Essenzen der Aufstellungsarbeit: Praxis der Systemaufstellung [1 ed.]
 9783666408441, 9783525408445

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Kirsten Nazarkiewicz / Peter Bourquin (Hg.)

Essenzen der Aufstellungsarbeit Praxis der Systemaufstellung

Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Systemaufstellungen Im Namen der Deutschen Gesellschaft für Systemaufstellungen gGmbH herausgegeben von Kirsten Nazarkiewicz und Peter Bourquin

DGfS gGmbH, von-Beckerath-Platz 7, 47799 Krefeld www.systemaufstellung.com

Kirsten Nazarkiewicz/Peter Bourquin (Hg.)

Essenzen der Aufstellungsarbeit Praxis der Systemaufstellung

Mit Illustrationen von Petra Wagner

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 8 Abbildungen und 5 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung und Illustrationen: © Petra Wagner Petra Wagner gibt ihren Arbeiten keine Titel – so ist die betrachtende Person völlig frei in der Resonanz mit dem Bild. Verschiedene Techniken auf Papier, Format 43 × 61 cm, 2019. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2568-048X ISBN 978-3-666-40844-1

Inhalt

Peter Bourquin und Kirsten Nazarkiewicz Einführende Worte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  9 I Bewusstsein Kerstin Kuschik Annäherungsbewusstheit als Haltung – eine Suche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  21 Markus Hänsel Intuition als Weg zur Entwicklung von Sein und Bewusstsein . . . . . . . . . . .  39 Albrecht Mahr Essenzielle Qualitäten in Systemaufstellungen – eine Ridhwan-Perspektive  59 II Wahrnehmung Annika Schmidt Proxemik in der Aufstellungsarbeit: Maß-Nahme verborgener Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  75 Harald Homberger Die stellvertretende Wahrnehmung in der systemischen Aufstellungsarbeit  87 Heiko Kleve Die körperliche Empathie räumlichen Sinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  105 Die leere Mitte

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Inhalt

III Phänomenologie

Olivier Netter Angewandte Phänomenologie in der Aufstellungsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . .  127 Thomas Latka In Gefühle eintreten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  153 Jakob Robert Schneider Sehen und Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  165 IV Praxis Holger Lier und Christiane Lier Systemische Qualitätsmerkmale in Aufstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  179 Kerstin Kuschik und Kirsten Nazarkiewicz Zwanzig Thesen zum Aufstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  197 Christoph Wild Sprache der Weisheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  209 V Forschung Jan Weinhold Den Essenzen auf der Spur – eine Übersicht über die empirische Forschung zu Systemaufstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  221 Kirsten Nazarkiewicz, Frank Oberzaucher und Holger Finke Repräsentierende Wahrnehmung als kommunikative Aufgabe – ein Werkstattbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  237 Georg Müller-Christ Die Aufsteller/-innen-Gemeinschaft als Evolutionstreiber für die Wissenschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  259

Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  273 Über die Künstlerin Petra Wagner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  278 Praxis der Systemaufstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  280

In Memoriam Bert Hellinger 1925–2019

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Einführende Worte »Sobald wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam. Wir glauben in die Tiefe der Abgründe hinabgetaucht zu sein, und wenn wir wieder an die Oberfläche kommen, gleicht der Wassertropfen an unseren bleichen Fingerspitzen nicht mehr dem Meere, dem er entstammt. Wir wähnen eine Schatzgrube wunderbarer Schätze entdeckt zu haben, und wenn wir wieder ans Tageslicht kommen, haben wir nur falsche Steine und Glasscherben mit­ gebracht; und trotzdem schimmert der Schatz im Finstern unverändert.« Maurice Maeterlinck (1965)

Mit dem Entstehen des Familienstellens in den 1980er Jahren ging die Suche einher, was die Grundlagen dieser Methode seien. Als Grundpfeiler wurden zu Beginn die phänomenologische Wahrnehmung (Hellinger, 1994) sowie ein systemisches Verständnis (Weber, 1993) benannt. Seitdem wird versucht, aus der praktischen Erfahrung heraus und in Verbindung mit verschiedenen Theorieansätzen, Bausteine zusammenzutragen, um so allmählich die wesentlichen Bestandteile des Ansatzes zu bestimmen. Wo stehen wir heute, nach dreißig Jahren? Grundidee dieses Buches ist es, anhand verschiedener Beiträge theoretische und praktische Erkenntnisse bezüglich dem, was in Aufstellungen voraus­ gesetzt ist und ihren praktischen Einsatz begleitet, verständlich zusammenzutragen. Dieses Themenbuch versucht also Kernthemen – soweit möglich – auf ihrem aktuellen Stand zu benennen, zusammenzufassen, zu präzisieren und zur Diskussion zu stellen und damit den methodologischen Austausch zum Thema zu fördern. Denn obgleich verschiedene Grundthemen der Aufstellungsarbeit von Beginn an das tägliche Tun begleiten, haben sich erst ganz allmählich und als Folge des stetigen Reflektierens und Infragestellens ausdifferenzierte Perspektiven entwickelt, deren Kohärenz noch aussteht. Wir fragen: Was ist das Wesentliche (in) der Aufstellungsarbeit? Aus welchen Ressourcen wird geschöpft? Von einer Essenz spricht man z. B., wenn es um ein Konzentrat geht oder – in der Philosophie – wenn man nach der Substanz und dem Wesen fragt, also nach tieferen Erklärungsebenen. Hier wird es schnell grundsätzlich. Wenn wir von »Essenzen der Aufstellungsarbeit« sprechen, dann geht es z. B. um die stellvertretende Wahrnehmung, die im Zentrum der Aufstellungsarbeit steht, und um eine Phänomenologie, welche Erklärungen für den Zugang zum Fremd­ bewusstsein sucht. Es geht auch um das Bewusstsein der Aufstellungsleitung als ermöglichender wie beschränkender »Raum«, in dem das Geschehen statt-

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findet. Diese und andere Essenzen manifestieren sich schließlich in der praktischen Arbeit und ihrer Qualität, die zunehmend erforscht wird. Die folgenden fünf Rubriken tragen einfache Titel: I Bewusstsein, II Wahrnehmung, III Phänomenologie, IV Praxis und V Forschung. In allen Kapiteln gibt es spannende Beiträge aus unterschiedlichen Perspektiven, die uns neue Sichtweisen ermöglichen und möglicherweise zu einem erweiterten Verständnis beitragen. Die Autorinnen und Autoren ringen um neue Verbindungen sowie um eine Sprache, die nicht immer hinreicht, die Fülle und Dichte dessen zu formulieren, was in Aufstellungen erfahrbar ist. Wir sind uns somit der Grenzen des Vorhabens, Essenzen zu formulieren, sehr wohl bewusst. Daher überschreiben wir diese einführenden Worte mit einem Zitat von Maeterlinck: »Sobald wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam.« Symbolisch für jene Geisteshaltung und jenen Seinszustand, in denen keine Worte hinreichen und die keiner Sprache bedürfen, stehen daher bewusst unbedruckt gelassene Seiten im Zentrum dieses Buches: die »leere Mitte«.

Übersicht Kapitel I: Bewusstsein Eröffnet wird das Buch mit einem Beitrag von Kerstin Kuschik zur Haltung der Aufstellungsleitung. Diese in allen Aus- und Weiterbildungen in ihrer Bedeutung hervorgehobene Voraussetzung beschreibt sie als »Annäherungsbewusstsein«. Statt Kernelemente einer hilfreichen Haltung normativ zu proklamieren oder an diese zu appellieren, nimmt sie die Lesenden mit auf eine Suche, die mitten in diesen permanenten Prozess des Auslotens hineinführt. Dabei streift und erläutert sie die in diesem Zusammenhang häufig erwähnten Voraussetzungen einer förderlichen Haltung wie Leib, Bewusstsein, Atmen, Üben, Präsenz, Mitschwingen, Absichtslosigkeit, Unterscheiden und Staunen. Haltung – so die These – ist eine Bewegung rund um ein Zentrum, das nie erreicht wird, so dass das Herantasten selbst als Annäherungsbewusstsein zum Zentrum wird. Intuition ist keine Blackbox. Markus Hänsel hat darüber geforscht und kondensiert seine Erkenntnisse im Beitrag »Intuition als Weg zur Entwicklung von Sein und Bewusstsein« in Verbindung mit der Aufstellungsarbeit. Zunächst differenziert er Aspekte des intuitiven Erlebens wie u. a. Handlungsimpulse, Stimmigkeitserleben oder Unwillkürlichkeit und konzipiert Intuition als komplementär zur Ratio. Intuition ist verkörpertes Wissen, das auf einem ­Beziehungs- sowie

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Kommunikationssystem basiert, als professionelle Fähigkeit über verschiedene Kompetenzfelder ausgebaut werden kann und zu dem auch die eigene persönlich-­professionelle Entwicklung gehört. Für den Autor sind Aufstellungen ein kultureller Erfahrungsraum und systemisch-dialogischer Kontext, die es ermöglichen, das Oszillieren zwischen bewusst, vorbewusst und unbewusst auf allen Sinneskanälen zu erleben und damit zu erfahren, wie das Selbsterleben zutiefst von Interdependenzen geprägt ist. Dadurch leistet Aufstellungsarbeit – so eine der Thesen – einen Beitrag zum verantwortungsvollen Umgang mit dem eigenen Bewusstsein und mit einer gesellschaftlichen Transzendenzfähigkeit, also einer Bewusstseinskultur, in der verschiedene Bewusstseinszustände differenziert und zwischen ihnen moduliert werden kann. Ridhwan-Arbeit ist eine spirituelle Schulung, bei der wesentliche Merkmale des Menschseins in psycho-spirituellen Übungen exploriert werden. Albrecht Mahr verbindet sie mit den Essenzen von Systemaufstellungen, nachdem er zunächst die Differenzen beider Wege zur Klärung unbewusster biografischer Zusammenhänge benannt hat. Aufstellungen sind für ihn u. a. Forschungslaboratorien zur Bewusstseinsentwicklung, welche die tiefe Verbundenheit von Menschen und ihre Abhängigkeit von Beziehungen erleben lassen. Dies geschieht zugleich als mitfühlendes Gemeinschaftswerk in wechselseitiger erlebnisintensiver Zeugenschaft. Die Genauigkeit, mit der Hinweise mithilfe des Körperwissens in stellvertretender Wahrnehmung anschaulich gemacht werden können, ist frappierend, der Weg transzendierend: Der Fokus liegt auf der bewussten Wahrnehmung von Bindungen und Ängsten und den menschlichen Möglichkeiten. Die Ridhwan-Arbeit geht davon aus, dass es einen menschlichen Wesenskern gibt, ein grundloses Sein, das der biografischen Persönlichkeit vorausgeht. Um die »Löcher« lebensgeschichtlicher Mangelerfahrungen, wie u. a. Entwertung, Angst, Lieblosigkeit, nicht fühlen zu müssen, füllen wir sie – und entfernen uns vom Wesenskern. Die Verbindung des Ridhwan-Ansatzes mit der Aufstellungsarbeit sieht der Autor in der Reflexion der Rolle des Über-Ichs oder Gewissens, die in beiden Herangehensweisen bedeutsam ist. Verinnerlichte mentale Strukturen werden entdeckt und nachvollziehbar gemacht. Werden existenzielle Mangel­erfahrungen derart angenommen, treten essenzielle Qualitäten wie Liebe und Selbstwert als innere Gewissheiten wieder hervor. Kapitel II: Wahrnehmung Die Beiträge des zweiten Kapitels kreisen um das Thema Wahrnehmung als Raumsprache. Diese baut auf der Proxemik auf, drückt sich in großer Vielfalt aus und benötigt eine theoretische Konzeption – insbesondere in Bezug auf die

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repräsentierende Wahrnehmung. Die drei Autoren bearbeiten diese zentralen Themen aus verschiedenen Perspektiven. Annika Schmidt widmet ihren Beitrag der Proxemik als Raumsprache und Essenz in der Aufstellungsarbeit. Räumliche Ausdrucksformen wie Nähe-­ Distanz-­Verhalten, körperliche Ausrichtung, Augenhöhe oder Berührungen sind das Medium in der Aufstellungsarbeit, verborgene Dimensionen zu entdecken. Wir erkennen dadurch unser gewohntes Denken und Verhalten, also wie wir uns eingerichtet und eingepasst haben. Die These der Autorin ist, dass wir zunächst nur Elemente wahrnehmen und mit Sinn verknüpfen können, die bereits in unserer Vorstellung existieren, sie sind uns innerlich, sie erinnern wir. Wir erkennen und erfahren damit die gewohnte Struktur und nur, wenn wir das vorstellende Denken verlassen, Anordnungen umstellen, neue Beziehungsperspektiven erspüren, was in Aufstellungen körperlich erfahrbar geschieht, beziehen wir – wie bei einer Wohnung – neue zwischenmenschliche Räume. Das mögliche Maß der Stimmigkeit im neuen Arrangement wird dabei proxemisch ausgehandelt – mit den anderen und sich selbst. Aufstellungen unterstützen diese Syntheseleistung zu einer neuen Aus- und Einrichtung, die dann wieder der Wahrnehmung vorangestellt wird. Auf das Phänomen der stellvertretenden Wahrnehmung in der systemischen Aufstellungsarbeit ist der Beitrag von Harald Homberger ausgerichtet. Er trägt eine Sammlung und Beschreibung dessen zusammen, was in Aufstellungen erfahren werden kann. Wenn wir uns mit entsprechender Aufmerksamkeit und Achtsamkeit ausrichten, können wir generationenübergreifend wahrnehmen, Informationen zu Objekten oder geistige Strukturen spüren, oder das Erfasstwerden von Sinneswahrnehmungen, Gedanken, Gefühlen oder Bewegungen wahrnehmen. Der Autor beschreibt auch Hindernisse der stellvertretenden Wahrnehmung wie eigene traumatische Erlebnisse, welche das Differenzieren erschweren. Doch dieser Spiegel, den Menschen in der Aufstellungsarbeit erfahren, ist nicht auf die Aufstellungsarbeit beschränkt – so die These des Autors. Stellvertretende Wahrnehmung ist dem Menschsein als Bewusstseinsprozess zugehörig und daher ebenso mögliche Alltagserfahrung. Einen erklärenden Theorieansatz zur repräsentierenden Wahrnehmung stellt Heiko Kleve zur Diskussion. In seinem Beitrag »Die körperliche Empathie räumlichen Sinns« formuliert er, wie das Phänomen aus systemtheoretischer Sicht entworfen werden könnte. Er beschäftigt sich mit der entscheidenden Frage, wie diese Wahrnehmungsform – auch ohne Kenntnisse der inhaltlichen Details, so wie man es im verdeckten Arbeiten erlebt – zustande kommen kann. Dabei vermeidet er spirituelle Erklärungen ebenso wie allzu profane: Aufstellungen sind keine Rollenspiele, sondern artikulieren bio-psycho-soziale Wahrnehmungen

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von Stellvertretern aufgrund ihrer räumlichen Positionierungen und Relationen. Der Raum bietet also einen Beobachtungs- und Erfahrungskontext für systemische Prozesse. Diese können wir wie eine Raumsprache spüren, weil alles, was wir in unserer Welt erfahren (haben), immer schon raum-, empathie- und sinnbasiert ist. Vermittelst der Empathie, welche über neuronale Spiegelungs­ effekte Mitfühlen über Perspektivenwechsel ermöglicht, sind eigene und fremde körperliche Positionen sowie ihre Relationen spür- und verbindbar. Schließlich wird das beobacht- und wahrnehmbare Geschehen mit Sinn gefüllt. Wie der Raum der Kontext des wandelbaren Systemgeschehens ist, so ist der Sinn – soziologisch betrachtet – der Kontext, in dem Gedanken und Bedeutung eingebettet sind. In diesem System, dem Sinn-Raum, realisieren sich Aufstellungen. Sie simulieren Sinnbildung in gewohnter oder auch neuer Weise: Alles könnte auch anders sein. Die Antwort des Autors auf das Rätsel der repräsentierenden Wahrnehmung ist also: Sie fußt auf drei miteinander verbundenen Medien: dem Raum, der Empathie und dem Sinn. Systemische Aufstellungen bieten dazu das räumliche Medium. Kapitel III: Phänomenologie Das dritte Kapitel umfasst drei unterschiedliche Blickwinkel auf die Lehre der geistig-intuitiven Wesensschau, wie die Phänomenologie in der Terminologie Husserls heißt. Es geht den Autoren dabei jedoch nicht (nur) um philosophische, sondern auch um ganz praktische Fragestellungen. Der erste Beitrag betont, wie wichtig es für Aufstellungsleitungen ist, eigene blinde Flecke kritisch zu reflektieren. Der zweite Aufsatz wirf einen neuen Blick auf die Gefühle, die wir uns in der Regel subjektiv zurechnen und konzipiert sie als Raum, in den wir einund austreten können. Der dritte Beitrag erinnert daran, dass Aufstellungen erst im Sinnverstehen der Anwesenden ihre Wahrheit erhalten. Im ersten Beitrag »Angewandte Phänomenologie in der Aufstellungsarbeit« skizziert Olivier Netter seine Antworten auf die Frage: Was ist (angewandte) Phänomenologie? Aus Sicht des Autors ist sie eine hermeneutische Deutungspraxis, welche die inneren Voraussetzungen eines Zustands im Aufstellungsbild offenlegt. Einer der Kerngedanken ist, dass damit ein Gestaltbildungsprozess in Gang kommt, in dem fehlende Elemente auf sich verweisen können. Dies ist möglich, weil das Bewusstsein in der Lage ist, unendlich viele mögliche Bestimmungen zu antizipieren, und weil es nach diesen strebt. Das genuin Phänomenologische der Aufstellungsarbeit, dem zugrunde gelegten Vorverständnis auf die Spur zu kommen, besteht daher in einem fortwährenden Prozess des Findens und Suchens. Der Aufstellungsprozess ist also keine Offenbarung von

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Wahrheit(en), sondern kann durchaus Fehlannahmen, Vorurteile und Irrtümer enthalten. Der Autor sieht die Leiter und Leiterinnen und deren individuellen Entwicklungsstand als Ort der Gewähr für wahrheitsstiftendes Vorgehen. Er vertritt die These, dass die phänomenologische Methode keine schnell erlernbare Technik oder gar ein Set von Regeln ist, sondern einer besonderen Offenheit in der Haltung bedarf, welche die permanente Arbeit an den eigenen blinden Flecken, kritische Selbstreflexion und Selbstwahrnehmung zur essenziellen Voraussetzung hat. Zusammen mit Basisannahmen über Formen der Erkenntnisgewinnung und Einblicken in die philosophische Rezeption und Diskussion der Phänomenologie gibt der Autor so zahlreiche Impulse für eine Reflexion der eigenen praktischen Arbeit. Aufstellungen verdeutlichen nur, so argumentiert Thomas Latka, dass wir auch außerhalb ihrer »in Gefühle eintreten«. Aus Sicht der neueren Phänomenologie werden Gefühle zwar subjektiv gefühlt, haben jedoch quasi-­objektiven Status, d. h. nicht, wir haben Gefühle, sondern diese haben uns, indem sie uns ergreifen. Sie haben aus Sicht dieser Theorie einen atmosphärischen Zwischenstatus, wie wir ihn auch in der Musik, im Wind oder in der Stille erleben. Folgt man dieser Linie, ist stellvertretende Wahrnehmung weder Sonderfall noch Rätsel, denn wir können ganz selbstverständlich mit dem eigenen Leib in den bislang aus dem abendländischen Denken ausgesperrten Zwischenraum ein- oder austreten – ihn erleben. Dem abendländischen Weltbild mit seiner ansonsten strengen Unterscheidung von Objekt und Subjekt ist diese kategoriale Begründung fremd. In anderen Kulturen, etwa denen Ostasiens, haben sie eine reichere Tradition. Als Essenz der Aufstellungsarbeit formuliert der Autor, dass diese neuphänomenologisch betrachtet ein gutes Beispiel für die leibliche Räumlichkeit von Gefühlen sind. Menschen können ohne Vorbereitung oder besondere Begabung Phänomene spüren, die weder objektiv messbar noch subjektiv zuordenbar sind. Dieses Phänomen ist als Möglichkeitsbedingung in der Welt und noch längst nicht theoretisch hinreichend beschrieben oder anerkannt. Die phänomenologische Methode ist Voraussetzung aller Aufstellungsarbeit, ist die These von Jakob R. Schneider, da in Aufstellungen Beziehungssysteme in »Erscheinung« gebracht werden. Die sinnliche Anschauung im Bild mit seinen Details und Bewegungen und die daraus gewonnenen Informationen stellen keine objektiven Wahrheiten dar, sondern ergeben Sinn für die Klientinnen. Sie werden wahrgenommen, für wahr genommen und stellen insofern Wahrheit dar, als sie Bedeutung für das Leben der Falleinbringer haben. Voraussetzung für das »Sehen«, eine Metapher, die der Autor für alle Sinneskanäle nimmt, ist der Verzicht: ein Verzicht auf schnelle Deutungen, Vorwissen, einen einzigen richtigen Weg. Die Aufstellungsleitung fokussiert das für den Klienten Bedeutungsvolle,

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hilft, Sinn zu suchen, behält den Überblick sowie die Offenheit gegenüber dem Hypothesenbilden und Ausprobieren. Was immer sich zeigt, hat(te) einen Sinn im System, möglicherweise in einer anderen Zeit, für eine andere Person, also in einem anderen Sinnfeld, dem das Ausprobieren und Suchen gilt. Es zu entdecken und anzuerkennen ist die eigentliche Intervention phänomenologischer Aufstellungsarbeit. Hinzu kommen Konstruktionen neuer Bilder für die Falleinbringer, damit die vergangenen Eindrücke verändert werden können. Maßstab ist das Stimmigkeitserleben der Klientin als reale Wirkung hilfreicher Schritte. Kapitel IV: Praxis Der Frage, welche systemischen Qualitätsmerkmale in der Praxis von Systemaufstellungen zu formulieren sind, widmen sich Holger und Christiane Lier. Dabei schauen sie zunächst nach den Einflussgrößen, wie unterschiedliche Theoriekonstrukte und Therapierichtungen, bzw. nach deren Verknüpfungen, welche Wirkungen auf die zugrundeliegende ethische Grundhaltung der Aufstellungsleitungen und ihr Vorgehen zur Folge haben. Zu den von den Autoren an einem Fallbeispiel und konkreten Dialogen illustrierten Qualitätsmerkmalen gehören u. a.: Transparenz, Schutz und Sicherheit, Kontext- und Auftrags­ klärung, Zielformulierung, Lösungsorientierung, die Nutzung der körperlichen Ebene, Wertschätzung, Klienten- und Prozessorientierung, Sorgfalt bezüglich der Gruppendynamik sowie Zielüberprüfung und Nachsorge. Die authentische Orientierung und das Reflektieren der eigenen Praxis an diesen und weiteren Kriterien ist für Aufstellungsleiterinnen und Klienten gleichermaßen essenziell. Die Arbeit der Aufstellungsleitung geschieht im Spektrum zwischen intuitiv-­ vorbewusster und handlungsfähig-bewusster Wahrnehmung und hat Methode, vertreten Kerstin Kuschik und Kirsten Nazarkiewicz in ihrem Beitrag »Zwanzig Thesen für das Aufstellen«. Essenzen für eine qualitative Praxis, die in der Auseinandersetzung mit Kritikern, in der internen Diskussion und individuellen Selbstreflexion aus der Praxis für die Praxis entstanden sind, lassen sich thetisch zusammenfassen. Die Thesen beschreiben neben den praktischen Aspekten der fachlichen Sorgfalt (wie das Herstellen von Vertraulichkeit oder das Verwerfen-­ Können von Hypothesen) auch ethische Implikationen im methodischen Vorgehen, wie den Umgang mit Wahrheit, das Schaffen herrschaftsfreier Kommunikationsbedingungen und das Mitwirken an der menschlichen Selbstaufklärung. Ein derart reflektiertes und achtsames Arbeiten ermöglicht allen Teilnehmenden transformierende Erfahrungsmomente, und zwar u. a. durch einen beziehungsdichten, unmittelbaren Kontakt mit anderen Menschen, erleichternde Ähnlichkeitserlebnisse, Vertrauen in die eigene Körperweisheit und Wahrnehmung und

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Momente des Staunens durch neue Perspektiven. Diese und mehr Erfahrungen fördern als erfahrbare Essenzen lebendiger Resonanz Aufstellungsarbeit. In »Sprache der Weisheit? Ordnungen der Liebe neu gelesen« blickt Christoph Wild auf die Anfänge der Aufstellungsarbeit vor 25 Jahren zurück, wo er dem Weisheitswissen des Familienstellens einen grundlegenden Platz einräumt. Basierend auf der phänomenologischen Methode, entfalte sich jeder Fall einzigartig und die gebündelten Erfahrungen, induktiv von Hellinger einst zu »Ordnungen« formuliert, seien keine Theorie, sondern ein lebensweisheitliches Wissen. Weisheit versteht der Autor als von jedem Menschen erkennbares implizites Wissen. Es ist aus seiner Wirksamkeit und Alltagstauglichkeit entstanden. Seine Wahrheit liegt also in der lebensorientierten Kraft. Weis­heiten bewähren sich immer wieder, aber nicht immer und überall, daher sind sie nicht allgemein­gültig wie eine Theorie. Ihr Dienst liegt in der konkreten, fallbezogenen, individuellen Wirkung. Personen, die sie formulieren, wird Autorität zugebilligt, denn es gelingt ihnen, Ordnungen zu erkennen und zu stiften. Diese Ordnungen haben jedoch keine abstrakte Geltung. Sie sind weder ethische Normen noch anthropologische Konstanten und schon gar nicht sakrosankte Schöpfungsordnungen. Derart missverstanden wären sie eine Anmaßung. Wenn man Hellingers Buch und seine umstrittenen Äußerungen in dieser Hinsicht reinterpretiert, werden die Ordnungen der Liebe zur zeitgebundenen Intervention für bestimmte Generationen und es stellt sich die spannende Frage, welche Ordnungen in einem anderen gesellschaftlichen Kontext und einer veränderten Situation und Zeit weisheitliche Wirkkraft entfalten. Kapitel V: Forschung Das abschließende Kapitel zur wissenschaftlichen Erforschung der Aufstellungsarbeit nähert sich aus drei unterschiedlichen Perspektiven diesem Unterfangen: einer Übersicht über den aktuellen Forschungsstand zu Systemaufstellungen, einem Einblick in die Prozessforschung und einem visionären Ausblick: Aufstellungen als Evolutionstreiber für Wissenschaft. Eine Übersicht über die empirische Forschung zu Systemaufstellungen gibt Jan Weinhold in seinem gleichnamigen Beitrag. Im Anschluss an eine vorliegende Synopse des Autors über die Erforschung von Aufstellungsarbeit, welche bereits veröffentlicht wurde, konzentriert sich dieser aktuelle Aufsatz auf die Entwicklungen und Studien der letzten sieben Jahre. Er gruppiert nach Zielen (z. B. Wirksamkeit, Prozess von Aufstellungen), Gebieten (z. B. Mediation) und kulturellen Kontexten. Dabei berücksichtigt er stets die verschiedenen Formate wie Familienaufstellungen und Organisationsaufstellungen. In einem Ausblick

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am Ende kommt der Autor zu dem Schluss, dass die Aufstellungs­forschung weiterhin in den Kinderschuhen steckt, sich die Forschungsarbeiten in bester wissenschaftlicher Manier jedoch zunehmend aneinander orientieren. All das bringt Transparenz in die Aufstellungsarbeit, fördert eine auf überprüfbaren Beobachtungen basierende Theoriebildung und erhöht die Chancen ihrer Anschlussfähigkeit in unterschiedlichen – auch kulturellen – Kontexten. Einen Einblick in die Prozessforschung der Aufstellungsarbeit gibt der Beitrag »Repräsentierende Wahrnehmung als kommunikative Aufgabe – ein Werkstattbericht« von Kirsten Nazarkiewicz, Frank Oberzaucher und Holger Finke. Basierend auf ihrem gemeinsamen Forschungsprojekt »Aufstellungsarbeit als interaktive Konstruktion: Ressourcen, Wirkungen, Strukturen« berichten die Forscher von ihren Daten, ihren Fragestellungen und ihrer Suche nach der kommunikativen Vermittlung der – vielleicht nur vermeintlich – außeralltäglichen Erfahrung der repräsentierenden Wahrnehmung. Sie zählt unzweifelhaft zu einer der Essenzen der Aufstellungsarbeit. Erstmals werden Ergebnisse über Regelmäßigkeiten der kommunikativen Darstellung dieser Erfahrung konversationsanalytisch analysiert und – auch für die Praxis erkenntnisreich – gruppiert. Die Stellvertreterinnen stellen auf kunstvolle Weise dar, wie sie erfasst werden (von etwas), beschreiben, was mit ihnen geschieht und machen ihre Selbstwahrnehmung zu einem kommunikativen Ereignis. Indem Akteure der Aufstellungsarbeit Wahrnehmungsebenen kultivieren, welche von einer Zugänglichkeit des Fremdbewusstseins ausgehen, werden allerdings weitreichende methodologische und erkenntnistheoretische Fragestellungen aufgeworfen, deren Erforschung erst am Anfang steht. Die Forschungsgruppe gibt einen Einblick in mögliche geisteswissenschaftliche Anschlüsse und Erklärungen der repräsentierenden Wahrnehmung und vertreten die These, dass diese menschliche Grundfertigkeit keineswegs auf Aufstellungen beschränkt ist, sondern in ihnen nur besonders gute Bedingungen zur Entfaltung erhält. Der visionäre und erkenntnistheoretisch fundierte Beitrag von Georg Müller-­ Christ argumentiert, dass die Aufstellerinnen Evolutionstreiber für die Wissenschaft sein könnten. Der Autor skizziert am Beispiel von drei Denkparadigmen, der »Aristoteles-Qualität«, der »Galileo-Qualität« und der »Rosa-Qualität«, dass wir uns meist über Jahrhunderte in jeweils dominierenden wissenschaftlichen Vorstellungsräumen befinden, die zueinander keinen Zugang finden. Wer Ursache-­und-Wirkung-Kausalität, Wiederholbarkeit und Messbarkeit als (wissenschaftlichen) Maßstab nimmt (Galileo-Qualität), wie es in den heutigen Wissenschaften dominiert, kann Resonanz, Verbundenheit und Stimmigkeit (Rosa-Qualität) nicht gelten lassen. Hier können Berufswissenschaftlerinnen und Aufsteller als Laienwissenschaftler, die sich selbst beobachten, einander

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unterstützen, also weltumspannende Kooperationsformen von Aufstellern und Wissenschaftlerinnen bilden, die den Forschungsstrom zusammenfließen lassen. Virtuelle »Constellation-Schools« bringen Forschung und Fortbildung so zusammen, dass »Crowd-Effekte« entstehen können. Die damit verbundene Hoffnung ist eine stimmigere Identitätslandschaft von Aufstellungen, besteht aber vor allem darin, deren Potenzial auszuschöpfen und der Welt auf diese Weise eine neue Art von Erkenntnis im Resonanzraum zu verschaffen.

Einladung Wer beim Lesen auf die Suche nach Essenzen geht, findet sie in, aber auch quer zu den Beiträgen und Kapiteln. Sie mögen in der Kraft einzelner Begriffe bestehen, im Nachspüren einer Erfahrung, in Erkenntnissen oder der sich öffnenden Wahrnehmung für Neues. Letztlich bleiben die Essenzen unsagbar, nur lässt sich Schweigen schwerlich zwischen zwei Buchdeckel packen. Wir laden daher alle Lesenden zu diesem Annäherungsversuch ein, d. h. dazu, Sprache für die Essenzen zu finden und sie dadurch dem Austausch zugänglich zu machen.

Literatur Hellinger, B. (1994). Ordnungen der Liebe. Ein Kursbuch. Heidelberg: Carl-Auer. Maeterlinck, M. (1965). Der Schatz der Armen. Düsseldorf u. Köln: Diederichs. Weber, G. (1993). Zweierlei Glück. Die systemische Psychotherapie Bert Hellingers. Heidelberg: Carl-Auer.

I Bewusstsein

Kerstin Kuschik

Annäherungsbewusstheit als Haltung – eine Suche

Vorbemerkung Wahrscheinlich ist es stimmig, einen Beitrag, der sich um Annäherung rankt, der suchend ist, ja suchend sein muss, im besten Sinne vorläufig zu nennen. Die Annäherung, die ich meine, kommt ohne Hoffnung auf ein Ziel aus, obwohl die Illusion eines Zieles mir Anregung ist. So mache ich mich auf die Reise, fragmentarisch, sinnend und nachspürend zu einzelnen Bereichen, die diese prozesshafte Haltung beschreiben möchten. Mein Anliegen dabei ist, eine essenzielle Verbundenheit als Quelle sowohl für Haltung als auch für Heilung immer wieder wahrzunehmen, aufzusuchen und auch, mich darin befindend, zu beschreiben. Ein solches Verbundensein habe ich beim Aufstellen als Teilnehmerin zum ersten Mal vor zwanzig Jahren erlebt, bevor ich mir dessen bewusster wurde. Und als Leiterin habe ich es weiter gelebt und erlebt. Es sind darin Größen wie Demut enthalten, eine starke Kraft, eine Geborgenheit und das Staunen über das Dasein und Sosein. Im Folgenden hege ich die Hoffnung, etwas zur Diskussion beizutragen, mit welcher Haltung wir Aufstellungen wohl am besten leiten können, wie wir überhaupt Menschen begleiten oder auch Haltung lehren könnten. In den 1950er Jahren waren einige Studien zur Bedeutung der Beziehung und der gegenseitigen Wahrnehmung zwischen Klient*innen und Therapeut*innen veröffentlicht worden, die klar herausbrachten, dass eine positive Beziehung und kommunizierte Wahrnehmung Therapieerfolge begünstigen (Fuchs, 2018, S. 57 f.). Carl Rogers formuliert dazu: »Verfahren und Techniken sind weniger ausschlaggebend als Einstellungen. Kein Ansatz, der sich auf Wissen, auf Training, auf die Annahme irgendeiner Lehre verlässt, kann auf Dauer von Nutzen sein. Haltung ist entscheidend, nicht Worte« (1961/2018, S. 58). Wir setzen also heutzutage in vielen Begleitungsformen stark auf die Beziehung vor den Interventionstechniken und der Methode. Da treibt es mich um, zu fragen:

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Wie wächst Haltung? Welche über Werte und Einstellungen hinausreichende Grundströmung könnte dies sein? Wie ist dies beschreibbar? Es sind ja seit dem Beginn der Aufstellungsarbeit bereits einige Aufsteller-­ Haltungen beschrieben worden. Ich nenne einmal diejenigen, die mir besonders geläufig sind und die ich beim Durchschauen quer durch die Artikel aller Hefte der »Praxis der Systemaufstellung« aufgefrischt habe (die Aufzählung ist subjektiv und unfertig und mit notizartig aufgeführten Stichworten versehen): ȤȤ systemische Haltung: Einschließlichkeit/alles gehört dazu, selbst das, was ich jetzt so noch nicht wahrnehme/systemische Ordnungen und Dynamiken, ȤȤ leere Mitte: Nichtwissen/Anfängergeist, ȤȤ phänomenologische Haltung: Vertrauen ins Feld/in das, was sich zeigt, ins Unmittelbare/die stellvertretende Wahrnehmung/die Anregungen der Personen im Außenkreis, ȤȤ konstruktivistische Haltung: die Annahme verschiedener Wirklichkeiten/ Lösungskompetenz beim Anliegeneinbringer/bei der Anliegeneinbringerin, ȤȤ dazu durchaus zu allen obigen Haltungen (und anderen) passende Einstellungen wie: Vertrauen in den Körper/in Körperwissen, Vertrauen in den Zweifel, Vertrauen in mich als Resonanzkörper, Transparenz, Offenheit auch bezüglich meiner Grenzen und anderes. Es steht also für unsere Begleitungsarbeit eine Fülle an hilfreichen Erfahrungen, Konzepten, Wahrnehmungen, Einstellungen oder auch Haltungen zur Verfügung, um Heilung zu ermöglichen. Die meisten beruhen auf der Erfahrung, dass wir selbst und damit unsere Arbeit in etwas universelles Größeres eingebettet sind und dass es deshalb wesentlich ist, sich sowohl darüber gewahr zu werden, wie Bewusstsein und Wahrnehmung als Ausdruck und zugleich Mittel dieses Größeren funktionieren könnten, als auch darüber, dass Zeit- und Raumgrenzen nicht manifest und Beständigkeiten relativ sind. Diesen letzteren Annahmen möchte ich im Besonderen folgen und auch gleich erwähnen, dass mich der phänomenologische Aspekt der Aufstellungsarbeit besonders interessiert. Hinsichtlich der Struktur des Beitrages bediene ich mich einer abschnitthaften Gliederung und beleuchte einzelne Bereiche.

Alltagshaltungen Zunächst: Es gibt eine ganz alltagsweltliche, praktische Nutzung des Begriffs Haltung im Sinne einer Einstellung und eines Wertebezuges. So könnte ich z. B. eine pazifistische Haltung haben, die auf Gleichwertigkeit, Frieden, Ver-

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ständigung, Würde und anderem beruht. Als Vorständin einer Friedensinitiative würde ich aus dieser Haltung heraus sprechen und agieren und etwa gegen Kampfeinsätze oder Waffenexporte sein und auf jeden Fall für friedliche Konfliktverhandlungen. Ich würde aus dieser Haltung heraus die Bereitschaft für gegenseitiges Zuhören, Entgegenkommen u. Ä. erwarten und bieten. Ist diese pazifistische Haltung mit einer anderen Wertezusammensetzung verknüpft, etwa Gleichwertigkeit, Autonomie, Gesundheit, Familie, Verantwortung und Macht, könnte im Kontext einer Situation, in der mein Haus einer Bahntrasse weichen soll, eine Art Kampfgeist in mir wachsen und ich würde vielleicht zunächst mit anderen, letztlich sogar alleine gegen ein Projekt kämpfen, das im Ganzen betrachtet sogar eine gute Sache wäre und wofür ich an anderen Orten sofort meine Unterschrift gegeben hätte. Diese Haltungsausrichtungen in uns können widersprüchlich oder wechselhaft sein, sie können kurzfristig oder nebeneinander her bestehen. Sie sind mittelbar, so durchdrungen und begrenzt von unserer sozialen Einbindung, Herkunfts- und Lebensgeschichte, wie sie in uns eingeschrieben sind – bis hin zur Körperhaltung, ja vermittelst durch sie sowie durch Sprache oder durch unseren Kleidungsstil. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat hierüber geforscht und die Begriffe Habitus (geistige Haltung, soziokulturelle Gewohnheiten und Verhalten) und Hexis (körperlicher Ausdruck, die Art, wie jemand sich beispielsweise Raum nimmt oder welche Sportart gemocht wird) wiederbelebt und weiterentwickelt. Wir sind uns dieser »verinnerlichten Gesellschaft« (Bourdieu, 1993, S. 125) oft nicht bewusst, selbst in den gewählten und gelernten Haltungen unserer Berufsrollen bleiben wir unserem Habitus verbunden. So etwa habe ich als Kleinbürgerkind meine statusangemessene mittlere Reife und eine Lehre gemacht und dann über den zweiten Bildungsweg studiert. Ich kann einen sozialen Aufstieg vorweisen, an intellektuellen Runden teilnehmen, mich dort auch wohlfühlen, Dior auflegen und ich würde an der Art, wie ich zwischen Prosecco-Trinkern meine Bier­ flasche ansetze, sofort einen anderen »Stallgeruch« durch die Diornebel schicken. Es ist eine Entwicklung in der Haltung, dem eigenen Habitus auf die Spur zu kommen sowie diesem möglichst wertungsfrei zu begegnen, denn Haltungen sind Informationsträger unseres sozialen Ordnungssinnes, sie zeigen, wie wir uns den Umgang mit den Anforderungen des sozialen Feldes, in dem wir leben, angeeignet haben. Auch in einem Aufstellungsfeld wirken diese inkorporierten Muster, werden wahrgenommen und gesendet. Was ich jedoch mit diesem Beitrag versuchen möchte, ist, eine Bewusstseins­ haltung zu beschreiben, die hinter oder unter diesen alltagsweltlichen Orientierungsfeldern liegt und schließlich dazu dient, diesen Alltagshaltungen, sofern sie unheilsam sind, heilsame Alternativen zu bieten. Meine Sprache ist begrenzt

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dabei, was nicht verwundert, denn auch meine Wahrnehmung ist begrenzt. Auch ist es schwer, über den Leib Erfahrenes in dieser nichtsprachlichen Erlebensqualität in Sprache zu fassen. Kunst sprechen zu lassen wäre hier manchmal angebrachter, wie u. a. Rilke (2003, S. 112) immer wieder zeigt: »Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen aus jeder Wendung weht es her: Gedenk! Ein Tag, an dem wir fremd vorübergingen, entschließt im künftigen sich zum Geschenk. […] Durch alle Wesen reicht der eine Raum: Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still durch uns hindurch. O, der ich wachsen will, ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.«

Be-Deutungen Im indo-europäischen Sprachraum umfasst der Begriff »Haltung« sowohl eine körperliche Komponente als auch eine innere Werteausrichtung. Hier einige Übersetzungsbeispiele, zusammengesucht aus diversen Wörterbüchern und »Wiktionary«: ȤȤ attitùdine (ital., lat. = actus: Richtschnur im Tun, Körperbewegung): Darauf beziehen sich attitude (franz./engl.), Attitüde, actitud (span.) u. Ä.; ȤȤ mindset (mind = altengl.: gemynd/althochdeutsch: gimunt: Erinnerung, Gedächtnis, indoeuropäisch: mentis= Gedanken; set = indoeuropäisch: sitzen); ȤȤ Position (lat. positio, ein bestimmter, physischer wie psychischer Ort im Raum), alle Ableitungen: posizione mentale, disposition, posture etc.; ȤȤ Haltung (althochdeutsch: haltan = Stillstand (von Vieh): holdnig (dän.), hållning (schwed.) etc.; ȤȤ als Beispiel außerhalb der indoeuropäischen Sprachfamilie mag eine japanische Übersetzung dienen: Haltung = shisei, dieser Begriff gilt sowohl für eine körperliche wie auch für eine geistige Position. Die in der Aufzählung bestehenden Korrelationen zeigen vor allem die von Bourdieu beschriebene Auffassung von Haltung: Es klingen soziale Strukturen mit, wie etwa im Begriff der »Position«, dem Verweis auf Alltagspraktiken wie

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Viehhaltung oder »etwas halten«. Wichtig an dieser Stelle erscheint mir jedoch das mannigfaltige Vorhandensein eines Zusammenhangs von Körperausdruck und Geisteshaltung an sich.

Leib und Bewusstsein Da also eine Geistesausrichtung – alltagsweltlich oder spirituell – erst durch ihre körperliche Bedingtheit spürbar wird, möchte ich diesen Beitrag im Einklang mit der Wahrnehmung über meine Leiblichkeit schreiben, besser: über meine Leibhaftigkeit. Unter Leib verstehe ich in Anknüpfung an Merleau-Ponty (1965) und die Neue Phänomenologie (Schmitz, 2016) den Körper als ein über die Sinne hinausreichendes Bewusstseinsorgan, welches meinem Selbst erlaubt, sich in diesem Leib wahrzunehmen und über ihn die Welt zu erfahren. Dies betrifft sowohl konkrete, sensorische Eindrücke als auch solche Wahrnehmungen, die sich in raumlosen Räumen ohne Innen und Außen zu befinden scheinen, die Schwingungen und Atmosphären zwischen sich und der Mitwelt wahrnehmen, ohne sich einnehmen zu lassen, sowie Phasen von Zeitlosigkeit – etwa wie in tiefer Meditation. So ist es kein Wunder, dass die buddhistische Sicht auf das Bewusstsein diesen leibphilosophischen Betrachtungen nahekommt. Der Meditationslehrer Jack Kornfield beschreibt Bewusstsein mit von der Quantenphysik entliehenen Begriffen als wellen- und teilchengleich (2008, S. 63). Die Quantenphysik versucht, die dichotome Beschaffenheit des Lichtes zu fassen. Bewusstsein aus Kornfields buddhistischer Sicht hat ebenfalls zwei Aspekte: den raumgleichen, unwandelbaren und zeitlosen und den mit der Erfahrung momenthaft verbundenen. Das Sich-Hineinüben in diesen offenen Raum des wellengleichen Bewusstseins geschieht vermittelst der sowohl leiblichen als auch geistigen Atemerfahrung: Mein Leib ist hier atmender und beatmeter Körperraum, erfahrbar durch den augenblicksgebundenen, teilchengleichen Aspekt des Bewusstseins als das, was meine Gedanken, meine Gefühle, Stimmungen und Erwartungen in ihrer gegenseitigen Wechselwirkung erkennen kann.

Atmen Wenn ich auf meinen Atem achtend meiner Haltung nachspüre, ändert sich meine Position, ich richte mich in mir bequemer, in der Regel aufrechter ein. Ich gebe meinem Atem Raum. Ich achte auf meinen Herzschlag und gebe ihm Raum durch den Atemraum, darum herum. Ich atme bis ich Atem bin und

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gleichermaßen empfinde, dass es atmet, denn ich steuere nicht. Atmen ist eine basale Empfindung der Beziehung mit der Welt, mit dem In-der-Welt-Sein oder auch mit dem Welt-Sein (Rosa, 2016, S. 92). Über den Austausch eines Stoffes, der unsere gasförmig-physikalische Atmosphäre bildet und der alle nährt, wird mir mit jedem Atemzug diese Verbindung gewahr und mit dem Sich-­Anvertrauen an den Atemrhythmus kann ich sowohl meine Bedeutsamkeit als Teil von allem erleben als auch die Demut von einer, die diese Form des Daseins empfängt. Das Gleiche ist in zwischenmenschlichen Beziehungen erfahrbar. Am deutlichsten, wenn ich als Liebende meinem Partner so nah bin, dass einer des anderen Atem atmen und über die Bewegungen des Bauch- und Brustraumes gleichermaßen spüren kann. Die Trennung zwischen Einatmen und Ausatmen schrumpft um die zeitliche Unterschiedenheit, denn während meines Einatmens spüre ich das Ausatmen des anderen. Ich ziehe das Blickfeld wieder etwas auf und nehme die begleiterische Arbeit mit Klienten in den Blick: Wenn ich hier in der achtsamen Begegnung bleibe, spüre und erinnere ich diesen Raum gleichfalls und ich kann mich ihm bewusst und gelassen anvertrauen. Das »Du« (Buber) beginnt, in das Vertrauen und den Raum hineinzuwachsen, dieses gegenseitige Sich-Anvertrauen können beide in einer Art von atmosphärischer Dichte spüren. Was immer nötig sein sollte, sich zeigen möchte, geschützt werden möchte, ich kann es so besser wahrnehmen und annehmen. Solche Wahrnehmungen über den Atem gehen über die Erfahrung des Atmens in dessen existenzieller Dimension als lebenswichtigster Stoffwechselvorgang hinaus. Atemtechniken und -erfahrungen über die Zeiten, Kulturen und Disziplinen hinweg bilden die Grundlage von heilerischen, mentalen und spirituellen Praktiken (vgl. auch Rosa, 2016, S. 92 ff. und Fuchs, 2018, S. 118 f.). Wenn ich Atem wahrnehme, bin ich – hier – jetzt … Deshalb beginne ich auch diesen Beitrag auf diese Weise. Dann kann ich auf Nachhall achten: Was treibt mich zum Schreiben über Haltung an? – Was hindert mich? – Was ängstigt mich? – Was erfreut mich? – Manchmal entsteht die Klarheit für einen Gedanken oder eine Struktur, manchmal nur eine Ruhe, in der sich nichts ausdrücken möchte. Und immer wieder zum Jetzt des Atmens zurückkommen: Ist die Entscheidung, den Beitrag auf diese Weise zu schreiben, bereits eine Haltung? Die Frage stellen und loslassen und atmen. Das Nein, das kommt, prüfen. Nein, es ist noch nicht die Haltung selbst, aber darin könnte sich eine zeigen. Ich spüre eine sich verdichtende Qualität in Aufmerksamkeit und Körperlichkeit, wie ich sie auch in einer alltagsweltlichen Einstellung wiederfinde. Aber langsam: Zunächst bemerke ich, solchermaßen mit dem Suchen beschäftigt, wie ich eine (Körper-)Haltung einnehme – macht sie mich eng oder

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weit? Ist das Suchen mit Erwartung verknüpft oder ist es eine Frage, die ich in die gedankliche und körperliche Weite hineinstelle? Nehme ich eine Haltung ein, oder lasse ich mich einnehmen? Ein Versuch: Vielleicht gibt es jede Haltungsmöglichkeit bereits und ich öffne mich ihr nur, lasse sie in mein Bewusstsein hinein, wie etwas, das langsam und willkommen in ein anderes einsickert. Eine Haltung ist so für mich eine Erfahrung, ein Bekenntnis hierzu und dann eine aktive Erneuerung. Atem als die Verbindung mit der Gegenwärtigkeit im Körper bildet den (Zeit-)Raum, in dem ich dies immer wieder aufspüren kann. In diesem Sinne schließe ich mich einer zeitgebundenen Haltung an und bleibe einer fragenden Haltung verbunden.

Üben Das im vorherigen Absatz Festgestellte gilt auch, wenn ich mich von jemandes (spiritueller) Haltung inspirieren lasse, mich einfühle, eine Resonanz in mir erfahre. Dies ist ein stimmiges Geschehen in beiden Richtungen: Ich (wieder-) erkenne eine Haltung, die schon da ist und lasse mich einnehmen. Vielleicht möchte ich etwas lernen, vielleicht erst einmal nur etwas sehen. Das gelingt sogar ohne die Reaktion eines Gegenübers, denn ich kann auch von Haltungen lernen, die sich mir durch niedergeschriebene Worte erschließen. Solchermaßen im Prozess des Sich-Einlassens seiend, ist es, als würde meine Aufmerksamkeit sich sowohl erweitern als auch gleichzeitig fokussieren; es kommt mir vor, als entstünde ein körpergroßer Raum hinter meinem Körper oder in ihm. Diesen Raum möchte ich offenhalten, weiter erlauschen, gleichermaßen wie meinen eher physischen Alltagskörperraum erleben, in dem ich vorhandene Erfahrungen, Wissen, Pläne in freundlicher Allianz wahrnehme. Ich gebe mir Zeit, Erlaubnis, Freundlichkeit – Atem. Hier kann ich auch mein langsam wachsendes Vertrauen ins Nichtwissen (verstanden als ein aktiver Zustand des Loslassens vom Denkbaren zugunsten absichtsloser Wahrnehmung) nähren. Mir hilft hier sehr der Begriff des Übens als bevorzugter Prozessmodus mit dem wunderbaren Aspekt des Vorläufigen. Als Sängerin habe ich beim Üben gelernt, das Üben selbst zu genießen. Das kommt mir jetzt sehr zugute. Später als Gesangslehrerin habe ich beobachtet, dass sich diejenigen mit technischen Fortschritten schwertun, die es auch schwer hatten, im Üben selbst schon zufrieden zu sein. Üben empfinde ich als das bewusste ewig Unfertige, das ich im Tun erfahre, und das sich im Tun erfüllt – bei gleichzeitigem Wissen, dass nicht einmal das Unfertige wiederholbar ist. So ähnlich, so ähnlich gut mag es mir noch einmal gelingen, gleich wird es allerdings nicht sein. Den Bewusstseinszustand

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hierbei bezeichne ich versuchsweise als Annäherungs­bewusstsein. Dieses wächst, wenn ich Üben als bewussten Zustand werden lassen kann, gehen lassen kann, annehme und kultiviere. Ich kann natürlich den Begriff »Üben« gut mit »Leben« ersetzen und habe damit einen grundsätz­lichen Umgang mit allem Vorläufigen, Prozesshaften, Offenen oder auch noch nicht Erfassbaren – eine Haltungsschulung bezüglich der Erfahrung, dass alles Veränderungen unterliegt. Und so sehr ich beim Aufstellen auch feststelle, entscheide oder handle: Diese Haltung zum Üben/Leben gehört zu meinem professionellen Selbstverständnis und ich nehme sie in Leitungen mit hinein und nicht etwa heraus. Und so könnte schließlich die Bewusstseinsqualität Annäherungsbewusstheit meinem Handeln hinterlegt sein. Musik ist ein Bereich, in dem mir diese Bewusstheit sowohl mitgestaltend als auch primär auf mehreren Ebenen aufnehmend (also physisch, emotional und auch geistig-kognitiv) so leibhaftig ist, dass sie mir hilft, auch beim Arbeiten in anderen Kontexten eine Art nützliche Übertragung zu vollziehen. Ob als Rezipientin oder aktiver Part: Wie ich weiß jede Musikerin und jeder Musiker, wie groß der atmosphärische Unterschied ist, für sich zu spielen oder vor Publikum. Und wir als Publikum können den Unterschied, eine Aufnahme zu hören oder live im Konzertsaal zu sitzen, beschreiben. Im Klangraum ist die Flüchtigkeit sowohl klanggewordener Intuition und Kommunikation als auch guter Technik mit allen Sinnen spürbar. Sie ist aber auch leibhaftig und wirkt solchermaßen transformiert im besten Falle bezüglich aller Anwesenden inspirierend (inspiratio = einhauchen, spiritus = Atem, Geist), oder trifft durch Dissonanzen oder fehlende Resonanzmöglichkeiten der Beteiligten etwa auf Angst. Ähn­ liches kennen wir bezogen auf unsere Arbeit: Die Resonanz der Gruppe auf das Geschehen mit den Aufstellenden und umgekehrt ist sehr spürbar und beredt.

Präsenz In verschiedenen Weiterbildungen wurde gerne auf Steve de Shazer Bezug genommen, sinngemäß so, dass man eine Hypothese wie einen Anfall behandeln und in einer Ecke abwarten solle, bis er bzw. sie wieder vorbei sei. Als ich von diesem Aufruf zum Warten in meiner Weiterbildung gehört hatte, schien er mir einleuchtend, also habe ich versucht, sehr früh meine Urteile, Sympathien, Antipathien und Vermutungen z. B. beim Zuhören dessen, was eine Person mit einem Fall im Vorgespräch schildert, zu bemerken und ziehen zu lassen. Ich wähnte mich in einer abwartenden Haltung. Bis ich spürte, dass ich eher eine Technik und keine Haltung übte, und zwar zunächst in einer passiven Weise, nämlich darauf gerichtet, etwas nicht zu tun (reaktive Impulse erkennen und

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ihnen nicht folgen). Diese Art der Passivität brachte mich jedoch aus einer tieferen Ebene der Verbundenheit mit der Person und ihrem Anliegen heraus. Es war ein durchaus nützliches Handeln bzw. eine nützliche Technik im Sinne einer Neutralisierung von den Blick verengenden, einer breiteren Empathie hinderlichen Gedanken und Gefühlen, aber doch auch begrenzend. Ich war darauf ausgerichtet, etwas wegzuhalten, ja, etwas auszuschließen. Da das Zitat im Kontext einer Weiterbildung neben anderen Begriffen gefallen war, die uns Orientierung in Fragen zur Haltung geben sollten, blieb de Shazers amüsante Zuspitzung für mich ein hilfreicher Knoten im Taschentuch, was eine Technik betrifft. Haltung im tieferen Sinne, verstanden als ein Gravitationsfeld von Daseins- und Herkunftserfahrungen, in dem ich lebe und arbeite und durch das und mit dessen Hilfe ich wirken kann, müsste sich anders anfühlen. Ich habe Begriffe wie »leere Mitte« oder auch »Allparteilichkeit« und »gleichschwebende Aufmerksamkeit« (Sigmund Freud) ausprobiert. Freuds Begriff war mir am eindrücklichsten, wobei ich gleichschwebend so verstehe, dass ich mehrere Elemente, Gedanken, Hypothesen, Körperregungen, Aussagen oder auch Personen gleichermaßen im Blick zu behalten versuche und auch – vorerst – als gleichermaßen bedeutsam ansehe. Wenn ich eine für mich vertraute, leichte Yogaposition länger einnehme, begebe ich mich anfangs etwas zäh und dann immer fließender in die Position hinein: über eine zunächst rotierende Aufmerksamkeit auf die je einzelnen Körperbereiche, die ich dehne oder mit Energie versorge, gelingt es mir manchmal nach einiger Zeit, beinahe alle gleichermaßen zu spüren und überall hin zu atmen. – »Gleichschwebend« die Aufmerksamkeit zu halten, ermöglicht eine tiefe Ruhe und einen weiteren Blick, sogar über sich hinaus, wenn der Körper immer weniger zu spüren ist. Wenn mir diese Verfassung mit Klienten gelingt (Aufstellung oder nicht), spüre ich eine erweiterte Präsenz, ein »Mehr« als vorher, etwas, aus dem eine Lösung sich zeigen kann, die unerwartet ist und/oder eine emergente Qualität hat. Also übe ich, eine präsente Haltung einzunehmen, eine Art Bereitschaft, die ich über einen erweiterten Raum spüre, über eine veränderte Zeitempfindung, die langsamer als die Uhren zu laufen scheint, eine Art Freundlichkeit und die Ausbreitung einer Erlaubnis, eines Jas.

Mitschwingen Jedoch: eine Aufstellung beispielsweise ist keine Yoga-Pose und keine Versenkung. Es gibt viele Impulse, die von und zwischen anderen aufzunehmen und zu halten sind. Meine Taktung der Aufmerksamkeiten (rotierende Aufmerk-

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samkeit) wird schneller. Eine präsente Haltung einzunehmen, immer wieder zu erneuern und dadurch zu erhalten, ist eine sich durch die Begegnung ziehende Aktivität, die mal mehr, mal weniger gelingt. Haltung bekommt hier also eine instabile, fragile Verfasstheit, wird eher zu einem Mitschwingen. Die physische Feinsicht unseres in der Welt aufgerichteten Körpers bestätigt das: Hiernach gibt es keinen festen Stand, nur eine in Millisekunden und Mikro­bewegungen austarierte dynamische Balance. Äußerlich zeigt sich eine Haltung, gemacht und erhalten wird sie durch Mitschwingen. Und sogar aus spiritueller Sicht ist eine entsprechend bewegliche Haltung nötig: Selbst wenn zu meiner Annahme gehört, es gäbe so etwas wie eine Standleitung zum Göttlichen, muss ich meine Antennen immer wieder neu ausrichten. Ich bin hin- und hergerissen, so sagen wir oft, wir wackeln mit dem Kopf, treten von einem Bein auf das andere, wissen nicht, welcher Stimme wir glauben sollen, haben zwei Seelen, ach, in unserer Brust. Dies beschreibt eine unserer natürlichen Verfassungen (»Verfassung« oder »Zustand« sind wieder Begriffe, die fester halten wollen, als es möglich scheint): Ambivalenzen oder Mehrdeutigkeiten verleiten uns zur Illusion der einen Lösung, des für immer Klaren, der ewig gültigen Entscheidung. Wenn es mir so geht, dann kann ich nicht einmal mehr einen vorläufigen »Standpunkt« (emp-)finden. Wenn ich nun Haltung bewahren möchte, halte ich mich vielleicht fest: an jemandem, an etwas, einer Idee – also an einem »Standpunkt« eines anderen. Je fester dieser Standpunkt scheint, umso lieber ist er mir vielleicht. Ich eigne mir also eventuell Standpunkte anderer als Haltegriffe an – Haltung ist das noch nicht, aber ein (kurzfristiger) Halt, ein Versuch – wie wir ihn alle kennen und unternehmen. Wenn es mir allerdings gelingt, trotz eines unklaren oder uneindeutigen Ausdrucks im Feld, im geistigen und körperlichen Mitschwingen zu bleiben, ich also für mich empfindsam und erlaubend bleibe, werde ich eine Haltung in dieser Instabilität erleben können, indem ich diese Instabilität beschreiben, annehmen und vielleicht auch mit anderen, an einer für mich ambi/multi-­valenten Situation beteiligten Personen kommunizieren kann. Ich kann dann die Sicherheit durch das Vertrauen in die Bewegung wahrnehmen, ohne zunächst eine Ansicht haben zu müssen, wohin sie führt. Es gibt womöglich ein stabiles Grundrauschen hinter allem, wie das des Urknalls, das alle Klangmöglichkeiten enthält, und als in Dualität gesetzter Mensch, einerseits als Körper im Hier und Jetzt gefasst und andererseits den Gesetzen der Veränderung angehörend, braucht es eine Bewusstheit über diese beiden Qualitäten, die der Begrenztheit und die des Wandels. Mitschwingen als bewegtes Tun scheint mit hierfür passend.

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Absichtslosigkeit In diesem fortwährenden Auslotprozess gibt es, wie oben schon angesprochen, zeitgedehnte Ruhezonen, die – so darf ich aus der Erfahrung anderer hoffen – wahrscheinlich zunehmend souveräner zugänglich sein werden. Gerade bei emotionalen Phasen in einer Aufstellung oder auch den Gefühlslagen der Klientinnen und Klienten in der Einzelarbeit ist es eine wesentliche Kompetenz, mitzuschwingen und gesammelt zu bleiben. Empathie erlebe ich auf der Ebene dessen, was ich Annäherungsbewusstsein nenne, als grundsätzlich ruhig. Ich kann diese Bewusstheitsqualität halten und mit anderen fühlen und miterkennen, ich kann andere bezüglich deren Freude oder Schmerz wahrnehmen, die Resonanz in mir und meiner Geschichte empfinden oder sogar das archetypische, uns alle wesentlich Berührende daran. Dies empfinde ich als Geschenk, verstanden als etwas, das mir gegeben wurde; hier wähne ich mich in dem, was Peter Bourquin als Heilungsraum beschrieben haben mag (2013, S. 111 ff.). Wenn es mir nun gelingt, in diesem Raum »absichtslos« zu verweilen, wird diese Resonanz für andere auch erfahrbar. Absichtslosigkeit oder auch Anfängergeist ist ein Zustand, der in vielen spirituellen Traditionen und Praktiken geübt wird. In diesem Zusammenhang fällt mir eine Bemerkung Harald Hombergers ein, der in einer Aufstellungsrunde geschmunzelt hat: »Aufstellungen sind für mich Meditation mit therapeutischen Nebenwirkungen.« Ich habe das so gehört: Wenn Heilung zum Ergebnis wird und nicht zur Absicht, ist ein anderer Freiheitsgrad in der gemeinsamen Arbeit erreicht – ohne im Mindesten die Anliegen, die mit unterschiedlichen Qualitäten von Leid verbunden sind, in ihrer Bedeutsamkeit und Ernsthaftigkeit zu schwächen. Der Freiraum entsteht, weil ich mich im Dienst dessen sehe, was wahrhaftig in diesem Moment ist (Wahrhaftigkeit heilt), und nicht in dem, was gestaltet werden könnte, etwa im Sinne des Zieles. Hier finde ich eine Stelle bei Martin Buber (1986/2014, S. 143) besonders passend: Er lässt in einer fiktiven Szene zwei einander Fremde auf einer Bank Platz nehmen und sich nicht anschauen. Einer in einer gelassenen und offenen Präsenz, im »wirklich da sein«. Der andere gehalten und verhalten, in der Weise, wie es jemand ist, auf dem ein »Kindheitsbann« liegt. »Hinter aller Haltung lagert das undurchdringliche Sich-nicht-mitteilen-können.« In der Szene wird kein Wort gesprochen und keiner bewegt sich. Durch ein nicht näher beschriebenes Ereignis löst sich allerdings der Bann: »Jetzt aber tut er dies, daß er einen Rückhalt, über den nur er selber Macht hat, in sich aufhebt. Rückhaltlos strömt die Mitteilung aus ihm, und das Schweigen trägt sie zu seinem Nachbarn, dem sie ja doch zugedacht war und der sie, wie alles echte Schicksal, das ihm begegnet,

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rückhaltlos aufnimmt. Er wird niemand, auch nicht sich selbst erzählen können, was er erfahren hat. Was ›weiß‹ er nun von dem anderen? Es bedarf keines Wissens mehr. Denn wo Rückhaltlosigkeit zwischen den Menschen, sei es auch wortlose, gewaltet hat, ist das dialogische Wort sakramental geschehen.« Zum Abschluss des Themas »Absichtslosigkeit« ein Aufstellungsbeispiel: Einmal stand ich als Stellvertreterin für eine offensichtlich sehr weise Urgroßmutter einer persischen Familie recht spät in der Aufstellung und ohne Vorwissen über die Urgroßmutter der aufstellenden Frau, die in ihren Ahnenreihen einen starken weiblichen Ort suchte. Vor mir standen andere Großmütter und Mütter. Ich hatte von Anfang an eine große Ruhe und Verbundenheit in mir, ein altes Wissen von Schmerz, Stärke, Zuversicht und Heilung, weit über das hinaus, was mir meine eigene Lebensgeschichte bisher beschert hatte. In dieser Stellvertretung sah ich meine Urenkelin mit all ihrem Leid, ihrer Stärke, Schönheit, Wildheit, ihrem Frausein, der Bitterkeit und dem Schmerz. Ohne eine heftige Regung, ohne Liebe in ihrer affektiven Form, nur in der Erfahrung von etwa einer weit umspannenden Tiefe des So-Seins. Plötzlich wurde zunächst die Klientin ruhig und dann alle anderen und es trat große Stille ein. Die Klientin sagte nach einiger Zeit zur stellvertretenen Urgroßmutter: »Ich habe verstanden.« Sie drehte sich um, blickte auf ihre (zukünftige) Aufgabe und sagte: »Ich bin jetzt frei für dich.«

Im Fallbeispiel hatte ich eine intensive Erfahrung von: a) Absichtslosigkeit: derjenigen der Urgroßmutter, die ihrer Urenkelin nichts aktiv geben wollte, aber einverstanden war mit allem, was diese sich nehmen wollte oder nicht – einer Gleichmütigkeit, die sogar zu tieferer Verbundenheit führte, b) einer Verbindung mit allen Ahnen und dem, was mich als Teil von ihnen hervorgebracht hatte, und c) einem Empfinden darüber, wie sich eine klare innere Präsenz in einen Raum ausbreitet und sich auch physisch zeigt, indem alle still werden, der Puls heruntergeht, das gedankliche Suchen aufhört, die Personen sich auf einen Punkt richten, d) der Absichtslosigkeit der Leitung: Sie war ganz ruhig, präsent und im Vertrauen. Für mich als Aufstellungsleiterin war diese Erfahrung gleichermaßen bedeutend, weil ich einmal mehr etwas von diesem Vertrauen in diese Art von Heilungsraum mitnehmen konnte. In dem Raum, der im Fallbeispiel allen zugänglich wurde, hat die Klientin etwas erkannt, was ihr heilende Antwort war und sicher über diese Aufstellung

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hi­naus für sie gewirkt haben wird. Die Aufstellungsleitung hat diesen Raum auch gespürt und mitgehalten und sie hat, was ich sehr wichtig fand, die Aufstellung als beendet empfunden. Eine Bewegung oder Form war zum Ende gekommen, hat sich geschlossen und eine neue ist in Bewegung gekommen und konnte fließen. Dennoch: Auch gefühlsmäßig beteiligte Phasen (verstanden als Gegenpart zu den absichtslosen) sind wichtig. Denn die Qualität dieses Mitfühlens ist eine andere: Ich bin aktiver im Gehirn, im Kopfbereich oder auch konkret mit hohem Puls im Herzen oder starker Abwehr – und bezogen auf die Wahrnehmung meines ganzen Körpers reduzierter. Ich habe Pläne, Hypothesen, Recht und/oder eine größere Ungeduld, möchte vielleicht erlösen oder bilde mir in einem Anfall von wohltuendem Größenwahn ein, selbst die Heilerin sein zu können. Vielleicht sind es meine Empfindungen, vielleicht räsoniere ich Dynamiken des Klientensystems. Ich fühle mich mehr »behaftet« mit etwas von außen zu mir herreichenden und enger, der Raum in mir wird kleiner zugunsten eines Ausschnittes. Wenn ich diese Körperresonanz habe, prüfe ich, was ich empfinde, und gebe Zeit und atme. Was wichtig war für die Arbeit, wird wichtig bleiben und sich vielleicht noch einmal anders zeigen oder später etwas in Gang gebracht haben. Vielleicht spreche ich aus, was ich empfinde: »Ich spüre eine Ungeduld … wie geht es ihnen/dir damit?« Oder ich warte noch – und sage nur mir selbst den in vielen Situationen oft hilfreichen Satz: »Auch das gehört dazu.« Wir arbeiten immer mit dem, was wir an (Selbst-)Erfahrung, Technik und Methodik haben. Wir können nicht auf eine bestimmte Bewusstseins­ qualität »warten«, bevor wir uns erlauben, mit anderen Schritte zu gehen. Wir lernen durch und in Erfahrung und werden so bewusster.

Unterscheiden Wenn wir aus einer konstruktivistischen Sicht handeln, dann beziehen wir uns auf verschiedene, gleichzeitig vorhandene Wirklichkeiten, arbeiten mit verschiedenen Ich-Anteilen oder inneren Stimmen. Auch in unserer Art, Menschen zu begleiten, zu verbinden oder zu verbünden, tun wir dies mit unterschiedlichen Betrachtungsweisen und in diversen Rollen. Manchmal ergibt es Sinn, als konstruktive Kritikerin zu schauen oder als Berater oder als … Wir haben auch bezüglich dieser Rollen eine je dazu passende Haltung, mit der und aus der heraus wir agieren. Diese Haltungen sind kurzfristig, bezogen auf spezielle Ausschnitte eines Anliegens und auch durchaus emotional – ähnlich, wie oben im Habitusmodell Bourdieus beschrieben wurde. Als Beraterin, Lehrer, Vor-

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bild, … sind wir Wissender, Mahnerin, Unterweiser … und können uns aus dieser Haltung heraus engagiert oder persönlich betroffen zeigen. Hierzu gehören auch Einstellungen/Glaubenssätze/Mottos wie: Wissen ist Macht; es gibt nichts Gutes, außer man tut es; das einzige Beständige ist der Wandel usw. Sie erlauben Widersprüchlichkeiten oder räumen sie kategorisch aus, und sie tun uns nicht immer gut. Wenn ich in diese Haltungsqualitäten hineinspüre, ist diese Art von Haltung vordergründiger als andere Arten, ähnlich den eben beschriebenen Gefühlsempfindungen der »beteiligten« Phasen in einer Begegnung. Annäherungsbewusstsein ist meiner Erfahrung nach auch auf diese Rollenaffinitäten und -wechsel gerichtet; es bildet auch hier die Hintergrund­strömung, sozusagen den langen Atem, vor dem das Ganze sich abspielt. Auch hier ermöglicht mir Achtsamkeit über meine Körperwahrnehmung, diese Haltungen als Perspektiven erweiternde Elemente nutzbar zu machen, bewusst für eine überschaubare Zeit darin konstruktiv zu arbeiten oder, im Falle eines unbewussten Hineingerutscht-Seins, dies im Nachhinein noch einmal infrage zu stellen.

Staunen Beim Leiten frage ich mich immer wieder einmal und ganz besonders dann, wenn ich keinen Impuls wahrnehme, was gerade zu bestaunen sein könnte. Was zeigt sich hier gerade, was ich nicht sehe/spüre/verstehe/…? Indem ich als lehrende, leitende oder begleitende Person zugleich Erfahrende oder Lernende bleibe, erhalte ich einen prozesshaften und fragenden, ja auch staunenden oder irritierbaren Zustand. Das finde ich sehr hilfreich, weil sich das, was wir in den verschiedenen Arbeitskontexten Nichtwissen nennen, dann etwas ausbreiten kann. Meine Angst vor der bedrohlichen Komponente von Leere, Stillstand, Scheitern – davor, etwas zu verschlimmern (schließlich leite ich ja und meine Erwartungsfalle steht immer bereit), bleibt klein genug, ich kann meine Angst sehen und sie neben mir lassen, weil das Staunen als positiv gerichtetes Offensein raumgreift. Ich vermute daher, Staunen gehört zum Bereich der Annäherungsbewusstheit. (Anders als Neugier, die eher eine sich an eine Befriedigung anbindene Qualität hat und durch dieses Getriebensein Offenheit ausschließt). Mit dem Staunen bleibe ich mit etwas Vertrautem, Naturwüchsigem verbunden: Ich brauche meine Aufmerksamkeit nur dem Wunder(vollen) in den Erscheinungen zuzuwenden, dann ist Staunen die natürliche Folge. In diesem Sinne kann ich Staunen als eine gegebene Ressource wie eine Mitgift anwenden. Die Transformation des unbewussten Kindheitsstaunens durch alle Bildung und Zweckgerichtetheit ins aufgeklärte Erwachsensein ist einerseits ein Reifeprozess

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und andererseits gerade durch dessen Bewusstwerdung auch im Nachhinein übbar. Künstler tun das. Picasso sagte einmal: »Ich konnte schon früh zeichnen wie Raphael, aber ich habe ein Leben lang gebraucht, wieder zu zeichnen wie ein Kind« (gutzitiert, 1996–2019). Kreativität in der Begleitung von Menschen findet nach meiner Erfahrung statt, wenn wir den aus der Offenheit des Staunens empfangenen Impulsen folgen, um mit Formen/Formaten freier umzugehen.

Der längere Bogen Unabhängig davon, ob es spirituell gesehen eine Essenz gäbe, die unserem Personsein im Dasein eine spezielle unendliche Färbung verliehe: Erfahrung findet im und durch das Person-Sein statt und auch in und durch die Inter­aktion mit der Mitwelt. Wir brauchen und nutzen hierfür ein funktionales Selbst, das­ jenige eben, das sich im Spiegel erkennt, sich in verschiedenen Ich-Zuständen erlebt und diese auch organisieren und regulieren lernt. Ein starkes Selbst, so unsere psychologische Annahme, ist ein Selbst, das sich als wirksam erlebt, das Entscheidungen trifft, sich anpassen kann und auch Schicksal tragen kann. Ein Selbst entwickelt sich nach Carl Gustav Jung lebenslang durch den Prozess der Individuation und bedeutet: »zum Einzelwesen werden, und, insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst werden. Man könnte ›Individuation‹ darum auch als ›Verselbstung‹ oder als ›Selbstverwirklichung‹ übersetzen« (2014, S. 67). Identifikation ist dabei eine wirkmächtige Funktion unseres Organismus, die über Anschlüsse an Ideen, Verhaltensweisen, Regeln, Gewissensdynamiken und anderem (re-)produziert wird. Dann »werden« wir Mutter, Lehrer oder Kranke oder wir »sind« sportlich, gesund, religiös, alt, depressiv und/oder ein Sprachtalent. Diese Selbstkonzeption ist uns als Wesen eigen, bezogen auf unser soziales Handeln ist sie – mit Bourdieu – gleichermaßen Struktur wie sie strukturiert. Wenn wir sie allerdings nicht als solche, auf das Sein in der Welt gerichtete Funktion erkennen, sondern denken, wir seien dies wirklich und wir seien nur dies, werden leidvolle Erfahrungen (weiter) erzeugt. Eine Bewusstheit, in der Annäherung die Grundbewegung ist, und ein Bewusstsein, das sich selbst im Leib, in der Beziehung und im Raum dazwischen als bewegt wahrnimmt, tragen mich in der Arbeit wie im Leben und gehen mit der Entwicklung meines Selbst, inklusive meiner Ich-Anteile einher, sie schwingen in und mit meinem Da-Seins-Sinn und mit dem darüber hinaus reichenden Universellen. Hier wähne ich mich in einen längeren Bogen eingespannt, wie in die Grundstimmung einer Sinfonie, die jedoch mehrere Sätze hat

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und in den Sätzen auch kleinere musikalische Abschnitte, Spannungsbögen und Tempi. Je verbundener ich mich fühle, so meine Beobachtung, umso weniger oft gerate ich in die kurzfristigen Haltungen, die den Ich-Anteilen zugehören, umso gelassener und sicherer werde ich in diesem bewegten Balanceakt des je aktuellen Raumes und unter Bedingungen, die mir (noch) nicht (genug) vertraut sind. Hier kann ich sagen: »Ich weiß hier nicht weiter«, »Ich würde gerne noch etwas Zeit geben, einverstanden?« oder auch: »Haben Sie einen Impuls, wie es weitergehen könnte?« Ich kann durchaus mit dem Konstrukt eines persönlichen Wesenskerns gehen und sogar einen Stellvertreter hierfür in eine Aufstellung bringen. Die hier sehr nützliche »Illusion« von etwas Unwandelbarem ist – auch für meine persönlichen Prozesse – oft heilsam gewesen, dient sie doch dazu, aus dem Paradox einerseits des Mysteriums des Im-Leben-Seins und andererseits von dessen Realität im Da-Sein Kraft zu schöpfen. Dennoch sind wir verführbar ins allzu Konkrete oder ins Beliebige. Deshalb finde ich gerade bei der Aufstellungsarbeit die Bewusstheit über die Qualitäten einer sich annähernden Haltung so essenziell. Im vergrößerten Arbeitsfeld von Aufstellungen, in dem der Verlebendigung unserer Innenansichten durch Stellvertreter Raum gegeben wird, um heilsame Einsichten zu erfahren, kann ich im achtsamen Atmen, Mitschwingen und Staunen Offenheit im Nicht-­Verstehen erhalten, die Bewegtheit in der Begegnung erfassen und in das vertrauen, was sich dadurch zeigt.

Literatur Bourdieu, P. (1993). Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bourquin, P. (2013). Heilung ist ein Raum. Über die Kunst der Psychotherapie. Darmstadt: Synergia. Buber, M. (1986/2014). Das dialogische Prinzip. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Fuchs, T. (2018). Leib – Raum – Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie. Stuttgart: Klett-Cotta. Gutzitiert (1996–2019). Pablo Picasso über Begabung. Zugriff am 11.06.2019 unter https://www. gutzitiert.de/zitat_autor_pablo_picasso_thema_begabung_zitat_22979.html Jung, C. G. (2014). Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten. München: DTV. Kornfield, J. (2008). Das weise Herz. Die universellen Prinzipien buddhistischer Psychologie. München: Arkana. Merleau-Ponty, M. (1965). Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: Walter de Gruyter. Rilke, R.-M. (2003). Hundert Gedichte. Berlin: Aufbau Verlag. Rogers, C. (1961/2018). Entwicklung der Persönlichkeit. Psychotherapie aus der Sicht eines Therapeuten. Stuttgart: Klett-Cotta. Rosa, H. (2016). Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp. Schmitz, H. (2016). Atmosphären. Freiburg: Verlag Karl Alber.

Markus Hänsel

Intuition als Weg zur Entwicklung von Sein und Bewusstsein

Aufstellungen in ihren unterschiedlichen Formen und Anwendungsfeldern sind mittlerweile fester Bestandteil therapeutischer Arbeit sowie in Coaching und Organisationsberatung. Gleichzeitig stellen sie die Praktizierenden immer wieder vor die Herausforderung, wie sie in einem so komplexen und vieldeutigen Setting zielgerichtet und konstruktiv leiten und intervenieren. Seit Beginn der Aufstellungsarbeit sind etliche Ansätze entwickelt worden, wie man Aufstellungen methodisch und strukturiert verstehen und leiten kann. So hilfreich all diese methodischen Ansätze im Erlernen der Aufstellungspraxis sind, sind sie doch kein Ersatz für die unmittelbare Wahrnehmung aller Beteiligten in einem konkreten Aufstellungsprozess. Eine übermäßige Betonung vermeintlich kontextunabhängiger Regeln und Prinzipien endet im ungünstigen Fall in einem rein schematischen Vorgehen, in dem das Anliegen dem Prokrustesbett des Verfahrens angepasst wird. Der bloße Verweis auf die Subjektivität phänomenologischer Zugänge wiederum setzt die Arbeit leicht dem Verdacht numinoser Willkür eines vermeintlich mehr wissenden Aufstellenden aus. Auf diesem Hintergrund scheint mir das differenzierte Verständnis der mittlerweile umfangreichen Forschung und Praxis zu Intuition für die Fragestellung nach der spezifischen Art der Wahrnehmung und Handlungssteuerung in der Aufstellungsarbeit hilfreich zu sein. Darüber hinaus eröffnet die professionelle Beschäftigung mit der eigenen Intuition einen Weg, die transzendent-komplementäre Natur von Bewusstsein, Willen und Handlung praktisch zu erkunden sowie die spirituelle Dimension des professionellen Handelns zu erforschen. Für diese vertiefende Bewegung ist wiederum die Aufstellungsarbeit ein ideales Szenario, weil sie das Oszillieren an der Grenze von bewusst-vorbewusst-unbewusster Wahrnehmung nicht nur im individuellen Erleben erfahren lässt. Sie bietet vielmehr einen systemisch-­ dialogischen Kontext, in dem die Vielfalt und Bandbreite sozialer Interdepen-

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denzen intuitiv und leiblich mit allen Sinneskanälen erfahren werden kann. Aufstellungen können nach meiner Erfahrung damit ein deutlich größeres Potenzial beinhalten als einfach einen weiteren Ansatz zur Bearbeitung von Anliegen und Problemen zu bieten. Sie eröffnen einen kulturellen Erfahrungsraum, in dem Menschen praktisch lernen, ihr vom Individualismus geprägtes Selbsterleben und Selbstkonzept um die zutiefst systemische Interdependenz des lebendig Mitmenschlichen zu erweitern, das bei der aktuellen gesellschaftlichen Tendenz der Fragmentierung und Polarisierung so dringend nötig ist.

