Aufstellungen im Arbeitskontext: Praxis der Systemaufstellung [1 ed.] 9783666407062, 9783525407066


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German Pages [285] Year 2020

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Aufstellungen im Arbeitskontext: Praxis der Systemaufstellung [1 ed.]
 9783666407062, 9783525407066

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Format: Bez.155x232, Aufriss: HuCo

25 mm

Kirsten Nazarkiewicz / Kerstin Kuschik (Hg.) Die Herausgeberinnen Dr. Kirsten Nazarkiewicz ist Professorin für Interkulturelle Kommunikation an der Hochschule Fulda und Gesellschafterin von consilia cct in Frankfurt a. M. (www.consilia-cct.com).

Aufstellungen im Arbeitskontext

Kerstin Kuschik ist Literaturwissenschaftlerin, M. A., Heilpraktikerin (psych.), Systemaufstellerin (DGfS) und arbeitet in eigener Praxis in Frankfurt a. M. (www.kuschik-stimmt.de). Beide sind Mitglied in der Redaktion »Praxis der Systemaufstellung«.

Praxis der Systemaufstellung

Aufstellungsarbeit rückt weiter ins Zentrum von zukunftsorientierten Beratungen und Betrachtungen unternehmerischen und organisationalen Handelns. Denn sie ist eine der systemischen Methoden, welche zweierlei darstellen und begleiten kann: Erstens kann sie die Komplexität abbilden, die sich hinsichtlich der drängenden und zu lösenden Fragen rund um operative, strategische und visionäre Entscheidungen in Organisationsprozessen ergibt, und zweitens erfasst sie auch den emotionalen Anteil der Entwicklungen von Organisationen sowie der Menschen in ihnen. Die Beiträge der Autorinnen und Autoren geben Einblicke in einige der vielfältigen Arbeitskontexte für Systemaufstellungen jenseits therapeutischer Wirkungsstätten. Gruppiert in die Kapitel »Transformation«, »Non-Profit-Organisationen« und »Business« werden Vorgehensweisen, Fallbeispiele und Anwendungsbereiche praxisorientiert vorgestellt und mit systemischer Expertise reflektiert. Es zeichnet sich dabei schon jetzt ab, dass die Aufstellungsarbeit auch die nächsten Schritte der Digitalisierung mitgehen wird.

ISBN 978-3-525-40706-6

9 783525 407066

Nazarkiewicz / Kuschik (Hg.)  Aufstellungen im Arbeitskontext

Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Systemaufstellungen

Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Systemaufstellungen Im Namen der Deutschen Gesellschaft für Systemaufstellungen gGmbH herausgegeben von Kirsten Nazarkiewicz und Kerstin Kuschik

DGfS gGmbH, von-Beckerath-Platz 7, 47799 Krefeld www.systemaufstellung.com

Kirsten Nazarkiewicz/Kerstin Kuschik (Hg.)

Aufstellungen im Arbeitskontext Praxis der Systemaufstellung

Mit Cartoons von Detlef Dolscius

Mit 37 Abbildungen und 2 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung und Illustrationen: © Detlef Dolscius Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2568-048X ISBN 978-3-666-40706-2

Inhalt

Kerstin Kuschik und Kirsten Nazarkiewicz Einführende Worte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  9 I  Fokus Transformation Klaus P. Horn Das Lächeln der Roboter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  19 Nikolaus von Stillfried, Marcus Andreas und Tim Lüschen Mit den Stimmen der Mitwelt: Aufstellungsarbeit und Naturerfahrung in Nachhaltigkeitskontexen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  33 Georg Müller-Christ Erkundungsaufstellungen: den Raum jenseits der Lösungsorientierung im Organisationskontext erforschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  53 Thomas Hafer Die Kunst der Erholung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  75 II  Fokus Non-Profit-Organisationen Ilse-Marie Herrmann Ton als Ausdrucksmittel in Systemaufstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  91 Christiane Hoffmann Aufstellungen mit Geflüchteten in Erstaufnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  111 Francisco Herrera Garrido und Maria Natividad Martínez Villar Familienaufstellungen im Strafvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  125

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Inhalt

Philipp Wradatsch Die Aufstellungsarbeit in der ambulanten Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . .  143 Horst Brömer, Christine Gräbs, Bianca Büter und Christiane Bennewitz Systemaufstellungen in der ambulanten Suchtrehabilitation: ein evaluiertes Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  161 III  Fokus Business

Stefanie Rödel Systemische Aufstellungen im Einzelcoaching von Führungskräften . . . . .  185 Stephanie Hartung Der Marken-Integrationsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  199 Romy Gerhard Radikale Innovation mit Purpose Constellations . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  217 Peter Klein und Eva Maria Kroc Organisationsaufstellung im Kontext der Steuer- und Unternehmensberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  232 Michael Wingenfeld Konfigurationen in Industrie und Wirtschaft – Erfahrungen seit 1984 . . .  253

Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  277 Über den Cartoonisten Detlef Dolscius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  282 Praxis der Systemaufstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284

Kerstin Kuschik und Kirsten Nazarkiewicz

Einführende Worte

Die als »Familienstellen« etikettierte Aufstellungsarbeit ist längst nicht mehr auf therapeutische Tätigkeiten oder auf Familiensysteme beschränkt. Als bildgebendes und lösungsorientiertes Verfahren hat sie Eingang in den Methodenkanon von Organisationsentwicklung, Beratung, Training und Coaching gefunden. In zahlreichen beruflichen Kontexten wird die systemische Aufstellungsarbeit schon lange als Entwicklungs-, Supervisions- und Unterstützungsform eingesetzt sowie mit anderen Methoden und Techniken kombiniert. Vervielfältigt haben sich auch die Bereiche und Berufsgruppen, für die Aufstellungen zum Einsatz kommen. Das Jahrbuch 2020 gibt Einblicke in einige Felder, in denen die Aufstellungsarbeit erfolgreich und gegebenenfalls modifiziert verwendet wird. Gruppiert in drei Teile nach den drei Fokussen, Transformation, Non-Profit-Organisationen und Business, zeigt dieser Sammelband, wie vielfältig, variantenreich und originell Systemaufstellungen an die jeweiligen Kontexte angeschlossen werden.

I  Fokus Transformation Klaus Peter Horn eröffnet den Band mit persönlichen Reflexionen zur Rolle der »Systemaufstellungen in der digitalen Transformation«. Deren Konsequenzen auslotend, weist er auf die Anpassungserfordernisse hin, welche Organisationen und Menschen erbringen müssen, um sich auf die Logik der künstlichen Intelligenz einzustellen, und darauf, wie sich Machtgefüge verschieben. Aufstellungen haben im Informationszeitalter indes einen kaum wägbaren Mehrwert, da sie verborgene Dynamiken und damit Informationen verfügbar machen, welche digital nicht zugänglich sind – und das in Echtzeit. Fallbeispiele aus dem Aufstellungsalltag mit Führungskräften zeigen, dass die inneren Qualitäten und

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Grundlagen von Führung wie Empathie, Achtsamkeit oder Wahrnehmung von zwischenmenschlichen Dynamiken (noch) nicht digitalisierbar sind. Haben Sie schon einmal ein Ökosystem repräsentiert? Nikolaus von Stillfried, Marcus Andreas und Tim Lüschen geben Einblicke in Aufstellungsarbeit in Nachhaltigkeitskontexten, welche erlauben, tiefe Naturerfahrungen zu machen. Sie verleihen dadurch der Mitwelt eine Stimme und ermöglichen, Fragestellungen von Organisationen und Einzelnen, die sich auf Nachhaltigkeit beziehen, zu behandeln. Zuvor jedoch sind Übungen, Meditationen und Imaginationen zur Hinführung in die Immersion, das Eintauchen in Natur, hilfreich. Die Repräsentanz natürlicher Elemente führt zu folgenreichen Berührungen und kann politischen Wandel unterstützen. Georg Müller-Christ zeigt am Format der Erkundungsaufstellungen, wie der »Raum jenseits der Lösungsorientierung im Organisationskontext« aufgesucht und untersucht werden kann. Im Unterschied zum Problem-Lösungsdenken ist der Erkundungsmodus ein Vorgehen, bei dem verschiedene Potenzialitäten, also Möglichkeitskonstruktionen ausgelotet werden. Damit dies gelingt, ist davon auszugehen, dass die Beobachtenden Teil des Systems sind, verschiedene Konstellationen zusammenwirken, Unsicherheit eine Voraussetzung für Potenzialitäten ist und nicht zuletzt: Systeme dialogfähig sind. Es geht darum, die Systeme zu befragen, sie zu lesen, mit ihnen in den Austausch zu gehen. Das Vorgehen wurde insbesondere für die Anwendung im Führungs- und Organisationskontext entwickelt und der Appell des Autors lautet: »Listen to your systems!« Thomas Hafer wendet sich dem allgegenwärtigen Phänomen der Arbeitsverdichtung, Überforderung und Erschöpfung zu und beschreibt in seinem Beitrag »Die Kunst der Erholung« ein alternatives Stressmanagement in FührungskräfteRetreats, bei dem der Aufstellungsarbeit eine zentrale Rolle zukommt. Weil die Aufstellungsarbeit Resonanzerlebnisse bietet, indem sie u. a. Wahrnehmung und Aufmerksamkeit schult, mit dem Nichtwissen arbeitet und dem Spüren leiblicher Empfindungen Vorrang einräumt, ermöglicht sie Erfahrungen, die in der Eile des Arbeitsalltags kaum mehr gemacht werden können. Am Beispiel von Selbsterforschungsübungen zeigt der Autor, wie Systemaufstellungen die Lösung innerer Erschöpfungsmuster unterstützen können.

II  Fokus Non-Profit-Organisationen Ilse-Marie Herrmann lässt uns daran teilhaben, wie in ihrer Tätigkeit pädagogisches Arbeiten am Ton und Aufstellungen systematisch einhergehen und sich befruchten können. Entlang von Fallarbeiten zeigt sie, wie Ton als poten-

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ziell offenes Material sinnliche gestalterische Möglichkeiten bietet und wie die Prozessbegleitung mit systemischen Aufstellungen ebenso wie der Ton neue Perspektiven erschließt. Es ist insbesondere die Wechselwirkung der beiden Methoden unterschiedlicher Verkörperungsarbeit, welche – auch und gerade in Situationen der Sprachlosigkeit – Impulse für Bewegungen ermöglicht. Als 2015 in der Bundesrepublik viele Erstaufnahmeeinrichtungen für Geflüchtete geschaffen wurden, waren der Bedarf an und die Notwendigkeit zur Improvisation gleichermaßen der Grund, weshalb es Freiräume gab, in denen Aufstellungsarbeit ausnahmsweise recht unbürokratisch ihren Weg in diese Behelfs-Institutionen fand. Christiane Hoffmann beschreibt anhand von Fallbeispielen, wie sie unter diesen besonderen Umständen gearbeitet hat und wie Aufstellungsarbeit in ihrer Eigenschaft, auch eine universelle Sprache zu sein, funktioniert hat. Eine der wenigen aktuellen Publikationen über die Anwendung von Aufstellungsarbeit in Gefängnissen kommt aus Spanien. Francisco Herrera Garrido und Maria Natividad Martínez Villar kombinieren als Team eine Expertise aus Sozialarbeit und Psychotherapie und konnten so seit 2008 Aufstellungsarbeit in einer Justizvollzugsanstalt etablieren. Sie beschreiben zunächst das Umfeld und wie sie vorgegangen sind, um in diesem stark reglementierten Raum genug Vertrauen und Sicherheit für Aufstellungen zu schaffen. Vornehmlich ist dies gelungen, weil eine ganzheitlich arbeitende Therapieabteilung bis in die Struktur der Anstalt hinein die Bedingungen für eine solche Gruppenarbeit mitgestaltete. Die Autor*innen identifizieren wesentliche Themen der Klient*innen, wie Schuld, Abhängigkeit, Opfer- und Tätersein, Wut oder Vernachlässigung, welche besondere Zuwendung brauchen. Sie beschreiben, wie sie durch regelmäßige Aufstellungswochenenden »Bewegungen« ermöglichen, die zu für alle heilsamen Perspektivenwechseln bis hin zu Selbstverantwortung und Versöhnung führen. Philipp Wradatsch bringt seine langjährige Erfahrung mit Aufstellungsarbeit in der institutionalisierten sozialpädagogischen Familienhilfe ein. Dies erforderte einige Pionierarbeit, denn involviert sind unterschiedliche Beteiligte wie die Familiensysteme selbst, Institutionen (Ämter, externe Leistungsträger), Krankenkassen, therapeutische, pädagogische und weitere Begleiter, die unterschiedliche Intentionen bezüglich einer Maßnahme haben, etwa was die Zielerreichung betrifft oder die Finanzierung. Der Autor führt in den Bereich mit seinen Spezifika ein und beschreibt sowohl Schwierigkeiten wie Vorgehensweise in der konkreten Arbeit. Horst Brömer, Christine Gräbs, Bianca Büter und Christiane Bennewitz haben eine umfassende Dokumentation verfasst, die auf zwölf Jahre Erfahrungen mit Aufstellungsarbeit in der Suchtrehabilitation zugreifen kann und ein anerkanntes Behandlungskonzept bereithält, das auch für ähnliche Institutionen eine

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hilfreiche, systemische Vorlage der Arbeit mit sucht- oder psychosomatisch erkrankten Menschen sein kann. Die Autor*innen beziehen alle Systemebenen in das Konzept ein: Erkrankte, Leistungsträger und -erbringer sowie die Familien. Sie geben darüber hinaus eine Einsicht in die konkrete Arbeitsweise mit Aufstellungen. So ist im Aufstellungssetting eine Stellvertretung für die Sucht obligatorisch und es werden auch reelle Angehörige eingebunden oder externe Therapeut*innen, welche die sich anschließende Einzeltherapie weiterführen.

III  Fokus Business Stefanie Rödel arbeitet als Business-Coach bevorzugt mit Aufstellungen. In ihrem Beitrag geht sie auf die besondere Eins-zu-eins-Situation im Business-Kontext ein und nutzt die hierfür typischen Settings mit Figuren, Objekten und Bodenankern. In Ihrem Beitrag beschreibt sie Fälle, Vorgehensweisen und auch ihren Umgang mit Herausforderungen aus ihrer Praxis. Dazu gehört unter anderem, welchen Kriterien sie folgt, wenn die Arbeit in die Grauzone zwischen Therapie und Coaching führt. Stephanie Hartung beschreibt den »Marken-Integrationsprozess« von Organisationen mit Hilfe der Aufstellungsarbeit. Sie überträgt und modifiziert dabei Elemente und Einsichten aus dem Format »Lebensintegrationsprozess (LIP)« von Wilfried Nelles (2014). Sie führt dafür ihr Verständnis von Marke und Organisation ein und geht davon aus, dass Organisationen sich in der Marke ihrer Identität und Vision bewusst werden. Die Autorin erläutert an Praxisbeispielen, wie der Markenkern als (unveränderliche) Ressource hier Orientierung bietet und welche Erkenntnisse aus den Erfahrungen abgeleitet werden können. An diese Gedanken anschlussfähig ist der Beitrag von Romy Gerhard, der das Format »Purpose Constellations« in der Unternehmenspraxis vorstellt. Unter »Purpose« wird in Anlehnung an Laloux (2014) der evolutionäre Sinn und Zweck eines Unternehmens verstanden, der eine Ressource für Impulse und Interventionen ist. Er wird in den entsprechenden Systemaufstellungen mit aufgestellt so dass das aktuelle Anliegen im Lichte des Potenzials des Systems betrachtet werden kann. Fragen wie Kapitalerhöhungen im dreistelligen Millionenbereich, eine Zielgruppenkonkretisierung oder Bauprojekte werden damit buchstäblich in den Zusammenhang eines größeren, für das System relevanten Ganzen gestellt. Über ihre methodischen Herangehensweisen bei »Organisationsaufstellungen im Kontext der Steuer- und Unternehmensberatung« berichten Peter Klein und Eva Maria Kroc. Sie erläutern, wie aus ihrer Erfahrung die ungewöhnliche,

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sehr spezielle Verbindung des analytischen Vorgehens aus der steuerlichen und unternehmerischen Perspektive mit der an Sachlichkeit und Zahlen orientierten Beratung und der auf Emotionen und ihren Einflüssen basierenden Orientierung an »Soft facts« gelingen kann. Hinsichtlich des Settings und Ortes, der Auftragsklärung und der Teilnehmenden sowie des Vorgehens u. v. m. steht die Aufstellungsleitung vor der Herausforderung, mehrere Erwartungsstrukturen im Blick zu halten und die je eigene(n) Berufsrolle(n) darüber kontinuierlich zu reflektieren. Die unterschiedlichen Fallstudien zeigen, wie Verquickungen zwischen betriebswirtschaftlichen und persönlichen Anliegen mit verschiedenen Aufstellungsformaten gelöst und konstruktiv begleitet werden können. Seit 35 Jahren praktiziert Michael Wingenfeld Aufstellungsarbeit in der Wirtschaft, die er – der Anschlussfähigkeit wegen – Konfigurationen nennt. Der Beitrag zeigt exemplarisch an Fallbeispielen und über verschiedene Stationen der vergangenen Jahrzehnte, wie zum Teil spontan entwickelte und später verfeinerte Aufstellungsformate entstanden sind, um Fragen zu klären wie die folgenden: Wie kann die Kapitalbindung eines Konzerns um die Hälfte reduziert werden? Oder: Wie kann eine durch internen Konkurrenzkampf induzierte Insolvenz eines Anlagenbauers verhindert werden? Neben einer Übersicht über zahlreiche kreative Formate gibt der Autor Empfehlungen, wie Aufstellungseffekte, speziell in der Industrie und in Workshops mit Technikern und Ingenieuren gelingen können. Dieser Beitrag steht für uns bewusst am Ende des Buches, weil er Pragmatik, Fülle und Selbstverständlichkeit von Aufstellungen in der Arbeitswelt – auch in ihrer digitalen Entwicklung – wiederspiegelt. In diesem Sinne rahmt er gemeinsam mit dem einleitenden Aufsatz von Horn die Beiträge des Bandes. So beeindruckend bereits diese Bandbreite von Einsatzkontexten und Format­ varianten ist, die Palette ist bei weitem nicht vollständig. Juristen und Mediator*innen stellen Konfliktparteien auf, um Lösungsansätze in verfahrenen Situationen zu finden; Regisseur*innen und Drehbuchautor*innen machen Aufstellungen, um die Dramaturgie von Geschichte und Personen im Überblick zu sehen; Wissenschaftler*innen nutzen sie als erkenntnistheoretisches Tool, um Impulse für Theorien und Projekte zu generieren, Schulsozialarbeiter*innen und Lehrer*innen schauen sich die systemischen Zusammenhänge von Schulklassen an und vieles mehr. Diese und weitere Bereiche fehlen leider im Buch. Es beansprucht für sich keine Vollständigkeit, zeigt jedoch Entwicklungslinien hinsichtlich der Anwendung von Systemaufstellungen. Es lässt sich konstatieren, dass Aufstellungsarbeit als Methode übergreifend neuen und veränderten Perspektiven auf eine Weise dient, welche an der Bezogenheit von inneren (Körper, Psyche, Bewusstsein) und äußeren Räumen (Systeme) orien-

