaşcu-Bogdan, auf: sein Schicksal bleibt im Dunkeln. War er der Jonasco von 1592? Auch ein „Sohn“ Aarons, Locadello, machte von sich reden. Razvan hielt sich auch nur von Mai bis August 1595 an der Macht. Gegen ihn schickten polnische Magnaten, ohne Wissen ihres Königs, aber wohl mit Hilfe der Osmanen und Krimtataren, den moldauischen, aber in Polen begüterten und verschwägerten Bojaren Jeremia Movila33 ins Gefecht. Movila hatte die Tataren mit dem Geschenk u. a. von 1000 Zentner Honig jährlich dazu gebracht, ihren Kandidaten Bogdan fallen zu lassen. Trotz Hilfe aus Siebenbürgen wurde Razvan besiegt. Movila, dessen Vorfahren zu den vornehmsten Familien der Moldau zählten und der sich rühmen konnte, der Sohn einer unehelichen Tochter des Peter Rareş zu sein, ließ Razvan als Hochstapler die Nase abschneiden und ihn anschließend aufspießen. Vielleicht ließ er ihn aber auch gnädigerweise einfach köpfen, jedenfalls wurde sein Kopf zur Schau gestellt. Freilich musste auch Jeremia sich noch gegen Mitbewerber behaupten. 1600 verlor er für einige Monate die Herrschaft an den Fürsten der Walachei, Michael cel Viteaz (den Tapferen). Da dieser auch in Siebenbürgen regierte, vereinte er zum ersten Mal kurzfristig ganz Rumänien, weshalb er bis heute als eine Art Nationalheld gefeiert wird. Er fiel einem Mordanschlag zum Opfer. Längere Zeit bedrohte ein anderer Rivale die Stellung Jeremias: Stefan Bogdan Dieser Kandidat war als angeblicher Sohn Jancu Sasuls bereits 1595, wie erwähnt, noch gegen Aaron Tiranul ins Spiel gebracht worden. Böse Zungen behaupteten, er sei ein Lustknabe des osmanischen Wesirs Ferhad gewesen. 34 Nach 1595 muss er sich zunächst in Konstantinopel aufgehalten haben. Nach dem Sturz seines Protektors Ferhad floh er in die englische Gesandtschaft, von wo aus zu seinen Gunsten gegen Jeremia intrigiert wurde. Ein Scheinbegräbnis

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Schon bei dem frühen rumänischen Chronisten Miron Costin werden Radul und Razvan durcheinander geworfen. Costin S. 42-44 Die Movilas (auch Mohila, Movila bedeutet „Hügel“) spielten schon unter Stefan d. Gr. als fürstliche „Mundschenke“ eine wichtige Rolle. Sie führten ihren Stammbaum über die italienische Familie Mucio auf den römischen Helden Mucius Scaevola zurück (so Völkl S.75). Zu Jeremia Movila: Costin S. 44 Hammer-Purgstall S. 225

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soll ihn vor den Nachstellungen durch dessen Agenten geschützt haben.35 In den nächsten Jahren wanderte er durch ganz Europa, verdingte sich vor Dünkirchen in die englische Armee und erwarb so die Gunst der Königin Elisabeth, die ihren Gesandten Henry Lello bei der Pforte anwies, ihm bei seiner Rückkehr nach Konstantinopel Schutz zu gewähren, was dieser höchst widerwillig auch tat. 1604 wurde er aus der Gesandtschaft gelockt oder mit Gewalt herausgeholt und gefangen gesetzt. Es gelang ihm, wenige Tage vor der bereits angesetzten Hinrichtung in Frauenkleidung zu entfliehen. Über die Walachei, deren Fürst ihn gegen Anordnung der Pforte weiter entwischen ließ, gelangte er nach Polen. Versuche mit Hilfe polnischer Magnaten, eine neue Armee aufzustellen, scheiterten wohl am Einspruch der polnischen Krone. Stefan Bogdan appellierte ohne Erfolg an Kaiser Rudolf und den Kurfürsten von Sachsen und begab sich 1607 wieder nach England. König Sigismund III. von Polen, der Jeremia stützte, bezeichnete ihn in einem Brief an Jakob I. als Schwindler. Selbst wenn er der Sohn Jancu Sasuls sei, so wäre doch dieser bereits ein Betrüger gewesen.36 Die weiteren Schicksale Stefan Bogdans bleiben unklar. Tauchte er im Gefolge Gratianis (der für Stefan Bogdan schon in England aktiv geworden war, vgl. Anm. 53) 1619 wieder in der Moldau auf ? Erhielt er, zum Islam konvertiert, später eine osmanische Statthalterschaft in Asien?37 Mit Jeremia Movila übernahm ein Fürst die Regierung, der sich durch Wahl und Einsetzung durch die Hohe Pforte und Polen (das seit dem 15. Jhd. ebenfalls eine Oberhoheit über die Moldau beanspruchte) legitimierte und nicht mehr auf die Abstammung aus der alten Muşat-Familie insistierte (obwohl gerade er dies durchaus gedurft hätte). Zwar kamen im 17. bis 19. Jahrhundert noch recht abenteuerliche Gestalten auf den Thron der Moldau38, aber sie beriefen sich nicht mehr auf fiktives fürstliches Geblüt. Mehr und mehr war die Gunst der Hohen Pforte (Polen gab sein Mitspracherecht vertraglich 1617/22 auf) das allein ausschlagende Moment zur Erlangung des Fürstentums. Und dabei spielte Herkunft keine Rolle mehr, wenn auch gelegentlich auf Abkömmlinge der Muşats zurückgegriffen wurde, zuletzt noch 1666-68. Aber die Annahme, die Osmanen wählten Herrscher “nach dem Gesichtspunkt der wirklichen oder 35 36

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Engels S. 244 Zu den englischen Beziehungen Stefan Bogdans vgl. Coulter passim. Coulter spricht S. 94 von seinem „powerful and manipulative character and his personal charm.” Jorga, Osmanisches Reich, S. 305 nennt ihn jedoch einen “untauglichen Jungen Menschen”. So Jorga, 1905 S. 37 Ein extremes Beispiel für solche Karrieren ist Gaspar Gratiani (regierte 1619-20); wahrscheinlich ein italienisierter Kroate, der sich als Kaufmann, Doppelagent in allerlei Diensten und Diplomat hochgearbeitet hatte. Dazu Manfred Stoy, Das Wirken Gaspar Gracianis (Gratianis) bis zu seiner Ernennung zum Fürsten der Moldau 4. Februar 1619, in Südost-Forschungen 43, 1984 S. 49-129

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auch nur fiktiven Verwandtschaft mit früheren Herrschern“39 war kaum noch zu halten. Eine gewisse Präferenz errangen schließlich Kandidaten aus alten griechisch-byzantinischen Familien in Istanbul-Konstantinopel, nach ihrem bevorzugten Wohnviertel „Phanarioten“ genannt. Soweit zu den moldavischen Prätendentenwirren. Es muss darauf hingewiesen werden, dass im Detail in den verfügbaren Quellen und bei den damit arbeitenden Historikern sich oft Verwechslungen zwischen den einzelnen Prätendenten einschleichen und widersprüchliche Angaben nicht selten sind. Auch die vorliegende Darstellung kann deshalb nicht frei von Unwägbarkeiten sein. Neuerdings scheint es eine Tendenz zu geben, die Herkunft Joan Vodas, Poatcavas oder Jancu Sasuls u. a. von fürstlichen Vätern für glaubwürdig zu halten. 40Das muss nach deren abenteuerlichen Vorleben dahingestellt bleiben. Ähnlich umstritten ist die Herkunft vieler Hospodare der rumänischen Walachei. Es wäre allzu ermüdend, der Geheimgeschichte der hier lange Zeit herrschenden Dynastie Bassarab in ihren legitimen und unlegitimen Verzweigungen nachzuspüren. Selbst deren berühmtester Vertreter, Vlad der Pfähler oder „Dracula“ (ermordet 1476) konnte keineswegs einen zweifelsfreien Stammbaum aufweisen. Doch soll wenigstens einer der merkwürdigsten und umstrittensten Gestalten auf dem walachischen Thron vorgestellt werden: Petru Cercel (Tschertschel) oder Peter mit dem Ohrring41 Am Hofe König Heinrichs III. von Frankreich (1574-89), des letzten Herrschers aus dem Hause Valois, glänzte ein junger Herr aus Rumänien, dessen Ohrläppchen nach der Mode der Zeit ein kostbares Perlengehänge zierte und den man deshalb später „Peter mit dem Ohrring“ nannte. Heinrich hatte ihn wohl in Polen kennengelernt, denn bevor der letzte Valois den Thron Frankreichs bestieg, war er 1573-74 erwählter König von Polen gewesen. Heinrich war stets von attraktiven jungen Männern, seinen „Mignons“, umgeben. Nun behauptete dieser Peter, ein Sohn des Fürsten Patraşcu cel Bun („des Guten“, regierte 1554-57 in der Walachei) zu sein. Geboren um 1545 sei er 1569 aus türkischer Geiselhaft im syrischen Damaskus nach Polen entkommen. Nach 39 40

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Huber S. 45 Etwa in dem in der Wikipedia, Stichwort House of Bogdan-Muşat, vorgelegten Stammbaum der Moldauer Fürsten. Als Referenzen werden dazu angegeben: Gorovei, Stefan S., Intemeiera Moldowei. Probleme controversate, Jaşi 1997 und Rezachevici, Constantin, Cronologia critica a domnilor din Tara Romaneasca şi Moldova, a 13241881, vol 1 Bukarest 2001 Zu ihm Luca, Christian: Influssi occidentali sull’attaggiamento politico di alcuni principi de Paesi Romeni nel secolo XVI e XVII, in Quaderni della Casa Romena 2/2002, Occidente –Oriente etc. (herausg. Von Serban Marin und Rudolf Dinu), Bukarest 2003 S. 107-108, Jorga 1905 S. 36

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Aufenthalten in England, Österreich, Italien und Frankreich reiste er mit Empfehlungen Heinrichs III. über Venedig und Ragusa 1583 nach Istanbul. Dort erreichte er mit Hilfe des französischen Gesandten und mit reichlichen Bestechungen seine Ernennung zum Hospodar der Walachei. Er soll 80 000 Dukaten für das Fürstentum geboten (aber nur 20 000 bezahlt) haben. 42 Sein Vorgänger Mihnea (später Turcitel, der „Türke“ genannt) wurde nach Tripolis in Libyen verbannt. Am 19. August 1583 traf Peter in der walachischen Hauptstadt Bukarest ein. Die einflussreichsten Anhänger Mihneas ließ er hinrichten. Er genoss sein Fürstendasein. Beim Ort Targovişte ließ er sich eine anmutige Villen-Residenz mit Park und Tiergehege im Renaissance-Stil anlegen. Er umgab sich mit einem Musenhof und dichtete selbst in toskanischem Italienisch. Angeblich beherrschte er zwölf Sprachen. Der weltgewandte Fürst war Neuerungen im westlichen Stil zugetan. Mit ausländischen Handwerkern richtete er eine Kanonengießerei ein und ließ Wasserleitungen anlegen. 1000 Bauarbeiter wurden ständig beschäftigt. Um seine Unternehmungen und seine Schulden in Istanbul zu bezahlen, erhöhte er gnadenlos die Steuern. Auch sammelte er einen privaten Schatz von 500 000 Scudi an. Seine Herrschaft wurde nachgerade als reine Ausbeutung und Fremdherrschaft empfunden. Die alte Fürstin Chiajna hetzte gegen ihn. Soviel Gold, wie 600 Pferde tragen könnten, wollte sie für seinen Sturz ausgeben.43 Vor den drohenden Aufständen floh Peter Cercel am 6. April 1585 nach Siebenbürgen. Dort wurden seine Schätze beschlagnahmt und er selbst gefangen gesetzt. 1587 seilte er sich aus einer Luke seiner Kerkerstube ab. In Warschau, Wien, an der Kurie erbettelte er Gelder und diplomatische Unterstützung für seine Rückkehr auf den walachischen Thron. 1589 erschien er dreist wieder in Istanbul. Seine Chancen standen nicht schlecht. Sein Vorgänger und Nachfolger Mihnea hatte sich bei der Hohen Pforte wieder missliebig gemacht. Mihnea, der von den Intrigen Peters erfuhr, spielte einen letzten Trumpf aus, um die Gunst der Herren in Istanbul wieder zu erlangen. Er versprach, zum Islam zu konvertieren (daher sein Beiname „Turcitel“). Dem dadurch ausgebooteten Peter versprachen die Osmanen ein ehrenvolles Exil auf Rhodos. So aus seinem unter diplomatischem Schutz stehenden Domizil gelockt, wurde er an Bord eines Schiffes auf dem Bosporus niedergemacht (1590). Es ist nicht auszuschließen, dass mit ihm ein echter Prinz des Hauses Bassarab ermordet wurde. Aber sein Schicksal ähnelt doch allzu verblüffend den bunten Lebensläufen der Joan Voda, Potcoava, Jancul Sasul oder Aaron Tiranul,

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Hammer-Purgstall S.116 Seton-Watson S. 59. Chiajna wird hier noch als Tochter des Peter Rareş, Gemahlin . Mirceas des Alten und Mutter Peter des Lahmen vorgestellt.

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um ihn nicht dem Verdacht der Hochstapelei auszusetzen. Selbst wenn er echt gewesen sein sollte, er lebte wie ein falscher Prätendent. Wie in der Moldau verschärfte sich im 17. Jahrhundert die Kontrolle der Osmanen über die Walachei. Auch hier wurde bei der Ernennung der Hospodare kaum noch Rücksicht auf Herkunft aus der angestammten Dynastie der Bassarab genommen, und so war es auch hier für Thronbewerber unnötig, sich als falsche Prinzen auszugeben. Bevorzugt wurden wie in der Moldau die griechischen Phanarioten. Die Zeit der Prätendenten in Rumänien war vorbei.

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XV. Balkanländer 3. Montenegro: der kleine Stephan oder Zar Peter III. Vorbemerkungen: Das kleine Ländchen der Schwarzen Berge (italienischvenezianisch: Montenegro, serbisch: Crne Gore) versteckt sich hinter der malerischen Felsenbucht von Kotor (Cattaro) an der dalmatinischen Küste. Es wurde im frühen Mittelalter von südslawisch-serbischen Stämmen besiedelt. Sie nahmen das orthodoxe Christentum an. In zahlreiche Clans gespalten bewahrten diese rauen Gebirgshirten und –bauern ihr Eigenleben unter den aufeinander folgenden oder gleichzeitig rivalisierenden Oberhoheitsansprüchen der Byzantiner, der Serben, der (serbischen) Fürsten von Zeta, der Republik Venedig und der osmanischen Türken. Die sich oft in langen Blutrache-Fehden bekämpfenden Clanhäuptlinge oder „Knese“ anerkannten seit 1528 jedoch den orthodoxen Bischof von Četinje als Vermittler bei Friedensfühlern untereinander und als Sprecher bei Verhandlungen mit Venedig oder den Osmanen. Das Amt dieser „Fürstbischöfe“ („Vladikas“) wurde seit 1697 in der Familie der Petrović aus dem Clan der >jeguš von Onkel auf >effen vererbt, da orthodoxe Bischöfe unverheiratet blieben. Um sich gegen römisch-katholische (Venedig1) und muslimische (Osmanen) Einflüsse zu behaupten, nahmen die Vladikas seit Beginn des 18. Jahrhunderts die Fühlung mit der orthodoxen Kirche Russlands und ihrem Oberhaupt, dem Moskauer Zaren, auf. Dieser ferne, mächtige Herrscher erschien den Montenegrinern bald als Protektor und Wohltäter. Tatsächlich flossen russische Gelder für fromme Stiftungen nach Montenegro. Montenegrinische Mönche reisten zur Fortbildung nach Russland. Zar Peter III. intervenierte 1762 zugunsten der Orthodoxen in Dalmatien-Montenegro bei deren venetianischen Oberherren. Wie groß war deshalb die Freude, als sich um 1766 das Gerücht verbreitete, Zar Peter III. sei in Montenegro aufgetaucht. Der echte Zar Peter III., ein Prinz des Hauses Holstein-Gottorp, den seine Tante mütterlicherseits, die Zarin Elisabeth, zu ihrem Nachfolger bestimmt hatte, war freilich 1762 nach kurzer Regierung von seiner ebenfalls deutschstämmigen Gemahlin Katharina gestürzt worden. Wenige Tage danach kam er, in Ehrenhaft gehalten, bei einem Zechgelage auf ungeklärte Weise ums Leben. Aber schon bald wurde gemunkelt, der Ex- Zar sei den Anschlägen seiner Gemahlin entkommen und irre als Flüchtling irgendwo im osmanischen Reich umher. Solches wusste jedenfalls die Chronik des serbischen Klosters Ravanica für das Jahr 1762 zu vermelden. 1

Venedig beanspruchte die Oberhoheit zumindest über die montenegrinischen Küsten. Es besoldete einen „Gouverneur“, der aber von den einheimischen Knesen vorgeschlagen werden durfte. Die Familie Radonjić sicherte sich diesen Posten quasi erblich. (bis 1832, zuletzt angelehnt an Österreich statt Venedig). Zum Verhältnis dieser Gouverneure zu den Vladikas: Djilas S. 78-79

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Und da gab es diesen mysteriösen Kräutermann, Gärtner-Landarbeiter oder Krankenheiler, etwa 35 Jahre alt, der 1767 bei dem küstennahen montenegrinischen Kloster Majine (Mahine, Maine) beim Städtchen Budva auftauchte und sich bei dem Bauern Vuk Marković (oder Makro Vuković) verdingte. Seine Herkunft war mysteriös. Stammte er aus Budva? Aus Bosnien oder Lika? War sein Name wirklich Šźepan (Stephan)? (Man nannte ihn bald zum Unterschied von anderen Trägern des beliebten Namens „Mali“, „ den Kleinen“). Und glich er nicht dem Bilde Zar Peters III., das fromme Mönche aus Russland ins Kloster Majina mitgebracht hatten? Zwar pflegte der seltsame Mann sein Gesicht unter einem breitkrempigen Hut möglichst zu verbergen, aber zwei Mönche (Abt Theodosije Mrkojević und Jovan Vuković), die in Russland studiert hatten und den Zaren dort gesehen haben wollten, schwuren Stein und Bein, der „Kleine“ sei Zar Peter. Ebenso der Viehhändler Marko Tanović, der in der russischen Armee gedient hatte. Der Vladika Sava (amtierte 1735-81/82), der als allzu asketisch-spirituell galt und seinen weltlichen Pflichten nur ungern nachkam, hielt das Gerede über den vorgeblichen Zaren allerdings für müßiges Gewäsch. Aber gerade dies ermunterte die Clanhäuptlinge, schon lange unzufrieden mit dem Vladika, den kleinen Stephan Ende September 1767 bei einer Zusammenkunft von 7000 Bauern und Hirten in Čekliče als Zar Peter III. zu begrüßen. Der „kleine Stephan“ selbst, durch seine Heilkünste inzwischen äußerst populär, hatte sie mit einer Proklamation, in der er an ihre Friedfertigkeit appellierte, nach Čekliče eingeladen. Er hatte seinen Aufruf allerdings mit „der kleine Stephan, der Kleinste unter den Kleinen, der Wohltäter der Guten“2 unterzeichnet. Aber anscheinend ließ er es sich jetzt gefallen, für den Zaren gehalten zu werden. Am 17.Oktober 1767 wurde ihm auf einer Stammesversammlung in Četinje die Herrschaft über Montenegro übertragen. Man holte ihn zur Huldigung aus dem Kloster Majine ab. Er setzte einen allgemeinen Landfrieden durch. Während der echte Peter III. in Russland als regierungsunfähiger Halbidiot gegolten hatte (so wollte es zumindest die Propaganda seiner Gemahlin und Nachfolgerin Katharina II. aller Welt weismachen), verstand der falsche Peter in Montenegro sehr wohl zu regieren. Er legte sich eine Leibgarde unter seinem (analphabetischen) „Großkanzler“ Marko Tanović, dem Viehhändler, zu. Mit ihrer Hilfe setzte er die Urteile seines neu etablierten Gerichtshofes (gebildet aus 12 Clanhäuptlingen) gegen Blutrache, Räuberei und Landfriedensbruch streng durch. Gegen Getreidewucher legte er Höchstpreise fest. Er plante Montenegro durch Straßenbauten zu erschließen. Auch die erste öffentliche Schule Montenegros in Petrovac ging auf ihn zurück. Russisch war dort Lehrfach. Kurz, er machte sich daran, in dem anarchischen Land so etwas wie „Staatlichkeit“ und „Zivilisation“ durchzusetzen. 2

Petrovich S. 170 (übersetzt von Verf.)

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Ein von der Republik Venedig ausgesetztes Kopfgeld von 200 Zechinen auf den falschen Zaren, die Sperrung des Marktes von Kotor für die Montenegriner und die venetianische Besetzung des Klosters Majina verlockten keinen der Knese zum Abfall von Stephan. Auch ein Schreiben des russischen Gesandten in Konstantinopel Alexei Michailowitsch Obreskow, das der Vladika Sava angefordert hatte und das die Unechtheit des angeblichen Zaren bewies, vermochte nichts. Als dann der türkische Pascha von Skutari, der durch die Herrschaft des „Zaren“ die osmanische Oberhoheit über das innere Montenegro gefährdet glaubte, mit 50 000 Mann 1768 gegen ihn marschierte, bewährte Stephan Mali sich in den ersten Scharmützeln. Dann entzog er sich der türkischen Übermacht in die Berge. Jedenfalls behauptete er sein Ansehen und übernahm nach dem Abzug der Türken wieder die Regierung des Landes. Auch als er später 1770 bei einer Gesteinssprengung an einer Straßenbaustelle schwer verletzt wurde und ein Auge verlor, schadete das seinem Prestige nicht. Er ließ sich seit dem Umfall in einer prächtigen Sänfte, ein Geschenk der Republik Ragusa (heute Dubrovnik), herumtragen. Noch vorher war er freilich einer anderen, weit größeren Prüfung ausgesetzt gewesen. Die Kunde von dem wiedererstandenen Zaren, dem „Messias von Montenegro“3 verbreitete sich schon 1768 bis Wien. Der kleine Stephan hatte selbst Sendboten dorthin geschickt. Von dort berichtete der russische Gesandte Dmitri Michailowitsch Golicyn nach Petersburg. Auf die Berichte aus Wien, und vorher schon aus Konstantinopel, beschloss Katherina II. zu handeln. Sie schickte ihren Agenten Jurij Merk, Sekretär an der Wiener Gesandtschaft, mit einer geharnischten Proklamation gegen die Umtriebe des falschen Zaren nach Montenegro. Die Venetianer hielten ihn aber in Kotor (Cattaro) fest. Darauf wurde eine kleine russische Strafexpedition von 26 Mann unter Fürst Jurij Dolgorukov (1740-1830, ein bewährter Militär) heimlich an der dalmatinischen Küste gelandet. Sie hatte den Auftrag, den falschen Zaren zu beseitigen und die Montenegriner zu einem Aufstand gegen die Osmanen zu agitieren. (1768 war ein neuer russisch-türkischer Krieg ausgebrochen.) Der russiche Trupp schlug sich unter großen Schwierigkeiten bis nach Četinje durch. Im Kloster Burçele kam es am 13. August 1769 zu einer ersten Begegnung Dolgorukovs mit dem „kleinen Stefan“. In seinen Memoiren beschrieb der Fürst später den falschen Zaren als bleich, aber nicht unangenehm von Gesicht, schwarzlockig, mit einer beinah weiblich hohen Stimme. Er kleidete sich albanischtürkisch, zuweilen auch „deutsch“. Leider schweigt der Fürst in seinem Bericht über den Inhalt des Gesprächs mit dem Prätendenten. Man trennte sich zunächst in Frieden. 3

So der russische Botschafter in Wien Fürst Golicyn an die Zarin. Biographisches Lexikon zur Gesch. Südosteuropas S. 88

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Es wurde anschließend eine große Landesversammlung einberufen, auf der Dolgorukov die scharfe Erklärung Katharinas vor den etwa 2000 Anwesenden verlas. Er verlangte die Auslieferung Stephans. Dieser selbst erschien erst einen Tag später mit bewaffnetem Gefolge zu dieser Versammlung (18. August 1769), übergab sich aber dann selbst den Russen, um seine Position zu klären. Im Verhör wies er darauf hin, dass er sich selbst nie für den Zaren ausgegeben habe. Er behauptete, aus Janina in Thessalien zu stammen, was man ihm nicht abkaufte, da er kein Wort Griechisch verstand. Mit der Folter bedroht, gestand er, ein gewisser Rajčevic zu sein. Er wurde eingekerkert. Dolgorukov spielte sich von jetzt an als neuer Herr über Montenegro auf. Die Forderung der Clanhäuptlinge, er solle ihnen für die formelle Unterwerfung unter russische Hoheit die alten Freiheitsrechte des Landes bestätigen, lehnte er ab. Darauf wurde er in seiner klösterlichen Residenz in Četinje förmlich belagert. Rings im Land brach wieder das alte Chaos von Blutrache und Stammesfehden aus. Von allem Nachschub und allen Informationen abgeschnitten, beschloss Dolgorukov, mit seinen Getreuen und dem kleinen Stephan im Schlepptau das Kloster im Schutz nächtlicher Dunkelheit in Richtung Küste zu verlassen. (24. Oktober 1769). Der Abstieg dahin war abenteuerlich. Ohne die Hilfe Stephans, der sich als kundiger Bergführer erwies, wären die Russen verloren gewesen. Jetzt schwenkte Dolgorukov um. Vor seiner Einschiffung schenkte er Stephan die Freiheit, ja er ernannte ihn sogar feierlich zum russischen Statthalter in Montenegro. Stephan erhielt eine prächtige russische Offiziersuniform. Auf den folgenden zahlreichen Landesversammlungen präsentierte er sich von nun an nicht mehr als Zar, wohl aber als Beauftragter der Zarin. Die Montenegriner akzeptierten ihn auch in dieser Rolle. Seine Leibgarde kommandierte jetzt der russische Soldat Štjepan Barjaktarović. So hätte der kleine Stephan, der vermeintliche Zar, zum wahren Staatsgründer für Montenegro werden können. Es sollte nicht sein. Dem Pascha von Skutari gelang es, einen griechischen Agenten, Stanko Klasomunia, in die Dienerschaft Stephans einzuschmuggeln. Dessen Anschlag fiel der erste wahre Fürst von Montenegro in Majina zum Opfer. Am Morgen des 22. September 1773 fand man ihn in seiner Schlafkammer mit durchtrennter Kehle. (Nach anderen Berichten lieferte ihn der Verräter nach Skutari aus, oder er ging, so eine weitere Legende, die sein Getreuer Marko Tanović verbreitete, nach Russland. Fürst Dolgorukov erhielt übrigens für seine montenegrinische Aktion von der dankbaren Zarin den St.-Annen-Orden.) Zunächst kehrten in Montenegro die alten Zustände unter der schwachen „Regierung“des Vladika Sava – den Stephan fast unbemerkt in ein Kloster interniert hatte – zurück, aber das Vorbild des kleinen Fürsten wirkte nach. Die folgenden Petrović-Njeguš schufen in seinen Spuren den weltlichen Staat Montenegro.

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Einer dieser Reformfürsten, Vladika Petar II. Njeguš ( eigentlicher Name Rade, 1813-51, er regierte ab 1830), berühmt bis heute als der montenegrinische Nationaldichter schlechthin, setzte Stephan Mali denn auch ein literarisches Denkmal. In seinem Drama „Der falsche Zar Stephan der Kleine“ („Lazni car Šćepan Ma1i “ 1847, gedruckt Triest 1851) 4 stellt er ihn zwar als Hochstapler dar, lobt ihn aber als Ordnungsstifter und nationalen Kämpfer gegen Venedig, die Osmanen und den arroganten Russen Dolgorukov. Freilich wird er auch als Marionette politisierender Geistlicher des Klosters Majina vorgeführt. Am Ende des Stückes lässt der Dichter einen Popen das Schlussurteil über den falschen Zaren fällen: „Wer er auch war, ich kenn ihn nicht… Doch das Volk, es hielt ihn für den Zaren, und ehrt’ und fürchtete ihn sehr; und das Volk, es schart um diesen Namen sich wie wir gewünscht es hatten, wie die Welt sich schart um einen Trunknen. Da wir Stephan unheilvoll verloren, werden nun die Männer Montenegros ohne Zaren nach ihrer Willkür handeln…“5

Der Ruhm des falschen Zaren mag spätere Betrüger angeregt haben, in seinen Fußstapfen nach der Herrschaft über Montenegro zu streben. Ganz kurios waren in dieser Hinsicht die Bemühungen eines Grafen Stefan Zanović aus Buda, sich in Dalmatien und später 1776 in einem Brief an Friedrich II. von Preußen als den angeblich überlebenden Stephan Mali selbst auszugeben.6 Er hatte wenig Erfolg. Das hielt ihn nicht davon ab, 1784 eine französische Biographie „Stiepan Mali c’est à dire Etienne Petit ou Stefano Piccolo le Pseudo Pierre III“ gedruckt in „Mangalore“ auf den Markt zu werfen. Das beigefügte Kupferbild Stephan Malis ist allerdings das Porträt des Grafen. Milovan Djilas, der große Kritiker Titos und seiner „neuen Klasse“, erwähnt in seinem Werk über Petar II. Njeguš 7 dann noch einen „Grafen Vujić“ der 1792 auftrat und sich 1795 von einigen Clanführern zum „Schutzherren“ wählen ließ. Unter Petar II. beanspruchte ein falscher „Knez“ >ikola Vasojević die Fürstenwürde. Um 1870 trat ein „Fürst von Medun“ als Thronbewerber auf. Leider geht Djilas nicht näher auf diese Gestalten ein.

4 5 6 7

Inhaltsangabe und Kommentar zu diesem Werk bei Djilas S. 387-409 Zitiert nach Djilas S. 390 Mylnikov S. 232 Djilas S. 388

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XVI. Russland 1: Die falschen Zaren Dimitri (Demetrius)und ihre (achahmer in der Zeit der Wirren ab 1605 Als einen „Samosvanec“ oder „Selbsternannten“ bezeichnet man in Russland eine Person, die sich unter falschem >amen eine Autoritätsstellung anmaßt, die ihr nicht zukommt, insbesondere wenn es um die höchste aller Positionen, die Würde des Zaren, geht. Das Phänomen solcher falscher Prätendenten taucht in Russland erst spät, dafür umso heftiger und langwieriger auf als sonstwo. Die Anzahl der „Samosvanzen“ schwankt bei verschiedenen Autoren, die sich mit dem Thema befassen: Dunning zählt nach der ersten Welle (1604-13) weitere 12 bis 1700 und 44 für das 18. Jahrhundert. Longworth gibt für das 17. Jahrhundert 23, für das 18. nochmals 44. Ein russischer Historiker, Solowjew, spricht von 36 falschen Prätendenten, 12 davon in der Anfangsphase 1605-13. 1 Diese auf jeden Fall erstaunliche Menge hat zu allerlei Erklärungsversuchen Anlass gegeben. Bevor am Ende auf diese allgemeinen Thesen eingegangen werden kann, muss zunächst die lange Geschichte des Samosvanzentums aufgerollt werden. Zur Vorgeschichte: Runde siebenhundert Jahre herrschte die Dynastie der Rurikiden über Russland. Sie hatte den Zerfall des angeblich von ihrem Stammvater Rurik, einem Skandinavier-Waräger, am Ende des 9. Jahrunderts gegründeten (seit dem 10. Jahrhundert christlich-orthodoxen und slawisierten) Kiewer Großreiches in zahllose Teilfürstentümer ebenso überlebt wie deren Unterwerfung unter die mongolisch-tatarische Oberhoheit (1240-1480). Die Mitglieder ihres großfürstlich- Moskauer Zweiges waren schließlich mit ihrem Programm der „Sammlung russischer Erde“seit dem 14. Jahrhundert zu Begründern des autokratischen Zarenreiches geworden. Sie verstanden sich nach dem Fall von Konstantinopel 1453 in der >achfolge der orthodox byzantinischen Kaiser als Schutzherren des wahren Glaubens und damit als die vornehmsten Fürsten der Christenheit. Iwan IV. (1533-84., der sich 1547 nach byzantinischem Ritus zum „Zaren“ d.h. Caesar-Kaiser krönen ließ, setzte diesen Anspruch durch Eroberungen im Osten (der tatarischen Wolga-Khanate, Sibiriens) und mit (im Ende verlustreichen) Kriegen um das damals polnischlitauische bzw. schwedische Baltikum in konkrete Großmachtpolitik um. Sein ins Wahnwitzige übergehende zeitweilige Terrorregime, vornehmlich gegen den Bojarenadel gerichtet, brachte ihm den Beinamen „der Schreckliche“ ein. Er begründete damit gleichwohl die unumschränkte Macht (die Autokratie) der Zaren im Innern. Er führte die Rurikidendynastie auf den Höhepunkt ihrer Macht.

1

Dunning S. 119, Longworth S. 61, Solowjews Angabe bei Čistov S. 30)

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Der echte Dimitri und Zar Boris Godunow2 Iwan IV. leitete aber auch das Ende der Dynastie und beinahe auch das Ende des russischen Staates ein. Seinen viel versprechenden ältesten Sohn Iwan Iwanowitsch hatte er selbst 1581 in einem seiner krankhaften Wutanfälle erschlagen. Aus seinen sieben Ehen hinterließ er schließlich nur den frömmelnden, für die Geschäfte dieser Welt unfähigen oder unwilligen Thronfolger Fedor (Fjodor) („regierte“ 1584-98) und dessen Halbbruder Dimitri (Demetrius,) ein Kleinkind, dem er das Gebiet um Uglitsch nördlich von Moskau als Apanage vermachte. Fedors Ehe mit Irina Godunowa, derem ehrgeizigen und tüchtigen Bruder Boris er die Regierung überließ, schien unfruchtbar zu bleiben. Der in Uglitsch unter der Obhut seiner Mutter Maria Feodorowna Nagoja und deren Familie heranwachsende Dimitri verkörperte so die letzte Hoffnung auf die Fortdauer der glorreichen Moskauer Zarendynastie. Aber da er aus einer siebten Ehe stammte und die orthodoxe Kirche allenfalls drei Ehen gestattete, war er eigentlich nur ein Bastard. Auch litt er an Epilepsie und zeigte früh einen pathologischen Hang zu allerlei Sadismen, die für die Zukunft nichts Gutes verhießen. So fertigte er Schneemänner an, die er mit den Namen bekannter Bojaren beschriftete (u.a. Godunows), um sie dann grausam zu verstümmeln. Am 15. Mai 1591 erlitt er während eines gefährlichen Messerspiels im Hof seines Palastes einen epileptischen Anfall und schnitt sich krampfgeschüttelt selbst die Kehle durch. Seine herbeieilende Mutter und deren Brüder vermuteten einen Mordanschlag, ließen Sturm läuten, und die aufgebrachte Bevölkerung von Uglitsch lynchte ein paar des Mordes verdächtigte Hofleute. Eine aus Moskau entsandte Regierungskommission, darunter der spätere Zar Vassili Schuiski, verhörte 140 Zeugen, nahm sechs leicht variierende Darstellungen des Vorfalls zu Protokoll und entschied sich für die Unschuld der Lynchopfer. Die Einwohner der Stadt wurden hart bestraft, vielleicht sogar allesamt nach Sibirien deportiert (was allerdings bei einigen modernen Historikern als Anti-Godunow-Propaganda gilt 3 ). Maria Nagoja wurde zur Strafe für die Aufwiegelung der Uglitscher Bürger als Nonne Marfa in das St. Nikolaus- Kloster in Tscherepowez, heute am Rybinker Stausee nördlich von Moskau, eingesperrt, ihre Brüder in Verbannung geschickt. Natürlich kam sofort das Gerücht auf, der kleine Dimitri sei doch ermordet worden, und zwar im Auftrag des Regenten Boris. Diese Verdächtigungen gewannen, cui bono, noch mehr an Gewicht, als nach dem Tode des Zaren Fedor dessen Schwager sich von einer allgemeinen Landesversammlung (Zemski So2

3

Zur Person und Schicksal des echten Zarewitsch Demetrius ausführlich Merimée S. 15-21, übersetzter Text der Protokolle über das Ereignis in Uglitsch ebd, S. 289-305, Perrie S. 9-21, zur Affäre in Uglitsch Vernadsky passim. Berichte darüber tauchten erst nach Jahrzehnten in russischen Chroniken auf, zeitgenössische Quellen wissen nichts davon. Vernadsky S. 43-49.

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bor) 1598 zum Zaren erheben ließ. (Dabei hätte, so die Verteidiger Godunows unter den Historikern, doch aus der Ehe Fedors mit Irina auch nach 1591 noch Nachkommenschaft erstehen können. Tatsächlich gebar die Zarin 1593 ein Töchterchen, das aber schon einjährig verstarb.) Boris regierte umsichtig mit starker Hand, aber die Schäden, die die überspannte Politik Iwans IV. dem Lande zugefügt hatte, waren zu groß. Die Bojaren verachteten zudem den Emporkömmling. Einige von ihnen, wie die Schuiskis, glaubten aufgrund ihrer rurikidischen Abkunft Anrechte auf den Thron zu haben. Auch die Romanows, Vettern Fedors von mütterlicher Seite, nährten dergleichen Hoffnungen. (Sie wurden deshalb unter dem Vorwurf der Zauberei gegen Godunow 1601verbannt.) Andrerseits machte sich Boris durch Verschärfung der Schollenbindung und das Verbot privater Wodkabrennerei bei der breiten bäuerlichen Bevölkerung unbeliebt. Eine entsetzliche mehrjährige Hungersnot 1601-03, der er beim besten Willen seinerseits nicht steuern konnte, tat ein Übriges, um ihn zu diskreditieren. Das Gemunkel, Gott strafe ihn und das Land für den Mord an dem Zarewitsch in Uglitsch, nahm zu. Wurde auf diese Weise schon der tote Dimitri allmählich eine Gefahr für Boris, so sollte alles bald noch absurder und mysteriöser werden durch das Auftreten eines noch lebenden Dimitri. Ein Rätsel aller Welt – Demetrius, der falsche Zar Fürst Adam Wischniowiecki, Herr über riesige Ländereien an der damaligen russisch/polnisch-litauischen Grenze in der Pripjet-Region, hatte sein Vergnügen an dem aufgeweckten jungen Bediensteten, der kürzlich als Stallknecht an seinem Hof in Brahin eingestellt worden war. Er beförderte ihn zum Kammerdiener. Aber „einmal fügte es sich, dass der Fürst ins Bad gegangen war und der Kammerdiener ihm dort aufwarten musste. Der Fürst befahl ihm, etwas für das Bad zu holen. Als er aber etwas brachte, was er nicht bringen sollte, geriet der Fürst in Zorn, gab ihm eine Maulschelle und schalt ihn einen Hurensohn. Der Kammerdiener verhielt sich so, als ginge ihm dies sehr zu Herzen; er begann heftig zu weinen und sagte zu dem Fürsten: ,Wenn du, Fürst Adam, wüsstest, wer ich bin, würdest du mich nicht Hurensohn schelten und noch viel weniger mich wegen eines so geringfügigen Anlasses schlagen. Aber weil ich mich vor dir als Diener ausgegeben habe, muss ich es in Geduld ertragen.’ Darauf fragte ihn der Fürst: ,Wer bist du denn? Wie heißt du?’ Der Jüngling gab sich als den jüngsten Sohn des einstigen Moskauer Zaren Iwan Wassiljewitsch aus…“ So der Bericht des lange in Polen und Russland lebenden deutschen Zeitgenossen Conrad Bussow über die Selbstoffenbarung des von den Toten auferstandenen Zarewitschs. 4 Als Beweis seiner fürstlichen Herkunft zeigte der 4

Bussow S. 50-51

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Knecht dem Fürsten ein mit kostbarsten Edelsteinen geschmücktes Kreuz, durch seine Inschrift als ein Taufgeschenk des russischen Fürsten Iwan Mstislawski für den Zarensohn erkennbar. Fürst Adam ließ sich nicht lumpen. Am selben Abend noch stattete er seine Neuentdeckung königlich aus. Neben der vornehmsten Einkleidung erhielt der junge Herr sechs Reitpferde geschenkt. Der Fürst mochte auch deshalb so leicht an die Echtheit Dimitris glauben, weil schon seit 1598, verstärkt seit 1601, Gerüchte umliefen, Dimitri lebe noch. Die Wischniowieckis hatte sich im Übrigen auch an den moldauischrumänischen Prätendentenspielen beteiligt.5 Die Erzählungen des angeblichen Zarewitschs über seine Errettung vor den Mordanschlägen Godunows und seine zwischenzeitlichen Schicksale blieben freilich etwas vage. Ein treuer Wärter oder Arzt habe ihn rechtzeitig gegen einen anderen Knaben ausgetauscht. Er sei dann heimlich von Kloster zu Kloster und endlich über die russische Grenze in Sicherheit gebracht worden. (Die Einzelheiten wurden später in immer neuen Varianten ausgeschmückt.) Andere Quellen lassen sich den jungen Bediensteten, einen Stallknecht, auf dem Krankenbett, dem Tode nahe, einem Geistlichen des Fürsten Adam offenbaren. Die Badestubengeschichte wäre dann nur eine hübsche Legende.6 Was nun auch immer an jenem Septemberabend 1603 geschehen sein mag, Fürst Adam machte Verwandte und Freunde sogleich mit seinem Fund bekannt7, und so geriet Dimitri oder wer immer der junge Mann sein mochte, Ende 1603 oder Anfang 1604 an den Hof des Palatins Jerzy (Georg) Mniszech (Mnischek), Woiwoden (Gouverneur) des Bezirks Sandomir, in Sambor (am oberen Dnjestr), Schwiegervater eines Wischniowieckis. Dort schien er vor russischen Zugriffen sicherer zu sein. Der Palatin verfügte über ausgezeichnete Beziehungen zu den höchsten Würdenträgern des polnisch-litauischen Reiches. So gehörte etwa Kardinal-Erzbischof Bernard Maciejowski von Krakau zu seiner Verwandtschaft. Von ihnen unterrichtet schrieb der päpstliche Nuntius in Polen, Claudio Rangoni, noch 1603 über das Auftauchen Dimitris nach Rom. Rangoni selbst empfing den Zarewitsch am 19. März 1604. Der Nuntius gab sich der Hoffnung hin, Dimitri für die katholische Kirche gewinnen zu können. Im Gegenzug wollte er polnische Unterstützung für ihn mobilisieren. Papst Klemens VIII. empfahl freilich, im Hinblick auf die Affären um die gleichzeitigen falschen Sebastiane in Portugal, vorsichtige Zurückhaltung. Sein Nachfolger Paul V. war da unbedenklicher. Inzwischen hatte König Sigismund III. (Zygmunt) Wasa von Polen dem jungen Herrn schon am 15. März in Krakau eine Privataudienz gewährt. Ein an5 6

7

Perrie S. 40 Perrie S. 38 hält sowohl die Badestuben- als auch die Stallknechtgeschichten für spätere Legenden. Dokumentarisch wird der falsche Dimitri zuerst in einem Brief des Fürsten Adam an den polnischen Kanzler Zamoyski vom 7. 10. 1603 fassbar. Zu den Geschehnissen um Dimitri in Polen unter Heranziehung der polnischen Dokumente: Barbour S.19-55

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geblich aus Uglitsch stammender Dienstmann hatte dem König weisgemacht, Dimitri an einer Nasenwarze wieder erkannt zu haben. Der angebliche Zarewitsch erhielt eine Pension aus der königlichen Privatschatulle. Sie wurde mit Forderungen des Königs an Mniszech verrechnet. Allerdings konnte Sigismund Dimitri nicht offiziell unterstützen, da er 1601 einen mit Russland abgeschlossenen Waffenstillstand auf zwanzig Jahre verlängert hatte und der polnische Reichstag (Sejm) sich gegen einen Bruch dieses Vertrags aussprach. Aber, so meinte der König, Polen sei ein freies Land, und seine Untertanen, d.h. seine Magnaten, könnten selbst entscheiden, wem immer und wie sie jemanden zu Hilfe eilen wollten, unabhängig von König und Reichstag. Und die polnisch-katholische Geistlichkeit gab ihren ermunternden Segen dazu. Dimitri trat im April 1604 zur römisch-katholischen Kirche über und versprach in einem ehrerbietigen Brief an den Papst („Ich küsse die Füße Eurer Heiligkeit, als ob sie die Füße von Christus selber wären.“), den Katholizismus in Russland zu fördern (24. 4. 1604)8. Freilich sollten dieser Übertritt und diese Pläne vorerst geheim bleiben, um die Chancen Dimitris bei seinen zukünftigen russischorthodoxen Untertanen nicht zu gefährden. Mniszech, der sich zum Hauptprotektor Dimitris aufgeschwungen hatte, setzte jetzt ganz auf diese Karte. Er verlobte ihm Ende Mai 1604 seine siebzehnjährige Tochter Marina an. In einem Verlobungsvertrag ließ Mniszech sich und seiner Tochter gewaltige Geldzahlungen und große Ländereien mit Hoheitsrechten in Russland zusichern. Der Palatin, sowieso schon beinahe bankrott, hatte sich für Dimitri noch in weitere Schulden gestürzt (in Krakau hatte er z.B. glänzende Feste für ihn gegeben). Mittlerweile hatten eine Reihe polnischer Magnaten ihre bewaffneten Gefolgschaften zusammengerufen. Eine auf Druck des Reichstags erlassene Vermahnung Sigismund III. gegen diese Zusammenrottungen war wohl nicht ernst gemeint. Zu den Zaporoger Kosaken am Dnjepr wurden Werber geschickt. Mit einem mehrtausendköpfigen (2500 Polen und 3000 Kosaken) Heer überschritt Dimitri östlich von Kiew Ende Oktober 1604 die damalige russische Grenze, um den Mörder und Thronräuber Boris Godunow vom Zarenthron zu verjagen. Er eröffnete damit für Russland endgültig die leidvolle „Zeit der großen Wirren“ (russisch: „Smuta“). Godunow war früh vom Auftauchen Dimitris unterrichtet worden. Er versprach Wischniowiecki brieflich die Rückgabe umstrittener Ländereien an der russisch-litauischen Grenze für die Auslieferung Dimitris. 1604 wandte er sich in einem geharnischten Schreiben an König Sigismund III. In diesem Schreiben und in einer Proklamation an seine Untertanen entlarvte er Dimitri als einen Rastriga, einen entlaufenen Mönch, namens Grigorij (Grischka, Juschka, polnisch auch Hrischka) Otrepev (Otrepjev), Sohn eines Kleinstadligen namens 8

Der Brief in englischer Übersetzung bei Howe S. 7.

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Bogdan Otrepev aus Galitsch (einem Ort nördlich der oberen Wolga), einen Tunichtgut seit Kindheit an, der sich vor den rachelüsternen Opfern seiner Missetaten zuletzt in ein Kloster geflüchtet, aber auch dort für Unruhe gesorgt habe. Von harten Strafen bedroht, sei er endlich außer Landes entwichen. In einem Brief an den polnischen Reichstag deutete Boris an, er könne dem polnischen Dimitri-Schwindel mit gleichen Mitteln begegnen. In Uglitsch (!) lebe Gustav Erikson, ein möglicher Thronkandidat für Polen und Schweden.9 Der Moskauer Patriarch Job (Hiob) bestätigte die Otrepev-Geschichte in seinen Hirtenbiefen. Der gerissene Otrepev habe ihm im Tschudov („Wunder“)Kloster im Kreml sogar zeitweilig als Sekretär gedient. Auch Kaiser Rudolf II. in Prag und Papst Klemens VIII. wurden in diesem Sinne angeschrieben. Schuiski, Kronzeuge für die Ereignisse in Uglitsch 1591, musste nochmals öffentlich verkünden, er habe die Leiche des echten Dimitri gesehen. Die Zarinwitwe und nunmehrige Nonne Marfa wurde von Boris und seiner Gemahlin nochmals streng über die Vorgänge in Uglitsch verhört. 10 Ein Oheim Otrepev-Smirnov (Smirnoj) des Rastriga reiste im Auftrage Boris Godunows nach Polen, um den Prätendenten in Augenschein zu nehmen und zu entlarven. Er wurde nicht vorgelassen. In späteren Verlautbarungen an die Polen hat der Moskauer Hof die Otrepev-These anscheinend abgeändert und auch andere Namen (darunter „Dimitri Rheorowicz“, einen Schustersohn) genannt.11 Inzwischen feierte Dimitri Anfangserfolge.12 Ihm strömten Angehörige aller Stände zu. Er verschickte Aufrufe an die Bevölkerung, sich dem wahren Zaren zu unterwerfen, und versprach vage Belohnungen und eine milde und rechtgläubige Regierung. Zar Boris erhielt einen Schmähbrief, in dem er zur Abdankung und Rückzug an einen stillen Ort der Buße aufgefordert wurde. Eine Reihe von Städten im Südwesten Russlands und am Nordrand der heutigen Ukraine (Putivl, Tschernigov, Kursk, Kromy) öffneten Dimitri nahezu kampflos die Tore. Aber die Festung Novgorod Seversk wurde von einem der fähigsten Militärkommandanten Godunows, Pjotr (Peter) Feodorowitsch Basmanov zäh verteidigt, bis Zar Boris ein größeres Aufgebot in den Kampf schicken konnte. Ende Dezember und im Januar 1605 erlitten die Truppen Dimitris schwere Niederlagen. Er musste sich nach Putivl zurückziehen. Die Polen droh9

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Dieser Brief in englischer Übersetzung bei Howe S. 8-16. Das Schicksal dieses schwedischen Prinzen, der jahrzehntelang aus Schweden vertrieben durch Europa irrte, hat nach Meinung Merimées möglicherweise den falschen Dimitri zu seinem gewagten Spiel inspiriert. Merimée S. 37 und 217. Zu Gustav Erikson vgl. auch Kapitel VIII, Daljunker. Dies nur in dem Bericht des Niederländers Isaak Abrahamzoon Massa für den 7. 4. 1604 (julianisch) erwähnt: Barbour S. 63 Ščepin S. 264-65 Die Ereignisgeschichte bis zum Ende Dimitris soweit nicht anders vermerkt nach Merimée S. 47-217, Pantenius passim, Perrie S. 35-106, Barbour passim, Neubauer S. 1019-33, Dunning S. 137-234

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ten ihn zu verlassen. Mniszech reiste unter Vorwänden nach Krakau zurück. Dimitri selbst schwankte. Aber seine Kosaken, die Nachschub erhielten, zwangen ihn durchzuhalten. Allerdings ernannte Zar Boris nun Basmanov zum eigentlichen Oberbefehlshaber gegen Dimitri (formell ging der Titel zunächst an vornehmere Herren), wobei er die Aspirationen hochadliger Bojaren zugunsten von Vollmachten für diesen Emporkömmling überging. Mit Basmanov als Gegner standen Dimitri zumindest harte Zeiten bevor. Die Wende brachte der überraschende Tod Boris Godunows am 13. April 160513. Sein Sohn und Nachfolger, der sechszehnjährige Fedor (II.), sah sich sogleich den Intrigen der Moskauer Bojaren ausgesetzt, denen das GodunowRegime immer verhasst gewesen war. Sie taten nun auch alles, um die Versorgung der Basmanovschen Armee zu stören. Angewidert von diesen Manövern und wegen kränkender Zurücksetzungen entschloss sich Basmanov am 7. Mai 1605 bei Kromy zu Dimitri überzugehen und ihm seine Dienste anzubieten. Nun war kein Halten mehr. Die Städte südlich von Moskau ergaben sich kampflos, Proklamationen Dimitris wurden nach Moskau geschmuggelt und dort öffentlich auf dem Roten Platz verlesen. Die ersten Bojaren reisten Dimitri entgegen. Ihre in Moskau verbliebenen Standesgenossen verhafteten am 31. Mai den jungen Zaren Fedor. Am 10. 6. wurden er und seine Mutter erwürgt und auf einem Schandfriedhof verscharrt, zusammen mit der Leiche ihres aus der Zarengruft gerissenen Gemahls und Vaters Boris. Die Familie, auch schon Boris, so wurde verbreitet, habe sich aus Scham für den Mordversuch an Dimitri vergiftet. Am 20. Juni 1605 zog Dimitri, von der Bevölkerung der Stadt enthusiastisch als die „leuchtende Sonne Russlands“14 begrüßt, mit aller Pracht und Herrlichkeit und einem Gefolge von 8000 Mann in Moskau ein. Er begab sich sofort in die Erzengel-Kathedrale des Kreml, um unter Tränen an den Sarkophagen seines Vaters Iwan und seines Bruders Fedor zu beten. Am 18. Juli ließ er die Nonne Marfa, seine Mutter Maria Nagoja, aus ihrer Klosterhaft feierlich in die Hauptstadt heimholen. Er ritt ihr entgegen, begleitete ihren Wagen ehrerbietig zu Fuß, und ließ sich von ihr öffentlich mit Tränen der Rührung als wieder erkannter Sohn umarmen. Sie erhielt eine prächtige Residenz, und alle Nagojs und Romanows wurden aus der Verbannung zurückgerufen. Als einige Zeit später konsequenterweise Dimitri die „falsche“ Zarewitschleiche in Uglitsch beseitigen wollte, scheinen Marfa doch Gewissensbisse über ihre Wiedererkennungskomödie gekommen zu sein. Sie soll die Graböffnung verhindert und von da an gegen Dimitri gearbeitet haben.15

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Die Daten für Ereignisse in Russland nach dem alten julianischen Kalender. Nach dem heute gültigen gregorianischen Kalender sind den Daten für diese Zeit jeweils 10 Tage zuzuschlagen. Perrie 78 Pantenius S. 118

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Fürst Schuiski aber ließ bekanntmachen, er habe den toten Knaben in Uglitsch gar nicht recht zu Gesicht bekommen. Es könne sich also um eine untergeschobene Kinderleiche gehandelt haben. Auch der Taufpate des echten Zarewitsch, der Bojar Bogdan Belskij, beschwor die Echtheit des Wiedergekehrten. Am 21. Juli wurde Dimitri von einem neu ernannten Patriarchen zum Zaren gekrönt. (Job war abgesetzt und in Klosterhaft geschickt worden. An seine Stelle trat ein Grieche namens Ignatius. Dieser war Bischof von Zypern gewesen, hatte sich lange in Rom aufgehalten und wurde verdächtigt, katholisch zu sein.) Ein Urteil über die Regierung Dimitris ist schwer zu fällen. Sein Nachfolger Vassili Schuiski ließ die betreffenden Akten vernichten. Nach seinem Sturz verleumdeten ihn seine Gegner auf das Übelste. Angeblich ein blutrünstiger Despot, habe er 30 Nonnen vergewaltigt, die Godunow-Tochter Xenia zur Mätresse erniedrigt, und er soll es auch mit Mönchen und hübschen Pagen getrieben haben16. Die Orthodoxie und das russische Volk habe er durch mutwillige Kriege gegen überlegene Feinde ausrotten wollen. Die Historikerin Hedwig Fleischhauer verzichtet (1933) zwar darauf, alle pikanten Details aufzuwärmen, macht Dimitri jedoch den Vorwurf, russische Sitten und Gebräuche schwer verletzt zu haben. Tatsächlich verzichtete Dimitri auf den üblichen Mittagsschlaf, mied die russischen Bäder, aß das verbotene Kalbfleisch und ließ sich den Bart scheren, achtete die Ikonen gering und nahm wenig Rücksicht auf orthodoxe Feiertage, z. B. den Nikolaustag. Auch in der großen Politik, meint Fleischhauer, habe er gegen Russlands Interessen und Seele verstoßen: „Nach allen Seiten sah sich Russland in seinen Interessen, seinem Glauben, seinen gegebenen Bedürfnissen bis zur Gefährdung seiner nationalen Freiheit und integren Existenz verraten.“ 17 Insbesondere werden auch die geplanten „zwecklosen“ Kriegszüge Dimitris verurteilt. In der neueren Geschichtsschreibung hat Dimitri einen weit besseren Leumund. Ein von ihm angeregtes, vom „Reichsrat“ oder der jetzt auf 70 Mitglieder erweiterten Bojarenduma bestätigtes Gesetz vom Januar 1606, das die Rückführung entflohener Leibeigener auf eine Fünfjahresfrist beschränkte und die während der Hungersnot von 1601-03 um des Überlebens willen zu neuen Herren geflohenen Bauern bei diesen beließ, gilt bei einigen Historikern als ein Hinweis auf soziale Tendenzen. Ebenso die regelmäßige Entgegennahme von Bittschriften an jedem Mittwoch und Sonnabend auf der Freitreppe vor dem Kreml. Ein neuer Rechtskodex wurde vorbereitet. Steuererleichterungen und Verschonung mit Rekrutierungen kamen jedoch allenfalls jenen Städten und Bezirken zugute, die sich 1604 freiwillig für ihn erklärt hatten. Seine Abneigung gegen das schwerfällige Hofzeremoniell, seine Freude an technischen Neuerungen, z. B. beim Kanonenguss, seine Vorliebe für Ausländer, die Entsendung junger Adliger zur Ausbildung in den Westen, seine Toleranz (er stellte Protestanen als 16 17

Nach einer Behauptung des Niederländers Massa: Dunning S. 201 Fleischhauer S. 99

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Sekretäre ein, erlaubte den Bau einer katholischen Kirche, hatte jesuitische Berater), Handelserleichterungen, die er plante, lassen ihn als einen Vorläufer Peters, des großen Reformzaren, erscheinen.18 Ehrgeiz zeigten auch seine außenpolitischen Pläne. Er bereitete wohl einen großen christlich- überkonfessionellen Bund gegen die Tataren und Osmanen vor. Diesen „großen Entwurf“ legte er am 30. November 1605 in einem Brief an Papst Paul V. nieder. In Eletz (Jeletz) weit südlich von Moskau legte er Waffenund Verpflegungsvorräte für eine Armee von 300 000 Mann an. Vom Khan der Krim-Tataren, einem Vasallen der Osmanen, verlangte er Rückzahlung aller seit 1240 geleisteten russischen Tribute und provozierte ihn durch die Zusendung eines „Schweinefells“: für den muslimischen Khan eine unerhörte Provokation.19 Allerdings verärgerte er König Sigismund III. von Polen mit der Forderung, dieser solle ihm die volle kaiserliche Titulatur (Imperator invictissimus, unbesiegtester Kaiser) zugestehen. Beim Empfang eines neu ernannten polnischen Gesandten kam es deshalb beinah zum Skandal. Der verstimmte Polenkönig soll sogar angedeutet haben, man habe gegen den undankbaren Dimitri noch einen falschen Boris Godunow in peto.20 Diese Affäre zeigt, dass Dimitri sich keineswegs als Marionette seiner polnischen Gönner empfand. Er gedachte selbstständig zu regieren und hatte dazu anscheinend genügend eigene Ideen. Überhaupt muss seine Persönlichkeit trotz seines wenig attraktiven Äußeren (eher klein von Wuchs, breitschultriguntersetzt, rotblond, blaue Augen, bräunlicher Teint, schütterer Bart, Wulstlippen, Warzen auf der Nase, die Arme ungleich lang) beeindruckend gewesen sein. Er beherrschte mehrere Sprachen, war redegewandt und gebildet mit guten historischen Kenntnissen, ein glänzender Reiter, liebte Pferderennen, war im Felde tapfer, und er erlegte bei einem Schaukampf sogar einen Bären mit eigener Hand. Mit Verschwörungen, die sich gegen ihn richteten und die meist der wachsame Basmanow aufdeckte, wurde er zunächst schnell fertig. Eine Clique von Bojaren um die Schuiskis, die unmittelbar nach seiner Ankunft in Moskau gegen ihn wühlte, ließ er durch ein großes „Volksgericht“ vor den Kremlmauern, zusammengesetzt aus allen Ständen, wegen Hochverrats zum Tod oder zur Verbannung verurteilen. Die Bojaren Trubetzkoi und Kolatschnik wurden hingerichtet. Vassili Schuiski, der sein Haupt schon auf den Henkersblock gelegt hatte, wurde allerdings dann im letzten Augenblick (auf polnische Intervention ? ) begnadigt (1. Juli 1605). Er durfte wenig später sogar aus der nun angeordneten Verbannung zurückkehren. Eine Meuterei unter den Strelitzen (ein stehendes Korps, mit Arkebusen bewaffnet, dessen Mitglieder sich einiger Privilegien erfreuten und außerhalb ih18 19 20

Perrie S. 86 Diese Episode bei Palitzyn S. 390 Barbour S. 147: Boris lebe in England, Merimée S. 146

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res Dienstes sich als Handwerker oder Kleinhändler ein steuerfreies Zubrot verdienen durften) legte Dimitri im März 1606 durch eine mutige Ansprache bei. Die Meuterer hatten Dimitris Echtheit bezweifelt. Die Strelitzen durften ihre sieben hauptschuldigen Kameraden selbst richten. Man riss sie in Stücke. Dimitri legte sich wohlweislich eine zusätzliche Leibgarde aus ausländischen Söldnern zu, die er mit verschiedenfarbigen Samtwämsern prachtvoll ausstaffierte. Einige von ihnen, so der Franzose Jacques Margaret, hatten schon Boris Godunow gedient. Margaret hinterließ später einen farbigen Bericht über seine Erlebnisse in Russland. Unter dem neuen Zaren, gleich ob echt oder unecht, schien Russland großen Zeiten entgegenzugehen. Von dem deutschen Söldnerführer Bussow im Geheimen über die Echtheit des Zaren ausgeforscht, gab Basmanow, dem Dimitri den Thron nicht zuletzt verdankte, die etwas kryptische Antwort, jedenfalls sei Dimitri der beste Zar, den sich Russland wünschen könne. Man werde nie einen besseren Zaren finden.21 Das neue Zeitalter sollte durch eine Zarenhochzeit von nie da gewesener Pracht eingeleitet werden. Dimitris polnische Verlobte Marina Mniszech trat im März 1606 ihren Brautzug nach Moskau an. Noch in Polen war sie im November 1605 in Anwesenheit der königlichen Familie „per procurationem“ dem Zaren angetraut worden. Schon ihr Vater, der ihr vorauseilte, wurde mit kostbarsten Geschenken überhäuft. Ihr zu Ehren wurden Straßen und Brücken ausgebessert. Ihr Gefolge umfasste nahezu 2000 polnische Damen und Herren samt ihren Dienern, darunter Mohren, 300 Marketender und über tausend Pferde. Nach Moskau fuhr sie schließlich am 2. Mai 1606 unter dem Getöse von Trompeten und Trommeln in einer vergoldeten Kutsche ein, gezogen von zwölf Apfelschimmeln. Am 8. Mai wurde sie nach ihrer Krönung nochmals in einer pompösen Zeremonie Dimitri angetraut. Ihr Krönungsdiadem soll unglaubliche 490 000 Gulden gekostet haben. Der Festrausch zog sich tagelang hin. Er fand ein jähes, blutiges Ende. Die so leichtsinnigerweise begnadigten Schuiskis hatten von langer Hand eine neue Bojarenverschwörung gegen den in ihren Augen falschen Zaren eingeleitet. Die Bojaren hatten in Dimitri stets nur ein Mittel gesehen, die verhassten Godunows loszuwerden: damit hatte er seine Schuldigkeit getan und sollte verschwinden. Man hatte das schon 1605 zu bewerkstelligen versucht. Jetzt ging man geschickter vor. Man gewann die Moskauer Kaufmannschaft, die fürchtete, Dimitri könnte ausländische Konkurrenz zulassen, und die Geistlichkeit, die allen Grund hatte, der Rechtgläubigkeit Dimitris zu misstrauen, für den geplanten Putsch. Im Volk wurden allerlei Gerüchte über Gewalttätigkeit, Religionsfrevel und dunkle Pläne der mit Marina eingefallenen Polen verbreitet. Die polnischen 21

Bussow S. 119

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Herren hatten sich freilich recht arrogant aufgeführt, sich z. B. während des Krönungsgottesdienstes gegen allen orthodoxen Brauch auf herbeigeschafften Stühlen niedergelassen. Die Braut Marina, vorläufig in einem Kreml-Kloster einquartiert, hatte dort frivole Musik spielen lassen und die (für Russen) als höchst unanständig geltende polnisch-modische Hoftracht zur Schau getragen. Kaum war sie zu überreden gewesen, wenigstens zu Hochzeit und Krönung in russisch-keuscher Gewandung zu erscheinen. Da ihr der päpstliche Dispens zum Empfang der Kommunion nach orthodoxem Ritus versagt worden war, lehnte das Zarenpaar nach der Trauung die Hostie einfach ab. Ein großer Skandal. Die Schuiskis sorgten dafür, dass er im Volk bekannt wurde. Auf den Straßen Moskaus war es bereits zu blutigen Schlägereien und sogar Schießereien zwischen Polen und Russen gekommen. All das nutzten die Verschwörer aus. In der Nacht zum 17. Mai 1606 ließen sie die Sturmglocken der Moskauer Kirchen läuten. Der auf dem Roten Platz vor dem Kreml zusammenströmenden aufgewühlten Menge verkündeten sie, es gelte den Zaren vor einem Anschlag der Polen zu retten. Mit Hilfe der aufgebrachten Moskauer erzwangen sie Einlass in den Kreml und stürmten, das Volk hinter sich lassend, zu den Zarengemächern. Basmanow, der sich ihnen in den Weg stellte, wurde ebenso niedergemacht wie die meisten Leibgardisten, von denen sich nur etwa 30-50 im Palast befanden. Dem Großteil seiner Garde hatte Dimitri nach dem anstrengenden Dienst während der Festtage Urlaub gewährt. Und ihr umsichtiger „Kapitän“ Margaret war erkrankt. Der schutzlose Zar versuchte sich tapfer wehrend in die inneren Kammern und schließlich durch einen Sprung aus dem Fenster zu retten, brach sich ein Bein und blieb hilflos in einem der Palasthöfe liegen. Strelitzen, die ihn zu schützen versuchten, wurden niedergemacht. Die Bojaren schleppten Dimitri unter Schlägen und Schmähungen in seine Gemächer zurück. Ein Kaufmann namens Mylnikov soll ihm den Gnadenschuss versetzt haben22 . Nach anderen Berichten besorgten dies die Höflinge Grigorij Walujew und Ivan Wojejkow.23 Marina verbarg sich unter dem weiten Rock einer ihrer Hofdamen und überlebte so den ersten Blutrausch der Angreifer, dem sogar ihre polnische Musikkapelle zum Opfer fiel. In der Stadt tobte mittlerweile der Mob gegen die Polen. 500 (vielleicht sogar 2000)24 wurden erschlagen, viele verwundet und ausgeplündert. Nur die polnische Botschaft und Vater Mniszech verfügten in ihren Residenzen über genügend Bewaffnete, um jeden Angriff abzuschlagen. Mniszech erkaufte von dem nun regierenden „Bojarenrat“ gegen eine hohe Summe (60 000 Reichstaler und

22 23 24

Dunning S. 234 Barbour S. 240 Bussow gibt S. 100 die Zahl 2135, im Kommentar der Herausgeber wird auf andere Quellen mit geringeren Zahlen verwiesen (S. 256)

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20 000 polnische Silberstücke) die Übergabe Marinas. Vater und Tochter wurden später nach Jaroslawl an der Wolga, nördlich von Moskau, verbannt. Die nackte Leiche Dimitris, durch ihre Verletzungen nur noch halbwegs kenntlich, wurde an einem um die Geschlechtsteile gebundenen Strick an der Residenz der Nonne Marfa vorbei auf den Roten Platz geschleift. Gefragt, ob dies ihr Sohn sei, soll sie geseufzt haben: „Jetzt ist er offenbar nicht mehr mein Sohn.“25 Auf dem Roten Platz wurden die Überreste Dimitris, über die Leiche Basmanows gelegt, drei Tage zur Schau gestellt. Auf den Unterleib legte man eine Theatermaske, in den Mund wurde eine Dudelsackpfeife geschoben. So sollte er als bloßer Gaukler entlarvt werden. Wächter berichteten, nachts hätten sich um die Leiche unheimliche Flämmchen gezeigt. Totengräber, die die Leiche schließlich vor der Stadt verscharrten, erzählten, sie sei bald darauf an einem ganz anderen Ort gelegen. Sie wurde jetzt verbrannt. Wollte man damit dem abergläubischen Volk weismachen, Dimitri sein ein Teufelsdiener und Zauberer gewesen? Ein zeitgenössischer Chronist (der Juwelier Hans Georg Peyerle aus Augsburg, geschäftehalber in Moskau) wusste zu vermelden, man habe die Asche aus einer Kanone in Richtung Polen verschossen. 26 Schon am 20. Mai 1606 proklamierte der kleine Bojarenrat der Verschwörer den ältesten der Schuiski-Brüder als Vassili IV. zum neuen Zaren. Der ließ nochmals ein ausführliches Sündenregister Dimitris in allen Städten des Reiches öffentlich verlesen und dabei auch wieder die Otrepev-Thesen Godunows verkünden. Ein Vertrauter und Sekretär Dimitris musste sie öffentlich beschwören. Die Godunows erhielten jetzt merkwürdigerweise ein ehrbares Klosterbegräbnis. Xenia, die überlebende Tochter Godunows, noch auf Befehl Dimitris zur Nonne Olga geschoren, durfte aus ihrer Sänfte heraus im Leichenzug wüste Verfluchungen gegen Dimitri schleudern. (Sie soll von ihm geschändet worden sein. Olga starb 1622.) Die Nonne Marfa, sie starb 1612, gestand, ihr seinerzeitiges Echtheitszeugnis für den falschen Zaren sei erzwungen gewesen. Mit ihrem Einverständnis wurde jetzt das Grab des echten Dimitri in Uglitsch geöffnet. Man fand den Leichnam des Knaben angeblich unverwest. Ein Zeichen, dass er als unschuldiger Märtyrer gestorben war. Er wurde nach Moskau überführt und dort in einer der Kreml-Kirchen ausgestellt. Wunder ereigneten sich am offenen Sarg, und Dimitri wurde zum Heiligen erklärt. Hatte man einen frisch getöteten Knaben in seine Uglitscher Gruft gelegt ?27 Schuiski selbst erklärte wieder einmal, er habe die Leiche des echten Dimitri 1591 doch gesehen. All diese geradezu hektischen und zum Teil widersprüchlichen Aktionen lassen erahnen, wie sehr das neue Regime sich vor dem Andenken des jungen 25 26 27

Barbour S. 234 Peyerle S. 45. Herausgeber Orchard hält die Kanonengeschichte eher für eine Legende. Über den Kult um den echten Dimitri, den er freilich verspottet, und das Gerücht über die Tötung eines Knaben Peyerle S. 45