Charakteristische Aspekte intuitiven Erlebens Wenn man die verschiedenen Bedeutungsgebungen in unterschiedlichen Anwendungsfeldern betrachtet, wird schnell deutlich, dass Intuition nicht besonders trennscharf von anderen wahrnehmungsbezogenen Begriffen abgrenzbar ist, wie Ahnung, Inspiration, Gefühl, Phantasie und dergleichen mehr. Eine Möglichkeit, einen komplexen Begriff wie Intuition zu erfassen, ohne ihn definitorisch wieder bis zur Eindimensionalität zu begrenzen, besteht darin, ihn als ein Wortfeld zu verstehen, das eine Vielfalt von Bedeutungsgebungen umfasst. Dieses Wortfeld lässt sich nicht durch eine völlig trennscharfe Definition erfassen, sondern entspricht eher einer übergeordneten Begriffsfamilie. Diese besitzt in ihrem Kern durchaus eine charakteristische Identität, aus der heraus sich charakteristische Aspekte durch die spezifische Verwendung im Alltag heraus­ arbeiten lassen. Intuition (von der lateinischen Wortwurzel »intueri« – genau anschauen) wird metaphorisch häufig als Geistesblitz, Eingebung, plötzliches Aha-Erlebnis wahrgenommen. Das Erleben von Intuition bezeichnet daher einen sprunghaft, nicht diskursiv (in explizit nachvollziehbaren Schritten) verlaufenden mentalen Prozess, der im Vorfeld, d. h., bevor ein Wahrnehmungs- oder Erkenntnisinhalt ins Bewusstsein dringt, unbewusst verläuft. Dabei herrscht primär unwillkürliches Erleben vor: Intuition kann nicht kontrolliert, durch willent­liche Absicht und Anstrengung herbeigeführt werden. Sie entsteht eher in einer rezeptiv-­ aufnehmenden Haltung, weswegen man auch oft von einer Art »Eingebung« oder »Inspiration« spricht. Gleichzeitig haben intuitive Urteile und Entscheidungen für den Betreffenden eine hohe Evidenzqualität: Sie werden als richtig oder stimmig empfunden, obwohl sie nicht durch rationales Denken zustande gekommen sind und schlussfolgernd bewiesen werden können. In der Wahrnehmungsqualität hat die Intuition einen eher ganzheitlich-gestalthaften Charakter, bei dem sich viele Detailinformationen zu einem umfassenden Gesamteindruck

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Intuition als Weg zur Entwicklung von Sein und Bewusstsein

verdichten. Intuition zeigt sich auch in spontanen Handlungsimpulsen, die oft Abbildungenin die Tat umgesetzt werden. Im Gegensatz zu reflexhaften Kurzunmittelbar schlusshandlungen, wird ihnen jedoch hohe in komplexen Umfeldern Intuition als Weg zur Entwicklung voneine Sein undGüte Bewusstsein zugesprochen. Abbildung 1 bietet einen Überblick über die charakteristischen Markus Hänsel Aspekte der Intuition.

Ganzheitlich, gestalthafte Wahrnehmung

Unmittelbarer Handlungsimpuls

Charakteristische Aspekte intuitiven Erlebens

Qualität von Evidenz und Stimmigkeit

Vorherrschen unwillkürlichen Erlebens

Verweis auf unbewusste Prozesse Abgrenzung von diskursivem Denken

Abbildung 1: Charakteristische Aspekte der Intuition (Hänsel, 2001) Abbildung 1: Charakteristische Aspekte der Intuition (Hänsel, 2001)

Intuition scheint also primär außerhalb der bewussten und willkürlichen Steuerung abzulaufen und dem betroffenen Menschen ohne bewusste Willensanstrengung zur Verfügung zu stehen. Dies wird dann oft als »Eingebung«, die quasi »von außen kommt«, erlebt, weswegen Intuition in den theistisch orientierten Kulturen einem göttlich-transzendenten Ursprung zugewiesen wird. Ob man diese »grenzhafte« Eigenart der Wahrnehmung nun in einem spirituell-­religiösen Rahmen als transzendent deutet oder eher psychologisch im Zusammenhang von bewussten/unbewussten Prozessen, ist maßgeblich vom jeweiligen Weltbild des Erlebenden und den kulturell-kontextuellen Konventionen abhängig.

Komplementarität von Intuition und Ratio Wenn wir von Intuition sprechen, finden wir seit der Antike bis in die moderne Psychologie eine duale Grundstruktur: Die gegenüberliegenden Pole des »diskursiven Denkens« einerseits und der »Intuition« andererseits. Dabei wird das diskursive Denken als das beschrieben, was wir heutzutage alltagssprachlich

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Markus Hänsel

als Rationalität, Logik oder Vernunft bezeichnen würden: Im Vordergrund steht hierbei ein methodisch-systematisches, logisch-analytisches und bewusst-­ willkürliches Vorgehen und Erleben, bei dem die Person die einzelnen Schritte einer Erkenntnisgewinnung, Urteilsbildung, Entscheidung und des folgenden Handlungsvollzugs bewusst nachvollziehen und in einzelnen Teilschritten beschreiben kann. Der Hintergrund, der zu einer intuitiven Entscheidung geführt haben mag, ist jedoch einer derartigen intersubjektiven Überprüfung meist nicht zugänglich. Im begrenzten Vermögen, intuitives Erleben explizit verbal zu kommunizieren und zu formalisieren, liegt gleichzeitig eine der zentralen Herausforderungen im Umgang mit Intuition. Unsere von der Aufklärung und dem cartesianischen Weltbild geprägte Kultur verlangt, insbesondere in beruflichen und wissenschaftlichen Kontexten nach rationaler Argumentation, die den Erkenntnisprozess nachvollziehbar und überprüfbar macht. Der Verweis auf Intuition wird häufig als Inkompetenz oder »Ausrede bei einer Ignoranz« bewertet. Wer intuitiv handelt und entscheidet, steht daher meist unter einem besonderen Legitimationsdruck, sich in einer rational ausgerichteten Welt zu bewähren. Als Gegenbewegung dazu kann man eine Tendenz zur Verklärung der Intuition beobachten. Nachdem man im Zuge der Aufklärung und wissenschaftlichen Entwicklung der letzten drei Jahrhunderte Intuition und Ratio lange Zeit als unvereinbare Antagonisten sah, mehren sich in den letzten Jahrzehnten die Hinweise, dass wir es eher mit zwar durchaus unterschiedlichen, aber letztlich in ihrer Bedeutung für den Menschen absolut gleichwertigen Funktionsweisen des Geistes zu tun haben (vgl. Gigerenzer, 2008; Kahneman, 2012). Insbesondere psychotherapeutisch arbeitende Mediziner und Psychologen, wie C. G. Jung, Eric Berne, Milton Erickson oder Ruth Cohn, betonten die grundlegende Bedeutung intuitiver Wahrnehmung und Selbststeuerung im therapeutischen Setting (Schmid, 2016). Da die zugrunde liegenden mentalen und neurologischen Prozesse sich wechselseitig beeinflussen und moderieren, zeichnet sich ein zunehmend komplementäres Verständnis der Beziehung von Intuition und Ratio ab, bei dem sich beide Funktionen keineswegs ausschließen und nicht an Persönlichkeitstypen oder Geschlecht gebunden sind. Schon der Philosoph Edmund Husserl (Prechtl, 1998) hat in seinem Ansatz der Phänomenologie eindrücklich beschrieben, wie Intention und Wesensschau jeglichen Erkenntnisprozess beeinflussen und somit in die wissenschaftliche Reflexion zu integrieren sind. Sein Schüler Maurice Merleau-Ponty erweiterte den phänomenologischen Ansatz um den expliziten Einbezug leiblicher Erfahrungen, die er für grundlegend als Medium jeglicher Erkenntnis ansah.

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Francisco Varela und Jonathan Shear (1999) versuchten mit ihrem Ansatz der Neurophänomenologie der Untersuchung, wie die subjektiv konstruierte Wirklichkeit zustande kommt, die gleichwertige Bedeutung zu geben wie der vermeintlich objektiven Beschreibung des Beobachtungsgegenstands. Dass wir langsam auf eine Rehabilitierung einer subjektiven Perspektive hinarbeiten, kann man mit optimistischem Blick daran ablesen, dass die Erforschung des Bewusstseins in vielen Forschungsvorhaben aktuell im Mittelpunkt steht. Ob man sich dabei wiederum auf das »Flackern« neuronaler Korrelate konzentriert oder wirklich versuchen wird, die »Außensicht« objektivierender Wissenschaft mit einer ebenso methodisch fundierten »Innensicht« zu komplementieren, bleibt abzuwarten.

Psychologisch-sozialwissenschaftliche Modelle der Intuition Im Folgenden soll eine kurze Übersicht über aktuelle psychologische Erklärungsmodelle gegeben werden, die Intuition als komplementäre geistige Funktion verstehen: Der Nobelpreisträger Daniel Kahnemann (2012) führt zur Differenzierung von Intuition die Begriffe »schnelles und langsames Denken« auf der Basis bewährter kognitionspsychologischer Ansätze wie der »Prospect Theory« oder »Bounded Rationality« ein: Das logisch-diskursive Schlussfolgern entspricht dabei eher einem langsamen Denkmodus, der dafür aber bewusste Kontrolle und Fehlerkorrektur ermöglicht. Das intuitiv erfahrungsbasierte »schnelle Denken« führt dagegen die komplexe Vielfalt einzelner Wahrnehmungsinhalte zu einem unmittelbaren Urteil über die Wirklichkeit zusammen, etwa bei der Erfassung von Gesichtsausdrücken oder der Deutung sozialer Interaktionen. Gerd Gigerenzer (2008) geht in seinem Erklärungsansatz intuitiver Heuristiken von evolutionär entstandenen mentalen »Faustregeln« aus, die sich gebildet haben. Selbst sehr einfache Leitregeln, wie etwa: »Tu das, was alle tun«, »Wähle das Bekannte« oder »Entscheide allein nach dem wichtigsten Kriterium«, erwiesen sich evolutionär zur Handlungsorientierung und Bewältigung menschlicher Alltagsprobleme gegenüber diskursiven Entscheidungsprozessen als nützlich. Gleichzeitig sind diese intuitiven Heuristiken durchaus anfällig für gewohnheitsbasierte Vorurteile und »Fehldeutungen« (engl. bias), vor allem wenn sich die Kontextbedingungen, in denen sie sich entwickelt haben, schnell und grundsätzlich verändern. Intuition und Kreativität werden häufig in enger Verbindung beschrieben. Die gängigste Theorie in der Psychologie, die den kreativen Prozess darstellt, ist

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das Vier-Phasen-Modell der Kreativität, das auf Beobachtungen des deutschen Physikers Hermann von Helmholtz und des französischen Mathematikers Henri Poincaré (vgl. Goldberg, 1995) zurückgeht. Nach einer ersten Phase bewusster Beschäftigung und Recherche mit einem Thema erfolgt in der »Inkubationsphase« eine unbewusste, intuitive Verarbeitung des Themas oder Problems, eine Art Reifeprozess, in dem neue Verknüpfungen und Assoziationen gebildet werden. Dabei kommt die bewusste, intendierte Beschäftigung mit dem Thema zum Erliegen. Manche Menschen nutzen diese kreative Pause aktiv, manche empfinden sie eher als eine Art Blockade. Meist unvorbereitet dringt dann in der »Illuminationsphase« ein plötzlicher, einfallsartiger Impuls ins Bewusstsein, der berühmte Heureka-Moment, der einen wesentlichen Fortschritt in der Lösung eines Problems ergibt. In der abschließenden Verifikation wird die intuitiv gewonnene Idee dann auf Güte, Machbarkeit und Umsetzbarkeit hin geprüft. All diesen Erklärungsansätzen ist gemein, dass sie unterschiedliche Wahrnehmungs- und damit Wirklichkeitszugänge differenzieren, denen sie eine gleichwertige Bedeutung zumessen. Getrennt voneinander ergeben diese Zugänge ähnlich dem einäugigen Sehen ein »eindimensionales Bild« der Wirklichkeit, während ihre emergente Ergänzung ein umfassenderes und vollständigeres Wirklichkeitsverständnis liefert.

Embodiment – Intuition als verkörpertes Wissen Unter dem Oberbegriff Embodiment versammeln sich psychologisch-neurowissenschaftliche Ansätze, die auf eine Vielzahl empirischer Forschungsergebnisse zurückgreifen und belegen, dass kognitive und emotionale Prozesse prinzipiell durch körperliche Einflüsse moderiert und dirigiert werden, ohne dass dies bewusst erfolgen muss (vgl. Tschacher u. Storch, 2012). Auf dem Weg, Phänomene wie Imitation und Modelllernen zu erforschen, wurden von Giacomo Rizzolatti an der Universität Parma die sogenannten Spiegelneurone entdeckt. In einem empirischen Versuch war zu erkennen, dass ein Affe auf eine Nuss, die er von einer Ablage nehmen konnte, mit speziellen Neuronen im Gehirn reagierte. Das Verblüffende daran war, dass die gleichen Areale im Gehirn des Tieres reagierten, wenn eine Person die Nuss vor seinen Augen wegnahm und aß. Es genügte sogar, um dieselben Neuronen zu aktivieren, akustische (das Geräusch des Knackens einer Nuss) oder olfaktorische Reize zu initiieren. Dieser Ansatz kann auch eine Erklärungsbasis für komplexere Resonanzphänomene, wie Empathie, Mitgefühl und emotionale »Ansteckung« liefern. Nicht nur reagieren wir mittels der Spiegelneuronen unmittelbar auf Stimmun-

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gen, Gefühle und Haltungen anderer Personen, wir können aus Mimik, Blicken, Gesten und Verhaltensweisen auch vorhersagen, was in einer Interaktion als Nächstes zu erwarten ist. Ein kleiner Ausschnitt einer Bewegung reicht, damit durch Spiegelneuronen ganze Handlungsketten vorhergesehen werden können. Neurowissenschaftliche Forschungen des amerikanischen Neurologen Antonio Damasio (1999) belegen eindrucksvoll die Bedeutung der Emotionen bzw. Affekte und der mit diesen einhergehenden Körperreaktionen für ein gesundes und effektives Denken und Handeln. Damasio kam zu dem Ergebnis, dass somatisch-emotional verankerte Prozesse, sogenannte »somatische Marker« (als viszerale, propriozeptive Wahrnehmungen) maßgeblich unsere Entscheidungen, Urteile und schließlich auch Handlungen beeinflussen. Diese somatischen Marker sind eng verbunden mit dem impliziten Erfahrungsgedächtnis und nehmen eine handlungssteuernde Funktion ein: In Anbetracht einer Entscheidungssituation mit mehreren Möglichkeiten laufen parallel zum bewussten, kognitiven Denkprozess somatische Prozesse ab. Diese moderieren vorbewusst unsere Präferenzen und das Risikoempfinden, was unsere Entscheidung in die eine oder andere Richtung lenkt. Diese somatischen Marker erleben wir als körperlich gespürte Intuition, die sich für das Bewusstsein nicht nur stimmig anfühlt, sondern meist auch im Nachhinein mit rationalen Argumenten unterfüttert wird. In diesem Sinne folgt also die Vernunft der Intuition. Diese Entdeckungen sind im klinischen Feld insbesondere bei körper­ therapeutischen Verfahren keineswegs neu: Der Ansatz des »Focusings«, begründet durch den österreichischen Psychologen und Philosophen Eugene Gendlin (1985), hat als zentrales Agens die therapeutische Arbeit mit dem sogenannten »Felt Sense«, ein lebendiges körperliches Spürbewusstsein, das wir als innere leibliche Resonanz zu einem wichtigen Thema erfahren. Gendlin beschreibt das Geschehen folgendermaßen: »Ein ›felt sense‹ ist die körperliche Wahrnehmung eines bestimmten Problems oder einer bestimmten Situation. […] er ist die körperlich gespürte Bedeutung« (S. 21). Auf diese Weise entwickelt sich eine innere Orientierung an komplexen Körperempfindungen, die wir als wegweisende leibliche Resonanz auf aktuell wichtige Lebenssituationen, anstehende Entscheidungen und Problemstellungen entwickeln. Durch das tiefere Verständnis dieser Wahrnehmung werden hilfreiche Veränderungen möglich. Aus diesem Verständnis wird auch die Wechselwirkung von Sprache und psychophysiologischem Erleben deutlich: Wir erfahren Sprache keineswegs nur kognitiv, sondern vielmehr ganzheitlich, d. h. mit emotionalen, körper­lichen Reaktionen, was sich speziell die sprachorientierte Psychotherapie zunutze macht. Schon in den 1940er Jahren formulierte der Ingenieur und Sprach­ wissenschaftler Alfred Korzybski (1993) das Konzept der »Semantischen Reak-

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tion« als die Gesamtheit der kognitiv-emotional-körperlichen Reaktionen eines Menschen auf Sprache, Begriffe, Symbole: »This can be described as the psycho-logical reaction of a given individual to words and language and other symbols and events in connection with their meanings, and the psycho-logical reactions, which become meanings and relational configurations the moment the given individual begins to analyse them or somebody else does that for him. It is of great importance to realize that the term ›semantic‹ is non-elementalistic, as it involves conjointly the ›emotional‹ as well as the ›intellectual‹ factors« (Korzybski, 1993, S. 106). Damit geht Korzybski klar über das rein semantische, kognitive Verstehen von Sprache hinaus. Er deutet dementsprechend schon sehr früh die assoziativen und emotionalen Komponenten von Sprache an, die immer an unmittelbar körperliche Wahrnehmungen gekoppelt sind. Der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs (2016) beschreibt die Funktion von Sprache als »zwischenleibliches Handeln« im Rahmen einer sozialen Praxis. Gerade die Verbindung von Sprache mit emotional-körperlicher Resonanz ist in den prozessorientierten Interventionsformen der Aufstellungsarbeit von besonderer Bedeutung. Die Wirkung und Güte eines im Rahmen der Aufstellung als Intervention vorgesehenen Satzes lässt sich nicht methodisch nach vorgegebenen Schemata ermitteln, sondern ist sowohl beim Aufstellenden als auch bei den Repräsentanten von der konkreten semantischen Reaktion abhängig. In der Reflexion von Aufstellungen wird dies manchmal beschrieben, wenn ein vorgeschlagener Satz sich für Repräsentanten nicht richtig anfühlt und besser verändert wird bzw. vorgegebene Sätze, die nur schematisch wiederholt werden, bei den Betroffenen einen hohlen und nicht authentischen Beiklang bekommen. Die weitverbreitete Eigenart in der Aufstellungsszene, auf Reflexion und Feedback weitgehend zu verzichten, mit der Hypothese, das würde den Effekt der Arbeit vermindern, macht leider gleichzeitig blind für solche Arten von Fehlsteuerung in der Gestaltung von Interventionen.

Intuition als Beziehungs- und Kommunikationsphänomen Ergänzt man die verschiedenen empirisch-psychologischen Perspektiven nun um kommunikationstheoretische Aspekte, kann man versuchen, Intuition nicht nur als ein intrapersonales, sondern vielmehr als interaktionelles Phänomen zu verstehen.

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Der Organisationsberater Bernd Schmid (2004) verortet die unbewusst-­ intuitive Kommunikation als Teil-Prozess eines kommunikativen Emergenz­ phänomens in einem Geflecht sich wechselseitig durchdringender Kommunikationsebenen, vereinfacht visualisiert im Modell der Abbildung 2.

Abbildung 2: Intuition als Teilprozess der Kommunikation nach Bernd Schmid (2004, S. 4)

Jeder Mensch verarbeitet in seiner selbstreferenziellen Kommunikation permanent einen Strom von Kognitions-Emotions-Phänomenen und konstruiert bewusst wie unbewusst seine individuelle, phänomenale Wirklichkeit (vgl. Kriz, 1997). In einer Kommunikationssituation werden zudem vielfältigste verbale, wie nonverbale Signale ausgetauscht. Manche davon dringen ins Bewusstsein, während die meisten unbewusst in die Beziehung einfließen. Kommunikation vollzieht sich also immer in einem kontinuierlichen Parallelprozess der bewussten und unbewusst-intuitiven Ebene. Das Erleben einer Person oszilliert zwischen intra- und interpersoneller Wahrnehmung. In der unbewusst-intuitiven Kommunikation spielen dabei insbesondere körperliche Prozesse eine wesentliche Rolle, wie Tschacher und Storch mit Verweis auf aktuelle Forschungen beschreiben: »Für die Stufe der sozialen Interaktion ergaben sich hieraus weit-

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reichende Konsequenzen auf zwischenmenschlicher Ebene: Zahlreiche empirische Belege sprechen dafür, dass in der Interaktion eine systemische Synchronie emergiert, die auf dem individuellen Embodiment aufbaut. Der phänomenologische Begriff der Zwischenleiblichkeit trifft diesen Sachverhalt gut« (2012, S. 265). In diesem Sinne ist die intuitive Ebene ein Teilprodukt des menschlichen Kontakts und der Interaktion, gleichzeitig beeinflusst sie die interpersonale Beziehung. Diese grundsätzlich dialogische Auffassung des Unbewussten ist in einer individualistisch geprägten Psychologie eher ungewohnt, was eine überlieferte Szene eines Gesprächs von Martin Buber mit Vertretern der psychoanalytischen Gesellschaft widerspiegelt, in der er ausrief: »Aber meine Herren, das Unbewusste befindet sich doch nicht im Menschen. Es befindet sich zwischen den Menschen!« (zit. nach Wasmuth, 2004, S. 65, H. i. O.). Der amerikanische Organisationsforscher Otto Scharmer (2013) bezeichnet die Fähigkeit, Intuition im interaktionellen Raum kreativ-transformatorisch zu nutzen, als sogenanntes »Presencing« – eine Wortschöpfung aus den englischen Begriffen »presence« (Gegenwart) und »sensing« (spüren). Sie beschreibt das bewusste Eintreten in einen Bewusstseinszustand, der zum einen von Achtsamkeit und Gewahrsein aktueller Wahrnehmungen geprägt ist und zum anderen gleichzeitig das Spüren und Einladen zukünftiger Möglichkeiten in einem Veränderungsprozess erlaubt. Statt die Lösung von Problemen durch die Veränderung und Variation alter Konzepte, Gewohnheiten und Rituale zu suchen, lädt das »Presencing« dazu ein, in einem sozialen Veränderungsprozess empathisch in den Kontakt zu treten. Es betont insbesondere die Fähigkeit, durch eine generativ-schöpferische Haltung des Zuhörens und Spürens einen kreativen Möglichkeitssinn anzuregen. Ein solcher Dialog lässt neue Perspektiven, Optionen und innovative Lösungsansätze erspüren und erahnen. Die Parallele zur Aufstellungsarbeit sehe ich in diesem Zusammenhang vor allem in diesem offenen Oszillieren zwischen einer achtsamen Wahrnehmung des Hier und Jetzt und dem gleichzeitig offenen dialogischen Zuwenden zu wünschenswerten Entwicklungen in einem bestimmten Kontext. Die wesentlichen Informationen können dabei von den Beteiligten nicht willkürlich »gemacht« werden, sondern zeigen und entwickeln sich durch einen dialogischen, sinnschöpfenden Prozess aller Beteiligten.

Intuition als professionelle Kompetenz Auf Grundlage der dargestellten psychologischen und neurowissenschaftlichen Forschungsergebnisse wurde unter der Leitung des Autors von 1998 bis 2002 eine qualitative Studie am Institut für medizinische Psychologie der Univer-

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sität Heidelberg durchgeführt (Hänsel, 2001). Ziel war es, die Rolle von Intuition spezifisch als Kompetenzmerkmal im Kontext von Beratung zu explorieren. Für die Studie wurden 165 Personen aus dem professionellen Umfeld der systemischen Beratung befragt. Einige der Ergebnisse möchte ich im Folgenden darstellen. Im Rahmen der Untersuchung ließen sich die folgenden, in Abbildung 3 veranschaulichten Kompetenzfaktoren der Intuition herausarbeiten: der Sinn für Wesentliches, das Embodiment, die Inkubation im kreativen Prozess, das implizite Wissen, die Antizipation, das Zeitgefühl für »Kairos«, die Empathie und der Situationssinn.

„Innere Goldwaage“ Sinn für Wesentliches

Inkubation im kreativen Prozess

Antizipation Möglichkeitssinn

Körperwissen Embodiment

Intuition als professionelle Kompetenz

Empathie Einfühlungsvermögen

Implizites Wissen Erfahrungswissen

Zeitgefühl für Kairos, Timing und Rhythmus

Situationssinn Improvisationsfähigkeit

Abbildung 3: Professionelle Kompetenzfelder von Intuition Abbildung 3: Professionelle Kompetenzfelder von Intuition

Kann intuitive Kompetenz im Lauf des Lebens nun auf professionelle Anforderung hin weiterentwickelt werden? In der Vergangenheit wurde Intuition meist als eine Eigenschaft oder Gabe betrachtet, die ein Mensch entweder hat oder nicht. Demgegenüber schlage ich als Arbeitshypothese vor, die Intuition mit »Kommunikation« zu vergleichen: Auch die Fähigkeit zu kommunizieren ist uns natürlicherweise angeboren. Gleichzeitig wird sie im Lauf des Lebens immer weiterentwickelt und lässt sich im professionellen Bereich durchaus differenzieren und verbessern. Mit der Intuition verhält es sich ähnlich: Sie ist ein natürlicher »Bestandteil« des menschlichen Geistes, aber gleichzeitig können wir einiges tun, um den natürlichen intuitiven Prozess zu schärfen, weiterzuentwickeln, aktiv zu initiieren und Verzerrungen wahrnehmbar zu machen. Dieser aktive Lernprozess stellt eine wesentliche Voraussetzung dar, damit sich Intui-

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tion als Schlüsselkompetenz in verschiedenen Berufsfeldern etablieren kann (Hänsel, Zeuch u. Schweitzer, 2002).

Intuitive und subjektive Wahrnehmungsqualitäten in der Aufstellungsarbeit Die beschriebenen Aspekte der Intuition lassen sich nun im Rahmen der Aufstellungsarbeit den dort auftretenden Formen und Qualitäten von Wahrnehmung und Handlungssteuerung zuordnen. Einer der zentralen Zugänge zur Veränderung in der Aufstellungsarbeit besteht aus den Wahrnehmungen der Repräsentanten, die in der Regel für verschiedene Personen sowie strukturelle Aspekte oder Teile im Aufstellungsbild stehen. Zur Frage, wie diese zum Teil sehr spezifisch zur dargestellten Systemstruktur passenden Wahrnehmungen zustande kommen, ist viel spekuliert worden. In der konzeptuellen Entwicklung der Aufstellungsarbeit wird dabei von »fremden Gefühlen« gesprochen oder auf »morphogenetische Felder« verwiesen – Ansätze, die zumindest aus wissenschaftlicher Perspektive ebenso viele Fragen offenlassen wie sie zu erklären versuchen. Bei dem Verweis auf die epistemologischen Grundlagen sowohl für Intuition als auch für verwandte Wahrnehmungsformen in der Aufstellungsarbeit gilt es, einen naiven, vermeintlich realitätsabbildenden Realismus zu vermeiden und die Erkenntnisse moderner Neurowissenschaften aufzugreifen, ohne in neurobiologisch reduktionistische Annahmen zu verfallen. Thomas Fuchs (2016) formuliert hier einen epistemologischen Ansatz, der auf der Komplementarität der phänomenologisch-personalistischen und der naturalistischkon­struktivistischen Perspektive basiert. Erstere fokussiert auf die Ganzheit des Geistig-Seelischen, gekoppelt an das subjektive Leiberleben, während letztere die Konstruktionsleistung zahlloser neurophysiologischer Teilprozesse des Körpers herausstellt. Die Bewusstseinstätigkeit bildet dabei »ein ›Integral‹ der je aktuellen Beziehungen zwischen Gehirn, Organismus und Umwelt« (S. 158) und ist mit den neurobiologisch korrelierenden Prozessen in einer zirkulären Kausalität verbunden. Das phänomenologische Leib-Erleben spielt eine zentrale Rolle für die subjektive Wirklichkeit des Menschen, die in permanenter Resonanz mit der Umwelt ist: »Lebendige Subjektivität ist leibliches und zwischenleibliches In-der-Welt-Sein und zugleich personales Mit-Sein. Der Organismus seinerseits steht im fortwährenden Austausch mit seiner Umwelt, so dass der Lebens­prozess die Körper­grenzen ständig überschreitet und mit seiner komplementären Umwelt ein übergreifendes System bildet« (S. 271).

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Auf diesem Hintergrund stellen die Wahrnehmungen in einer Aufstellung sowohl subjektive Konstruktionen der einzelnen Menschen als auch Resonanzen auf die dort erlebten Beziehungsstrukturen eines intentional gebildeten Modellsystems und seiner Entwicklungschoreografien dar. In der Aufstellungsarbeit ist gerade dieser doppelte Blick bedeutsam, der verdeutlicht, wie die von den Anwesenden gewählte Perspektive auf die Struktur eines Systems mit den individuellen Wahrnehmungen und Empfindungen der jeweiligen beteiligten Repräsentanten korreliert. Die intuitive Resonanz auf das Anliegen ergibt dabei die Konstruktion des aufgestellten Modellsystems, das dann wiederum als Kontext dient, mannigfaltige Wahrnehmungen im Beziehungsraum zu erkunden und mögliche hilfreiche Veränderungen und Entwicklungen zu erproben. Das Entscheidende hierbei ist, sowohl von einer sozialen Konstruktion auszugehen, die nicht den Anspruch erheben kann, eine wahre, einzig gültige Version zu sein, als auch gleichzeitig das starke leibliche Evidenz­erleben der Repräsentanten bezüglich der Beziehungsstrukturen und -dynamiken sowie deren Reaktion auf Veränderungen zu berücksichtigen. Damit konstruiert die Aufstellung einen Möglichkeitsraum für Veränderung, in dem die intuitiven Wahrnehmungen musterbildende Präformationen sind (also mögliche, im Entstehen begriffene Informationen). Die konstruktivistische Haltung schützt den Prozess dabei vor der Rigidität naiv-realistischer Begrenzung und öffnet diesen Möglichkeitsraum, indem vorausgesetzt wird, dass ein System bei aller intuitiven Evidenz nicht auch immer ganz anders gesehen werden könnte und die in der Aufstellung gefundenen Veränderungsschritte eine Auswahl vieler möglicher Entwicklungen sind. Die phänomenologische Haltung wiederum, die sich meist aus dem intuitiven Erleben von Evidenz und Stimmigkeit speist, schützt den Prozess vor der Beliebigkeit eines illusionären Hyperoptionismus des »anything goes« und gibt Auskunft über viable, dem System wirklich mögliche Veränderungsoptionen. Der Ansatz der systemischen Strukturaufstellungen (Sparrer u. Varga von Kibéd, 2010) versucht nun verschiedene relevante Wahrnehmungsformen der Aufstellungsarbeit weiter zu differenzieren. Im Zentrum steht dabei die sogenannte »repräsentierende Wahrnehmung«, die als spezifische Wahrnehmungsform entsteht, wenn Menschen sich intentional auf ein Anliegen einlassen, bestimmte dazu ausgewählte Anteile der zugehörigen Systemstruktur repräsentieren und sich dazu in eine räumliche Anordnung mit anderen Menschen begeben. »Wir selbst mit unserem ganzen Körper verkörpern sozusagen ein Wahrnehmungsorgan eines Systems, das ein anderes System simuliert« (S. 34). Auch bei dieser Art der Wahrnehmung, die im Prozess sowohl Informationsquelle für den Anliegensteller ist als auch Impulse für die Veränderung der Auf-

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stellung gibt, lassen sich die oben genannten Merkmale intuitiver Wahrnehmung erkennen, wie z. B. eine unbewusst-unwillkürliche Genese, spontan-gestalthafte Bedeutungsgebungen und ein Vorherrschen emotional-körperlicher Qualitäten. Ergänzend zur repräsentierenden Wahrnehmung spezifischer Teile des dargestellten Systems, erleben sowohl Repräsentanten als auch insbesondere die Leitenden der Aufstellung eine interagierende Wahrnehmung für das gesamte Feld des aufgestellten Systems. Dabei werden alle Beziehungsqualitäten sowie die Qualität der Veränderungen für alle zugehörigen Teile gleichzeitig erfasst und geben Orientierung, wann sich durch eine Veränderung eine Verbesserung bzw. Verschlechterung im Gesamtsystem ergibt. Diese Art der »interagierenden Wahrnehmung« (S. 35) des Felds des Leitenden der Aufstellung mit dem Feld des dargestellten Systems ist eine der wichtigsten Quellen für Interventionen und gestaltende Impulse im Aufstellungsprozess. Jenseits der Bearbeitung eines konkreten Anliegens besteht in der Aufstellungsarbeit damit das Potenzial, dass sie eine außerordentlich wirkungsvolle Form synergetischer Kooperation erleben lässt. Dabei verdichten sich die vielfältigen Einzelwahrnehmungen im Veränderungsprozess zu konkreten Einsichten und Ergebnissen, deren Entstehung sich die Beteiligten nicht individuell zuschreiben können. Daher wirkt die Aufstellungsarbeit nicht nur als Erfahrungs- und Übungssetting für die genannten Arten von intuitiver Wahrnehmung, sondern gibt gleichzeitig einen Hinweis darauf, nicht der Täuschung zu verfallen, man könne Veränderungen im System des Klienten durch vordefinierte Prozessschritte vorwegnehmen oder gar kontrollieren. In diesem Zusammenhang kann auch die Auseinandersetzung mit der Rolle der Therapeutin bzw. der Gruppenleitung im Rahmen der Aufstellungsarbeit klärend sein: Der traditionelle Begriff »Leitung« impliziert zum einen die besondere, aktive Verantwortung für Prozessgestaltung, aber zum anderen auch einen den Prozess kontrollierenden und das Ergebnis definierenden Aspekt. Der Begriff des »Dienstleisters« für einen »Kunden« hingegen stellt den Rahmen einer geschäftlichen Transaktion, in dem die Arbeit stattfindet, in den Vordergrund. Beide Rollenbezeichnungen scheinen mir in der besonderen Situation des Beziehungsgefüges einer Aufstellung nicht stimmig zu sein. Eine Alternative dazu wäre der Begriff des »Gastgebers«, meines Wissens eingeführt von Matthias Varga von Kibéd, Insa Sparrer und Manfred Essen mit Verweis auf die dialogische Tradition Martin Bubers. Er impliziert, dass in bestimmten Kommunikationskontexten zwar jemand für die Gestaltung des Rahmens zuständig ist, aber den eigentlichen Erfolg der Veranstaltung nicht durch sein Tun allein herstellen oder kontrollieren kann, z. B. bei einem fruchtbaren Dialog, einem hilfreichen Gespräch, einer guten Feier. In meinem Verständnis hat die Auf-

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stellungsarbeit einen wesentlichen Aspekt vom Gastgeber übernommen, wes­ wegen ich den Begriff der »gastgebenden Leitung« bei Aufstellungen für passend halte. Der Aspekt, den »Raum zu eröffnen und zu halten«, statt den Ablauf zu bestimmen, ließe sich auch gut mit dem englischen Begriff »Facilitation« aufgreifen, der aber in Aufstellungskontexten noch eher unüblich ist.

Intuition als Teil der persönlich-professionellen Entwicklung In vielen antiken philosophischen Schulen (z. B. bei Plotin, Philon, Themistius, Proklos) wird Intuition immer wieder als eine »reine geistige Schau« und Wahrnehmung eines »höheren oder göttlichen Prinzips“ bezeichnet, durch die der Mensch die Fähigkeit hat, das Materielle und Weltliche zu transzendieren (vgl. Mittelstraß, 1984). Im Zuge der Aufklärung ist das Gewicht dagegen auf rationale Erkenntniswege verlagert worden. Aus diesem Widerspruch folgt immer wieder die Neigung zu extremen Positionen: prinzipielle Skepsis gegenüber Subjektivität und Intuition auf der einen Seite – oder in der Gegenbewegung die Verklärung der Intuition als eine Art »heilsbringendem Draht zu übernatürlichem Wissen« auf der anderen Seite. In Bezug auf Ken Wilber (1996) können wir hierbei zwischen einem prärationalen und transrationalen Blick auf Intuition unterscheiden. Prärational wäre es anzunehmen, die Intuition sei der Weg zur absoluten Wahrheit, dem wir unreflektiert vertrauen und folgen sollten. In einer komplexen Welt, die sich stark durch rationale Prozesse steuert, wäre diese Annahme hingegen unangemessen. Ein transrationales Verständnis besteht darin, die zwei klassischen Antagonisten Ratio und Intuition in ihrer komplementären Beziehung zu sehen. Die Herausforderung besteht darin, der Intuition in einer meist rational geprägten Umwelt wieder mehr Aufmerksamkeit, Zeit und Raum zu geben, ohne in eine prärationale Verklärung zu verfallen, nach der alles intuitiv Anmutende einen selbstverständlichen Wahrheitscharakter bekommt, den man blind befolgen kann. Eine Intuition, die mich beispielsweise vor einem anderen Menschen warnt, kann eine wichtige Information enthalten, aber muss nicht ein pauschales Urteil über den anderen sein. Sie weist eventuell darauf hin, dass die Interessen jenseits oberflächlicher Höflichkeit sehr unterschiedlich sind und mein Gegenüber nicht besonders transparent damit umgeht. Das kann zur Konsequenz haben, wieder stärker in die Klärung zu gehen und Zweifel offen anzusprechen, ohne dass man den anderen durchweg als vertrauensunwürdig abstempeln muss. Schließlich können wir eine intuitive Einschätzung später noch einmal reflektieren, ohne sie als irrelevant zu verwerfen. Diese Reflexion

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vollzieht sich oft einfacher in direkter Rücksprache mit einem Gegenüber. Da sich viele Intuitionen im Alltag auf andere Menschen beziehen, ist es hilfreich, sie mitzuteilen und damit als beziehungsgestaltendes Element positiv zu nutzen. Wenn Menschen anfangen, ihre Intuition übereinander und über die Themen, die sie gemeinsam bearbeiten, auszusprechen, führt das meist zu einer äußerst fruchtbaren weiteren Entwicklung. Im professionellen Kontext heißt das, immer wieder zwischen persönlicher und geteilter Wirklichkeit zu vermitteln. Selbstverständlich ist alles, was ich in einer Situation wahrnehme, nicht die Wahrheit, sondern erst mal die eigene Wirklichkeit. Die grundlegende Erkenntnis jeder postmodernen Erkenntnistheorie weist hier auf die Begrenztheit der subjektiven Wahrnehmung hin, da jeder ausschließlich aus einer persönlichen Perspektive auf die Welt blickt, auch wenn diese Sicht intersubjektiv geteilt werden mag. Dies heißt jedoch gerade nicht, dass die subjektive Perspektive unbedeutend wäre – im Gegenteil, sie ist alles, was der Mensch hat. Es heißt vielmehr, dass wir die vielfältigen psychischen und kommunikativen Prozesse, die letztlich zu unserer subjektiven Perspektive führen, kennen sollten. Nun kommen wir zur Schlüsselfrage, die Psychologen und Psychotherapeuten seit Sigmund Freud umtreibt: Wie kann der Mensch mit dem Anteil seiner selbst, der ihm nicht unmittelbar bewusst zugänglich und nicht unter willkürlicher Kontrolle steht, in eine konstruktive Beziehung treten? Man kann viele Ansätze in Psychotherapie und Coaching als unterschiedliche Versuche betrachten, sich dem anzunähern. Was hat dies nun mit Intuition zu tun? Offensichtlich haben wir es hierbei mit einem Phänomen zu tun, bei dem unbewusste Prozesse in einer dem Bewusstsein partiell zugänglichen Form erscheinen und sich letztlich auf unser Handeln und Verhalten umfänglich auswirken. Ähnlich wie in Träumen kommuniziert das Unbewusste durch Intuition mit dem Bewusstsein. Dieses Phänomen möchte ich als eine transzendente Erfahrung beschreiben, wobei der Begriff nicht theistisch zu deuten ist, sondern eher wörtlich: Wir nehmen im Erleben der Intuition wahr, dass unser alltägliches Wach-Bewusstsein einen begrenzten Horizont hat und dass sich unser Geist gleichzeitig jenseits dieser Grenze erstreckt. Betrachten wir Intuition als eine im Alltag eingebettete Erfahrung, die das gewohnte Verständnis des Selbst transzendiert, dann wird ihre Bedeutung für eine nachhaltige Bewusstseinsentwicklung deutlich. Zwar nehmen Menschen die Früchte unbewusster Prozesse wie der Intuition einfach als gegeben hin, dennoch hinterlässt diese Erfahrung oft einen außerordentlichen Nachhall. Wir staunen über ein Phänomen, das offensichtlich dem eigenen Geist entspringt und dennoch nicht willentlich gemacht, wie von außen in den Geist

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eintretend, erlebt wird. Wenn diese Dissoziation nicht mehr nur unbewusst bleibt, sondern klar und bewusst erlebt wird, wird ein kurzer Blick in die trans­ zendente, vielschichtige Natur des eigenen Bewusstseins möglich. Oft wird berichtet, dass intuitive Erfahrungen sehr eindrücklich im Gedächtnis bleiben und das gewohnte Verständnis des eigenen Geists nachhaltig erschüttern und verändern können. Diese Wirkung ist umso stärker, desto mehr die Intuition in starkem Gegensatz zu einem eher rational verankerten Selbstkonzept steht. Wird diese Erfahrung nicht als bloß anekdotisch abgetan, kann sie eine prinzipielle Hinwendung zu einer weiteren Erforschung des Bewusstseins nach sich ziehen. Maslow (1985) beschreibt dies als Selbsttranszendenz, eine unmittelbare Weiterführung der Selbstverwirklichung, die nicht auf individueller und selbstzentrierter Ebene stehenbleibt, sondern sich auf ein höheres Ziel oder eine Mission ausrichtet. Wenn das Selbst-Bewusstsein sich ausschließlich auf die eigene Person, die eigenen Interessen und Bedürfnisse erstreckt, wird die Intuition ebenfalls auf egoistische Ziele ausgerichtet sein. In diesem Sinne führt eine bewusste Exploration der eigenen Intuition weit über einen funktionalen Aspekt nach dem Motto: »Erfolg und Reichtum durch Intuition«, hinaus: Sie wird Teil einer viel umfassenderen Bewusstseinsentwicklung. Ein Großteil der populären Literatur zum Thema Intuition geht leider – ganz im Zeichen der Zeit – von einer funktionalistischen und zweckrationalen Auffassung der Intuition aus und fragt in bewährter Ratgebermanier: Wie kann ich Intuition zu meinem Vorteil nutzen, trainieren und damit im permanenten Wettbewerb einen Vorsprung gewinnen? (vgl. z. B. Day, 2000). In dieser Haltung zeigt sich ein extrem verkürztes Verständnis von Intuition als Mittel zum Zweck in einer stark auf individuelle, meist materielle Ziele und auf einen dementsprechenden Status fixierten Gesellschaft. Aus einer humanistischen wie auch spirituellen Perspektive hingegen stellt sich die Kernfrage, was Sinn und Wesenszweck des Menschen ist, noch einmal neu: Geht es nur um Selbsterhaltung, Nutzenmaximierung im Sinne des kurzfristigen, egoistischen Erfolgs oder richten wir uns auf eine ganzheitliche Entwicklung aus? Wenn ein Mensch in seiner Entwicklung sein Bewusstsein zunehmend auf die Interdependenz mit anderen Menschen und seiner Umwelt ausweitet, wird seine Intuition ebenfalls in dieser Resonanz entstehen. Das bewusste Erleben der eigenen Intuition ermöglicht es, in einem spirituellen Sinn die Verbundenheit mit einem größeren Feld des Geistes zu erleben, in dem sich Transzendenzfähigkeit bildet (Mitschke-Collande, 2010). Transzendenzfähigkeit beschreibt hier »die Kenntnis verschiedener Bewusstseinszustände, die Fähigkeit, sie zu differenzieren und zwischen ihnen zu modulieren« (S. 42). Solch ein aktiver

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und verantwortungsvoller Umgang mit dem eigenen Bewusstsein und dessen vielfältigen Wechselwirkungen mit Gesellschaft und Umwelt wäre laut dem Philosophen Thomas Metzinger (2009) ein Schritt von der Informationsgesellschaft zu einer neuen Bewusstseinskultur und damit der Beginn einer zweiten Aufklärung. Ich bin der Auffassung, dass ein reflektierter Umgang mit Aufstellungsarbeit in den mittlerweile sehr vielfältigen Kontexten und ein differenzierter Zugang zur Intuition bei Aufstellenden und Klienten zu einer solchen Kultur beitragen können.

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Albrecht Mahr

Essenzielle Qualitäten in Systemaufstellungen – eine Ridhwan-Perspektive

Ridhwan – das arabische Wort für »innere Zufriedenheit« – ist der Name eines psycho-spirituellen Übungsprogramms, das in der Ridhwan-Schule gelehrt wird, für die im englischen Sprachraum synonym auch der Begriff Diamond Approach, Diamant-Weg gebraucht wird. Ridhwan umfasst zum einen eine sorgfältige tiefenpsychologische, vor allem psychoanalytisch-biografisch orientierte Exploration und zum anderen eine spirituelle Schulung, die vor allem die »essenziellen Qualitäten« betrifft. Diese Qualitäten beschreiben zentrale Wesensmerkmale, die zur Grundausstattung eines jeden Menschen gehören und die wir meinen, wenn wir von unserem eigentlichen Wesen sprechen, das wir aus unbekannter Quelle bereits in den Beginn unserer Biografie hinein mitbringen. Details dazu folgen gleich anschließend. Systemaufstellungen dienen zunächst einmal der Klärung unbewusster biografischer Zusammenhänge gerade auch dort, wo diese lebensgeschichtlichen Wirkungen sich über mehrere Generationen erstrecken. Spirituelle Wirkkräfte werden in der Aufstellungsarbeit durchaus anerkannt, jedoch weniger explizit als es im Ridhwan geschieht. Ich möchte in meinem Beitrag aufzeigen, wie fruchtbar mir die Verbindung der beiden Ansätze zu sein scheint. Dazu werde ich zunächst wesentliche Merkmale der Aufstellungsarbeit beschreiben. Das sind die im Titel dieses Jahrbuches gemeinten »Essenzen«, wie ich sie schon einmal in meinem Buch »Von den Illusionen einer unbeschwerten Kindheit und dem Glück, erwachsen zu sein« (Mahr, 2016, S. 284 ff.) zusammengestellt habe. Diese Essenzen der Aufststellungsarbeit unterscheiden sich, wie wir noch sehen werden, wesentlich von den essenziellen Qualitäten des Ridhwan-Ansatzes. Nach der eingehenden Darstellung des Ridhwans beschreibe ich unter Einbeziehung von Beispielen die Verbindung von Aufstellungsarbeit und Ridhwan und verdeutliche die wechselseitige Bereicherung beider Ansätze.

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Die zehn wesentlichen Merkmale oder »Essenzen« der Aufstellungsarbeit Der oben aufgeführte Passus aus meinem Buch (2016) ist in Anlehnung an dessen Titel überschrieben mit »Der Wert von Systemaufstellungen für das Erwachsensein«. Ich habe den Inhalt für diesen Beitrag im Folgenden leicht modifiziert. 1. Merkmal: Aufstellungsseminare sind eigentlich Forschungslaboratorien zur Bewusstseinsentwicklung. Bewusstsein – die Fähigkeit, unsere Erfahrungen reflektierend zu erkennen und zu wissen – ist die nobelste Fähigkeit, die uns als Menschen auszeichnet. Bewusstseinsentwicklung in Richtung reifen Erwachsenseins zu fördern, in einem geschützten und vorurteilsfreien Raum (»Laboratorium«) und in Gegenwart einer Gruppe von Zeugen, das ist die grundlegende Essenz der Aufstellungsarbeit. 2. Merkmal: Systemaufstellungen bestätigen die Tatsache inniger Vernetzung und wechselseitiger Abhängigkeit allen Lebens. Auf dieser Tatsache beruht die zentrale Informationsquelle der »stellvertretenden Wahrnehmung« – Personen fungieren als Stellvertreter(innen) für andere Menschen oder wichtige Elemente wie »der zu vererbende Hof«, »das Parteiprogramm« oder »die Vision des Unternehmens«. Albert Einstein sprach bekanntlich von einer »optischen Täuschung« unseres Bewusstseins, wenn wir uns als grundsätzlich getrennt von der Welt betrachten, und lud zu einem umfassenderen »Radius des Mitfühlens für andere« ein, der das Wesen der Aufstellungsarbeit gut wiedergibt. (Ausführlicheres zu Einsteins Gedanken dazu findet man online im Spiritualwiki.) 3. Merkmal: Ein Schwerpunkt von Aufstellungen liegt im Ausleuchten jener Bewusstseinsstrukturen, die wir »Moral« und »Gewissen« nennen. Was wir für falsch und für richtig halten, wofür wir bereit sind, zu kämpfen, zu sterben und womöglich sogar zu töten, hat für uns persönlich und für menschliches Zusammenleben insgesamt überragende Bedeutung. Konfliktparteien auf der ganzen Welt folgen ihren je eigenen »heiligen Werten« mit häufig katastrophalen Folgen. Die Triebkraft von Gewissensbindungen liegt vor allem in der langen Zeit der körperlichen und seelischen Abhängigkeit von der »Überlebensgruppe Familie« und der daher rührenden existenziellen Angst, unsere Zugehörigkeit zu dieser Gruppe zu verlieren. Wachstum und Erwachsenwerden gehen einher mit der erlebten Einsicht, Schritt für Schritt immer unabhängiger von Eltern und Vorfahren zu werden und damit die oftmals engen Grenzen unserer eigenen Überlebensgemeinschaft zu überschreiten. 4. Merkmal: Die Aufstellungsarbeit ist ein systemisches Verfahren, das nicht eine Problemperson oder einen Symptomträger adressiert, sondern die wechsel-

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seitigen Beziehungen. Es dient also gleichermaßen allen Beteiligten innerhalb der beteiligten Grenzen – z. B. dem Familienverbund, dem lokalen Gemein­ wesen, der Staatengemeinschaft oder internationalen Gremien – und nicht zuletzt: der Natur. Aufstellungen gründen auf den natürlichen, universellen Werten, wie z. B. der Gleichberechtigung aller Menschen, und sie lassen sich nicht für die Durchsetzung egoistischer Partikularinteressen oder gar als Kampfmaßnahme missbrauchen. 5. Merkmal: Der Fokus der Aufstellungsarbeit liegt auf der menschlichen Möglichkeit und Neigung zu Zusammenarbeit, Austausch, Empathie und dem Bedürfnis, zur Gemeinschaft etwas Wertvolles beizutragen, das über uns hi­naus­ geht. Die Gegenspieler wie Selbstsucht, Gier oder destruktives Machtstreben und deren Motive werden genau wahrgenommen, als Tatsachen anerkannt – und nicht genährt. Das kann den Beteiligten durchaus viel abverlangen. 6. Merkmal: Aufstellungen sind ein Gemeinschaftswerk, bei dem die anwesende Gruppe eine wesentliche Bedeutung hat. Die Teilnehmer sind nicht einfach passive Zuschauer, sondern sie erleben und fühlen mit, nehmen Anteil in unterschiedlicher Intensität und werden zu einem unterstützenden Resonanzkörper. Die Gruppenteilnehmer sind vor allem: Zeugen. Zeugen beurteilen nicht in erster Linie, sondern sie bezeugen das, was den Klienten bewegt: »Ja, so ist es. Damit ringst du, das ängstigt und schmerzt dich oder macht dich wütend; und das tut dir wohl und gibt dir Mut …« Es bestätigt sich immer wieder, dass in der Gegenwart von Zeugen die eigenen Erfahrungen realer und verbind­licher im Vergleich zu dem erlebt werden, was wir im stillen Kämmerlein mit uns ausmachen. Die Zeugen verstärken die Wirklichkeit unserer Wahrnehmungen: »Genau, so ist es wirklich, das stimmt. Vor Zeugen und in aller Öffentlichkeit.« Wir können sogar erleben, dass Zeugen »mitreisen«. Wenn wir wieder allein sind und dazu neigen, in die alten Muster zu verfallen, dann melden sich die damaligen Zeugen, bezeugen z. B. das vertraute Muster von Rückzug und erinnern an die vor Kurzem neu gewonnenen Einsichten. Das ist manchmal etwas unbequem, aber sehr hilfreich. Und schließlich noch ein Gewinn aus der Gruppe: Wir wissen mittlerweile aus jahrelangen internationalen Erfahrungen und Studien (Schlötter, 2005, 2018), dass Aufstellungen überall funktionieren. Die kulturellen Unterschiede sind eine vergleichsweise oberflächliche Schicht, die bei respektvollem Umgang mit kulturellen Inhalten auf die Tatsache verweist, dass Aufstellungen a-­­kulturell oder transkulturell sind und dass die anwesende Gruppe in diesem Sinn die gesamte Menschheit vertritt. Das zu realisieren hat u. a. die Wirkung, sich im eigenen Leiden und den eigenen Möglichkeiten nicht mehr ganz so einzigartig zu fühlen, sondern verbunden mit allen Menschen.

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7. Merkmal: Die Aufstellungsarbeit bemüht sich um eine »phänomenologische Haltung«. Gemeint ist das, was bereits Freud mit seiner »gleichschwebenden Aufmerksamkeit« als Haltung des Therapeuten formuliert hat: Kein Thema und keine Wahrnehmung werden bevorzugt oder zurückgewiesen. Theorie und Wissen sind dabei hilfreich, einen Raum zu schaffen, in dem alle Phänomene auftauchen können, ohne sofort von vorgefassten Deutungen eingefangen zu werden, sondern aus sich selbst heraus zu den relevanten Einsichten zu führen: Die Deutungshoheit liegt beim Klienten und seinem Inneren, nicht beim Therapeuten. Das Resultat von phänomenologischer Haltung ist ein offener Raum, in dem geduldiges Nicht-Wissen und wohlwollende Neugier vorherrschen. 8. Merkmal: Die Anschaulichkeit und Genauigkeit der in Aufstellungen gewonnenen Informationen über die bisher verborgenen Dynamiken in Familien und anderen Systemen ist immer wieder frappierend – und seit geraumer Zeit auch Gegenstand von Forschung (s. z. B. die »Heidelberger Studie«, Weinhold, Bornhäuser, Schweitzer u. Hunger, 2014). Es geht in Aufstellungen also nicht um Glaubensfragen, sondern um nachprüfbare Tatsachen, anders als in den Anfangsjahren der Aufstellungsarbeit, in denen mangels Objektivierung Anhänger und Gegner oft im Streit lagen. 9. Merkmal: Die Genauigkeit und Erlebnisintensität von Aufstellungserfahrungen ist nicht zuletzt dem Körperwissen zu verdanken, das im Zentrum stellvertretender Wahrnehmung steht. So ungewohnt uns Körperwahrnehmungen als Quelle relevanten Wissens auch sein mögen, so überzeugend sind sie doch. Körperwahrnehmungen lassen sich, ähnlich wie Gefühle, viel weniger als Gedanken absichtlich herbeiführen oder ablehnen, sie sind eben einfach. Wir wissen, dass der Körper mit seiner eigenen Symptomsprache »übernimmt«, wenn wir etwas nicht fühlen oder wahrhaben wollen und wie sehr es sich am Ende lohnt, wenn wir uns dieser Sprache zuwenden. 10. Merkmal: Spiritualität – die bewusste Wahrnehmung und Lösung von Bindungen an unsere Nächsten aus Vergangenheit und Gegenwart löst auch von kindlichen Ängsten und Wünschen und ermöglicht es, wieder oder erstmals von jenem Innersten genährt zu werden, das wir das Sein oder das Göttliche nennen mögen: unbegrenzt, durch nichts verursacht, einfach, liebevoll und leicht. Im letzten Punkt dieser Auflistung ist das angedeutet, worum es in diesem Text im Wesentlichen geht: die essenziellen Qualitäten und den für diese spezifischen Rahmen, das Ridhwan.

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Ridhwan Der Ridhwan-Ansatz wurde seit den 1970er Jahren von dem aus Kuwait stammenden Hameed Almaas in Zusammenarbeit mit der Amerikanerin Karen Johnson entwickelt, die kürzlich dazu eine »Biografie« des Ridhwan veröffentlicht hat (2018). Als in Berkeley ausgebildeter Physiker studierte Almaas intensiv die mystischen Schulen aller großen Religionen, vor allem auch die Sufi-­ Traditionen sowie alle in Kalifornien damals weltweit oft erstmals praktizierten ­Körper- und Psychotherapieverfahren. Besonders sorgfältig setzte sich Almaas mit der Psychoanalyse in der Tradition Sigmund Freuds auseinander. Während der Entstehungsjahre des Ridhwan entwickelten Almaas und Johnson die zentrale Methode andauernder Selbsterforschung, das »Inquiry« oder Erkunden, das im Ridhwan zentrales Instrument für den Erwerb von Einsicht und relevantem Verstehen ist. Das Inquiry – dieser englische Begriff hat sich mittlerweile auch in der deutschsprachigen Ridhwan-Praxis durchgesetzt – wird in der Regel in Dreiergruppen durchgeführt. Ein Teilnehmer erkundet für die Dauer von z. B. zwanzig Minuten ein im Seminarverlauf vorgegebenes Thema wie »frühes Vertrauen«, indem er alles zulässt, was von Moment zu Moment ins Bewusstsein tritt, ohne einzugreifen, zu zensieren oder etwas festzuhalten. Die anderen beiden Teilnehmer sind aufmerksame Zeugen, die nicht eingreifen. Nach Ablauf der Zeit erkundet der/die Nächste. So einfach und vertraut diese Struktur zunächst erscheinen mag, so überraschend intensiv, tiefgehend und bewegend ist und bleibt ihre Wirkung auch nach langer Anwendung. »Es scheint wie Magie zu sein […] sobald ich aus ganzem Herzen ›Ja‹ zu meiner momentanen Erfahrung sage, ganz gleich worin sie besteht, beruhigen sich die Wellen, es tritt völlige Ruhe ein, Zufriedenheit, Entspannung aus ganzem Herzen« (S. 24). Das Ridhwan-Training, wie es auch genannt wird, findet zweimal jährlich für je eine Woche statt, ist in seiner Gesamtdauer nicht terminiert und wird von den meisten Teilnehmern über viele Jahre praktiziert. Die Ridhwan-Schulung zielt auf die Realisierung der Tatsache ab, dass eines jeden Menschen Wesenskern, seine wahre Natur einfach ist, ohne Ursache, ohne Entstehung oder Absicht; und dass dieses grundlose Sein unserer biografisch entstandenen Persönlichkeit in all ihren physischen und mentalen Strukturen vorausgeht, sie unterlagert und durchwirkt mit der natürlichen Tendenz, bewusst wahrgenommen und in diesem Sinn verwirklicht zu werden. Unsere ursprüngliche Wesensnatur (ihr im Zen üblicher Begriff), die auch »unsere Essenz« genannt wird, besteht aus verschiedenen essenziellen Qualitäten, die wir noch vor Zeugung und Empfängnis, also noch vor Verkörperung und Lebensgeschichte sind.

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Einige essenzielle Qualitäten sind: Freude, Liebe, Kraft, Mut, Klarheit, Willen, direktes Verstehen oder Mitgefühl, und sie sind durch ihre Nichtbedingtheit oder ihre Seinshaftigkeit ausgezeichnet. Bei Freude ist da nur Freude, nicht so sehr »Freude, weil …«. Bei »Willen« erleben wir den »Willen, die eben jetzt gegebene Wahrheit wahrzunehmen und zu wissen«, nicht so sehr den Willen, eine Leistung zu vollbringen. Im Ridhwan wird die »Liebe zur Wahrheit« immer wieder als besonders wichtige essenzielle Qualität betont – der tiefe Herzenswunsch, das zu erkennen und wahrzunehmen, was eben im Jetzt geschieht. Oder mit anderen Worten: genau dort zu sein, wo ich gerade jetzt bin. Das Ridhwan erinnert wieder und wieder daran, unsere Erfahrungen nicht anders haben zu wollen, als sie sind, und sie nicht zu manipulieren, sondern als solche wahrzunehmen. Warum ist das so zentral? Der nächste Abschnitt wendet sich dieser Frage zu, drückt sie jedoch anders aus.

Was geschieht, wenn Essenz auf Biografie trifft? Was geschieht, wenn das eben aufkeimende Leben des Fötus mit der Umgebung – Uterus, Situation der Mutter etc. – in unmittelbare Wechselwirkung tritt und damit erste Selbststrukturen ausbildet, die schon früh als »Ich« erlebt werden? Wenn, mit anderen Worten, die »essenzielle Mitgift« den Kräften der aufkeimenden Biografie begegnet? Vereinfacht gesagt können die biografischen Einflüsse die essenziellen Anlagen entweder förderlich oder hinderlich beeinflussen: förderlich, wenn das kleine Wesen mit Freude willkommen geheißen wird. Dann kann die ursprüngliche Qualität von Freude erhalten und zu folgender Gewissheit vertieft werden: »Ich bin Freude«, grundlos, ohne Ursache, schon immer, aus meinem Wesen heraus. Hinderlich sind natürlich alle Formen der Ablehnung gegen das kleine Kind, das erlebt: »Etwas ist nicht richtig an mir. Ich muss mich bemühen … Aber wie nur?« Das Kind bildet erste defensive Selbststrukturen aus, die die essenziellen Qualitäten wie Liebe, Freude oder Kraft überdecken. Warum also ist die oben genannte Ermutigung für die Liebe zur Wahrheit in der Ridhwan-Praxis so zentral? Sie ist es, weil diese Liebe zu Präsenz führt, die uns immer wieder im Hier und Jetzt sein lässt, was leicht gesagt und oft genug sehr schwer getan ist. Schwer ist es gerade dann, wenn die gegenwärtige Situation aufwühlend, schmerzlich oder traurig ist. Genau solche schwierigen Erfahrungen aber sind sehr häufig die Eingangstüren zu essenziellen Qualitäten, die uns verloren gegangen sind. Damit komme ich zu den »Löchern«, die einen Gutteil der Ridhwan-Praxis ausmachen.

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Theorie und Praxis der »Löcher« Unter dem Einfluss biografischer Umstände wie Lieblosigkeit, Entwertung oder Angst und der Ausbildung defensiver Ich-Strukturen (je nach den Umständen, z. B. die Haltung: »Ich werde auf keinen Fall durch den Ausdruck von Angst/ von Bedürftigkeit/ von Ärger oder durch schlechte Noten etc. stören«) können z. B. die essenziellen Qualitäten von Liebe oder Wert als innere Gewissheiten nicht mehr erlebt werden. Es entsteht ein Loch, z. B. hinsichtlich des eigenen Wertes in Form von Selbstwertzweifeln oder gar der tiefen Überzeugung vom eigenen Unwert. Zugleich entsteht die instinktive Neigung, solche Löcher nicht zu erleben, sondern sie zu füllen, in Sachen Wert z. B. durch die Ausbildung von sozial besonders geschätzten Eigenschaften wie ausgeprägter Hilfsbereitschaft oder brillanter intellektueller Leistungen. Die Füllinhalte von essenziellen Löchern haben zwei Merkmale: Sie erinnern durch ihre Ausgestaltung an den verlorenen, essenziellen Inhalt, am Beispiel Wert an die ursprüngliche Erfahrung: »Ich bin von Wert«, und zwar ohne jede rechtfertigende Anstrengung; zugleich aber ist es eine angestrengte, pervertierte Form von Werterfahrung, die durch ihre Bedingtheit immer von Unbehagen oder Angst begleitet ist. Natürlich möchten wir die Löcher essenziellen Mangels nicht fühlen, deshalb unternehmen wir jede Anstrengung, die Löcher zu füllen. Etwas zugespitzt können wir sagen, dass wir einen Gutteil unserer Lebenszeit mit dem Füllen von Löchern verbringen.

Die Wiedergewinnung essenzieller Qualitäten Im Ridhwan werden wir nun dazu eingeladen, uns den Löchern, d. h. dem Gefühl des essenziellen Mangels ganz zuzuwenden und ihn zu erkunden, also z. B. das Gefühl eigener Wertlosigkeit, die untergründige Überzeugung, nicht liebenswert oder willensschwach zu sein, oder die schon lange anhaltende Traurigkeit, keine Freude empfinden zu können. Sich diesen Wahrnehmungen ganz zuzuwenden, ist schwierig, und gelegentlich scheint es angesichts der auftauchenden Gefühle von Mangel, Trostlosigkeit oder Panik unmöglich. Wir können daran ermessen, wie lebenswichtig die verlorenen essenziellen Qualitäten für ein gutes Leben sind und welches Ringen mit ihrer Wiedergewinnung verbunden sein kann. Diesen Prozess kann man in der Regel nicht mit sich alleine ausmachen. Die Begleiterin bzw. der Begleiter braucht neben guter psycho­ therapeutischer Kompetenz genügend eigene Erfahrung hinsichtlich des Ver-

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lustes und des Mangels essenzieller Qualitäten und ihrer Wiedergewinnung. Eine solche Begleitung kann folgende Schritte umfassen: Zunächst geht es um eine einfache, ermutigende Beschreibung dessen, wie das sorgsame Erkunden des essenziellen Mangelzustandes, des Loches, dahin führt, die verlorenen Qualitäten Schritt für Schritt wieder zu erleben und dabei zu erkennen, wie unsere Essenz gewissermaßen nur auf ihre Wiederentdeckung gewartet hat. Es bewährt sich dann bei der Erkundung selbst ein ganz langsames Vorgehen, das z. B. beim konkreten Erleben eines »schwarzen Loches« dazu einlädt, sich dem Rand dieses Loches vorsichtig zu nähern, einmal herumzugehen oder hinein­zuspüren, zu schauen und immer wieder innezuhalten. Immer wenn besondere Körperwahrnehmungen wie Taubheit, Schmerzen oder z. B. ein »namenloses, kaltes Lodern« (wie ein Klient das nannte) auftauchen, werden sie als antwortendes Zeichen der gesuchten essenziellen Qualität begrüßt. Dieses Vorgehen führt schließlich mit Gewissheit zu einer Wieder-Erfahrung von Essenz. Bei sorgfältiger Anamnese hinsichtlich des Schicksals der fraglichen essenziellen Qualitäten und genügend Zeit – einmalig oder in mehreren ­Ansätzen – können wir in der Tat einen solchen, zutiefst natürlichen Verlauf erwarten. Es folgen zur Veranschaulichung zwei Fallbeispiele. Im ersten Beispiel geht es um eine bereits »geübte« Klientin, die sich erneut in einem Zustand der Wertlosigkeit befand. Der Zustand der Patientin, den sie mit den Worten: »ohne eigenen Wert, alles weg«, erfasste, war mit Kontraktionen im ganzen Körper und einem Gefühl, ganz klein zu sein, vielleicht ein- bis zweijährig, verbunden. Sie setzte sich »in Reichweite« von mir, d. h. so nah, dass sie mich bei Bedarf berühren konnte und ließ sich auf meine Einladung ein, den Zustand von Wertlosigkeit so vollständig wie möglich zu erleben. Sie erlebte zunächst eine starke Orientierungslosigkeit und Verwirrung und im diesen Gefühlen nachfolgenden starken Weinen schüttelte es sie intensiv. Ich versicherte sie ab und zu meiner Anwesenheit und der der Gruppenmitglieder, erkundigte mich nach ihrem Erleben und hörte nach dem Abklingen des Weinens, wie sie nun im Körper ein Gefühl von: »Ich weiß gar nichts mehr, alles leer« spürte, vor allem im Kopf und dann absteigend bis in die Beine hinein. Das Erkunden dieser Leere führte – zu noch mehr Leere, und so fort für eine ganze Weile. Sie schaute sich fragend um und meinte: »Ja, und jetzt? … das kann ja ewig dauern.« Bei mir stellte sich langsam Ungeduld ein, und ich meinte zu spüren, dass sie mir diese Ungeduld und die dazugehörige Dynamik gewissermaßen in Aufbewahrung gab. Ich sagte ihr also schließlich: »Das mit der Ungeduld übernehme ich mal«, und erklärte ihr, dass ich Ungeduld gespürt habe. Diese Arbeitsteilung schien ihr den

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Raum dafür zu geben, dass die Leere nun einer angenehmen ruhigen Kraft zu weichen begann, die sich vom Kopf über den ganzen Körper ausbreitete. In diesem Zustand beendete sie diese Sitzung schließlich und sagte noch beiläufig: »Vielen Dank, die Unruhe nehme ich wieder an mich. Ich weiß schon, worum es da geht.« Die Klientin hatte einmal mehr dem Prozess getraut, einen essenziellen Mangelzustand hinsichtlich »innerer Kraft« zu erkunden, und die ruhige, kraftvolle Verfassung hielt über das Ende des Seminars hinaus an. Die beteiligten biografischen Erfahrungen, schwere Verlusterfahrungen in frühester Kindheit, hatte sie früher schon intensiv psychotherapeutisch, auch in mehreren Aufstellungen, bearbeitet.

Im zweiten Beispiel handelt es sich um eine Frau, Ende Vierzig, die wegen der Folgen eines Unfalls an einem Aufstellungsseminar teilnahm. Die vierzigjährige Teilnehmerin des Aufstellungsseminars hatte an den Folgen einer vor vielen Jahren bei einem schweren Motorradunfall eingetretenen Trümmerverletzung der linken Schulter zu leiden. Die damalige operative Wiederherstellung hatte im Laufe der Jahre zu einer zunehmenden multiplen Arthrosierung im Schultergelenk geführt. Wiederholte Konsultierungen bei mehreren Orthopäden, die ausdrücklich als zurückhaltend in Sachen operativer Eingriffe galten, ergaben die einhellige Empfehlung für ein zumindest teilweise künstliches Schulter­ gelenk. Dieser mögliche Eingriff löste bei der Klientin Panikzustände aus, die sie in Zusammenhang mit einer nicht genau erinnerbaren Operation in ihren ersten Lebensjahren brachte. Ich schlug schließlich vor, von dem damaligen Verlust ihres natürlichen Vertrauens in sich selbst auszugehen und diese Verlust- und Mangelerfahrung in Gestalt der jetzt vorherrschenden Panikgefühle zu erkunden – mit der zu erwartenden positiven Perspektive dieses Vorgehens. Sie stimmte zu. Nach kurzer Zeit geschah etwas Überraschendes: Das Gesicht der Klienten entspannte sich vollkommen, ebenso wie langsam ihre übrige Körpermuskulatur. Auf Nachfragen sagte sie, dass sie ein warmes inneres Leuchten erlebe, ein Lächeln und ein tiefes Wohlsein. Nun bat ich sie, sich von diesem Leuchten bei der Hand nehmen zu lassen und sich von eben diesem warmen, lächelnden Leuchten zu seiner Quelle führen zu lassen. Und ganz selbstverständlich bewegte sich nun ihre rechte Hand zu ihrer linken, der versehrten Schulter. Sie war völlig verblüfft: »In meiner linken Schulter ist die Quelle! So etwas! Und die ist ganz in mir drin, dieses Leuchten kommt nur aus mir! Sowas!« Wir alle waren mit ihr überrascht, teilten aber auch mit ihr die Gewissheit, dass alles so stimmt, wie es sich gerade gezeigt hatte. Die anfänglich bestehende Frage, ob es hier um eine Aufstellung ihrer linken Schulter, ihrer Panik oder des früheren Traumas gehen müsste, war wie gegenstandslos

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geworden, und die Klientin sah den kommenden Monaten – weitere Abklärung der fraglichen Operation oder anderer Methoden – mit Zuversicht entgegen.

Die Klientin des zweiten Fallbeispiels war anders als die zuerst geschilderte nicht vertraut mit essenziellen Qualitäten, hatte aber ein natürliches Gefühl für deren Präsenz: das warme Leuchten, das sie körperlich empfunden hatte und das sie zur Quelle des Leuchtens, zu ihrer linken, beschädigten Schulter geführt hatte. Das bringt uns zu der Ausgangsfrage dieses Textes, wie Essenz und Aufstellungsarbeit einander ergänzen und bereichern können.

Die Verbindung des Ridhwan-Ansatzes mit der Aufstellungsarbeit Wie oben bereits skizziert, führen unsere biografischen Erfahrungen zur Ausbildung seelischer Strukturen, d. h. zu festgefügten Erlebens- und Verhaltensmustern, die wir als »Ich« oder »Selbst« erleben, mit denen wir uns von früh an identifizieren und die häufig lebenseinschränkende, leidvolle Wirkungen haben, wie z. B. Selbstaggression oder scheiternde Liebesbeziehungen. Aufstellungen können in großer Genauigkeit die beteiligten Dynamiken abbilden, d. h. sie bewusst werden lassen – die Voraussetzung für eine befreiende Veränderung von Wahrnehmung und Verhalten. Dabei leben die Eltern oft nicht mehr oder verhalten sich heute anders als damals, genauso wie wir selbst die früheren Abhängigkeiten längst verlassen haben – wir ringen aber weiterhin mit den Wirkungen der verinnerlichten, mentalen Strukturen. Aufstellungen sind oft das Mittel der Wahl, um diese Zusammenhänge so bewusst werden zu lassen, dass die oben genannte Veränderung möglich wird. Wenn ein Klient mit essenziellem Mangel und der entsprechenden Erfahrung von Löchern zu tun hat, kann die Wiedergewinnung von Essenz durch Aufstellungen sehr wirksam vorbereitet werden. Wir verstehen die geschilderten strukturellen Begrenzungen in ihren biografischen Wurzeln besser und können viel gewinnen, indem wir uns entschiedener z. B. von Mutter oder Vater und ihren Schicksalen lösen. So können wir mit großem Gewinn Ordnung ins biografische Haus bringen: womit die Aufstellungsarbeit einen wesentlichen Zweck erfüllt hat. Dabei soll die besondere Leistung der Aufstellungsarbeit bei der Verarbeitung von essenziellen Mangelerfahrungen oder Löchern hier noch einmal hervorgehoben werden. Bei dieser Gelegenheit sollen natürlich die bereits angesprochenen Erfahrungen von Löchern, also von essenziellen Mangelerfahrungen, wie sie auch

Essenzielle Qualitäten in Systemaufstellungen – eine Ridhwan-Perspektive

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die Fallbeispiele bezeugen, noch einmal explizit zur Sprache kommen. Durch Stellvertretungen der beteiligten Elemente – einer bestimmten essenziellen Qualität bzw. der Mangelerfahrung/des Loches – können Aufstellungen diese Erfahrungen abbilden, was wie gesagt bereits eine vorbereitende und bahnende Wirkung haben kann. Dabei spielt für den Aufstellenden das Miterleben bzw. In-sich-Aufnehmen dessen, was Stellvertreter ausdrücken, eine wichtige Rolle. Das kann durch eine besonders sorgfältige wahrnehmende, an sich nehmende Entlassung aus der Stellvertretung unterstützt werden. Wenn es um essenzielle Qualitäten geht, kann dieses partizipierende Mit-­ Erleben des Klienten jedoch das In-Sich-Selbst-Erleben dieser Qualitäten – wie es im zweiten, oben geschilderten Beispiel geschah – nicht ersetzen. Es sind vor allem die Nicht-Verursachung, die Nicht-Bedingtheit und die So-Seins-­ Haftigkeit existenzieller Qualitäten, die selbst und in sich selbst erlebt werden müssen, um sie zweifelsfrei zu wissen und ihre überaus positive und anhaltende Wirkung zu schätzen und zu genießen. Aufstellungen ermöglichen in ihrer Deutlichkeit einzigartige und unverzichtbare Schritte, um die biografischen Ursachen von existenziellen Mängeln sinnlich und kognitiv nachvollziehbar zu machen. Die Wiedergewinnung verlorener essenzieller Qualitäten soll der Klient jedoch selbst durchführen. Das kann ohne weiteres im Rahmen einer laufenden Aufstellung geschehen, die dann nahtlos in ein sorgsames Erkunden übergehen kann.

Exkurs: Über-Ich-Dynamiken Die über die Jahre ausgereifte Ridhwan-Technologie bedient sich noch in folgender besonderer Hinsicht psychoanalytischen Wissens: und zwar in Hinsicht auf die Dynamiken des Über-Ichs, die ich hier wegen ihres therapeutisch-­ praktischen Wertes kurz zusammenfassen möchte. Im Freud’schen seelischen Strukturmodell – Ich, Es, Über-Ich – nimmt das Über-Ich die Rolle einer überwachenden Instanz ein, die aus der Verinner­ lichung elterlicher Ge- und Verbote resultiert. Es ist in seiner Wirkung in vielen Aspekten unbewusst, und unser bewusstes Ich hat seine Entscheidungen in einem ständigen Prozess des Abwägens und antizipierenden Bewertens zu treffen. Sehr vereinfacht gesagt erleben wir die Wirkungen des Über-Ichs als Einwände, Urteile und Bewertungen uns selbst gegenüber, und diese Über-Ich-Wirkungen reichen von subtilen Zweifeln bis hin zu vernichtender Selbstkritik: In summa haben sie toxische Auswirkungen auf unser Wohlbefinden. Die ursprünglich nütz­lichen Wirkungen elterlicher Gebote im Sinne von Schutz und Orientie-

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rung für das kleine Kind sind längst überflüssig geworden und haben sich ausgeweitet und auf all die moralischen Vorstellungen hin verselbständigt, die in unserer Herkunft gültig waren und die oft genug heillos lebens-unfreundlich und weit entfernt von unseren eigenen, anderen (Lebens-)Verhältnissen sind. In diesem Sinn sprach ich von toxischen Über-Ich-Wirkungen, und ich schätze die besondere Aufmerksamkeit, die ihnen im Ridhwan deutlich mehr zuteil wird, als das in meiner eigenen psychoanalytischen Ausbildung der Fall war. Im Ridhwan gehört es zu jeder Erkundung, ganz gleich ob es um frühkindliche Beziehungen, berufliche Konfliktfelder oder um essenzielle Qualitäten geht, die für diesen Bereich jeweils typischen Über-Ich-Dynamiken sorgfältig einzubeziehen. Typische Begleitsymptome dieser Dynamiken sind allgemeine Unruhe sowie Getriebenheit und spezifische Scham, Schuld und Angst, die oft deutlich sind, manchmal aber unter unseren Wahrnehmungsradar verschwunden und von dort einschränkend wirksam sind. Zum Beispiel meldet sich während eines Inquiry-Themas eine Stimme, die findet, dass ich hier so blöd rumeiere und meine Zeugen langweile; oder es breitet sich nur ein diffuses Unwohlsein im Bauchbereich aus, das sich lange der schließlich möglichen Benennung als: »Ich fühle mich hier wieder als das Schlusslicht«, entzieht. Es ist wirklich erstaunlich, wie häufig wir im Alltag solchen Kräften und ihren giftigen Wirkungen ausgesetzt sind – es lohnt sich also sehr, dafür zunehmende Bewusstheit zu entwickeln und diesem Thema Vorrang zu geben – denn den Vorrang nimmt es sich ohnehin. Im Ridhwan gibt es inzwischen eine Technologie des Umgangs mit Über-­ Ich-Inhalten, die ich kurz skizzieren will. Wie immer geht es als Erstes um Bewusstheit für Über-Ich-Phänomene und für die Wahrscheinlichkeit und Häufigkeit ihres Auftretens. Diese Bewusstheit kann trainiert werden. Dann folgen Schritte der Distanzierung: Nachdem wir eine Erfahrung als Über-Ich-Intervention identifiziert haben, stellen wir genau das innerlich fest (oder in einer Gruppe durch Aussprechen) und treten zurück, nehmen Abstand, den wir körperlich spüren können. Darü­ ber hinaus können wir die Unrichtigkeit der Aussage oder Behauptung des ÜberIchs zum Ausdruck bringen: »Das stimmt nicht!« oder »Ich weiß es besser!« Das kann durchaus sehr dezidiert geschehen durch ein kräftiges: »Schluss!«, oder kräftigere Ausdrücke, beginnend mit einem kraftvollen: »Verschwinde!«, oder noch stärkere Zurückweisungen, die ihrerseits jedoch keine neuen Über-IchVorwürfe wachrufen sollten. Wir können mit der Zeit aus diesem Umgang mit Über-Ich-Inhalten sogar ein Vergnügen werden lassen, anstatt ihnen nur bitter-ernst zu begegnen. So

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entsteht in dieser Hinsicht eine eigene Kultur mit der Folge, dass unser Leben spürbar Über-Ich-freier wird, was eine grundlegende Voraussetzung für die Freude der Entfaltung essenzieller Qualitäten ist.