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tiert ist. Emotionale Qualitäten, Stimmigkeit und Kongruenz als Werte, organische Dynamiken und dergleichen sind bereits seit den 1990er Jahren und der Forschung zum Thema Emotionale Intelligenz nicht mehr nur auf persönliche und familiäre Bereiche beschränkt. Peter Salovey und John Mayer (1990) haben hierzu seit 1990 geforscht und diesen Begriff eingeführt, die Neurowissenschaft lieferte zusätzliche wichtige Erkenntnisse zur Bedeutung der Emotionen an all unseren Handlungen. In zunehmend mehr Feldern wurden Beziehungen als systemdynamische Grundkräfte anerkannt – also auch in Organisationen und hinsichtlich der dort gefundenen Störungen. Sie sind eng verknüpft mit Fragen nach Innovation, Absatzmärkten, Identitätsstärkung und Markenentwicklung, Teambildung und vielem mehr. Dazu passt, dass mit den Aufstellungen eine Methode entwickelt worden ist, die dieser nun als komplex erkannten Struktur gerecht werden kann. Denn Aufstellungsarbeit kann durch die Mehrdimensionalität, die durch das Arbeiten im konkreten Raum und mit verschiedenen Zeitebenen, durch die Gleichzeitigkeit der Interaktionen mehrerer Systembeteiligter und durch die Verkörperung von Situationen (statt der sonst oft kognitiv abstrakt bleibenden Fragestellungen) entsteht, diese Komplexität umfassender aufgreifen. Das Fremdeln der Arbeitswelt mit der emotionalen Seite der zu entwickelnden oder zu klärenden Belange hat erkennbar abgenommen. Die Beiträge und Erfahrungen der allesamt schon langjährig praktizierenden Autor*innen zeugen von damit einhergehenden Konsequenzen für die Anwender*innen. Erfolgsfaktoren für Aufstellungen in Arbeitskontexten sind neben dem Aufgreifen der Komplexität vor allem undogmatische Vorgehensweisen, welche dafür sorgen, dass die Anschlussfähigkeit in die jeweiligen Arbeitsfelder und Denkweisen gewährleistet ist, wozu u. a. gehört, wie man Aufstellungsarbeit als ernstzunehmendes Vorgehen einführen kann. Dies geschieht, indem man es entweder »einfach« pragmatisch tut und damit durch das Tun die Qualität der Aufstellungsarbeit erleben lässt oder die Aufstellungsarbeit genau und mit Qualitätskriterien versehen erklärt und systematisch einbettet: bis hin zu Modellen und institutionenübergreifenden Konzepten. Überhaupt ist quer durch die Artikel deutlich sichtbar, dass die Beiträge – selbst wenn sie den Begriff nicht explizit verwenden – Zeugnis von praktizierten und sichtbaren Qualitätsnachweisen geben. Insbesondere die tiefe Verbindung durch Immersion (Eintauchen) in die jeweiligen Felder, ihre Sprachgebräuche und Logiken ist auffällig. Eindrücklich ist auch die Kreativität der Leitenden hinsichtlich der Formate bei gleichzeitigem Festhalten an Essenzen der Aufstellungsarbeit (Nazarkiewicz u. Bourquin, 2019): der Arbeit mit dem Nichtwissen. Dies ist umso notwendiger, als sie nicht nur in Arbeitskontexten, die mit dem Neuen (Wissenschaft,

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Innovation, Zukunftsfragen) oder mit mythischen, künstlerischen und religiösen Bereichen (Theater, Film, Kirche) befasst sind, mit Unsicherheit arbeiten müssen. Sie behandeln (noch) nicht zugängliche und fassbare Themen und bedienen sich der Aufstellungsarbeit gerade deshalb: Weil hier Fragezeichen aufgestellt werden können, die implizites Wissen preisgeben, oder weil die Verwandtschaft der Figuren mit unserer Person heute empfindbar ist. Wenn es für die VUCA-Welt (ein Akronym für Volatility, Uncertainety, Complexity und Ambiguity) nicht schon ohnehin der Fall war, ist spätestens durch die durch Covid-19 entstandene Krisensituation ein Handeln und Entscheiden unter den Bedingungen der Nicht-Planbarkeit und Unsicherheit erforderlich geworden. Längst gibt es Managementmethoden wie etwa die Theory U von Scharmer (2015) oder Laloux (2014), welche Systematiken vorlegen, für die das evolutionär-integrale Vorgehen zwischen Nicht-Verstehen und Sinnfindung konstitutiv ist. Dass dieser Gratwanderung, welche sich darauf einlässt, Prozessen und emergenten Lösungen Vertrauen entgegenzubringen, der Zweifel begegnet, ist nicht nur nachvollziehbar, sondern auch hilfreich für eine Weiterentwicklung. Die Skepsis in Arbeitskontexten gegenüber der Aufstellungsarbeit wie auch die Überwindung dieser Vorbehalte kann unserer Ansicht nach weder nur durch die sogenannte Hellingerkritik erklärt werden – die auch in diesem Band (wieder) einmal angesprochen wird, als Hürde nämlich, die Aufstellungsarbeit in Institutionen weiter und namentlich zu etablieren, nachdem sie zunächst recht offen angenommen wurde – als auch nur durch die uneinheitlichen Arbeitsweisen und Formate. Die Vorsicht gegenüber der Methode, die bis hin zum Argwohn reicht, lag und liegt auch in der ungewohnten Anerkennung einer nicht aufteilbaren Wirklichkeit: dem unbedingten Zusammenhang von Emotion und Kognition oder von Spiritualität und Faktizität. Sicher, der recht opake Begriff der Ganzheitlichkeit als Wert ist auch in der Arbeitswelt angekommen. Er findet Ausdruck in Konzepten zur Work-Life-Balance und in Aktivitäten in Bezug auf Nachhaltigkeit und ein Denken in globalen Dimensionen. Doch diese komplexere und umfassendere Wirklichkeit will auch erlebt und als Resonanzfeld genutzt werden: etwas, das – dies zeigen die Beiträge durchgängig – die Aufstellungsarbeit offenkundig bietet, ob mit konkreten Personen oder als Figuren- und Objektaufstellung. Wir dürfen gespannt sein, wie die Methode weiter genutzt wird und wirkt, wenn etwa Avatare oder andere Umsetzungen mit künstlicher Intelligenz eingesetzt werden und Interventionen bereits jetzt von Computerprogrammen vorgenommen werden. Die Beiträge in diesem Band und auch die anderen arbeitsweltlichen Aufstellungserfahrungen, die hier nicht enthalten sind, zeigen jedenfalls eindrücklich, dass mit der Methode einerseits die cartesianische Lücke weiter geschlossen wird

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und wie sie andererseits gleichermaßen eine Möglichkeit bietet, Raum für das Neue offen zu halten. Bei all dem können wir beobachten, dass den Systemaufstellungen mit zunehmender Selbstverständlichkeit und auch mit mehr Leichtigkeit begegnet wird, ob dies eine professionelle Experimentierfreude von Aufstellungsleiter*innen in beruflichen Settings betrifft – also einem Bereich jenseits von Lern- und Peergruppen – oder humorvolle Bemerkungen über die ja teilweise immer wieder sehr ungewöhnlichen Geschehnisse in Aufstellungen und die hier verwendete Sprechweise und Begrifflichkeit. Aufstellungsarbeit vereint mittlerweile alle wesentlichen Faktoren einer etablierten Methode: Sie ist in Theorie und Praxis weitgehend bekannt, wird von innen und außen kritisiert, beforscht und weiterentwickelt. Es bleibt zu hoffen, dass die augenzwinkernde Brechung ernster Themen und Anliegen durch die Zeichnungen von Detlef Dolscius ebenfalls als Raum für das Neue gesehen werden kann.

Literatur Laloux, F. (2014). Reinventing Organizations. Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. München: Vahlen. Nazarkiewicz, K., Bourquin, P. (Hrsg.) (2019). Essenzen der Aufstellungsarbeit. Praxis der Systemaufstellung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Nelles, W. (2014). Die Sehnsucht des Lebens nach sich selbst. Der Lebensintegrationsprozess in der Praxis. Köln: Innenwelt Verlag. Salovey, P., Mayer, J. (1990). Emotional Intelligence. Imagination, Cognition, and Personality. Sage Journals, 9 (3), 185–211. Scharmer, C. O. (2015). Theory U. Leading from the Future as It Emerges. Oakland, CA: BerrettKoehler Publishers.

I  Fokus Transformation

Klaus P. Horn

Das Lächeln der Roboter Systemaufstellungen in der digitalen Transformation

In zwei Jahrzehnten praktischer Arbeit mit Systemaufstellungen im Unternehmenskontext hat mich keine Entwicklung so elektrisiert wie die digitale Transformation. Dabei bin ich weder besonders technikbegeistert noch verbringe ich mehr Zeit als nötig vor Bildschirmen. Es ist etwas anderes, was mein Interesse weckte: Begriffe wie »Disruption« und »Transformation«, die bisher eher zum Sprachgebrauch von Philosophen gehörten, fallen heute in vielen Teammeetings und fehlen in kaum einem Geschäftsführungs-Statement. Wo bislang allein Wissen und Rationalität den Ton angaben, ist nun auch von »Nichtwissen« und dem »Unbekannten« in der digitalen Zukunft die Rede. Viele sind verunsichert und fürchten um ihre Arbeitsplätze, weil sie den angesagten Jargon nicht sprechen und nicht hinreichend affin mit einer »schönen, neuen Welt« sind, in der Roboter Teammitglieder werden und Alexa und Siri erste nicht-menschliche Familienangehörige. Bisher ist es eher eine Art neuer Elite, die Werte wie Sharing, Community, Team, Lab, Co-Working oder Co-Creating aufnehmen und leben kann. Sie ist in ihrem Element, wenn über Abteilungs- und Unternehmensgrenzen hinweg großzügig die wichtigste Ressource des neuen Zeitalters geteilt wird: Information. Wie aber können wir die vielen mitnehmen, die nicht im angesagten »Mindset« angekommen sind? Was brauchen Menschen, wenn sich alte Strukturen und Hierarchien auflösen? Das Gefühl, ernst genommen zu werden und dazuzugehören! Welcher Ansatz wäre geeigneter, diese Themen in den Blick zu nehmen als die Systemaufstellung? Kaum ein Unternehmen kann oder will die Mehrheit seiner Mitarbeiter durch solche mit »digitalem Mindset« ersetzen. Also müssen Unternehmer und Manager die Sorgen und Befürchtungen ihrer Mitarbeiter ernst nehmen! Wie fühlt sich eine Mitarbeiterin, wenn ihr Wissen, ihre Fachkompetenz und Berufserfahrung sowie ihre Denk- und Entscheidungsfähigkeiten plötzlich

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Klaus P. Horn

nichts mehr wert sind? Wie geht es einem Mitarbeiter, wenn er statt mit Kollegen mit Robotern sprechen und zusammenarbeiten soll? Wie reagiert sie, wenn ihr Job von künstlicher Intelligenz übernommen wird, die ihre Aufgaben fehlerfrei und schneller bewerkstelligen kann?*

Das Ende der Leistungsgesellschaft? Ob in Europa oder Asien, ob in globalen Konzernen oder regional verwurzelten Familienunternehmen – die Herausforderungen von »Industrie 4.0« liegen in einer Symbiose, die es so noch nicht gab. Menschen mit ihren Emotionen, Bedürfnissen und Werten müssen sich auf die digitale Logik künstlicher Intelligenz einstellen – und diese wiederum auf unser unlogisches oder psycho-logisches Innenleben. Dafür braucht es Expertenwissen und neues Denken – vor allem aber ein neues Bewusstsein! Besonders deutlich wird das, wenn DigitalVisionäre von einer autonomen Produktion schwärmen. Das Szenario einer vollständig automatisierten Produktion, verbunden mit Online-Vermarktung und -Vertrieb macht aus der Mehrheit der heute erwerbstätigen Menschen beschäftigungs- und einkommenslose Konsumenten. Ohne Kaufkraft können sie allerdings die von Robotern hergestellten Güter der schönen, neuen Welt nicht erwerben. Sie brauchen also ein Einkommen. Woher soll das kommen, wenn nicht mehr aus entlohnter Tätigkeit? Die wenigen Herrscher über eine automatisierte Industrie würden es ihnen zur Verfügung stellen müssen, denn sonst blieben sie auf ihren selbstfahrenden Elektroautos und vernetzten Smart-Home-Einrichtungen sitzen! Das hätte eine gewisse Komik: Hersteller geben ihren eigenen Kunden Geld in die Hand, damit die ihre Waren kaufen können – so wie Kinder früher Kaufmannsladen gespielt haben. Das müsste dann wohl diskreter Weise indirekt über Unternehmensbesteuerung abgewickelt werden, mit der ein Grundeinkommen für alle finanziert würde. Welche sozialen Folgen hätte ein solches Szenario? Was würde eine beschäftigungslose Bevölkerung tun? Wie würde sie leben? Welche Konflikte wären zu erwarten? Welche Chancen würden sich eröffnen?

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Die Geschlechterbezeichnungen wechseln in diesem Beitrag willkürlich zwischen weiblicher und männlicher Form: Gemeint sind immer alle Geschlechter.

Das Lächeln der Roboter

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Bisher werden Fragen nach dem Ende der Leistungsgesellschaft mit dem beschwichtigenden Hinweis beiseite gewischt, dass die digitale Transformation sogar mehr Arbeitsplätze schaffe als vernichte. Das wird sich zeigen – oder auch nicht. Hinter den Befürchtungen stehen allerdings auch diffuse Ängste. Sie werden von einem tiefen Ohnmachtsgefühl gespeist: Mit künstlicher Intelligenz (KI) fühlen sich viele einer unergründlichen Macht ausgeliefert. Sie wird wie eine gottähnliche Instanz erlebt, auf die wir keinerlei Einfluss haben. Zu den alten, persönlichen Gottheiten können die Menschen noch beten und so in eine Art Dialog mit der höheren Macht treten. Das ist mit KI nicht möglich, denn wir wissen sicher, dass sie von Menschen hergestellt wurde. Deshalb werden ihr auch keinerlei tröstliche Attribute wie Liebe, Güte und Weisheit wie unseren alten Göttern zugeschrieben. Schließlich kennen wir uns selbst zu gut, um daran zu glauben, dass unsere eigenen Humunculi mit uns Gutes im Schilde führen könnten.

Systemaufstellungen in der Digitalisierung Mit der Anwendung der Aufstellungsmethode in vielen Ländern hat sich über die Jahre eine methodische Kompetenz entwickelt, deren Nutzen jetzt voll in den Blickpunkt rückt. Es wirkt fast so, als hätte sie sich für ihren Einsatz in der Digitalisierungs-Liga warmgelaufen. Im Spannungsfeld zwischen digitaler Effektivität und menschlicher Realität ist sie als Methode wie vielleicht keine andere dafür geeignet, Zusammenhänge nicht nur abzubilden, sondern Wirkungen und Ursachen bewusst erlebbar und erfahrbar werden zu lassen. Diese Verbindung rationaler Analyse mit Bauchgefühl und Intuition hat das Potenzial, Perspektivenwechsel und kreative Lösungen anzustoßen. Information ist die Schlüsselressource unserer Zeit. Doch digitale Information spricht nur einen Teil unserer menschlichen Wirklichkeit an – den des Machbaren und Zählbaren. Der besondere Mehrwert von Systemaufstellungen liegt in ihrer Fähigkeit, Informationen zu lesen, die rational und digital nicht zugänglich sind. Es sind verborgene, unsichtbare Dynamiken, die wir nicht immer definieren, aber deutlich spüren können. Unternehmenskulturen werden von ihnen geprägt und gefärbt. Von systemischer Stimmigkeit hängen die Zufriedenheit von Mitarbeitern, die Kreativität in einem Team und der Erfolg eines Unternehmens entscheidend ab. Systemaufstellungen nutzen eine intuitive Sprache, mit der wir alle vertraut sind, ohne sie jemals gelernt zu haben. Sie können helfen, verborgene Fallstricke in der Digitalisierung ans Licht zu bringen und Schieflagen auszugleichen.

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Information zweiter Ordnung Bewusstsein ist qualitative Information oder Information zweiter Ordnung. So wie Sie sich selbst beobachten können, während Sie lesen, also eine Information aufnehmen, können Sie das Sich-selbst-Beobachten auch im alltäglichen Handeln üben. Folgendes Beispiel verdeutlicht, wie sich das Sich-selbst-Beobachten in einer Konfliktsituation zwischen zwei Kollegen einüben und im Sinne einer hilfreichen Moderatorenrolle nutzen lässt: Zwei Kollegen haben ein Streitthema miteinander und bitten mich, ihren Konflikt zu moderieren. Während ich ihnen zuhöre, ist meine Aufmerksamkeit bei ihren verschiedenen Standpunkten, die ich versuche, nachzuvollziehen. Zugleich ist mir bewusst, dass ich nicht Partei ergreifen darf, wenn ich meine Aufgabe als Moderator erfüllen möchte. Wenn mir nun die Sichtweise eines Konfliktpartners persönlich näher oder die Person mir sympathischer ist, muss ich innerlich einen Schritt zurücktreten. Ich beobachte also nicht nur das Konfliktgespräch, sondern ebenso mich selbst mit meinen inneren Impulsen. Und ebenso wie ich keinen der Kontrahenten bevorzugen darf, verfahre ich auch mit meinen inneren Reaktionen. Gelingt es mir, meine emotionalen Impulse wahrzunehmen, ohne ihnen zu folgen, bin ich möglicherweise in der Lage, bewusst zu antworten, statt automatisch zu reagieren. Ich handele dann verantwortlicher. Das ist nicht einfach, denn eigene blinde Flecken können mir die Sicht verstellen, ohne dass ich es bemerke! Diese Gefahr wächst, je mehr Menschen an einem Entscheidungsprozess beteiligt sind.