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Mannes fürchtete, der fast ein Jahr lang als Dimitri Iwanowitsch über Russland geherrscht hatte. Diese Befürchtungen sollten sich bald bewahrheiten: der Ermordete kehrte wieder. Bevor das Schicksal des so wunderbar wieder Auferstandenen behandelt wird, muss allerdings noch einmal auf die Frage der Echtheit-Unechtheit und der möglichen wirklichen Identität des ersten (falschen?) Dimitri eingegangen werden. 28 Dass es sich bei ihm, wie Godunow verbreiten ließ, um den Rastriga Otrepev handeln könnte, wird auch heute noch von der gängigen Geschichtsschreibung als Standardvermutung übernommen. Man bemüht sich, die Wanderungen dieses ominösen Otrepev minutiös nachzuzeichnen (nach dem frühen Tod seines Vaters Bogdan Bediensteter bei Fürst Tscherkasskij, einem Schwager der Romanows und Gegner Godunows, dann Eintritt ins Kloster, zuletzt im Tschudow-Kloster des Kreml als Kirchensänger und Sekretär des Patriarchen Job, aber von Zar Boris misstrauisch beäugt und mit Verbannung bedroht, Flucht nach Galitsch, Murom, 1601 Pilgerfahrt nach Kiew mit den Mönchen Varlaam (Barlaam) Jatskij und Misail (Mihail) Povadin, Gast bei Fürst Konstantin Ostrovski, Studium in Hoscza (Gošča) bei den protestantischen Socinianern, dann in Diensten des Fürsten Adam Wischniowiecki. Auch ein Aufenthalt bei den Zaporoger Kosaken wird zuweilen angenommen). Andrerseits erscheint vielen Historikern die Otrepev-These als sehr unwahrscheinlich. Als Sekretär des Moskauer Patriarchen Job wäre Otrepev viel zu prominent gewesen, als dass er sich für einen anderen hätte ausgeben können. Für einen Mönch zeigte Dimitri zudem erstaunliche Fähigkeiten, die eher auf eine adlig-weltliche Erziehung hinwiesen. Es wird deshalb vielfach angenommen, dass zwar ein entlaufener Mönch Otrepev existierte, dieser sich aber nur als Agent und Propagandist für Dimitri und dessen Hintermänner umhertrieb, den Prätendenten vielleicht auch zeitweilig begleitet habe. Dies vermuteten schon die Zeitzeugen Margaret (der den geheimnisvollen Otrepev noch nach 1606 gesehen haben will) und Bussow (der aber andrerseits auch Beweise für die Unechtheit Dimitris vorbringt). Dieser Otrepev, der 1605 in Putivl gezeigt worden wäre, um seine Identität mit Dimitri zu widerlegen29, soll dann von Dimitri wegen Trunksucht verbannt und unter Zar Schuiski getötet worden sein. Vor allem gibt aber das selbstbewusste, oft sogar leichtsinnige, von sich selbst überzeugte Verhalten Dimitris zu denken, etwa gegenüber der ersten Schuiski-Verschwörung. Es scheint nur erklärbar, wenn man annimmt, Dimitri selbst sei von seiner Echtheit überzeugt gewesen. Ein betrogener Betrüger. Ir28

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Die Diskussion darüber insbesondere in der russischen Historiographie bis zum Ende des 19. Jhd. bei Ščepin. Dieser verwehrt sich besonders gegen die Otrepev-These. Er identifiziert Dimitri eher mit dem oben genannten Rheorowicz und spielt mit der Vermutung, der falsche Dimitri sei ein Bastard aus dem Umkreis der Zarenfamilie gewesen (S. 419 im 4. Teil.). Barbour S. 91, am 8. 3. 1605

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gendwelche gegen Godunow arbeitende Hintermänner (die Romanows oder Nagojs vielleicht) hätten demnach einem geeigneten Knaben die Identität mit dem unglücklichen Zarewitsch aufgeschwatzt und ihn für seine Rolle dressiert. Bussow in seiner zeitgenössischen Chronik geht davon aus, dass es sich dabei um einen unehelichen Sohn König Stefan Bathorys von Polen gehandelt haben könnte. Bussow hatte übrigens unter Bathory gedient. 30 Allerdings hätten die Hintermänner dieses falschen Dimitri jahrelang auf bloße Spekulation einen immerhin am Anfang schon zehnjährigen oder noch älteren Knaben abrichten müssen. Die Historikerin Maureen Perrie hat 1955 eine vermittelnde Hypothese zwischen der Otrepevtheorie und der Selbsteinschätzung des Prätendenten als echten Dimitri entwickelt.31 Danach war Dimitri wahrscheinlich doch mit Otrepev identisch. Die Verstoßung durch seine Familie, die sehr wohl adelig gewesen sei und im Kontakt zur Hofhaltung in Uglitsch gestanden habe, sowie die Zwangseinweisung ins Kloster habe den sensiblen jungen Mann in eine Identitätskrise gestürzt. Er selbst sei zu dem Schluss gekommen, kein Otrepev zu sein, sondern der gerettete Zarewitsch. (Hatte er „Zarenzeichen“ auf seinem Körper entdeckt? Narben in Kreuzesform oder dergleichen. Er soll solche später gezeigt haben.) Schon im Moskauer Kloster und in Kiew habe er derartige Andeutungen gemacht, aber kein Echo gefunden. Erst in Polen sei er mit seiner Selbstüberzeugung in ein politisches Interessengeflecht verstrickt worden, das ihn schließlich auf den Moskauer Thron befördert habe. Im Grunde aber habe er sich selbst erfunden und deshalb später eine durchaus eigenständige Politik, auch gegen seine Förderer, betreiben können. Ein russischer Forscher, Alexej Sergejewitsch Suworin, stellte 1906 seinerseits alle Argumente zusammen, die für die schlichte Echtheit Dimitris sprechen.32 Er wies unter anderem darauf hin, dass die unkenntliche (unkenntlich gemachte?) angebliche Leiche des echten Zarewitschs, durch die Nagois abgeschirmt, ohne großes Zeremoniell aufgebahrt worden sei, dass ein Vetter der Zarin Maria (Marfa) einen seltsamen Eilritt nach Jaroslawl unternommen habe, um bei einem befreundeten Engländer geheimnisvolle Medikamente zu erbitten. Dies seltsame Verhalten der Nagois deute darauf hin, dass sie etwas zu verbergen hatten. Die Otrepevs hätten ihrerseits gute Beziehungen zu Uglitsch gehabt. Es sei also möglich, dass die Nagois den Zarewitsch, der vielleicht verwundet aber nicht getöten worden sei, gegen eine Kinderleiche ausgetauscht, den echten Dimitri aber den Otrepevs zur Adoption gegeben hätten. Oder die Nagois hätten, was noch wahrscheinlicher wäre, Dimitri schon als Kleinkind vor den zu erwartenden Anschlägen Godunows in die Obhut der Otrepevs gerettet und durch ein anderes Kind ersetzt. 30 31 32

Bussow S. 49 und 120 Perrie S. 55-58 Nach Perrie S. 39

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Wer auch immer der erste Dimitri war, von seiner Person muss ein Faszinosum ausgegangen sein. Es hat nicht nur seine Zeitgenossen beeindruckt. Wie außerordentlich interessant Mit-und Nachwelt diese rätselhafte Gestalt empfanden, davon zeugen die unzähligen literarischen Versuche, sich der Geschichte dieses ersten falschen Zaren zu nähern.33 Es kann hier nur auf einige wenige solcher Entwürfe eingegangen werden. Eine Gesamtwürdigung aller dieser Produktionen, bis hin etwa zu Jugendbüchern wie „Dimitri und die falschen Zaren“ von Hans Baumann (1972) oder dem Stummfilm „Der falsche Dimitry“ von 1922 (Regie: Hans Steinhoff) würde jeden Rahmen sprengen. Eine kleine Auswahl muss genügen. Noch zu Lebzeiten Dimitris hat wohl im fernen Spanien der überaus fruchtbare Dramatiker Lope da Vega das Thema behandelt, vielleicht inspiriert von den Schicksalen der falschen Sebastiane, die zu thematisieren er wohl aus politischen Gründen vermeiden musste. Das Stück („El granduque di Moskovia y emperador perseguido“ 1605, gedruckt 1617) legt das Hauptgewicht auf das Vorleben Dimitris unter Bauern, im Kloster, als Küchenjunge und die damit verbundenen pittoresken Milieuschilderungen. Lope hält Dimitri für echt und sein Drama schließt mit dessen Sieg über Boris Godunow, der in Reue und Selbstmord endet.34 Wagemutig war ein von dem populären Vielschreiber August von Kotzebue (der durch seine Ermordung 1819 als vermeintlich russischen Agenten geschichtlich bedeutsam wurde, weil sie harte politische Repressionen im damaligen „Deutschen Bund“ zur Folge hatte), für das deutsche Theater in St. Petersburg verfasstes Demetrius-Drama (1782), denn es stellte Dimitri gegen einen schon von Peter d. Gr. höchstselbst erlassenen Ukas als echt dar. Über die literarische Qualität des Stückes hat Kotzebue sich selber später mokiert. Es bleibt ihm das Verdienst, den Demetrius-Stoff in die deutschsprachige Literatur eingeführt zu haben. Unbestritten dagegen ist der literarische Rang eines DemetriusDramenentwurfs, an dem Friedrich Schiller vor seinem Tod 1805 arbeitete.35 Schiller hatte sich in seinen Skizzen zu einem Warbeck-Drama bereits früher 33

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35

Übersichten finden sich bei Ervin C. Brody, The Demetrius Legend and ist literary Treatment in the Age of Baroque, Cranbury N.J. 1972 und Elisabeth Frenzel, Stoffe der Weltliteratur (Artikel Demetrius), Stuttgart 1970, S. 145-148 Das Drama Lope da Vegas basiert auf dem Bericht des Jesuiten Barezzo Barezzi, der 1605 in Venedig veröffentlicht wurde. Ein anderer Jesuit, Juan Mosquera übersetzte ihn mit viel Ausschmückungen ins Spanische (Valladolid 1605). In diesen Schriften wird Dimitri als zukünftiger katholischer Zar verherrlicht. Interessant ist eine Bemerkung Mosqueras, zwei Brüder der Marina Mniszech hätten sich auf einer PilgerKavalierstour zu dieser Zeit in Spanien aufgehalten. Dazu: Gertrud Poehl, Quellenkundliches zur Geschichte des ersten falschen Demetrius. Mosquera-Barezzo Barazzi, in Zeitschrift für osteuropäische Geschichte 7 (N.F. 3), 1933 S. 73-87 Schillers Werke. Nationalausgabe 11. Band Demetrius

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mit dem Prätendententhema auseinandergesetzt.36 Er lässt seinen Demetrius im Glauben an seine Echtheit und seine Berufung zu einem wahren Volkszaren handeln. Seine Erfolge erscheinen ihm als Bestätigung. Nach seiner Thronbesteigung offenbart ihm der Mörder des echten Demetrius jedoch den Betrug. Der Mörder fühlte sich von seinem Auftraggeber Boris Godunow um seinen Lohn geprellt, wollte sich rächen und baute den falschen Demetrius auf. Er unterschob dem gutgläubigen späteren falschen Demetrius Beweisstücke für seine Zarenabkunft. Vor die Frage gestellt, der Wahrheit zuliebe auf den Thron zu verzichten oder die einmal gewonnene Macht zu behalten, entscheidet sich Demetrius für letzteres. Er zwingt die Nonne Marfa, als Mutter seine Echtheit zu bezeugen. Vor sich selbst legitimiert er sich durch seine Leistungen als echten Zaren. Schiller berührt damit die Problematik von Leistung gegen Legitimität – ein zur Zeit Napoleons aktuelles Thema -, aber auch den Umschlag von Idealismus in bloßes Machtstreben. Sein Demetrius verwandelt sich, in seinem Selbstbewusstsein gebrochen, in einen misstrauisch-mörderischen Despoten. Von der standhaften Marfa denunziert wird er von den Bojaren ermordet. Friedrich Hebbel, ein anderer großer Dramatiker des 19. Jahrhunderts, griff die von Schiller angegangene Problematik auf. Er hinterließ bei seinem Tod 1863 ebenfalls ein Demetrius-Fragment. Auch bei ihm reden interessierte Intriganten verschiedener Couleur einem unschuldigen Jüngling ein, er sei der durch einen Kindertausch gerettete legitime Sohn und Erbe Iwans IV. Es gelingt ihm im Vertrauen auf sein Recht Boris Godunow zu besiegen (Boris fällt unhistorisch im Kampf, dem Volk wird erzählt, er habe sich vergiftet), den Thron zu besteigen und sich in dem Gewirr der ihn umgebenden Ansprüche und Komplotte als klugen und gerechten Herrscher zu behaupten. Eine arme Magd offenbart sich ihm aber als seine wahre Mutter. Sie hat den einstmals von ihr erkauften Kindertausch dann doch nur vorgetäuscht. Dimitri ist zwar aus einer flüchtigen Begegnung Zar Iwans mit dieser Magd hervorgegangen, aber als Bastard eben doch nicht thronberechtigt. („Nicht dem Edelsten, dem Erstgeborenen gehört der Thron.“) Er will abdanken, lässt sich aber von seinen Mitstreitern dazu bewegen, zu ihrem Schutz an seiner Rolle festzuhalten. Auch Hebbel lässt seinen Demetrius durch einen Mordanschlag umkommen. Der Mörder sollte ein gewisser Otriepev sein, ein von Demetrius enttäuschter Intrigant, der selbst zeitweilig in die Rolle des Demetrius schlüpfte und auf eigene Faust die Nonne Marfa mit List und Tücke dazu brachte, Demetrius als ihren Sohn zu erkennen. Von den späteren deutschen Dramatikern, Dichtern und Schriftstellern, die sich an den Demetrius-Stoff wagten, hat keiner den Rang der Schillerschen oder Hebbelschen Entwürfe erreicht. Dies gilt etwa für Walter Flex, der sich auch in seiner Doktorarbeit (1912) über die Behandlung des Stoffes in der deutschen Literatur verbreitete. Sein „Demetrius. Ein Trauerspiel“ von 1909 stellt jedoch 36

Vgl. Kapitel 9, Warbeck

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eher die von herzenskaltem Ehrgeiz getriebene Marina Mnischeck in den Vordergrund, die den in sie verliebten Demetrius (der selbst weiß, dass er der falsche ist, und sich lange gegen die ihm von vielen Seiten angetragene Rolle gewehrt hat) zu seiner kühnen Zarenkandidatur verführt. Auf diese Weise wird der Stoff in eine eher private Beziehungsgeschichte umgelenkt. Das Trauerspiel endet vollkommen unhistorisch in einer großen Szene in der Erzengel-Kathedrale des Kreml vor dem Sarge des echten Demetrius, wo die Nonne Marfa ins Gebet versunken kniet. Boris Godunow hat sich hierher gerettet, bricht aber tot zusammen. Demetrius, der ihn verfolgt, hält an seiner Leiche einen großen nihilistischen Monolog, der ebenfalls herbeieilende Schuiski huldigt ihm als Zaren, aber die Nonne Marfa bezeugt, dass ihr echter Sohn in der Gruft liegt, worauf der falsche Demetrius endlich sein Spiel eingesteht und sich von der herbeistürmenden Volksmenge töten lässt. Schuiski hebt die auf den Boden gefallene Zarenkrone auf. Auch modernere Versuche von Volker Braun und Peter Hacks bleiben hinter den Staatstragödien Schillers und Hebbels zurück. Braun greift in seinem „Dmitri“-Stück (Uraufführung Karlsruhe 1982) die Schillersche Vorlage auf. Der anfängliche Idealist Dmitri, der sich zunächst selbst für echt hält und der „aus Sklaven Menschen machen will“, wird von den Mördern des wirklichen Zarewitsch mit der Wahrheit konfrontiert. Er beseitigt sie und die Leiche des echten Dimitri. Er will Zar bleiben, um den Menschen zu dienen. Er verfängt sich dann in den Intrigen Mnischechs, der Nonne Marfa, Schuiskis, Marinas, der Polen, Bojaren und der Zarentocher Xenia Godunowa, die vom Klerus beauftragt wird, ihn durch „griechische“ Sexpraktiken beim rechten Glauben zu halten („Sei eine Sau, aber orthodox“). Die Schauspieler dürfen dann auf der Bühne aus ihren Rollen treten und über das „Scheißspiel“ reflektieren. Sobald Dmitri das ganze Intrigengewirr abstreifen und als „Volkskaiser“ gegen die Polen ziehen will, wird er von den Bojaren ermordet. Mehrere falsche Dmitris setzen das „Scheißspiel“ sogleich fort: ein vierter Kandidat lehnt allerdings die Rolle ab und will als Zuschauer privatisieren. So abrupt und bunt oft die Szenenwechsel in diesem Stück sind, so häufig wechseln die Sprachebenen – von der Schillerschen Hochsprache über Dialekte zum Fäkalslang. Der Zuschauer oder Leser, der auch noch Einschübe zur bolschewistischen Oktoberrevolution verdauen muss, bleibt vielleicht ebenso ratlos zurück wie der 4. Demetrius des Stückes. Vielleicht vom Autor gewollt. In dem Schauspiel „Der falsche Zar“ von Peter Hacks (1996) wird die Echtheitsfrage offen gelassen. Demetrius ist ein opportunistischer Ehrgeizling. Die Russin Xenia, die er unter Aufopferung der polnischen Marina zur Frau nehmen will und zu vorehelichem Beischlaf zwingt, charakterisiert ihn; „Dieser Schönling, ihm rinnen die Phrasen aus dem Mund wie Pisse.“ Hauptschurke des Stückes ist jedoch Schuiski, der Demetrius aufbaut und wieder vernichtet, indem er ihn als unecht verleumdet und den Unfalltod des Zarewitsch bezeugt („Ich

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habe diese alte Lüge exhumiert“). Hacks nimmt den Demetrios-Stoff zum Anlass, die gezielte politische Instrumentalisierung von Mythen zu illustrieren (Schuiski: „Das Numinose im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit.“). Demetrius, in die Enge getrieben, begeht Selbstmord. Peter Hacks gibt an, sein Schauspiel unter Rückgriff auf das Werk „Dimitrij Samozvanec“ des Russen Aleksander P. Sumarokov (1771) verfasst zu haben. In Sumarokovs Tragödie ist Dimitri ein verbrecherischer Betrüger und blutrünstiger Despot, der die Schuiski (!)-Tochter Xenia in eine Ehe zwingen will, um sich zu legitimieren. Als darüber empörte Verschwörer in seinen Palast eindringen, begeht er Selbstmord. Diese negative Darstellung entsprach der vom Zarenhof erwünschten Deutung. Dass Kotzebue auf einer Petersburger Bühne mit ihr brach, wurde bereits erwähnt. So unzulänglich sein „Demetrius“ auch schriftstellerisch sein mochte, leitete er damit doch eine neue Sichtweise auf den Demetrius-Stoff auch in der russischen Literatur ein. In Aleksander S. Puschkins „Boris Godunow“ von 1831 ist Demetrius zwar wieder der entlaufene Mönch Otrepev, aber er handelt doch aus edleren Motiven. Er sieht sich selbst als Rächer des von Boris Godunow ermordeten echten Dimitri, als einen ideellen Sohn Iwans IV. Da er allerdings seine Rache mit ausländisch-polnischer Hilfe vollzieht und sich selbst eingestehen muss „ein Vorwand bin ich nur für Zank und Krieg“, verharrt das Moskauer Volk, aufgerufen ihn als Zaren zu feiern, in unheilschwangerem Schweigen. Mit dieser vielsagenden Szene bricht Puschkins Tragödie ab. Aleksander N. Ostrovskij schrieb 1861 mit „Dmitrij Samozvanec i Vasilij Šuskij“ ihre Fortsetzung. Der falsche Dmitri will durchaus ein guter und liebenswerter Herrscher sein. Gegen den Rat Basmanovs begnadigt er den Bojaren Šuskij, der ihm mit seinem Wissen über das Ende des echten Zarewitsch gefährlich werden könnte. Durch sein „unrussisches“ Verhalten verliert Dmitri aber nach und nach die Anhänglichkeit des Volkes. Von Šuskij und den Bojaren angeführt stürmt es den Kreml. Der eigentliche „Held“, sowohl bei Puschkin als auch bei Ostrovskij ist im Grunde das russische Volk, das den zwar wohlmeinenden, aber im Grunde aus der Fremde kommenden falschen Zaren instinktiv ablehnt. Der wahre Volkszar kann nicht aus politischen Intrigen irgendwelcher Ausländer hervorgehen. Natürlich lebte die Gestalt des ersten falschen Zaren nicht nur auf der Bühne immer wieder auf. Zahllos sind auch die historischen Romane, die sich mit ihr beschäftigen, selbst noch in jüngster Zeit. Als zwei etwas neuere Titel seien genannt: Vladimir Volkoff, Les Faux Tsars, Paris 1992 und Wulf E. Bley, Zar Demetrius I. Betrüger oder Betrogener, Heppenheim 2007. Und auch das Fernsehen griff nach Demetrius. Das ZDF sendete am 4. 4. 1969 einen Film „Demetrius“, angelehnt an das Schiller-Dramenfragment. Erwähnt werden muss zum Schluss noch, dass kein geringerer als Rainer Maria Rilke in seinem bedeutendsten Prosa-Werk „Die Aufzeichnungen des

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Malte Laurids Brigge“ einige Passagen dem Andenken an den falschen Demetrius gewidmet hat. Er lässt Malte über „Otriepev“-Dimitri und seine „Mutter“ Marie Nagoia bzw. Marfa sinnieren: „Er mag sich sehr sicher gefühlt haben, da er sie nach Moskau kommen ließ, ich bin sogar überzeugt, dass er zu jener Zeit so stark an sich glaubte, dass er in der Tat seine Mutter zu berufen meinte. Und diese Marie Nagoi, die in schnellen Tagesreisen aus ihrem dürftigen Kloster kam, gewann sie nicht alles, indem sie ihn anerkannte? Ich bin nicht abgeneigt zu glauben, die Kraft seiner Verwandlung hätte darin beruht, niemandes Sohn mehr zu sein…“ Damit macht Rilke Demetrius zu einem potentiellen Paradigma für das moderne, bindungsfreie, sich selbst erfindende und entwerfende Individuum. Doch Demetrius wird dieser Chance nicht gerecht: „… die Erklärung der Mutter hatte, selbst als bewusster Betrug noch die Macht, ihn zu verringern, sie hob ihn aus der Fülle seiner Erfindung, sie beschränkte ihn auf einen müden Nachahmer, sie setzte ihn auf den Einzelnen herab, der er nicht war; sie machte ihn zum Betrüger.“37 Der falsche Peter Fedorowitsch („Petruschka“) und Bolotnikov38 Dimitri hatte viel Anhang im Volk, aber auch unter gebildeten Bürokraten und machtbewussten, aber reformgeneigten Adelskreisen gehabt. Diese wussten um seine Volkstümlichkeit und waren nicht bereit, die mit ihm gewonnene Machtstellung ohne weiteres den putschistisch- konservativen Bojaren um Schuiski zu überlassen. Sie verbreiteten in Flugblättern das Gerücht, Dimitri lebe noch. An seiner Stelle sei einer seiner deutschen Leibwächter getötet worden. Einer der Vertrauten Dimitris, Mikhail Molchanow (Moltschanow), erzählte in den Dörfern und Städten, die er auf seiner Flucht nach Polen durcheilte, der angeblich ermordete Zar werde bald wieder erscheinen. Und Fürst Grigorij P. Shakovskoi (Schachowskoi/ Chakowskoi)), ein Anhänger Dimitris, den Schuiski törichterweise auszuschalten meinte, indem er ihn als Gouverneur in das abgelegene Putivl abschob, hatte dort nichts Besseres zu tun, als die Bürgerschaft auf den noch lebenden Zaren Dimitri zu vereidigen. Er wies auch, wie Molchanow, ein Staatssiegel Dimitris vor. Die Stadt Putivl war 1604-05 eine Hauptstütze Dimitris gewesen. So wurde der Boden für das Auftreten eines zweiten Dimitri vorbereitet. Fürst Shakovskoi sammelte bereits ein bewaffnetes Gefolge für ihn. Es fanden sich Bauern, Städter, adlige Dienstleute und vor allem Kosaken zusammen. Sie besetzten in Dimitris Namen mehrere Städte der weiteren Umgebung (Orel, 37 38

Rainer Marie Rilke, Prosa und Dramen, Werke Band 3, Frankfurt und Leipzig 1996, S. 586-87 Zum Bolotnikov-Aufstand und dem falschen Peter Fedorowitsch: Avrich S. 38-43, Bussow S. 135-147, Perrie S. 133-53, Krispin passim, zu Peter besonders S. 60-63

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Kursk, Starodub u. a.). Schuiski-Anhänger wurden aufgeknüpft. Schuiski war in der Region besonders verhasst, weil er Anfang 1605 dort noch im Auftrag Boris Godunows unter den Dimitri-Anhängern grausam gewütet hatte. Dimitri aber, auf den nun alle wieder hofften, erschien nicht. Wohl aber tauchte in Putivl ein anderer seltsamer Mann auf: Iwan Isaiewitsch. Bolotnikov. Er hatte ein buntes Leben hinter sich. Er war ein „Bojarenkind“ (Kleinstadliger) aus der Gegend von Tula, dann Kriegsknecht bei Fürst Andrej D. Teljatewski, floh zu den Kosaken, geriet in tatarische Gefangenschaft, wurde zum türkischen Galeerensklaven gemacht, während einer Seeschlacht befreit und schlug sich über Venedig in die Heimat durch. Auf seiner Heimreise war er auch durch das polnische Sambor gekommen. Dort hatte sich ihm am Hofe der Gemahlin Mnisechs, Stiefmutter der Zarin Marina, ein junger Herr (wahrscheinlich Molchanow) als Zar Dimitri zu erkennen gegeben und ihn mit einem Pelz, einem Säbel und einer kleinen Geldsumme sowie einem Schreiben an Fürst Shakovskoi in Putivl ausgestattet. In diesem Brief in der Handschrift des ersten Dimitri, mit dessen echten Staatssiegel beglaubigt, wurde Bolotnikov zum Oberbefehlshaber aller Dimitri-treuen Verbände ernannt. Tatsächlich übertrug Fürst Shakovskoi im Juni-Juli 1606 Bolotnikov das Oberkommando über seine Truppen. Bolotnikov wusste Scharen von Bauern, vor allem aber auch arme Städter und selbst kriegserprobte Dienstadlige für sich zu gewinnen. Sogar sein ehemaliger Herr, Fürst Teljatewski, jetzt Gouverneur von Tschernigow, schloss sich ihm an. Seine Bewegung wurde von sowjetischen Historikern später als ein Klassen-und Bauernkrieg eingestuft. Neuere Forschungen sprechen eher von einer fast alle Stände umfassenden Aktion gegen die Putschbojaren in Moskau, wenngleich Bolotnikow den Kämpfern für Dimitri in seinen Proklamationen Freiheit, Land, Ehre und Reichtum versprach. Es war aber vor allem Schuiskis Gegenpropaganda, die Bolotnikov als umstürzlerischen Sozialrebellen verteufelte. Es ist hier nicht der Ort, die kühnen Unternehmungen Bolotnikovs, die ihn im Oktober 1606 bis vor die Tore Moskaus führten, ausführlich darzustellen. Schuiski gelang es, durch Bestechung eine Reihe von adligen Unterführern Bolotnikovs auf seine Seite zu ziehen, sodass sich der Rebellenführer Anfang 1607 zuerst nach Kaluga, später nach Tula zurückziehen musste, wo er sich allerdings monatelang hielt. Ein Schwachpunkt Bolotnikovs bestand darin, dass der vielersehnte Dimitri, in dessen Namen er agierte, sich einfach nicht zeigen wollte. Da halfen keine Eilbriefe an Fürst Shakovskoi in Putivl noch Sendboten nach Polen. Der Kosak Zarutski (Sarutski), der dorthin ausgesandt wurde, kam nur bis Starodub. Eine Delegation Moskauer Bürger hatte sich bereiterklärt, ihre Stadt an Bolotnikov zu übergeben, wenn sich Dimitri ihnen zeige. Bolotnikov hatte passen müssen. Endlich fand Fürst Shakovskoi Rat. Er griff nach einem anderen Prätendenten, der bereits Aufsehen erregt hatte.

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Es handelte sich um Peter (Pjotr, Petruschka) Fedorowitsch, der sich für einen Sohn des Zaren Fedor (1584-98) ausgab. Das 1593 von dessen Gemahlin Irina Godunowa zur Welt gebrachte Kind sei in Wirklichkeit ein Sohn gewesen, den seine Mutter (oder andere gute Menschen) vor den Anschlägen ihres ehrgeizigen Bruders Boris durch den Austausch mit einem kränklichen Mädchen (der „Zarewna“ Fedora) gerettet habe. In Wahrheit war dieser Peter Fedorowitsch der uneheliche Sohn eines Flickschusters oder Metzgers aus Murom. Sein Name war Ileika (Ilya) Iwanowitsch Korovin oder Gorchakov. In Verbindung mit dem Namen seines Geburtsorts ergaben sich aber Assoziationen mit dem legendären Helden Ilya Muromez. Seine Anfänge waren freilich wenig heldenhaft: Verkaufsgehilfe in Nischni-Novgorod, vielleicht sogar in Moskau, Koch auf einem Wolgaschiff, Kriegsknecht, Aufenthalt bei den Terek-Kosaken. Dort, am Nordrand des Kaukasus, war er endlich von einer etwa 300 Mann starken Kosakenhorde wohl wegen seiner Weltgewandtheit und auch wegen seiner Körpergröße zum „Zarewitsch“ erkoren worden, nachdem ein anderer Kandidat diese Würde bescheiden abgelehnt hatte. Zwar passte sein Alter von bereits etwa 20 Jahren nicht zu seiner Rolle, aber das tat offensichtlich nichts zur Sache. In seinem Namen wurde ein Brief an den Zaren Dimitri geschickt. In ihm forderten die Kosaken Belohnung wegen ihres Einsatzes für Dimitri, sie sei wohl von missgünstigen Bojaren unterschlagen worden. Darauf soll Dimitri Peter Fedorowitsch nach Moskau eingeladen haben, aber die Nachricht von seiner Ermordung habe Peter von seiner Reise nach Moskau abgehalten. Inzwischen hatten die Terek-Kosaken sich durch einen Plünderzug an der unteren Wolga für die entgangene Belohnung schadlos gehalten. Sie sollen 300 000 Rubel erbeutet haben. Die Jahreseinkünfte des Zaren betrugen damals 1,4 Millionen Rubel. Jetzt lud Fürst Shakovskoi Peter Fedorowitsch nach Putivl ein, und dieser fand sich bereit, als Zarewitsch in den Dienst des erwarteteten Zaren Dimitri zu treten. (Das erscheint merkwürdig, da er theoretisch als Sohn des älteren Sohnes Iwans IV. einen besseren Thronanspruch besaß.39) In Putivl im November 1606 mit 4000, vielleicht sogar 10 000, Mann eingetroffen, errichtete Peter ein grausames Terrorregime. Vermeintliche oder wirkliche „Verräter“ wurden, manchmal bis zu 70 am Tag, von Kirchtürmen gestürzt, aufgenagelt oder an Bären verfüttert, ihre Frauen und Töchter geschändet. Inwieweit dies auf das Konto des noch sehr jungen Zarewitsch oder auf das Konto seiner Kosaken, die ihn als „Duma“ oder Ratsversammlung bzw. Hofstaat umgaben, zu rechnen ist, bleibt unklar.40 Bolotnikov anerkannte jedenfalls den „Zarewitsch“ und vereinte sich mit dessen Truppen in Tula, indem er das unhaltbar gewordene Kaluga aufgab. In Tula herrschte bald derselbe Terror wie in Putivl. 39 40

Darauf weist Čistov S. 44 hin. Krispin S. 62 deutet die ausgeklügelten Grausamkeiten als einen Versuch, Peter als Enkel Iwans des Schrecklichen zu inszenieren.

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Schuiski, der seit Juni 1607 selbst die Belagerung Tulas leitete, blieb monatelang erfolglos. Was die von ihm Belagerten nicht wussten, erfuhr der Zar sehr wohl: endlich hatte sich der wiedererstandene Dimitri gezeigt. Den Boten, den dieser Dimitri an ihn schickte, um ihn zum Gehorsam aufzufordern, ließ Schuiski foltern. Der tapfere Mann blieb bei der Behauptung, den wahren Zaren gesehen zu haben. Er wurde gehängt. Schuiski aber drohte in die Zange genommen zu werden. Er ging auf ein Verhandlungsangebot Bolotnikovs ein. Der falsche Fedorowitsch scheint übergangen worden zu sein. Bolotnikov war durch Querelen mit ihm und den Bürgern von Tula, die unter entsetzlichem Hunger litten, kompromissbereit geworden. Auch war es den „Regierungstruppen“ gelungen, Tula mittels eines Staudeiches durch den Upa-Fluss unter Wasser zu setzen. Bolotnikov kapitulierte am 10. Oktober 1607 gegen Zusicherung des Lebens und freien Abzugs für seine Leute. Er habe an die Echtheit des „Dimitri“ in Sambor geglaubt, sehe sich nun getäuscht und wolle Zar Vassili Schuiski ebenso treu dienen wie vorher dem wohl falschen Dimitri. Er wurde nach Moskau gebracht, zur Schau gestellt, später nach Kargopol verschleppt und dort im März 1608 geblendet und ertränkt. Auch mit dem falschen Fedorowitsch wurde nicht besser verfahren. Er wurde mehrfach gefoltert, gestand vor einer Bojarenversammlung seine Hochstapelei und wurde Februar 1608 vor Moskau gehängt. (Merkwürdigerweise hielt ihn der schon öfter zitierte Bussow für einen Mann „zarischen Geblüts“.) Fürst Shakhovskoi, mit Peter Fedorowitsch von Putivl nach Tula übersiedelt, wurde nur in den Norden verbannt. Er ging kurze Zeit später zu dem wiederkehrenden Dimitri über. Ein zweiter Dimitri – der Schelm von Tuschino41 Für Bolotnikov und seine Leute kam der wiedererstandene Dimitri zu spät. Molchanow hatte zwar vor Bolotnikow in Sambor den geretteten Dimitri gespielt, er war aber nicht bereit gewesen, die gefährliche Rolle auf Dauer zu übernehmen. Von Fürst Shakovskoi dazu aufgefordert, gab er zu bedenken, er sei in Moskau allzu prominent, um dort glaubwürdig als Dimitri auftreten zu können. Und so mussten sich die an einer Fortsetzung des Dimitri-Abenteuers interessierten Kreise auf die mühsame Suche nach einem geeigneten Individuum machen. Das Subjekt, das sie endlich für würdig befanden, scheint sich zunächst gegen den ihm zugemuteten Part gewehrt zu haben. Vielleicht machte erst ein kurzer Gefängnisaufenthalt unter der Fuchtel des polnischen Magnaten Miechowicki den Auserwählten reif für seine Aufgabe. Noch monatelang soll er mit Fluchtgedanken umgegangen sein. 41

Zu ihm Avrich S. 18-21, Bercé S. 115-20, Bussow S. 141-211, Dunning S. 370-414, Perrie S. 157-205

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Wer der Auserkorene in Wirklichkeit war, ist bis heute umstritten.42 Er besaß keine Ähnlichkeit mit dem ersten Dimitri, abgesehen vielleicht von der geringen Körpergröße. Sein Benehmen war würdelos und er neigte zu sinnlichen Genüssen. Doch schien er andrerseits eine gewisse Bildung aufzuweisen. Er sprach Russisch und Polnisch. Seine Kenntnis liturgischer Feinheiten führte zur Vermutung, er sei ein Popensohn. Er soll auch als Lehrer gewirkt haben, jedoch wegen Ehebruchs mit der Frau seines Vorgesetzten entlassen worden sein. Nach seiner Flucht aus dem Lager von Tuschino (1609) fand sich unter seinen Habseligkeiten ein Talmud-Exemplar. War er also vielleicht ein getaufter Jude namens Bogdan? Wohlwollendere Zeitgenossen machten in ihm jedoch einen Sohn des Fürsten Andrej Kurbskij aus. Wer immer er war: seine polnischen Hintermänner, darunter die Mniszechs, Miechowickis, Wischniowieckis und Sapiehas schmuggelten ihn im Mai 1607 zunächst unter dem Namen Andrej Nagoi (einem Vetter der Mutter des echten Dimitri) nach Russland, d.h. Starodub, ein, wo bereits der Kosak Zarutski im Auftrag Bolotnikovs nach dem verschwundenen Dimitri suchte. Der neue Dimitri gab sich endlich als solcher den Bewohnern von Starodub zu erkennen. Sie akzeptierten ihn. Um ihre wahre Gesinnung zu prüfen, forderte Zarutski, scheinbar die Echtheit Dimitris bestreitend, diesen zu einem Ringkampf. Die Staroduber ergriffen Partei für ihren Zarewitsch, und dieser hatte Mühe, Zarutski vor der Lynchjustiz seiner Anhänger zu retten. Mit Hilfe seiner polnischen Freunde und der Kosaken Zarutskis zog Dimitri gegen Tula, um Bolotnikov zu retten. Als dieser im Oktober 1607 kapitulierte, stand Dimitri noch 120 Kilometer weit entfernt. Auf die Nachricht vom Fall Tulas zog er sich nach Putivl zurück. Verstärkt durch die Reste der BolotnikovArmee gelang seinen Leuten jedoch im Frühjahr 1608 ein größerer Sieg über die Truppen Schuiskis. Man stieß jetzt bis in die Umgegend von Moskau vor. In Tuschino, etwa 12 Kilometer vor der Stadt, schlug man im Juni 1608 ein Dauerlager auf. Jetzt schickten auch die Städte nördlich von Moskau ihre Ergebenheitsadressen an den wiedergekehrten Dimitri, doch gelang es nie, Moskau ganz einzuschließen. Im Lager von Tuschino wurde eine Bojarenduma gegründet. Einige russische Magnaten wechselten tatsächlich von Schuiski zu Dimitri. Diese als „Zugvögel“ verspotteten Herren wanderten oft mehrmals zwischen Tuschino und Moskau hin und her. Doch halfen sie wohl dabei, in Tuschino so etwas wie eine Regierungsbürokratie zu etablieren. Natürlich wurde auch ein regulärer Hofstaat aufgebaut, samt Hofnarren. Und schließlich fand sich in Tuschino Fedor Romanow ein. Boris Godunow hatte diesen Vetter mütterlicherseits des Zaren Fedor 1601 zum Mönch Filaret scheren lassen und in Verbannung geschickt, der erste Dimitri hatte ihn dann zum Erzbischof von Alt-Rostow (nördlich von Moskau) 42

Die verschiedenen oft recht abenteuerlichen Hypothesen bei Tyszkowski passim.

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erhoben. Jetzt geriet er, Oktober 1608, vielleicht absichtlich, in Gefangenschaft der Tuschiner und wurde im Namen des zweiten Dimitri zum Patriarchen von Moskau und Oberhaupt der russischen Kirche proklamiert, gegen Schuiskis Patriarchen Hermogen (Irmogen). Ein noch bedeutsamerer Coup war bereits im September 1608 gelungen. Vater Jerzy und Tochter Marina Mniszech gerieten, wohl nicht ganz zufällig, auf ihrer Heimreise nach Polen (Schuiski hatte sie freigelassen) in die Fänge der Tuschiner. Und, oh Wunder, Marina erkannte in dem Zaren von Tuschino ihren geliebten Gatten wieder. Zwar bedang sich Vater Mniszech vor seiner Weiterreise aus, dass die eheliche Gemeinschaft erst wieder nach dem Fall Moskaus aufgenommen werden sollte, aber Marina hielt sich nicht an diese kluge Weisung. Schuiski behauptete sich jedoch hartnäckig in Moskau, das nie ganz von Zufuhr abgeschnitten werden konnte. Die Aufrufe aus Tuschino, man solle Grundherren, die ihm treu blieben, mit der Knute erschlagen und ihre Güter, Frauen und Töchter verteilen, gab Schuiski Gelegenheit, seinen Gegner in Tuschino als bloßen Schelm und Räuber (russisch: „Vor“) zu verunglimpfen. Er hoffte auch König Sigismund III. zu bewegen, die polnischen Hilfstruppen des Vor aus Tuschino zurückzurufen. Schuiski ließ in diesem Zusammenhang die nach Jaroslawl internierten Mniszechs und die in der polnischen Gesandtschaft in Moskau seit 1606 eingeschlossenen Polen frei. Sigismund war freilich kaum in der Lage, die Polen in Tuschino von ihren Unternehmungen abzuhalten. Sie standen dort zumeist unter Magnaten, die 1607 gegen ihn rebelliert hatten und nach ihrer Niederwerfung in dem russischen Abenteuer eine Möglichkeit sahen, ihre zum Teil verlorenen Vermögen wieder aufzurunden. Schuiski wandte sich deshalb 1609 an Schweden, das prompt Hilfe versprach. Das Bündnis Schuiskis mit seinem Todfeind Schweden (dessen Krone er beanspruchte) trieb Sigismund wiederum zum Angriff auf Russland. Er belagerte Smolensk. Während Schuiski sich in diesen Kalamitäten verfing, erging es dem „Vor“ in Tuschino nicht besser. Finanznot zwang ihn dazu, einzelnen Trupps seiner bunten Gefolgschaften ganze Bezirke der unter seinem Namen stehenden Gebiete zur Selbstversorgung, d.h. Ausbeutung durch Sonderabgaben und Requisitionen zu überlassen. Das führte im Sommer 1609 zum Abfall der Städte im Norden, die auch den Anmarsch eines schwedischen Söldnerheeres (verbündet mit Schuiski) fürchteten. Auch war auf die Polen in Tuschino kein Verlass mehr. Sie nahmen Verhandlungen mit Sigismund auf, weil sie glaubten, ihr privates russisches Unternehmen jetzt statt mit dem falschen Dimitri regulär an der Seite ihres Königs (der bereit sein mochte, ihnen alte Sünden zu vergeben) fortsetzen zu können. Sie hatten Dimitri immer nur als ihre Marionette betrachtet. Schon 1607 hatten einige zugegeben, Dimitri könnte vielleicht unecht sein, aber dabei bemerkt „Was macht’s wenn er uns gegen die Russen hilft.“ Als Dimitri nun Zulass zum Kriegsrat seiner Polen verlangte und sich darauf berief der Zar zu sein,

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wurde er mit der Bemerkung „Der Teufel weiß, wer du bist“43 abgewiesen. Der Anführer der Tuschino-Polen, Rozynski, schmähte ihn gar als „Moskauer Hurensohn“44. Die Marionette ergriff nun endlich Eigeninitiative. Der „Vor“ flüchtete Ende Dezember 1609 mit seinem Hofnarren auf einem Mistschlitten von Tuschino nach Kaluga (südlich von Moskau). Dort mit Begeisterung aufgenommen, verkündete er, er wolle sich von den ketzerischen Polen befreien und von jetzt an als „einzig christlicher Zar unter der Sonne“45 ein Vorkämpfer aller Rechtgläubigen sein. Ein großer Teil der Kosaken folgte ihm aus Tuschino, später erklärten sich auch einige Polen wieder für ihn. Er nahm sie in Gnaden auf, obwohl er eine zeitlang mit einem Polenmassaker gedroht hatte. Wahrscheinlich machte sich hier der Einfluss Marinas, die ihrem Gemahl im Februar 1610 als Mann verkleidet von Tuschino nach Kaluga gefolgt war, etwas mäßigend bemerkbar. Sie rettete auch ein Häuflein deutscher Söldner und deren Familien vor dem Misstrauen Dimitris. Dem Vor schienen sich mit dem Sturz Schuiskis im Juli 1610 neue Chancen zu eröffnen. Ihm strömten jetzt die Nogaier Tataren zu, und selbst das weit entfernte Kasan an der Wolga anerkannte ihn wieder als Zaren. (Vielleicht aber erst nach seinem Tod, der bis Januar 1611 in Kasan noch nicht zur Kenntnis gekommen war.) Er stieß mit seinen Kosaken nochmals bis Moskau vor, suchte mit Sigismund Kontakt aufzunehmen und bot ihm große Landabtretungen für seine Anerkennung als Zaren. Sigismund, der inzwischen den russischen Thron für einen seiner Söhne oder gar für sich selber ins Auge fasste, bot ihm allerdings nur die Herrschaft im polnischen Sambor für einen „Thronverzicht“. Der Bojarenrat, der Schuiski gestürzt hatte (dieser starb als Mönch im polnischen Exil), verhandelte erfolgreicher mit den Polen. Ein Polenprinz wurde zum Zaren gewählt. Der „Vor“ kehrte enttäuscht nach Kaluga zurück. Sein Misstrauen gegen alle und jeden wuchs. Einen Tatarenführer, der von seinem eigenen Sohn bei ihm als Verräter denunziert wurde, ließ er mit ein paar Gefolgsleuten ersäufen. Der Tatarenfürst Peter Urussow, empört über die Behandlung seiner Landsleute, erschoss darauf am 10. Dezember 1610 während eines Schlittenausflugs den „Vor“ und seinen Hofnarren und enthauptete die beiden anschließend. Die Bürger von Kaluga bereiteten dem Ermordeten ein prachtvolles Begräbnis. Urussow und seine Leute mussten in ihre heimatlichen Steppen an der Wolga fliehen. Marina zog sich nach Kolomna zurück. Dort oder noch in Kaluga gebar sie dem „Vor“ ein postumes Söhnchen: Iwan Dimitrowitsch.

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Bercé S. 126 Bussow S. 174 Bussow S. 169

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Der zweite Dimitri hat, obwohl er zwei Jahre lang in großen Teilen des russischen Reiches als Zar anerkannt wurde, bei weitem nicht die Bewunderung und Aufmerksamkeit der Historiker und Literaten gefunden, die seinem Vorgänger zuteil wurden46. Dies mag auch daran liegen, dass er auf jeden Fall unecht war. Es erscheint ganz unverständlich, dass überhaupt irgendwer ihn für echt halten konnte. Selbst sein polnischer Anhang tat dies ja nicht. Hier muss jedoch andrerseits an den russischen Wunderglauben jener Zeit erinnert werden. Warum sollte der einmal so mirakulös aus Uglitsch gerettete Zarewitsch nicht mit Gottes Segen, der so offensichtlich auf ihm ruhte, ein zweites Mal seinen Feinden entkommen sein? Natürlich war der zweite Dimitri auch als Person weniger attraktiv. Aber ihn als bloßen Spielball abenteuernder polnischer Adliger abzutun, geht doch nicht an. Er wuchs offensichtlich in die Zarenrolle hinein und agierte in Kaluga 1610 selbstständig. Freilich verhielt er sich etwa in seiner Beziehung zu den Polen recht opportunistisch. Sein Anklammern an die einmal erreichte Position bescherte dem gequälten Land eine weitere Leidenszeit. Aber für ihn gab es wohl persönlich keinen anderen Ausweg mehr. Schon vorher hatte sein Auftreten, das nicht zuletzt mittelbar zu den Interventionen Polens und Schwedens und damit fast zur Auflösung des russischen Reiches führte, für zusätzliche Wirren gesorgt. Sein zeitweiliger Erfolg hatte nämlich zahlreiche andere Samosvanzen ermutigt, ihr Glück zu wagen. In einem Brief an die Bürger von Smolensk hatte Dimitri diese Konkurrenten 1608 namentlich aufgezählt und sie als Teufelsbrut verdammt. Er forderte ihre Auslieferung nach Tuschino. Die „kleinen Samosvanzen“ und der dritte Dimitri Von den Prätendenten dieses Samosvanzen-Schwarms sind in den meisten Fällen nur die Namen und die vorgebliche rurikidische Abstammung, die sie beanspruchten, bekannt. Ihre Vorgeschichte und ihre Ende bleiben oft im Dunkeln. Nur über den dritten Dimitri ist etwas mehr zu berichten. Zumeist wurden diese ephemeren Erscheinungen von kleineren Kosakenhorden proklamiert. Sie können nur stichwortartig aufgezählt werden. 47 Lavrens (Lawrentij, Laver), gab sich 1606 an der unteren Wolga als einen Sohn Zar Fedors Iwanowitschs aus. 1608 in Tuschino gehängt. Osinovik alias Iwan Iwanowitsch, angeblich ein Sohn des 1581 von Iwan IV. erschlagenen Zarewitsch Iwan, zuerst in Astrachan, fiel entweder vor Tuschino oder wurde von seinen eigenen Leuten 1608 gehängt. 46

47

Aleksander Ostrovskij schrieb allerdings 1867 das Drama in Versen „Tuschino“, eine Fortsetzung seines Werkes über Dimitrij Samosvanec und Wassilij Schuiski von 1861. Es gehört nicht zu den großen Würfen des Dichters. Übersichten zu diesen „petty pretenders“ geben Čistov S. 50-54, Perrie S. 174-180

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Fedka oder Fedor Fedorowitsch, „Sohn“ des Zaren Fedor Iwanowitsch, schloss sich 1607 mit 300 Donkosaken dem zweiten Dimitri an, später auf dessen Befehl noch vor dem Zug gegen Moskau in Brjansk gehängt. Ivan Augustus, ein „Sohn“ Iwans IV. aus seiner vierten Ehe mit Anna Maria Koltovskaja (später verstoßen und zur Nonne Daria gemacht). Er soll sich einen glänzenden Hofstaat zugelegt haben, wurde aber ebenfalls in Tuschino gehängt. Weitere „Fedorsöhne“: Klementij, Savelijw, Semion, Vassilij, Eroshka (Erofij), Gavrilka, Martinka. Es handelte sich wohl um die Prätendenten der verschiedenen 1607 nach dem Fall Tulas versprengten BolotnikovHorden, die in den Fußstapfen Petruschkas (Korovins) ihr Glück versuchten. Erst nach dem Ende des zweiten Dimitri gewann ein weiterer Samosvanec nochmals wirkliche Bedeutung. Auf dem Markt von Novgorod gab sich ein junger Mann im März 1611 als Dimitri Iwanowitsch zu erkennen.48 Er fand wenig Anklang und wechselte deshalb nach Iwangorod. Ein Marsch seiner Anhänger auf Pskow (Pleskau) wurde zunächst von den Schweden, die noch Schuiski gegen die Polen ins Land gerufen hatte, im Juni 1611 unterbunden. Immerhin boten die Schweden ihm Asyl an, falls er ihnen das von ihm kontrollierte Gebiet überlasse. Er lehnte ab. Die Bürger von Pskow, der schwedischen Anmassungen überdrüssig, öffneten ihm am 4. 12. 1611 die Tore. Die Kunde seines Auftretens verbreitete sich im Land. Weit entfernte Städte, wie z.B. Bolchow, huldigten ihm. Die um den Kosaken Zarutski und Fürst Trubetzkoi südlich von Moskau gescharten Resthaufen aus dem Gefolge des zweiten Dimitri nahmen, trotz ihrer Kontakte zur ersten Landesaufgebotswelle und gegen den Protest der Führer des zweiten Landesaufgebots (Volksbewegungen, die sich gegen Polen und polenfreundlichen Bojaren in Moskau richteten), Verbindung zu ihm auf. Am 2. oder 4. März 1612 schworen sie für ihn aufs Kreuz und luden ihn zu sich ein. Inzwischen errichtete der dritte Dimitri, ein blutrünstiger Wüstling, in Pskow ein wahres Terrorregime. Ein aus dem Kosakenlager heimlich an seinen „Hof“ eingeschmuggelter Kosak, der seine „Echtheit“ überprüfen sollte, war von seinem Treiben wenig angetan.49 Bei passender Gelegenheit überwältigten er und seine Helfer den dritten Dimitri. Er wurde von ihnen im Mai 1612 verschleppt und schließlich Anfang Juli an den Bojarenrat in Moskau ausgeliefert.

48 49

Zu diesem dritten falschen Dimitri: Čistov S. 58, Dunning S. 431-33, Perrie S. 211-17 Nach Almquist S.177-78 handelte es sich um eine offene Gesandtschaft der ZarutskiKosaken

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Vor dem Kreml an den Pranger gestellt, wurde er 1613 im Namen des neuen Zaren Michail Romanow schändlich gehängt.50 Schon der zweite Dimitri hatte den Demetrius-Mythos durch sein Verhalten zum abklingen gebracht. Der dritte Dimitri beschädigte ihn noch mehr. Wahrscheinlich handelte es sich bei ihm um einen Ex-Diakon aus Moskau, der sich zeitweilig auch als Messerhändler durchgeschlagen hatte. Sein wahrer Name soll Sidorka (Isidor) oder Matynska (Matjuschka) gewesen sein. Ganz verblasst war der Demetrius-Mythos dennoch nicht. Es wird berichtet, dass der Mörder des zweiten Dimitri, der Tatar Peter Urussow, nach seiner Flucht in die Wolga-Steppen dort einen vierten Dimitri zu lancieren versuchte.51 Er wurde von Iwan Zarutski und dessen Kosaken aus Astrachan vertrieben. Zarutski hatte es nicht nötig, einen weiteren Dimitri aufzubauen, denn er führte das Söhnchen des zweiten Dimitri und der Marina Mniszechs mit sich: Iwan Dimitrowitsch. Ein (achspiel der Dimitri-Legende: Iwan Dimitrowitsch52 Nach der Ermordung des zweiten Dimitri zog sich seine Witwe Marina Mniszechs nach Kolomna südlich von Moskau zurück. Sie stellte sich dort mit ihrem Söhnchen Iwan Dimitrowitsch unter den Schutz des Kosaken Zarutski und seiner Leute. Iwan Martynowitsch Zarutski hatte in den Wirren der Zeit seit 1605 eine überaus schillernde Rolle gespielt. Er stammte aus der Gegend von Tarnopol in der heutigen Ukraine, war in Gefangenschaft bei den Krim-Tataren geraten und hatte sich nach seiner Befreiung oder Auslösung als Kosak dem Aufstand Bolotnikovs angeschlossen. Im Auftrag Bolotnikovs sollte er den angeblich überlebenden ersten Dimitri aufspüren. Er fand den zweiten falschen Dimitri in Starodub. Zarutski wurde zu einem der wichtigsten Helfer des zweiten Dimitri, doch schloss er sich dessen Flucht aus dem Lager von Tuschino zunächst nicht an. Im Gegenteil, er half den Polen in Tuschino, die dort verbliebenen Anhänger des zweiten Dimitri zu massakrieren. Erst im Spätsommer 1610, nach der Auflösung des Lagers von Tuschino, verband er sich mit einem Gefolge von 2000 Mann wieder mit dem zweiten Dimitri in Kaluga. Nach dessen Ermordung verschanzte er sich in Kolomna. Er streckte in der Folgezeit Fühler zu allen Parteien aus, d. h. zu den Polen, zu der sich sammelnden russischen Widerstandsbewegung, der er sich schließlich zeitweise ernsthaft anschloss, dann zu dem 50

51 52

Nach Almquist, der dem russischen Historiker Kostomaro folgt, kam er auf der Reise ins Kosakenlager bei einem Überfall durch eine Freischärlerbande ums Leben. (Juni 1612). Perrie S. 211 Hierzu Dunning S. 452-53, Perrie S. 208-09 und 221-25, Fleischhacker S. 189

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dritten Dimitri. Die erste Welle der russischen Nationalbewegung, die sich gegen Schweden, Polen und die polenfreundlichen Bojaren in Moskau richtete und auf ein Ende der allgemeinen Anarchie hinarbeitete, war 1611 vor Moskau gescheitert, nicht ohne Verschulden Zarutskis. Erst ein zweites Aufgebot nationaler Milizen war erfolgreich. Zarutski, der sich gelegentlich auch als Vertreter des „Thronerben“ Iwan Dimitrowitsch aufspielte, versuchte sich und seine Kosaken auch dieser zweiten nationalen Welle anzudienen und wandte sich von dem dritten Dimitri ab. Er war sogar bereit, den kleinen Iwan Dimitrowitsch fallen zu lassen. Seine Angebote fanden jetzt wenig Anklang. Insbesondere lehnte ihn Patriarch Hermogen ab, der ihn und den „kleinen Banditen (Voronekt) bereits 1611 öffentlich verfluhte. Im August 1612 zog sich Zarutski mit Marina Mniszech und dem kleinen Iwan Dimitrowitsch an den oberen Don zurück. Die Nationalmilizen, jetzt im Dienste des neugewählten Romanow-Zaren, wandten sich gegen Zarutski, der 1613 bei Woronesch geschlagen wurde. Er marschierte mit seinen Leuten auf Astrachan, das sich ihm ergab. Dort wurde der kleine Vor zum Zaren proklamiert. Mutter Marina sorgte dafür, dass die Kirchenglocken nicht mehr geläutet wurden, weil sie den Schlaf ihres Lieblings störten. Wahrscheinlich heiratete sie spätestens jetzt Zarutski, der im Übrigen mit harter Hand über Astrachan herrschte. Es kam zum Aufstand, Zarutski floh an den UralFluss. Verfolgt von den Truppen des neugewählten Zaren Michail Romanow wurde er zuletzt von seinen eigenen Anhängern ausgeliefert. Man brachte ihn nach Moskau, wo er 1614 gepfählt wurde. Marina starb wenig später in Klosterhaft zu Kolomna. Oder entfloh sie, wie eine Sage erzählt, in eine Elster verwandelt in ihre polnische Heimat? Der „kleine Bandit“ Iwan Dimitrowitsch wurde, kaum vier Jahre alt, vor Moskau gehängt. Doch auch mit dem traurigen Ende dieses Kindes erlosch die DimitriLegende nicht ganz. In Moskau erfuhr man von Gerüchten, dass bei den Jesuiten in Brest-Litowsk oder Wilna ein Jüngling heranwuchs, der ein Muttermal in Form des Zarenadlers oder der Buchstaben IVANOVO aufwies und der von dem Bojaren Belinski um 1615 dorthin gebracht worden war. Belinski muss wohl angedeutet haben, es könne sich um Iwan Dimitrowitsch handeln, den mitleidige Seelen vor dem Galgen gerettet hätten. Der geheimnisvolle junge Mann wurde auf Jesuitenschulen erzogen, galt als hochbegabt und stand unter dem persönlichen Schutz der Magnatenfamilie Sapieha und König Sigismunds III. Nach dem polnisch-russischen Friedensschluss wurde dieser Zögling, sein Name war Faustin oder Iwan Dimitrowitsch Luba, zum Beweis seiner Harmlosigkeit – er hatte selbst nie irgendwelchen politischen Ehrgeiz gezeigt -nach Moskau geschickt, durfte heimkehren und kam wohl bei einem Tatareneinfall 1647/48 ums Leben. 53 53

Zu Faustin Luba: Perrie S. 229, Rüstemeyer S. 337

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In Kaffa auf der Krim gab sich 1644 der Kosak Iwaschka Vergun(enok) für Iwan Dimitrowitsch aus. 54 Er war in tatarische Gefangenschaft geraten, als Sklave an einen Juden verkauft worden und so nach Kaffa gekommen. Dort hatte er sich die „Zarenmerkmale“ auftätowieren lassen. Der Khan der Krimtataren wurde auf ihn aufmerksam und sandte ihn zu seinem osmanischen Oberherrn in Istanbul. Er fand dort aber keine Unterstützung, wohl auch weil er sich als rabiater Säufer entpuppte, und verschwand auf Betreiben des dortigen russischen Gesandten im sogenannten Turmgefängnis. Auch im Moldauer Fürstentum (heute zu Rumänien) soll sich um 1639 ein falscher Iwan Dimitrowitsch herumgetrieben haben. Endlich schien, allein aus Zeitgründen, aber auch aufgrund der Erfolglosigkeit der Kandidaten, die Dimitri- und Dimitrowitsch-Rolle für angehende Samosvanzen nicht mehr attraktiv. Die falschen Schuiskis55 Beliebter wurde es jetzt, in die Rolle eines Sohnes oder Verwandten des 1610 gestürzten Bojarenzaren Vassili Schuiski zu schlüpfen. (Schuiski selbst war als Mönch 1612 im polnischen Exil gestorben. Er hatte keine legitimen Söhne hinterlassen.) In der Moldau trat 1639 ein „Semion Vassilejewitsch Schuiski“ auf. Er stellte sich dem dortigen Fürsten vor und wurde dem russischen Gesandten übergeben, der seinen Kopf nach Moskau schickte. Vielleicht war er mit dem erwähnten Moldauer Iwan Dimitrowitsch identisch. Es ist unklar, ob dann in Polen ein oder zwei falsche Schuiskis auftraten. Es werden ein Iwan und ein Semion Schuiski genannt, aber vielleicht handelt es sich um ein und dieselbe Person. Jedenfall gab sich der Abenteurer Timofej Demidowitsch Akundinov als einen Schuiski-Sprößling aus. Er soll der Sohn eines Wäschehändlers aus Wologda (weit nördlich von Moskau) gewesen sein. Die Berichte über ihn klingen unglaublich romanhaft. Er heiratete in frühen Jahren angeblich die Enkelin eines Erzbischofs, zog nach Moskau, wurde ein berüchtigter Spieler, trieb es mit Männern, brannte sein eigenes Haus ab, wobei seine Frau ums Leben kam, floh nach Polen, gab sich dort 1643 für einen Schuiski aus, ergatterte eine königliche Pension, schloss sich dem berühmten Kosakenaufstand unter Bogdan Chmelski in der Ukraine an, konvertierte in Istanbul zeitweilig zum Islam, in Cattaro (Kotor, heute Montenegro) oder Rom zum Katholizismus, wurde in Brüssel, Leipzig, Reval und sogar bei Königin Christine in Stockholm gesehen, soll Lutheraner geworden sein und wurde schließlich von Neustadt in Holstein nach Russland ausgeliefert. In Moskau wurde er 1653 gevierteilt. Nach anderen verfiel er in Depressionen und beging vielleicht Selbst54 55

Perrie S. 232 Zu diesen: Bercé S. 130, Čistov S 63-64, Perrie S. 233

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mord. Da er sich auch anderer falscher Namen bediente, ist er wohl insgesamt eher den einfachen kriminellen Hochstaplern und weniger den politisch relevanten Aspiranten zuzurechnen. Nicht ganz zu diesem wendigen Herrn passt eine Geschichte, die ebenfalls von einem angeblichen Schuiski in Polen berichtet wird. Danach soll ein Priester an seinem (aus Russland stammenden?) Diener „Zarenzeichen“ zwischen den Schultern ausgemacht haben. Der Diener gab sich als Schuiski zu erkennen. Der Priester stellte ihn dem königlichen Schatzmeister Danilowicz vor, der ihn ins Verhör nahm und dann entweder verprügelte und/oder in ein Kloster abschob. Interessant ist, dass die Samosvanzen, die nach 1613, also nach der Wahl Michail Romanows zum Zaren und dem Ende der Smuta-Wirren, auftraten, sich für eine lange Zeit alle im Ausland zeigten. Dies hing auch mit der geradezu hysterischen Strenge zusammen, mit der in Russland selbst jetzt jedem kleinsten Verdacht, es rege sich ein Samosvanze, nachgegangen wurde. So wurden etwa noch 1666 arglose Bauern, die sich einen Karnevalszaren gewählt hatten, gefoltert, erhielten ihre Schwurfinger abgehackt und wurden nach Sibirien verbannt. Drei Fürsten des Hauses Shachowski (Shakhovskoi ?), die ein scherzhaftes „Zarenspiel“ veranstalteten, wurden 1634 zum Tode verurteilt, dann aber doch zur bloßen Verbannung begnadigt. Letztlich kamen sie mit dem Schrecken davon, da sie bald wieder freigelassen wurden.56 Aber eine Lehre blieb es doch. Es wurde eine Art Samosvanzen-Gesetz erlassen, nach dem schon bloße Vergleiche eines gewöhnlichen Sterblichen mit einem Zaren oder Zarewitsch strafbar wurden, etwa die Behauptung, jemand leide an derselben Krankheit wie der Zar oder er trage einen Bart wie der Zar.57 Auch die jahrelange Hatz russischer Agenten durch halb Europa auf den vermeintlichen Schuiski Akundinov belegt diese Samosvanzen-Phobie. Lange Zeit schien diese Strategie erfolgreich und die Samosvanzen-Pest endgültig erloschen. Ein Irrtum. Die Tragödien der 1613 inthronisierten Dynastie Romanow, die das Ereignis in Uglitsch von 1591 oft weit übertrafen, sorgten für eine neue Samosvanzen-Flut.

56 57

Zu diesen Fällen Uspenski S. 266-67 Rustemeyer S. 72

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XVII. Russland 2 : Die Tragödien der Romanows und ihre Samosvanzen Vorbemerkung: 1613 wurde der siebzehnjährige Michail Fedorowitsch Romanow nach dem Ende der Smuta-Wirren durch einen Zemski Sobor, einen allrussischen „Volksrat“, auf den Zarenthron erhoben. Die Romanows waren durch ihre Verschwägerung mit Iwan dem Schrecklichen bekannt geworden: den alten Bojarenfamilien galten sie als Emporkömmlinge. Die Gründe, warum die Wahl des Zemski Sobor am Ende der „Zeit der Wirren“, der „Smuta“, auf den unbedarften Romanow-Jüngling fiel, können in ihrer Komplexität hier nicht erörtert werden.1 Die Furcht vor weiteren Wirren saß jedoch so tief in allen Schichten der russischen Gesellschaft, dass man sich mit beinah religiöser Verehrung an das neue Zarentum klammerte. Die persönliche Belanglosigkeit der ersten Romanows, Michail (1613-45) und Alexej (1645-76), wurde durch den Rückgriff auf ein pompöses Zeremoniell und dessen Ausbau überdeckt. Vielleicht half gerade die Bedeutungslosigkeit der ersten Romanows, die sich widerstandslos diesem für sie auch beschwerlichen Zarenkult beugten, die Dynastie politisch zu sichern. Bedroht wurde ihre Stabilität jedoch bald von familiären Schicksalsschlägen. 1669-70 verstarben kurz hintereinander die Gemahlin Alexejs, sein jüngerer Sohn Simeon (Semjon) und der sechzehnjährige Thronfolger Alexej Alexejewitsch. Dem Zaren verblieben als männliche Erben der stets kränkelnde Sohn Fedor (Fjodor) und dessen geistesschwacher Bruder Iwan. Es wurde von einer Bojarenintrige und Gift gemunkelt. Der unsichtbare Zarewitsch des Stenka Razin Die immer strengere Ausformung der russischen Leibeigenschaft im 17.Jahrhundert führte währenddessen zu einer Massenflucht von Bauern, sogenannter „Läuflinge“, in die Kosakenrepubliken am Dnjepr, Don, Terek und am Uralfluss (damals Jaik). In den Stanitzas (Siedlungen) der Donkosaken wuchs die Bevölkerung zwischen 1650 und 1670 auf das Dreifache. Die Zugelaufenen bildeten ein kosakisches Proletariat. Die Kosaken, die traditionell von der Jagd, der Flussfischerei, der Imkerei, dem Handel, Söldnerdiensten und auch von Raubzügen lebten, traten in dieser Zeit andrerseits in immer engere Bindungen an die Moskauer Regierung. Sie erhielten für ihre Bereitschaft zu Kriegsdiensten Getreidezuwendungen und Geldgeschenke. Blieben diese aus, so drohten die Kosaken mit Raubzügen. Meist blieb es bei Androhungen. Kam es zu solchen Aktionen, wurden sie gewöhnlich durch Verhandlungen beendet. 1

Einen Einblick gibt Helge Almquist, Die Carenwahl des Jahres 1613, in Zeitschrift für osteuropäische Geschichte 3, 1913 S. 161-202, obwohl fraglich erscheint, Michail Romanow einfach als „Kosakenzaren“ (S. 201) zu bezeichnen.

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Aus dem Rahmen dieses prekären Spiels fiel der Raubzug, den der Donkosak Stepan (Stenka) Timofejewitsch Razin 1667-69 an die untere Wolga und über das Kaspische Meer nach Persien unternahm. Razin (ca. 1630-71)2, selbst aus einer wohlhabenden alten Kosakenfamilie stammend, relativ gebildet und politisch nicht unerfahren, hatte eine ungewöhnlich große Horde um sich gesammelt. Sie rekrutierte sich wohl aus dem jüngeren kosakischen Proletariat. Sein Plünderzug, dem selbst Handelsschiffe des Zaren und des Patriarchen zum Opfer fielen, war von ungewöhnlicher Radikalität. Gleichwohl wurde er wie üblich durch Verhandlungen beendet: Stenka Razin durfte an den Don zurückkehren. Im März 1670 brach er zu einem neuen Zug auf. Er eroberte Astrachan und Zarizyn (Wolgograd) und zog den Lauf der Wolga hinauf. Er verwandelte seinen Kosakenzug jetzt in einen allgemeinen Volksaufstand. Die Bauern wurden in „Aufruhrbriefen“ oder „Lockbriefen“ angefeuert, sich gegen ihre Herren zu erheben. Die Raskolniki (Altgläubigen), Gegner einer eben durchgeführten Kirchenreform, und die ethnischen Minderheiten an der Wolga (Mordwinen, Tschuwaschen, Tataren) wurden aufgewiegelt. Ihnen allen war aus verschiedensten Gründen die moskowitische Gesellschafts- und Staatsordnung verhasst. Aber das Zarentum als solches wagte Stenka Razin nicht anzugreifen. Im Gegenteil, er versuchte von der allgemeinen Zarengläubigkeit zu profitieren. Schon im März 1670 hatte er auf einer Versammlung (Krug) der Donkosaken erklärt, sein geplanter Aufstand richte sich nicht gegen den Zaren, sondern nur gegen jene Bojaren, die offensichtlich versuchten, die Zarenfamilie mit Giftanschlägen auszurotten und die an allen Übelständen Schuld seien. Es gelte, den Zaren aus ihrer Umgarnung zu befreien. Im August 1670 verkündete er an der Wolga, Zar Alexej habe seinen Thronfolger Alexej Alexejewitsch zu ihm geschickt.3Der für tot erklärte Zarewitsch sei in Wirklichkeit den Mordanschlägen der Bojaren entkommen. Auch der auf Drängen der Bojaren abgesetzte Patriarch Nikon habe sich an die Wolga gerettet und in Razins Schutz begeben. (Dies erscheint etwas verwirrend, da Nikon die Altgläubigen verfolgt hatte.) Seit September 1670 mussten alle Anhänger Razins auf den Zaren oder den Zarewitsch Alexej schwören. Im Oktober verlangte Razin von den Geistlichen der von ihm kontrollierten Gebiete die Aufnahme des Zarewitschs, Nikons und seines eigenen Namens ins Kirchengebet. Zar Alexej selbst wurde nicht mehr erwähnt. Razins Truppen zogen mit dem Ruf „Netschaj“ in den Kampf. Netschaj lässt sich mit „der vorzeitigüberraschend Erschienene“ übersetzen. Damit war der angebliche Zarewitsch 2 3

Zu Razin: Schleunig und Tuchtenhagen passim, Khodarkovsky passim, Avrich S.59113 Zu diesem geheimnisvollen Prätendenten und seinen „Nachzüglern“ bis 1673 noch besonders Čistov S. 69-76 und Ingerflom passim, dort Spekulationen über die Bedeutung der „Unsichtbarkeit“ des Razinschen Zarewitsch.