Conclusio In summa steht uns in der Verbindung von Aufstellungsarbeit mit der Erkundungspraxis ein wunderbares Instrumentarium zur Verfügung, ein breites Spektrum von Leidenszuständen und ihre Lösungen wirksam zu begleiten.

Literatur Almaas, A. H. (1997). Essenz. Der diamantene Weg zur inneren Verwirklichung. Freiamt im Schwarzwald: Arbor-Verlag. Almaas, A. H. (1998). Essentielle Verwirklichung. Freiamt im Schwarzwald: Arbor-Verlag. Almaas, A. H. (2000). Essentielles Sein. Die Bedeutung des Lebens. Freiamt im Schwarzwald: Arbor-Verlag. Almaas, A. H. (2007). Forschungsreise ins innere Universum. Freiamt im Schwarzwald: Arbor-­ Verlag. Bast, G. (2008). Der Diamond Approach. Zugriff am 21.05.2019 unter www.sein.de/der-­diamondapproach/ Davis, J. (2002). Liebe zur Wahrheit. Eine moderne Weisheitsschule. Der Diamond Approach von A. H. Almaas. Bielefeld: Kamphausen. Johnson, K. (2018). The Jeweled Path. The Biography of the Diamond Approach to Inner Realization. Boulder: Shambal. Mahr, A. (2016). Von den Illusionen einer unbeschwerten Kindheit und dem Glück, erwachsen zu sein. München: Scorpio. Schlötter, P. (2005). Vertraute Sprache und ihre Entdeckung. Systemaufstellungen sind kein Zufallsprodukt – der empirische Nachweis. Heidelberg: Carl-Auer. Schlötter, P. (2018). Die soziale Natur des Menschen – falsifizierbar. Heidelberg: Carl-Auer. Weinhold, J., Bornhäuser, A., Schweitzer, J., Hunger, Ch. (2014). Dreierlei Wirksamkeit. Die Heidel­ berger Studie zu Systemaufstellungen. Heidelberg: Carl-Auer.

II Wahrnehmung

Annika Schmidt

Proxemik in der Aufstellungsarbeit: Maß-Nahme verborgener Dimensionen

So kryptisch der Titel zunächst klingen mag, so profan müsste seine Erklärung sein. Denn hier geht es um das Alltägliche, das Gewohnte schlechthin: unsere Körpersprache, unser Raumverhalten, unser ganzes Auftreten, Positionieren, Stellungbeziehen – die selbstverständliche Art und Weise, wie wir tagtäglich unseren Beziehungen und Ansichten Ausdruck verleihen. Es geht also um etwas vergleichbar einer »Ursprache«, die »alle anderen Ausdrucksformen des Körpers übertrifft« (Poggendorf, 2012, S. 124). Diese körperlich-räumliche Ursprache wurde 1966 erstmals von dem amerikanischen Anthropologen Edward T. Hall unter dem Aspekt des Nähe-­DistanzVerhaltens untersucht und als Proxemik (engl. proxemics) bezeichnet. Hall erkannte Unterschiede im Umgang mit Nähe und Distanz sowie die Bedeutung des Raumverhaltens für die nonverbale Kommunikation. Wie Mimik und Gestik gestaltet sich auch die Proxemik überwiegend vor- und unbewusst, trotz ihrer immensen Einflusskraft auf den Kommunikationsprozess. Und genau hierin liegt die Krux der Thematik. Obwohl es sich um eine Art Ursprache handelt, mit deren Hilfe sich alle Menschen auszudrücken wissen, bedienen wir uns dieser nur selten zielgerichtet und nehmen sie mitunter gar nicht bewusst wahr. In unserem routinierten, ja regelrecht automatisierten Umgang mit unserer Körpersprache verliert die Proxemik ihre Relevanz für das Bewusstsein. Sie tritt als eine für selbstverständlich befundene Grundlage jedweden Ausdrucks in den Hintergrund. Sie ist entsprechend Halls Titel »The Hidden Dimension« (1966/1990), die verborgene Dimension unseres Handelns und unserer zwischenmenschlichen Beziehungen. In der deutschen Übersetzung des Buches ist der Titel »Die Sprache des Raumes« (1994) stärker auf die semantische Bedeutung der Proxemik ausgerichtet. Die Proxemik als Raumsprache hilft, Situationen, Systeme, Begegnungen, Interaktionen auf einer anderen Verstehensebene zu lesen und aus-

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zudrücken – das kann über die physische Distanz geschehen, aber auch über die Ausrichtung des Körpers, die Augenhöhe und Berührungen (Poggendorf, 2012). Der deutsche Titel ist somit trotz seiner sehr freien Übersetzung durchaus angemessen, er richtet den Blick darauf, wie sich Proxemik äußert. Der Originaltitel hingegen – und deswegen habe ich ihn explizit eingeführt – geht tiefer. In der verborgenen Dimension klingt ein anderer Aspekt der Proxemik an, die ontologische Bedeutung, die im wortwörtlich Offen-Sichtlichen allzu leicht übersehen wird. Offensichtlich ist, dass in Aufstellungen körperlich-­ räumlich gearbeitet wird. Stellvertreter werden zueinander ausgerichtet und in unterschiedlichen Abständen voneinander positioniert. Diesen räumlichen Ausdruck des aufgestellten Systems zu erkennen und zu »lesen« ist eine der Kernaufgaben der Aufstellungsleiter. Dabei gilt es, alle vier Dimensionen der Proxemik zu berücksichtigen: 1. Das Nähe-Distanz-Verhalten – Welchen Abstand halten die Stellvertreter zueinander? Gehen sie auf Distanz, nähern sie sich an? Weichen sie einander nicht von der Seite? 2. Die körperliche Ausrichtung – Wenden sie sich einander zu oder voneinander ab? Sind Füße, Körper, Kopf und Augen gleich ausgerichtet oder verdreht sich jemand, um eine andere Person besser sehen zu können? Oder ihrem Blick auszuweichen? 3. Die Augenhöhe – Wer behält den Überblick? Wer senkt den Blick? Wer macht sich kleiner oder größer? Wer begegnet sich auf Augenhöhe? 4. Die Berührung – Kommt es zu Berührungen, z. B. einem aufbauenden Schulterklopfen, einer Umarmung? Lehnen sich Stellvertreter aneinander an, halten sie einander an der Hand, stehen sie Schulter an Schulter? Offensichtlich ist, dass die Proxemik ein essenzielles Element der Bearbeitungsphase eines Anliegens darstellt. Alle an der Aufstellung beteiligten Stellvertreter drücken sich intuitiv proxemisch aus. Hierzu seien insbesondere Peter Schlötters Studien (2018) erwähnt, der unter dem Begriff der Soziothesie genau dieses proxemische Grundvermögen sowohl in Deutschland als auch in China empirisch nachweisen konnte. Gleichzeitig steht die Proxemik bei Aufstellungen im Ereignismittelpunkt und wird somit bewusster wahrgenommen und reflektiert als in alltäglichen Situationen. Doch gibt es noch eine tieferliegende proxemische Essenz der Aufstellungsarbeit. Um zu dieser vorzudringen, müssen wir hinter das physisch Offen-Sichtliche blicken und die verborgene Dimension aufdecken – bzw. schöner noch: ent-decken.

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Die verborgene Dimension des Raumes Wenn ich einen Raum in einem Gebäude betrete, erkenne ich in der Regel ohne große Mühe, ob es sich um eine Küche, ein Schlafzimmer oder einen Besprechungsraum handelt. Betrete ich hingegen eine leere Wohnung, ist völlig offen, ob ein Raum als Schlaf-, Arbeits-, Ess- oder Wohnzimmer genutzt wird. Indem wir Dinge platzieren, anordnen und miteinander in Verbindung bringen, richten wir einen Raum ein. Erst durch diese Einrichtung, durch das Platzieren und die Synthese der Platzierungen zu einer Einheit erhält der Raum seine Funktion und Bedeutung. Entsprechend definiert die Soziologin Martina Löw Raum als »eine relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern […] konstituiert durch zwei analytisch zu unterscheidende Prozesse, das S­ pacing und die Synthese­leistung« (2001/2012, S. 271). Mit Spacing bezeichnet sie dabei den Prozess der Platzierung und Positionierung, während die Syntheseleistung sich auf die Verknüpfung der Elemente bezieht. Somit sind nach Löw Räume nicht bereits vorhanden, sondern entstehen immer erst durch die Synthese vorhandener Elemente zu einer zusammenhängenden Anordnung. Diese Synthese wiederum wird erst durch unsere Vorstellung, Wahrnehmung und Erinnerung ermöglicht. Und hier nähern wir uns der verborgenen Dimension des Raumes: Wir können nur die Elemente verknüpfen, die wir aufgrund unserer Vorstellung und Erinnerung wahrnehmen. Anders formuliert: Wir nehmen nur solche Positionierungen für wahr, die unserer inneren Vorstellung – dem Bild, das wir der Wahrnehmung voran-stellen – entsprechen. Bleiben wir noch einen Moment bei dem physischen Raum, bei der Einrichtung eines Zimmers. Unsere innere Vorstellung, welche Elemente Teil dieser Anordnung sein müssen und wie diese zueinander platziert und ausgerichtet werden sollten, ist eine Reproduktion dessen, was wir meist von klein auf gewohnt sind: Wir haben diese Anordnung im Elternhaus selbst erlebt, wir lebten in und mit dieser Anordnung, wir wohnten so – und tun es noch. Das erlebte, gelebte Wohnen der räumlichen Arrangements und Einrichtungen wird immer wieder reproduziert und nach und nach zur gewohnten Struktur des Schlaf- oder Esszimmers. Wir erinnern diese Struktur, sie wird zu dem verborgenen, innewohnenden Bild, das wir der Wahrnehmung voran-stellen und an dem wir das Wahrgenommene intuitiv messen: »Sich erinnern heißt nicht, das Bild einer an sich vorhandenen Vergangenheit aufs neue in den Blick des Bewußtseins bringen, sondern sich in den Horizont der Vergangenheit versenken und Schritt für Schritt die in ihm

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verknüpfenden Perspektiven entfalten, bis die Erfahrungen, die sie enthält, gleichsam neuerlich an ihrem zeitlichen Ort erlebt sind« (Merleau-Ponty, 1966, S. 42). Dieses Zusammenspiel von Erinnerung, Vorstellung und Wahrnehmung zu erfassen ist essenziell, um zum Kern vorzudringen. Das Voran-Stellen der Erinnerung vor die Wahrnehmung geschieht zwar zumeist vor- bzw. unbewusst, es ist aber nichtsdestotrotz ein aktiver Prozess. Die Art, wie Merleau-Ponty den Prozess des Sich-Erinnerns beschreibt, verdeutlicht, dass die Verknüpfung der aktuellen Wahrnehmung mit der Erinnerung unserer gewohnten Struktur – in Merleau-Pontys Worten unseres Horizonts – eine aktive Reproduktion dieser Erinnerung ist. Das heißt, das Voran-Stellen dieser gewohnten Struktur ist der Wahrnehmung nur insofern zeitlich vorangestellt, als dass der Horizont der Erinnerung zeitlich zurückliegt und aus dem Zuvor ins Gegenwärtige hinzugezogen wird. In diesem Prozess des Hinzuziehens der Erinnerung wird das Wahrgenommene an dem Gewohnten gemessen. Und dies ist das Essenzielle: Indem wir das Wahrgenommene an unserem innewohnenden Bild (oder Horizont) messen, stellen wir dieses erinnerte Gewohnte der Wahrnehmung voran. Das Voran-­ Stellen der gewohnten Struktur vor unsere Wahrnehmung ist dahingehend kein zeit­liches, sondern ein qualitatives; es muss Sinn ergeben und erzeugen (hierzu auch Kleve in diesem Band): Wir ziehen (unbewusst, aber aktiv) das Gewohnte dem Wahrgenommenen vor und reproduzieren es durch diese Vor-Stellung, die als eine Art innewohnender Maßstab dazu dient, neue Erfahrungen in unsere erinnerte Struktur, unseren Horizont, einzuordnen. In systemischen Aufstellungen ermöglicht uns die Proxemik nun, diese uns innewohnende, verborgene Struktur physisch-räumlich mithilfe von Stellvertretern (das können Personen sein oder auch Objekte bzw. Bodenanker) abzubilden. Die Stellvertreter dienen dabei – wie das Wort schon so schön impliziert – als Platzhalter, die eine Stelle vertreten, an der in unserer Vor-Stellung des Erinnerten ein Systemelement positioniert ist. So kann die Anordnung der eigenen gewohnten Strukturen auch ohne die Anwesenheit der eigentlichen System­elemente aufgestellt, umgestellt und neu angeordnet werden. Das innewohnende System sowie die Beziehungen zwischen den Systemelementen werden durch die proxemische Aufstellung an anderer Stelle sichtbar gemacht, sprich: abgebildet. Das System selbst ist zwar abwesend, die Anordnung und das In-­Beziehung-­Setzen der Elemente kann jedoch stellvertretend vorgenommen werden. Wenn also von einem abwesenden System gesprochen wird, ist dies nur bedingt korrekt. Denn »Abwesenheit ist nicht nichts, sondern sie ist die gerade

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erst anzueignende Anwesenheit der verborgenen Fülle des Gewesenen« (Heidegger, 1950/2000, S. 185). Das bedeutet, dass selbst wenn das System und seine Elemente physisch nicht anwesend sind, so sind sie doch im Sinne des erinnerten Horizontes zugegen: Sie sind in Form des Gewesenen, des Ge- und Erlebten, also des Gewohnten, tief in uns verankert. Wir haben das gewohnte System verinnerlicht, es wohnt in uns, vor den Blicken anderer (und häufig auch unser eigener) verborgen.

Die verborgene Dimension des Gewohnten Ausgehend von physischen Wohnräumen haben wir uns einen Zugang zu dem dahinter liegenden Gewohnten verschafft und eine erste Ahnung von den Zusammenhängen zwischen gewohnten Sinnstrukturen und unseren Positionierungen im alltäglichen Miteinander entwickelt. Wir positionieren uns im Berufsleben, wir nehmen den uns zugewiesenen Platz in unserer Familie ein oder hadern mit ihm – alles entsprechend unserer innewohnenden Anordnungen und Sinnhorizonte, gewohnter Platzierungen und Beziehungskonstellationen. Diese erste Ahnung soll nun konkretisiert werden, greif- und begreifbar, indem wir das Wohnen als Kern jedweder Beziehung ent-decken. Reden wir vom Wohnen, so meinen wir meistens »das Innehaben einer Unterkunft« (Heidegger, 1951b/2000, S. 193). Diese Form des Wohnens bezeichnet eher eine Begleiterscheinung des Lebens, das Resultat (oder sogar nur das Nebenprodukt) einer scheinbar größeren und bedeutsameren Handlung des Bauens. Wir wohnen wie wir atmen: Niemand wird bestreiten, dass Atmen eine Tätigkeit ist – und doch atmen wir selten »aktiv« und bewusst. Es ist eine Tätigkeit, die so selbstverständlich ist, so routiniert und parallel zu allen anderen Tätigkeiten abläuft, dass die Atmung eher als »Dauerzustand« denn als andauernder Prozess wahrgenommen wird. Ebenso verhält es sich mit dem Wohnen: Wir richten Wohnungen ein, ordnen an, räumen um und ein und aus, wiederholen diese Prozesse und reproduzieren die entstehenden Strukturen tagtäglich, indem wir in und mit ihnen wohnen. Wir wohnen parallel zu allen anderen Tätigkeiten. Wohnen ist eine unserer frühesten Routinehandlungen und als solche zum selbstverständlichen »Dauerzustand« verkümmert. Das Wohnen ist in seiner aktiven Handlungsbedeutung genau genommen aktive Lebensführung und -gestaltung; der Prozess des Einrichtens, Anordnens, In-Beziehung-Setzens, der Kern des Seins, das wir nur anhand bereits gewohnter Strukturen in den Blick bekommen: »Mensch sein heißt: als Sterblicher auf der Erde sein, heißt: wohnen. […] Das Bauen als Wohnen, d. h. auf der Erde

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sein, bleibt nun aber für die alltägliche Erfahrung des Menschen das im vorhinein, wie die Sprache so schön sagt, ›Gewohnte‹« (Heidegger, 1951a/2000, S. 149). Das Gewohnte stellt also den abgeschlossenen Prozess der Anordnung der Systemelemente dar, bereits vorgenommene Positionierungen und Platzierungen im System, sowohl im Sinne einer physischen als auch mentalen Einrichtung. Gleichzeitig wird es im aktiven, aber unbewussten Wohnen wieder und wieder reproduziert und gepflegt: Das verinnerlichte System prägt unsere Vorstellung und beeinflusst unsere Wahrnehmung physischer und sozialer Räume; entsprechend dieses gewohnten Systems bauen wir Beziehungen auf. Und schließlich gibt das Gewohnte einen Hinweis darauf, wie wir zukünftig Beziehungen gestalten und soziale Räume einrichten werden. Von dem Gewohnten ausgehend können wir einen grundlegenderen Zweck des Bauens und Wohnens entdecken: Wir bauen Häuser, um sie zu beziehen. Wir bauen Kontakte auf, indem wir Beziehungen pflegen. Wir bauen unser Selbstvertrauen auf, indem wir uns auf uns selbst beziehen. Und der Bauer pflegt den Acker, um Getreide und Gemüse (und ferner daraus seinen Lebensunterhalt) zu beziehen. Kern des Bauens und Wohnens ist demnach nicht das bloße Errichten und Innehaben von Unterkünften. Auch bauen wir nicht, um zu wohnen. Vielmehr wohnen wir, indem wir bauen. Rücken Beziehungen in den Fokus, fallen bauen, wohnen und leben zusammen. Dieser Gedanke mag zunächst kühn anmuten, doch erinnern wir uns an die zuvor eingeführte Definition von Raum: Wenn Raum eine Anordnung von miteinander verknüpften Platzierungen ist, bedeutet dies nichts anderes, als dass die Elemente der Anordnung in Beziehung zueinander stehen. Erst durch das Herstellen einer Beziehung zwischen den unterschiedlichen Platzierungen und Positionierungen wird die Anordnung als Raum wahrgenommen, erst durch das Herstellen einer Beziehung wird das Wahrgenommene an dem Gewohnten gemessen, erst durch das Herstellen einer Beziehung wird das Erinnerte hinzugezogen und der Wahrnehmung voran-gestellt. Wenn wir nach dem Gewohnten fragen, fragen wir nach den hergestellten und aufgebauten Beziehungen. – Genauer: Wie richten wir unser Leben ein? Wie positionieren wir uns? Wie richten wir uns aus? Wie leben wir? Und wenn uns die Untersuchung des Gewohnten darüber Auskunft gibt, wie wir unser Leben gestalten – einrichten –, wird das Wohnen als dessen verborgene Dimension zur Art und Weise, wie wir unser Leben führen, wie wir bauen, anordnen, platzieren, positionieren, errichten und einrichten. Verborgen bleibt uns diese Dimension deshalb, weil all diese Prozesse, sofern sie nicht etwas Physisch-Greifbares erzielen, zumeist unbewusst ablaufen und unsere Vorstellung der innewohnenden Anordnung (die als das Gewohnte diesen Pro-

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zessen vor-gestellt ist) hegen und pflegen und reproduzieren. Dabei ist zweitrangig, ob diese verinnerlichte Konstellation förderlich oder hinderlich ist – sie ist zunächst einmal, wie sie ist. Um sie zu verändern, gilt es erst einmal, ihre Struktur und Beziehungsgeflechte zu erkennen. Doch wie erkenne ich etwas, das mir so geläufig ist, dass es sich gerade hinter seiner offensichtlichen Selbstverständlichkeit verbirgt?

Die Ent-Deckung des Zwischens Heidegger spricht von einer »Wachsamkeit«, zu der wir gelangen können, wenn wir das vorstellende Denken verlassen (1950/2000, S. 183) – heute sprechen wir in diesem Zusammenhang eher von Achtsamkeit. Ob achtsam oder wachsam, der Unterschied will uns an dieser Stelle nicht weiter kümmern, um etwas Verborgenes zu entdecken, bedarf es beider Qualitäten, das leuchtet ein. Aber wie verlassen wir das vorstellende Denken, wenn wir es unbewusst unserer Wahrnehmung doch vor-stellen und uns somit im Ent-Decken des Verborgenen selbst behindern? Auch hier liefert uns Heidegger einen wichtigen Hinweis, indem er anspricht, dass es nicht reiche, die eigene Einstellung zu ändern: »[W]eil alle Einstellungen samt den Weisen ihres Wechselns in den Bezirk des vorstellenden Denkens verhaftet bleiben. Der Schritt zurück verläßt allerdings den Bezirk des bloßen Sicheinstellens« (S. 183). Gehen wir nochmal der Bedeutung dieser Worte nach: Wenn ich einen Wechsel meiner Einstellung vornehme, dann positioniere ich mich anders, richte mich anders aus, nehme eine andere Perspektive ein – jedoch alles innerhalb des Systems. Ich stelle mich in die gewohnte Anordnung hinein, ich verrenke mich unter Umständen, um irgendwie meinen (oder einfach nur einen) Platz zu finden, aber die Anordnung selbst bleibt bestehen. Wenn ich mitten im Wald stehe, kann ich noch so oft meine Perspektive und Position ändern, mich verbiegen und verrenken, ich werde nur Bäume sehen, aber nie den Wald. Da hilft auch kein Einstellungswechsel. Um also die vor-­ gestellte Anordnung zu sehen, stellen wir sie physisch-räumlich auf. Indem wir sie aufstellen und abbilden, können wir einen ersten Schritt zurück machen, aus ihr heraustreten und sie von außen betrachten. Im zweiten Schritt erfolgt nun die Umstellung der Anordnung, die nicht von uns selbst vorgenommen wird! Würden wir den Prozess der »Neuordnung« selbst leiten, würden wir versuchen, sie nach unseren Vorstellungen zu ordnen (und uns weiter im Kreis drehen). Einen Satz, den ich in dieser oder ähnlicher Form nach Aufstellungen häufig gehört habe: »So hatte ich mir das Ergebnis nicht vorgestellt, aber …«

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Es wird also so lange umgestellt, bis eine neue, stimmige bzw. stimmigere Anordnung gefunden ist. Aber was ist in diesem Prozess maß-gebend und handlungsleitend? Woher weiß der Aufstellungsleiter bei einem ergebnisoffenen Prozess, dass ein (Zwischen-)Ergebnis gefunden wurde? Hierfür kehren wir nochmal zur Wahrnehmung zurück: »Unser Wahrnehmungsfeld bildet sich aus ›Dingen‹, und aus ›Zwischenräumen zwischen Dingen‹. […] Sähen wir aber auf einmal die Zwischenräume zwischen den Dingen selbst als Dinge, so änderte sich das Aussehen der Welt« (Merleau-Ponty, 1966, S. 35). Wenn ich den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen kann, muss ich den Fokus meiner Aufmerksamkeit von den Bäumen weglenken; statt der Bäume rücken die Zwischenräume in den Blick, die Abstände, die Lichtungen, die Waldwege. Diese Zwischenräume kann ich durchschreiten, ich kann ihnen nachspüren und durch die Bewegung im »System« Wald dasselbige erleben. In Aufstellungen passiert etwas Ähnliches: Die Aufmerksamkeit wird von den Platzierungen weg, hin zu den Abständen gelenkt; die Stellvertreter berichten, wie sie diese Distanzen wahrnehmen, welche Gefühle sie bei ihnen auslösen (zu Gefühlen und Emotionen in Aufstellungen mehr bei Latka in diesem Band). Statt der einzelnen Personen selbst rücken die Beziehungen in den Blick: Die Angemessenheit des Zwischens wird ausgehandelt.

Die Ent-Deckung des Maßes Wie bei einer Wohnung, die ich beziehe, baue ich eine zwischenmenschliche Beziehung auf, indem ich das Zwischen beziehe. Während ich meine Wohnung jedoch völlig frei nach meinen Gestaltungswünschen einrichten kann, alles so positioniere, dass jedes Element für mich am gemäßen Platz ist, sind bei einer zwischenmenschlichen Beziehung beide Parteien am »Räumen«. Beide richten diesen Zwischen-Raum ein, sie ordnen gemeinsam an, handeln angemessene Plätze und Positionierungen aus – doch was ist maß-gebend, ob eine Position angemessen ist? Was ist der Maßstab? »Der Mensch hat sich als Mensch immer schon an etwas und mit etwas Himmlischem gemessen. […] Nur insofern der Mensch sein Wohnen auf solche Weise ver-mißt, vermag er seinem Wesen gemäß zu sein. Das Wohnen des Menschen beruht im aufschauenden Vermessen der Dimension, in die der Himmel so gut gehört wie die Erde. […] Die Vermessung des menschlichen Wesens auf die ihm zugemessene Dimension bringt das Wohnen in seinen Grundriß« (Heidegger, 1951b/2000, S. 199).

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Nach Heidegger ist das Himmlische das Kriterium, an dem wir unser Leben ausrichten, nach dem wir uns positionieren, Strukturen schaffen und wohnen. Menschen messen sich an Gott als dem Maß der Dinge. Nun leben wir heute in einer säkularisierten Welt, in der Gott für viele keine Rolle mehr spielt. Doch das heißt nicht, dass wir aufgehört haben, uns zu messen – ganz im Gegenteil. Wir messen uns mit anderen, an anderen, an Tugenden, Idealen, Idolen. Gott mag für viele nicht mehr das Maß der Dinge sein, aber dennoch nimmt jeder Maß: Jeder hat ein Gefühl für das in seinen Augen rechte Maß, für angemessene Distanzen und Abstände zwischen den Elementen seiner gewohnten Anordnung. Und genau hier kommen wir zur Herausforderung zwischenmenschlicher Beziehungen: Jeder legt der Anordnung sein eigenes Maß zugrunde und hat eine ganz klare Vor-Stellung, wie das gemeinsame Zwischen arrangiert wird. Wir räumen unserem Gegenüber einen Platz ein, ohne uns darüber Gedanken zu machen, ob der Platz auch unserem Gegenüber als angemessen erscheint. In Aufstellungen wird das proxemisch besonders deutlich: Durch unsere körperliche Ausrichtung richten wir den anderen aus, wie wir uns innerlich auf sie einrichten. Wer sein System, seine gewohnten Anordnungen aufstellt, der möchte eine Änderung bewirken. Entweder sind wir mit der gesamten Anordnung unzufrieden oder fühlen uns nicht am rechten Platz und möchten uns unserem Wesen entsprechend angemessener positionieren. Bezogen auf unsere Vorüberlegungen bedeutet dies, dass sehr wahrscheinlich ein neues Maß gefunden werden muss. Dies geschieht, indem die Anordnung in Aufstellungen variiert wird, Abstände sich immer wieder ändern, Distanzen vergrößert oder verringert, Beziehungen neu ausgerichtet werden. Die aufgestellten Personen durchschreiten die Zwischenräume und erleben deren Qualität: a) Über die physische Distanz – Welche Abstände erscheinen mir angemessen? Muss ich Distanz wahren? Wer beansprucht wie viel Platz? b) Über die körperliche Ausrichtung – An wem oder was richte ich mich aus? Wohin schaue ich? Wer ist das Maß der Dinge? c) Über die Augenhöhe – Wer maßt es sich an, auf andere herabzublicken? Wen vergöttere ich, zu wem schaue ich auf? d) Über die Berührung – Sind die Berührungen angemessen, vermessen, maßvoll oder übermäßig? Indem eine Aufstellung langsam und behutsam umgestellt wird, wird sie proxemisch messbar. Über die stellvertretende Wahrnehmung wird Maß genommen; über das Maß-Nehmen werden die Zwischenräume durchmessen; über das Durchmessen des Zwischens werden angemessene Positionierungen austariert. Indem immer wieder die Dynamik unterbrochen und auf die Pause-Taste

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gedrückt wird, kann der Qualität der räumlichen Verhältnisse nachgespürt, das Maß aufgedeckt und angepasst werden. Wir lernen über die Aufstellungsarbeit unser Gespür für das rechte Maß zu reflektieren und zu schärfen. In unseren Leben gestalten wir tagtäglich viele und sehr unterschiedliche zwischen-menschliche Räume und müssen uns selbst genau fragen: Welchen Raum möchte ich betreten, welches Maß muss ich in welcher Situation nehmen? Bei einer Verhandlung mit einem Geschäftspartner wird ein anderes Maß verlangt als bei einem Feierabendbier. Je nach Beziehung, je nach Begegnung müssen wir unsere Anordnungen auf den Kopf stellen, ausräumen, einräumen, umräumen – und jede dieser Anordnungen hat ihr eigenes Maß. Welches Maß wird verlangt? Ist meine Anordnung noch stimmig oder sind neue Elemente/Ereignisse dazugekommen, so dass die Anordnung angepasst und umarrangiert werden muss? Wir müssen von der Vor-Stellung Abschied nehmen, das Maß aller Dinge zu finden. So vielfältig unsere Beziehungen sind, so variabel muss das Maß sein und immer wieder neu gefunden und neu ausgehandelt werden.

Literatur Hall, E. T. (1966/1990). The Hidden Dimension. New York: Anchor Books. Hall, E. T. (1994). Die Sprache des Raumes. Berlin: Cornelsen. Heidegger, M. (1950/2000). Das Ding. In M. Heidegger, Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910–1976, Bd. 7. Vorträge und Aufsätze (S. 165–188). Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. Heidegger, M. (1951a/2000). Bauen Wohnen Denken. In M. Heidegger, Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910–1976. Bd. 7 – Vorträge und Aufsätze (S. 145–164). Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. Heidegger, M. (1951b/2000). »… Dichterisch wohnet der Mensch …«. In M. Heidegger, Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910–1976. Bd. 7 – Vorträge und Aufsätze (S. 189–208). Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. Löw, M. (2001/2012). Raumsoziologie (7. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Merleau-Ponty, M. (1966). Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: Walter de Gruyter. Poggendorf, A. (2012). Angewandte Teamdynamik. Methodik für Trainer, Berater, Pädagogen und Teamentwickler. Berlin: Cornelsen. Schlötter, P. (2018). The Social Nature of Man – Falsifiable. Die soziale Natur des Menschen – ­falsifizierbar. Heidelberg: Carl-Auer.

Harald Homberger

Die stellvertretende Wahrnehmung in der systemischen Aufstellungsarbeit

Das Phänomen der stellvertretenden Wahrnehmung in der systemischen Aufstellungsarbeit ist ein Spiegel für das, was wir Menschen tagtäglich in unserem Alltag erleben. Die stellvertretende Wahrnehmung ist uns Menschen zugehörig und drückt sich in der spürbaren Verbundenheit menschlichen Bewusstseins aus. Wir fühlen, spüren, nehmen wahr, dass Teile unseres täglichen Erlebens nicht zu unserer Ich-Wahrnehmung gehören, uns vertraut und doch fremd sind. »So als ob es von einer anderen Person ist«, wie es viele Menschen in einem Aufstellungsseminar formulieren, wenn sie über ihr Anliegen und ihre Probleme sprechen. Im Folgenden möchte ich versuchen, das Phänomen der stellvertretenden Wahrnehmung in der Aufstellungspraxis zu beschreiben. Hierbei geht es mir nicht darum, verschiedene Methodenansätze der Aufstellungsarbeit im Umgang mit der stellvertretenden Wahrnehmung zu diskutieren, sondern in diesem Beitrag erst einmal nur die Vielschichtigkeit dieses Phänomens aufzuzeigen. Ich wähle den Begriff »stellvertretende Wahrnehmung«, weil er am deutlichsten den Bewusstseinsprozess beschreibt, der sich vollzieht, wenn jemand in einer Aufstellung eine Person, ein Element oder eine Struktur vertritt.

Generationsübergreifende Wahrnehmung Wir wissen durch die Erkenntnisse der Neurowissenschaft, dass wir durch das Vorhandensein der Spiegelneuronen Gefühle, Gedanken und Handlungsimpulse von Menschen, die mit uns zusammen sind, wahrnehmen können. Auch sind die Spiegelneuronen beteiligt, wenn wir im Kino einen uns berührenden Film sehen und mitempfinden. Schon im Mutterleib spüren wir beispielsweise den Schmerz der Mutter, wenn sie in ihrer Ehe unglücklich ist – so als ob es unsere eigenen Gefühle seien. Im Laufe unserer Individuation gelingt es uns dann in

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der Regel, zwischen den eigenen und den übernommenen Gefühlen der Mutter zu unterscheiden. Schwierig wird es, wenn wir darüber hinaus die Traurigkeit der Großmutter spüren, die wir persönlich nicht kennenlernten, da sie vor unserer Geburt starb. Dann können wir das innere Erleben der Traurigkeit mit nichts, was wir in unserem Leben erleben oder erlebt haben, in Verbindung bringen. Doch die Erfahrung zeigt: Wir spüren stellvertretend, generationsübergreifend, Personen und Ereignisse, auch wenn sie uns nicht persönlich bekannt sind, zuweilen über die Eltern- und Großelterngeneration hinaus. Das Phänomen der generationsübergreifenden stellvertretenden Wahrnehmung von Gedanken, Gefühlen, Ereignissen und Personen, hat aus der systemischen Therapie heraus zu der Entwicklung der systemischen Aufstellungsarbeit geführt. Tote aus seinem Familiensystem zu spüren, die man persönlich nicht kennt und über die auch in der Familie nicht kommuniziert wird und wurde, war nicht Gegenstand psychotherapeutischer Betrachtung und galt lange Zeit als »esoterisch«. Esoterik wurde und wird noch heute in diesem Zusammenhang aber nicht definiert und als eigenes Fachgebiet behandelt, sondern als ein Synonym für »unseriös« verwendet. Mittlerweile werden die Erfahrungen, die in der Aufstellungsarbeit in der stellvertretenden Wahrnehmung erlebt werden, obgleich sie noch immer nicht Gegenstand der Forschung sind, in den Forschungsergebnissen der Epigenetik zum Teil erkennbar. Tessa Roseboom, Professorin für kindliche Frühentwicklung an der Universitätsklinik Amsterdam, beginnt ihre Vorträge über Epigenetik gerne mit einer erstaunlichen Erkenntnis: »Wir existierten zum Teil schon im Körper unserer Großmutter. Das Ei, aus dem wir wurden, bildete sich zwei Generationen vor unserer Geburt« (zit. nach Reumschüssel, 2018, S. 51 f.). In der sogenannten nieder­ländischen Hungerstudie wies Roseboom die Vererbung von erzwungener Mangelernährung über zwei Generationen nach. Während des Zweiten Weltkrieges wurde in einer Provinz in Holland die Bevölkerung von den Nationalsozialisten von der Nahrungsversorgung abgeschnitten. Die zu dieser Zeit dort lebenden schwangeren Frauen waren dadurch unterernährt. Dies hatte Folgen für deren Nachfahren. Die Kinder und Enkelkinder zeigten signifikant Essstörungen im Vergleich zu anderen Kindern und Enkelkindern von schwangeren Frauen, die zur gleichen Zeit in anderen niederländischen Provinzen gelebt haben (S. 50). Es gibt mittlerweile eine große Zahl von epigenetischen Forschungsarbeiten, die nahelegen, dass traumatische Erfahrungen vorheriger Generationen über die Regulationssysteme der Gene weitergegeben werden und von den nachfolgenden wahrgenommen werden. Auch die psychosomatische Studie von Phillip von Issendorf aus Hamburg zeigt die Generationswirkung von traumatischen

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Erfahrungen. Er befragte 46 Zeitzeugen des sogenannten Hamburger Feuersturms, dem 35.000 Menschen durch alliierte Bombenangriffe 1943 zum Opfer fielen, und 75 ihrer Kinder: »Ein Drittel der Überlebenden hatte noch 66 Jahre nach dem Feuersturm Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung, bei ihren Kindern zeigen 17 Prozent auffällige Symptome der Angst. In der Normalbevölkerung sind es sieben Prozent« (zit. nach Reumschüssel, 2018, S. 45). Diese nur beispielhaft zitierten Ergebnisse der Forschung über das trans­ generationale Wahrnehmen von traumatischen Erfahrungen spiegeln sich auch in der praktischen Aufstellungsarbeit wider. Hier wird erlebt, dass die stellvertretende Wahrnehmung sich nicht nur auf die eigene Familie beschränkt, sondern dass auch und somit stellvertretend Menschen aus anderen Familiensystemen gespürt werden können. Im Verlauf der Entwicklung der Aufstellungsarbeit wurde erkannt, dass auch eine gedachte Struktur, wie z. B. ein Krankheitssymp­ tom, von einem Stellvertreter gespürt werden kann. Die stellvertretende Wahrnehmung, eine Person vertritt im Gegenüber eine andere Person oder eine Struktur, wurde zur Kernerfahrung und substanzieller, nicht wegzudenkender Bestandteil der systemischen Aufstellungsarbeit.

Was ist das Phänomen? Im Rahmen eines Aufstellungsseminars stellt eine Person, die ihre Krebserkrankung als Anliegen formuliert, fremde Menschen stellvertretend für ihren Vater, ihre Mutter, ihre Erkrankung und für sich selbst auf. Stimmen sich die Stellvertreter absichtslos in den gegenwärtigen Moment ein und folgen sie den, sich in ihnen einstellenden Wahrnehmungen, geschieht Ungewöhnliches. Die Vertreter werden von innewohnenden Informationen der Personen, aber auch von innewohnenden Informationen von Strukturen, wie z. B. in der Stellvertretung der Krebserkrankung, erfasst. Geben die Stellvertreter ihren Wahrnehmungen freien Raum und folgen ihren Impulsen, kommen sie mitunter in eine Bewegungsabfolge, die das ursprüngliche Geschehen, möglicherweise den Grund und auch die Lösung für das aufgestellte Anliegen spiegelt. Die Person, die das Anliegen zur Aufstellung bringt, kann im Gegenüber erkennen und nachempfinden, wie ihr Problem entstand, und erleben, wie es sich im Rahmen der Aufstellung und vielleicht auch in der Folge bei ihr löst. Betrachten wir das Phänomen der stellvertretenden Wahrnehmung genauer, so eröffnet sich eine Vielzahl von Aspekten, die essenziell sind, um das Phänomen in seiner Gänze zu erfassen.

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Das Feld, das der Aufsteller eröffnet Wesentlich für das Aufstellungsgeschehen und somit auch für die stellvertretende Wahrnehmung ist das Bewusstsein und die innere Haltung des Aufstellungsleiters und daraus folgend, wie der Aufsteller das Feld, in dem sich die Aufstellungserfahrung vollzieht, vorbereitet, eröffnet, im Verlauf gestaltet und beendet. Dazu gehört auch, wie er als Leitung die Stellvertreter auf ihre »Funktion«, ihre »Aufgabe« vorbereitet. Die Grundlage von gelingender Wahrnehmung in einer Aufstellung ist Achtsamkeit oder achtsames Gewahrsein – dies gilt sowohl für den Aufstellungs­leiter als auch für die Stellvertreter. Achtsames Gewahrsein bedeutet, das Erfahren von Augenblick zu Augenblick und das Wahrnehmen von im Bewusstsein auftauchenden Empfindungen, Sinneswahrnehmungen, Gedanken, Gefühlen und Handlungsimpulsen, ohne diese zu bewerten. »Der Aufstellungsleiter muss sich von den Vorstellungen seines eigenen Ichs entleeren, um das Wesen des Anderen in seiner Ganzheit wahrzunehmen. Ist er geleert, gelöst von persönlichen und therapeutischen Konzepten, verweilend in der Wahrnehmung reiner Gegenwärtigkeit, öffnet er für alle spürbar einen Bewusstseinsraum, in dem sich das Bewusstsein derer, die ein Anliegen zur Aufstellung gebracht haben, spiegeln kann« (Homberger, 2019, S. 11). Hierbei ist zwischen Aufmerksamkeit, welche auf einen Fokus ausgerichtet ist, und einem achtsamen Gewahrsein, welches alles, was im Bewusstsein auftaucht, mit einschließt, zu unterscheiden. Was heißt das? Der Aufsteller hält im Verlauf einer Aufstellung das gesamte Feld in einem weiten, spürenden Gewahrsein, ohne sich ausschließlich auf den Aufstellenden, auf das Problem oder auf die Lösung auszurichten. Achtsamkeit bedeutet für die Menschen, die sich in der Stellvertretung befinden, die sich immer wieder von Moment zu Moment verändernden Erfahrungen wahrzunehmen und sie gegebenenfalls, z. B. durch das Ausführen von gespürten Handlungsimpulsen, auszudrücken. Aus dieser Haltung heraus ergibt sich ein »erfasst werden« von zusammenhängenden Handlungsabfolgen, die ein Abbild von Ereignissen, die zu einer anderen Zeit und in einem anderen Raum geschehen sind, zeigen können. Subtil betrachtet ist die stellvertretende Wahrnehmung eine Wahrnehmung von Gegenwärtigkeit. Was nehme ich jetzt – jetzt – jetzt – jetzt in meinem Bewusstsein prozesshaft wahr? Wenn die gespürten Handlungsimpulse und Bewegungen der Stellvertreter seitens des Aufstellungsleiters nicht unterbrochen werden, können sich die gespiegelten Ereignisse in ihrer innewohnenden Gänze und ihrer innewohnenden Entfaltungskraft zeigen. Wie von einer unsichtbaren Choreografie geführt,

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werden die Stellvertreter erfasst, und die Aufstellung bildet ein prozesshaftes Geschehen ab. Werden die Bewegungen durch die Aufstellungsleitung unterbrochen oder erst gar nicht zugelassen, werden einzelne Sequenzen, die sich in der Aufstellung zeigen, zum Fokus der therapeutischen Aufmerksamkeit gemacht. Das Gesamtgeschehen gerät in der Regel auf diese Weise aus dem Blick und eine mögliche Lösung, die sich allein aus dem Prozess ergeben würde, kann sich nicht zeigen. Diese Erfahrung schließt jedoch mit ein, dass therapeutische Interventionen seitens des Aufstellungsleiters in einzelnen Sequenzen der Aufstellung dennoch notwendig sein können.

Differenzierte Introspektion Der Wert einer achtsamen Bewusstseinshaltung zeigt sich auch im Wahrnehmen und Verstehen dessen, was sich im Bewusstsein der Stellvertreter und des Aufstellungsleiters während des Aufstellungsprozesses zeigt. Hierfür müssen wir zwischen der Wahrnehmung persönlicher Gedanken, den Spürwahrnehmungen des Körpergeschehens und Gefühlsimpulsen sowie den stellvertretenden Wahrnehmungen von der Person oder der Struktur, die wir vertreten, unterscheiden. Diese differenzierte Introspektion bedarf einer einübenden und erklärenden Vorbereitung für die Stellvertreter seitens des Aufstellungsleiters. So ist es zu Beginn eines Seminars hilfreich, den obigen Bewusstseinsvorgang zu erklären, Beispiele von Stellvertretungserfahrungen zu benennen, Fragen zum Vorgang zu beantworten, Aufmerksamkeit für das Spüren anzuregen und eine Meditation zur Förderung der Introspektion und der Herstellung von Intensität für den gegenwärtigen Moment anzubieten. Die Tiefe der Erfahrung, die die Stellvertreter hierbei machen können, korreliert mit ihrer Fähigkeit der Einfühlung und Introspektion sowie mit ihrer möglichen Vorerfahrung in meditativer Praxis. Dies gilt auch für den Aufstellungsleiter und seine daraus resultierende Haltung. Meditation wird hier nicht nur als Vorgang des Praktizierens verstanden, sondern auch als Haltung von Wahrnehmung reiner Gegenwärtigkeit.

Was ist eine Stellvertretung? Der Begriff »stellvertretende Wahrnehmung« in der Aufstellungsarbeit beinhaltet den sich zeigenden Bewusstseinsvorgang einer Person, wenn diese stellvertretend für eine andere Person oder eine geistige Struktur steht, aber auch für

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Objekte, wie z. B. für ein Haus oder einen Ort. In einer Stellvertretung kann ein Stellvertreter das gesamte Spektrum menschlicher Wahrnehmungsmöglichkeiten wahrnehmen. In einer eingenommenen stellvertretenden Wahrnehmung kann sich das gewohnte und subjektive Empfinden von Zeit und Raum verändern. Der Vertreter spürt dann ein Ereignis, das zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort geschehen ist. Das schließt auch die Erfahrung ein, dass in der Stellvertretung die innewohnenden Informationen von Menschen, die schon verstorben sind – zum Teil über mehrere Generationen hinweg – wahrnehmbar sind. Zudem ist es möglich, Informationen zu spüren, die in aufgestellten, »gedachten« Strukturen enthalten sind. Wenn z. B. jemand stellvertretend für eine Tumorerkrankung steht, kann dieser bekannte und noch nicht bekannte Aspekte der Erkrankung wahrnehmen. Das Gesagte will die Erkenntnisse, die Peter Schlötter (2016) in seinem empirischen Forschungsprojekt über die Wahrnehmung in Systemaufstellungen machte, erweitern. In ca. 4.000 Einzelversuchen mit 250 Personen wurde die Wahrnehmung der Stellvertreter in angeordneten Figurenkonstellationen untersucht. Ein hoch signifikanter Anteil der Stellvertreter nahm am gleichen Platz Ähnliches wahr. Festgestellt wurde, dass die Wahrnehmung vom Standort des Stellvertreters abhängt. Eine Erklärung wurde bisher nicht gefunden. Dieses Forschungsergebnis lässt jedoch eine Art semantische Symbol­sprache oder Zeichensprache vermuten, die sich in den Systemaufstellungen zeigt. Die Position, die ein Stellvertreter im Raum einnimmt, beinhaltet wahrnehmbare Informationen: »Die Eltern stehen hinter mir« oder »Wir stehen zusammen« haben sowohl eine räumliche als auch eine kulturelle Komponente. Wir »wissen«, was es bedeutet, wenn die Eltern hinter uns stehen oder wir als ein Paar zusammenstehen (Schlötter, 2016). Aber die praktische Erfahrung in der Aufstellungsarbeit zeigt: Ein Paar kann z. B. in einer Anfangskonstellation im Raum zusammenstehen, aber innerlich wird die Nähe des Paares von den Stellvertretern völlig anders gefühlt, als sie im Außen zu sehen ist. Dies wird in einer Aufstellung erst erkennbar, wenn der Aufsteller die Stellvertreter nicht an einen Platz fixiert, sondern ihnen die Möglichkeit eröffnet, ihren gespürten Impulsen in Gänze Ausdruck zu verleihen. Um das Aufstellungsgeschehen wahrzunehmen und eine Aufstellung zu leiten, braucht es zudem nicht unbedingt den Sehsinn. Im Folgenden möchte ich aus einem von Miklas Schulz (2018) gehaltenen Vortrag zitieren. Miklas Schulz ist blind und hat bei mir neben eigenen Stellvertretererfahrungen auch eine Weiter­bildung in phänomenologisch-systemischer Aufstellungsarbeit absolviert. Er verfügt über die außergewöhnliche Erfahrung, als erblindeter Mensch Aufstellungen zu leiten.

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Miklas Schulz bezieht sich auf die sogenannte Neue Phänomenologie, eingeführt von Helmuth Plessner, in der der Leib als gelebter und gespürter Leib, als Empfindungsorgan, mit dem wir Eindrücke aufnehmen, verstanden wird. Über seinen Körper kann er die Stellvertreter und ihre Informationen im Feld spüren: »Wie fühlt sich nun eine Aufstellungssituation in der Leitungsposition an? Ich empfinde das als Weitung oder Engung. Entweder ich spüre Raum oder Begrenztheit. Ich nehme über das Medium meines Leibes wahr. Er ist mein Vehikel zur Weltwahrnehmung, sinnbildlich für die Atmosphäre in einer Aufstellungssituation. Es ist ein An- und Abschwellen, das ich wahrnehme. Es baut sich Druck in mir auf oder er flacht ab. Ich kann spüren, ob eine Aufstellungsszenerie spannungsgeladen ist oder nicht.«

Was kann in einer Stellvertretung alles wahrgenommen werden? Das, was in einer Stellvertretung gespürt wird, ist immer eine individuelle, nicht wiederholbare Erfahrung. In der Stellvertretung einer Mutter wird nicht allgemein eine Mutter, auch nicht der Archetypus Mutter stellvertretend wahrgenommen, sondern genau die Mutter der Person, die sie aufstellt. Mit ihren zu spürenden, individuellen Besonderheiten, ihren Erfahrungen, ihren Gefühlen, Gedanken, ihrem Beziehungsgeflecht, die sich in Beziehung zu der Person, die aufstellt, zeigen. Dies gilt auch für die Vertretung von Gegenständen, wie z. B. dem Haus einer aufstellenden Person, und Strukturen, wie z. B. der Liebe. Wird beispielsweise stellvertretend ein Haus aufgestellt, ist es möglich, gegebenenfalls die Person zu spüren, die sich in dem Haus das Leben nahm. Es scheint so zu sein, dass in allen Dingen Informationen enthalten sind, die in einer Aufstellung aufgerufen werden können.

Der Stellvertreter kann von Gedanken erfasst werden Gedanken können sich als einzelne Worte oder ganze Sätze zeigen. Mitunter werden auch sogenannte Glaubenssätze wahrgenommen, wie z. B. »Ich schaffe das nicht« oder »Ich bin es nicht wert«. Vertritt der Stellvertreter eine traumatisierte Person oder ein traumatisches Ereignis, kann es zu gedanklichen Brüchen kommen, so dass Sätze nicht korrekt formuliert werden können. Vertritt

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der Stellvertreter beispielsweise eine depressive Person, spürt er oft Gedankenleere oder Gedankenschwere. Schwierig wird es, wenn der Stellvertreter nicht zwischen seinen eigenen und den stellvertretend auftauchenden Gedanken differenzieren kann. Das größte Hemmnis hierbei ist die vorhandene Unsicherheit seitens des Stellvertreters, etwas falsch zu machen. Um dem entgegenzuwirken, bedarf es einer gezielten Einführung, wie bereits oben erwähnt. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass Stellvertreter, wenn sie in einer Aufstellung zu oft befragt werden, nicht aus der Erfahrung, sondern über die Erfahrung sprechen. Das Geschehen wird somit auf eine kognitive Ebene verlagert und entfernt sich, je länger gesprochen wird, von dem real zu Spürenden.

Der Stellvertreter kann von einer Bewegung erfasst werden Eine Auswahl: Der Körper dreht sich um die eigene Achse oder umkreist andere Personen. Er marschiert, die Fäuste werden geballt oder geöffnet. Der Körper beginnt sich zu schütteln oder zittert. Stellvertreter fallen um, sacken zusammen, verneigen sich, knien sich hin, tanzen, laufen, klopfen, streifen sich etwas ab, kratzen sich oder raufen sich die Haare. Der Stellvertreter in Interaktion mit anderen Stellvertretern stellt sich dahinter, davor, daneben. Er handelt aggressiv, manchmal auch nur angedeutet. Er würgt, schlägt, tritt, greift an, sticht zu, schreit an, verteidigt sich, flieht, versteckt sich. Oder er geht liebevoll auf jemanden zu, lehnt sich an, umarmt, reicht die Hand, streichelt, berührt, schützt, zeigt liebende oder ablehnende, hassende Zu- oder Abwendung. Die Bewegungen können sich ganz still und langsam vollziehen. Auch eine Nicht-Bewegung ist eine Bewegung im Sinne des Aufstellungsgeschehens, beispielsweise bei der Spiegelung eines Traumas. Auch die Atembewegung kann schneller gehen, hecheln, stocken, anhalten oder es kommt zu einem tiefen Durchatmen. Manchmal sind letzte Atemzüge mit entsprechenden Körperbewegungen zu sehen.

Der Stellvertreter kann von Gefühlen erfasst werden Es können alle bekannten Gefühle auch stellvertretend gespürt werden. Dies sind beispielsweise: Freude, Zufriedenheit, Erleichterung, Liebe, Vergnügen, Sinnes­lust, Zorn, Ärger, Verachtung, Ekel, Hass, Wut, Furcht, Angst, Stolz, Trauer, Scham, Schuld und Eifersucht. Zudem erleben Stellvertreter Bindungsgefühle wie Abhängigkeit, Autonomiebestrebung, Nähe/Kontaktbedürfnis, aber

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auch das Wahrnehmen von Bindungslosigkeit. Nehmen wir als Beispiel für die gesamte Gefühlspalette die stellvertretende Erfahrung von Angst: Körperlich können ein erhöhter Puls, Bauchschmerzen, Zittern, ein Kloß im Hals, trockener Mund, weiche Knie, körperliche Anspannung, Angstschweiß oder kalte Hände auftreten. Der Körper kann erstarren, sich schutzlos oder als ausgeliefert empfinden, auch ein Flucht- oder ein Abwehrimpuls sowie Panikgefühle können wahrgenommen werden. Das Fehlen von Gefühlen bei einem traumatisierten Menschen drückt sich in Ausdruckslosigkeit im Gesicht und in der gesamten Körpersprache aus; auch hier zeigt der Vertreter Erstarrung, Teilnahmslosigkeit und geringe Atembewegung. Zu dem Wahrnehmen von eigenen Gefühlen kommt das Phänomen hinzu, dass Menschen stellvertretend Gefühle von Mitgliedern des Familiensystems übernehmen. Dies geschieht insbesondere dann, wenn die Gefühle verdrängt wurden, weil sie zu schmerzhaft, zu traurig, zu angstbesetzt waren. Das Fallbeispiel zeigt ein übernommenes Gefühl, das durch die Stellvertretung sichtbar wurde. Ein 57-jähriger Mann stellte ein Ereignis auf, das ihn seit vierzig Jahren nicht zur Ruhe kommen ließ. Als junger Mann hatte er eines Abends in der heimischen Küche seinen Vater im Affekt völlig grundlos zusammengeschlagen, ihn noch tretend, als er schon am Boden lag. Er fühlte sich seitdem dafür schuldig und hatte nie verstanden, warum er das getan hatte. Die Aufstellung – sein Vater, seine Mutter und ein Stellvertreter für ihn – zeigte folgende Bewegung: Unmittelbar nach Beginn sprang sein Vertreter voller Wut den Stellvertreter seines Vaters an und versuchte ihn zu schlagen. Der Mann selbst bekam einen Flashback und sah sich damals in der Küche, wie er auf seinen Vater einschlug. Der Auslöser für seinen Flashback war jedoch der Moment, als er sah, wie die Vertreterin seiner Mutter, die dem Geschehen zusah, anfing zu lächeln. Und genau so hatte es sich damals auch zugetragen. Seine Mutter war damals bei dem Geschehen dabei, sie sah zu und sie lächelte. Hintergrund war, dass der Vater seine Frau ständig betrog, die Geliebte sogar mit ins Haus brachte und die Mutter beide mit Kaffee und Kuchen bedienen musste. Ihre Wut hatte sie unterdrückt, nie gezeigt. Der Sohn hatte unbewusst ihre Wut immer gespürt und wurde in diesem Moment von ihrer nicht ausgedrückten Wut erfasst. Die Mutter hätte gerne ihren Mann zusammengeschlagen, hatte es sich aber nicht getraut.

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Der Stellvertreter kann von Sinneswahrnehmungen erfasst werden In einer Stellvertretung werden Erfahrungen unter Umständen mit den Sinnen exponiert und über die Alltagserfahrung hinausgehend intensiv wahrgenommen. Oft treten verschiedene Sinneswahrnehmungen in einer Aufstellungs­sequenz gleichzeitig auf, so dass sie miteinander verwoben sind. Hier kurze Beispiele, wie die fünf Sinneswahrnehmungen, riechen, tasten, schmecken, hören und sehen, stellvertretend erlebt werden können: ȤȤ Die Qualität eines Geruches kann sich ändern und sich in eine Richtung, z. B. von angenehm bis zu sehr unangenehm, intensivieren. Werden Ereignisse aufgerufen, tritt häufig die dazugehörige Geruchserfahrung auf. In einer Aufstellung, in der es um Kriegserlebnisse geht, kann es z. B. zu Geruchswahrnehmungen von Pulver, Gas, Blut oder Angstschweiß kommen. ȤȤ Die Geschmacksempfindung ist manchmal bei Stellvertretern von an Krebs erkrankten Menschen präsent. Es tritt dann der Geschmack der Chemo­ therapie im Munde des Vertreters auf. Ein unangenehmes Geschmacksempfinden kann sich auch einstellen, wenn der Stellvertreter jemanden vertritt, der vergiftet worden ist. ȤȤ Die Erfahrungen mit dem Tastsinn werden natürlicherweise am intensivsten in Berührungen erfahren. Das Gefühl, bei der stellvertretenden Mutter anzukommen, wird über die Berührung hergestellt. Das Erleben von: »Ich fühle mich gehalten«, ist auch eine Sinneserfahrung des Tastens. Berührend ist in vielen Aufstellungen, in denen es um Abtreibung geht, dass Frauen, vor allem wenn die Abtreibung schon sehr lange vergessen ist, oft den gesamten Körper des Stellvertreters ihres abgetriebenen Kindes abtasten, liebevoll streicheln und das Kind dann wieder zu sich heranziehen, umarmen und halten. Die Hände suchen und tasten nach dem Unbekannten und versuchen durch das Tasten das Verborgene und Unbekannte zu fassen. ȤȤ Viele Vertreter berichten von ungewöhnlichen Geräuschwahrnehmungen. In der Vertretung von Kriegsgeschehnissen werden scheinbar Sirenen, Motorenlärm von Flugzeugen und Panzern gehört. Stimmen, Schreie, Schritte, auch das innere Hören von Worten oder eines Liedes ist nicht ungewöhnlich. Man kann auch stellvertretend schwerhörig werden, oder auch den Impuls bekommen, sich die Ohren zuzuhalten, um etwas nicht zu hören. Hier ein Praxisbeispiel für das innere Hören während einer Aufstellung, um das Phänomen zu veranschaulichen:

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In einer Aufstellung in den USA, die ich leitete, stellte eine Frau jüdischen Glaubens ihre Herkunftsfamilie auf. Ihre Eltern und Großeltern und andere Verwandte wurden in Auschwitz ermordet. Der Vertreter ihres Vaters wurde im Verlauf der Aufstellung plötzlich von einem jüdischen Kinderlied erfasst, das in ihm summte. Das Lied hatte er in Deutschland vor mehr als fünfzig Jahren im Kindergarten gelernt und sich seitdem nicht mehr daran erinnert. Die Frau, die aufstellte, war von dieser Erfahrung sehr berührt. Was sie in der vorausgegangenen Anamnese nicht erwähnt hatte: Bevor ihr Vater nach Auschwitz deportiert wurde, war er Kinderchorleiter und das Kinderlied war eines seiner Lieblingslieder.

ȤȤ Mit den Augen werden Mimik und Verhalten der anderen aufgestellten Stellvertreter erfasst. Der Blick eines Vertreters kann erstarren, ausdruckslos werden, herumirren, schauen, zugewandt sein, Freundlichkeit und Wohlwollen ausdrücken. Der Blick kann fixiert nach oben oder nach unten schauen oder einfach nur auf das sich Zeigende ausgerichtet sein. Stellvertreter schauen in die Ferne oder mit leerem Blick, sie schauen jemanden an, schauen nach unten, neben, vor oder hinter sich oder schauen mit geschlossenen Augen nach innen. Zu dem Sehsinn gehören auch die auftretenden inneren Bilder, bis hin zu vollständigen inneren Bildabfolgen, die ein Ereignis spiegeln. In der Stellvertretung »sieht« man plötzlich ein Schlachtfeld, einen Unfall, einen Mord, Landschaften oder Räume. Und dies auch unvorbereitet, wie das nächste Fallbeispiel aus eigener Erfahrung zeigt. In einem Seminar in Moskau wurden zwei Frauen und ich, ohne eine vorherige Anamnese und ohne eine Benennung der Stellvertretung, aufgestellt. Die beiden Frauen wurden unmittelbar von einer »Verrücktheit« erfasst und rannten ununterbrochen rastlos im Raum herum. Ich selbst stand, nichts fühlend und unberührt einige Minuten herum. Plötzlich öffnete sich innerlich vor meinen Augen ein Fenster. Ich sah nicht mehr den Aufstellungsraum, in dem ich war, sondern Tausende von blutverschmierten Kranken, Gequälten und Toten. Ich brach schlagartig zusammen. Es roch nach Blut und ich hörte Stöhnen und Schreien. Ich begann zu begreifen, dass diese Menschen etwas mit mir zu tun hatten. Sie kamen auf mich zu und wollten mich zu sich ziehen. Ich wollte nur weg. Dann sah ich ganz in der Ferne ein Licht und bekam den Gedanken, dass ich zu dem Licht müsse. Ich begann auf dem Bauch quer durch den Raum zu kriechen, bis ich schließlich gefühlt im Licht ankam. Unterwegs hörte ich all die Stimmen, die meinen Tod wollten, und das Laufen der beiden Frauen. Als ich endlich ankam, spürte ich einen tiefen Frieden und ich ließ los. Beide Frauen hörten im gleichen Moment auf zu laufen. Jetzt war Stille und tiefer Frieden im Saal zu spüren. Die Aufstellung dauerte nicht mal fünfzehn Minuten,

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das »Kriechen« zum Licht ca. zehn Minuten. Nach der Aufstellung erfuhr ich, dass ich den hauptverantwortlichen Leiter der stalinistischen Arbeitslager in Russland vertreten hatte. Dessen Tochter und Enkeltochter sind schizophren geworden und der Ehemann der Enkeltochter brachte nach Absprache mit dem Aufstellungsleiter die Aufstellung verdeckt ein.

Wie in dem Beispiel aufgezeigt können in einer Stellvertretung auch außergewöhnliche Erfahrungen gemacht werden. Die Stellvertreter können von traumatischen bis hin zu transpersonalen Ereignissen erfasst werden. Sie werden dann von ihren stellvertretenden Erfahrungen so überwältigt und so tief bewegt, dass sie manchmal Zeit brauchen, um ihre Erfahrung versprachlichen zu können. Die Erkenntnis, die sich hier aufdrängt, ist: Wird ein Ereignis in einer Aufstellung aufgerufen, möchte es sich genauso in dem Vertreter aufbauen, wie der Mensch, den er vertritt, es damals erlebte. Vertritt ein Stellvertreter beispielsweise eine Person, die eine transpersonale, bewusstseinsübersteigende Erfahrung gemacht hat, wird er dies in der Vertretung ebenso erfahren.

Der Stellvertreter wird von Handlungsabläufen erfasst Wie im obigen Fallbeispiel unter dem Sehsinn in der Auflistung der stellvertretend erlebten Sinneserfahrungen zu erkennen, fügen sich einzelne innere Bilder in vielen Stellvertretungen zu einer Bildabfolge, von der der Vertreter in der Stellvertretung erfasst wird bzw. sich erfassen lassen kann. Es zeigen sich dann Handlungsabläufe und individuelle Geschichten, die auf Ereignissen beruhen, die derjenige erlebt hat, der aufstellt. Deshalb ist eine Aufstellungsbewegung immer individuell und niemals gleich. Hier ein weiteres Beispiel: In einem Seminar sagte eine Frau, die ihr Anliegen zur Aufstellung brachte: »Ich weiß schon, worum es geht. Es geht um mich und meinen Vater.« Aus einem Impuls heraus verzichtete ich auf eine weitere Anamnese und bat sie, einen Vertreter für ihren Vater aufzustellen und dann sich selbst. Sie stellte ihren Vater in die Mitte des Raumes und sich selbst ca. zwei Meter gegenüber auf. Sie schauten sich ca. drei Minuten ohne Worte an und ohne sich zu bewegen. Plötzlich machte der Mann wie in der Tanzstunde einen Diener, sie machte einen Knicks, er nahm sie an die Hände und sie tanzten einen Walzer. Während des Tanzes strahlte sie den Vertreter ihres Vaters unentwegt mit glücklichem Gesicht und laufenden Freudentränen an. Es war eine tiefe, innige Verbindung zwischen den beiden zu spüren und die gesamte Gruppe wurde von dem

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berührenden Geschehen erfasst. Nach zwei Minuten beendeten sie ohne Worte ihren Tanz. Er machte wieder seinen Diener, sie ihren Knicks und sie sagte dann: »Danke, das war es.« Später ließ sie uns daran teilhaben, was wir gesehen und erlebt hatten. Ihr Vater sei gefallen, als sie noch im Mutterleib war. Sie habe sich immer gefragt, ob sie eine Verbindung zu ihrem Vater haben könne, auch wenn sie ihn nie gesehen habe. Ihr Vater sei vor dem Krieg Tanzlehrer gewesen und sie sei es schließlich auch geworden. Und in der Aufstellung habe sie tief erfahren und verstanden, dass sie über den Tanz schon immer mit ihm in Verbindung gewesen war und es immer sein wird.

Bewegung der Seele Erfahrungen wie in der Beschreibung des Fallbeispiels im vorherigen Abschnitt sind nur möglich, wenn das eigene Ich des Stellvertreters nicht im Vordergrund steht und der Vertreter sich komplett seinen Wahrnehmungen überlässt und ihnen folgt. In der Historie der Aufstellungsbewegung werden diese Bewegungen als »Bewegungen der Seele« bezeichnet. Diese Bewegungen entstehen aus sich selbst heraus und führen Bewegungen, die z. B. durch ein Trauma unterbrochen wurden, fort. Meine Erfahrung ist, dass es sich bei den sogenannten Bewegungen der Seele um unterbrochene, gespeicherte Bewegungen handelt, die sich vervollständigen und zu einem Ende gebracht werden möchten. Aber es können sich auch zukünftige Bewegungen zeigen, wenn die Fragestellung der Aufstellung auf noch nicht da gewesene Ereignisse ausgerichtet ist (s. Homberger, 2018).

Hindernisse in der stellvertretenden Wahrnehmung Die Stellvertreter können vom eigenen inneren Erleben, unbewussten Verhaltensmustern sowie auch von eigenen traumatischen Ereignissen erfasst werden. Dies erschwert das Differenzieren zwischen dem eigenen Erleben und einer stellvertretenden Wahrnehmung. Auch Scheinaufträge können Vertreter in die Irre führen. Sie nehmen dann die unbewussten, nicht geäußerten Wünsche der Person wahr, die ein Anliegen zur Aufstellung bringt. Auch sind eigene Vorstellungen bei Stellvertretern über das, was sich in der Aufstellung ereignet, zu beobachten. Vermeintlich erfahrene Stellvertreter wissen dann oft gleich, wo »ein Toter fehlt« bzw. was zu tun und was zu lassen ist. Dabei verlassen sie die zu spürende Erfahrung und begeben sich auf eine kognitive Metaebene. Stell-

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vertreter versuchen manches Mal heimlich oder auch offen ansatzweise selbst die Aufstellung zu leiten. Andere Vertreter werden von Mitleid erfasst und wollen dem Klienten oder auch dem Aufsteller helfen. Erschwerend für eine klare Wahrnehmung dessen, was Stellvertreter in einer Aufstellung erleben, ist zudem eine Vorannahme des Aufstellungsleiters über die aufgestellte Konfliktsituation. Hellinger (2018, S. 204 f.) beschreibt beispielsweise in seiner Autobiografie mögliche systemische Hintergründe von verschiedenen Erkrankungen. Nehmen Aufsteller die angeführten Hintergründe als die zu findenden Ursachen und nicht als eine Möglichkeit, werden sie nicht frei, das wahrzunehmen, was ist. Sie folgen dann in den von ihnen geleiteten Aufstellungen lediglich einem inneren Bild, das vielleicht manches Mal zielführend ist, aber oft die eigentliche Ursache durch die Vorannahme verdeckt. Auch das ausschließliche Verlassen des Aufstellungsleiters auf die Aussagen der Stellvertreter möchte ich als ein Hindernis anführen. Gleicht der Aufsteller die Erfahrungen der Stellvertreter nicht mit seinen eigenen Wahrnehmungen ab, werden im Verlauf der Aufstellung die Stellvertreter den Prozess und das Ergebnis bestimmen. Bei all diesen Hindernissen ist die Unterscheidungskraft der Aufstellungsleitung gefragt.

Bruchstückhafte Bewegungen im Aufstellungsgeschehen In der Stellvertretung versuchen sich die Ereignisse, so wie sie sich damals ereigneten, aufzubauen. Das bedeutet aber auch, dass viele Ereignisse nicht immer deutlich sichtbar werden können oder sich nur als Bruchstücke oder Facetten zeigen, weil sie sich bruchstückhaft ereigneten. Hierzu ein Beispiel, das von einer Mutter-Tochter-Beziehung eine verdichtete, bruchstückhafte Bewegung zeigt. Die Stellvertreterin war nicht informiert und wusste nicht, von was sie erfasst wurde. Lediglich die Person, die die Aufstellung einbrachte, konnte den sich zeigenden Bewegungen einen Sinn zuordnen: Eine Frau hatte Schlafstörungen und wollte ihre verstorbene Mutter aufstellen. Sie hatte die Befürchtung, dass ihre Mutter nicht in Frieden sei. Ich stellte eine Stellvertreterin für ihre Mutter auf. Diese begann unmittelbar mit verdrehten Augen und hektischen Bewegungen zu zittern, dann fiel sie zu Boden. Dort war sie unruhig und stand wieder auf und begann die gleiche Bewegung wie zuvor. Das wiederholte sie vier Mal und blieb dann zitternd mit weit aufgerissenen Augen liegen. Einem Impuls folgend, legte ich eine unbenannte Person neben sie, möglicherweise ihre

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Mutter, ohne weitere Intervention. Die Frau beruhigte sich, kuschelte sich an die hinzugelegte Person und schloss die Augen. Ein tiefer Frieden breitete sich im Raum aus, es war spürbar, dass die Person angekommen war. Die Frau, die die Aufstellung einbrachte, erzählte hinterher, dass ihre Mutter schwere Alkoholikerin und nicht sesshaft gewesen sei. Sie sei unterwegs verstorben und man habe ihren Leichnam viermal umgebettet. Für die Frau war das Verhalten der Vertreterin ein genaues Spiegelbild ihrer Mutter, die anderen Gruppenteilnehmer konnten keine Bedeutung der »seltsamen« Bewegungen erkennen.

Das Erleben von Synchronizität im Aufstellungsgeschehen Es geschieht hin und wieder, dass sich aufgerufene Ereignisse in einer Aufstellung synchron auch in der real erlebten Zeit zeigen. So läuten z. B. Kirchen­ glocken in der Nähe hörbar passend zum Frieden eines Toten in der Aufstellung. Dazu zwei Fallbeispiele: In einem Seminar endete eine Aufstellung so, dass der stellvertretende Großvater den Kopf neigte und mit der Hand hinter dem Ohr friedlich lauschte. Im Seminarhaus erklang im gleichen Moment von einem im Nebengebäude stattfindenden Gottesdienst ein Kirchenlied. Die Frau, die die Aufstellung einbrachte, war sehr berührt. Sie erzählte, sie habe mit ihrem Großvater früher neben einer Kirche gewohnt. Ihr Großvater habe immer während des Gottesdienstes das Küchenfenster geöffnet und mit der obigen Geste den Kirchenliedern gelauscht. In einem anderen Seminar musste ich für die letzten beiden Aufstellungen den Seminarraum wechseln. Der Hausverwalter hatte den Nebenraum an eine Geburtstagsgesellschaft vermietet, so dass ein ruhiges Arbeiten nicht mehr möglich war. Der einzige zur Verfügung stehende Raum war der warme, geflieste Kellergang. In der ersten Aufstellung im Keller ging es um eine verschüttete Großmutter in einem Luftschutzkeller in Berlin im Zweiten Weltkrieg. Bei der zweiten Aufstellung handelte es sich um das Wiedererleben eines Geburtstraumas. In dem Moment, in dem die aufstellende Person im Aufstellungsprozess ihr Trauma überwand und sich wie neugeboren fühlte, begann oben im Saal die Geburtstagsgesellschaft »Happy Birthday« zu singen.

Solche Synchronizität kann man natürlich dem »Zufall« zuordnen. Jedoch haben diese Ereignisse nicht nur eine berührende Komponente im Erleben des Aufstellungsprozesses, sondern verweisen auch auf noch nicht erforschte Phänomene. Es kommt nicht selten vor, dass Teilnehmende von Synchronizität im

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Verhalten berichten. Der Vater, der nach der Aufstellung besucht wird, zeigt das vorher bei ihm nie da gewesene, gleiche Verhalten wie der Stellvertreter es zuvor in der Aufstellung gespürt hatte. Stellvertreter sprechen oft dieselben Sätze aus, manchmal begleitet von den gleichen Gesten der Person, die sie vertreten. Unterbrochene Kontakte zwischen Familienmitgliedern werden manchmal zeitgleich aufgerufen. Eine Frau aus Mexiko meldet sich nach 51 Jahren Kontaktabbruch bei ihrer Schwester in Duisburg. Sie berichtet ihr über die Hintergründe eines Ereignisses in Mexiko, das ihre Enkelin zur gleichen Zeit in Berlin zur Aufstellung brachte.

Stellvertretung und der Rückkopplungseffekt Stellvertretungen lösen auch einen Rückkopplungseffekt aus. Werden übernommene Symptome, die für eine andere Person getragen wurden, in einer Aufstellung »zurückgegeben«, kann es passieren, dass die Person, der die Symptome ursprünglich gehörten, beginnt, ihre Symptome wieder selbst zu spüren. Hierzu ebenfalls ein Fallbeispiel: Eine Teilnehmerin stellt ihre chronische Blasenentzündung auf. In der Aufstellung zeigt sich eine tiefe Verbindung und Übernahme der Blasenentzündung für die noch lebende Großmutter. Kurze Zeit nach der Aufstellung erzählt ihr die Großmutter, dass sie plötzlich eine Blasenentzündung bekommen habe. Für sie sei das ein sehr unangenehmes Gefühl, denn sie habe das letzte Mal solch eine Entzündung nach einer Vergewaltigung im Krieg durch russische Soldaten gehabt. Dies war das erste Mal, dass sie über ihre Vergewaltigung gesprochen hat.

Schlussbemerkung Um das Phänomen der stellvertretenden Wahrnehmung in seiner aufgezeigten Bandbreite zu erklären, bedarf es aus meiner Sicht eine wissenschaftliche Erforschung. Sowohl die quantenphysikalischen Phänomene, wie die Zeit- und Raumverschränkung, als auch die epigenetischen Phänomene, die sich in einer Aufstellung zeigen, verdienen mehr Beachtung. Darüber hinaus ist die Beteiligung des menschlichen Bewusstseins oder das Bewusstsein als Ganzes in der Wirkungsweise in Aufstellungen ein durchaus lohnenswerter Fokus für Forschungsvorhaben. Hierzu meine persönliche und verdichtete Sicht auf die stellvertretende Wahrnehmung im Rahmen einer Aufstellung:

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Das Aufstellungsgeschehen spiegelt gespeichertes menschliches Bewusstsein sowie Bewusstsein in allen Formen in ein stellvertretendes, personales Gegenüber. Es ist eine Resonanzerfahrung, die Zeit- und Raumerleben aufhebt und sich in der Stille differenziert. In der Tiefe sind Aufstellungen daher Meditationen mit therapeutischen und anderen Nebenwirkungen.

Literatur Hellinger, B. (2018). Mein Leben. Mein Werk. München: Ariston. Homberger, H. (2018). Wahrnehmen und Empfinden von Zeit in der Aufstellungsarbeit. In P. Bourquin, K. Nazarkiewicz (Hrsg.), Einflüsse der Welt. Individuelles Schicksal im kollektiven Kontext. Praxis der Systemaufstellung (S. 147–161). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Homberger, H. (2019). Berührt im Sein – die spirituelle Dimension in der systemischen Aufstellungsarbeit. Kontemplation und Mystik, 2019 (1), 11. Reumschüssel, A. (2018). Das Erbe in unseren Genen. National Geographic, 2018 (5), 51–53. Schlötter, P. (2016). Vertraute Sprache und ihre Entdeckung. Systemaufstellungen sind keine Zufallsprodukte – der empirische Nachweis. Heidelberg: Carl-Auer. Schulz, M. (2018). Was ich spüre. Wahrnehmungsoptionen eines Blinden in der systemischen Aufstellungsarbeit. Vortrag Symposium Psychotherapie. Benediktushof/Holzkirchen.

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Die körperliche Empathie räumlichen Sinns Skizze einer Theorie der repräsentierenden Wahrnehmung »Der Körper löst das Problem der Nichtkörperlichkeit von Sinnsystemen.« Peter Fuchs (2015, S. 59).

Ausgangspunkt Systemische Aufstellungen machen Sinn und dies mindestens in zweifacher Hinsicht: Zum einen zeigt die wachsende Verbreitung dieser Handlungs- und inzwischen auch wissenschaftlichen Forschungsmethode (Müller-Christ u. Pijetlovic, 2018), dass Aufstellungen für Praxisveränderungen und Erkenntnisprozesse genutzt werden können. Daher erscheint es äußerst brauchbar und angemessen, mit Aufstellungen in psycho- und sozialprofessionellen sowie zunehmend auch akademischen Kontexten zu arbeiten. Zum anderen vollziehen sich Aufstellungen in den miteinander verbundenen Medien des Raums, der Empathie und des Sinns. Als Medien definiere ich Mittel, die etwas, was zunächst als unwahrscheinlich gelten kann, wahrscheinlicher machen, die Bedeutungen transportieren (befördern) und transformieren (wandeln) können. Bezüglich von Aufstellungen geht es dabei um das Phänomen der repräsentierenden Wahrnehmung (z. B. Varga von Kibéd u. Sparrer, 2014, S. 242 f.), also darum, dass wir durch Aufstellungen etwas erfahren und artikulieren, was von den Klientinnen und Klienten regelmäßig als passend zu ihren Erlebnissen, Gefühlen, Denk- und Handlungsweisen empfunden wird. Und selbst dann, wenn wir keine inhalt­lichen Details von den Klienten-Anliegen kennen, wenn also verdeckt gearbeitet wird, stellt sich die repräsentierende Wahrnehmung ein. Eine zentrale Frage, die sich hinsichtlich dieser Wahrnehmungsform stellt, ist, wie sie überhaupt zustande kommen kann. Auf diese Frage soll hier eine Antwort skizziert werden. Die These ist, dass die repräsentierende Wahrnehmung durch eine Verbindung von Raumsprache, Empathie und Sinnkonstruktion realisiert wird, und zwar als kognitive Informationserzeugung, emotionales Empfinden und aktionale Handlungs- bzw. Bewegungsimpulse. Mit, in und durch

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Aufstellungen wird es möglich, räumliche Positionen von Elementen, welcher körperlichen, psychischen oder sozialen Systeme auch immer, so zu erfahren, zu beschreiben und zu modellieren, dass dadurch sinnhafte Bedeutungen entstehen, die zur erlebten Realität von Klientinnen und Klienten passen. Um das Rätsel der repräsentierenden Wahrnehmung zumindest ansatzweise zu lüften, werden zunächst drei Beispiele dafür vorgestellt. Sodann wird die Struktur und der Prozess von Aufstellungen knapp skizziert, bevor die drei Medien beschrieben und erklärt werden, die in ihrer Kombination als Basis für die repräsentierende Wahrnehmung gelten können, die Medien des Raumes, der Empathie und des Sinns. Den Abschluss des Beitrags bildet ein Resümee.