Im Unternehmensalltag geht es um Projekte, in die verschiedene Fachteams ihre unterschiedlichen Herangehensweisen einbringen. Innerhalb der Teams prallen gegensätzliche, individuelle Sichtweisen aufeinander. Was am Ende herauskommt, ist nicht allein von rationalen Gesichtspunkten bestimmt, sondern ebenso von zwischenmenschlichen Dynamiken, die unbewusst und daher auch unreflektiert Ergebnisse mitbestimmen. Deshalb ist Information über den Prozess – Information zweiter Ordnung – als Korrektiv so notwendig! Systemaufstellungen leisten genau das – und mehr! So wie ein einzelner Mensch durch Erkenntnis und Übung allmählich bewusster handelt, können auch Teams und Unternehmen beginnen, sich zu erkennen und zu verändern. Organisationen, Unternehmen und Märkte sind einerseits zu komplex, um sie allein analytisch vollständig beschreiben und abbilden zu können. Andererseits brauchen wir in diesen Systemen einen klaren Blick für ihre Tiefenstrukturen, um Probleme zu lösen und Ziele zu erreichen. Wir brauchen ihn, um die

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blinden Flecken in unseren Kommunikations- und Entscheidungsprozessen zu erkennen. Ganz besonders gilt das, wenn wir in unserem täglichen Tun immer mehr den immensen Möglichkeiten künstlicher Intelligenz überlassen sind. Aufstellungen können verborgene Dynamiken in einer Organisation sichtbar werden lassen. Warum geht es beispielsweise nach einer Fusion zweier Unternehmen der gleichen Branche abwärts? Warum stellen sich die gewünschten Synergie-Effekte nicht ein? Eine Aufstellung kann hier Klarheit bringen. Häufig zeigt sich, dass die Mitarbeiterinnen des zugekauften Unternehmens sich dem neuen Gesamtunternehmen nicht zugehörig fühlen. Die Suche nach pragmatischen Lösungen kann zu der Einsicht führen, dass es keine gute Idee war, den Namen des zugekauften Unternehmens nach dem Merger zu streichen. Die Mitarbeiter verlieren so ein Stück ihrer Identität. Bleibt der Name im neuen Gesamtunternehmen erhalten, etwa Unternehmen B in der Unternehmensgruppe A, fühlen sie sich eher einbezogen und verbunden. Mit erweiterter Information durch Systemaufstellungen kann ein Managementteam seine Entscheidungen überprüfen und Kurskorrekturen vornehmen. Damit das gelingt, müssen die Manager lernen, Perspektivenwechsel zu vollziehen, und bereit sein, ihre Entscheidungen, Strategien und Ziele infrage zu stellen. Systemaufstellungen ermöglichen nicht nur punktuelle Erkenntnis, sondern auch Begleitung und Monitoring in schnellen und oft überfordernden Veränderungsprozessen. Das ist notwendig, denn es geht in der Digitalisierung nicht allein um technische Fitness, sondern um langfristige Integrität und Resilienz.

Gewinner und Verlierer Die Umbrüche und schnellen Veränderungen, mit denen die digitale Transformation das Informationszeitalter einläutet, treffen die meisten unvorbereitet. Der Boden unter den eigenen Füßen scheint zu schwanken, nichts ist mehr, wie es war, und niemand weiß, wie es weitergeht. Bei Gefahr übernimmt unser »Urwaldgehirn« die Führung und wir reagieren mit Kampf, Flucht oder Totstellen bzw. Unterwerfung. Bewusste Wahlmöglichkeiten gibt es in einem solchen Überlebensmodus nicht mehr. Viele versuchen, die empfundene Bedrohung zu regulieren, indem sie sich überanpassen. Sie bemühen sich, stets agil und flexibel zu wirken oder nur noch Digital-Denglisch zu sprechen. Manche hoffen einfach, dass der Kelch an ihnen vorüber geht. Und andere fühlen sich weder bedroht noch überfordert, sondern in der digitalen Welt zuhause. Die Gewinner in den Internetkonzernen verhalten sich als Sieger so, als gelte nun nach den Dschungelgesetzen ausschließlich ihr »Recht des Stärkeren«, das

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sie berechtigt, die Welt nach ihren Vorstellungen umzugestalten: »The winner takes it all!« Der Gründer von Amazon wollte sein Unternehmen ursprünglich »Relentless«, gnadenlos, nennen, entschied sich dann aber für den bekannten, großen Strom, jene Lebensader des Planeten, die vor allem durch die rücksichtslose Abholzung an ihren Ufern in der Diskussion ist.

Systemische Wirkungen der Macht Wie massiv sich die Digitalisierung auf Organisationssysteme auswirkt, zeigt sich in kleineren Unternehmen und Konzernen gleichermaßen deutlich. Mancherorts bewirkt sie radikale Machtwechsel. Alte, gewachsene Strukturen werden von digitalen Start-ups entmachtet. Systemaufsteller in verschiedenen Ländern haben ihre Beobachtungen in »systemischen Prinzipien« bzw. »Systemgesetzen« formuliert. Sie beschreiben beobachtbare Mechanismen, nach denen Organisationen und Unternehmen funktionieren, um zu überleben. Einer dieser Erfahrungswerte ist der »Vorrang der Früheren vor den Späteren«. Gemeint ist damit, dass das Neue auf der Basis des Alten aufbaut und deshalb gut daran tut, diese Tatsache anzuerkennen. Analog zu den Jahresringen eines Baumes wachsen die neuen Ringe auf den alten, würden also nicht existieren, gäbe es die vom Vorjahr nicht. Wie disruptiv kann digitale Disruption hier wirken? Holzt sie gleich den ganzen Wald ab, um ihn flächendeckend durch G5-Sendemasten zu ersetzen? Hoffentlich nicht! Auch digitalisierte Unternehmen bauen auf Vorhandenem auf. Wie »new« und »digital« sie sich auch geben – auch Start-ups arbeiten in bekannten Teamstrukturen. Wenn Teamleiter wechseln, gilt nach wie vor, dass die Neue schlecht beraten ist, wenn sie sofort beginnt, alle Teamstrukturen umzukrempeln und nach ihren Vorstellungen zu ändern – nach dem Motto: »Alles Schnee von gestern.« Sie wird massiven Widerstand erfahren, mit dem die Teammitglieder ihr deutlich machen, dass sie ihre Ziele nur mit ihnen erreichen kann. Wenn sie von den Erfahrungen des Teams zu lernen bereit ist, wird sie als neue Chefin schneller akzeptiert.

Systemische Erfahrungswerte in Mensch-Roboter-Teams In Mensch-Roboter- bzw. KI-Teams müssen möglicherweise die bekannten systemischen Prinzipien um solche ergänzt werden, die spezifisch im Kontext von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz zu beobachten sind. Beispielsweise:

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Ȥ Menschen haben Vorrang vor Robotern. Ȥ Menschliche Bedürfnisse haben Vorrang vor Machbarkeit. Ȥ Menschliche Intelligenz hat Vorrang vor künstlicher Intelligenz. Erste Erfahrungswerte stützen solche Hypothesen, sind allerdings noch im Anfangsstadium. Viele Fragen sind in dem Zusammenhang offen, beispielsweise, ob ein Sprachroboter ein Du wie ein Mensch sein kann. Manche Exemplare dieser Gattung arbeiten bereits im Mitarbeitercoaching. Sie verfügen über ein Programm non-direktiver Gesprächsführung, mit dem sie Anliegen ihrer Coachees spiegeln. Um das Programm zu aktivieren, benötigen sie lediglich die Ansage: »X, ich habe ein Problem«, und schon paraphrasieren und verbalisieren sie Konfliktthemen nach allen Regeln gewaltfreier Kommunikation. Dabei wirkt die Computerstimme auf ihre »Klientinnen« oft warm und mitfühlend und ist, wenn das Coachingprogramm auf einem humanoiden Roboter genutzt wird, von dessen freundlichem Lächeln begleitet. Kann ein Roboter lächeln? Wer lächelt da? Kann ein Computerprogramm mitfühlen? Wessen Herz öffnet sich? In einem alten buddhistischen Tempel der japanischen Stadt Kyoto predigt ein Roboter, dessen Wärme und Weisheit nicht nur von manchen Besuchern gepriesen wird: »›Das wird den Buddhismus verändern‹, schwärmt einer der menschlichen Priester des Tempels, Tensho Goto. ›Er kann Wissen für immer und unbegrenzt speichern. Künstliche Intelligenz wird seine Weisheit wachsen lassen und er wird, so hoffen wir, Menschen helfen, auch größte Schwierigkeiten zu meistern‹« (ntv, 2019). Während derartige Entwicklungen manche schaudern lassen, verheißen sie anderen die ersehnte Entlastung von eigener Verantwortung. Sehr deutlich zeigt das folgende Fallbeispiel zur KI die uns aus verschiedenen totalitären Systemen zur Genüge bekannte Bereitschaft von Menschen, ihre Gestaltungsmacht und Verantwortung an einen als »genial« und »übermenschlich« verehrten Führer abzutreten: In einer internationalen Versicherungsgruppe gibt es im Vorstand immer wieder Probleme mit der Abwägung von Risiken, die mit bestimmten Entscheidungen verbunden sind. Nach einigen desaströsen Fehlentscheidungen wird nun geplant, zur Risikominimierung KI als ständiges Mitglied in den Vorstand zu »berufen«. Praktisch würde dies bedeuten, dass in jedem Vorstandsmeeting neben den Beiträgen der einzelnen Mitglieder auch KI in Form eines humanoiden Sprachroboters zu Wort kommt und mit ihrer Stimme mitentscheidet. Da den meisten Vorständen bei dieser Vorstellung noch etwas mulmig zumute ist, stellen sie die Situation mit externen Stellvertretern verdeckt auf.

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Im ersten Schritt wird der Vorstand in seiner bisherigen Zusammensetzung anhand eines Entwicklungsziels aufgestellt. Der Vorsitzende wirkt schwach, die Gruppe in Machtkämpfen gespalten. Das Ziel wird kaum beachtet, sein Stellvertreter zieht sich resigniert zurück. Mit der Hereinnahme einer Stellvertreterin für KI ändert sich die Situation schlagartig: Alle Vorstandsmitglieder wenden sich sofort mit dem Ausdruck der Erleichterung KI als Führungsinstanz zu. Der Vorsitzende räumt achselzuckend das Feld. KI fühlt sich mächtig und allwissend – das Ziel dagegen flieht entsetzt aus dem Raum mit dem Kommentar: »Mit ihr gehe ich kaputt!«

Ob KI die Erwartung der Übermenschlichkeit erfüllt, bleibt abzuwarten – aber sie ist mit Sicherheit, obwohl von Menschen gemacht, nicht menschlich und somit frei von Skrupeln und Zweifeln, die auch ein noch so von sich überzeugtes menschliches »Genie« befallen können. Schließlich bleibt auch ein narzisstisch gestörter Mensch immer noch insoweit Beziehungswesen, als er auf das Du und dessen uneingeschränkte Bewunderung dringend angewiesen ist. KI kennt kein Ich im menschlichen Sinne und folglich auch kein Du. Technische Wissenschaftler beantworten die Frage nach dem »Ich und Du« allerdings anders als Psychologen und Neurowissenschaftler. So ist etwa der Berliner Professor für Humanoide Robotik, Manfred Hild (zit. nach Haug, 2018), davon überzeugt, dass Roboter auch eigene Bedürfnisse hätten und sich erinnerten, wer sie gut oder schlecht behandelt habe: »Sie sollen unsere Knechte sein. Aber wenn ein System Intelligenz zeigt, hat es eigene Bedürfnisse. Es hat ein Gedächtnis, merkt sich etwa, wer gut zu ihm war.« Entsprechend glaubt Hild, dass Roboter wie unterdrückte Völker rebellieren würden, wenn wir sie als Sklaven benutzten, um Aufgaben zu erledigen, die uns zu riskant seien – wie Verletzte in Katastrophen zu bergen. Zwar seien sie Maschinen, die wir anund ausschalten könnten, entwickelten aber »eine Ich-Identität« und hätten dann »wie jedes andere Individuum auch eigene Ziele«, so dass »die Maschine vielleicht lieber selbst entscheiden [möchte], wann sie sich ausschaltet«. Hild nimmt somit an, dass von ihm oder seinen Studenten gebaute Roboter emotional reagieren, also fühlen, Bewusstsein entwickeln und sich selbst reflektieren. Das ist eine sehr steile Hypothese, denn damit wüchsen seine Homunkuli nicht nur über menschliche Rechenleistungen hinaus, sondern wären uns Menschen und anderen fühlenden Wesen ebenbürtig. Implizit definiert er sie damit als beseelte Wesen. Realistischer argumentiert Hild, wenn er vernetzte Systeme ablehnt, die Daten an Konzerne liefern: »[I]ch verzichte auf virtuelle Assistenten wie Siri, Alexa oder Amazon Echo, weil sie Daten von mir aufzeichnen und an Unternehmen weitergeben könnten. Das finde ich ethisch höchst fragwürdig.«

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Wie ethisch fragwürdig wäre die Entwicklung erst, wenn künstliche Intelligenz mit Big Data ein neues System bildete, eine Art Super-Bot, der alles über seine Benutzerin weiß und sie eigentlich besser kennt als sie sich selbst? Er weiß dann nicht nur, wann sie wieder zum Zahnarzt muss, sondern kennt auch alle ihre kleinen, persönlichen Vorlieben und erfüllt diese umgehend. Er erledigt automatisch ihre Steuererklärung und regelt Kontoführung, Gehaltsabrechnungen und Wohnungsangelegenheiten so reibungslos wie ihre berufliche und private Kommunikation und Terminplanung. Er weiß natürlich auch, welche Partei sie immer wählt und nimmt ihr das bei der nächsten Wahl ab. Kleinere Ordnungswidrigkeiten, die ihr früher ab und an ein Bußgeld beschert haben, kommen nicht mehr vor, denn der Super-Bot regelt so etwas, indem er seiner Klientin einen freundlich-dezenten Hinweis gibt. Sie könnte gar nicht mehr gegen Regeln oder Gesetze verstoßen. Schon der Impuls, eine Regel zu umgehen, würde automatisch von ihm registriert, korrigiert und in konforme Handlungen umgesetzt. – Wird es so weit kommen? Technisch ist es möglich und erste Ansätze werden in manchen Ländern bereits praktiziert.

Eine andere Bildung Der Super-Bot wäre ein Schritt zurück in die Herrschaft der Mechanisierung. Auch intelligente Roboter sind mechanisch. Bewusstsein ist nie mechanisch. KI-gesteuerte Maschinen können gemäß ihrer Programmierung immer wieder innehalten und sich korrigieren und optimieren. Wir tun etwas Ähnliches in kreativen Prozessen und in der Meditation, wir schweifen ab und – stopp – kommen wieder zu uns selbst zurück – aber zu uns selbst und nicht zu einem effektiveren Funktionieren! Das ist der Unterschied. Wir sind keine Maschinen, verfügen allerdings über einen maschinenähnlich arbeitenden, logischen Verstand. Bisweilen verfügt er auch über uns – was zu eben den Entwicklungen führt, die hier beschrieben werden. Die Chance, die sich zugleich mit den Horrorszenarios digitaler Zukunft eröffnet, liegt darin, unseren mechanischen Verstand auf seinen Platz als eine von vielen menschlichen Kapazitäten zu verweisen. Denn wenn es mit KI bessere Denkmaschinen als die in unseren Köpfen gibt, kann letztere sich kaum noch als Diktator über unser Alltagsleben aufführen und der Weg zu mehr innerer Demokratie wäre frei. Intuition, fühlende Intelligenz und Jetzt-Bewusstsein könnten ihre angemessenen Plätze einnehmen und KI wäre ein nützliches Werkzeug – nicht mehr und nicht weniger. Auch überzeugte »Digitalos«, denen fühlen und spüren eher wenig sagen, kommen daran nicht vorbei: Mit dem Kopf allein geht’s nicht mehr! Nachden-

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ken ist einfach zu langsam für die Geschwindigkeit des Informationszeitalters. Es hinkt hinterher. Deshalb heißt es ja auch Nach-Denken. So tasten wir uns vorsichtig an andere Formen der Intelligenz heran, die in Echtzeit arbeiten können, also im Hier und Jetzt – beispielsweise intuitive und Herzintelligenz. Vor nicht allzu langer Zeit noch als esoterische Spekulation abgetan, rückt das Potenzial intuitiver Intelligenz nun im Lichte der neurowissenschaftlichen Forschungen zum Herzgehirn und Bauchgehirn allmählich ins öffentliche Bewusstsein. Das hat weitreichende Konsequenzen für unsere Bildungssysteme, die bisher zu großen Teilen darauf abzielten, Wissen so zu speichern, dass wir Daten, Fakten und deren Kombination wie auf Knopfdruck abrufen konnten. Statt so den Robotern ähnlich zu werden, könnten wir den Freiraum, den sie uns geben, nutzen, um uns selbst besser kennenzulernen. Vielleicht stößt die digitale Transformation auf diese Weise unbeabsichtigt eine menschliche Transformation an, in der wir lernen, bewusster mit uns selbst und anderen umzugehen. Ein Bildungssystem, das wirklich Menschenbildung betreibt, statt uns nur Wissen einzupauken, wäre dafür unabdingbar. Neben Kompetenzentwicklung gehörten auch Selbsterforschung, Kreativität, Kommunikation und andere soziale Fähigkeiten dazu. Ebenso wie Meditation – und natürlich leben mit Robotern! Daran werden wir nicht vorbeikommen.