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gemeint. Seltsamerweise zeigten sich Alexej Alexejewitsch und der Patriarch nie. Es wurde aber auf der Wolga eine rote, samtausgeschlagene Barke mitgeführt, auf der, in einer verhängten Sänfte, der Zarewitsch reiste. Der Patriarch saß ebenso geheimnisvoll auf einem schwarzen Boot. Sobald man Nischni Nowgorod am Zusammenfluss von Oka und Wolga erreicht habe, würden sich Alexej und Nikon dem Volk zeigen. Razin erreichte dieses Ziel nie. Die Moskauer Regierung erklärte, jedermann sei eingeladen, das Grab des echten Alexej Alexejewitsch im Kreml zu besichtigen. Ihre Truppen schlugen die Haufen Razins. In Kämpfen bei Simbirsk (heute Uljanow) an der Wolga wurde Razin schon Ende Oktober 1670 besiegt und verwundet. Er floh in seine Heimat am Don. Im April 1671 wurde er von seinen eigenen Leuten ausgeliefert und am 16. Juni 1671 in Moskau nach qualvollen Martern geschleift und gevierteilt. Seine Überreste wurden den Hunden vorgeworfen. Was aus seinem Zarewitsch und seinem Patriarchen geworden ist, bleibt unbekannt. Vielleicht hat es sie nie gegeben, und die Barken waren leer. Andrerseits wurde vermutet, ein Kosakenataman, Maksim Osipov oder der von Razin gefangen genommene kabardinische (georgische) Fürstensohn Andrej Tscherkasski seien für die Rolle des Zarewitsch vorgesehen gewesen.4 Im weit von der Razinschen Aufstandsregion abgelegenen Smolensk wurde 1670 ein Mann gehängt, der den Prätendenten leibhaftig gesehen haben wollte.5 Der ominöse Alexej Alexejewitsch geriet im Gegensatz zu seinem Tutor Razin rasch in Vergessenheit. Kaiserin Katherina II. glaubte hundert Jahre später, Razin habe sich selber als Zaren ausgegeben.6 Stenka Razin lebt jedenfalls noch heute als eine Art Robin-Hood-Figur im Volkslied weiter. Noch 1671 gab sich in Toropez ein gewisser Iwan Alexejewitsch Kleopin in der Spur des Razin-Prätendenten ebenfalls für den Zarewitsch Alexej aus. Er war ein Findelkind und der Adoptivsohn des Adligen Kleopin (aus Nowgorod?), der ihn zärtlich seinen „Zarewitsch“ gerufen und dem wohl geistesgestörten Jungen damit abwegige Flausen in den Kopf gesetzt hatte. Dieser falsche Alexej oder die Hintermänner, die ihn benutzten, bemühten sich um Hilfe aus Polen und wandten sich brieflich an Zar Alexej. Kleopin wurde aufgegriffen, gefoltert und gehängt. Selbst auf der Folter leugnete er jedoch, Hintermänner gehabt zu haben. Ein letztes Nachspiel der Razin-Affäre gab es im Oktober-November 1673 bei den Zaporoger Kosaken am Dnjepr. Dort tauchte der Donkosak Semen Iwanowitsch Vorobjew auf, der vielleicht im Gefolge Razins als Koch gedient hatte. Er wies „Zarenmale“ auf, rote Pigmentierungen in Form von Doppeladlern, Monden und Sternen. Er behauptete Simeon (Semjon), ein Sohn des Zaren Ale4 5 6

Čiskov S. 74 erwähnt die Hinrichtung eines Čerkassky Avrich S. 95 Ingerflom S. 753 als „Fedor Fedorowitsch“.

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xej zu sein. Mitleidige Bettler und Krüppel hätten ihn vor den Mordanschlägen der Bojaren und seiner Stiefmutter aus Moskau gerettet. Hinter dem jungen Mann stand als Drahtzieher der Ataman Miyuska, ein Anhänger Razins. Die Zaporoger ließen sich auf das Spiel nicht ein. Der falsche Zarensohn wurde nach Moskau ausgeliefert, vor der Bojarenduma verhört und gehängt. Es gibt auch Hinweise, dass es sich bei dem falschen Simeon um den Polen Semen Iwanowitsch Andreev gehandelt haben könnte.7 Alexej Petrowitsch: der Sohn Peters d. Gr. und seine Doppelgänger Der verwitwete Zar Alexej (1645-76) sah wohl ein, dass es seine Pflicht war, dem Reich angesichts des Elends seiner überlebenden Söhne Fedor und Iwan einen gesunden weiteren möglichen Erben zu schenken. Er zeugte in zweiter Ehe neben einer Tochter auch den zukünftigen Peter den. Großen, geboren 1672. Dieser wurde nach dem kinderlosen Abscheiden Fedors (III.) 1682 zusammen mit seinem geistesschwachen älteren Halbbruder Iwan (V.) auf den Thron gehoben. Für die beiden regierungsunfähigen bzw. minderjährigen Zaren führte die Schwester Sofia bis 1689 die Regentschaft. >ach ihrem Sturz regierte Peter I. selbstständig. (Der Schattenzar Iwan V. verstarb 1696. Er hinterließ zwei Töchter, die ins Ausland verheiratet wurden.) Peter I. (1682/89-1725) wurde zum großen Reformzaren, zum Modernisierer des russischen Reiches. Seine Reisen nach Westeuropa, seine zahlreichen >euerungen, seine Kriege brauchen hier nur angedeutet zu werden. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass sie in allen Schichten der russischen Gesellschaft, insbesondere bei der orthodoxen Geistlichkeit, auf heftigsten Widerstand stießen. Die Brutalität und skandalöse Frivolität, mit der Peter gegen geheiligste Traditionen verstieß, schienen so unglaublich, dass das Gerücht aufkam, er könne gar kein echter Zar sein. Es wurde kolportiert, seine Mutter habe sich mit einem Schweden eingelassen oder habe ein 1672 geborenes Töchterchen in der Wiege gegen einen männlichen Säugling obskurer Herkunft ausgetauscht, um ihrem Gemahl endlich einen gesunden Thronfolger vorweisen zu können.8 Alle Oppositionellen setzten später ihre Hoffnungen auf den 1690 aus der ersten Ehe Peters d. Gr. mit Eudokia Fedorowna Lapuchina geborenen Sohn Alexej Petrowitsch. Dieser werde sich als echter Zar erweisen und die lästerlichen Reformen seines Vaters zurücknehmen. Der Zarewitsch wurde von Peter d. Gr. zwar zeitweise ausländischen, meist deutschen, Erziehern und Lehrern anvertraut, die ihn im Geist der Reformen be7 8

So Bercé S. 135 und für das Jahr 1668. Das mögliche Schicksal der echten Zarentochter wird ausgesponnen in dem Roman von Helga Hegewisch, „Johanna Romanowa“, München und Zürich 2006

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einflussen sollten, aber der Heranwachsende entwickelte bald eine tiefe Abneigung gegen seinen Vater. Dazu trug wohl auch das Schicksal seiner Mutter bei, einer sehr orthodox-frommen Frau, deren Zuneigung Peter als allzu besitzergreifend empfunden hatte. Sie wurde 1699 verstoßen und in ein Kloster verbannt. Der Zarewitsch öffnete sich mehr und mehr orthodoxen Einflüssen. Dass ihn sein Vater 1711 in die Ehe mit einer ausländischen Prinzessin (Sofie Charlotte von Braunschweig-Wolfenbüttel, sie starb schon 1715) zwang, verschärfte die Spannungen. Hierzu trug auch 1712 die Heirat Peters d. Gr. mit seiner Mätresse Katharina bei, einer ehemaligen Bauernmagd aus Livland. Sie schenkte ihrem Gemahl 1715 ein Söhnchen. Alexej deutete an, zugunsten dieses Halbbrüderchens auf seine Thronrechte verzichten zu wollen, um sich in ein Kloster zurückzuziehen. Diese Idee, so treuherzig sie gemeint sein konnte, war politisch mehr als brisant. Die orthoxen Reformgegner hätten damit einen MärtyrerZarewitsch als äußerst gefährliche, lebende Symbolfigur erhalten, mit allen sich daraus ergebenden Implikationen. Der Zarewitsch wurde gezwungen, sein Vorhaben schriftlich zu widerrufen und sich zum Reformkurs seines Vaters zu bekennen. Er musste versprechen, Peter d. Gr. auf seiner zweiten WesteuropaReise nachzufolgen. Alexej, der zunächst eine Krankheit vortäuschte, traf aber in Kopenhagen, wo ihn sein Vater erwartete, nicht ein. Er entschlüpfte 1716 nach Wien, wo er bei Kaiser Karl VI. um Asyl bat. Später ging er nach Neapel. Mit Versöhnungsangeboten wurde er 1718 nach Russland zurückgelockt. Er war ein schwacher Charakter. Dem Alkohol zugetan lebte er, trotz seiner Frömmelei, im Konkubinat mit einer einfachen Finnin. Jetzt unterwarf er sich Februar 1718 in Moskau mit demütigenden Zeremonien seinem Vater. Kurz darauf wurde er angeklagt, sich wieder in Verschwörungen eingelassen zu haben. Er wurde scharf verhört, vielleicht sogar ausgepeitscht und gefoltert. Am 26. Juni 1718 wurde sein Tod bekannt gegeben. Gerüchte besagten, Peter d. Gr. habe seinen Sohn eigenhändig erschlagen, erdrosselt oder geköpft. Oder hatte sich der Zarewitsch aus dem Kerker gerettet? Jedenfalls sehnte sich das wahre Russland nach einem rechtgläubigen Zaren. Der Wunsch war so stark, dass noch bei Lebzeiten Alexejs, noch bevor der Eklat zwischen Zar und Zarewitsch 1715 offenkundig wurde, ein Samosvanec auftreten konnte, der sich für Alexej ausgab. Ihm sollten mindestens sieben weitere angebliche Alexejs nachfolgen.9 1712 also trat bei einem Bauern in der Gegend von Nischni-Nowgorod an der Wolga der erste falsche Alexej auf. Er wies an seinem Körper die ominösen „Zarenmale“ auf und fand eine Zeit lang bei Fürst Tscherkasski Unterschlupf. 1715 zeigte ihn ein Pope, dem er sich als Zar offenbarte, bei den Behörden an. Sein echter Name war Andrej Krekschin, Sohn eines Kavalleristen und selbst

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Zu Alexej und den acht falschen Alexejs: Čistov S. 97-108

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Deserteur aus der Armee. Er wurde mit Ruten gezüchtigt und zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. 1723 spielte sich ein polnischer Bettler in Wologda, Aleksej Radionow, als Zarewitsch Alexej auf. Er wurde für verrückt erklärt. 1724 versuchte sich der Soldat Evestifij Artemjew aus Simbirsk (Uljanow) in Astrachan in der Alexej-Rolle. Er gab an, vor den Intrigen Menschikows, des Hauptgünstlings seines Vaters, geflohen zu sein. Auch er wurde von einem Popen, dem er sich in der Beichte als Zarewitsch anvertraut hatte, verraten. 1725 trat ein Aleksandro Semikov in seine Fußstapfen. Er war der Sohn eines Küsters aus Sibirien und diente als Soldat in Potschep. Er hoffte Kosaken für sich zu gewinnen. Nach seiner Entlarvung wurde er hingerichtet, sein Kopf auf einem Pfahl aufgespießt ausgestellt, mit einer Schandtafel versehen. Ca. 1731 gaben sich der Händler Andrej Kolschtschenikov (Cholščenikov) bei Azamas, mit Anhang unter den Leibeigenen des Fürsten Tscherkasski, und/oder der Handwerker Andrej Obadin für den unglücklichen Zarewitsch aus. 1732 prahlte der Samosvanec Timofej Truženik („Klosterbruder“)10 mit seinen „Zarenmerkmalen“, die ein Wunderheiler an ihm entdeckt haben wollte. Der Bettler und ehemalige Klosterbruder zeigte sich bei Tambow als falscher Alexej mit seinem Halbbruder Peter Petrowitsch im Schlepptau, der als der in Wirklichkeit 1719 verstorbene Sohn Peters d. Gr. aus dessen Ehe mit Katharina gelten wollte. Dieser falsche Alexej versprach die Rekrutierung zur Landmiliz und die Kopfsteuer abzuschaffen und die Bojaren auszurotten. Nach seiner Verhaftung versuchten seine bäuerlichen Anhänger und Wolgabootsleute, ihn zu befreien. Er wurde hingerichtet. Sein „Bruder“ Peter war ein desertierter Dragoner Larbion Starodubjev aus Narwa. Noch 1738 ließ sich ein Iwan Minitski 11als Zarewitsch Alexej mit großem Pomp und Glockengeläut feiern. Er verkündete, den gerade laufenden Türkenkrieg beenden zu wollen. Dieser letzte „Alexej“ wurde wahrscheinlich gepfählt. Alle diese falschen Alexejs, deren Ende oft unklar bleibt, brachten es zu keinem allzu großen Anhang. Ihr Auftreten war aber ein Symptom für die gefährliche Entfremdung zwischen der regierenden reformistischen Partei in St. Petersburg und breiten Schichten des russischen Volkes, die sich nach einem wahrhaft rechtgläubigen und guten Zaren sehnten. Begünstigt wurde die falschen Alexejs und die vielen nachfolgenden Prätendenten-Wellen zudem durch die unklar-verworrenen Thronfolgeverhältnisse in der „Romanow“- Dynastie.

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Zu ihm auch Longworth S. 75-79 Longworth S. 70, 78

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Die fragwürdige Thronfolge der Romanows und ihre Folgen 1722 hatte Peter d. Gr. bei der Annahme des Kaisertitels verfügt, in Zukunft könne der jeweils regierende Herrscher, ohne an Erstgeburtsregelungen gebunden zu sein, seinen >achfolger beliebig ernennen. Er selbst versäumte es, sich auf eine solche Benennung festzulegen. Als er 1725 starb, bestieg seine Witwe, proklamiert vom „Senat“ des Reiches (d. h. den Petersburger Spitzenbeamten), unter Übergehung seines Enkels, seiner Töchter und >ichten als Katharina I.(1725-27) den Thron. Sie ihrerseits bestimmte den Sohn des unglückseligen Zarewitsch Alexej Petrowitsch aus dessen Ehe mit Sophie Charlotte von Braunschweig-Wolfenbüttel als Peter II. (1727-30) zum >achfolger. Peter II. starb überraschend unmittelbar vor seiner Verlobung. Der Senat setzte nun Anna (1730-40), eine Tochter des Schattenzaren Iwan V., eine >ichte Peters d. Gr. und verwitwete Herzogin von Kurland, auf den Thron. Diese ernannte kurz vor ihrem Ableben ihren Großneffen Iwan (VI.), einen gerade geborenen Säugling, zum >achfolger. Er war der Enkel ihrer nach Mecklenburg verheirateten Schwester Katharina und Sohn von deren Tochter Anna, die wiederum mit einem Braunschweiger Prinzen verheiratet worden war. Das Wiegenkind wurde tatsächlich zum Zaren erklärt. Seine Mutter maßte sich die Regentschaft an. Schon Kaiserin Anna, ihre Tante, hatte sich bevorzugt mit deutschen Beratern umgeben. Jetzt drohte eine Verewigung der „deutschen“ Herrschaft durch die Braunschweiger Familie. Eine bisher in der Thronfolge übergangene, in Russland aber sehr beliebte voreheliche Tochter Peters d. Gr. und Katharinas I., Elisabeth, war es ein Leichtes, mit Hilfe der russischen Garden den kleinen Iwan zu entthronen. Die Braunschweiger Familie wurde interniert. Leider blieb die nunmehrige Kaiserin Elisabeth (1741-62) offiziell unverheiratet, die Thronfolge also weiterhin prekär. Elisabeth ernannte 1742 den Sohn ihrer Schwester Anna, Peter (III.) von Holstein-Gottorp zum Thronerben. Auch dies alles, wie gesagt, ein >ährboden für ein blühendes Samosvanzentum. Ein bunter Samosvanzenstrauß Zwischen 1740 und 1772, dem Auftreten Pugatschows als Peter III., das Russland zutiefst aufrührte, machten eine Reihe anderer Prätendenten von sich reden. Sie schlüpften nicht mehr in die Rolle des unseligen Zarewitschs Alexej, sondern setzten sich in Bezug zu neueren Zaren, Zarinnen oder Zarenabkömmlingen. Große Bedeutung erlangte keiner von ihnen. Unter Verzicht auf eine strenge Chronologie ihres Erscheinens sollen sie je nach ihrer Anbindung an die aufeinanderfolgenden Herrscher bzw. Herrscherinnen zusammengefasst vorgestellt werden.

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Als Peter II. (1727-1730), Enkel Peters d. Gr. und Sohn des Zarewitschs Alexej, gab sich ein Ivan Michailowitsch Eudokimos (Jjew, Jewdokinov) 12 1764/65 aus. Auf den jugendlichen, allzu früh an den Pocken verstorbenen Zaren hatten sich seinerzeit allerlei Hoffnungen gerichtet. Der 1722 in eine „Einhöfer“familie ( Freibauern) bei Kromy geborene Samosvanez war 1747 aus der Armee desertiert, hatte sich altgläubigen Gruppierungen in den mittelrussischen Wäldern angeschlossen und dort eine gewisse Bildung erlangt. Jetzt behauptete der pockennarbige Prätendent, seinerzeit von Höflingen nach Italien entführt und dort in eine Säule oder einen Steinturm eingemauert worden zu sein. Er habe sich, da die Säule geborsten wäre, nach 24 Jahren befreien können und habe endlich nach neunjähriger Irrfahrt die Heimat erreicht. Er fand einigen Anhang, dem er Steuerfreiheit und Kampf gegen den Adel versprach. Er soll sich vor seinen Verfolgern über die Wolga in den Osten gerettet haben. Zu Kaiserin Anna (1730-40), der Tochter Iwans V. und Nichte Peters d. Gr. nahmen Bezug: ein angeblicher Bruder der Zarin, Iwan Iwanowitsch13, also ein „Sohn“ Iwans V., der in Konstantinopel 1747 auftrat und nach Russland ausgeliefert wurde, sowie ein Kirai Romanow14, ein Russe, der sich in der Schweiz 1768 im Kloster Maria Einsiedel für einen Sohn der Zarin ausgab, wohl ein gewöhnlicher Hochstapler ohne politische Ambitionen. Das beklagenswerte Schicksal Iwans VI. (1740-41)15, der noch in der Wiege entthront wurde, hätte genügend Anlass gegeben, in seinem Namen aufzutreten. Der kleine Iwan war mit der gesamten Braunschweiger Familie nach dem Staatsstreich der Zarin Elisabeth an verschiedenen Orten interniert worden. Wohl nach dem Tode seiner Mutter 1746 und einem Entführungsversuch bzw. einer Verschwörung zu seinen Gunsten wurde der achtjährige Exzar endgültig von seiner Familie getrennt gehalten und 1756 in die Festung Schlüsselburg verbracht. Während sein Vater und seine inzwischen geborenen Geschwister weiter im fernen Norden in Kolmogori bei Archangelsk sozusagen unter Quarantäne einigermaßen erträglich lebten (Iwans verwitweter Vater Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel zeugte dort mehrere uneheliche Kinder) 16 , wurde Iwan in dürftigsten Verhältnissen und strengster Isolation gehalten. Seine Wärter durften nicht mit ihm sprechen. Ein Geheimbefehl ordnete an, ihn sofort zu töten, sollten Unbefugte in den Sperrbezirk um sein Gefängnis geraten.

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Longworth S. 69, 72, 77, 80, Čiskov S. 111-112, Mylnikow S. 129 Longworth S. 65 Mylnikow S. 227 Zum Schicksal Iwans VI.: Büsching 1771, S. 517-532 Anton Ulrich starb 1776: Seine inzwischen erwachsenen Kinder wurden 1780 nach Dänemark entlassen. Zur „Braunschweiger Familie“ vgl. Büsching 1788 S. 417-22. Hinter dem falschen Zar Pugatschow-Peter III. wurde gerüchteweise auch ein Sohn Peter (1745-81) Anton Ulrichs vermutet.

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Zarin Elisabeth ließ sich den Unglücklichen wohl zweimal in St. Petersburg vorführen. Ihr Nachfolger Peter III. besuchte ihn inkognito März 1762 in Schlüsselburg. Dabei gab der junge Mann, zu erkennen, dass er wohl darum wisse, der echte Zar zu sein. Dennoch gewährte Peter III. einige Hafterleichterungen, die nach seinem Sturz Katharina II. zurücknahm. Auch sie nahm den Gefangenen heimlich in Augenschein. 1764 plante der Offizier Wassilij Mirowitsch Iwan zu befreien. Es gelang ihm, in die Festung einzudringen. Darauf erstachen zwei wachhabende Leutnants gemäß dem alten Geheimbefehl Iwan mit ihren Degen. Mirowitsch wurde hingerichtet. Katharina II. versuchte, die aufkommende Empörung über die Ermordung des unschuldigen Zaren in einer Proklamation zu besänftigen. Sie wies darauf hin, dass der unglückselige Vorfall für den bedauernswerten Iwan nur die Erlösung von einem Dasein in halbtierischer Verblödung gewesen sei. Eigentlich ist verwunderlich, dass das Schicksal Iwans nicht mehr als nur zwei oder drei Samosvanzen inspirierte. Dies lag wohl an der vollkommenen Ausmerzung jeder Erinnerung an sein kurzes, kaum ins öffentliche Bewusstsein gelangtes Zarentum. Kaiserin Elisabeth ließ alle Münzen und Medaillen, die auf ihn rekurrierten, einziehen. Sein Name durfte in keiner Veröffentlichung, auch nicht in historischen Werken, genannt werden. Nichtsdestotrotz verschickte wohl kurz nach 1764 ein Ivan Matveev17, ein Bauer des Hl.-Kreuz-Klosters bei Kargopol, unter dem Namen Iwans VI. Schmähbriefe gegen Katharina II. Er wurde ausgepeitscht, die Nase wurde ihm aufgeschlitzt, und danach wurde er zu lebenslanger Zwangsarbeit im sibirischen Roglovik verurteilt. Um 1782 trieb sich bei den Zaporoger Kosaken am Dnjepr, auf der Krim, in Astrachan und zuletzt bei Archangelsk ein Händler aus Krementschej, Timofej Iwanowitsch Kudrilov als Iwan VI. herum. Er fand nirgendwo rechten Anhang.18 Er wird gelegentlich mit einem weiteren VI. Iwan gleichgesetzt, der 1788 in Livland und Kurland von sich reden machte. Er behauptete, er sei 1760 von dem Kommandanten der Festung Schlüsselburg gegen einen Finnen ausgetauscht worden, der dann statt seiner 1764 ermordet wurde. Weiteres scheint über ihn nicht bekannt zu sein.19 Kaiserin Elisabeth (1741-62) war eine volkstümliche Herrscherin. Ihre Wesensart entsprach gewissen Zügen des russischen Nationalcharakters – falls es so etwas geben sollte. Träge, aber, wenn gefordert, doch hart durchgreifend, gutmütig, sinnlich und einem kräftigen Trunk nicht abgeneigt. Sie blieb offiziell unverheiratet, soll aber bei aller äußeren Frömmigkeit diskrete Liebschaften ge17 18 19

Čiskov S. 112-13 Čistov S. 114 Longworth S. 72

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pflegt haben, die vielleicht nicht ohne Folgen blieben. An Gerüchte darüber knüpften einige kuriose Gestalten an. So ließ einer ihrer Adjutanten, Sohn eines angesehenen Generalmajors, ein gewisser Opotschinin20, durchsickern, er sei ein Sohn Elisabeths und König Georgs II. von England, der in seiner Jugend auf Brautschau heimlich Russland besucht habe. Der dem Alkohol zugetane junge Herr wurde als geisteskrank aus dem Verkehr gezogen. Erst nach dem Ableben Elisabeths erregte eine angebliche Tochter der Zarin einigen Wirbel. Die junge Frau erhielt nachträglich den Spitznamen „Fürstin Tarakanowa“21 – (Prinzessin Küchenschabe). Sie gehörte zu den großen Abenteurern des 18. Jahrhunderts wie Casanova oder Cagliostro. Geboren in Prag oder Nürnberg tauchte sie ab 1760 u. a. in Berlin, Lyon, Kiel, London und Paris unter verschiedenen Namen auf: Fräulein Frank, Fräulein Schöll, Madame Trémouille, Ali Emetté, d’Azov, Gräfin Pinneberg oder Betty von Oberstein, Gräfin Selinski und Prinzessin Wladimirskaja. Als solche soll sie sogar einen Heiratsantrag seitens eines deutschen Reichsfürsten erhalten haben. Wahrscheinlich war dies der leichtlebige und schwer verschuldete Philipp Ernst, Graf von Limburg-Styrum (lebte 1734-94), der auch Herr von Oberstein an der Nahe war. Unter dem Vorwand, Gutsangelegenheiten in Polen und Russland regeln zu müssen, tauchte die „Wladimirskaja“ vor der Hochzeit unter. 1773-74 fand sie sich in Ragusa (Dubrovnik) an der Adria wieder. Dort geriet sie in einen Zirkel hochadliger polnischer Emigranten, die nach der ersten polnischen Teilung 1772 ins Exil gegangen waren, darunter Fürst Karol Stanislaw Radziwill. Vielleicht inspiriert von diesen hochrangigen Gegnern Russlands gab sie sich nun als eine Tochter der Kaiserin Elisabeth und des Atamans Razumovski aus. (Dieser Ataman Kiril Razumovski war allerdings nur ein Bruder des Grafen Alexis Grigorjewitsch Razumovski, des Geliebten und vielleicht heimlichen Ehemanns der Zarin gewesen. Die Razumovskis stammten aus einer einfachen Kosakenfamilie. Alexis, in seiner Jugend Schafhirte, war der späteren Zarin als Chorsänger aufgefallen.) Die Tarakanowa tischte eine phantastische Geschichte auf. Danach war sie als Kleinkind auf die ukrainischen Güter der Razumovskis in Pflege gegeben, später aber nach Sibirien und Persien abgeschoben worden. Dort habe der Schah um ihre Hand angehalten. Als gute Christin habe sie diesen Antrag leider ablehnen müssen. Sie behauptete, Testamente Peters d. Gr. und ihrer Mutter Elisabeth zu besitzen, durch die sie als thronberechtigte Romanowa legitimiert sei. Sie unterschrieb vielleicht sogar einige Briefe als Elisabeth II., um für ihre Ansprüche zu werben. Sie begab sie sich 1774 nach Rom. Katharina II., genervt durch die Samosvanzen-Welle im Kielwasser ihres 1762 umgekommen Gemahls Peter III., beschloss diesem Unfug ein Ende zu setzen. Sie beauftragte den Bruder ihres Günstlings Grigorij Orlow, Alexej Gri20 21

Longworth S. 64, Čistov S. 110 Zu ihr: Longworth S. 63, ausführlicher Mylnikow S. 227-29

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gorijewitsch Orlow (von einige Historikern als Mörder Peters III. gehandelt), der im Nachspiel des russisch-türkischen Krieges (1768-73) mit einigen Schiffen im Mittelmeer kreuzte, die Angelegenheit zu regeln. Orlow wusste sich bei der Tarakanowa einzuschmeicheln. Wahrscheinlich gaukelte er ihr vor, nachdem sein Bruder die Gunst der Zarin verloren habe, sei er selbst zu einem Gegner der undankbaren Katharina geworden. Er lockte die Tarakanowa im Mai 1775 nach Pisa und Livorno, köderte sie mit Geschenken und zeigte sich – etwa beim englischen Konsul in Livorno – mit ihr in Gesellschaft. Endlich überredete er sie, ein russisches Schiff zu besteigen. Kaum an Bord wurde die Arme verhaftet und nach St. Petersburg in die Peter-Paul-Festung verschleppt. Dort verstarb sie schon am 4. Dezember 1775 an Schwindsucht. Eine Legende wollte wissen, sie habe in Gefangenschaft noch ein Kind geboren und sei bei einem Hochwasser der Newa in ihrer Zelle ertrunken. Ein populäres Gemälde des russischen Historienmalers Konstantin Flavitsky (1864) hält diese Sterbeszene fest. Eine andere Legende behauptet, die Tarakanowa habe noch bis 1810 als Nonne Doriphea heimlich weiter gelebt. Auf jeden Fall glich das Schicksal der Tarakanowa einem Roman. Es musste geradezu literarische Verarbeitungen provozieren. Gregorij Petrowitsch Danilewski (1829-1890), ein hoher Beamter des russischen Unterrichtsministeriums, Geograph, Historiker und Zeitungsherausgeber, Verfasser mehrerer historischer Romane, in denen er dunkle Kapitel der russischen Geschichte aufgriff, stellte die Hochstaplerin in seiner „Prinzessin Tarakanowa “, erschienen 1891 in englischer Übersetzung, als eine empfindsame Schönheit dar, die den schändlichen Täuschungsmanövern Orlows zum Opfer fällt. Ihre Identität bleibt ungeklärt. Auch der seinerzeit viel gelesene deutsche Schriftsteller Reinhold Schneider (1903-58), der wie bereits erwähnt auch über Anna d’Austria und ihren falschen König Sebastian schrieb, ließ sich von der Geschichte der Tarakanowa rühren. Schneider lässt die Echtheitsfrage offen, deutet aber die Möglichkeit an, die Tarakanowa könnte eine Tochter der Zarin Elisabeth und ihres Ministers Iwan Schuwalow aus einer „Ehe zur linken Hand“ oder eine Schwester Iwans VI. gewesen sein. ( Bei Schneider ist die Tarakanowa eine jugendliche Unschuld, die zunächst selbst nichts von ihrer kaiserlichen Abkunft weiß, aber von einigen Getreuen, die um ihr Geheimnis wissen, behütet wird und in zurückgezogener Schlichtheit in Rom lebt, wo Orlow sie aufspürt). Auch der Film hat das Tarakanowa-Thema wegen seiner romantischsentimentalen Aspekte dankbar aufgegriffen (1910: „Fürstin Tarakanowa“, 1930 „Tarakanowa“, 1938 „Rivalin der Zarin“, 1950 „Der Schatten des Adlers“, 1990 „Die königliche Jagd“.) Die Volkstümlichkeit der Zarin Elisabeth, von der ihre angebliche Tochter profitieren wollte, wirkte noch lange nach. Die „Gottesmutter“ der SkopzenSekte, über die noch zu berichten sein wird, behauptete später, die Zarin selbst

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zu sein, die der Welt entsagt und einer Stellvertreterin den Thron überlassen habe. Auch dass die jahrelangen Beziehungen Elisabeths zu Rasumowski und Schuwalow, die keineswegs unbemerkt blieben, unfruchtbar gewesen sein sollten, erschien recht unwahrscheinlich. So wurde noch 1786 in Offenbach am Main Eva, die Tochter des reichen, dann 1788 in Wien geadelten jüdischen Kaufmanns und Sektengründers Jankiew Lejbowitsch (1726-91), für eine Tochter der Kaiserin gehalten. Von ihrem Vater wurde seinerseits gemunkelt, er sei der 1762 gestürzte Zar Peter III. 22 Bevor auf die Samosvanzen, die im Namen dieses Herrschers auftraten, eingegangen wird – sie sind zahlreicher und politisch bedeutender als alle ihre Vorläufer im 18. Jahrhunderts – muss noch erwähnt werden, dass es zwischen 1740 und 1760 falsche Zaren gab, die nicht in eine „dynastische“ Rolle schlüpften, sondern sich schlicht und einfach nur „Zaren“ , „Imperatoren“ oder „Autokraten“nannten. Der russische Historiker Čistov zählt auf23: den Hofbauer Jakov Tatarinov (1740), der sich einfach zum Zaren geboren fühlte24, den Einhöfer Artamon Tschevytschelow und den Kosaken Michael Randatschitsch, letztere ohne Datum. Peter III. (1762): Der ewige „Dritte Kaiser“ Der echte Peter III. wurde als Karl Peter Ulrich, Prinz von Holstein-Gottorp, 1728 geboren. Durch seine Mutter Anna (gest. 1728) war er ein Neffe der Kaiserin Elisabeth, die ihn 1742 zu ihrem Thronfolger bestimmte und 1745 mit Sofie Auguste von Anhalt-Zerbst-Dornburg vermählte, die bei ihrem Übertritt zur orthodoxen Kirche den Namen Katharina annahm. Die Ehe war unglücklich. Ob der 1754 geborene Großfürst Paul ein Sohn Peters war, ist unter Historikern umstritten. Peter wurde in Russland nicht heimisch. Er fühlte sich als Holsteiner und war ein Bewunderer Friedrichs d. Gr. von Preußen, gegen den seine kaiserliche Tante seit 1757 im Siebenjährigen Krieg an der Seite Österreichs und Frankreichs kämpfte. Ende 1761 (julianisch) oder Anfang 1762 (gregorianisch) 22

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Mylnikow S. 247. Auf weitere weibliche Samosvanzen verweist Rustemeyer S. 337 (eine Ukrainerin als Zarentochter in den 1730er Jahren) und S. 353 (eine angebliche Tochter Pauls I. 1796). John Henry Ingram, Claimants to royalty, London 1852 erwähnt S. 172 eine Charlotte von Russland, Witwe des Zarewitsch Alexej Petrowitsch (die echte Gemahlin Alexejs, Charlotte von Braunschweig, starb 1715), die 1752 und 1754 in Paris von sich reden machte. Der Maréchal de Saxe, Feldherr Ludwigs XV., und Kaiserin Maria Theresia sollen sie protegiert haben. Sie ging auch zeitweilig ins amerikanische Louisiana. Weitere Beispiele unten S. 314, 316, 317 Čistov S. 110, Tatarinov auch erwähnt bei Longworth S. 76 (er wäre gegen Prügelstrafe und für Gerechtigkeit eingetreten), zu Randatschitsch erwähnt Longworth S. 79 nur sein Auftreten zur Zeit Elisabeths. Longworth S. 76

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zur Regierung gelangt, schloss Peter im Mai 1762 unter Aufopferung russischer Interessen überraschend Frieden und Bündnis mit Preußen. Dies erregte viel Unmut in den höheren Petersburger Regierungs-und Militärzirkeln. Im Übrigen war seine kurze Regierung durch z. T. überstürzte Reformen gekennzeichnet. So schaffte er die Dienstpflicht des Adels ab. Dies wurde in weiten Kreisen als Vorspiel zur Aufhebung der Leibeigenschaft verstanden.( Die Leibeigenschaft war u .a. mit der Dienstpflicht des Adels für den Staat legitimiert worden). Auch die Überführung der kirchlichen Leibeigenen in den Status der im Allgemeinen besser gestellten „Staatsbauern“ wurde in diesem Sinne interpretiert. Am 28. Juni 1762 wurde Peter III. durch einen Palast-und Gardeputsch seiner Gemahlin Katharina zur Abdankung gezwungen. Am 6. 7. (gregorianisch: 17. 7.) kam er auf dem Gute Ropscha in der Nähe von St. Petersburg unter bis heute ungeklärten Umständen ums Leben. Katharina II. und ihre Verehrer taten alles, um Peter III. als einen regierungsunfähigen, degenerierten Kretin anzuschwärzen. In der neueren Geschichtswissenschaft wird versucht, dieses Bild zu korrigieren. Wichtig aber für die Entwicklung des Samosvanzentums in seinem Namen war der weitverbreitete Glaube, Peter III. habe die Leibeigenschaft aufheben wollen und sei deshalb gestürzt worden. Die für das Volk überraschenden und in viele Geheimnisse gehüllten Ereignisse um seine Abdankung und sein jähes Ende ließen bald das Gerücht aufkommen, er lebe noch und werde seine volksfreundliche Mission wieder aufgreifen. Als erster machte sich 1764 der verarmte armenische Kaufmann Anton Aslanbekov 25 diese Gerüchte zu nutzen. Der etwa Dreißigjährige trat in der Gegend von Kursk als Peter III. auf. Er versuchte durch Krankenheilungen sein Zarentum zu beweisen, spielte sich vor Bauern als „Euer Erlöser auf Erden“ 26 auf, gewann aber nur eine kleine Gefolgschaft. Gleichzeitig mit ihm gab sich der ukrainische Husarenwachtmeister >ikolai Koltschenko bei Tschernigow als „Zarewitsch Peter“ zu erkennen. Beide wurden verhaftet, gezüchtigt und ins sibirische Nertschinsk jenseits des Baikal-Sees verbannt. 1765 versuchte der Deserteur Gawril Kremner (Kremenev), bäuerlicher Herkunft, etwa 35 Jahre alt, bei Woronesch im Dongebiet insbesondere Einhöfer und Dorfgeistliche zu überzeugen, er sei Peter III. Er zeigte ihnen kreuzförmige Zarenzeichen an seinen Füßen. Ihn begleiteten ein Priester, der sich als Erzieher Peters III. ausgab und einige falsche Adlige, in Wirklichkeit einfache Landstreicher. Kremner, der sich auch „Bogomolov“, d.h. „Gottesanbeter“ nannte, ver-

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Über ihn und die anderen Vorläufer Pugatschows als falsche Peter-Zaren bis 1773: Mylnikow S. 8-9 und S. 126-29 soweit nicht anders vermerkt. Longworth S. 75

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sprach, die Kopfsteuer für zwölf Jahre auszusetzen, die freie Wodkadestillierung zu erlauben und die Zwangsrekrutierung abzuschaffen.27 In derselben Gegend wagte kurz darauf ein anderer Deserteur aus dem Brjansker Regiment, der siebenunddreißigjährige Pjotr (Peter) Tschernyschow dasselbe Spiel. Beide Woronescher Zaren wurden wie ihre Vorläufer gezüchtigt und nach Nertschinsk verbannt. Pjotr mimte auch dort noch den Zaren und nahm Verbindung zu dem sibirschen Stamm der Tungusen auf. Das brachte ihm eine weitere Verbannung in das noch unwirtlichere Jenissejsk ein. Er starb auf dem Transport dorthin. Vielleicht an den Folgen einer vorherigen Züchtigung? Im Ural trat 1765 der Sträfling Fedor Kamenshikow im Namen von oder sogar als Peter III. auf. Er zeigte Zarendekrete zur Bauernbefreiung vor und gewann etwa 400 Arbeiter in den dortigen Staatsbetrieben für sich. Größeren Anhang als die bisher genannten falschen „Dritten Zaren“ (Peter III. wurde gern als der „Dritte Zar“ mystifiziert) gewann 1772 Fedor Iwanowitsch Kasin oder Bogomolov28, ein schon als Kind entlaufener Leibeigener des Grafen Woronzow (Woronzow war ein Günstling Peters III. gewesen) aus einem Dorf bei Saransk im Wolgabogen. Mit seinen 25 Jahren war er etwas zu jung für die Rolle Peters III. Er hatte jedoch einige Kampferfahrungen bei den Donkosaken gesammelt. Um ihn scharten sich mehrere tausend Gefolgsleute. Er scheint sogar eine Art Ministerium unter einem „Staatssekretär“ organisiert zu haben. Nach seiner Verhaftung wurde er in Ketten nach Zarizyn (Wolgograd) gebracht. Dort scheiterte ein Befreiungsversuch seiner kosakischen Freunde. Bogomolov wurde gefoltert, es wurden ihm die Nasenflügel ausgerissen und er wurde gebrandmarkt. Er starb wohl an den Folgen auf dem Weg in die sibirische Verbannung. Er soll jedoch unter den begleitenden Wachmannschaften bereits wieder mit den „Zarenzeichen“ an seinem Körper für sich geworben haben. Seine Anhänger sammelten sich 1773 um den Räuberhauptmann Grigorij Rjabov, dem es gelungen war, aus der Verbannung in Nertschinsk nach Astrachan zu entkommen. Hatten ihn die nach Nertschinsk deportierten falschen Zaren zu seiner Aktion inspiriert? Viele Mitstreiter Bogomolovs fanden sich kurz danach bei dem bedeutendsten Wiedergänger Peters III., Pugatschow, ein. Als ein kleinerer Wegbereiter Pugatschows kann auch der verarmte Hauptmann >ikolaj Kretow gelten. Er behauptete, in St. Petersburg sei 1762 nur eine Wachsfigur Peters III. aufgebahrt worden, der Zar, also er, aber sei seinen Mördern entkommen. Als Zeichen für seine Echtheit wies er kreuzförmige Zarenzeichen an seinen Füßen vor. Er fand wenig Anhang, trat aber 1773 bei Orenburg am Ural (damals Jaik)-Fluss auf, dem ersten großen Schauplatz auch des Pugatschowschen Aufstandes.

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Zu Kremner auch vereinzelte Hinweise bei Longworth S. 75-79, Čistov S. 124 Zu Bogomolov auch Longworth S. 72, 79, Čistov S. 123. „Bogomolov“ bedeutet „Gottesanbeter“.

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Der 1767 in Montenegro aufgetretene falsche Peter muss in eigenem Kapitel gewürdigt werden (vgl. oben, Balkangeschichten 3). Die relative Erfolglosigkeit dieser Samosvanzen29, vielleicht mit Ausnahme Bogomolovs, ist wohl auch aus der fehlenden Radikalität ihrer „Programme“ zu erklären. Sie begnügten sich etwa mit der Forderung nach Abschaffung der Salzsteuer, der Zwangsrekrutierungen und verlangten allenfalls, die „Adelsbauern“ zu Staatsbauern zu machen. Pugatschow Nach all diesen Prätendenten-Vorspielen erstand endlich in Emeljan Iwanowitsch Pugatschow ein Wiedergänger Peters III., der das russische Reich in seinen Grundfesten zu erschüttern drohte. Bald als monströses Scheusal verschrien, bald als Volksheld gefeiert, gelang es ihm mit seinen kühnen Unternehmungen Regierung und Volk fast über ein Jahr in Atem zu halten. Seine Geschichte ist ausgiebig erforscht und oft erzählt worden.30 Sie braucht deshalb hier nur skizziert werden, damit die Frage, wie und warum er sich als Peter III. stilisierte, ausführlicher behandelt werden kann. Zunächst führte er einen Kosakenaufstand an, der später immer breitere Volksschichten mitriss. Die Anführer früherer vergleichbarer Aufstände wie Bolotnikov (1605-06) oder Stenka Razin (1667-70) hatten es vermieden, sich selbst als Samosvanzen zu etablieren. Immerhin gaben sie vor, im Namen fingierter Zaren (Demetrius/ Peter Fedorowitsch) oder Zarensöhne (Alexej Alexejewitsch) zu handeln. Ein anderer Vorläufer Pugatschows, Kondratij A. Bulavin, hatte 1707 gänzlich auf einen Zarenbezug verzichtet. Pugatschow war der einzige massenbewegende Volksführer, der selbst die Zarenrolle übernahm. Schon einige wenige Fakten aus seinem Vorleben können verdeutlichen, dass es sich bei ihm um einen außergewöhnlichen Charakter gehandelt haben muss. In der selben Donkosaken-Stanitza wie Stenka Razin 1742 geboren, mag dessen Legende auf seine Phantasie gewirkt haben. Er hatte früh (1762) geheiratet und eine Familie gegründet. Seine Frau Sofia schenkte ihm fünf Kinder, von denen aber 1773 nur noch ein Sohn und zwei Töchter lebten. Pugatschow kämpfte im Siebenjährigen Krieg 1759 an der preußischen Front und zeichnete sich im Türkenkrieg 1769-70 bei Bender aus. Er wurde, obwohl Analphabet, 29

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Bei Plate S. 382 Anm. 159) wird noch ein >. Mamykin erwähnt, der 1765 bei NishniNovgorod auftrat, die Kopfsteuer auf einen Rubel senken wollte und alle Bauern zu „Staatsbauern“ zu machen versprach. Ältere Darstellungen (Büsching 1784, Puschkin 1833, deutsch 1840) legen den Schwerpunkt auf die militärischen Aktionen. Neuere Zusammenfassungen erörtern eher ideologische-soziale Hintergründe der Pugatschow-Bewegung. Vgl. Scharf, in Handbuch der russischen Geschichte 2/II S. 774-88, Avrich S. 182-153, Čistov S. 127148, Mylnikow S. 151-175, Peters passim, Plate passim

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zum Fähnrich befördert. Verletzungen und Krankheiten, die er sich bei diesen Einsätzen zuzog, bewogen ihn, 1771 die Entlassung aus dem Militärdienst zu beantragen. Sie wurde abgelehnt, worauf er untertauchte und ein abenteuerliches Wanderleben führte. Am Terek wurde er kurzfristig Ataman einer Kosakenhorde. In Mozdok gefangen gesetzt floh er samt seinen Wärtern. Im polnischen Vetka schloss er sich 1772 altgläubigen Exilanten an und versuchte, mit ihnen nach Russland zurückzukehren. Über Einzelheiten all dieser Abenteuer machte er später im Verhör oft widersprüchliche Angaben. Doch scheint er 1772 zum ersten Mal am Jaik (heute: Ural-Fluss) aufgetaucht zu sein. Auf jeden Fall wurde er mehrmals verhaftet, entkam aber immer wieder. Zuletzt floh er aus einem Gewahrsam (wieder mit seinem Aufseher?) in Kasan im Juni 1773. Seine Militärkarriere, seine Abenteuerlust und die Wendigkeit, mit der er sich in schwierigen Situationen zu helfen wusste, deuten wie gesagt auf eine bemerkenswerte Persönlichkeit hin. Ausgestoßen und von den Behörden verfolgt, beschloss er endgültig 1773 das große Wagnis des Samosvanzentums einzugehen. Er wusste aber auch, dass es unter den Kosaken am Jaik (heute Ural-Fluss) gärte. Die Jaikkosaken hatten gerade erfolglos rebelliert, weil ihnen die russische Regierung traditionelle Freiheitsrechte beschnitt. In der ersten Phase seiner Rebellion verband Pugatschow nun das Samosvanzentum mit der Aufstandsbereitschaft dieser Kosaken. Er bot sich ihnen als Peter III. und Führer an. Zwar gestand er einigen ihrer Häuptlinge ein, nicht Peter III. zu sein, aber wie einer von ihnen später im Verhör ausführte: (wir sahen) „wie gewandt und fähig er ist, und wir haben beschlossen, ihn (-als Peter III.- ) unter unseren Schutz zu stellen und ihn als Führer anzuerkennen.“31Vom September 1773 bis Januar 1774 schwoll seine Anhängerschaft von etwa 300 auf einige Zehntausend an, vielleicht sogar 30 000. Er belagerte mit ihnen die große Festung Orenburg am Jaik, kleinere Festungen in der Region nahmen seine Horden im Sturm. Erst im März 1774 konnten Regierungstruppen ihm einen empfindlichen Schlag zufügen. Er rettete sich mit wenigen Getreuen in die Uralregion. Dort gewann er in einer zweiten Phase seines Kampfes alsbald wieder Massenanhang, vor allem unter den leibeigenen Arbeiterbauern in den Eisenhütten und anderen staatlichen Manufakturen. Auch die ethnischen Minderheiten diesseits und jenseits des Urals, die Baschkiren, Tschuwaschen, Wotjaken, Tataren, Mordwinen, Tscheremisssen und später die Kalmücken schlossen sich ihm an. Um auch die bäuerlichen Massen an sich zu ziehen, verkündete Pugatschow am 12. Juni 1774 (nochmals am 31. 7. ) die Aufhebung der Leibeigenschaft. Gestützt auf 20 000 Mann, aber immer verfolgt von regulärem Militär, verwüstete er am 12. Juli 1774 Kasan an der Wolga. Nur im Kreml der Stadt

31

Mylnikov S. 153

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hielten sich Regierungstruppen. Um nicht zwischen sie und seine Verfolger eingeklemmt zu werden, gab Pugatschow Kasan auf. Statt aber nun ins russische Herzland vorzustoßen, bewegte er sich in den Wolgalanden nach Süden. Hier entfesselte er jetzt, in der dritten Phase seiner Unternehmung, einen radikalen Aufstand der leibeigenen Bauernschaft mit allen Greueln, die solche Eruptionen mit sich bringen. Mehrere Millionen Menschen sollen zwischen Wolga und Don in Aufruhr geraten sein. Endlich wurden seine Banden bei Tscherny Jar unweit des heutigen Wolgograd am 14. August 1774 zerschlagen. Damit endete die letzte Phase der „Pugatschowschtschina“. Pugatschow floh zurück an den Jaik. Seine eigenen Leute lieferten ihn endlich im September 1774 gegen die Zusage der Straffreiheit für sie selbst an die Behörden aus. In einem viel zu engen Eisenkäfig nach Moskau gebracht, wurde er dort monatelang verhört und schließlich zur Vierteilung verurteilt. Am 15. Januar 1775 wurde er auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau hingerichtet. Seine Fähigkeit, immer neue Aufstandswellen in Gang zu setzen und die verschiedensten Bevölkerungssegmente einzubeziehen (Altgläubige, Kosaken, Arbeiter, ethnische Minderheiten, die Bauernschaft) sprechen für sein ausgeprägtes Charisma. Er hätte es wahrscheinlich gar nicht nötig gehabt, sich noch zusätzlich als Zar Peter III. auszugeben. Gegen dieses Unterfangen sprach nicht nur sein Aussehen, das nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem echten Zaren aufwies. Sein Analphabetentum und seine mangelnden Sprachkenntnisse, seine unhöfischen Manieren, vor allem die Existenz seiner Familie am Don konnten ihn ebenfalls jederzeit als Betrüger entlarven. Auf diese Schwierigkeiten, die sich für Pugatschow aus der Zarenrolle ergaben und sie ihm eher als hinderlich für seine Vorhaben erscheinen lassen konnten, muss näher eingegangen werden. Was sein Aussehen betraf: er war mittelgroß-untersetzt, muskulös, mit dunklem, etwas rötlichem Haar, eine schwarze Locke fiel ihm in die niedrige Stirn und ins leicht bräunliche Gesicht, er hatte einen kurzen Bart und bereits einige Zähne verloren. Beeindruckend waren seine großen schwarzen, scharfblickenden Augen. Aber mit all dem glich er nicht im Geringsten Peter III., einem dürr-hochaufgeschossenen, schmalgesichtigen, eher blonden Burschen. Pugatschow rühmte sich, wie Peter III. mehrere Sprachen zu beherrschen. Möglicherweise hatte er auch im Siebenjährigen Krieg einige Brocken Deutsch und Polnisch aufgeschnappt. Aber das genügte wohl kaum, um seine Prahlereien glaubwürdig zu machen. Dass in seinem Namen auf deutsch oder tatarisch abgefasste Sendschreiben verbreitet wurden, um die Wolgadeutschen oder vorher schon den Gouverneur von Orenburg, Reinsdorp, zu beeindrucken und Tataren für seine Sache zu gewinnen, war auch nur ein dünner Beleg für seine eigenen Sprachfertigkeiten. Seinen Analphabetismus kaschierte er nur notdürftig mit dem Hinweis, er wolle seine Handschrift nicht dokumentieren, um Fälschungen auszuschließen.

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Er werde erst nach der Rückgewinnung der vollen Herrschaft eigenhändig signieren. Seine rohen Trinkgelage mit Kosakengesängen und ordinären Ausschweifungen inmitten respektloser Zechgenossen, die ihre Späße mit dem Schwerberauschten trieben, waren nicht dazu angetan, seine Zarenwürde zu stützen. Störend für das behauptete Zarentum war auch die Existenz seiner Familie am Don: ein Grund, diese Gebiete zu meiden, wo er nur allzu sehr als der einfache Kosak Pugatschow bekannt war. Pugatschows Familie war von den Behörden gefangen gesetzt worden und sollte in der Öffentlichkeit bezeugen, dass der angebliche Zar niemand anders als ihr Väterchen Emeljan sei. Sie wurde zu diesem Zweck auch nach Kasan gebracht. Bei der Einnahme Kasans im Juli 1774 traf Pugatschow peinlicherweise auf seine Frau und Kinder. Als sie ihm zugeführt wurden, verleugnete er sie, sorgte aber für ihr Wohlergehen, unter dem Vorwand, es handele sich um die Familie eines alten Kampfgefährten namens Pugatschow. Erst Anfang August 1774 vor Saratow nahm er seine Frau wieder offen zu sich. Problematisch für seine Zarenrolle war auch eine Liebesaffäre Pugatschows mit der jungen Jaik-Kosakin Ustina Kuznezova im Januar 1774, die er schließlich mit Glockengeläute und Zarenprunk im Februar offiziell heiratete. Priester in seinem Gefolge wiesen ihn energisch darauf hin, dass seine Gemahlin Katharina II. noch lebe und weigerten sich, Ustinas Name in ihre Kirchengebete aufznehmen. Ustina geriet bei der Niederlage Pugatschows vor Orenburg im März 1774 in Gefangenschaft. Entlarvend konnte auch die Gegenpropaganda der Regierung wirken. Im November 1773 wurde zunächst ein Kopfgeld von 1000 Rubel auf Pugatschow ausgesetzt. Offensichtlich nahm man den Aufstand noch nicht allzu ernst. Aber schon am 23. Dezember erließ Katharina II. ein großes Manifest gegen „das Ungeheuer“, „den Verräter aller menschlichen und göttlichen Gesetze“, dessen Prätention, Peter III. zu sein „nicht den Schatten einer Wahrscheinlichkeit“32 habe. Das Manifest wurde in allen Kirchen verlesen und im März 1774 nochmals erneuert. Anfang 1774 wurde das Kopfgeld auf 10 000 Rubel erhöht, später sogar auf 24 000, vielleicht zuletzt auf 30 000. Eine Synode der orthodoxen Kirche musste Pugatschow zur ewigen Verdammnis verurteilen. Pugatschows Familie wurde, wie erwähnt, nach Kasan deportiert, um dort gegen seine Zarenhochstapelei zu zeugen. Ihr heimatliches Gehöft wurde abgebrannt und über die Erde, auf der es gestanden hatte, ein feierlicher Fluch gesprochen. Um über all diese Fährnisse hinweg sein Zarentum zu behaupten, griff Pugatschow außer zu den bereits erwähnten Notbehelfen zu verschiedenen Strategien.33 So beharrte er strikt auf seiner Rolle als legitimer Zar. Gefangene, besonders Offiziere, mussten ihm in aller Öffentlichkeit als Zaren huldigen. Wer sich 32 33

Avrich S. 208 Darauf geht besonders ein Plate S. 384-387

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weigerte, wurde auf der Stelle aufgehängt. Auch eigene Gefolgsleute, die Zweifel andeuteten, wurden nicht verschont. Pugatschow liebte es, theatralische „Wiedererkennungsszenen“ mit Gardisten des echten Peter oder auch nur Leuten, die den Zaren gesehen hatten, aufzuführen. In seinen Sendschreiben an die Kommandanten der von ihm angegriffenen Städte und Festungen forderte er als Zar Peter III. sofortigen Gehorsam ein. Gehorchten sie nicht und fielen in seine Hände, wurden sie als Rebellen aufgeknüpft. Wie viele Prätendenten vor ihm, wies auch Pugatschow „Zarenzeichen“ auf. Im August 1773 auf der Flucht aus Kasan am Jaik angelangt, hatte er sich bei einem befreundeten Kosaken versteckt, der im Dampfbad „Zarenzeichen“ an ihm entdeckte und das geflissentlich weiter verbreitete. Er selbst zeigte diese Male – Hautflechten und Narben an den Schläfen und auf der Brust, die wohl auf eine Pocken- und Skrofel-Erkrankung zurückgingen – später gerne vor.34 Um sich noch weiter glaubwürdig zu machen, legte er sich eine passende Vorgeschichte als Peter III. zu. Gestürzt worden sei er, weil er die Leibeigenen des Adels habe freikaufen wollen. Nach seiner erzwungenen Abdankung unter Arrest gestellt, habe ihn sein Wärter Maslow entkommen lassen. An seiner Stelle sei ein obskurer Leichnam beerdigt worden. Das Jahrzehnt seiner „Verborgenheit“ erklärte er mit Aufenthalten in Kiew, in Polen, Istanbul, in Ägypten, im Heiligen Land, Rom und bei den Terek-Kosaken. Auf seinen Wanderungen habe er die Leiden des Volkes kennen gelernt und wolle nun ein echter „Volkskaiser“ sein. Er mimte dynastische Familiengefühle. Er sprach davon, seinen Sohn Paul zu sich holen zu wollen, ihm vielleicht die Regierung zu überlassen. Stets führte er ein Bild des Großfürsten bei sich, bei dessen Betrachtung er in Tränen ausbrach. Bei häufigen Zechgelagen wurde Paul mit zahlreichen Trinksprüchen gefeiert. Ein angeblicher Bote Pauls wurde publikumswirksam empfangen. Der zwölfjährige Sohn eines Kosakenhäuptlings wurde möglicherweise im Geheimen darauf vorbereitet, den Zarewitsch zu spielen. Noch den Kosaken, die zuletzt verräterisch über Pugatschow herfielen, drohte dieser mit der Rache, die Großfürst Paul an ihnen vollziehen würde. „Wie könnt ihr den Herrscher fesseln? Für mich wird noch Pavel Petrowitsch eintreten.“35 Bei den täglichen Gottesdiensten in seinen Lagern wurde für Pugatschow-Peter und seine Gemahlin Katharina gebetet. Später wollte Pugatschow freilich Katharina II. in ein Kloster verbannen. Die Entfaltung aufwendigen Pompes und eindrucksvolle Zeremonien sollten die kaiserliche Würde unterstreichen. Vor Pugatschows Truppen wurden seidene Banner mit Kreuzen im altgläubigen Stil oder Christus –und Nikolausikonen hergetragen. Auch ein „Holsteiner“ Banner tauchte auf. Im Lager Berda 34 35

Plate S. 396 gibt allerdings an, Pugatschow habe erst in seinen Verhören auf sie hingewiesen, sie sonst nicht gezeigt. Peters S. 147

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vor Orenburg wurde ein „Palast“ errichtet, und Pugatschow umgab sich mit einer Ehrengarde von 25 Mann. Er ließ sich mit Exzellenz anreden und den Handkuss geben. Auch forderte er Verbeugung bis zur Erde. Gelegentlich ließ er sich huldvoll „Väterchen“ nennen. Er kleidete sich in kostbar bestickte Hemden, darüber trug er eine Kaftanrobe aus rotem Samt und eine schwarzsamtene Kopfbedeckung mit rotem Band oder goldenem Kranz. Bei seinen Gerichtssitzungen standen ein Keulenträger und ein Mann mit silbernem Beil neben ihm. Selbstverständlich präsentierte sich Pugatschow bei feierlichen Anlässen mit Szepter (und Streitaxt?) auf einem erhöhten Thronsitz. Als er sich jedoch sogar auf einem „Kirchenthron“ zeigte, erregte dies den Unmut seiner Geistlichen. Nach Zarensitte bestieg er sein Pferd nie ohne Hilfe zweier Reitknechte. Bei seinen Ausritten warf er Kupfermünzen unter die Menge. Er umgab sich mit einem adligen Gefolge, d.h. seine getreuesten Mitstreiter durften sich die Namen Petersburger Hofprominenter beilegen: Panin, Tschernischew, Woronzow, Orlow. Andere Gefolgsleute wurden mit Orden und Ehrenmedaillen bedacht. Und die von Pugatschow eingenommenen Ortschaften Berda, Kargala und Sakmarsk wurden in Moskau, St. Petersburg und Kiew umbenannt. Seine „Kaiserin“ Ustina erhielt einen eigenen Hofstaat aus Bauernmädchen. Es wurden auch rudimentär funktionierende Regierungsinstitutionen gebildet, etwa ein „Kriegskollegium“. Seine zahlreichen schriftlichen Erlasse (Ukase), die in Kopien weit verbreitet wurden, aber von den wenigsten seiner Anhänger wirklich gelesen werden konnten, dienten dazu, seine kaiserliche Autorität durch ihre bloße augenscheinliche Existenz zu unterstreichen. Sie wurden von seinen „Sekretären“ aufgesetzt und mit kaiserlichem Doppeladler-Siegel versehen, wie auch die Pässe, die von dieser Kanzlei ausgestellt wurden. Ein zusammenhängendes Regierungsprogramm allerdings wurde nie erarbeitet. Wie weit alle Bemühungen Pugatschows und seiner Entourage, sein Zarentum glaubwürdig zu machen, erfolgreich waren, muss dahin gestellt bleiben. Naive Gemüter wurden sicherlich beeindruckt. Noch 1858 stellte ein russischer Volkskundler fest, dass bei der einfachen Bevölkerung am Uralfluss der Glaube an seine Echtheit als Peter III. überlebte.36 Aber wer ihm persönlich nahe trat, musste den Betrug durchschauen. Das galt insbesondere für den engsten Führungskreis, der bis zuletzt hauptsächlich aus Jaik-Kosaken bestand. Aber gerade sie zogen Nutzen aus dem kaiserlichen Spektakel und trugen es mit. Als es ihnen nach den Niederlagen 1774 eher lästig wurde, zögerten sie nicht einen Augenblick, die Fiktion, Pugatschow sei Peter III., fallen zu lassen. Sie umringten ihren „Zaren“mit dem Ausruf: „Du bist nun lange genug Kaiser gewesen“. Und als er entgegnete: „Wie könnt ihr es wagen, die Hand gegen euren Imperator zu erheben?“ spotteten sie: „Wenn Du der echte Zar bist, so hast Du nichts zu befürchten.“37 36 37

Čistov S. 161 Büsching 1784, S. 48 und Čistov S. 148

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Warum aber hatte Pugatschow sich überhaupt auf das stets prekäre Kaiserspiel eingelassen? Seine Führerqualitäten hätten sich sicher auch ohne dieses Theater durchgesetzt. Möglicherweise wurde ihm die Kaiseridee von außen nahe gelegt. Bei seinem ersten Aufenthalt am Jaik 1772 könnte er bereits den Bogomolov-Anhänger Ivan Zarubin (Tschika) kennen gelernt haben. Zarubin gehörte später zu seinen engsten Vertrauten. Vielleicht griff Pugatschow schon damals die Zarenrolle auf. In einem Gespräch mit dem Kosaken Denis Stepanitsch Pjanow, der ihm ebenfalls von Bogomolov vorschwärmte, soll er sich als Peter III. zu erkennen gegeben haben. Der altgläubige Abt Filaret, den er im Kasaner Gefängnis traf, hatte ihn wahrscheinlich noch einmal mit der Geschichte des Samosvancen Bogomolov vertraut gemacht und ihn ermuntert, in dessen Fußstapfen zu treten. Die Altgläubigen verehrten Peter III., weil dieser ihnen gewisse Erleichterungen gewährt hatte. Nach seiner Flucht aus Kasan hielt Pugatschow sich im August 1773 bei einem befreundeten Jaik-Kosaken versteckt. Dieser entdeckte, wie bereits erwähnt, im Dampfbad dann „Zarenmale“ an Pugatschow. Er behielt diese Entdeckung natürlich nicht für sich. Man sieht, Pugatschow wurde die Zarenrolle förmlich angetragen. Am Jaik schwirrten schon seit 1762 Gerüchte umher, Peter III. lebe noch. Ein General, der gegen Pugatschow ins Feld zog, Bibikov, war der Meinung, Pugatschow sei sowieso nur eine Marionette der Jaik-Kosaken. Einer der Kosakenführer, ein gewisser Miasnikov soll später geäußert haben: „aus Schmutz können wir einen Fürsten machen.“ 38 Pugatschow soll zuweilen in schwierigen Augenblicken daran gedacht haben, sein Kaisertum aufzugeben und unterzutauchen, aber seine Kosaken „hüteten ihn wie eine Geisel.“ 39 Bei den ersten Verhören nach seiner Auslieferung, behauptete Pugatschow sogar, er habe sich lange geweigert, den Namen des seligen Zaren anzunehmen.40 Wahrscheinlich hat er es dann aber doch für politisch klug gehalten, den Volksphantasien über den wiederkehrenden „guten Zaren“ Peter III. nachzugeben, um sein Führertum zu bekräftigen. Der deutsche Schriftsteller Karl Gutzkow (1811-78) hat in seinem Drama „Pugatschoff“ (1843) Überlegungen dieser Art in einer reizvollen Szene ausgemalt. Den Kosaken, die sich wegen schwerer Kränkungen durch Petersburger Höflinge zum Aufstand entschließen, hält in diesem Drama ein frommer Abt, der sie unterstützt, folgende Ansprache: „Seit Russlands Stern in der Geschichte glänzt, Hat wohl das Beste unsrer alten Sitten Der Strom der Zeit mit sich hinweggespült. 38 39 40

Avrich S. 192 Puschkin S. 115 Puschkin S.219

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Doch Eines blieb, ein einz’ger großer Zauber, Ein einzig Wunder in der Zeit des ZweifelsDie heil’ge Scheu des Volks vor seinen Czaren…“

Der Abt rät deshalb, das Prestige des Zarentums für den Aufstand zu nutzen, indem man den toten Peter III. als Führer der geplanten Erhebung wiedererstehen lässt. „Der Glaube macht lebendig, Zweifel tötet. Das Größte, was auf Erden noch geschah, Geschah im Wahn.“

Ein Kosak pflichtet dem Abt bei: „Was sie bedarf, erfindet sich die Zeit.“ Darauf der Abt: „Und Sieg ist nur in dieser tollen Welt Im Bunde mit dem Wahn.“

Man beschließt nun einfach, einen „Peter III.“ auszuwürfeln. Das Los trifft den biederen Familienvater Pugatschow. Der Abt ruft aus: „Gott wählte ihn, kniet nieder vor dem Zaren“. Gutzkow lässt dann Pugatschow im weiteren Verlauf seines Dramas furchtbar unter der Last der Zarenrolle leiden.41 Der wirkliche Pugatschow kannte wohl kaum solche Skrupel. Er wuchs, wie die Äußerungen bei seiner Festnahme durch die Verräter zeigen, in seine Rolle hinein. Schon in seiner Jugend hatte er sich mit seiner „Zarennähe“ gebrüstet. Er behauptete im Rausch, ein besonders schöner Säbel, den er besaß, sei eine Patengeschenk Zar Peter I.42 Er sonnte sich im Glanz des Kaisertums. Aleksander Sergejewitsch Puschkin, einer der größten Dichter Russlands, der auch als Historiker über Pugatschow arbeitete, versuchte in seiner Erzählung „Die Tochter des Hauptmanns“ die Seelenverfassung des falschen Kaisers zu umreißen. Danach wäre Pugatschow einfach ein kühner Abenteurer gewesen, der des Lebens volle Würze auskosten wollte, gleichgültig, welcher Preis dafür letztendlich zu entrichten war. Puschkin lässt in seiner Erzählung Pugatschow selbst diese Beweggründe in das Gleichnis von Rabe und Adler fassen. Der Adler steht für den Entschluss zu einem gewagten, aber freien Leben als Raubvogel.43 Der Deutung Puschkins entspricht das Verhalten Pugatschows nach seiner Auslieferung. Er genoss bis zuletzt seine Prominenz. Neugierigen, die seinen Käfig umlagerten, rief er zu: „Berichtet Euren Enkeln, ihr habt Pugatschow gesehen.“44 41 42 43 44

Gutzkow S.23-25 Plate S. 383 Puschkin, Erzählungen S. 354 Puschkin S. 222

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An dieser Stelle erhebt sich die Frage, warum er so lange an der Fiktion, Peter III. zu sein, festhielt, und nicht die Chance ergriff, sich als „Volkskaiser“ Emeljan Pugatschow zu offenbaren. Nach seinem Ende erhielten Betrüger Zulauf, die sich schlicht als „Pugatschow“ ausgaben, also auf die Peter-Legende verzichteten. Er selbst jedoch scheint in der einmal angenommenen Rolle gefangen geblieben zu sein. Der Historiker Avrich schreibt: „Er versuchte, seiner Rolle gerecht zu werden und wurde so zum Sklaven seines eigenen Mythos. Bis zu einem gewissen Grade kam er vielleicht tatsächlich dazu, an ihn zu glauben.“45 (ach Pugatschow: Peter III. lebt weiter Katharina II. hatte zunächst versucht, den Pugatschow-Aufstand als eine bloße Räuberpistole herabzuspielen. In Briefen an Voltaire machte sie sich über den „Marquis“ oder „Grafen“ Pugatschow lustig46 Später reagierte sie empfindlicher. Zwar gab sie als aufgeklärte Herrscherin die Anweisung, Pugatschow vor der Vierteilung zu köpfen, aber seine Gliedmaßen wurden dann doch an verschiedenen Stellen in Moskau angenagelt zur Schau gestellt. Seine Familie wurde nach Kexholm verbannt, wo 1833 die letzte seiner Töchter starb. Sein Name durfte bei hohen Strafen nicht mehr erwähnt werden. Sein Heimatort wurde ausgelöscht, die Bewohner umgesiedelt. Selbst der Fluss und die Stadt Jaik wurden in „Ural“ und „Uralsk“ umbenannt. Aber Pugatschow selbst hatte im Verhör prophezeit: „Ich bin nicht der Rabe, nur ein Rabenjunges. Der Rabe fliegt noch.“ Schon im Sommer 1774 beanspruchte der Leibeigene Ewsigneew ebenfalls Peter III. zu sein. Seine Banden nahmen u. a. die Städte Troizk und Kerensk ein. Er ließ mit Vorliebe adlige Gutsbesitzer aufhängen. 47 Noch vor der Hinrichtung Pugatschows kam das Gerücht auf, er sei entflohen. Um dies zu vertuschen, habe man bei den Verhören einen falschen Pugatschow vorgeführt. Und so gab es noch eine Flut weiterer Samosvanzen im Namen Peters III. Eine Aufzählung findet sich bei dem russischen Historiker Čistov.48 Für die Jahre 1776-80 werden genannt: Ivan Andreev49 Ivan >ikiforov 45 46 47 48 49

Avrich S. 205 Puschkin S. 256-57 Puschkin S. 208 Čistov S. 154, bei Longworth S. 79 wird für 1774 bereits ein Prätendent Mosiagan bei Tambow als wenig erfolgreich erwähnt. Nach Mylnikow S. 226 behauptete dieser Soldat allerdings nicht Peter III. zu sein, sondern „Sohn des Prinzen von Holstein“, er wollte nach Holstein gehen, landete aber 1776 in der Festung Schlüsselburg.