Repräsentierende Wahrnehmung Drei Beispiele aus meiner Aufstellungspraxis, die auf der Basis der Formate Tetralemma (Beispiel 1), Lösungsaufstellung (Beispiel 2) und Glaubenspolaritätenaufstellung (Beispiel 3) der systemischen Strukturaufstellungen (SySt) nach Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer (2014) durchgeführt wurden, sollen das Phänomen der repräsentierenden Wahrnehmung veranschaulichen. Beispiel 1: In einer verdeckten Aufstellung reflektiert eine Teilnehmerin eine berufliche Entscheidungssituation. Dazu nutzt sie das Tetralemma-Format. Sie stellt also Repräsentanten auf, und zwar für das Eine (die eine Entscheidungsoption), für das Andere (die andere Entscheidungsoption), für Beides (bisher übersehene Möglichkeiten, die beiden verschiedenen Optionen zu vereinen), für Keines von Beiden (bisher übersehene Kontexte, die die Entscheidungssituation zwischen dem einen und dem anderen rahmen und bedingen), für ihren Fokus (die Repräsentantin für die Perspektive der Teilnehmerin) und für all dies nicht – und selbst das nicht (ganz andere, aber relevante, vielleicht überraschende, übersehene Bedingungen der Entscheidungssituation). Während der Aufstellung klagt die Repräsentantin, die für Keines von Beiden steht, über starke Schmerzen in der Nierenregion; sie formuliert, dass diese Schmerzen sich wie ein Geschwür, das auf die Nieren drückt, anfühlen. Im Laufe der Aufstellung, insbesondere als sich eine Entscheidungsalternative als für den aufgestellten Fokus passender als die andere Alternative zeigt, werden die Schmerzen geringer und verschwinden am Ende ganz. Emotional sehr gerührt, mit Tränen in den Augen verfolgt die Teilnehmerin den Prozess. Nach der Aufstellung möchte sie die Gruppe an den Details ihrer Geschichte teilhaben lassen: Sie berichtet, dass sie jetzt eine Entscheidung treffen könne, eine Entscheidung, von der sie sagt, dass sie für ihre Niere wahrscheinlich gesünder sei als die andere

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Option. Denn als Kind wurde ihr eine Niere entfernt; und die Ärzte signalisierten den Eltern, dass auch die andere Niere gefährdet sei. Beispiel 2: Hier geht es um eine verdeckte Lösungsaufstellung, die sich vordergründig einem Supervisionsanliegen einer Teilnehmerin widmet, die anhaltende Konflikte mit einem Kollegen reflektieren möchte. Dazu benennt sie ihr Ziel, beantwortet die klassische Wunderfrage nach einer vollendeten lösungs- sowie ressourcenreichen Zukunft und artikuliert eigene Stärken, die sie bereits nutzen konnte, um zumindest manchmal die Konfliktsituation zu entspannen. Während der Aufstellung berichtet der Fokus von einer Schwere und Traurigkeit, die sich eingestellt habe. Zudem stehen die aufgestellten Repräsentanten so, dass sie aus der Perspektive der Teilnehmerin, die auf die Aufstellung blickt, ein Kreuz bilden. Weiterhin artikuliert eine Repräsentantin die Tendenz, dass sie auf den Boden schauen muss und sich am liebsten dort hinlegen würde. Sichtlich emotional bewegt von diesen Aussagen fängt die Teilnehmerin an zu weinen und berichtet vom frühen Tod eines ihrer Kinder und dass es für sie nichts Schlimmeres in ihrem Leben mehr geben könne als das, was sie durch diesen Tod bereits erfahren habe. Ihr Ausgangsproblem, der Konflikt mit dem Kollegen, sei dagegen nichtig, sie könne dem nun ganz gelassen entgegengehen. Die Aufstellung wird beendet. Beispiel 3: Eine Teilnehmerin einer Ausbildungsgruppe zur Aufstellungsarbeit möchte einen Glaubenssatz (»Am Ende bin ich immer allein.«), der sie im privaten wie im beruflichen Leben immer wieder dabei begrenze, ihre Potenziale und ihr Vertrauen in sozialen Beziehungen zu entfalten, durch eine Glaubenspolaritäten-­ Aufstellung verändern. In einer solchen Aufstellung werden drei idealtypische Pole aufgestellt, die unser menschliches, individuelles wie soziales Leben prägen und bestenfalls kraftvoll anreichern: der Pol der Kognition, des Wissens, der Erkenntnis (»Kopf«), der Pol des Gefühls, des Vertrauens, der Liebe (»Herz«) und der Pol der Handlung, der Ordnung, des Ergebnisses (»Hand«). Zudem wird eine Repräsentantin für den Fokus und ein Element als Wandel, Transformation oder Bewegung in die Aufstellung geführt. In der Aufstellung vollzieht sich nun ein Wandel des Glaubenssatzes, bis schließlich vom Fokus ein Satz artikuliert und aus allen anderen Perspektiven als passend empfunden wird: »Ich bin da und vertraue.« Der Prozess, der zu diesem Satz geführt hat, ging mit einer Phase einher, bei der insbesondere der Pol des Herzens (Gefühl, Vertrauen, Liebe) über Schwere und Todesangst berichtete. Durch verschiedene Interventionen, in denen die Schwere und Todesangst vom Fokus mit Blick auf den Pol des Herzens anerkannt wurden und als vergangene Gefühle von der Gegenwart differenziert werden konnten, etablierte sich ein neuer Zustand, der beim Fokus die Bildung des neuen Satzes herausforderte. Dieser Satz wurde in einem Übergaberitual der Teilnehmerin vom Fokus überreicht. Die Teilnehmerin berichtete nach der Aufstellung davon, dass sie sehr früh im Vorschul-

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alter ihre Eltern bei einem Autounfall verloren habe und dass das Gefühl, geliebte Menschen zu verlieren und am Ende immer allein zu sein, prägend für sie gewesen sei. Während der Aufstellung und mit dem neuen Satz sei ihr klar geworden, dass sie die Vergangenheit abschließen könne und dass sie voll im Leben stehe, gestützt von geliebten Menschen, die ihr vertrauen würden und denen sie vertraue.

Struktur und Prozess des Aufstellens Inzwischen gibt es zahlreiche Varianten des systemischen Aufstellens (etwa Stadler u. Kress, im Druck). Kern all dieser Verfahren ist die räumliche Repräsentation von Elementen, die zuvor als relevant bestimmt wurden und die durch das Aufstellen hinsichtlich ihrer Beziehungen betrachtet werden. Dabei kann es sich in klassischer Weise um die Repräsentation von Familien-, Team- oder Organisationsmitgliedern durch Personen einer Aufstellungsgruppe handeln, die die repräsentierten Personen in der Regel nicht kennen und nichts über sie wissen. Es lässt sich aus der Erfahrung sogar behaupten: Je mehr die Repräsentanten über die von ihnen repräsentierten Personen wissen, umso größer ist die Gefahr, dass die Rolle des repräsentierenden Elements lediglich »gespielt« wird. Aber Aufstellungen sind keine Rollenspiele. Das unterscheidet dieses Konzept etwa vom Psychodrama oder der Skulptur-Arbeit. Wichtig ist, dass die Repräsentanten sich achtsam all ihren bio-psycho-sozialen Wahrnehmungen öffnen, dass sie versuchen, all das zu artikulieren, was in der Repräsentanz im jeweiligen Augenblick, also im Hier und Jetzt an Wahrnehmungen kognitiv, emotional und aktional spürbar ist. Die Vielfalt und Reichhaltigkeit der Wahrnehmungen, die durch die miteinander in Beziehung stehenden Repräsentanten empfunden und artikuliert werden, sind ein zentraler Ankerpunkt für die Sinnbildung in, durch und mit Aufstellungen. Nachdem diese Wahrnehmungen von allen Repräsentanten mitgeteilt bzw. – im Einzelsetting – die Unterschiede bezüglich der Relationen der Gegenstände bzw. die Gefühle auf den Bodenankern festgestellt wurden, erfolgt die Frage an die Klientin bzw. den Klienten, ob die artikulierten Wahrnehmungen den relevanten Erfahrungen entsprechen, ob wir uns im »passenden Film« befinden. In den meisten Aufstellungen, die ich seit ca. zwanzig Jahren durchführe, wurde diese Frage in der Regel bejaht. Sollte sie verneint werden, so können die Positionen von der Klientin bzw. vom Klienten jeweils verändert werden, um zu überprüfen, ob die wahrgenommenen Unterschiede im Fühlen, Denken und hinsichtlich von Handlungsimpulsen aus der Sicht der Klientin bzw. des Klienten stimmiger werden.

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Inzwischen hat sich herausgestellt, dass die Passung von Bildern und Wahrnehmungen bzw. deren Stimmigkeit mit der Klienten-Perspektive nicht davon abhängt, dass die Klientinnen und Klienten die Aufstellung selbst aufbauen. Auch wenn sich, insbesondere in verdeckten Aufstellungen, die Elemente frei positionieren, entstehen Bilder und werden Wahrnehmungen artikuliert, die regelmäßig aus der Klienten-Perspektive als passend bewertet werden. Ausgehend von dem als stimmig eingeschätzten Ausgangsbild wird mit der Aufstellung so weitergearbeitet, dass Interventionen erfolgen, die in der Regel zwei Bewegungen vollziehen, und zwar zum einen das Einbeziehen von bisher nicht oder zu wenig beachteten Elementen und zum anderen das Trennen des Vermischten, etwa von überlagerten, verstellten oder anderweitig verbundenen, aber passenderweise zu differenzierenden Aspekten innerhalb der Aufstellung (ausführlich Varga von Kibéd u. Sparrer, 2014, dazu auch Kleve, 2011). In wissenschaftlichen Erkundungs- oder Forschungsaufstellungen, in denen es darum geht, systemische Relationen zu eruieren oder Prozesse zu simulieren, um neue Erkenntnisse über Zusammenhänge zu entwickeln, wird auf das Intervenieren verzichtet (Müller-Christ u. Pijetlovic, 2018). Hier geht es um die Beobachtung von systemischen Dynamiken sowie darum, Unterschiede festzustellen, wenn etwa Kontextveränderungen durch das Hineinstellen oder Herausnehmen von Elementen erfolgen. Aufstellungen können so dazu dienen, qualitative Daten zu erheben, um spezielle Forschungsfragestellungen zu verfolgen oder um neues Wissen zu generieren. Entscheidend für alle Aufstellungsvarianten, sowohl für das interventions- als auch für das erkenntnisorientierte Aufstellen, ist das Wahrnehmen des Körpers im Raum.

Raum der Aufstellung Dass Aufstellungen sich auf eine sogenannte Raumsprache beziehen, durch die räumliche Positionen von aufgestellten Systemelementen und die Relationen zwischen diesen mit nicht beliebigen Bedeutungen aufgeladen werden, ist die zentrale Erkenntnis der empirischen Forschungsarbeit von Peter Schlötter (2005). Die Erkenntnis der Raumsprache ist durch zahlreiche Versuche Schlötters erhärtet worden. Einer dieser Versuche bezieht sich auf einen Aufstellungsprozess, den Schlötter im Kontext einer Nachfolge-Beratung durchgeführt hat. Das Fallbeispiel beschreibt diesen Aufstellungsprozess. In einem Familienunternehmen coachte Peter Schlötter den familiären Nachfolger für die operative Geschäftsführung. Dabei arbeitete er u. a. mit Aufstellungen.

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In einer Aufstellung ging es um den Platz des Nachfolgers im Führungsgremium, d. h. um seine räumlich visualisierte Position in Relation zu den anderen relevanten Personen in diesem Gremium im Zuge des Nachfolgeprozesses. In der Aufstellung wurde ein aus der Perspektive des Juniors sowie aus den Perspektiven der anderen Repräsentanten passender Platz gefunden. Schlötter protokollierte diese Aufstellung und vermaß zudem die gefundenen Plätze in geometrischer Weise. Danach modellierte er diese Aufstellung mit sogenannten stummen Vertretern; das sind personengroße Figuren, mit denen er unterschiedliche Formen von Aufstellungen nachbaute und mit anderen Personen erneut durchwanderte. In einer Versuchsanordnung stellte er das beschriebene Führungsgremium des Familienunternehmens im Nachfolgeprozess auf, nahm jedoch den stummen Vertreter für den Nachfolger aus der Aufstellung heraus. Dann führte er siebzig unterschiedliche Personen in die Aufstellung hinein und ließ diese – getrennt und unabhängig voneinander – einen passenden Platz für sich suchen, ausgehend von der Bitte, dass sie den Nachfolger in dem besagten Familienunternehmen repräsentieren sollen. Das Erstaunliche an diesem Versuch war, dass ca. 74 Prozent aller Versuchspersonen einen Platz in der Rolle als Nachfolger einnahmen, der in dem räumlichen Bereich lag, in dem der reale Nachfolger seinen passenden Platz gefunden hatte. Und dies gelang, ohne dass die Personen Details von dem Unternehmen wussten. Ihnen war lediglich bekannt, dass es um einen Nachfolgeprozess geht, in dem sie nun im Kontext der Führung ihre räumliche Position als Nachfolger zu finden hatten.

Was uns das Fallbeispiel exemplarisch zeigt, ist, dass Repräsentanten in Aufstellungen über ihre räumlichen Positionen und Bewegungen Bedeutungen erschließen können. Für einen Nachfolger macht es also einen bedeutsamen Unterschied, wo im Raum er in Relation zu den anderen Beteiligten steht. Und diese Unterschiede lassen sich anhand des Maßstabs, dass es um eine passende, gelingende oder kraftvolle Nachfolge geht, als »besser« oder »schlechter« passend bewerten. Insofern können wir hier davon sprechen, dass räumliche Positionen hinsichtlich ihrer entsprechenden Bedeutungen von unterschiedlichen Positionen und unabhängig voneinander in ähnlicher Weise verstanden werden. Der Raum als eine Kategorie unseres Beobachtens, d. h. unseres Denkens, Fühlens und Handelns, bietet damit einen Kontext, in dem sich systemische Prozesse ereignen können. Aufstellungen nehmen, wie Schlötter (2005) zeigt, auf eine Raumsprache Bezug, die es uns ermöglicht, körperliche Positionen mit spezifischen Bedeutungen zu versehen bzw. die Bedeutungen zu erschließen, die körperlichen Positionen im Raum zukommen. Allein die körper­liche Positionie-

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rung im Raum und die damit verbundenen Empfindungen und Wahrnehmungen reichen dafür aus. Die Raumsprache können wir mit kleinen, auch gedanklichen Experimenten erfahrbar machen, z. B. Ziele und Ressourcen betreffend (Kleve, 2018a): ȤȤ Ein Ziel im Raum: Stellen Sie sich ein Ziel vor, das Sie erreichen wollen. Es kann sich um ein persönliches oder berufliches Ziel handeln oder um die Lösung eines Problems, die Sie als Ziel erreichen möchten. Weiterhin stellen Sie sich vor, dass Sie sowohl sich selbst als auch das Ziel durch Personen im Raum aufstellen können. Die beiden Personen, wovon eine Sie selbst und die andere das Ziel repräsentiert, können Sie hinsichtlich ihrer Entfernungen voneinander und bezüglich ihrer Winkel zueinander positionieren. Wie stellen Sie diese Personen auf? Welchen Platz geben Sie Ihrem Ziel, welchen sich selbst? Die empirische Erfahrung in Aufstellungsprozessen zeigt regelmäßig, dass Klientinnen und Klienten, für die ihr Ziel präsent und klar ist, den Repräsentanten für sich und den Repräsentanten für das Ziel einander gegenüberstellen, so dass beide sich direkt anschauen können. Die Entfernung der Körper im Raum könnte zudem als der empfundene gegenwärtige, vielleicht auch zeitliche Abstand von der Zielerreichung interpretiert werden. ȤȤ Ressourcen im Raum: Eine Zielaufstellung könnte um die Frage ergänzt werden, welche weiteren Elemente integriert werden sollten, um den Abstand zu verringern. In der Regel können wir solche Elemente als Ressourcen bezeichnen, womit ein weiteres gedankliches Experiment möglich wird, um die räumliche Bedeutungskreation nachzuvollziehen. Stellen Sie sich vor, dass Sie außer Ihrem Ziel auch eigene Ressourcen als Personen in den Raum stellen können. Solche Ressourcen können persönliche Aspekte sein, z. B. Erfahrungen, Verhaltensweisen, Stärken etc., oder auch äußere Bedingungen, z. B. Unterstützungen durch andere Personen, materielle Dinge etc. Wo würden Sie diese Ressourcen bezüglich Ihres eigenen Repräsentanten positionieren, wenn die Ressourcen Ihnen Unterstützung, Kraft, Energie etc. für die Zielerreichung geben sollen? Die empirische Erfahrung zeigt, dass Ressourcen zumeist im Rücken oder an der Seite des Repräsentanten als unterstützend empfunden werden, für den sie als Kraftquellen einbezogen werden sollen. Die in diesem Absatz aufgeführten Versuche können verdeutlichen, was unter der Raumsprache zu verstehen ist, nämlich die Verknüpfung der räumlichen Ausrichtung von Körpern mit bestimmten Bedeutungen, etwa als Ziel oder als Ressource. Im Prozess des Aufstellens wird mit diesen erfahrbaren Bedeutun-

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gen von körperlichen Raumpositionen systematisch gearbeitet. Unwesentlich dabei ist, um welche konkreten Ziele es sich dabei jeweils handelt oder welche Ressourcen jeweils gemeint sind.

Empathie der Aufstellung Neben der räumlichen Bedeutungskonstruktion gelingen Aufstellungen durch die Hinzuziehung eines weiteren Mediums, nämlich aufgrund der menschlichen Fähigkeit der Empathie. Empathie, verstanden als »Einfühlung oder das In-die-Haut-des-anderen-Schlüpfen« (Breithaupt, 2009, S. 8), wird in Aufstellungen im Kontext des Raumes durch die Repräsentanten realisiert. Diese schlüpfen in die Perspektive sowohl des Klienten bzw. der Klientin als auch in die Rolle von anderen Elementen, die in der Aufstellung repräsentiert werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob die repräsentierten Systemelemente Menschen, soziale Systeme (etwa Organisationen, Abteilungen, Teams) oder abstrakte Aspekte (etwa Entscheidungsoptionen, Ziele, Ressourcen, Optionen) sind. In allen Fällen nutzen die Repräsentanten ihre Empathie. Dabei unterstellen sie Ähnlichkeiten, um wahrzunehmen, welche Unterschiede sich in den repräsentierten Systemelementen während der Aufstellung zeigen. Diese Unterschiede lassen sich sodann als Verbesserungen, Verschlechterungen oder als neutral hinsichtlich der jeweils eigenen Position und dieser Position in Relation zu den Positionen der anderen aufgestellten Systemelemente bewerten. Empathie ist ein Phänomen, das in den Kognitionswissenschaften intensiv beforscht wird (zum Überblick s. Iacoboni, 2008) und insbesondere mit den sogenannten Spiegelneuronen in Verbindung gebracht wird (ausführlich auch Breithaupt, 2009, S. 36 ff.). Demnach spiegeln sich unsere Hirnaktivitäten allein durch die gemeinsame Beobachtung von Ereignissen: Wenn beispielsweise eine Person durch einen äußeren Einfluss Schmerz erfährt, werden bestimmte Hirnreale, die die Schmerzempfindung realisieren, aktiviert. Bei den Beobachtern dieses Ereignisses, so konnte über bildgebende Verfahren nachgewiesen werden, zeigen sich in abgeschwächter Form ebenfalls Aktivitäten in den Hirnarealen, die die Schmerzempfindung vollziehen. Es kommt zu Spiegelungseffekten. Diese Spiegelungseffekte simulieren eine Realität im Hirn der Beobachter, die der Erfahrung etwa jener Person entspricht, welche einen Schmerz durch den äußeren Reiz erfahren hat. Auch Phänomene der emotionalen Ansteckung (S. 30 ff.) können in diesem Zusammenhang interpretiert werden, etwa wenn eine Person gähnt und die Beobachter dieses Gähnens ebenfalls zu gähnen anfangen.

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Empathie hat des Weiteren damit zu tun, dass alle unsere Sinne, d. h. jeweils unsere visuellen, auditiven, kinästhetischen, olfaktorischen und gustatorischen Wahrnehmungskanäle, der Umwelt gegenüber offen sind und Reize aufnehmen. Allerdings wird lediglich ein Bruchteil dieser Reize bewusst, d. h. in unserem Bewusstsein sinnhaft verarbeitet und bedeutungsgebend registriert. Der Hauptstrom dieser Reize wird zwar körperlich aufgenommen, aber nicht der bewussten Wahrnehmung zugeführt. In Aufstellungen jedoch werden die Repräsentanten oder auch die Klientinnen bzw. Klienten in der Einzelarbeit mit Bodenankern oder Gegenständen dazu eingeladen, sich tendenziell für alle sinnlichen Unterschiede zu öffnen, achtsam zu beobachten, wie sich während des Aufstellungsprozesses kognitive, emotionale und aktionale Veränderungen zeigen. Diese Veränderungen sollen bewusst registriert, in ihrem Entstehen und Vergehen sensibel beobachtet und sodann auch ausgesprochen und der Kommunikation zur Verfügung gestellt werden. Je besser, reichhaltiger und differenzierter dies gelingt, desto größer ist der Möglichkeitsraum an artikulierten Aspekten, den die Klientinnen und Klienten nutzen können, um daraus ihren Sinn zu konstruieren.

Sinn der Aufstellung Erst die auf Empathie basierende Artikulation der Wahrnehmungen in der Aufstellung, kombiniert mit der dabei gezeigten Gestik und Mimik führen in die systemische Dynamik von Aufstellungen und sind die Voraussetzung dafür, dass die die Aufstellung beobachtenden Klientinnen und Klienten den systemischen Prozess in einer für sich passenden Weise mit Sinn auffüllen, ihn also ihrer Bedeutung zuführen. Damit wird die Sinnkonstruktion der Aufstellung erst ermöglicht, und zwar durch die Beobachtung und Bestätigung der geäußerten Wahrnehmungen und nonverbalen Mitteilungen im Raum der aufgestellten Repräsentanten durch die Klientin bzw. den Klienten. Erst diese Passung eröffnet den weiteren Sinnraum für die Fortsetzung der Aufstellung mit allen ihren vielfältigen Interventionsmöglichkeiten (etwa Sparrer, 2004, 2006, 2007; Wresnik, 2006). Sobald der Klient bzw. die Klientin die Passung der Äußerungen der Repräsentanten benennt (»passender Film«), wird deren sinnhaftes Erleben gestärkt und in rekursiven Prozessen des gegenseitigen Beobachtens des Beobachtens der anderen (d. h. der Repräsentanten, des Klienten, der Klientin und der Aufstellungsmoderation) so modelliert, dass psycho-soziale Sinnstrukturen entstehen, die temporäre Identitäten und deren gegenseitige Kontrolle erlauben (Baecker,

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2007; Kleve, 2018b). Diese Sinnstrukturen zeigen sich als nicht zufällig und auf den unterschiedlichen Strukturebenen, etwa auf den Ebenen psychischer und sozialer Dynamiken als ähnlich. Mit der soziologischen Systemtheorie können wir sagen, dass psychische und soziale Systeme im Medium des Sinns operieren (vgl. Luhmann, 1984). Sinn ist der Kontext, der unsere Gedanken und Kommunikationen einbettet, der das, was wir kognitiv denken, emotional erfahren oder kommunikativ sagen bzw. an Handlungen zeigen, erst verständlich macht. Dieses Verständnis ist jedoch offen: Es kann sich so vollziehen, wie es sich je aktuell, und zwar psychisch (im Denken), körperlich (im Fühlen) und sozial (in der Kommunikation) gerade zeigt; es könnte aber auch anders sein. Diese Unterscheidung von Aktualität und Möglichkeit bzw. die Verbindung von Realität (»etwas ist, wie es ist«) und Alternativität (»es könnte auch anders sein«) kennzeichnet das Sinn-Medium. Während Luhmann (1984) Sinn als das zentrale Mittel, als Medium, definiert, das psychische und soziale Systeme strukturiert, geht Peter Fuchs (2015) noch einen Schritt weiter, wenn er eines seiner Werke zur Weiterentwicklung der Systemtheorie »DAS Sinnsystem« nennt. Dieses System bildet den Rahmen von psychischen und sozialen Prozessen, die sich in ihm als Subsysteme der (psychischen) Gedanken und (sozialen) Kommunikationen ausdifferenzieren. Die Gedanken als Operationen der Psyche und die Kommunikationen als Operationen des Sozialsystems werden umfasst vom Sinnsystem. Genau in diesem Sinnsystem realisieren sich systemische Aufstellungen. Diese simulieren damit Sinnbildung schlechthin, und zwar in Form von räumlichen Relationen zwischen Elementen, die nicht-beliebige, aber kontingente, d. h. auch anders mögliche Sinnkonstruktion ermöglichen. Diese Sinnbildungen sind körper- und raumbezogen, was auch Fuchs zum Ausdruck bringt. So ist es erstaunlich, wie er äußerst klar und eindeutig Sinnbildung schlechthin beschreibt und damit ungewollt auch das präzisiert, was wir in Aufstellungen regelmäßig erfahren können: »Es ist der lebende und wahrnehmungsfähige Körper, der Verräumlichung betreibt, oder besser: der alle Sinngewirke versorgt mit jenen ›Abständigkeiten‹, ohne die es kein Differenzieren, kein Unterscheiden gäbe und auch nicht: die psychische Phänomenalisierung von Sinn. Der Körper bietet, wenn man so will, einen multimodalen sensomotorischen Komplex an, der exterozeptive, interozeptive, haptische, viszerozeptive, propriozeptive Wahrnehmungen zusammenstellt und damit Welt projiziert, in der der Projektor enthalten ist« (S. 57).

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Um Sinnbildung zu realisieren, mit der Metapher von Fuchs gesprochen: um Welt zu projizieren, arbeiten Aufstellungen in der beschriebenen Weise: Sie bieten das räumliche Medium, in dem Relationen zwischen Elementen relationiert werden, und zwar durch die beiden Variablen der Entfernung (Nähe/Distanz – »Abständigkeit«) der räumlich repräsentierten Elemente voneinander und der Ausrichtung bzw. dem Stellungswinkel dieser zueinander. Erst so werden die emphatischen Wahrnehmungen von körperlichen Unterschieden möglich, die mit Relationsveränderungen in der Aufstellung korrelieren und Voraussetzung für die Sinnkonstruktion sind.

Resümee Systemische Aufstellungen gründen auf dem Phänomen der repräsentierenden Wahrnehmung. Diese erstaunliche Fähigkeit von Menschen fußt auf drei miteinander verbundenen Medien, den Medien des Raums, der Empathie und des Sinns. Damit realisieren systemische Aufstellungen Bedeutungskreationen im Raum, die sich einfühlend, also empathisch erfahren lassen und damit eine gegenwärtige Situation eines Menschen in ihren systemischen Kontexten nicht nur versinnbildlichen, sondern auch kognitiv, emotional und aktional erlebbar machen. Wenn wir verstehen wollen, wie repräsentierende Wahrnehmungen möglich sind, dann müssen wir nicht in die weite Welt spiritueller Erklärungen ausweichen, sondern können uns auf raum-, sinn- und empathietheoretische Erkenntnisse stützen. Demnach ist das, was wir Menschen in unserer Welt erfahren, immer schon raum- und sinnbasiert und kann empathisch von unseren Mitmenschen nachempfunden werden. Dieses Nachempfinden ist jedoch nicht auf inhaltliche Aspekte erlebter Geschichten angewiesen, sondern es entsteht bereits, wenn wir einen systemischen Kontext simulieren, also Relationen von Elementen aufstellen, die der Struktur unserer Geschichten entsprechen. Genau in dieser Weise entstehen Unterschiedswahrnehmungen bezüglich der visuellen, auditiven, kinästhetischen, olfaktorischen und gustatorischen Sinneskanäle der Repräsentanten. Diese werden sensibel registriert, gezeigt und artikuliert. Damit bieten sie die Basis, um bei den Beobachtern der Aufstellung, insbesondere bei den Klientinnen und Klienten das bestätigende Erstaunen über die repräsentierende Wahrnehmung hervorzurufen: »Ja, das ist mein Film!«

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Heiko Kleve

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Die leere Mitte

III Phänomenologie

Olivier Netter

Angewandte Phänomenologie in der Aufstellungsarbeit »Der Essay aber läßt sich sein Ressort nicht vorschreiben. Anstatt wissenschaftlich etwas zu leisten oder künstlerisch etwas zu schaffen, spiegelt noch seine Anstrengung die Muße des Kindlichen wider, der ohne Skrupel sich entflammt an dem, was andere schon getan haben. Er reflektiert das Geliebte und Gehaßte, anstatt den Geist nach dem Modell unbegrenzter Arbeitsmoral als Schöpfung aus dem Nichts vorzustellen. Glück und Spiel sind ihm wesentlich. Er fängt nicht mit Adam und Eva an sondern mit dem, worüber er reden will; er sagt, was ihm daran aufgeht, bricht ab, wo er selber am Ende sich fühlt und nicht dort, wo kein Rest mehr bliebe: so rangiert er unter den Allotria.« Theodor W. Adorno, (2003, S. 10) »Belehrung findet man öfter in der Welt als Trost.« G. Ch. Lichtenberg (1778)

Einleitende Worte Welche Vielfalt hinter dem Begriff »Phänomenologie« steckt, ist den meisten, die diese in allererster Linie nicht als eine philosophische Richtung ansehen, sondern als praktische Methode oder spirituelle Praxis, oft nicht bewusst. Fast jeder hat seine eigene Vorstellung darüber entwickelt, was Phänomenologie ist, und arbeitet damit. Im Feld der Aufstellungen sind es vor allem jene Aufsteller, die sich in der einen oder anderen Weise mit der frühen Arbeit von Bert Hellinger verbunden fühlen, die sich selbst als phänomenologisch arbeitend bezeichnen. Hier stehen die besondere Offenheit der inneren Haltung für alles, was sich zeigen möchte, und der Weg dorthin, im Zentrum. Dazu gehören auch in besonderer Weise eine Weite der Bezüge und Sinnhorizonte in der Betrachtung des Aufstellungsfeldes, die über Psychologisches hinaus auf komplexere, schwerer greifbare systemische oder kollektive Wirkebenen wie die Toten, die Vorfahren, Schicksal, Schuld, Gewissen, Vergebung oder Verstrickung ausgeweitet sind. Diese Ebenen und Sinnhorizonte in die Aufstellungsarbeit einzubeziehen, ist meist ein sicheres Kennzeichen für ein phänomenologisch vorgehendes Aufstellen. Die Wege hin zur phänomenologischen Haltung in der Aufstellungsleitung sind vielfältig und facettenreich. Gibt es überhaupt die eine definierte Methode und erlernbare Technik, oder handelt es sich nicht vielleicht um eine spirituelle Haltung oder einen spirituellen Weg, der sich bei jedem Aufstellungslehrer, der

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Olivier Netter

sie ausübt und lehrt, anders anfühlt? Des Weiteren gehört zur Idee einer phänomenologischen Haltung neben der Horizontweitung und der Öffnung hin zu allem, was sich zeigt, auch meist die Vorstellung, dass es durch diese Methode möglich sein soll, die eigenen subjektiven, bewussten oder unbewussten Vorlieben, Vorurteile und mitgebrachten Voreinstellungen beiseitelegen oder gar überwinden zu können. Ob das in Form einer bewussten Auseinandersetzung mit diesen Voreinstellungen geschehen muss oder mehr oder weniger von selbst bei Anwendung der Methode geschieht, bleibt offen. Der Weg hin zur phänomenologischen Haltung ist ein wichtiges Thema, denn die Offenheit für alles was sich zeigen möchte, ist ja eben nicht von selbst einfach da, sondern sie muss in der Regel bewusst hergestellt werden. Vor allem die mühevolle Arbeit mit dem, was ich einmal die persönlichen blinden Flecken nennen möchte, kann meiner Einsicht nach durch keine Methode ersetzt werden, auch nicht durch die phänomenologische Einstellung, sondern die bewusste Arbeit an den eigenen blinden Flecken muss Teil der phänomenologischen Praxis werden. Dies kann nur im Rahmen einer intensiven Selbsterfahrung oder eines spirituellen Weges geschehen, da das Wahrnehmen der eigenen blinden Flecken, das damit verbundene sich selbst Wahrnehmen eigens bewusst erlernt und praktiziert werden muss. Vielleicht liegt in der Anerkennung dieses Sachverhaltes der größte Unterschied zur konstruktivistischen Strukturaufstellung, die als das aktuell erfolgreichere Gegenmodell zur phänomenologischen Haltung erwähnt werden muss. Als erfolgreicher bezeichne ich sie deshalb, weil es Strukturaufstellungen mittlerweile weitverbreitet, in verschiedensten Formen, in der ursprünglichen Form als Tetralemma beispielsweise, aber auch als Aufstellung von Persönlichkeits­ anteilen, von Märchenaufstellungen, Organisations- oder politischen Aufstellungen gibt. Die meisten, wenn auch nicht alle »Strukturaufstellungen«, verstehen sich als didaktisch effiziente Methoden, die leicht erlernt werden können und gerade nicht vom Bewusstseinszustand und Selbsterfahrungsstand des Leiters abhängen sollen. Das schafft viele neue Anwendungsmöglichkeiten in den verschiedensten Organisationen und Zusammenhängen, für die eine intensive auf persönliches Wachstum hin orientierte, kritische Selbstreflexion und Selbstwahrnehmung nicht zum Kernbestand des eigenen Selbstverständnisses gehört. Dieses Thema hat insofern eine besondere Bedeutung bei der Erörterung des Begriffs der Phänomenologie, als in der Regel bei Aufstellungen generell unterschiedliche Vorstellungen existieren, von woher eine wie auch immer beschaffene Gewähr für die Wahrheit des sichtbar Gewordenen eigentlich herkommen könnte. Dass »Aufstellen« aus sich heraus bereits eine Gewähr dafür leisten könnte, ist durch die Praxis hinreichend widerlegt. Aufstellungen können

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zeigen und haben bereits des Öfteren gezeigt, dass Fehlannahmen, Vorurteile und andere Irrtümer im Ablauf und Ergebnis einer Aufstellung enthalten sein können. Wäre dies nicht so, bräuchten Artikel über »Phänomenologie« oder »Konstruktivismus« als Wahrheitsmethoden auch nicht geschrieben werden. Die Antworten auf die zwei Fragen, wo dieser Ort der Gewähr denn nun eigentlich liege und auf welche wahrheitsstiftenden Techniken, Praktiken und Methoden der Leiter zurückgreifen könne, unterscheiden denn auch die verschiedenen Schulen der Aufstellungsarbeit. Vorausgreifend kann hier bereits gesagt werden, dass die Aufstellungsarbeit mit der phänomenologischen Haltung den Leiter als diesen Ort ansieht. In welcher Weise wird noch deutlich werden. Strukturaufstellungen hingegen zeigen schon in der Wahl der Bezeichnung »Gastgeber« für den Leiter, dass sie seine Bedeutung als eher gering ansehen und dies anders sehen. Ohne hier ins Detail zu gehen, möchte ich es so auf den Punkt bringen: Sie verorten die Gewähr im Klienten selbst. Die Bewegungen des Geistes laden im radikalen Zurücktreten hinter jedes bewusste Tun die wirkenden geistigen Kräfte des großen Ganzen ein, bei denen sie die Gewähr für wirkliche Wahrheit verorten. Im Folgenden soll die philosophische Vorgeschichte dieser so unterschiedlichen Ansichten etwas deutlicher gemacht werden. Etwas zugespitzt möchte ich sagen, dass aus der Perspektive der phänomenologischen Idee, um die es mir hier im Besonderen geht, ein Bewusstsein über das Risiko besteht, bei einer Aufstellung statt einer neuen Erkenntnis nur die eigenen Vorurteile und Voreinstellungen und die der Teilnehmer zurückgespiegelt zu bekommen. Interesse an Phänomenologie beginnt also mit diesem Zweifel.

Philosophische Vorgeschichte (Husserl) Die philosophische Phänomenologie hat denn auch in ihrer frühen Form bei Husserl und selbst bei Heidegger das Wahrheitsproblem und eine ausgeklügelte, auf dieses Problem abgestimmte praktische Methode an die erste Stelle ihres Interesses gesetzt und nicht etwa spontane Erkenntnis oder Offen­barung durch Wahrnehmung von »Phänomenen«, wie man glauben könnte. Ein Grund für die weitgehende Unbekanntheit der philosophischen Phänomenologie und ihrer Ziele liegt möglicherweise in dem Umstand, dass auch der philosophische Dialog, aus dem heraus der Begriff gekommen ist, voller ungelöster Fragen und ungeklärter Widersprüche ist. Die spätere Rezeption dieses Dialogs ist aber auch voller besonders produktiv gewordener, ungeklärter und nicht bewusster Missverständnisse für eine von den philosophischen Wurzeln abgekoppelte, eigene

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Wege gehende »phänomenologische Praxis« oder »angewandte Phänomenologie«. Produktive Missverständnisse, um die es hier in der Hauptsache gehen soll. Husserls Phänomenologie nur als ganz formal übertragbare Erkenntnis­ methode und Erkenntnisform, ihre bekanntesten Begriffe wie Intentionalität (alles Bewusstsein ist immer gerichtetes Bewusstsein von etwas), phänomenologische Reduktion und Wesensschau (Rückführung der Wahrnehmungsinhalte auf ihre notwendigsten Bestimmungen) und Epoché (Enthaltung aller bereits bekannten Urteile) sowie ihr Wahlspruch »zu den Dingen selbst« haben sich bis heute in der Redeweise einer »phänomenologisch« orientierten Methode in der Psychologie, den Sozialwissenschaften und der Psychotherapie gehalten. Husserls Phänomenologie als Philosophie mit einem bestimmten Ziel und Inhalt ist aber gerade nicht das Gedankengebäude, das ohne Verfälschung zu den Dingen da draußen führen möchte, sondern eine moderne Auseinandersetzung mit der erkenntniskritischen Philosophie Kants. Sie ist, wie der Name »Phänomenologie« schon sagt, nur eine Lehre von den zu beschreibenden Weisen der sinnlichen Erscheinung und der Art des Gegebenseins der äußeren unerkennbaren Realität in unserem Bewusstsein. Vorgreifend möchte ich anmerken, dass bei Husserl Wahrheit in der Wahrnehmung nur in Bezug auf die unverstellte Wahrnehmung der inneren Repräsentanzen der äußeren Welt möglich wird. Wichtig ist es auch zu sehen, dass das erkennende Subjekt, also Jeder und Jede von uns, wie bei Kant und der gesamten idealistischen Tradition, die ganze Last der Bewusstseinsbildung und Erkenntnisleistung trägt und außerdem in seinem Erkennen dabei weder über die Grenzen seines eigenen Bewusstseins hinaus noch zu den Dingen da draußen selbst kommt. Die Phänomenologie Husserls sieht im ersten Schritt zur Freilegung dieser inneren Repräsentanzen, für die sie sich interessiert, von allen wissenschaftlichen oder erfahrungsweise bereits erkannten Eigenschaften der Dinge da draußen ab (Epoché) und im zweiten Schritt dann auch noch von den jeweiligen konkreten sinnlichen Bestimmungen und Eigenschaften der Gegenständen der Wahrnehmungen. Beide Schritte sind nötig, um die (durch phänomenologische Reduktion) vom konkreten Inhalt (das, was damit intentional anvisiert wurde) befreiten Weisen der inneren Gegebenheit der Repräsentanzen zu beschreiben und zu erforschen. Diese (man könnte unscharf sagen: abstrahierte, destillierte) Weisen des Gegebenseins der Dinge unseres Bewusstseins, die es hier zu erkennen gilt, sind die Dinge, zu denen es zurückzukehren gilt. Mithin das genaue Gegenteil dessen, was ein »phänomenologisch« arbeitender Aufsteller möchte, wenn er die besondere einzigartige konkrete Individualität des je einzelnen Aufstellungsgeschehens jenseits verfrühter idiosynkratrischer (den eigenen Vorlieben und Abneigungen folgenden) Etikettierungen und begrifflich-­ systematischer (oder strukturidentifizierender) Kategorisierungen für das Stell-

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vertreterfeld, sich und den Klienten wahrnehmbar machen möchte. Denn genau darum geht es ja in der »phänomenologischen Haltung« in der Aufstellungsleitung. Trotz des eklatanten Unterschieds und Widerspruchs des Erkenntnisbereichs zwischen der Husserl’schen philosophischen Zielrichtung und der der »angewandten Phänomenologie« hat die offene, beim Nullpunkt der »reinen«, von eigenen Vormeinungen und Vorurteilen befreiten eigenen Wahrnehmung beginnende, forschende Haltung Husserls, der die abstrahierten, sprich phänomenologisch reduzierten »Dinge« seines Forschungsinteresses so in den eigenen Blick bekommen möchte, wie sie wirklich sind, für die im Konkreten verankerten Sozialwissenschaften Vorbildcharakter erlangt. Neuere Forschung über die Wirkung vor allem der Husserl’schen philosophischen Phänomenologie gehen in die gleiche Richtung: »Im Kern ist die Phänomenologie ein philosophisches Bemühen. Aufgabe ist es nicht, das empirische Wissen zu erweitern oder überhaupt daran teilzunehmen. Vielmehr geht es darum, einen Schritt zurück zu machen, um die Basis und die Natur dieses Wissens zu untersuchen. Angesichts der klaren philosophischen Ausrichtung dieses Bemühens könnte man zu Recht und vernünftigerweise fragen, ob die Phänomenologie überhaupt etwas von Wert zu den positiven Wissenschaften beizutragen hat. Kann empirisches Arbeiten durch sie überhaupt etwas lernen? Über die Antwort auf diese Frage kann es jedoch überhaupt keinen Zweifel geben. Über mehr als ein Jahrhundert hat die Phänomenologie entscheidende Beiträge zu einer ganzen Reihe von Disziplinen der Sozial- und Humanwissenschaften geliefert, eingeschlossen der Psychologie, der Soziologie und der Anthropologie. Während der jüngst vergangenen Dekaden war die Phänomenologie eine Inspirationsquelle nicht nur für theoretische Debatten innerhalb der quantitativen Forschung, sondern auch für die Kognitionswissenschaften. Diese Tatsache wirft wichtige Fragen über die Beziehung zwischen philosophischer und angewandter Phänomenologie auf; Fragen, welche die klassischen Streitfragen über die wahre Natur der phänomenologischen Forschung neu beleben« (Zahavi, im Druck, S. 1, übers. a. d. Engl., O. N.).

Heidegger und die Daseinshermeneutik als Vorbild Hellingers Heidegger entwickelte als Zeuge einer besonders von Hellinger rezipierten Lesart der Phänomenologie, die zeitlich unmittelbar auf Husserl folgt, aber sich mit dessen Lesart nur teilweise überschneidet. Seine Lehre vom Sein, seine Daseins­

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analytik und Daseinsinterpretation, bedingt seine betont eigene, etymologisierende, den ursprünglichen Sinn der Worte erschließen wollende, von allen philosophischen Fremdworten gereinigte, urtümliche deutsche Sprache, die in der Auffassung vieler seiner praktisch ausgerichteten Leser in eine moderne Erkenntnis-Mystik und damit zu einem intensiveren Bezug zum Gemeinten führe (s. z. B. bei Hellinger, der dann ebenfalls eigene deutsche Wortschöpfungen einführte: schlimmes Ereignis statt Trauma, gute Lösung usw.). Heideggers Philosophie löst in Gedanken, wie wir noch sehen werden, auf ihrem Weg aber das erkennende Subjekt, also den autonom erkennenden Einzelnen als den Ort, an dem sich die Welt, in der Tradition der europäischen idealistischen Philosophie und auch bei Husserl immer gebildet hat, auf. Wir werden gedacht und gelebt. Subjekt und Objekt tauschen die Plätze. Dieser Subjekttausch ist für den Beitrag Heideggers zur angewandten »phänomenologischen Methode«, vor allem für den späten Hellinger und andere mehr der mystischen Praxis zugewandten Aufsteller, von besonderer Bedeutung. Die Erkenntnisse wie die Schicksale wachsen einem nach dem Subjekttausch aus der Gesamtheit des zu Denkenden mehr zu, als dass man sie als Ergebnis einer bewussten Reflexion in Freiheit erarbeiten könnte. Husserls und Heideggers Ansatz sind also in dieser Hinsicht grundverschieden. Kurzer Exkurs über Heideggers Phänomenologie im Kontext von Husserls Begrifflichkeit »Heidegger nennt als die drei Grundstücke der Operationen […] [seiner] phänomenologischen Methode in einer Modifikation der Begrifflichkeit seines Lehrers Husserl Reduktion, Konstruktion und Destruktion. […] Die Reduktion wird festgestellt als die Rückführung des Blickes vom [konkreten] Seienden zum Sein [es interessiert nicht der konkrete Mensch, sondern das, was den Menschen an sich ausmacht]; die Konstruktion als das Entwerfen des vorgegebenen Seienden auf sein Sein [also des überhistorisch gefassten Mensch-Seins] und dessen Strukturen [wie die Dinge aufeinander bezogen sind vor dem Horizont der Endlichkeit des Da-Seins], nämlich die Daseinsanalytik und Daseinsinterpretation in Bezug auf die Zeitlichkeit vor dem sich das Da-Sein [also der Mensch in seinen Bezügen erst erschließt]; und die Destruktion [besser auflösende Analyse] als der kritische [philosophische] Abbau der überkommenen und zunächst notwendig zu verwendenden Begriffe auf die Quellen, aus denen sie geschöpft sind« (Kim, 2005, S. VIII, Herv. und Erläuterungen O. N.).

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Die Ursprünge in Husserls Konzepten sind noch erkennbar, die Begrifflichkeit erschließt sich außerhalb des philosophischen Kontextes zunächst aber nur sehr schwer. Heidegger und die frühe phänomenologische Praxis Hellingers Bei genauem Hinsehen gibt es aber durchaus erkennbare Bezüge zur Idee der phänomenologischen bzw. systemischen Aufstellungsarbeit, die den Einzelnen in einem überpersönlichen System übergeordneter Systemwirkungen und Bedeutungshorizonte eingebunden sieht. Heideggers stärkste Wirkung auf die »angewandte Phänomenologie« verdankt sich aber letztlich einem weiteren im Vorangegangenen implizit enthaltenen methodischen Kernstück seiner Phänomenologie. Dieses erscheint bereits im Frühwerk und dann in »Sein und Zeit« als Daseinshermeneutik und mündet in einer philosophischen Hermeneutik der antiken Grundtexte der abendländischen Philosophie. Heideggers »Denken« (das Wort philosophieren hat er durchgestrichen) wendet sich also nicht den Wahrnehmungen und Erkenntnisleistungen des Menschen zu, sondern dem »Menschsein« vor dem Sinnhorizont der Endlichkeit des Da-Seins. Es geht um die hermeneutische Analytik dieses »Da-Seins«. Die Bezüge zur Aufstellungsarbeit, die sich ja auch als einen immanenten Deutungs- und Verstehensprozess des Aufstellungsfeldes darstellen lässt, werden noch deutlicher werden. Zur Erinnerung: Die Hermeneutik ist ursprünglich die Kunst oder Wissenschaft der Textdeutung und des Textverstehens. Ihre zwei wichtigsten Begriffe sind der hermeneutische Zirkel und das hermeneutische Vorverständnis. Diese beiden Begriffe, denen sich das Denken Heideggers bedient und die es auch in der klassischen Hermeneutik, also der Interpretation von Texten gibt, haben wie gesagt einen unmittelbaren praktischen Bezug zu dem, was sich in jeder auf­ deckenden Aufstellung ereignet. Deshalb ist es lohnenswert, noch etwas detaillierter darauf einzugehen. Letztlich erweisen sich die phänomenologisch arbeitenden Aufsteller und auch jeder, mit dem Sinn des symptomatischen Geschehens im Kontakt stehende Psychotherapeut oder Psychiater, als Hermeneutiker und was ich hier bereits vorwegnehmen möchte, damit auch als Gestalttheoretiker. Warum?

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Der hermeneutische Zirkel Der klassische »hermeneutische Zirkel« macht ursprünglich den Prozess des Verstehens eines biblischen oder anderen Textes bildlich deutlich und begreifbar. Dabei geht es um das Verhältnis der einzelnen Teile des zu verstehenden Ganzen untereinander und zu dem Ganzen selbst. So kommt es zum Zirkel, denn: Vollständiges Verstehen ist nur möglich, wenn das Ganze verstanden wird, das Ganze aber kann nur verstanden werden, wenn die Teile verstanden werden. Damit enthält der Zirkel ein Paradox: Das, was verstanden werden soll, muss vorher schon »irgendwie« (vor-)verstanden sein. Schaut man genauer hin, so ist auch im Detail des Teileverstehens immer wieder eine innere Zirkelstruktur wirksam, die am Ende bei jedem Durchgang immer wieder neue Fortschritte bringt, also eigentlich als »Spirale« zu beschreiben wäre (vgl. Schardt, 2016, Kap. 4). Der hermeneutische Zirkel besteht also in der Bewegung des Verstehens vom Ganzen zum Teil und vom Teil zum Ganzen. Kriterium für die »Richtigkeit« des Verstehens ist konsequenterweise die restlose Übereinstimmung der Teile im Rahmen des Ganzen. Die Traumdeutung Freuds, die Sinn-Deutung von Symptomen oder symptomatischen Verhaltensweisen des Zwangs sind weitere Beispiele der angewandten Hermeneutik. Heidegger erweitert dieses ursprünglich auf Texte hin konzipierte und anders schon bei Freud weiterentwickelte Verfahren auf die Analyse des menschlichen Daseins, das es interpretierend im Wechselspiel des übergeordneten Sinn­ horizontes (das Ganze) und der Einzelheiten (die Teile) zu »lesen« gilt. Er macht daraus ein philosophisches Verfahren der Hermeneutik des Daseins. Bezog sich der Begriff ursprünglich auf die Korrelation Ganzes – Teil, so wird die Heidegger’sche Hermeneutik mehr bestimmt durch den Gedanken des an das zu Deutende bereits mit herangebrachten Vorverständnisses. Das bisher im Mittelpunkt stehende »Hin- und Herlaufen am Text« wird durchbrochen von der Erkenntnis, »daß das Verständnis von der vorgreifenden Bewegung des Vorverständnisses [als unbewusster Sinnhorizont, auf den alles bezogen ist,] dauerhaft bestimmt bleibt. Was Heidegger so beschreibt, ist nichts anderes als die Aufgabe der Konkretisierung des historischen Bewußtseins. Mit ihr ist verlangt, der eigenen Vormeinungen inne zu sein und den Vollzug des Verstehens jeweils so mit historischer Bewußtheit zu durchdringen, daß die Erfassung des historisch Anderen [und noch unbekannten] und die dabei geübte Anwendung historischer Methoden nicht das bloß herausrechnet, was man hineingesteckt hat« (Gadamer, 1993, S. 61, Herv. und Erläuterungen O. N.). Heidegger nimmt aus dem hermeneutischen Zirkel also besonders das hermeneutische Vorverständnis, dass er als Deuter mit dem zu Deutenden teilt, in

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den Blick, denn er möchte das »implizite Wissen« freilegen, das in den Texten und in den Lebensvollzügen als deren geheime Voraussetzung wirkt. Das nennt er missverständlich »Destruktion« (spätere ihm folgende Hermeneuten haben dann den Begriff »Dekonstruktion« gewählt). Diese Methode lenkt also den Blick auf die inneren Voraussetzungen, Glaubenssätze, Konstruktionen und Vorannahmen, die einem bestimmten Prozess, einer Meinung oder Darstellung, wie z. B. auch derjenigen dieses Beitrags, vorangehen und letztlich begründen, ohne dass das ausdrücklich erwähnt würde oder bewusst wäre. Das Gleiche gilt für den Fragenden. Auch er folgt in seiner Art der Frage bereits einer impliziten Voreinstellung und -meinung, der er sich in der Regel nicht bewusst ist und die er möglicherweise mit dem »Autor« teilt. Hermeneutik und Aufstellungsarbeit Hier wird deutlich, dass diese Sichtweise die in einer Aufstellung ablaufenden Prozesse sehr gut beschreiben kann. Gerade Hellinger hat in seiner frühen Arbeit in herausragender Weise die impliziten gemeinsam geteilten Vor-­Deutungen freigelegt, die beispielsweise die Sicht auf Missbrauch, Verstrickungen und Schuld geprägt haben. Nachdem er diese Deutungen als unbewusste Vorentscheidungen erkannt hatte, konnte er viele der wichtigsten Dynamiken hinter diesen Vorgängen freilegen. Auf die praktische Arbeit bezogen kann das heißen, dass man die Art und Weise, in der ein Auftrag ergeht, oder die Perspektive, unter der ein bestimmtes Geschehen präsentiert wird, für sich hinterfragt. Unser »Klient« lebt wie wir gefangen in seinem umgrenzten Vorverständnis. Ihn dann als den Spezialisten für seinen Fall anzusehen, erscheint nach dem gerade Festgestellten eher riskant zu sein. Hier liegt auch ein gewichtiger Einwand gegen eine naive Form der Deutung von Sachverhalten im Rahmen einer aufdeckenden Aufstellung. Wenn es darum gehen soll, etwas wirklich Besonderes, etwas nur diesem Fall Zugehöriges zur bewussten Anschauung zu bringen und nicht nur das aus einem Feld herauszulesen, was alle Anwesenden als eigene Sinnhorizonte oder Vorverständnisse mitgebracht haben, müsste man sich zu allererst seine eigenen Vorannahmen (und blinden Flecken) absichtsvoll bewusst machen: »Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Entwerfen. Diese ›Erstauslegung‹ geschieht mit Vorbegriffen, mit deren Hilfe sich der Verstehende einen Sinn des Ganzen entwirft, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Dieses Auftauchen des ersten Sinns wie auch seine Qualität sind abhängig von den Erwartungen eines Sinns [eines mehr oder weniger weiten Sinn-

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horizontes, den man anvisiert, ohne ihn schon genau benennen zu können], unter denen ein Text überhaupt gelesen [und geschrieben ] wird. Der Vorentwurf wird sodann ausgearbeitet, die Vorbegriffe werden durch angemessenere Begriffe ersetzt, die Ausarbeitung wird wiederum revidiert von dem her, was sich beim weiteren Eindringen in den Text an Sinn ergibt. Das bedeutet: Die Vormeinung muss sich an der ›Sache‹ bewähren. ›Es gibt‹, so stellt Gadamer fest, ›keine andere ›Objektivität‹ als die der [fortschreitenden] Ausarbeitung der sich bewährenden [oder ergänzungsbedürftigen] Vormeinung‹« (Schardt, 2016, Kap. 4, Herv. und Erläuterungen O. N.). Diese Überlegungen stellen nun eine kritische Hinterfragung jedweden Verstehensprozesses dar, der auf ein nachvollziehbares, rationales Verstehen eines Sinngeschehens abzielt. Das Vorverständnis ist dasjenige, ohne dass wir uns kein Bild und keine Vorstellung von irgendetwas machen können, aber über das wir in der Regel kein Bewusstsein haben und es auch nicht unbedingt anstreben. Jedenfalls müssen wir erst eigens auf die Suche danach gehen. Das uns ohne diese Suche normalerweise verborgene Vorverständnis verhilft uns also zu unserer Vorstellung. Gleichzeitig hindert es uns daran, das zu sehen, was eigentlich sonst noch da ist, und zwar unter der Oberfläche des uns Bekannten. Das gilt für Texte genauso wie für Aufstellungen, aber nur insofern wir den Wunsch nach einem wie auch immer gearteten Verstehen jenseits des mit anderen geteilten Vorverständnisses haben.

Wirkungen und Resonanzen Ohne jetzt weiter im Detail auf Husserls und Heideggers Denken eingehen zu wollen, sind dessen Resonanzen und die durch diese erzeugten Begrifflichkeiten in den Sozialwissenschaften und der Psychologie nachvollziehbar. Denn diese stehen ja inmitten vergleichbarer zirkulärer Verstehensprozesse, auch wenn sie sich nicht auf das Sein des Seienden hin ausrichten oder auf die Idealität einer phänomenologischen Reduktion und Epoché, die in ihrem letzten Schritt auch noch von der realen Existenz eines Dinges absehen lehrt. Nach dieser kritischen Lesart des Verstehens begegnet uns alles Unbekannte notwendig immer nur als Variation eines bereits Bekannten. Ohne ein implizites Vorverständnis könnten wir weder einen Text noch eine Situation »lesen«. Was bei Husserl als gedanklich zu eliminierende Trübung des reinen Blicks, als störendes Vorurteil des Betrachters erscheint, ist bei Heidegger die notwendige, geschichtlich (oder systemisch) übernommene und unerkannte Wurzel des

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eigenen und kollektiven Verstehens. Die des kollektiven Verstehens könnten wir in einem Prozess der immer tiefer grabenden Destruktion (auflösenden Analyse) bis hin zum letzten nicht mehr aufzulösenden Vorverständnis freilegen. In der Aufstellungsleitung geschieht die Auflösung bzw. Destruktion in der Weise, dass deutlich wird, dass ein bestimmter Sinnhorizont selbst nur ein persönliches, eingeengtes Konstrukt ist und dass unser Blick noch nicht alle bereits jetzt erfahrbaren wirkenden Sinnbezüge in den Blick genommen hat und der letzte jetzt mögliche Verstehensschritt noch aussteht. Das hat denn auch zu den besonderen Einsichten der »phänomenologischen Aufstellungsarbeit« geführt, beispielsweise zu der Erkenntnis, dass bestimmte Sachverhalte wahrscheinlich nicht einer Problemlösung zuzuführen, sondern als unverrückbarer Teil des eigenen Schicksals nur anzunehmen sind. Man könnte diesen Prozess auch ein immer fortschreitendes Neubewerten nennen. Dies wäre der weiterführende Antrieb, der es uns als phänomenologisch arbeitende Aufsteller ermöglicht, unseren Blick auf die Dinge und Zusammenhänge zu erweitern. Eine über unsere Vormeinung und Konstrukte hinausgehende Deutung des Aufstellungsgeschehens und unserer eigenen Praxis kann dann wirksam werden, wenn der sich spontan einstellende, erste Deutungssinn und das eigene Selbstverständnis hin zu einem umfassenderen Sinnhorizont noch überschritten werden. Resonanzen mit den Arbeitshypothesen der lösungsfokussierten, konstruktivistischen Strukturaufstellung sind dabei unüberhörbar, was zeigt, wie unscheinbar die inhaltlichen Differenzen im Kern genau genommen sind. Diese gehen ja auch von der Vermutung aus, dass Realität immer ein persönliches Konstrukt ist.

Phänomenologie als Lebensform Den philosophischen Phänomenologen Husserl und Heidegger waren die Persönlichkeit transformierenden Kräfte durch den Gebrauch der Phänomenologie bewusst. Effekte dieser Art standen aber nie im Zentrum von Husserls Schriften. Für ihn gab es eine spirituelle Dimension des phänomenologischen Strebens, die aber vor allem in seiner privaten Religiosität und Ethik wurzelte. ­Heidegger (1934) dagegen hat in seiner unrühmlichen Antrittsrede »Die Selbstbehauptung der deutschen Universität« anlässlich seiner Nachfolge von Husserl an der Uni Freiburg, an der er von 1928 bis 1947 dann den Lehrstuhl für Hermeneutik und Philosophie innehatte, etwas über die notwendige Unterordnung unter das Seinsgeschick geschrieben. Seine hermeneutische Phänomenologie, die sich ja zunächst in kritischer Absicht mit der Frage nach der Wahrheit des

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Da-Seins gebildet hat, vollzieht früh eine dramatische Wende in eine Wahrheitsund Geschichtsauffassung, in der nicht der einzelne Mensch den Erkenntnis-­ Vollzug leisten kann, sondern nur der philosophische mediale Vordenker in Stellvertretung des Seinsgeschicks und des großen Ganzen, das alles bewegt. Die einzelnen Subjekte, die die Schicksalsgemeinschaft bilden, also wir alle, fallen unter die absolute Herrschaft des großen Ganzen, des Sinn­horizonts des vom Denker gedeuteten Seinsgeschicks. Sich selbst sah Heidegger als diesen obersten, deutenden Vermittler des Sinns des Seins für die NS-Schicksalsgemeinschaft. Diese angestrebte Führungsrolle wurde ihm aber nie zuteil. Ethik der Phänomenologie Die ethische Herausforderung und Offenheit des an das autonome Subjekt gebundenen Erkenntnisvorgangs und der damit verbundenen Unsicherheiten und Belastungen, wie sie die abendländische Philosophie (und jüdisch-christliche Theologie) immer in den Mittelpunkt gestellt hatte, war kein Bestandteil mehr dieses Systems. Heidegger allein, und das als ein Medium, sollte der Zukunft eine Richtung weisen. Über die dahinterstehende Logik des Opferns individueller Selbstbestimmung und Verantwortung habe ich bereits an anderer Stelle etwas geschrieben (Netter, 2015). Der gewohnte, uns vertraute und selbst ermächtigende Anspruch aller abendländischen Philosophie, die sich mit der Erkenntnismöglichkeit des Einzelnen auseinandersetzt und auch am Beginn der Husserlschen Phänomenologie steht, den Heidegger aber in seiner »philosophischen Hermeneutik« letztendlich aufgibt, hat Etienne Bimbenet in seiner prekären Problematik zusammengefasst: »Die [Husserl’sche] Phänomenologie ist ein zu einer Methode verwandeltes Problem. Durch sie hindurch potenziert sich, was man als das ›Paradox des Gleichen‹ bezeichnen könnte, das wir als eine der gründenden Paradoxien der abendländischen Philosophie betrachten würden. […] [Es] erfindet sich die Philosophie in dem Augenblick, in dem ich beanspruche, Zeuge [also Garant] meines eigenen Wissens zu sein. Nicht länger jemand zu sein, der bloß vom Hörensagen her weiß und unter der Autorität einer Gemeinschaft, die älter ist als er selbst, sondern im Gegenteil ein Augenzeuge oder ein Zeuge aus erster Hand, wie es nur jemand sein kann, der mit seinen eigenen Augen sieht: Darum geht es. Von Geburt an ist der Philosoph ein ›Augenzeuge‹, dem man keine Geschichten erzählt. Im Gegenzug zur doxa [Meinung], die ganz aus dem besteht, was ›man so sagt‹ und was ›selbstverständlich‹ ist, fasst die von der Philosophie ersonnene episteme [Wissenschaft] das Sehen nicht etwa als einen Sinn unter anderen, sondern vielmehr als Modell eines erstpersonalen Wissens auf,

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welches allein in der Lage wäre zu bezeugen, dass die Sache wirklich in persona da ist. Das also wäre das Paradox des Gleichen unter seinen beiden komplementären Aspekten: Ich muss selbst [in meiner ganzen Fülle] da sein, um die Gewähr zu haben, dass es die Sache selbst ist, die ich schaue. Als reine Vision, als absolut sehende Vision, die nichts anderes tut als zu sehen (und dabei von keiner weiteren Voraussetzung abhängt), ist die Evidenz gerade das Erlebnis dieses Widerspruchs: Ich muss mich selber ins Spiel bringen, um das zu erkennen, was in seiner Objektivität unabhängig von mir und unabhängig von jedem Erkennenden gilt. Man muss selbst da sein, um das zu erkennen, was einem fremd ist. Die sokratische Maieutik [Hebammenkunst] gibt ein eindringliches Bild dieses Widerspruchs: Ich kann niemals in die allen gemeinsam gegebene Wahrheit, in das ›An-Sich‹ der Gerechtigkeit oder der Dichtung, eintreten, wenn ich nicht aus mir selbst, der ich in meiner Beweisführung mit Haut und Haar anwesend bin, heraustrete« (2017, S. 6, Erläuterungen O. N.). Kritische Selbstverantwortung und immer neu zu hinterfragende Selbstermächtigung des Erkennenden sind Geschenk und Bürde der philosophischen Traditionslinie von Platon über Descartes, Kant und Husserl sowie auch der abendländischen Religionsgeschichte. Für mich persönlich ist diese ethische Haltung kulturell verankert, vertraut und nachvollziehbar. Husserls Phänomenologie steht durchaus in dieser Tradition, reduziert aber den Geltungsbereich dieser Erkenntnis auf dramatische Weise auf die Analyse der methodisch gereinigten inneren Widerspiegelungen von Welt. Trotz der erkenntniskritischen Richtung, weg von den konkreten Dingen, in die Husserls Phänomenologie strebt, und trotz der von Heidegger selbst so bezeichneten antihumanistischen Stoßrichtung seiner eigenen Daseinsanalytik wurden diese so grundverschiedenen Philosophien in den Sozialwissenschaften und der Psychologie zu wirkungsmächtigen Ideengebern. Etienne Bimbenet, der ein Kenner der phänomenologischen Philosophie und der Wendungen ihrer Geschichte ist, sieht einen großen Wunsch und Traum (= Vorverständnis) hinter diesem Umstand stehen: »Das Paradox besteht nun darin, dass genau in dem Moment, in dem die Imperative der Begründung einer rigorosen Wissenschaft [Husserl: rigoros, weil ohne jede Verunreinigung durch die Empirie und die realen Gegenstände] bzw. der Erweckung der Frage nach dem Sinn des Seins [Heidegger: Sinn von Sein, weil seine Philosophie eine sinnsuchende Hermeneutik der Lebenswelt jenseits des klassischen Subjektes ist] die Phänomenologie ›entmenschen‹, diese ihrerseits [gleichzeitig] ein Ensemble von Begriffen bereit stellt, die spontan in einen Diskurs anthropologischen Typs u ­ mschlagen. ­Husserls strenge Eidetik [Lehre vom Wesen] der Wahrnehmung, der Inter-

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subjektivität oder der Lebenswelt und Heideggers gehaltvolle Hermeneutik [Auslegung] der Faktizität [= jeweils unser eigenes Dasein, Bei-sich-selbstSein vor dem Horizont des übermächtigen unhinterfragbaren Seinsgeschicks] boten sich all jenen als unschätzbare deskriptive Ressourcen an, die als Philosophen, Psychologen oder Soziologen aus dem Nachdenken über das menschliche Leben ihren Beruf gemacht hatten. Auch Sartre, Merleau-Ponty oder Ricoeur machten sich in dieser Weise die Phänomenologie zu eigen; […] All diesen Denkern mutete das philosophische Versprechen als zu schön und der von ihm zu erhoffende begriffliche Gewinn als zu reich an, als dass ein ›Anthropologieverbot‹ von vornherein auf der Möglichkeit hätte lasten können, das [faktisch fehlende] Humane im Phänomenologischen zu denken« (S. 2, Herv. und Erläuterungen O. N.). Pänomenologie nach Husserl und Heidegger – der Körper und die sinnliche Wahrnehmung Was kommt nun nach Husserl und Heidegger? Folgende drei Verben helfen hier vielleicht weiter: wiedererkennen, erkennen und verstehen als Form jeder empirischen Praxis. Es ist ja so, dass die Idee der Phänomenologie, je nachdem, wer sie gerade erörtert, ob er Philosoph, Soziologe, Pädagoge, Psychologe oder Nachrichten überbringendes Medium ist, ganz unterschiedliche Ziele, Anschauungen und Folgerungen beinhaltet, deren einzige Gemeinsamkeit in einer Sammlung von völlig unterschiedlich gedeuteten und angewandten praktischen Schritten beruht, die Husserl einst in seinen logischen Untersuchungen das erste Mal formuliert hat. Diese waren: Epoché (Enthaltung des bereits bekannten Urteils), phänomenologische Reduktion, Wesensschau und der Wahlspruch: »Zu den Dingen selbst!« Gemeinsam ist den neuen Standpunkten der späten Husserl-Nachfolger nach Heidegger von Merleau-Ponty bis Hermann Schmitz, dass es um das Erkennen durch Wahrnehmung und letztlich um den Körper als Erkenntnisorgan geht, und das im Unterschied zum Erkennen durch Begriffe, Theorien und Konzepte. Das heißt, es geht um das nicht-diskursive und nichtrationale Erkennen. Des Weiteren ist festzustellen, dass neben dieser auf den Körper fokussierenden Entwicklung parallel die Idee einer lebensweltlich wirkenden, mystisch-dämonischen Daseins-Hermeneutik weitergelaufen ist, die auch ferne Sinnhorizonte jenseits menschlicher Entscheidungen anvisiert und mehr oder weniger zu entschärfen und zu integrieren versucht. Diese hat vor allem in Hellinger ihren wichtigsten Vertreter gefunden.

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Zwischenleiblichkeit Spätestens bei der ausdrücklichen Hinwendung zum Körper bzw. zum Leib als Ort einer eigenen Form von Erkenntnis hat sich die moderne Phänomenologie von den erkenntnistheoretischen Konzepten und Zielen der idealistischen, in der Tradition und Auseinandersetzung mit Kant stehenden, kritischen Philosophie Husserls oder von dem ursprungsmythischen, hermeneutischen Subjekttausch Heideggers getrennt. Sie wurde auf diese Weise zum möglichen Modell einer nicht auf den Zweifel, sondern auf das unvermittelte aber rekonstruierbare Finden hin ausgerichteten Methode. Historisch und inhaltlich war das durch die parallel entwickelte Gestaltpsychologie möglich. Besonders zu nennen ist hier Merleau-Ponty, der die Gestaltpsychologie ausdrücklich als den festen Drehund Angelpunkt seiner Weiterentwicklung der angewandten Phänomenologie nennt und diese zum Erklärungsmodell des Kerns des phänomenologischen, hermeneutischen Prozesses erhebt. Anders als in der philosophischen Tradition Husserls oder Heideggers, deren Denken grundsätzliche methodologische Zweifel über die Wirklichkeit der »naiv« geglaubten äußeren Realität zum Ausgangspunkt haben, ist den modernen »Nachfolgern« der methodische Zweifel als Basis des eigenen Denkens fremd. Der Körper teilt seine besondere biologische und mentale äußere Umwelt als Teil seiner selbst mit der Umwelt und hat das Problem eines in der Immanenz des Bewusstseins eingesperrten und steckenbleibenden Erkenntnisvorgangs nicht. Etwas provokant, prägnant und vereinfachend beschreibt Thomas Metzinger aus dieser Perspektive der prallen Gewissheit die philosophische erkenntniskritische und vom wissenschaftlichen Duktus her sich anschließende skeptisch konstruktivistische Sichtweise: »Bewusstes Erleben gleicht einem Tunnel […] Zuerst erzeugt unser Gehirn eine Simulation [oder Konstruktion] der Welt, die so perfekt ist, das wir sie nicht als ein Bild in unserem eigenen Geist erkennen können. Dann generiert es ein inneres Bild von uns selbst als einer Ganzheit. […] Wir stehen also nicht in direktem Kontakt mit der äußeren Wirklichkeit oder mit uns selbst. […] Wir leben unser bewusstes Leben im Ego-Tunnel« (2014, S. 21 f.). Tendenziell spielen sich die meisten der philosophischen Konzepte demzufolge an einem abgeschiedenen, von der Realität getrennten Ort ab. Beispiele sind Platon, Descartes, Hume, Kant, aber letztlich auch der Konstruktivismus und die klassische Phänomenologie Husserls. Für fast alle Husserl und Heidegger nachgefolgten, ihre Konzepte meist jedoch nur praktisch anwendenden Phänomenologen gehört die Idee einer bio-

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logisch gattungsgeschichtlich erworbenen, neuronal fundierten, realistischen Beziehung zwischen Wahrnehmung und Welt zur Grundvoraussetzung ihres Denkens. Das theoretische Nachdenken darüber findet heutzutage hingegen in den Arbeiten der Neurowissenschaften und der modernen Psychiatrie statt, siehe z. B. die Arbeiten von Joachim Küchenhoff und Thomas Fuchs, zweier Psychiater, die ihre persönlichen Erfahrungen mit der subtilen eigenen Wahrnehmung fremdpsychischer Stimmungen und Zustände in ihre theoretischen Arbeiten einfließen lassen. Damit beginnt auch die Art von Phänomenologie der Anmutung und Gestimmtheit, die sich im Gegensatz zum rein hermeneutischen Ansatz in den Sozialwissenschaften und der Psychologie aktuell am weitesten verbreitet hat. Besonders wertvoll erscheint mir der Umstand, den ich bereits erwähnte, dass Merleau-Ponty, der am Beginn dieser Entwicklung steht, in seiner ersten Veröffentlichung über Phänomenologie die Gestalttheorie als Grundlage seines neuen Ansatzes nennt. Da die Gestalttheorie meiner Meinung nach gegenwärtig gerade unter Aufstellern nicht wirklich wahrgenommen wird, möchte ich auch dieser Spur im Folgenden noch etwas nachgehen.

Gestaltwahrnehmung und der logische Gang der Erkenntnis oder: Wie kommen neue Erkenntnisse in die Welt? Konrad Lorenz, der österreichische Zoologe, Medizin-Nobelpreisträger und einer der Hauptvertreter der klassischen vergleichenden Verhaltensforschung, hat sich intensiv mit der Schulung seiner eigenen Wahrnehmung, dem erworbenen, gestalthaft visuellen Wiedererkennen, Identifizieren und Unterscheiden von Tiergattungen und -familien und schließlich der Aufdeckung des Sinns ihres Verhaltens durch Beobachtung beschäftigt. Er war ein scharfsinniger, theoretisch interessierter Pragmatiker und im heutigen Gebrauch des Wortes ein Phänomenologe. In seinem Aufsatz »Gestaltwahrnehmung als Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis« von 1959 schreibt er über den erkenntnissteigernden Sinn der langen gattungsgeschichtlichen Entwicklung der sinnlichen Wahrnehmung: »Eine annäherungsweise Wahrheit, eine ›Information‹ über die außersubjektive Gegebenheit, steckt wie schon gezeigt in jeder Anpassung des Verhaltens, die seine erfolgreiche Auseinandersetzung mit dem betreffenden Umweltfaktor bewirkt. In Fällen, in denen sich sowohl einfachere als auch kompliziertere Mechanismen mit derselben Gegebenheit auseinandersetzen, wird diese Analogie zwischen Verhaltensanpassung und wirklicher Erkenntnis oft sehr deutlich. Die blinde und starre Ausweich-Reaktion eines Paramaecium

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[eines bestimmten Einzellers] enthält nur eine einzige Information über den in seinem Weg liegenden Gegenstand, nämlich, daß an jener Stelle ein für die Lokomotionsbestrebungen des Wimpertieres unüberwindliches Hindernis liegt. Die dreidimensionale Raumeinsicht, die unsere optische Tiefenwahrnehmung vermittelt, vermeldet dem menschlichen Beobachter sehr viel mehr Einzelheiten über das die Bahn des Tierchens versperrende Objekt, in dem für das Paramaecium allein wesentlichen Punkte aber muß sie seine bescheidene Information bestätigen: An jenem Punkte kann das Tierchen tatsächlich nicht in seiner bisherigen Richtung weiterschwimmen. […] Die primitivere und die höher differenzierte Erkenntnisleistung unterscheiden sich also nicht etwa darin, daß die erstere andere Gegebenheiten vermeldet, als die letztere: Diese erfaßt nur mehr Einzelheiten derselben außersubjektiven Wirklichkeit. Das einfachere Weltbild ist, mit dem am höchsten differenzierten verglichen, keineswegs verzerrt, sondern nur in einem unvergleichlich viel gröberen Raster wiedergegeben« (S. 131 f., Herv. und Erläuterungen O. N.). Konrad Lorenz beschreibt die gattungsgeschichtliche Entwicklung der Sensorik, der Wahrnehmungsorgane und der Sinnesverarbeitung der verschiedenen Spezies im Laufe der Evolution, inklusive der unsrigen als einen im Biologischen ablaufenden Prozess der fortschreitenden Induktion. Also als eine sich immer weiter an die Realität anpassende, lernende Erkenntnisleistung der Wahrnehmungsorgane und der neuronalen Verschaltungen durch eine fortlaufende Auseinandersetzung mit dem gerade vorliegenden demzufolge gleichzeitig begrenzten empirischen Erkenntnisgegenstand (Umwelt). Zu den Ergebnissen dieser dank der Evolutionsgeschichte jetzt im biologischen Sinnesapparat und im gesamten Körper bereits ablaufenden Verstehensprozesse gehören unsere quasi automatisierten Erkenntnisleistungen der Wahrnehmungsorgane in der Raum-, Bewegungs- und Selbstwahrnehmung – und in ganz besonderer Weise auch die weitestgehend unwillkürlich ablaufende Gestaltwahrnehmung oder anders ausgedrückt: »phänomenologische Wahrnehmung«. Dies eröffnet nun einen neuen Blick auf das Geschehen der »phänomenologischen Aufstellungspraxis«. Die Arbeit mit dem Feld habe ich bisher unter dem Aspekt der klassischen Phänomenologen Husserl und Heidegger betrachtet. Im Weiteren soll es nun um die modernen, von der Gestalttheorie beeinflussten Sichtweisen auf das Aufstellungsgeschehen gehen. Was genau passiert unter diesem Blickwinkel bei dem Voranschreiten einer Aufstellung, wenn Bezüge zu nicht anwesenden Elementen spürbar und das Bild plötzlich vollständig werden lassen und das Aufstellungsbild erst durch ein Komplement sinnvoll wird? Jeder Aufstellungsleiter, der phänomenologisch arbeitet, kennt das Gefühl, dass »etwas fehlt« und das im Ablauf dann auch tatsächlich

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eine sinnhafte Wende geschieht, wenn ein Element hinzugenommen wird. Woher kommt dieses »Wissen«, dass sich letztlich zeitgleich im Feld, im Inneren der Stellvertreter und des Leiters ereignet? Zur Erörterung dieser Frage möchte ich zunächst einen kleinen Umweg gehen und die allgemeinen, logischen Formen der Erkenntnisgewinnung vorstellen, so wie sie die moderne Wissensforschung teilt. Zur Erinnerung vorab eine Definition des wichtigen Begriffs »Induktion«: »Induktion (lateinisch inducere ›herbeiführen‹, ›veranlassen‹, ›einführen‹) bedeutet seit Aristoteles den abstrahierenden Schluss aus beobachteten Phänomenen auf eine allgemeinere Erkenntnis, etwa einen allgemeinen Begriff oder ein Naturgesetz. Der Ausdruck wird als Gegenbegriff zur nicht weniger wichtigen Deduktion verwendet. Eine Deduktion schließt aus gegebenen (gesicherten) Voraussetzungen auf einen speziellen Fall, Induktion hingegen ist der umgekehrte Weg« (Wikipedia, 2019a; siehe Abbildung 1). Theorie

(allgemein)

Deduktion

Induktion

Empirie (speziell)

Abbildung 1: Klassisches Verhältnis von Deduktion und Induktion (Wikipedia, 2019a)

Das Problem der Induktion aus Sicht der wissenschaftlichen Erkenntnistheorie ist, dass eine allgemein gültige Erkenntnis aus der notwendigerweise begrenzten Empirie (Umwelt bei Lorenz) nicht sicher abzuleiten ist. Mithin trifft jede durch Induktion gewonnene Erkenntnis genaugenommen nur für die bereits beobachteten Fälle zu, nicht aber für die Gesamtheit aller Fälle. Durch Induktion gewonnene Einsichten sind also nichts anderes als Verallgemeinerungen von Einzelfällen, selbst wenn es sich dabei vielleicht um sehr viele Fälle handelt. Deshalb sucht die Wissenschaft allgemeingültige Gesetze oder vorläufig als gesichert geltende Hypothesen zu formulieren, aus denen sie dann die einzelnen Fälle (Empirie) ableiten (Deduktion) kann. Diese Gesetze müssen dann von Zeit zu Zeit wegen neu hinzukommender Tatsachen modifiziert werden. Dies ist im Übrigen genau das, was ja auch im Ablauf des verstehen wollenden hermeneutischen Zirkels

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geschieht. Die biologischen Systeme haben offensichtlich einen Weg gefunden, zu einem immer effizienteren Funktionieren der Wahrnehmungsleistung auf rein empirischer (zufälliger und begrenzter) Basis zu gelangen. Das möchte Konrad Lorenz in seinem Aufsatz über die empirisch erworbene Erkenntnisleistung der Gestaltwahrnehmung der biologischen Evolution hervorheben. Hinter unserer individuellen Gestaltwahrnehmung steckt die gesamte Evolutionsgeschichte der Wahrnehmungsorgane und des Gehirns mit ihrer Anpassungsleistung an eine endliche Anzahl von begrenzten Fakten der Umwelt. Gestaltwahrnehmung läuft für uns unkontrolliert aber nicht uninformiert ab. Sie ruht auf evolutionär gewachsenem Wissen auf, nutzt erfolgreiche Strategien und verknüpft alles mit den aktuellen Fällen der wahrgenommenen Gegenwart. Um nun den Bogen wieder zurück zur Arbeit des Aufstellers mit dem Feld zu spannen, möchte ich eine weitere Erkenntnisform, die sogennante Abduktion einführen. Sie entwickelt »spontan«, scheinbar aus dem Nichts für ein einzelnes, bisher noch nicht erklärtes Phänomen eine Regel oder ein Bild, das das Auftreten des Ereignisses erklären kann. Man könnte auch sagen, abduktiv sind alle intuitiven Erkenntnisse, die einem plötzlich kommen und die das Aufkommen eines bestimmten Ereignisses erklären können und letztlich den Fortschritt unseres Erkenntnisstandes bewirken. Wenn sich auch nicht klären lässt, woher diese Erkenntnisse kommen, steht zu vermuten, dass sie meist mit einem sich plötzlich abschließenden Gestaltbildungsprozess zusammenhängen: Wer lange genug hingeschaut hat und wessen Unbewusstes die Bezüge der Teile zueinander und zum erahnten Ganzen immer wieder neu zusammengesetzt und variiert hat, dem erscheint, ganz nach dem Muster der Hermeneutik, irgendwann eine wahrnehmbare sinnvolle Gestalt, in der alle Teile zusammengehen. Diesen Vorgang hat Hellinger übrigens für seine ersten wichtigen Erkenntnisse anschaulich beschrieben. Die Frage, ob das, was sich in einer Aufstellung zeigt, irgendeine Wahrheit enthält, lässt sich systematisch jetzt also recht gut beurteilen, hierzu nochmals Informationen und eine Tabelle aus Wikipedia (2019b, Herv. O. N.). Es lohnt sich, diese Tabelle etwas genauer zu betrachten. »Deduktive Schlüsse haben den Charakter von Wenn-Dann-Aussagen. ›Jede Deduktion hat diesen Charakter; sie ist nur die Anwendung allgemeiner Regeln auf besondere Fälle.‹ (CP 2.620) [The Collected Papers of Charles Sanders Peirce] Ausgehend von gegebenen Sätzen gelten deduktive Schlüsse mit Notwendigkeit. Dies gilt immer für die Strukturwissenschaften Mathematik und Logik. Induktive Schlüsse gehen von einem Fall und einem oder [mehreren] Resultate[n] aus und bestimmen die Regel. Induktion ist synthetisch, d. h., es

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werden Beobachtungen verwendet, aus denen bei genügender Häufigkeit Regeln formuliert werden. [Die dann die notwendigen deduktiven Schlüsse zulassen.] Die getroffene Schlussfolgerung ist aber nicht notwendig [und die Regel kann modifiziert werden]. Auch die Abduktion ist synthetisch. Bei ihr erfolgt der Schluss von einem Resultat auf eine Regel und auf einen Fall. Sie ›schließt‹ also von einer bekannten Größe auf zwei unbekannte. Dadurch, dass das Resultat etwas Singuläres ist, ist die Abduktion die Schlussweise mit dem höchsten Risiko der Fehlbarkeit. Sie ist bloße Vermutung ohne Beweiskraft. Die folgende Tabelle dient der methodischen Verdeutlichung der Struktur der unterschiedlichen Schlussweisen.« Tabelle 1: Abduktion, Deduktion und Induktion (Wikipedia, 2019b) Abduktion

Deduktion

Induktion

Ergebnis

Diese Bohnen sind weiß.