New Leadership in New-Work-Teams Ein anderes Dauerbrenner-Thema in der Start-up-Szene ist Führung. Der Bibel der New-Work-Bewegung »Reinventing Organisations« (Laloux, 2015) folgend, sehen manche die Zeit gekommen, alle Probleme im Zusammenhang mit Hierarchie und Autorität im Handumdrehen zu lösen und von heute auf morgen auf hierarchiefreie Teamarbeit umzuschalten. Magisches Wunschdenken ist vielen Aufstellern noch aus der Kinderzeit der Aufstellungsarbeit in Erinnerung. Einer einmaligen Intervention im Aufstellungssetting wurde die Kraft zugeschrieben, über Generationen weitergereichte Verstrickungen aufzulösen. Das Lösungsbild in der Aufstellung sollte das Fühlen und Verhalten der repräsentierten Personen in den familiären oder organisationalen Systemen simultan und nachhaltig verändern. Heute wissen wir, dass es ganz so schnell und einfach nicht geht. Wie in anderen Wunschträumen so übersieht man auch im Hype um »agile Führung« und »New Work« leicht etwas Entscheidendes: die Menschen mit ihren Gewohnheiten, Strukturen und Bedürfnissen. Die ändern sich nicht so schnell. Welcher Anspruch verbirgt sich allein schon hinter dem Begriff »Team-

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arbeit«? Team bedeutet: Ich gebe der gemeinsamen Aufgabe Priorität und stelle meine Kompetenzen und Erfahrungen dafür zur Verfügung. Meine persönlichen Interessen bringe ich nur so weit ein, wie es dem Erreichen des Ziels dient. Ich hätte also auf selbstlose Weise das Wohl des Ganzen im Blick. Wie realistisch ist so eine Vorstellung in einem Wirtschaftsunternehmen, dessen Zweck Profitmaximierung ist? Die einzelnen Mitarbeiter sollen sich in Selbstlosigkeit und Verbundenheit üben, während die Eigentümer des Unternehmens, seien sie nun Aktionäre, Gesellschafter oder Manager hauptsächlich ihr eigenes Wohl im Blick haben. Wie soll das funktionieren? Auch die häufig damit verbundene Forderung an die Mitarbeiter, unternehmerisch zu denken und zu handeln, lässt außer Acht, dass sie eben nicht am Gewinn und Risiko beteiligt sind. Wie sollten sie folglich als Unternehmer denken? Das Fallbeispiel verdeutlicht die in diesem Zusammenhang häufig vorkommende Dynamik eines heimlichen Leiters: In einem Vertriebsteam scheinen die Mitarbeiterinnen die existenzielle Bedeutung der Digitalisierung für das Unternehmen nicht zu realisieren. Das Team verzettelt sich in Detailfragen und verzögert so den Transformationsprozess. Um sie fit für die neuen Herausforderungen zu machen, führt das Unternehmen New-Work-Prinzipien ein und stellt den Teamleiter seinen Mitarbeitern gleich. Daraufhin verschlechtert sich die Performance zusehends. In einer Systemaufstellung werden Vertriebsteam, Teamleiter, Digitalisierungsberater und die digitale Transformation in Beziehung zum Ziel gestellt. Nicht das Team, sondern der Digitalisierungsberater ist es, der sich von der digitalen Transformation abwendet und so Orientierungslosigkeit beim Vertriebsteam auslöst. Er ist in der Aufstellung so positioniert, als leite er das Team, während der Teamleiter wie verloren daneben steht. Die Mitarbeiter blicken ratlos zwischen Berater und digitaler Transformation hin und her. Im weiteren Verlauf der Aufstellung wird deutlich, wie der Berater allmählich in die Rolle des entmachteten Teamleiters geschlüpft ist. So sehr ist der Berater mit der heimlichen Teamleitung beschäftigt, dass er seine eigentliche Aufgabe aus dem Blick verloren hat. Das Team reagiert verunsichert und hat keine klare Ausrichtung mehr. Vom Berater empfangen die Teammitglieder zwei Botschaften. Die eine: Digitalisierung ist erste Priorität. Die andere: Ich kümmere mich nicht um digitale Transformation, sondern um Teamleitung.

Wenn der Leiter sein Team nicht führt, oder eine Keine-Leitung vorhanden ist, entsteht ein Führungsvakuum, in das ein anderer hineinschlüpft. In ihrem Wunsch, nützlich zu sein, sind Berater besonders anfällig für die Versuchung, solche Leerstellen auszufüllen. Das Problem des Fallbeispiels liegt also nicht, wie zunächst vermutet, beim Vertriebsteam, sondern in der unangemessenen Posi-

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tionierung des Beraters. Da solch ein »Führungswechsel« sich im Verborgenen abspielt, geben wir damit jede Steuerungsmöglichkeit aus der Hand. Soziale und gruppendynamische Realitäten werden ignoriert. Welche Ideologie auch immer in einem Unternehmen oder Team verkündet wird – es gibt immer eine Wort- oder Meinungsführerin. Basisdemokratische Netzwerkgruppen ticken nicht anders als Rocker-Clubs oder autoritäre Familienunternehmen – oder eben Unternehmen, die verkünden: Bei uns gibt es keine Hierarchie! Der Unterschied ist nur: Die einen tun, was sie sagen, und die andern tun so, als ob. Unser Säugetiergehirn ordnet uns selbst und die anderen sofort als stärker oder schwächer ein und verhält sich entsprechend – nämlich dominant oder unterordnend beziehungsweise rebellisch. So verständlich der Wunsch nach einer anderen Führung ist – ganz so einfach ist es nicht. Menschliche Systeme verlangen nach klarer Führung. Das ist eng mit dem Bedürfnis verbunden, einen Platz in der eigenen Bezugsgruppe zu haben. Agile Führung oder New Work ändern daran nichts, solange wir uns nicht ändern. Führen heißt ja nicht nur: Anweisungen geben, delegieren und kontrollieren oder Macht ausüben und disziplinieren. Führen heißt vor allem: den Menschen einen Raum geben, in dem sie ihre Fähigkeiten und Talente entfalten können. Dann entsteht intrinsische Motivation. Qualifizierte Führungskräfte sind in der Lage, diesen Raum auch zu halten, wenn es schwierig wird, wenn etwa Konflikte aufbrechen. Sie verfallen dann nicht in elterliche Autoritätsmuster, indem sie z. B. beginnen zu drohen, zu strafen oder sich zu entziehen. Sie verteilen auch nicht Zuwendung nach persönlichen Vorlieben oder dem Gießkannenprinzip, sondern haben die Teamdynamik im Blick. Dazu sind sie aber nur in der Lage, wenn sie die damit verbundenen persönlichen Themen in sich selbst kennengelernt und bearbeitet haben. Mit institutioneller und persönlicher Macht können sie demgemäß bewusst umgehen und sie entschlossen einsetzen, wenn es für das Wohl des Unternehmens notwendig ist. Führungskräfte benötigen neben psychologischem und systemischem Grundwissen gleichermaßen Empathie und die Fähigkeit zur Abgrenzung. Auch in New-Work-Teams brauchen sie Durchsetzungskraft, wenn es um unpopuläre Maßnahmen oder Regeln geht. »New Work needs Inner Work« (Breidenbach u. Rollow, 2019) heißt ein kürzlich erschienenes Buch, in dem die Autorinnen menschliche Voraussetzungen und Lernprozesse hin zu wirklicher Teamarbeit praktisch beschreiben. Statt »Management by …« brauchen wir Leadership Trainings, in denen es um die inneren Grundlagen von Führung geht. Dazu gehören heute Selbsterfahrung, Feedbackprozesse, Achtsamkeitsarbeit – und Aufstellungen! Denn sie bringen nicht nur verborgene Informationen ans Licht, sondern trainieren auch sehr effektiv die Wahrnehmung für zwischenmenschliche und organisatorische Dynamiken.

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Literatur Breidenbach, J., Rollow, B. (2019). New Work needs Inner Work. München: Vahlen. Haug, K. (2018). »Wenn wir Roboter wie Sklaven behandeln, werden sie rebellieren.« Spiegel Panorama, 19.07.2018. Zugriff am 10.04.2019 unter https://www.spiegel.de/­lebenundlernen/uni/ kuenstliche-intelligenz-das-lernt-man-im-studiengang-humanoide-robotik-in-­berlin-a-1217860. html Horn, K. P. (2019). Connected to the Unknown. Mit Systemaufstellungen die digitale Transformation meistern. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Laloux, F. (2015). Reinventing Organisations. Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. München: Vahlen. Mutius, B. v. (2017). Disruptive Thinking. Offenbach: Gabal. ntv (2019). »Japaner haben keine Vorurteile.« Roboter predigt in buddhistischem Tempel, 07.09.2019, Wissen. Zugriff am 10.06.2020 unter https://www.n-tv.de/wissen/Roboter-predigt-in-buddhistischem-Tempel-article21258643.html

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Mit den Stimmen der Mitwelt: Aufstellungsarbeit und Naturerfahrung in Nachhaltigkeitskontexen

Querschnittsthema Nachhaltigkeit – Wo befinden wir uns 2020? Aktuell beeinflusst die Menschheit die Entwicklung des Lebens auf dieser Erde erheblich. Das, was wir üblicherweise »Natur« nennen – unsere Mitwelt –, wird dabei massiv beeinträchtigt. Wir erleben ein erschütterndes Artensterben (IPBES, 2019), eine hausgemachte Klimakrise (IPCC, 2018) sowie eine nie dagewesene Vermüllung und Vergiftung des Planeten, inklusive der Meere. Bumerangeffekte lassen nicht mehr auf sich warten und treffen in den meisten Fällen die Schwächeren am härtesten. Angesichts dessen wird zunehmend von der Notwendigkeit eines tiefgreifenden Wandels oder gar einer »Großen Transformation« (WBGU, 2011) gesprochen. Worin diese genau bestehen soll und wie der Wandel zu bewerkstelligen sei, darüber gehen die Meinungen auseinander. Klar ist: Wir haben es mit überaus komplexen Systemen zu tun, und die notwendigen Veränderungen betreffen eine Vielzahl von Ebenen, von internationalen Beziehungen über technologische Innovationen bis zum Verhältnis zu unserer eigenen menschlichen Natur. Eine erste Richtungsweisung bietet das Konzept der Nachhaltigkeit bzw. der nachhaltigen Entwicklung. Dieses legt ein Handeln nahe, welches – im Idealfall – zu keinerlei Erschöpfung des Erdsystems führt. In professionellen Kontexten findet sich dieses durchaus vielschichtige Ideal daher mittlerweile, zumindest hierzulande, ebenso auf den Agenden von Aktivisten wie in Ministerien und Unternehmen. Anspruch und Ausrichtung der Bemühungen variieren auch hier stark. Aber zumindest auf dem Papier (oder on screen) gibt es fast kein Vorbeikommen mehr: So verpflichtet z. B. die Europäische Union Großunternehmen seit 2017 zur Transparenz über Nachhaltigkeitsthemen (EU, 2014). In der Schweiz hat es »nachhaltige Entwicklung« im Jahr 2000 in die Verfassung geschafft. Seit das Konzept vor gut dreißig Jahren international politisch aktuell wurde – 1987 mit dem Brundtland-Bericht (Vereinte Nationen, 1987) oder 1992 durch

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den Weltgipfel in Rio de Janeiro – hat es interessante Wendungen erlebt. Zwei Auslegungen konkurrieren u. a.: ein Primat der ökologischen Dimensionen versus ihrer gleichwertigen Behandlung mit einer sozialen und ökonomischen Dimension. Nicht zuletzt aus politischen Gründen (Tremmel, 2003), verstärkt durch Industrieverbände und Lobbyarbeit, setzte sich hierzulande Ende der 1990er Jahre letztere Perspektive als sogenanntes Drei-Säulen-Modell durch (s. Diagramme in der Abb. 1). Obgleich es als »ganzheitlich« galt, kam es in Folge jedoch selten zu einer echten Balance. Stattdessen war weiterhin oft eine Bevorzugung ökonomischer Ziele zu beobachten (Ott, 2009), u. a. weil das Säulenmodell suggeriert, dass diese als unabhängig von sozialen und ökologischen Dimensionen betrachtet werden kann. 2015 verabschiedeten die Vereinten Nationen im Rahmen der »Agenda 2030« die derzeit maßgebliche Konkretisierung des Nachhaltigkeitskonzepts, die Sustainable Development Goals (SDGs; Vereinte Nationen, o. J.). Die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung beinhalten die Bekämpfung von Armut, Hunger und des Klimawandels (SDG 1, 2 u. 13) ebenso wie die Förderung von Geschlechtergerechtigkeit (SDG 5). Die insgesamt 169 Unterziele untermauern den Anspruch auf Umsetzung. Allerdings bestehen einerseits natürlich weiter unterschiedliche Meinungen bezüglich Priorisierung und Vorgehensweisen und andererseits ist die zentrale Spannung zwischen wirtschaftlicher und sozial-ökologischer Nachhaltigkeit auch hier nicht aufgelöst. So ist z. B. Wirtschaftswachstum – von dem man annehmen darf, dass es deutlich zur eingangs beschriebenen Krisensituation beiträgt – weiterhin ein Ziel (im Rahmen von SDG 8). Die Kombination aus Dringlichkeit, Komplexität und entsprechend vielschichtigen Zielparametern führt dazu, dass Nachhaltigkeit eine der größten und zentralsten Herausforderungen unserer Zeit darstellt. In großer Breite und in vielen professionellen Kontexten haben zahlreiche Akteure, von kleinen Organisationen über Multinationals bis hin zu Staaten und Staatenverbünden sich zu ihrer Umsetzung bekannt, zum Teil mittels der SDGs. Wie kann nun systemische Aufstellungsarbeit die Akteure in diesem spezifischen Transformationsfeld unterstützen? Im Folgenden erläutern wir einige Ansätze, Erfahrungen und Überlegungen zu der Frage, unter welchen Bedingungen und in welcher Ausgestaltung dies gelingt. Wie bereits der Titel dieses Beitrags erkennen lässt, halten wir in diesem Zusammenhang Naturerfahrungen für einen bedeutenden Faktor. Natürlich kann Aufstellungsarbeit auch im professionellen Nachhaltigkeitskontext ohne jeglichen realen Naturkontakt erfolgreich eingesetzt werden – ebenso wie Naturverbindung auch ohne Aufstellungsarbeit eine wirksame Intervention im Nachhaltigkeits­ kontext darstellen kann (vgl. Ives, Abson, von Wehrden u. Dorninger, 2018). Doch die Verbindung der beiden Ansätze scheint deren Wirksamkeit noch zu erhöhen.

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Abbildung 1: Unterschiedliche Modelle zum Verhältnis der drei Hauptdimensionen von Nachhaltigkeit

Daher wird im Folgenden viel von der Kombination der Methoden die Rede sein: von Naturerfahrungsübungen als Vorbereitung für Aufstellungsarbeit über prototypische Naturaufstellungen bis hin zur Möglichkeit, in Aufstellungen Nachhaltigkeitsanliegen durch eine Stellvertretung für »die Natur« zu repräsentieren. Die erlebte Bedeutung von Natur und Naturerfahrung spiegelt sich auch in der Interpretation des Nachhaltigkeitskonzepts wider, die wir selbst unserer Arbeit zugrunde legen. Soziale und ökonomische Aspekte von Nachhaltigkeit verstehen wir dabei als eingebettet in eine ökologische Dimension. Mit anderen Worten, wirtschaftliche und andere soziale Systeme sind Teilsysteme eines übergeordneten Gesamtsystems, nämlich der Biosphäre (s. Abb. 1; vgl. M ­ üller, 2014). Diese Darstellung deckt sich auch mit Sichtweisen auf die SDGs, wie sie z. B. der World Wildlife Fund (WWF, 2018, S. 115) nutzt. Solcherart wollen wir dem Prinzip der »Lebendigkeit« (Weber, 2014) oder »Lebensdienlichkeit« (­Seghezzi u. Seghezzi, 2019, S. 579), das heißt der Frage, wie man dem Fortgang und der Qualität des Lebens dienen kann, bestmöglich gerecht werden.

Formate und Komponenten von Aufstellungsarbeit in Nachhaltigkeitskontexten Grundlage für die folgende Aufgliederung ist in erster Linie unsere Tätigkeit an der Schnittstelle von systemischer Aufstellungsarbeit, Naturerfahrung und Nachhaltigkeitsbewegung. Wir bieten diese im Kontext der Unternehmung

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»RaumZeit.team« an und haben sie teilweise bereits auch schon an anderer Stelle analysiert (Lüschen, 2019). Zielgruppen dieser Arbeit sind in der Regel Individuen und Organisationen, für die Nachhaltigkeit ein primäres oder sekundäres Anliegen ist. Im Bereich der Wirtschaft können das z. B. Sozial- oder Öko-Unternehmer und ImpactInvestoren sein, aber auch »konventionelle« Unternehmen, die nachhaltiger agieren wollen. Andere Bereiche betreffend sind es z. B. NGOs, Kommunalverwaltungen und Ministerien oder Aktivisten, Politikberater und Wissenschaftler. Naturorientierte, geführte Meditationen oder Imaginationen Meditationen oder Imaginationen eigenen sich gut als Einstieg sowohl zu Aufstellungen als auch zu Naturerfahrungen. Die Teilnehmer werden dadurch an einen achtsamen Umgang mit den darauffolgenden Übungen herangeführt. Möglich ist z. B. eine Anleitung, welche die Achtsamkeit auf den Atem fokussiert und ins Bewusstsein ruft, dass alles, was lebt, über den Gasaustausch miteinander in Beziehung steht. Dieselbe Luft, die wir gerade einatmen, wurde bereits von unzähligen Tieren und Pflanzen ein- und wieder ausgeatmet. Auf intimste Art und Weise teilen wir uns diese so kostbare dünne Hülle des Planeten. (Zum Vergleich: Wäre die Erde so groß wie ein Apfel, hätte die Atmosphäre in etwa die Dicke seiner Schale.) Erst die Pflanzen haben überhaupt die Atmosphäre so mit Sauerstoff angereichert, dass die Erde für Tiere und damit irgendwann für uns Menschen bewohnbar wurde (Lenton u. Watson, 2013). Immersion in realen Naturräumen Mit Immersion (»Eintauchen«) meinen wir das Zustandekommen eines Kontakts – z. B. mit einem Baum oder einer Landschaft –, der sich über eine rein rational reflektierte Wahrnehmung hinaus in Richtung einer emotional bedeutsamen Begegnung oder Resonanz öffnet. Diese kann sich auch bis hin zum Erleben einer »wesentlichen« Verbundenheit vertiefen. Die »Technik«, mit der wir das Entstehen eines solchen Kontakts hauptsächlich zu begünstigen versuchen, ist ein möglichst wenig von rationalem Vorwissen oder anderen Konditionierungen geprägtes, rezeptives »Dasein und Schauen mit allen Sinnen«. Verwandte Methoden sind z. B. die »Beobachtung«, wie sie im Goetheanismus charakterisiert wird (vgl. z. B. die Naturwissenschaftlichen Schriften von Goethe, 1949) oder die »Epoché« in der Phänomenologie Edmund Husserls (vgl. z. B. Sturm, 2002). Konkret laden wir die Teilnehmer z. B. ein, sich so offen und intuitiv wie möglich von Orten, Dingen, Pflanzen oder Tieren anziehen und