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Gerasim Saveleev Ein namenloser Kosak50 Maksim Chanin (Khanin) Von ihnen hat anscheinend nur Chanin größere Anhängerschaft gefunden. Er war ein Gefolgsmann Pugatschows gewesen, ein entlaufener Leibeigener. Er wollte den Adel ausrotten.51 Für die Jahre 1783-96 zählt Čistov auf: >ikita Sinjutin, ein Soldat, der sich „Peter aus Petersburg“ nannte. Er versprach, die Leibeigenschaft innerhalb von 9 Monaten durch Gebete abzuschaffen. Dimitrij Popovič, der eine „Republik“ nach Muster der Zaporoger Kosaken einführen wollte Vasilij Bunin P. Chripunov (Kripunow/Khirpounow)52, der 9 steuerfreie Jahre verkündete. Auch er hatte für Pugatschow gekämpft. Er zeigte sich 1786 als Peter III. in Barnaoul. Seine bis zu 600 Anhänger verliefen sich erst 1791. Er wurde auf Befehl Katharinas II. in ein Irrenhaus oder eine Besserungsanstalt gesperrt. Man sieht, die Kaiserin hatte gelernt, dass die falschen Peter, auch aufgrund ihrer Inflation, keine größere Gefahr mehr für sie darstellten. Sie konnte Milde walten lassen. Auch traten ein „Sohn Peters III.“ (vielleicht identisch mit dem oben genannten Andreev), ein geheimnisvoller weiterer „Peter aus Petersburg“ und ein gewisser Ivan Antonitsch auf, um die sich Zarengerüchte rankten. Eine seltsame Überhöhung oder Mystifizierung des „Dritten Kaisers“ bildete sich jedoch in der Mythologie der Skopzen-Sekte aus. Die Skopzen, eine um 1775 entstandene Gemeinschaft extrem asketischer Ekstatiker, die ihre Weltverneinung bis zur freiwilligen Kastration trieben, verehrten in ihrem Gründer Andrej Iwanow (1732-1832 ?), der sich später auch Kondratij Selivanow53 nannte, seit seiner Verbannung nach Sibirien den wiedererstandenen Peter III. 1796 wurde er anlässlich der Thronbesteigung Pauls I. begnadigt, angeblich sogar vom Kaiser in geheimer Audienz empfangen. Er wurde in eine Anstalt für Geisteskranke eingewiesen. Die Skopzen- Legende zu Peter III. wollte wissen, dass dieser, also auch Selivanow, der wiedergeborene Christus sei. Die Zarentochter Elisabeth Petrowna habe ihn jungfräulich in Holstein zur Welt gebracht. Bei den Skopzen 50 51 52 53

Mylnikow berichtet, er sei ca. 1780 in der Gegend von Wladimir aufgetreten. Longworth S. 71, 72, 76 Zu ihm auch Longworth S. 71, 79, Eeckaute S. 189 Zu ihm und den Skopzen: Longworth S. 64, 79: Bercé S. 141, Čistov S. 155, Uspenski S. 261

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tauchte tatsächlich eine „Gottesmutter“, Akulina Iwanowna (Anna Sofonovna), auf, die behauptete, in Wahrheit die Kaiserin Elisabeth zu sein. Sie hatte angeblich auf den Thron verzichtet und die Herrschaft einer Doppelgängerin überlassen, um bei Orel das Leben einer frommen Skopzin zu führen. Ihre Stellvertreterin soll dann Peter-Seliwanow als Nachfolger an ihren Hof gerufen haben. Als dessen Gemahlin Katharina II. dessen Skopzentum ( er sei schon als Knabe in Holstein verschnitten worden) entdeckte, habe sie ihn gestürzt. Er sei aber ihren Nachstellungen entkommen. Um die Gottesmutter und ihren Sohn ChristusPeter scharte sich ein engerer Kreis, in dem man sich die Namen bekannter Petersburger Höflinge beilegte. Allmählich aber verblasste der Mythos des Dritten Kaisers. Die Sehnsucht des Volkes nach einem Zar-Befreier oder Erlöser schuf sich anders phantasierte Inkarnationen. Paul I. und seine Schatten54 Der 1754 geborene Sohn Peters III. und Katharinas II. (die Vaterschaft Peters wurde vielfach bezweifelt) wurde durch seine Mutter nach dem Staatsstreich von 1762, der seinem Vater das Leben kostete, zunächst von der ihm an sich gebührenden Thronfolge ausgeschlossen. Katharina hielt ihren ungeliebten Sohn von allen Regierungsgeschäften fern. Als er nach ihrem Tod dennoch 1796 den Thron bestieg, war er für seine Aufgaben vollkommen unvorbereitet. Er ließ sich von Ressentiments gegen die Entourage seiner Mutter zu despotischen Willkürakten hinreißen, seine Maßnahmen waren in Innen-und Außenpolitik so konfus, dass der Verdacht einer Geisteskrankheit aufkam. Mit Einverständnis seines Sohnes Alexander I. bildete sich eine Konspiration zu seiner Absetzung. Bei seiner Festnahme 1801 durch die Verschwörer kam er zu Tode. Offiziell war von einem Herzschlag die Rede. Wahrscheinlich aber wurde er ermordet. Auf diesen unglücklichen, lange gleichsam im Verborgenen lebenden Thronfolger und dann so früh verschwundenen Kaiser, richteten sich die Erlöser-Phantasien aller, die unter dem harten Regime seiner Mutter zu leiden hatten, insbesondere in der Masse der leibeigenen Bauernschaft. Noch zu seinen Lebzeiten traten Samosvanzen auf, die seinen Namen usurpierten. 1783 war dies ein Soldat namens J. Šlapnikow, der zur Strafe nur ausgepeitscht wurde. Er hatte auch nur neun Gefolgsleute gefunden.55 Nach 1783 gefiel sich Grigorij Zajeev, Sohn eines Küsters aus einem Kosakendorf bei Tschernigov in der Rolle des Thronfolgers. Er behauptete auch, sein Vater Peter III. lebe noch in Cherson an der Dnjepr-Mündung. Er wurde 1788-91 in Schlüsselburg eingekerkert, später auf die Solovki-Insel verbracht. Sein weiteres Schicksal ist unbekannt. 54 55

Zu diesem Abschnitt Čistov S. 154, 156 Longworth S. 79

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Nach 1801 wanderte Afanasij Petrowitsch zwanzig Jahre als Paul I. durch Sibirien. Er galt offensichtlich nur als ein etwas kauziges Original.56 Ein „Sohn Katharinas“ versprach 1815 bei Nischni-Novgorod den Leibeigenen, sie zu Staatsbauern machen zu wollen. Großfürst Konstantin in sechsfacher Wiederholung57 Auf die Fragwürdigkeiten der Romanow-Thronfolge ist bereits hingewiesen worden. Eine der wenigen vernünftigen Maßnahmen Kaiser Pauls I. war deshalb das Thronfolgegesetz von 1797. Es machte der willkürlichen Ernennung des Thronfolgers durch den regierenden Zaren ein Ende. Es wurde die Primogenitur in der männlichen Linie eingeführt. Fehlte ein Sohn, so erbten die Brüder des Verstorbenen in der Reihenfolge ihres Alters bzw. ihre Nachkommen. Aber schon der Thronwechsel 1825 schuf wieder Komplikationen. Zar Alexander I. starb 1825 söhnelos unter mysteriösen Umständen in Taganrog auf der Krim. Es wurde geflüstert, er sei gar nicht gestorben, sondern er habe sich unter dem Namen Fedor Kuzmitsch als Eremit nach Sibirien zurückgezogen. Dort soll er noch bis um 1860 gelebt haben. Gemäß der Thronfolgeregelung von 1797 wurde der nächstälteste Bruder Alexanders, Großfürst Konstantin, in Moskau und Petersburg zum Kaiser proklamiert. Doch hatte Konstantin bereits in einem Geheimdokument 1822 (wegen seiner nicht standesgemäßen Ehe) zugunsten seines jüngeren Bruders Nikolaus auf den Thron verzichtet. Konstantin starb 1831 in Witebsk an der Cholera. Er war ein erzkonservativer Herr gewesen. Für das einfache Volk war sein Thronverzicht nur schwer zu verstehen. Man glaubte, Konstantin sei durch Hofintrigen um den Thron gebracht worden, weil er die Leibeigenschaft abschaffen wollte. Ein Nährboden für eine neue Samosvanzen-Welle. 1826-27 verkündete denn auch ein erster falscher Konstantin, ein suspendierter Soldat aus einem Moskauer Regiment, Korneev Mordoveev in der Gegend von Saratow die Aufhebung der Leibeigenschaft. Den Bauern, denen er sein Zarengeheimnis anvertraute, gebot er allerdings, vorläufig sein Inkognito zu respektieren. Er stellte sich auf vertraulichen Fuß mit ihnen, ließ sich ihre Beschwerden vortragen und tauchte zeitweise wieder unter. Ende 1827 wurde er endlich verhaftet. Ein zweiter falscher Konstantin geisterte kurz darauf bei Tambow umher. Der dritte „Konstantin“, war der ehemaliger Husar und Landstreicher >ikolaj Protopopov aus der Gegend um Perm, der sich in Sibirien zeigte. Er versprach die Senkung der verhassten Kopfsteuer und entkam immer wieder mit Hilfe seiner Anhänger, die ihm im Notfall auch Fluchtpferde zur Verfügung stellten, sei56 57

Uspenski S. 265 lässt ihn noch 1822 leben. Er habe Zarenzeichen, d. h. ein Kreuz auf dem Rücken, ein Schwert auf den Schultern gehabt. Zu diesem Abschnitt Čistov S. 166-80, S. 185 (Maria Fedorowna)

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nen polizeilichen Verfolgern. Erst 1835 wurde er bei Jenissejsk gefangen genommen. Möglicherweise hatte er in der falschen Großfürstin Maria Pawlowna, einer gewissen Maria Šimanovskaja, die bei Irkutsk 1833 im Namen Konstantins das Ende der Leibeigenschaft ankündigte, eine Propagandistin. Um 1843 verbreitete sich bei Bauern im Ural und am Ural-Fluss, deren Aufstand gerade niedergeschlagen worden war, die Kunde, Konstantin würde sie mit Hilfe eines Kirgisenheeres rächen. Unter anderen Boten dieses Konstantins sammelte der Bauer Ivan Kljukin , der aus der Bibel vorlesend durch die Gegend zog, Geld zu seiner Unterstützung. Er habe ihn bereits leibhaftig gesehen, d.h. ihn im Dampfbad an seinen Zarenzeichen erkannt. In Tobolsk wurde schließlich der schon 1828 nach Sibirien verbannte, aber freigekommene Sträfling K. Kalugin unter dem Verdacht festgenommen, der Verursacher dieser Gerüchte zu sein. Er leugnete, sich als Konstantin ausgegeben zu haben. Auch nach der „Bauernbefreiung“ 1861 sollen bei Perm und Saratow noch falsche Konstantine herumgeirrt sein, die den Bauern den Nachlass der schweren Ablöselasten versprachen. Man sieht, das Samosvanzentum verlagerte sich schwerpunktmäßig immer mehr in Richtung Sibirien. Dort war die polizeiliche Kontrolle noch locker und die Nachrichtenverbindungen schwieriger, die Bevölkerung uninformierter und für falsche Mundpropaganda anfälliger als westlich des Urals Bei den vielen Bauernaufständen im eigentlichen Russland in den Jahrzehnten vor 1861 traten keine Samosvanzen mehr auf. Statt um solche lebende Protagonisten des angeblichen zaristischen Befreiungsversprechens scharten sich die Unzufriedenen jetzt eher um gefälschte Zarendekrete, die ihnen Erlösung aus der Leibeigenschaft verhießen.58 Mit ihnen in der Hand verweigerten sie oft Frondienste und Abgaben. Mit zunehmender Informationsdichte und Aufklärung über die tatsächlichen politischen und dynastischen Gegebenheiten in der Petersburger Zentrale auch bei der einfachen Bevölkerung erschien das Samosvanzentum – abgesehen vielleicht von Sibirien – immer unglaubwürdiger. Inwieweit die Bauernbefreiung von 1861 dagegen den falschen Zaren den Boden entzog, muss dahingestellt bleiben. Die Lage der Bauern blieb auch danach noch höchst problematisch. Natürlich gab es Nachspiele des beinahe zur Tradition gewordenen „Zarenspiels“. So erregte um 1900 im Kreis Tscheljaba eine falsche Zarin Maria Feodorowna59 Aufsehen, die behauptete 24 Jahre unerkannt durch das Reich gepilgert zu sein, um die Nöte des Volkes kennen zu lernen. Sie hielt Gebetsversammlungen auf offenem Feld ab und versprach den Wegfall der AblöseAbgaben, die immer noch auf den Bauern lastete. 58 Dazu Field passim

59

Die echte Maria Feodorowna (1847-1928), geboren als Prinzessin Dagmar von Dänemark, war Gemahlin Kaiser Alexanders III. (reg. 1881-94) und Mutter Nikolaus II. Sie war für ihre Wohltätigkeit bekannt.

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Ein allerletzter Nachhall des russischen Samosvanzentums könnte auch in den zahlreichen falschen Romanows gesehen werden, die nach dem Sturz der Monarchie und der Ermordung der Zarenfamilie 1917/18 auftraten. Diese angeblichen Romanows stellten jedoch niemals politische Forderungen. Es waren im besten Fall bemitleidenswerte Psychopathen oder, schlimmer, Hochstapler, denen es um das außerhalb Russlands geparkte Romanow-Vermögen ging. Zur Diskussion um das russische Samosvanzentum Die außergewöhnliche Häufigkeit falscher Prätendenten im Zarenreich hat eine umfangreiche Debatte um ihre spezifisch russischen Hintergründe angeregt. Große Aufmerksamkeit erregten besonders die Erklärungsversuche Kirill V. Čistovs. Nach ihm bildet die Legende vom „guten Zaren“ die volkstümliche Basis für das Samosvanzentum. Insbesondere die seit dem 16. Jahrhundert immer weiter unterdrückten bäuerlichen Massen setzten demnach ihre Hoffnung auf das Erscheinen eines Zaren, der sie befreien werde, um ihnen ein ungestörtfriedliches Leben nach eigenen Wünschen zu ermöglichen.60 Dass die regierenden Zaren in Wirklichkeit eine entgegengesetzte Politik betrieben, erklärte man sich aus ihrer Umgarnung durch den Adel, die „Bojaren“, die nicht davor zurückschreckten, ihnen nicht gefällige Zaren zu beseitigen. Doch sei es denkbar, dass die so um die Krone gebrachten „guten Zaren“ oder Zarensöhne ihren Sturz in der Verborgenheit überlebten und wiederkehrten. Solche Sehnsüchte wurden in Notzeiten virulent, besonders wenn dann noch tatsächlich ein Zar oder Zarewitsch zur selben Zeit – wie etwa der echte Dimitri oder später Alexej Petrowitsch und Peter III. – auf für das Volk mysteriöse Weise verschwand. Diese sozialrevolutionäre Utopie des „guten Zaren“ oder des „naiven Monarchismus“ sei, so Čistov, der Nährboden für das Samosvanzentum gewesen, aber auch für seine typischen Abläufe (im Kern: angebliche Rettung- WanderjahreRückkehr-Offenbarung-Befreiung der Unterdrückten). 61 Viele Historiker, etwa Mylnikow, haben sich diesem Erklärungsversuch angeschlossen. Dunning und Perrie dagegen, die das frühe Samosvanzentum im 17. Jahrhundert untersuchten, wandten sich gegen die Theorie des sozialrevolutionärutopischen Monarchismus.62 Sie wiesen auf die sozial sehr gemischten Gefolgschaften der frühen Prätendenten hin. Auch habe keiner von diesen ein wirklich radikales Programm entwickelt, auch nicht der bei Čistov so hoch geschätzte Bolotnikov (als Propagandist des zweiten falschen Dimitri). Dunning vertritt die Meinung, dass die erste Welle des Samosvanzentum zur Zeit der Smuta einfach auf Nachahmungseffekten des relativ erfolgreichen ersten falschen Dimitri be60 61 62

Nach Čistov S. 124 klassisch formuliert von Pugatschow: „Ich schenke Euch all das, was ihr euch euer ganzes Leben gewünscht habt…ein ruhiges Leben auf Erden.“ Čistov insbesondere S. 26 ff. Vgl. Dunning S. 115, Perrie S. 36-37, auch Rustemeyer S. 353

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ruhte. Und dieser auslösende Versuch sei vor allem auf die Persönlichkeit Dimitris zurückzuführen.63 Freilich räumen Dunning und Perrie ein, dass es eine tief verwurzelte Zarengläubigkeit gegeben habe, da das Zarentum die einzige politische Legitimitätsquelle gewesen sei, dass also, wer immer politisch aktiv werden wollte, das am besten im Namen eines Zaren oder angeblichen Zaren tun konnte. Dieser „populäre Monarchismus“ sei aber schichtunabhängig gewesen. Uspenski insbesondere arbeitete die religiöse Verankerung dieser Vorstellungen seit dem 16. Jahrhundert heraus. Die Auffassung des Zaren als irdische Manifestation Gottes erforderte strikte dynastische Legitimierung, mindestens gottgeleitete „Volkswahl“ wie 1613 oder den Nachweis der ominösen Zarenmale am Körper. Wurden solche Legitimierungen bezweifelt wie im Falle Boris Godunows oder Katharinas II., löste dies eine Samoswanzenwelle aus. Deutlich pragmatischer versuchte allerdings Longworth in seiner Untersuchung zu den Samosvanzen des 18. Jahrhundert deren Hintergründe aufzudecken. Er überprüfte die zeitliche Verteilung der 44 bekannten Fälle (Schwerpunkt: 27 von 1760-90, also zur Zeit Katharinas II.), die räumliche Verteilung (Schwerpunkt: 11 im Gebiet der mittleren und unteren Wolga, 9 in den südlichen Randgebieten des damaligen Russland, also insgesamt im „Kosakengürtel“.), die Häufigkeit der jeweiligen Zarenimitationen (Schwerpunkte: 16mal Peter III., 8mal Alexej Petrowitsch) sowie die soziale Herkunft (Schwerpunkt: 10 Bauern, 5 Kosaken). Zur sozialen Herkunft weist Longworth aber darauf hin, dass die aus einfachen sozialen Schichten stammenden Prätendenten meist über Militärdienst, Desertation, Banditentum oder Straffälligkeit aus ihrer angestammten Lebenswelt herausgerissen wurden und Fremderfahrungen machten. Überraschend der Altersbefund. Im Unterschied zu den meist jugendlichen Samosvanzen der Smuta-Welle waren die Prätendenten des 18. Jahrhunderts im Durchschnitt 36 Jahre alt. Als mentalen Nährboden des Samosvanzentums meint Longworth doch wieder die Legende des guten Zaren zu erkennen, aber er verweist andrerseits auch auf die beschränkten Forderungsprogramme der meisten Prätendenten, die oft nur die Abschaffung konkreter Missstände propagierten, aber keine radikalrevolutionäre Utopien verkündeten. Auffallend sind auch immer wieder typischgleichlaufende Strategien der Prätendenten (Meidung der Heimatgebiete, ähnliche Rettungs- und Wanderungslegenden, Nachäffung des Hoflebens, Vorweis von Zarenmerkmalen usw.). Dunkel bleibt bei Longworth wie bei allen anderen Historikern die subjektiv-psychologische Motivation der Akteure, worauf Perrie sogar ausdrücklich verweist. 64 Allerdings glaubt Longworth die Frage, ob es

63 64

Dunning S. 119 Perrie S. 241-42. Da sie für alle drei falschen Dimitris einen geistlichen Hintergrund vermutet, wagt sie immerhin die Andeutung, der Abfall von dieser Berufung „might

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sich bei den Samosvanzen um bloße Marionetten dubioser Hintermänner oder „cranks“ (Psychoten) gehandelt habe, auf Grund seines Materials verneinen zu dürfen.65 Im Zusammenhang mit seinem Hinweis auf die häufig festzustellende soziale Entwurzelung der Probanden wäre die Annahme ernster Identitätskrisen als subjektiver Basis des Samosvanzentums nicht ganz abwegig. Zuletzt wäre auch noch darauf einzugehen, dass das angeblich so sehr in der russischen Zarengläubigkeit verwurzelte Samosvanzentum vielleicht so kernrussisch gar nicht war. Der Präzedenzfall des ersten falschen Dimitri, der das ganze Phänomen einleitete, war weitgehend von polnischen Magnaten- und Kirchenkreisen initiiert worden. Diese Herren aber hatten diesbezügliche Strategien schon längst in den Prätendentenwirren der Moldau erprobt, worauf auch Perrie verweist.66 Und ebenso waren die kosakischen Hilfstruppen der SmutaPrätendenten mit den moldauischen Verhältnissen vertraut. Auch das Vorbild der falschen portugiesischen Sebastiane war den polnischen Jesuiten, die für den ersten Dimitri eintraten, nicht unbekannt. Demnach wäre die Idee des Samosvanzentums allerdings primär ein Import oder eine eher kosakische denn eigentlich russische Tradition. Die engen Querverbindungen von Kosaken-und Samosvanzentum ziehen sich hin bis zu Pugatschow alias Peter III. und darüber hinaus. Die Kosaken waren gewohnt, sich ihre Anführer selbst zu wählen. Es lag nahe, dass sie in ihren Auseinandersetzungen mit der russischen Zentralgewalt diesen Anführern Zarenattribute beigaben, um ihre Gegner zu beeindrucken oder zu verwirren. In eine ähnliche Richtung deuten einige Anmerkungen bei Field über die „Rebellen im Namen des Zaren.“ .Aufständische Bauern könnten demnach auch falsche Zaren vorgeschoben haben, um die zaristischen Repressionsorgane, deren Zarengläubigkeit sie voraussetzten, zu verunsichern. Oder, um diese bedauernswerten Samosvanzen im Notfall als Sündenböcke zu opfern und sich selbst als irregeleitete naive Monarchisten zu präsentieren.67

65 66 67

have predisposed them to the blasphemious act of falsely claiming the sacred status of a tsar.“ Longworth S. 63 Perrie S.40 und 239 Field S. 210-13

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XVIII. Aus Tausendundeiner (acht: falsche Kalifen, Sultane und Schahs Vorbemerkungen: Der Prophet des Islams, Mohammed, war bekanntlich nicht nur Religionsstifter, sondern auch Eroberer. Bei seinem Tode 632 kontrollierte er bereits die ganze arabische Halbinsel. Innerhalb eines knappen Jahrhunderts unterwarfen die Muslime unter seinen >achfolgern, den Kalifen, die riesigen Räume zwischen Indus und Pyrenäen ihrer Herrschaft. In einem so ausgedehnten Reich konnten innere Zwistigkeiten nicht ausbleiben. Um 750 wurde die Kalifendynastie der Omajaden nach einem langen muslimischen Bruderzwist durch die Familie der Abbasiden, die sich näherer Verwandtschaft mit Mohammed rühmte, gestürzt und ausgerottet. Ein Omajadenprinz allerdings entkam dem Blutbad, rettete sich nach Spanien („ElAndalus“, ab 711 bis auf einige Gebiete im >orden von den Muslimen erobert) und gründete dort das selbstständige Emirat (Fürstentum) von Cordoba (756). Ein Vorspiel: Chakya Aber schon dieser Omajade, Abderrahman I. (756-788), musste sich gegen einen falschen Prätendenten behaupten, der vorgab, ein direkter Nachkomme Mohammeds über seine Tochter Fatima und deren Gemahl Ali, eines Vetters des Propheten, zu sein. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Berber, den Koranlehrer Chakya (Shagiya)1, der seit 766 unter dem Namen Abdallah ibn Mohammed Anhänger unter seinen Landsleuten gegen die mit Abderrahman nach El-Andalus, d. h. das moslemisch beherrschte Spanien, eingefallenen, aus dem Osten stammenden Araber sammelte. Er unterwarf sich für einige Zeit die Gegend um Cuenca und dem Oberlauf der Flüsse Guiadana und Tajo, wurde dann ins benachbarte Bergland abgedrängt und 776 von seinen eigenen Leuten ermordet. Abderrahman behielt so die Oberhand und wurde zum Begründer des spanischen Omajadenreiches von Cordoba. Allerdings hatten die Omajaden es schwer, sich gegen rivalisierende Stammesgruppen arabischer, berberischer oder sonstiger Herkunft als Oberherren zu behaupten. Erst Abderrahman III. (912-61) setzte sich als allgemein in ganz El-Andalus anerkannter, unumschränkt regierender Herr durch. 929 nahm er den Kalifentitel an. Unter ihm und seinem gelehrten Sohn Hakan II. (961-76) erlebte El-Andalus und insbesondere die Hauptstadt Cordoba eine machtpolitische, wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit. Die Konzentration von Reichtum und Pracht am Kalifenhof provozierte allerdings die Begehrlichkeit verschiedener Hof-und Militärcliquen, sich unter dem unmündigen Sohn Hakans, Hischam II., den alleinigen 1

Zu ihm Dozy Buch 1, S. 372-74, Hottinger S. 50

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Zugriff darauf zu sichern. Ihre Kämpfe und Intrigen führten innerhalb weniger Jahrzehnte zum Ruin des Kalifats von Cordoba. Eine traurige Rolle spielten dabei Kalif Hischam II. und seine Wiedergänger. Der dreimal begrabene Hischam, Kalif von Cordoba2 Beim Tode seines Vaters war Hischam II. knapp elf Jahre alt. Seine ehrgeizige Mutter Subh, eine Baskin aus Navarra, ließ ihn dennoch zum Kalifen und sich selbst zur Regentin proklamieren, obwohl genügend erfahrene und bewährte Omajadenprinzen für die Geschäftsführung bereitstanden. In der Clique der Regentin gewann in langwierigen Intrigenspielen schließlich Mohammed ibn Ali Amir, später unter dem Namen „Almansor“ gefürchtet, als „Kämmerer“ (etwa: Großwesir) den entscheidenden Einfluss. 997 übergab ihm der inzwischen herangewachsene Hischam in einer feierlichen Zeremonie alle Regierungsgeschäfte. Almansor regierte mit harter Hand. Er wurde zum Schrecken der spanischen Christen und gab dem muslimischen Spanien seine größte Ausdehnung. Nach seinem Tode übernahmen seine Söhne seine Stellung. Hischam, ein Weichling, vergnügte sich derweil mit Mädchen und Knaben in albernen Spielen im Palast. Sein einzig höheres Interesse galt seiner Reliquiensammlung, in der sich allerdings neben Gebetsteppichen islamischer Heiliger so skurrile Dinge wie ein Brett aus der Arche Noah oder ein Horn von Isaaks Widder fanden. In der Öffentlichkeit war der Kalif kaum noch zu sehen. Die Regenten sorgten dafür, dass bei seinen seltenen Ausritten die Gassen der Stadt von neugierigen Gaffern gesäubert wurden. Almansor riet aber vor seinem Ableben 1002 seinen Söhnen, „dem Mann in Palast“ alle formellen Ehren zu erweisen, die ihm als Kalifen gebührten. Nur durch ihn könnten sie ihre Herrschaft legitimieren. Almansors zweiter Sohn, Abderrahman Sanchuelo (er war Enkel König Sancho Garcias II. von Navarra), hielt sich nicht an diesen Ratschlag. Er ließ sich von Hischam zum Nachfolger in der Kalifenwürde ernennen und schon bei dessen Lebzeiten seinen Namen ins Freitagsgebet aufnehmen – eine Ehre die nur dem Kalifen selbst zustand. Das Volk von Cordoba und die omajadischen Prinzen waren nicht bereit, soviel Anmaßung zu ertragen. Am 15. Februar 1009 stürmten die Anhänger des rechtmäßigen Herrscherhauses den Palast. (Sanchuelo befand sich auf einem Kriegszug.)Vergebens trat ihnen Haschim, begleitet von zwei Koranträgern, mit besänftigenden Worten entgegen. Er musste seinem Vetter Mohammed (II.) seine Ehrenkleider und damit die Kalifenwürde abtreten, er wurde geschlagen, musste sich eine Strafpredigt Mohammeds anhören und wurde zunächst im Pa-

2

Zur Geschichte Hischams II. Hoenerbach S. 132-249,

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last, später in einer bescheidenen Privatwohnung, betreut von nur zwei Dienern, gefangen gesetzt. Sein Regent Sanchuelo wurde vor Cordoba ermordet. Wenige Wochen später gab Kalif Mohammed II. den Tod Hischams bekannt. Am 26. April 1009 wurde der Leichnam in Anwesenheit hochrangiger Zeugen feierlich in einer Kapelle des Alkazars von Cordoba bestattet. Gegen den leichtlebigen Mohammed erhoben sich die von Almansor als Söldner ins Land gerufenen Berbertruppen. Sie riefen den Omajadenprinzen Suleiman zum Kalifen aus. Jetzt zeigte Mohammed in seiner Not plötzlich den totgesagten Hischam vor allem Volk: sein Ableben und sein Begräbnis seien vorgetäuscht worden. Er, Mohammed, wolle nur noch als dessen Minister regieren. Er musste mit dem Wiedererstandenen zunächst nach Sevilla und Toledo fliehen (November 1009), doch gelang es ihm Anfang 1010 die Berber samt Suleiman wieder aus Cordoba zu vertreiben. Am 23. Juli 1010 wurde er allerdings von seinen eigenen Gefolgsleuten erschlagen. Die Rebellen erklärten Hischam, wer immer das auch sein mochte, wieder zum regierenden Kalifen, setzten ihm aber einen Regenten vor die Nase. 1013 gewannen die Berber Suleimans Cordoba zurück. Am 15. Mai wurde Hischam vor Suleiman gebracht. Er beteuerte, das Kalifat 1010 nur unter Zwang wieder angetreten zu haben. Suleiman überließ den zum zweiten Mal Entthronten der Obhut seines Sohnes. Das weitere Schicksal Hischams bleibt unklar. Vielleicht ließ ihn Suleimans Sohn noch im Mai 1013 heimlich erwürgen. Oder nicht? Gerüchte wollten wissen, der unglückliche Hischam sei aus der Haft entkommen oder unter der Bedingung freigelassen worden, in der Anonymität zu verschwinden. Diese Version verbreitete später sogar der Vater Suleimans. 1016 wurde Suleiman von Ali ibn Hammud gestürzt, der nicht dem Omajadenhaus angehörte, aber behauptete, im Namen des noch lebenden Hischam zu handeln. Doch von diesem fand sich zunächst keine Spur. Das Verhör des gestürzten Suleiman ergab, dass Hischam wahrscheinlich doch getötet und in aller Stille begraben worden war. Aus einem Grab, das Suleiman bezeichnete, wurde ein Leichnam exhumiert und Zeugen bestätigten, das Skelett weise einen für Hischam kennzeichnenden schwarzen Zahn auf. Hischam wurde zum zweiten bzw. dritten Mal mit allen Ehren begraben. Der Exkalif Suleiman wurde als Mörder Hischams hingerichtet. Auch die Hammudiden hielten sich nicht lange an der Macht, obwohl sie verbreiteten, von Ali, dem Schwiegersohn des Propheten, abzustammen. Das Reich von Cordoba zerfiel in langwierigen Bürgerkriegen. 1031 wurde das Kalifat abgeschafft. Auf den Trümmern des Omajadenreiches etablierte sich eine Reihe von Teilherrschaften der sogenannnten Taifa-Dynastien. In Sevilla z. B. schwang sich der dortige Kadi (Oberrichter) Abu el Rasim Mohammed zum Stadtherren auf (1023-42). Seine Herrschaft entbehrte jeder Legitimität. Doch es geschah ein Wunder.

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In Calatrava fand sich 1035 der schon zweimal für tot erklärte Kalif Hischam wieder ein. Man erkannte ihn in einem einfachen Grasmattenflechter namens Khalaf (Halaf al-Husum)3. Vergeblich versuchte dieser, seine Kalifenidentität abzuleugnen. Die Bevölkerung von Calatrava ließ sich nicht davon abbringen, in ihm den Kalifen zu sehen. Der Fürst von Toledo, der gegen den Schwindel vorgehen wollte, wurde abgewehrt. Boten des Kadi von Sevilla luden den angeblichen Hischam nach Sevilla ein. Ältere Haremsdamen aus Cordoba erkannten ihren ehemaligen Herrn wieder. Für die Zeit seines Verschwindens wurde eine passende Geschichte verbreitet. Er habe sich 1013 aus der Gefangenschaft retten können, danach hätten ihn lange Pilgerfahrten bis nach Jerusalem und Mekka geführt. Unterwegs ausgeraubt hätte er sich als Korbflechter und Töpfer durchgeschlagen. Möglicherweise war der Mann aus Calatrava identisch mit einem Wasserträger, der kurz vorher in Almeria aufgetaucht und für Hischam gehalten worden war. Der Taifa-Fürst von Almeria hatte wohl mit dem Gedanken gespielt, diesen Mann als Aushängeschild für seine Herrschaft zu gebrauchen, ihn aber dann vertrieben.4. Natürlich ließ sich der Kadi von Sevilla jetzt von dem wieder aufgefundenen Hischam als „Kämmerer“, d. h. Regenten, legitimieren. Er gewann sogar die Taifa-Herren von Valencia, der Balearen, Tortosa, später noch von Zaragossa, Bajadoz, Carmona und Moron dazu, den Namen Hischams wieder in die Freitagsgebete in ihren Moscheen aufzunehmen. Auch wurden Münzen auf Hischam geschlagen. Der „weibische Alte aus der Hefe des Volkes“ (so ein moderner Historiker)5, der jetzt wieder als Kalif Hischam figurierte, wurde in einem verdunkelten Raum des Palastes von Sevilla verwahrt. Angeblich konnte er kein Licht ertragen. Die wenigen Besucher, die vorgelassen wurden, sahen allenfalls seinen schattenhaften Umriss. Der Sohn und Nachfolger des Kadis von Sevilla, Abbad al Mutalid, ließ 1059 erklären, Kalif Hischam sei vor einiger Zeit verstorben. Sein Tod sei geheim gehalten worden, um die Bevölkerung während eines gerade laufenden Kriegszuges nicht zu beunruhigen. Hischam erhielt jetzt ein drittes prunkvolles Begräbnis. In seinem Testament habe er, so wurde verlautbart, Abbad al Mutalid zum Fürsten (Emir) von ganz Andalus, d.h. über das moslemische Spanien eingesetzt.

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Zu ihm: Hottinger S. 137-38, Hoenerbach S. 320, Dozy Buch 4 S. 18-21, 645. Dozy vermutet, der vielleicht echte Hischam sei 1013 entkommen, aber in Asien umgekommen, Lecuppre S. 15-18 Zu dem Mann in Almeria: Hoenerbach S. 320 – Hoenerbach hält ihn für identisch mit Khalaf in Sevilla. Hoenerbach S. 249

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„Der mit der Feldflasche“ – ein falscher Omajade in Ägypten6 Vorbemerkung: Im muslimischen >ordafrika riss 909 die Dynastie der Fatimiden aus Syrien kommend zunächst im heutigen Tunesien und Ostalgerien die Herrschaft an sich. 969 eroberten ihre Anhänger Ägypten. Die Fatimiden beanspruchten als vorgebliche >achkommen Mohammeds über dessen Tochter Fatima und ihren Gemahl Ali seit 910 den Kalifentitel. Als Repräsentanten des „schiitischen“ Islams, als Imame, verletzten sie die religiösen Gefühle ihrer meist „sunnitischen“ Untertanen durch die von ihnen angeordneten feierlichen Schmähungen der „Gegner Alis“ in den Freitagsgebeten. Zu diesen „Gegnern Alis“ gehörten die in Spanien regierenden Omajaden ebenso wie die abbasidischen Kalifen in Bagdad. Bei dem sunnitischen Nomadenstamm der Banu Qurra in Libyen, das offiziell zum Fatimidenreich gehörte, tauchte vor 1005 ein Koranlehrer aus Kairouan (Tunesien) auf, der vielleicht ursprünglich aus Medina Sidonia im omajadischen Spanien stammte und sich für einen Enkel Aberrahmans III. von Cordoba ausgab. Wahrscheinlich war er der Sohn eines freigelassenen Sklaven, der am Hofe zu Cordoba gedient hatte. Der falsche Omajade7 hatte sich auch in Arabien und Syrien umhergetrieben. Dieser knapp dreißigjährige junge Mann, der sich al Walid ibn Hischam nannte, beeindruckte die Nomaden durch seine asketische Lebensführung (daher sein Beiname „Abu Rakwa“, der mit der Feldflasche), vor allem aber mit dem Versprechen, den Schmähungen gegen die sunnitischen „Gegner Alis“ ein Ende zu machen. Die Banu Qurra proklamierten ihn zum Kalifen. Er nahm den Thronnamen seines „Vorfahren“ Abderrahman an: an Naşir li-Din Allah „der Gottes Religion zu Hilfe kommt“. Die sonst zerstrittenen Beduinen des östlichen Libyens strömten ihm zu. Die Bündnisse wurden mit frischer Schafsmilch besiegelt. Nach der Eroberung des fatimidischen Stützpunktes Barka im April 1005 stieß Abu Bakwa mit seinen Scharen ins Nil-Delta und ins ägyptische Fayum vor. Die Erscheinung zweier Kometen und eines Riesensterns (einer Supernova?) kündigte angeblich seinen Triumph über die Fatimiden an. Endlich besiegten ihn jedoch die Feldherren des fatimidischen Kalifen al-Hakim am 30. August 1006 in einer Schlacht im Fayum. Die Sieger sollen dem Kalifen 6000 Köpfe von gefallenen Anhängern Abu Rakwas zugesandt haben. Abu Rakwa allerdings gelang die Flucht ins damals christliche Nubien im heutigen Sudan. Spione alHakims entdeckten ihn in einem Kloster. Für seine Auslieferung zahlte al Hakim eine Million Dinare an den christlichen Herrscher Nubiens. Am 9. März 1007 wurde Abu Bakwa auf einem Kamel, mit einem bunten Turban, auf dem zudem 6 7

Zu ihm Halm S. 210-15 Wüstenfeld S. 181 hält ihn allerdings für echt. Er sei wie andere Omajadenprinzen vor Almansor geflohen.

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noch ein Äffchen thronte, verspottet, in feierlichem Aufzug – zwölf Elefanten schritten voran – an al Hakim vorbei durch Kairo geführt und anschließend vor der Stadt hingerichtet. Bis zuletzt pries er mit lauter Stimme die „Gegner Alis“. Nach anderen Berichten soll er jedoch Gnadengesuche an al-Hakim gerichtet haben. Kalif Al-Hakim hatte bereits 1005, um weiteren Zulauf für Abu Bakwa zu unterbinden, die Schmähungen der „Gegner Alis“ aus den Freitagsgebeten streichen lassen und entsprechende Inschriften eigenhändig getilgt. Einige Jahre lang, bis etwa 1010, genossen die Sunniten seines Reiches weitere Gunstbeweise. Der verschwundene Kalif al-Hakim in Kairo und seine Wiederkehr Vorbemerkung: Die leiblichen >achkommen des Propheten Mohammed und seines Schwiegersohnes und Vetters Ali waren nach der Ermordung Alis 661 des Kalifats, d .h. der Herrschaft über die Muslime, verlustigt gegangen. Doch behielten sie als „Imame“ (in etwa: geistliche Führer) bei den Schiiten („der Partei“ Alis) hohes Ansehen. Man glaubte sie im Besitz geheimer Offenbarungen. Mit dem Tode des 12. Imams 873 endete die Reihe der Imame, weil kein >achfolger ernannt worden war. Allerdings glaubten die Schiiten, der letzte Imam sei nicht gestorben, sondern habe sich in die Verborgenheit zurückgezogen und werde sich einst als „Mahdi“, als endzeitlicher Welterlöser, wieder zeigen. Von der sogenannten Zwölferschia hatte sich jedoch schon im 8. Jahrhundert die Sekte der Ismailiten abgespalten. Ismail war der älteste Sohn des sechsten Imams gewesen, jedoch vor seinem Vater 760 gestorben. >ach der Lehre der Ismailiten hätte er einen Sohn Mohammed gehabt, dem die >achfolge in der Imam-Würde gebührte. Er wäre ungerechtfertigt zugunsten eines Oheims und dessen >achkommen (den Imamen der „12er-Schia“) übergangen worden. Für die Ismailiten ist Mohammed ibn Ismail der siebente und letzte Imam. Auch von ihm wird angenommen, er habe sich in die Verborgenheit zurückgezogen und er oder einer seiner >achkommen würden als Mahdi zurückkehren. In der Zwischenzeit würde der verborgene Imam Stellvertreter senden, die sich jedoch nur wenigen Auserwählten zu erkennen gäben. Am Ende des 9. Jahrhunderts trat im Irak, dann in Syrien ein Mann namens Ubaidallah (Abdallah) auf, der behauptete, ein >achkomme Mohammed ibn Ismails und damit Alis und der Prophetentochter Fatima zu sein. Er wurde zum Begründer der Fatimidendynastie, der es, wie bereits erwähnt, gelang, 909 die Herrschaft in Tunesien-Ostalgerien, 969 in Ägypten und später auch in SyrienPalästina zu erringen. Die Fatimiden beanspruchten neben der Imam-Würde auch den Kalifentitel. Sie umgaben sich als Inkarnationen geheimer göttlicher Weisheiten mit unerhörter Pracht und einem pompösen Hofzeremoniell. Freilich erregten ihre genealogischen Ansprüche schon früh den Spott von Zeitgenossen. Die sunnitischen Kalifen in Bagdad setzten später mehrfach

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Kommissionen ein, um den Stammbaum der Fatimiden zu überprüfen. Die Gremien kamen zu dem Schluss, es handele sich um reine Anmaßung. Tatsächlich legten die Fatimiden (die sich selbst nicht so nannten) erst nach der Eroberung Ägyptens eine lückenlose Ahnenreihe vor. Wahrscheinlich eine bloße Fiktion. Der sonderbarste Vertreter dieser zweifelhaften Dynastie war der Kairoer Kalif al – Hakim8 (996-1021). Der „Gecko“, wie er als Kind genannt wurde, kam mit elf Jahren unter Leitung seiner älteren Schwester Sitt-al-Mulk auf den Thron und regierte ab 1000 selbstständig. Sein sprunghaft-wirrer Regierungsstil kostete einer ganzen Reihe von Würdenträgern das Leben. Gerade noch mit Geschenken und Ehrentiteln überhäuft, wurden sie unvermittelt dem Henker übergeben oder heimlich beseitigt. Al-Hakim gerierte sich als strenger Moslem. Auf seine Untertanen prasselten zum Teil unsinnige Verbote herab. Frauen wurde jeder Ausgang verboten. Um die Einhaltung dieses Gesetzes abzusichern, durften keine Frauenschuhe mehr hergestellt werden. Selbstverständlich war jedes alkoholische Getränk strengstens untersagt. Aber Al-Hakim verbot auch den Genuss von Weintrauben und Rosinen. Märkte durften bald nur nachts, bald nur am Tage abgehalten werden. Schachspieler wurden ausgepeitscht. Alle streunenden Hunde wurden getötet. In das Bild dieser strikten Strenggläubigkeit passte die Bedrückung der Christen und Juden. Sie waren von den Vorgängern Hakims als Gegengewicht gegen das Gros ihrer sunnitischen Untertanen eher gefördert worden. Hakim selbst war der Sohn einer Christin und Neffe christlicher Bischöfe. Er hatte anfangs sogar christliche Gottesdienste besucht. Jetzt wurden Kirchen zerstört (darunter sogar 1009 die Grabeskirche in Jerusalem), Prozessionen verboten und schikanöse Gesetze erlassen. Den Christen und Juden wurde die Haltung von Pferden, der Erwerb von Sklaven verboten, sie mussten besondere Kleidung (die Christen schwarz) und lächerliche, kiloschwere Kreuze bzw. Holzblöcke in Form von Kalbsköpfen auf der Brust tragen. Einer der bischöflichen Oheime des Kalifen wurde 1010 hingerichtet. Massenweise wurden Übertritte zum Islam erzwungen. Einige Zeit später wurden alle diese Maßnahmen abgemildert oder zurückgenommen. Der Kalif selbst spielte den bescheidenen Asketen. Die prachtvollen Hoffeste und Zeremonien wurden abgeschafft. Doch duldete er das Auftreten von Propheten, die seine Göttlichkeit verkündeten. Auf Volksemeuten gegen diese Prediger reagierte er mit harten Strafen. Zu den asketischen Skurrilitäten Hakims gehörte seine Angewohnheit, sich in einfacher Wollkleidung auf einem Esel in nächtlichen Ausritten unter das Volk zu mischen oder zu Gebetsübungen in die Wüste zu begeben. 9 8 9

Zu ihm: Halm S. 167-304, Wüstenfeld S. 165-220 Halm S. 169 verweist allerdings darauf, dass die Berichte über al-Hakims Absonderlichkeiten, die oft als Beleg für eine Geisteskrankheit gelten, meist aus feindlichen Quellen stammen. Halm versucht sie rational zu erklären und führt etwa die Gründung

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Von einem dieser Ausflüge kehrte der Kalif nicht mehr zurück. In der Nacht zum 13. Februar 1021, einem Dienstag, war er mit kleiner Gefolgschaft in die Sandhügel bei Heluan ausgeritten. Eine Gruppe von Beduinen, die um einen Gnadenerweis baten, hatte er unterwegs noch angehört, aber dann auch noch seine letzten Begleiter fortgewiesen, um sich ganz dem einsamen Gebet hinzugeben. Erst am folgenden Sonntag machten sich Würdenträger des Hofes auf, um nach ihm zu suchen. Seine Schwester Sitt-al-Mulk hatte auf ihre beunruhigten Nachfragen zunächst erklärt, sie habe ein Billett Hakims erhalten, das seine spätere Rückkehr ankündigte. Jetzt fand man seinen Esel mit beschädigten Vorderfüßen, Menschenspuren in der Nähe und an einem Schilfteich die zugeschnürte blutige Kleidung des Kalifen, mit Dolchstichen versetzt. Sitt-al-Mulk, die entschlossen die Regierungsgeschäfte für den unmündigen Sohn Hakims übernahm, ließ einige der Beduinen, denen Hakim begegnet war, als Mörder hinrichten. Sie bot ihnen für ein Geständnis das Leben an, aber die Beduinen beteuerten bis zuletzt ihre Unschuld. Auch ein Berber-Offizier, in dessen Haus man einen Dolch Hakims fand, wurde des Mordes verdächtigt und getötet. Das seltsame Verhalten Sitt-al-Mulks ließ den Verdacht aufkommen, sie selber habe für die Beseitigung Hakims gesorgt, zumal sie die wunderliche Thronfolgeregelung, die er getroffen hatte, außer Kraft setzte. Er hatte unter Umgehung seines eigenen Sohnes zwei entfernte Vettern, den einen als Kalifen, den anderen als Imam vorgesehen. 1024 offenbarte sich in Oberägypten ein Beduinenscheich als Mörder Hakims. Er wies ein Stück der Kopfhaut seines Opfers vor. Im Verhör bezeichnete er sich als „Rechtgläubigen“. Um zu demonstrieren, wie er den Kalifen getötet habe, stieß er sich selbst einen Dolch in die Brust. Das mysteriöse Wirken und Ende al-Hakims forderte die Legendenbildung förmlich heraus. Sein geheimnisvollesVerschwinden passte allzu sehr in die schiitischen Mythen um die verborgenen Imame. In einer koptischen Patriarchengeschichte heißt es: „Viele kleideten sich so wie er (-Hakim-) und sagten: ich bin al Hakim. Sie verlangten …Steuern…“10 Namentlich bekannt u. a. durch einen Bettelbrief an den koptischen Patriarchen Schemuda II. wurde ein Mann namens Šrut, ein zum Islam konvertierter

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des „Hauses der Weisheit“ 1005, einer nahezu aufklärerischen Akademie, dafür an, dass es „keinerlei Anlass zur Annahme eines abnormen oder krankhaft deformierten Charakters“ bei al-Hakim gebe. Halm, S. 331 -Übrigens war schon zu seinen Lebzeiten ein falscher Fatimidenprinz aufgetreten. Vor den Palasttoren in Kairo ließ sich ein Tinten-und Schreibgerätverkäufer nieder, der sich in prinzliche Gewänder hüllte. Er behauptete, ein Halbbruder Hakims zu sein. Tatsächlich sah er dem Kalifen sehr ähnlich. Dieser ging auf die Komödie seltsamerweise humorvoll ein. Er nannte den Mann seinen „Šabib“ (Doppelgänger) und gewährte ihm Zuwendungen. Nach dem Verschwinden Hakims kannte man allerdings keine Gnade mehr. Der Šabib wurde im Gefängnis umgebracht. Dazu Halms S. 296-97, 308. Zu den weiteren falschen Hakims: Halm S. 331 f., Wüstenfeld S. 230

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Christ aus dem nördlichen Nildelta, der dem verschwundenen Hakim stark ähnelte und auch dessen Sprechweise zu imitieren verstand. Er lebte zeitweise versteckt in Kairo und sammelte einige Sektierer um sich, die er mit seiner Fähigkeit beeindruckte, plötzlich unsichtbar zu werden. 1036 ging er zu den Beduinen am Osten des Nildeltas. Sie verehrten ihn unter dem Namen Abu al Arab als Kalifen. 1038 tauchte er unter. Größeres Aufsehen erregte auch ein gewisser Sukain (Sikkin), wohl ein Drusen-Sendbote aus Syrien. Er drang mit einigen Gefolgsleuten 1043 in den Kairoer Kalifenpalast ein, überrumpelte die ersten Wachen und forderte die herbeigeeilten Eunuchen auf, in den Ruf „Das ist al- Hakim“ einzustimmen. Er wurde ans Kreuz genagelt und mit Pfeilen erschossen. Die Sekte der Drusen, deren Begründer zu den Propheten der Göttlichkeit al-Hakims zu dessen Lebzeiten gehörten, hält bis heute daran fest, dass Hakim sich nach seiner Ermordung reinkarniert habe und im Verborgenen weiter lebe. Sie wurden in Ägypten verfolgt, weil sie das Gerücht ausstreuten, Sitt-al-Mulk habe für sein Verschwinden gesorgt. Getürkte Osmanen Vorbemerkung: Seit dem 11. Jahrhundert drangen muslimische Türken (Seldschuken) in das vormals byzantinische Kleinasien ein. Das Großreich der Seldschuken, das weite Gebiete des >ahen Ostens umfasste, zerfiel jedoch bald in zahlreiche kleinere Herrschaften. 1288 gründete der Stammvater des nach ihm benannten Hauses Osman im nordwestlichen Kleinasien um die Stadt Brussa (Bursa) ein Fürstentum. Er und seine >achkommen fühlten sich in besonderer Weise der Idee des Heiligen Krieges gegen die Christen verpflichtet. 1299 nahm Osman den Titel Sultan (souveräner Gewalthaber) an. Die Osmanen setzten 1354 nach Europa über. Sie unterwarfen Serben und Bulgaren, erniedrigten das byzantinische Restreich zum Vasallen und verlegten ihre Residenz nach Adrianopel (Edirne, in der heutigen europäischen Türkei). >ebenbei bezwangen sie ihre muslimisch-seldschukischen >achbarn in Kleinasien. Ihr Siegeslauf schien jedoch 1402 durch eine vernichtende >iederlage gegen den mongolischen Großkhan Timur Lenk in der >ähe des heutigen Ankara beendet. Sultan Bajezid I. geriet in Gefangenschaft, in der er, ehrenvoll behandelt, 1403 verstarb. Timur, der nach Osten abzog, erlaubte, dass seine Leiche feierlich nach Brussa überführt wurde. Da Bajezid keine >achfolgeregelung getroffen hatte, musste sich sein Sohn Mehmed (Mohammed) erst in langen Kämpfen gegen seine Brüder Isa, Suleiman I. und Musa durchsetzen. 1413 konnte er endlich das Reich seines Vaters wieder unter seiner Herrschaft vereinen.

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Mustafa Düzme11 Gegen den Neubegründer des Osmanenreich trat jedoch schon 1414/15 ein Prätendent auf, der behauptete, ein 1402 bei Ankara für gefallen gehaltener Bruder Mehmeds, Mustafa, zu sein. Tatsächlich war die Leiche dieses Prinzen trotz ausgiebiger Suche auf dem Schlachtfeld damals nicht gefunden worden. Der angebliche Mustafa (in den osmanischen Quellen Mustafa Düzme , der „falsche Mustafa“ genannt) trat zuerst in Trapezunt (Trabzon an der östlichen Schwarzmeeküste der heutigen Türkei) auf und ging dann nach Sinope (westlich von Trabzon).12 Er wollte im Gewahrsam Timurs überlebt haben. Nun schickte er Unterhändler nach Venedig, um auf venetianischen Schiffen (Venedig hatte starke Handelsinteressen im Schwarzen Meer) nach Europa gelangen zu können. 1415 tauchte dieser Mustafa dann mit 300 Bewaffneten in der Walachei (Rumänien) auf, deren Fürst Mircea den Alten (Myrtsch, 1386-1418) er für seine Pläne gewann. Neben den Venetianern und den Walachen unterstützten auch Serben, der türkische Fürst von Karaman in Kleinasien und vor allem der von Mehmed I. um sein Erbe gebrachte Fürst Dschuneid (Čüneyd , Juneid) von Aidin-Smyrna (Izmir), jetzt Mehmeds Kommandant in Nicopolis, mit seiner Gefolgschaft den Prätendenten. Mehmed aber ließ verkünden: „Mustafa ist weder der Sohn meines Vaters noch mein Bruder und sieht uns nicht einmal ähnlich. Mein wahrer Bruder Mustafa ist tot, wie alle Leute sicher wissen. Sogar die Römer (-Byzantiner-) wollen nichts mit seinen Plänen zu tun haben.“ 13 Tatsächlich hatten sich Mustafa und Dschuneid nach ersten Niederlagen ins damals noch byzantinische Thessalonike (Saloniki) begeben, um Kontakt zum Kaiserhof in Konstantinopel aufzunehmen. Mehmed verfügte jedoch über ausgezeichnete Beziehungen zu Kaiser Manuel II. Er erreichte, dass der Kaiser den angeblichen Mustafa auf die Insel Lemnos internieren ließ. Ihm wurde eine Die11 12

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Zu ihm nach byzantinischen und osmanischen Quellen ausführlich Jorga Band 1 S. 366-379 und Zinkeisen S. 483-515 Colin Imber, The Crusade of Varna 1443-45, Manchester 2006 S. 415 spricht von einer „series of pretenders“, zweifelt also an der Identität des Mustafa von Trabzon mit dem später in der Walachei auftretenden Mustafa Düzme, den er sogar für einen möglicherweise echten Bruder Mehmeds gelten lassen will. In seinem „Ottoman Empire“ S. 92 redet er aber von einem „false Mustapha“. Auch N. Jorga, Geschichte des Osmanischen Reiches Band 1, S. 367 für die Echtheit. Die byzantinischen Quellen (z.B. Anonymus Zoras) argumentieren meist für Echtheit, die osmanischen (z. B. Achmed Aschik Pascha) für Betrug. Zinkeisen S. 483 bemerkt: „Die Frage, ob dieser Mustafa wirklich der Bruder Mohammeds (-Mehmeds I.-) gewesen ist, ist für den Verlauf der Sache von untergeordneter Wichtigkeit.“ Ebd. Anm. 2) wird jedoch erwähnt, dass auch die älteste osmanische Quelle (Neschri) von der Echtheit ausgeht. Zinkeisen weist auch auf die unsichere Chronologie der Ereignisse hin. S. 515 Anm. 1) Anonymus Zoras (ed. Philippides) S. 43, aus dem Englischen übersetzt von Verf.

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nerschaft von dreißig Mann zugestanden. Die Byzantiner erhielten für Unterhalt und Bewachung des Verbannten große Summen von Mehmed. Dschuneid wurde in ein Kloster in Konstantinopel verbracht. Die Abmachung sollte bis zum Ableben Mehmeds gelten. Damit schien die Affäre um Mustafa ein Ende zu finden. Aber beim osmanischen Thronwechsel 1421, der nicht ohne Schwierigkeiten ablief, glaubte der Sohn und Mitregent Kaiser Manuels, Johannes VIII., die Chance gekommen, das türkische Reich zu schwächen, indem er gegen den jungen Sultan Murad II. den Inhaftierten von Lemnos ausspielte. Der zögernde alte Kaiser wurde überredet, das Spiel zu wagen. Manuel, der zuletzt mit dem verstorbenen Mehmed I. Freundschaft geschlossen hatte (Mehmed hatte den Kaiser sogar in Konstantinopel besucht), war schließlich gegen Murad II. aufgebracht worden, weil dieser seine jüngeren Bruder und Thronrivalen beim Regierungsantritt blenden ließ, statt wie Mehmed es testamentarisch verfügt hatte, sie in byzantinischen Gewahrsam zu überstellen. Mustafa Düzme wurde freigelassen, byzantinische Truppen wurden ihm zur Verfügung gestellt, und auch der unternehmungslustige Dschuneid, wahrscheinlich schon vorher aus der Klosterhaft entwichen, fand sich wieder ein. Gemeinsam zog man gegen das türkische Gallipoli an den Dardanellen. Mustafa sicherte diese Festungsstadt neben anderen Besitzungen den Byzantinern als Belohnung für ihre Hilfe zu. Gallipoli ergab sich Mustafa. Aber kaum im Besitz der Festung zögerte dieser mit der Herausgabe an die Byzantiner. Er bot ihnen Entschädigung in Geld und andere Landstriche an. Während noch die Verhandlungen liefen, schickte Murad II. seinen Feldherren Bajesid Pascha gegen den falschen Thronbewerber. Dessen Truppen liefen zu Mustafa über. Bajesid wurde gefangen genommen und auf Betreiben Dschuneids in Adrianopel geköpft. Die europäisch-türkischen Gebiete (Rumelien genannt) fielen an Mustafa, der jetzt mit 12 000 Reitern und 5000 Mann Fußvolk und mit Hilfe genuesischer Schiffe nach Asien übersetzte. Am Copatike-See lagerten sich die Heere Mustafas und Murads gegenüber. Bei GeplänkelBegegnungen streuten Leute Murads das Gerücht aus, die Byzantiner hätten sich auf dessen Seite geschlagen. (Die Abmachungen zwischen Byzanz und Mustafa waren darauf hinausgelaufen, dem Prätendenten nur Rumelien, nicht das ganze osmanische Reich zu verschaffen, der asiatische Teil sollte Murad II. verbleiben. Eine Reichsteilung im byzantinischen Interesse. Mustafas Übergang nach Asien wie schon sein Verhalten in Gallipoli hätten den Byzantinern durchaus Anlass geben können, sich von ihm abzuwenden.) Mustafa ließ sich von den falschen Gerüchten einschüchtern und floh nach Europa zurück. Seine Armee ließ er im Stich. Murad nahm sie in Gnaden auf. Wahrscheinlich sogar die Gefolgschaft Dschuneids, den er möglicherweise mit der Rückgabe seines alten Fürstentums köderte.

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Murad verfolgte Mustafa über die Meerengen. Nach einigen Quellen hielt sich Mustafa, den Adrianopel, wo er sich verschanzen wollte, aussperrte, noch einige Zeit in den Bergen Thrakiens (Südbulgarien), nach anderen wurde er sehr schnell gefangen genommen. Auf jeden Fall wurde er in Adrianopel am Turm der Festung wie ein gemeiner Verbrecher gehängt. (Thronrivalen aus echt osmanischen Blut pflegten dagegen, damit kein fürstliches Blut floss, rituell mit einer Bogensehne erdrosselt und ehrenvoll bestattet zu werden.) Immerhin, bei einem türkischen Chronisten liest man „…und das ganze Volk kam, um ihn zu sehen.“14 Die Byzantiner wurden mit der Belagerung von Thessalonike (das sie deshalb den Venetianern abtraten, da sie selbst es nicht verteidigen konnten) und Konstantinopel (1422) bestraft. Neue Thronwirren veranlassten Murad II. jedoch, 1424 Friede mit Byzanz zu schließen. Dschuneid wurde 1425 in Aidin besiegt. Er hatte noch versucht, zusammen mit den Venetianern einen angeblichen Sohn Mustafa Düzmes zu lancieren. Hatte Mustafa eine Tochter der italienischen Familie Doria geehelicht?15 Die Tragödie des Prinzen Mustafa und ihre Folgen16 Zwischenbemerkung: Es dauerte mehr als hundert Jahre nach dem Untergang des Mustafa Düzme bis sich wieder unechte Prätendenten – wieder falsche Mustafas – im osmanischen Reich zeigten. In dieser langen Zeitspanne erlebte das Reich einen glänzenden Aufstieg. 1453 wurde endlich Konstantinopel erobert und zur neuen osmanischen Hauptstadt Istanbul gemacht. Die Kalifenwürde fiel 1517 an das Haus Osman. Soliman (Süleyman) II. (1520-66), in Europa „der Prächtige“ genannt, herrschte über >ordafrika von Algerien bis Ägypten, Syrien-Palästina, die heiligen Stätten in Arabien, Irak, Kleinasien, den gesamten Balkan und selbst die Tatarenkhane auf der Krim huldigten ihm. 1529 standen die Türken das erste Mal vor Wien. Begleitet wurde diese Machterweiterung von einem Staunen erregenden kulturellen Aufschwung. Und doch kündigten sich bereits unter Soliman die ersten Andeutungen verhängnisvoller Entwicklungen an, die in die Verfallsepoche der Weiber-Eunuchen- und Haremsherrschaft führten. Die Tragödie des Prinzen Mustafa war ein Vorspiel dazu.

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Ahmed genannt Aschik Pascha-Sohn (ed. Kreutel) S. 139 Matschke, -S. 192 Anm. 239 Interessant in diesem Zusammenhang wären mögliche Kontakte Mustafas zur Sekte des Bedreddin, der eine christlich-islamische Union befürwortete: Wittek S. 30, Jorga Band 1 S. 370 erwähnt Mustafas Ausspruch: „Wer behauptet, dass die Christen ungläubig sind, ist selbst ein Ungläubiger.“ Zu diesem Mustafa Jorga Band 3 S. 119-23, zu den falschen Mustafas in der Folge S. 125-27, 132

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Im Mittelpunkt der tragischen Ereignisse um den Prinzen Mustafa, den erstgeborenen Sohn Solimans des Prächtigen, stand eine bemerkenswerte Frau: Churrem („die Fröhliche“), die eine steile Haremskarriere hinter sich hatte. Ihre Herkunft bleibt im Dunkeln. Spätere polnische Quellen wollten wissen, sie sei in Ruthenien (Karpatho-Ukraine, damals polnisches Gebiet) als Tochter eines Popen geboren, bei Streifzügen der Krimtataren in die Sklaverei geraten und schließlich als ein Geschenk des Großwesirs Ibrahim Pascha in den Harem Solimans gelangt. In westlichen zeitgenössischen Quellen wurde sie „Roxolane“ genannt. Sie verdrängte nicht nur die Tscherkessin (oder Montenegrinerin) Mähidevran (oder Gülbahar, „die Frühlingsblüte“), die dem Sultan den ersten Sohn geschenkt hatte, sondern auch den allmächtigen Großwesir Ibrahim (Jugend-und Busenfreund Solimans, später dessen Schwager, dem man sogar intime Beziehungen zu Soliman nachsagte) aus der Gunst des Herrschers. 1530 (1534?) wurde sie mit pompösen Feierlichkeiten zur einzigen legitimen Gemahlin Solimans erhoben, eine Neuerung, die den muslimischen Untertanen des Sultan-Kalifen ganz unverständlich war. Ibrahim wurde 1536 überraschend hingerichtet. Mähidevran und ihr 1516 geborener Sohn Mustafa (dieser mit Statthaltertitel) wurden in die Provinz geschickt. Es war üblich, dass Frauen, die dem Sultan einen Sohn geboren hatten, auf diese Weise und gut versorgt aus dem Harem entfernt wurden. Roxolane durchbrach auch diese Regel. Sie blieb auch nach der Geburt mehrerer Söhne im Harem, dessen Verlegung in die nächste Nähe des Sultans in den Topkapi-Palast sie durchsetzte. Auch ihre Söhne Mehmed (geb. 1522), der 1543 früh verstorbene Liebling seines Vaters, Selim (geb. 1524), Giangir der Bucklige (geb. 1530) und Bajezid (geb. 1531) blieben in der Nähe des Vaters. Ihre Tochter Mirmah verheiratete sie mit dem Großwesir Rüstem (im Amt 1544-53, 1555-61).17, So sehr Roxolane auf diese Weise den Sultan umgarnte, noch lebten der erstgeborene Mustafa und seine ehrgeizige Mutter. Der Prinz hatte sich inzwischen als Statthalter in Amasia (Nordostkleinasien), einem Grenzgebiet zum persischen Reich, bewährt. Seine Mutter sorgte mit großzügigen Geschenken an die Elite-Infanterietruppe der Janitscharen für die Popularität ihres Sohnes bei diesen Mannschaften. Auch in dem 1548 ausgebrochenen Krieg gegen Persien tat sich Mustafa hervor. Er war bei der Thronfolge schwerlich zu umgehen. Roxolane aber wusste, dass dies ihren eigenen Söhnen das Leben kosten konnte. Sultan Mehmed II. (1451-81), der Eroberer Konstantinopels, hatte nämlich verfügt, dass bei einem Thronwechsel die jüngeren Brüder und Neffen des jeweiligen Thronerben getötet werden sollten. Auf diese Weise hoffte man Thronkämpfe, wie sie so oft das Reich erschüttert hatten, zu vermeiden. Als sich Soliman 1553 selbst an die persische Front aufmachte, flüsterten Roxolane und ihr Schwiegersohn Großwesir Rüstem ihm ein, Mustafa bereite 17

Zur „Hauspolitik“ der Churrem-Roxolane Aldeson S. 52

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eine Rebellion vor. Als Beweis galt der Umstand, dass der Prinz ohne Wissen Solimans größere Abteilungen der Janitscharen an sich gezogen hätte. Er habe sich Würdezeichen, die nur dem regierenden Sultan zukämen, angemaßt. Er führe geheime Verhandlungen mit den Persern und plane eine Ehe mit einer Tochter des Schahs. Auch sei er unter dem Vorwand, an der Front gerade unabkömmlich zu sein, trotz einer Einladung seinem Vater nicht sofort entgegen gereist. Als Mustafa am 6. Oktober 1553 verspätet im Lager zu Eregli bei Konia eintraf, wurden er und seine Begleiter beim Betreten des väterlichen Zeltes von den sieben stummen Henkern, die sich stets im Gefolge des Sultans befanden, mit seidenen Bogensehnen vor den Augen Solimans und seines Halbbruders Giangir erdrosselt. Die Leichen wurden auf kostbaren Teppichen öffentlich zur Schau gestellt. Staatsbegräbnis und-trauer folgten. Auch Mustafas unmündiger Sohn Murad wurde in Brussa (Bursa) auf diese Weise umgebracht. Die Hinrichtung Mustafas erregte allgemeine Bestürzung. Die Janitscharen drohten zu meutern. Großwesir Rüstem, den man als Hauptanstifter vermutete, musste vorerst aus seinem Amt entlassen werden. Prinz Giangir, der trotz seiner Missbildung wegen seiner drolligen Späße allgemein beliebt war und als Busenfreund des Hingerichteten galt, starb wenig später, wie es hieß, an gebrochenem Herzen. Bei einer Siegesfeier über die Perser am 5. November 1553 in Aleppo zeigte sich auch Soliman noch „bleich, verstört und (er) zeigte deutliche Spuren der überstandenen seelischen Krise.“18 Roxolane konnte triumphieren. Sie starb 1558. So erlebte sie den Bruderwist ihrer Söhne Selim und Bajesid (der 1561 auf Wunsch seines Vaters im persischen Exil hingerichtet wurde) nicht mehr mit, wohl aber die gespenstische Wiederkehr ihres Opfers Mustafa. Der erste falsche Mustafa tauchte 1555 in der Dobrudscha (heutiges rumänisches Gebiet an der Donaumündung) auf. Er war ein stattlicher Reitersmann, der dann auch unter der osmanischen Kavallerie der Spahis großen Anhang (14 000 Mann?) gewann. Mustafa, so hieß es, sei der Hinrichtung entkommen. Er habe einen ihm ähnlich sehenden Sklaven vorgeschickt, der dann an seiner Stelle getötet worden sei. Noch bevor der spätere Großwesir Sokoli im Auftrag Solimans sich gegen den falschen Mustafa aufmachte, wurde dieser aber von seinen eigenen Gefolgsleuten entlarvt, ausgeliefert und in Istanbul grausam hingerichtet. Es gab Vermutungen, dass Prinz Bajesid, der jüngste Sohn der Roxolane, wohl um gegen seinen Bruder Selim zu intrigieren, hinter der Geschichte steckte. Er soll einen seiner Sklaven, der Mustafa ähnelte, für die prinzliche Rolle ausgesucht haben. Bajesid war Statthalter im europäischen Reichsteil, wo der angebliche Mustafa auftrat. Ein zweiter Pseudo-Mustafa trat 1557 in Kleinasien auf, wo er unter den Tscherkessen Zulauf fand. Hier könnte die Mutter des echten Mustafa, nach ei18

N. Jorga, Geschichte des Osmanischen Reiches Band 3, S. 124

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nigen Quellen selbst eine Tscherkessin, als Drahtzieherin angenommen werden. Er fand im persischen Schirwan Zuflucht. (Mustafas Mutter, die „Frühlingsblüte“ starb hochbetagt erst 1580). Zwei weitere Mustafas, von denen nicht viel bekannt ist, traten noch 1564 und 1565 auf. Der erste wurde als halbverrückter Dummkopf abgetan, der zweite gehängt. Das traurige Schicksal des echten Mustafa und die Gestalt der Roxolane haben im westlichen Abendland großes Aufsehen erregt. Schon 1555 verfasste Nicolas Moffan ein Drama über die Geschehnisse am osmanischen Hof. Darin wurde, wie auch in vielen nachfolgenden literarischen Produktionen zum Thema19 der bucklige Giangir zur einzigen Lichtgestalt im Intrigensumpf des Serails erhoben. Noch Lessing plante 1748 ein Drama „Giangir oder der verschmähte Thron“. Es blieb seinem Freund Christian Felix Weiße (1726-1804)20, vorbehalten, Lessings Vorhaben in seinem Trauerspiel „Mustapha und Zeangir“ 1763 auszuführen. Am Ende dieses Stückes erdolcht sich Giangir-Zeangir, um seine Mutter „Roxane“, die mit viel List auf den Tod seines Freundes Mustafa und die Thronfolge Zeangirs hingearbeitet hat, um den Lohn ihrer bösen Tat zu bringen. Die falschen Mustafas, eigentlich auch ein interessantes Sujet, werden in all diesen Werken meist übergangen. Kleinere Zwischenspiele Die Welle der falschen Mustafas hat aber offensichtlich zur Nachahmung gereizt. Unter Sultan Mehmed III. (1595-1603) trieb sich in der Umgebung von Istanbul ein Subjekt namens Soliman herum, das behauptete, ein Sohn Selims II. (156675) und damit Oheim Mehmeds zu sein. Dieser Soliman wurde in Istanbul geköpft, seine Leiche an einen Baum genagelt. Auch noch unter Mehmed III. kam es im syrischen Edessa zur Rebellion eines hohen Beamten, Abdul-Halim. Dieser proklamierte den angeblichen Sohn einer Sultanin unter dem Namen Hussein zum Herrscher. Dieser Hussein residierte dann in Konia. Er soll die Christen begünstigt und die Juden verfolgt haben. Es wurden Münzen auf ihn geschlagen. Aber Anfang 1600 lieferte ihn sein Gönner Abdul, der sich damit Vergebung einhandelte, nach Istanbul aus, wo der Unglückliche gemartert und zur Schau gestellt wurde. 21

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Eine Übersicht gibt Elisabeth Frenzel, Stoffe der Weltliteratur, Artikel Mustapha, Stuttgart 1970 S. 518-19 Biographie in der Allgemeinen Deutschen Biographie Band 41, Leipzig 1896 S. 58790. Er war mit seiner Zeitschrift „Der Kinderfreund“ Begründer der deutschen Kinder – und Jugendliteratur. Zu den Zwischenspielen; Jorga Band 3 S. 410 und 424

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Sultan Yahya Falls die Biographie, die der Franziskaner Rafael Levakovič (1597-1649), ein vielschreibender Historiker und später Titular-Erzbischof von Ochrid in Makedonien, seinem zeitweiligen Arbeitgeber, Sultan Yahya oder Alessandro Graf von Montenegro, widmete, auch nur annähernd der Wahrheit entspricht und keine romanhafte Erzählung darstellt, ist besagter „Sultan Yahya“ zu den größten Abenteurern der Geschichte zu zählen. Freilich mag Sultan Yahya dem leichtgläubigen Mönch, der ihm seit 1631 als Sekretär diente, manchen Bären aufgebunden haben. 22 Nach dem Bericht Levakovičs wurde Yahya als zweiter oder dritter Sohn Sultan Mehmeds III. 1585 geboren. Seine Mutter war eine Prinzessin (namens Elpare?) aus komnenischen- oder palaiologisch-byzantinischem Geblüt, die ihr Söhnchen, um es vor dem im osmanischen Reich üblichen Prinzenmassaker zu bewahren, heimlich in christliche Obhut und Erziehung brachte. Dem Sultan wurde vorgetäuscht, das Kind sei an den Pocken gestorben. 1608 ging der junge Herr mit einem Empfehlungsschreiben des orthodoxen Erzbischofs von Thessalonike, das seine vornehme Herkunft bestätigte, an den kaiserlichen Hof in Prag. Dort wurde er wohlwollend aufgenommen und später an den Großherzog Cosimo II. der Toskana weitergereicht. In Florenz bezauberte er die Großherzoginnen Christine und Maria Magdalena (eine Habsburgerin). Cosimo stellte ihm eine kleine Flotte zur Verfügung. Der Versuch, damit in türkische Gewässer einzudringen, scheiterte jedoch. Yahya, der sich als christlicher Thronanwärter für das osmanische Reich aufspielte, begab sich ins Kosovo, wo er Unterstützung bei der orthodoxen Geistlichkeit für seine Pläne fand. Auch schloss er sich einem berüchtigten albanischen Bandenführer und Rebellen namens Vergo an. Er nannte sich jetzt Alessandro, Graf von Montenegro. Er wollte für seine Sache Waffenkäufe in den Niederlanden tätigen. Leider fehlten ihm die notwendigen Gelder. 1616 jedoch vermachte ihm Vergo sein zusammengeraubtes, nicht unbeträchtliches Vermögen. So ausgestattet versuchte Yahya nun sein Glück bei den Krimtataren und den Kosaken. Mit ihrer Hilfe und der des Fürsten Radu Mihnea, Hospodar 1623-26 (zum wiederholten Male) in der Moldau, stellte er 1625 eine

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Eine Zusammenfassung der nur im Manuskript erhaltenen Levakovič- Biographie gibt Schuberth passim, Vacalopoulos S. 199 bezweifelt ihren historischen Wert, da allzu romanhaft. Die in wenigen Exemplaren erhaltene Biographie Yahyas “ Sultan Jahja dell’Imperiale Casa Ottomane ou altrimenti Conte Alessandro di Montenegro ed i suoi discendenti in Italia“ von Vittorio Catualdi (Oscarre de Hassek) basiert hauptsächlich auf Levakovič. Sie war Verf. nicht zugänglich. Hammer-Purgstall erwähnt S. 491 nur kurz einen angeblichen Bruder Sultan Achmeds I., der als christlicher Mönch Europa bereist, er vermutet ebd. Anm. 7) dieser Jahja könne tatsächlich ein Halbbruder Achmeds von der gemeinsamen Mutter Flattra gewesen sein.