Regel

Alle Bohnen aus diesem Sack sind weiß.

Fall

Diese ­Bohnen sind aus ­diesem Sack.

Regel

Alle Bohnen aus diesem Sack sind weiß.

Fall

Diese ­Bohnen sind aus ­diesem Sack.

Ergebnis

Diese Bohnen sind weiß.

Fall

Diese ­Bohnen sind aus ­diesem Sack.

Ergebnis

Diese Bohnen sind weiß.

Regel

Alle Bohnen aus diesem Sack sind weiß.

hypothetischer Schluss vom Schluss vom Allgemeinen Einzelnen und einer Regel auf das Einzelne auf eine Regelmäßigkeit

Schluss von einer üblichen Regelmäßigkeit auf das Allgemeine

Vieles, was einem durch die »phänomenologische Einstellung« geschenkt wird, ist innerhalb der Tabelle der Schlussweisen in Wahrheit nichts anderes als das Ergebnis von bewusster oder unbewusster Induktion und Deduktion. Das Wenigste davon ist das Ergebnis einer Neues erkennenden Abduktion und unter dem Aspekt des logischen Folgerns also auch riskant. Die umständliche, in ihren Zielen so vorsichtige klassische phänomenologische Einstellung in ihrer ursprünglichen erkenntniskritischen Form bei Husserl, die die Bedingungen schaffen möchte, unter denen diese Risiken absolut minimiert sind, erfährt eine plötzliche entlastende Wende hin zur Betonung des quasi nicht kontrollierbaren, nicht steuerbaren, plötzlichen gestalthaften Sinnverstehens neuer Zusammenhänge in der unentwegt sinnbildenden Leiblichkeit des Lebensvollzugs. Jakob von Uexküll, ein Biologe und »überzeugter Konstruktivist« beschreibt diesen Vorgang in einer sprechenden Vignette:

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»Als ich längere Zeit bei einem Freunde zu Gast war, wurde mir täglich zum Mittagessen ein Wasserkrug vor meinen Platz gestellt. Eines Tages hatte der Diener den Tonkrug zerschlagen und mir stattdessen eine Glaskaraffe hingestellt. Als ich beim Essen nach dem Krug suchte, sah ich die Glaskaraffe nicht. Erst als mein Freund mir versicherte, das Wasser stünde an seinem gewohnten Platz, schossen auf einmal verschiedene Glanzlichter, die auf Messern und Tellern verstreut lagen, durch die Luft zusammen und bildeten die Glaskaraffe. […] Das Suchbild vernichtet das Merkbild« (1956, S. 83). Letztlich zeigt die nüchterne Betrachtung mit dem vielgestaltigen Gang der Erkenntnis, dass es nicht so wichtig ist, wie eine erklärende Regel gefunden wurde, als vielmehr die Möglichkeit, sie wie im hermeneutischen Zirkel als Irrtum ausweisen und dann modifizieren zu können. Werden wahre Erkenntnisse jenseits von allgemeinen Regeln gewonnen und sollen diese Erkenntnisse zunächst auch nur für diesen Einzelfall gelten, wie es ja die »angewandte Phänomenologie« in den Aufstellungen anstrebt, die das Einzigartige des jetzt ablaufenden Geschehens erfassen möchte, jenseits von vorformulierten Hypothesen und Vormeinungen, müssen wir lernen, unserer Gestaltwahrnehmung zu vertrauen. Letztlich steckt in jeder plötzlichen Erkenntnis ein unbewusst ablaufender Denk- oder Bewertungsprozess, der die Stimmigkeit der Beziehung zwischen einem unbekannten Ganzen und unbekannten Teilen schon längst geprüft hat. Aber auch hier gilt von Uexkülls Feststellung: »Das Suchbild vernichtet das Merkbild« (1956, S. 83). Unter dieser neu gewonnenen Perspektive eines sich unendlich fortsetzenden Prozesses des Findens und Suchens lassen sich (erkenntniskritische, idealistische) husserlsche Phänomenologie und biologistische Gestaltpsychologie in einer ethischen Haltung vereinen: »Für ein lebendiges Bewusstsein besteht die einzige Art und Weise, vor die Wirklichkeit selbst zu treten, darin, sie als Unendlichkeit aller möglichen Bestimmungen zu antizipieren [und d. h. sie auch als eine solche Unendlichkeit anzusehen]. Ein (nicht aus sich selber heraustretendes [im kantschen Sinne in der Immanenz verbleibendes, verbleiben müssendes, auf sich selbst beschränktes,] lebendiges Bewusstsein vermag der Sache als solcher, der wahrhaft existierenden Sache, nur zu begegnen, indem es all das [bloß] anvisiert, was jeder von uns oder ein jeder [doch in Wirklichkeit] niemals [sicher] über sie wird sagen oder von ihr wird spüren können. Ein menschliches, d. h. ein ebenso lebendiges wie in Richtung auf die Welt ›als solche‹ dezentriertes [also zur Wirklichkeit draußen hinstrebendes] Bewusstsein, vermag das, was ist, nur vor dem Hintergrund einer unendlichen Antizipation

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[und aufgeschobenen Bestätigung] wahrzunehmen. Es kommt der Husserlschen Phänomenologie in ihrem Status als transzendentaler Idealismus zu, uns in diese Unverhältnismäßigkeit [unseres Erkenntnisstrebens] unterwiesen zu haben« (Bimbenet, 2017, S. 14, Herv. und Erläuterungen O. N.).

Schlusswort Zu den bereits vorhandenen Antworten auf die Frage: »Was ist Phänomeno­ logie?«, möchte ich nun meine Lesart hinzufügen. »Angewandte Phänomenologie« möchte die inneren Voraussetzungen eines bestimmten aktuellen Zustandes im Aufstellungsbild offenlegen. Dieser Vorgang lässt sich als ein Prozess der hermeneutischen Deutungspraxis und der damit verbundenen unwillkürlichen Gestaltbildungsprozesse beschreiben. Die bisher unerkannt wirkenden inneren und äußeren Voraussetzungen, Sinn­horizonte und größeren Ganzheiten des Sinn-Systems und die Bezüge zu anderen Systemen liegen zwar offen zutage, sie sind aber oft am Beginn unverständlich, unvollständig, müssen kunstvoll ergänzt und überprüft werden – und sie müssen wahrgenommen werden. Fehlende Teile oder systemisch übergeordnete Kräfte zwingen manchmal verstehbar, aber meist nur irritierend spürbar den einzelnen Teilen im Aufstellungsgeschehen ihre Rolle im noch unerkannten Ganzen auf und weisen oft nur so auf ihre Existenz hin. Arbeitet man phänomenologisch, so möchte man das Implizite explizit (Virginia Satir) machen. Und sei es, dass diese größeren Sinneinheiten und Systeme »nur« durch eine diffus zu benennende Stimmung oder eine innere Gestimmtheit an einer bestimmten Stelle des Raum- und Sinngeflechts wahrnehmbar werden, die aus sich selbst heraus keinen Sinn macht. Was dann so oder so bewusst und sichtbar geworden ist, kann dann durch Annahme verändert werden. Das Unbewusste und unsere gesamte sinnliche Wahrnehmung kann nicht anders und wird offensichtlich magisch angezogen von der sinnhaften Dynamik zwischen den Teilen zu einem unsichtbaren, vergessenen, noch nicht verstandenen Ganzen und beschäftigt sich damit. Es ist schon immer auf der kreativen Suche nach einer umfassenderen, besseren Sicht auf das, was sich wahrnehmen lässt. Und die Vernunft kann dem manchmal nachfolgen. Zum Schluss möchte ich auf die eingangs geäußerte These zurückkommen, dass es sich bei der Beschäftigung mit der phänomenologischen Methode wahrscheinlich nicht um eine schnell erlernbare Technik handelt, sondern darum, eine besondere Offenheit der inneren Haltung für alles, was sich zeigen möchte, in sich zu entwickeln und den Weg dorthin zu finden. Die sensible

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unverbaute Wahrnehmung und Beschäftigung mit den inneren emotionalen Prozessen und Wahrnehmungen, die sich während eines Gestaltbildungsprozesses im eigenen Körper abspielen, Gefühle von Unlust, Zähigkeit oder plötzlicher Lösung und Befreiung beispielsweise, gehören zu dem Teil, der nur durch Auseinandersetzung mit den eigenen blinden Flecken gelingen kann. Wer gewohnheitsmäßig in sich bestimmte Erkenntnisse bzw. Wahrnehmungen nicht zulässt, weil sie innerhalb des eigenen Herkunfts- und Wertesystems Schmerzen verursachen, und deshalb deren Wahrnehmung blockiert, kann sie auch in der Konfrontation mit dem außerhalb liegenden Fall nicht wahrnehmen und erfindet, beschönigt oder verpasst stattdessen etwas. Die Arbeit an diesen blinden Flecken ist meiner eigenen Erfahrung nach ein wesentlicher Teil der phänomenologischen Arbeit und geschieht in jedem Moment. Die Suche nach einer absoluten, sicheren Methode jenseits eigenen persönlichen Wachstums erscheint mir unter dieser Perspektive keine besonders vernünftige Idee zu sein. Ich folge deshalb dem Paradox des Gleichen und den fünf Stufen von der Regel zur Meisterschaft: 1. Wir lernen ein System von Regeln, die andere aufgestellt haben. 2. Wir lernen es, diese Regeln anzuwenden. 3. Wir modifizieren diese Regeln und entwickeln eigene Regeln. 4. Wir erfinden ein eigenes System von Regeln. 5. Wir arbeiten ohne Regeln.

Literatur Adorno, Th. W. (2003). Noten zur Literatur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bimbenet, E. (2017). Die transzendentale Formel. Über den Beitrag der Phänomenologie zur philosophischen Anthropologie. Trivium Revue franco-allemande de sciences humaines et sociales. Deutsch-französische Zeitschrift für Geistes- und Sozialwissenschaften, 25, 1–18. Gadamer, H. G. (1993). Wahrheit und Methode. Ergänzungen. Register (2. Aufl.). Tübingen: J. C. B. Mohr. Heidegger, M. (1934). Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Zugriff am 23.06.2019 unter http://www.staff.uni-giessen.de/~g31130/PDF/polphil/Heidegger.pdf Kim, D. H. (2005). Subjekt oder Dasein. Heideggers Auseinandersetzung mit Descartes und Kant in Bezug auf die Subjektivität des Subjekts in der modernen Philosophie. Dissertation. Zugriff am 23.06.2019 unter https://elib.suub.uni-bremen.de/diss/docs/E-Diss963_ Dissertation.pdf Lichtenberg, G. Ch. (1778). Sudelbuch F. Zugriff am 23.06.2019 unter https://gutenberg.spiegel. de/buch/aphorismen-sudelbucher--6445/7 Lorenz, K. (1959). Gestaltwahrnehmung als Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis. Zeitschrift für experimentelle und angewandte Psychologie, 6 (1), 118–165. Metzinger, T. (2014). Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik. Berlin: Berlin Verlag.

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Olivier Netter

Netter, O. (2015). Aufstellen – eine kultgeschichtliche Betrachtung. In K. Nazarkiewicz, K. Kuschik (Hrsg.), Handbuch Qualität in der Aufstellungsleitung (S. 133–158). Göttingen: Vanden­ hoeck & Ruprecht. Schardt, F. (2016). Hermeneutik. Zugriff am 23.06.2019 unter http://friedel-schardt.de/hermeneut.htm Uexküll, J. von (1956). Streifzüge durch die Umwelt und von Menschen und Tieren. Hamburg: Rowohlt. Wikipedia (2019a). Induktion. Zugriff am 23.06.2019 unter https://de.wikipedia.org/wiki/Induktion_(Philosophie) Wikipedia (2019b). Abduktion. Zugriff am 23.06.2019 unter https://de.wikipedia.org/wiki/Abduktion Zahavi, D. (im Druck). Applied Phenomenology. Why it is Safe to Ignore the Epoché. Continental Philosophy Review, 52 (2), 1–15.

Thomas Latka

In Gefühle eintreten Systemaufstellungen und Neue Phänomenologie

Einleitende Worte Systemaufstellungen stellen eine mehrfache Provokation für unser abendländisches Denken dar. Zum einen zeigen Aufstellungen, dass Gedanken und Gefühle offensichtlich keine Privatsachen sind, sondern von beliebigen Stellvertretern gefühlt werden können und wir Lebewesen damit offensichtlich mehr miteinander in Resonanz gehen können, als wir es in unserem aufgeklärten individualistischen Denken gewöhnlich für möglich halten. Zum anderen scheint der in Aufstellungen eröffnete Raum und die leibliche Verortung darin für die therapeutische Arbeit eine größere Rolle zu spielen, als von dem philosophischen Mainstream zugestanden werden kann. Denn der Mainstream geht wie Descartes im 17. Jahrhundert auch heute noch implizit davon aus, dass alles Seelische im Grunde unräumlich und unausgedehnt ist. Diese beiden Provokationen des westlichen philosophischen Mainstreams eröffnen den Raum für allerlei Spekulationen, sei es mit oder ohne Bezug auf die akademische Philosophie, wie sie an Universitäten in Deutschland oder anderswo gelehrt wird. Im Folgenden möchte ich eine Möglichkeit vorstellen, die Provokationen der systemischen Aufstellungspraxis mithilfe der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz zu reflektieren. Ich sehe darin folgende Vorteile: ȤȤ Die Neue Phänomenologie ist eine philosophische Richtung der Gegenwart, welche akademisch verortet ist und zugleich an einem interdisziplinären Dialog interessiert ist, auch gerade mit therapeutischen Berufsgruppen. ȤȤ Die Neue Phänomenologie legt den Schwerpunkt darauf, dass Gefühle zwar subjektiv gefühlt werden, aber keine Privatsachen sind, sondern einen quasi-­ objektiven Status haben. Das deckt sich mit der ersten Provokation der Aufstellungspraxis.

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ȤȤ Der Neuen Phänomenologie geht es im Kern um die Räumlichkeit des Erlebens und die leibliche Verortung der Gefühle, worin sie mit der zweiten Provokation der Aufstellungsarbeit übereinstimmt. Aus den aufgezählten Gründen finde ich es lohnenswert, die Aufstellungs­praxis im Lichte der Neuen Phänomenologie zu betrachten und die gemeinsamen Provokationen in Theorie und Praxis zu thematisieren, die unser Denken herausfordern.

Neue Phänomenologie Die Aufstellungsarbeit versteht sich als systemisch-phänomenologische Praxis, wobei ein klares Bekenntnis zu einer bestimmen phänomenologischen Tradition eher selten zu finden ist. Im Vordergrund steht eine phänomenologische Haltung, die weniger strategisch eingreifend ist, als vielmehr darauf vertraut, dass sich etwas zeigt, wenn man den Phänomenen entsprechend Raum gibt und den Wahrnehmungen der Stellvertreter folgt. Um die Voraussetzungen und Essenzen der Aufstellungsarbeit als systemisch-phänomenologische Methode zu ergründen, bietet es sich an, den Dialog mit der philosophischen Phänomenologie zu suchen: das nicht nur, um den Anschluss an die aktuelle wissenschaftliche Debatte zu erlangen, sondern auch, um selbst Stellung beziehen zu können, was man unter einer phänomenologischen Ausrichtung der eigenen Arbeit überhaupt versteht. Die Neue Phänomenologie bietet sich hier als Dialogpartner für die Aufstellungspraktiker besonders an, da es schon seit einigen Jahren einen regen interdisziplinären Austausch zwischen Philosophen, Fachwissenschaftlern sowie Praktikern gibt, der sich auch und insbesondere mit therapeutischen Themen beschäftigt. So gab und gibt es einen regelmäßigen Austausch und Treffen zwischen Therapeuten und Philosophen sowie auch therapeutische Supervisionen mit Phänomenologen. Zudem ist die neophänomenologische Betrachtung therapeutischer Themen immer wieder Gegenstand von zahlreichen Veröffent­ lichungen (z. B. Becker, 2013). Die Neue Phänomenologie ist eine seit den 1960er Jahren von Hermann Schmitz begründete phänomenologische Richtung, die sich zwar bewusst auf die ältere phänomenologische Tradition bezieht, aber ebenso bewusst in einigen Punkten von ihr abgrenzt, weshalb Schmitz von einer Neuen Phänomenologie spricht. Aufgabe der Philosophie ist für Schmitz das »Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung auf Grund einer Beirrung dieses

In Gefühle eintreten

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Sichfindens« (2014, S. 9). Dieses »Sichbesinnen« sei der älteren Phänomenologie um Husserl, Scheler, Heidegger, Sartre und Merleau-Ponty nicht gelungen, »weil ihr der Durchbruch durch die Kruste der dominanten Abstraktionsbasis entweder gar nicht oder bestenfalls als Bruch und nicht als Aufbau einer neuen, tieferliegenden Stellung gelang« (1998, S. 8 f.). Schmitz ist es mit seiner Phänomenologie daran gelegen, »die klaffende Spanne zwischen Begreifen und Betroffensein durch gedankliches Durchleuchten der unwillkürlichen Lebenserfahrung mit genauen und geschmeidigen Begriffen zu füllen und dadurch das Betroffensein der Besinnung anzueignen« (S. 8). Dazu macht er die Neue Phänomenologie zum Anwalt der unwillkürlichen Lebenserfahrung, welche er von Verkürzungen, Verkünstelungen und Verbiegungen freizulegen versucht, um den tatsächlich erlebten Phänomenen als subjektiven Tatsachen möglichst nahe zu kommen. Im Folgenden soll versucht werden, die zwei Provokationen, die in der Aufstellungsarbeit stecken, mithilfe der Neuen Phänomenologie zu beleuchten, um so die Voraussetzungen der Aufstellungspraxis klarer erkennen zu können.

Gefühle sind keine Privatsachen Gewöhnlich sprechen wir davon, dass Gefühle Privatsachen sind, d. h. dass kein Fremder Zugang zu den Gefühlen eines anderen hat. Die naturwissenschaftliche Tendenz, Gefühle lediglich als neuronales Feuern von Gehirnarealen zu verstehen, verstärkt diese Tendenz zur Lokalisierung der Gefühle im abschließbaren Inneren eines Menschen. Zwar wird zugestanden, dass Gefühle häufig auch einen körperlichen Ausdruck haben, von dem man auf das Gefühl schließen könnte, aber die meisten Wissenschaften sind sich einig, dass es sich bei Gefühlen um objektivierbare Neuronenfeuer im physisch lokalisierten Gehirn handelt, die lediglich mittels technischer Hilfsmittel wie bildgebender Verfahren sichtbar gemacht werden können. Gefühle sind als neuronale Zustände letztlich im Inneren des Menschen abgeschlossen, worauf auch die neurokonstruktivistische Erkenntnistheorie beruht, die in zahlreichen Fortbildungen zu systemischen Therapieverfahren immer noch als unhinterfragte Erkenntnistheorie angeboten wird. Offensichtlich verfügt diese Sichtweise eines abgeschlossenen inneren Erlebens über ausreichende und unhinterfragte Plausibilität auch unter systemischen Therapeuten, vielleicht nicht zuletzt, um damit die hochgehaltene Autonomie des subjektiven Erlebens zu begründen. Auch wenn dies gut gemeint sein mag, bleibt es logisch jedoch ein Kategorienfehler, denn eine Erkenntnistheorie kann nun mal nicht naturwissenschaftlich begründet werden. In diesem

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Fall setzt der Naturwissenschaftler selbst immer schon eine eigene Erkenntnistheorie voraus, die unhinterfragt meist ein naiver Realismus ist. Die Abgeschlossenheit des inneren Erlebens bezeichnet die Neue Phänomenologie klar als Irrweg des philosophischen Denkens und kritisiert sie als introjektionistische und psychologistische Verfehlung der abendländischen Philosophie. Gefühle seien zwar subjektiv, insofern sie am eigenen Leib gefühlt werden, aber keineswegs Privatsachen einer abgeschlossenen Psyche, so die neophänomenologische Gegenthese. Die Vorstellung, dass Gefühle zum Privatbesitz eines Menschen gehören, wird als possessorisches Missverständnis bezeichnet: »Man kann keine Gefühle besitzen. Wenn wir etwas fühlen oder ›gestimmt‹ sind, dann haben wir nicht eigentlich eine Stimmung oder ein Gefühl, sondern im Gegenteil, die Stimmung oder das Gefühl hat uns. Wir sind das Gefühl, das uns hat, [sic] und das wir nur insofern haben, als wir es uns gezwungener Maßen [sic] zuschreiben. Denn das Gefühl ist es, was uns ›stimmt‹ oder fühlen lässt. Die Rede davon, dass wir ein Gefühl haben, ist also – ähnlich wie die von den Schmerzen, die man hat – irreführend, denn Gefühl, Stimmung, aber auch Schmerz halten uns in ihrem Bann, [sic] und nicht wir sie in unserem« (Rappe, 2012, S. 277). Wenn man dieser neophänomenologischen Auffassung folgt, dass Gefühle quasi-­ dingliche Atmosphären sind, in die wir eintauchen und die uns unwillkürlich ergreifen können, dann ist es auch vorstellbar, dass man, wie z. B. als Stellvertreter in Aufstellungen, Gefühle fühlen kann, die gar nicht zur eigenen Person gehören. Die Neue Phänomenologie unterscheidet daher auch streng zwischen dem Gefühl und dem Fühlen eines Gefühls. Jeder Mensch oder sogar jedes Lebewesen ist in der Lage zu fühlen, aber eben nicht nur die eigenen Gefühle, da es im strengen Sinn gar keine »eigenen Gefühle« gibt. Das Fühlen ist individuell und subjektiv, aber die Gefühle haben atmosphärische Qualitäten und erhalten somit einen quasi-objektiven Status. Die Neue Phänomenologie spricht davon, dass Gefühle dingähnliche Eigenschaften haben und bezeichnet diese daher als »Halbdinge« (Schmitz, 2003, S. 14). Ein Halbding ist weder ein objektives Ding noch eine subjektive Empfindung, sondern hat einen merkwürdigen Zwischenstatus, der in der westlichen Philosophie zu kurz gekommen ist, da man – auch der indoeuropäischen Sprache geschuldet – stets versucht hat, alle Phänomene des Erlebens entweder einem Subjekt- oder Objektpol zuzuordnen. Damit fallen jedoch zahlreiche Phänomene durch den Subjekt-Objekt-Spalt hindurch und werden – ähnlich wie das Aufstellungsphänomen – in ihrer phänomenalen Eigenart nicht vollständig

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erfasst. Die Neue Phänomenologie möchte mit dem Begriff des Halbdinges ein adäquates Alternativmodell zur Verfügung stellen. Beispiele für Halbdinge sind der Wind, der Blick, die Stimme oder auch eine Melodie, die tiefe Stille und allgemein »Gefühle als ergreifende Mächte« (Schmitz, 2010, S. 173). Halbdinge unterscheiden sich von den Dingen in doppelter Hinsicht. Zum einen sind sie nur so lange da, wie sie gespürt werden. Sie kommen, verschwinden und kommen wieder und es hat keinen Sinn, danach zu fragen, wo sie in der Zwischenzeit gewesen sind. Zum anderen haben Halbdinge »eine besondere Dynamik, mit der sie betroffen machen und zudringlich werden« (Schmitz, 2007, S. 217), und entsprechen damit der Wirkung selbst, die sie spürbar auf uns ausüben. Im Unterschied zu Dingen, bei denen man zwischen Ursache und Einwirkung unterscheiden kann, fallen bei Halbdingen Ursache und Einwirkung zusammen, »wodurch Halbdinge eine spezifische Unmittelbarkeit oder Zudringlichkeit ihres Einwirkens gewinnen« (Schmitz, 2003, S. 14). Die Wahrnehmung von Halbdingen geschieht als Einleibung, d. h. nicht als vereinzelte Reizungen der körperlichen Sinneskanäle, sondern als gesamtleibliches situatives Spüren, was los ist. Das leibliche In-der-Welt-Sein ist damit eine grundlegend andere Art des Weltzugangs als der eines Körpers, welcher sich entweder von Außenreizen affizieren lässt oder nur noch selbstreferenziell und grenzbildend vor sich hin prozessiert. Versteht man vor diesem Hintergrund die Aufstellungspraxis, dann ist es nicht mehr verwunderlich, wenn Stellvertreter in Aufstellungen scheinbar fremde Gefühle spüren können und auch ohne Hintergrundinformationen in der Aufstellung erfahren können, was los ist. Gefühle sind zumindest in Aufstellungen keine Privatsache mehr, sondern haben als Halbdinge quasi-objektive Eigenschaften, die von leiblichen Stellvertretern wahrgenommen werden können. Diese fremden Gefühle können wie selbstverständlich am eigenen Leib gefühlt werden und können ebenso selbstverständlich wieder verschwinden, wenn man – wie z. B. beim Entrollen nach Aufstellungen – aus dem leiblichen Spüren eines Stellvertreter-Gefühls hinaustritt, um den eigenen Körper wieder »für sich« zu haben. Die Selbstverständlichkeit, mit der diese Phänomene in Aufstellungen stattfinden und von jedermann am eigenen Leib erlebt werden können, lässt darauf deuten, dass das situative Fühlen fremder Gefühle für Lebewesen überhaupt nichts Ungewöhnliches ist, dass diese Phänomene es nur angesichts eines jahrtausendealten Subjekt-Objekt-Denkens bislang nicht geschafft haben, wissenschaftlich und philosophisch ernst genommen zu werden. Das dominante naturwissenschaftliche Weltbild ist geprägt von zum Teil historisch, sprachlich und kulturell geprägten Einseitigkeiten, die erst noch aufgelöst oder ergänzt werden müssen, bevor eine angemessene Berücksichtigung

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der Aufstellungsarbeit möglich zu sein scheint. In anderen Kulturen, wie z. B. in Ostasien, haben Phänomene von Halbdingen eine viel reichere Tradition und damit auch einen höheren Stellenwert in der philosophischen Reflexion. So ist z. B. das zentrale Thema der japanischen Philosophie weder Subjekt noch Objekt, sondern der leiblich-atmosphärische Zwischenraum, aus dem beide erst hervorgehen (vgl. Hisayama, 2014, 2015). Es ist daher zu wünschen, dass wir unsere kulturell bedingten Denkkategorien erweitern, auch um die Aufstellungspraxis weiterentwickeln und tiefer begründen zu können. Dazu – so die Neue Phänomenologie – sind drei philosophische Verfehlungen zu überwinden, denen wir uns in unserem abendländischen Denken ausgesetzt sehen: ȤȤ Psychologismus: Die Vorstellung, dass jeder Mensch eine abgeschlossene Innenwelt (z. B. Seele, Psyche, Gehirn) hat, in der sein gesamtes Erleben Platz hat. ȤȤ Reduktionismus: Die Vorstellung, dass es in der sogenannten Außenwelt nur wenige am Festkörpermodell abgelesene Merkmalssorten gibt, die für Statistik und Experiment geeignet sind. ȤȤ Introjektionismus: Die Vorstellung, dass alle Qualitäten, die nicht an Dingen der Außenwelt abgelesen werden können, nur subjektive Introjekte sind, die lediglich auf die Außenwelt projiziert werden. Demgegenüber bietet die Neue Phänomenologie ein alternatives Konzept an, das – um diese Verfehlungen zu vermeiden – sich auf leibphänomenologische und situationsonotologische Ansätze beruft und sich primär dem phänomenalen unwillkürlichen Erleben in Situationen widmet und weniger der künstlichen Laborsituation eines naturwissenschaftlichen Settings. Situationsontologisch bedeutet hier, dass nicht die abzählbaren Dinge oder Ereignisse im Fokus der Betrachtung stehen, sondern primär ganzheitliche Situationen, in denen Dinge oder ein Geschehen erst ihren Platz haben. Da an dieser Stelle leider keine Einführung in die Neue Phänomenologie geleistet werden kann, sei auf die einschlägige Literatur von Hermann Schmitz (z. B. 2009) verwiesen.

Leibliche Verortung von Gefühlen Eine zweite philosophische Provokation der Aufstellungsarbeit besteht darin, dass Gefühle mittels Stellvertreter erstaunlich genau verräumlicht und verortet werden können. Stellvertreter können genau sagen, an welchen Positionen sie welche Empfindungen haben und welchen Unterschied im Fühlen es macht, den Standort auch nur geringfügig zu ändern. Gefühle scheinen sich in Auf-

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stellungen förmlich an bestimmten Orten zu befinden, ebenso wie ganzheit­ liche Atmosphären den gesamten therapeutischen Raum durchziehen, in dem sich die Aufstellung ereignet. Die Räumlichkeit und Örtlichkeit von Gefühlen ist jedoch ein Thema, mit dem sich die westliche Philosophie bislang eher schwergetan hat. Spätestens im 17. Jahrhundert wurde mit Descartes alles räumlich Ausgedehnte vom Seelischen und Gefühlten bereinigt und der Raum ausschließlich den naturwissenschaftlichen Beobachtern zur Erforschung überlassen. Der Mensch sollte sich als willentlich denkendes Ich verstehen, dessen Fühlen und Denken förmlich raumlos ist. Seelisches hat in dieser Konzeption keinen Ort, nimmt keinen Raum ein. Die Neue Phänomenologie bietet hier jedoch eine besondere Chance für einen Perspektivwechsel, denn es geht Schmitz im Kern um die Räumlichkeit der Gefühle. In der Einleitung zu seinem Band »Der Gefühlsraum« betont er den qualitativen Sprung, der in dem räumlichen Verständnis von Gefühlen liegt: »Dieses Buch ist das Kernstück meines ›Systems der Philosophie‹. Schon in der Vorrede zum 1. Band habe ich darauf hingewiesen, welche entscheidende Bedeutung ich dem ›qualitativen Sprung‹ im menschlichen Selbstverständnis beimesse, der darin besteht, die Introjektion der Gefühle durch die Einsicht in deren Räumlichkeit abzulösen« (2005, S. XIV). Das teilnehmende Erspüren in Aufstellungen ist ein gutes Beispiel dafür, dass man in Gefühle eintreten kann, wie es Hermann Schmitz in seiner Neuen Phänomenologie formuliert. Die Neue Phänomenologie rehabilitiert damit die Räumlichkeit der Gefühle, die – wie Schmitz diagnostiziert – im fünften vorchristlichen Jahrhundert verloren gegangen zu sein scheint. Schmitz distanziert sich damit von dem reduktionistischen Verständnis des Räumlichen, das sich sehr früh noch vor Platon entwickelte: »Die physiologistische Reduktion legt sich spätestens seit Demokrit auf ein ziemlich einseitiges Modell des Räum­ lichen fest, das als ernst zu nehmender Gegenstand stehen gelassen wird: auf das Modell des festen, von Flächen begrenzten, neben anderen seinesgleichen aufgereihten, vom Subjekt abrückbaren Körpers, so etwa, wie er sich im zentralen Gesichtsfeld darstellt« (1980, S. 36). Schmitz sieht die Engführung darin, dass mit dem Beginn der griechischen Geometrie bei Pythagoras Räume nur auf Flächen reduziert und flächenlose Räume komplett vergessen wurden: »Das beginnt mit der griechischen Geo­metrie, die überwiegend ebene Flächen betrachtet und auch in der Stereo­metrie der platonischen Körper diese durch die Zahl ihrer Oberflächen charakterisiert, und pflanzt sich fort über die cartesische Koordinatengeometrie bis zur modernen Mathematik und Physik. Unter den flächenhaltigen Räumen wurden die flächenlosen vergessen, obwohl sie in der faktischen,

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unwillkürlichen Lebenserfahrung in vielen und reichen Gestalten vorkommen« (2011, S. 12). Um dem Raumerleben in der unwillkürlichen Lebenserfahrung gerecht zu werden, führt Schmitz die Konzeption eines Weite- und Richtungsraumes ein. Der Weiteraum ist der unmittelbar phänomenale Raum, der Enge und Weite spürbar werden lässt, wie z. B. als Enge der Brust beim Schreck oder als Weitegefühl beim Dösen. Über den Weiteraum hinaus gibt es im Richtungsraum zudem gerichtete Gefühle, mit oder ohne Endpunkte. Gefühle können also weit oder eng sowie als verschiedenartig ausgerichtet erlebt werden. Mit dieser Grundlegung des erlebten Raumes distanziert sich Schmitz stark vom Verständnis des naturwissenschaftlichen Raummodells, das unendlich, zeitlos und ohne ausgezeichnete Orte ist. Demgegenüber steht die Erfahrung in Aufstellungen, dass genaue Positionen der Stellvertreter zueinander in Aufstellungen eine besondere Rolle spielen und Stellvertreter sehr genau sagen können, welchen Unterschied ein Stellungswechsel mit sich bringt und wo ein besserer Ort für sie ist. Oftmals sind es nur Zentimeter, die für das affektive Betroffensein der Stellvertreter einen gravierenden Unterschied ausmachen. Da Aufstellungen im Raum verschiebbar sind, zählt mehr als der absolute Ort im Raum der relative Ort im Verhältnis zu anderen Stellvertretern im Raum. Da diese leibliche Verortung eines Stellvertreters in einer atmosphärisch geladenen Situation für die Aufstellungspraxis so zentral ist, ist es für den Aufstellungsleiter wichtig, sich dieser Voraussetzung immer bewusst zu sein und an der eigenen Fähigkeit zu arbeiten, diese atmosphärischen Qualitäten am eigenen Leib auch wahrzunehmen.

Essenzen Dieses Buch stellt sich die Fragen: Was ist das Wesentliche der Aufstellungsarbeit? Was sind die Voraussetzungen der Aufstellungsarbeit? Neophänomenologisch betrachtet ist das Wesentliche an Aufstellungen, dass sie ein gutes Beispiel für die leibliche Räumlichkeit und die Quasi-Objektivität der Gefühle sind. Aufstellungsarbeit ermöglicht es jedem Menschen, ohne Vorbereitung und besondere Begabung quasi zum Resonanzkörper für leibliches Befinden zu werden und Gefühle von anderen zu spüren. Dass diese nie rein sind und stets von leiblichen Dispositionen mehr oder weniger gefärbt sein können, ist selbstverständlich. Dennoch fragt man sich in der Praxis immer wieder erstaunt, wieso diese medialen Erfahrungen scheinbar so leicht und häufig treffend möglich sind, dass den Gefühlen phänomenologisch eine Quasi-Objektivität zuge-

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standen werden muss. Der neophänomenologische Ansatz, die Gefühle als Halbdinge zu erfassen und das Gefühl vom Fühlen zu unterscheiden, kann ein wesentlicher Beitrag zur Beantwortung der Frage sein, warum diese medialen Erfahrungen in Aufstellungen überhaupt möglich sind. Immer dort, wo man Phänomene in Aufstellungen einseitig der Subjekt- oder Objektseite zuordnen will, also »nur als subjektiv« und »nicht objektiv messbar« oder »nur als objektiv« und »nicht subjektiv beeinflusst« betrachtet, sollte man sich die dritte Möglichkeit offenhalten, dass Phänomene auch jenseits dualer Deutungen aus der Weise des leiblichen In-der-Welt-Seins selbst aufsteigen können. Dieses In-derWelt-Sein plausibel als Alternative zum Subjekt-Objekt-Spalt zu denken, ist in der Tat eine Herausforderung für unser westliches Denken, dem sich die Neue Phänomenologie stellt. Darin sehe ich eine wesentliche Chance, der Essenz der Aufstellungsarbeit näherzukommen. Aufstellungsarbeit ist wesentlich geprägt davon, Gefühle in den Raum zu bringen und diese von Stellvertretern leiblich verorten zu lassen. Die Neue Phänomenologie trägt wesentlich dazu bei, dass die Raum- und Ortsqualität von Gefühlen nicht als Epiphänomen, also als unwichtige Begleiterscheinung abgewertet werden muss, sondern gegen 2.500 Jahre Philosophiegeschichte zum Kern eines philosophischen Systems gemacht werden kann. Damit kann die Neue Phänomenologie viele Einseitigkeiten des introjektionistisch-­reduktionistischpsychologistischen Weltbildes korrigieren, das uns bisher daran gehindert hat, die Möglichkeitsbedingungen und die Essenz der Aufstellungsarbeit angemessen benennen zu können.

Literatur Andermann, K., Eberlein, U. (Hrsg.) (2012). Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie. Berlin: Akademie. Becker, H. (2013). Zugang zu Menschen. Angewandte Philosophie in zehn Berufsfeldern. Freiburg u. München: Alber. Drexler, D. (2015). Einführung in die Praxis der Systemaufstellungen. Heidelberg: Carl-Auer. Hisayama, Y. (2014). Erfahrungen des ki – Leibessphäre, Atmosphäre, Pansphäre. Eine transkulturelle Phänomenologie der Sphären. Freiburg u. München: Alber. Hisayama, Y. (2015). Individuum und Atmosphäre. Überlegungen zum Distanzproblem am Beispiel das japanischen Wortes kûki. In M. Großheim, A. Hild, C. Lagemann, N. Trcka (Hrsg.), Leib, Ort, Gefühl. Perspektiven der räumlichen Erfahrung (S. 56–70). Freiburg u. München: Alber. Rappe, G. (2012). Leib und Subjekt. Phänomenologische Beiträge zu einem erweiterten Menschenbild. Bochum u. Freiburg: projektverlag. Schmitz, H. (1980). Neue Phänomenologie. Bonn: Bouvier. Schmitz, H. (1998). Der Leib, der Raum und die Gefühle. Ostfildern: Ed. Tertium. Schmitz, H. (2003). Was ist Neue Phänomenologie? Rostock: Ingo Koch.

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Schmitz, H. (2005). Der Gefühlsraum (System III.2). Bonn: Bouvier. Schmitz, H. (2007). Der unerschöpfliche Gegenstand. Bonn: Bouvier. Schmitz, H. (2009). Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie. Freiburg u. München: Alber. Schmitz, H. (2010). Jenseits des Naturalismus. Freiburg u. München: Alber. Schmitz, H. (2011). Der Leib. Berlin u. Boston: De Gruyter. Schmitz, H. (2014). Gibt es die Welt? Freiburg u. München: Alber.

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Sehen und Sinn Zum phänomenologischen Ansatz in der Aufstellungsarbeit

Zum Wesentlichen der Aufstellungsarbeit gehört die phänomenologische Methode. Das ist meine These, von der ich nicht weiß, inwieweit darüber bei all denen, die mit Aufstellungen arbeiten, über alle theoretischen und praktischen Differenzierungen hinweg Einigkeit besteht. Ich halte den phänomenologischen Ansatz schon dadurch für vorgegeben, dass in Aufstellungen Beziehungen zwischen unterschiedlichen Personen und Elementen eines Beziehungssystems über Repräsentanten in einem Raum in »Erscheinung« gebracht werden. Phänomenologie meint in seiner Wortbedeutung die »Lehre von den Erscheinungen«. Sie stellt zwei Grundfragen: Wie können wir die Dinge an uns herankommen lassen, ohne sie mit dem schon Gewussten zuzudecken? Und: Was tut das Bewusstsein dazu, wenn wir die Dinge an uns herankommen lassen?

Sehen und Sinn Wir können in Anlehnung an den Philosophen Husserl (1859–1938), der als Begründer der Phänomenologie als einer wissenschaftlichen Methode gilt, ein Phänomen als ein Wirkliches bezeichnen, das dem Bewusstsein unmittelbar zur Verfügung steht. Bewusstsein ist immer ein Bewusstsein von etwas »draußen«, das ins Bewusstsein kommt. Die Grundannahme der Phänomenologie ist eine doppelte. Die Phänomene zeigen sich in der sinnlichen Wahrnehmung unmittelbar, aber nur insoweit, wie das Bewusstsein auf sie ausgerichtet ist. Man spricht von der Intentionalität des Bewusstseins. Im Zusammenhang dieses Beitrags wird das von Bedeutung, wenn es weiter unten um die Absichtslosigkeit in der Aufstellungsarbeit geht. Die phänomenologische Methode kann so aufgefasst werden, dass die Phänomene einfach so beschrieben werden, wie sie über unsere Sinne beobachtet

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werden können. Ich betrachte hier die phänomenologische Methode in der Weise, wie sie von Bert Hellinger in Bezug vor allem auf den Schüler von Husserl, Martin Heidegger (1889–1976) für die Aufstellungsarbeit aufgegriffen wurde: Phänomene können wahrgenommen, d. h. in ihrem Sinn verstanden und somit zur Grundlage einer Erfahrung werden. In der Wahrnehmung eines Phänomens verbindet sich über unsere Sinne das, was sich uns von der Sache her zeigt, mit unserem bewussten Hinschauen. Was bedeutet das für das Aufstellen unter der Annahme, dass die phänomenologische Methode ihm eigen ist? Aufstellungen beruhen methodisch auf dem »Sehen wir es uns einmal an« (Ich benutze hier den Begriff »Sehen« für alle Wahrnehmungskanäle, sofern sie etwas über die Sinne in Erscheinung bringen). Wir reden nicht über ein Problem, sondern wir setzen einen im Problem oder in der Frage mitgegebenen Beziehungskontext über das Stellen der Repräsentanten für unsere Anschauung ins Bild. Diesem mehr oder weniger mit Sprache verbundenen Bild setzen wir uns dann aus, sowohl über die Beobachtung, also dem genauen Hinschauen auf Details, als auch über die Wahrnehmung, dem Aufnehmen des Prozesses als Ganzem mit den darin enthaltenen Informationen, die über die beobachtbaren Details hinausgehen. Der Sinn der Aufstellung für den Klienten wird also nicht auf der Basis der Aufstellungsphänomene konstruiert, sondern er ergibt sich. Wir bauen darauf, dass das bloße Bild der Aufstellung über deren mehr oder weniger gesteuerten Prozessentwicklung zu einer »Erscheinung« wird und so bestimmte seelische Prozesse des Klienten und seines Beziehungsfeldes verstehen lässt. Der Aufstellungsprozess teilt dem Klienten insofern eine Wahrheit mit, als sie für sein Leben Bedeutung gewinnt. Er kann etwas in Bezug auf sein Anliegen, seine Lebenssituation, seine Familiengeschichte wahr-nehmen. Ich möchte anhand eines Fallbeispiels, das ich in anderem Zusammenhang schon einmal erwähnt habe (Schneider, 2009, S. 68) in den Grundzügen aufschlüsseln, was das Gesagte für die Aufstellungspraxis bedeutet. Ich wähle dieses »ideale« Beispiel, weil es auf einfache Weise verdeutlichen kann, wie ich den Zusammenhang von Aufstellungsprozess und phänomenologischer Methode sehe. In einem Workshop während eines Kongresses in Mexiko wollte eine teilnehmende Psychotherapeutin an einem persönlichen Problem arbeiten. Sie hatte ihr linkes Bein in Gips und sagte, sie habe sich dieses Bein nun zum dritten Mal innerhalb kurzer Zeit schwer verletzt und müsse wissen, was das mit ihr zu tun habe. Andernfalls falle es ihr schwer weiter zu arbeiten. Sie hatte Tränen in den Augen und es war sofort spürbar, dass es um etwas für sie Bedeutsames ging. Um die Energie in der Äußerung ihres Anliegens unmittelbar

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aufzunehmen, sagte ich zu ihr. »Gut, wir schauen uns das mal an. Hole jemand für dich und jemand für dein linkes Bein.« Sie holte eine Stellvertreterin für sich und eine Frau als Repräsentantin ihres linken Beines. In etwa drei Metern Abstand stellte sie die beiden Frauen gegenüber. Das »Bild« entwickelte sich sofort zu einem Prozess: Die Repräsentantin des linken Beines wollte zu der Stellvertreterin der Therapeutin hin. Doch diese lief weg. Das »linke Bein« lief ihr nach, doch sie lief weg. Nach einer kleinen Weile sagte ich: »Halt!«, und zur Therapeutin: »Hole jemand für deine Mutter und jemand für deinen Vater.« Sie stellte die neuen Stellvertreter etwas abseits dazu. Und wieder schauten wir, was passiert. Das »linke Bein» schaute jetzt auf die Mutter und wollte zu ihr hin. Doch auch die lief weg und das »Bein« hinter ihr her. Die Bewegung glich sich, wie ein Fange-Spiel, so dass einige der um das Aufstellungsfeld sitzenden Workshop-Teilnehmer lachten. Wieder sagte ich: »Halt!« und ließ die Therapeutin Stellvertreter für die mütterliche Großmutter und den mütterlichen Großvater dazustellen. Jetzt schaute das »linke Bein« auf den Großvater und ging zu ihm hin. Und der schloss es liebevoll in seine Arme. Ich fragte die neben mir sitzende Therapeutin, ob das für sie Sinn ergebe, was sie da sehe. Da schlug diese mit einer Hand auf ihre Stirn und sagte: »Ja, natürlich. Das weiß ich ja auch.« Dann erzählte sie folgende Geschichte: »Mein Großvater war stolzer Besitzer einer Hazienda und eines Motorrades. Er fuhr gerne und viel mit seinem Motorrad, hatte einen Unfall und verletzte sein linkes Bein schwer. Die Ärzte sagten, das werde nicht heilen. Er müsse es sich abnehmen lassen. Er aber sagte in seinem Stolz: ›Niemals‹. Aber das Bein heilte nicht. Mein Großvater wurde bettlägerig und lag zehn Jahre nur in seinem Bett, bis er Krebs in diesem Bein bekam und daran starb. Meine Mutter war zum Zeitpunkt des Unfalls ihres Vaters fünf Jahre alt.« Als die Therapeutin diese Geschichte erzählte, passierte in der Aufstellung etwas Bemerkenswertes: Die Stellvertreterin der Großmutter drehte sich um und ging nach außen und die Stellvertreterin der Mutter drehte sich auch um und ging an der entgegengesetzten Seite nach außen. Die Therapeutin aber strahlte und wirkte erleichtert und zufrieden. So löste ich die Aufstellung auf.

In diesem Fallbeispiel verlief die Aufstellung sehr geradlinig, einfach, ohne Vorab-Informationen, ohne Erklärungen, nur mit dem Dazustellen der Eltern und der mütterlichen Großeltern als Eingriff von außen. Zusammen mit der erzählten Geschichte vom Großvater ergab sie für die Klientin und alle Beteiligten sofort Sinn und genügte dem geäußerten Anliegen. Das Phänomen: die Erscheinung der Therapeutin mit ihrem eingegipsten Bein und ihren Tränen, die Grundaufstellung der Repräsentanten im Raum,

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dann die sichtbaren, wortlosen Bewegungen der Stellvertreter. Der Sinn: der sichtbare Zusammenhang zwischen den repräsentierten Beinverletzungen der Therapeutin und dem mütterlichen Großvater in einem ersten Schritt, das von der Therapeutin erzählte Geschehen beim Großvater in einem zweiten Schritt und die wortlosen Bewegungen der Stellvertreter von Großmutter und Mutter (nach der Information über den Großvater) in einem dritten Schritt. Natürlich entwickeln sich die wenigsten Aufstellungen so klar und einfach. Nicht immer erschließt sich ihr Sinn im Aufstellungsprozess oder zeigt sich das Wesentliche für den Klienten, den Leiter der Aufstellung, die Stellvertreter und die Beobachter wie von selbst. Häufig braucht es eine Führung, Interventionen, ein Ausprobieren, Erfragen von Informationen vor, vielleicht eine mögliche Deutung während oder nach dem Aufstellungsprozess. Worum es mir aber geht, wenn ich den Aufstellungsprozess im Rahmen der phänomenologischen Methode verstehe und leite: Sie muss auf der Anschauung aufbauen und auf ein mögliches Sinnverstehen auf der Basis des Aufstellungsprozesses ausgerichtet sein. Ich stimme Bert Hellinger zu, wenn er den phänomenologischen Ansatz in der Aufstellungsarbeit von der Konzentration auf die Anschauung und Erfahrung begründet und der Dialektik gegenübergestellt. »Deshalb nenne ich die Psychotherapie, die sich rein an die Wahrnehmung hält, phänomenologisch. Die geht nicht über die dialektische Art des gedanklichen Diskurses, sondern rein über die Anschauung. Sie traut dem, was sich zeigt, nicht dem, was ich darüber denke« (persönliche Mitschrift, Sao Paulo, April 2001). Man würde die phänomenologische Methode jedoch missverstehen, würde man denken, der Aufstellungsprozess tritt als Phänomen dem Klienten, dem Aufstellungsleiter und allen Betrachtern wie etwas Objektives gegenüber. Der Sinn eines Phänomens ist nicht unabhängig von der Wahrnehmung durch ein Subjekt. Wie erwähnt, kann ein Phänomen nur dann seinen Sinn zeigen, wenn ein Bewusstsein darauf zugreift, mit all seinen physiologischen, geistigen und sozialen Bedingtheiten. Der Sinn liegt weder im Phänomen noch im Bewusstsein allein. Ich betrachte »Sinn« als das, was sich einem Bewusstsein zeigen kann, wenn ein Phänomen auf die Frage eines Bewusstseins sinnvoll antwortet. Auf das erzählte Beispiel bezogen: Die Bilder der Aufstellung ergeben Sinn, indem sie die Frage der Klientin nach den Hintergründen ihrer mehrmaligen Beinverletzungen mit der unfallbedingten Beinverletzung des Großvaters und deren Wirkung auf die Familie und sie selbst in Verbindung bringt. Die Wirklichkeit der Aufstellung zeigt auf eine bestimmte Familienwirklichkeit, die »hinter« den Beinverletzungen der Therapeutin aufscheint. Passen beide Wirklichkeiten zusammen, kann man insofern von einem »wahrheitsgemäßen«, Sinn aufzeigenden Aufstellungsprozess sprechen.

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Bedeutungsvoll wird die Aufstellung für die Klientin, weil sie sich mit der Antwort der Aufstellung wieder ohne sorgenvollen Selbstbezug an ihre Arbeit machen kann. Die etwas eigenartig anmutende Aussage der Klientin, sie könne ihren Beruf nicht mehr ausüben, wenn sie nicht verstehe, was die Beinverletzungen mit ihr zu tun hätten, erhält ja ihre Plausibilität durch die Verbundenheit mit dem Großvater, der nach dem Unfall nicht mehr arbeiten konnte. Die Begriffe »Sinn« und »Bedeutung« verwende ich hier auf die Weise, dass sie aufeinander bezogen sind, aber nicht das Identische meinen. Richtet sich der Sinn auf das Verstehen, zeigt sich die Bedeutung in der Wirkung des Verstehens.

Die »leere Mitte« Bert Hellinger beschreibt seine phänomenologische Psychotherapie häufig als »absichtsloses Schauen«. »Die Phänomenologie ist eine philosophische Methode. Phänomenologie heißt für mich: Ich setze mich einem größeren Zusammenhang aus, ohne dass ich ihn verstehe. Ich setze mich dem aus, ohne die Absicht, zu helfen, auch ohne die Absicht, etwas zu beweisen. Ich setze mich dem aus, ohne Furcht vor dem, was hochkommt. Ich fürchte mich auch nicht, wenn etwas Entsetzliches hochkommt. Ich setze mich allem aus, so wie es ist« (Hellinger u. ten Hövel, 1996, S. 37). Ein phänomenologisches Vorgehen erfordert also laut Hellinger einen Verzicht, damit man sich in die »leere Mitte« begeben kann, in der die Dinge an uns herankommen können und das »Schauen« sich ereignet. Wenn wir fragen, was das Bewusstsein zum »Sehen« dazutut, wäre demgemäß die Antwort, dass wir etwas loslassen, indem wir uns von der Fülle der auf uns einströmenden Phänomene leer machen, von unserer Voreingenommenheit, unserem Wollen, unserem Wissen. Erst dann kann die Aufstellung zu einem »Ereignis« werden (das Wort ist abgeleitet von »Eräugnis«), das möglichst unmittelbar Sinn und Bedeutung mitteilt.

Der Rahmen und die Vorbedingungen für das »Sehen« Aber reicht dieses Gehen in die »leere Mitte« aus? Besteht der Beitrag des Bewusstseins zum Verstehen der Aufstellungsphänomene rein negativ im Loslassen von Bewusstseinsinhalten? Ist der Aufstellungsprozess gar mystisch zu verstehen? Oder tut das Bewusstsein auch positiv etwas zum Einsichtsprozess dazu? Das Erkennen, das manchmal etwas »blitzartig« von uns Besitz ergreift,

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wird ja nicht von den Phänomenen in uns hinein »geschleudert« wie der Blitz des Zeus. Der »Blitz« entsteht im Bewusstsein, indem sich die Wahrnehmung zusammen mit der Erfahrung und den gespeicherten Informationen zu einer plötzlichen Erkenntnis fügt. Wir sammeln schon vor der Aufstellung »Indizien« über das Aussehen und Verhalten eines Klienten, über »geladene Sätze«, mit denen oft ein Anliegen formuliert wird, über Informationen, die wir häufig schon vor der Aufstellung erfragen, wenn wir sie als deren tragende und leitende Kraft brauchen. Unser Bewusstsein gibt für die Wirklichkeit der Aufstellung durch Vorannahmen, Vorentscheidungen und Kontexte den Rahmen vor für das, was wir sehen können und was sich als Sinn und Bedeutung zeigen kann. Von »Wirklichkeit der Aufstellung« zu sprechen, ist vielleicht missverständlich. Denn der allgemeine Sprachgebrauch unterscheidet oft nicht die Begriffe »Wirklichkeit« und »Realität« und setzt oft »wirklich« gleich mit »wahr« (im Sinne von: »Das ist wirklich so«). Mit »Wirklichkeit der Aufstellung« meine ich hier den Aufstellungsprozess als Ganzes mit seinen sichtbaren und unsichtbaren Vorgängen, mit seinen Fakten (Realität) und den Möglichkeiten der Entwicklung. Einzelne Möglichkeiten werden dann durch unbewusste oder bewusste Entscheidungen von Stellvertretern oder der Leitung zu Fakten (mit neuen Möglichkeiten usw.). »Wirklichkeit« ist die Substantivierung des Tätigkeitswortes »wirken«. »Realität« meint die Welt der Dinge und Fakten. Die »leere Mitte«, in die ich mich zu begeben versuche, steht in Wechselwirkung zu den vielfältigen Wahrnehmungen im gesamten Aufstellungsprozess, den Erfahrungen, die ich mitbringe und den Deutungen und Vermutungen, von denen ich mich im Vorgehen leiten lasse. Ich sehe beispielsweise einen Stellvertreter, der zu Boden schaut. Schaut er auf einen Verstorbenen im System? Ist es Scham oder ein Versuch, Augenkontakt zu vermeiden? Oder gehört das Zu-Boden-Schauen womöglich nur zum gewohnheitsmäßigen Verhaltens­ repertoire des Stellvertreters? Das »Schauen« aus der »leeren Mitte« heraus ist eingebettet in ein Aufstellungssetting, die räumlichen Gegebenheiten, die Größe einer Gruppe und dergleichen. Es ist getragen von der grundlegenden Absicht, dass eine Person in einer existenziell bedeutsamen Angelegenheit über das Medium der Aufstellung eine Antwort, eine Entlastung, eine Einsicht oder eine Annäherung an ein Ziel erlangen kann. Von Anfang an richtet es sich auf den Klienten systembezogen, d. h. eingebunden in seine Beziehungssysteme. Für gewöhnlich entscheidet ein Leiter, ob, wann, welche und wie viele Informationen er erfragt und mit welchen Repräsentanten er eine Aufstellung beginnt. Die »leere Mitte« ist kein informationsfreier Raum. Die Absichtslosigkeit und Offenheit im Aufstellungsprozess

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bleibt prinzipiell eingebunden in das, was man die Intentionalität des Bewusstseins nennt, in dessen Ausrichtung nach »draußen«. Der Leiter vertraut den Äußerungen und Bewegungen der Stellvertreter und gleichzeitig seiner eigenen Wahrnehmung aus der Außenperspektive. Er behält den Überblick. Er schaut auf das Stellvertretersystem und hat immer auch den Klienten und in ihm sein Beziehungssystem im Blick. Er geht mit dem »Ganzen« des Aufstellungsprozesses. Damit ein Prozess aufdeckend wirken kann, sind meist Eingriffe in den Ablauf einer Aufstellung nötig. Man stellt jemand dazu, man stellt um, man befragt, lässt bewegen oder anhalten. In den meisten Aufstellungen muss der Leiter bewusst eine Fülle von Entscheidungen treffen, damit die Aufstellungsphänomene auf eine Weise in Gang kommen und sich entfalten können, dass sich für einen Klienten Hilfreiches ereignen kann. Viele Entscheidungen treffen wir auch unbewusst oder weil wir aufgrund unserer Erfahrungen nicht lange darüber nachdenken müssen. Für wesentlich halte ich, dass diese Entscheidungen mit den Wahrnehmungen zusammengehen, das für den Klienten Sinnvolle und Bedeutungsvolle im Blick behalten und so gut als möglich mit der Beziehungswelt des Klienten korrespondieren.

Der »Sinn im Problem« und das Sinnfeld »Familiengeschichte« Für das Leiten und das Verstehen betrachte ich die Phänomene der Aufstellung von vorneherein vor einem Horizont, angewiesen auf eine Perspektive und eingebettet in einen Rahmen: Ich suche nach dem Sinn im Problem der Klienten, suche diesen Sinn in deren Lebens- und Familiengeschichte und bringe gewisse Vorannahmen mit, was da bedeutungsvoll sein könnte. Mit dem »Sinn im Problem« meine ich Folgendes: Ich gehe davon aus, dass wir mit seelischen Schwierigkeiten in unserem Leben, mit Beziehungskonflikten oder mit Krankheiten normalerweise realitätsbezogen umgehen können. Probleme bekommen wir, wenn sich seelische Probleme, Beziehungskonflikte und Symptome wiederholen und sich hartnäckig unseren Lösungsversuchen oder einem sinnvollen Leben widersetzen. Sie erscheinen, von außen und meist auch von uns selbst betrachtet, irgendwie irreal. Die Annahme ist nun, dass sie ihren Realitätsbezug nicht in der Gegenwart haben, sondern in der Vergangenheit und womöglich nicht bei uns selbst, sondern bei anderen. Die Frage für die Aufstellung lautet dann, in welchem vergangenen Kontext und/oder bei welchen Personen macht das Problem Sinn? Ich suche dann nach den in der

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Familie vielleicht schon über einige Generationen wirkenden Geschehnissen, die jemanden mit den Schicksalen anderer verbinden. Auf das Beispiel der Therapeutin bezogen: Die Beinverletzungen ergeben Sinn im Blick auf die folgenreiche Beinverletzung des Großvaters. Die etwas seltsam anmutende Bemerkung der Therapeutin: »Ohne zu wissen, was das mit mir zu tun hat, kann ich meine Arbeit nicht mehr tun«, wird verständlich, wenn wir erfahren, dass die Weigerung des Großvaters, sich das Bein abnehmen zu lassen, seine Arbeitsunfähigkeit bewirkte. Probleme können als Vergangenheitstrance bezeichnet werden, in der Ungelöstes aus der Vergangenheit weiterwirkt, und die deshalb einen verstehenden und vielleicht lösenden Rückblick in die Vergangenheit benötigen, voraus­gesetzt, wir unterstellen generell Problemen einen Sinn und halten Verstehen für sinnvoll. Das Ungelöste, das im Problem der Therapeutin auftaucht, zeigt sich in der Aufstellung darin, dass Großmutter und Mutter mit einigen Schritten sich in unterschiedliche Richtungen nach außen wenden und damit die Brüche in den Beziehungen versinnbildlichen. Der »Sinn im Problem« bildet so gesehen den Horizont für das »Sehen« in Aufstellungen. Den Rahmen für diese Sinnsuche gibt die mehrgenerationale Familiengeschichte ab. Sie ist das »Sinnfeld«, in dem ich mich mit meinem »Schauen« bewege. Den Begriff »Sinnfeld« übernehme ich von Markus Gabriel. Er definiert im Glossar seines Buches »Der Sinn des Denkens« ein »Sinnfeld« als: »Eine Anordnung von Gegenständen, in der diese auf eine bestimmte Weise zusammenhängen. Die Art und Weise des Zusammenhangs von Gegenständen nenne ich einen Sinn« (2018, S. 360). Unser Sehen ist immer perspektivisch und vollzieht sich von vornherein in einem Sinnfeld. Phänomene stehen immer in einer (allerdings nicht beliebigen) Vielfalt von Zusammenhängen, die sich noch dazu überschneiden. Wir treffen für unsere Aufmerksamkeit eine Wahl. Wir können in Aufstellungen auch andere Sinnfelder wählen, z. B. »Arbeit«, »persönliches Trauma«, »seelische Anteile« oder »Entwicklungspotenziale«. Die erzählte Aufstellung fand im Rahmen eines Workshops mit Familienaufstellungen statt. Damit war im Ungefähren das Sinnfeld vorgegeben, in dem sich die Aufstellungen bewegten. Die Offenheit und Weite der Anschauung ist durch Sinnfelder begrenzt. Sich darin zu bewegen, setzt ein Minimum an Erfahrungswissen voraus. Wenn wir einen Zusammenhang innerhalb eines Sinnfeldes finden wollen, müssen wir ungefähr wissen, wo und was wir suchen. Die Offenheit des Ausschauhaltens korrespondiert mit dem Vorwissen für das Fragen und Suchen. Wir »sehen«, wenn sich Anschauung und Erfahrungswissen zusammenfügen. Wir nennen das Intuition. Arbeite ich mit dem Familienstellen, ist es hilfreich, möglichst

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viel über systemische Prozesse bei familiären Konflikten, mögliche Verstrickungen, mögliche Loyalitäten usw. zu wissen. Innerhalb eines Sinnfeldes zu arbeiten heißt, sich innerhalb eines Wissensfeldes zu bewegen und dessen Möglich­keiten und Grenzen zu kennen. Dabei phänomenologisch vorzugehen heißt aber auch, die Sinne für neue Erfahrungen innerhalb des gewählten Sinnfeldes offen zu halten und für Übergänge zu anderen Sinnfeldern frei zu bleiben.

Sehen und Interventionen Das »Sehen« in Aufstellungen dient dem »Anerkennen, was ist«. Was geschehen ist, lässt sich nicht mehr ändern und verlangt die Zustimmung, dass es geschehen ist. Bestimmten Schicksalen mit ihren Folgen zustimmen kann ich aber bewusster, wenn ich um die Ereignisse und Prozesse weiß, die in ihrer Wirkung in meinem Problem verborgen sind. Dieses Aufdecken innerhalb der jeweils relevanten Sinnfelder halte ich für eine leitende Grundabsicht der Aufstellungsarbeit. Aber was bedeutet dieses Entdecken von Zusammenhängen für das Leben einer Person? Alles, was ist, trägt in sich ein mehr oder weniger breites Spektrum an Entwicklungsmöglichkeiten. Die meisten Aufsteller greifen in Aufstellungen mit Interventionen ein, die helfen sollen, einen Ist-Zustand auf positive Möglichkeiten künftiger Entwicklung hin zu öffnen: Wir lassen Plätze so verändern, dass sich für die Stellvertreter und den Klienten das Miteinander in einem Beziehungssystem stimmig und lösend anfühlen kann. Wir lassen in der Aufstellung anerkennende, lösende oder versöhnende Dialoge mit Eltern oder anderen führen. Wir können neue Aufstellungsbilder und Aufstellungsprozesse »konstruieren«, die längst vergangene, aber im eigenen Leben noch virulente Geschehnisse in der Seele beenden, befrieden, heilen und somit in gelöster Erinnerung halten können. Was wir jederzeit unbelastet erinnern könnten, können wir unbeschadet vergessen. In der geschilderten Aufstellung habe ich nicht mit einem Lösungsbild gearbeitet. Ich sah damals keine Notwendigkeit dafür. Ich hätte die Stellvertreter von Großmutter und Großvater zu einem kurzen Dialog zusammenführen und die Großmutter sagen lassen können: »Lieber Mann, wenn du dir das Bein hättest abnehmen lassen, dann hättest du wenigstens noch ein bisschen mitarbeiten können und ich hätte nicht alles alleine machen und dich auch noch pflegen müssen. Das war zu viel für mich. Da ist meine Liebe erloschen.« Und den Großvater hätte ich bitten können zu sagen: »Liebe Frau, es tut mir sehr leid, dass ich mit meinem Unfall die ganze Last auf dich gelegt habe. Aber mein

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Stolz ließ es nicht zu, mir das Bein abnehmen zu lassen.« Vielleicht hätten die Stellvertreter sich dann nochmals umarmt. Ich hätte in der Stellvertretung die Mutter der Therapeutin zu ihren Eltern führen und sagen lassen können: »Es war so schlimm. Ich konnte euer Elend nicht mehr mit ansehen. Da hat mein Herz zugemacht und sobald ich konnte, musste ich weg.« Vielleicht hätte ich die Mutter in die Arme ihrer Eltern gelegt, damit sich wieder verbinden kann, was durch die Ereignisse getrennt wurde. Ich hätte auch noch die Therapeutin selbst in die Aufstellung nehmen und in heilsame Dialoge führen können. Denn es kann gut sein, dass auch ihre Beziehung zu ihrer Mutter gelitten hatte. Solche Interventionen »konstruieren« dann für die Anschauung neue Bilder mit der möglichen Folge, dass sich für einen Klienten durch einen in der Aufstellung erlebbaren Prozess die am Unglück haftenden Eindrücke in seiner Seele heilsam verändern können. Ich halte die Entmachtung unheilvoller und traumatisierender Bilder nicht nur im Blick auf persönliche Traumata für notwendig, sondern auch im Blick auf die Traumata anderer. Dieser kreative Prozess bleibt phänomenologisch, solange er an der Wahrnehmung und am stimmig und sinnvoll und erleichternd Erlebten orientiert bleibt. Ich weiß als Leiter nicht wirklich, was für den Klienten hilfreich, lösend oder heilsam ist. Aber ich gebe einem Klienten eine Gelegenheit zu einer neuen Erfahrung, indem ich zu ihm sage: »Ich zeige dir mal ein anderes Bild. Wie fühlt sich das an?« Mit Interventionen phänomenologisch zu arbeiten erlaubt uns durchaus zu experimentieren, um unsere Vorannahmen und Vermutungen an realen Aufstellungsprozessen und ihrer Wirkung auf den Klienten zu überprüfen. Wir kreieren Aufstellungsphänomene und schauen auf die Wirkung im Aufstellungsprozess und auf den Klienten. Wir erproben und »testen« Gedachtes und Gemeintes an den Prozessen, die sich erfahren lassen. Aufstellungen sind nicht immer eindeutig und sie sind anfällig für Irrtum. Soziale Phänomene sind enorm komplex. Das Korrektiv, dem wir trauen können, ist die reale Wirkung. Die Realität hat etwas an sich, »das sich weder leugnen noch erfinden lässt. Sie ist eine Wahrmacherin« (Jaeggi, 2018, S. 46).

Phänomenologie und Feldphänomene Wenn wir Aufstellungen genau beobachten, können wir in einem gewissen Maße die Logik der Aufeinanderfolge von Aussagen und Bewegungen im gesamten Prozess nachvollziehen. Immer wieder beeindruckt aber, dass Stellvertreter Bewegungsimpulse verspüren und Gefühle erleben, die nicht aus dem Beobachtbaren erklärbar erscheinen. Viele Aufsteller kennen z. B. das Phänomen des

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Schauders in Aufstellungen, der manchmal sogar in der Runde sitzende Teilnehmer erfasst. Was geschieht da? Es ist, als würde die Aufstellung von einem energetischen oder informativen Prozess erfasst, der nicht allein auf der Vermittlung unserer gängigen Sinneskanäle beruht. Das »Sehen« in Aufstellungen bezieht Wahrnehmungen mit ein, die wir vielleicht auf Zeit und Raum übergreifende soziale Feldphänomene oder eine generationenübergreifende, kollektive seelische Teilhabe zurückführen müssen. In ihnen wird die Tiefendimension von Aufstellungsphänomenen am stärksten deutlich. Wir vertrauen darauf, dass die Phänomene der Aufstellung in bestimmten Hinsichten an Beziehungsdynamiken von Familien oder anderen sozialen Systemen gekoppelt sind. Wir nehmen eine partielle Gemeinsamkeit von Prozessen in Familien (oder anderen Beziehungssystemen) und den Aufstellungsprozessen an, die uns und den Klienten erlaubt, in den Aufstellungsphänomenen etwas Bedeutungsvolles von Personen aus ihrer Familie oder anderen Gruppen wahrzunehmen. Es gehört für mich zum Besonderen der Aufstellungsarbeit, dass sie dafür ein lebendiges Setting bereitstellt. Welchen Wahrheitsanspruch können wir an die Aufstellungsarbeit stellen? Wir können trotz manchmal verblüffender Parallelen von Aufstellungsphänomenen und Ereignissen in den entsprechenden realen Systemen nicht behaupten, deren Vergangenheit zu beschreiben und nachzuerleben, wie sie in Bezug auf die Probleme eines Klienten wirklich gewesen ist. Aber wir können erfahren, wie wir sie uns, möglichst an Fakten überprüfbar, vorstellen müssen, damit sie für einen Klienten über den Augenblick der Aufstellung hinaus wahr wird und von daher Bedeutung für sein Leben erhält.

Literatur Gabriel, M. (2018). Der Sinn des Denkens. Berlin: Ullstein. Hellinger, B., ten Hövel, G. (1996). Anerkennen, was ist. Gespräche über Verstrickung und Lösung. München: Kösel. Jaeggi, R. (2018). Begriffe können helfen. Was es für mich heißt zu philosophieren. Die Zeit, 44/18. Schneider, J. R. (2009). Das Familienstellen. Grundlagen und Vorgehensweisen. Heidelberg: CarlAuer.

IV Praxis

Holger Lier und Christiane Lier

Systemische Qualitätsmerkmale in Aufstellungen

Was macht die Qualität in einer systemischen Aufstellung aus? Welche Merkmale sind dabei zu beachten? Wie wirkt die eigene Haltung als Aufstellungsleitung auf die Qualität von Aufstellungen? Mit den folgenden Überlegungen und am Beispiel eines konkreten Falles möchten wir den Austausch über diese Fragen anregen. Bereits in dem zu diesem Thema entstandenem Buch »Handbuch der Qualität in der Aufstellungsleitung« von Nazarkiewicz und Kuschik wurde deutlich, wie schwer es ist, den Begriff Qualität für Aufstellungen beschreibbar zu machen. Für die Autorinnen gehört dazu, »die Qualität von guter Aufstellungsarbeit genau zu betrachten, zu bestimmen und zu belegen sowie die Kriterien zu definieren, unter denen gute Aufstellungsarbeit möglich ist« (Nazarkiewicz u. Kuschik, 2016, S. 7).

Unterschiedliche Qualitätsdimensionen Zur Orientierung nennen Nazarkiewicz und Kuschik die drei Qualitätsdimensionen, die das Gesundheitswesen als Maßstab zur Qualitätssicherung einsetzt. Als Erstes ist die Strukturqualität angegeben, die sich aus Rahmenbedingungen wie u. a. aus der beruflichen Qualifikation der Aufstellungsleitung ergibt. Als Zweites zählen sie die Prozessqualität auf, die sich aus der Art und Weise, wie die Aufstellung durchgeführt wird, bestimmen lässt. Als Drittes weist die von ihnen benannte Ergebnisqualität auf die Zielerreichung und damit auf die Zufriedenheit der Klienten mit dem erarbeiteten Anliegen hin. In ihrem Handbuch steht die Qualität in der Aufstellungsleitung im Mittelpunkt. Es kommen unterschiedliche Aufstellerinnen und deren Ansätze zu Wort, die die verschiedenen Merkmale einer qualitativen guten Leitung beschreiben.

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Die Qualität der Aufstellung wird hier u. a. an dem Erfahrungsschatz, den Werten und der Haltung der Aufstellungsleitung beschrieben. Ein wesentlicher qualitativer Faktor liegt damit in der Person der Aufstellungsleitung mit ihren eigenen persönlichen wie auch beruflichen Erfahrungen und Werten, die sich aus biografischen und transgenerationalen Prägungen ergeben.

Haltung Die Haltung wird nach Blume (2016) als ein Verhältnis beschrieben, dass man sich selbst und der Welt gegenüber einnimmt. Nach ihrer Darstellung bewirkt eine Haltung ein spezifisches Verhalten und führt damit zu bestimmten Handlungen. Auch Bodirsky (2015) gibt der Haltung, die die Leitung in der Aufstellungsarbeit mitbringt, bezüglich der Qualität eine zentrale Rolle. So schreibt er: »Denn die Haltung bestimmt den Umgang mit den Klienten, sie bestimmt, wie man arbeitet, welche Methoden eingesetzt werden und wie sie eingesetzt werden« (2015, S. 111). Einen weiteren Einfluss auf die eigene Haltung und damit auf die Qualität als Aufstellungsleitung haben die unterschiedlichen Theoriekonstrukte der verschiedenen Psychotherapierichtungen. Verschiedene therapeutische Vorgehensweisen (z. B. psychoanalytisch, verhaltenstherapeutisch, phänomenologisch …) führen zu unterschiedlichen Haltungen gegenüber den Klientinnen und damit auch zu spezifischen Anwendungen der Methoden. So schreibt Ruppert: »Ein und dieselbe Methode wird in den Händen von verschiedenen Anwendern daher etwas völlig anderes, wenn deren theoretischen Konzepte sich unterscheiden« (2015, S. 338). Drexler beispielsweise spricht bei ihrer Vorgehensweise von einem »systemisch integrativen« Modell. In diesem sieht sie die Verbindung von »Prinzipien und Vorgehensweisen systemischer Therapie der Heidelberger Schule, der ›klassischen‹ Aufstellungsarbeit und phänomenologische Konzepte aus psychodynamischen sowie körperorientierten Therapietraditionen« (Drexler, 2015, S. 10). Das zeigt, dass Aufstellungen sowohl in einer systemischen Haltung als auch in jeder anderen Haltung ausgeübt werden können.

Humanistische Ethik Eine weitere Einflussgröße auf die Qualität von Aufstellungen ist das Einnehmen einer übergeordneten Haltung, die alle Therapieschulen und Methoden

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mit einschließt. Sie kann mit dem Begriff »humanistische Ethik« umschrieben werden. Erkennbar ist sie auf der Handlungsebene daran, dass die meisten Verbände, die mit Therapie, Beratung und Fortbildung zu tun haben, einen Ethikbeirat besitzen und Ethikrichtlinien installiert haben. Die jeweiligen Mitglieder verpflichten sich, die damit verbundenen Werte einzuhalten. Der Verband Deutsche Gesellschaft für Systemaufstellungen (DGfS) ist gerade in den übergeordneten Verband Forum Werteorientierung in der Weiterbildung (FWW) aufgenommen worden und vermittelt nun im Bereich Weiterbildung einen ethischen Berufskodex, der die humanistische Ethik genauer beschreibt (Forum Werteorientierung in der Weiterbildung e. V., 2017).

Systemische Aufstellungen und Systemaufstellungen – zwei unklare Begrifflichkeiten Im ersten Buch über das Familienstellen »Zweierlei Glück« (Weber, 1993) wurde der Begriff systemisch im Untertitel verwendet: »die systemische Psychotherapie Bert Hellingers«. Inzwischen gab es hier offensichtlich ein Umdenken und der Untertitel wurde geändert in: »das klassische Familienstellen Bert Hellingers«, der Ausdruck systemisch wurde nicht weiter benutzt. Die Verwendung des Begriffs systemisch in Zusammenhang mit Aufstellungen hat lange zu einem Disput zwischen Therapeutinnen der beiden systemischen Verbänden der Deutschen Gesellschaft für Systemische Beratung, Therapie und Familientherapie (DGSF) und der Systemischen Gesellschaft (SG) einerseits und der an Hellinger orientierten Therapeuten anderseits geführt. Denn damals wurde die Arbeitsweise nicht allein als eine Methode angesehen, sondern mit der Vorgehensweise Hellingers und dessen Ausführungen gleichgesetzt. Einige systemische Therapeuten fanden, dass diese Art des Vorgehens mit ihrer systemischen Haltung nicht kompatibel war, und lehnten Aufstellungen deshalb ab. Da der Begriff systemisch nicht geschützt ist und damit von jedem anders definiert werden kann, lässt er sich auch folgendermaßen deuten: als Beschreibung, dass hier mit (Familien-)Systemen und ihren Mitgliedern gearbeitet wird. Diese begriffliche Unklarheit ist bis heute zu finden (Lier u. Lier, 2015, S. 136 ff.). Im Internet werden inzwischen vorrangig die Wortverbindungen systemische Aufstellungen oder auch Systemaufstellungen benutzt. Damit ist weiterhin für Interessierte nicht erfassbar, ob der Anbietende mit einer systemischen Grundhaltung Aufstellungen durchführt, ob damit ausgedrückt werden soll, dass hier Systeme aufgestellt werden, oder ob sogar beides gemeint sein könnte.

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Einzig von Kibéd und Sparrer (s. Sparrer, 2010) unterscheiden sich mit Ihren Aufstellungsformaten, indem sie einen geschützten Begriff benutzen: Systemische Strukturaufstellung SySt®. Sie verbinden dadurch, dass der Klient bei ihnen als Experte seiner selbst betrachtet wird, konstruktivistische und lösungsfokussierte Ideen mit der Aufstellungsarbeit und drücken dies in ihrer Begrifflichkeit aus. Die Haltung der Aufstellungsleitung wird wiederum mit den Begriffen Gastgeber oder Begleiter beschrieben: »damit soll diese innere Haltung verdeutlicht werden« (Frot, 2012, S. 199).

Trennung von Methode und Haltung Inzwischen ist die Differenzierung so weit vorangekommen, dass die Methode als solche und verschiedene (therapeutische) Schulen mit ihren jeweiligen theoretischen Konzepten und den daraus resultierenden Haltungen getrennt betrachtet werden können. Seit 2014 gibt es nun bei der DGSF (2019) eine Fachgruppe »Systemische Aufstellungen«, die eine Themensammlung mit Leitlinien zur »Qualitätssicherung für die Aufstellungsleitung« veröffentlicht hat, die u. a. die Themen Ethik, Rahmenbedingungen, Auftragsklärung, Kontextbezogenheit und klientenzentriertes Vorgehen aus systemischer Sicht in Aufstellungen beschreibt. Die Qualität der Aufstellungsleitung wird demnach von verschiedenen Faktoren beeinflusst: zum einen von der Beachtung der ethischen Grundhaltungen, die ein Verband vorgeben kann, zum anderen durch die Blickwinkel der Therapie­schulen und deren Methoden und theoretischen Konzepte, und schließlich von den daraus resultierenden Haltungen und Vorgehensweisen dem Klienten gegenüber.