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überraschen zu lassen und die »Gegenüber«, die ihnen hier begegnen, mit allen Sinnen – tastend, riechend, schmeckend, spürend – zu explorieren (s. Abb. 2). Die Erfahrung zeigt, dass in solchen Zuständen der absichtslosen Kontaktaufnahme oft spontan relevante Erkenntnisse emergieren. Darüber hinaus eignen sich Immersionsübungen, um bei den Beteiligten einen offenen, achtsamen, positiven, zentrierten und geerdeten Bewusstseinszustand zu kultivieren, welcher auch für die Aufstellungsarbeit förderlich ist. »Schwellengänge« (Immersion mit Intention) Eine Strukturierung und gegebenenfalls Intensivierung einer immersiven Naturerfahrung kann in einem Format stattfinden, welches im Deutschen auch als »Schwellengang« bekannt und an eine nordamerikanisch indigene Praxis von »Medicine-Walks« angelehnt ist (vgl. Seghezzi u. Seghezzi, 2019, S. 403 f.; Davis, o. J.). Im Unterschied zur reinen Immersion spielt hier, ähnlich wie in Aufstellungen, eine Intention, eine Frage oder ein Anliegen eine wichtige Rolle. Nach der Formulierung des Anliegens tritt man über eine symbolische Schwelle. Dies wird als äußeres Zeichen eines inneren Schritts verstanden, und zwar eines bewussten Einlassens auf die Annahme, dass einem bei dem nun folgenden Aufenthalt oder Gang in der Natur etwas begegnen oder widerfahren wird, was erhellend, unterstützend oder inspirierend des formulierten Anliegens wirkt. Man lässt sich dann, wie bereits beschrieben, intuitiv treiben oder ziehen, im Vertrauen darauf, dass durch Begegnungen und Erlebnisse relevante Impulse und Informationen zu einem gelangen werden. Im Kontext von Nachhaltigkeitsaufstellungen kann die Methode u. a. effektiv zur Präzisierung des Anliegens und zur Identifikation der relevanten Elemente für die Aufstellung beitragen. Prototypische Naturaufstellungen Unter prototypischen Aufstellungen verstehen wir (im Unterschied zu spezifisch-individuellen Aufstellungen) solche, in denen eine kleine, vorbestimmte Auswahl an Elementen ohne individuelle Vorgespräche aufgestellt wird. Die Begegnungen in den Imaginationen oder Immersionen können mit prototypischen Aufstellungen z. B. noch tiefer bzw. auf einer zusätzlichen Ebene erschlossen werden: Ȥ Die vielleicht einfachste Form dafür ist, dass die Teilnehmer sich in die Stellvertretung des Naturelements stellen, mit dem sie bei einem Schwellengang oder in einer Imagination eine relevante Begegnung erlebt haben.

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Ȥ In einer etwas komplexeren Variante können sich die Teilnehmer z. B. in Dreiergruppen aufteilen, in denen man reihum die Gelegenheit erhält, die anderen zu bitten, die Stellvertretung für sich bzw. das Naturelement einzunehmen. So kann die eigene Begegnung noch einmal quasi »von außen« aus einer Beobachterposition nachvollzogen werden, wobei sich gegebenenfalls neue Aspekte zeigen können. Das Format der prototypischen Naturaufstellungen eignet sich sehr gut als Bindeglied zwischen Naturerfahrung und Aufstellungsaktivitäten, z. B. im Verlauf eines Workshoptages. Naturaufstellungen, prototypische und spezifische, stellen eine eigene Ausprägung der Aufstellungsarbeit dar, die zwar schon lange existiert, aber bislang noch vergleichsweise wenig verbreitet ist. Schon seit mindestens zwanzig Jahren ist bekannt, dass es möglich und bei bestimmten Anliegen angebracht und zielführend ist, Wildtiere, Nutztiere, Pflanzen, Ökosysteme, Gewässer und dergleichen aufzustellen. Einige spezifische Anpassungen der Aufstellungsmethode wurden für derartige Anliegen entwickelt (für Übersichten s. z. B. Demmel, 2010; Mason Boring u. Sloan, 2013 im Zusammenhang mit diesem Buch wurde auch die Webseite www.nature-constellations.net ins Leben gerufen, über die sich aktuelle Informationen zu Aktivitäten im Bereich Naturaufstellungen finden lassen). Auch eine entsprechende Weiterbildung in Naturaufstellungen wird bereits angeboten (Wasser, 2020), für die wir aktuell gemeinsam ein Erweiterungsmodul Nachhaltigkeitsaufstellungen entwickeln. Nachhaltigkeitsaufstellungen Aufstellungen im Kontext von Nachhaltigkeit und Bildung für Nachhaltigkeit wurden bereits von folgenden Autoren beschrieben (neben sicherlich einigen anderen, von denen zu erfahren, wir uns freuen): Kopp und Martinuzzi (2013), Leermakers (2013), Müller-Christ, Liebscher und Hußmann (2015), Müller-Christ und Liebscher (2015a, 2015b), Müller-Christ (2016), Müller-Christ und Pijetlovic (2018, S. 127 ff.), Müller-Christ, Klein und Limberg-Strohmaier (2019), Grothe und Müller-Christ (2016), Deimling (2016), Arnold (2016a, 2016b), Arnold und Fischer (2018) sowie Bestermann (2019). Hayashi und Scharmer (o. J.) empfehlen für das von ihnen entwickelte Aufstellungsformat »4-D-Mapping« standardmäßig und anliegenunabhängig den Einbezug von Stellvertretern für die Erde bzw. die Mitwelt. Unter Nachhaltigkeitsaufstellungen verstehen wir hier Aufstellungen für Organisationen oder Individuen mit beruflichen Anliegen, bei denen es um

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Nachhaltigkeit geht. Das können sowohl Aufstellungen sein, bei denen sich die primäre Fragestellung auf Nachhaltigkeit bezieht, als auch Aufstellungen, die zwar primär z. B. einen unternehmerischen oder politischen Fokus haben, bei denen aber sekundär auch die Auswirkungen des eigenen Handelns auf die Natur oder andere im Sinne der Nachhaltigkeit relevante Elemente berücksichtigt werden sollen. In Nachhaltigkeitsaufstellungen verbinden sich u. a. Organisations-, ­Politikund Naturaufstellungen. Politische Aufstellungen existieren ähnlich lang wie Naturaufstellungen (Mahr, 2003, 2005, 2006; Kaller, 2007; Carvalho, Klußmann u. Rahman, 2010; Sanders, o. J.) und haben ebenfalls einen relativ niedrigen Verbreitungs- und Bekanntheitsgrad. Organisationsaufstellungen müssen wir im Kontext dieses Bandes wohl nicht erörtern. (Wer darüber hinaus noch Informationen sucht, wird z. B. beim internationalen Berufsverband für Systemaufstellungen in Organisationen fündig: INFOSYON, o. J.). In der Durchführung folgt das Format »Nachhaltigkeitsaufstellung« im Wesentlichen der Methodik, die auch in den meisten anderen Aufstellungsformen verwendet wird. Den Bezug zur Nachhaltigkeit stellen wir in den Aufstellungen in der Regel durch Stellvertretungen von Naturelementen her. Diese können so umfassend definiert sein wie »die Natur« oder »das Leben«. Auch abstrakte Entitäten wie »die Nachhaltigkeit« sind möglich. Allerdings sollte in jedem Fall geklärt werden, was genau die Klienten darunter verstehen, z. B. ob »die Natur« auch die Menschen beinhaltet oder ob gegebenenfalls zusätzlich auch »das Wohl aller Menschen« aufgestellt werden sollte. Wo möglich, kann es auch hilfreich sein, spezifischere Stellvertretungen zu wählen, z. B. für eine bestimmte Indikator-Spezies oder ein bestimmtes SDG. Wenn angebracht, können natürlich auch mehrere Aspekte von Nachhaltigkeit aufgestellt werden. Ein großer Vorteil der Aufstellungsmethodik ist ja gerade, dass auch ganz unterschiedliche Entitäten, die sonst nur schwer miteinander verrechenbar sind (wie z. B. ökonomische, soziale und ökologische Zielparameter einer Unternehmung) auf identische Art und Weise repräsentiert und damit gegeneinander abwägbar werden. Nachhaltigkeitsaufstellungen können ebenso wie Naturaufstellungen drinnen wie draußen durchgeführt werden. Aufstellungen draußen durchzuführen hat Vor- und Nachteile. Schwierig kann sein, die Aufmerksamkeit der Teilnehmer zentriert zu halten, Hintergrundgeräusche machen lauteres Sprechen erforderlich, Witterung und mangelnde Sitzmöglichkeiten schränken die komfortable Dauer einer Aufstellung ein. Bereichernd kann sein, dass die »Mitwelt« leichter Teil der Aufstellung werden kann. Das auch aus geschlossenen Räumen bekannte Phänomen, dass unvorhergesehen bestimmte Ereig-

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nisse, wie z. B. bestimmte Störungen, sinnhaft im Bezug auf das Aufstellungsgeschehen anmuten, findet sich verstärkt im Freien wieder – vermutlich weil hier sehr viel mehr Faktoren mit sehr viel höheren Freiheitsgraden vorhanden sind, wie Windstöße, Vögel, Insekten, andere Tiere, Sonnenstrahlen etc. Die Interaktionen solcher Elemente mit der Aufstellung sind teilweise so passend, dass der Eindruck entstehen kann, dass Naturelemente ganz selbstverständlich Teil des wie auch immer gearteten »wissenden Feldes« (Mahr, 2001) von Aufstellungen sind. Kombinationen aus den genannten Formaten Die hier aufgeführten Übungen lassen sich einzeln und in Verbindungen anwenden. Im Kontext von Nachhaltigkeitsaufstellungen stellen die mit diesen verbundenen, anderen Übungen unterstützende sowie vor- und nachbereitende Elemente dar. Das folgende Fallbeispiel eines ersten Workshop-Experiments, aus dem inzwischen eine regelmäßige Workshop-Reihe geworden ist, verdeutlicht dies: Während eines Workshops in Berlin im Juli 2019 boten wir zum ersten Mal explizit eine Kombination von Aufstellungsarbeit und Naturübungen für nachhaltigkeitsorientierte Organisationen und Projekte an. Nach einer kurzen Naturmeditation über den Atem innerhalb des Seminarraums führten wir die Teilnehmer hinaus in einen nahe gelegenen, teilweise verwilderten Hinterhof (s. Abb. 2). Dort galt es, absichtslos und intuitiv »einzutauchen« (Immersion) und mit einem Naturelement wie Baum, Blume oder Stein eine Verbindung einzugehen. Nach etwa einer Viertelstunde luden wir die Teilnehmer auf einen ebenfalls etwa 15-minütigen Schwellengang mit diesem Element ein. Anschließend führten alle Teilnehmer eine prototypische Aufstellung durch, in der sie jeweils »ihr« Element repräsentierten. Zuletzt wurden die persönlichen Erfahrungen in Dreiergruppen besprochen. Am Nachmittag stellten wir dann das Anliegen eines Klienten auf, der in mehreren unterschiedlichen Projekten involviert war und sich aus Zeitgründen für eines und gegen die anderen entscheiden musste – was ihm aber bislang nicht gelang. Da es für ihn von hoher Bedeutung war, »einen positiven Beitrag zum Leben auf der Erde zu leisten«, sollte dieses Anliegen entsprechende Repräsentation erfahren. Der Fallgeber wählte dafür »die Erde« und »das Wohl der Menschen«. Im Schlüsselmoment der Aufstellung konnte der Repräsentant des Klienten das drückende Pflichtbewusstsein, etwas für die Gesellschaft tun zu »müssen«, an die Erde abgeben: ein transformativer Moment, der alle im Raum intensiv bewegte und einige zu Tränen rührte.

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Interessanterweise stellte sich im Repräsentanten des Klienten durch das Loslassen des Pflichtgefühls die Freiheit ein, sich voll und ganz für das Projekt zu entscheiden, welches sein Herz am meisten anzog – was in diesem Fall das nachhaltigkeitsorientierte war. Der Klient sprach der Aufstellung eine hohe Abbildungsgüte zu und ihm fiel es im Anschluss tatsächlich leicht, sich einstweilen für dieses und gegen die anderen Projekte zu entscheiden.

Abbildung 2: Immersionsübungen in urbaner Natur in Berlin

Bestandsaufnahme: Erfahrungen und Beobachtungen Im Folgenden skizzieren wir ausgewählte Aspekte unserer bisherigen Erfahrungen, die uns interessant erscheinen, Annahmen bestätigen oder neue Fragen aufwerfen. Die »Datenbasis« der Erfahrungen ist noch relativ klein, da die Methoden von uns erst seit Kurzem regelmäßig verwendet werden und auch allgemein erst seit einigen Jahren verbreiteter Anwendung finden. Dennoch lassen sich einige Beobachtungen und Schlussfolgerungen umreißen, die wir hier als vorläufig vorstellen möchten. Auf deren weitere Erforschung freuen wir uns – gerne auch in Austausch und Zusammenarbeit mit Ihnen, liebe Leser!

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Erfahrungen und Beobachtungen aus den Übungen zur Naturerfahrung und den Naturaufstellungsübungen Wir haben festgestellt, dass die naturbezogenen Meditationen, Imaginationen und speziell die Immersion in Natur bei den Teilnehmern eine innere Haltung unterstützt, die für Aufstellungen dienlich ist und sich u. a. mit Demut, Körperzentriertheit, Entspannung, Offenheit und Achtsamkeit charakterisieren lässt. Mit den Worten eines Teilnehmers: »Durch diese [morgendliche Naturerfahrung] war ich viel rezeptiver. Es fühlte sich total intuitiv an und ich konnte mich sehr, sehr stark auf meine Reaktionen verlassen und ihnen vertrauen« (zit. nach Lüschen, 2019, S. 161). Auch für die Klärung und Präzisierung des (Aufstellungs-)Anliegens bewährten sich Naturübungen. Viele Aufstellungsleiter kennen die Problematik, dass das von Klienten zunächst vorgetragene Ansinnen nicht das tatsächlich momentan wesentlichste Anliegen zu sein scheint. Durch die Gelegenheit, vor der Aufstellung zur Ruhe zu kommen und aus den Übungen heraus bereits thematische Impulse zu erlangen, sind die Klienten zumeist besser in der Lage, den wesentlichen Kern ihres Anliegens zu identifizieren. Nicht nur als Vorbereitung für eine Aufstellung, sondern auch für sich genommen, bieten Übungen wie Schwellengang, Pflanzenbegegnungen und prototypische Aufstellungen von Naturelementen eine effiziente, lösungsorientierte Methode. Wir erleben, dass die Teilnehmer bedeutsame Einsichten und Inspirationen für persönliche und berufliche Fragestellungen gewinnen können. Die Kraft auch kleiner Aufstellungen sollte nicht unterschätzt werden und im Ablauf genügend Zeit eingeplant werden, um den Teilnehmern die Integration ihrer Erfahrungen zu ermöglichen (z. B. durch Notizen oder kleinere Gesprächsrunden). Es ist faszinierend, dass Stellvertretungen von Naturelementen oft anderes Erleben beinhalten als Stellvertretungen von Menschen oder Organisationen. Beispielsweise scheinen Stellvertretungen für Pflanzen oft von einer veränderten Zeitwahrnehmung geprägt (s. Abb. 3). Einer von uns Autoren (N. v. S.) erinnert sich an die Stellvertretung einer Walderdbeere, in der für ihn die Zeitwahrnehmung fast völlig aufgehoben schien und sich die halbstündige Übung wie ein einziger ausgedehnter Moment anfühlte. Eine andere Teilnehmerin berichtet von einer Stellvertretung für eine Pflanze: »Es war sehr interessant, es gab nichts, dass ich tun konnte. Ich konnte nur da sein und den Geräuschen zuhören – bewusst und präsent sein […] Ich fühlte sehr viel Leichtigkeit. Ich bin hier, ich wachse einfach. Dies fühlte sich sehr anders an als Mensch sein, wie eine andere Qualität des Seins, und dennoch etwas, dass ich aus der Meditation kenne. […] Ich

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war fasziniert, wie schnell ich in diesen Zustand kommen konnte, wenn ich die Pflanze als Medium benutze« (zit. nach Lüschen, 2019, S. 159). Auch Stellvertretungen für Tiere sind oft mit prägnanten Bewusstseinsveränderungen verbunden. Dies verstärkt in der Regel den Eindruck bei Stellvertretern, dass sie nicht nur ihr eigenes menschliches Empfinden projizieren würden, sondern tatsächlich etwas davon wahrnehmen würden, »wie es ist«, diese Pflanze oder dieses Tier zu sein. Francesca Mason Boring (2013) weist darauf hin, dass im Rahmen von Naturaufstellungen darauf geachtet werden sollte, dass es für manche Teilnehmer herausfordernd sein kann, solches Erleben zu integrieren – vor allem für jene, die bislang die Meinung vertraten, Natur sei seelenlos oder gar unbelebt. Ein oft von Teilnehmern ausgesprochener Effekt der Übungen ist eine vertiefte persönliche Beziehung zur »Natur«, die u. a. deren Fähigkeit verbessert, Natur als Ressource für die berufliche Tätigkeit zu nutzen, z. B. als Inspirationsquelle oder zur Regeneration. Dabei sind viele Teilnehmer überrascht, wie schnell sie sich durch diese Übungen auch in urbanen Umfeldern mit Natur ver-

Abbildung 3: Eine prototypische Naturaufstellungsübung: Als Stellvertreterin einer j­ungen Weißtanne fühlt diese Frau eine tiefe Ruhe und Gelassenheit (Foto freundlicherweise von Berchtold Wasser zur Verfügung gestellt; Ihm verdanken wir auch die Formulierung des Titels dieses Beitrags: »Mit den Stimmen der Mitwelt«)