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Flotte von 130 Schiffen zusammen, mit der er Istanbul anzugreifen plante. Er wurde zurückgeschlagen. Yahya bereiste nun ganz Europa – er soll auch bei Wallenstein vorstellig geworden sein – um neue Unterstützung aufzutun. In Briefen an die Kurie versprach er 1639-40 die Christianisierung der Türken. 1643 kehrte er ins Kosovo zurück. Er starb oder fiel in Kämpfen gegen die Türken 1648/1649 bei Kotor. Er versuchte wohl auch, eine Art Agentennetz aufzubauen. Levakovič selbst arbeitete für ihn in Venedig. Später (s. u.) wurde sogar das Stadtregime der Eidgenossen in Zürich angegangen. Hier trat wie vorher in Genua und Lucca 1634 als „Gesandter“ Yahyas der berüchtigte Theologe, Philologe und rabulistische Polemiker Caspar Scioppius (1576-1649, eigentlich Kaspar Schoppe) auf. Scioppius wandte sich auch an Herzog Viktor Amadeus I. von Savoyen, dem er im Namen Yahyas für eventuelle Hilfe die Insel Zypern anbot.) Yahya hinterließ Nachkommenschaft. Vielleicht war er mit einer Nachfahrin des albanischen Nationalhelden Skanderbeg verheiratet oder mit einer Savoyardin. Einer seiner Söhne, Maurizio, trat in venetianische Dienste. Er liegt in Palmanova begraben. Seine Grabinschrift preist ihn als Enkel Sultan Mehmeds III. 23 Soweit hauptsächlich der Bericht Levakovičs. Wenn schon die Biographie Levakovičs recht unglaublich erscheint, so ist der Bericht, den Jean-Baptiste de Rocoles 1683 in seinem berühmten Werk über falsche Kaiser, Könige und Fürsten über Yahya gibt, noch etwas phantastischer.24 Nach ihm trat Yahya zuerst in Kleinasien als Thronbewerber auf, wo er sich einem Aufstand gegen Sultan Achmed I. (1603-17) anschloss. Später zettelte er eine Verschwörung in Istanbul an, die im Sande verlief. Er verdingte sich als einfacher Diener beim polnischen Gesandten in Istanbul, dem er zu Fuß nach Krakau folgte. Wegen eines Liebeshandels entlassen, rettete er sich in den Schutz des toskanischen Gesandten in Krakau, dem er sich als Sultanssohn offenbarte. Der Toskaner führte ihn als solchen bei König Sigismund III. von Polen ein, der jedoch seit den russischen Demetrius-Affären wenig geneigt war, sich auf weitere Abenteuer dieser Art einzulassen. Mitglieder der türkischen Gesandtschaft in Krakau erkannten, so Rocoles, in Yahya zumindest den Rebellen aus Kleinasien. Vor ihren Mordanschlägen rettete Yahya sich über Wien nach Florenz. Dort erhielt er eine Pension des Großherzogs, dazu noch heimliche Zuwendungen aus Istanbul von den Gegnern Sultan Achmeds. Eine unerlaubte Liebesaffäre mit einer Tochter des edlen Hauses der Strozzi zwang ihn zur Abreise aus Florenz. In Rom schloss er sich dem französischen Herzog Charles von Nevers-Mantua an. Mit diesem ging er nach Paris, wo er in die Kumpanei des berüchtigten Schwerenöters Bassompierre geriet. Er verkrachte sich mit seinem 23 24

Giuseppe Marcotti, Il Montenegro e le sue donne, edizione digitale, S. 70 Rocoles (ed. Pauli) S. 388-98

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Gönner Nevers-Mantua und tauchte ab. Rocoles behauptet: „Kein Mensch hat nach dieser Zeit erfahren können, wo er hingekommen.“25 Schon einer der deutschen Herausgeber Rocoles hält diese Geschichte für zum Teil bloße Erfindung.26 Immerhin muss Rocoles aber zumindest gerüchteweise von Sultan Yahya gehört haben. So wirr und phantastisch all diese Geschichten auch klingen, stellt doch die Untersuchung Ulrich Helfensteins von 1963 eine Art Ehrenrettung Yahyas (Jahja, Johannes) und seines „Gesandten“ Scioppius dar. Danach wurde „Jahja“ 1585 angeblich (wofür sich Helfenstein nicht verbürgt) als Sohn der Helena Komnena (im Harem Lalpare, die Rubinlippige genannt) geboren, von seiner Mutter versteckt und 1603 in ein Komplott gegen Sultan Achmed, seinen „Halbbruder“ verwickelt. Er ging ging nach Prag, Wien, Florenz, Neapel, in die Niederlande, Frankreich, Polen, Russland und sogar Persien, ließ sich 1615 auf dem Balkan huldigen, wagte sich als Derwisch verkleidet nach Istanbul, organisierte 1625 einen Flottenangriff mit Tataren und Kosaken gegen die Osmanen und zeigte sich 1629 bei Wallenstein. Soweit nach Helfenstein die etwas unsicheren Vorgeschichten. Sicher belegt ist, so Helfenstein, dass Großherzog Cosimo II. der Toskana ihm 1609/10 Schiffe zur Verfügung stellte und er auch mit dessen Nachfolger Ferdinand II. seit 1618 persönlich bekannt war. 1628 unterhandelte er mit niederländischen Kaufleuten über Waffenlieferungen. Seine abenteuerlichen Pläne und Unternehmungen deckten sich mit der damals allgemein verbreiteten Idee einer großen christlichen „Impresa orientale“ gegen die Osmanen, deren Reich Yahya als christlicher Sultan übernehmen sollte. So waren die Malteser Ritter 1634 bereit, Yahya sechs Galeeren zur Verfügung zu stellen. Überall beeindruckte Yahya durch sein „nobles, ritterliches Wesen“27. Helfenstein belegt weiterhin dokumentarisch die Aufenthalte Yahyas am savoyischen Hof in Turin 1632, wo er auf Scioppius traf. Er ernannte diesen zum Grafen von Clarevalle in Thessalien und wollte ihn zum Leiter einer Musterakademie in Athen machen. Man besuchte gemeinsam Lucca und Genua. 1634 wurde Scoppius als Gesandter Yahyas durchaus ehrenvoll in Zürich empfangen, wie auch sonst Yahya und seinen Unterhändlern allerlei vage Zusagen, aber auch Gelder und Pensionen zuteil wurden. Die bei Rocoles angedeuteten Kontakte Yahyas zu Charles von Nevers-Mantua können durchaus bestanden haben, da Scoppius vor seiner Begegnung mit Yahya in dessen Diensten stand. Man spielte mit der Idee, Charles von Nevers-Mantua im Rahmen der „Impresa“ ein Königreich in Dalmatien als Entschädigung für seine Erbansprüche auf Mantua zu verschaffen. Nach Helfenstein ging Yahya 1645 wieder als Derwisch verkleidet nach Istanbul und Saloniki, erfuhr dort von den türkischen Plänen zu einem Angriff auf 25 26 27

Rocoles (ed. Pauli) S. 396 Rocoles (ed. Pauli) S. 398 Anm. b) Helfenstein S. 9

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das damals venezianische Kreta, stellte sich unter dem Namen Alessandro Varna in den Dienst Venedigs und starb 1649 in Kotor (damals Cattaro). „Padre Osman“ Rocoles tischt noch eine andere Osmanenhistorie auf28. Sie klingt etwas glaubhafter als seine Anekdoten zu Sultan Yahya, da er selbst 1654 mit dem geheimnisvollen Pater Osman im Jakobiner (Dominikaner)kloster in Paris gesprochen haben will. Der Dominikanerpater Osman war nach dem Bericht Rocoles der Sohn einer Amme Sultan Mehmeds IV. (geb. 1641, regierte 1648-87, gest. 1692), also dessen „Milchbruder“. Die Amme war eine Sklavin des Obereunuchen im Serail. Dieser hohe Würdenträger adoptierte das Kind. Auch Sultan Ibrahim, der Vater Mehmeds, schloss den Kleinen ins Herz. Die Bevorzugung dieses Knaben erregte bei den Damen des Serails viel Unmut. Um ihren Intrigen zu entgehen, begab sich der Obereunuch mit seinem Adoptivsöhnchen und dessen Mutter auf die Reise nach Mekka. Sein Schiff wurde von den Malteserrittern gekapert. Der Eunuch und seine Sklavin kamen bei diesem Überfall um, nicht so das fürstlich eingekleidete Kind. Die überlebenden muslimischen Mitreisenden, die Dienerschaft des Eunuchen, erklärten den Maltesern, das so fein herausgeputzte Bübchen sei der Sohn und Thronfolger Sultan Ibrahims (1640-48). Eine Muslima wurde von ihnen in prächtige Gewänder gehüllt den Rittern als Kindesmutter und eine der Gemahlinnen Ibrahims vorgeführt. Wahrscheinlich erhofften sich die Gefangenen auf diese Weise eine bessere Behandlung. Die Malteser verbreiteten in ganz Europa die Kunde von ihrem wahrhaft sensationellen Fang. Sie wussten zu wenig Bescheid über die strengen Regeln des Serails, die eine solche Pilgerfahrt eines unmündigen Prinzen niemals zugelassen hätten. Die Botschaften über die Gefangennahme des osmanischen Thronfolgers, die von Malta nach Istanbul gingen, blieben ohne Antwort. Eine Gesandtschaft der Malteser an die Hohe Pforte klärte 1649 die Ritter endlich über ihren Irrtum auf. Sie blieben aber, um nicht dem allgemeinen Gespött zu verfallen, offiziell bei der Version, das Kind sei doch ein osmanischer Prinz. Sie nannten es Osman. Osman wurde wie erwähnt später in Frankreich Dominikaner. In seinem Kloster genoss er gewisse Privilegien wie eigene Wohnung, besonderes Essen, Befreiung von Fasten, aber er nahm am Chorgesang teil. Esprit-Joseph Chaudon, auch er ein Verfasser eines Sammelwerks über betrügerische Thronräuber, korrigierte 1776 in seiner Version der Geschichte Osmans seinen Lehrmeister Rocoles, dem er sonst oft getreulich folgt.29 Bei ihm ist das Kind der Amme Zafira ein echter Sohn Sultan Ibrahims. Auf der Reise nach Mekka wurde, so Chaudon, das Schiff des kleinen Prinzen und seiner Mutter 28 29

Rocoles (ed. Pauli) S. 471-81. Alderson S. 53 hält die Geschichte für verbürgt. Chaudon S.323-43

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1644 von den Maltesern unter dem Ritter Dubois Baudrad aufgebracht. Zafira versuchte, ihre und ihres Söhnchens Identität zu verbergen. Umsonst, ihr bei dem Überfall tödlich verwundeter Obereunuch Aga Mahomet beichtete vor seinem Abscheiden die Wahrheit, und sie selbst verriet sich bei einem abgelauschten Gespräch mit ihren Dienerinnen. Sie starb 1645. Die Gefangennahme des Sultanssohnes und dessen weitere Existenz hatten nach Chaudon höchst politische Folgen. Sultan Ibrahim, der hinter der Aktion der Malteser eine Initiative der Venetianer vermutete, erklärte der Seerepublik den Krieg.30 Die Malteser forderten als Lösegeld die Rückgabe ihres alten Besitzes Rhodos. Auch weil der venetianische Krieg zunächst unglücklich verlief, wurde Ibrahim 1648 abgesetzt und erwürgt. Sein „Sohn“ Osman wurde 1656 als Dominik de St. Thomas getauft und trat in den Dominikanerorden ein. Er lebte in Neapel, Rom und kam 1665 nach Paris. Der Sonnenkönig Ludwig XIV. stattete ihn fürstlich aus. Auf eine Intervention Osmans bei König Karl II. gaben englische Seeräuber Beute, die sie einem Armenier aus Smyrna abgenommen hatten, zurück. Osmanische Gesandte in Paris huldigten dem Prinzen. Osman nahm Kontakte zur orthodoxen Geistlichkeit im türkischen Reich auf, und auch der christliche Fürst und Vasall des Sultans in der Walachei wurde ins Vertrauen gezogen. Ziel war eine allgemeine Erhebung der christlichen Untertanen der Hohen Pforte und die Inthronisierung des christlichen Sultans Osman. Osman reiste deshalb 1667 nach Venedig und versuchte auf Kreta und in Griechenland den Aufruhr zu schüren. Er blieb erfolglos. Jetzt suchte er den Moskauer Zaren für seine Pläne zu gewinnen. Schließlich zog er sich nach Rom zurück. Er erwarb dort den Doktortitel und bewährte sich in Kirchen-und Ordensämtern. Auf einer Visitationsreise starb er am 25. Oktober 1676 auf Malta. So der Bericht Chaudons. Chaudon wirft Rocoles vor, der falschen, im Falle Osmans verharmlosenden, in England veröffentlichten Darstellung Jean Evelins von 1669 gefolgt zu sein31. Er selbst stützt sich auf einen gewissen Octavian Bulgarin, der seine Informationen von einem Vertrauten Osmans erhalten haben will. Ein wenig scheint Chaudon dem sensationelleren Bericht seines Gewährsmannes Bulgarin doch zu misstrauen, denn er gibt anschließend den Text Rocoles als Großzitat.

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Tatsächlich war ein Schiff, auf dem einige Eunuchen Ibrahims sich auf Pilgerfahrt befanden, von Seeräubern, wie der Sultan vermutete, in venetianischen Diensten, gekapert worden. Ibrahim ließ deshalb die damals venetianische Insel Kreta angreifen. Vgl. Gerd Frank, Die Herrscher der Osmanen, Wien und Düsseldorf, 1980 S. 178 Jean Evelin, Histoire de trois fameux imposteurs de ce siècle, le père Osman, Mahomet Bey ou Jean-Michel Cigala, et Sabata Levi, London 1669

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Persische Prätendenten: die falschen Safawiden Vorbemerkung: >ach dem Untergang des ersten persischen Großreiches und den folgenden hellenistischen und parthischen Zwischenspielen erlebte Persien, der Iran, unter der Dynastie der Sassaniden eine zweite nationale Blütezeit. Sie wurde durch die arabische Eroberung des Irans beendet. Der arabischen Fremdherrschaft folgte die der seldschukischen Türken, der Mongolen, Timurs und wieder der Turkmenen. Erst die Safawiden begründeten dann um 1500 den heutigen persischen Staat. Auch sie waren zunächst Fremdherrscher. Das Haus der Safawiden stammte von einem turkmenisch-schiitischen Sufi (Mystiker-Asketen) und Ordensgründer in der heutigen iranischen Provinz Aserbeidschan ab. Der Ordensgründer Safi (1252-1334) und seine >achkommen galten als Reinkarnationen der Zwölfer-Imame oder der göttlichen Weisheit. Später pochten sie sogar auf leibliche Abstammung von Mohammed und Ali. Einem Abkömmling Safis, Ismail, gelang 1501 die Eroberung von Täbris und danach des ganzen Irans bis hin nach Afghanistan und in den heutigen Irak. Er legte sich 1502 die alte persische Herrschertitulatur eines Schahs zu. Er stützte sich auf eine hauptsächlich turkmenische Gefolgschaft aus verschiedenen Stämmen. Die rote Kopfbedeckung seiner Gefolgsleute machte sie unter dem >amen „Kisilbasch“ (Rotmützen) bekannt. Das lockere Bündnis dieser oft rivalisierenden >omaden und Halbnomadengruppen wurde allein durch die Person des halbgöttlichen Ordensoberhauptes und jetzigen Schahs zusammengehalten. Die bäuerliche und städtische einheimische iranische Bevölkerung galt noch lange Zeit als bloße steuerzahlende, politisch bedeutungslose Untertanenschaft. Kamen schwache Persönlichkeiten auf den Thron, so drohte unter diesen Verhältnissen das Reich sofort wieder in die Stammesfehden- Anarchie der herrschenden Kisilbasch-Militärkaste zu versinken. Wirren dieser Art gaben dann auch den >ährboden für das Auftreten falscher Thronbewerber, angeblicher Safawiden, ab. Der grausame Schah Ismail und seine mehrfache Wiederkehr Ein solcher Moment der Schwäche trat beim Tode Schah Tahmasps I. (1524-76) ein. Der wahrscheinlich vergiftete Schah hatte keine Thronfolgeregelung getroffen. Sein ältester Sohn Mohammed Khudabanda war halb erblindet und kam deshalb als Thronerbe zunächst nicht in Frage. Ein anderer Sohn, Ismail32, der 1548 einen Krieg gegen die Osmanen provoziert und zunächst große Siege errungen hatte, wurde nach persischen Niederlagen 1558 und wegen seines anmaßenden Auftretens inhaftiert. Der Lieblingssohn Tahmasps, Haidar, war wegen 32

Zu Ismail (II.) Hinz passim

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seiner georgischen Verbindungen von der Mutterseite her bei den meisten Kisilbasch nicht sonderlich gelitten. Er wurde jetzt von ihnen ermordet. Auf den Thron gerufen wurde schließlich der gefangen gesetzte Ismail. Seine langjährige Haft hatte den Prinzen wohl bis hin zum Verfolgungswahn traumatisiert. Er erwarb sich den Beinamen „der Grausame“, u. a. weil er beim Regierungsantritt sofort fast alle seine Brüder und Neffen umbringen ließ. Unter den wenigen, die verschont wurden, waren der halbblinde Mohammed Khudabanda und einige von dessen Söhnen. Aber schon am 24. November 1577 verstarb Ismail II. Sein Ende war rätselhaft. Er hatte sich nach einem nächtlichen Streifzug durch die Hauptstadt, damals Kasvin (Qasvin), und dem reichlichen Genuss von Opium und Süssigkeiten mit seinem „Buhlknaben“, einem Konditorssohn, in dessen Wohnung am Palast eingeschlossen. Am nächsten Morgen mussten nach langen Beratungen besorgte Würdenträger die von innen verriegelte Tür zu diesem Nachtlager aufbrechen. Der Schah lag im Sterben, sein Freund war durch Gift gelähmt. Vielleicht handelte es sich um einen Anschlag, den die Schah- Schwester Prinzessin Pari Khan Khanum, die Ismail ein Jahr zuvor zur Thronfolge verholfen hatte, anstiftete, um dem Treiben des Wüterichs ein Ende zu setzen. Der jetzt doch noch auf den Thron gerufene Mohammed Khudabanda war ein Schwächling, dessen perserfreundliche Tendenzen zu mehreren Putschen der Kisilbaschs führten, die nach der Ermordung der Pari Khan Khanum auch die Hinrichtung der Gemahlin des Schahs und eines persischen Großwesirs erzwangen. Khudabandas älterer Sohn Hamza, zeitweise Regent für seinen Vater, wurde 1586 ermordet, Khudabanda selbst 1587 zugunsten seines Sohnes Abbas (später „der Große“) abgesetzt.33 Diese Hofwirren nutzten nicht weniger als vier Betrüger aus, die sich für Ismail II. ausgaben. Nach dem Bericht des persischen Historikers Eskandar Beg Monshi (ca. 1560- ca. 1632) trat der erste falsche Ismail, in Wirklichkeit ein haschischsüchtiger Wanderderwisch, 1581 in der Provinz Luristan (mittlerer Westiran) auf. Er behauptete, durch einen Fenstersprung aus dem von feindlichen Kisilbashs umstellten Haus seines Freundes entkommen zu sein und sich zwei Jahre, meist auf osmanischem Gebiet, verborgen zu haben. Wie der echte Ismail wies er nur noch zwei Zähne auf. Wahrscheinlich hatte er sich für seinen Betrug die anderen entfernen lassen. Er fand begeisterte Anhänger, die ihn mit Geschenken überhäuften und sich zum traditionellen Fußkuss drängten. 20 000 Mann sollen sich um ihn geschart haben. Zwei gegen ihn gesandte regionale Kommandanten, Vater und Sohn (oder Neffe?), fielen im Kampf gegen ihn. Die Provinzen Fars und Chusistan drohten zu dem Pseudo-Schah abzufallen. Zeitweilig wich dieser nach „Arabistan“ (Irak?) aus, weil den Luren Zweifel an seiner Echtheit kamen. Er kehrte aber später wieder zu ihnen zurück. Eine dritte 33

Zu den Wirren nach Ismails Ende: Hans Robert Roemer, Der Niedergang Irans nach dem Tode Isma’ils des Grausamen 1577-81, Würzburg-Aumühle 1929

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Strafexpedition schloss ihn endlich in der Stadt Dehdascht ein. Seine Anhänger lieferten ihn aus oder verhinderten nicht, dass er aus seiner Bleibe dort herausgezerrt und erschlagen wurde. Sein Kopf wurde dem Schah übersandt. Sein Beispiel machte Schule. Monshi schreibt: „Alle paar Tage sollte ein Ismail Mirza (-Prinz Ismail-) in der einen oder anderen Provinz erscheinen, und das Volk sollte sich um sie scharen und sich wieder zerstreuen.“34 Ein zweiter falscher Ismail sammelte etwa in der Gegend von Hamadan 10 000 Luren und Kurden um sich. Der Statthalter des Gebiets ging scheinbar auf die Prätentionen des Betrügers ein, schickte Geschenke und machte ihm seine Aufwartung mit Proskynese und Fußkuss. In einem günstigen Augenblick überfielen jedoch er und seine Helfer den falschen Schah und lieferten ihn an den Sohn und Regenten Schah Khundabandas, Hamza, aus. Der ließ den Prätendenten in ein mit Schießpulver gefülltes Hemd stecken und in die Luft jagen. Auf einen dritten falschen Ismail geht Monshi nur kurz ein. Er machte die Gegend um Ardabil, dem Stammsitz der Safawiden, unsicher und wurde der gerechten Strafe zugeführt. Ein vierter „Ismail“ trat im Ostiran (Chorasan) auf. Zwei Generäle des Schahs fielen im Kampf gegen ihn. Er wurde jedoch von seinen eigenen Anhängern umgebracht, die wohl den Betrug durchschauten. Die bisher genannten falschen Ismaile traten wohl zeitnah 1581-82 auf. Bedeutender aber war vielleicht ein späterer falscher Ismail, der mit seiner Gefolgschaft in osmanische Grenzgebiete einfiel und einen Statthalter des Sultans im Sandschak Kufi erschlug. Der türkische Gouverneur von Erzerum musste gegen ihn ausziehen. Er wurde gefangen genommen und hingerichtet. (1589)35 Monshi weiß von diesem Ismail nichts. Die Serie der falschen Ismaile erstaunt angesichts des Beinamens „der Grausame“, den sich der echte Ismail erwarb. Doch muss dieser in seiner Jugend wegen seiner anfänglichen Siege über die Osmanen sehr beliebt gewesen sein, ein Grund für seinen argwöhnischen Vater, ihn zu inhaftieren. Auch als Gefangener erwarb sich Ismail wohl noch mitleidige Sympathien. So berichtet ein venetianischer Gesandter 1571. In einigen persischen Quellen wird Ismail als dem Volk gegenüber gerechter Herrscher und gelehrter Astronom und Dichter gepriesen. Das negative Urteil über ihn wurde wohl von den Hofhistoriographen seiner Nachfolger geprägt, die ihn auch sunnitischer Neigungen verdächtigten.36

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Monshi, Band 1, S. 404 (aus dem Englischen übersetzt von Verf.), zu den weiteren falschen Prätendenten ebenda S. 404-405, Hinz S. 97 führt nur den ersten falschen Ismail auf. Sein eigentlicher Name sei Mozavvar gewesen und er habe in Kuh-e-Giluja in Luristan prächtig Hof gehalten. Hammer-Purgstall S. 195 Shoren Gholsorski, Ismail II. and Mirza Makhdun. An Interlude in Safavid History, in: International Journal of Middle East Studies 1994, S. 477-488

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Eine Schwemme falscher Safawiden-Schahs in der Reichskrise des 18. Jahrhunderts Vorbemerkung: Unter dem jüngeren Sohn Mohammed Khudabandas, Abbas I. d. Gr. der sich aus der Abhängigkeit von den Kisilbasch-Stammesführern löste, indem er ein neues Heer aus armenischen und georgischen Konvertiten, aber auch Persern, aufstellte, nahm das Safawidenreich einen neuen Aufschwung. Er verlegte die Hauptstadt aus dem nördlichen Kaswin in das zentraliranische Isfahan, das er glänzend ausgestaltete. Hof und Verwaltung wurden zusehends iranisiert. Die Regierungszeit Abbas I. (1587-1628) gilt heute als der machtpolitische, wirtschaftliche und kulturelle Höhepunkt der safawidischen Epoche. Doch schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zerbröckelte das Safawidenreich bereits wieder. Schuld daran trug u. a. die noch von Abbas eingeführte Sitte, die Söhne und präsumtiven Thronerben im Harem festzuhalten, sodass sie die Regierung ohne die geringste militärische oder administrative Ausbildung antraten, nur an ein luxuriöses Drohnendasein gewöhnt. Hinzu kam ein schleichender religiöser Prestigeverlust des Herrscherhauses. Die sich vertiefende, von den Safawiden zunächst geförderte, schiitische Volksfrömmigkeit begünstigte zunehmend radikale Korangelehrte, Vorläufer der heutigen Ayatollahs, als neue religiöse Führer, die den Heilsanspruch der Dynastie ablehnten. Die Vergabe erblicher Lehen an Militärführer und großer Liegenschaften an religiöse Stiftungen schwächte die Finanzen der Zentralregierung. Eine Verlagerung der asiatisch-europäischen Handelswege auf die Meere und nach Russland trugen zum wirtschaftlichen >iedergang bei. Schon 1708 löste sich Afghanistan aus dem Reichsverband. Der Glanz des Hofes in Isfahan verdeckte kaum noch die innere Brüchigkeit des Safawiden-Regimes. 37 1722 führte ein überraschender Vorstoß der Afghanen, die eben erst wieder Treue gelobt hatten, gegen Isfahan zum de-facto-Ende der Safawidenherrschaft. Die Hauptstadt wurde nach mehrmonatiger Belagerung überrumpelt und erbarmungslos ausgeplündert. Schah Husein (1694-1722) übergab dem Anführer der Afghanen, Mahmud, das Abzeichen seiner Herrscherwürde, einen edelsteingeschmückten Turban mit Reiherfeder. Dafür wurde er mit milder Haft belohnt. Freilich gelang es den Afghanen nie, ganz Iran zu gewinnen. 1723 ließ sich ein Sohn Huseins, Tahmasp II., in der alten Hauptstadt Kasvin zum Schah proklamieren. Osmanen, Russen und Usbeken fielen ins Reich ein. Die Aspirationen einer ganzen Anzahl weiterer, echter oder falscher Thronbewerber stürzte das Land vollends ins Chaos. Der Afghane Mahmud schritt zu immer grausameren Maßnahmen, um seine Herrschaft zu erhalten. Er 37

Zur Geschichte Irans unter den Safawiden allgemein: Roemer in Cambridge History of Iran, dort zur Krise des 18. Jhd. insbesondere S. 324-30

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ließ schließlich, provoziert durch das Auftreten der Prätendenten, nicht weniger als 39 Safawidenprinzen in Isfahan töten. Verschont wurde zunächst nur der ExSchah Husein. Mahmud verfiel zuletzt in terroristischen Verfolgungswahn. Wahrscheinlich wurde er 1725 von seinem Neffen Aschraf beseitigt. Aber auch dieser konnte sich nicht gegen einen General Tahmasps II. (dieser selbst war ein unfähiger Trinker), Nadir Khan, halten, der 1729 Isfahan zurück eroberte. Vor ihrem Abzug töteten die Afghanen allerdings noch den alten Ex-Schah Husein. Nadir Khan ersetzte 1732 den schon lange nur als Schattenherrscher geduldeten Tahmasp II. durch dessen unmündiges Söhnchen Abbas III. 1736 bestieg Nadir, inzwischen wie auch sein Sohn Reza mit einer Safawidin verheiratet, selbst den Thron. Auf die falsche Nachricht, Nadir sei bei einem Raubzug nach Indien gefallen, ließ Reza die ihm anvertrauten ehemaligen Scheinherrscher, Vater und Sohn, 1740 töten. 1747 wurde Nadir selbst ermordet. Thronfolgekämpfe unter seinen Erben, die wie Nadir selbst sunnitische Tendenzen zeigten, begünstigten den Versuch schiitischer Kreise, die Safawidendynastie zu restaurieren. Der Sohn des Hüters der heiligen Stätten in Mesched, durch seine Mutter ein Enkel Schah Solimans I. (1666-94), wurde als Soliman II. proklamiert. Er hielt sich nur kurze Zeit um die Jahreswende 1749-50. Er fiel in die Hände seiner Gegner, wurde geblendet und starb 1763. Der Stamm der Bachtiaren aus Westiran hatte in all diesen Wirren die Gelegenheit benutzt, Isfahan zu besetzen und dort einen Tochtersohn des letzten wirklichen Safawidenherrschers Husein auf den Thron erhoben. Er nannte sich Ismail III. (1750). Er diente erst den Bachtiaren, dann dem General Karim Khan Zand, darauf den turkmenischen Kadjaren, zuletzt wieder Karim Khan als Aushängeschild. Zand, der nach und nach den größten Teil des Irans kontrollierte (1750-79), beklagte sich über die Undankbarkeit Ismails, internierte ihn in Abada zwischen Schiras und Isfahan und begnügte sich selbst mit dem Titel eines „Vizekönigs des Volkes.“, nachdem er eine Zeit lang als Vizekönig Ismails amtiert hatte. Der in Vergessenheit geratene Ismail starb 1773. Neben den genannten Machthabern und ihren Scheinherrschern, die seit 1722 mehr oder weniger erfolgreich um die Nachfolge der Safawiden kämpften, traten wie erwähnt zahlreiche falsche Prätendenten in den Ring, die sich als Abkömmlinge der alten Dynastie ausgaben. Zur Zeit der Afghanen (1722-29) sollen es 18, unter Nadir nochmals 12 gewesen sein. Bei den Historikern Gadebusch (als Übersetzer des persischen Historikers Mahdi Han Astarabadi, der Nadir Khan nahe stand) und in jüngerer Zeit Perry, die sich ausführlicher mit dieser Epoche der persischen Geschichte beschäftigten, werden jedoch nur 9-10 namentlich genannt.38 1724 trat bei den Bachtiaren ein vorgeblicher Sohn Schah Huseins, Safi Mirza, auf, in Begleitung einer Dame aus Isfahan, die als seine Schwester seine 38

Zu den Prätendenten 1724-32 Gadebusch S. 19-25 und Perry S. 59-62

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Echtheit bezeugte. Der wirkliche Prinz Safi kam allerdings bei dem Safawidenmassaker der Afghanen ums Leben. Der falsche Safi, sein wahrer Name soll Abul Massum gewesen sein, trug das herrscherliche Zeichen der Reihenfeder bescheiden nur links und ließ auch neben seinem Namen den Namen des echten Safawiden Tahmasps II. in das Freitagsgebet aufnehmen. Mit seinen Bachtiaren entriss er den ins Reich eingedrungenen Osmanen Hamadan. Er ernannte selbstherrlich Statthalter. Durch einen Brief Tahmasps und Nadirs entlarvt und verurteilt, wurde er 1727 von seinem Barbier im Bad getötet. (Perry verteilt die Geschichte dieses falschen Safi auf zwei unterschiedliche Kandidaten.) Ein zweiter oder dritter Pseudo-Prinz Safi, in Wahrheit der Derwisch Mohammed Ali Rafsinjani (Ressegiani), machte sich 1729 in Schuster bemerkbar. Er soll dem echten Prinzen stark geähnelt haben. Er flüchtete sich später zu den Osmanen und hielt sich in Bagdad, Istanbul, Thessalonike und auf der Insel Lemnos auf. 1744 versuchten ihn die Osmanen nochmals gegen Nadir Schah auszuspielen. Bei Täbris geriet er 1747 in die Hände des Nadir-Neffen Adil Schah und wurde hingerichtet. Im Gefolge der Afghanen war inzwischen ein Bettelderwisch und Gauner, Sayid Husein (oder Hassan) nach Isfahan gelangt, der als vorgeblicher Bruder Schah Huseins, Abbas Mirza, auftrat. Er sammelte allerlei Pöbel um sich, verschwand aber „ wie eine Blase auf der Oberfläche des Wassers“39. Nach Perry wurde er von den Afghanen beseitigt. 1723 gab sich in Bender ein wortgewandter Kaufmann, Schahzade Muhammed Kharsavai, als einen Bruder oder Sohn Schah Huseins aus. Er gewann Gefolgschaft unter Arabern und in Belutschistan, siegte dort über den rivalisierenden Prätendenten Sayid Ahmed Mirza Daud, durch seine Mutter ein echter Enkel Schah Solimans I., wurde aber von den Afghanen geschlagen und floh nach Indien. Seine Flucht auf einem Esel trug ihm den Spottnamen „der Eselsritter“ ein. Als Prinz Ismail, einen Bruder Tahmasps II. sollen sich drei Hochstapler ausgegeben haben. Näheres wird nur von einem gewissen Zainal (Zenil) berichtet, der in Nordiran unter dem Namen Ismail Schah bewaffnete Banden um sich sammelte, mit 5000 Mann in Richtung Ardabil in Aserbeidschan marschierte, dort demonstrativ am Grab Safis, des frommen Begründers der SafawidenDynastie betete, in osmanische Dienste getretene Kisilbasch an sich zog und zuletzt eine Armee von nicht weniger als 12 000 um sich scharte. Er wurde dann jedoch von den Osmanen und Kisilbasch-Verbündeten der ebenfalls ins Reich eingerückten Russen in die Enge getrieben. Auf russisches Anstiften wurde er von seinen eigenen Leuten erschlagen. Im von Nadir Khan 1729 eroberten Isfahan tauchte ein weiterer falscher Ismail auf, der von Tahmasp II. zunächst anerkannt, dann aber beseitigt wurde (1732). 39

Gadebusch S. 23

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Auch unter der Regierung Nadir Khans (Schahs) und seiner Nachfolger riss die Serie der falschen Safawiden nicht ab. Ein Abenteurer, der sich Prinz Sam nannte und ein Sohn Schah Huseins sein wollte40, sorgte 1743 in der Gegend von Ardabil für Unruhen. Ein Neffe Nadirs nahm in gefangen. Ihm wurde die Nase abgeschnitten, doch entkam er nach Dagestan, gewann dort neuen Anhang und kehrte nach Aserbeidschan zurück. Nadir selbst zog jetzt gegen ihn. Sam floh nach Georgien, wurde aber an Nadir ausgeliefert, der ihm ein Auge ausriss. Der so grausam Verstümmelte wurde, als „Bruder Safis“ angekündigt, an den türkischen Gouverneur von Kars übersandt. Die Osmanen waren gerade damit beschäftigt, ihren oben erwähnten Pseudo-Prinzen Safi noch einmal gegen Nadir zu lancieren. 1752 versuchten die Osmanen von Bagdad aus, unterstützt von einem im Exil lebenden ehemaligen Würdenträger Nadirs, einen angeblichen Sohn Tahmasps II. als Schah Husein II.41. zu etablieren. Dieser Husein war, so hieß es, als Kleinkind aus dem Safawiden-Massaker der Afghanen gerettet und nach Georgien, später nach Russland verbracht worden. Dort habe ihm die Kaiserin selbst seine edle Herkunft, der er sich nicht bewusst war, eröffnet. Jetzt gewannen die Osmanen einige Bachtiaren- und Lurenstämme für ihn. In Kermanshah, das für ihn erobert wurde, konnte sich Husein jedoch nicht halten. Auf der Flucht vor den Truppen Karim Khan Zands wurde er von seinen eigenen Anhängern verstoßen und geblendet. Nachforschungen hatten ergeben, dass es sich bei ihm um den Sohn einer Armenierin und eines Adhari-Türken aus Aserbeidschan handelte. Er selbst hatte wohl an seiner vornehmen Herkunft, die im seine Hintermänner einredeten, gezweifelt und sich als „unpassend“ bezeichnet. Der Blinde verbrachte den Rest seines Lebens als Einsiedler an den heiligen Stätten der Shiiten im Irak. Er soll um 1775 gestorben sein. Soweit die Geschichte der Pseudo- Safawiden nach Gadebusch und Perry. Die übrigen etwa zwanzig falschen Thronbewerber im Iran des 18. Jahrhunderts werden bei diesen Autoren nur summarisch erwähnt. (Die erstaunlich hohe Anzahl ist der zeitgenössischen Autobiographie des Scheikh Muhammed Ali Hazim (1692-1766) entnommen.) Sie waren wohl politisch nicht weiter bedeutend, wie etwa der Schwindler und Erbschleicher Hasan Sabzawari.42Er stellte sich den Behörden im irakischen Kerbela, einem Wallfahrtsort der Schiiten, als ein Sohn Tahmasps II. vor. Er erhob als Neffe Ansprüche auf das dort verwahrte Erbe der Witwe Nadir Shahs, einer Tochter Schah Huseins und Schwester Tahmasps II. Tatsächlich wurden ihm einige Juwelen überlassen.

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Gadebusch S. 376 ff., S. 383, Gadebusch erwähnt S. 358-59 für 1742 noch die kurze Rebellion eines namentlich ungenannten Derwischs bei Balch mit Hilfe der Usbeken. Er gab sich für einen „Imam“ aus, Perry S. 62 Perry S. 63 Perry S. 64

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Das gehäufte Auftreten falscher Safawiden beweist, so Perry, die erstaunlich starke Verwurzelung des dynastischen Mythos der safawidischen Ordensund Staatsgründer in der iranischen Volksphantasie.43 Ein Beleg dafür sind auch die Restaurationsversuche um 1750 und noch mehr der Versuch Nadir Schahs, verwandtschaftliche Bande mit den Safawiden herzustellen. Er und sein Sohn Reza heirateten Safawidenprinzessinnen. Sein Enkel und Rezas Sohn Schah Rock (Scharuk) war durch seine Mutter Fatima Begum auch ein Enkel des Safawidenschahs Husein. Er hielt sich, 1760 aus dem eigentlichen Iran verdrängt und geblendet, als nomineller Herrscher in Chorasan, im heutigen Turkmenistan und Usbekistan, bis 1796. In diesem Jahr wurde er von den neuen kadjarischen Machthabern im Iran zu Tode gemartert.

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Perry S. 61

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XIX. Fernöstliche Geheimnisse: China Vorbemerkung: Die weit über zweitausend Jahre währende Geschichte des chinesischen Kaisertums kannte zahlreiche Dynastienwechsel. Diese Wechsel unterschieden sich von ähnlichen Ereignissen in Europa. Während die europäischen Throne oft über viele Jahrhunderte hinweg aufgrund der herrschenden Geblütsideologie bei einer Abstammungslinie verblieben, und selbst beim Absterben oder Sturz einer Herrscherfamilie doch meist deren nächste Blutsverwandte in der Herrschaft folgten, gab es in China eine solche, die einzelne Dynastie übergreifende, Kontinuität nicht. Zwischen den sich ablösenden Dynastien gab es keinen genealogischen Zusammenhang. Dies hing mit der chinesischen Auffassung von Herrschaftslegitimität zusammen. >ach ihr verlieh der Himmel zwar nicht einzelnen Individuen, sondern auserkorenen Sippen zunächst einen Herrschaftsauftrag, das Mandat des Himmels. Der Himmel konnte jedoch dieses Mandat seinen Günstlingen auch wieder entziehen. Anzeichen dafür waren >aturkatastrophen, Hungersnöte, Seuchen. Aufstände und militärische >iederlagen. In solchen Krisen konnte jeder durchsetzungsfähige Aspirant, gleichgültig aus welchem Stand er war, mit der Ausrufung einer neuen Dynastie für sich und seine Sippe das erneuerte Mandat des Himmels reklamieren. Im Grunde entschied also der tatsächliche Erfolg bei der Wiederherstellung erträglicher Verhältnisse in Krisenzeiten über die Legitimation einer neuen Herrscherfamilie. Ein Emporkömmling, der in Katastrophensituationen nach der Macht griff, brauchte sich also keineswegs als Abkömmling der alten Dynastie auszugeben. Dies konnte dem Träger des neuen Himmelsmandats und Heilsversprechens sogar abträglich sein. Im Gegensatz zu Europa war das Phänomen falscher Thronprätendenten in China deshalb eher selten. Und doch blieb auch China nicht gänzlich verschont. Am Ende der MingDynastie (1368-1644/62) traten falsche Thronanwärter mit dem Anspruch auf, Ming-Prinzen zu sein. Dies mochte damit zusammenhängen, dass die ablösende Qing (Ching)-oder Mandschudynastie aus der Fremde, der Mandschurei, und dem Volk der Dschurden oder Tungusen stammte. Es blieb für viele Chinesen dann doch fragwürdig, ob das Mandat des Himmels auch Nichtchinesen und Barbaren zuteil werden konnte. Man klammerte sich noch nahezu zwanzig Jahre an echte und eben auch vermeintliche Angehörige der einheimischen Herrscherfamilie, obwohl diese ganz offensichtlich das Mandat des Himmels verloren hatte.

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Ein (achkomme der Sung-Kaiser? Schon gegen die mongolische Fremddynastie Yüan (1280-1368), Nachkommen des Dschingis Khan, war die Berufung auf die voraufgehende „nationalchinesische“ Sung-Dynastie (960-1279) von einem wahrscheinlich unechten SungAbkömmling ausgespielt worden. Die gegen die Mongolenherrschaft rebellierenden „Roten Turbane“ führten seit 1341 den ominösen Sung-Prinzen Han Lin-erh mit sich.1 Dieser „Prinz des strahlenden Glanzes“ galt als ein Nachkomme des vorletzten Kaisers der nördlichen Sung-Dynastie in zehnter Generation. Da er in vierter Generation auch von dem Begründer der buddistisch-manichäischen Sekte der „Weißen Lotus“ abstammte und damit auch als Buddha-Inkarnation angesehen wurde, brachte er den „Roten Turbanen“ weiteren Zulauf. Am 16. 3. 1355 wurde er als Lung-feng („Drachenphönix“) zum Kaiser proklamiert. 1358-59 residierte er in Kaifeng. 1359 zerschlugen die Mongolen die Bewegung der „Roten Turbane“. Han zog sich mit seinen Beschützern nach An-feng zurück. 1363 geriet er dort in die Hände eines konkurrierenden Rebellenführers, aus denen ihn Chu Yüanschang, der spätere Gründer der Ming-Dynastie rettete, der sich nominell den „Roten Turbanen“ angeschlossen hatte. Han verlieh ihm den Titel eines Herzogs von Wu. Chu wies ihm Ch’u chou unweit seines eigenen Hauptquartiers Nanking als Aufenthalt zu und datierte formell nach der Lung-feng-Ära. Januar 1367 rief er Han Lin-erh zu sich. Auf der Reise nach Nanking kippte das Boot des angeblichen Sung-Kaisers auf dem Jang-tse-kiang. Er ertrank. Hatte Chu ihn ermorden lassen? Wahrscheinlich war er stets nur ein Aushängeschild für die wirklichen Rebellenführer gewesen.2 Ein untergetauchte Kaiser: Jianwen ? Der Rebell Chu Yüanschang, der Herkunft nach der Sohn einer armen Bauernfamilie, proklamierte sich 1368 mit der Herrscherdevise Hongwu zum ersten Kaiser der Ming-Dynastie („der Glänzenden“ 1368-1644/62). Später wurde er als Tai-tsu kanonisiert. Er vertrieb die Mongolen. Die ersten Herrscher der neuen Nationaldynastie führten China in eine Ära wirtschaftlicher Blüte und Machtentfaltung. Trotz dieser langen Zeit stabiler Verhältnisse kam es im Verlauf innerdynastischer Konflikte schon früh zum Auftritt eines falschen Ming.

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Zu ihm: Cambridge History of China Band 7 S. 31, 40-56 Entsprechend herabsetzend behandelt ihn O. Franke: der Anführer der „Roten Turbane“, Liu Fu-t’ung „nimmt Han-lin-ör unter die Arme“ (S. 536) , „der hilflose Kaiser blieb in der Stadt zurück. Das Ansehen des „Kaisers“ wurde dadurch vollkommen erschüttert.“ (S. 540)- nach einer Niederlage der Roten Turbane in Ngan-feng 1362. Franke lässt Han-lin-ör 1365 sterben.

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Der Dynastiegründer Tai-tsu bestimmte seinen Enkel Jianwen zum Nachfolger (1398). Der junge Kaiser versuchte, seine allzu mächtigen Oheime aus den Fürstentümern zu verdrängen, die ihnen sein Großvater verliehen hatte. Sie rebellierten dagegen. Einer von ihnen marschierte 1402 gegen die Residenz Jianwens in Nanking. Der überraschte, wehrlose Herrscher setzte den Kaiserpalast in Brand. Er und seine Familie kamen darin ums Leben. Der siegreiche Oheim, jetzt Kaiser unter der Devise Yongle (Tempelnamen: Chengzu und Taizong), ließ eine verkohlte Leiche als die seines Neffen beerdigen. Gerüchte wollten freilich wissen, der unglückliche Jianwen sei aus dem brennenden Palast entkommen. Als buddhistischer Mönch soll er durch das Reich geirrt sein. Tatsächlich wurde 1441 ein neunzigjähriger Wandermönch aufgegriffen, in dem das Volk den gestürzten Herrscher zu erkennen glaubte. Der zu dieser Zeit regierende Kaiser Tscheng-tung (kanonisiert als Ying-tsung) ließ ihn im Verborgenen weiterleben. Der Mönch starb aber schon 1442.3 Nach einem anderen Bericht wurde der seltsame Mönch, etwa 90 Jahre alt, doch an den Pranger gestellt und hingerichtet4. In der Volksphantasie rankten sich später viele Legenden um diese Gestalt und Kaiser Jianwen wurde zu einem potentiellen Volksbeglücker und frommen Wundertäter in der Stille stilisiert. Spätere Rebellen gaben sich für seine Nachkommen aus. Die falschen Ming Die Gründe für den Verfall des Ming-Reiches um 1600 sind zu vielfältig, um hier erörtert zu werden. Unter Kaiser Chongzhen (Tschung-schen, Tempelname Sizong, 1627-44), der sich vergebens gegen diese Entwicklung stemmte, verfiel der Staat in pure Anarchie. Der Anführer eines Bauernaufstandes, Li Tzu-ch’eng, zog kampflos in die jetzige Hauptstadt Peking ein. In dem von allen Höflingen verlassenen Kaiserpalast erzwang Chongzhen den Selbstmord seiner Angehörigen, betrank sich in einem Park-Pavillon und erhängte sich an einem Pflaumenbaum auf dem Kohlehügel beim Palast (24. April 1644). Deutlicher konnte er den Verlust des himmlischen Herrschaftsmandats seiner Dynastie nicht unterstreichen. Li Tzu-ch’eng proklamierte eine neue Dynastie, konnte sich aber nicht in Peking halten. Ein Ming-General, der an der Großen Mauer an der Grenze zur Mandschurei kommandierte, rief die Mandschus zu Hilfe und vertrieb den Bauernkaiser. Wahrscheinlich wurde Li später von seinen enttäuschten Anhängern erschlagen. Der Ming-General Wu San-kuei mochte selbst nach dem Thron geschielt haben, aber er wurde nun die Geister, die er gerufen hatte, nicht mehr los.

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Gottschalk S. 194 Zu Jianwen (Chien Wen) und seinem Wiedergänger und seinem Nachleben Cambridge History of China, Bd. 7, S. 201-205

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Die siegreichen Mandschus proklamierten einen ihrer eigenen Prinzen zum ersten Kaiser der Dynastie Q’ing (Ch’ing, „die Reine“ oder „Klare“). Sie regierte bis 1912. In der alten Hauptstadt Nanking, am Grabe des ersten Ming-Kaisers Tai-tsu, sammelten sich derweil die Überbleibsel des Hofes und des Militärs der Ming. Man einigte sich darauf, den Fürsten von Fu, Sprössling einer Seitenlinie der alten Dynastie, unter der Devise Hung-kuang (Tempelname Shenzong) feierlich zu inthronisieren (19. Juni 1644). Der neue Kaiser blieb ein Spielball von untereinander verfeindeten Hof-und Militärcliquen. Er zog sich in das Wohlleben einer trotz leerer Kassen verschwenderischen Hofhaltung zurück. Gegen diesen Schattenkaiser glaubte ein in der Gegend von Nanking herumwandernder Mönch namens Ta-pei auftreten zu können.5 Er gab sich zuerst für den aus Peking entkommenen Kaiser Chongzhen selbst aus, später nahm er den Namen verschiedener Ming-Prinzen an. Er wies sich durch intime Kenntnisse von Palastgeheimnissen aus, auch über das wenig erbauliche Vorleben Hungkuangs wusste er Bescheid. Man wollte ihn anfänglich als bloßen Narren abtun, aber einige Berater Hung-kuangs witterten eine Verschwörung des ehrgeizigen Fürsten von Lu, eines Verwandten Hung-kuangs, hinter der Affäre. Der Mönch wurde am 27. März 1645 hingerichtet. In Nordchina machte derweilen um die Jahreswende 1644-45 ein junger Mann von sich reden, der für den Kronprinzen Chongzhens gehalten werden wollte. Die Mandschus ließen ihn hinrichten. Vielen galt das als Beweis seiner Echtheit. Das Gerücht, der Kronprinz habe sich aus Peking gerettet, wollte nicht verstummen. Ende März 1645 tauchte in Chekiang ein Prätendent auf, der sich als den Kronprinzen zu erkennen gab. Er wollte als Handwerker verkleidet aus der verbotenen Stadt entkommen sein. Es handelte sich, so wurde später ermittelt, um Wang Chih-ming, ein Mitglied der persönlichen Leibgarde des echten Kronprinzen. Der junge Herr beeindruckte durch sein Auftreten und seine Vertrautheit mit allen Hofinterna. Man hielt ihn nicht für unglaubwürdig und lud ihn nach Nanking ein. Aus Peking entflohene Palasteunuchen bezeugten dort seine Echtheit. Hung-kuang selbst geriet ins Schwanken. Aber dann bestand Wang eine letzte Prüfung nicht. Er erkannte nur einen der Erzieher des Kronprinzen, als diese ihm vorgeführt wurden. Der so Entlarvte wurde ins Gefängnis geworfen. Volksaufläufe für seine Freilassung ließen es angeraten scheinen, seine Hinrichtung zu verschieben. Auch erklärten sich einige Truppenabteilungen trotz allem für ihn. Inzwischen näherten sich die Mandschu Nanking. Hung-kuang floh aus der Stadt. Wang wurde aus dem Gefängnis befreit und auf den Thron gesetzt, umgeben von einem allerdings etwas dürftigem Hofstaat. Freilich ergab sich Nanking 5

Cambridge History of China Bd. 7 S. 653, ebd. S. 653-60 zu den weiteren falschen Prätendenten

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schon im Juni 1645 kampflos den Mandschus. Wang, aber auch Hung-Kuang, der von seinen eigenen Leuten in Wu-han ausgeliefert wurde, fielen in ihre Hände. Die Mandschus demütigten beide auf einem ihrer Siegesbankette. Sie wurden nach Peking verbracht. Der Jesuit Martin Martini, Augenzeuge der Ereignisse in Nanking, berichtet, Huang-Kuang und sein Rivale seien noch 1645 mit Bogensehnen erdrosselt worden.6 Anderswo wird behauptet, Hung-kuang zumindest sei erst 1648 verstorben. Die Kämpfe der Mandschus mit den restlichen Anhängern der Ming in Südchina zogen sich noch jahrelang hin. Es wurden noch weitere Ming-Kaiser ausgerufen, doch waren dies alles echte Prinzen. Der letzte von ihnen, nach Burma geflohen, wurde 1662 den Mandschus übergeben und hingerichtet. Die Geschichte der falschen Ming-Prätendenten ist in Europa schon früh durch die Berichte der Jesuiten-Missionare bekannt geworden. Rocoles griff sie 1683 in seinem Sammelwerk über berühmte Betrüger auf. 7 Es wäre interessant, die Geschichte anderer asiatischer Reiche unter diesem Aspekt zu durchforsten. In Thailand wurde z.B. im Juni 1690 der falsche Prinz Tam Tian hingerichtet. Die Bewohner des Dorfes, in dem er aufgegriffen wurde, flüchteten aus Furcht vor kollektiver Bestrafung in den Dschungel.8 In Bengalen, dem heutigen Bangla Desh trat 1921 ein aschebedeckter Asket mit der Behauptung auf, der 1909 in Darjeeling verschwundene Kumar (Fürst) von Bhawal zu sein. Der Kumar Ramendra Narayan Roy, ein junger Lebemann und Herr über ein Gebiet von 1500 qkm mit 500 000 Einwohnern, war während eines Kuraufenthalts in Darjeeling verstorben und sofort eingeäschert worden. Während der Verbrennungszeremonie ging ein Hagelschauer nieder, und danach war die Leiche nicht mehr auffindbar gewesen, wie einige spätere Zeugen beeideten. Der Asket gab jahrelangen Gedächtnisverlust vor. In langwierigen Sensationsprozessen bestätigten ihm die Gerichte seine Identität. Die letzte Entscheidung erging 1946, aber der „Kumar“ fiel zur selben Zeit einem Schlaganfall zum Opfer. Seine „Witwe“, die ihn stets verleugnet hatte, wertete das als einen Gottesbeweis für seine Falschheit.9Sicher ließen sich noch andere Fälle auffinden.

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Martin Martini S. 104 und 111 Rocoles (ed. Pauli) S. 449-70, Rocoles gibt Wang Chih ming den Namen „Nanking.“ Ein Hinweis auf diesen Fall in dem Reiseführer Cockatoo Handbuch Band 1, Thailand, Manila 1994 S. 140-41 Wikipedia-Artikel The Bhawal Case, dort auch der Literaturhinweis auf: Partha Chatterjee, A Princely Impostor? The Strange and Universal History of the Kumar of Bhawal, Princeton 2002.

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XX. Peru: Die Wiederkehr der Inka Vorbemerkung: Der spanische Konquistador Francisco Pizarro, der 1532/33 das größte Indio-Reich im heutigen Lateinamerika, das Reich der peruanischen Inka-Herrscher, in einem kühnen Handstreich unterworfen und den letzten wirklich herrschenden Inka Atahualpa hinrichten lassen hatte, hielt es für nützlich, zunächst Inka-Schattenherrscher einzusetzen. Er wollte über diese Marionetten die spanische Herrschaft bei den unterworfenen Indios legitimieren. Doch schon 1537 entzog sich einer dieser Scheinfürsten, Manco Capac II., den Spaniern. In der Gegend von Vilcabamba (130 km westlich von Cuzco,- nicht zu verwechseln mit Vilcabamba in Ekuador, der Stadt der Langlebigen) gründete er einen unabhängigen Staat. Dieses kleine >eu-Inka-Reich wurde erst 1572 durch Verrat unterworfen, sein letzter Herrscher, Tupac Amaru, hingerichtet. Im Übrigen hofierten die Spanier zeitweise andere Abkömmlinge der InkaDynastie. Sie wurden in spanische Adelsregister aufgenommen, erhielten entsprechende Privilegien und heirateten in prominente spanische Familien wie die Loyolas und Borgias ein. Für die >achkommen des Inka-Adels wurden besondere Schulen eingerichtet. Aus ihren Reihen wurden bevorzugt die Kaziken (Curakas), d.h. die Häuptlinge der Indio-Gemeinden genommen. Unter der Kontrolle spanischer „Corregidores“ („Landrichter“, d. h. Gebietsstatthalter in den Landgebieten) walteten sie als Richter, Steuereintreiber und Rekrutierer für die von den Indios zu leistende Zwangsarbeit (der „Mita“) über die Dörfer der Indios. An Festtagen zeigten sie sich gerne in den alten Inka-Trachten. Auf diese Weise blieb das Andenken an die frühere Inka-Herrlichkeit erhalten. Im jesuitischen Collegio Francisco Borja (Borgia) zu Cuzco, einer Schule, an der viele dieser privilegierten Indios hispanisiert wurden, sah man in einer Gemäldegalerie die Porträts der Inka-Herrscher, das Bild des letzten Inka Tupac Amaru (in Ketschua: „Erhabene Schlange“) sogar im Refektorium, obwohl er als Rebell zu gelten hatte. Ein Inka->achkomme mütterlicherseits Garcilaso de La Vega verherrlichte in seinem 1609 erschienen Werk seine Inka- Vorfahren1. Eine >euauflage 1722 erfreute sich großer Beliebtheit. Dies alles trug dazu bei, in Kreisen der peruanischen Kolonialgesellschaft, die mit der Regierung der stets aus dem spanischen Mutterland entsandten Vizekönige und ihres von dort mitgebrachten landfremden Anhangs unzufrieden waren – darunter auch die in Peru schon lange ansässigen spanischstämmigen Familien (die „Kreolen“) und die Mestizen (Mischlinge von Indios mit Spaniern) – eine diffuse Sehnsucht nach der Wiederkehr eines Inka-Erlösers, des „Incarri“, zu verbreiten.

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Garcilaso de la Vega, genannt El Inca, Comentarios Reales, que tratan del Origen de los Incas, 1. Teil zuerst Lissabon 1609

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Juan Santos oder Atahualpa II.2 Der erste dieser „Incarris“ trat jedoch merkwürdigerweise nicht in den Kernländern des alten Inka-Reiches auf, sondern in der „Selva“, d.h. den tropischen Waldgebieten am Ostabhang der peruanischen Anden in den Quellgebieten des Amazonas. Die dort lebenden Indiostämme (vor allem der Campasstamm der Ashaninka, verächtlich „Chunchos“genannt) hatten seinerzeit allenfalls nur in lockeren Verbindungen zum Inkareich gestanden. Der falsche Inka, der hier im Mai 1742 auftauchte, stammte jedoch selbst aus der alten Inkahauptstadt Cuzco (oder aus Cajamarca, wo Atahualpa von Pizarro gefangen genommen wurde?). Es handelte sich um den Ketschua-Indio oder Mestizen Juan Santos, einen Jesuitenzögling, geboren um 1710. Er soll später behauptet haben, mit einem seiner jesuitischen Lehrmeister nach Spanien, Angola und vielleicht nach England gereist zu sein. Jedenfalls war er schreibund lesekundig und vermochte das Credo in Latein aufzusagen. 1745 gaben einige obskuren Zeugen bei den spanischen Behörden an, sie hätten durch Hörensagen erfahren, Juan Santos sei in die „Selva“ geflohen, weil er einen seiner Jesuitenoberen erschlagen habe. Jedoch fanden sich in den Jesuitenarchiven zu Cuzco keinerlei Hinweise auf einen solchen Vorfall. Aus welchen Gründen auch immer Juan Santos sich in die Selva begab, er machte sich dort die Unzufriedenheit der Ashaninkas, deren Sprache er beherrschte (war er als Jesuiten-Missionar ausgebildet worden?), mit den in ihrem Gebiet tätigen Franziskaner-Missionaren zunutze. Die Franziskaner hatten die Indios zur Ansiedlung in ihren Missionsstationen überredet oder auch gezwungen. Sie hatten in diesen „Reduktionen“ strenge Strafen gegen die übliche Polygamie, den Koka-Genuss und die heidnischen Tänze der Indios verhängt und sogar angesehene Kaziken auspeitschen lassen. Schon 1737 war es deshalb zu einem Aufstandsversuch gekommen. Jetzt gewann Juan Santos das Vertrauen des Kaziken Santabangori. Mit dessen Leuten, etwa 500 Mann, überwältigte und zerstörte er eine Reihe von Missionsstationen. 50 Franziskaner wurden getötet, 25 Ortschaften in den Bezirken Jauja und Tarma eingenommen. Bei diesen Kämpfen fiel im November 1742 Santabangori, worauf wohl Juan Santos die alleinige Führung des Aufstandes übernahm. Er errichtete sein Hauptquartier in Quisopanga oder Cerro de la Sal (Salzberg). Zulauf aus benachbarten Indio-Stämmen vergrößerte seine Kampfmannschaften. In einem Brief an den Vizekönig in Lima gab sich Juan Santos nun als Inka Apu („Herr Inka“) Atahualpa (II.) zu erkennen. Er nannte den ersten Atahualpa seinen Vater oder Vorfahren, dem die Spanier widerrechtlich den Thron geraubt 2

Zu ihm vor allen Varese S. 86-107, S. 120, Lienhard S. 51-70 mit Quellen und Literaturangaben, Cambridge History of the Native Peoples of the Americas Vol. III Part II S. 221, 459-60, 503, 521-25

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hätten. Aber die Zeit der Spanier sei nun abgelaufen. Er fordere sein Reich zurück. Peru gehöre den Indios, den Mestizen und den von den Spaniern eingeschleppten schwarzen Sklaven. Die Spanier und ihre Abkömmlinge hätten das Land zu verlassen. (Über die Stellung Juan Santos- Atahualpas zu den Schwarzen wird widersprüchlich berichtet. Er hatte Schwarze unter seinem Gefolge, andrerseits wird behauptet, er wollte die Schwarzen ausrotten. Da die Franziskaner oft Schwarze als Aufseher in ihren Reduktionen eingesetzt hatten, mag sich die Drohung Atahualpas gegen diese besondere Gruppe gerichtet haben.) Seine Anhänger faszinierte der „Unbesiegbare“ allein schon durch seine Schreib-und Lesekünste. Er gewann ihre Herzen, indem er ihnen trotz seines asketischen eigenen Lebenswandels ihre traditionellen Tänze und den KokaGenuss erlaubte. (Über den Koka-Handel soll er sich auch Feuerwaffen beschafft haben). Aber auch allein schon sein Äußeres beeindruckte die Indios. Von hohem Wuchs, heller Hautfarbe, mit angenehmen Gesichtszügen mit etwas breiter Nase, die Haare nach Inkaart in die Stirn gekämmt, in eine rote Tunika gehüllt, die Inka-Insignien in der Hand. bot er einen recht herrscherlichen Anblick. So berichtete ein spanischer Geistlicher, Pater Caicedo, der sich als Unterhändler 1742 in sein Lager wagte. Mit diesem Geistlichen führte Santos-Atahualpa auch ein Religionsgespräch. Danach wollte er dem Christentum treu bleiben, aber nur mit jesuitischen Missionaren zusammenarbeiten. Er besaß ein silbernes Kruzifix, das er stolz vorwies. Nach anderen Berichten waren seine religiösen Vorstellungen etwas weniger rechtgläubig. So wollte er alle Schweine als unrein ausrotten – eine eher jüdische Auffassung. Er soll sich selbst als Sohn Gottes und Sohn einer Jungfrauengottheit der Indios ausgegeben haben, oder als Verkörperung des Hl. Geistes. Seine Gefolgschaft glaubte, er könne Erdbeben erzeugen, die Sonne in ihrem Lauf aufhalten und Gold machen. Die Welt gehörte nach seiner Lehre rechtmäßig drei Königen: dem von Spanien, dem von Angola und ihm. Er meinte damit wohl die Aufteilung der Menschheit unter die weiße, schwarze und rote Rasse, die ihre Königreiche, d.h. Lebensräume, gegenseitig respektieren sollten. Anscheinend gefiel sich Juan Santos Atahualpa über sein Inkatum hinaus in der Rolle eines Propheten oder neuen Messias. Natürlich versuchten die Spanier, den falschen Inka auszuheben. Schon 1742 machte sich der Gebietskommandeur Troncoso mit 100 Mann auf den Weg in die Selva. Er vertrieb Juan Santos aus seinem Hauptquartier, konnte ihn selbst aber nicht fassen, und nach dem Abzug Troncosos kehrte der Rebell zurück. Eine zweite Expedition Troncosos 1743, jetzt mit 200-300 Mann und mit aus Lima herangebrachten Kanonen, gewann das von Juan Santos eingenommene Fort Quimiri , verlor es aber dann wieder. Die Rebellen wichen dem offenen Kampf aus, zogen sich bei Gefahr in den Dschungel zurück und nutzten, von Spionen informiert, jede Schwäche der Spa-

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nier zu Überfällen aus. 1746 erhielt der unglückliche Troncoso (dem nichts übrig blieb, als in der Zwischenzeit in einem Tagebuch alle Nachrichten über seinen Feind zu sammeln) endlich unter dem Kommando des Marques de MenaHermosa eine kleine Armee von 1000 Mann aus Lima zur Unterstützung. Aber auch deren Feldzug scheiterte an der Guerillataktik des Gegners. Ein Teil der Indio-Hilfstruppen Troncosos lief sogar zum Feind über. Ein weiterer Angriff der Spanier 1750 blieb ebenfalls erfolglos. Jetzt beschränkte man sich darauf, eine Reihe von Beobachtungsforts am Rande des Rebellengebietes anzulegen, um eine Ausbreitung des Aufstandes ins peruanische Hochland zu verhindern. Auch dies gelang nicht ganz. Im August 1752 drang Atahualpa ins Hochland vor. Er besetzte drei Tage lang die Stadt Andamarca und ließ sich dort als Inka mit Hand-und Fußkuss huldigen. Sein Ziel, sich in Lima krönen zu lassen, erreichte er freilich nicht. Er zog in seine „Stammgebiete“ in den Selvas ab. 1756 soll er dort gestorben sein. Gerüchte wollten wissen, er sei erst 1766 in einer Rauchwolke verschwunden, oder er habe noch 1775 gelebt. Die Ashaninka verehrten ihn weiter als eine Art Messias oder Halbgott. Noch spät im 19. Jahrhundert hielten sie zu seinen Ehren Gedenkfeiern ab. Teile seiner sterblichen Überreste bewahrten sie als heilsbringende Fetische auf. Ihre Stammesgebiete wurden erst 1868 geregelter staatlicher (peruanischer) Kontrolle unterworfen und damit wieder christlicher Mission zugänglich. Tupac Amaru II3. Weit gefährlicher als das Auftreten des Santos Atahualpa war ein Aufstand, der sich in den Zentralgebieten zwischen Cuzco und La Paz des damaligen Vizekönigreiches Peru 1780-83 ausbreitete und annähernd 100 000 Menschen das Leben kostete: fast einem Zehntel der dortigen Bevölkerung. Er wurde angeführt von José Gabriel Condorcanqui, der sich für einen Nachkommen des letzten Inkas von Vilcabamba ausgab und den Namen Tupac Amaru II. annahm. Begonnen hatte der Aufsand mit der Hinrichtung des Corregidors Antonio Arriaga am 10. 11. 1780 in der Indiogemeinde Tungasuca. Der Kazike des Ortes, der erwähnte José Gabriel Condorcanqui, hatte den Landrichter eine Woche zuvor gefangen gesetzt, eine Gerichtsversammlung der Indios einberufen und das Todesurteil gefällt. Arriaga musste für Beleidigungen des Kaziken Abbitte leisten und wurde im Büßerhemd und mit Asche auf dem Haupt zum Galgen geführt. Einer seiner eigenen Sklaven, der Zambo (Afrikaner-Indio-Mischling) Antonio Oblitas, ein Schuster und späterer Koch, spielte den Henker. Der Galgen3

Zu ihm: Stavig S. 207-08, 215-262, O’Phean Gordon S. 211-72, Cambridge History of the Native Peoples of the Americas Vol. III Part 2 S. 532-52

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strick riss. Üblich war in einem solchen Fall die Begnadigung, aber Condorcanqui blieb unerbittlich. Die Hinrichtung des Corregidors war das Fanal zum allgemeinen Aufstand in der ganzen Region um den Marktflecken Tinta. Unter der Führung Condorcanquis machte man sich auf gegen die nächste größere Stadt, die alte InkaMetropole Cuzco. Am 18. November 1780 trieben die Rebellen ein gegen sie ausgesandtes Militärdetachement bei Sangararà auseinander. Flüchtende, die sich in eine Kirche gerettet hatten, wurden eingeschlossen und mit dem Gebäude verbrannt. Ähnliche Grausamkeiten markierten den weiteren Marsch nach Cuzco. Die Insurrektion breitete sich aus. Es wurden nicht weniger als 42 Unterführer ernannt. Oft stellten sich militärisch erfahrene Kreolen und sogar einige Spanier zu Verfügung. Man begann mit einer eigenen Waffenproduktion. Auch schritt man zu Zwangsrekrutierungen in den Indiogemeinden. Im Januar 1781 begann die Belagerung von Cuzco, das Condorcanqui von einem nahe gelegenen Hügel feierlich zur Kapitulation aufforderte. Unter Führung ihres Bischofs Juan Manuel Moscoso y Peralta, der sogar seine Geistlichen bewaffnete, hielt sich die Stadt, bis von Lima her, dem Regierungssitz des Vizekönigs, Entsatz geschickt wurde. Die Belagerung musste aufgehoben werden. In den wechselvollen Kämpfen der nächsten Zeit unterlag Condorcanqui einem königs- und spanientreuen Kazikenrivalen beim Ort Panapunca. Ein Versteck, in das er sich flüchtete, wurde von einer Indiofrau verraten, deren Mann er getötet hatte. Am 18. Mai 1781 wurde er in Cuzco hingerichtet. Die Gründe für den Zulauf, den Condorcanqui fand, lagen in der neuen Politik der spanischen Krone, die auf eine systematischere fiskalische und administrative Kontrolle des Vizekönigreiches zielte. Schon 1756 war die Usance des „Repartiemento“ legalisiert worden, wodurch die Indiogemeinden gezwungen wurden, den Corrigedoren bestimmte Kontingente von Importwaren aus dem Mutterland zu überhöhten Preisen abzunehmen. 1772 und 1775 wurden die allgemeinen Verkaufssteuern drastisch erhöht. 1779 wurden Steuern auf Koka und Alkohol eingeführt. Ein neu geschaffenes Vizekönigreich La Plata (Argentinien) wurde 1776 von Peru durch Zollschranken abgetrennt. Der mit der Durchführung der Reformen beauftragte Generalvisitator Juan Antonio de Areche (er amtierte 1777-82) plante, die Privilegien der Indio-Kaziken abzuschaffen. Dass er auch die Macht der Corregidoren einschränken oder deren Amt ganz abschaffen wollte und die Aufhebung des Repartiemento und der Indio-Zwangsarbeit in Erwägung zog, steigerte seine Beliebtheit bei den kreolischen und Indio-Eliten, die davon profitiert hatten, nicht unbedingt. Kurzum, der neue Kurs sorgte sowohl bei der einfachen Indio-Bevölkerung wie bei den führenden Schichten Perus für genügend Unmut. Es bedurfte nur eines charismatischen Führers, um den offenen Aufstand auszulösen. Er fand sich in Condorcanqui. Zu den allgemeinen Beschwerden traten für ihn sehr persönliche Gründe. Geboren 1738 (1743?) war er zu einem sehr wohl-

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habenden Transportunternehmer mit 350 Maultieren in seinen Stallungen aufgestiegen. Er war am Collegio Borja in Cuzco und an der Universität von Lima ausgebildet. Auch wurde er zum Kaziken von gleich drei Indiogemeinden. Dieser selbstbewusste, durch sein Unternehmen weit bekannte Mann war jedoch vielfachen Kränkungen ausgesetzt gewesen. Man hatte versucht, ihm seine Kazikenstellung zu bestreiten. Wegen Vergehen gegen das Repartiemento war er sogar für 12 Tage ins Gefängnis gewandert. Der Corregidor Arriaga, der wohl hinter allem stand, hatte ihn einen betrügerischen Indio gescholten und eine harte Steuernachzahlung eingefordert. Ein Antrag Condorcanquis, in das Register der Inka-Nachkommen aufgenommen zu werden, wurde vom obersten Gericht in Lima nicht bearbeitet. Zunächst richtete sich die Empörung Condorcanquis wohl nur gegen den verhassten Arriaga. Er wusste, dass dieser Corregidor sowohl bei Bischof Morosco von Cuzco als auch beim Generalvisitator Areche als allzu eigenwillig verschrien war. Morosco hatte ihn sogar exkommuniziert, weil er die missbräuchliche Verpachtung von Kirchengütern in seinem Amtsbezirk gefördert hatte. Bei seiner Verhaftung wurde Arriaga mitgeteilt, sie geschehe im Auftrag Areches im Namen des Königs. Erst als die Hinrichtung Arriagas bei Bischof und Generalvisitator härteste Strafandrohungen statt der erhofften Belobigungen provozierte, entschied sich Condorcanqui zur Flucht nach vorn, in den allgemeinen Aufstand. Um möglichst viel Anhänger zu finden, spielte er einen gewagten Trumpf aus. Er griff dabei auf Prophezeiungen zurück, die in der Bevölkerung umliefen. Zweihundert Jahre nach dem Ende des letzten Inkas sollte demnach die Inkaherrschaft wieder hergestellt werden. Schon das „Dreisiebenerjahr“ 1777 sollte den neuen Inka-Erlöser bringen. Jetzt erklärte sich José Gabriel zum Nachfahren und Erben Tupac Amarus und nahm dessen Namen an. Er kleidete sich in die alte Herrschertracht der Inka und ließ sich so porträtieren. Er zeigte sich dem Volk unter dem Inka-Baldachin, geschmückt mit den überlieferten Kopffransen und Sonnenzeichen, und ließ die traditionellen Inka-Spiele feiern. Er verteilte auch wie die Inkaherrscher Ehrentücher an bewährte Gefolgsleute. Es wurde das Gerücht verbreitet, er könne Gefallene wieder zum Leben erwecken. Seine Frau war als „Sonnengemahlin“ einflussreich. Seine Brüder, Onkel und Vettern wurden wie Prinzen verehrt. In zahlreichen Proklamationen verhieß er die Abschaffung der neuen Steuern, der Mita, des Repartiemento, die Absetzung der Corregidoren und die Ausweisung der Spanier. Der salbungsvolle Stil dieser Verlautbarungen ließ katholische Priester als Ghostwriter vermuten. Es war auch ein Priester namens Antonio Lopez de Sosa gewesen, der seinem Patenkind José Gabriel die Abstammung von einer Tochter Tupac Amarus

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I. enthüllt hatte. Doch hatte wie erwähnt das höchste Gericht des Vizekönigreiches den von de Sosa dokumentierten Stammbaum nicht bestätigt. 4 Im Übrigen setzte Condorcanqui nicht allein auf sein vermeintliches Inkatum. In einigen Aufrufen nannte er sich auch König José I. Er ließ sich auch mit europäischen Titeln wie Exzellenz, Hoheit und Majestät anreden. Auch wollte er unbedingt am katholischen Glauben festhalten. Auf diese Weise warb er nicht ohne Erfolg bei den kreolischen Mittelschichten und Eliten des Landes um Unterstützung, was sein Unternehmen für die spanische Krone umso gefährlicher machte. Wie sehr sich das spanische Kolonialregime durch den angeblichen Inka oder König von Peru herausgefordert fühlte, zeigte sich in dem extrem grausamen Urteil, das über den Rebellen verhängt wurde. Er musste sich nach feierlicher Messe und Kommunion auf dem Hauptplatz von Cuzco, wo auch Tupac Amaru I. hingerichtet worden war, die Vollstreckung des Todesurteils an neun seiner Verwandten ansehen, darunter seiner Frau und eines seiner Söhne. Einige wurden schlicht aufgehängt, anderen vorher die Zunge ausgerissen, die Frauen garrotiert oder mit einem Lasso erwürgt. Condorcanqui selbst wurde ebenfalls die Zunge ausgerissen, er wurde am Boden liegend in Stricke gelegt und sollte von vier Pferden bei lebendem Leib auseinandergezogen werden. Die Pferde vermochten es nicht. Generalvisitator Areche, der höchstselbst das Schauspiel leitete, befahl dann, den Kopf des Verurteilten abzuschneiden, um seine Leiche dann zu vierteilen. Die Gräuelszenen hatten sich sieben Stunden lang hingezogen.5 Kopf, Arme und Beine des falschen Inka wurden anschließend an verschiedenen Orten, vor allem in der Heimatregion Condorcanquis, zur Schau gestellt, der Rest vor Cuzco verbrannt. Es ergingen strenge Verbote gegen alle InkaBilder, Inka-Gebräuche, Trachten und Abzeichen. Selbst die Bezeichnung Inka und das Historienwerk de la Vegas wurden verboten. Allerdings war Areche klug genug, Kreolen, die sich von Condorcanqui verführen hatten lassen, schonend zu behandeln. Zollgesetze wurden gemildert, das Repartimiento und die Corregidores abgeschafft. Im damaligen Hochperu (Bolivien) wurden Aufstände der Indios, teilweise unter der nominellen Führung von Verwandten Condorcanquis, erst 1782-83 endgültig niedergeworfen. Es folgten weitere grausame Hinrichtungen, Sippenhaft und Deportationen nach

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Dieser ominöse Stammbaum bei Hemming S. 506 ff. Danach hätte eine Tochter des Inka Tupac Amaru I. (1571-72), Junana Pinco Huaca Felipe 1590 in die Familie Condorcanqui eingeheiratet, die seit dieser Zeit die Curacas in Tinta stellte. José Gabriel wäre ein Ururenkel der Juana gewesen. Hemming nennt ihn S. 472 einen „well educated elegant curaca“. Das schauerliche Hinrichtungsdekret bei Galindo S. 157 ins Englische übersetzt unter dem Titel „All must die“

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Europa. Diese Deportationen bildeten später den Nährboden für eine bis heute fortwuchernde Legendenbildung. So soll Condorcanqui (in einer Nebenehe?) mit der Tochter einer Inkaprinzessin und eines adligen polnischen Abenteurers, den es nach Peru verschlagen hatte, einen Sohn gezeugt haben, den sein polnischer Großvater vor den Verfolgungen durch die Spanier über Venedig auf seinen Stammsitz in den Beskiden im Dörfchen Niedzica rettete.6 Als auch dort spanische Agenten auftauchten und seine Mutter ermordeten, wurde der Knabe zur Tarnung einer tschechischen Familie Benesch zur Adoption übergeben und erhielt den Namen Anton. Ein Nachfahre Antons, Andrzej Benesch, fand bei Grabungen in der Burg Niedzica 1946 ein Quippu, eine Knotenschriftschnur, wie sie im Peru der Inkas angefertigt wurden. Andrzej hielt das für eine Bestätigung seiner legendenhaften InkaAbstammung und vermutete, dass in der Burg seiner polnischen Vorfahren nicht nur Inka-Quippus, sondern auch Inka-Schätze zu finden seien. Die Sache erregte großes Aufsehen, nicht nur in Polen, weil Andrzej es inzwischen zum Präsidenten des polnischen Parlaments (Sejm) gebracht hatte. Er kam 1976 bei einem mysteriösen Autounfall ums Leben. Noch immer machen sich Schatzsucher auf den Weg nach Niedzica. Es soll aber ein Fluch auf dem Schatz liegen, denn einige der Schatzgräber kamen auf merkwürdige Weise zu Tode. Tupac Amaru- Condorcanquis Andenken lebt freilich nicht nur in solch fragwürdigen Geschichten weiter. Er gilt heute in Peru als einer der ersten Freiheitskämpfer gegen die Spanier. Insbesondere die Militärregierung 1968-80 erhob ihn zum Nationalhelden. Einige Freiheitsbewegungen im Lateinamerika des 20. Jahrhunderts firmierten als „Tupamaros“. So die „Stadtguerilleros“ in Uruguay, deren Namen und Taktiken dann ähnliche Bewegungen in den verschiedensten westlichen Ländern aufgriffen.