Wie können nun systemische Qualitätsmerkmale in einer Aufstellung beobachtet und beschrieben werden? Das nachfolgende Fallbeispiel wurde in mehrere Abschnitte unterteilt, um daran die systemischen Merkmale der Prozessqualität, wie sie von den Verbänden (DGSF, SG) beschrieben werden, aufzuzeigen. Da es eine größere methodische Schnittmenge gibt, ist es durchaus möglich, dass sich auch andere Therapieschulen in dem einen oder anderen Merkmal wiederfinden.

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Systemische Qualitätsmerkmale: Transparenz und das Achten auf Gruppendynamik Anmeldung Im ersten Teil des Fallbeispiels wird der Schritt von der Anmeldung bis zum ersten Seminartag beschrieben. Heidrun ist 35 Jahre alt. Sie hat seit fünf Jahren einen Partner und leidet darunter, dass es ihr schwerfällt, ihre Bedürfnisse zu äußern, und dass sie diese oft zurückstellt. Sie befürchtet, den Partner damit zu überfordern und ihn dadurch zu verlieren. Das möchte sie gerne verändern. Sie hat sich entschlossen, ihr Anliegen in einer Wochenend-Aufstellungsgruppe zu bearbeiten. Bevor sie sich anmeldet, möchte sie noch einige Fragen klären: Mit wie vielen Aufstellungen muss sie an diesem Tag rechnen? Was kostet die Aufstellung? Soll sie ihren Partner mitbringen? Hat sie sicher genügend Zeit, um aufzustellen? Wie sind die Aufstellungsleiter ausgebildet? Sie meldet sich bei der Aufstellungsleitung und bekommt das Angebot, ihr Anliegen in einem Vorgespräch mit der Leitung zu erörtern. Sie entscheidet sich dafür, ihre Fragen telefonisch zu klären. Das Seminar beginnt nun damit, allen Teilnehmerinnen das zu erwartende Geschehen transparent zu vermitteln. Heidrun wird von der Aufstellungsleitung begrüßt. Über verschiedene Warming-up-Übungen wird die Gruppe miteinander bekannt gemacht. Die Leitung spricht die Schweigepflicht an und klärt die Anrede (Sie/du) in der Gruppe ab. Sie erklärt die Methode (u. a. wie eine Frage bzw. der Auftrag gefunden wird), zeigt was thematisch alles aufgegriffen werden kann und wie aufgestellt wird. Sie erläutert, welche Rolle die Repräsentantinnen einnehmen und wie das Anfangsbild über Abfragen, Umstellungen und Lösungssätze zum Schlussbild entwickelt wird. Der Gruppe wird erläutert, dass ein »inneres Bild« aufgestellt wird. Eine Aufstellung kann u. a. eine Situation verständlicher machen, einen Prozess neu anstoßen, ihn begleiten oder auch abschließen. Die Klientin wird (telefonisch) möglichst umfassend über den organisatorischen Rahmen wie Ort, Teilnehmerzahl, zeitlicher Rahmen, Ablauf und Kosten informiert. Sie bekommt Informationen über die Ausbildung und den Erfahrungen der Aufstellungsleitung sowie das Angebot eines Vor -und Nachgespräches. Des Weiteren werden mit ihr die Vor- und Nachteile besprochen, die sich ergeben, wenn ihr Partner dabei bzw. nicht dabei ist. Die Entscheidung darüber wird ihr überlassen. Nicht nur die Transparenz, sondern auch der Umgang mit der Gruppendynamik macht die Qualität einer Aufstellungsarbeit aus. Die Gruppe wird daher mit allem Wichtigen vertraut gemacht, wie z. B. dem Ablauf und der konkreten Vorgehensweise, sowie mit den Grenzen und Möglichkeiten einer systemischen Aufstellung. Mit gezielten Übungen wird der Kontakt untereinander gefördert, um ein vertrau-

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ensvolles Klima zu schaffen. Es werden Gruppenregeln erläutert und eingeführt, die Sicherheit vermitteln.

Systemische Qualitätsmerkmale: Schutz und Sicherheit Umgang mit Unsicherheit Im Fallbeispiel formuliert die Klientin vorab ihre eigene Unsicherheit gegenüber der Gruppe. Heidrun hat Bedenken, ihre Frage zunächst öffentlich vor der Gruppe zu erörtern. Die Aufstellungsleitung gibt ihr die Gelegenheit, das Anliegen nur mit der Leitung zu klären. Sie kann anschließend entscheiden, was und wie viel sie von ihrem Anliegen in der Gruppe bekannt machen möchte. Die Klientin wird in ihrem Schutzbedürfnis ernst genommen und erhält die Sicherheit, die sie benötigt, indem sie das Tempo und den Zeitpunkt bestimmen kann, wann, wie und ob sie ihr Anliegen bearbeiten möchte. Sie entscheidet auch, wann sie nach ihrer Einschätzung genug Vertrauen zur Gruppe und zur Aufstellungsleitung besitzt. Nachdem die Klientin des Fallbeispiels mehrere Aufstellungen miterlebt hat, hat sie genügend Vertrauen zu der Aufstellungsleitung und zu den Teilnehmern gefasst und bespricht ihr Anliegen in der Gruppe.

Systemische Qualitätsmerkmale: Auftragsklärung mit Ziel- und Lösungsorientierung Auftragsklärung Es folgt ein kurzer direkter Einblick in die Auftragsklärung mit der Klientin Aufstellungsleitung (AL): »Was wäre anders für dich nach der Aufstellung?« Heidrun (H): »Ich könnte meine Bedürfnisse äußern und mich durchsetzen.« Heidrun berichtet nun, dass sie oft ein schlechtes Gewissen hat, wenn sie ihre Bedürfnisse äußert. Dies passiert ihr sowohl beim Partner als auch bei Freundinnen und Kolleginnen. AL: »Was wäre noch anders?« H: »Ich würde nachts nicht wach liegen und mir keine Gedanken machen.« AL: »Was wäre stattdessen?« H: »Ich könnte durchschlafen.« Die Aufstellungsleitung befragt Heidrun daraufhin durch eine visualisierte Ska-

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lierung von 1–10, wie gut sie zurzeit ihre Bedürfnisse äußern kann. Heidrun sieht sich momentan auf der 2 und möchte auf die 10 kommen. Sie glaubt, dass sie bei der 10 auch zu ihren Bedürfnissen stehen könnte. Al: »Angenommen du würdest nach der Aufstellung nicht auf der 10 sein, sondern bei der 2 bleiben oder ›nur‹ auf die 3 kommen, wie wäre dies dann für dich?« H: »Alles, was mich ein Stück weiterbringt, ist gut, vielleicht darf ich nicht davon ausgehen, dass sich von heute auf morgen alles verändert.« Mit der Klientin wird über systemische Fragestellungen ein realistisches Ziel formuliert. Darüber hinaus kann die Methode der Skalierung zur Feinjustierung und zur späteren Überprüfung der Zielformulierung genutzt werden. Dieser Schritt ist schon ein wichtiger Teil des Prozesses und eine klare Orientierung für die Aufstellungsleitung, um die Erwartungen der Klientin einordnen zu können. Die Visualisierung des Anliegens und die Nutzung der Skala unterstützen sowohl die Klientin wie auch die Aufstellungsleitung darin, die Ausgangsfrage im Blick zu behalten.

Systemische Qualitätsmerkmale: Kontextklärung, Aufzeigen von Ressourcen durch Reframing, Hypothesenbildung, die Auftragsformulierung und das Einbeziehen der körperlichen Ebene Kontextklärung Im Fallbeispiel werden das Genogramm, das Erarbeiten von Glaubenssätzen, die Hypothesenbildung zur Kontextanalyse genutzt und das Formulieren einer Frage aufgezeigt. Mit Heidrun wird das Genogramm zu ihrer Frage skizziert. Dabei werden biografische und transgenerationale Hypothesen bezüglich ihrer Glaubenssätze formuliert. Heidrun glaubt, dass ihr Partner darunter leiden könnte, wenn sie ihre Wünsche äußern und durchsetzen würde. Es werden mehrere Glaubenssätze erörtert u. a. der Satz: »Ich darf durch mein Verhalten niemanden schaden oder verletzen!« Heidrun wird danach gefragt, wer in ihrem Familiensystem Bedürfnisse geäußert und durchgesetzt habe und ob dies zum Nachteil von jemandem gewesen sei. Sie erinnert sich an die Mutter (GMv) ihres Vaters. Diese hatte sich von ihrem Großvater (GVv) getrennt, weil es für sie einen anderen Mann gab. Damals war ihr Vater 14 Jahre alt gewesen. Ihre »gefühlte Oma« (Stief-GMv) ist die zweite Frau des Großvaters.

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Über ihre leibliche Großmutter hörte sie von ihrem Vater und von ihrem Großvater häufig: »Sie hat nur an sich gedacht!« Heidrun selbst hatte diese nur auf einem Bild gesehen. Ihr Vater hatte seit der Trennung seiner Eltern fast keinen Kontakt mehr zu seiner Mutter. Die Aufstellungsleitung meint: »Deine leibliche Großmutter hat offensichtlich ihre Bedürfnisse gelebt und konnte dazu stehen.« Heidrun ist erstaunt und sagt: »So habe ich das noch nicht gesehen.« Im weiteren Verlauf der Auftragsklärung wird auch das mütterliche System in den Blick genommen. Heidrun findet im Moment das väterliche System zur Klärung ihrer Frage stimmiger. Daraufhin werden die unterschiedlichen Blickwinkel des väterlichen Herkunftssystems auf die Trennungssituation erörtert und erfragt. Es wird überlegt, wer damals welche Konsequenzen zu tragen hatte. Heidrun erkennt, dass es einen Zusammenhang zwischen der Leidensgeschichte ihres Vaters, ihrem unguten Gefühl, wenn sie ihre Bedürfnisse ausdrücken will und der Angst ihren Partner zu verlieren, geben könnte. Zum Abschluss der Auftragsklärung steht folgender Auftrag als Frage auf dem Flipchart: »Wie kann ich zu meinen Bedürfnissen stehen und mögliche Konsequenzen tragen?« Die Aufstellungsleitung fragt diesbezüglich: »Wo am Körper könntest du das spüren, wenn dein Ziel erreicht wäre?« und Heidrun antwortet: »Ich könnte freier atmen. Ich würde es hier am Brustkorb spüren.« Mit der Methode der Genogrammarbeit wird die Frage der Klientin in einen anderen Kontext gestellt. Zusammenhänge im Familienkontext werden untersucht und Glaubenssätze und Hypothesen bezüglich ihres Anliegens formuliert. Erste Ressourcen werden z. B. durch Reframing aufgezeigt. Verschiedene Hypothesen werden formuliert, die Klientin kann entscheiden, welche davon für sie relevant sind. Durch die transgenerationale Sichtweise und die Zuordnung von Glaubenssätzen in eine andere Zeit, können Zusammenhänge anders gedeutet werden. Systemisch gesehen ist eine »Verstörung« der bisherigen Denkmuster gewünscht, um Konstrukte neu zu gestalten. Als Abschluss der Auftragsklärung wird eine Frage ausformuliert. Mit der Klientin werden persönliche Kriterien festgelegt, um später das Ziel anhand von bestimmten körperlichen Merkmalen überprüfen zu können.

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Systemische Qualitätsmerkmale: Transparenz zum Aufstellungsangebot und die Klientin als Expertin ihrer selbst Aufstellungsangebote Im Fallbeispiel erörtert die Aufstellungsleitung mit Heidrun verschiedene mögliche Aufstellungsformate zu ihrem Anliegen. Sie bietet ihr u. a. eine Ziel-Hindernis-­ Aufstellung (abstrakt), eine Aufstellung des Gegenwartssystems mit ihrem Partner (direkt) oder das väterliche Herkunftssystem (transgenerational) an. Nach reiflichen Überlegungen entscheidet sich Heidrun für das väterliche Herkunftssystem. Im weiteren Verlauf werden im Fallbeispiel die Personen für die Aufstellung festgelegt. Im Dialog mit Heidrun wird entschieden, welche Personen bezüglich des väterlichen Herkunftssystems für die Aufstellung wichtig sind. Heidrun möchte den Großvater, die Großmutter, die Stief-Großmutter, ihren Vater und sich aufstellen. Die Aufstellungsleitung schlägt vor, auch den neuen Partner der leiblichen Großmutter dazuzunehmen (die Ursache für die Trennung). Heidrun möchte diesen zunächst nicht aufstellen. Die Aufstellungsleitung empfiehlt diesen doch auszusuchen und an der Seite sitzen zu lassen (falls er noch gebraucht würde), damit ist sie einverstanden. Mit der Klientin werden unterschiedliche Aufstellungsformate mit ihren Vor- und Nachteilen erörtert. Dies ermöglicht ihr Wahlfreiheit. Des Weiteren bestimmt sie den Zeitpunkt, wann und mit welcher Frage sie aufstellt. Sie wird, wie das Fall­beispiel zeigt, als Expertin für sich und ihr Anliegen gesehen. Die Aufstellungsleitung gibt Anregungen und macht Angebote, die mit der Klientin zusammen besprochen werden. Die Entscheidungshoheit bleibt jedoch am Ende bei der Klientin.

Systemisches Qualitätsmerkmal: Freiwilligkeit bei der Rollenübernahme Stellvertreter finden Im weiteren Verlauf des Fallbeispiels werden die Stellvertreter aus der Gruppe ausgewählt. Heidrun benennt Person A für den Vater und Person B für die Großmutter (GMv). B möchte nicht Repräsentantin für die Großmutter sein. Daraufhin wählt Heidrun eine andere Person als Vertretung für die leibliche Großmutter und stellt diese dann auf.

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Die Gruppenmitglieder erhalten die Information, dass jeder eine Stellvertretung ohne Begründung ablehnen kann. Es kann jemand anderes die Rolle übernehmen und beschreiben, was er als Repräsentant wahrnimmt. Ebenso ist es möglich, sich während der Aufstellung austauschen zu lassen. Die Aufstellungsleitung arbeitet mit den Wahrnehmungen der Stellvertretung, diese hat keine Verantwortung für den Verlauf der Aufstellung.

Systemisches Qualitätsmerkmal: Prozessorientierung und Prozessbegleitung Das erste Bild Das Fallbeispiel beschreibt das erste Bild mit der Hypothesenbildung. Heidrun fällt auf, dass sie neben ihrem Vater steht und sich mit ihm zwischen der leiblichen Großmutter und ihrer Stief-Großmutter befindet. Ihr erster Erkenntnisgewinn ist, dass sie beinahe wie eine Partnerin neben ihrem Vater steht und wie er auf ihren Großvater und ihre Stief-Großmutter schaut. Sie bemerkt, dass sie sich umdrehen müsste, wenn sie ihre leibliche Großmutter anschauen wollte. Nach der ersten Abfrage ist Heidrun ganz still. Die Aufstellungsleitung fragt sie, was in ihr vorgeht. Sie ist berührt. Die Aufstellung wird erst fortgeführt, als Heidrun mit ihrer Aufmerksamkeit wieder folgen kann. Heidrun bemerkt, dass die leibliche Großmutter zu ihrem neuen Partner schaut, der noch auf dem Stuhl sitzt. Beide schauen sich an. Die Leitung schlägt vor, dass sich der neue Partner dazu stellen soll. Heidrun findet das nun auch schlüssig. Der Partner der Großmutter stellt sich sofort neben diese. Heidrun hat Tränen in den Augen und ist sehr bewegt: »Man sieht, dass sich die beiden sehr nahe sind.« Die Aufstellungsleitung wiederholt die Hypothese, dass die leibliche Großmutter für ihre Bedürfnisse und für ihre Liebe eingestanden ist, dies wird durch die Aussagen der Stellvertretung bestätigt. Die Klientin bleibt im Fokus. Es wird darauf geachtet, wie es ihr geht und welche Schritte sie in welchem Tempo mitgehen kann. Es kann sein, dass sie Zeit braucht oder dass sie eine Erklärung oder eine Wiederholung des gerade Gesehenen und Gehörten benötigt.

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Systemisches Qualitätsmerkmal: Respekt vor der Stellvertretung und der Umgang mit Lösungssätzen Lösungsweg Durch Umstellungen und Aussprechen von Lösungssätzen wird im Fallbeispiel die Dynamik verdeutlicht. Es wird in der Aufstellung klar, dass es schon vor der Trennung zwischen den leiblichen Großeltern einen Abstand gab. Die leibliche Großmutter spricht das aus. Sie drückt ebenfalls aus, dass sie nicht damit gerechnet hatte, dass der gemeinsame Sohn beim Vater bleiben würde und es für sie sehr schwer gewesen sei, auf ihn verzichten zu müssen. Durch die Äußerungen des Vaters und des Großvaters werden weitere Dynamiken deutlich. Heidrun beginnt zu verstehen, dass sich das Leid für jede Person anders darstellt und sich der Paarkonflikt der Großeltern auf ihren Vater und auf sie ausgewirkt hat. Sie erkennt in der Aufstellung zwei Seiten von sich wieder, einerseits den Wunsch, zu den eigenen Bedürfnissen zu stehen, und anderseits die Angst vor den Konsequenzen dieses Wunsches, möglicherweise mit den eigenen Bedürfnissen jemanden zu verletzen. Sie versteht nun, warum sie bisher die Auswirkungen eigener Bedürfnisse vermieden hat. Im Laufe der Aufstellung kann der Vater »seinen« Platz als Sohn vor der Mutter und seiner Stiefmutter einnehmen und Heidrun bekommt »ihren« Platz als Enkeltochter, so dass sie ebenfalls beide Großmütter in den Blick nehmen kann. Dadurch verändert sich ihr Gefühl zur leiblichen Großmutter. Die Aufstellungsleitung schlägt einen Lösungssatz vor. Der Stellvertreter kann ihn nicht aussprechen. Die Leitung hört, was der Stellvertreter sagen würde und formuliert den Satz um. So kann er nun ausgesprochen werden. Dies wird auch vom Empfänger des Satzes als »stimmig« bestätigt. Im weiteren Verlauf zeigt die Repräsentantin der leiblichen Großmutter heftige Gefühle. Die Aufstellungsleitung bittet die Stellvertretung nur 50 % der Emotionen der Großmutter zu übernehmen, dies kann die Stellvertreterin der Großmutter sofort erleichtert umsetzen. Es wird gewürdigt und ausgesprochen was gespürt wird. Damit wird die Dynamik der Aufstellung geachtet. Niemand wird gezwungen einen bestimmten Satz zu sagen. Lösungssätze sind als Angebote zu verstehen und geben einen Hinweis auf den Prozess, wenn sie (noch) nicht gesagt werden können. Die Stellvertretung wird bei starken Emotionen angeleitet, sich innerlich so zu distanzieren, dass sie die Rolle weiter übernehmen kann.

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Systemische Qualitätsmerkmale: Verdeutlichung der Veränderungen und die Überprüfung des angestrebten Zieles (mithilfe von Skalierung) Abschlussbild Im Fallbeispiel wird das Schlussbild herausgearbeitet und das Ziel überprüft. Heidrun wird gefragt, ob sie den Platz ihrer Stellvertreterin einnehmen möchte. Diesem stimmt sie zu und stellt sich in die Aufstellung. Sie möchte die Sätze noch einmal hören. Der Stellvertreter des Großvaters sagt zu ihr: »Das ist deine leibliche Großmutter Anna«, und zeigt auf diese. »Ute ist meine neue Partnerin, sie ist deine soziale Großmutter.« Heidrun möchte auf ihre leibliche Großmutter zugehen. Die Aufstellungsleitung bestärkt sie darin. Sie nimmt das erste Mal Kontakt mit ihrer leiblichen Großmutter auf. Die Aufstellungsleitung gibt ihr Zeit und fragt anschließend, wie sie jetzt zu ihrer Ausgangsfrage steht (was kann ich tun, um zu meinen Bedürfnissen zu stehen?), die nochmals vorgelesen wird. Heidrun gibt an, jetzt auf der Skala bei 5/6 zu stehen. Sie bemerkt, dass das Ansprechen von Tatsachen und Bedürfnissen damals für alle notwendig gewesen wäre. Dann denkt sie an ihre Partnerschaft und ihre Bedürfnisse: »Wenn ich mir vorher die möglichen Konsequenzen überlege und mir bewusst mache, ob ich sie tragen könnte, kann ich zumindest in einem ersten Schritt meine Bedürfnisse äußern. Und wenn sie mir wichtig sind, kann ich sie genauso vertreten, wie meine leibliche Großmutter.« Gleichzeitig nimmt sie ein neues, anderes Gefühl zu ihrer Großmutter wahr. Die Aufstellungsleitung begleitet den Prozess der Klientin. Diese steht jetzt ganz im Fokus. Es wird darauf geachtet, dass sie die einzelnen Schritte nachvollziehen kann. Sie kann selbst mit in die Aufstellung hinter ihre Stellvertretung treten, oder zu jedem Zeitpunkt in die Beobachterrolle zurückgehen, um damit in eine größere Distanz zur Aufstellung zu kommen. Die Aufstellungsleitung richtet die Aufmerksamkeit darauf, was sie noch braucht, um ein stimmiges Schlussbild aufnehmen zu können. Anhand der Abfrage der anfangs skizzierten Merkmale lässt sich ein Prozess verdeutlichen. Durch die Bewusstmachung wird die Veränderung festgehalten. Über die erste Skalierung wird ein Unterschied zur Skalierung am Ende der Aufstellung herausgearbeitet.

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Systemisches Qualitätsmerkmal: Verankern von neuen Sichtweisen Verankerung Im Fallbeispiel wird das Abschlussbild verankert. Als Heidrun in der Aufstellung ihren Platz eingenommen hat, überprüft sie, ob sie die zuvor geäußerten körperlichen Empfindungen spürt. Sie kann nun freier atmen. Sie legt die Hand auf ihren Brustkorb. Damit verankert sie das neue Bild und das damit verbundene neue Gefühl. Die Aufstellungsleitung rät: »Wenn du das nächste Mal deine Bedürfnisse spürst, lege deine Hand auf den Brustkorb und probiere aus, ob du sie als Wunsch äußern kannst.« Es wird darauf geachtet, dass die Klientin dem Schlussbild zustimmen kann. Bestimmte Sätze können nochmals wiederholt oder von ihr selbst ausgesprochen werden. Das neue Bild und die neuen Sichtweisen werden mit möglichst vielen Sinnen passend verankert, dazu können Körperempfindungen und eine Körpergeste nützlich sein. Die anfangs in Bezug auf die Zielerreichung gesammelten Merkmale werden überprüft. Die Verantwortung für ihre Veränderung wird bei der Klientin gelassen.

Systemisches Qualitätsmerkmal: Abschließen von noch offenen Aufstellungs- und Gruppenprozessen Entlassen aus den Rollen und Abschluss des Falles Nun werden im Fallbeispiel die Repräsentanten von ihren Rollen entbunden. Durch ein Rückgaberitual (Klientin nimmt mit geöffneten Händen die Rollen zurück) werden die Repräsentantinnen aus den Rollen entlassen. Ein Stellvertreter ist nach der Pause noch irritiert und spürt einen Ärger. Die Aufstellungsleitung bietet ein weiteres Rückgaberitual an (übernimmt mit der kataleptischen Hand den Platz, lässt Stellvertreter aus der Rolle treten, Schritte rückwärts gehen und seinen Namen und Alter nennen). Die Leitung klärt die übriggebliebenen Gefühle und stellt sie in den übergeordneten Zusammenhang. So kann z. B. die Möglichkeit bestehen, dass der Stellvertreter in Resonanz mit eigenen ähnlichen Themen gekommen ist. Die Leitung hilft dabei, dies zu unterscheiden. Im Fallbeispiel bietet sie eine Imaginationsübung zur Verankerung des Abschlussbildes an, offene Fragen werden noch beantwortet. Eine Teilnehmerin fragt, ob Heidrun ihrem Vater davon erzählen solle. Die Leitung erörtert die Vor- und Nachteile und gibt zu bedenken, dass es

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nur Heidruns subjektive Erfahrung sei und damit auch ihre subjektive Lösung. Es bleibt offen, wie sich ihre veränderte Haltung auf ihren Vater auswirkt. Wichtig ist zunächst, dass Heidrun die neue Haltung zu ihrem Partner mitnimmt und dort im Alltag prüfen kann, wie sie ihm ihre Bedürfnisse jetzt mitteilen kann. Alle Beteiligten werden durch Rituale unterstützt, die Stellvertreterrolle abzulegen. Ihnen wird für die Bereitschaft der Rollenübernahme gedankt. Es werden Lösungen bzw. günstigere Bilder durch die Imagination noch einmal verankert, das Abschlussbild wird als ein Schritt im Prozess angesehen.

Systemisches Qualitätsmerkmal: Erreichbarkeit der Aufstellungsleitung Nachbetreuung Im Fallbeispiel wird eine Nachbetreuung gewünscht. Heidrun meldet sich ein paar Tage später und hat Fragen zum Abschlussbild. Es wird ein Nachbesprechungstermin vereinbart. Der begonnene Prozess ist mit dem Ende des Seminars nicht unbedingt abgeschlossen. Er wird auf Wunsch weitergeführt und die Klientin wird bei dem sich entwickelnden Prozess begleitet. Eventuell beginnt eine erneute Auftragsklärung mit einer neuen Fragestellung.

Systemische Qualitätskriterien in der Zusammenfassung Für die Prozessqualität können die im Beispiel genannten systemischen Qualitätsmerkmale als Kennzeichen herangezogen und entsprechend genutzt werden. Auch Christiane und Alexander Sautter nennen in ihrem Buch »Aufstellen systemisch richtig!« ähnliche Kriterien (2016, S. 143 ff.). Eine zentrale Bedeutung im systemischen Vorgehen hat die Klärung des Auftrags. Dies ist eine wesentliche Praktik, um klientenorientiert herauszufinden, wozu die Aufstellung nützlich sein soll und welche Veränderungen gewünscht werden. Dazu gehört aus systemischer Sicht die Kontextklärung, z. B. über ein Genogramm, eine Netzwerkkarte oder ein Organigramm. Es werden erste Verbindungen und Hypothesen zur Frage aufgezeigt, die auch durch transgenerationale Erfahrungen entstanden sein können, wie es in dem Fallbeispiel (s. o.) ersichtlich ist. Über den anfangs formulierten Auftrag kann am Ende einer Aufstellung die Ergebnisqualität festgestellt werden. Anhand der vorgegebenen

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Zielformulierungen kann das gewünschte Ergebnis überprüft werden. Die subjektiven Aussagen der Klientin geben darüber Auskunft, ob und in welchem Maß das Ziel erreicht wurde.

Weitere, auch am Fallbeispiel ersichtliche Merkmale sollen hier noch einmal kurz zusammengefasst werden: ȤȤ das Herstellen von Transparenz in Bezug auf Rahmen und Vorgehensweise, ȤȤ die Zielformulierung und die Lösungsorientierung in der Auftragserarbeitung, ȤȤ die Klärung des Kontextes, ȤȤ das Aufzeigen von Ressourcen, ȤȤ die Bildung von Hypothesen und der Umgang mit der Deutungshoheit, ȤȤ die Annahme, dass der Klient der beste Experte seiner selbst ist, ȤȤ die Orientierung am Prozess der Klientin, ȤȤ eine erschließende, wertschätzende Haltung gegenüber Klienten, ȤȤ die Vermittlung von Schutz und Sicherheit für Klientinnen, ȤȤ die Verdeutlichung des Veränderungsprozesses (z. B. mit Skalenarbeit), ȤȤ die Verankerung neuer Sichtweisen am Schluss der Aufstellung, ȤȤ die Erreichbarkeit der Leitung auch vor und nach einer Aufstellung.

Ein besonderes Augenmerk richtet sich auf den Umgang mit Gruppen. Folgende Faktoren haben dort eine wesentliche Bedeutung: ȤȤ das Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit aller Teilnehmerinnen in der Gruppe zu erfüllen, ȤȤ Transparenz in allen Vorgehensweisen herzustellen, ȤȤ der Beachtung von Gruppenabsprachen hohen Wert beizumessen, ȤȤ Wertschätzung und Respekt für alle Teilnehmer und insbesondere für die Stellvertretungen auszudrücken, ȤȤ für alle Teilnehmerinnen Ansprechbarkeit und Präsenz zu zeigen, ȤȤ offene Gruppenprozesse zu erkennen und zu händeln.

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Abschließende Betrachtung Anhand von diesen zusammengefassten Qualitätskriterien kann eine systemisch arbeitende Aufstellungsleitung ihre eigene Haltung und ihre Vorgehensweise reflektieren. Sie kann damit immer wieder überprüfen, ob und wie sie in Resonanz mit den oben genannten Faktoren ist. Je authentischer dies möglich ist, desto klarer ist die qualitative Wirkung nach außen. Klienten können durch diese Merkmale für sich abwägen, ob die Aufstellungsleitung mit einer »systemischen Haltung« arbeitet. Dazu ist es notwendig, dass die Aufstellungsleitung diese Punkte transparent macht. Die Kunst als Leitung besteht also darin, die richtige Balance zwischen den eigenen Werten, der Haltung der (eigenen) therapeutischen Schule und den ethischen Vorgaben eines Verbandes zu finden. Diese Mischung ist auf der Handlungsebene der Klientin gegenüber so umzusetzen, dass diese davon einen erfahrbaren Nutzen erlangen kann. So sind wir immer wieder aufgefordert, unsere Haltungen und Einstellungen durch Fortbildungen, kollegialen Austausch, Supervision und ethischen Fragestellungen zu hinterfragen und uns eventuell neu auszurichten.

Literatur Bodirsky, C. (2015). Betrachtungen zur Qualität in der Leitung von Familienaufstellungen. Kontext. Zeitschrift für systemische Therapie und Familientherapie, 46 (2), 110–124. Blume, R. G. (2016). Systemische Ethik. Orientierung in der globalen Selbstorganisation. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Daimler, R. (2008). Basics der systemischen Strukturaufstellungen. Eine Anleitung für Einsteiger und Fortgeschrittene. München: Kösel. DGSF (2003). Stellungnahme zum Thema Familienaufstellungen. Zugriff am 18.01.2019 unter http://www.dgsf.org/themen/berufspolitik/hellinger.htm DGSF (2012). Ethische Richtlinien der DGSF – Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie. Zugriff am 14.02.2019 unter http://www.dgsf.org/dgsf/ ethik-richtlinien.htm DGSF (2019). Qualitätssicherung für die Aufstellungsleitung. Eine Themensammlung der DGSF-Fachgruppe Systemische Aufstellungen. Zugriff am 18.01.2019 unter https://www. dgsf.org/ueber-uns/gruppen/fachgruppen/fachgruppe-systemische-aufstellungen/qualitaets­ sicherung Drexler, D. (2015). Einführung in die Praxis der Systemaufstellungen. Heidelberg: Carl-Auer. Forum Werteorientierung in der Weiterbildung e. V. (2017). Zugriff am 12.01. 2019 unter: https:// forumwerteorientierung.de/wp-content/uploads/2017/05/BK-deutsch-Berufs­kodex-für-dieWeiterbildung_2017–1.pdf Frot, P. (2012). Lexikon des Familienstellens und der systemischen Aufstellungsarbeit. Darmstadt: Schirner Verlag.

Systemische Qualitätsmerkmale in Aufstellungen

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Lier, C., Lier, H. (2015). Aufstellungsarbeit in der Supervision und die systemische Haltung. Kontext. Zeitschrift für systemische Therapie und Familientherapie, 46 (2), 125–139. Nazarkiewicz, K., Kuschik, K. (2015). Einführung: Qualität hat Methode. In K. Nazarkiewicz, K. Kuschik (Hrsg.), Handbuch Qualität in der Aufstellungsleitung (S. 11–57). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Ruppert, F. (2015). Das Aufstellen des Anliegensatzes (AdAs). Entwicklungsschritte und methodische Betrachtungen. In K. Nazarkiewicz, K. Kuschik (Hrsg.), Handbuch Qualität in der Aufstellungsleitung (S. 327–355). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Sautter, C., Sautter, A. (2016). Aufstellen systemisch richtig! Was Sie über Aufstellungen wissen sollten und wie Sie sich darauf vorbereiten können. Ravensburg: Sautter-Verlag für systemische Konzepte. Sparrer, I. (2010). Einführung in die Lösungsfokussierung und systemische Strukturaufstellung (2. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer. Verbändetreffen gegen Grenzverletzungen und sexuellen Missbrauch in Psychotherapie und psychosozialer Beratung (2011). Information für KlientInnen. Zugriff am 10.02.2019 unter http:// www.verbaendetreffen.de/information.html Weber, G. (Hrsg.) (1993). Zweierlei Glück. Die systemische Psychotherapie Bert Hellingers. Heidel­ berg: Carl-Auer.

Kerstin Kuschik und Kirsten Nazarkiewicz

Zwanzig Thesen zum Aufstellen

Aufstellungen sind eine andere Expertisen ergänzende Methode. Und wie bei einander ergänzenden Bereichen üblich, sind Anschlüsse fließend, gibt es unterschiedlich breite Schnittflächen. Die Suche nach den Essenzen der Aufstellungsarbeit reicht daher in die Domänen anderer Vorgehensweisen (Psychodrama, Gestalttherapie, Genogrammarbeit u. v. m.) sowie zentralen Disziplinen für menschliche Entwicklung (Psychotherapie, Coaching, Beratung) hinein. Was Aufstellungsarbeit zu Aufstellungsarbeit macht, ist nicht nur diese oder jene Essenz, sondern das Emergente aus all diesen speziellen Elementen – ähnlich einem Parfum, das aus allen darin enthaltenen Essenzen, von denen es sich einige mit anderen Parfumkompositionen teilt, den ganz eigenen Charakter entwickelt. Vor fünf Jahren haben wir, die Autorinnen dieses Beitrags, uns darum bemüht, zu beschreiben, wie insbesondere die Arbeit der Aufstellungsleitungen qualitativ zu fassen sein könnte (Nazarkiewicz u. Kuschik, 2015). Qualitätskriterien zur Aufstellungsarbeit gab es bereits seit 2008, hier besonders solche, die Richtlinien für Weiterbildungen und Weiterbildnerinnen formulierten, und darauf folgend auch verbandliche Anerkennungen für mit Aufstellungen arbeitende Therapeuten, Beraterinnen oder Pädagogen (vgl. Dicke u. Koch, 2015, S. 78 f.). Diese qualitative Erfassung und Standardbildung – vor allem der Qualitätsdimensionen Struktur- und Ergebnisqualität – beruft sich auf Eigenschaften, Bedingungen und Zielrichtungen der Methode. In unserem Beitrag haben wir einen Überblick über diese beiden Qualitätsdimensionen gegeben, deren Entwicklung von den Aufstellungsverbänden seit deren Gründung vorangetrieben wurde und weiterhin wird. Besondere Aufmerksamkeit richteten wir allerdings auf Qualitätskriterien und -verständnisse bezüglich der Prozessqualität. Was tun wir als Aufstellungsleitungen während unserer Arbeit und wie tun wir es? Im Spannungsfeld von intuitiv-­vorbewusster und handlungsfähig-bewusster

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Wahrnehmung geschieht unsere Arbeit. Sie ist komplex und dynamisch, denn wir arbeiten in einem Feld aus mehreren Ebenen: Zeitachsen, Räume, Wirklichkeitsverständnisse sowie transpersonale und transzendente Verhältnisse erfassen verschiedene Dimensionen. Außerdem arbeiten wir mit gruppen­ dynamischen Prozessen, und wir haben sowohl unsere Selbst­beobachtung sowie die achtsame Begleitung der beteiligten Personen und des Prozesses selbst zu bewältigen. Es liegt auf der Hand, dass der Versuch, Kriterien einer Praxis zu beschreiben und auch verfügbar zu machen, dabei nicht nur essenzielle Bereiche der Aufstellungsarbeit berührt, sondern diese aufeinander bezieht, ordnet, gestaltet und in ihrer Anwendbarkeit reflektiert. Leitungsqualität umfasst folglich einen, dem heilsamen Ergebnis von Entwicklungs­begleitungen dienenden Umgang mit Essenzen. Unsere Thesen zur Qualität der Leitungskompetenzen von Aufstellungen sind eine Sammlung: a) für die wir u. a. aus der Durchsicht der bis dahin veröffentlichten Beiträge der 29 Hefte »Praxis der Systemaufstellung« geschöpft haben, b) in die die aktuellen Beiträge unserer Monografie eingeflossen sind (Nazarkiewicz u. Kuschik, 2015), c) die keine Vollständigkeit oder Einstimmigkeit beansprucht, d) für die wir besonders hinsichtlich der Essenzen »Intuition, Spiritualität und Einschließlichkeit« auch eigene Kriterien erläutert haben. Die Thesen mögen in diesem Themenbuch – leicht überarbeitet – noch einmal zur Geltung kommen. Denn sie sind nicht nur eine Sammlung im Sinne lose verbundener Einzelteile, sondern auch gesammelte Kompetenzen im Sinne von verdichteten Erfahrungen und stellen als solche eine Essenz aus über zwanzig Jahren des engagierten, offenherzigen, kontroversen und fruchtbaren Austauschs der für Aufstellungen wirkenden Personen dar: 1. Qualitative Aufstellungsleitung ist eine rekonstruierbare Entdeckungsarbeit, für die es benennbare Kompetenzen, beschreibbare Erfahrungen sowie klar kommunizierte Haltungen gibt. 2. Grundsätzlich sorgen Informationen und Transparenz, bezogen auf Aus­ bildungsgrad und Arbeitsweise der Aufstellungsleiter, für Qualität. Die Qualitätsanforderungen werden den unterschiedlichen Bereichen angepasst, in denen Aufstellungen angewendet werden: Professionell in Organisationen und Therapie arbeitende Aufstellungsleitungen haben neben Berufs- oder Studienabschluss eine Ausbildung in einem gängigen Psychotherapie- oder Beratungsverfahren, fundiertes fachliches Wissen, mehrjährige Erfahrung als Systemaufsteller, hinreichend Berufs- und Lebenserfahrung sowie die

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Fähigkeit, die in diesem Hintergrundwissen liegenden, in die Intuition abgesunkenen Kompetenzen bei Bedarf in Bewusstsein und Sprache zu bringen sowie transparent machen zu können. Bei in anderen (kulturellen) Heil­ traditionen beheimateten und qualifizierten Aufstellungsleitern oder bei der Arbeit in ausgewiesenen Selbsterfahrungsgruppen kann Qualität neben den bereits genannten Voraussetzungen und Vorerfahrungen auch über die Offenlegung der Bedingungen und Selbstverpflichtungen definiert werden. 3. Eine Verbindung von phänomenologischer Aufstellungsarbeit und systemisch-konstruktivistischem Vorgehen sowie das Denken in (verwerfbaren) Hypothesen oder mit verschiedenen Wahrheiten sind selbstverständlich. Die Leiterinnen von Aufstellungen unterscheiden verschiedene Wahrheitsbegriffe und kombinieren sie: Wahrheit wird konstruiert, gefunden, verändert und kann sich entfalten. Demgemäß werden Aufstellungsleitungen (vom Feld) ebenso geführt, wie sie selbst führen. 4. Aufstellungsarbeit und -leitung stehen im Dienst der menschlichen individuellen und kollektiven Selbstaufklärung. Die besonderen und bislang unerklärbaren Phänomene der stellvertretenden Wahrnehmung sowie die der Aufstellungsarbeit innewohnende Selbstreflexion in Bezug auf kollektive und historische Einflussfaktoren stellen einen fundamental neuen Zugang hinsichtlich der Selbstschau der Spezies Mensch dar und erfordern besondere Aufmerksamkeit. In der Arbeit wird versucht, unbegreifbaren und irrationalen, ungebändigten und bisweilen zerstörerisch wirkenden Dynamiken und Einflüssen habhaft zu werden, um sie in die Selbstverfügung zu bringen. Die Qualität von Aufstellungsleitungen lässt sich daher daran bemessen, ob die Arbeit der inneren Freiheit aller Beteiligten dient, allen voran der inneren Freiheit der den Fall einbringenden Klienten. 5. Ein stärkend wirkender Leitungsstil zeigt sich darin, dass sich das Feld in viele Dimensionen frei entfalten kann und einfühlsam intensive Emotionen entstehen können, die ein verdrängungsfreies Begreifen von realen Konflikten ermöglichen. Die Leitung vermeidet den regressiven Bann überwältigender und unbegreiflicher Erfahrungen für die Anwesenden. Die Basis dafür bilden herrschaftsfreie, unverzerrte Kommunikationsbedingungen, für deren Entstehung Weltanschauung, Haltung und Stil der Aufstellungsleitung konstitutiv sind. 6. Die spirituelle Qualität von Aufstellungen weist auf über uns hinausreichende Dimensionen hin, die durch das Gefühl von Sinnhaftigkeit und Eingebundensein fördernd und heilsam sein können. Aufstellungsleiter haben ihre eigene Haltung zur Spiritualität geklärt und nützen diese in emanzipierender Weise, d. h., sie achten auf Mehrperspektivität, vermeiden Letztbegrün-

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dungen und unterstützen die Selbstverfügung und Selbstverantwortung von Einzelnen und Kollektiven. 7. Begleitende und leitende Personen klären (immer wieder) ihr eigenes Menschen- und Weltbild, da Aufstellungsarbeit nicht per se in eine Therapieschule oder Theorie eingebunden ist. Sie haben eine Haltung, die es vermag, Erfahrung, achtsame Wahrnehmung, theoretische Kenntnisse und professionelles Handwerk (Techniken, Methoden) in den verschiedenen Kompetenzdimensionen zu nutzen, um ein dynamisches Suchen nach Veränderungs- und Bewegungsoptionen zu ermöglichen. 8. Aufstellungsleiter nutzen für ihre Arbeit eine geschulte, umfassende und aufgeklärte Intuition. Als hohe Lernstufe verstanden, ist Intuition bezogen auf die besondere Fähigkeit, die sinnlich-emotionalen Botschaften des eigenen Körpers als Informations-, Erfahrungs- und Wissensspeicher nutzen zu können. Sie umfasst zugleich die Qualität des Kontakts in der Beziehungsgestaltung, Selbstkenntnis und Entwicklung wie das Vermögen, sich kreativen Einfällen und transzendenten Erlebens- und Bewusstseinszuständen zu öffnen. 9. Aufstellungsarbeit ist als Gruppenmethode entstanden und wird häufig in Gruppen angeboten. Die Aufstellungsleitung kennt den hohen Wirkungsgrad gruppendynamischer Prozesse und weiß sie während der Arbeit zu berücksichtigen. Die klientengesteuerte Aufdeckung und Versprachlichung von ehemals nicht gesehenen oder verheimlichten Ereignissen vor einer mittragenden und wohlwollenden Zeugenschaft kann außerordentlich entlastend sein und ist oft die wirksamste der Interventionen. Die Aufstellungsleitung weiß hier sorgsam Grenzen und Schutzbedarf der Klienten zu achten, berücksichtigt aber auch, was der Gruppe zuzumuten ist. 10. Ein wertschätzender Umgang mit allen Anwesenden und das Herstellen von transparenten Regeln oder Vorgehensweisen sind unabdingbar. Die Aufstellungsleitungen arbeiten auf Augenhöhe mit den Falleinbringern und allen weiteren Beteiligten. Sie behandeln das Vorgehen als Aushandlungsprozess. Die Führung in der Aufstellungsleitung dient dem Lösungswissen in dem Maß, wie es die Klienten erlauben und mitsteuern können. 11. Die heutigen Aufstellungsleiter und Ausbilderinnen wägen zwischen verschiedenen Aufstellungsformen ab, so u. a. zwischen klassischem Familienstellen, Trauma- und Anliegenaufstellungen sowie systemischen Strukturund Organisationsaufstellungen. Sie unterscheiden und wählen weitere damit verbundene Aufstellungsverfahren. Dabei überlegen sie auch, ob eine Aufstellung das Anliegen des Klienten unterstützt oder ob gegebenenfalls eine andere Vorgehensweise therapeutisch oder beraterisch hilfreicher ist.

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12. Aufstellungsleitungen sind in der Lage, die Aufstellungsarbeit mit weiteren Methoden zu verbinden. Dabei geben stark strukturierende Formate und Aufstellungsverfahren Klienten und Aufstellungsleitungen Orientierung und Sicherheit im Ablauf. Dies begünstigt den Freiraum, der nötig ist, um die Aufmerksamkeit auf das Erleben des Klienten zu richten. Aufstellungsleiter wissen um diese Qualitäten und können abwägen, wo Strukturen hilfreich sind oder einengen. Wichtig ist, dass die Methode den Falleinbringern dient – und nicht umgekehrt. 13. Die Aufstellungsleitungen widmen der Art, Richtung und Formulierung des Anliegens ihre zentrale Aufmerksamkeit. Ob das Anliegen dann gar nicht, als Anliegen selbst, als Satz mit seinen Teilen oder als Ziel(-vereinbarung) aufgefasst wird, ist methoden- und leitungsabhängig. Entscheidend ist, dass das Anliegen für den gesamten Prozess der Aufstellung in Form einer Auftragsklärung die Richtschnur darstellt. Das Anliegen wird gemeinsam mit den Klientinnen ausgehandelt, definiert und vereinbart. 14. Die Aufstellungsleitung sorgt während der Arbeit: ȤȤ für die Vorbereitung, Transparenz und Herstellung eines geschützten Rahmens für alle Beteiligten, ȤȤ für eine Atmosphäre der Sammlung, Konzentration und Vertraulichkeit, ȤȤ für die Reduktion von Komplexität durch einen klaren Fokus (Anliegen als Auftrag), ȤȤ für die Einteilung der Inhalte auf die verfügbaren Ressourcen wie Zeit und zur Verfügung stehende Personen oder Elemente als Stellvertreterinnen, ȤȤ für die Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Systemebenen (z. B. zwischen Team, Abteilung, Organisation) und unterschiedlichen Zeitebenen und dafür, dass die für das Anliegen passenden Ebenen erkannt werden, ȤȤ für die Auswahl der relevanten Stellvertretungen, ȤȤ für das Verständnis wichtiger theoretischer Zusammenhänge, Theorien und Konzepte, ȤȤ dafür, dass die Beteiligten trotz der Nichterklärbarkeit Vertrauen in die stellvertretende Wahrnehmung (Phänomenologie) haben, ȤȤ für das Erkennen von Mustern, Regelmäßigkeiten und Verknüpfungen in den Erzählungen und räumlichen Repräsentationen, ȤȤ für das Vermögen, mit eigenem Nichtverstehen umzugehen und komplexe Dynamiken erkennen und aushalten zu können, ȤȤ für das Vermögen, gegebenenfalls Hypothesen bilden und verwerfen zu können,

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ȤȤ für die Selbstbeobachtung der zugänglichen eigenen Geistesaktivitäten und Körperempfindungen, ȤȤ für eine geschulte Wahrnehmung mit differenzierter Erfassung von Stimmungen und Gefühlen, ȤȤ für die emotionale Einbindung der Klienten durch achtsame Beobachtung, Ansprechen der Emotionen, Rückmeldeschleifen, Psychoedukation oder Selbstkorrektur, ȤȤ für die Berücksichtigung des Stimmigkeitsgefühls der Klienten, ȤȤ für das Vermögen, zwischen einem theorie- bzw. gedankenlosen reinen Gewahrsein und gedanklichen Formationen (Mustererkennung, Hypothesenbildung etc.) zu pendeln, ȤȤ für das Vermögen, behutsam zwischen non-direktiven und direktiven Anleitungen, Aufforderungen und Vorschlägen abzuwägen, ȤȤ für das Vermögen, sich auf die Einmaligkeit einzulassen, mit der sich seelische Vorgänge während des Prozesses im Raum sichtbar machen, sowie für die Nutzung des jeweiligen bildhaften Ausdrucks der seelischen Vorgänge, ȤȤ dafür, teilweise in Resonanz mit dem Feld zu gehen und Impulse, Bewegungen, Kräfte als Deutungsressourcen heranzuziehen, ȤȤ dafür, ressourcenorientiert zu intervenieren, das heißt z. B. auch, Belastungsgrenzen von Klienten zu beachten, ȤȤ dafür, Interventionen zu einem für den Klienten passenden Zeitpunkt zu setzen, dabei auf das Erleben, Empfinden, Verstehen, die Geschwindigkeit und das Maß des Verarbeiten-Könnens des Klienten zu achten und für größtmögliche Kongruenz zu sorgen, ȤȤ dafür, den Klienten neue (emotionale,) lösende Erfahrungen zu ermöglichen und diese körperlich spür- und verankerbar zu machen, ȤȤ dafür, verschiedene Problemlösungen zu suchen und gegebenenfalls zu finden, die Perspektiven zu vervielfältigen und den Möglichkeitsraum des Handelns der Klienten zu erweitern, ȤȤ dafür, das eigene Vorgehen zu verbalisieren und zu rekonstruieren, ȤȤ dafür, einen hilfreichen Lösungsimpuls und gegebenenfalls ein kraftvolles Ende zu finden. 15. Die zunehmenden virtuellen oder telefonischen Beratungsangebote und Aufstellungsleitungen unterliegen weitestgehend denselben Qualitätskriterien. Durch die Distanz erhöht sich die Sorgfaltsverantwortung bezüglich der Vorgespräche, der Nachsorge, der Einbindung in einen Prozess, gegebenenfalls der Zusammenarbeit mit Kollegen vor Ort, der Transparenz über die Möglichkeit, die Methode auf diese Weise durchzuführen, sowie bezüg-

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lich des damit verbundenen speziellen Settings. Die so arbeitenden Aufstellungsleitungen sind in der Lage, den Kontakt über die räumliche oder zeitliche Distanz halten zu können sowie zu spüren, wann das virtuelle Setting überfordernd ist. 16. Da die Veränderungswirksamkeit von Aufstellungen sich nicht (nur) in einmaligen emotionalen Felderlebnissen, sondern in nachhaltigen Effekten für alle Anwesenden über einen längeren Zeitraum zeigt, gehört zu einer qualitätsvollen Aufstellungsleitung eine sorgfältige Nachsorge, z. B. in Form von Entrollungen, verbunden mit der Bitte um Selbstsorge und um Meldung, falls von der Gruppe oder Leitung noch etwas gebraucht würde, und der Ansprechbarkeit der Leitung bezüglich gegebenenfalls weiterer Hinweise und Handreichungen. Die Leitung achtet auf Transfer, Nachbetreuung bzw. die Einbindung in einen Entwicklungsprozess. 17. Aufstellungsleiterinnen haben Erfahrungen und Wissen hinsichtlich der zentralen Beziehungsformen und können sie auch gestalten, da Aufstellungen selbst Beziehungsprozesse sind und diese abbilden. Sie haben ein solides praktisches Fundament und theoretisches Wissen, u. a. in Bezug auf: Bindungstheorie, kommunikationspsychologisches und gruppen­ dynamisches Wissen, Entwicklungspsychologie und weitere relevante Theorien und Modelle. Darüber hinaus haben sie die Fähigkeit, in einen umfassenden Kontakt gehen zu können, also sich mit Menschen, ihren Anliegen, Optionen und Grenzen verbinden zu können. Eine kontinuierliche Arbeit an der eigenen persönlichen Weiterentwicklung ist dafür unabdingbar. 18. Die Grenze der Selbstreflexion und eigenen Entwicklung ist auch die methodische Grenze beim Leiten von Aufstellungen. Wie bei mutmaßlich allen therapeutischen oder beraterischen Verfahren werden Theorie, Methoden und Techniken nur in dem Maße intuitiv verfügbar, kompetent einsetzbar und wirksam, wie sie in die eigene und persönliche Entwicklung und Haltung der Leiterinnen und Leiter eingegangen sind und in der Situation oder im Nachhinein transparent gemacht werden können. 19. Aufstellungsleitungen wissen um die eigene Begrenztheit und sorgen für Supervision nach und während der Aufstellungen, Intervision, Peer­gruppen­ teilnahme, Hospitation oder Aufstellungen für Klienten innerhalb ihrer Kollegengruppen zur Verkleinerung der eigenen blinden Flecke und zur Korrektur der Leitungsmacht. 20. Aufstellungsleiterinnen beteiligen sich an der Qualitätsentwicklung und der Diskussion auch außerhalb ihrer bevorzugten Vorgehensweise. Gute Aufstellungsleitung braucht den fachlichen, inspirierenden, aber auch selbst­

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kritischen Austausch zwischen verschiedenen Gruppierungen, methodischen Herangehensweisen und Fraktionen. Die Qualitätskontrolle und -entwicklung stellt sich vor allem über die Begegnung von Personen und die Vermittlung sowie Verbindung von Themen, Theorien, Methoden und Interventionstechniken her. Für diesen Beitrag möchten wir abschließend einen Blick auf essenzielle Aspekte von Aufstellungsgruppen aus Teilnehmersicht versuchen, denn die Faszination in Bezug auf die Arbeit und manchmal der Respekt und ein leichtes Zurückschrecken machen offenbar, was das Besondere an Aufstellungsgruppen ist. Betont und als wertvoll erachtet werden vor allem: ȤȤ Erfahrungen von Unmittelbarkeit im Kontakt mit einander fremden Menschen, ȤȤ eine Art annehmbare, weil kurzzeitige Beziehungsdichte, die als hilfreich und Verbindung schaffend erlebt wird, ȤȤ eine aus alltäglicher Sicht ungewohnte Selbstzurücknahme, Bewertungs­ freiheit und freundliche Zeugenschaft der Beteiligten und daraus resultierend das Erlebnis, in allen Facetten angeschaut und angenommen zu werden, ȤȤ eine Erleichterung über die Ähnlichkeit in der Art und Weise, wie wir selbst in Systemen sowie Systeme selbst funktionieren, weil dies die persönlichen Schuld- und Schamzuschreibungen verringert, ȤȤ eine Freude darüber, dass man selbst, obwohl und weil man mit eigenen Themen belastet ist, für andere eine Hilfe sein kann, ȤȤ eine quasi-meditative Fokussierung und Konzentration auf das Spüren im Hier und Jetzt, ȤȤ eine Entschleunigung, ein Ebenenwechsel, Resonanzerfahrungen, ȤȤ Vertrauen in die eigene Wahrnehmung und Körperweisheit, ȤȤ wiederholtes Erfahren und Staunen darüber, wie sich Situationen und Personen – anders als vermutet – zeigen, was Perspektiverweiterung und -wechsel ermöglicht. Die aufgelisteten Erfahrungen sind vor allem im Gruppensetting erlebbar und zwar über alle Beteiligungsformen hinweg: dem Beiwohnen, Mitwahrnehmen und Bezeugen im Kreis, als Stellvertreterin oder Falleinbringer. Wir werden erfasst und lassen uns erfassen: von Dynamiken, die von vielen Teilnehmenden ähnlich in ihren gespannten, drückenden, gewaltsamen und lösenden Beschaffenheiten empfunden werden. Das Phänomen, dass sich in einen sicheren Raum hinein für alle spürbare, psychische Innenwelten zeigen, ist für sich gesehen

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schon staunenswert, die weitere lösende Arbeit mit diesen Innenwelten setzt das Staunen bei aufgeklärter und transparenter Arbeitsweise fort. Hier werden Essenzen deutlich, die in unserem tiefen Wissen der Verbundenheit alles Lebendigen gründen, unsere Ähnlichkeit dienstbar in unser Bewusstsein heben und so ein Äquivalent bilden, das den Schmerz aus leidvollen Beziehungen heilen hilft: Wenn wir den Schmerz zulassen und teilen, verringert sich dies Leid und verhindert zukünftiges – das wissen wir alle intuitiv. In Aufstellungsgruppen wird dieses intuitive Wissen bewusst und handhabbar und das gilt in abgemilderter Art auch für Einzelarbeit, vor allem, wenn bereits Gruppenerfahrung vorhanden ist. Aufstellungsleitungen, die sich dessen bewusst sind, die diese Zugänge und diesen Lösungsraum für alle öffnen und halten können, machen sich und allen Anwesenden ein besonderes Geschenk: der im Alltag und im Leiden so schnell verschwindenden Selbstverständlichkeit des Daseins gewahr zu werden; des Lebendigseins; der Möglichkeit, sich selbst jederzeit aktiv mit neuen, freudvolleren Reaktionen in Verbindung setzen zu können. Insofern benötigt Aufstellungsarbeit nicht nur Achtsamkeitspraxis, sie ist selbst eine (vgl. dazu auch den Beitrag von Kuschik in diesem Band). Wenn wir auch von Klienten wissen, dass es im Alltagsleben manchmal wenig Erinnerung an die Aufstellung gibt, und gelegentlich sogar raten, nichts extra zu üben oder zu reflektieren, damit das Erlebte im Schutzraum des Vorbewussten seine positive Wirkung entfalten darf, so sind die in Aufstellungen gemachten Erfahrungen ja bereits Veränderungen – sogar auf neuronaler Basis. Netzwerke sind neu verbunden worden, Perspektiven wurden gehört, geachtet oder gewechselt. Mitmenschlichkeit konnte einen Eindruck hinterlassen. Eine große Not und Dringlichkeit verführt Hilfesuchende wie Aufstellungsleitungen unter Umständen dazu, die in der Arbeit genutzte, tiefe Ebene unserer Wahrnehmungsfähigkeit sowie deren Wirkungsdynamik zu unterschätzen. Hier ist besondere Achtsamkeit und Kleinschrittigkeit vonnöten. Aufstellungen sind nicht als Wunderheilung, Zaubertrick oder Instanteffekt angelegt, so wunderbar auch einzelne eindrucksvolle Lösungen sein können. Intensive und dauerhafte Änderung braucht selbstverständlich Aufmerksamkeit für Transfer- und Anschlussmöglichkeiten sowie Wiederholungsschleifen im Alltag. Wenn wir Aufstellungsleitungen hier Sorge tragen, dass Fortsetzungen stattfinden können (über Empfehlungen zu einer längeren Begleitung oder regelmäßigen Teilnahme an einer Selbsterfahrungsgruppe, über Angebote für anschließende Nachgespräche oder Einzelarbeit), Überträge in den Alltag gelingen oder Zuschreibungen vermieden werden, können Aufstellungen als wesentliche Energiequellen auf dem Weg der Selbstaufklärung und Selbstwirksamkeit wirken.

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Hätte Hildegard von Bingen (1965, S. 52 f.) gewusst, dass es einst Aufstellungen geben wird, wäre sie sicher einverstanden gewesen. So bleibt ihr das letzte Wort vorbehalten: »Jedes Geschöpf ist mit einem anderen verbunden, und jedes Wesen wird durch ein anderes gehalten.«

Literatur Nazarkiewicz, K., Kuschik, K. (Hrsg.) (2015). Handbuch Qualität in der Aufstellungsleitung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Dicke, D., Koch, B. (2015). Der Zauber des Anfangs und die Mühen der Ebene. Die Entwicklung von Qualitätsstandards und Richtlinien in der deutschen Gesellschaft für Systemaufstellungen (DGfS). In K. Nazarkiewicz, K. Kuschik (Hrsg.), Handbuch Qualität in der Aufstellungsleitung (S. 61–86). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Bingen, H. von (1965). Welt und Mensch: Das Buch ›de Operatione dei‹. Salzburg: Otto Müller.

Christoph Wild

Sprache der Weisheit? »Ordnungen der Liebe« neu gelesen*

»Ordnungen der Liebe«, das erste Buch, das Bert Hellinger unter seinem Namen veröffentlicht hat, ist im Jahr 1994 erschienen. Es reizte mich, es mit dem Abstand von über zwanzig Jahren noch einmal zu lesen, in der Annahme, dass sich die Eigenart der Familienaufstellung, wie sie von Bert Hellinger konzipiert und praktiziert wurde, in dieser frühen Form frisch und unverstellt erkennen lasse. Bei dem Rückblick auf die Anfänge kommt es mir nicht darauf an, nachzuvollziehen oder zu unterscheiden, was seither von Bert Hellinger selbst modifiziert worden ist oder welche Korrekturen und Fortentwicklungen in der kurzen, stürmischen Geschichte der Aufstellungsarbeit von ihm oder anderen vorgenommen worden sind. Schließlich geht es mir auch nicht darum, den in »Ordnungen der Liebe« vorgestellten Ansatz zu beurteilen und zu unterscheiden, was daran »wahr« oder »falsch«, therapeutisch zweckmäßig oder nicht sein könnte. Dazu fehlt mir die Kompetenz, da ich weder Psychotherapeut noch Aufsteller, allerdings seit Jahrzehnten an der Aufstellungsarbeit interessiert und mit ihr verbunden bin. Mein Interesse konzentriert und beschränkt sich darauf, die frühe Gestalt der Familienaufstellung Bert Hellingers erneut auf mich wirken zu lassen. Dabei ergab sich für mich eine Frage, die mich zu einer These verleitet hat, die für die Diskussion über die Theorie der Aufstellungsarbeit klärend und weiterführend sein könnte.

* Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Fassung von »Über die ›vorgegebenen Ordnungen‹ – ›Ordnungen der Liebe‹ neu gelesen«, Praxis der Systemaufstellung, 2015 (2), 68–74.

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Hintergrund der Frage »Ordnungen der Liebe« ist – wie viele Veröffentlichungen von Bert Hellinger – ein »Kursbuch«. Es dokumentiert zwei Selbsterfahrungskurse, wie er sie damals angeboten hat. Es ist kein Buch über Familienaufstellung. Es ist also keine Abhandlung über die Methode oder die Prinzipien der Familienaufstellung. Das heißt: Alles, was in diesem Buch steht, gehört zum Prozess der Selbsterfahrung in der Gruppe und dient dazu, für die Teilnehmer an den Kursen »Lösungen«, »Auswege aus Krisen« und »Heilung bei Krankheiten« zu finden und den Leser an sich selbst »die lösende oder heilende Einsicht« erfahren zu lassen (S. 20). In der Arbeit mit jedem einzelnen Teilnehmer wird mit höchster Konzentration und ohne Umschweife auf eine Veränderung hingearbeitet, die das vorgetragene Problem lösen könnte. Es gilt die Regel, dass sich jeder Teilnehmer »mit persönlichem Risiko als Gegenüber« dem Gruppenleiter stellt, und es wird nicht geduldet, dass jemand nicht mit vollem Einsatz an sich arbeitet (S. 26). Jeder Satz, den Bert Hellinger zu einem der Teilnehmer oder zur Gruppe sagt, zielt auf Wirkung in dieser Richtung. Das trifft auf konfrontierende Sätze zu (z. B. »Du musst die Adoption rückgängig machen« oder »Ihr kriegt keine Kinder, die Entscheidung ist gefallen, das sieht man«). Es gilt auch für die erzählten Geschichten und die durchgeführten Familienaufstellungen und meines Erachtens schließlich auch für die allgemeinen und grundsätzlichen Ausführungen, wie z. B. über »doppelte Verschiebung«, »Ordnung«, »Rangordnung in Systemen«, die »Ursprungsordnung« oder »stellvertretende Schuldübernahme«. Diese allgemeinen Aussagen zu diesen oder anderen Themen – im Folgenden kurz als »Ordnungen« bezeichnet – scheinen einen theoretischen Charakter zu haben, weil sie verallgemeinernd, fast wie Gesetze formuliert sind. Sie wurden und werden auch gern als theoretische Grundlagen der Familienaufstellung verstanden und diskutiert. Im Kontext des Kurses werden sie aber nicht als »Theorien« vorgetragen, über die man nachdenken, deren Für und Wider man erörtern könnte. Vielmehr zielen sie fallbezogen auf therapeutische Wirkung. Das Nachdenken und Abwägen nähme ihnen diese Wirkung, würde stattdessen das Problem stabilisieren, zu dessen Lösung diese Ordnungen beitragen sollen. Sie sind gedacht als »Medizin«, die man nicht auseinandernehmen darf. Nur wenn man sie als Medizin schluckt und wirken lässt (S. 55), können sie im konkreten Fall zur lösenden oder heilenden Einsicht führen. Theorien dienen in der Regel dazu, vom Allgemeinen auf den Einzelfall zu schließen, um dann vom Einzelfall aus die Theorie zu überprüfen und eventuell zu modifizieren. Dies alles wird im Rahmen des Kurses weder getan noch zugelassen. Es ist die von Bert Hellinger sogenannte »phänomenologische Vor-

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gehensweise«, die ein Verfahren, das vom Allgemeinen auf den besonderen Fall schließen würde, verbietet. Sie wird in »Ordnungen der Liebe« nämlich so beschrieben: »Der Therapeut geht bei Familienaufstellungen rein phänomenologisch vor. D. h., er setzt sich einem dunklen Zusammenhang aus, bis ihm plötzlich Klarheit kommt. Wenn er dagegen nur einen Begriff hat und aus dem Begriff oder aus einer Assoziation die Lösung finden will, findet er sie nie. Aus Ableitungen findet er die Lösung nie. Sie muss jedesmal neu gefunden werden. Deswegen ist jede Lösung einzigartig und nicht wiederholbar« (S. 88). Die »phänomenologische Vorgehensweise« Bert Hellingers verzichtet demnach gerade auf das Ableiten, auf das Schließen vom Allgemeinen, vom Begriff auf den Einzelfall. Sie ist ausgerichtet auf den einzigartigen, individuellen Fall. Die allgemeinen Sätze, die gesprochen werden, haben demnach keine theoretische Funktion. Als Theorien im üblichen Sinn wären sie missverstanden. Sie dienen der individuellen Lösung. Als allgemein formulierte Sätze, als Sätze über »vorgegebene Ordnungen« sollen sie im konkreten Fall eine starke, unausweichliche Wirkung entfalten. Meine Frage ist nun: Wie ist ein solches Wissen, wie sind solche Sätze zu charakterisieren, die zwar allgemein formuliert sind, aber als solche nicht der Diskussion dienen, sondern im Einzelfall die Wirkung entfalten sollen, Einsicht und Handeln zu verändern? In welchem Sinn sind solche Sätze wahr? Sie sind nicht wahr im Sinne der Wahrheit einer überprüfbaren Theorie über Familien, Gruppen, Systeme etc., sondern wahr, wenn sie sich im Einzelfall als Intervention beim Finden einer Lösung für eine Lebenskrise bewähren. Diese Sätze helfen uns, wieder Verbindung zu einer Fähigkeit aufzunehmen, die uns sonst selbstverständlich zur Verfügung steht und die man unsere Lebensweisheit nennen könnte. Damit meine ich etwas ganz Alltägliches, was uns allen ganz vertraut ist und selbstverständlich zur Verfügung steht. Es ist die mit Einsicht gepaarte Handlungskompetenz in unserem Leben. Sie lässt uns wissen, was wir zu tun haben, wann wir überlegen, wann wir ohne langes Nachdenken handeln müssen und wann wir intuitiv vorzugehen haben. Sie lässt uns dies und jenes versuchen, lehrt uns, aus schwierigen Situationen herauszufinden, uns im Leben wie ein Schwimmer im Fluss zu bewegen. Sie lehrt uns auch, mit Ungewissheiten, mit unseren begrenzten Fähigkeiten und eingeschränkten Lebensumständen zurechtzukommen. Es gibt aber auch Situationen, in denen wir den Eindruck haben, dass uns diese Lebensweisheit, auf die wir uns meist verlassen können, abhandengekommen ist. Wir drehen uns im Kreis, es stockt, wir wissen nicht mehr weiter, wir sind in widerstreitenden Bestrebungen gefangen. Wir befinden uns in einer »Lebenskrise«. Wenn wir Vertrauen zu jemandem haben können, suchen wir bei ihm Hilfe und können womöglich die notwendige Einsicht und damit unsere Lebensweisheit neu finden.

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Die These Ich möchte die These äußern, dass die Sätze über die »Ordnungen«, im Kontext der Selbsterfahrungsgruppe und der Familienaufstellungen gesehen, keine Theorien sind, sondern den Charakter weisheitlichen Wissens haben, das uns wieder an unsere eigene Lebensweisheit erinnern kann. In der Annahme, dass in diesem Zusammenhang zu Recht von Weisheit gesprochen werden kann, stütze ich mich auf die in dem von Aleida Assmann herausgegebenen Band »Weisheit« (1991) gesammelten Beiträge von verschiedenen Autoren und ganz besonders auf den einführenden Aufsatz von Aleida Assmann selbst mit dem Titel »Was ist Weisheit. Wegmarken in einem weiten Feld« (S. 15 ff.). Es ist der beste Beitrag, den ich zu diesem Thema kenne. Ich möchte deshalb im Folgenden ein paar wesentliche Aussagen aus diesem Artikel hier zusammenfassen. Was Weisheit ist, so Aleida Assmann, könne im gegebenen Fall jeder Mensch erkennen und entscheiden. Jeder besitze so etwas wie ein implizites Wissen von Weisheit. Weisheit werde kraft innerer Evidenz aus akutem Anlass erkannt, anerkannt und in dem Satz bestätigt: »Das ist Weisheit!« (S. 15). Das Wichtigste ist: Weisheit ist wirksam. »Das Siegel des weisheitlichen Wissens ist seine Tauglichkeit. Die Wahrheit der Weisheit liegt in ihrer Bewährung. Weisheit ist Wissen um ein gelingendes Leben […] Solche Weisheit beruht im Wesentlichen auf Selbsterkenntnis und Selbstbeschränkung. Diese Weisheit ist der von Selbsterkenntnis aufgehellte Horizont, in dem der Mensch sich selbst steuern kann, weil er sich selbst beschränken kann. Sie verbindet sich mit stoischer Skepsis wie mit christlicher Demut« (S. 17). Zur Beantwortung der Frage, wie sich Weisheit zeige, erzählt Aleida Assmann eine Geschichte: »Ein Vater lag im Sterben. Da rief er seine drei Söhne zu sich und sprach zu ihnen: ich fühle mein Ende nahen. Deshalb will ich euch mitteilen, wie ihr mit meinem Erbe verfahren sollt. Ich hinterlasse euch 17 Kamele. Davon soll der Älteste die Hälfte erhalten, der Mittlere ein Drittel und der Jüngste ein Neuntel. Darauf starb er. Als die Söhne sich nun nach dem Tode des Vaters an die Aufteilung ihres Erbes machen wollten, gerieten sie in arge Verlegenheit. Sie konnten sich nicht entschließen, das Blutbad anzurichten, welches mit der getreuen Ausführung der väterlichen Weisung unweigerlich verbunden gewesen wäre. Wie sie so ratlos dastanden, kam ein Fremder auf einem Kamel dahergeritten. Er sah die drei Brüder und erkundigte sich nach dem Grund ihrer Sorgen,

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die ihnen ins Gesicht geschrieben waren. Wenn’s weiter nichts ist, meinte er zuversichtlich, als er sie angehört hatte. Er stellte sein Kamel zu denen des Vaters dazu und bat die Söhne, die Teilung vorzunehmen. Der Älteste erhielt 9 Kamele, der Mittlere 6 und der Jüngste 2. Eines aber blieb stehen. Das war das Kamel des Fremden, das er bestieg und auf dem er davonritt« (S. 17). Es ist nicht zu übersehen, dass in dieser Geschichte von einer Art »Aufstellung« berichtet wird. Das erste Aufstellungsbild zeigt ratlos dastehende Söhne im Zustand der Lähmung und Blockierung von Handlung angesichts schlimmster Folgen. Das Lösungsbild hebt diesen Zustand auf, bringt eine verquere Situation wieder ins Reine: »Mit nicht mehr als einem bisschen List und Phantasie, einer neuen Perspektive des ›Als Ob‹ kann der Status quo überschritten werden und das blockierte Leben weitergehen. Weisheit bedient sich der Imagination, der Konstruktion helfender Fiktionen, die neue Spielräume, neue Chancen sichtbar macht« (S. 18). Die Geschichte von der Kamelaufstellung erzählt, wie Weisheit wirkt, »wie allein durch einen Perspektivenwechsel ein Bann gebrochen, eine Blockierung befreiend aufgehoben werden kann. Denn darum geht es bei der Weisheit überhaupt: nicht um Eingreifen in Strukturen, um grundsätzliche Lösungen und langfristige Veränderungen der Verhältnisse, sondern darum, das von Stagnation in Krisen und Problemen bedrohte Leben und Handeln hier und jetzt wieder in Gang zu bringen« (S. 18). Nach Aleida Assmann geht es, wenn Weisheit im Spiel ist, um ein Sich-­ Einfügen in eine Ordnung, um »anerkennen, was sich nicht ändern lässt, hinnehmen, was einem beschieden ist – das sind Haltungen, denen das Prädikat ›weise‹ zugesprochen wird« (S. 19). Wenn nicht Haltungen, Aussagen oder Reden, sondern Personen, die diese Haltungen verkörpern oder diese Reden halten, weise genannt werden, geschieht dies in der Form einer Zuschreibung, der Zubilligung der Autorität des Weisen. Für sich allein ist niemand weise. »Wer in den Augen eines anderen weise ist, ist weise« (Keppler u. Luckmann, 1989, S. 148). Wem die Autorität des Weisen zuerkannt wird, dessen Aussagen stehen nicht zur Diskussion. Sie werden aufgenommen als etwas, das keines Für und Wider bedarf. Von demjenigen, der als weise gilt, wird erwartet, dass er unmittelbar sieht, was hilft, und Ordnung schafft und dass er dies mit autoritativem Gestus überzeugend zum Ausdruck bringt. Dass Ordnung zu stiften die eigentümliche Leistung des Weisen ist, wird durch die wohl traditionsreichste Definition des Weisen bestätigt. Sie stammt von Aristoteles, ist von Thomas von Aquin ganz selbstverständlich aufgegriffen

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und auch noch von Montaigne als gültig und brauchbar angesehen worden. Sie lautet: »Sapientis est ordinare« (Krings, 1989, S. 161). Es ist Sache des Weisen, Ordnung zu stiften. Um Ordnung zu schaffen, braucht es Weisheit. Der alleinige Maßstab für diese ordnende Weisheit ist ihre lebensorientierende Kraft, so dass sogar gilt, dass der Weise dort Ordnung schaffen muss, wo zu viel Unordnung ist, und dort Unordnung, wo zu viel Ordnung ist. Sowohl ein Zuviel an Unordnung als auch ein Zuviel an Ordnung bewähren sich im praktischen Leben nicht, sind vielmehr oft lebenshinderlich. Es scheint mir ganz offensichtlich, dass die hier formulierte Beschreibung der Weisheit in Vielem und im Wesentlichen dem Wissen entspricht, das Bert Hellinger in den Kursen von »Ordnungen der Liebe« in seinen Interventionen – und dazu gehören auch seine allgemeinen Aussagen über die Ordnung in Familien – ausspricht und wirksam werden lässt. Vielleicht nicht zufällig: Dem genannten Sammelband »Weisheit« (Assmann, 1991) ist »Ein Gespräch mit Bert Hellinger am 22.1.1989« vorangestellt, in dem er gefragt wird, ob er als Psychotherapeut zum Thema Weisheit etwas beitragen könne. Er antwortet: »Dazu kann ich Ihnen eine Geschichte erzählen. Eine chinesische Geschichte. Ein Zimmermann und ein Weiser gehen durch den Wald. Auf einer Lichtung kommen sie an eine Tanne, die riesengroß gewachsen ist. Der Zimmermann sieht sie von allen Seiten prüfend an und entscheidet: ›Dieser Baum ist nicht zu gebrauchen!‹ ›Deshalb steht er ja noch hier!‹[,] entgegnet der Weise« (S. 13). Wie an dieser Stelle erzählt Bert Hellinger auch in seinen Gruppen gerne Geschichten von »Weisen« und ihren Lehren. Es scheint mir evident, dass sie im therapeutischen Prozess die Funktion haben, suggestiv und mit Humor Lebensweisheit zu vermitteln. Für die wie Theorien formulierten und mit autoritativem Gestus vorgetragenen Ausführungen über die Ordnungen in Familien und Systemen gilt dies meiner Ansicht nach ebenso. Unter Weisheit ist dabei nicht ein besonders hochstehendes Wissen, sondern eine Wissensart verstanden, die im konkreten Fall stagnierendes oder blockiertes Leben wieder in Bewegung bringt und dem Leben, so wie es gerade ist, zustimmen lässt, indem es sich in eine gegebene Ordnung einfügt.

Folgerungen Wenn wesentliche Elemente in der Aufstellungsarbeit Bert Hellingers, so wie sie sich in »Ordnungen der Liebe« präsentierte, als Weisheitswissen zu charakterisieren sind, ergeben sich Konsequenzen für das Selbstverständnis der Familienaufstellung und damit auch für die Diskussion über sie.

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Die Aussagen über die in Systemen und Familien geltenden Ordnungen sind keine »theoretischen Grundsätze«, erst recht keine wissenschaftlichen Theorien. Sie sind deshalb auch nicht so zu behandeln, zu diskutieren und mit Theorien zu diesen Themen aus einschlägigen Wissenschaften zu konfrontieren oder mit deren Hilfe zu begründen. Sie sind eben nicht im wissenschaftlichen Sinne wahr. Das ist in unserer wissenschaftsgläubigen Zeit nicht so leicht zuzugeben. Sie sind vielmehr wahr, indem sie sich bei der Lösung von Lebensproblemen in Einzelfällen als therapeutische Intervention, als Weisheit bewähren, ähnlich wie bei der Weisheit von Sprichwörtern. Ein einfaches Beispiel kann das verdeutlichen. Das Sprichwort »Aller Anfang ist schwer« ist nicht theoretisch wahr. In vielen Fällen ist nämlich der Anfang ganz leicht. Häufig ist aber der Anfang tatsächlich mühsam. Dann kann das Sprichwort helfen, auftretende Schwierigkeiten in der Erwartung zu akzeptieren, dass sie der Anfangsphase geschuldet sind und bald verschwinden. Wenn ein Satz in diesem Sinne jemandem Erleichterung verschafft und dazu verhilft, nicht frühzeitig aufzugeben, würde er mit Recht sagen: »Ja, das ist wahr!« Weisheitssätze sind nicht für immer und allgemeingültig wahr. Sie bewähren sich immer mal wieder. Sie sind wahr in einer bestimmten Situation, sie leuchten in einem bestimmten Moment ein, bringen Licht in eine dunkle Situation und ermöglichen dadurch den nächsten Schritt. Dann haben sie ihren Dienst getan. So wie der Stern über Bethlehem auftauchte, den Weisen den Weg wies und dann wieder vom Himmel verschwand. Die »Ordnungen« sind keine ethischen Normen, obwohl sie manchmal wie Gebote formuliert sind, gegen die man nicht »verstoßen« darf. Der Verstoß ist jedoch nicht moralisch verwerflich oder »böse«, er wird in bester Absicht, mit reinem Gewissen und aus Liebe begangen. Nur die Folgen sind oft schlimm. Missverstanden wären die Ordnungen auch als anthropologische Konstanten oder »psychologische Gesetze«, deren Missachtung Unglück bringt, deren Befolgung Glück verheißt und denen deshalb in Familienaufstellungen immer und überall Geltung verschafft werden sollte. Die »Ordnungen« sind schließlich auch nicht so etwas wie »Schöpfungsordnungen«, ewig geltend und sakrosankt. Es entspricht jedoch einer allgemeinen, in mythologischen Erzählungen und Weisheitstraditionen immer wieder beschworenen Lebenserfahrung, dass es zuträglich und heilsam ist, anzunehmen und hinzunehmen, dass der Verfügungsgewalt des Menschen Grenzen gesetzt sind. Viele Probleme ergeben sich nämlich aus der Haltung, die Bert Hellinger »Anmaßung« nannte. Sie besteht in der Überschreitung von Grenzen, die man besser einhielte, in einem so Tun, als ob es anders wäre, als es ist. Die alternative Haltung, »Demut«, führt dazu, sich eingebettet zu wissen und

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sich in eine zeitliche oder andere Rangordnung einzufügen, sich zu beschränken, die eigene Verfügungsmöglichkeit, die Begrenzung durch Vorgegebenes anzuerkennen: anzuerkennen, was ist. Bert Hellinger (1994) interessiert sich ausgesprochenermaßen nicht so sehr für Gedanken als solche und deren theoretische Herleitung, sondern vielmehr für die Wirkung von Gedanken auf den Menschen, auf seine Haltung und sein Handeln. So bewährt und bewahrheitet sich ein Satz wie: »Jede Gruppe hat eine Rangordnung, die sich aus dem Zeitpunkt des Anfangs der Zugehörigkeit ergibt«(S. 45), in der Erfahrung, ob er im Einzelfall jemandem hilft, sich zurückzunehmen oder in seinem inneren Bild seine Position realitätsgerecht zu verändern. Bert Hellinger nennt auch selbst in einer späteren Veröffentlichung, in »Gottesgedanken« (2004), ein solches Wissen »Weisheit«: »Die Weisheit unterscheidet: Geht es oder geht es nicht? Daher ist sie auf Handeln ausgerichtet und auf Vollzug. Im Grunde ist sie Lebensweisheit, das Wissen, wie wir dem Leben entsprechen und ihm dienen […] Daher finden wir zur Weisheit, wenn wir uns auf das beschränken, was in unserem Leben für uns und andere gemäß ist. Für Weisheit sind das Leben und das, was es uns schenkt und von uns verlangt, das einzige Maß«(S. 83). Man könnte meinen, dass ein Wissen nur deshalb dem Leben gemäß sei und ihm dienen könne, weil es wahr ist oder, anders ausgedrückt, dass die »Ordnungen« wahr seien, weil sie sich bewähren. Genau dieser Schluss ist nicht berechtigt. Er nimmt dieses Wissen aus dem lebenspraktischen Zusammenhang, in dem es entstanden ist und sich bewährt hat, und will ihm unabhängig davon eine Geltung verschaffen, die nicht zu rechtfertigen ist. Er macht aus einem in der Praxis bewährten Orientierungswissen eine Doktrin, ein Dogma. Die von Bert Hellinger formulierten »Ordnungen der Liebe« als Weisheitswissen zu kennzeichnen, heißt nicht, ihnen auch tatsächlich allesamt den Rang von »Weisheiten« zuzuerkennen. Es heißt nur, dass er die Sprache der Weisheit spricht. Damit ist ihr Charakter und ihr Anspruch qualifiziert, an denen sie zu messen wären. Wenn Weisheitswissen sich im konkreten, individuellen Fall bewähren muss, wäre zu erwarten, dass es in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation oder auch für eine bestimmte Generation besonders notwendige Lebensweisheiten gibt. So war die Generation, die in den 1980er und 1990er Jahren vorwiegend die Kurse von Bert Hellinger besuchte, geprägt von der Vorstellung, alles Einschränkende, alles Althergebrachte nach eigenen Vorstellungen willkürlich verändern zu können. Die Macht der individuellen Freiheit erschien immens. Für diese Generation war die Behauptung von vorgegebenen Ordnungen höchst

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provozierend, aber eben auch ein wichtiges Korrektiv. So könnte es durchaus sein, dass sich die Familienaufstellung in einer veränderten Zeit und für eine andere – vielleicht wieder überangepasste – Generation und erst recht in anderen Ländern und Kulturen mit anderen Lebensweisheiten verbinden müsste, als sie in »Ordnungen der Liebe« eingeführt werden. Zu finden wären sie aus dem intuitiven Blick auf den Einzelnen in seiner konkreten Situation. Auf jeden Fall finde ich es lohnend, weiter darüber nachzudenken, was es für eine Theorie der Familienaufstellung bedeuten könnte, dass der Sprache und der Funktion des Weisheitswissens ein grundlegender Platz eingeräumt wird oder zumindest in ihrer Frühphase wurde. Man kann sich darüber hinaus aber auch die Frage stellen, ob nicht auch in anderen Psychotherapierichtungen dieses Element, ohne dass dies immer reflektiert und gegenüber der Forderung nach wissenschaftlicher Fundierung eingestanden wird, eine erhebliche Rolle spielt. Schließlich sei noch an den »weisen« Satz von Montaigne erinnert: »Die Weisheit hat ihre Auswüchse und bedarf der Mäßigung nicht weniger als die Torheit« (Marquard, 1989, S. 303).