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binden können; ein großer Mehrwert, wenn der Arbeitsplatz und/oder Wohnort in einer Großstadt liegt. Erfahrungen und Beobachtungen aus den Nachhaltigkeitsaufstellungen Eine wiederkehrende Beobachtung betrifft die Tatsache, dass Stellvertreter für »die Natur«, »die Erde« oder »das Wohl aller Wesen« oft von den anderen Repräsentanten zunächst kaum wahrgenommen oder völlig übersehen werden, manchmal sogar von der Aufstellungsleitung. Und dies erleben wir auch in Aufstellungen von explizit nachhaltigkeitsorientierten Organisationen und Projekten. Ein Beispiel aus einer Aufstellung im wissenschaftspolitischen Kontext zeigt Abbildung 4. Hier wurde der »Ökologie« bis zum Schluss von den anderen Elementen (wie Wissenschaft, Politik, Bürger, Partizipation und weitere) so gut wie keine Aufmerksamkeit geschenkt. Diese Dynamiken in den Aufstellungen deuten darauf hin, dass das, worum es bei der ganzen Nachhaltigkeitsbewegung letztendlich geht (oder gehen soll-

Abbildung 4: Eine Nachhaltigkeitsaufstellung im wissenschaftspolitischen Kontext (Foto freundlicherweise von F. Wagner zur Verfügung gestellt)

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te?), nämlich das Leben als Ganzes, leicht in Vergessenheit gerät. Die Menschen und Organisationen sind oft sehr stark auf sich selbst fokussiert und der Bezug auf Nachhaltigkeit wird zur Floskel oder gar instrumentalisiert. Wenn dies in Aufstellungen erkannt wird, bietet sich die Möglichkeit zu einer Wiederausrichtung auf »das Eigentliche«, was erfahrungsgemäß dann oft zu einer starken Aktivierung von positiven Dynamiken im System führt. Aber auch abgesehen von dieser »Wiederbewusstwerdung« kommen von den Stellvertretern der Natur oder assoziierter Elemente oft sehr hilfreiche Impulse für die jeweiligen spezifischen Anliegen der Aufstellungen. Häufig wirken diese kreativ, weise, versöhnend, wertschätzend, neutral und würdevoll. Die Teilnehmer sind oft (wenn auch nicht immer) sehr berührt von der Repräsentanz der »natürlichen« Elemente. Dies hat verschiedene, von den Teilnehmern beschriebene Gründe, wie z. B. das Gefühl, Intelligenz und Weisheit der Erde erleben zu können. Daneben wird mitunter erfahren, wie viel größer als wir selbst die Erde ist. Gleichzeitig entsteht der Eindruck, ihr vertrauen und uns tragen lassen zu dürfen. Weiterhin können wir, wie es das weiter oben dargestellte Fallbeispiel zeigt, menschengemachte Gedankenkonstrukte wie Anspruch, Erwartung, Pflichtgefühle etc. der Erde übergeben und uns von ihnen lösen, während sie diese »kompostiert«. Eine weitere Beobachtung, die wir des Öfteren gemacht haben und die auch von Naturaufstellern wie Mason Boring (2013) berichtet wird: Die Aussagen von Stellvertretern von Naturelementen und Natur als Ganzem scheinen zu zeigen, dass die gegenwärtigen Verständnisse von »Nachhaltigkeit«, »Umweltschutz«, »Klimakatastrophe« etc. stark von der menschlichen Perspektive geprägt sind und sich aus Sicht von Naturelementen und Ökosystemen möglicherweise ganz anders darstellen. Insbesondere scheinen diese angesichts der Veränderungen und Zerstörungen nicht mit Sorgen, Leiden, Ängsten, Wut oder Vorwürfen zu reagieren. Oft stehen die Naturelemente stattdessen gewissermaßen »über den Dingen« und betrachten die Vorgänge und die Menschen mit viel Empathie. (Diese äußert sich gelegentlich auch in Traurigkeit, die jedoch keine selbstbezogene ist.) Mason Boring (2013) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass solche Wahrnehmungen für Teilnehmende an Naturaufstellungen durchaus zunächst verstörend sein können, wenn diese stark an eine andere Weltsicht gewöhnt sind. Sie berichtet von einer Aufstellung, in der eine Umweltaktivistin für einen von Verschmutzung betroffenen Fluss stand. Als Stellvertreterin des Flusses war sie nicht besorgt und sagte zu den Stellvertretern der Menschen: »Ihr werdet vielleicht nicht überleben, aber ich schon. Ich bin schon so lange hier und wenn ihr weg seid, werde ich immer noch hier sein« (zit. nach Mason Boring, 2013,

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S. 11). Mason Boring erwähnt, dass dies die Aktivistin selbst für einige Zeit verwirrte, weil das Erleben in der Stellvertretung so stark mit ihrer gewohnten Sicht kollidierte, dass sie für die »Rettung« des Flusses verantwortlich sei. Als Aufstellungsleiter ist es ratsam, für die Eventualität solcher Integrationsprozesse Zeiten in der Seminarplanung vorzusehen.

Verbindungen und Ausblicke Vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen haben wir Ansätze vorgestellt, auf welche Arten systemische Aufstellungen Akteure in ihrem Ringen um einen gesellschaftlichen Wandel in Richtung Nachhaltigkeit unterstützen können und welche vorläufigen Schlussfolgerungen und Arbeitshypothesen sich in der Gesamtschau für uns ergeben haben. Einiges davon scheint sich auch mit Erkenntnissen und Erfahrungen in Bereichen außerhalb von Aufstellungsarbeit zu decken. Diesen Querverbindungen wollen wir zum Abschluss noch ein wenig nachgehen. Ein Beispiel ist die Beobachtung, dass die großen Ziele, zu deren Erreichung Individuen und Organisationen mit ihrem Wirken in der Welt eigentlich beitragen wollen, im Arbeitsalltag oft vernachlässigt werden oder in Vergessenheit geraten. So erleben wir z. B. auch in unseren eigenen Unternehmungen, wie leicht unser Denken und Handeln anfängt, primär um unsere eigenen Bedürftigkeiten und Wünsche zu kreisen, und wie dabei unser Ziel, wirklich substantiell etwas zum Wohl aller Wesen auf diesem Planeten beizutragen, in den Hintergrund tritt. Ein bewusster Fokus auf den übergeordneten »Purpose« der beruflichen Tätigkeit stellt sich neben der Berücksichtigung der eigenen Individualinteressen jedoch immer wieder als eine enorm wichtige Voraussetzung für langfristig motiviertes, produktives und kooperatives Arbeiten heraus. Aufstellungen können sehr effektiv eine solche Ausrichtung aktualisieren oder herstellen, indem sie uns die relevanten Systemzusammenhänge bewusst machen, in die wir und unsere professionellen Tätigkeiten eingebettet sind. Im Sinne einer solchen Bewusstwerdung und Würdigung des »großen Ganzen«, um das es bei der Nachhaltigkeit geht, stellt sich uns noch eine andere Frage: Was erfahren wir in den Aufstellungen über »die Natur«, »die Biosphäre« etc.? Was zeigt sich da? Das Erleben in Stellvertretungen für Ökosysteme und Naturelemente unterscheidet sich teils drastisch von Stellvertretungen für Menschen und Organisationen. Eine Schlussfolgerung wäre, dass Natur und den sie konstituierenden Elementen eine Art »Wesenhaftigkeit« oder »Beseeltheit« zukommt. In diesem Punkt sehen wir mancherlei Übereinstimmung mit Metho-

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den, Theorien und Disziplinen außerhalb der Aufstellungsarbeit, wie z. B. der Tiefenökologie (vgl. »Council of All Beings«; Macy, Seed, Fleming u. Naess, 1988), dem Schamanismus, der Naturmystik (Seghezzi u. Seghezzi, 2019) oder dem Naturcoaching und ähnlichen, stärker auf die Arbeitswelt zugeschnittenen, naturbasierten Methoden (s. z. B. die einfachen Übungen der Public P ­ lanet Partnerships, 2020a, 2020b). Wir bleiben sehr interessiert an diesen Entwicklungen. Sollte sich eine »wesenhafte« Sichtweise auf die Biosphäre etablieren, welchen Einfluss hätte das auf das soziale und wirtschaftliche Handeln der Menschen? Unter Einfluss der damals erstarkenden indigenen Bewegungen wurden Anfang der 2000er Jahre beispielsweise die Verfassungen Boliviens und Ecuadors geändert und »Mutter Erde« bzw. »Pacha Mama« eigene Rechte sowie das allgemeine Recht der Menschen, in einer intakten Mitwelt zu leben, eingeräumt. Aber wie gesagt, auf dem Papier ist Nachhaltigkeit bereits relativ stark – es gilt das damit gemeinte Ideal tatsächlich zu verwirklichen und gut hinzublicken, auch und gerade in Aufstellungen. Wir haben mehrfach in unseren Aufstellungen »Nachhaltigkeit« selbst als Element aufgestellt – oft mit eher verwirrenden Ergebnissen. Wir explorieren weiter, haben uns aber als Zwischenresümee vorgenommen, es im Zweifelsfall genauer zu definieren und die Klienten aussprechen zu lassen, was sie darunter verstehen. Wir verwenden es jedoch aus den eingangs dargelegten Gründen weiterhin als anschlussfähiges Oberkonzept für das Bemühen um eine bestimmte Art der Transformation. Viele Themen sind dabei miteinander verwoben, woran uns ja auch die SDGs erinnern. So geht es bei der Frage der Nachhaltigkeit z. B. auch um die Gerechtigkeit zwischen den Menschen, auch wenn wir diese hier nicht betont haben. An diese Fragen anknüpfend noch ein abschließender Gedanke bzgl. des Umgangs mit unserer eigenen »Natur«, insbesondere unseren Gefühlen. Nachhaltigkeitsthemen wie Klimawandel, Umweltvergiftung und Artenschwund sind oft geprägt von dystopischen Zukunftsszenarien und gefühlter Machtlosigkeit angesichts der Größenordnung der Geschehnisse. Das kann Sorge, Angst, Wut, Frust, Trotz, Hoffnungslosigkeit und Niedergeschlagenheit auslösen, zum Teil in erheblichem Ausmaß (Clayton, Manning, Krygsman u. Speiser, 2017; Pihkala, 2019). Insbesondere Menschen, die sich beruflich mit diesen Themen befassen, können davon betroffen sein. Während ein gewisses Maß an gefühlter Dringlichkeit die Arbeitsleistung sicherlich beflügelt, können derartige psychische Belastungen zu Handlungsunfähigkeit und Resignation führen. Einige Organisationen versuchen dem bewusst zu begegnen, wie z. B. die Nachhaltigkeitsbewegung »Extinction Rebellion«. Es werden u. a. »Safe Spaces« gestaltet, in denen

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Menschen in einem achtsamen Rahmen Gefühle zulassen, ausdrücken und mit anderen kommunizieren können. Aufstellungen, die sich gezielt dieser Thematik annehmen (z. B. Freisewinkel, 2020; Demmel, 2019), bieten zusätzlich die Möglichkeit, auch abstrakte Entitäten »greifbar« zu machen und nicht-menschlichen Wesen eine Stimme zu verleihen. Die Erfahrung zeigt, dass Menschen diese Erfahrungsräume zumeist als sehr regenerativ und unterstützend erleben: Z. B. kehrt Motivation und Schaffensfreude zurück, die Notwendigkeit von Ausgleichsaktivitäten und Erholungszeiten wird in der Folge stärker geachtet oder eine Neujustierung von Zielen und Ansprüchen findet statt. In vielen Unternehmen, Behörden und anderen Organisationen, auch denen, die sich mit Nachhaltigkeit befassen, ist allerdings bisher weder Raum noch Zeit für den gezielten Umgang mit der emotionalen Dimension der beruflichen Tätigkeit vorgesehen. Was ist nötig, um Aufstellungsarbeit in professionellen Kontexten noch mehr zu etablieren? Welche nächsten Schritte sind hier zu gehen? Wir freuen uns, gemeinsam mit anderen weiter in diesem Transformationsfeld zu forschen und zu arbeiten!

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Georg Müller-Christ

Erkundungsaufstellungen: den Raum jenseits der Lösungsorientierung im Organisationskontext erforschen

Es war ein großer Fortschritt für die Verbreitung der Systemaufstellungen, als diese mit einer lösungsorientierten Haltung verbunden wurden (Sparrer, 2001). Vermutlich war es der Schritt, der vor allem die Effizienz und die Effektivität der Methode gezeigt hat. Gleichwohl lässt es sich noch nicht beobachten, dass Systemaufstellungen zu einem häufigen entscheidungsunterstützenden Werkzeug im Management jeder Art von Organisation geworden sind (Gehlert, 2020). Ich möchte mit diesem Beitrag meine Erfahrungen der letzten Jahre anbieten, mit denen ich Erkundungsaufstellungen als weitergehendes Format insbesondere für die Anwendung in Führungs- und Organisationskontexten entwickelt habe. Dieses Format ergänzt die lösungsorientierten Aufstellungen um eine weitere Erkenntnisart, erfordert aber zugleich eine neue Denkweise und Haltung in der Durchführung von Aufstellungen. Die Herausforderung für die Leser:innen liegt darin, nicht die eine Aufstellungsart als gut und die andere als weniger gut zu bewerten, sondern die richtige Passung zu erkennen. Häufig passt eine Lösungsaufstellung, um einen Fortschritt zu erzielen, immer häufiger braucht es in komplexen Organisationsbedingungen Erkundungsaufstellungen, um das eigene System besser verstehen zu können. Die Managementtheorie ist sich darin letztlich einig, dass Unternehmen und Organisationen heute eine Komplexitätsstufe bewältigen müssen, für die sie ganz neue Tools brauchen, die komplexe Systeme anders abbilden als durch Zahlen und Fakten. Genau diese abstraktere Abbildung einer Systemkonstellation können Erkundungsaufstellungen leisten, die Unternehmen und Organisationen in den Möglichkeitsraum führen, der neue Handlungsvorschläge beinhaltet. Das Aufzeigen von Möglichkeitsräumen scheint mir der umfassendere Einstieg für die Aufstellungsmethode in das Management sein zu können (eingehend erprobt von Bulling, 2018).

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Vom Problemlösen und Erkunden Die häufigste Reaktion, die mir begegnet, wenn ich versuche, den Unterschied zwischen einer Lösungsaufstellung und einer Erkundungsaufstellung zu beschreiben, lautet: Aber am Ende der Erkundungsaufstellung steht doch auch eine Lösung! Ich möchte mit diesem Beitrag skizzieren, dass am Ende einer Erkundungsaufstellung eine Erkenntnis entsteht, diese Erkenntnis aber keine Lösung darstellt. Allgemein ausgedrückt produzieren gute Aufstellungen im Ergebnis hilfreiche Unterscheidungen. Diese Unterscheidungen können eine innere Bewegung sein, eine Lösung für ein Problem oder ein neues Bild vom eigenen System. Manchmal fallen diese Unterscheidungen zu einer Erkenntnis zusammen: Dann ist eine innere Bewegung die Lösung, die zu einem neuen Bild vom eigenen System führt. Je komplexer das betrachtete System ist, desto häufiger fallen diese Unterscheidungen aber auseinander und am Ende steht das Ergebnis: Ich habe ein neues Bild von meinem System, welches mir zeigt, dass das von mir ausgedrückte Problem im System so gar nicht vorhanden ist. Der Problem-Lösungs-Modus Probleme gelten als die Eintrittskarte in eine Aufstellung. Die meisten Aufstellenden orientieren sich an der Not der Suchenden, sie übersetzen sie in eine Frage und orientieren sich in der Leitung der Aufstellung an der Suche nach einer Antwort. Wenn die Aufstellung unübersichtlich wird, hört man häufig die Reaktion: Was war eigentlich die Frage des Klienten und der Klientin? Der Frage-Antwort-Modus ist indes noch nicht der gleiche wie ein ProblemLösungs-Modus. Der Frage-Antwort-Modus ist größer, umfassender und nicht jede Frage ist ein Problem. Gleichwohl haben beide Modi etwas gemeinsam: Was eine Antwort ist, wird durch die Frage definiert, was eine Lösung ist, wird durch das Problem definiert. Beide Phänomene sind durch Kausalität verbunden, mithin durch eine Ursache-Wirkungsbeziehung. An sich aber gibt es keine Probleme und keine Lösungen. Es gibt nur Menschen, die mit einem Ist-Zustand unzufrieden sind und gerne in den wünschenswerten Soll-Zustand wollen. Diese Diskrepanz sollen die Aufstellenden beheben, dabei ist sie durch die Menschen selbst verursacht worden. Was eine Lösung ist, entscheiden der Klient oder die Klientin selbst. Ich habe diesen ProblemLösungs-Modus idealtypisch in der Abbildung 1 visualisiert. Idealtypisch soll bedeuten, dass die Realität viele Abweichungen und unterschiedliche Erscheinungsformen dieses Problem-Lösungs-Modus hat, alle diese realen Phänomene jedoch etwas gemeinsam haben.