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Zu dieser kuriosen Legende: Bernhard Lill, Der Fluch der Inkas, in Die Zeit Nr. 23, 28. 5. 1998 S. 60

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XXI. Eine (achlese im 19. Jahrhundert. Ludwig XVII. und Kaspar Hauser Vorbemerkung: Friedrich Bülau, der seit 1850 sein Serienwerk „Geheime Geschichten und rätselhafte Menschen“ herausgab, bemerkte über das Auftreten falscher Prätendenten in modernen Zeiten: „Fälle, wo jemand sich für eine für totgehaltene oder sonst auf eine mit manchem Rätselhaften umringte Weise verschwundene Person ausgibt, sind unter dem Einfluss unserer Öffentlichkeit und unserer Rechtsformen, aus nahe liegenden Gründen, in den gebildeten Staaten äußerst selten geworden“.1 Zwar vertut sich Bülau hier, wenn man die zahlreichen Fälle krimineller Hochstapelei oder psychopathischer Identitätsbehauptungen bis in die neueste Zeit hinein berücksichtigen wollte. Recht aber hat er, sobald es um politisch auch nur ansatzweise relevante falsche Identitäts-Prätentionen geht. Das moderne staatliche Personenstandswesen und neuerdings die wissenschaftliche Genanalyse lassen falsche Identitätsansprüche von politischer Relevanz kaum noch zu. Hinzu kommt natürlich auch, dass der monarchische Geblütsanspruch auf Herrschaft, die breiteste Grundlage politischer Hochstapelei, im Zeitalter zunehmender Demokratisierung kaum noch eine Rolle spielt. Selbst die echten Romanows, Kapetinger, Bonapartes, Hohenzollern, Habsburger usw. sind weit davon entfernt, aufgrund ihrer Herkunft politische Ambitionen zu hegen. Kein Machtbewerber hat es heute nötig, sich als Abkömmling einer Dynastie oder als Revenant zu legitimieren. Selbst in den bestehenden Diktaturen, und seien es zeitweilige Erbdiktaturen wie in >ordkorea, Haiti, in anderen südamerikanischen und einigen arabischen Staaten, ist das angebliche persönliche Charisma propagandistisch wichtiger als die Abstammung. Keiner der vielen Pseudo-Romanows des 20. Jahrhunderts, auch die berühmte Anderson-Anastasia nicht, keiner der zahlreichen noch lebenden byzantinischen Thronanwärter, falschen Könige von Frankreich oder Polen und dergleichen hat heute die geringste politische Bedeutung. Sie bleiben im Abseits von krimineller Bauernfängerei, harmloser privat-genealogischer Spinnerei und Sektiererei oder krankhafter Geistesstörung. An zwei Beispielen aus dem 19. Jahrhundert lässt sich dieser damals beginnende Relevanzverlust der (angemaßten bzw. angedichteten) Geblütslegitimität illustrieren. Die Flut der falschen Prätendenten, die sich für den unglücklichen Ludwig XVII. von Frankreich ausgaben, mag belegen, wie politisch bedeutungslos solche Ansprüche bereits im frühen 19. Jahrhundert blieben. Und der Versuch, das Findelkind Kaspar Hauser und sein Andenken gegen das großherzogliche Haus Baden auszuspielen, kann die politische Vergeblichkeit solcher Experimente bereits zu dieser Zeit demonstrieren. 1

Zitiert nach Friedrich Bülau, Geheime Geschichten und rätselhafte Menschen, ausgewählte Ausgabe, Leipzig und Wien 1937, S. 554

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Das Schicksal Ludwigs XVII. Der echte Louis Charles, später als Ludwig XVII. und König von Frankreich gezählt, obwohl er nie regierte, wurde 1785 als drittes Kind und zweiter Sohn König Ludwigs XVI. und seiner Gemahlin Marie Antoinette in Versailles geboren. Er erhielt zunächst den Titel eines Herzogs der Normandie. Nach dem Tode seines älteren Bruders 1789 wurde er zum „Dauphin“, d.h. zum Thronfolger Frankreichs erklärt, seit 1791 mit der offiziellen Bezeichnung „Prince Royal“. Nach dem Sturz der Monarchie im August 1792 wurde er mit der gesamten königlichen Familie im Turm des Temple in Paris (unter der Kontrolle der revolutionären Pariser Gemeindeverwaltung, der „Commune“) interniert, d.h. zusammen mit seinen Eltern, seiner Schwester Marie-Thérèse und seiner Tante Elisabeth. Nach der Hinrichtung seines Vaters (jetzt nicht mehr Ludwig XVI., sondern der Bürger Louis Capet) am 21. Januar 1793 behandelten ihn die inhaftierten Frauen so gut es anging als König. Der Knabe erhielt bei Tisch einen erhöhten Sitz und wurde mit Majestät angeredet. Sein ins Ausland geflohener Onkel, der Graf von Provence, später König Ludwig XVIII., zeigte den europäischen Höfen seine Thronbesteigung als Ludwig XVII. an und übernahm ungefragt die (Exil)Regentschaft für den unmündigen Neffen. Aufgrund dieser Umtriebe verfügte die Revolutionsregierung in Paris am 3. Juli 1793 die Absonderung des „Sohnes Capet“ von der übrigen Familie. Er wurde in ein abgetrenntes Stockwerk des Temple verbracht und der Obhut eines bewährten Sansculotten, des Schusters Antoine Simon, und dessen Frau anvertraut. Das Ehepaar hatte den Auftrag, den Knaben zu einem tüchtigen Revolutionär umzuerziehen. Die spätere royalistische Propaganda hat den eher beschränkt-gutmütigen, ein wenig wichtigtuerischen Simon zu einem herzlosen Monstrum stilisiert. In Wirklichkeit scheint sich der kleine Capet bei den Simons recht wohl gefühlt zu haben. Er schmetterte bald mit Begeisterung die gängigen Revolutionslieder und erging sich in herzhaften Flüchen gegen die Aristokraten. Am 6. Oktober 1793 ließ sich der unbedarfte Knabe bei einer Vernehmung im Temple durch den berüchtigten Radikalrevolutionär Hébert zu einer peinlichen Aussage gegen seine Mutter Marie Antoinette verleiten. Die Exkönigin sollte sich an ihrem Söhnchen unsittlich vergriffen haben. Der Junge wiederholte seine Aussage Tage später nochmals zu deren Entsetzen vor seiner Schwester und Tante. Es war das letzte Mal, dass die königlichen Damen ihn zu Gesicht bekamen. Auch nach der Hinrichtung der Mutter und Tante 1793 wurden der Schwester Marie-Thérèse alle Bitten, den Bruder sehen zu dürfen, abgeschlagen. Im Januar 1794 mussten die Simons den Temple verlassen. Antoine Simon war in den Stadtrat (die Commune) von Paris gewählt worden und durfte deshalb kein besoldetes städtisches Amt mehr ausüben. (Er wurde als Gefolgsmann Robespierres 1794 hingerichtet, seine Witwe starb 1819 im Armenhaus). Was in

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den folgenden Monaten mit dem Prinzen geschah, ist unklar. Die royalistische Legende behauptet, er sei hinter Gittern in vollkommener Isolation der unmenschlichsten Verwahrlosung preisgegeben worden. Die Protokolle gelegentlicher Regierungsvisitationen im Temple wissen nichts davon. Auch erhielt der kleine Capet im Juli 1794 wieder einen persönlichen Betreuer, den Kreolen Christophe Laurent aus Martinique (1770-1807), einen gebildeten und anscheinend gewissenhaften jungen Mann, der sogar einen Gehilfen beantragte. Eine spätere Visitation im Dezember 1794 ergab jedoch merkwürdige Ergebnisse. Das ihr vorgeführte Kind habe auf keine Fragen, Ermahnungen und Angebote reagiert und sich stumpfsinnig mit einem Kartenspiel beschäftigt. Auch wurden an einigen Gelenken auffallende Schwellungen festgestellt. Allerdings wurde der Bericht über diese seltsame Visitation erst 1814 von einem der Beteiligten niedergeschrieben. Im Februar 1795 erkrankte der Kleine ernsthaft. Laurent scheint sich überfordert gefühlt zu haben. Er bat im Frühjahr 1795 um seine Entlassung. Sein Gehilfe Jean Baptiste Marie Gomin und ein gewisser Etienne Lasnes, ein Anstreicher, übernahmen die Betreuung. Sie mussten bald um ärztliche Hilfe nachsuchen. Der zunächst hinzugezogene Doktor Desault, ein angesehener Mediziner, starb jedoch wenige Tage nach den ersten Konsultationen. Ihm und den neuen Wärtern gegenüber erwies sich der kleine Patient überraschend als überaus gesprächig. Am 8. Juni 1795 zwischen zwei und drei Uhr nachmittags verschied der Prinz in den Armen von Lasnes. Die Obduktion der Leiche ergab eine schwere Knochentuberkulose, eine Erbkrankheit der Bourbonen. Einer der beteiligten Ärzte, Pelletan, sicherte sich das Herz des Toten und konservierte es in Spiritus. Ein Kommissar nahm heimlich einige Locken des Kindes mit. Der übrige Leichnam wurde am 10. Juni auf dem Friedhof Sainte Marguerite in einem Gemeinschaftsgrab (vielleicht kurz darauf in ein Einzelgrab umgebettet ?) beerdigt. Soweit die Geschichte Ludwigs XVII.2 Oder gab es eine ganz andere Geschichte? Das Gerücht, Ludwig XVII. sei aus dem Temple entkommen und der dort im Juni 1795 verstorbene Knabe sei ein unterschobenes Kind gewesen, wollte nicht verstummen. Die Vermutung stützte sich vor allem auf die merkwürdige Wesensveränderung des unglücklichen Gefangenen. Aus dem gesunden, munter-aufgeweckten Jungen in der Obhut der Simons konnte so schnell kaum das kranke, anscheinend taubstumme Geschöpf Ende 1794 oder Anfang 1795 geworden sein. Laurent und seine Nach2

Eine eingehende, gegen allerlei Legendenbildung kritische Biographie Ludwigs XVII. legte G. Lenȏtre (Louis Léon Theodore Gosselin) in einer Artikelserie der Revue des deux Mondes Jahrgänge 54-56, 1919-20 vor. Jhg. 54 1. 12. 1919 I. Le Temple S. 52646: 15. 12. 1919 II. La Commune S. 784-813/ Jhg. 55 1. 1. 1920 III. Complots: 1. 2. 1920 IV. Simon S. 596-627/Jhg. 56 1. 3. 1920 V. Enigmes S. 99-139: 15. 3. 1920 VI. Hors du Temple: 15. 5. 1920 Die Teile VII. und VIII. gehen auf die ersten falschen Ludwige ein. Vgl. unten zu den Prätendenten Hervagault und Bruneau.

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folger, auch die Ärzte im Juni 1795 hatten ihren Zögling oder Patienten vor ihrem Amtsantritt bzw. ihrer Zuziehung nicht gekannt. War der königliche Knabe vorher durch ein anderes Kind ersetzt worden? Die an der Obduktion beteiligten Ärzte hatten dann auch vorsichtig nur protokolliert, „die Leiche eines Kindes, von dem die Kommissare uns sagten, es sei die des Sohnes des verstorbenen Louis Capet“3, untersucht zu haben. Es kann hier nicht auf alle die zahllosen phantasievollen Spekulationen eingegangen werden, die sich um die vorgeblichen Intrigen, Verschwörungen und Machinationen ranken, die zur Befreiung oder Entführung Ludwigs XVII. aus dem Temple und seinen Austausch gegen ein anderes oder mehrere andere Kinder in Folge geführt haben sollen. Im Geheimen werden solche Spekulationen wohl schon ab 1795 kursiert haben. Anlass oder Folge solcher Gerüchte war der Umstand, dass in einigen Städten revolutionäre Behörden vornehme Reisende, die einen Knaben im Alter Ludwigs mit sich führten, festgehalten hatten. Öffentlich breit diskutiert wurden sie erst, als 1800 in Paris ein Schauerroman Sensation machte, in dem nun schwarz auf weiß die These aufgeworfen wurde, Ludwig XVII. sei (zeitweilig) aus dem Temple entkommen. Der Autor dieses Werke mit dem Titel , „Le cimetière de la Madeleine“, Jean Joseph Regnault-Warin, (1775-1844) 4 belegte die Behauptung, Ludwig XVII. sei in einem Holz-oder Kartonpferd versteckt aus dem Temple geschmuggelt worden, mit fiktiven Briefen und Dokumenten. Hinter der Aktion hätten Agenten der royalistischen Rebellen in der Vendée gestanden. Doch sei der Prinz, der zur Sicherheit nach Amerika geschickt werden sollte, aufgegriffen und in den Temple zurückgebracht worden, wo er dann verstorben sei. Das Befreiungsmanöver wurde aber so realistisch dargestellt, dass dem Lesepublikum ein solches Unternehmen als durchführbar plausibel erscheinen musste. Dies ermunterte eine Reihe von falschen Prätendenten, die im Übrigen oft andere Details des Romans für ihre eigenen Legenden aufgriffen, in die Rolle Ludwigs XVII. zu schlüpfen. (Regnaud-Warin wurde zeitweilig wegen royalistischer Propaganda verhaftet, aber auf Intervention der Josephine Beauharnais-Bonaparte, der ersten Gemahlin Napoleons, freigelassen. Diese Intervention führte dazu, dass die spätere Kaiserin der Franzosen dann oft in die Entführungs-Theorien als Mitwisserin eingearbeitet wurde.) Bemerkenswert bleibt, dass im Gegensatz zum Auftreten früherer falscher Prätendenten in den vergangenen Jahrhunderten, deren Geschichte dann die Literatur befruchtete, im Falle der falschen Ludwige erst ein fiktives Werk die Flut der Pseudo-Prinzen mit auslöste. 3

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Das Protokoll der Autopsie abgedruckt schon bei Simien Despréaux de la Condamine, Louis XVII: ouvrage fait sur des arrȇtes originaux, des procès verbaux, et des dépositions des témoins oculaires, Paris 1817, hier S. 191 Zu ihm: Bercé S. 332

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Der vierzigfache Ludwig XVII., eine Auswahl Es sollen annähernd 40 gewesen sein. Das führende französische Konversationslexikon „La Grande Encyclopédie Larousse“ nennt diese Zahl unter dem Stichwort „Louis XVII“, hält aber nur vier der Kandidaten für wirklich interessant, die anderen seien allzu leicht durchschaubare Hochstapler oder arme Irre gewesen.5 Im Folgenden soll hauptsächlich auf die von der Enzyklopädie als „interessant“ eingestuften Fälle eingegangen werden. Zur Illustration für die absurde Ausweitung der Prätendenten-Schwemme mag zusätzlich ein englischer (Meves) und ein amerikanischer (Williams) Ludwig dienen. Hervagault Den Reigen dieser hervorstechenden falschen Ludwige eröffnete 1801 JeanMarie Hervagault.6 Der Jüngling hatte, bevor er sich zum legitimen König von Frankreich erklärte, bereits eine beachtliche Betrüger-Karriere hinter sich. Geboren als Sohn des Schneiders René Hervagault und dessen Ehefrau Nicole, geborene Bigot, um 1780 in St. Lȏ, hatte er schon 1796 Reißaus genommen und war 5

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Ausgabe von 1974, Band 12, S. 7334 – immerhin nennt die Enzyklopädie die Namen einiger der Hochstapler. Es sind: Paul Gérard Poncelet (1780-1860), ein Londoner Schneider und Wirt, der Engländer Meves (vgl. unten), der Indianermissionar Eleazar Williams in den USA (vgl. unten), Louis-Pierre Poiret (gest. 1856) ein Farmer auf den Seychellen, und der 1873 (1875?) in Chicago verstorbene Pierre Brosseau, der aber nur seiner Familie sein Geheimnis anvertraut haben soll. Als Psychopathen werden genannt: Jean-François oder Auguste Charles Dufresne (1785-1860), ein Wechselmakler aus vornehmster Familie, der im Hof der Tuilerien aufgegriffen wurde, wo er sich als Ludwig XVII. ausgab. Simon Loritz (1787-nach 1821) aus Landau, ein mit der Ehrenlegion ausgezeichneter franz. Offizier, später Vagabund. Claude Labroisserie (1788-1823?), Arbeiter in einer Stärkefabrik. Er wollte auch Bruneau (vgl. unten) und der Attentäter Louvel sein. Victor Persat (1790-1878), ein Unteroffizier, der an der Beresina eine Kopfverletzung erhielt, nach Kuba und in die USA ging und dort von dem berühmten General Lafayette über seine wahre Herkunft belehrt worden sein wollte. Er hinterließ Memoiren und starb, in Familienpflege, in Riom. Bei Jacques Hamann und Maurice Etienne, Louis XVII et le 101 prétendents, Paris 1999, werden die Lebensdaten und die genannten Einzelheiten ausgeführt. Die Autoren geben Notizen zu vielen anderen „Prätendenten“, darunter finden sich auch bekannte Persönlichkeiten, von denen allenfalls das Gerücht ging, sie könnten Louis XVII. sein. So der berühmte Naturforscher Audubon, der russische General Diebitsch oder der Industrielle Cockerill. Die beiden Autoren legen eine alphabetische Liste mit Kurzbiographien von 35 Prätendenten vor, die zur möglichen Lebenszeit eines aus dem Temple entkommenen Ludwigs auftraten. Die meisten endeten im Irrenhaus, waren politisch und selbst als Justizfälle also bedeutungslos. Zu ihm vor allem G. Lenȏtre, in Revue des deux Mondes 15. 5. 1920, Louis XVII. VII. A l’Aventure S. 412-46, Hamann und Etienne S. 96-100

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in Cherbourg aufgegriffen und zu seiner Familie zurück expediert worden. 1797 musste der Vater den wieder entlaufenen Sohn in Bayeux abholen. Aber schon 1798 entwich der junge Mann wieder. Auf seinen Wanderungen hatte er sich auf den Sitzen von Landadligen u. a. als den untergetauchten Sohn des Herzogs von Ursel, einen Sprössling des hochadligen Hauses Montmerency oder des Herzogs von Valentinois (des späteren Fürsten Honoré IV. von Monaco) ausgegeben. Seine zierlich-anmutige Gestalt, sein schönes Lockenhaar, seine Redegewandtheit und ausgesprochen gefällige Manieren hatten ihm viele Herzen gewonnen. Er schmiedete Verse und war ein eleganter Tänzer. Überraschend waren seine genealogischen Kenntnisse. Zuweilen verkleidete er sich auch als Mädchen. 1798 wurde er in Chȃlons-sur-Marne (heute: en Champagne) wegen seiner Herumtreiberei verhaftet. Er gab sich jetzt als Sohn des Marquis von Longueville aus. Die Inhaftierung eines solchen Aristokratenkindes (Hervagaut behauptete, erst 13 Jahre alt zu sein) sprach sich im Städtchen herum. Mit Geldern, die ihm sein Gefängnisdirektor vorstreckte, führte er ein verschwenderisches Leben. Neugierige suchten ihn auf – und wurden von ihm charmiert. Ein Kreis von Gönnern und mütterlichen Betreuerinnen, die es nicht an Zuwendungen fehlen ließen, bildete sich um ihn. Schon jetzt vermuteten einige seiner Wohltäter, er sei in Wirklichkeit Ludwig XVII. Nach einem tränenreichen Abschied aus Chȃlons wurde der junge Herr nach St. Lȏ zurückgebracht und musste dort einige Zeit im Gefängnis verbringen. Kaum entlassen wurde er wegen eines Betrugsversuchs in Vire wieder eingezogen. 1801 jedoch holte ihn Madame Saignes, die ihn seinerzeit in Chȃlons bemuttert und seine „Kammerfrau“ gespielt hatte, dorthin zurück. Er wurde auf dem nahe gelegenen Adelssitz eines Herrn von Rambécourt und auf Schloss Pringy der verwitweten Jacobé de Soulanges bei Vitry-sur-Marne luxuriös untergebracht. Hier gab er sich endlich auf Drängen seiner Anbeter als Ludwig XVII. zu erkennen. Vorgearbeitet hatte ihm der Ex-Bischof von Viviers, Charles Lafont-Savine (1742-1815), ein ehemaliger Grandseigneur, der sich aber zum Revolutionär gewandelt hatte und sich nun unter ärmlichen Verhältnissen in Paris als Bibliothekar durchschlug. Savine hatte von den Chirurgen, die die Knabenleiche im Temple obduziert hatten, erfahren, dass ihnen seinerzeit Zweifel an der Identität des Toten gekommen seien. Er war deshalb überzeugt, der echte Ludwig sei aus dem Temple entkommen. Als er vom Auftreten des viel bestaunten Jünglings in Chȃlons erfuhr, hielt er ihn sofort für den aus dem Temple entführten kleinen König. Jetzt wieder glühender Royalist, überzeugte er die Hervagault-Gemeinde in Chȃlons, die ihren vorübergehend entschwundenen Liebling schmerzlich vermisste, vollends davon, der junge Herr habe bisher nur aus Sicherheitsgründen seine wahre Identität geheim gehalten und sei ohne Zweifel Ludwig XVII.

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Nun tischte Hervagault, instruiert von Savine, seinen Verehrern eine phantastische Geschichte über seine Wanderjahre auf. In einem Wäschekorb unter Mithilfe des Ehepaars Simon aus dem Temple geschafft, sei er in geheimen Audienzen am englischen Hof und an der Kurie empfangen worden. In Portugal habe er sich mit der Prinzessin Bénédictine verlobt, auch in Berlin wollte er gewesen sein. 1797 habe eine royalistische Verschwörung ihn nach Frankreich zurückgerufen. Sie sei aber durch den Fructidor-Staatsstreich der Republikaner zerschlagen worden, und seitdem irre er, seiner Helfer verlustigt, mittellos in Frankreich umher. Ein Polizeikommando machte am 16. September 1801, man feierte gerade ein Gala-Diner zu Ehren des wieder aufgefundenen Königs, dem Spuk in Vitry ein Ende. Nach einem Prozess in zwei Instanzen in Vitry und Reims wurde Hervagault im April 1802 zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Auch Madame Saignes erhielt sechs Monate, und der Exbischof Savine, der vor dem Gericht an der Echtheit seines Protegés festhielt – Hervagault selbst schwieg sich aus – landete für einige Zeit im Irrenhaus von Charenton. Nach seiner Entlassung 1806 aus dem Gefängnis Bicȇtre in Paris versuchte Hervagault wieder sein Wanderleben aufzunehmen, endete aber auf Betreiben seines Vaters schließlich bei der Kolonial-Infanterie in Belle Isle, zuletzt auf der Fregatte „ La Cybèle“. Auch hier bezauberte er seine Vorgesetzten und Kameraden und erschlich sich manche Diensterleichterungen und Privilegien. Er gab sich seinen Vertrauten wieder als Ludwig XVII. zu erkennen. Doch sollen missgünstige Offiziere ihn auch malträtiert und verspottet haben. Nach seiner Desertation 1809 verlor sich seine Spur. Er wurde in Abwesenheit wegen Fahnenflucht zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Schließlich wurde er in Rouen aufgegriffen und auf unbeschränkte Zeit, „par mesure de haute police“ (auf Maßnahme hoher Polizei) wieder ins „Bicȇtre“ gesperrt. Dort soll er sich prostituiert haben. Er starb am 8. Mai 1812 an den Folgen seiner Ausschweifungen, d.h. „rongé des maux infȃmes“. Noch auf dem Sterbebett hielt er vor dem Gefängnispriester daran fest, Ludwig XVII. zu sein.7 Sein Zauber wirkte auf die Nachwelt. Noch 1990 schrieb der Historiker Yves-Marie Bercé über Hervagault: „Die Hartnäckigkeit seiner Behauptungen und die extreme Wachsamkeit der Polizei ihm gegenüber lassen ihn als den ernsthaftesten der Prätendenten, und wenn nicht den glaubwürdigsten, so doch den am wenigsten absurden erscheinen.“8 Bercé hält es für möglich, dass Hervagault zumindest ein natürlicher Sohn des Herzogs von Valentinois (Honoré IV. von Monaco) aus einer Verbindung mit der Spitzenklöpplerin Nicole Bigot, die in Versailles auch für Königin Marie Antoinette gearbeitet hatte, gewesen sein könnte. Vater Hervagault, der in jungen Jahren bei der Garde française einge7 8

Zitate nach Lenȏtre, Artikel VII S. 445 Yves-Marie Bercé, Le Roi Caché. Sauveurs et imposteurs. Mythes politiques populaires dans l’Europe moderne, Paris 1990 S. 333-34 (Übersetzt von Verf.)

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schrieben war, hatte seinerseits bei Valentinois-Monaco im Dienst gestanden und übernahm vielleicht gegen Bezahlung für den unehelichen Spross des Fürsten die Vaterrolle. Dieser Hintergrund, vielleicht auch Erziehungsbeihilfen Valentinois-Monacos, könnten das gewandte Auftreten und den Drang nach Höherem bei dem kleinen Hervagault erklären. Bruneau Sein Nachfolger in der Rolle Ludwigs XVII. glich Hervagault hinsichtlich einer langen Herumtreiber-Karriere. Mathurin Bruneau (1784-1822) 9 Sohn eines Holzschuhmachers in Vezin nahe Cholet, war früh verwaist bei einem Schwager untergekommen, der ihn jedoch als Tunichtgut bald fortjagte. Eine Anekdote erzählt, wie der junge Bettler in die Hochstaplerei geriet: von einem Almosengeber nach seinem Namen gefragt, habe er nur mit der Angabe „de Vezin“, aus Vezin, geantwortet. Der edle Spender hielt den Jungen daraufhin für einen Sprössling der in den Revolutionswirren aus der Gegend vertriebenen Adelsfamilie der de Vezin und führte ihn der Vicomtesse Turpin de Croissé zu. Diese hochherzige Dame, sowohl bei den royalistischen Rebellen der Vendée als auch bei den Revolutionären geachtet, nahm sich des vermeintlichen kleinen Adligen liebevoll an. Der kecke Knabe wusste sogleich alle Vorteile der neuen Situation auszukosten. Selbst als das Missverständnis aufflog, behielt die Gräfin ihn gütig als Diener auf ihrem Landsitz. Ihn aber zog es bald weiter. Nach langen Wanderungen und einem Gefängnisaufenthalt trat er 1804 (1802?) in Marinedienste, desertierte aber dann 1806 (1804?) von der Fregatte „ La Cybèle“, als diese im US-Hafen Norfolk ankerte. In den Staaten versuchte er sich in zahlreichen Metiers und kehrte endlich 1815 nach Frankreich zurück. In St. Malȏ trat er mit einem amerikanischem Pass, den er später allerdings verlegt haben wollte, unter dem Namen „Charles de Navarre“ auf und ließ wohl durchblicken, eigentlich Ludwig XVII. zu sein. (Die Könige von Frankreich führten seit Heinrich IV. auch den Titel „König von Navarra“). Mathurin machte sich dabei die im Roman „Le Cimetière de la Madeleine“ kolportierten Amerika-Pläne für den aus dem Temple angeblich entführten kleinen König zunutze. Er wurde darauf Januar 1816 ins Irrenhaus, später ins Gefängnis „Bicȇtre“ von Rouen gebracht. Das Gerücht, die Behörden hätten auf diese Weise den wiedergekehrten Erben Frankreichs und Navarras ausschalten wollen, lockte zahlreiche Besucher an. Freilich besaß Mathurin nichts von dem gewinnenden Charme seines Vorgängers Hervagault. Von eher grob-abstoßenden Gesichtszügen, untersetzt, offensichtlich halber Analphabet, verfiel er nicht selten in sprachliche Unflätigkeiten. Viele der oft bis aus Paris angereisten Glaubenswilligen wandten sich deshalb enttäuscht von ihm ab. Andererseits bildete sich um den durchaus auch ho9

Zu ihm ausführlich G. Lenȏtre, in Revue des deux Mondes (vgl. oben) Louis XVII. VII S. 412-18, .VIII. S. 654-92, Hamann und Etienne S. 82-86. Bercé S.334-37

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heitsvoll-huldvoll auftretenden Mann im Gefängnis zu Rouen ein kleiner Hofstaat, der seine Schwächen abdeckte. Ein ehemaliger Steuereintreiber verfasste hochtrabende Proklamationen für ihn, in denen z.B. Ludwig XVII. die Senkung des Brotpreises versprach. Großmütig wollte er seinem Oheim Ludwig XVIII. den Thron Frankreichs auf Lebzeiten überlassen. Später schmähte er ihn als Usurpator. Drei „Sekretäre“ entwarfen seine Briefe an hochgestellte Persönlichkeiten, so an die jetzige Herzogin von Angoulȇme, die Schwester des echten Ludwig. Hochrangige Besucher stellten sich mehr und mehr ein, etwa der Graf de la Tour d’Auvergne und die ehemalige Erzieherin der Kinder Ludwigs XVI., Madame Tourzel. Ihr Urteil blieb schwankend. Die königliche Hofhaltung im Gefängnis nahm allmählich gefährliche Dimensionen an, und so wurde Mathurin endlich im Palais de Justice von Rouen isoliert und vor Gericht gestellt (Februar 1818). Die Regierung in Paris ließ sich, so wichtig nahm man inzwischen die Affäre, täglich über den Fortgang der Verhandlungen berichten. Man glaubte, den Angeklagten als einen Deserteur namens Philippeaux entlarven zu können. Die alte Vicomtesse de Turpin, zufällig nach Rouen gekommen, erkannte jedoch in dem angeblichen Ludwig ihren Schützling von 1795 wieder, und Verwandte aus Vezin bestätigten seine Identität als Mathurin Bruneau. Am 17. Februar 1818 wurde er zu sieben Jahren (davon zwei für Beleidigungen des Gerichts während des Prozesses) verurteilt. Die von seinen Anhängern auf der Banque de France für ihn hinterlegten nicht unbeträchtlichen Gelder wurden als Strafgeld und Gerichtskosten eingezogen. Nach der Haft sollte er zur Verfügung der Aufsichtsbehörden bleiben. Zunächst in Gaillon, seit 1821 auf Mont St. Michel inhaftiert, starb er am 26. April 1822 an einem Schlaganfall. Seine Getreuen sprachen von einem Justizmord an der Hoffnung der Lilien (-die Lilie war das köngliche Wappen-) und dem rettenden Engel Frankreichs. Sein grobschlächtig und tölpelhaftes Auftreten vor Gericht, das ihn in den Augen der Richter als einen Betrüger aus der Hefe des Volkes decouvrierte, sei damit zu erklären, dass man ihn zwangsweise unter Alkohol gesetzt habe. Die Weigerung der Behörden in Paris, dem Gericht in Rouen die Dokumente zum Tode Ludwigs XVII. im Temple vorzulegen, wurde als weiterer Beweis für düstere Machinationen gewertet. Vielfach wurden die Geschichten Hervagaults und Bruneaus später ineinander verflochten. Schon während des Bruneau-Prozesses hatten einige Zeugen die Identität der beiden behauptet. Dazu trug bei, dass anscheinend sowohl Bruneau (1802/4) als auch Hervagault (1808) auf der „ La Cybele“ gedient hatten. Verwirrend waren auch die sehr abweichenden Personenbeschreibungen Hervagaults in den Akten der vielen mit ihm befassten Ämter. Die Affären Hervagault und Bruneau bewiesen aber, wie bereit weite Kreise der französischen Öffentlichkeit waren, an ein Überleben des unglücklichen Ludwig zu glauben, oder sich gar der Sehnsucht nach einem durch sein hartes

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Schicksal zum edelsten aller Herrscher geläuterten Wiederkehrer hinzugeben. Ein Nährboden für weitere Kandidaten. Richemont Sie blieben nicht aus. Eleganter, weltläufiger und gebildeter als Hervagault und Bruneau trat Louis Hector Alfred „Baron de Richemont“10 auf. Über sein Vorleben ist nichts bekannt. In späteren Prozessen trumpfte er damit auf, dass man ihm keine andere als die von ihm behauptete Identität mit Ludwig XVII. nachweisen konnte. Wahrscheinlich stammte er wohl aus der Gegend von Rouen, war um 1788 geboren und hatte irgendetwas mit Glasmacherei oder Glashandel zu tun gehabt. Man versuchte ihn als Henri (Ethelbert Louis Hector) Hebert, geboren 1788, oder Claude Perrin, geboren 1786, zu identifizieren. Dokumentiert ist seine Person erst ab 1818. In diesem Jahr tauchte er, aus Arles in Südfrankreich oder aus Korsika kommend, in Modena in der Lombardei auf. Er gab sich als Louis Charles de Bourbon aus. Er wurde deshalb verhört und verlangte, dass man den Kaiser von Österreich über sein Auftauchen informiere. Dies führte zu seiner Inhaftierung in einem Mailänder Gefängnis. Mailand war damals österreichisch. Ein berühmter Mithäftling, der italienische Freiheitsdichter Silvio Pellico (1789-1854), bezeugte später, dass der angebliche Bourbone ihn selbst und die Gefängnisaufseher fast davon überzeugt hätte, tatsächlich Ludwig XVII. zu sein, was ihm verschiedene Vergünstigungen verschafft habe. 1825 nach Frankreich entlassen, verbarg sich das „Chamäleon“ unter diversen Decknamen wie Hebert oder Gustave (insgesamt sollen es im Laufe der kommenden Jahre 11 Pseudonyme gewesen sein). Er versuchte sich in Rouen auf einer kleinen Beamtenstelle und scheiterte zu Lisieux im Glashandel. Erst 1828 griff er seine Prätendentenrolle, nunmehr als Baron de Richemont, Herzog der Normandie, wieder auf. Er wandte sich mit einer Petition um Anerkennung seiner königlichen Herkunft an die Pairskammer des Königreiches. Bescheiden verzichtete er darin auf seine Thronrechte und bat nur um die Bestätigung seines Namens und eine Zufluchtstätte nach leidvollen Jahren des Exils. Die einzige Reaktion war eine Einschränkung des Petitionsrechts, um die Kammer in Zukunft vor solchen Unsinnigkeiten zu schützen. Er tauchte wieder ab, sammelte aber einen Kreis von Verehrern um sich. 1831 trat er mit den „Memoires du duc de Normandie, fils de Louis XVI.“ wieder an die Öffentlichkeit. Diese Memoiren waren ein überaus phantastisches Machwerk. Danach wollte Richemont bzw. Ludwig XVII. auf Betreiben des Herzogs von Condé, eines Führers der adligen Emigration, und mit Hilfe der bestochenen 10

Zu Richemont: Hamann und Etienne S. 141-42, Welch S. 292-95, Ingram S. 211-26, Bülau S. 580-81 mit falschem Todesdatum 1845.

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Simons und eines Arztes namens Ojardias Anfang 1794 in einem hölzernen oder Karton- Pferd aus dem Temple (Regnault-Warins Roman lässt grüßen!) in die damaligen österreichischen Niederlande (Belgien) entführt und gegen ein krankes, taubstummes Kind ausgetauscht worden sein. In Belgien vertraute Condé dann angeblich den kleinen König ausgerechnet der Obhut des Revolutionsgenerals (und späteren Marschall Napoleons) Kléber an, der das Kind als seinen Neffen ausgab und mit auf den Ägyptenfeldzug Bonapartes nahm. In Ägypten übergab Kléber seinen Schützling dann dem befreundeten General Desaix, der ihn als seinen Adjutanten nach Frankreich zurückbrachte und ihn Lucien und Josephine Bonaparte, dem Bruder und der Frau Napoleons, vorstellte. Verwickelt in die Verschwörung Pichegrus und Moreaus gegen Bonaparte musste Ludwig aus Frankreich nach Amerika fliehen. Nach unglaublichen Abenteuern in den Wüsten Amazoniens (sic!) und bei den wilden „Mameluken“ Brasiliens kehrte er 1814 nach Frankreich heim. In einer zweiten Fassung der Memoiren, die ein Anhänger Richemonts, Esp. J.V. Claravali del Curso 1850 redigierte, wurden die amerikanischen Phantastereien wohlweislich gestrichen. Stattdessen gab es nun Aufenthalte an der Kurie, bei der Familie der Herzogin von Orleans in Barcelona und in Portugal. Auch wurde angedeutet, Richemont sei der aus St. Michel entkommene Bruneau. 1814 also wollte Richemont nach Frankreich zurückgekehrt sein. Condé, bei dem er sich, so die Memoiren, wieder meldete, vermittelte 1815 ein geheimes Treffen mit der Herzogin von Angoulȇme, der leidgeprüften Schwester Ludwigs XVII. im Park von Versailles. Sie erkannte ihren Bruder wieder, verstieß ihn aber, weil er mit seinen peinlichen Verleumdungen 1793 die Familie ins Unglück gestürzt hätte. Der Herzog Charles Ferdinand von Berry (17781820), ein Vetter und Schwager der Angoulȇme, war jedoch bereit, ihn als Sohn Ludwigs XVI. zu akzeptieren. Bevor der Herzog dies bekannt machen konnte, wurde er leider 1820 ermordet. So musste Richemont wieder im Dunkeln verschwinden, .d.h. er bereiste inkognito die Länder des Nahen Ostens und Italien, wo er sich dann zu erkennen gab. Nach dem Druck seiner Memoiren wandte sich Richemont, der sich immer noch versteckt hielt, schriftlich nochmals an seine inzwischen durch die Julirevolution wieder exilierte „Schwester“. Dieser Brief führte die Polizeibehörden endlich auf seine Spur. Im August 1833 wurde er verhaftet und vor Gericht gestellt. Der Prozess erregte großes Aufsehen. Es traten prominente und interessante Zeugen für und wider die Behauptungen Richemonts auf, so die Herzöge von Caraman und Choiseul, oder der alte Temple-Wärter Lasnes, in dessen Armen der echte Ludwig XVII. verstorben war. Ein Anwalt Remusat bezeugte, die Witwe Simon habe ihm vor ihrem Ableben 1819 anvertraut, Ludwig XVII. habe überlebt. Als Sensation wurde empfunden, dass gegen Richemont der Beauftragte eines anderen Prätendenten auftrat, der sich „Charles Louis“, Herzog der Normandie, nannte. Richemont hatte die Lacher auf seiner Seite, als er spöttisch

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darauf hinwies, dass dieser Rivale nicht einmal um den korrekten Taufnamen Ludwigs XVII., nämlich „Louis Charles“, wisse. Richemont wurde wegen Beunruhigung des Staates am 4. November 1834 zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. Nach einem Aufenthalt in St. Pelagie entfloh er 1835 aus der Haftanstalt in Clervaux nach England. Dort sammelte er eine Gruppe von Anhängern um sich, auf deren Kosten er recht angenehm lebte. Nach einer Amnestie 1840 durfte er nach Frankreich zurückkehren, vielleicht kam er schon 1838 heimlich zurück. Seine Sekte gründete sogar ein Journal zum Kampf für seine Rechte. Eine Eingabe an die revolutionäre Nationalversammlung von 1848 zu seinen Gunsten blieb gänzlich unbeachtet. Es wurde behauptet, Papst Pius habe ihn 1849 in Geheimaudienz empfangen. Auch wandte er sich wieder an die Herzogin von Angoulȇme. Er verstarb am 10. August 1853 auf dem Landsitz Gleize bei Villefranche-sur-Saȏne einer seiner Anhängerinnen, der Comtesse Antoinette Cathérine d’Apchier de Vabre. Ein Grabstein, auf dem die Comtesse ihrem König inschriftlich nachtrauerte, musste auf Anweisung der Behörden entfernt werden. Sie ließ ihn nur umdrehen. Aus ihrem Nachlass erschien dann 1912 noch „La Vérite sur Louis XVII“ zu seiner Verteidigung. (aundorff Weit länger, bis in jüngste Zeit, lebte das Andenken und wirkte die Anhängersekte jenes Rivalen, den Richemont vor Gericht so lächerlich gemacht hatte. Er ist unter dem Namen Karl Wilhelm Naundorff11 in die Geschichte eingegangen. Das Vorleben dieses rätselhaften Mannes ist bis heute ungeklärt. Das erste erhaltene echte Dokument zu seiner Existenz ist die Bestätigung seiner Aufnahme in die Bürgerschaft des Städtchens Spandau bei Berlin (heute ein Stadtteil Berlins) vom 8. Dezember 1812 als Karl Wilhelm Naundorff. Merkwürdigerweise begnügte man sich in Spandau bei der Bürgerrechtsverleihung mit der Vorlage eines polizeilichen Führungszeugnisses des Berliner Polizeichefs Lecoq, in dem Naundorffs Aufenthalt in Berlin seit 1810 belegt wurde, anstatt wie üblich Taufschein oder andere Herkunftsnachweise zu verlangen. Naundorff ließ sich als Uhrmacher nieder, integrierte sich voll in die Gesellschaft des Städtchens und heiratete nach dem Tod seiner Haushälterin oder Ehefrau, der Witwe Sonnenberg, 1818 Johanna Einert, die ihm im Laufe der Zeit zehn Kinder schenkte. Bei der Eheschließung gab er sein Alter mit 43 Jahren an. Wann dieser Biedermann, der den Kleinstädtern in Spandau allenfalls durch seine (für sie) erstaunlichen französischen Sprachkenntnisse, seine Freundschaft mit dem französischen Offizier Marassin und sein Interesse für die 11

Eine kritische Zusammenfassung des monumentalen Werkes von Modeste Gruau de la Barre über seinen Abgott Naundorff gibt Bülau S. 554-579, auf neuerem Stand Hamann und Etienne S. 121-34.

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Revolutionsgeschichte auffiel, sich als Ludwig XVII. zu erkennen gab, ist unklar. Er selbst behauptete später, sich schon 1814-15 schriftlich den Herrschern von Preußen, Österreich und Russland, geoffenbart zu haben, er sei aber ohne Antwort geblieben. Seinen Freund Marassin habe er zu Nachforschungen nach Frankreich geschickt. Marassin sei auf rätselhafte Weise verschwunden12, wahrscheinlich sei er vergiftet worden. Nach der Geburt seiner ersten Kinder aus der Ehe mit Johanna Einert habe er sich nochmals an seine Schwester Marie Thérèse, jetzt Herzogin von Angoulȇme, und seinen Vetter, den Herzog von Berry, gewandt. Er wollte damit seinen Kindern wenigstens den Namen Bourbon sichern. Berry habe ihn anerkennen wollen, sei aber kurz darauf ermordet worden. 1822 inzwischen nach Brandenburg umgezogen, wurde der bis dahin unauffällige Uhrmacher in nicht weniger als fünf Prozessen der Brandstiftung, eines Mordversuchs, der Falschmünzerei, des Diebstahles und anderer Verbrechen angeklagt. In diesen Prozessen gab er zuerst an, aus Weimar, dann aus Halle gebürtig zu sein. Zuletzt enthüllte er, eigentlich „Ludwig Burbong“ (so ein Vernehmungsprotokoll) zu heißen. Diese Gerichtsnotiz ist der zeitlich erste sichere erhaltene Beleg für seine Selbstoffenbarung als Ludwig XVII. Er wurde 1825 wegen Falschmünzerei zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. 1828 zog er nach Crossen an der Oder. Dort weihte er den örtlichen Justizkommissar Petzold in sein Geheimnis ein. Petzold führte für ihn die oft französisch verfasste Korrespondenz, mit der Naundorff sich nun Gott und der Welt als Ludwig XVII. enthüllte. Wohl über Petzold gelangte die Kunde, Ludwig XVII. lebe in Deutschland, 1831 an die „Leipziger Zeitung“. Das angesehene französische Blatt „Le Constitutionnel“ griff am 28. August 1831 diese kuriose Nachricht auf. Die Folge war die Ausweisung Naundorffs aus Sachsen, wo er sich jetzt aufhielt, und wie Naundorff meinte, 1832 die Vergiftung seines ersten Anhängers Petzold. Die vielköpfige Familie Naundorffs verblieb in Crossen, später in Dresden. Naundorff selbst begab sich auf Wanderschaft. In Frankreich griff inzwischen der ehemalige Richter Albouys13 in Cahors, ein Leser des „Constitutionnel“ und schon lange vom Überleben Ludwigs XVII. überzeugt, die Sache auf. Er wandte sich brieflich an Naundorff, der ihn sofort von Genf aus zum „Beauftragten des Dauphins“ in Frankreich ernannte. Er übersandte dem Richter a. D. angeblich ein Testament, in dem er den postumen Sohn des Herzogs von Berry, den von den Anhängern der Bourbonen als König „Heinrich V.“ verehrten Grafen von Chambord, als seinen Erben anerkannte. Naundorff beanspruchte nur die Regentschaft bis zu dessen Mündigkeit, deren Termin er aber selbst festset12

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Dieser nach dem Russlandfeldzug 1812 in Spandau gestrandete Offizier, 1819 wahrscheinlich im Pariser Bois de Boulogne ermordet, könnte aber auch eine bloße Erfindung Naundorffs in seinen Memoiren sein. So Hamann und Etienne, S. 108. Zur Rolle Albouys ausführlicher Paul-Eric Blanrue in www. Zetetique/ d. h. org/naundorff. html

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zen wollte. Er schlug bei einer Restauration der durch die Julirevolution 1830 exilierten Bourbonen eine gemeinsame Krönung mit „Heinrich V.“ in Reims vor. Finanziell unterstützt von Albouys begab sich Naundorff nach Paris, wo er im Mai 1833 eintraf und nach einigem Herumstreunen bei einer Schwägerin des Richters unterkam. Hier traf ihn sein „Beauftragter“. Der alte Richter aus Cahors war von der Ähnlichkeit Naundorffs mit den Bourbonen überwältigt. Er sorgte dafür, dass die Ankunft Ludwigs XVII. in den bourbonisch-royalistisch gesinnten Kreisen der Hauptstadt bekannt wurde. Die Schwägerin Albouys reiste nach Crossen. Ihre minutiöse Suche nach den dort liegenden Echtheitsdokumenten, von denen Naundorff gefaselt hatte, blieb vergeblich. Die Albouys wandten sich von Naundorff ab, dessen Geldforderungen ihnen zudem suspekt vorkamen. Der Prätendent aber hatte inzwischen andere Anhänger gewonnen, darunter seinen neuen „Beauftragten“ Morel de St. Didier aus einer angesehenen royalistischen Familie. Auch der Vicomte Sosthène de La Rochefoucauld suchte ihn wiederholt auf.14 Der Vicomte war ein enger Vertrauter des 1830 vertriebenen Bourbonen- Königs Karl X. gewesen. Auf sein Anraten reiste Morel zweimal nach Prag zu der dort wieder im Exil lebenden Herzogin von Angoulȇme, mit Briefen Naundorffs, in denen dieser um ein Treffen bat. Auch andere Mittelspersonen, darunter La Rochefoucauld, belästigten die Herzogin in der nächsten Zeit immer wieder mit Botschaften Naundorffs. Dieser versuchte zuletzt sogar mit Drohungen, er werde peinliche Familiengeheimnisse der Bourbonen an die Öffentlichkeit bringen, eine Zusammenkunft mit seiner „Schwester“ zu erzwingen. An geschwisterliche Vertraulichkeiten, die Naundorff in seinen Schreiben vage andeutete und die er der Herzogin in ihrer Gänze nur persönlich als Erkennungshilfe preisgeben wollte, vermochte diese sich nicht zu erinnern. Sie fürchtete, eine auch noch so diskrete Begegnung mit Naundorff könne von diesem zu seiner Aufwertung missbraucht werden. Naundorff konnte mittlerweile andere Trümpfe vorweisen. Ein weithin bekannter bäuerlicher Prophet und Visionär, Thomas Martin aus Gallardon, erkannte in ihm bei einem Treffen im September 1833 den lang ersehnten wahren König Frankreichs. Schon 1816 war Martin auf einem Felde bei Gallardon der Erzengel Raphael erschienen und hatte ihm geheime Botschaften für den damals regierenden Ludwig XVIII. anvertraut. Von dem Vicomte La Rochefoucauld protegiert, war Martin sogar vom König empfangen worden. Angeblich hatte Martin Ludwig XVIII. in dieser geheimen Audienz offenbart, dass er nicht der rechtmäßige Herrscher sei. Dieser lebe im Verborgenen. Martin versprach dem verdutzten König aber, im Interesse der Ruhe des Landes dieses Geheimnis bis zum Ableben Ludwigs zu verschweigen. Jetzt glaubte Martin in Naundorff den 14

Über die lange Beziehungen Larochefoucaulds zu Naundorff berichtet der Vicomte in seinen „Mémoires de M. le vicomte de Larochefoucauld, Paris 1837 S. 82-207. Über seine Protektion für Martin de Gallardon S. 5-25

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verborgenen König zu sehen. Martin und Frankreich zuliebe trat Naundorff zum Katholizismus über. Er hatte seit Spandau als Protestant gelebt. Kurze Zeit danach, im März 1834, verstarb der Prophet in Chartre. Naundoff war sicher, er sei vergiftet worden. Am 28. Januar 1834 wurde Naundorff selbst in den Abendstunden am Tuilerien-Carrousel in Paris von zwei Attentätern überfallen. Durch mehrere Dolchstiche verwundet, schleppte er sich in seine nahe gelegene Wohnung. Die Täter dieses ansonsten zeugenlosen Anschlags entkamen unerkannt. Die Anhänger Naundorffs hielten dieses vielleicht vorgetäuschte Attentat für einen weiteren Beweis seiner Echtheit. Hinzu kam das Zeugnis einer Reihe von alten Höflingen aus Versailles. Da war ein Sekretär Ludwigs XVI., Jean-Baptiste-Jerȏme Brémond, jetzt über siebzig, den Naundorff mit seinem Wissen über ein Dokumenten-Geheimversteck Ludwigs XVI. in den Tuilerien überraschte. Oder Etienne-Louis-Hector de Joly, kurz vor dem Sturz der Monarchie 1792 Justizminister Ludwigs XVI. Auch das Dienerehepaar Saint-Hilaire, seinerzeit bei Ludwig XVI. und dessen Tante Victoire in Diensten, ließ sich überzeugen. Vor allem aber sorgte Agathe-Rosalie Mottet de Ribecourt, die Witwe Rambaud (1764-1853), die bis 1792 Kinderfrau des echten Louis Charles gewesen war, für Aufsehen. Einen blauen Kinderanzug des Prinzen, den sie aufbewahrt hatte, und jetzt bei einem Besuch des Prätendenten beiläufig herumliegen ließ, erkannte dieser wieder. Und nicht nur das: als sie listig-prüfend die falsche Bemerkung fallen ließ, der Prinz habe das Kleidungsstück in den Tuilerien gerne getragen, wies Naundorff sie zurecht: er habe den Anzug nie gemocht und in Versailles anziehen müssen. Erschüttert sank die alte Dame vor ihrem König auf die Knie. Eher abträglich für das Renommé Naundorffs hätten sich seine 1834 veröffentlichten Memoiren auswirken können. Er muss das selbst gespürt haben, denn 1836 gab er in London eine Überarbeitung heraus, die von der Erstausgabe in mehreren Punkten abwich. Nach der Erzählung von 1834 war NaundorffLudwig XVII. z.B. in einem Wäschekorb, in der von 1836 in einem Sarg aus dem Temple geschafft worden. Im Wesentlichen liefen beide Berichte aber ungefähr auf Folgendes hinaus: Ludwig XVII. wurde zunächst zu den Royalisten in die Vendée gebracht, dann nach Venedig, Triest und Rom, oder wie im ersten Bericht nach Amerika. Ein deutsches Ehepaar (1836: ein schweizer) hatte sich seiner angenommen. In dessen Obhut lernte er die Uhrmacherei. Nach Frankreich 1798 zurückgekehrt wurde er entdeckt und ins Gefängnis geworfen. Man habe versucht, sein Gesicht durch Operationen zu zerstören. Josephine Beauharnais-Bonaparte, die schon bei seiner Entführung aus dem Temple mitgewirkt hatte, befreite ihn mit Einverständnis des Polizeiministers Fouché. Beim Versuch, sich zu dem Herzog von Enghien in Ettenheim durchzuschlagen (einem Bourbonenprinzen, den Napoleon aufgreifen und hinrichten ließ), wurde er wieder abgefangen und vier Jahre lang bis 1808 in einem fensterlosen Dunkelverlies

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in Vincennes eingekerkert. Wieder rettete ihn Kaiserin Josephine. Er ging nach Deutschland, schloss sich dem Aufstand des Majors Schill gegen Napoleon an und wurde mit Schills „Braunschweigern“ gefangen genommen. Aus der Festung Wesel floh er mit Kameraden, von denen er den Pass eines gewissen Naundorff zugesteckt erhielt. Mit diesem wies er sich in Berlin aus. Vorher übergab er aber dem preußischen Minister Hardenberg Briefe Ludwigs XVI. und Marie Antoinettes, die seine Identität belegten. Das königliche Elternpaar hatte in diesen Briefen für alle Fälle eine Aufstellung über die intimeren körperlichen Male ihres Sohnes gegeben. Naundorff wies diese Merkmale selbstverständlich auf. Diese wirren Phantastereien, deren Fortsetzung (die Briefe an die Souveräne 1814/15 usw.) bereits oben erwähnt wurden, hätten manchen Anhänger Naundorffs abschrecken können. Doch tröstete sich die Naundorff-Gemeinde wohl mit dem Argument, das auch der Vicomte La Rochefoucauld in einem Brief an die Herzogin von Angoulȇme zu bedenken gab: ein wirklicher Betrüger hätte solche unwahrscheinlichen Behauptungen klugerweise nicht erfunden. Im Übrigen gewann Naundorff durch sein ruhig-biederes, umgängliches Auftreten immer neues Vertrauen. Ihm flossen aus seiner Anhängerschaft erhebliche Summen zu. Er finanzierte sogar ein Journal „La Justice“, das seine Ansprüche verteidigte. 1835-36 strengte er dann Prozesse gegen die Familien Bourbon und Orleans an. Außer der Anerkennung seiner Identität als Charles Louis (er blieb bei dieser Namensumstellung, die er einer falschen Angabe im Almanach von Versailles von 1786 entnommen hatte), Herzog der Normandie, forderte er nicht weniger als 300 Millionen Francs aus dem Privaterbe des Königshauses. Nachforschungen der französischen Regierung hatten inzwischen ergeben, dass Naundorff der Sohn eines Schlossers aus Neustadt-Eberswalde oder der Sprössling einer preußisch-polnischen Judenfamilie war. Naundorff verspottete in einem offenen Brief an den Bürgerkönig Ludwig Philipp diese Bemühungen, ihm durch gekaufte Aussagen irgendwelcher Kesselflicker in Deutschland falsche Väter anzuhängen. Das preußische Innenministerium dementierte denn später auch die französischen Behauptungen. 1836 wurde Naundorff dennoch als unerwünschter Ausländer sang-und klanglos nach London abgeschoben. Dort schloss sich ihm endlich seine Familie aus Dresden an. Im englischen „Exil“ zu Camberwell-Green nahm das Verhalten Naundorffs immer bizarrere Formen an. Er hatte nun in der Nachfolge Martins de Gallardon selbst Visionen. Jesus forderte ihn darin auf, das wahre Evangelium zu schreiben („La Doctrine Céleste ou l’Evangile de Notre Seigneur dans toute sa purité primitive…etc.etc.“) und eine neue Kirche (L’église catholique evangelique) zu gründen. 1843 wurde er deshalb durch ein päpstliches Verdikt exkommuniziert. Auch arbeitete er an einer geheimnisvollen Kriegsmaschine, die so schrecklich sein sollte, dass aus Furcht vor ihrem Einsatz keine Kriege mehr

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geführt werden könnten. 1839-40 erschien das Journal „La voix d’un proscrite“, in dem seine Ideen propagiert wurden. Immer mehr versteifte er sich darauf, in Ludwig XVIII. den Urheber aller seiner Missgeschicke und des Elends der Welt zu sehen. Dieses Monstrum an Bosheit war nach Naundorff der wahre Urheber der großen Revolution und der Drahtzieher sowohl Robespierres als auch Napoleons. Agenten Ludwigs XVIII. sollten alle Mitwisser um Naundorffs Geheimnis, darunter die Kaiserin Josefine, vergiftet haben. Seine Rivalen Hervagault, Bruneau und Richemont seien von Ludwig XVIII. und Ludwig Philipp ins Rennen geschickt worden, um ihn selbst durch eine Inflation von falschen Prätendenten unglaubwürdig zu machen. 1841 wurde dies alles den meisten seiner Anhänger zu viel. Sie verließen ihn und gaben öffentliche Erklärungen gegen seine Echtheit ab. Das stürzte Naundorff, der sich inzwischen einen gewissen Lebensstil angeeignet hatte und dessen pyrotechnische Experimente große Summen verschlangen, in finanzielle Nöte. Er landete zeitweilig in Schuldhaft. Es gab Anschläge auf ihn. Januar 1845 floh er mit einem Pass auf den Namen Charles Louis de Bourbon nach den Niederlanden. Er fand eine gut bezahlte Anstellung als Pyrotechniker in der Armee. Die Rechte auf seine entsprechenden Erfindungen wurden ihm für 150 000 Francs abgekauft. Am 10. August 1845 gegen drei Uhr nachmittags verstarb er in Delft an Typhus. Seine Söhne, die ihm aus England gefolgt waren, bestanden darauf, dass bei der Leichenschau alle intimeren Körpermerkmale für spätere Identifikationsprozesse genauestens protokolliert wurden. Ins Sterberegister der Stadt Delft wurde er als Charles Louis de Bourbon, König Ludwig XVII. von Frankreich und Navarra eingetragen. Seine Grabinschrift lautete ebenso. Die Söhne zeichneten als „de Bourbon.“ Modeste Gruau (1795-1872), ein angesehener Jurist und einer der letzten Getreuen Naundorffs, von diesem als „de Barre“ geadelt, setzte seinem Abgott in dem 2300 Seiten umfassenden mehrbändigen Werk „Intrigues devoilés, ou Louis XVII dernier Roi légitime de France“ Rotterdam 1846-48 ein Denkmal. Damit sorgte Gruau für neue Anhänger und das Fortleben der NaundorffLegende. Das tat auch die Familie Naundorff. Immer wieder kämpfte sie vor französischen Gerichten um die Anerkennung ihres Stammvaters als Ludwig XVII. 1874 stand ihr als Rechtsanwalt einer der Mitbegründer der Dritten Republik und ehemalige Außenminister, Jules Favre, bei. Er legte dem Gericht drei Briefe des Prinzen-Betreuers Laurent vor, die die Entführung Ludwigs XVII. bestätigten. Sie waren nur allzu leicht als Fälschungen zu erkennen. Später errang die Familie einen kleinen Sieg. Aufgrund der Delfter Registereintragungen wurde ihr gestattet, in Frankreich den Namen de Bourbon zu führen. Alle anderen Prozesse, die sich bis 1954 hinzogen, scheiterten. Aber die Naundorff-Sekte besteht

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noch heute. Sie ließ sich auch nicht durch Gen-Analysen erschüttern, die 1998 zweifelsfrei ergaben, dass Naundorff nicht Ludwig XVII. gewesen sein kann.15 Mit dem Fall Naundorff, dessen Bühne Deutschland, Frankreich, England und die Niederlande wurden, internationalisierte sich das Phänomen der falschen Ludwige endgültig. Schon vorher bahnte sich in England in aller Stille eine weitere Affäre an. Meves 1818 erfuhr der Pianist und Börsenspekulant August (Anton Cornelius) Meves (Mièves)16 (1785-1859), dass sein Vater, der Miniaturmaler William Meves, ihn in seinem Testament zwar als Erben eingesetzt, aber als nicht ehelichen Sohn bezeichnet hatte. Die Mutter (die Eltern lebten seit Jahren getrennt), um Auklärung gebeten, eröffnete ihm zu seiner Überraschung, dass er tatsächlich ein angenommenes Kind – und niemand anders als Ludwig XVII. von Frankreich sei. Der Erzbischof von Paris sei über die Hintergründe unterrichtet. Die Witwe bat Meves jr. jedoch, die Sache bis zu ihrem Tod strengstens geheim zu halten und verweigerte weitere Auskünfte. Sie starb 1823. Die Enthüllung warf August Meves für längere Zeit aufs Krankenbett. Doch erinnerte er sich jetzt daran, dass er 1815 bei einem Besuch des Schlosses von Versailles seltsame „déja-vues“ gehabt hatte. Auch hatte er sich damals beim Besuch eines Pariser Theaters auffallend von der Herzogin von Angoulȇme fixiert gefühlt. Er glaubte auch, bei sich die Muttermale und Narben entdecken zu können, von denen in den gängigen Berichten über Ludwig XVII. die Rede war Meves behielt sein Geheimnis lange Jahre für sich. Aber 1830 wurde er von Franzosen, die die Julirevolution ins englische Exil getrieben hatte, in einem Londoner Restaurant auf seine Ähnlichkeit mit Ludwig XVI. und dessen Bruder, dem eben gestürzten Karl X., angesprochen. Als er ihnen darauf von den Andeutungen seiner Mutter erzählte, drängten diese Royalisten ihn, mit ihnen nach Paris zu gehen. Sie wollten ihn dort während einer Theateraufführung als Ludwig XVII. proklamieren. Er lehnte dieses Abenteuer ab, fand sich aber bereit, die Herzogin von Angoulȇme schriftlich um eine Begegnung zu bitten. Er blieb ohne Antwort. 1835 nahmen nochmals französiche Royalisten um den Marquis de Bonneval, der auch Naundorff nahe stand, und den Abbé Broglie Kontakt zu ihm auf. Auch dies blieb ohne Folgen. Als Meves plante, sich der BourbonenFamilie in Edinburgh vorzustellen, verhinderte ein besonnener Onkel dieses Unternehmen. 15 16

Hierzu Blanrue a. a. O. und Hamann und Etienne S. 314-16, dort auch über Haaranalysen 1940 und 1950, die zuerst für, dann gegen die Echtheit Naundorffs ausfielen. Zu ihm Auguste de Bourbon (Augustus Meves d. J.), passim. Welch S. 280-82, Hamann und Etienne S. 114-16

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Meves, den seine Börsenspekulationen runierten und der sich als Musiklehrer durchs Leben schlug, verfasste nur noch für seine Kinder – fünf Söhne und zwei Töchter – eine Autobiographie. Als er am 9. Mai 1859 während der Fahrt in einer Mietdroschke an einem Schlaganfall verstarb, drangen seine Söhne auf eine genaue Untersuchung und fotografische Dokumentation seiner Körpermale. Zumindest sein Sohn August glaubte danach fest an die Identität seines Vaters mit Ludwig XVII. Er veröffentlichte 1868/69 die Autobiographie des Vaters und stellte weitere Nachforschungen an. Er meinte Folgendes herausgefunden zu haben: Marianne Meves, geborene Crowley (sie nannte sich nach einem deutschen Großvater auch Fräulein Schröder), die Ziehmutter seines Vaters, stand vor ihrer englischen Heirat im Petit-Trianon-Schlösschen im Park von Versailles in den Diensten der Königin Marie Antoinette. 1793 fand sie oder ihr Gatte sich bereit, ihr kränkelndes Söhnchen August gegen Ludwig XVII. im Temple auszutauschen, den sie dann unter Augusts Namen nach England rettete. 1794 allerdings gelang es ihr, ihren eigenen Sohn aus dem Temple schmuggeln zu lassen. Er wurde durch ein taubstummes Kind ersetzt, das dann 1795 verstarb. Das weitere Schicksal des echten August Meves blieb unklar. Möglicherweise wurde er zu den deutschen Verwandten in Braunschweig gebracht. Erschien er später wieder als der Prätendent Naundorff ? August Meves jr., der sich mit dieser Geschichte 1876 an die Öffentlichkeit wagte, glaubte sich von nun an August de Bourbon nennen zu dürfen. Kurioserweise soll sein Vater in London 1836 mit Naundorff zusammengetroffen sein. Die beiden hätten sich freundschaftlich über die seinerzeitigen Zustände im Temple unterhalten. Sie hielten sich wechselseitig für eines der Austauschkinder. Williams Noch merkwürdiger und exotischer nimmt sich die Geschichte eines amerikanischen Ludwigs aus, Eleazar Williams (1787/94-1858)17. Eleazar war als Sohn eines getauften indianischen Paares (beim Stamm der Irokesen, nach anderen der Mohikaner) im kanadischen Dorf Caughnawaga aufgewachsen. Er galt als geistig zurückgeblieben, bis er im Alter von 13-14 Jahren durch einen Einsturz ins Eis eines zugefroren Sees oder einen Sturz von einem Felsen bzw. einen Steinschlag jäh aus seinem Dämmerdasein erweckt wurde. Freilich konnte er sich an sein Leben vor diesem Schock nicht erinnern. Nur einige Einzelbilder, die nichts mit seiner indianischen Umgebung und seiner Familie zu tun hatten, quälten ihn. So sah er sich als Kind auf dem Schoß einer glänzend gekleideten 17

Zu Williams: Welch S. 285-92. Welch vermutet als Auslöser der Geschichte einen Scherz Joinvilles (s. u.), den er aber später als dümmlichen Streich abgeleugnet habe. Hamann und Etienne S. 311.