Literatur Assmann, A. (Hrsg.) (1991). Weisheit. Archäologie der literarischen Kommunikation III. ­München: Fink. Hellinger, B. (1994). Ordnungen der Liebe. Ein Kursbuch. Heidelberg: Carl-Auer. Hellinger, B. (2004). Gottesgedanken. Ihre Wurzeln und ihre Wirkung. München: Kösel. Keppler, A., Luckmann, Th. (1989). ›Weisheits‹-Vermittlung im Alltag. Wer in den Augen eines anderen weise ist, ist weise. In W. Oelmüller (Hrsg.), Philosophie und Weisheit (S. 148–160). Paderborn u. a.: Schöningh. Krings, H. (1989). Sapientis est ordinare. In W. Oelmüller (Hrsg.), Philosophie und Weisheit (S. 161–165). Paderborn u. a.: Schöningh. Marquard, O. (1989). Drei Betrachtungen zum Thema ›Philosophie und Weisheit‹. In W. Oel­müller (Hrsg.), Philosophie und Weisheit (S. 275–308). Paderborn u. a.: Schöningh.

V Forschung

Jan Weinhold

Den Essenzen auf der Spur – eine Übersicht über die empirische Forschung zu Systemaufstellungen

Einleitende Worte Wie jede therapeutische oder beraterische Intervention haben Systemaufstellungen das Ziel, positiv bewertete Veränderungen anzuregen, sei es im Erleben und Verhalten von Klienten oder auch in Systemen wie Familien, Teams oder Organisationen. Jenseits von deutlich leiser werdenden Polarisierungen bleiben sowohl für Praktikerinnen, für Forschende und nicht zuletzt für Klienten die – essenziellen – Fragen: Wie wirksam ist das eigentlich? Und wie funktioniert es? Es sind Fragen, der sich die Aufstellungspraxis stellen sollte, ebenso wie jede andere therapeutische oder beraterische Intervention auch. In diesem Beitrag werden die psychosoziale Wirksamkeit von System­ aufstellungen, kulturbezogene Arbeiten sowie Zugänge zu Aufstellungsprozessen – und damit vielleicht zu den Essenzen – aus der Perspektive empirischer Forschung skizziert. Historisch betrachtet lassen sich Systemaufstellungen vorwiegend im thera­ peutischen Kontext verorten. Seit Mitte der 1990er Jahre kam es zu einer andauernden Diversifikation der Aufstellungsarbeit in verschiedensten Kontexten, u. a. in Organisationen, Supervision oder Pädagogik, um nur einige zu nennen (vgl. Nazarkiewicz u. Kuschik, 2015, S. 14 ff.). Wenig später begann die wissenschaftliche Auseinandersetzung. Forschungsarbeiten wurden zunächst vor allem durch engagierte Praktiker und Praktikerinnen durchgeführt. Nach der Jahrtausendwende entstanden erste akademische Publikationen, nicht-­deutsch­ sprachige Veröffentlichungen und akademische Qualifikationsarbeiten (Diplom-/ Masterarbeiten, Promotionen). Bis 2012 existierte keine systematische Zusammenfassung der Forschungen zur Wirksamkeit von Systemaufstellungen. Deshalb erstellten wir im Rahmen der »Heidelberger Studie«, eines Forschungsprojektes am Institut für Medizi-

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nische Psychologie der Universität Heidelberg, eine systematische Übersichtsarbeit (detailliert s. Reinhard, 2012, zusammengefasst s. Weinhold u. Reinhard, 2014). Diese Übersichtsarbeit – auch als Grundlage für unsere eigenen inhaltlichen und methodischen Überlegungen für eine Wirksamkeitsstudie – folgte der klinisch-therapeutischen Leitfrage, ob und falls ja in welchen psychischen Bereichen Systemaufstellungen eigentlich wirksam sind. Der folgende Beitrag schließt an diesen Zeitpunkt an. Nach einer zusammenfassenden Kurzdarstellung der Forschungen bis 2012 werden seitdem publizierte empirische Studien narrativ zusammengefasst.

Übersichtsarbeit zur Wirksamkeit von Systemaufstellungen bis 2012 In der Übersichtsarbeit von Andreas Reinhard (2012) wurden folgende Forschungsfragen gestellt: Welche Wirkungen von Systemaufstellungen werden in empirischen Studien berichtet? Wie wirksam werden Systemaufstellungen beschrieben? Mit welchen Studiendesigns wurde die Wirksamkeit überprüft? Wie ist die Studienqualität einzuschätzen? Eingeschlossen wurden: (1) deutsch- oder englischsprachige Studien, die von 1990–2012 veröffentlicht wurden und die (2) explizit die empirische Erfassung der Wirksamkeit von Systemaufstellungen angaben oder deren Inhalt auf die Erfassung der Wirksamkeit von Systemaufstellungen schließen lässt. Nicht berücksichtigt wurden (1) Praxisratgeber oder Einführungsliteratur, (2) Arbeiten zu theoretischen Weiterentwicklungen der Aufstellungsarbeit und (3) Fallbeschreibungen, die nicht anhand von anerkannten Forschungsmethoden analysiert wurden. Die Forschung zur Wirksamkeit von Systemaufstellungen war 2012 mit 36 den Ein- und Ausschlusskriterien entsprechenden Studien überschaubar. Von den eingeschlossenen Studien widmeten sich 19 der Wirksamkeit von Familienaufstellungen, 14 der Wirksamkeit von Organisationsaufstellungen und drei den Effekten von Strukturaufstellungen. Bei der Forschung zu Familienaufstellungen kristallisierten sich als positive Wirkungsbereiche verschiedene Merkmale der psychischen Gesundheit (u. a. Selbstkonzept, Befindlichkeit, Symptomreduktion, Selbsterkenntnis, Abgrenzungs- und Selbstfindungsprozesse sowie Vergangenheitsbewältigung) und von interpersonellen Beziehungen (u. a. Beziehungsqualitäten innerhalb von Gegenwarts- und Herkunftsfamilie, Lösungen familiärer Konflikte, Erkenntnis von Systemdynamiken) heraus. In den Arbeiten zu Organisations- und

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Struktur­aufstellungen zeigten sich u. a. als positive Ergebnisse die Ermöglichung von systemischen Sichtweisen und Perspektivwechseln, Verbesserung von Arbeitsbeziehungen, komplexitätsreduzierende und problemlösende Wirkungen bezüglich organisationaler Fragen und kollegialer Konflikte, erhöhte Transparenz von Organisationsprozessen sowie eine Stärkung von Organisationskultur und -identität. Aufstellungen zeigten sich insgesamt als nützliches Werkzeug für organisationales Lernen, Change Prozesse und die Selbstreflexion von Organisation und Arbeitenden. Trotz vielen positiven Wirkungen war die methodische Qualität der einzelnen Arbeiten sehr heterogen. Typische Desiderate waren u. a. die Verwendung etablierter Verfahren, ein Kontrollgruppendesign, eine präzise Beschreibung der Intervention »Aufstellung«, eine Unterscheidung von aktiven, falleinbringenden Klienten und Repräsentanten sowie Angaben zur Ausbildung und Expertise der Aufstellungsleitung.

Empirische Forschungen von Systemaufstellungen seit 2012 In diesem Kapitel werden veröffentlichte Studien zu Systemaufstellungen seit 2012 narrativ zusammengefasst. In Anlehnung an die Übersichtsarbeit von Reinhard (2012) wurden in verschiedenen Datenbanken und Online-Quellen (u. a. Pubmed/Medline, PSYNDEX, ProQuest und scholar.google.com) mit den entsprechenden Suchbegriffen Studien recherchiert, die zwischen 2012 und 2019 publiziert worden waren. Heidelberger Studie Da die Heidelberger Studie zur Wirksamkeit von Systemaufstellungen nach dem oben zusammengefassten Review publiziert wurde, werden ihre zentralen Ergebnisse hier kurz zusammengefasst (vgl. Weinhold, Bornhäuser, Hunger u. Schweitzer, 2014). Der Logik klinisch-psychotherapeutischer Outcome-­ Forschung folgend widmeten wir uns »Dreierlei Wirksamkeit« – nämlich der Frage, wie wirksam Systemaufstellungen hinsichtlich (1) dem psychischen Befinden, (2) dem Systemerleben und (3) dem Erreichen persönlicher Ziele sind. In einer randomisiert-kontrollierten Studie (RCT – randomized controlled trial) wurde eine nicht-klinische Stichprobe von vorwiegend weiblichen Studienteilnehmerinnen, die im psychosozialen Bereich tätig waren und Vorerfahrungen mit der Aufstellungsarbeit hatten, zufällig zu zwei Gruppen (­Experimental- vs. Kontrollgruppe) und zu zwei unterschiedlichen Aufstel-

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lungsleitungen (Dr. Gunthard Weber und Dr. Diana Drexler) zugeteilt. 128 Studienteilnehmer bearbeiteten ein eigenes Anliegen in einer Einzelaufstellung, 80 nahmen als teilnehmende Beobachter teil. Die Teilnahme an einem dreitägigen Aufstellungsseminar wirkte sich kurz- und mittelfristig (bis zu einem Jahr nach dem Aufstellungsseminar) positiv auf alle drei genannten Bereiche aus. Dies galt interessanterweise für Teilnehmer mit eigenem Anliegen/eigener Aufstellung ähnlich wie für teilnehmende Beobachter ohne eigene Aufstellung. Die erreichten kleinen bis mittleren Effektstärken liegen unter denen längerfristiger Psycho­therapien im Einzelsetting und sind vergleichbar mit anderen ­evaluierten Kurzzeit-­Gruppeninterventionen. Wirksamkeit von Strukturaufstellungen im organisationalen Kontext In einer explorativen Studie mit 13 Studienteilnehmern gehen Christa Kolodej, Janin Schröder und Konrad Wolfgang Kallus (2016) der Frage nach, wie sich die Teilnahme an einer systemischen Strukturaufstellung kurzfristig (bis vier Wochen nach der Aufstellung) auf organisationale Probleme auswirkt. Mit einem Prä-Post-Forschungsdesign wurde untersucht, ob die Art der Aufstellung dabei eine Rolle spielt: In einem quantitativ-qualitativen Forschungsdesign mit den Erhebungsmethoden Interview und Fragebogen wurde untersucht, wie sich die beiden Bedingungen/unabhängigen Variablen (1) Aufstellung mit externen Repräsentanten vs. (2) Einzelaufstellung ohne Repräsentanten (Person mit Anliegen repräsentiert selbst alle Positionen) in ihren Auswirkungen unterscheiden. Die abhängigen Variablen der Studie waren (1) der subjektiv erlebte Nutzen der Aufstellung, (2) die Effektivität verschiedener Aspekte der Aufstellung, z. B. »das System von außen zu betrachten« oder »Äußerungen der Gastgeberin« (Aufstellungsleitung) sowie (3) die »subjektive Umsetzbarkeit der Lösung« im Organisationskontext. Weiterhin wurde quantitativ erhoben, welche Veränderungen sich (4) in der Selbstwirksamkeitserwartung der Studienteilnehmer nach der Aufstellung zeigen. Die qualitativen Ergebnisse belegen, dass die Studienteilnehmer die Wirkungen von systemischen Strukturaufstellungen als hilfreiche Intervention hinsichtlich Problemsituationen in ihren organisationalen Kontexten betrachten. So werden der subjektiv erlebte Nutzen und die subjektive Umsetzbarkeit der Lösung als sehr hoch eingeschätzt. Dies geht einher mit einem geringfügigen Anstieg der Selbstwirksamkeitserwartung. Ein sehr interessantes Ergebnis der Studie war, dass keine signifikanten Unterschiede in den abhängigen Variablen bezüglich der Art der Aufstellung (Aufstellung mit externen Repräsentanten vs. Einzelaufstellung ohne Repräsentanten) auftraten. Aufgrund methodischer

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Einschränkungen (u. a. sehr kleine Stichprobe, keine Kontrollgruppe) sollten die Ergebnisse sehr vorsichtig interpretiert werden, stellen jedoch einen weiteren Beitrag zur Anerkennung des organisationalen Nutzens systemischer Strukturaufstellungen dar. Aufstellungsarbeit, Intuition und Kreativität In einer kleinen Studie zur Aufstellungsarbeit mit acht Aufstellungsteilnehmern in Südafrika untersuchten Catherine Geils und Stephen Edwards (2018) kurzfristige Wirkungen eines Aufstellungsworkshops auf die Entwicklung von Intuition, gemessen mit der »Types of Intuition Scale« (S. 225). Im Prä-PostVergleich zeigte sich eine minimale, statistisch nicht signifikante Verbesserung der Intuition nach einer Familienaufstellung. Der qualitative, interviewbasierte Hauptteil der Arbeit betont die Veränderung der intuitiven Wahrnehmung von Vorfahren in Aufstellungen, die in lokalen südafrikanischen Modellen von Gesundheit und Heilung zentral sind. Ausgehend davon, dass sich in und nach Systemaufstellungen häufig neue Informationen in Form von Ideen oder Problemlösungen entwickeln, widmeten sich Georg Müller-Christ und Denis Pijetlovic (2018) der Frage, ob sich Aufstellungen in wissenschaftlichen Kontexten positiv auf »Kreatives Denken« auswirken. In einer prospektiven Verlaufsstudie wurden 35 studentische Studien­teilnehmerinnen randomisiert einer Interventionsgruppe (n=22) und einer Kontrollgruppe (n=13) zugeteilt. Während die Personen der Interventionsgruppe eine formal standardisierte Systemaufstellung erhielten, deren inhalt­liches Anliegen sich auf die Klärung ihrer jeweiligen Abschlussarbeiten (­Bachelor- oder Masterarbeit) bezog, erhielt die Kontrollgruppe ein Beratungsgespräch zu ihren Abschlussarbeiten. Das Konstrukt »Kreatives Denken« wurde operationalisiert mit einem etablierten Kreativitätstest (Alternate Uses Test von Guilford) und der Nennung von »Aha-Erlebnissen« nach den Aufstellungen. Darunter verstehen die Autoren ein »mentales Event, in welchem sich plötzliche Klarheit über Zusammenhänge, Eigenschaften oder Qualitäten eines bestimmten Bereiches einstellt, die vorher nicht da war« (S. 400). Im Kreativitätstest zeigte sich, dass es in beiden Gruppen zum Anstieg nach der Intervention kommt, wobei die Werte der Experimentalgruppe nach dem Aufstellungsseminar signifikant höher sind als in der Kontrollgruppe. Deutlicher sind die Unterschiede zwischen den Gruppen bezüglich der Variable »Auftreten eines Aha-Erlebnisses«. Ein statistisch signifikantes Ergebnis mit mittlerer Effektstärke lässt sich hier durch die Häufigkeiten der Nennung illustrieren: Während 15 von 22 Studienteilnehmern aus der Experimentalgruppe angaben, nach ihrer

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Aufstellung ein »Aha-Erlebnis« gehabt zu haben, gab es nur eine Nennung bei 13 Teilnehmern nach einem Beratungsgespräch. Die Autoren schlussfolgern – unter sorgfältiger Betrachtung methodischer Kritik (geringe Stichprobengröße, statistische Testvoraussetzungen, Operationalisierung des Konstrukts Kreativität) –, dass die Studie als erster empirisch-quantitativer Hinweis für den Einfluss von Systemaufstellungen auf kreative Prozesse gewertet werden kann. Die Studie ist eingebunden in einen umfassenderen transdiziplinären Forschungskontext an der Universität Bremen. Dabei werden verdeckte Systemaufstellungen genutzt, um erkenntnisleitende Hypothesen über Forschungsgegenstände zu generieren. Dieser innovative Zugang setzt Aufstellungen vor und in Forschungsprozesse, im Fokus steht die Perspektive des Entdeckungszusammenhangs von wissenschaftlichen Ideen und Hypothesen. Da in diesem Beitrag primär Forschungsergebnisse reflektiert werden, sei hier auf das äußerst interessante Buch von Georg Müller-Christ und Denis Pijetlovic (2018) verwiesen, in dem systematisch das Vorgehen und mehrere Beispiele für die genannte Anwendung von Aufstellungen beschrieben werden. Aufstellungsarbeit in der Mediation In einer qualitativen Studie betrachten Linda Brackwehr und Claude-Hélène Mayer (2015) die Verwendung von Aufstellungen in Mediationsprozessen. Auf der Basis von leitfadengestützten Experteninterviews mit Mediatoren/Mediatorinnen, die Aufstellungen für Mediationsprozesse verwendeten, erfolgte eine Inhaltsanalyse der transkribierten Interviewdaten. Als Nutzen der Integration von Aufstellungsarbeit in Mediationsprozessen wird beschrieben, dass eine räumlich-verkörperte Darstellung bzw. das Einnehmen der Position der anderen Konfliktpartei ein verbessertes Verständnis der Konfliktdynamik sowie eine verstärkte Empathie bedingen würde. Weitere Vorteile sehen die interviewten Mediatoren u. a. in einer vertieften Reflexion von Systemstrukturen und -prozessen, die mit dem Konflikt einhergehen, sowie in – teilweise innovativen – Lösungsoptionen. Die beiden Autorinnen schlussfolgern, dass Aufstellungen eine hilfreiche Intervention in allen Phasen eines Mediationsprozesses sein können und dessen vorwiegend sprachliche Kommunikation zielführend ergänzen können. Aufstellungsforschung im internationalen Kontext Peter Schlötter (2005) hat in seiner Dissertation bereits vor ca. 15 Jahren ein klar definiertes und transparentes quantitativ-experimentelles Forschungsdesign

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entworfen, um Qualitäten der »repräsentierenden Wahrnehmung« zu unter­ suchen. Schlötter führte dafür mit fast 250 Studienteilnehmern ca. 4.000 Einzel­ versuche durch, in denen diese in objektive Aufstellungspositionen gebracht wurden, die mit »stummen Repräsentanten«, d. h. lebensgroßen, nichtmenschlichen Puppen, nachgestellt wurden. Versuchsbedingungen waren dabei u. a. die Auswahl von einem charakteristischen Satz aus vorgegebenen Möglichkeiten in einer jeweiligen Position, die freie verbale Äußerung von Empfindungen oder das freie Aussuchen eines passenden Platzes in einer Lösungsaufstellung. Die Probanden zeigten in den jeweiligen Positionen der Aufstellungsbilder in verschiedenen Versuchsbedingungen ähnliche Empfindungen bzw. gaben ähnliche Äußerungen an. In mehrfachen statistischen Berechnungen wurde belegt, dass die Bedeutungen der räumlichen Position bzw. die »repräsentierende Wahrnehmung« von verschiedenen Personen statistisch signifikant übereinstimmen. Diese Ergebnisse wurden mit Ausnahme sprachlicher Anpassungen im exakt gleichen Forschungsdesign durch mehr als 1.000 Einzelversuche mit 132 chinesischen Studienteilnehmern repliziert (Schlötter, 2018). Auch hier zeigten sich hoch signifikante, interpersonell übereinstimmende Ergebnisse bezüglich der Qualitäten der repräsentierenden Wahrnehmung. Schlötter schließt aus diesen Ergebnissen, dass die repräsentierende Wahrnehmung als eine Art nicht­ verbale Zeichensprache verstanden werden kann, die kulturüber­greifend gültig ist und deren Sinn in verschiedenen Kulturen gleichermaßen verstanden wird. Auf wissenschaftlicher Modellebene wird zur weiterführenden Erforschung sozialer Wirkräume die sogenannte Soziothese postuliert, d. h. die »Wissenschaft von den mental manifestierten zwischenmenschlichen Positionierungen zueinander« (S. 117). In ihrer qualitativen Dissertation folgte Charmaine Lynn Tener (2013) der Frage, wie Organisationsaufstellungen von nordamerikanischen Aufstellungspraktikerinnen (USA, Kanada, Mexiko) verstanden, durchgeführt und in Hinblick auf Kunden kommuniziert werden. Ausgehend von einem – im nordamerikanischen Raum stärker als in Europa – psychotherapeutisch konnotierten Verständnis von Organisationsaufstellungen interviewte die Autorin elf Beraterinnen, die Organisationsaufstellungen in ihrer Arbeit nutzten. Als Hintergrund für die Analyse nutzte die Autorin u. a. das Konzept des Sensemaking von Carl Weick (1995). Die thematische Inhaltsanalyse resultierte in sechs Bereichen. Dargestellt wurden Reflexionen, wie Organisationsaufstellungen im Unternehmen eingeführt und durchgeführt wurden, wie die sprachliche Vermittlung einer skeptisch betrachteten Intervention verlief, wie Klienten eingebunden wurden, und schließlich, wie die Resultate der Aufstellungen geprüft und kommuniziert wurden. Insgesamt lassen sich die Ergebnisse von Tener insofern mit europä­

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ischen Studien vergleichen, als dass es spezifischer Kommunikationsstrategien bedarf, um die Intervention im Organisationskontext »salonfähig« zu machen, aber auch, dass Organisationsaufstellungen als wirkungsvolle Methode für eine Systemdarstellung und -veränderung betrachtet werden. Bemerkenswert und verständlich ist, dass sich die Arbeit kaum auf deutschsprachige Literatur zu Organisationsaufstellungen bezieht. Dies zeigt, dass englischsprachige Publikationen wünschenswert sind, um die historisch bedingt vorwiegend deutschsprachige Forschung vermehrt international auszurichten. Claude-Hélène Mayer und Rian Viviers (2016) untersuchten Spezifika von Systemaufstellungen in Südafrika mittels teilnehmender Beobachtungen und durch sechs qualitative Interviews mit Aufstellungsleitungen. In deren Perspektiven zeigen sich einerseits aufstellungstypische Themen, wie z. B. Zugehörigkeit, Gewissen, Balance und Hierarchie. Andererseits werden historisch bedingte und kulturspezifische Merkmale deutlich, wie z. B. Rassismus bzw. Rassentrennung/ Apartheid, Sklaverei, politisch motivierte Gewalt sowie Fragen von Ethnizität und Sprachzugehörigkeit. In einer weiteren Arbeit (Mayer u. Viviers, 2015) wurden praxisbasierte Sichtweisen der interviewten Aufstellungsleiter bezüglich Verbindungen zu lokalen Heilsystemen bzw. schamanischen Modellen aufgezeigt. Dabei wurden Konzepte der Aufstellungsarbeit als anschlussfähig zu und kombinierbar mit traditionellen Glaubenssystemen verstanden, z. B. Schamanismus, Zulu-­Kosmologie oder Kommunikation mit Vorfahren. Dem Aufstellungsprozess auf der Spur Im Rahmen einer wachsenden Professionalisierung und Qualitätssicherung entsteht die Notwendigkeit, Kompetenzanforderungen der Aufstellungsleitung beschreiben und begründen zu können (vgl. Nazarkiewicz u. Kuschik, 2015). Damit ist handlungsleitend auch die Frage einer präzisen und systematischen Beschreibung von Aufstellungselementen verknüpft, in der das Handeln und die Kommunikation während Aufstellungen explizit gemacht und konkret beschrieben werden. Die aus derartigen Fragen resultierende Forschungsrichtung geht in den Bereich der Prozessforschung. Ausgehend von Modellen impliziten Wissens nutzte Rebecca Hilzinger in ihrer Magisterarbeit ein innovatives Forschungsdesign, um sich der Frage zu widmen: »Was tun Aufsteller, während sie aufstellen?« (Drexler u. Hilzinger, 2015). In einem reaktiven qualitativen Verfahren wurde ein Aufstellungsvideo als Ausgangsmaterial für sechs qualitative Experteninterviews verwendet, u. a. mit der Aufstellungsleitung selbst (d. h. mit Diana Drexler).

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Die Denk- und Entscheidungsprozesse während einer Aufstellung – d. h. die sprachliche Explikation impliziten Wissens – wurden in Form von sechs Kompetenzanforderungsdimensionen für die Aufstellungsleitung analysiert: (1) die Fähigkeit zur Prozesssteuerung und Komplexitätsstrukturierung, (2) die Fähigkeit, Zusammenhänge des Aufstellungsprozesses und die Entscheidung für eine Variante möglicher Problemlösungen zu erkennen, (3) die Fähigkeit, das Anliegen/Ziel zu fokussieren und gleichzeitig mit dem Klienten zu gehen, (4) die Fähigkeit zu potenzial- und ressourcenorientierten Interventionen, (5) die Fähigkeit, (Erlebens-)Muster des Klienten zu defokussieren und (6) die Fähigkeit, den Aufstellungsraum als bildhafte Handlungsebene zu nutzen. Die Arbeit kann als wesentlicher Schritt betrachtet werden, um implizites Wissen der Aufstellungspraxis, d. h. die Entscheidungen und Begründungen einzelner Interventionen im Aufstellungsprozess darstellbar und damit auch vermittelbar sowie modifizierbar/kritisierbar zu machen. Der Frage, wie genau zwischen Aufstellungsleitungen und Teilnehmern kommunikativ die Realität »Aufstellung« geschaffen wird, gehen auch Kirsten Nazarkiewicz, Frank Oberzaucher und Holger Finke nach (2016; auch Oberzaucher, 2015). Mittels teilnehmender Beobachtung, audiovisueller Daten und der ethnomethodologisch basierten Methode der Konversationsanalyse wird mit detaillierten Transkriptionssystemen präzise rekonstruiert, welche Kommunikation sich während Aufstellungen ereignet, wie sich einzelne Interaktionen aufeinander beziehen und welche sinnstiftenden Muster sich dabei zeigen. Diese Methode kann metaphorisch als Mikroskop der Aufstellungsforschung betrachtet werden, da hier alle verbalen, nonverbalen und paraverbalen Merkmale der Kommunikation während einer Aufstellung erfasst und analysiert werden (können). Es konnte beispielsweise analysiert werden, wann welche Inkongruenzen zwischen verbaler und nonverbaler/paraverbaler Kommunikation auftreten, wo ein Wechsel von metakommunikativen und emotional-­ erfahrungsnahen Momenten stattfindet oder wer welche Markierungen im kommunikativen Fluss zwischen Aufstellungsleitung, Anliegeneinbringer/-in und anderen Teilnehmenden setzt. Weiterhin wurde analysiert, wie Blicke oder Handbewegungen verstanden werden, wie ritualisierte Lösungssätze gesprochen und nachgesprochen werden, welche indikativen, konjunktiven, imperativen oder zirkulären Sprachformen sich in einzelnen Äußerungen der Aufstellungsleitung finden lassen, und schließlich, wie sich verschiedene Personen in einzelnen Sequenzen aufeinander beziehen. In den oben angegebenen Quellen werden verschiedene Phasen, deren Darstellung hier den Rahmen sprengen würde, von Aufstellungen bzw. Aufstellungsseminaren mit den genannten Mitteln in Bezug zueinander gesetzt.

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In diesem Zusammenhang soll aus methodischer Perspektive ebenfalls die Entwicklung der Erhebungs- und Analysemethode der »Aufstellungspartitur« genannt werden (vgl. Müller-Christ u. Pijetlovic, 2018, S. 364 ff.). Gleichnamiges Instrument wurde zur systematischen Erfassung und Analyse des kompletten Aufstellungsprozesses entwickelt. Es ermöglicht eine deskriptive und simultane Erfassung von – in absteigender Feinabstufung – Aufstellungsdauer, einzelnen Abschnitten, Phasen und Elementen einer Aufstellung. Dazu kommen interpretative Felder für irritierende/überraschende Momente, Intuitionsfelder und Gruppenfelder für die Interpretation des Überraschungsfeldes von Dritten. Die Autoren verweisen weiterhin auf verschiedene Kalibierungssysteme für die Analyse der Partitur und den Umgang mit Schlüsselsequenzen. Aus methodischer Sicht stellen die genannten Studien ein umfassendes Methodenrepertoire für die Prozessanalyse von Aufstellungen dar, das über eine fallbezogene Beschreibung einer Aufstellung weit hinausreicht. Zur Zukunft von Organisationsaufstellungen Angelika Kroyer (2018) hat sich in ihrer qualitativen Masterarbeit der Frage gewidmet, welche Trends sich für Aufstellungen innerhalb der Organisationsberatung beobachten lassen. In 13 Interviews mit erfahrenen und Aufstellungen praktizierenden Organisationsberaterinnen wurde u. a. reflektiert, welches Potenzial der Methode in VUCA-Organisationsrealitäten (volatility, uncertainty, complexity, ambiguity) zugeschrieben wird. Durch einen größer werdenden Bekanntheitsgrad der Aufstellungsarbeit an sich, durch ein verstärkt systemtheoretisches Verständnis organisationaler Prozesse und durch eine zunehmende akademische Verankerung beider Bereiche sehen die Interviewten eine positive Zukunft für die Methode. Mittels Organisationsaufstellungen können – wenn die entsprechenden organisationalen Voraussetzungen für eine Verwendung der Methode bestehen bzw. kommuniziert werden – implizites Wissen und Systemdynamiken sichtbar gemacht werden. Interessanterweise wird das Potenzial von Organisationsaufstellungen als besonders nützlich beschrieben, wenn es um Themen geht, welche die Zukunft der jeweiligen Organisation betreffen, wie z. B. strategische Entscheidungen. Hier werden die komplexitätsreduzierenden und zeitökonomischen Merkmale von Aufstellungen – als komplementärer Gegenpol der komplexen VUCA-­Realitäten – als besonders nützlich betrachtet. Dabei werden Organisations­aufstellungen nicht als Allheilmittel gesehen und es wird betont, dass diese begründet in einen umfassenderen Beratungsprozess integriert sein sollten.

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Aufstellungsforschung – Quo Vadis? Die Aufstellungsforschung steckt (weiterhin) in den Kinderschuhen Insgesamt wurden sehr wenige empirische Forschungsarbeiten im Bereich Aufstellungsforschung seit 2012 publiziert. Um zu illustrieren, wie schmal die aktuelle Forschung ist, mag als Vergleich hier – zufällig ausgewählt – die Erforschung der Wirksamkeit einer anderen körperbasierten psychologischen Intervention dienen, die vermutlich mehr Praktizierende als Systemaufstellungen hat, die aber zumindest im deutschen Sprachraum akademisch ähnlich schwach besetzt ist: In einer derzeit laufenden Übersichtsarbeit an der Deutschen Hochschule für Gesundheit und Sport (DHGS) zur Wirksamkeit von körperorientiertem Yoga hinsichtlich Stressreduktion bei gesunden Personen (d. h. klinische Studien sind hier nicht berücksichtigt) wurden Publikationen im mittleren dreistelligen Bereich recherchiert. Die Arbeit bezieht sich dabei auf einen vergleichbaren Zeitraum zwischen 2013 und 2019. Hier waren allein mehr als vierzig quantitative Studien mit einem Kontrollgruppendesign. Der numerische Kontrast von Studienanzahl und -qualität zum medizinischen oder Psychotherapie-­Mainstream wäre vermutlich deutlich stärker. Es konnten, von der Heidelberger Studie abgesehen, im genannten Zeitraum keine explizit klinisch-therapeutisch orientierten Arbeiten gefunden werden, weder qualitativer noch quantitativer Natur. Da Aufstellungen nach wie vor als relevante Interventionsmethode für psychische Störungen gesehen werden, z. B. bei Traumata (vgl. Bourquin u. Nazarkiewicz, 2017), besteht hier großer Bedarf. Ein weiteres Forschungsfeld, auch in Anbetracht der nach wie vor bestehenden Kritik an der Aufstellungsarbeit (vgl. Hürter u. Rauner, 2014), ist die systematische Erfassung von negativen Wirkungen und Nebenwirkungen. Bereits in der Übersichtsarbeit von Reinhard (2012) wurde konstatiert, dass es auch im Sinne einer differenziellen Indikation notwendig ist, zu prüfen und zu systematisieren, für welche Anliegen bzw. Probleme Aufstellungen hilfreich sein können, für welche nicht und welche Interventionen gegebenenfalls auch negative Wirkungen zeigen können. Ressourcenorientiert lässt sich formulieren, dass die Aufstellungsforschung weiterhin ein großes Potenzial bietet. Hinzufügen lässt sich: Um diese Ressourcen zu aktualisieren, wäre es äußerst hilfreich, wenn die Fee in sensu Steve de Shazer tatsächlich eines Morgens erscheinen und einen großen Geldkoffer im Gepäck haben würde. Denn es ist leicht zu schreiben, dass die Aufstellungsforschung im Vergleich zu anderen therapeutisch-beraterischen Interventions­ methoden in den Kinderschuhen steckt. Und relativ schwierig, größere Schuhe

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zu erwerben. Für den Moment scheinen die Kinderschuhe auch gut zu sitzen und es konnte gezeigt werden, dass sie die Aufstellungsforschung auf sehr interessante Spielplätze führt. Einige Tendenzen werden nachfolgend skizziert. Forschungsarbeiten orientieren sich aneinander In quantitativen Forschungsarbeiten zeigen sich erfreulicherweise erste Replikationen oder zumindest eine Orientierung an bestehenden Forschungen. Mit der Studie von Schlötter (2018) in China wurde nach meiner Kenntnis erstmals eine Studie zu Aufstellungen repliziert, was in der gängigen quantitativen Forschung ein wesentliches Qualitätsmerkmal darstellt. Die Arbeit von Müller-­Christ und Pijetlovic (2018) zum Zusammenhang von Systemaufstellungen und Kreativität verwendete ein Studien-Design, das vergleichbar mit der Heidelberger Studie zur Wirksamkeit von Systemaufstellungen ist. Kolodej et al. (2016) orientierten sich in der Verwendung der Erhebungsinstrumente am Interviewleitfaden/ Fragebogen von Martin Kohlhauser und Friedrich Assländer (2005). Replikationen und Orientierungen an bestehenden Arbeiten stellen ein Gütekriterium dar, da einerseits Forschungsergebnisse verglichen werden können und somit die Aussagekraft steigen kann, andererseits können bestehende Ergebnisse auch widerlegt werden. Gerade weil die Forschungslandschaft hier sehr dünn besiedelt ist, kann der wechselseitige Bezug von Forschungsarbeiten nicht genug wertgeschätzt werden. Aufstellungsforschung und Kultur Die im deutschsprachigen Raum entwickelte Aufstellungsarbeit expandiert fortlaufend in andere kulturelle Regionen. In neueren Veröffentlichungen zeigen sich Tendenzen, die z. B. bereits bei Mason Boring (2009) oder van Kampenhout (2003) deutlich wurden: die Verbindung von Aufstellungsarbeit mit lokalen Praktiken und Kosmologien, die sich außerhalb von westlichen bio­ medizinisch-psychotherapeutischen Modellen bewegen. Hier eröffnet sich ein Forschungsfeld, das anschlussfähig zu medizinanthropologischen Fragen bezüglich Gesundheits-/Therapiesystemen einer globalisierten Welt ist (vgl. z. B. Manderson, Cartwright u. Hardon, 2018). Einerseits kann als anthropologische Konstante postuliert werden, dass mentale Inhalte über soziale Beziehungen externalisiert und räumlich dargestellt werden können und dass umgekehrt das (soziale) »Außen« eine Entsprechung im Psychischen hat. Inwiefern sich kulturinvariante, allgemeinmenschliche Muster im »sozialen Wirkraum« zeigen, bleibt zu erforschen. Das Forschungs­design

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von Peter Schlötter (2018, S. 120) bietet hier einen experimentellen Zugang; weitere Replikationen sind in mehreren Ländern angedacht. Andererseits und einem kulturkonstruktivistischen Ansatz folgend lassen sich in Aufstellungen kulturspezifische Themen und die Verbindung zu lokalen Heil-/Therapiesystemen finden, wie am Beispiel Südafrika gezeigt wurde. Inwiefern sich in der internationalen Aufstellungsarbeit kulturübergreifende und/oder kulturspezifische Muster zeigen, wie Aufstellungen in lokalen Diskursen interpretiert werden, welche Parallelen sich zu lokalen Heilsystemen zeigen und welche transkulturellen Modelle sich daraus schließlich ableiten lassen, sind hier nur einige spannende Fragen für zukünftige Forschungsvorhaben. Forschung ist immer mit Reduktion und Abstraktion verbunden, am deutlichsten vielleicht bei klassischen, quantitativen Wirksamkeitsstudien. Nichtsdestotrotz bleibt der Einbezug kultureller Aspekte, beispielsweise auch von Organisationskulturen, ein wesentlicher Zugang zum Verständnis von Essenzen. Verstärkte Transparenz des Aufstellungsprozesses Es wurde deutlich, dass in den letzten Jahren verstärkt etablierte Methoden für die systematische Beschreibung und Analyse von Aufstellungsprozessen verwendet wurden, u. a. die Konversationsanalyse oder die videobasierte Explikation impliziten Wissens. Weiterhin wurden gegenstandsangemessen neue In­ strumente entwickelt, z. B. die oben beschriebene »Aufstellungspartitur« von Müller-Christ und Pijetlovic (2018). Mit diesem Repertoire ist es nun sehr gut möglich, detailreich Aufstellungshandeln zu beschreiben und mikroanalytisch Prozessdynamiken zu erforschen. Und vielleicht kann es auch genutzt werden, um sich »dem Geheimnisvollen« von Aufstellungen etwas anzunähern. Wenngleich Prozessforschung sehr ressourcenaufwändig und zeitintensiv ist, lassen sich damit auch theoretische Modelle begründen, die möglicherweise fundierter als simplifizierende Systemregeln oder kaum überprüfbare Behauptungen von magisch anmutenden Feldern sind. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass die »Magie« der Aufstellungspraxis durch eine forschungsbasierte und fortschreitende Theoriebildung nicht verschwinden wird. Jedoch bieten sich hier verstärkt Chancen, um einerseits die Aufstellungsarbeit anschluss­fähiger in Gesundheits- und Business-Kontexten zu etablieren und andererseits für eine transparente Praxis zu sorgen, was nicht zuletzt im Sinne von hilfe- und ratsuchenden Klienten und Organisationen sein dürfte, die Aufstellungen in Anspruch nehmen.

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Literatur Bourquin, P., Nazarkiewicz, K. (Hrsg.) (2017). Trauma und Begegnung. Praxis der Systemaufstellung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Brackwehr, L., Mayer, C. H. (2015). Der Einsatz von Aufstellungsarbeit in der Mediation. Eine qualitative Studie über Anwendungsbeispiele aus der Praxis. Frankfurt a. M.: Peter Lang. Drexler, D., Hilzinger, R. (2015). Aufstellen lernen und lehren. In K. Nazarkiewicz, K. Kuschik (Hrsg.), Handbuch Qualität in der Aufstellungsleitung (S. 202–225). Göttingen: Vanden­ hoeck & Ruprecht. Geils, C., Edwards, S. D. (2018). Extended Family Constellations Workshop Efficacy on Intuition Measure and Experience. Journal of Psychology in Africa, 28 (3), 224–228. Hürter, T., Rauner, M. (2014). Schluss mit dem Bullshit. Auf der Suche nach dem verlorenen Verstand. München: Piper. Kohlhauser, M., Assländer, F. (2005). Organisationsaufstellungen evaluiert. Studie zur Wirksamkeit von Systemaufstellungen in Management und Beratung. Heidelberg: Carl-Auer. Kolodej, C., Schröder, J., Kallus, K. W. (2016). Evaluation systemischer Strukturaufstellungen im Organisationskontext. Gruppendynamik & Organisationsberatung. Gruppe. Interaktion. Organisation. Zeitschrift für Angewandte Organisationspsychologie (GIO), 47 (1), 61–71. Kroyer, A. (2018). Sind Sie gut aufgestellt? Aktuelle Entwicklungen in der Systemischen Organisationsberatung unter besonderer Berücksichtigung von Systemaufstellungen. Qualifikationsarbeit zur Erlangung des akademischen Grades »Master of Science«. Sigmund Freud Privatuniversität Wien. Zugriff am 22.04.2019 unter https://infosyon.com/fileadmin/user_upload/ dokumente/Forschung/Sind_Sie_gut_aufgestellt__A._Kroyer.pdf Manderson, L., Cartwright, E., Hardon, A. (Eds.) (2018). The Routledge Handbook of Medical Anthropology. New York: Routledge. Mason Boring, F. (2009). Botschaften aus dem indigen Feld. Rituelle Elemente und Zeremonien in Systemaufstellungen. Heidelberg: Carl-Auer. Mayer, C.-H., Viviers, R. (2015). Exploring Cultural Issues for Constellation Work in South Africa. Australian and New Zealand Journal of Family Therapy, 36, 289–306. Mayer, C.-H., Viviers, A. (2016). Constellation Work Principles, Resonance Phenomena, and Shamanism in South Africa. South African Journal of Psychology, 46 (1), 130–145. Müller-Christ, G., Pijetlovic, D. (2018). Komplexe Systeme lesen. Das Potential von Systemaufstellungen in Wissenschaft und Praxis. Berlin: Springer/Gabler. Nazarkiewicz, K., Kuschik, K. (Hrsg.) (2015). Handbuch Qualität in der Aufstellungsleitung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Nazarkiewicz, K., Oberzaucher, F., Finke, H. (2016). Zweierlei Blick: Vom Nutzen der ethno­ methodologischen Konversationsanalyse für die Aufstellungsarbeit. Praxis der Systemaufstellung, 2, 151–161. Oberzaucher, F. (2015). »Schaut auf die Bewegung.« Ein ethnografischer Beitrag zur Aufstellungsarbeit. In K. Nazarkiewicz, K. Kuschik (Hrsg.), Handbuch Qualität in der Aufstellungsleitung (S. 159–201). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Reinhard, A. (2012). Systematische Übersichtsarbeit über die Wirkungen von Systemaufstellungen. Institut für Psychologie, Universität Heidelberg: Unveröffentlichte Qualifikationsarbeit zur Erlangung des Grades Master of Science (als pdf beim Autor dieses Beitrags erhältlich). Schlötter, P. (2005). Vertraute Sprache und ihre Entdeckung. Systemaufstellungen sind kein Zufallsprodukt – der empirische Nachweis. Heidelberg: Carl-Auer. Schlötter, P. (2018). The Social Nature of Man – Falsifiable. Die soziale Natur des Menschen – ­falsifizierbar. Heidelberg: Carl-Auer. Tener, C. L. (2013). Organizational Constellations: Facilitators’ perspectives. Dissertation an der

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Kirsten Nazarkiewicz, Frank Oberzaucher und Holger Finke

Repräsentierende Wahrnehmung als kommunikative Aufgabe – ein Werkstattbericht

Die repräsentierende Wahrnehmung gehört unzweifelhaft zu den Essenzen der Aufstellungsarbeit. Die Erfahrung einer spontanen Veränderung der leiblichen Selbstwahrnehmung beim Betreten des Aufstellungsbildes ist allerdings schwer beschreibbar und noch schwerer begründbar. Deshalb haftet der repräsentierenden Wahrnehmung etwas Geheimnisvolles an, zumal sie als noch nicht erklärtes oder erklärbares Phänomen gilt. Aus soziologischer Sicht ist die repräsentierende Wahrnehmung jedoch – auch wenn sie noch unbegründet ist – kein Mysterium, sondern lediglich ein sozialer Fakt mit Folgen für das Handeln. »Wenn die Menschen Situationen als wirklich definieren, sind sie in ihren Konsequenzen wirklich«, besagt das Thomas-Theorem (Thomas u. Thomas, 1928, S. 572). Das heißt, es ist zunächst nicht erforderlich zu spekulieren, ob oder warum stellvertretende Wahrnehmung möglich ist, es genügt zu beschreiben, welche kommunikativen Praktiken eingesetzt werden, um repräsentierende Wahrnehmung für andere als solche kenntlich zu machen. Diese empiristisch anmutende Herangehensweise hat den Vorteil, das Tun der Beteiligten in seiner Ko-Konstruktion ernst zu nehmen und genau auf die Kommunikation der Wahrnehmungen und deren Besonderheiten zu achten. Gleichwohl stellt sich die Frage, inwiefern diese Phänomene bezüglich soziologischer Theorien anschlussfähig sind. Der folgende Beitrag gibt einen Einblick in erste Erkenntnisse des Forschungsprojekts »Aufstellungsarbeit als interaktive Konstruktion: Ressourcen, Wirkungen, Strukturen«. Zunächst stellen wir kurz das Forschungsprojekt, seine Datenbasis und die methodische Herangehensweise vor. Dann illustrieren wir anhand von drei kurzen Beispielsequenzen aus Aufstellungen einige ausgewählte Besonderheiten der Kommunikation der repräsentierenden Wahrnehmung und formulieren Zwischenergebnisse, die sich jetzt schon auf der Basis bereits erfolgter Analysen verallgemeinert formulieren lassen. Neben der exempla­ rischen Beschreibung von ausgewählten beobachtbaren Regelmäßig­keiten bei

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Kirsten Nazarkiewicz, Frank Oberzaucher und Holger Finke

der Abfrage und Kommunikation repräsentierender Wahrnehmung geben wir Einblicke in die Suche nach sozial- und geisteswissenschaftlichen Anschlüssen und Begrifflichkeiten und damit einer soziologischen Erklärung für das Phänomen »repräsentierende Wahrnehmung«. Unsere These ist, dass es sich um eine inzwischen theoretisch begründbare menschliche Grundfertigkeit handelt, die wir im Alltag für gewöhnlich nicht (bewusst) einsetzen, wohingegen sie in Aufstellungssettings vermittels einer Achtsamkeitspraxis und einer Ausrichtung der Wahrnehmung auf körperliche und räumliche Manifestationen proxemisch kultiviert wird.

Forschungsprojekt, Daten und Methoden Im Forschungsprojekt »Aufstellungsarbeit als interaktive Konstruktion: Ressourcen, Wirkungen, Strukturen« haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, die kommunikativen Praktiken und verkörperten Wissensbestände von Aufstellungsarbeit beim Einsatz dieser Methode empirisch zu rekonstruieren. In diesem Buchbeitrag gehen wir insbesondere der Frage nach, wie die phänomenologische Dimension der Arbeit von den Beteiligten genutzt sowie kenntlich gemacht wird, und fokussieren dabei speziell die Art und Weise, wie die stellvertretende bzw. repräsentierende Wahrnehmung kommuniziert wird. Schon vor einigen Jahren hatte Frank Oberzaucher Familienaufstellungen im Rahmen einer Weiterbildung aufgezeichnet und erste Ergebnisse dazu publiziert, wie Systemaufsteller den Ablauf einer Aufstellung vom Erstgespräch bis zum Abschlussbild als wiedererkennbares Ereignis mit charakteristischen Merkmalen sinnhaft strukturieren (Oberzaucher, 2015a, 2015b). Mithilfe einer Anschubfinanzierung der Hochschule Fulda konnten 2018 weitere Daten erhoben und zusammengetragen werden.* In gesondert organisierten Arbeitstreffen der Regionalgruppen Hessen und Rheinland-Pfalz der Deutschen Gesellschaft für Systemaufstellung (DGfS) konnten wir Aufstellungen unterschiedlicher Formate mit verschiedenen Leiterinnen und Anliegen realer Klientinnen als Daten erheben. *

Wir danken den Mitgliedern der Regionalgruppen Hessen und Rheinland-Pfalz für die Bereit­ schaft und Mitwirkung bei den Aufzeichnungen sowie insbesondere Kerstin Kuschik für die Organisation und hilfreiche Unterstützung. Ebenso gilt unser Dank Claude Rosselet für die Möglichkeit, Organisationsaufstellungen in Schweizerdeutsch aufzeichnen zu können, sowie Georg Müller-Christ dafür, dass er die im Rahmen von Forschungsprojekten und Constellation-­ Hubs zusammengetragenen Videodaten zur Verfügung gestellt hat. Schließlich danken wir noch dem Wieslocher Institut für Systemische Lösungen (WISL) für die Über­lassung von Aufstellungsmaterial in Portugiesisch.

Repräsentierende Wahrnehmung als kommunikative Aufgabe – ein Werkstattbericht

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Der aktuelle Datenfundus besteht aus insgesamt vierzehn Aufstellungen und rund vierzehn Stunden Material zu verschiedenen Vorgehensweisen in der Aufstellungsarbeit, wobei für einen Teil der Aufstellungen die dreifache Menge an Videomaterial vorliegt, weil mit mehreren Kameras aufgezeichnet worden ist. Die Datenbasis beinhaltet neben den bekannten Formaten wie Familien- und Organisationsaufstellungen auch erst in jüngerer Zeit entwickelte Methoden wie z. B. verdeckte »Erkundungsaufstellungen« (nach Müller-Christ u. Pijetlovic, 2018) oder Standortaufstellungen (nach Köth, 2007). Diese breite Datenbasis ermöglicht uns, die bislang bei den Analysen entstandenen Aussagen zu verallgemeinern. Es ist nicht davon auszugehen, dass Verzerrungen durch eingeschränkte methodische Vorgehensweisen und Settings (nur Familienaufstellungen, nur Weiterbildungskontexte) oder ein verengter Blick (beispielsweise, indem nur eine Aufstellungsleitung aufgezeichnet wurde) entstehen. Methodisch orientieren wir uns an der Ethnomethodologischen Konversationsanalyse und den Studies of Work (Oberzaucher, 2018). Diesen Forschungsansätzen ist gemeinsam, dass die Wirklichkeit als eine hergestellte »Realität« gilt, die aufgrund der Flüchtigkeit des Geschehens durch Aufzeichnungen dokumentiert und damit im Detail untersuchbar gemacht werden sollte. Die sich an dieser Forschungsrichtung orientierenden Auswertungen basieren auf detailreichen Transkripten, in denen möglichst viele Phänomene einschließlich der nonverbalen Kommunikation verschriftlicht werden. Schon die Darstellung einer einminütigen Videosequenz führt so rasch zu mehrseitigen Transkripten, welche den Analysen zugrunde liegen. Die Studies of Work fokussieren insbesondere auf reale Arbeitsvollzüge und die situativ verkörperten Praktiken, in denen sich »die für diese Arbeit erforderlichen spezifischen Kenntnisse und Fertigkeiten materialisieren« (Bergmann, 2005, S. 639). Zwischen diesem methodischen Ansatz und dem Vorgehen in der Aufstellungsleitung gibt es einige Gemeinsamkeiten (Nazarkiewicz, Oberzaucher u. Finke, 2016; siehe Infokasten). Beide nehmen zum Ausgangspunkt, dass alles, was geschieht, eine Bedeutung hat und dass mit einer allparteilichen, nicht wertenden Wahrnehmung auf das Geschehen geschaut wird. Man nimmt die Protagonisten umfänglich wahr, spürt mit ihnen mit und erfasst möglichst viele Phänomene. Zugleich bleibt man dabei stets offen für die situativen Entwicklungen im Hier und Jetzt, um die Muster sowie Ordnungen zu finden, die im beobachtbaren Geschehen zum Ausdruck kommen und aus ihm zu erschließen sind. Diese Herangehensweise gilt in der Qualitativen Sozialforschung als eine der strengen empirischen Methoden (Deppermann u. Schmidt, 2007). Sie verlangt den Forschern ab, in das Feld einzutauchen, sich selbst Kompetenzen des beforschten Feldes anzueignen, die analytischen Erkenntnisse in For-

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Kirsten Nazarkiewicz, Frank Oberzaucher und Holger Finke

schungsgruppendiskussionen mit Praktikerinnen datenbasiert intersubjektiv zu validieren sowie die gefundenen Regelmäßigkeiten und deren Deutungen am Datenmaterial nachvollziehbar darzustellen. In diesem Geiste werden wir daher unsere Ergebnisse anhand von kleinen Datenanalysen präsentieren, wobei wir aus Gründen der einfacheren Les- und Darstellbarkeit die Transkripte stark vereinfacht haben. Gemeinsamkeiten zwischen der Haltung von Aufstellungsleitungen und Forschern der ethnomethodologischen Konversationsanalyse: –– Sinn: Alles, was geschieht, hat eine Bedeutung (was zu sehen ist, was und wie etwas gesagt wird). –– Multimodalität: Die interaktive Sinnerschließung stützt sich auf mehrere Deutungsressourcen. –– Indifferenz: Man schaut wahrnehmend (nicht-urteilend/non-dual), allparteilich. –– Mehrperspektivität: In jede Perspektive gehen, aus jeder blicken, sich in jede einspüren und zugleich bei sich bleiben und alles beobachten (einschließlich sich selbst). –– Orientierung an der Prozesshaftigkeit: Gefolgt wird der interaktiven Entfaltung des Geschehens. –– Geregeltheit: Es gibt Ordnungen, die (noch) nicht alle bewusst oder bekannt sind. –– Rekonstruktion: Das Identifizieren von Mustern ist hilfreich. –– Offenheit: Orientierung am Prinzip der Gegenwärtigkeit, Einmaligkeit und dem Geschehen im Hier und Jetzt.

Soziologisch interessiert uns in diesem Beitrag insbesondere das nicht-alltägliche Sprechen im Rahmen der Abfrage der stellvertretenden Wahrnehmung. Um die phänomenologische Dimension der Aufstellungsarbeit und die repräsentierende Wahrnehmung zu beschreiben, haben wir insbesondere die Erstabfragen in Aufstellungen mit folgenden Fragen untersucht: 1. Wie wird der Körper als kommunikative Ressource genutzt? 2. Wie werden diese Wahrnehmungen in Sprache gebracht? 3. Welche kommunikativen Mittel werden eingesetzt, um das Spüren auszudrücken? Kurz: Was muss man »können«, um ein kompetenter Akteur im Feld zu sein? Die gefundenen Muster zeigen, dass die Stellvertreterinnen auf kunstvolle Weise darstellen, wie sie (von etwas) erfasst werden, indem sie beschreiben, was mit ihnen geschieht, und dabei ihre Selbstwahrnehmung zu einem kommunikativen Ereignis machen.

Repräsentierende Wahrnehmung als kommunikative Aufgabe – ein Werkstattbericht

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Der folgende Auszug (Tabelle 1: Transkriptausschnitt 1) stammt aus verdeckten Erkundungsaufstellungen (zu diesem Format vgl. Müller-Christ u. Pijetlovic, 2018), d. h. niemand von den Aufgestellten weiß, wofür er/sie steht, also welche Person oder Qualität repräsentiert wird. Die dargelegten Ergebnisse sind jedoch nicht auf verdeckte Aufstellungen beschränkt. Dieselben an diesen Beispielen demonstrierten Phänomene sind auch z. B. in Daten von Familienaufstellungen zu finden. Die verwendeten Transkriptionskonventionen sind am Ende des Artikels zu finden (Tabelle 4). Tabelle 1: Transkriptausschnitt 1 Transkriptausschnitt 1: 7 8 9

A.-Leiter: SV 1: A.-Leiter:

10 11

SV 1: A.-Leiter:

12 13

SV 1: SV 1:

14 15 16

SV 1: A.-Leiter: SV 1:

17 18 19 20

SV 1: A.-Leiter: SV 1:

21 22

SV 1:

23 24 25

SV 1:

26 27

SV 1:

28 29 30 31 32 33 34

A.-Leiter: SV 1:

35 36 37

SV 1:

A.-Leiter: SV 1:

A.-Leiter:

ich halt dir mal das mikrofon so'n biss┌chen unter┐ └ ja ┘ die NAse dabei (.) zu sagn .hhh ehem .hh (-) |__________________________________________| hebt die linke Hand in Brusthöhe und wedelt auf und ab, Handfläche nach oben weisend wIE is die selbstwahrnehmung von eins |________________________________________________|=============> hält linke Hand in Brusthöhe, zieht d. Finger ein / macht Faust, = streckt die Finger wieder aus = ich hab hERzklopfen |____________________| wedelt mit der linken Hand in Brusthöhe auf und ab hm hm un:d (.) gelegentlich kommen mir kalte schauer |____________________________________________________________> bewegt linke Hand vor dem Oberkörper auf und ab (von Hüften bis zur Schulter)... hm hm den: rücken rauf und runter .hhh (.) äah: (-) .hhh (.) un:d hh (--) äh:m (-) |________________________________________________________________________________| N > wendet den Kopf hin und her / schaut nach links und rechts in die Runde .hh ( 1,5 ) |________> hebt Hände in Brusthöhe, Handflächen nach oben gedreht (Bewegung wie etwas vor sich halten)

so'n sch' (-) (---) da is weniger |________________________________________________________________| deutet mit rechter Hand zu SV Pol 3, m. linker zu SV Pol 4, wendet Kopf zwischen ihnen hin u. her kontakt ┌ .hh┐h └hm ´hm┘

Der Ausschnitt zeigt einige typische Elemente des Sprechens aus der repräsentierenden Wahrnehmung. Zunächst bemerkenswert, die Stellvertreterin bereitsaus zu gestikulieren beginnt, Der Ausschnitt zeigtisteinige typischedass Elemente des Sprechens der repräsenals sie noch gar nicht das Rederecht hat. Schon während die Aufstellungsleitung noch dabei ist, ihr Wahrnehmung. Zunächst ist bemerkenswert, dass7 ff.), die Stellvertreterin dietierenden Frage zu stellen: „wIE is die Selbstwahrnehmung von eins?“ (Zeile hebt sie die linke Hand in Brusthöhe und beginnt, damit auf und ab zu wedeln (Zeile 10). Diese Geste bringt bereits zum Ausdruck, dass etwas Gespürtes mitzuteilen ist. Auszudrückendes signalisiert sich hier also bereits körperlich, noch bevor es in Worte gefasst wird. Pointiert könnte man auch sagen, der Körper spricht zuerst. Ein solches „Mit-Sprechen“ bzw. Mitwirken des Körpers setzt sich dann im Verlauf der Äußerung der Stellvertreterin fort, in der sie verschiedene Körperwahrnehmungen thematisiert: in Zeile 13 mit: „ich hab hERzklopfen“, wobei eine Auf- und Abbewegung mit der Hand vor dem

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bereits zu gestikulieren beginnt, als sie noch gar nicht das Rederecht hat. Schon während die Aufstellungsleitung noch dabei ist, ihr die Frage zu stellen: »wIE is die Selbstwahrnehmung von eins« (Zeile 9 ff.), hebt sie die linke Hand in Brusthöhe und beginnt, damit auf und ab zu wedeln (Zeile 10). Diese Geste bringt bereits zum Ausdruck, dass etwas Gespürtes mitzuteilen ist. Auszu­drückendes signalisiert sich hier also bereits körperlich, noch bevor es in Worte gefasst wird. Pointiert könnte man auch sagen, der Körper spricht zuerst. Ein solches »Mit-Sprechen« bzw. Mitwirken des Körpers setzt sich dann im Verlauf der Äußerung der Stellvertreterin fort, in der sie verschiedene Körperwahrnehmungen thematisiert: in Zeile 13 mit »ich hab hERzklopfen«, wobei eine Auf- und Abbewegung mit der Hand vor dem Herzen das Sprechen begleitet. In Zeile 16 ff. nennt sie »kalte schauer«, ergänzt »den: rücken rauf und runter« und vollführt dabei mit dem Arm eine Auf- und Abbewegung entlang ihres gesamten Oberkörpers von der Hüfte bis zur Schulterhöhe. Dieses multi­modale Kommunizieren, bei dem die sprechbegleitende und dem Sprechen teilweise schon vorausgehende Gestik und Körperbewegungen der Stellvertreter ihre Aussagen quasi auch darstellend illustrieren, lädt die anderen Anwesenden dazu ein, die nicht nur beschriebene, sondern auch verkörperte Wahrnehmung sowohl kognitiv als auch leiblich mitzuvollziehen. Multimodalität bedeutet in der Theorie der Kommunikation und Soziosemiotik, dass verschiedene Ressourcen (u. a. auditive, sprachliche, räumliche, visuelle) zur Übermittlung von Mitteilungen genutzt werden und dass die Systematik ihrer Koordination konstitutiv für die jeweilige Interaktionsordnung und ihren verbalen Anteil ist (Deppermann u. Schmidt, 2007). Zugleich sieht man in dieser kleinen Sequenz Elemente, welche die Mühen und Schwierigkeiten der Verbalisierung und damit eine Suche nach Semantik zum Ausdruck bringen. Gehäuft sind solche Elemente in den Zeilen 20 bis 25 sowie in Zeile 34 zu erkennen, wo das Sprechen mit Abbrüchen, Sprechpausen, Dehnungen und Verzögerungslauten (langgezogenes »äh«) ins Stocken gerät und von hörbarem Atmen und Ächzen begleitet wird. Der hier entstehende Eindruck eines nach den richtigen Worten suchenden Sprechens wird noch verstärkt durch den Kontrast mit jenen Passagen, in denen die Stellvertreterin durch eine flüssigere und prononcierte Sprechweise, mit lauterer Stimme und sinkender Endintonation (Zeile 27–30) anzeigt, dass die dort geschilderten Wahrnehmungen für sie bereits klar, also innerlich geprüft und bestätigt und damit in gewissem Sinne »spruchreif« sind. So suggeriert die Art und Weise, wie die Stellvertreterin ihre Antwort realisiert, dass hier nicht retrospektiv eine (vor-)strukturierte Verbalisierung nach abgeschlossener Wahrnehmung und Analyse nachgereicht wird, sondern verweist performativ auf eine Verzahnung

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von Wahrnehmen und Zum-Ausdruck-Bringen. Es ist kein Nacheinander, sondern eine Gleichzeitigkeit von Spüren und Benennen in dem Sinne, dass die Sprecherin beim Schildern ihrer Wahrnehmungen erkennbar noch einmal zu diesen hinspürt. Dabei wird die Sprecherin weder unterbrochen noch machen die anderen Beteiligten Unterstützungsangebote, wie wir es im Alltag kennen, wenn wir einen vom Gesprächspartner gesuchten Ausdruck in den Dialog einwerfen. Stattdessen beschränkt sich die Aufstellungsleitung während der gesamten Äußerung auf kurze Rezipientensignale (»hm hm«, Zeile 15, 18, 28, 31, 37). Die Beteiligten dieses »Interaktionsensembles« (Goffman, 1997; Deppermann u. Schmidt, 2007) stellen hier also ein kommunikatives Arrangement her, in dem die Stellvertretung den Raum und die Zeit für das Suchen nach dem richtigen Ausdruck erhält. Die dritte Besonderheit, die wir hervorheben möchten, ist die Substantivierung der Wahrnehmungen. So fragt die Aufstellungsleitung die Stellvertretung z. B. nicht: »Eins, was nimmst du wahr?«, worauf man auch antworten könnte: »Ich nehme gar nichts wahr«, sondern die Frageformulierung »wIE is die selbstwahrnehmung von eins« stellt die Selbstwahrnehmung quasi schon als etwas Gegebenes, gleichsam als einen (objektiv beschreibbaren) Gegenstand in den Raum und fragt nun nach ihren Spezifika. Aber selbst wenn – wie in Familienaufstellungen – beispielsweise gefragt wird: »Wie geht’s dem Vater?«, fallen spätestens bei den Antworten die Substantivierungen ins Auge. Sie finden sich auch hier in der Antwort der Stellvertreterin. Die Aussage »gelegentlich kommen mir kalte schauer« (Zeile 16) verleiht den Schauern förmlich den Status von Akteuren, die kommen und gehen. Auch die Formulierung »es is ne schwEre da« (Zeile 29 f.) beschreibt das »Wie-es-sich-anfühlt« nicht in adjektivischer Form, sondern substantiviert das Adjektiv »schwer« zu einer Seins-Aussage über die Schwere, die »da ist«: Die Empfindungen und wahrgenommenen Aspekte treten quasi wie Protagonisten auf die Bühne der Aufstellung. Diese Qualität des eigenständigen Sich-Manifestierens gilt ebenso für »das Herzklopfen«: Die Stellvertreterin sagt, sie habe es (Zeile 13) und es mache ihr zu schaffen (Zeile 33). Durch den gewählten Satzbau wird das Klopfen des Herzens als Akteur noch hervorgehoben: Es wird im Satz als handelndes Subjekt vorangestellt, das der Stellvertreterin zusetzt. Zugleich schlägt die Stellvertreterin mit der thematischen Rückkehr zum Herzklopfen und dessen nochmaliger Hervorhebung als einer für sie besonders eindrücklichen Empfindung den Bogen zurück zum Beginn ihrer Wahrnehmungsschilderung und gibt ihrer Antwort auf die Frage des Aufstellungsleiters damit eine zirkuläre Struktur.

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Tabelle 2: Transkriptausschnitt 2 Transkriptausschnitt 2: 1 2 3

A.-Leiter:

4 5 6

SV A:

7 8

SV A:

9

SV A:

10 11 12

SV A:

A.-Leiter: SV A:

wie is die selbstwahrnehmung von a ( 1,0 ) ich möcht ihr (.) GANz nahe sein am liebsten würd ich |_________________________________________________________________________________________> beugt sich leicht nach rechts zu SV Pol 3 / lehnt sich an SV Pol 3, N > A-Leiter in sie reinkrabbeln .hhh und sie gibt (.) mir NÄhe: und ich merk aber (.) dass: sie: (-) das eigentlich nich WILL |______________________________________________________________________________________________________> hebt Hand in Bauchhöhe + bewegt sie im Sprechrhythmus, N > blickt vor sich / zu A-Leiter... (.) aber .hh ich WILL da HIN |_______________________________| schließt beim Sprechen die Augen und schüttelt den Kopf, zieht die Schultern hoch und lehnt sich zu SV Pol 3 / schmiegt sich an (-) hm hm und ich brAU:ch sie

Auch im zweiten Ausschnitt (Tabelle 2: 2), Transkriptausschnitt 2),weiteren der die BefraAuch im zweiten Ausschnitt (Transkriptausschnitt der die Befragung einer Stellvertreterin Rahmen derselben Aufstellung findenderselben wir wieder die oben beschriebenen gung einerimweiteren Stellvertreterin imzeigt, Rahmen Aufstellung zeigt, Regelmäßigkeiten des Sprechens aus der repräsentierenden Wahrnehmung: multimodales finden wir wieder die oben beschriebenen Regelmäßigkeiten des Sprechens aus Kommunizieren, etwa als körpersprachliches „Performen“ des gespürten und verbalisierten der repräsentierenden multimodales Kommunizieren, etwa als Nähebedürfnisses (Zeile 4, 9);Wahrnehmung: suchendes, die Bedeutung umkreisendes bzw. sie allmählich entwickelndes Sprechen, hier speziell in Form von Reformulierungen (Zeile 3 ff.,Nähebedürf8, 12); körpersprachliches »Performen« des gespürten und verbalisierten Substantivierung der Wahrnehmung („gibt […] mir NÄhe“, Zeile 5). Darüber hinaus ist hier ein nisses (Zeilezu 4, 9); suchendes, die Bedeutung umkreisendes bzw. sie6 einen allmählich neues Phänomen beobachten. Die Stellvertreterin vollzieht in den Zeilen 3 bis leiblichen entwickelndes Sprechen, hierzunächst speziell in Form Perspektivenwechsel: Sie beschreibt in den Zeilen 3von bis 5Reformulierungen ihre eigenen Impulse (Zeile und ihre eigene („ich möcht ihrder […]Wahrnehmung GANz nahe sein am liebsten würdNÄhe:«, ich […] inZeile sie 5). 3 ff.,Intentionalität 8, 12); Substantivierung (»gibt (.) mir reinkrabbeln […] und sie gibt […] mir NÄhe“). Dann schließt sie in Zeile 6 mit: „und ich merk aber Darüber ist eigentlich hier ein neues Phänomen zu beobachten. Stellvertre-einer […] dass […]hinaus sie […] das nich WILL“, an, das heißt, sie wechselt inDie die Perspektive ausgewählten Repräsentantin und kann Dabei ist ihr – da es sich hierSie um eine terin vollzieht in den Zeilen 3 deren bis 6 Motive einen erspüren. leiblichen Perspektivenwechsel: verdeckte Aufstellung handelt – nicht bekannt, was die Person repräsentiert. A kann eigene beschreibt zunächst in den Zeilen 3 bis 5 ihre eigenen Impulse und ihre eigene intentionale Ziele nennen („ich WILL da HIN, Zeile 8) und die – hier widersprüchlichen – Ziele Intentionalität anderer antizipieren. (»ich möcht ihr (.) GANz nahe sein am liebsten würd ich in sie reinkrabbeln .hhh und sie gibt (.) mir NÄhe:«). Dann schließt sie in Zeile 6 mit »und ich merk aber (.) dass: sie: (-) das eigentlich nich WILL« an, das heißt, sie wechselt in die Perspektive einer anderen Repräsentantin und kann deren Motive erspüren. Dabei ist ihr – da es sich hier um eine verdeckte Aufstellung handelt – nicht bekannt, was die Person repräsentiert. A kann eigene intentionale Ziele nennen (»ich WILL da HIN«, Zeile 8) und die – hier widersprüchlichen – Ziele anderer antizipieren.

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Tabelle 3: Transkriptausschnitt 3 Transkriptausschnitt 3: 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79

SV Klientin: A.-Leiterin: A.-Leiterin:

SV Klientin: A.-Leiterin?: SV Klientin: A.-Leiterin: A.-Leiterin: SV Klientin: SV Klientin: A.-Leiterin: SV Klientin:

un es gibt kein geF:ÜHL dazu hm hm ( 2,0 ) WENN:'s ein gefühl geben könnte ( 2,0 ) spontan ( 1,5 ) spontan geht hier gar nix ( 2,5 ) das ist alles hier ( 2,5 ) in zeitlupe hm hm ( 2,0 ) ich glaub hier darf auch keiner spontan sein und ich auch nich hm hm (-) und fühlen darf hier keiner ┌irgendwas┐ └und f'┘ ( 1,5 ) fühlen gEHt nich fühlen geht nicht (-) okay ( 3,0 ) ich glaub mit FÜHlen könnt man's nich aushalten

Das letzte Datenbeispiel (Transkriptausschnitt 3) stammt aus einer Familienaufstellung, daher gibt es Das letzte Datenbeispiel (Tabelle 3: Transkriptausschnitt 3) stammt einer eine Stellvertreterin für die ihr Anliegen einbringende Klientin (SV Klientin). Gleich zuaus Beginn ist Familienaufstellung, daher gibt es eine Stellvertreterin für die ihr Anliegen einein interessantes Phänomen zu verzeichnen. In einem Kontext, in dem es ja darum geht, dass die Stellvertreter ihre Wahrnehmungen und Gefühle schildern, berichtetist dieein Stellvertreterin in Zeile 58 bringende Klientin (SV Klientin). Gleich zu Beginn interessantes Phäüber das Fehlen eines Gefühls: „un es gibt kein geF:ÜHL dazu“. Man könnte an dieser Stelle also nomen zu verzeichnen. In einem Kontext, in dem es ja darum geht, dass die theoretisch die Abfrage der Stellvertreterin zu ihren Gefühlen beenden, weil es da sozusagen nichts ihre Wahrnehmungen und Gefühle schildern, berichtet die Stellzu Stellvertreter berichten gibt. Stattdessen behandeln Aufstellungsleitung und Stellvertreterin diese Abwesenheit vonvertreterin Gefühl jedoch etwas es wert ist, genauer zu werden. Die in als Zeile 58Bedeutungsvolles, über das Fehlendas eines Gefühls: »ununtersucht es gibt kein geF:ÜHL Aufstellungsleitung beginntan diese Untersuchung mittheoretisch der elliptisch die formulierten Frageder in Zeile 61: dazu«. Man könnte dieser Stelle also Befragung Stellver„WENN:'s ein gefühl geben könnte ( 2,0 ) spontan“. Sie konstruiert also den hypothetischen Fall, treterin zu möglich ihren Gefühlen beenden, weil es da sozusagen nichts zu erfährt berichten dass ein Gefühl wäre und sich spontan manifestieren könnte. Dieser Versuch jedoch gibt. Stattdessen behandeln Aufstellungsleitung und Stellvertreterin Abwevonseiten der Stellvertretung eine Abfuhr in den Zeilen 65 ff.: „spontan geht hier gardiese nix [...] das ist alles hier [...]von in zeitlupe“. an dieser Formulierung zwei Elemente: fällt die senheit Gefühl Interessant jedoch alssind etwas Bedeutungsvolles, das es wertErstens ist, genauer besondere Verwendung unspezifischer deiktischer Verweise auf, die dem Bezeichneten eine gewisse untersucht zu werden. Die Aufstellungsleitung beginnt diese Untersuchung mit Unschärfe geben: „spontan geht hier gar nix“, „das ist alles hier […] in zeitlupe“ (Herv. K. N., F. O. derF.). elliptisch Frage in beinhalten Zeile 61 »die WENN :‘s ein Gefühl geben könnte u. H. Zweitensformulierten und in Verbindung damit Aussagen eine Generalisierung, es handelt um Varianten von skategorischen also um Sätze allgemeinem (2,0)sich spontan«. Sie kon­ truiert alsoFormulierungen, den hypothetischen Fall,mit dass ein Gefühl Gültigkeitsanspruch für alle („Wer zu spätmanifestieren kommt, den bestraft das Leben.“). möglich wäre und sich spontan könnte. DieserKategorische Versuch erfährt Formulierungen konservieren laut Ayaß (1996) Normen und Werte – in diesem Fall einer jedoch vonseiten Stellvertreterin eine Abfuhr denSequenz Zeilen Schritt 65 ff.: »spontan Familienaufstellung desder Familiensystems diejenigen, welche inin dieser um Schritt hier gar nix (2.5) das der ist mit alles hier Deutungsangeboten (2,5) in zeitlupe«.usw. Interessant sind an undgeht interaktiv, im Dialog zwischen Fragen, intervenierenden Aufstellungsleitung und der ihre Wahrnehmung prüfenden verbalisierenden dieser Formulierung zweieigene Elemente: Erstens fällt dieundbesondere Verwendung Stellvertreterin, herausgearbeitet werden.

unspezifischer deiktischer Verweise auf, die dem Bezeichneten eine gewisse

DieUnschärfe beiden Merkmale Verweise Formulierungen stehen im geben:unspezifische »spontan geht hier und gar kategorische nix«, »das ist alles hier (2,5) in Zeitlupe« Zusammenhang mit einer besonderen Art des Perspektivenwechsels, der hier stattfindet. Die (Herv. K. N., F. O. von u. H. Zweitens und in Verbindung damit Stellvertreterin wechselt derF.). Perspektive ihrer eigenen Stellvertretung in derbeinhalten Aufstellung indie eine

Aussagen eine Generalisierung, es handelt sich um Varianten von kategorischen Formulierungen, also um Sätze mit allgemeinem Gültigkeitsanspruch für alle (»Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.«). Kategorische Formulierungen

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konservieren laut Ayaß (1996) Normen und Werte – hier sind es diejenigen des aufgestellten Familiensystems, welche in dieser Sequenz Schritt um Schritt und interaktiv herausgearbeitet werden, im Dialog zwischen der mit Fragen, Deutungsangeboten usw. intervenierenden Aufstellungsleitung und der ihre eigene Wahrnehmung prüfenden und verbalisierenden Stellvertreterin. Die beiden Merkmale unspezifische Verweise und kategorische Formulierungen stehen im Zusammenhang mit einer besonderen Art des Perspektivenwechsels, der hier stattfindet. Die Stellvertreterin wechselt von der Perspektive ihrer eigenen Stellvertretung in der Aufstellung in eine höher aggregierte, abstraktere Perspektive, die das ganze System als solches in den Blick nimmt; sie spricht quasi für alle im System. Augenfällig wird die Erläuterung des Perspektivenwechsels in Zeile 70: »ich glaub hier darf auch keiner spontan sein und ich auch nich«. Die Stellvertreterin spricht zunächst aus der Position von einer, die sozusagen ins gesamte System hineinspürt, und ergänzt dann mit »und ich auch nich« die Wahrnehmung aus der eigenen Perspektive der von ihr repräsentierten Rolle. Das Einnehmen einer normativen und generalisierten Perspektive zeigt sich in deiktischen Verweisen mit kategorischen Formulierungen, die sich in der gesamten Sequenz gehäuft finden (Zeile 65: »geht hier gar nix«, Zeile 67: »das ist alles hier«, Zeile 70: »hier darf auch keiner«, Zeile 73: »fühlen darf hier keiner irgendwas«, Zeile 76 f.: »fühlen gEHt nich« / »fühlen geht nicht«). Die Stellvertreterin kombiniert ihre Aussagen allerdings mit subjektiven Relativierungen in Zeile 70: »ich glaub hier darf auch keiner spontan sein«, und in Zeile 79: »ich glaub mit FÜHlen könnt man’s nich aushalten« (Herv. K. N., F. O. u. H. F.). Dieser Kontrast zwischen kategorischem Sprechen und relativierenden Abschwächungen verweist auf eine Dualität, die in der Rolle der Stellvertreterin angelegt ist: Als Stellvertreterin, deren Leib hier als Wahrnehmungsorgan gleichsam als Zugang zum System der Klientin genutzt wird, ist sie einerseits sozusagen »autorisierte Sprecherin«. Andererseits schwingt in ihren Aussagen immer die Vorläufigkeit und Vorsicht des »suchenden Verbalisierens« und das beständige Prüfen und Infragestellen der eigenen Wahrnehmungen mit – Aktivitäten, die bereits in der Analyse des ersten Ausschnitts dargelegt wurden. Schließlich sieht man in der Gesamt­betrachtung dieser Sequenz wieder eine sich schließende Form bzw. eine zirkuläre Struktur. Die vorläufig abschließende Äußerung »mit FÜHlen könnt man’s nich aushalten« greift implizit das »könnte« aus der von der Aufstellungsleiterin angefragten Möglichkeit in Zeile 61 auf: »WENN:’s ein gefühl geben könnte« (Herv. K. N., F. O. u. H. F.) und beantwortet die Frage im Sinne einer Begründung, warum es »hier« kein Gefühl geben kann, was zu einer Spur für die weitere Suche führt.