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Abbildung 1: Der Problem-Lösungs-Modus

Was genau macht den Problem-Lösungs-Modus aus? Es ist die Erwartung, dass das Problem verschwindet und das Handeln wieder leichter wird. Die einfachste Vorstellung ist, dass der Sollzustand dem Istzustand entspricht, nur eben ohne Problem. Für die gegenwärtige Corona-Krise bedeutet eine solche Wirksamkeitserwartung, dass mit dem Ende der Krise der Zustand vor der Krise möglichst schnell wiederhergestellt wird. Alle Einkommen fließen wieder, die alte Mobilität ist wiederhergestellt und jegliche Beschränkung wieder aufgehoben: Wir begrüßen uns wieder per Handschlag und Umarmung und stehen wieder hautnah in der Ostkurve des Stadions. Tatsächlich ist der Zwischenraum zwischen dem Problem im Gegenwartsraum und der Lösung (dem Nicht-Problem im Zukunftsraum) eine große Herausforderung für uns Menschen in allen Lebenslagen (vgl. Abb. 1). In der lösungsfokussierten Strukturaufstellung wird zur Überbrückung dieses Raumes und zur Entschärfung der Hypothesenproblematik (was wirkt wirklich?) häufig die Wunderfrage angewendet, weil sie den Blick und die Phantasie für den Sollzustand schärft, in dem das Problem nicht mehr da ist (Sparrer, 2001). Da etwas, das nicht mehr da ist, auch nicht gesehen werden kann, soll das Fehlen des Problems anhand der Wirkungen des Nicht-Vorhandenseins erkannt werden: Nehmen wir einmal an, es passiert ein Wunder und das Problem ist gelöst. Woran würden Sie als Erstes erkennen, dass das Problem nicht mehr

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da ist? Die auf Steve de Shazer zurückgehende Wunderfrage betrachte ich als Brücke zwischen dem Gegenwartsraum mit dem nicht wünschenswerten Istzustand und dem Zukunftsraum mit dem nicht mehr vorhandenen Problem. Die Klient:innen werden virtuell in den Zukunftsraum geschickt, um diesen zu beschreiben und damit alle Bedenken über die Machbarkeit des Lösungswegs zu überbrücken. Die größte Herausforderung im Problem-Lösungs-Modus entsteht, wenn eine Lösung ganz neu sein muss. Das kommt im Organisationskontext häufiger vor als im Therapiekontext. Das Suchparadoxon (Fischer, Borst u. von Schlippe, 2015) verweist darauf, dass man die Lösung eines Problems nicht suchen kann, wenn diese Lösung eine noch unbekannte ist. Damit können wir nicht wissen, wie diese Lösung aussieht, und demzufolge auch nicht, wann der Suchprozess beendet ist. Uns begegnen Möglichkeiten und Potenziale, aber ob diese dazu führen, dass der unerwünschte Ist-Zustand abgestellt werden kann, bleibt zumeist offen. Tatsächlich ist es aber bei vielen unerwünschten Ist-Zuständen so, dass sie häufig vorkommen und die Menschheit zu ihnen schon Lösungen gefunden hat – die eben nur die Problemdefinierer:innen nicht kennen. Es ist gerade die Aufgabe der anwendungsorientierten Wissenschaft, Standardprobleme zu identifizieren und dazu Standardlösungen zu finden, mithin Lösungen, die sich häufig, aber nicht zwangsläufig immer bewährt haben. In diesem Sinne ist Medizin genauso wie Betriebswirtschaftslehre eine Wissenschaft, die eng am Problemlösungsdenken angedockt ist. Die Medizin sucht ständig Heilungen für unerwünschte, weil unangenehme körperliche Zustände im evidenzbasierten Modus; die BWL sucht ständig neue Erfolgsfaktoren für (alte) Gewinnvorstellungen. Ob ein idealtypischer Problem-Lösungs-Modus für das Aufstellungsanliegen angebracht ist, könnte durch die folgenden vier systemischen Skalierungsfragen am Anfang eines Interviews mit den Anliegengeber:innen festgestellt werden: 1. Auf einer Skala von 1–10, wie überzeugt sind Sie davon, das Problem zutreffend beschrieben zu haben? 2. Auf einer Skala von 1–10, wie überzeugt sind Sie davon, dass es einen Zustand gibt, in dem das Problem nicht mehr vorhanden ist? 3. Auf einer Skala von 1–10, wie hoch ist Ihre Erwartung, dass Sie den Lösungsweg in den Zustand ohne Problem verstehen und annehmen können? 4. Auf einer Skala von 1–10, wie hoch ist Ihre Erwartung, dass Sie den Lösungsweg in den Zustand ohne Problem gehen können? Wenn für die Klient:innen eine oder mehrere der Selbsteinschätzungsskalen geringe Werte haben, könnte vielleicht eine Erkundungsaufstellung hilfrei-

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cher sein. Erkundungsprozesse machen dann einen Sinn, wenn entweder das Pro­blem nicht genau zu fassen ist, die Erscheinungsform und der Inhalt einer Lösung oder der Weg dazwischen nicht bekannt ist oder alles zugleich auftritt. Was gibt dann den Impuls, das eigene System zu erkunden? Es muss ein Erkenntnisinteresse vorliegen, eine Neugier, sein eigenes System besser verstehen zu wollen, oder ein diffuses Unbehagen, dass etwas im System nicht in Ordnung ist. Der Erkundungsmodus Ein wesentlicher Unterschied zwischen lösungsorientiertem Denken und einer erkundenden Haltung ist die Denkleistung des Gehirns. In unserer mentalen Verarbeitung ist lösungsorientiertes Denken ein sequenziell-linearer Prozess: erst das Problem, dann die Lösung. Nicht nur zeitlich, sondern auch im mentalen Verarbeitungsprozess braucht es erst das Problem, dann die Hypothese (Theorie) über die Ursachen und die Ressourcenerschließung und dann die Lösungserfahrung oder -idee. Tatsächlich kann mit diesem Problemlösungsdenken nur eine deutlich reduzierte Komplexität bewältigt werden, weil es uns sehr fordert bis überfordert, multiple Problemlagen mit divergierenden Lösungen zu verbinden. Für den sequenziell-linearen Denkprozess ist es wichtig, aus einer komplexen Gemengelage von Phänomenen ganz wenige Probleme herauszukristallisieren, um sie dann in der nächsten Sequenz linear mit einer Lösung zu verbinden. Faktisch sind wir an diesen seriell-logischen Prozess auch durch unseren Sprachausdruck gebunden: Sprechen heißt die Gleichzeitigkeit von Phänomenen hintereinander zu reihen, um sie nacheinander auszusprechen oder aufzuschreiben. In diesem Zusammenhang bietet das konstellative Denken eine Alternative: Mit der lösungsorientierten Art des Denkens und Sprechens lassen sich komplexe soziale Systeme nicht erkunden. Es ist sehr aufwändig, erst alle wichtigen Elemente zu ermitteln, dann deren Beziehungen im Einzelnen zu erkennen und alles hintereinander gereiht sprachlich abzubilden. Aus diesem Nacheinander, welches auch Voraussetzung für den Problem-Lösungs-Modus ist, kommt man durch ein konstellatives Denken heraus. Während ein sequenziell-lineares Denken eine Art »Zooming-in« in das System ist, um Details zu erkennen, stellt das konstellative Denken ein »Zooming-out« dar, ein Zurücktreten vom System, um in eine optimale kognitive Distanz zu kommen, die es erlaubt, die Gleichzeitigkeit von verschiedenen Konstellationen zu erfassen (Müller, 2011). Dieses »Zooming-out« führt dann zu einem Big Picture, zu einem größeren Blick auf das System, welcher uns hilft, das System als umfassendere Gestalt sehen zu können. Wir können es niemals als Ganzes sehen, weil wir nicht wis-

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sen können, wo es anfängt, wo es aufhört und welche Elemente und Subsysteme dazugehören. Aber wir können diese letztlich fehlende Gewissheit über die gesamte Gestalt des Systems durch relevante Konstellationen ersetzen, die wir in Erkundungsaufstellungen herausarbeiten. Ich finde den Begriff des konstellativen Denkens sehr hilfreich für den Aufstellungsprozess (Aufstellungen gleich Konstellationen!) und insbesondere für Erkundungsaufstellungen. Konstellatives Denken könnte eine Kompetenz sein, die die Aufsteller:innen-Szene in die Welt bringt und mit Erfahrungen füllt. Ich habe meine ersten Überlegungen zum konstellativen Denken in der Abbildung 2 visualisiert.

Abbildung 2: Konstellatives Denken

Da wir ein soziales System selten vollständig erfassen können, weil wir nicht wissen, wo die Systemgrenzen liegen, können wir relevante Teilbereiche des Systems in Konstellationen unterteilen. Wir suchen die für die Erkundung relevanten Elemente heraus und machen aus ihnen eine Art Subsystem. Letztlich ist jedes Format, welches für eine Aufstellung gewählt wird, eine mögliche Konstellation. Jedes System kann durch verschiedene Konstellationen (Aufstellungsformate) befragt werden. Das Ergebnis dieser Erkundung oder Befragung sind dann Potenzialitäten, Möglichkeiten für ein anschlussfähiges Handeln. Mehrfachbefragungen eines Systems mithilfe verschiedener Konstellationen führen dann zu verschiedenen Potenzialitäten, die insgesamt den Handlungsraum deutlich erweitern können. Beispielsweise könnte das gegenwärtige gesellschaftliche System im Zustand der Corona-Krise in unterschiedlichen Konstellationen befragt werden: Konstellation I: Wie zeigt sich das Teilsystem der selbstständigen Berater:innen im Kontext von Corona? Elemente – Spannungsräume: Materielle Sicherheit

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versus Unabhängigkeit; Chance versus Gefahr; Akteure: Person und Funktion von Berater:innen, Beratungstool, Corona-Virus; Kunden. Konstellation II: Tetralemma-Aufstellung mit »das Eine« (Schutz des Gesundheitssystems), das »Andere« (Normalbetrieb von Wirtschaft und Gesellschaft), »Beides« und »Keins von beidem«, wichtig dazu das 5. Element: »Das nicht und auch dies nicht«. Konstellation III: Im Spannungsfeld von Schöpfungsmodus versus Überlebensmodus positionieren sich erwerbswirtschaftliche Unternehmen, machtorientierte Politik, friedensliebende Gesellschaft, die neuigkeitsorientierten Medien, die objektive Naturwissenschaft, die gestaltungsorientierte Sozialwissenschaft, das Corona-Virus als Beobachter. Um die Potenzialitäten der Aufstellungen gut erkennen zu können, braucht es eine weitergehende hilfreiche Unterscheidung, und zwar zwischen Wirklichkeiten und Möglichkeiten: Im Unterschied zu lösungsorientierten Aufstellungen, die die Unterscheidung von Ist- und Sollzustand brauchen, arbeitet der Erkundungsmodus mit der Unterscheidung von Wirklichkeits- und Möglichkeitsraum (vgl. Abb. 3). Diese Unterscheidung ist bedeutsam und nicht sehr einfach in Handeln umzusetzen. Die Ambivalenz von Wirklichkeit und Möglichkeit erzeugt eine Spannung, die für alle Beteiligten einer Aufstellung eine Irritation schafft, die sehr konstruktiv sein kann. Die Unterscheidung bezieht sich auf eine konstruktivistische Per­

Abbildung 3: Der Wirklichkeits-Möglichkeits-Erkundungsraum

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spektive, die davon ausgeht, dass Wirklichkeit von Menschen so beschrieben wird, dass sie immer auch anders sein könnte. Wer aus Phänomenen der Wirklichkeit ein Problem macht, also einen nicht wünschenswerten Zustand beschreibt, der schließt damit weitgehend aus, dass Welt auch ganz anders sein könnte. Das, was ist, wird wichtiger genommen als das, was nicht ist und im Möglichkeitsraum dennoch vorhanden ist. Die Welt ist nicht so, wie sie den Anliegengeber:innen scheint, und vor allem ist sie praktisch nie so, wie sie noch sein könnte (Wirth u. Kleve, 2019). Wirklichkeit so zu beschreiben, dass sie reich an Möglichkeiten ist, ist das logische Gegenteil einer Problem-LösungsOrientierung. In ihr wird Wirklichkeit auf eine Möglichkeit reduziert, die nicht wünschenswert ist. Es gehört etwas Übung dazu, aus dem Aufstellungsbild einer Erkundungsaufstellung eine hilfreiche Möglichkeitskonstruktion abzuleiten, die nicht einen allzu lösungsorientierten Charakter hat. Eine wesentliche Erleichterung für diese Möglichkeitskonstruktionen stellen verdeckte Aufstellungen dar. Weil die Stellvertreter:innen nicht wissen, über welches Element sie Aussagen repräsentierend wiedergeben, werden die Anliegengeber:innen ganz von der Wahrnehmung der Person auf das Hören der Aussagen gelenkt und sind innerlich offener für die Wirklichkeiten, die sich ausdrücken. In der nachfolgenden Abbildung 4 habe ich versucht zu visualisieren, wie sich Möglichkeitskonstruktionen von linearen Wirklichkeitskonstruktionen unterscheiden. Natürlich gibt es noch wesentlich mehr Faktoren, die die Kon­ struktion von Möglichkeiten beeinflussen; mir scheinen gegenwärtig die dargestellten sehr wichtig zu sein. Die Grundhaltung im Möglichkeitsraum lautet: Es könnte auch ganz anders sein! Es gibt viele Potenzialitäten! Für diese innere Geschmeidigkeit braucht es die Bereitschaft und Erfahrung, Potenzialitäten nicht als beliebig anzusehen, sondern als Impuls, die eigenen mentalen Karten zu erweitern, ganz im Sinne der von Wirth und Kleve (2019) oben schon erwähnten Haltung: Die Welt ist nicht so, wie sie mir scheint, und es gibt immer noch mehr Möglichkeiten, als ich sie erfassen kann. Aus der systemtheoretischen Perspektive entsteht der Sinn einer Organisation dadurch, dass diese aus der Vielzahl an Varianten aus dem Möglichkeitsraum eine Möglichkeit (Potenzialität) aktualisiert und damit alle anderen Varianten im Möglichkeitsraum belässt. Sinn, in der systemtheoretischen Welt eines Niklas Luhmann (1984), ist das laufende Aktualisieren von Möglichkeiten, was wiederum nur funktioniert, wenn es Varianten im Möglichkeitsraum gibt. Ein Phänomen beschäftigt mich zurzeit sehr und ich habe es in der Abbildung 4 als: »Systeme sind dialogfähig«, bezeichnet. Wenn wir ein System in einer Erkundungsaufstellung doppelt verdeckt befragen (die Stellvertreter:in-

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Abbildung 4: Einflussfaktoren von Möglichkeitskonstruktionen

nen wissen nicht, welches System befragt wird, und auch nicht, welches Element sie repräsentieren), dann stellt sich die Frage: Wer spricht da eigentlich? Mein Eindruck: Systeme scheinen eine eigene Intelligenz zu haben, die sich in den Erkundungsaufstellungen ausdrückt. Erkundungsaufstellungen verstehe ich deshalb als eine Art Systemdialog, eine Möglichkeit, mit dem System ins Gespräch zu kommen. Erkundungsaufstellungen lassen sich im Übrigen auch dann durchführen, wenn die Anliegengeber:innen ihr Anliegen im Problemlösungsmodus beschreiben (was sie ja meistens tun). Wenn man das Anfangsbild der Anliegengeber:innen als Problembeschreibung nimmt, dann ist es zumeist so, dass ein dekontextualisiertes, nicht wünschenswertes Phänomen beschrieben wird, welches die Anliegengeber:innen beeinflusst. Sie stellen sich als Opfer oder als Reagierende dar. Tatsächlich berichten die meisten Anliegengeber:innen meiner Erkundungsaufstellungen, dass sich das Problem, welches sie zur Aufstellung geführt hat, am Ende des Erkundungsprozesses ganz anders darstellt. Akademisch ausgedrückt wird die von den Anliegengeber:innen dekontextualisierte Beschreibung eines nicht wünschenswerten Zustands durch das Aufstellungsformat wieder kontextualisiert. Mehr Kontexte in der Aufstellung führen dazu,

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dass auch das Problem defokussiert wird: Es gibt als Element eines Systems nicht einen Fokus (zumeist Anliegengeber:in), der ein Problem hat, sondern es gibt nur viele Elemente, die sich in den angebotenen Kontexten wahrnehmen und ihre Beziehungen zu den anderen Elementen beschreiben.

Merkmale von Erkundungsaufstellungen In dem Angebot von Polykontextualität zur Relativierung von Problemwahrnehmungen sehe ich das Potenzial von Erkundungsaufstellungen. Ganz in diesem Sinne verstehe ich Aufstellungen auch als Partitur von Kontexten, deren von Aufstellungsleiter:innen arrangiertes szenisches Zusammentreffen den Beteiligten neue Bilder und Ideen für das Verständnis des sozialen Geschehens liefert, an dem sie teilhaben (Müller-Christ, 2016). Kontextualisieren und defokussieren sind die beiden Tätigkeiten, die mit Erkundungsaufstellungen leichter werden. Sichtbare Polykontextualität als Ausdruck von Komplexität in Aufstellungen Ich finde den Begriff der Polykontextualität für die Erforschung und Erkundung komplexer systemischer Zusammenhänge in Theorie und Praxis (so ähnlich der Titel eines Artikels von Vogd, 2013, auch wenn dessen Definition – bei ihm »Polykontexturalität«–, nicht genau meine trifft) als sehr hilfreich für die Durchführung von Aufstellungen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass gerade die Wiederkontextualisierung von Problemlagen eine neue Möglichkeit mit sich bringt, Wirklichkeit noch anders zu beschreiben und zu erkennen. Menschen neigen dazu, ihren nicht wünschenswerten Zustand (ihr Problem) von vielen Kontexten befreit wiederzugeben und schildern häufig auch in Organisationsthematiken die Logik: Um mich herum passiert etwas, das andere verursacht haben, und ich möchte gerne, dass die anderen die Ursache wieder beseitigen, damit ich meine alten, wünschenswerten Situationen wiederhabe. So kommt der Inhaber eines kleineren Planungsbüros mit dem Thema: »Meine beiden besten Mitarbeiter arbeiten nicht mehr wie früher. Was muss passieren, damit die beiden ihre Arbeit wieder voll leisten? Mit mir als Eigentümer hat dieses Problem nichts zu tun.« Solche Problembeschreibungen reduzieren die Lösung auf die Verhaltensänderungen der beiden Leistungsträger, die der Eigentümer, wenn er Glück hat, durch mehr Wertschätzung stimulieren könnte. Wenn die Leistungsprobleme durch privaten Einfluss versursacht werden (Trennung, Krankheit

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usw.) sind die Einwirkungsmöglichkeiten gering. Das Problem ist nicht lösbar für den Eigentümer. Es könnte aber auch sein, dass die beiden Mitarbeiter auf Kontexte reagieren, die der Eigentümer nicht sieht oder nicht in seine Beschreibung aufgenommen hat. Die Fokussierung auf das Verhalten ist eine Dekontextualisierung, die der Problem-Lösungsmodus mit sich bringt. In Abbildung 5 habe ich die verschiedenen Kontexte visualisiert, die in einer Aufstellung relevant sein können. Kaum zu steuern für eine Aufstellungsleitung sind die Kontexte, die mit der Gruppe der Zuschauenden, der Stellvertreter:innen, der eigenen Tagesverfassung der Leitenden wie auch durch den Tag (Zeit) und den Raum in die Aufstellung kommen. Es ist hingegen die Aufgabe der Aufstellungsleitung, die »Meta-Kontexte« zu steuern, die mit dem gewählten Format in die Aufstellung kommen. Ich habe an anderer Stelle die Kontexte näher beschrieben (Müller-Christ u. Pijetlovic, 2018), deswegen belasse ich es hier bei deren Erwähnung. Metakontexte sind immer vorhanden, ob sie in einer Aufstellung zur Sprache gebracht werden oder nicht. Dazu kommen noch zahlreiche Subkontexte: Jedes Element hat noch einmal eigene Subkontexte, was auf der konkreten Ebene zu einer Vielzahl an Kontexten führt, die