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Dame sitzen. Seine indianische Mutter gestand ihm, dass er ein angenommenes weißes Kind sei. Dem Aussehen nach war er zumindest ein Halbblut. Er besuchte mit großem Erfolg eine christliche Missionsschule und wurde selbst Indianer-Missionar der Episkopal-Kirche. Er träumte von der Errichtung eines großen christlich-indianischen Reiches an den Großen Seen. 1823 heiratete er Madeleine (Marguerite?) Jourdan. Vielleicht war ihm die Geschichte einer Kammerfrau der Königin Marie Antoinette zu Ohren gekommen, die sich 1795 zeitweilig in Albany im Staate New York in Begleitung ihres Ehemannes und eines Knaben niedergelassen hatte. Die Spuren dieses Kindes hatten sich bald verloren. Der Gedanke, dieser Knabe sei vielleicht der nach Amerika gerettete Ludwig XVII. gewesen, lag nicht fern. Man hätte ihn als Eleazar William bei den Indianern versteckt. Aber das waren alles nur vage Vermutungen. Dann geschah, so berichtete Williams später, das schier Unglaubliche. Der französische Prinz (Fürst) François de Joinville (1818-1900), ein Sohn des Bürgerkönigs Ludwig Philipp, besuchte 1841 die Staaten. Williams wurde ihm in Green Bay (Wisconsin) als ein erfolgreicher Indianermissionar vorgestellt. Joinville verwickelte Williams in ein langes Gespräch und eröffnete ihm unvermittelt, er halte ihn für Ludwig XVII. Joinville forderte ihn auf, eine bereit gehaltene Abdankungsurkunde zugunsten des Hauses Orleans zu unterschreiben. Er sollte dafür königlich entschädigt werden. Williams bat sich eine Nacht Bedenkzeit aus. Am Morgen entschied er sich gegen die Abdankung, versprach aber, das Geheimnis zu wahren. Nach dem Sturz der Orleans 1848 glaubte er, an dieses Versprechen nicht mehr gebunden zu sein. Die Sensationspresse griff seine Geschichte begeistert auf. Joinville, der davon erfuhr, bestätigte zwar sein Treffen mit Williams, wollte sich mit ihm aber nur über die Indianermission unterhalten haben. Um Williams sammelte sich dennoch wie um andere falsche Ludwige eine Gemeinde von Gläubigen. 1854 erschien in New York eine umfangreiche Untersuchung zu seinem Fall: „Facts tending to prove the identity of Louis the seventeenth of France and the Rev. Eleazar Williams Missionary among the Indians of North America” eines gewissen John H. Hanson. Williams wurde bald des Rummels müde und zog sich auf seine Missionstätigkeit zurück. Ungleich den Familien Naundorff und Meves nahmen seine Nachkommen die ganze Angelegenheit eher von der humorvollen Seite. Es fanden sich jedoch in der Nachfolge Williams noch eine Reihe amerikanischer Ludwige. Genannt werden Jacques Brooks, Pierre Brosseau (1785-1875, gest. in Chicago) und ein Benjamin (Belon/Benoni) Nadeau. Brooks und Nadeau fehlen in der umfangreichen Auflistung falscher Ludwige bei Hamann und Etienne. Kein anderer als Mark Twain hat sich 1884 in „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ über die Inflation falscher Prätendenten in den Staaten belustigt.

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Von zwei Betrügern, die sich vor ihren Verfolgern auf Hucks Mississippi-Floß retten, gibt sich der eine als Herzog von Bridgewater, der andere als der Dauphin von Frankreich zu erkennen. Hucks Begleiter, der gutmütige Schwarze Jim, fragt besorgt über soviel prominenten Zulauf: „Huck, schätzt du, wir treffen auf der Fahrt noch mehr Könige?“ „Nein“, antwortete ich, „ich schätze nicht.“ „Na“, meinte er, „dann ist’s gut. Auf ein oder zwei Könige kommt’s mir ja nicht an, aber das reicht auch.“18 Und für Frankreich sind ebenfalls weitere Ludwige zu erwähnen. Die Gier des Publikums nach falschen Ludwigen schien unersättlich. Die Geschichten liefen ins Absurde. So wurde Pater Guillaume Joseph Alexandre Fulgence (17851869), Philosophieprofessor und Abt im Trappistenkloster in Bellefontaine, zweitweilig an der Kurie tätig und enger Freund Pius IX., für Ludwig XVII. gehalten, obwohl er selbst Richemont als solchen verehrte.19 Und als man bei der Leichenschau eines Fräuleins Savalette de Langes 1858 in Versailles entdeckte, dass die Verstorbene in Wirklichkeit ein Mann war, kam das Gerücht auf, Ludwig XVII. habe in dieser Art von Inkognito Zuflucht gesucht.20Bis heute ruht die Suche nach möglichen Ludwigen nicht. Immer wieder melden sich Hobby-Genealogen, die glauben, unter ihren Vorfahren den einst unter einem Decknamen lebenden Schattenkönig entdeckt zu haben. Und so geraten nachträglich obskure Gestalten aus dem 19. Jahrhundert, Bauern in Savoyen, Sprachlehrer in Graubünden, Kaufleute in Dalmatien u.a. zu königlichen Ehren. Die Spürnasen haben sich im « Cercle d’Etudes Historique sur la Question Louis XVII » organisiert. Die «Cahiers Louis XVII» - Schriftenreihe teilt die Ergebnisse ihrer Forschungen seit 1991 mit. Leider müssen die Herausgeber ihren Zulieferern oft herbe Abfuhren zuteil werden lassen. So etwa dem kanadischamerikanischen Ehepaar Le Bel, das 1995 glaubte beweisen zu können, der Ehemann stamme von Ludwig XVII., die Ehefrau von dessen Schwester ab.21 Die Anhänger der „Überlebenstheorie“ insgesamt waren jedoch im Jahre 2000 einem schweren Schock ausgesetzt. Eine DNA-Abgleichung von Geweberesten aus dem 1795 von dem Arzt Pelletan aufbewahrten Herzen des im Temple verstorbenen Kindes mit dem Genmaterial geeigneter Probanden (Nachkommen in weiblicher Linie der Kaiserin Maria Theresia, der Großmutter Ludwigs XVII.) ergab zweifelsfrei, dass das Pelletansche Herz einem Abkömmling der Kaiserin entnommen sein musste. (Das Herz war von den Erben Pelletans 1895 der Familie Bourbon-Parma übermacht worden.) Die Untersuchung 18 19 20 21

Mark Twain, Gesammelte Werke Band 1, München und Wien 1977, S. 400-401 Hamann und Etienne S. 92 Welch S. 284: Hamann und Etienne halten diese Geschichte für eine journalistische Ente. Die umfängliche Liste der auf diese Weise angeblich nachträglich entdeckten über 60 Ludwige bei Hamann und Etienne mit kritischer Würdigung der einzelnen Fälle S. 155-309

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wurde parallel an zwei renommierten Instituten in Löwen und Münster auf Betreiben des französischen Historikers Philippe Delorme durchgeführt. Das nun als echte Reliquie ausgemachte Herz Ludwigs XVII. wurde 2004 in die alte Grabeskirche der französichen Könige in St. Denis überführt. An der Gedenkmesse nahm ein mehr als tausendköpfiges Publikum teil. Die Gemeinde der Überlebensgläubigen bezweifelt natürlich das Ergebnis der DNA-Analyse. Das Pelletan-Herz sei längst verloren gegangen und auf die eine oder andere Weise mit dem ebenfalls konservierten Herzen des 1789 verstorbenen älteren Bruders Ludwig XVII. vertauscht worden. Beide Herzen waren 1830 im Pariser erzbischöflichen Palais vorübergehend in Aufbewahrung. Das Palais wurde während der Julirevolution dieses Jahres geplündert und demoliert. Aus den Trümmern hätten die Pelletans dann ein … usw.22Die Legende Ludwigs XVII. bewahrt ihre unerschütterliche Faszination. Um so mehr aber ist das erstaunliche Faktum zu betonen, dass es keiner der Prätendenten im Namen Ludwigs XVII. zu einer nennenswerten politischen Bedeutung gebracht hat. Dabei gab es unter ihnen zweifellos begabte und ehrgeizige Persönlichkeiten wie Richemont und Naundorff. Waren die von ihnen aufgetischten Geschichten für ein breiteres Publikum zu unglaubhaft? Dann hätten sie sich mit diesen Exzentritäten selbst um eine mögliche politische Wirkung gebracht. Zwar wurden hinter ihrem Auftreten gelegentlich Machinationen politisch einflussreicher Kreise vermutet, aber solche Vorwürfe blieben stets unbewiesen. Der bereits erwähnte Vicomte Larochefoucauld verdächtigte die napoleonische Polizei und die Orleanisten, hinter den Prätendenten zu stecken, um die streng royalistische Partei des älteren Hauses Bourbon zu verwirren.23 Auf jeden Fall hat sich keine einflussreiche Gruppierung öffentlich für einen der Prätendenten interessieren lassen. Und so blieb deren Wirkung auf sektenartige kleine Gemeinschaften beschränkt, die ihren Helden oft große Opfer brachten und ihnen lange, oft über den Tod hinaus, die Treue hielten. Aber sie blieben letztlich im jeweiligen kleinen Kreis befangen. Es mag aber auch gerade an dieser realen Erfolglosigkeit der jeweiligen Einzel-Anhängerschaft und ihres Kandidaten gelegen haben, dass immer neue Prätendenten und deren angebliche oder echte Nachkommen auftreten konnten, um einen frischen Anlauf zu nehmen. Und so lebt und webt die Legende Ludwigs XVII. weiter. Sie scheint das französische Gegenstück zu dem unsterblichen KasparHauser-Mythos in Deutschland zu sein.24 Es wurde sogar versucht, die Schicksale Hausers und Ludwigs in eine wenn auch lockere Verbindung zu bringen. 22 23 24

Hugues Trosset fasste 2007 die Einwände gegen die Gen-Analyse zusammen: „Contre Enquȇte sur L’Affaire Louis XVII.“ (online-version) Larochefoucauld S. 35-36 Der Vergleich ausdrücklich bei Mayer S. 160. Mayer hält übrigens Hervagault für einen möglichen echten Ludwig. S. 455 Befürchtungen, Hauser könne Naundorff nachahmen wollen.

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Wahrscheinlich hat die Geschichte Hausers Naundorff zu der VincennnesEpisode seiner Memoiren inspiriert. Exkurs: die Dunkelgräfin von Hildburghausen Auf der Suche nach dem geheimnisvollen Verlies, in dem er seine trostlose Kindheit verbracht haben wollte, wurde Hauser angeblich im Januar 1833 auch zu einem Schloss bei Hildburghausen geführt, in dem möglicherweise die Schwester Ludwigs XVII., Marie Thérèse, die „Madame Royale“ und spätere Herzogin von Angoulȇme, in mysteriöser Verborgenheit als die „Dunkelgräfin“ leben sollte. 25 Die Legende um diese Dame bzw. die „Madame Royale“ mag als Illustration für die extrem verstiegenen Spekulationen um die Geheimnisse des Temple vorgestellt werden. Anlass zu diesen Spekulationen gab das Auftreten eines geheimnisvollen Paares, das man vorher in Schweinfurt und Ingelfingen gesehen hatte. Es handelte sich um einen Herrn Vavel de Verday und seine Begleiterin. Sie ließen sich 1807 in Hildburghausen unter der Protektion des dortigen Herzogs nieder und bezogen 1810 das einsam gelegene Schlösschen Eishausen auf der Straße nach Koburg. Das Paar lebte luxuriös, mied aber möglichst jeden Kontakt zur Umwelt. Insbesondere die Dame, stets nach neuestem Pariser Chic gekleidet, zeigte sich bei ihren fast täglichen Ausfahrten nur tief verschleiert. Selbst Köchin und Hausdiener bekamen sie kaum jemals zu Gesicht. De Verday zeigte ebenfalls exzentrische Züge. Er pflegte einen lebhaften Gedankenaustausch mit dem Ortspfarrer Kühne, der seine extreme Belesenheit und allseitigen Interessen offenbarte:- aber fast nur über schriftliche Notizen und Boten. Er zeichnete sich durch diskrete Wohltätigkeit gegenüber den Armen des Hildburghausener Ländchens aus. Die Dame verstarb am 25. November 1837. De Verday ließ den Totenschein auf den Namen Louisa Botta, geboren 1779, ausstellen. Er selbst starb 1845. Sein eigentlicher Name war Leonardus Carolus van der Valck (1769-1845). Er hatte als Offizier im Dienst der französischen und als Diplomat im Dienst der batavisch-niederländischen Republik gestanden. Nach einer reichen Erbschaft zog er sich 1799 ins Privatleben zurück. Soweit die Fakten. Um das „Dunkelgrafenpaar“-so wurden van der Valck und sein weiblicher Schützling im Volksmund genannt – rankten sich bald die absonderlichsten Gerüchte. Aber erst 1852 brachte Karl Kühne, der Sohn des Pfarrers bei Eishausen, mit dem van der Valck/Verday so eifrig korrespondiert hatte, in einer Veröffentlichung die kühnste Vermutung in Umlauf, freilich zunächst nur als romantische

25

Umfassende Darstellung und abgewogene Kritik der Überlieferungen zur Dunkelgräfin bei Thomas Meyerhöfer, Das Rätsel der Dunkelgräfin von Hildburghausen. Bilanz einer 160jährigen Forschung, Hildburghausen 2007 (online-version)

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Hypothese: die Dunkelgräfin könne Marie-Thérèse, die 1778 geborene Tochter Marie Antoinettes und Ludwigs XVI. gewesen sein. Die Geschichte wurde bald zu folgendem Roman ausgesponnen: Bei der Übergabe der bis dahin im Temple festgehaltenen Prinzessin an ihre österreichische Verwandtschaft (im Austausch gegen hochrangige kriegsgefangene französische Offiziere) 1795 in Hüningen bei Basel wäre die junge Frau entweder von den Franzosen oder den Österreichern gegen eine andere Person ausgewechselt worden. Die echte Marie-Thérèse war nach dieser Legende nicht mehr vorzeigbar. Der Aufenthalt im Temple soll sie bis zur Geistesverstörung traumatisiert haben, oder sie soll von einem der Temple-Wärter (Gomin?) geschwängert worden sein. Also tauschte man sie gegen eine ihr ähnlich sehende, repräsentablere Halbschwester um. Sie selbst aber wurde als „Dunkelgräfin“ gut versorgt in die Anonymität geschickt. Ludwig XVI., sonst als braver Familienvater bekannt, hätte demnach, so musste weiter gesponnen werden, eine uneheliche Tochter, Ernestine Lambriquet, gezeugt, und zwar bei einer Geschlechtsverkehrs-Probe mit der Ehefrau eines Kammerdieners nach seiner Phimose-Operation. Ernestine wuchs dann als Spielgefährtin ihrer Halbschwester auf. 1795 habe sie dann deren Rolle ganz übernommen. Das Mysterium der Dunkelgräfin, wer immer sie war, übt bis heute seine Faszination aus. Es hat ein reiches Schrifttum hervorgebracht. 2005 hat sich sogar eine Vereinigung zu seiner Erforschung gebildet, der „Interessenkreis Madame Royale“. Das Fernsehprogramm des MDR strahlte am 28. 10. 2007 die Sendung „Die vertauschte Prinzessin“ zum Thema aus. Die wahrscheinlich doch echte „Madame Royale, fille du roi“, so der Titel Marie-Thérèses nach ihrer Geburt, heiratete 1799 ihren Vetter, den Herzog Louis von Angoulȇme. Sie starb, seit 1844 verwitwet, 1851 im damals österreichischen, heute slowenischen Exil. So blieb sie, die so oft von falschen Ludwigen bedrängt worden war, wohl von dem Gerücht verschont, selbst eine falsche Prinzessin zu sein.26 Kaspar Hauser Ob der Fall des berühmten Findlings Kaspar Hauser in die Geschichte der politisch relevanten falschen Prätendenten gehört, muss noch mehr als das Prätendentenunwesen um Ludwig XVII. in Frage gestellt bleiben. Er selbst hat nie eine besondere Abstammung reklamiert, und seine Beförderung zum angeblichen 26

Da der Herzog von Angoulȇme 1830 nach der Abdankung seines Vaters (Karls X.) während der Julirevolution zu seinen Gunsten für die „Legitimisten“ als König Ludwig XIX. zählte, obwohl er nach etwa 20 Minuten Bedenkzeit wiederum zugunsten seines Neffen, des Grafen von Chambord (für die Legitimisten „Heinrich V.“), auf die Krone verzichtete, hätte Marie-Thérèse sich auch als Exkönigin betrachten können.

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Erbprinzen von Baden erfolgte so recht erst nach seinem Tod. Immerhin wurde versucht, ihn postum politisch zu instrumentalisieren, wenn auch letztlich ohne nennenswerte reale Wirkung. Die Geschichte Kaspar Hausers ist wohl zu bekannt, als dass sie im gegebenen Zusammenhang ausführlich dargestellt werden müsste. Bis heute sind etwa 3000 Bücher und 22 000 Artikel dazu erschienen. 27 Nur zur Erinnerung sei auf einige wichtige Züge hingewiesen: Pfingstmontag, 26. 5. 1828, zeigte sich in Nürnberg ein etwa sechzehnjähriger hilfloser Jüngling, kaum der Sprache mächtig und auch sonst von absonderlichem Gebaren. Die Schriftstücke, die er bei sich trug, waren voll rätselhafter Andeutungen. Sein Name war wohl, wie er selbst niederschrieb, Kaspar Hauser. Der Findling wurde in Polizeigewahrsam gebracht, dann auf Kosten der Stadt Nürnberg verschiedenen Familien zur Pflege anvertraut. Aus seinen wirren Äußerungen glaubte man entnehmen zu können, er habe seine Kindheit und Jugend bei Wasser und Brot in vollkommener Isolation in einem dunklen Verlies verbracht, nur mit zwei Holzpferdchen und einem Holzhund als Spielzeug. Diese schier unglaubliche Vorgeschichte, seine (vorgespielte?) Treuherzigkeit, Unschuld, seine Naivitäten, sein Lerneifer und die Ergebnisse zahlreicher Experimente, die man mit ihm anstellte, machte ihn zum Objekt allgemeiner Anteilnahme, Sensationslust, romantischer Phantasien und kriminologischwissenschaftlichen Interesses. Ein mysteriöser Überfall auf den jungen Mann im Hause eines seiner Betreuer am 17. Oktober 1829 gab Anlass zu weiteren Spekulationen. Merkwürdig war auch 1831 das Auftauchen des exzentrischen englischen Lords Philip Henry, 4. Earl of Stanhope (1781-1855) in Nürnberg, der den Findling schließlich unter seine Fittiche nahm, für seine Kosten aufkam, ihn hemmungslos verwöhnte, teure Reisen zu Nachforschungen über seine Herkunft bezahlte und ihn zunächst bei der Familie des Oberlehrers Johann Georg Meyer in Ansbach unterbrachte. Doch schon 1832 schien der vielreisende Lord sein Interesse an Hauser verloren zu haben. (Nach 1834 veröffentlichte er Schriften gegen Hauser als Betrüger oder zum Betrug Verführten). Oberlehrer Meyer seinerseits glaubte ebenfalls wenig erfreuliche Züge an seinem Pflegesohn zu entdecken. Hauser, der seine Rolle mehr und mehr bewusst genoss (noch 1833 wurde er dem bayrischen Königspaar vorgestellt), wurde auf eine langweilige Schreiberstelle gesetzt. Am 14. Dezember. 1833 wurde er im Ansbacher Hofpark von einem Unbekannten durch mehrere Dolchstiche schwer verletzt. Für den Vorfall selbst gab es keine Zeugen. Am 17. Dezember erlag Hauser seinen Verwundungen. Hatte er sie sich selbst beigebracht, um neues Aufsehen zu erregen?

27

Den neueren Stand der „Hauser-Forschung“ gibt Schiener 2010. Die relevantesten Beiträge zur Hauserdiskussion seit dem 19. Jhd. werden vorgestellt bei Forker im Nachwort S. I-XVI und Weckmann nach S. 189

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Unter den vielen Hypothesen über die Herkunft Hausers ist die Vermutung, er sei ein Prinz des großherzoglichen Hauses Baden gewesen, die bis heute am meisten diskutierte. Ihre Entstehung und politische Bedeutung soll im Weiteren skizziert werden. Dazu ist zunächst ein Blick auf das Haus Baden notwendig. Eine prekäre Dynastie – das Haus Hochberg-Baden28 Markgraf Karl Friedrich von Baden (reg. 1746-1811) aus dem uralten Geschlecht der Zähringer hatte sein bescheidenes Territorium bei der napoleonischen Neuordnung Deutschlands durch seine Verschwägerung mit dem Zarenhaus und die Bereitschaft, seinen Enkel und Erben Karl Ludwig (reg. 1811-18) mit einer Adoptivtochter Napoleons, Stephanie de Beauharnais (1789-1860), zu verheiraten, 1803 zum Kurfürstentum und 1806 zum Großherzogtum mit beträchtlichem Landzugewinn erhöhen können. Großherzogin Stephanie brachte am 29. September 1812 einen Thronerben zur Welt, der aber kurz darauf am 16. Oktober an Stickfluss verstarb. Auch ein 1816 geborener zweiter Sohn Alexander verstarb schon 1817 als Säugling. Die drei Töchter des großherzoglichen Paares waren nicht thronberechtigt. Die zunehmende Hinfälligkeit Karl Ludwigs ließ weiteren Kindersegen unwahrscheinlich werden. Sein Onkel Ludwig, jetzt der einzig mögliche Erbe, hatte keine legitimen Nachkommen. Das Ende des Hauses Zähringen und damit vielleicht des Großherzogtums Baden schien bevorzustehen. Besonders Bayern, das 1803 seine rechtsrheinischen Besitzungen in der Pfalz mit Mannheim und Heidelberg an Baden verloren hatte, drängte auf die Zerteilung des Landes. Karl Ludwig aber setzte 1817 die Grafen von Hochberg als Thronerben nach seinem Onkel Ludwig ein (dieser regierte dann 1818-30). Die Grafen Hochberg stammten aus der morganatischen Zweitehe seines Großvaters Karl Friedrich mit Luise Karoline Freifrau Geyer von Geyersberg (1768-1820), später Reichsgräfin von Hochberg, und waren wegen der Unebenbürtigkeit ihrer Mutter zunächst nicht thronberechtigt. Jetzt wurde ihr Thronrecht 1818 in die badische Landesverfassung aufgenommen und auf dem Kongress zu Aachen im selben Jahr, gegen bayrischen Protest, von den Großmächten anerkannt. 1830 bestieg Leopold von Hochberg den großherzoglichen Thron. Der Tod der Erbprinzen 1812 und 1817, das auf eine schleichende Vergiftung hinweisende Siechtum Karl Ludwigs und die Weigerung seines Onkels und Erben Ludwig, für legitime Nachkommen zu sorgen (man sagte ihm eine Affäre mit der Hochbergerin nach), führten bald zu allerlei Verdächtigungen. Eine 1816 bei Kembs am Rhein (nördlich von Basel) aufgefundene Flaschenpost mit der in Latein abgefassten Botschaft eines S. Hanes Sprancio, abgeschickt aus einem Kerker in Laufenburg mit dem Vermerk, „derjenige weiß 28

Zu den dynastischen Verhältnissen zusammenfassend auch Schiener S. 157-59

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den Ort nicht, der nun mein Blatt (folio, aber wohl gemeint solio, meinen Thron) innehat“ schien bereits auf düstere Geheimnisse im Hause Baden hinzuweisen. Sie wurde in französischen und deutschen Zeitungen publiziert.29 1825 fand die Familie von Stromwalter es für glaubwürdig, als ein ihr schon vor Jahren anvertrautes Pflegekind, Jakob Thalreuter, sich plötzlich als Prinz von B(aden) offenbarte. Der regierende „Herzog“ habe sein Söhnchen, um es vor Giftanschlägen zu bewahren, einem Offizier anvertraut und dieser habe den Knaben an die Stromwalters als sein eigenes Kind weitergereicht. Dieser Offizier, ein Freund des alten Stromwalters, war freilich längst gefallen. Der 15jährige Jakob plünderte unter dem Vorwand, sein fürstlicher Vater von B(aden) werde sie für ihre Aufwendungen demnächst königlich belohnen, die alten Stromwalters bis aufs Hemd aus. Der Schwindel flog auf, Jakob starb 1828 im Arbeitshaus.30 Gewiss handelte es sich hier nur um die kriminelle Hochstapelei eines frühreifen Ganoven, aber sie war doch ein Symptom dafür, was dem Hause Baden zugetraut wurde. Kaspar Hausers Aufstieg zum Prinzen von Baden Schon in der Bekanntmachung des Nürnberger Bürgermeisters Jakob Friedrich Binder (1787-1856, Bürgermeister 1821-53) zum Fall Hauser vom 7. 7. 1828 wurde neben der breiten Ausmalung der schrecklichen Verlies-Geschichte auch angedeutet, Kaspar stamme wahrscheinlich aus einer vornehmen Familie. Seine Einkerkerung lasse auf düstere Machenschaften um ein bedeutendes Erbe schließen. Es seien „die Vorzüge vornehmer Geburt“ an ihm festzustellen, die wie ein „Stern in der dunklen Nacht seines Lebens, aus seinem ganzen Wesen hervorleuchtet.“31 Vielleicht hatten die bei Hauser festgestellten Impfnarben den Bürgermeister auf diese Idee gebracht. 32 Die Anspielungen Binders fanden sogleich ein Echo. Aus Baden ging noch 1828 ein anonymer Brief ein, der auf eine fürstliche Abstammung Hausers hinwies. Ob dieser Brief auch dem berühmten Rechtsgelehrten (Johann Paul) Anselm (Ritter) von Feuerbach (1755-1833), Präsident des Appellationsgerichtshofes in Ansbach und damit eine Art Ober-Betreungsinstanz in der Angelegenheit Hauser, bekannt wurde, muss dahingestellt bleiben. 33 Wahrscheinlich war es, 29 30 31 32

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Zur Diskussion um die „Flaschenpost“ kritisch Linde Band 2 S. 116 Anselm Ritter von Feuerbach, Darstellung merkwürdiger Verbrechen, 2. Band, Gießen 1829, S. 417-48 zitiert nach Hermann Pies (Herausg.) S. 249 So Sven Felix Kellerhof, Der verlorene Sohn, in: Welt-online 20. 11. 2004. Zu bedenken ist aber, dass in Bayern schon 1807 die allgemeine Pockenimpfung eingeführt worden war. Mayer S. 271 spricht von Briefen an Binder und Feuerbach. Das Aktenbündel mit dem Brief an Binder ist verlorengegangen. Mittelstädt S. 5.

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denn Feuerbach lehnte die fürstliche Herkunft Hausers, von der er also munkeln gehört hatte, 1830 in Privatbriefen als eine romantische Sage ab. Dann aber ging bei Feuerbach 1831 ein Schreiben des Ökonomierates Cuno aus Ratibor in Schlesien ein, in dem auf eine mögliche Verbindung zwischen Hauser und der Flaschenpost von 1816 aufmerksam gemacht wurde. (Cuno hat 1834 die Presse nochmals darüber informiert.)34 Auch mag der von ihm 1829 publizierte Fall Thalreuter den Präsidenten auf die Geheimnisse des Hauses Baden verwiesen haben. Und nicht zuletzt müssen Feuerbach die so genannten „Schlossträume“ Hausers vom August 1828 bekannt geworden sein. Der persönliche Eindruck Hausers, von dem Feuerbach förmlich fasziniert war, tat ein Übriges. In seiner großen, bald in ganz Europa verbreiteten Darstellung des Falles Hauser („Kaspar Hauser. Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen“, Ansbach Januar 183235) ließ Feuerbach am Ende durchblicken, Kaspar Hauser könne aus allerhöchsten Sphären stammen. Er schrieb (S. 138) etwas gewunden zur möglichen Aufklärung über die Hintergründe des Seelenverbrechens an Hauser: „Allein den Armen der bürgerlichen Gerechtigkeit sind nicht alle Fernen, noch alle Höhen und Tiefen erreichbar…und die mit Flegeln bewehrten hochgewaltigen Kolosse, die vor goldenen Burgtoren Wache stehen“ vermöchten die Nachforschungen „in ohnmächtige Ruhe zu bannen“. Diese noch undeutlichen Anmerkungen Feuerbachs hätten schon 1832 zu wirklichen politischen Weiterungen führen können. Königin Karoline von Bayern (1776-1841), Witwe König Maximilians I., eine gebürtige Prinzessin von Baden, erbat sich nach der Lektüre von Feuerbachs Ausführungen nähere Aufklärung über die Vermutungen des Präsidenten zur Abstammung Hausers. Auch ihr waren offenbar Gerüchte über seltsame Vorgänge in Karlsruhe zugetragen worden. Sie gab Feuerbach auf dessen Verlangen ihr königliches Ehrenwort absoluter Diskretion. Schon im Februar 1832 ließ Feuerbach darauf der Königin ein Memoire betitelt „Wer möchte wohl Kaspar Hauser sein?“ zukommen. In einer äußerst gewagten Deduktion kam er darin zum Schluss: „Kaspar Hauser ist das eheliche Kind fürstlicher Eltern, welches hinweggeschafft worden ist, um Andern, denen er im Wege stand, die Succession zu eröffnen.“ 36 Er meinte, dies aus den seltsamen Vorkehrungen, die man offensichtlich bei der Einkerkerung des Findlings getroffen hatte und aus dem Mordanschlag 1829 sowie den Schlossträumen Kaspars ableiten zu dürfen. Aus dem vermuteten Geburtsjahr Hausers 1812 schloss er dann auf einen Kindertausch im Hause Baden, wo ja im selben Jahr ein eben geborener, als gesund bezeichneter Erbprinz so plötzlich angeblich verstorben war. Feuerbach lenkte auch den Verdacht auf die ehrgeizige Gräfin Hochberg, die so ihren Söhnen die Thronfolge zuspielen wollte. Wahrscheinlich sollte der ausgetauschte Erbprinz ganz beseitigt werden, aber 34 35 36

Broch (Kolb) 1859 S. 83 Neu herausgegeben und kommentiert von Armin Forker, Heidelberg 1985 Zitiert nach Broch, (Kolb) S. 40, dort auch der volle Text des „Memoires“

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ein damit beauftragter mitleidiger Arzt hätte ihn wohl in sein Versteck gebracht. Der ominöse Kerkermeister Hausers sei also eigentlich sein Wohltäter gewesen. So habe Hauser ihn auch in seinen ersten Äußerungen beschrieben. Erst die Bekanntmachung Binders habe diesen Mann zu einem barbarischen Monstrum stilisiert. Königin Karoline ließ sich jedoch von ihrer Mutter Amalie, der Großmutter des 1812 in ihrer Gegenwart verstorbenen badischen Erbprinzen, schriftlich versichern, sie selbst sei im Sterbezimmer anwesend gewesen, von einer Vertauschung könne keine Rede sein. Damit verschwand das brisante Memoire zunächst in der Versenkung. Doch scheint man am bayrischen Hof gelegentlich mit dem Gedanken gespielt zu haben, Kaspar Hauser politisch zu instrumentalisieren. König Ludwig I. (1786-1868, regierte 1825-48) ließ sich nicht davon abbringen, in Kaspar Hauser einen Zähringerprinzen zu sehen. Aus den Jahren 1833, 1837, und noch 1863 und 1865 sind Notizen des Königs erhalten, in denen er auf die frappante Ähnlichkeit des Großherzogs Ludwig I. von Hessen-Darmstadt und der Herzogin Marie von Hamilton, eines Vetters und einer Schwester im Falle der fürstlichen Geburt Hausers, mit dem Findling zurückkommt. Anlässlich des Nationalfestes in Nürnberg am 27. August 1833 ließ er sich Hauser persönlich vorstellen. Hauser bat das Königspaar um Straffreiheit für seinen ehemaligen Wärter (den er freilich nie zu Gesicht bekommen haben wollte) und für sich selbst um königlichen Schutz. Königin Therese versprach ihre Protektion in unverbindlich huldvollen Wendungen. Schon nach dem ersten Mordanschlag war, mit königlicher Genehmigung, eine Belohnung von 500 Gulden für die Erfassung des Täters ausgesetzt worden. Nach der Ermordung Hausers 1833 wurde eine diesbezügliche Prämie von 10 000 Gulden ausgelobt, eine für die damalige Zeit ungeheure Summe.37 Der Hintergrund für Ludwigs Interesse an Hauser war der bereits erwähnte bayrische Konflikt mit Baden. Ludwig insbesondere fühlte sich aus seinen Jugendjahren eng mit der Pfalz verbunden, deren rechtsrheinischer Teil 1803, bestätigt 1815, von Bayern (gegen gute Entschädigung) an Baden abgetreten worden war. Ludwig fand sich damit nicht ab: er führte den Titel eines Pfalzgrafen weiter. Was immer Baden beschädigen konnte, war Ludwig recht. Freilich ging er nie so weit, Hauser als offiziellen Prätendenten aufzubauen. Dies wäre für die bayrischen Ansprüche eher kontraproduktiv gewesen. Ein echter Zähringer alias Kaspar Hauser, statt der Linie Hochberg auf dem großherzoglichen Thron, hätte die Situation Badens eher stabilisiert. Aber die mit Hauser verbundenen Gerüchte um die angeblichen dunklen Intrigen der Hochberger am Köcheln zu halten,

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Zum Thema Ludwig I.-Hauser vgl. Kurt Kramer, Kaspar Hauser. Ein kurzer Traum und kein Ende, Ansbach 2008, besonders S. 138 f. Zur ausgesetzten Prämie, die bis dahin höchste dieser Art, Broch (Kolb) S. 21

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schien besonders nach dem Tod Hausers durchaus nützlich38. Doch auch davon kam man ab, als die Prinzen-Sage um Hauser 1834 von ganz anderer, grundsätzlich antimonarchischer Seite politisch ausgeschlachtet wurde. Gegen solche Strategien stand eher die Solidarität der Throne auf der Tagesordnung. „Wo die liberale Zersetzung die deutschen Throne gefährdet, den badischen Herrscher disqualifizieren, das hieße die Festigkeit aller deutschen Dynastien in Frage zu stellen“ bedachte sich König Ludwig jetzt39 „Die Hauserlegende diente der Partei des Umsturzes als ein wirksames Mittel, um den Massen die Verderbnis der Höfe zu beweisen“ kommentierte später der große nationalkonservative Historiker Heinrich von Treitschke die gegen das Haus Baden-Hochberg gerichteten Hauser Publikationen. 40 Diese Kampagne setzte erst nach Hausers Ableben ein. Die „liberale“ Hauser-Kampagne 1834 griff der radikale Republikaner und Geheimbündler Joseph Heinrich Garnier (1802-1855 ?)41, wie er selbst sagte, alle umlaufenden Gerüchte gegen die Hochberger auf. Geschickt komponierte er daraus eine mit Kaspar Hauser zusammenhängende Schauergeschichte. Sie sollte „ein Pröbchen von deutscher Diplomatie und Fürstenpolitik geben.“42 Garnier handelte auch aus persönlicher Betroffenheit. Ihm war eine Lehreranstellung in Baden versagt worden. 1833 hatte er wegen politischer Umtriebe auch kurz in einem badischen Gefängnis eingesessen. Meistens schlug er sich als Sprachlehrer und politischer Emigrant, Geheimbündler und Publizist im Ausland durch, ab 1828 zeitweilig in Paris und Straßburg, später in London. Er knüpfte Kontakte zu allerlei Prominenz, in Paris etwa zu Heinrich Heine, der ihn für einen abscheulich talentierten Demagogen hielt. In London charakterisierte ihn der große Historiker Carlyle als einen persönlich liebenswürdigen, politisch umtriebigen Wirrkopf. Um 1848 kehrte Garnier nach Deutschland zurück, wurde 1851 in Freiburg inhaftiert und schrieb im Regierungsauftrag eine erste Geschichte der Arbeiterbewegung nieder. Auch widerrief er seine Anschuldigungen gegen das Haus Baden. Danach verlieren sich seine Spuren. Seine 1834 in Straßburg veröffentlichte Broschüre „Einige Beiträge zur Geschichte Caspar Hausers nebst einer dramaturgischen Einführung“ machte Sensation.43In ihr spielt Großherzog Ludwig (1818-30) den Hauptbösewicht. Als 38 39 40 41 42 43

Zu diesen Überlegungen schon Linde S. 43. Auf das Kontraproduktive hatte bereits Kolb hingewiesen. Zitiert nach Der Spiegel Nr. 48 25. 11.1996, S. 261 Zitiert nach Weckmann S. 202 Zu Garnier: Linde S. 123-28, auch der gut belegte Wikipedia-Artikel zu Garnier Garnier S.13. Zugänglich als google-book im Internet

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halbinzestiöser Geliebter seiner Stiefmutter, der Gräfin Hochberg, und wahrscheinlich leiblicher Vater ihres Sohnes, des späteren Großherzogs Leopold, sorgt er, so Garnier, für die gesundheitliche Zerrüttung seines Neffen Karl Ludwig durch Alkohol und Ausschweifungen, den Kindertausch 1812, den Tod des zweiten Erbprinzen 1817, das Hinscheiden seines kinderlosen älteren Bruders Friedrich im selben Jahr usw., stets in Zusammenarbeit mit seiner Geliebten. Das kriminelle Pärchen lässt den ausgetauschten Erbprinzen, den späteren Kaspar Hauser, nur deshalb am Leben, um ihn als wechselseitiges Pfand für das Stillschweigen über die gemeinsamen Verbrechen aufzubewahren. Die Flaschenpost von 1816 ist auf die Gewissensbisse eines der Helfershelfer der Untat zurückzuführen. 1828, die Partnerin Hochberg ist 1820 verstorben, wird der eingesperrte Prinz als harmloser Trottel in die Freiheit entlassen. Dabei legt man auch noch falsche Spuren hinsichtlich seiner Herkunft. Da Hauser dann doch als Prinz ausgemacht wird, muss er sterben. Handlanger bei all diesen Machenschaften und wahrscheinlicher Mörder Hausers ist ein gewisser (Johann) Heinrich (David) Hennenhofer (1773-1850). Damit hatte sich Garnier einen Mann (bei ihm Hennehofer genannt) zur Zielscheibe genommen, der in Baden, insbesondere bei den Liberalen, allgemein verhasst war. Aus bescheidensten Verhältnissen war Hennenhofer zum Günstling Großherzog Ludwigs aufgestiegen, ohne jedes militärische Verdienst zum Major befördert und sogar geadelt worden. Er war zuletzt Leiter der diplomatischen Abteilung des badischen Außenministeriums. Dahinter verbarg sich schlicht der badische Geheimdienst. Auch nach seiner Pensionierung 1830 galt er als eine Art graue Eminenz im Kampf gegen Liberalismus und Umsturz.44 In London ließ Garnier später verlauten, er könne seine zunächst auf bloßer Kombination beruhenden Anwürfe von 1834 durch ihm zugespielte Dokumente tatsächlich untermauern. Er plante eine entsprechende Artikelserie, beließ es aber dann bei der ankündigenden Einleitung. Hennenhofer soll ihn bestochen haben. Seine Unterlagen wertete nach Jahrzehnten Georg Friedrich Kolb (180884) aus, von dem noch die Rede sein wird. Das Giftgebräu Garniers wurde zunächst von dessen zeitweiligem Freund Friedrich Seybold (1783-1842) weiter popularisiert. Seybold, ein württembergischer Offizier und Zeitungsherausgeber, wegen eines Berichts über seinen Aufenthalt im revolutionären Paris von 1830 kurze Zeit im Gefängnis, verpackte das Thema Hauser und Baden geschickterweise in einen anonym erscheinenden Roman, betitelt „Kaspar Hauser oder der Findling. Romantisch dargestellt“ (Stuttgart 1834).45 Seybold befand sich zu dieser Zeit wieder ( bis 1836) im sicheren französischen Exil.

44 45

Zu Hennenhofer und seinen Verwicklungen mit Garnier und dessen Nachahmern: Broch S. 58-69 Zu Seybold: Weckmann S. 191

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Das Land Baden, Hennenhofer, Leopold und die ganze übrige Personage werden im Roman mit Decknamen versehen. Eine Schlüsselszene des Romans ist ein Kronrat nach dem Hinscheiden eines Großherzogs (gemeint ist Ludwig) 1830. Dessen hinterlassene Dokumente, im Kronrat diskutiert, enthüllen den Kindestausch und die fürstliche Identität Hausers. Der offizielle Thronnachfolger (gemeint ist Leopold) will zugunsten des Findelkindes auf die Krone verzichten, doch Hennenhofer (im Roman: „der Kammerjunker Dangelmann.“) weist zynisch auf die Unmöglichkeit eines solchen Verzichts aus Gründen der Staatsraison hin und droht mit noch schrecklicheren Enthüllungen. Im Gegensatz zu anderen Romanciers, die das Thema der Prinzenschaft Hausers (er wurde sogar als Sohn Napoleons dargestellt) aus bloßem Sensationsund Geschäftskalkül aufgriffen, verfolgte Seybold mit seinem Werk offen das politische Ziel, das Haus Baden und damit die Monarchie als solche zu diskreditieren. Seine Kronratlegende fand denn auch als angeblich reales Faktum Eingang in die politische Publizistik.46 So zum Beispiel bei Sebastian Seiler47, der 1840 in Paris unter dem Pseudonym N. E. Mesis ( griechisch Nemesis, d.h. die Rache) die Schrift „Kaspar Hauser der Thronerbe Badens“ 48 veröffentlichte. Dabei handelte es sich mit leichten Änderungen und phantasievoll-romanhaften Ausmalungen um einen Aufguss der Broschüre Garniers samt dem Kronrat Seybolds. Seiler gab in der Einleitung selbst zu, man könne seine Darstellung der „infernalischen Verbrechen“49 am Hofe zu Karlsruhe als bloßen Galimatias oder eine boshafte Satire missverstehen. Um dieser Gefahr zu entgehen, fügte er einen dokumentarischen Anhang bei.50 Es handelte sich um Briefe, die Major Hennenhofer an einen Ferdinand Sailer gerichtet hatte. Dieser Sailer sollte für Hennenhofer die Emigrantenszenerie in Straßburg und in der Schweiz ausspionieren. Der wendige Sailer verstand sich selber jedoch als eine Art Doppelagent. Eines der Hauptanliegen Hennenhofers an Sailer war die Aufdeckung der Hintermänner jener Machwerke, die ihn selbst als Mörder Hausers verleumdeten. Auch sollte Sailer für den Aufkauf, das Abfangen bzw. die Unterdrückung besagter Schriften sorgen. Diese von ihm dokumentierten Bemühungen Hennenhofers wollte Seiler als Beweis für dessen schuldhafte Verwicklungen in den Fall Hauser gewertet wissen. 46

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Zwar hält selbst der entschiedene „Hauserianer“ Pies diesen Kronrat für fiktiv (S. 307), aber Mayer weist darauf hin, dass eine Kopie eines Gedächtnisprotokolls zu dieser Ratssitzung, verfasst von dem badischen Freiherrn von Rüdt 1833, also drei Jahre nach dem Ereignis –das ursprüngliche Schriftstück scheint verloren -, von dessen Urenkelin vorgelegt worden ist. Den Einwand, von Rüdt habe vielleicht nur den Seyboldschen Roman exzerpiert und datiert, lässt Mayer nicht gelten. S. 307-18. Zu Seiler: Linde S. 133 Zugänglich als google-book im Internet. Der Kronrat dort S. 123-26 Seiler S. 11 Seiler S. 164-202, S. 164 wird Hennenhofer als „Henkerseele“ geschmäht

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Sebastian Seiler war wie sein Beinahe-Namensvetter Ferdinand Sailer eine sehr zwielichtige Gestalt. Vielleicht hatte er Hennenhofer selbst als Sekretär gedient, über dessen Lebensumstände er jedenfalls gut Bescheid wusste. Bei ihm taucht zuerst die Bemerkung auf, Hennenhofer habe an umfangreichen Memoiren gearbeitet. Diese ominösen Memoiren spuken bis heute in der HauserLiteratur herum. Seiler und sein Züricher Verlag hatten übrigens der badischen Regierung und Hennenhofer 1700 Louisdor, eine ziemlich beträchtliche Summe, für die Nichtveröffentlichung des Hauser-Manuskripts und der Dokumente abverlangt. Die Züricher Polizei hatte auf badisches Ansuchen diesen Umtrieben ein Ende gesetzt51. Nach Paris entkommen, schritt Seiler dann zur rächenden Tat. Sein Machwerk wurde 1844 und 1847 neu aufgelegt. Durch Aufnahme seines Inhalts in die populäre „Geschichte der deutschen Höfe seit der Reformation“ von Karl Eduard Vehse (1802-70)52 wurden Seilers Behauptungen einem noch größeren Publikum bekannt. Vehse gab seinen Lesern immerhin Zweifel am Wahrheitsgehalt zu bedenken. Die fragliche Seriosität ihrer Verfasser und die allzu gewagten Hypothesen all dieser Schriften hätte sie leicht vollkommen unglaubwürdig gemacht, wäre da nicht die Reaktion des Majors Hennenhofer und des badischen Hofes gewesen. Der Versuch Hennenhofers, diese Publikationen zu unterdrücken, schien aber nicht nur Seiler ein Beweis für sein schlechtes Gewissen. (Andrerseits war es nur allzu verständlich, dass der Major sich mit seinen Mitteln gegen die vorgebrachten Verleumdungen wehrte.) Die badische Regierung ließ die Schriften Garniers und Seilers durch den Bundesrat des Deutschen Bundes verbieten. Auffällig war auch das Auftauchen hoher badischer Beamter in Ansbach, ein dortiger Aufenthalt der Großherzogin Sophie (1801-65), der Gemahlin Leopolds, 1833 und eine Visite des leitenden badischen Ministers von Reitzenstein Ende Dezember 1834, kurz nach dem Ableben Hausers. Auch der ominöse Lord Stanhope stand auf vertrautem Fuß mit dem badischen Hof. Nach seiner Abreise aus Ansbach 1832 suchte er sofort die verwitwete Großherzogin Stephanie in Mannheim auf.53 Und schließlich veröffentlichte der bekannte Philosoph und Religionskritiker Ludwig Feuerbach (1804-72) 1852 aus dem Nachlass seines Vaters Anselm das bis dahin geheim gehaltene Memoire für Königin Karoline.54 Damit erhielt die Hauser-Legende doch wieder einen seriösen Anstrich. Weitere Veröffentlichungen trugen dazu bei. 51 52

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Zu diesem Erpressungsversuch Mittelstädt S. 13, Anm. 2 Karl Eduard Vehse, Geschichte der deutschen Höfe seit der Reformation, Band 26:Geschichte der Häuser Baiern, Württemberg, Baden und Hessen Teil 4-5, 1853 ab S. 247 Zu diesen badischen Implikationen ausführlich Kramer Ludwig Feuerbach, Anselm Ritter von Feuerbachs Leben und Wirken, Leipzig 185253, Band 2 S. 318-33

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Der überaus aktive radikal-liberale Politiker und Publizist Georg Friedrich Kolb(1808-84)55, ein angesehener Mann (Bürgermeister von Speyer, Paulskirchenabgeordneter, 1883 Mitglied der ersten Internationalen, auch um die Statistik als Wissenschaft verdient), griff seit 1859 die Prinzentheorie wieder auf. Unter dem Decknamen F. K. Broch veröffentlichte er in Zürich „Kaspar Hauser, kurze Schilderung seines Erscheinens und seines Todes. Zusammenstellung und Prüfung des bis jetzt vorliegenden Materials “. Zwar meinte er, die Debatte sei nur noch von historisch-theoretischem Interesse und besitze nicht mehr die geringste politische Bedeutung. Doch mochte er die Sache damit allzu schnell verharmlosen. Denn natürlich beschädigte die Prinzentheorie, die Kolb in einer Artikelserie in der „Frankfurter Zeitung“ 1872-75 wieder aufwärmte, auch weiter das Ansehen des Hauses Hochberg-Baden und den monarchischen Gedanken überhaupt. Kolb fasste seine Forschungen nochmals 1883 zusammen.56 Neben dieser ernsthaften Diskussion wucherte die Kolportage weiter. Es wurde gemunkelt, am Hofe von Karlsruhe zerbreche man förmlich unter der Gewissenslast des an Hauser verübten Unrechts.57 So soll Großherzogin Stephanie mit einer ihrer Töchter heimlich nach Ansbach gereist sein. Beim Anblick Kaspars im dortigen Hofgarten sei sie einer Ohnmacht nahe gewesen. Ihre Tochter Marie (1817-88), Herzogin von Hamilton, habe von da an Hauser stets als ihren Bruder betrachtet. Großherzog Leopold plante angeblich, zugunsten Hausers auf seinen Thron zu verzichten. Stanhope als sein Agent habe den Auftrag gehabt, den wahren Erben Badens erzieherisch auf seine Herrscherrolle vorzubereiten. Auf seinem Sterbebett habe Leopold nach einem Bild Hausers verlangt. Sophie, die Gemahlin Leopolds, habe, über die Abdankungspläne des Großherzogs aufgebracht, die Ermordung Hausers in die Wege geleitet. Leopolds Sohn Ludwig II. (nominell Großherzog 1852-56 gest. 1858) sei aus Gewissensqualen wegen Hauser wahnsinnig geworden. Und noch Erbprinz Max(imilian) von Baden (1867-1929), 1918 der letzte kaiserliche Reichskanzler, habe geplant, bei seiner Thronbesteigung die Überreste Hausers in die Gruft der Zähringer zu überführen.58 In Wirklichkeit sahen die badischen Fürstlichkeiten in dem Prinzenmythos um Hauser nur ein lästiges Ärgernis. Großherzogin Stephanie z. B. blieb dem zum Hauser-Kritiker mutierten Lord Stanhope zeitlebens freundschaftlich ver-

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Neue Deutsche Biographie Band 12, Berlin 1980 S. 441-42 G. Friedrich Kolb, Kaspar Hauser, ältere und neuere Beiträge zur Aufhellung der Geschichte des Unglücklichen, Regensburg 1883 Das Folgende z.T. romanhaft ausgeführt bei Kurt Kramer. Kramer macht die Großherzogin Sophie, Gemahlin Leopolds, die von ihrer Schwiegermutter, der Hochbergerin, in das Verbrechen von 1812 eingeweiht worden sei, zur Drahtzieherin bei der Ermordung Hausers. Vgl. auch Johann Mayer S. 319 f. und 480. Der Spiegel Nr. 48 vom 25. 11. 1996 S.259

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bunden. 59 Großherzog Friedrich I. (1856-1907) meinte, „dass die Verbindung der Geschichte des unglücklichen Caspar Hauser mit dem Gr.Hause Baden zu den schlimmsten Erfindungen gehört.“ Und die Herzogin von Hamilton klagte über die „unglückliche Pressefreiheit“ in der Hauser-Sache.60 (achspiele Das Haus Baden musste sich noch lange gegen die erwähnten Gerüchte wehren. 1875 sah man sich bemüßigt, die Dokumente zum Hinscheiden des Erbprinzen von 1812 in der „Allgemeinen Zeitung“ (Beilage) vom 3. Juni zu veröffentlichen. Es soll dies auf Wunsch Kaiser Wilhelms I. geschehen sein. 61 Dessen Tochter Luise (1838-1923) hatte 1856 Großherzog Friedrich I. von Baden geheiratet, und Wilhelm schien ernstlich um das Ansehen seines Schwiegersohnes – der 1871 im Spiegelsaal von Versailles das erste Hoch auf „Kaiser Wilhelm“ ausbringen hatte dürfen – besorgt zu sein. Und wahrscheinlich sind die Arbeiten von Otto Mittelstädt (1876), und Antonius van der Linde (1887) die mit der Prinzentheorie kritisch-polemisch aufräumten, nicht ohne Anregung aus Karlsruhe zustande gekommen. Sie haben eine Flut von Gegenschriften provoziert.62 Auch im 20. Jahrhundert erlosch die Auseinandersetzung zwischen den „Hauserianern“ und ihren Kritikern nicht, obwohl nach dem Ende des Großherzogtums Baden 1918 nun endgültig ohne jede politische Relevanz. Hermann Pies (gest. 1983), der sein Leben der Hauser-Forschung weihte, glaubte 1966 („Kaspar Hauser. Eine Dokumentation“, erschienen Ansbach) endgültig die Beweise für das Prinzentum Hausers erbracht zu haben. Seine IndizienKonstruktion war nicht ohne Reiz. 1996 jedoch schien eine von „Der Spiegel“ in Auftrag gegebene DNAAnalyse, basierend auf einem Blutfleck auf der seit 1833 zunächst als PolizeiAsservat aufbewahrten Unterhose Hausers die Debatte endgültig zu beenden. 59 60

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Mayer S. 565 Der Spiegel Nr. 48 vom 25. 11. 1996 S. 269-70. Gänzlich unberührt von der Hauserlegende blieb die badische Familie freilich nicht. So wusste der preußische Diplomat Radziwill am 24./25. 1906 aus Karlsruhe zu berichten: „Das Gespenst Gaspar Hausers quälte den Großherzog (-Friedrich II.-) schrecklich, der in dem Ausbleiben männlicher Nachkommen eine Strafe des Himmels sah.“ (aus dem Französischen übersetzt von Verf.). Walter Peter Fuchs, Großherzog Friedrich II. und die Reichspolitik 1871-1907, 4. Band 1898-1907, Stuttgart 1980. Umso größer die Freude über die Geburt des Prinzen Berthold Friedrich, eines Sohnes von Prinz Max 1906. Linde S. 167 Vgl. die Polemik Mayers gegen Linde S. 304-06: van der Linde wird als finanziell gescheiterter Psychopath vorgestellt. Freilich war auch van der Linde in seinem Kampf gegen die „Hauserbande“ (S. 118), die den armen Kaspar wohl noch zum Sohn des Tenno erklären wolle (S. 46), mehr als polemisch.

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Danach konnte Hauser keineswegs mit den weiblichen Nachkommen der Großherzogin Stephanie verwandt sein. Aber bereits damals bemerkten Hauserianer spöttisch, die Untersuchung habe allenfalls ergeben, dass die Nachkommen der Stephanie nicht mit der Unterhose Hausers verwandt seien63. Der Blutfleck sei z.B. zu Ausstellungszwecken gelegentlich nachgefälscht worden. 2002 ergab eine weitere Analyse im Auftrag des Senders Arte dann auch, dass eine Abstammung Hausers aus dem Hause Baden nicht mit allerletzter Sicherheit auszuschließen sei.64 An die tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse in Baden vermochte die Hauser-Geschichte jedoch niemals ernstlich zu rühren. Den Aufstieg der ursprünglich unebenbürtigen Hochberger in den illustren Verwandtschaftszirkel des regierenden Hochadels haben alle Verleumdungen nicht verhindert. Zwar soll Königin Viktoria von England noch über die Ehe der Hohenzollerntochter Luise, Schwägerin ihrer eigenen Tochter, mit Friedrich I. von Baden die Stirne gerunzelt haben,65 aber eben diese Ehe setzte den Schlussstein für den Aufstieg der Hochberger. Und die letzten Großherzoge von Baden erfreuten sich auch der uneingeschränkten Liebe und Zuneigung ihres Volkes.

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Leserbrief von Walter Moreth in Der Spiegel Nr. 50 vom 9. 12. 1996 Schiener 215 ff. und Der Spiegel Nr. 48, 25. 11. 1996 S. 70 Nr. 52, 21. 12. 2002 S. 134 Der Spiegel Nr. 48, 25. 11. 1996 S. 268

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XXII. Schlussbetrachtung Bedingungen und Strukturen politisch relevanter Hochstapelei Auffallend am Phänomen der politisch relevanten Hochstapelei ist vor allem, dass es fast ausschließlich im Rahmen von Monarchien auftritt. (Kleine Ausnahmen bestätigen die Regel. So der falsche Gracchus und der falsche Marius in Rom. Aber auf ihren Zusammenhang mit dynastischen Tendenzen ist in Kapitel III verwiesen worden.) Man weiß nichts von falschen Präsidenten, Ministerpräsidenten und dergleichen von auch nur geringster politischer Wirkung. Es hängt dies offenbar mit einer Eigentümlichkeit der Monarchie zusammen, die sie für politische Hochstapelei anfällig macht: nur in einer Monarchie existieren Individuen, die allein durch ihre Geburt, ihr bloßes Dasein, legitimen Anspruch auf die ehrenvollste, materiell glänzendste, oft die real entscheidendste politische Position besitzen – und dies auf Lebenszeit und zumindest theoretisch unabhängig von Zustimmung oder Ablehnung durch die politische Gemeinschaft, in der sie leben. Und dies alles ohne irgendeinen Leistungsnachweis. (Einen besonderen Fall bilden wohl Wahlmonarchien, bei denen jedoch meist Salbung und Krönung dem einmal Gewählten für den Rest seines Lebens einen ähnlich starken Anspruch wie das Erbrecht geben.) Legitimiert wird dieser Anspruch durch eine oft ins Religiöse hineinspielende Aura, die das königliche „Blut“ und/oder die mystischen Riten von Krönung und Salbung verleihen. Soweit der idealtypische Entwurf des monarchischen Prinzips. Es scheint auf den ersten Blick als krasse Unvernunft, die Auswahl für das höchste Amt dem bloßen Zufall der Geburt zu überlassen oder wenigstens (im seltenen Fall der Wahlmonarchie) einer Person bedingungslos auf Lebenszeit anzuvertrauen.1 In der kruden Realität kommt es dann ja auch korrigierend nicht allzu selten aufgrund extremer Unfähigkeit oder politischer Krisen zum Sturz oder zur Abdankung von einzelnen Monarchen oder ganzer Dynastien. Aber selbst abgesetzte Monarchen oder Dynastien bleiben, mit oder gegen ihren Willen, immer noch auf die eine oder andere Weise ein Politikum. Sie sind und bleiben Träger eines „unauslöschlichen Siegels.“ Selbst der byzantinische Brauch, gestürzte Herrscher durch Verstümmelungen, Blendungen oder Zwangstonsur dieses Siegels zu berauben (vgl. Kapitel V), zeigte nicht den gewünschten Erfolg, wie die Wiederkehr Justinians II. oder die Konstantins VI. in der Gestalt Thomas des Slawen zeigt (Kapitel V). Verwiesen werden kann hier

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Die Implikationen eines solchen Systems können hier nicht weiter ausgeführt werden. Doch kann die Vermutung geäußert werden, dass seine scheinbar so offenkundige Irrationalität eine durchaus „vernünftige“ Funktion haben könnte. Sie entzieht die höchste Autoritätsposition innerhalb einer politischen Gemeinschaft den sonst erbitterten Positionskämpfen, die bei freiem Wettbewerb das Gemeinwesen zerrütten und ihr Ansehen beschädigen würden.

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auch auf den Fall des geblendeten (und kastrierten!) Königs Magnus im mittelalterlichen Norwegen (vgl. Kapitel VIII). Sich an die Stelle solchermaßen ausgezeichneter Individuen zu versetzen oder versetzen zu lassen, hat etwas äußerst Attraktives und provoziert von daher schon das Auftreten falscher Prätendenten. Zumal bei den meisten „Imitationen“ fürstlicher Personen ja keine besonders extravaganten Fähigkeiten nachgewiesen werden müssen (Ein Napoleon-Impersonator hätte allerdings mangels Genie wenig Chancen politische Resonanz zu finden. Die falschen Neros, Kapitel III, mussten immerhin dessen Kithara-Künste nachweisen.) Der subjektive Drang oder Entschluss zu einer solchen Prätendentenschaft ist natürlich zunächst ohne politische Relevanz. Dieser Effekt entsteht erst unter besonderen, ebenfalls der Monarchie inhärenten Bedingungen und Umständen bzw. Abläufen. Sie können allgemein-abstrakt, aber mit Hinweisen auf Belegbeispiele, folgendermaßen umrissen werden: A) Um jedes als „königlich“ legitimiertes Individuum (und erst recht um ganze Dynastien) bildet sich zwangsläufig ein soziales Geflecht von Hoffnungen, Erwartungen und Interessen, oft auch volkstümlicher Sehnsüchte und Gewöhnungen. Das so entstehende soziale und politische Flechtwerk bindet sich an die biologische Existenz dieses einzigen Individuums oder der betreffenden Dynastie. B) Geht nun ein derart kostbarer Interessen – und Hoffnungsträger verloren, aus natürlichen oder anderen Ursachen, so übernimmt dessen legitimer Nachrücker im Normalfall das um seinen Vorgänger entstandene soziale Netzwerk. Verweigert er diese Übernahme, aus welchen Gründen auch immer, entstehen bei den betroffenen Gruppierungen schwere Frustrationen. C) Solche Verweigerungen können zwar auch bei der Nachfolge innerhalb einer Dynastie auftreten, wahrscheinlicher sind sie aber beim Erlöschen oder Sturz einer Dynastie. Die nachrückende entfernte Seitenlinie, oft aus dem Ausland, oder noch mehr eine ganz neue Dynastie nach einer politischen Krise, ist bereits in andere soziale Netzwerke eingebunden und deshalb unwillig oder unfähig zur Integration der Verwaisten, im Extremfall ist sie sogar deren Todfeind. Wenn der große Historiker Leopold von Ranke meint: „nur ungern und schwer gewöhnen sich von Alters her die Völker, die angestammten Fürstengeschlechter nicht mehr an der Spitze zu haben“ (vgl. Kapitel VII Anm. 56), so ist dieses Treuemoment oft nur die moralische Überhöhung recht handgreiflich materieller Interessenkomplexe. D) Die in ihren Erwartungen enttäuschten Gruppierungen, seien es bloße Hofcliquen oder massenstarke Segmente der Gesellschaft, sind für die Wunschvorstellung anfällig, ihr Hoffnungsträger könne doch wiederkehren.

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E) Solche Phantasien gewinnen einen konkreten Kristallisationskern, wenn der Ausfall des einstigen Hoffnungsträgers unter dubiosen Umständen stattfand und ein Fortleben deshalb nicht gänzlich ausgeschlossen erscheint. Naheliegende Beispiele sind etwa: 1. Das Verschwinden eines Monarchen (und dessen Leichnams) im Schlachtgetümmel. (typisch hierfür: Balduin von Flandern-Konstantinopel Kapitel VI, Sebastian von Portugal Kapitel XII, Wladislaw von Polen-Ungarn Kapitel XIII). 2. Der zweifelhafte Tod eines in der Versenkung verschwundenen abgesetzten Monarchen (typisch Richard II. und die Prinzen im Tower Kapitel IX , Hischam von Cordoba Kapitel XVIII) 3. Das überraschende Ableben eines kindlichen oder jugendlichen Thronerben, besonders eines letzten der Dynastie, vermutlich als Opfer von Hofintrigen. Die Legende nimmt dann an, es habe durch mitleidige Seelen oder Gegenintriganten vorher ein den echten Erben rettender Kindertausch stattgefunden. (typisch Zarewitsch Dimitri Kapitel XVI. Jean I. von Frankreich Kapitel X, Kaspar Hauser Kapitel XXI). Dies etwas komplizierte Konstrukt, erfreut sich aber einer gewissen Beliebtheit. Es hat den Vorteil, dass der angeblich Wiedergekehrte keine allzu großen Ähnlichkeiten mit dem Urbild oder Intimkenntnisse aus seinem königlichen Vorleben aufweisen muss. 4. Seltener der freiwillig vorgetäuschte angebliche Tod eines Herrschers, der sich ungestört zur Buße oder dergleichen zurückziehen wollte (typisch Kaiser Heinrich V., Friedrich II., Woldemar, alle Kapitel VII). Gerüchte dieser Art bereiten den Nährboden für politische Hochstapelei. Sie können deshalb auch von interessierten Kreisen gezielt ausgestreut werden. F) Taucht nun ein Individuum auf, das sich selbst als dieser möglicherweise überlebende Hoffnungsträger zu erkennen gibt, oder auch nur für die Übernahme von dessen Identität geeignet erscheint, so kann die Proklamation des (falschen) Prätendenten eingeleitet werden. Im Notfall kann eine entschlossene Kernclique des alten Netzwerks auch von sich aus einen Kandidaten finden, präparieren und präsentieren (typisch Giovanni di Cocleria Kapitel VII, die Baglerkönige in Norwegen Kapitel VIII, Lambert Simnel und Perkin Warbeck Kapitel IX). G) Bei der endgültigen Lancierung eines solchen falschen Prätendenten sind häufig und gern auswärtige Mächte behilflich oder sogar initiativ, in der Hoffnung dadurch ihren Nachbarn zu schwächen (typisch die falschen Seleukiden Kapitel II, Michael Dukas u. a. in Byzanz Kapitel V, die falschen Moldaufürsten Kapitel XIV, Zarewitsch Dimitri Kapitel XVI). H) Die bisher skizzierten Zusammenhänge erklären auch ein weiteres Phänomen: das Auftreten falscher Prätendenten in ganzen Serien. Man denke nur an die deutschen falschen Friedriche, die falschen Dimitris und Peters in Russland und wieder die falschen Sebastiane für Portugal. Die gesellschaftlichen Ursachen, die die Karriere des ersten Pseudo-Prätendenten ermöglicht haben, wir-

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ken auch nach dessen Ende zeitweise fort und provozieren weitere Versuche. Ein klassisches, leicht fassbares Beispiel ist das Fortleben der Yorkistenpartei unter dem Tudor-Regime in England mit ihren Pseudo-Königen und Thronerben (vgl. Kapitel IX). Natürlich müssen neben solchen Interessenkonstellationen weitere Rahmenbedingungen gegeben sein. Alle die Gerüchte um das Verschwinden, Fortleben und Wiederauftauchen fürstlicher Personen haben eine gemeinsame Voraussetzung. Sie können die nötige Breitenwirkung nur in Gesellschaften erhalten, in denen der technisch-bürokratische Standard des Kommunikations-und Informationsflusses unterentwickelt oder gestört ist, und auch aus historisch bedingten sozialen Gegebenheiten sich noch keine breit unterrichtete Öffentlicheit als Kontrollinstanz entfaltet hat. Dies bedeutet, dass die politische Hochstapelei nicht nur durch ihre Bindung an monarchische Strukturen, sondern auch sonst weitgehend an vormoderne Verhältnisse gebunden erscheint. Soweit einige allgemeine objektive Vorbedingungen für dieses Phänomen. Auf seine oft besonders gearteten epochengebundenen und regionalen Hintergründe wird noch einzugehen sein. Zunächst soll aber ein Blick auf einige grundlegende Motive und Persönlichkeitsstrukturen geworfen werden, die PseudoPrätendenten subjektiv zu ihrer Rolle bringen. I) Psychologisch einfach zu erklären sind die Fälle, in denen sich die Prätendenten selbst, oft nicht ganz ohne Grund, für legitim berechtigte Thronanwärter empfanden. Dies gilt für verstoßene Prinzen wie Orophernes von Kappadokien, wahrscheinlich für Aristonikos-Eumenes III. von Pergamon (Kapitel II), Gundowald im Frankenreich (Kapitel IV), aber auch für den Prinzen von Reuß (Kapitel VII.). Ein Sonderfall sind hier die „betrogenen Betrüger“, denen von außen glaubhaft suggeriert wurde, sie seien echt (was z. T. beim ersten falschen Dimitri angenommen wird, Kapitel XVI). Einen ans Psychopathische grenzenden Sonderfall bilden Prätedenten, die nach einer wie auch immer bedingten Identitätskrise in ihre Rolle verfielen (François III. Kapitel X) und sich subjektiv für echt hielten. J) Psychisch wenig rätselhaft sind auch Kandidaten, die als unmündige Kinder oder mental gestörte Opfer von potenten Hintermännern für ihre Rollen aufgegriffen, manipuliert und missbraucht wurden. Dies war der Fall wahrscheinlich bei Lambert Simnel alias Eduard VI. (Kapitel IX) oder, wie oft vermutet wird, bei dem falschen Woldemar (Kapitel VII). Bemerkenswert ist allerdings, dass solche bloßen Marionetten gelegentlich den Händen ihrer Drahtzieher entglitten, wie die falschen Seleukiden Alexander Balas und Zabinas (Kapitel II). K) Psychologisch interessanter sind die Fälle, wo sich zunächst zögernde, das Risikos des Unternehmens also anscheinend bewusst einschätzende Präten-

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denten dennoch auf die von außen an sie herangetragene Rolle einließen. Beispiele sind Giovanni Cocleria als Kaiser Friedrich (Kapitel VII), Balduin von Flandern (Kapitel VI), der zweite Dimitri, möglicherweise Pugatschow als Peter III. (Kapitel XVI und XVII). Diese Prätendenten wurden vielleicht durch das Vertrauen auf die Macht ihrer „Entdecker“ gewonnen. Das umfangreiche Repertoire von Lock-und Druckmitteln interessierter Hintermänner lässt sich leicht ausmalen, und die Verführbarkeit der Menschen ist groß. Der falsche Konradin, der „Schmied von Ochsenfurt“ (Kapitel VII) bietet ein Beispiel dafür, dass derart ausgespähte Kandidaten sich der zugedachten Rolle verweigern können. Wahrscheinlich hat es solche Verweigerungen öfter gegeben. Sie sind jedoch naturgemäß kaum quellenmäßig zu belegen.2 L) Noch schwieriger ist die Persönlichkeitsstruktur von Prätendenten zu verstehen, die vollkommen aus eigener Initiative handelten und keine Psychopathen waren. Viele von ihnen, angefangen von den Lügenkönigen des Perserreiches (Kapitel I) bis hin zu den falschen Inka (Kapitel XX), mussten wissen, dass sie im Falle ihres wahrscheinlichen Scheiterns ein demütigendesqualvolles Ende in exquisiten Martern finden würden. Andrerseits war der Preis, auf den sie setzten, der höchste denkbare. Er bestand nicht nur in der Aussicht auf Machtgewinn oder das Leben in luxuriösem Glanz. Stimulierend war vor allem ein zusätzlicher, psychologisch vielleicht entscheidender Anreiz. Mit der Anmaßung eines königlichen Status traten diese Abenteurer gleichsam in eine höhere Seinssphäre ein. Sie errangen Anteil an der halbreligiösen Aura, die fast universell das Königtum umgibt. Sie zog zu allen Zeiten Menschen an wie die Motten in das Licht. In Leserbriefen zu einem eher desillusionierenden Kaspar Hauser-Artikel in „Der Spiegel“ (vgl. Kapitel XXI) heißt es noch 1996: „Jedes Kind träumt in Phasen der Ablösung–(-von seinen Eltern-) von königlicher oder göttlicher Abstammung.“3 M) Bemerkenswert ist hier, dass in Monarchien, denen diese überweltliche und zugleich volkstümliche Verklärung weitgehend fehlte, kaum falsche Prätendenten auftraten. Dies gilt etwa für Italien, dessen Monarchien (wie in Mailand die der Visconti und Sforza oder in Florenz die der Medici) aus republikanisch-nüchternen Stadtherrschaften hervorgegangen waren oder von ausländischen, nicht im Volk verwurzelten Eroberern (wie in Neapel-Sizilien) gegründet und jahrhundertelang beherrscht worden waren.4 Dagegen wurde 2

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Jean Baptiste Rocoles, herausg. von D. Carl Friedrich Pauli, Halle 1760 Theil II, S. 519-20 berichtet „Von einem Menschen, der keinen Betrüger abgeben, und nicht für den Herzog von Burgund, Carl den Kühnen, gehalten werden wollte“, ein Vorfall in Brüssel. Der Spiegel Nr. 50 1996 Leserbrief von Otto Jägersberg (Kaspar-HauserErbengemeinschaft Baden-Baden) Giovanni di Cocleria als Friedrich II., der Schmied von Ochsenfurt als Konradin und die falschen Manfrede (vgl. Kapitel VII) gehören eher zur deutschen Staufergeschichte.