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Zusammenfassend lassen sich bei der Kommunikation der repräsentierenden Wahrnehmung folgende ausgewählte Regelmäßigkeiten festhalten: ȤȤ Die Beteiligten behandeln es als vorrangige Aufgabe, ihre Wahrnehmungen zu spüren und zu verbalisieren, sodass das Rederecht quasi einer spezifischen Wahrnehmungsebene erteilt wird. ȤȤ Das Gespürte wird multimodal ausgedrückt, wobei ein sich auch zeitlich/ sequenziell abbildendes Vorangehen der nonverbalen Kommunikation vor der verbalen Kommunikation zu konstatieren ist. ȤȤ Auffällig ist die Suche nach Worten: Verzögerungen, Restarts, Reformulierungen. ȤȤ Unschärfe- und Vagheitsmarkierungen sowie Relativierungen kennzeichnen die Suche nach angemessenen Ausdrucksformen: »komisch«, »so ne SEHNsucht«, »irgendwie«, »eigentlich«, »ich glaube«. ȤȤ Das Suchen und Finden von multimodalen Ausdrucksformen nonverbaler und verbaler Art wird in Aufstellungen gezielt ermöglicht, indem es Zeit erhält. Dies zeigt sich in den nicht unterbrochenen Verzögerungen, gehäuft auftretenden Sprechpausen, Reformulierungen usw. ȤȤ Wahrnehmungen erhalten durch Substantivierung quasi einen Akteurs­ status: »diese Nähe«; »so’n Klammerreflex«, »in mir gibt’s diesen Impuls«, »es is ne Schwere da«. ȤȤ Wahrnehmungen werden verbal in Form von räumlichen und zeitlichen indexikalen Ausdrücken situiert (»wie geht’s euch da?« »so geht’s mir gerade«, »spontan geht hier gar nix«). ȤȤ In der Verbalisierung der repräsentierenden Wahrnehmung zeugen mehrperspektivisches und allperspektivisches Sprechen von Perspektivenwechsel, d. h. die Äußerungen beinhalten, ausgehend vom eigenen Spüren, den leiblichen Perspektivenwechsel bis hin zum allparteilichen Spüren (»ich glaub mit FÜHlen könnt man’s nich aushalten«). ȤȤ Es ist in der Stellvertretung unproblematisch, über Anwesende in der dritten Person zu sprechen: »Wo guckt die hin?« (im Material nicht gezeigt). ȤȤ Es gibt eine zirkuläre Struktur bei der Exploration und der sprachlichen Äußerung der Befindlichkeitsveränderungen. Sie ist gekennzeichnet durch eine hin und her oszillierende bzw. kreisende (Such-/Spür-)Bewegung mit zeitlichen und räumlichen Perspektivenwechseln (vorher/jetzt, körperliche Wahrnehmungen aus der eigenen Repräsentantenrolle sowie das Spüren von Haltungen der anderen und System-bezogenen Phänomenen im Ganzen). ȤȤ Die Äußerungen werden durch die anderen auf ihre Stimmigkeit hin überprüft und gegebenenfalls ratifiziert: »genau«, »stimmt«, »passt net« (im Material nicht gezeigt).

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Zusammengefasst kann man von einer Selbstverständlichkeit der Objektivierung von Wahrnehmungen sprechen: Sie werden über die Situierung interaktiv zugänglich gemacht, kommuniziert und mehrperspektivisch ratifiziert. Dieser Vorgang wirft jedoch einige theoretische Fragen auf, für die in den beiden folgenden Abschnitten Antworten gesucht werden.

Repräsentierende Wahrnehmung als (außer-)alltägliche Kommunikation Bereits in der hier nur skizzenhaft dargestellten Analyse einiger kurzer Aufstellungssequenzen zeichnet sich ein besonderes Merkmal der Aufstellungsarbeit ab, nämlich die außeralltägliche kommunikative Konstruktion der Situation »Aufstellung«. Die Abfrage mit Fokus auf leiblichem Spüren, das Primat der Wahrnehmung aus mehreren Perspektiven und die Art des Sprechens zeugen von einem ungewöhnlichen Erlebnis- und Erkenntnisstil. Ganz in der Tradition Edmund Husserls hat sich der Philosoph und Soziologe Alfred Schütz (1971, S. 237 ff.) sehr intensiv mit den Gesetzmäßigkeiten der Alltagswelt und mit den von diesen abgewandelten Formen, er nannte sie Sinnprovinzen, beschäftigt. Die Welt der Aufstellungsarbeit ist eine von den mannigfaltigen Wirklichkeiten, deren oberste bzw. ausgezeichnete Wirklichkeit die Alltagswelt darstellt. Betrachtet man die Aufstellungsarbeit aufgrund ihres spezifischen kognitiven Stils mit Schütz als eine geschlossene Sinnprovinz, ist sie als solche u. a. gekennzeichnet durch ein Ausklammern bestimmter Gegebenheiten der Alltagsnormalität. So werden in der besonderen Sozialität der Aufstellungsarbeit Vertreterinnen der sozialen Vorwelt (Ahnen) und der Mitwelt (nicht anwesende Familienmitglieder) zur Welt in der eigenen Reichweite. Darüber hinaus werden neben diesen repräsentierten Individuen auch Selbstanteile von Fall­ einbringerinnen (z. B. Symptome oder ein Gefühl wie Wut) oder Abstrakta und Qualitäten (das Leben, die Nähe) zu im System der Aufstellung verkörperten und wirksamen Akteuren. In Erkundungsaufstellungen, wie denen in den ersten beiden Transkrip­ten, können auch prototypische Elemente im Rahmen der Forschungsfrage repräsentiert werden (die Stellvertreterin 1 steht im Transkript­ ausschnitt 1 für eingefrorene Eizellen im Rahmen einer Forschungsfrage zum Thema Reproduktionsmedizin). Damit ist der Sinnbereich der Aufstellungsarbeit gekennzeichnet von der Aufhebung der Epoché, also der natürlichen Einstellung zur Welt, denn es wird angenommen, dass die Welt und ihre Gegenstände auch ganz anders sein können, als sie erscheinen.

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Aus soziologischer Perspektive ist also ein zentrales Merkmal der Aufstellungsarbeit, dass bestimmte Gesetzmäßigkeiten der Alltagswelt, wie die klare Trennung von Lebenden und Verstorbenen, von Anwesenden und Abwesenden vorübergehend, d. h. für die Dauer des Aufstellungsgeschehens, eingeklammert werden. Partiell aufgehoben sind ebenso der die Welt des Alltags üblicherweise kennzeichnende kognitive Stil und die Wahrnehmungsmuster, also die Art und Weise, wie die Wirklichkeit erlebt wird. Im Hinblick auf die Form der Spontaneität und der Sozialität ist die Aufstellungsarbeit durch die Ziel- und Aufgabenorientierung charakterisiert, welche durch die Ausrichtung am Anliegen des Klienten sowie durch die Interventionen der Aufstellungsleitung gegeben ist. Dabei ist es die Aufgabe der Aufstellungsleitung, den Rahmen für die von allen Beteiligten bewerkstelligte prozesshafte, interaktive Herstellung der Aufstellung als soziales Ereignis zu setzen. Wie die Alltagswelt ist auch der Sinnbereich der Aufstellungsarbeit auf Kommunikation und soziales Handeln ausgerichtet. Im Rahmen einer Aufstellung finden unterschiedliche verbale Aktivitäten statt, wie etwa ein Vorgespräch oder eine Anamnese, Nachfragen der Aufstellungsleitung an die Stellvertreter oder Aufforderungen, bestimmte Äußerungen zu formulieren etc. Darüber hinaus kommunizieren gleichsam auch die Körper der Beteiligten durch ständige Veränderungen ihrer Positionen, Haltungen und räumlichen Konfigurationen im aufgestellten sozialen Gefüge. Hinsichtlich der Erfahrung des Selbst stellt sich die Aufstellungsarbeit allerdings als Sonderfall heraus, denn das kohärente, handelnd in die Welt hineinwirkende Selbst, wie wir es im Alltag üblicherweise erleben, tritt für die Dauer des Aufstellungsgeschehens – und im Zusammenhang der repräsentierenden Wahrnehmung – zugunsten repräsentierter Anteile in den Hintergrund. Verbunden damit ist der Erlebnis- und Erkenntnisstil, der auch von einem erhöhten Grad der Aufmerksamkeitsintensität gekennzeichnet ist. Den geübten Beteiligten wird eine Bewusstseinsspannung abverlangt, die das übliche Hellwachsein (Schütz, 1971) der Alltagswelt übersteigt und sich davon ganz wesentlich unterscheidet, indem sie eine zusätzliche, die Aufstellungsarbeit charakterisierende Wahrnehmungsebene miteinbezieht. An dieser Stelle kommen die von Merleau-­ Ponty (2003) in den Vordergrund gerückte Leiblichkeit sowie der Primat der Wahrnehmung ins Spiel. Der Leib dient in der Aufstellungsarbeit als Resonanz­ medium, durch das beispielsweise Dynamiken eines Familiensystems als leibliche Raum- und Dingwahrnehmung sicht- und (auf neue Weise) erfahrbar gemacht und dadurch therapeutisch genutzt werden sollen. Üblicherweise bleibt diese (zusätzliche) Wahrnehmungsebene – Merleau-Ponty nennt sie Präsenzbewusstsein – im Alltagserleben unbewusst und wird in der Regel nicht gezielt als Deutungs- und Orientierungsressource zur Sinnkonstruktion genutzt. Ein

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zentraler Kompetenzaspekt in der Aufstellungsarbeit besteht nun darin, den Zugang zum Präsenz­bewusstsein einzuüben und den Leib als Wahrnehmungsorgan entsprechend zu kultivieren. Dies erfordert viel Übung und die Fähigkeit, den die Alltagswirklichkeit üblicherweise auszeichnenden kognitiven Stil zu relativieren bzw. vorübergehend zu unterbrechen. Mit anderen Worten geht es in Aufstellungen also darum, gedanklichen Prozessen, wie inneren Bildern, Deutungen von Schilderungen des Gegenübers etc., in bestimmten Situationen einer Aufstellung gerade nicht zu folgen, wie es üblicherweise in Alltagssituationen sozial erwartbar und angemessen wäre. Stattdessen bemühen sich die Akteure im Rahmen einer Aufstellung darum, »präsent«, also in jedem gegenwärtigen Moment, neu zu spüren. Die Beobachtung von gedanklichen Prozessen ist eng verknüpft mit dem in der Aufstellungsarbeit wichtigen Prinzip der Gegenwärtigkeit als einem zentralen Wirkmechanismus. Die stetige Wahrnehmung des gegenwärtigen Moments ist so etwas wie eine Kernkompetenz, die dafür sorgt, dass sich die Beteiligten nicht in gedanklichen Konzepten verlieren, sondern vielmehr offen bleiben für das, was sich an unterschiedlichen Bewegungsformationen der Stellvertreter im Jetzt zeigt. Wie lassen sich diese Besonderheiten soziologisch begründen? Die Begründung ist deshalb wichtig, weil das auf Schütz bzw. Husserl zurückgehende Wahrnehmungskonzept keinerlei Repräsentanzen zulässt, vielmehr geht Schütz von der Unzugänglichkeit von Fremdpsychischem aus.

Soziologische Anschlüsse und alternative Begriffe für die »repräsentierende Wahrnehmung« Soziologisch gesehen ist der Begriff »repräsentierende Wahrnehmung« unterbestimmt und so haben wir uns auch auf die Suche nach geisteswissenschaftlichen Äquivalenzen gemacht. Hinsichtlich wissenschaftlicher Anschlussmöglichkeiten liegt es zunächst einmal nahe, sich in der eigenen methodischen Heimat umzusehen. In Anlehnung an Bergmann (2000) sowie Gülich und Schöndienst (1999) könnte man bei den gefundenen Regelmäßigkeiten in der multimodal realisierten Schilderung der Wahrnehmungen als Repräsentant/-in von Re­insze­nierungen oder Enactment sprechen. Nach der Hypothese von Gülich (2005) hat die dabei zum Ausdruck gebrachte Unbeschreibbarkeit ihren Grund darin, dass die Sprechenden widersprüchliche Eindrücke und Empfindungen aus verschiedenen Sinnprovinzen artikulieren müssen. Untersucht von den Wissenschaftlerinnen wurden u. a. Konversionserzählungen oder die Darstellung epileptischer Anfälle. Der Beschreibung des Unbeschreiblichen bzw. der Darstellung des Nicht-Darstell-

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baren sind ähnliche typische disfluente Elemente eigen wie Satzabbrüche, Selbstkorrekturen, Zögern, Stottern, das Versagen der Stimme und andere Elemente, die den flüssigen Redestrom unterbrechen. Sie zeigen die Unbeschreiblichkeit des Erlebens in situ an und verweisen darauf, dass das vorhandene kommunikative Register dem erlebten Phänomen gegenüber begrenzt ist. Diese Studienergebnisse und Begrifflichkeiten bleiben jedoch eher deskriptiv und berücksichtigen für unseren Forschungsgegenstand zu wenig die körperlich-leiblichen Bezüge. Es war Goffman, der die körperliche Anwesenheit zum Ausgangspunkt seiner soziologischen Überlegungen gemacht hat: »Soziale Interaktion im engeren Sinne geschieht einzig in sozialen Situationen, d. h. in Umwelten, in denen zwei oder mehr Individuen körperlich anwesend sind, und zwar so, daß sie aufeinander reagieren können« (1994, S. 55). In Anlehnung an dessen Begriff der körperlichen Kopräsenz und in Weiterführung von Merleau-Pontys Zwischenleiblichkeit (Intercorporéité) gehen Meyer, Meier zu Verl und Wedelstaedt (2016) davon aus, dass die leiblichen Grenzen des Individuums grundsätzlich in der Interaktion auflösbar sind und sich ein Wir-Leib etabliert. An dieser Stelle sei auf das Verhältnis von Körper und Leib verwiesen. Der organische Körper und die subjektiv empfundene Selbstreferenz auf den Körper (der immaterielle Leib) können, müssen aber nicht koextensiv wahrgenommen werden. Der Leib kann ausgedehnter sein, z. B. indem eine blinde Person den Boden an der Spitze des Blindenstocks spürt (und nicht in der Hand), oder er kann inkongruent mit dem Körper sein, worauf das Phänomen der Phantomschmerzen verweist, bei dem nicht mehr vorhandene Körperteile schmerzhaft gespürt werden. Die Autoren gehen davon aus, dass wir unsere Leiber ineinander erweitern und dass Aktivitäten aus einer gemeinsamen, wie sie es nennen, »Körperlichkeit« heraus erfolgen. Sie illustrieren ihre Überlegungen an Beispielen von kooperativem Arbeiten wie dem Zweihandsägen, kooperativem Schmieden oder dem Zusammenspiel von Spielern einer Handballmannschaft. Sie betonen die permanente interpersonale Hervorbringung von Präsenz, Bewegung und Körperlichkeiten als systematisch hervorgebrachte Gesamthandlung. Daher sprechen sie von Zwischenleiblichkeit sowie Interkinästhetik, welche auch antizipierte Erwartungen bei der Abstimmung und Synchronisation der körperlichen Bewegungen umfassen. Dies sind vielversprechende Anschlüsse mit Bezügen zu Leib und Körper sowie zu deren Interaktion und Koordination, jedoch vermissen wir darin den prominenten Rang der Wahrnehmung. Auch der Sportsoziologe Gugutzer (2006) widmet sich der leiblichen Verständigung. Ein Wahrnehmen von Stimmigkeit oder gar gespürte Gewissheit basiert für ihn auf einem leiblichen Perspektivenwechsel. Wie wir qua kognitivem Perspektivenwechsel andere verstehen, also fremden Sinn erfassen können,

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so gelingt dies auch im wechselseitigen leiblichen Nachvollzug. Als Bedingung der Möglichkeit führt er die Strukturgleichheit und Ähnlichkeit der Leiber an. Demnach gibt es neben der verbalen auch eine spürende Verständigung, wie er an den Beispielen des Tangotanzes oder verschiedener Sportarten illustriert. In Anlehnung an Hermann Schmitz und die neue Phänomenologie argumentiert er, dass Gefühle Autorität haben und uns leiblich ergreifen können (vgl. hierzu auch den Beitrag von Latka in diesem Band). Sie werden als räumlich ausgebreitet konzipiert und bilden in Schmitz’ Terminologie »anspruchsvolle Atmosphären«, die wir mental und leiblich nachvollziehen können und auf die wir reagieren. Aufgrund fehlender Bezüge zu Sprache und Kommunikation sowie der fehlenden theoretischen Berücksichtigung der Wahrnehmung sind die Anschlussmöglichkeiten dieses Ansatzes für unsere Forschung jedoch ebenfalls begrenzt. Mit seinem Theorieansatz der verkörperten Intersubjektivität rückt Fuchs (2011, 2015, 2016) die grundsätzliche soziale Konstitution von Wahrnehmung in den Mittelpunkt. Wenn wir zur Welt kommen, begegnen wir Menschen oder Objekten nicht unmittelbar, sondern vermittelt durch Bezugspersonen. Wahrnehmung enthält implizite Interaktivität und Räumlichkeit. So wird beispielsweise ein Ball für ein Kind überhaupt erst zu einem bedeutsamen Gegenstand, weil eine andere Person aus ihrer Perspektive darauf zeigt und es einen sensomotorischen gemeinsamen Umgang mit dem Objekt gibt. Das Kind vollzieht die Aufmerksamkeit und räumliche Zeigegeste des anderen Menschen nach und eignet sich die Umwelt mehrperspektivisch und verbunden mit eigenen Bewegungen und Erkundungen dreidimensional an. Daher kann man sich den Ball auch von hinten vorstellen, auch wenn diese Perspektive (aktuell) nicht im Blickfeld ist. Das Gleiche gilt für soziale Szenen. Bekanntermaßen betrachten Kinder zunächst die Reaktion ihrer Bezugspersonen auf etwas, bevor sie mit eigenen Empfindungen reagieren. Wahrnehmung ist somit Resultat gemeinsamer Aufmerksamkeit und Praxis und »von Anfang an interaktiv und zugleich kulturell geprägt« (Fuchs, 2016, S. 83). Wir »nehmen etwas für wahr« durch die gemeinsame sinnliche Welt. Da wir immer schon im dynamischen leiblichen Wechselspiel mit anderen stehen, in einem permanenten Austausch von Eindruck und Ausdruck, geht die eigenleibliche Resonanz implizit in die Wahrnehmung des anderen mit ein. »Zwischenleiblichkeit und Interaffektivität bilden aus phänomenologischer Sicht die Grundlagen der sozialen Wahrnehmung. Leibliche Resonanz und wechselseitige Inkorporation ermöglichen ein primäres empathisches Verstehen anderer, das sich bereits in der frühen Kindheit manifestiert, längst bevor ein konzeptuelles oder propositionales Wissen von anderen erworben wird« (Fuchs, 2015, S. 4).

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Der Leib ist für Fuchs gewissermaßen der »Resonanzkörper« für alle Gefühle (2015) und durch die zwischenleibliche Resonanz entsteht eine übergreifende Leiblichkeit. So fassen wir intersubjektiv erworbene leibliche Empfindungskomplexe als Gegenstände unserer Welt auf, denn diese sind längst inkorporiert. Was wir als Realität und Objektivität verstehen, ist also immer schon eine gemeinsame Lebenswelt, in die andere mit einbezogen sind. Die Kritik von Fuchs gilt insbesondere dem Neurokonstruktivismus, der Gehirne als geschlossene Einheiten begreift und der Lebenswelt – die auf einer Gehirnsimulation basiert – einen projektiven illusionären Status verleiht. Nach Fuchs ist das Gehirn zuallererst ein Beziehungsorgan und jede Wahrnehmung basiert auf impliziter Intersubjektivität, die uns leiblich verbindet. Organismus und Umwelt sind für ihn daher nicht trennbar. Jedes Individuum ist primär ein lebendiges Wesen und damit in Beziehung und Interaktion mit anderen, die dann einander leibhaftig erscheinen. Äußerlichkeit und Innerlichkeit sind folglich ebenfalls nicht mehr getrennt. Daraus folgt, dass Subjektivität räumlich ausgedehnt ist und wir mit anderen Menschen, aber auch mit Objekten in permanenten sensomotorischen Wechselbeziehungen stehen, obwohl wir uns dessen nicht notwendig gewahr werden. Was der Vernunft die Sprache ist, die der Rationalität verfügbar und verhandelbar ist, ist dem Körper die Proxemik des Leibes und die Räumlichkeit der Wahrnehmung als noch zu entdeckende Dimension (siehe hierzu auch den Beitrag von Schmidt in diesem Band). Die Aufstellungsarbeit macht erfahrbar, was demnach überall erfahrbar wäre. Es liegt nahe, die Theorie der Resonanzbeziehungen von Hartmut Rosa (2016), die Integration des Fremden von Waldenfels (2019) und weitere Ansätze hinzuzuziehen, was hier zu weit führen würde. Die Suche nach Anschlüssen hat erst begonnen.

Ausblick Der hier präsentierte Auszug aus der Forschungswerkstatt lässt natürlich viele Fragen ohne Antwort. Es steht noch aus, diese und weitere bereits vorliegende Forschungsergebnisse wie folgt fruchtbar zu machen: 1. Praktisch: Werden Beschreibungen von gefundenen Regelmäßigkeiten zusammengetragen, wie hier einige Muster der Kommunikation repräsentierender Wahrnehmung, so wird aus einem Können (die Beteiligten vollziehen diese Praktiken ja schon) ein bewusstes Kennen. Das Wissen um die Regelmäßigkeiten und Formen kann die Berufspraxis und Weiterbildung bereichern. In der Aufstellungsleitung werden durch das Wiedererkennen

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Kirsten Nazarkiewicz, Frank Oberzaucher und Holger Finke

verschiedener interaktiver Muster bei der Kommunikation repräsentierender Wahrnehmung u. a. Kapazitäten für die Inhalte sowie andere Fokusse frei. In der Aus- und Weiterbildung kann für Details des Ausdrucks sensibilisiert werden. Darüber hinaus ermöglichen die Analyseergebnisse Trennschärfe. In manchen Aufstellungssituationen stellt sich z. B. die Frage, ob und woran man ein eher helfendes, mitdenkendes alltägliches Sprechen von einer Information durch repräsentierende Wahrnehmung unterscheiden kann (wenn man diese Differenz – wie wir – für sinnvoll erachtet). Dies ist bereits mithilfe der Zwischenergebnisse möglich. Eine ausführlichere Darstellung sowie eine Didaktisierung für Weiterbildungsmodule steht jedoch aus. 2. Theoretisch: Betrachtet man repräsentierende Wahrnehmung auf der Basis der Analysen der Kommunikationsformen zudem vor dem Hintergrund der zu Rate gezogenen Theorien, so ergeben sich wichtige Anschlüsse für die geisteswissenschaftliche Begründung der repräsentierenden Wahrnehmung. An den Daten sichtbar wurde die gemeinsame Aufmerksamkeitsfokussierung auf das leibliche Spüren aus der eigenen Perspektive und aus der ausgewählter anderer sowie aus der Perspektive systembezogener Spielregeln. Wie mit Fuchs und anderen argumentiert wurde, möchten wir dafür plädieren, von einer menschlichen Grundfertigkeit auszugehen, auf welche in der Aufstellungsarbeit besonders zurückgegriffen wird und die wir im Alltag üblicherweise nicht nutzen. Die Sozialisation lehrt uns so wahrzunehmen, dass wir uns in verschiedene Sozialitäten einpassen, die von einer spezifischen sozialen Kon­ struktion von Welt ausgehen, und daran angepasste routinierte Einstellungen und Verhaltensweisen einüben. Auf diese richten wir unsere Erwartungen aus. Wir haben dabei kulturell gelernt, welche Sinnprovinzen zusammengehören und welche nicht, und entwickeln entsprechende Verhaltenserwartungen auf der Basis angeeigneter emotional-interaktiver Schemata. Über diese verkörperten Intersubjektivitätskonstrukte hinaus haben wir jedoch die grundsätzliche Spürfähigkeit hin zu allen Atmosphären, die uns umgeben, nicht verloren. Das, was uns einschränkt, sind die sozialen Formen, die wir je individuell gelernt haben. In einer Aufstellungskonstellation können wir vermittels der praktizierten Achtsamkeit und auf der Basis der potenziell unbeschränkten leiblichen Interaktionsoptionen die repräsentierten Personen und Aspekte in szenischer Resonanz und die Einschränkungen von Systemen als Formen spüren. So lässt sich vielleicht auch erklären, warum Stellvertretungen transkulturell möglich sind (Schlötter, 2018). Und so möchten wir zum Abschluss nochmals auf Merleau-­Pontys Präsenzbewusstsein zurückkommen. Diese die Aufstellungsarbeit kennzeichnende Wahrnehmungsebene bleibt im Alltagserleben bekanntlich unbewusst

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und wird in der Regel nur rudimentär genutzt. Vielleicht ist es an der Zeit, der repräsentierenden Wahrnehmung den ihr nach wie vor anhaftenden Nimbus zu nehmen. Sie kann eigens kultiviert werden (zu sehen am Beispiel der Achtsamkeit in psychotherapeutischen Handlungsfeldern, vgl. Oberzaucher u. Eisenmann, im Druck) und ist nichts weiter als eine universelle Fertigkeit, die wir regelmäßig übersehen.

Ausgewählte Transkriptionskonventionen Verbale Äußerungen sowie andere hörbare Phänomene sind fett formatiert. Nonverbale Aktivitäten sind kursiv formatiert. Hinweise zur paraverbalen Realisierung von Gesprochenem (z. B. etc.) sind normal formatiert. Tabelle 4: Ausgewählte Transkriptionskonventionen (nach Setting et al., 2009) SV Klientin: Aufsteller: (.)

┌hhh ┐ └und zu┘ euch

Überlappungen Mikropause, kurzes Absetzen

(-) / (--) / (---)

kurze Sprechpausen (jeder Strich repräsentiert 0,25 Sekunden)

( 1,0 ) / ( 1,25 ) etc.

Sprechpausen (in Sekunden)

so.

ich WILL da HIN un:d / äh:m

ne art und weise die' .h / .hh / .hhh h / hh / hhh (ja genau)

(aber/auch)

Der paraverbale Deskriptor bezieht sich auf den Text zwischen öffnender Klammer () End-Intonation stark fallend besondere Betonung / Akzentuierung Dehnung Glottalverschluss (Abbruch) [Apostroph vor Leerzeichen] Einatmen, je nach Dauer Ausatmen, je nach Dauer unsichere Transkription alternative Hörweisen

|--------------| klopft sich auf die Brust

Dauer einer nonverbalen Aktivität, die in der aktuellen Transkriptzeile beginnt und endet

|--------------> ... klopft sich auf die Brust

Dauer einer sichtbaren Handlung, die sich in der nächsten Transkriptzeile fortsetzt

>-------------| / >-------------> ... klopft sich auf die Brust...

Dauer einer sichtbaren Handlung, die bereits in der vorangehenden oder einer früheren Transkriptzeile begonnen hat

N> X

Blickrichtung: „blickt zu X / schaut X an“

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Georg Müller-Christ

Die Aufsteller/-innen-Gemeinschaft als Evolutionstreiber für die Wissenschaft?

Dieser Beitrag ist auf meiner Suche danach entstanden, wie Aufstellungs­methode und Wissenschaft aufeinander wirken und wie Berufs- und Laienwissenschaft über Aufstellungen zur Professionalisierung der Aufsteller-/innen-Szene zusammenwirken können. Im Alltag begegnet mir immer wieder die Frage der Menschen, die mit Aufstellungen arbeiten oder diese erstmalig erleben, wie denn die wissenschaftlichen Erklärungen für das Phänomen der repräsentierenden Wahrnehmung sind oder wann diese möglich sind? Ich möchte in diesem Beitrag über meine Erkundungsreise mit Aufstellungen berichten. Diese Reise führt mich aus der Wissenschaft heraus und wieder in sie hinein. Aus der Wissenschaft hinaus bedeutet für mich, die Suche nach Erklärungen, warum Aufstellungen funktionieren, zu verlassen. Ich will diese Suche nicht für hoffnungslos erklären, wohl aber für verfrüht (was nicht bedeutet, dass jeder Einzelne auf die Suche gehen kann und dort vermutlich auch etwas findet). Als ich neulich einen Text von Kurt Lewin (1930) las, der darüber nachdachte, wie sich die wissenschaftliche Begriffsbildung in der Physik bei Aristoteles entwickelte und später dann eine ganz neue Gestalt unter Galileo Galilei annahm, hatte ich plötzlich unsere Fragen an Aufstellungen vor Augen. Aristoteles beschrieb die Welt und suchte logische Erklärungsmuster in einer Zeit, die eines noch nicht hatte: Messinstrumente. Er war rein darauf angewiesen, Phänomene zu beobachten und sicherlich auch, geführt von Geistes­ blitzen erste Ursache-Wirkungs-Ketten durch reine Schlussfolgerung anzubieten. Ohne diesem großen Denker in seiner Genialität zu nahezutreten, hatte er gar keine andere Wahl, als beispielsweise rein durch Beobachtung festzustellen, dass alles Materielle nach unten fällt, alles Gasförmige eher nach oben steigt (an einer Flamme beobachtet). Es gab zu seiner Zeit noch nicht einmal eine mechanische Uhr, es gab nur die Möglichkeit, Häufigkeiten durch einfaches Zählen festzustellen. Mein Eindruck ist, dass wir mit unseren Aufstellungen in

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einer ähn­lichen Situation sind, über die nachfolgende Generationen nur lächeln werden – nämlich darüber, was wir beobachten und erklären.

Aristoteles und das Messen Ich habe den Eindruck, dass es uns mit Aufstellungen gerade so geht, wie es Aristoteles gegangen ist. Ich nehme den großen Meister daher als Metapher für eine Art, Erkenntnis zu schaffen, wenn wir das beobachtete Phänomen nicht messen können, und nenne das die Aristoteles-Qualität. Warum? Wir sehen viele Phänomene in unseren Aufstellungen, wir haben aber keinerlei Mess­ instrumente, um zu beobachten, wie die Information durch die Wahrnehmung der Stell­vertreter/-innen hindurch geht und in Worte und Positionierungen transformiert wird. Insbesondere in doppelt verdeckten Systemaufstellungen (Müller-Christ u. Pijetlovic, 2018) können wir beobachten, dass die Stellvertreter/-innen, ohne zu wissen, in welchem Kontext sie stehen und welches Element sie repräsentieren, Informationen wahrnehmen und transformieren können, die die Systembeteiligten als sehr realitätsnah deuten. Machen wir ein kleines Gedankenexperiment und nehmen an, dass es ein Informationsfeld gibt, welches jede Information der Welt beinhaltet und von jedem Ort der Welt gleichermaßen zu lesen ist. Es gibt ja bereits Physiker, die davon ausgehen (Laszlo, 2008). Dieses Informationsfeld würde für unseren Verstand eine nicht erfassbare Menge an Daten enthalten, Daten, für die wir eben keine Messinstrumente haben (physikalische Instrumente können nur Kräfte messen, meines Wissens nach sind alle anderen Instrumente eher zählende Instrumente und bildgebende Verfahren, die Analysiertes in Bilder, Grafiken und Zahlenreihen übersetzen – z. B. als Blutbild – und mit standardisierten und erfahrungsgeleiteten Sollwerten vergleichen). Nehmen wir weiter an, dass zwischen den Stellvertreter/-innen und dem Informationsfeld nach der (lautlosen) Zuweisung des zu repräsentierenden Elements eine Verbindung aufgebaut wird (ähnlich wie ein Rechner eine Verbindung in eine Cloud herstellt). Dann müsste es eine wie auch immer geartete suchende Bewegung der Stellvertreter/-innen im Informationsfeld geben, um sich mit der passenden Information zu verbinden (sowie das Handy den nächsten Sendemast sucht, um eine Verbindung herzustellen). In Aufstellungen passiert dieser Vorgang ohne Anstrengung der Stellvertreter/-innen, sie warten einfach, bis sich die Information einstellt und transformieren diese dann in Worte und Positionen. Ich habe noch nie beobachtet, dass Stellvertreter/-innen mit einer Information verbunden wurden, die ganz offensichtlich nicht zum auf-

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gestellten System passt. Welche Art Messinstrument bräuchten wir, um diesen Verbindungsaufbau beobachten zu können? Selbst wenn wir davon ausgehen, dass es gar keine herkömmliche Verbindung gibt, so wie wir uns den Strahl durch den Zwischenraum vom Sender zum Empfänger vorstellen, müssten wir eine Differenz beobachten und messen können – die Stellvertreter/-innen wissen etwas, was sie vorher nicht wussten, und sie wissen es, ohne zu wissen, wo es herkommt. Dieses Wissen stellt sich in Aufstellungen ohne Anstrengung ein und je erfahrener die Stellvertreter/-innen sind, desto schneller und sprachgewandter transformieren sie die Informationen in Wort und Bild. Vielleicht ist es gar nicht so, dass es in Aufstellungen Sender und Empfänger von Information gibt, sondern nur Repräsentationsräume von Information. Gleichwohl bleibt die Frage bestehen, wie die Auswahl der stimmigen Information durch die Resonanzkörper der Menschen funktioniert. Nehmen wir weiterhin an, es gäbe Messinstrumente für den Informationsraum, wären wir dann genauso weit wie die neurologische Forschung heute? Wir hätten dann bildgebende Verfahren, die uns zeigen würden, dass tatsächlich Informationen im Raum sind und dass Stellvertreter/-innen in ihrer Repräsentanz eines Elements ein anderes Bild (wie auch immer visualisiert auf einem Bildschirm) wiedergeben, als sie es ohne Repräsentanz tun. Ich verstehe die neurologische Forschung heute so, dass sie im Wesentlichen zeigen kann, dass jeder Wahrnehmungsakt des Menschen einen korrelierenden Prozess im Gehirn hat. Ein Kuss leuchtet dann an einer anderen Stelle im Gehirn als ein Schreckmoment auf. Und diese Orte sind bei allen Gehirnen ähnlich. Letztendlich stellen wir dann fest, dass es nichts gibt, was wir nicht in unserem neurologischen System wahrnehmen können, und dass der Körper ständig Informationen aus der Umwelt verarbeitet (und das Gehirn damit ständig irgendwo leuchtet). Es fasziniert mich, dass die neurologische Forschung zwar Wahrnehmungsprozesse abbilden kann, aber keine Wahrnehmungsinhalte. Selbst wenn sie von einer aktiven Stelle im Gehirn aus schlussfolgert, dass es sich um ein Gefühl handeln muss, kann sie nicht sagen, welches Gefühl es nun ist. Ist es nicht erstaunlich, dass wir bei der Durchleuchtung unserer Gehirne keine konkreten Gedanken, keine konkreten Gefühle und keine konkreten Erfahrungen finden, wir alle aber genau wissen, dass sie da sind? Wir wissen also, dass Informationen da sind, wir können aber ihre Inhalte nicht messen. Wir sind ja noch in einem Gedankenexperiment und überlegen, was eigentlich gemessen werden müsste, um der Essenz von Aufstellungen näherzukommen. Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Nach den vielen doppelt verdeckten Aufstellungen, die ich konzipiert und geleitet habe, gehe ich nicht mehr davon aus, dass die Informationen, die die Stellvertreter/-innen zutage

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fördern, aus ihren mentalen Karten, ihrem Unterbewusstsein oder ihrem kollektiven Überbewusstsein kommen. Selbst wenn dem so wäre, dass jeder Mensch das gesamte Informationsfeld der Welt inkorporiert, also in seinem Körper trägt, bleibt die Frage offen, wie der Zugang zu den passenden Informationen aus einer unglaublich großen Menge an Daten entsteht. Wäre es eine wie auch immer geartete neurologische Leistung, wäre meiner Meinung nach Irritation der Normalzustand von Repräsentanten: Sie zweifeln, ob sie die richtige Information ausgesucht haben, weil sie kein Bezugssystem dafür haben, die Richtigkeit der Information zu bestimmen. Kommen wir zurück zu Aristoteles und seinen Blick auf die Welt. Ähnlich geht es uns Menschen, wenn wir eine Aufstellung beobachten, in der Menschen anderen Menschen Informationen anbieten, ohne eine Ahnung zu haben, wo diese herkommen. Der Unterschied zwischen Aristoteles – und jetzt wage ich mich weit hinaus – und uns ist der Kausalraum, den wir in den letzten 500 Jahren aufgebaut haben. Nachvollziehbare Kausalitäten, mithin verstehbare Ursache-­Wirkungsbeziehungen prägen unsere Denkmuster: Wir wollen und müssen alles erklären, was uns umgibt – was letztlich bedeutet, zu wissen, warum etwas geschieht. Diese Kausalstrukturen sind die Voraussetzung, um Technik beherrschbar zu machen und Kontrolle im eigenen Umfeld ausüben zu können. Wir leben im Zeitalter der Rationalität, was letztlich nichts anderes bedeutet, als dass wir über intersubjektiv nachvollziehbare Erklärungen der Welt kommunizieren. Normative Setzungen wie die Religionen sind auf dem Rückzug oder produzieren erhebliche Verwerfungen mit der rationalen Welt, wenn sie auf ihre Normen alter Art bestehen. Galileo Galilei war einer der Verursacher solcher Verwerfungen, als er mithilfe seiner mechanischen Messungen nachweisen konnte, dass die Erde Teil eines größeren Planetensystems ist und sich in diesem bewegt. Die Kirche zwang ihn dazu, die Erde weiterhin als Mittelpunkt des Universums zu sehen, und sein Ausspruch, den er tat, als die Kirchenvertreter wieder gingen, ist hinlänglich bekannt: »Und sie bewegt sich doch!« Vielleicht gibt es hierzu auch eine Parallele in der heutigen Zeit und wir können denjenigen, die daran zweifeln, dass man ohne erkennbare Informationsübertragungen nichts über ein fremdes System wissen kann, hinterherrufen: »Und sie wissen es doch!« Informationsverfügbarkeit ohne erkennbare Informationsübertragung ist für unsere Hirne genauso schwer vorstellbar wie für die Kirche die Vorstellung, dass sich das Universum nicht um die Erde dreht. In der Reflexion unseres Tuns in Aufstellungen scheinen wir von Anfang an in der Aristoteles-Qualität unterwegs zu sein. Aus den Beobachtungen in Familienaufstellungen wurden irgendwann die Ordnungen der Liebe (Hellinger, 1998) als wahrgenommene Häufigkeiten, die dann zu den Systemgesetzen

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(Varga von Kibéd u. Sparrer, 2009) weiter klassifiziert wurden. Die Grundlogik von Häufigkeiten, deren Bezugspunkt das »Immer« ist, führte dann vielleicht auch in der ersten Begeisterung der Beteiligten dazu, dass die Kinder immer in der Reihe des Alters stehen müssen oder die Organisationsmitglieder immer in der Reihe ihrer Systemzugehörigkeit, damit ein System gesund ist. In der Galileo-Qualität müssten wir dann die reine Klassifizierung der Reihe verlassen und würden anfangen, die Orte genauer zu messen und am Ende weitere Unterschiede durch millimetergenaue Positionierungsangaben zu machen.

Die Galileo-Qualität Der implizite Anspruch an die Wissenschaft lautet bekanntlich: Erkläre mir die Welt, damit meine Handlungsoptionen zunehmen! Je besser das Tun im Kausalraum zu erklären ist, umso verlässlicher wird das Handeln: Wir erreichen unsere Handlungsziele und die Technik funktioniert! Kausalität ist in der Erkenntnistheorie ein sehr schwieriges Thema. Ich mache es mir und uns hier etwas einfacher und verstehe unter Kausalität einfach ein Ursache-Wirkungsdenken. Aufstellungen im Kausalraum erforschen bedeutet dann, erklären zu können, wie die Informationen entstehen und welche Wirkungen die Aufstellungen für das untersuchte System haben. Beides sind methodische Herausforderungen, die eine Wissenschaft der neuen Art brauchen. Wie bereits entwickelt wurde, lassen sich Informationsflüsse nicht messen. In diesem Fall möchte ich zeigen, dass wir Erkenntnisprozesse brauchen, die über das Beobachten und Beweisen hinausgehen. Sind Aufstellungen das Thema, welches die Wissenschaft an ihre Grenzen führt, allerdings nur an ihre selbstgesetzten Grenzen der empirischen Gütekriterien? Nach der aristotelischen Phase der Beobachtung ohne Messung kam mit Galileo Galilei die Phase des Beweises des Beobachteten und Vermuteten durch die empirische Messung. Das, was einst im naturwissenschaftlichen Bereich ein Denkmusterwechsel war, der große Fortschritte in der Erklärung der Welt brachte, führte vor allem zur Entwicklung von Technologien, die dem Menschen zuerst harte körperliche Arbeit abnahmen (Mechanik) und dann Verbindungen und Verarbeitungen von Informationen ermöglichten (Elektronik). Diese Leistungen der Wissenschaft nenne ich die Galileo-Qualität und ihre Weiterentwicklung und Transzendierung der Aristoteles-Qualität liegt im Übergang von der reinen Häufigkeitszählung zum Messen von Kräften und Zählen von bis zu unendlich kleinen Messeinheiten. Damit waren auch Kausalitätsüberlegungen möglich, was durch was bewirkt wird. Waren in der Aristoteles-Qualität die Gütekriterien des Erkennens noch die Trennschärfe und Relevanz der Klas-

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sifizierungen, so sind es in der Galileo-­Qualität die Gütekriterien der Objektivität, der Reliabilität und der Validität: Ist das Messergebnis unabhängig vom Wissenschaffenden, wird das gemessen, was man wirklich messen möchte, und lässt sich das Experiment oder die Messung wiederholen? Dominant in unserem Bewusstsein ist die Vorstellung, dass Wiederholbarkeit das Hauptgütekriterium wissenschaftlicher Erkenntnisse ist. Und so ist es auch die häufigste Frage der Menschen an Aufstellungen: Lässt sich das Ergebnis wiederholen? Wenn man die Aufstellung mit anderen Stellvertretern, mit anderen Aufstellungsleitern an anderen Orten und mit anderen Kontexten wiederholt, würde dann dasselbe dabei herauskommen? Diese Frage ist für mich eine Transformationsfrage in einen Denkmusterwechsel hinein, weil die Fragenden immer schon die Antwort erwarten, dass Aufstellungen nicht wiederholbar sind. Was aber sind dann die Gütekriterien für den Erkenntnisprozess? Diese haben etwas mit der Überwindung der Grenzen des Kausalraumes zu tun. Die empirische Forschung, mithin das Zählen von physikalischen Vorgängen oder die Messung von Kräften, kommt an ihre Grenzen, wenn die zu erfassenden Phänomene nicht direkt erfassbar sind, sondern immer nur über die Mitteilung von Menschen – was mithin einen Großteil sozialer Phänomene betrifft. Hier wird aus der Ursache-Wirkungsforschung zumeist eine Motivforschung, bei der nach den Ursachen menschlichen Verhaltens geforscht wird: Warum handeln Menschen so? Da die Beweggründe des Handelns immer auch in der Psyche liegen, die wiederum nicht sichtbar ist, müssen sich Menschen über ihre Psyche mitteilen und diese Mitteilung muss von den Hörenden interpretiert werden. Die qualitative Sozialforschung war schon immer mit der Herausforderung konfrontiert, dass sie nicht Zusammenhänge messen oder zählen kann, sondern Aussagen interpretieren muss, mithin ihnen eine Bedeutung geben muss. Die qualitative Sozialforschung arbeitet eher in der Aristoteles-Qualität und wird durch die Daten, die in Aufstellungen entstehen, in einen neuen Erkenntnisraum geführt, den ich vorläufig als Resonanz-Raum bezeichnen möchte. Die Entwicklung ist in der nachfolgenden Abbildung 1 dargestellt.

Die Aufsteller/-innen-Gemeinschaft als Evolutionstreiber für die Wissenschaft?

AristotelesQualität

GalileoQualität

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RosaQualität

Beobachtungsraum

Kausalraum

Tätigkeit: Beobachten und beschreiben von Unterschieden mit einfachen Häufigkeitsfeststellungen Argumentative Logik

Tätigkeit: Beweisen einer UrsacheWirkungsbeziehung durch Messung oder Zählung

Tätigkeit: mit der Welt in Beziehung gehen und das Zwischen der Elemente erkunden

Formale Logik

Logik des Zwischen

Gütekriterien: Trennungsschärfe, Relevanz

Gütekriterien: Objektivität, Reliabilität und Validität

Gütekriterien: Stimmigkeit, Kohärenz, Energie

Beobachter/-in ist getrennt von dem zu Beobachtenden

Beobachter/-in ist getrennt von dem zu Beobachtenden

Beobachter/-in und zu Beobachtendes sind miteinander verbunden

Aufstellungen als Entdeckung von Häufigkeiten, die zu Gesetzmäßigkeiten formuliert werden

Wissenschaft der 3. Art?

Resonanzraum

Aufstellungen als Erfahrungsraum der Resonanz mit dem zu beobachtendem System

Abbildung 1: Die Denkmusterqualitäten der Wissenschaft

Der neue Resonanzraum Jetzt ist es gar nicht so einfach, den Resonanzraum zu beschreiben. Wenn ich dazu die Überschrift der Rosa-Qualität gewählt habe, dann deshalb, weil der Soziologe Hartmut Rosa (2016) mit seinem Buch über eine Soziologie der Resonanz einen Unterschied macht, der vielleicht nicht erkenntnistheoretisch gemeint ist, aber auf eine Qualität verweist, die sich gut als Weiterentwicklung der Aristoteles- und der Galileo-Qualität beschreiben lässt. Resonanz – im Sinne von Rosa als eine vibrierende Aneignung von Welt – lässt sich ganz allgemein als ein Lösungsbegriff für die Bewältigung großer Komplexität beschreiben. Aus der Aneinanderreihung von kleinen Kausalschnitten in die Welt (überschaubare Ursache-Wirkungsbeziehungen) bis kurz vor der kognitiven Überforderung wird eine körperliche Stimmigkeitserfahrung bzw. eine implizite Gewissheit, aus der Resonanz mit der Situation heraus angemessen handeln zu können. Diese Resonanzerfahrung entzieht sich einer linearen Bewertung, genau das

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Georg Müller-Christ

Richtige getan zu haben; sie liefert vielmehr die Gewissheit, in gleichlaufenden Schwingungen mit dem Gesamtsystem zu sein, was letztlich bedeutet, auf eine nicht-kausale Art die Informationen des Feldes umfassend aufgenommen zu haben. In diesem Resonanzraum findet dann auch eine Bewertung statt, d. h. die Zuordnung eines Wertes zu einer Erkenntnis. Der Kreis schließt sich, wenn Hartmut Rosa Resonanz als Schlüsselkonzept einer Soziologie des guten Lebens konzipieren will. Das gute Leben hat keine konkrete Erscheinungsform, wie es die klassischen Religionen nahelegen wollen, die bestimmte Verhaltensweisen empfehlen bis vorschreiben. Das gute Leben ist vielmehr eine Resonanzerfahrung, ein Vibrieren mit den konkreten Phänomenen des eigenen Lebens, egal wie sie sich materialisieren. Ein solches Vibrieren mag mit einer gewissen Ressourcenausstattung vielleicht einfacher herbeizuführen sein, das Leben zeigt uns indes, dass Glück (mit der Welt vibrieren) nicht das stringente Ergebnis von Geld, Status und Bildung ist. Ich verstehe den Resonanzraum als Raum der Gleichzeitigkeit von Subjekten, die in Beziehung zueinanderstehen, als einen Raum, in dem die Subjekte sich durch die Beziehungen und die Beziehungen durch die Subjekte so komplex entwickeln, dass die Galileo-Qualität diese Komplexität nicht mehr erfassen kann. Hinzu kommt, dass die Beziehungen nicht mehr nur horizontaler Art im materiellen Raum sind, sondern auch vertikaler Art in der Beziehung zwischen Geist und Materie oder Gott und Mensch. Wissenschaftler/-innen, die sich selbst als beobachtende Subjekte von mit ihnen nicht verbundenen Objekten definieren, finden keinen Zutritt in den Resonanzraum. Sie leben und arbeiten in der Galileo-Qualität und entfalten im Kausalraum ihre größte Wirkung. Meine Hypothese lautet: Die von der Galileo-Qualität geprägte heutige Wissenschaft hat noch kein Potenzial, die Methode der Aufstellungen durch den Kausalraum zu führen und sie mit gehaltvollen Erklärungen ihrer Ursachen und Wirkungen zu versehen. Vielleicht braucht es diesen (Um-)Weg auch gar nicht und es geht darum, einen direkteren Weg aus dem Beobachtungsraum in den Resonanzraum zu gestalten. In diesem Falle wären Aufstellungen weniger ein Phänomen noch nicht geleisteter Kausalitätserwartungen, als vielmehr ein Treiber und ein Hebel (einer unter mehreren) zu einem sich erweiterten Wissenschaftsverständnis, um soziale Komplexität zu bewältigen. Die sich anschließende Frage wäre dann, wie dieser Weg bewusst zu gestalten sei, ohne dass sich die beteiligten Berufs- und Laienwissenschaftler/-innen an den dominanten Gütekriterien des Kausalraums messen lassen müssen oder sich selbst messen. Wie gelingt es uns, den Kausalraum zu tunneln und im Resonanzraum anzukommen?

Die Aufsteller/-innen-Gemeinschaft als Evolutionstreiber für die Wissenschaft?

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Eine weitere Hypothese lautet: Wissenschaftler/-innen, die in der Aristoteles-Qualität arbeiten, finden leichter den Zugang in den Resonanzraum als diejenigen, die in der Galileo-Qualität arbeiten. Wenn ich mir die Reflexionen der Aufsteller/-innen in den Heften der Praxis der Systemaufstellung und in den vielen Büchern, die in der letzten Zeit auf den Markt gekommen sind, ansehe, dann habe ich das Gefühl, dass diese Art von Laienwissenschaft in der Aristoteles-Qualität arbeitet und dem Wissenschaftssystem helfen kann, den Resonanzraum zu erschließen. Auch hier deutet sich meiner Beobachtung nach an, dass die Aufsteller/-innen-Szene ein Evolutionstreiber für die Wissenschaft sein könnte, wenn dieser Prozess professionell begleitet würde. Wie so etwas aussehen könnte, versuche ich in den nächsten beiden Abschnitten darzustellen.

Aufsteller/-innen-Wissenschaft als Citizen-Science Der Weg aus der Aristoteles-Qualität in den Resonanzraum könnte durch ein neues Zusammenspiel von Berufs- und Laienwissenschaft erfolgen. Ich habe mich an anderer Stelle mit dem Konzept der Citizen-Science als Laienwissenschaft über Aufstellungen beschäftigt und gebe diese Überlegungen hier in aller Kürze wieder (Müller-Christ, 2019). Mein erster Definitionsvorschlag für eine Aufsteller/-innen-Wissenschaft ist der folgende: Eine eigenständige Aufsteller/-innen-Laienwissenschaft ist eine sich selbst beobachtende Aufsteller/-innen-Szene, die das Ziel verfolgt, ihr Wissen, welches durch die Aufstellungen und ihre Wirkungen erzeugt wird, systematisch zu erfassen, zu reflektieren und in eine Form zu bringen, die es vermittelbar macht. Die Aufsteller/-innen-­ Wissenschaft arbeitet mit den Methoden und den Mitteln des Alltags; sie leistet einen Beitrag dazu, dass Menschen sich freier in der komplexen Welt bewegen können (vgl. Abbildung 2). Fragen dieser Aufsteller/-innen-Wissenschaft können sein: ȤȤ Wie entwickeln wir unsere Selbsterzählungen? ȤȤ Wie überprüfen wir unsere Glaubenssätze und Hypothesen? ȤȤ Wie beobachten wir die Wirkungen unserer Aufstellungen? ȤȤ Wie erkennen wir, dass wir lernen? ȤȤ Wie kann unser Wissen frei in die Kommunikationsnetzwerke dieser Welt fließen? ȤȤ Wie verbreiten wir Aufstellungen, ohne sie erklären zu können? ȤȤ Wie können wir uns der Galileo-Qualität zur Verfügung stellen?

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Georg Müller-Christ

Laienwissenschaft darf nicht mit Legitimation durch Berufserfahrung verwechselt werden. Natürlich haben Aufstellende, die schon viele Hundert Aufstellungen geleitet haben, einen großen Erfahrungsschatz über den Ablauf von Aufstellungen. Gleichwohl kann es sein, dass sie mit einem engen Hypothesenvorrat arbeiten und damit letztlich immer dieselben Lösungen anbieten. Im Falle von therapeutischen Aufstellungen könnte dieser enge Hypothesenvorrat sich da­ rauf beziehen, dass eine geklärte Eltern-Kind-Beziehung alle weiteren Probleme löst, im Falle von Organisationsaufstellungen liegt ein enger Hypothesenvorrat vor, wenn alle Organisationsprobleme zu Beziehungsproblemen der Beteiligten führen oder alle Führungsthemen aus Vater-Sohn- oder Mutter-Tochter Beziehungen stammen. Eine eigenständige Laienwissenschaft fängt dann an, wenn Aufstellende beginnen, Zeit und Ressourcen in das zu investieren, was in Abbildung 2 als Forschungstätigkeit umschrieben ist, und wenn sie diese Tätigkeit gestützt und systematisch ausüben. Der Unterschied vom einfachen Erzählen von Berufserfahrung hin zu einer Forschungstätigkeit liegt letztlich darin, dass Erkenntnisse als nachvollziehbar und vorläufig dargestellt werden.

Abbildung 2: Aufsteller/-innen-Wissenschaft und Berufswissenschaft im Bezug zueinander (Müller-Christ, 2019)

Die Eigenständigkeit einer Aufsteller/-innen-Wissenschaft äußert sich in meiner Vorstellung auch darin, dass diese sich kooperativ zur Berufswissenschaft verhält und immer wieder die Bühnen gemeinsamen Experimentierens, Erfahrens und Interpretierens schafft und bespielt. Eigenständig bedeutet eben nicht, autark sein zu wollen, sondern eine eigene Identität zu haben, die gleichwohl

Die Aufsteller/-innen-Gemeinschaft als Evolutionstreiber für die Wissenschaft?

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auch immer vorläufig und sich entwickelnd ist. Bezogen auf die Potenziale von Aufstellungen scheint es mir wichtig zu sein, dass im Ethos der Aufsteller/-innen-Wissenschaft ein ko-evolutiver Gedanke angelegt ist: Berufs- und Laienwissenschaft bewegen sich wechselseitig aufeinander verweisend, fragend und experimentierend ganz im Sinne der Aristoteles-Qualität auf die Verbreitung von Aufstellungen und auf die Ausnutzung ihrer Potenziale zu. Ich möchte im Weiteren zwei Vorschläge entwickeln, wie dieser gemeinsame Weg in den Resonanzraum erfolgen könnte: über eine Facilitator-Crowd-Research und eine Constellation-School. Die englischen Bezeichnungen sollen bereits da­rauf hinweisen, dass der gemeinsame Resonanzraum für Aufstellungsforschung die ganze Welt ist.

Facilitator-Crowd-Research: Eine Vision Ich möchte meine Vision der verteilten Forschung im Raum über Aufstellungen gerne in einer Art Erzählung schildern. Die Beteiligten sind auf der einen Seite die vielen Aufsteller/-innen (Facilitator), verteilt im Raum, der eine Region, Deutschland, Europa oder die ganze Welt umfassen könnte. Überall wenden diese Aufsteller/-innen mit den beteiligten Klienten, Kunden und Repräsentanten die Methode an, machen Erfahrungen, helfen den Klienten und Kunden, entwickeln die Methode weiter, formulieren Hypothesen über das, was sie tun, haben Fragen zum Prozess und verändern mit ihrem Tun die Welt einzelner Menschen und vermutlich auch die Welt insgesamt. Diese vielen Aufsteller/-innen stellen in ihrer Selbsterzählung eine Community, also eine Gemeinschaft dar, weil sie alle mit derselben innovativen Methode arbeiten. Meine Beobachtung des Feldes zeigt mir, dass die Phase des Kampfes um die richtige Anwendung der Methode vorbei ist (die »Immer«-Festlegung in der Aristoteles-­Qualität) und sich immer mehr Aufstellungsleiter/-innen mit ihrer Art der Arbeit zeigen und die Prozesse und Hypothesen zur Diskussion stellen. Damit ist das Feld ausgesprochen lernorientiert geworden, was vielleicht auch damit zu tun hat, dass sich die Methode von ihren Vätern und Müttern gelöst hat und mittlerweile selbständig geworden ist. Aus der Informations- und Erkenntnisperspektive stellen die vielen Aufstellungsleiter/-innen hingegen eine Crowd dar, eine Masse, die zwar dieselbe Methode anwendet, aber unabhängig voneinander und verteilt im Raum. Lernen voneinander können die Aufsteller/-innen bislang nur, wenn sie Orte des Community Building aufsuchen, also Tagungen und Workshops. Tatsächlich lernen auf diesen Tagungen und Seminaren viele von wenigen, die es besonders

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Georg Müller-Christ

gut können und deren Können und Perspektive auf die Thematik sich damit langsam durchsetzen. Im Raum verteilt gibt es aber viel mehr Erfahrung und Können, welche ein anderes Bild der Aufstellungsrealität geben könnten. Bislang gibt es noch zu wenige Ideen und technische Möglichkeiten, wie dieses Praxiswissen der Crowd zu einem Forschungsstrom über Aufstellungen zusammenfließen könnte. Die Metapher des Forschungsstroms soll tatsächlich aussagen, dass die vielen Einzelerkenntnisse im Raum als Quelle kleiner Rinnsale zu einem großen Strom zusammenfließen. Das Bett dieses Stromes muss vermutlich dann durch die Berufswissenschaft gebaut werden, deren Kompetenz darin liegt, Forschungsprozesse zu gestalten und zu evaluieren. Mit Berufswissenschaft meine ich die Forschenden im Wissenschaftssystem, die mit den anerkannten Methoden des staatlich finanzierten Forschungssystems ihrer Tätigkeit nachgehen, Wissen zu schaffen und zu verbreiten. Die Herausforderung einer solchen Facilitator-­ Crowd-Research liegt darin, die vielen Bewusstseinspunkte im Raum (Aufstellende mit ihrem Erkenntnisinteresse) miteinander zu verbinden. Hier sind die Potenziale des Internets sehr hilfreich und es gilt eine Forschungsplattform zu gestalten, über die individuelle Forschungstätigkeiten koordiniert in einen großen Forschungsstrom fließen können.

Das Konzept einer Constellation-School Unter einer Constellation-School (kurz C-School) verstehe ich einen koordinierten Fortbildungs- und Forschungsprozess, bezogen auf die Arbeit mit Aufstellungen. Diese C-School ist nicht als ein fester Ort zu verstehen, von dem aus eine Institution federführend Fortbildung und Forschung zu Aufstellungen in die Welt bringt. Ich meine mit C-School eine virtuelle Hülle um die Akteure, Prozesse und Institutionen herum, die Fortbildung und Forschung zu Aufstellungen machen. Im Weiteren möchte ich vor allem den Forschungsprozess besonders betonen. Abbildung 3 bietet eine erste Konkretisierung der Hülle der C-School an. Akteure dieser C-School sind die vielen Aufstellungsleiter/-innen, die sich forschend mit ihrer Aufstellungsarbeit beschäftigen (Laienwissenschaft), die Wissenschaftler/-innen im Hochschulsystem, die mit und über Systemaufstellungen arbeiten und die Crowd-Effekte, mithin die miteinander vernetzten Bewusstseinspunkte der Menge an Aufstellenden. Sie führen den Forschungsprozess durch, der in der Abbildung 3 in drei Phasen dargestellt ist: Forschungsdesign entwickeln, Forschungstätigkeit ausführen und Forschungsergebnisse erzeugen. Da dieser Prozess koordiniert werden muss, braucht es ein fokales System im

Die Aufsteller/-innen-Gemeinschaft als Evolutionstreiber für die Wissenschaft?

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Institutionen

Forschungsprozess

Akteure

Netzwerk der Crowd, welches die Fäden zusammenhält. Hier bietet sich, wie bereits erwähnt, eine Institution in der Berufswissenschaft an. Die Bühnen oder Institutionen, auf denen die C-School konkret in Erscheinung tritt, sind die Seminare und Workshops, die den Forschungsgedanken aufnehmen, die Fortbildungsakademien der DGfS und von infosyon, die gerade entstehen und um eine Identität ringen, wie auch der Constellation-Hub, in dem Mitglieder von Hochschulen einen Raum geschaffen haben, um Aufstellungsarbeit sich in Forschung und Lehre entwickeln zu lassen. Weitere Akteure und Bühnen werden zur C-School hinzukommen.

Berufswissenschaft

Forschungsdesign

Probleme wahrnehmen und eingrenzen Forschungsfrage formulieren und Methode auswählen

Laienwissenschaft

CrowdEffekte

Methode anwenden Forschungstätigkeit

Tagungen Seminare

Forschungsfrage nachjustieren Prozess dokumentieren

ConstellationHubs

Forschungsergebnisse

Daten aufbereiten und auswerten Ergebnisse reflektieren Kommunikation vorbereiten

Fortbildungsakademie

Abbildung 3: Das Muster einer C-School

Nehmen wir einmal an, eine solche C-School nähme ihren virtuellen Betrieb auf und durch die Crowd-Effekte liefern viele Aufstellende Informationen in den Forschungsstrom. Was würde sich dann für die Community der Aufstellenden und für die Gesellschaft ändern? Wie lässt sich der Nutzen dieser Facilitator-­CrowdResearch umschreiben? Meine Hoffnung ist, dass insgesamt eine stimmigere Identitätslandschaft in Bezug auf Aufstellungen entsteht. Das Potenzial von Aufstellungen ist riesengroß, seiner Erschließung stehen im Augenblick noch wenig konstruktive Selbsterzählungen der Aufstellenden im Weg. Aus dem Coaching wissen wir, dass eine Veränderung der Identität insgesamt sich dann entwickelt, wenn alle drei Erzählungsarten abgestimmt aufeinander neu entstehen. In die-

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Georg Müller-Christ

sem Sinne könnte ich mir vorstellen, dass das Potenzial der Aufstellungen, der Welt eine neue Art von Erkenntnis im Resonanzraum zu schenken, durch eine konsistente Neuerzählung im Metabereich, in der Fremderzählung der Welt über erlebte Aufstellungen und in der Selbsterzählung der Aufstellenden bewirkt werden könnte. Abbildung 4 nehmen Sie bitte als Zusammenfassung meiner Gedanken in diesem Beitrag wahr und prüfen, ob Sie damit in Resonanz gehen können.

Abbildung 4: Die Identitätslandschaft der Aufstellungsmethode (in Anlehnung an Müller, 2017)

Literatur Hellinger, B. (1998). Ordnungen der Liebe (5. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer. Laszlo, E. (2008). Der Quantensprung im globalen Gedächtnis. Wie ein neues wissenschaftliches Weltbild uns und unsere Welt verändert. Petersberg: ViaNova. Lewin, K. (1930). Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie. Erkenntnis, 1930–1938, Bd. 1–7, 421–466. Müller, M. (2017). Einführung in die narrative Methode der Organisationsberatung. Heidelberg: Carl-Auer. Müller-Christ, G. (2019). Aufstellungsarbeit in der Wissenschaft und Konturen einer Aufsteller/-innen-Wissenschaft. In C. Stadler, B. Kress (Hrsg.), Praxishandbuch Aufstellungsarbeit. Grundlagen, Methodik und Anwendungsgebiete. Springer Online https://doi.org/10.1007/978– 3–658–18152–9_44–1 Müller-Christ, G., Pijetlovic, D. (2018). Komplexe Systeme lesen. Aufstellungen in Wissenschaft und Praxis. Berlin: Springer/Gabler. Rosa, H. (2016). Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp. Varga von Kibéd, M., Sparrer, I. (2009). Ganz im Gegenteil. Tetralemmaarbeit und andere Grundformen systemischer Strukturaufstellungen (6. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer.

Die Autorinnen und Autoren

Peter Bourquin Peter Bourquin ist gebürtiger Deutscher und lebt und arbeitet seit 1998 in Spanien. Er ist Gründer und Co-Leiter des Instituts ECOS in Barcelona. Ausgebildet ist er u. a. in Integrative Psychotherapy (Richard Erskine), Gestalttherapie und Brainspotting (David Grand). Hauptsächlich arbeitet er mit dem Familienstellen. Er ist als anerkannter Lehrtherapeut für Systemaufstellungen (DGfS und AECFS) international tätig. Darüber hinaus ist er Autor mehrerer Bücher und zahlreicher Artikel sowie Mitglied der Redaktion der Zeitschrift »Praxis der Systemaufstellung«. Nähere Informationen finden Sie unter: www.peterbourquin.net Holger Finke Holger Finke studierte in Gießen Haushalts- und Ernährungswissenschaften und steckte sich dort mit der Begeisterung für soziologische Fragen und Antwortsuchen an. Den so begonnenen Entzündungsprozess konnte er am Institut für Soziologie der Universität Gießen weiter pflegen, wo er als studentische Hilfskraft in Forschungsprojekten zu den Themen Moralkommunikation und technisch vermittelte Kommunikation mitarbeitete. Aktuell richtet sich sein Interesse insbesondere auf die mikrosoziologische Untersuchung der Aufstellungsarbeit sowie der Piloteninteraktion im Flugzeugcockpit. Markus Hänsel Dr. Markus Hänsel lebt in Ladenburg und ist seit 2002 selbständig in den Bereichen Coaching, systemische Team- und Organisationsberatung sowie Führungskräfteentwicklung tätig. Zuvor hat er am Institut für Medizinische Psychologie der Universität Heidelberg wissenschaftlich gearbeitet und promoviert. D ­ arüber hinaus ist er Lehrbeauftragter an Universitäten, Autor von Fachbüchern, Redaktionsmitglied der Zeitschrift für Bewusstseinswissenschaften.

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Die Autorinnen und Autoren

Harald Homberger Harald Homberger arbeitet als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Heilpraktiker, Yogalehrer BDY/EYU und Lehrer für Kontemplation gemäß der Linie von Willigis Jäger. Er führt eine eigene psychotherapeutische Praxis in Göttingen und leitet seit 1995 Familien- und Systemaufstellungen sowie Weiterbildungen im In- und Ausland. Außerdem ist er Lehrtherapeut und Weiterbildner der Deutschen Gesellschaft für Systemaufstellungen, Gründer der »Schule des Schauens – Familienstellen und Aufstellungsarbeit im Geiste west-östlicher Weisheit«. Nähere Informationen finden Sie unter: www.harald-homberger.de Heiko Kleve Prof. Dr. phil. Heiko Kleve, Soziologe und Sozialpädagoge, ist Inhaber des Lehrstuhls für Organisation und Entwicklung von Unternehmerfamilien am WIFU – Wittener Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke. Er hat Zusatzqualifikationen als Systemischer Berater (DGSF), Supervisor/Coach (DGSv), Systemischer und Lehrender Supervisor (SG) und Konflikt-Mediator (ASFH). Seit ca. zwanzig Jahren beschäftigt er sich praktisch und wissenschaftlich mit systemischen Aufstellungen. Er leitet Weiterbildungen zum systemischen Coaching, insbesondere mithilfe von Systemischen Strukturaufstellungen an der Fachhochschule Potsdam und am Professional Campus der Universität Witten/Herdecke. Weitere Informationen finden Sie unter: www.heiko-kleve.de Kerstin Kuschik Kerstin Kuschik ist Literaturwissenschaftlerin, M. A., Heilpraktikerin (psych.), Hypnotherapeutin und Systemaufstellerin (DGfS) und arbeitet als Coach, Trainerin und Therapeutin in Hochschulen, Unternehmen und in eigener Praxis in Frankfurt am Main. Nähere Informationen finden Sie unter: www.kuschikstimmt.de Thomas Latka Dr. phil. Thomas Latka hat Philosophie, Soziologie und Psychologie in Frankfurt am Main, München und Kyoto (Japan) studiert, 2002 hat er über interkulturelle systemische Ansätze promoviert. Seitdem ist er als Software-Experte, Unternehmensberater, agiler und systemischer Coach sowie Dozent für systemische Therapie und Philosophie an Hochschulen und Lehrinstituten tätig. Er ist Mitgründer des Münchner Arbeitskreises für Neue Phänomenologie und hat eine therapeutische Praxis für Systemaufstellungen und Hypnosystemik in München. Außerdem sind folgende Schwerpunkte seiner Arbeits- und Forschungsprojekte zu nennen: Agile Transformation, Japanische Philosophie, Buddhistische Heil-

Die Autorinnen und Autoren

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kunst, Therapeutische Wirkungsforschung, Topologie. Nähere Informationen finden Sie unter: www.tomlatka.de Christiane Lier Christiane Lier, Diplom-Psychologin, arbeitet als systemische Familientherapeutin (DGSF) und Supervisorin (SG) seit 1990 in eigener Praxis mit Einzelnen, Paaren und Teams. Im Erstberuf ist sie Erzieherin, deshalb ist einer ihrer Schwerpunkte die Beratung von Eltern zu Fragen der Entwicklung ihrer Kinder. Zusammen mit Holger Lier, ihrem Bruder, bietet sie als Lehrtherapeutin für Systemaufstellungen (DGfS) Aufstellungswochenenden und Weiterbildungen zu Systemaufstellungen an. Als Autorin von Kinderbüchern bringt sie die Aufstellungsarbeit Kindern und ihren Bezugspersonen näher. Nähere Informationen finden Sie unter: www.Christiane-Lier.de Holger Lier Holger Lier, Diplom-Sozialpädagoge (FH), ist Lehrtherapeut für Systemische Therapie (DGSF) und Sprecher der Fachgruppe Systemische Aufstellungen im Verband der DGSF. Für die DGfS ist er als Lehrender zertifiziert und arbeitet dort im Ethikbeirat mit. Als Seminarleiter an verschiedenen Instituten bietet er Weiterbildungen in systemischer Aufstellungsarbeit und Systemischer Beratung/ Therapie an. Dazu kommen Tätigkeiten in eigener Praxis und Supervision von Teams. Nähere Informationen finden sie unter: www.Holger-Lier.de Albrecht Mahr Dr. Albrecht Mahr ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalyse und Systemtherapie. Er lehrt und praktiziert weltweit Systemaufstellungen, die er in den letzten Jahren zunehmend mit dem Ridhwan-­Ansatz/ Diamond Approach verbindet, einer Kombination von nicht-konfessioneller Spiritualität und Tiefenpsychologie. Zu seinen Veröffentlichungen zählen die Bücher: »Konfliktfelder – Wissende Felder – Systemaufstellungen in der Friedens- und Versöhnungsarbeit« (Hrsg., 2003) und »Von den Illusionen einer unbeschwerten Kindheit und dem Glück, erwachsen zu sein« (2016). Nähere Informationen finden Sie unter: www.mahrsysteme.de Georg Müller-Christ Georg Müller-Christ ist Professor für Nachhaltiges Management an der Universität Bremen. Er entwickelt Systemaufstellungen zu einer Forschungsmethode im Rahmen der qualitativen Sozialforschung weiter und hat dabei den Begriff der Erkundungsaufstellung geprägt. Er ist infosyon-Mastertrainer und bietet eine

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Die Autorinnen und Autoren

Fortbildung zur Aufstellungsleitung in Führungs-, Forschungs- und Weiterbildungskontexten an (www.mc-managementaufstellungen.de). Zahlreiche Publikationen finden sich auf seiner Uni-Homepage: www.wiwi.uni-bremen.de/nm Kirsten Nazarkiewicz Kirsten Nazarkiewicz ist Professorin für Interkulturelle Kommunikation und Leiterin des bilingualen und multikulturellen Studiengangs für Interkulturelle Kommunikation und Europäische Studien (ICEUS) an der Hochschule Fulda. Sie ist Sozialwissenschaftlerin (Dr. rer. soc.), Erwachsenenpädagogin (M.A.) und Traumatherapeutin und absolvierte eine Ausbildung zur Integrativen Praxis von Systemaufstellungen bei Albrecht Mahr. Sie ist Mitgesellschafterin von consilia cct. Bei ihren zahlreichen Publikationen bildet zum Thema Aufstellungsarbeit u. a. die Qualität in der Aufstellungsleitung einen Schwerpunkt (hierzu hat sie gemeinsam mit Kerstin Kuschik veröffentlicht). Sie ist Mitglied der Redaktion der »Praxis der Systemaufstellung«. Nähere Informationen unter: www.­mimesys. net und www.consilia-cct.com. Olivier Netter Olivier Netter ist Jahrgang 1955. Er weist ein abgeschlossenes Studium in Linguistik, Literatur und Philosophie auf. Als Grafologe BGG/P arbeitet er auf gestaltheoretischer Basis, seit 1989 mit eigener Praxis in Berlin für Personalauswahl und -entwicklung und Paarberatung. Er ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der europäischen Gesellschaft für Schriftpsychologie EGS Zürich. 2003 hat er eine Ausbildung zum Schreibbewegungstherapeuten absolviert. Er arbeitet therapeutisch mit Kindern und Jugendlichen und hat sich 2007 zum Familien-, System- und Organisationsaufsteller bei Albrecht Mahr weitergebildet. Er ist HP für Psychotherapie und anerkannter Systemaufsteller im DGfS sowie Redakteur des FORUMs der PdS. Frank Oberzaucher Frank Oberzaucher, Mag. Dr. phil., Soziologe, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Senior Lecturer für Qualitative Forschungsmethoden und Interaktionsforschung im FB Geschichte und Soziologie an der Universität Konstanz. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Soziologie der Arbeit und Berufe, medizinische und therapeutische Interaktion, Soziologie der Achtsamkeit. Annika Schmidt Annika Schmidt ist Jahrgang 1989, M. A. in Interkultureller Kommunikation, Kulturanthropologin und Japanologin B. A., Teamtrainerin und Moderatorin

Die Autorinnen und Autoren

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für teamdynamische Prozesse, interkultureller Coach sowie Reiki-Meisterin. Fasziniert von der Vielseitigkeit und Vielfältigkeit wissenschaftlicher sowie tagtäglicher Perspektiven, erforscht sie im Rahmen ihrer Promotion zurzeit das »Zwischen« menschlicher Beziehungen und wie dieses proxemisch erlebt und ausgehandelt sowie sprachlich erfahren und reflektiert wird. Jakob R. Schneider Jakob R. Schneider bietet seit 1985 psychologische Beratung und Selbsterfahrungsseminare mit Familienstellen in eigener Praxis an. Darüber hinaus leitet er Supervisionen und Fortbildungsseminare in nationalen und internationalen Institutionen und Instituten. Er hat sich auch durch seine langjährige Mitarbeit in der DGfS und an der Zeitschrift »Praxis der Systemaufstellung« verdient gemacht. Zu seinen Veröffentlichungen zählen u. a.: »Das Familienstellen. Grundlagen und Vorgehensweisen« (2014, 3. Aufl.) und »Herkunft, Schicksal und Freiheit. Das Gruppenunbewusste in Familiensystemen und Familienaufstellungen« (2016). Nähere Informationen finden Sie unter: www.j-r-­schneider.de Jan Weinhold Jan Weinhold ist Professor für Beratungspsychologie und Coaching an der Deutschen Hochschule für Gesundheit und Sport (DHGS) in Berlin. Weiterbildungen hat er u. a. in Systemischer Therapie/Beratung absolviert. Er hat vielfältige Forschungsprojekte und Veröffentlichungen in den Bereichen Systemische Beratung/Therapie, Kulturpsychologie und Ritual Studies sowie Gesundheitsprävention vorzuweisen. Er koordinierte eine Studie zur Wirksamkeit von Systemaufstellungen an der Universität Heidelberg (publiziert als »Dreierlei Wirksamkeit« im Carl-Auer-Verlag). Darüber hinaus ist er praktisch in den Bereichen Coaching, Organisationsberatung und Supervision tätig. Seine Kontaktadresse lautet: [email protected] Christoph Wild Christoph Wild ist 1940 geboren, hat in Löwen, München, Paris und Saarbrücken Philosophie studiert und dann nach Promotion und Habilitation an der Ludwig-Maximilians-Universität als Privatdozent Philosophie gelehrt. Von 1975 bis 2003 war er Geschäftsführer des Kösel-Verlags in München. Er ist Autor mehrerer Bücher und Zeitschriftenartikel.

Über die Künstlerin Petra Wagner

Petra Wagner, geboren 1959 in einem kleinen Dorf bei Würzburg, lebt mit ihrer Familie in Oberbayern. Ihre künstlerische Ausbildung erhielt sie durch langjährige Studien bei Prof. Heribert Losert in Aquarelltechniken und Hans-Jürgen Gartner im Zeichnen (Mensch, Perspektive u. a.). Sie ist freischaffende Künstlerin und als Mitglied der Spirituellen Leitung der »Wolke des Nichtwissens – ­Kontemplationslinie Willigis Jäger« als Kontemplationslehrerin tätig. Ihre Arbeiten entstehen in der Stille – aus der Stille – durch die Stille. Nach zwanzig Jahren künstlerischer Tätigkeit hat die spirituelle Übung (seit 1998) die Ausdrucksweise der Bilder radikal verändert. Tiefe Erfahrungen der Präsenz der Stille entziehen dem »Wollen« die Macht und lassen keinen Raum für Konzepte. Was auch immer an Konzept entstanden sein mag, löst sich auf, wenn die Hand den Pinsel greift. Die Hände, geübt im Handwerk (im wahrsten Sinn des Wortes) und in den Techniken, werden zum Instrument dessen, was Hier und Jetzt Ausdruck finden darf – jenseits aller vorgestellten Vorstellungen. Das Wie wird wesentlicher als das Was. Das Wortspiel der »vorgestellten Vorstellungen« lässt erahnen, worum es in der Tiefe geht. Eine Vorstellung hat die Qualität, etwas »davor zu stellen – ein Bild, entstanden aus den eigenen Erfahrungen und inneren Konsequenzen. Dieses eigene Bild birgt die Möglichkeit, sich vor das zu stellen, was in diesem Augenblick als Bewegung Ausdruck finden will. Die Essenz verliert in ihrer Gestaltfindung an Kraft. In der Stille entfaltet sich die Wirklichkeit. Die Präsenz im Hier und Jetzt führt in eine Offenheit und Weite, die die Qualität dessen, was sich durch Form und Farbe zeigen möchte, sichtbar werden lassen kann. Die Stille ist die Lehrmeisterin für den künstlerischen Ausdruck. »Die Kunst ist die Schwester der Mystik« (Willigis Jäger).

Über die Künstlerin Petra Wagner

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Folgende Buchillustrationen sind nennenswert: »Anders von Gott reden« (Willigis Jäger, 2008, Petersberg: Via Nova Verlag), »Die Flöte des Unendlichen« (Willigis Jäger und Beatrice Grimm, 2016, Holzkirchen: Wege der Mystik), »Jenseits von Gott« (Willigis Jäger, 2012, Holzkirchen: Wege der Mystik), »Über die Liebe« (Willigis Jäger, 2017, München: Kösel). Ausstellungen finden regelmäßig im Raum München statt, u. a. jährlich zur »Langen Kunstnacht Landsberg am Lech«. Ihre Kontaktadresse lautet: [email protected]

Praxis der Systemaufstellung

Die Zeitschrift »Praxis der Systemaufstellung« wurde 1997 von Wilfried De ­Philipp, Jakob Schneider, Eva Madelung, Gunthard Weber u. a. ins Leben gerufen. Ab 1998 erschien sie fast zwanzig Jahre lang zweimal jährlich als Fachzeitschrift, die sich den verschiedenen Aspekten der Aufstellungsarbeit widmete. Herausgegeben im Namen der Deutschen Gesellschaft für Systemaufstellungen (DGfS), erscheint die »Praxis der Systemaufstellung« (PdS) seit 2017 einmal jährlich als Jahrbuch im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. Das PdS-Printarchiv mit Zugang zu allen zwischen 1998–2017 publizierten Artikeln der ehemaligen Zeitschrift finden Sie im PDF-Format auf der Website: www.praxis-der-systemaufstellung.de Bislang bei Vandenhoeck & Ruprecht veröffentlichte PdS-Jahrbücher: ȤȤ Trauma und Begegnung (2017) ȤȤ Einflüsse der Welt – individuelles Schicksal im kollektiven Kontext (2018) ȤȤ Essenzen der Aufstellungsarbeit (2019) In Vorbereitung: ȤȤ Aufstellungen im Arbeitskontext (2020)