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Russland, wo der Zar mystische Verehrung genoss, aber die reale Thronfolge äußerst prekär war, das klassische Land des „Samosvanzentums.“ N) Wenn nun neben den Fehlgeleiteten, Manipulierten und Verführten, also eher schwachen Charakteren, unter den falschen Thronaspiranten auch Männer zu finden sind, die aus eigenem Entschluss und in der scharfen Erfassung günstiger politischer Situationen den Griff nach der Krone wagten, muss es sich um psychisch starke und politisch nicht unbegabte Persönlichkeiten gehandelt haben. Sie handelten vielleicht auch nach der Devise des Schillerschen Fiesco: „Es ist schimpflich eine Börse zu leeren – es ist frech, eine Million zu veruntreuen, aber es ist namenlos groß, eine Krone zu stehlen.“5 Ob solche Persönlichkeiten über die bloße Selbsterhöhung hinaus auch von weitergehenden sozialen und politischen Motiven inspiriert wurden, ist nur selten klar erkennbar. Pugatschow (Kapitel XVII) z. B., dem solches oft unterstellt wird, blieb in seiner Programmatik letztlich diffus. Beim ersten falschen Dimitri (Kapitel XVI) lassen sich Toleranzgedanke und die Idee einer gesamtchristlichen Aktion gegen den Islam erahnen. Deutlicher sind die ideelle Motivation bei Heraklides Despota in der Moldau (Kapitel XIV), Stephan Mali von Montenegro (Kapitel XV) und das politische Programm des falschen Inka Tupac Amaru II. (Kapitel XX) zu fassen. Es erscheint aufgrund solcher Beispiele also durchaus möglich, dass in seltenen Fällen die politische Hochstapelei nur als Mittel zur Erreichung höherer Ziele eingesetzt wurde. Die hier unter A-N) vorgestellten Aspekte der politisch relevanten Hochstapelei ließen sich leicht als heuristisches Schema zur Befragung der historischen Quellen verwenden. In der voraufgegangenen Darstellung der Einzelfälle wurde jedoch auf seine strenge Anwendung verzichtet. Dies hängt teils mit der Quellenlage zusammen, die oft wenig ergiebig oder verwirrend ist, wie der Leser festgestellt haben wird. Insbesondere bei der Frage nach der subjektiven Motivation Bei Ingram S. IX (vgl. Lvz. zur Einleitung) wird als etwas unklarer Prätendent ein 1186 auftretender „Sohn“ Rogers II. von Neapel-Sizilien (gest. 1149) aufgeführt. Diesen falschen Normannenprinzen erwähnt auch bereits Rocoles S. 517 (vgl. Anm. 2), es habe sich um einen Priester gehandelt. Er wurde von Tankred von Lecce beseitigt. Papst Klemens III. verzichtete darauf, diese Priestertötung mit dem Kirchenbann zu bestrafen, da der Priester sich schuldig gemacht habe. Aus späterer Zeit hat Ingram S. 164-73 noch einen falschen Prinzen Hercules (Ercole) von Modena. Über diesen ausführlich auch ein anonymer Autor in der von Archenholz herausgegebenen Zeitschrift Minerva, 2. Band 1804 S. 86-138. Es handelte sich um einen Abenteurer, der auf der Karibik-Insel Martinique 1748 als Erbprinz Ercole (III.) aus dem Hause Este-Modena ausgemacht wurde, sich in dieser Rolle gefiel und später in spanischen Gefängnissen endete. Wahrscheinlich lag aber nur eine einfache Hochstapelei vor, die es auf die finanziellen Zuwendungen der Notabeln von Martinique und der dortigen Dominikaner abgesehen hatte. 5 Friedrich Schiller, Werke in 10 Bänden, Berlin 2005, Band 2 S. 495

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der Prätendenten versagen die Quellen. Einen gewissen Ersatz bieten hier die literarischen Aufarbeitungen des Themas, wenn diese auch rein spekulativen Charakter haben. Im Übrigen würde ein durchgehend schematisches Vorgehen allzu eintönig gewesen sein. Nach diesen Hinweisen zu allgemein universalen Zügen der politischen Hochstapelei kann auf ihre besonderen Hintergründe in bestimmten historischen Epochen oder in Regionen verschiedener politischer Kultur eingegangen werden, insbesondere, wo es zu Häufungen des Phänomens gekommen ist. Es ist dies teilweise schon in den einzelnen vorauf gehenden Kapiteln geschehen, soll aber im Folgenden z. T. ergänzend nochmals aufgegriffen werden. So ist an der Flut der „Lügenkönige“ im alten Persien (Kapitel I) hervorzuheben, dass sich ihr Auftreten auf den kurzen Zeitraum von ein bis zwei Jahren in der zweihundertjährigen Geschichte des Achämenidenreiches beschränkte. Es war also aufs engste mit der kurzen Reichskrise nach dem plötzlichen Tod des erbenlosen Großkönigs Kambyses verbunden. Die knappen Berichte der Behistun-Texte zu den einzelnen Prätendenten lassen erkennen, dass diese Pseudokönige sich auf das Bestreben der erst vor kurzem unterworfenen Völker stützten, die Krise zur Abschüttelung der noch jungen und ungefestigten persischen Herrschaft zu nutzen. Dass sie sich dabei auf eine angemaßte königliche Abkunft beriefen, ist vor allem eine Behauptung der ihnen feindlichen BehistunTexte und müsste kritisch hinterfragt werden. Im Falle des Hauptprätendenten, des falschen Gaumata-Smerdis, ist dies auch ausgiebig geschehen (vgl. Kapitel I). Bei ihm stand freilich eher das Bemühen im Vordergrund, die Unterworfenen mit der persischen Herrschaft zu versöhnen. Das Scheitern dieser Politik führte dann zur Rebellion der anderen Lügenkönige. Eine längerfristige Erscheinung ist hingegen die politische Hochstapelei in der hellenistischen Epoche (Kapitel II). Ihre Blütezeit fällt in das 2. Jahrhundert v. Chr. Es kann von einer regelrechten Mode gesprochen werden. Sie entwickelt sich hier als ein politisches Instrument, das die verfeindeten Diadochenhöfe gegeneinander einsetzten. Diesem Spiel kamen die unbestimmten Thronfolgeregelungen, die häufigen Zweit- und Nebenehen der Herrscher, ihre Konkubinate und die Rivalitäten innerhalb der Dynastien entgegen. Das Auftreten von fragwürdigen Prätendenten, die subjektiv von ihren Ansprüchen überzeugt waren, wie Philipp von Megara oder Orophernes von Kappadokien, mag den Weg zu dieser intrigenhaften Politikstrategie gewiesen haben (vgl. Kapitel II). Einer anderen Kategorie gehören zweifellos Pseudophilipp von Makedonien und Aristonikos von Pergamon an, die in erster Linie als Rebellen gegen die römische Übermacht zu verstehen sind. Dass sie sich dabei auch der inzwischen eingespielten Strategie der politischen Hochstapelei bedienten, ist im Rahmen des Zeitgeistes nicht weiter verwunderlich. Die Camouflage mit falschen Prätendenten kann möglicherweise durch allgemein griechisch-hellenistische Kulturtraditionen begünstigt worden sein. Nicht nur der Göttervater Zeus legte sich als

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Stier, Schwan oder Goldregen verschiedene Identitäten zu. Auch in der Ilias verwandelt sich Patroklos in seinen Freund Achilles, um die Trojaner zu täuschen. Hellenistische Könige ließen sich als Götter verehren. Das Spiel mit wechselnden Identitäten lag also der griechisch-hellenistischen Mentalität nicht fern. Warum sollte es nicht auch als politische List eingesetzt werden? Bezeichnend ist, dass die falschen Prätendenten im römischen Reich (Kapitel III) zumeist Griechen waren wie der Pseudo-Marius, oder wie die Drususund Nero-Imitatoren im hellenistischen Osten auftraten. Auch die byzantinischen Fälle (Kapitel V) könnten in dieser Tradition gesehen werden. Schwer zu deuten ist das Auftreten Gundowalds als unechter Merowinger (Kapitel 4). Sollten die späteren Merowinger, wie auf jeden Fall „Chlodwig III.“ unecht gewesen sein, so lässt sich die Thronerhebung solch fragwürdiger Kandidaten (wie des Mönches Daniel) aus dem Zwang erklären, einen angeblichen Träger des merowingischen Königsheils zu präsentieren, obwohl die wahre Blutslinie möglicherweise schon längst abgebrochen war. Für die Häufung falscher Prätendenten im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Mittel-und Westeuropa (Kapitel VII, IX-XII) haben die Autoren Bercé und Lecuppre spezifische Hintergründe aufzudecken versucht.6 Lecuppre weist darauf hin, dass die besonderen Verhältnisse des Hoch- und spätmittelalters mit Kreuzzügen, Pilgerfahrten, Klostereintritten und dem persönlichen Einsatz königlicher Feldherren auf dem Schlachtfeld das dubiose Verschwinden von Fürsten verursachten, aber auch die oft wundersame wirkliche Wiederkehr verschollen geglaubter Kreuzfahrer und Pilger. Dies aber war der Ausgangspunkt für Legendenbildung und politische Hochstapelei. Zudem hätten die falschen Prätendenten sich (wie z. B. Balduin von Flandern) oft als Vertreter eines volkstümlich-feudalen Herrscherideals präsentiert. Sie hätten so an die Opposition gegen die beginnende zentralistisch-bürokratische Ausformung der Monarchie angeknüpft (z.B. unter Heinrich VII. in England), gleichsam als Vertreter der „guten alten Zeit“, die mit ihnen wiederkehrte. Hier wäre wohl auch darauf hinzuweisen, dass die Zeit der Verborgenheit der Wiederkehrer mit ihrem Pilger-und Büßertum auch als ein Läuterungsprozess verstanden wurde. Der wieder Erschienene habe sich während seiner Wanderungen mit den Nöten des Volkes vertraut machen können und werde von nun an ein guter, volkstümlicher Herr sein. (Balduin von Flandern, Kap. VI, Woldemar, Kap. VII u. a.) Etwas weiter noch geht Bercé, wie bereits dem Titel seines Werkes zu entnehmen ist. Bei ihm profitiert die Blüte der politischen Hochstapelei in der Frühmoderne von den weit verbreiteten messianisch getönten Erlösermythen, die sich um königliche Gestalten und ihre Wiederkehr ranken. Ein Hinweis auf 6

Gilles Lecuppre, L’imposture politique en Moyen Age. La seconde vie des rois, Paris 2005, besonders S. 21, 65-73 und Yves-Marie Bercé, Le roi caché. Sauveurs et imposteurs. Mythes politiques populaire dans l’Europe moderne, Paris 1990, besonders S. 341-68

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diese Zusammenhänge seien die rituellen „Desakralisationen“ der entlarvten Thronaspiranten, etwa des ersten falschen Dimitri. Bercé geht letztlich jüdischen Wurzeln dieser Mythen nach, wenn er die Vorformen des portugiesischen Sebastianismus bei dem Neuchristen Banderra, die jüdischen Kontakte Guccios (alias Jean I. von Frankreich) oder Warbecks ins Feld führt. Andrerseits verschmäht Bercé es nicht, auch jesuitische Intrigen als gemeinsamen Hintergrund anscheinend weit voneinander entfernter Fälle anzudeuten: Sebastian von Portugal und der erste Dimitri. (Hier könnte man vielleicht auch noch die falschen Inka des 18. Jahrhunderts hinzufügen. Die auch von den Jesuiten in Peru entsprechend ihrem allgemeinen Missionsstil geförderte „Inka-Tradition“ mag „Atahualpa II.“ und „Tupac Amaru II.“ zumindest mit inspiriert haben.- Kapitel XX.) Mit Spekulationen dieser Art gerät Bercé freilich zur Annahme dunkler Untergrundsströmungen, die von der etablierten Geschichtswissenschaft kaum erfasst werden. Auf die Besonderheiten der politischen Hochstapelei im mittelalterlichen Deutschland (Kapitel VII) gehen ausführlicher ein Schubert und Schwinges.7 Schubert hält die zunächst auf Friedrich II. bezogene Wiederkehr-oder Kyffhäuserlegende für eine spezifisch deutsche Voraussetzung politischer Hochstapelei. Begünstigt wurde sie weiterhin durch den vorübergehenden Erfolg Tile Kolups, der zur Nachahmung reizte, die tatsächliche Wiederkehr Heinrichs von Mecklenburg und die mit der Wahlmonarchie verbundenen dynastischen Brüche. Schubert behauptet, dass die Erblichkeit der Krone wie in Frankreich das Auftreten falscher Thronbewerber unmöglich gemacht hätte: „Ein Zugriff falscher Herrscher auf die Macht war dadurch faktisch ausgeschlossen.“ ( Man vergleiche dazu aber Kapitel X zu Frankreich). Schwinges sieht die räumliche „Instabilität“ der Fürstenhöfe im damaligen Reich, ihre mangelnde zeitliche Kontinuität durch Wahlkönigtum und andere dynastische Wechsel sowie die Orientierung an dynastisch-personalen, vorstaatlichen Handlungsmustern als allgemeine Rahmenbedingungen. Verstärkend kamen nach Schwinges soziale Spannungen in dem sich entwickelnden Städtewesen, Ausnahmesituationen wie Hungersnöte, Missernten, Seuchen, messianische Erwartungen, politische Konflikte und schließlich die Mobilisierung durch einen geeigneten Anwärter hinzu. Die „Eignung“ beruhte dabei nicht auf Ähnlichkeit mit dem Urbild, sondern auf dem Nachweis einer das damalige Publikum faszinierende Vorgeschichte (das „Pilgertum“) und der Fähigkeit zu fürstlicher Repräsentanz im Rahmen des angemaßten Herrschertums. Das Zusammenspiel all dieser Faktoren ermöglichten die zeitweiligen Erfolge Balduins von Flandern, Tile Kolups und des falschen Woldemar. Es war in Deutschland, so Schwinges, nur für das 13. – 14. Jahrhundert gegeben. Der verfrühte Versuch des falschen fünften Heinrich blieb deshalb relativ unbedeutend. 7

Alexander Schubert, Echte Macht und falsche Herrschaft. Vom Einfluss falscher

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Die allgemeinen mittelalterlichen-frühneuzeitlichen Rahmenbedingungen galten natürlich auch für den skandinavischen Raum. Auf die zusätzlichen Vorbedingungen für den Wust von Pseudo-Thronbewerbern im >orwegen des 12. und 13. Jahrhunderts ist in Kapitel VIII. bereits ausführlich eingegangen worden. Bemerkenswert bleibt dabei aber, dass es nur hier äußerst fragwürdig legitimierten Kandidaten aus der angeblichen Gille-Sverre-Harald-Abstammung gelang, eine dauerhafte Dynastie zu etablieren. Gerade die Schwemme der prekären Prätendenten war anscheinend die Voraussetzung für diese Einmaligkeit, denn zuletzt blieb im Ausscheidungskampf eben nur noch der Rückgriff auf einen der vielen umstrittenen Kandidaten (Harald der „Alte“) übrig. Der arme Olaf und der Daljunker bleiben dagegen Singularitäten. Auch auf die spezifischen Gegebenheiten für die Prätendentenschwemme in der rumänischen Moldau des 16. Jahrhunderts wurde bereits im entsprechenden Kapitel (XIV) hingewiesen. Das Moldauer Exempel war möglicherweise ein „Vorbild“ und für die Kosaken und Polen eine Einübung für das russische Samosvanzentum, zumindest in seinen Anfängen. Die Diskussion um das langlebige russische Samosvanzentum wurde am Ende von Kapitel XVII vorgestellt. Es überrascht, dass auch die muslimischen Monarchien (Kapitel XVIII) nicht von falschen Prätendenten verschont blieben. Bei der Menge echter Fürstensöhne im Rahmen der bei den muslimischen Herrscherfamilien üblichen Haremspolygamie fehlte es gewiss nicht an legitimen Thronbewerbern, falls irgendeine Hofpartei oder Rebellengruppe eines Kandidaten bedurfte. Es waren deshalb jeweils ganz extreme Krisensituationen notwendig, um politische Hochstapelei zu ermöglichen. Im Falle des mehrfach wieder belebten Kalifen Hischam von Cordoba war es das Bedürfnis von de-facto Machthabern, sich mit dieser auf jeden Fall, ob echt oder unecht, regierungsunfähigen Marionette eine bequeme Legitimitätsbasis zu verschaffen. (Dies erinnert etwas an die möglicherweise falschen Merowinger). Die Imitatoren des Fatimiden-Kalifen al-Hakim konnten nahtlos an den äußerst exzentrischen Lebens-und Regierungsstil und das mysteriöse Verschwinden dieses Herrschers anknüpfen. Dabei mag auch der schiitische Mythos von den verschwundenen und wiederkehrenden Imamen hilfreich gewesen sein. Auf dieser Fiktion beruhte letztendlich der Herrschaftsanspruch al-Hakims und der fatimidischen Dynastie überhaupt. Ähnliches galt für die Safawiden in Persien. Die falschen Safawiden in Persien profitierten dann von der schlagartigen physischen Liquidation der meisten echten Prinzen des Hauses durch Schah Ismail I. und die Afghanen in den Reichskrisen von 1576 und nach 1722. Der erste wahrscheinlich falsche Osmane, Mustafa Düzme, nutzte die langwierige Reichskrise nach der Schlacht von Ankara 1402 aus, die zeitweilig sogar zu Reichsteilungen geführt hatte. Möglicherweise versuchte er, das europäische Teilreich Solimans I. und Musas (1402-13) zu erhalten und dort einen christlich-muslimischen Kompromiss zu finden. Seine Kontakte zu entsprechen-

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den Sekten, zu Venedig, der Walachei und Byzanz deuten in diese Richtung. Damit wäre schon bei diesem Prätendenten balkanesisch-christliche Interessen wirksam geworden. Spätere falsche Osmanen wie Sultan Yahya oder Padre Osman sind eindeutig in diesem Zusammenhang zu sehen. Aber auch der wichtigste falsche Mustafa des 16. Jhd. trat bereits auf dem Balkan auf. Das Vorbild der falschen Moldaufürsten könnte hier ebenfalls anregend gewirkt haben. Wie man sieht, gerät der Historiker bei dem Versuch, weiter greifende Gründe für das Auftreten und den zeitweiligen Erfolg falscher Prätendenten oder ganzer Prätendentenwellen im speziellen Fall aufzudecken, leicht auf das Feld bloßer Spekulationen. Sie könnten aber den Impuls geben, dieses faszinierende und stets auf dunkle Zusammenhängende verweisende Phänomen im jeweiligen zeitlichen und kulturellen Rahmen weiter zu erforschen – soweit die Quellen es erlauben.

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(Die) Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter 3. Band 1205-1304, bearbeitet von Richard Knipping, Bonn 1913 Rill, Bernd, Sizilien im Mittelalter. Das Reich der Araber, Normannen und Staufer, Stuttgart und Zürich 1995 Sauer, Sabine, Tile Kolup, in Lebensbilder aus dem Kreis Neuss 4, Neuss1900 S. 7-15 Schneider, Fedor, Ausgewählte Aufsätze für Geschichte und Diplomatie des Mittelalters. Ein Schreiben Manfreds über den Pseudofriedrich (Johannes von Cocleria), Aalen 1974 S. 58-63 Schreibmüller, Hermann, Der Schmied aus Ochsenfurt. Ein Kulturbild vom Ende der Stauferzeit, in Mainfränkisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst 1, 1949 S. 96-141 Struve, Tilman, Die falschen Friedriche und die Friedenssehnsucht des Volkes im späten Mittelalter, in Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica, München 16. -19. September 1986, Teil I, Kongreßdaten und Festvorträge, Hannover 1988, S. 317-37 Voigt, G., Die deutsche Kaisersage, in Historische Zeitschrift 26, 1871, S. 13188 Zu Heinrich dem Pilger von Mecklenburg: Kirchberg, Ernst von, Mecklenburgische Reimchronik des Ernst von Kirchberg, herausg. von Christa Cordshagen und Roderich Schmidt, Köln-Weimar-Wien, 1997 Rische, Alfred, Geschichte Mecklenburgs vom Tode Heinrich Borwins I. bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts , Band 2, Berlin 1901 Wigger, Friedrich, Pilgerfahrten meklenburgischer (sic!) Regenten nach dem Orient im Zeitalter der Kreuzzüge, in Mecklenburgische Jahrbücher 40, 1875 S. 3-86 Zu Woldemar: Hahn, Peter, Brandenburg während der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in: Die „Blüte“ der Staaten des östlichen Europa im 14 Jahrhundert, herausg. von Marc Löwener, Wiesbaden 2004 S. 205-28 Klöden, Karl Friedrich, Diplomatische Geschichte des Markgrafen Waldemar von Brandenburg, Vier Teile in zwei Bänden, Berlin 1844-45 Ranke, Leopold von, Zwölf Bücher Preußischer Geschichte, Band 1 und 2, Leipzig 1874 Schultze, Johannes, Die Mark Brandenburg (Band 1), 2. Aufl. Berlin 1989 Tschirch, Otto, Der falsche Woldemar und die märkischen Städte, in Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 43, 1930 S. 227-44 Werunsky, Emil, Geschichte Kaiser Karls IV. und seiner Zeit, 2. Band (134655), zuerst Innsbruck 1882, Neudruck New York 1961

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Niedner, Felix, Norwegische Königsgeschichten 2. Band, Sverris und Hakonssaga, zuerst Jena 1925, Neudruck Düsseldorf-Köln 1965, Sammlung Thule Band 18 Petrick, Fritz, Norwegen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Regensburg 2002 Zum falschen Olaf: Posilge, Johann von, Chronik des Johann von Posilge, Scriptores Rerum Prussicarum Band 3, herausg. von Dr. Ernst Strehlke, Leipzig 1866, Nachdruck Frankfurt am Main 1965 Rufus-Chronik, in Die lübeckischen Chroniken in niederdeutscher Sprache 2. Theil. Chronik des Franziskaners Detmar nach der Urschrift Band 2, Hamburg S. 463 (Ergänzung) Zum Daljunker: Carlson, Frederick Ferdinand und Stavenow, Ludwig Vilhelm Albert, Geschichte Schwedens Band 2, (Geschichte der europäischen Staaten, herausg. von A.H.L. Heeren und F.A. Ukert), Gotha 1834 Christopher(son), K. E., Lady Inger and her family, in Church History 55, 1986 S. 20-30 Findeisen, Jörg-Peter, Die Schwedische Monarchie. Von den Vikingerherrschern zu den modernen Monarchen, Band 1 950-1611, Regensburg 2002 Findeisen, Jörg-Peter, Schweden. Von den Anfängen bis zu Gegenwart, Regensburg 2008 Larson, James L., Reforming the North. The Kingdoms and Churches of Scandinavia 1520-1554, Cambridge Mass. 2010 Roberts, Michael, The Early Wasas. A History of Sweden 1523-1611, Cambridge u.a. 1968 Zu Kapitel IX (England) Werke oder Aufsätze, die nur zu speziellen Einzelheiten benutzt, oder Titel, die nicht eingesehen werden konnten (Belletristikhinweise z. B.), sind in den Anmerkungen bibliographiert. Zu Eduard II. Childs, Wendy, „Welcome my brother“. John of Powderham and the Chronicles 1319, in Church and Chronicle in the Middle Ages, Essays presented to J. Taylor (ed. Jan Wood), London 1991 S. 149-63 Haines, Roy Martin, King Edward II. Edward of Caernarfon, his life, his reign, his aftermath 1284-1330, Quebec 2003

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Zu Kapitel XII (Portugal) Belletristische Werke sind in den Anmerkungen oder im Haupttext bibliographisch erfasst. Bercé, Yves-Marie, Le Roi caché, Sauveur et imposteurs. Mythes politiques populaires dans l’Europe moderne, Paris 1990 Brooks, Mary Elizabeth, A King for Portugal, Madison und Milwaukee 1964 Disney, A.R., A History of Portugal Band 1, Cambridge-New York u. a. 2009 Livermore, Harald Victor, A New History of Portugal, Cambridge 1966 Oliveira Marques, A. H. de, Geschichte Portugals und des portugiesischen Weltreichs, Stuttgart 2001 Zu Kapitel XIII (Balkanländer 1) Zu Bulgarien (Deljan oder Peter II.) Cheynet, Jean Claude, Pouvoir et contestations à Byzance (963-1210), Paris 1990 (Michael) Psellos, Chronographie, engl. Übersetzung von E. R. A. Sewter, New Haven 1953 (Johannes) Skylitzes, A Synopsis of Byzantine History 811-1057, engl. Übersetzung von John Wortley, Cambridge (NewYork Press) 2010 (Johannes) Zonaras, Militärs und Höflinge im Ringen um das Kaisertum: byzantinische Geschichte von 969 bis 1118. Nach der Chronik des Zonaras, übersetzt, eingeleitet und erklärt von Erich Trapp. Byzantinische Geschichtsschreiber 16, Graz-Wien-Köln 1986 Zu den ungarisch-polnischen Prätendenten und Legenden: Babinger, Franz, Von Amurath zu Amurath. Vor-und Nachspiel der Schlacht von Varna 1444, in Oriens 3 Nr. 2, 1950 S. 229-65 Beheim, Michel, Die Gedichte des Michel Beheim, herausg. von Hans Gille und Ingeborg Spriewald, Berlin 1948, Nr. 40 S. 328-56 Bues, Almut, Die Jagellionen. Herrscher zwischen Ostsee und Adria, Stuttgart 2010 Hóman, Balint, Geschichte des ungarischen Mittelalters Band 2, Berlin 1943 Lecuppre, Giles, L’imposture politique au Moyen Age. La seconde vie des rois, Paris 2005 Nowak, Andrzej und Osowski, Daniel, Album Polski (Online-Version) Lope da Vega Carpio, Felix, El rey sin reino, 1625 (Online-Text) Türr, Stefan: Die Rückwirkungen der Herrschaft der neapolitanischen Anjou auf Ungarn, in Ungarn-Jahrbuch 12, 1982-83 S. 51- 69 Wikipedia: Artikel Wladyslaw III. von Varna

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Zu Kapitel XIV (Balkanländer 2, Moldau) Armbruster, Adolf, Auf den Spuren der eigenen Identität, Bukarest 1991, darin S. 132-139 Jacobus Heraclides Despota und der Romanitäts- und Einheitsgedanke in Rumänien (Vortrag vom 15. 6. 1970) Benz, Ernst, Wittenberg und Byzanz. Zu Begegnung und Auseinandersetzung der Reformation und der östlich-orthodoxen Kirche, 2. Aufl. München 1971 Costin, Miron, Grausame Zeiten in der Moldau. Die Moldauische Chronik des Miron Costin 1593-1661, Graz-Wien-Köln 1980 Coulter, Laura, The involvment of Stefan Bogdan, a pretender to the Moldavian throne, with Henry Lello, the English ambassador to Constantinople between 1601 and 1606, in Revue roumaine d’histoire 30, 1991 S. 79-100 Engel, Johann Christian (von), Geschichte der Moldau und Walachey, Fortsetzung der Algemeinen (-sic-) Welthistorie durch eine Gesellschaft von Gelehrten in Teutschland und England, 49. Teil, 4. Buch, 1. Abt., Halle 1804 (zugänglich als google-book) Giurescu, Constantin C und Dinu C., Geschichte der Rumänen, Bukarest 1980 Giurescu, Constantin C., Chronological History of Rumania, Bukarest 1972 Hammer-Purgstall, Joseph von, Geschichte des Osmanischen Reiches Band 4, zuerst Pest 1827-33, Neudruck Graz 1963 Herrmann, Georg Michael Gottlieb von, Das alte Kronstadt. Eine siebenbürgische Stadt-und Landesgeschichte bis 1800, Schriften zur Landeskunde Siebenbürgens 32, Köln-Weimar-Wien 2010 Huber, Manfred, Grundzüge der Geschichte Rumäniens, Darmstadt 1973 Jorga, Nicolae, Geschichte des Rumänischen Volkes im Rahmen seiner Staatsbildungen 2. Band, Gotha 1905 Jorga, Nicolae, Histoire des Roumains et de leur civilisation, Bukarest 1922 Jorga, Nicolae, Geschichte des Osmanischen Reiches Band 3, zuerst 1910 Neudruck Frankfurt am Main 1990 Jorga, Nicolae, Byzance après Byzance, Neudruck Paris 1992 Kantemir, Demetrios, Beschreibung der Moldau 2. Teil, in Magazin für die neue Historia und Geograhphie herausg. von Friedrich Büsching, Band 4, Hamburg 1770 (google-book) Miles, Mathias, Siebenbürgischer Würgengel, zuerst 1670, Neudruck KölnWien 1984, Schriften zur Landeskunde Siebenbürgens Band 8 Nistor, J., Die auswärtigen Handelsbeziehungen der Moldau im XIV., XV. und XVI. Jahrhundert, Gotha 1911 Oţeata, Andrei (Herausgeber), The History of the Romanic People, Bukarest 1970, darin besonders: 3. Kapitel, Berza, M.: The Beginning of Ottoman Domination, the Epic of Michael the Brave. Petri, H., Jacobus Basilikus Heraklides, Fürst der Moldau, in Zeitschrift für Kirchengeschichte 46 (NF 10), 1927 S. 105-44

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Flex, Walter, Demetrius. Ein Trauerspiel, in Gesammelte Werke 2. Band, München o. J. S. 1-160 Hacks, Peter, Der falsche Zar, in Werke Band 8, Die späten Stücke II, Berlin 2003 S. 181-213 Hebbel, Friedrich, Demetrius, in Werke Band 2, München 1964 S. 321-445 Kotzebue, August von, Selbstbiographie, Wien 1811 über seinen Demetrius S. 42-44 Lope da Vega, Felix, El gran duque de Moscavia y emperador perseguido, 1617 (Online-version) Puschkin, Alexander, Boris Godunow, in Gesammelte Werke 3 Dramen, Frankfurt am Main 1973 S. 209-80 Rilke, Rainer Maria, Die Aufzeichnungen des Malte Laurens Brigge, in Prosa und Dramen. Werke Band 3, herausg. von August Stahl, Frankfurt am Main und Leipzig Schiller, Friedrich, Schillers Werke Nationalausgabe 11. Band Demetrius, herausg. von Herbert Kraft, Weimar 1971 Zu den Werken von Ostrovskij und Sumarokov vgl. Artikel im Kindler Literaturlexikon Band 3, Zürich 1974 S. 2769 und S. 2693 Zu Kapitel XVII (Russland 2, Dynastie Romanow) Avrich, Paul, Russian Rebels 1600-1800, New York 1972 Bercé, Yves-Marie, Le Roi caché. Sauveurs et imposteurs. Mythes politique populaires dans l’Europe moderne, Paris 1990 Büsching, Anton Friedrich, Geschichte des russischen Kaisers Johann (Iwan) des Dritten (-heute übliche Zählung: Iwan VI.-), in Magazin für die neue Historie und Geographie Band 6, 1771 S. 517-531 Büsching, Anton Friedrich, Zuverlässige Nachrichten von dem Aufrührer Jemeljan Pugatschow, und der von ihm angerichteten Empörung, in Magazin für neue Historie und Geographie Band 18, 1784 S. 3-70 Büsching, Anton Friedrich, Geschichte der Familie der Großfürstin und Regentin Anna und des Herzogs Anton Ulrich von Braunschweig, in Maganzin für neue Historie und Geographie Band 22, 1788 S. 418-22 Čistov, Kirill V., Der gute Zar und das ferne Land. Russisch sozial-utopische Volkslegenden des 17.-19. Jahrhunderts, herausg. von Dagmar Burhart, Münster-New York u.a. 1998 Dunning, Chester L.S., Russia’s first Civil War. The Times of Troubles and the Founding of the Romanov Dynasty, Univ. Park P. A. 2001 Eeckaute, Denise, Les brigands de Russie du XVIIe siècle au XIXe siècle : Mythe et réalite, in Revue d’histoire morderne et contemporaine 12, 1965 S. 161-202 Field, Daniel, Rebels in the Name of the Tsar, Boston u.a. 1989

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Handbuch der Geschichte Russlands vgl. Scharf Ingerflom, Claudio Sergio, Entre le mythe et la parole : L’action. Naissance de la conception politique du pouvoir en Russie, in Annales 51/2, 1996 S. 73355 Longworth, Philipp, The pretender Phenomenon in Eighteenth Century Russia, in Past & Present 66, 1975 S. 61-83 Mylnikow, Alexander S., Die falschen Zaren. Peter III. und seine Doppelgänger in Russland und Osteuropa, Eutiner Forschungen, Eutin 1994 Perrie, Maureen, Pretenders and popular monarchism in early modern Russia. The false tsars in the Time of Troubles, Cambridge 1955 Peters, Dorothea, Politische und gesellschaftliche Vorstellungen in der Aufstandsbewegung unter Pugačev (1773-75), Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 17, Berlin 1973 S. 139-55 Plate, Alice, Der Pugačev-Aufstand. Kosakenherrlicheit oder sozialer Protest, in Dietrich Löwe (Herausg.), Volksaufstände in Russland von der Zeit der Wirren bis zur „Grünen Revolution“ gegen die Sowjetherrschaft, Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 65, Wiesbaden 2006 S. 353-96 Puschkin, Aleksandr Sergeevich, Die Geschichte des Pugatschow’schen Aufruhrs, übersetzt von H. Brandeis, Stuttgart 1840 Rustemeyer, Angela, Dissens und Ehre. Majestätsverbrechen in Russland (16001800), Wiesbaden 2006 Scharf, Claus, Innere Politik und staatliche Reformen seit 1762, in Handbuch der Geschichte Russlands Band 2, herausg. von K. Zernack, Stuttgart 1988 S. 676-806 Schleunig, Stefan und Tuchtenhagen, Ralph, Der Kosaken-Aufstand unter Stefan Razin 1667-1671, in Löwe (vgl. Plate) S. 131-62 Stählin, Karl, Geschichte Russlands von den Anfängen bis zur Gegenwart Band 2, zuerst Berlin 1930, Nachdruck Graz 1961 Uspenski, B. A., Tsar and Pretender or Royal Imposture in Russia as a Cultural Historical Phenomenon, in Ju. M. Lotman und B. A. Uspenski (Herausg.), The Semiotics of Russian Culture, Ann Arbor 1984, S. 259-92 Belletristik: Danilewski, G. P., The Princess Tarakanova. A Dark Chapter of Russian History, New York o. J., translated by Ida de Mouchanoff Gutzkow, Karl, Pugatschoff. Trauerspiel in 5 Aufzügen, in Karl Gutzkow’s Dramatische Werke Band 4, Leipzig 1847 S. 1-134 Puschkin, Alexander S., Die Tochter des Hauptmanns, in Alexander Puschkin. Erzählungen. München 1937 Schneider, Reinhold, Elisabeth Tarakanow, in Gesammelte Werke Band 4, Zeugen im Feuer. Erzählungen, Frankfurt am Main 1979 S. 233-306

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Zu Kapitel XVIII (Islam) Ahmed Aschik Pascha, Vom Hirtenzelt zur Hohen Pforte. Derwisch Ahmed genannt Aschik Pascha-Sohn, Osmanische Geschichtsschreiber 3, herausg. von Richard F. Kreutel, Graz-Wien-Köln 1959 Alderson, A(nthony) D(olphin), The Structure of the Ottoman Dynasty, Westport Connecticut, zuerst 1956, Neudruck 1982 Anonymus Zoras, Leben und Taten der türkischen Kaiser, herausg. von Richard F. Kreutel, Graz-Wien-Köln 1971 Chaudon, Esprit-Joseph, Les imposteurs demasqués et les usurpateurs punis etc., Paris 1776 Dozy, Reinhart, Histoire des Musulmans d’Espagne jusqu’à la conquȇte de l’Andalousie par les Almoravides 711-1110, Leiden 1861 (Hinweis : deutsche Fassung als „ Geschichte der Mauren in Spanien bis zur Eroberung Andalusiens durch die Almoraviden 711-1110“, Leipzig 1873/74, Nachdruck Darmstadt 1965) Gadebusch, Thomas Heinrich, Geschichte des Nadir Shahs, Kaysers von Persien ( nach Mahdi Han Astarabadi), Greifswald 1773 Halm, Heinz, Die Kalifen von Kairo. Die Fatimiden in Ägypten 973-1074, München 2003 Hammer-Purgstall, Joseph von, Geschichte des Osmanischen Reiches Band 4, zuerst Pest 1827 ff., Neudruck Graz 1963 Helfenstein, Ulrich, Caspar Scioppius als Gesandter „Sultan“ Jahjahs in der Eidgenossenschaft (1634/35), Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich 42, Heft 2 Neujahrsblatt S. 1-91, Zürich 1963 Hinz, Walther, Schah Esma’il II. Ein Beitrag zur Geschichte der Safaviden, in Mitteilungen des Seminars für Orientalische Sprachen an der FriedrichWilhelm Universität Berlin 36, 1933 S. 19-99 Hoenerbach, Wilhelm, Islamische Geschichte Spaniens. Übersetzung des A’mal Al-A’lam und ergänzender Texte, Zürich und Stuttgart 1970 Hottinger, Arnold, Die Mauren – Arabische Kultur in Spanien, München 1997 Imber, Colin: The Ottoman Empire 1300-1481, Istanbul 1990 Jorga, Nicolae, Geschichte des Osmanischen Reiches, zuerst 1909, Neudruck 1990 Lecuppre, Gilles, L’imposture politique en Moyen Age. La seconde vie des rois, Paris 2005 Mahdi (Mehdi) Han Astarabadi: vgl. Gadebusch Matschke, Klaus Peter, Die Schlacht von Ankara und das Schicksal von Byzanz, Weimar 1981 Monshi, Eskandar Beg Monshi. History of Shah Abbas the Great, Vol 1, transl. by Roger M. Savory, Boulder Colorado 1978

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Galindo, Alberto Flores, The Rebellion of Tupac Amaru, in The Peru Reader ed. Orin Starn, Carlos Ivan Degregori und Robin Kirk, Durham und London 1995, S. 147-56 Glave, Luis, vgl. Cambridge History Hemming, John, The Conquest of the Incas, San Diego, New York und London o. J. Lienhard, Martin, Dissidentes, rebeldos, insurgents. Resistencia indigena y negra en America Latina. Essayos de historia testimonial, Frankfurt am Main 2008 O’Phean Godoy, Scarlett, Rebellions and Revolts in eighteenth Century Peru and Upper Peru. Lateinamerikanische Forschungen 14, Köln und Wien 1985 Stavig, Ward, The World of Túpac Amaru. Conflict, Community and Identity in Colonial Peru, Lincoln und London (Nebraska) 1999 Varese, Stefano, Salt of the Mountain. Campa Ascháninka History and Resistance in the Peruvian Jungle, (Univ. of) Oklahoma Norman zuerst 1968, Neudruck 2002 Zu Kapitel XXI ((achlese, Ludwig XVII., Kaspar Hauser) Punktuell benutzte Literatur in den Anmerkungen Zu Ludwig XVII.: Bourbon, Auguste de (Augustus Meves), Dieu et mon droit. The Dauphin – Louis XVII. King of France. His Delivery from the Tower of the Temple at Paris, Adoption and Subsequent Career in England. Dedicated to the French Nation and European Powers, London 1876 (als google-book zugänglich) Bülau, Friedrich, Geheime Geschichten und rätselhafte Menschen, ausgewählte Ausgabe, Leipzig und Wien 1937 Bercé, Yves-Marie, Le Roi caché. Saveurs et imposteurs. Mythes politiques populaires dans l’Europe moderne, Paris 1990 Hamann, Jacques und Etienne, Maurice, Louis XVII et les 101 prétendents, Paris 1999 Ingram, John Henry, Claimants to royality, London 1883 Larochefoucauld, Sosthène de: Mémoires de M. le vicomte de Larochefoucauld, Paris 1837 (als google-book zugänglich) Lenȏtre, G. (Louis Léon Théodore Gosselin) : Louis XVII, Artikelserie in Revues des deux Mondes 54-56, 1919-20 vgl. Anm. 2) Meves, Augustus: vgl. Bourbon Welch, Catherine, The little Dauphin, New York 1908

430

Zu Kaspar Hauser: Broch, F. K.: vgl. Kolb Der Spiegel vgl. Spiegel Feuerbach, P. J. Anselm von, Kaspar Hauser. Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen, herausgeg. von Armin Forker, Heidelberg 1985 Forker, A.: vgl. Feuerbach Garnier, Joseph Heinrich, Einige Beiträge zur Geschichte Caspar Hausers nebst einer dramaturgischen Einleitung, Straßburg 1834 (zugänglich als googlebook) Kolb, Georg Friedrich (F. K. Broch), Kaspar Hauser. Kurze Schilderung seines Erscheinens und Todes. Zusammenstellung und Prüfung des bis jetzt vorliegenden Materials zu seiner Abstammung etc., Zürich 1859 (zugänglich als google-book) Kramer, Kurt, Kaspar Hauser. Ein kurzer Traum und kein Ende, Ansbach 2008 Linde, Antonius van, Kaspar Hauser. Eine neugeschichtliche Legende, Band 2 Wiesbaden 1887 Mayer, Johannes, Philip Henry Lord Stanhope. Der Gegenspieler Kaspar Hausers, Stuttgart 1988 Mittelstädt, Otto, Kaspar Hauser und sein badisches Prinzenthum, Heidelberg 1876 Pies, Hermann, Kaspar Hauser. Augenzeugenberichte und Selbstzeugnisse, 2. Band Stuttgart 1926 Schiener, Anna, Der Fall Kaspar Hauser, Regensburg 2010 Seiler, Sebastian, Kaspar Hauser. Der Thronerbe Badens, Paris 1840 (zugänglich als google-book) (Der) Spiegel Nr. 48 – 25. 11. 1996 und Nr. 52 – 21. 12. 2002 Weckmann, Berthold: Kaspar Hauser. Die Geschichte und ihre Geschichten, Würzburg 1993

431

Personenverzeichnisse I. Fürsten, in deren (amen falsche Prätendenten auftraten Falls die falschen Prätendenten sich nicht direkt als eine der aufgeführten Personen ausgaben, sondern nur als deren Söhne etc. ist dies in Klammern vermerkt. Beispiel: „Nabonid, König von Babylon (f. Söhne)“. Es werden die Seitenzahlen angegeben, auf denen der echte Fürst angeführt bzw. vorgestellt wird. (f. = falsch, fr.= fragwürdig) Kapitel I (Perserreich) Bardiya, persischer Königssohn (vgl. Smerdis) Kyaxaras, medischer König (f. Nachkommen) 20 Nabonid, König von Babylon (f. Söhne) 20 Smerdis 12 ( als Tanyoxarkes 14, als Mardos 15, als Bardiya 17) Kapitel II. (Hellenismus) Alexander d. Gr. (f. Nachkommen) 23-24 Alexander, makedonischer Königssohn 41, 44 Alexander, Sohn Herodes d. Gr. 4849 Antiochos II./III. Seleukide 23-26 Antiochos IV. Seleukide (f. Söhne und Enkel) 30 Antiochos VII. Seleukide (f. Adoptivsohn) 35 Ariarathes IV. Kg. von Kappadokien (f. Sohn) 26-27 Ariarathes V. Kg. von Kappadokien (f. Enkel) 51 Eumenes II. Kg. von Pergamon (fr. Sohn) 44 Philipp, makedonischer Königssohn 41 Ptolemaios XIII. Kg. von Ägypten 40

Pylaimenes, Fürst in Paphlagonien 51 Kapitel III (Rom) Agrippa Postumus, Enkel des Augustus 59 Caesar (f. Nachkomme) 57-58, 70 Caligula (f. Sohn) 62, 64 Drusus, Urenkel des Augustus 61 Gracchus, Tiberius, Volkstribun (f. Sohn) 54-55 Marcellus, Marcus Claudius, Neffe des Augustus 59 Anm. 4 Marius, C. Konsul (f. Enkel) 55-56 Nero S. 63, 68 Quin(c)tilius, Sextus Cordianus, Konsul 70 Silanus, Marcus, Konsul (f. Sohn) 61-62 Scribonianus Camerinus, röm. Adliger 70 Anm. 29 Kapitel IV (Frankenreich) Childerich II. (fr. Sohn) 80, 82 Chlothar I. (f. Söhne) 72-73, 78 Chlothar III. (f. Sohn) 80 Theoderich III. (fr. Sohn) 80-82 Kapitel V (Byzanz) Alexios II. Komnenos 99 Johannes IV. Laskaris 103-04 Konstantin VI. 91 Michael VII. Dukas 94-95

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Romanos IV. Diogenes (f. Söhne) 94, 96 Theodora, Gemahlin Kaiser Theophilos (f. Sohn) 93 Theodosios, Kaisersohn 86-87 Theophilos (f. Sohn) 93 Tiberios, Kaisersohn 89

Margarete, Thronerbin von Schottland und Norwegen 168 Nils Sture, Erbe des Hauses Sture in Schweden 172-73 Olaf IV. von Norwegen u. Dänemark 169-70 Sigurd Munn (fr. Söhne) 159

Kapitel VI (Flandern) Balduin IX., Graf, als lateinischer Kaiser Balduin I. 107-08

Kapitel IX (England) Eduard II. 176-79 Eduard VI. 198 Eduard, Earl of Warwick 183-85, 195 Elisabeth I. (f. Sohn) 198-199 Henriette, Gemahlin Karls I. 199 Anm. 32 Maria die Blutige (f. Sohn) 197-199 Richard II. 180 Richard of York 183

Kapitel VII (Deutschland) Anna von Kleve, Gemahlin Heinrichs VIII. von England 151 Emanuel Ignaz von Nassau-Siegen (f. Sohn u. Enkel) 154 Friedrich II., Kaiser 118-19 Heinrich V., Kaiser 116 Heinrich I. der Pilger, Herzog von Mecklenburg 134-35 Heinrich III./IV. von Reuß (fr. Sohn) 152 Konradin, Enkel Kaiser Friedrichs II. 121 Manfred, Kaisersohn u. Kg. von Neapel-Sizilien 120-21 Woldemar, Markgraf von Brandenburg 137-38 Kapitel VIII ((ordeuropa) Wenn nicht anders angegeben norwegische Fürsten Christine, Königin v. Schweden 175 Eystein (Osteyn) Gilleson (fr. Söhne)159 Inge Korkrygg (f. Söhne) 158-59, 164 Magnus III. Barfoot (fr. Söhne u. Nachkommen) 156 Magnus V. Erlingson (f. Söhne) 15962

Kapitel X (Frankreich) Jean (Johann) I. 200-201 Karl IX. (auch f. Sohn) 206 Karl, Kardinal von Bourbon (f. Sohn 206, 208) Kapitel XI (Spanien) Alfons I. el Batallador von Aragon 209 Juan, span. Thronfolger (f. Sohn) 212 Kapitel XII (Portugal) Sebastian, König 213-14 Kapitel XIII (Balkanländer 1) Andreas, ungarischer Arpadenprinz 229 Andreas, ungarischer Anjouprinz 230 Samuel, Bulgarenzar (f. Neffe oder Enkel) 226-27

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Wladislaw, Kg. von Ungarn und Polen 231 Kapitel XIV (Balkanländer 2. Rumänien/Moldau) Um die genannten Fürsten von gleichnamigen zu unterscheiden werden sie mit Regierungszahl gekennzeichnet Alexander Lapuşneanu (1552-61, 1563-68) (f. Söhne) 236, 239, 243 Bogdan ((1568-72) (f. Sohn) 243 Patraşcu cel Bun (Walachei 1554-57) (fr. Sohn) 252 Peter Rareş (f./fr. Söhne) 236, 246 Rareş-Musat, Dynastie (f. Angehörige) 239, 249 Stefanita (1522-27) (f. Söhne) 246 Stefan Lacusta (1538-40) (f. Sohn) 246 Kapitel XV (Balkanländer 3 Montenegro Peter III., russischer Kaiser 254, 255 s. auch Kap. XVII Kapitel XVI (Russland 1, Zeit der Wirren) Dimitri (Demetrius), Sohn Iwans IV. 261-62 Fedor I. (f. Söhne) 261-62, 279 Iwan IV. ( f. Sohn) 259-60, 284 Iwan, Sohn Iwans IV. (f. Sohn) 26061, 284 Kapitel XVII (Russland 2, Romanow) Alexej (Sohn des Zaren Alexej) 290 Alexej (Sohn Peters d. Gr.) 292-94, Anna, Zarin (f. Bruder und Sohn) 296

Elisabeth, Zarin (auch f. Sohn und Tochter) 296, 298 Iwan VI. 296, 297-98 Konstantin, Großfürst 316 Maria Feodorowna (Gemahlin Alexanders III.) 317 Maria Pawlowa (Tochter Pauls I.) 316 Paul I. 314, 316 Peter (Sohn Peters d. Gr.) 294, 295 Peter II. 296 Peter III. 296, 298, 300-02 s. auch Kap. XV. Kapitel XVIII (Islam) „Sultan“ meint immer osmanische Herrscher Abbas, persischer Prinz 346 Abderrahman III. Kalif von Cordoba (f. Enkel) 320, 324 Hakim (al-), Kalif in Kairo 326-27 Hischam II. Kalif von Cordoba 32223 Husein I. Schah (f. Söhne und f. Bruder) 343, 345 Ismail II. Schah 342 Ismail, persischer Prinz 347 Mehmed III. Sultan (f. Sohn) 334-35 Mohammed, Prophet (f. und fr. Nachkommen) 320, 323, 326 Mustafa, Sohn Sultan Bayezids I. 329 Mustafa, Sohn Sultan Solimans 333 Safi, persischer Prinz 346 Selim II. Sultan (f. Sohn) 332, 334 Thamasp II. Schah (f. Sohn) 343-45 Kapitel XIX (China) Chongzhen, Ming-Kaiser (f. Söhne) 350 Jian-wen, Ming-Kaiser 349 Sung-Dynastie (fr. Nachkomme) 349

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Kapitel XX (Inka) Atahualpa (f. Nachkomme) 353

Tupac Amaru I. (fr. Nachkommen) 353, 355, 359 Anm. 4

II. Falsche Prätendenten In Klammern werden die Personen angegeben, in deren Namen die Prätendenten auftraten. Falls der echte Name des Prätendenten unbekannt geblieben ist, wird er unter der beanspruchten Identität mit dem Zusatz f= falsch oder fr. = fragwürdig angeführt. Ist der wahre Name umstritten, wird er mit einem Fragezeichen versehen. Kapitel I (Persisches Reich) Araxa (Nebukadnezar IV., babylon. Prinz) 20 Fravartis (Kschathrita, Mederprinz) 20 Gaumata (Smerdis-Bardiya) 12-19 Nidintu-Bel (Nebukadnezar III., babylon. Prinz) 20 Tschitrantakhama (Mederprinz) 20 Vahyazdata (Smerdis-Bardiya) 21 Kapitel II (Hellenismus) Alexander (makedonischer Königssohn) f. 44 Alexander (Sohn Herodes d. Gr.) f. 49 Alexander I. Balas (Sohn Antiochos IV.) f. 30-34 Alexander II. (Seleukide) f. 35-38 Andriskos (Philipp VI. von Makedonien) 29, 41-44 Ariarathes (1) (Kappadokischer Königssohn) f. 51 Ariarathes (2) (Kappadokischer Königssohn) f. 53 Aristonikos (Eumenes III. von Pergamon) 45-47 Mithridates (Ariarathes VIII./IX. von Kappadokien) 51

Orophernes, König von Kappadokien, fr. 26 Philipp (makedonischer Königssohn) f. 44 Philipp von Megalopolis ( fr. Nachkomme Alexanders d. Gr.) 24-26 Ptolemaios f. 39 Ptolemaios XIII. f. 40 Seleukos Kybiosaktes (Seleukide) f. 38-39 Sokrates ? (Pylaimenes von Paphlagonien) 50 Kapitel III (Rom) Amatius =Chamatius= Herophilos (Enkel des Marius) 57-58 Klemens (Agrippa Postumus) 59-61 Drusus (Urenkel des Augustus) f. 61-62 Equitius, Lucius (Sohn des T. Gracchus) 55-56 Geta (Scribonianus Camerinus) 70 Anm. 29 Marcellus, Marcus Claudius (Neffe des Augustus) f. 58 Anm. 4 Meir Baal Hanes, Rabbi (f. Nachkomme Neros) 69 Nero, 1. f. 66-68 Nero, 3. f. ( ?) 69

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Nymphidius Sabinus (als f. Sohn Caligulas) 63-64 Quinctilius, Sextus Condianus, Konsul f. 70 Terentius Maximus (2. f. Nero) 6869 Sabinus, Julius ( f. Nachkomme Caesars) 70 Kapitel IV (Frankenreich) Chlodwig III. f. 79-81 Gundowald (fr. Sohn Chlothars I.) 72-79 Rauching (fr. Sohn Chlothars I.) 78 Kapitel V (Byzanz) Alexios II., 1. f. 100 Alexios II., 3. f. 101 Alexios II., 4. f. 102 Bescher (f. Kaisersohn Tiberios) 90 Diogenes, Konstantin f. 97 Diogenes, Leon 1. f. 97-98 Diogenes, Leon 2. f. 98 Diogenes f. 98 Gebeon (f. Kaisersohn) 93 Johannes IV. Laskaris (1) f. 104 Johannes IV. Laskaris (2) f. 104 Johannes Drimys ( fr. Laskaris) 105 Kausalones (2. f. Alexios II.) 101 Michael Raiktor (Michael VII. Dukas) 95 Theodosios, Kaisersohn, f. 87-88 Thomas der Slawe (Konstantin VI.) 91-93 Kapitel VI (Flandern) Bertrand von Rays (Balduin IX.) 109-15

Kapitel VII (Deutschland) Anna von Kleve f. 151 Bruder Heinrich (2. f. Friedrich II.) 124-25 Charles Henri Othon von NassauSiegen f. 152-54 Friedrich II. 4. -6. f. 133 Giovanni di Cocleria (1. f. Friedrich II.) 119-21 Heinrich V. Kaiser f. 116-17 Heinriche von Mecklenburg f. 135 Heinrich der Unechte von Reuß fr. 152-53 Kolup, Tile ( 3. f. Friedrich II.) 12532 Manfred, Sohn Friedrichs II. f. 121 Meinicke (?) (Woldemar von Brandenburg) 139-150, Name 140 Rehbock, Jakob (?) (Woldemar von Brandenburg) 139-150, Name 140 Stöcklin, Hans (?) (Konradin) 122 Kapitel VIII ((ordeuropa) Falls nicht anders angegeben norwegische Prätendenten Bene Skinnkniv (f. Sohn Magnus V.) 165 Daljunker (Nils Sture von Schweden) 171-75 Erling Steinvegg (f. Sohn Magnus V.) 165 Eystein Meila (fr. Sohn Eystein Gillesons) 160 Gyllander, Anna (Christine von Schweden) 175 Hansson, Jörg (?) vgl. Daljunker Harald Gille (fr. Sohn Magnus III.) 156-57 Harald (fr. Sohn Sigurd Munns) 159 Hedin Thorgrimson (Sigurd Brenni) 164

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Inge oder Ingri (f. Sohn Magnus V.) 165 Margarete von Schottland-Norwegen f. 168 Olaf (Nachkomme Magnus III.) f. 159 Olaf von Norwegen und Dänemark f. 169-71 Orm (Jon Ingerson, fr. Sohn Inge Korkryggs) 164 Sigurd Slembe (fr. Sohn Magnus III.) 157-59 Sigurd (f. Enkel Magnus V.) 166 Sigurd Kongsson (f. Sohn Magnus V.) 164 Sverre (fr. Sohn Sigurd Munns) 16063 Thorleif Brutskegg (f. Sohn Eystein Gillesons) 164 Thorskil (f. Sohn Magnus V.) 164 Vikar (f. Sohn Magnus V.) 164

Kapitel X Frankreich Bourbon (f. Sohn des Kardinals Karl (“X.”) von Bourbon) 208 Giovanni di Guccio Baglioni (Jean I.) 201-206 La Ramée, François (“François III.” f. Sohn Karls IX.) 206-08 Soudain, Sebastian (Karl IX.) 208

Kapitel IX (England) Arthur (f. Sohn Elisabeths I.) 199 Constable vgl. Featherstone Featherstone, William (Eduard VI.) 198-199 Heinrich III. f. 178 Anm. 4 Henriette, Gemahlin Karls I. f. 199 Anm. 32 John of Powderham (Eduard II.) 177 Mantell-Blowyse-Johnson (Eduard VI.) 199 Maudelyn (Richard II.) 181 Simnel, Lambert (Eduard Warwick, Earl: Eduard VI.) 184-87 Warbeck, Perkin (Richard of York: Richard IV.) 187-97 Ward, Thomas (Richard II.) 181-83 Wilford, Ralph (Eduard Warwick, Earl) 193-94 William le Galleys (Eduard II.) 178

Kapitel XIII (Balkanländer 1) Allmão, Henrique (Wladislaw von Ungarn-Polen) 233 Andreas f. (Prinz von Ungarn, Arpade) 229 Andreas f. (Prinz von Ungarn, Anjou) 230-31 Deljan-Doleanus (Peter von Bulgarien) 227-29 Rychlik Mikolaj (Wladislaw von Ungarn-Polen) 233 Wilczynz-Ryczywolu-Rad (Wladislaw von Ungarn-Polen) 233

Kapitel XI (Spanien) Alfons I. von Aragon f. 210-11 Juan, Thronfolger f. 211 Kapitel XII (Portugal) Alvarès, Gonçalo (2. Sebastian) 21516 Catizzone – Carzone, Marco Tullio di Taverna (4. Sebastian) 220-23 Espinosa, Gabriel d’ (3. Sebastian) 217-20 Sebastian, 1. f. 215-16

Kapitel XIV (Rumänien-Moldau) Aaron Tiranul (fr. Sohn Alexander Lapuşneanus) 247-49 Alexander (f. Sohn Stefanitas) 246 Alexander cel Rau (f. Sohn Bogdans) 248

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Despota (f. Heraklide) 238-43 Jancu Sasul (f. Sohn Peter Rareş) 246-47 Joan (f. Sohn Alexander Lapuşneanus) 247 Joan Potcoava (f. Sohn Stefanitas) und Söhne 244-45 Joan Voda cel Viteaz (f. Sohn Stefanitas) und Verwandte 248 Jonaşcu Bogdan (f. Sohn Alexander Lapuşneanus) 249 Jon Bogdan (f. Sohn Alexander Lapuşneanus) 249 Johann Jakob Basilides Heraklides vgl. Despota Konstantin (f. Sohn Stefan Lacustas) 246 Peter (f. Sohn Alexander Lapuşneanus) 246 Peter Cazacul (f. Sohn Alexander Lapuşneanus) 242 Peter Cercel (fr. Sohn Patraş cel Bons) 251-52 Stefan Bogdan (fr. Sohn Jancu Sasuls) 249-50 Stefan Razvan (fr. Rareş) 250 Kapitel XV (Montenegro) Stefan Mali (Peter III. von Russland) 255-59 Medun, „Fürst von“ 258 Vasojević, Nikola 258 (fr. Thronanwärter) Vujić 258 (fr. Thronanwärter) Zanović, Stefan (f. Stefan Mali) 258 Kapitel XVI (Russland 1, Zeit der Wirren) Akundinov, Timofej ( f. SchuiskiSohn) 288 Dimitri, 1. f. 261-79 vgl. auch Otrepjew

Dimitri, 2. f. 280-84 Dimitri, 3. f. vgl. Sidorka Eroschka (Erofij) (f. Sohn Fedors I.) 285 Fedor (Fedka) (f. Sohn Fedors I.) 285 Gavrilka (f. Sohn Fedors I. 285 Gorchakov vgl. Korovin Iwan Augustus (f. Sohn Iwans IV.) 285 Iwan Dimitrowitsch (Sohn des 2. f. Dimitri) 286-87 Klementij (f. Sohn Fedors I.) 285 Korovin, Ilja (Peter, f. Sohn Fedors I.) 279-81 Lavrens (f. Sohn Fedors I.) 284 Luba, Faustin (f. Iwan Dimitrowitsch) 287-88 Martinka (f. Sohn Fedors I.) 285 Matynska vgl. Sidorka Osinovik (f. Enkel Iwans IV.) 284 Otrepjew, Grigorij ?( 1. f. Dimitri) 261-63, 271-72 Savelijv (f. Sohn Fedors I.) 285 Schuiski-Sohn, 3. f. 288 Semion ( f. Sohn Fedors I.) 285 Semion (f. Sohn Schuiskis) 288 Sidorka –Isidor (3. f. Dimitri) 28586 Vassilij (f. Sohn Fedors I.) 285 Vergunenok (f. Iwan Dimitrowitsch) 288 Kapitel XVII (Russland 2 Romanow) Afanasij Petrowitsch (Paul I.) 315 Akulina Iwanowna (Elisabeth) 314 Alexej f. (Sohn Zar Alexejs) 291-93 Andreev, Iwan (Peter III.) 312 Andreev, Semen (Zarewitsch Simeon) 292

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Artemjew, Evestifij (Alexej Petrowitsch) 295 Aslanbekov, Anton (Peter III. ) 302 Bogomolov, Fedor (Peter III.) 303 Bunin, Vassilij (Peter III.) 313 Eudokimos, Iwan M. (Peter II.) 297 Ewsigneev (Peter III.) 312 Iwan Iwanowitsch (f. Bruder Annas) 297 Iwan VI. 3. f. 298 Kamenshikow, Fedor (Peter III. 303 Kasin (Chasin) vgl. Bogomolov Khanin (Chanin), Maksim (Peter III.) 313 Kleopin, Ivan A. (Alexej Petrowitsch) 292 Kolschtschenikov, A. (Alexej Petrowitsch) 295 Koltschenko, Nikolaj (Peter III.) 302 Konstantin, Großf. 3. – 6. f. 318-19 Krekschin, Andrej (Alexej Petrowitsch) 294 Kremner, Gawril (Peter III. 302) Kretov, Nikolaj (Peter III.) 303 Kripunow, P. (Peter III.) 313 Kudrilov,Timofej (Iwan VI.) 298 Mamykin, N. (Peter III.) 304 Anm. 29 Maria Feodorowna f. 316 Matveev,Iwan (Iwan VI.) 298 Minitski, Iwan (Alexej Petrowitsch) 295 Morodveev, Korneev (Großf. Konstantin) 315 Nikiforov (Peter III.) 312 Obadin, Andrej (Alexej Petrowitsch) 295 Opotschnin (f. Sohn Elisabeths) 299 Peter Petrowitsch (f. Sohn Peters I.) 295 Popovitsch, Dimitrij (Peter III.) 313

Protopopov, Nikolaj (Großf. Konstantin) 315-16 Pugatschow, Emeljan (Peter III.) 304-12 Radionov, Aleksej (Alexej Petrowitsch) 295 Rjabow, Grigorij (Peter III.) 303 Romanow, Kirai (f. Sohn Annas) 297 Saveleev, Gerasim (Peter III.) 313 Selivanow, Kondratij (Peter III.) 313 Semikov, Aleksandro (Alexej Petrowitsch) 295 Šimanovskaja, Maria (Großf. Maria Pawlona) 316 Sinjutin, Nikita (Peter III.) 313 Šlapnikov, J. (Paul I.) 314 Tarakanowa, Prinzessin (f. Tochter Elisabeths) 299-302 Truženik, Timofej (Alexej Petrowitsch) 295 Tschernyschow, Pjotr (Peter III.) 303 Vorobjew, Semen (Zarewitsch Simeon) 292 Zajeev, Grigorij (Paul I.) 314 Kapitel XVIII (Islam) p=persisch Abu Rakwa (f. Enkel Abderrahmans III. von Cordoba) 324-25 Abul Massum (p. Prinz Safi) 344-45 Chakya –Shagiya (f. Nachkomme Mohammeds) 320 Hasan Sabzawari (f. Sohn Schah Thamasps II.) 347 Husein II. (f. Sohn Thamasps II.) 346 Hussein (f. osman. Prinz) 334 Ismail II. f. Schah- vierfach 341-42 Khalaf -Halaf al Husum (Hischam II. von Cordoba) 323

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Mohammed Ali Rafsinjani (p. Prinz Safi) 345 Mustafa Düzme (fr. Sohn Sultan Bayezids I.) 329-331 Mustafa f. mehrfach (Sohn Sultan Solimans) 333-34 Osman- Padre Osman (Sohn Sultan Ibrahims ?) 338-39 Sam (f. Sohn Schah Huseins) 346 Sayid Husein (p. Prinz Abbas) 345 Schahzade Muhammed Kharsavai (f. Sohn Schah Huseins) 345 Soliman (f. Sohn Sultan Selims II.) 334 Šrut (Kalif al Hakim) 327-28 Sukain – Sikkin (Kalif al Hakim) 328 Sultan Yahya (f. Sohn Sultan Mehmeds III.) 335-38 Zainal-Zenil (p. Prinz Ismail) 345 Kapitel XIX (China) Han-lin-erh (fr. Sung-Prinz) 349 Jian-Wen f. Kaiser 350 Tan-pei (Kaiser Chong-zen) 351 Wang-Chih-ming (f. Sohn Chongzens)351-52

Kapitel XX (Inka) Condorcanqui, José Gabriel (fr. Nachkomme Tupac Amarus I.) 35660 Santos, Juan (f. Nachkomme Atahualpas) 354-56 Kapitel XXI (Ludwig XVII., Kaspar Hauser) Falsche Ludwige: Brosseau, Pierre 365 Anm. 5 Bruneau, Mathurin 368-70 Dufresne, J.F. oder A. Ch. 365 Anm. 5 Fulgence, Joseph Alexandre 381 Hébert vgl. Richemont Hervagault, Jean-Marie 365-68 Labroisserie, Claude 365 Anm. 5 Langes, Savalette de 381 Loritz, Simon 365 Anm. 5 Meves, August 378-79 Naundorff, Karl Wilhelm 372-78 Persat, Victor 365 Anm. 5 Poiret, Louis Pierre 365 Anm. 5 Poncelet, Gérard 365 Anm. 5 Richemont, Louis Hector Alfred de 370-72 Williams, Eleazar 379-81

Beiträge zur Kirchen- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Christoph Weber Band 1

Christoph Weber: Der Religionsphilosoph Johannes Hessen (1889–1971). Ein Gelehrtenleben zwischen Modernismus und Linkskatholizismus. 1994.

Band 2

Christoph Weber: Senatus Divinus. Verborgene Strukturen im Kardinalskollegium der frühen Neuzeit (1500-1800). 1996.

Band 3

Sabrina M. Seidler: Il teatro del mondo. Diplomatische und journalistische Relationen vom römischen Hof aus dem 17. Jahrhundert. 1996.

Band 4

Annette Klement: Versöhnung des Verschiedenen. Friedrich Heilers Ringen um die eine Kirche im Spiegel seiner Korrespondenz mit katholischen Theologen. 1997.

Band 5

Ingo Stader: Herrschaft durch Verflechtung. Perugia unter Paul V. (1605–1621). Studien zur frühneuzeitlichen Mikropolitik im Kirchenstaat. 1997.

Band 6

Angela Berlis: Frauen im Prozeß der Kirchwerdung. Eine historisch-theologische Studie zur Anfangsphase des deutschen Altkatholizismus (1850-1890). 1998.

Band 7

Christian Leitzbach: Matthias Erzberger. Ein kritischer Beobachter des Wilhelminischen Reiches 1895–1914. 1998.

Band 8

Urs Buhlmann: Malteserkreuz und Preußenadler. Ein Beitrag zur Gründungsgeschichte der Genossenschaft der Rheinisch-Westfälischen Malteser-Devotionsritter. 1999.

Band 9

Christoph Weber: Bischöfe, Generalvikare und Erzpriester. Ein Beitrag zur Geschichte der kirchlichen Leitungsämter im Königreich Neapel in der frühen Neuzeit. 2000.

Band 10

Peter Walter / Hermann-Josef Reudenbach (Hrsg.): Bücherzensur – Kurie – Katholizismus und Moderne. Festschrift für Herman H. Schwedt. 2000.

Band 11

Gerhard Menzel: Der schwarze Traum vom Glück. Haiti seit 1804. 2001.

Band 12

Leo Just: Briefe an Hermann Cardauns, Paul Fridolin Kehr, Aloys Schulte, Heinrich Finke, Albert Brackmann und Martin Spahn 1923–1944. Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Michael F. Feldkamp. 2002.

Band 13

Veit Elm: Die Revolution im Kirchenstaat. Ein Literaturbericht über die jüngere Forschung zur Vorgeschichte und Geschichte der Repubblica Romana (1798–1799). 2002.

Band 14

Rolf Brüne: Das familiengerechte Heim. Nikolaus Ehlen (1886–1965). Person, Kreis, Hintergrund. 2002.

Band 15

Bettina Vogel-Walter: D'Annunzio – Abenteurer und charismatischer Führer. Propaganda und religiöser Nationalismus in Italien von 1914 bis 1921. 2004.

Band 16

Tina Hülser: Aufbau und Intensivierung kirchlicher Verwaltung im Erzbistum Köln im 17. Jahrhundert. An Beispielen aus der Amtszeit des Kölner Generalvikars Paul von Aussem. 2005.

Band 17

Otto Weiß: Rechtskatholizismus in der Ersten Republik. Zur Ideenwelt der österreichischen Kulturkatholiken 1918–1934. 2007.

Band 18

Päpste und Kardinäle in der Mitte des 18. Jahrhunderts (1730–1777). Das biographische Werk des Patriziers von Lucca Bartolomeo Antonio Talenti. Herausgegeben von Sabrina M. Seidler und Christoph Weber. 2007.

Band 19

Jan Cattepoel: Thomas Müntzer. Ein Mystiker als Terrorist. 2007.

Band 20

Christoph Weber: Episcopus et Princeps. Italienische Bischöfe als Fürsten, Grafen und Barone vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. 2010.

Band 21

Michael Klöcker: Religionen und Katholizismus, Bildung und Geschichtsdidaktik, Arbeiterbewegung. Ausgewählte Aufsätze. Mit einer Einleitung von Christoph Weber. 2011.

Band 22

Veronika Laufen: Der Verband katholischer kaufmännischer Vereinigungen Deutschlands 1877-1933. 2011.

Band 23

Oliver Göbel: Die Fuldaer Katholiken und der Erste Weltkrieg. Zur konfessionellen Spezifik nationaler Integration am Beispiel der fuldischen katholischen Publizistik 1914-1918. 2011.

Band 24

Gerhard Menzel: Falsche Könige zwischen Thron und Galgen. Politische Hochstapelei von der Antike zur Moderne. 2012.

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