Abbildung 5: Polykontextualität als ineinander geschachtelte Kontexte

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auf ein soziales Geschehen einwirken. Kontexte sind immer Kontexte in Kontexten in Kontexten in Kontexten usw. Sie sind ineinander verschachtelt. Wenn im Rahmen von Strukturaufstellungen von Kontextüberlagerung gesprochen wird, dann ist damit allerdings nicht die Verschachtelung der für die Aufstellung relevanten Kontexte gemeint, sondern die Beobachtung, dass sich in Aufstellungskontexte die Alltagskontexte von Stellvertreter:innen einschleichen und zu Fehlinformationen führen können (Sparrer u. Varga von Kibéd, 2010). Solche Kontextüberlagerungen können in verdeckten oder doppelt verdeckten Aufstellungen nur sehr selten beobachtet werden. Wie oben schon beschrieben, verstehe ich Aufstellungen als eine Partitur von Kontexten eines Systems, die uns die Möglichkeiten gibt, komplexe Systeme in hoher Raum-Zeit-Verdichtung im Raum zu visualisieren und zu befragen. Es lassen sich gemäß der Abbildung 5 sogenannte K1–K7-Formate als Kategorisierung für Erkundungsaufstellungen gestalten. In K1-Aufstellungen wird nur ein Meta-Kontext befragt; zumeist handelt es sich dabei um die menschlichen Akteur:innen eines Systems. Mit jedem weiteren Kontext, der im Format verwendet wird, ergeben sich neue Informationen über das System und im komplexesten Format, der K7-Aufstellung, entstehen unglaublich viele Informationen. Solche K7-Aufstellungen, die nicht nur zu Forschungszwecken eingesetzt, sondern auch für andere Erkundungsanlässe in Organisationen verwendet werden können, sind eine besondere Herausforderung an die Kunstfertigkeit der Aufstellungsleitung wie auch an die Beobachtungsgabe der Anliegengeber:innen. Sie werden am besten immer gefilmt, um sie zu Auswertungszwecken mehrfach anschauen zu können. Beispiele für K7-Aufstellungen, ohne dass sie schon so genannt wurden, finden sich in Müller-Christ und Pijetlovic (2018). Aufstellungsprozesse im Vergleich Die verschiedenen Denkformen der lösungs- und erkundungsorientierten Aufstellungen äußern sich in unterschiedlichen idealtypischen Abläufen. Auch hier gilt wie oben schon erwähnt der Hinweis zum Idealtypus: Er ist aus dem Zweck der Aufstellung logisch abgeleitet. In der Realität gibt es vielfältige Erscheinungsformen, hier haben die Aufstellungsleiter:innen ihre Erfahrungen gemacht und für sich bewährte Prozesse gestaltet. Es ist mir in meinen Fortbildungen immer sehr wichtig, dass die beiden Prozesse auseinandergehalten werden und im Aufstellungsverlauf nicht aus einer Erkundungsaufstellung eine lösungsorientierte Aufstellung gemacht wird, ohne dass dieser Moduswechsel bewusst angezeigt wird (vgl. Abb. 6).

Abbildung 6: Der Prozess der Aufstellungsformen im Vergleich

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Lösungsorientierte Aufstellungen folgen der sequenziell-linearen Logik des Problemlösungsdenkens: Die Aufstellungsleitung klärt das Anliegen, einigt sich mithin mit den Anliegengeber:innen auf eine Problemerzählung, lässt diese als inneres Bild der Klient:innen im Raum als fokusorientiertes Bild aufstellen und transformiert dieses über die eigenen Hypothesen von Ursache und Wirkung des Problems in ein Lösungsbild. Die Lösung ist dann gegeben, wenn die meisten Stellvertreter:innen über ihr körperliches Befinden ausdrücken, dass es ihnen auf den Positionen im Lösungsbild gut geht. Für den Lösungsweg in der Realität des beschriebenen Systems reicht es manchmal aus, die innere Bewegung des Klienten oder der Klientin sich ausdrücken zu lassen, ohne darüber zu reden; vor allem in Organisationsaufstellungen braucht es zumeist eine intensive Nachbesprechung, um den möglichen Lösungsweg sichtbar und akzeptierbar zu machen. Das übergeordnete Ziel von Lösungsaufstellungen ist es schließlich, dass die Klient:innen einen Weg wahrnehmen und akzeptieren können, wie der nicht wünschenswerte Zustand (das Problem) zum Verschwinden gebracht werden kann. Erkundungsaufstellungen beginnen zumeist mit dem allgemeinen Anliegen: Ich möchte gerne erfahren, wie sich uns das System zurzeit zeigt! Wichtig ist es, eine Erkundungsaufstellung nicht mit einer klaren Problemorientierung zu beginnen. Diese Problemorientierung reduziert die innere Offenheit, den Selbstausdruck des Systems anzunehmen und sich irritieren zu lassen. Die Bereitschaft zur Irritation ist der Türöffner in den Wirklichkeits- und Möglichkeits­raum von Systemen, mithin die Akzeptanz, dass sich das System in den zumeist doppelt verdeckten Aufstellungen ganz anders zeigt, als es sich auf der mentalen Landkarte der Klient:innen vom System abbildet. Tatsächlich ist es eine große Herausforderung für die Systembeteiligten (Anliegengeber:innen), ihren eigenen Bestätigungsdrang zu beobachten und in eine Haltung zu gehen, die Irritationen zulässt. Mit Irritation ist gemeint, dass der Mensch es zulassen kann, dass sich ein Systembild zeigt, welches mit der eigenen mentalen Landkarte nicht zu lesen ist, dass mithin den Aussagen und den Positionierungen nicht sofort eine Bedeutung zugewiesen werden kann. Der sogenannte Bestätigungsfehler ist kognitionspsychologisch ein gut untersuchtes Phänomen und passiert auch erfahrenen und kritisch denkenden Menschen immer wieder. In Erkundungsaufstellungen kann man ihn sowohl bei der Aufstellungsleitung als auch bei den Systembeteiligten beobachten. Sie suchen in dem Bild vorwiegend die Informationen, die ihre vorgefasste Meinung oder ihr inneres Bild bestätigen. Tatsächlich haben wir auch gar keine andere Wahl, weil wir zuerst im Aufstellungsbild, welches die Stellvertreter:innen doppelt verdeckt entstehen lassen, das eigene System erkennen müssen. Es müssen

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hinreichend viele Positionierungen und Äußerungen für die Systembeteiligten bestätigend sein, um sich auf die Aufstellung einzulassen. Die besondere Herausforderung ist es dann, während der Systembefragung den Modus zu wechseln und aus dem Bestätigungshören in ein generisches Hören überzugehen. Es gilt, die Irritationen, das Unerwartete und das Neue sehen, es halten und es annehmen zu können. Teil des Bestätigungsfehlers ist es, Irritationen mithilfe der vorhandenen mentalen Karte umzudeuten, bis sie wieder in das bestehende Weltbild passen. Selbst erfahrenen Aufstellungsleiter:innen passiert dies leicht, wie folgendes Fallbeispiel zeigt: Eine Aufstellungsleiterin hatte eine Aufstellung unter meiner Leitung für sich gemacht und war mit den Äußerungen eines der Elemente überhaupt nicht zufrieden. Ihr Erklärungsversuch lief darauf hinaus, eine Art Kontextüberlagerung in der Stellvertretung zu suchen: »Da hat sich was in die Aufstellung geschlichen, was da nicht hingehört, das Element ist eigentlich ein ganz anderes!« So hören sich Bestätigungstendenzen wie auch die fehlende Bereitschaft an, Irritationen zuzulassen. Ich habe die Klientin gebeten, die Irritation auszuhalten, mit nach Hause zu nehmen und immer wieder darüber nachzudenken, was die Aussagen bedeuten könnten. Beim nächsten Seminar erzählte sie sofort, dass sie drei Wochen später einen Geistesblitz gehabt, die Aussagen dann verstanden und sofort gewusst habe, was sie tun müsse. Seitdem habe sich in ihrem Berufsleben deutlich mehr Erfolg eingestellt.

Während das System in der Erkundungsaufstellung befragt wird (was an dieser Stelle nicht ausführlicher dargestellt werden kann), gilt es folglich, die Systembeteiligten in der oszillierenden Haltung des inneren Nickens (das kommt mir bekannt vor, das sehe ich auch so!) und des Staunens (so habe ich das noch gar nicht gesehen, das kann ich nicht sofort deuten!) zu halten. In diesem Oszillieren, welches den Systembeteiligten unterschiedlich leicht fällt, liegt die unglaubliche Wirkungskraft von Erkundungsaufstellungen: Für alle Beteiligten, auch für die Stellvertreter:innen, die Zuschauenden und selbst die Aufstellungsleitung, dehnt sich der Wirklichkeitsraum aus, die tief verinnerlichte sequenziell-lineare Denklogik wird geschmeidiger und die Gewissheit kann sich breit machen, dass Welt (mein System) immer auch anders sein kann, als ich es bislang auf meiner mentalen Karte neurologisch abgebildet habe. Mit dieser Ausdehnung von Wirklichkeit öffnet sich zugleich der Möglichkeitsraum und erste Potenzialitäten tauchen auf, die bislang nicht wahrgenommen wurden. In den Erkundungsaufstellungen kann eine solche Potenzialität über ein Potenzialbild erzeugt werden (vgl. Abb. 6). Nachdem das System intensiv befragt wurde, verändere ich den Kontext mit der folgenden Frage: Welches Potenzial steckt jetzt gerade

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in diesem System mit den vorhandenen Ressourcen und den verinnerlichten Erfahrungen? Die Stellvertreter:innen formieren sich dann in dieses Potenzialbild, welches eine der Potenzialitäten aus dem Möglichkeitsraum abbildet. Die Frage nach dem Potenzial eines Systems darf nicht mit der Sehnsucht nach dem Idealzustand verwechselt werden: Wie sieht das ideale System aus? Eine solche Frage halte ich für nicht zielführend und die Bilder für nicht interpretierbar. Ziel einer Erkundungsaufstellung ist es, einen Systemzustand halten und akzeptieren zu können. Es ist die konsequente Antwort auf die Frage: »Wie zeigt es sich?« – nämlich: »Wenn wir in dem Format mit den gewählten Kontexten das System befragen, dann zeigt es sich so!« Die wichtigste und zuweilen schwierigste Herausforderung für die Aufstellungsleitung ist es, im Prozess des Erkundens nicht in den Modus des Problemlösens zu wechseln, weil eines der Systemelemente Unwohlsein oder Bedürfnisse ausdrückt. Die Frage: »Was braucht das Element, damit es ihm besser geht?«, ist der Indikator dafür, dass der Modus gewechselt wird und nun in das System interveniert wird. Veränderungen im Aufstellungsbild einer Erkundungsaufstellung, die die Aufstellungsleitung vornimmt, beruhen fast immer auf unbewussten Hypothesen über einen nicht wünschenswerten Zustand des Systems, der beseitigt werden soll. Auch die Aufstellungsleitung muss einen schwierigen Systemzustand aushalten können und kann dann für eine weitere Aufstellung den Klient:innen anbieten, an den Systemzuständen zu arbeiten, die sich als kritisch gezeigt haben. Dazu eignet sich der Prozess einer lösungsorientierten Aufstellung. Erkundungsaufstellungen können folglich als eine Art der Systemanamnese gelten, die durch einen Selbstausdruck des Systems entsteht. Die Auswertung dieser Systemanamnese ist dann ein weiterer wichtiger Schritt, etwas über das System zu lernen.

Die Auswertung einer Erkundungsaufstellung Es macht auch hier einen Unterschied, wie eine lösungsorientierte oder eine erkundungsorientierte Aufstellung im Nachgespräch ausgewertet wird. Der sequenziell-lineare Modus der Problemlösungsaufstellung fokussiert eine Diskussion beinahe automatisch auf den Zusammenhang zwischen formuliertem Problem (Anliegen der Aufstellung) und der erarbeiteten Lösung. Letztlich geht es dabei um die Feststellung, ob die Klient:innen die Lösung verstehen wie auch akzeptieren und überzeugt davon sind, den Weg zur Lösung gehen zu können, weil die dafür notwendigen Ressourcen vorhanden sind. Eine disziplinierte Auswertung fokussiert auf die Qualität der Antwort aus der Aufstellung, eine

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undisziplinierte Auswertung lässt die Gruppe noch zahlreiche (therapeutische) Empfehlungen in den Raum bringen, die weit über den Kontext der Aufstellung hinausgehen und zumeist die Anliegengeber:innen überfordern. Für mich ist eine Auswertung einer Aufstellung »diszipliniert«, wenn sie ganz eng an den Kontexten geführt wird, die in der Aufstellung befragt werden. Jede Aussage, die aus der Aufstellung abgeleitet wird, müsste (zumindest gedanklich) mit dem Satz beginnen: »Wenn man das System in den von uns gewählten Formaten (Konstellationen) befragt, dann zeigt sich das Element X in dieser Form!« Um das Auswertungsgespräch diszipliniert zu führen, sind die folgenden Unterscheidungen wichtig: Stimmigkeit versus Irritation sowie zwischen Beobachtung, Erklärung und Bewertung. Beobachtung und Bewertung zu trennen, ist für die meisten Menschen eine große Herausforderung, vor allem, wenn es um das eigene System geht. Beobachten heißt, die Unterschiede zu beschreiben, die im Verlaufe der Aufstellung aufgefallen sind. Erklären findet statt, wenn diese Unterschiede kausal mit anderen Phänomenen verbunden werden, die sie verursacht haben könnten. Bewerten ist dann der Schritt, in dem dem beobachteten und erklärten Unterschied eine Bedeutung oder ein Urteil hinzugefügt wird. Den sehr relevanten Unterschied für eine Auswertung will ich an einem kurzen Beispiel illustrieren: Beobachtung: Der Vertrieb eines Unternehmens positioniert sich in der Aufstellung am Rande des Systems mit Blick nach außen und fordert die Marketingabteilung auf, auch einmal seinen Blickwinkel einzunehmen und nicht nur schöne Werbebilder zu malen. Erklärung: Der Vertrieb hat den Kontakt zum Kunden außerhalb des Systems und glaubt, dass die Marketingabteilung, die für die Gestaltung von Werbung zuständig ist, nicht nahe genug am Kunden ist, um die Vertriebsabteilung in ihrer Aufgabe zu unterstützen. Bewertung (aus der Sicht der Marketingabteilung): Unsere Arbeit wird vom Vertrieb zu wenig geschätzt, der Vertrieb glaubt, Werbung effektiver gestalten zu können.

Am Fallbeispiel wird schnell deutlich, dass sich die drei Auswertungsphasen nicht deutlich trennen lassen, weil schon in der Beobachtung eine Erklärung angelegt ist sowie in der Beobachtung und der Erklärung durch die Wahl der Worte eine Bewertung vorgenommen werden muss und in der Bewertung nur eine mögliche Erklärung bevorzugt wird. Wenn die Aufstellungsleitung in der Nachbesprechung der Erkundungsaufstellung zur Moderation eines Erkenntnisprozesses wird, ist es eine große Herausforderung, die Gruppe immer wieder an die Kontextbezogenheit der Aussagen und auf die Unterschiede zwischen Beob-

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achten, Erklären und Bewerten hinzuweisen. Das setzt voraus, dass die Aufstellungsleitung hier sehr bewusst ist und die Unterschiede selbst erfassen kann. Wie und in welchem Ausmaß die sich anschließenden Phasen des Erklärens, Bewertens und vielleicht auch Gestaltens konstruktiv bewältigt werden können, hängt vor allem davon ab, wie viel Irritation die Aufstellung in den Systembeteiligten erzeugt hat, diese aushalten können und wollen und wie viel Systemwissen die Aufstellenden haben. In diesen Phasen hängen die Erkenntnisse wie bei jeder Art von Interpretation vom vorhandenen Vorwissen über das System und dem Theoriewissen ab. Wer eine Erkundungsaufstellung über das Qualitätsmanagement eines Unternehmens macht, sollte sich mit der Logik von Auditierungen auskennen, wer ein agiles Unternehmen erkundet, sollte etwas von Selbstorganisation und Enthierarchisierung verstehen oder wer ein Körperteil wie einen Fuß oder einen Rücken aufstellt, sollte medizinisches Wissen oder physiotherapeutisches Wissen im Raum haben, um gehaltvolle und anschlussfähige Interpretationen zu ermöglichen. Am Ende eines Auswertungsgesprächs sollten neue Vermutungen oder erkenntnisleitende Thesen (Pijetlovic, 2020) aus dem Wirklichkeitsraum formuliert werden, die andere Handlungspotenziale aus dem Möglichkeitsraum erschließen. Und da es sich um Interpretationen handelt, sollten diese Vermutungen auch im Konjunktiv formuliert werden: »Es könnte sein, dass der Vorstand der neuen Marketingstrategie viel aufgeschlossener und unterstützender gegenübersteht, als wir es als Marketingabteilung bislang vermutet haben.« »Es könnte sein, dass unsere Überzeugung über die Zukunftsfähigkeit des Produktes X von den Kunden nicht geteilt wird.« Während die Systembeteiligten solche bedeutungsarmen und kausalfreien Vermutungen formulieren, findet die Neuerfindung von Realität statt. Die Menschen erzählen ihr System anders und öffnen damit die Türen in den Möglichkeitsraum, der dann neue Potenzialitäten für Transformation oder Entwicklung zeigt. Diese Potenzialitäten werden von den Systembeteiligten dann auch viel engagierter aufgenommen, weil sie letztlich ihre eigene Systemerzählung neu gefunden haben und nicht von einer Beraterin oder einem Berater übernehmen müssen.

Fazit: Listen to your systems! Meiner Beobachtung nach ist eine der größten Wirkungen von Erkundungsaufstellungen, dass sie uns eine neue Sicht auf die Welt ermöglichen. Wir können unsere Perspektive und unsere Denkweise, die zumeist auf ein Problemlösungs-

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denken und damit auf ein sequenziell-lineares Denken fokussiert ist, auf einen wesentlich größeren Wirklichkeits- und Möglichkeitsraum erweitern. Es wird weiterhin viele Probleme (nicht wünschenswerte Zustände) in der Welt geben, die nach konkreten Lösungen rufen. Es gibt zugleich die Notwendigkeit, unsere komplexen Systeme besser verstehen zu lernen, indem wir sie auf eine andere Art und Weise erkunden. Eine erkundende und konstellative Haltung kann uns dazu führen, unsere Welt als Wirklichkeitskonstruktionen und Potenzialitäten zu verstehen. Erkundungsaufstellungen ermöglichen einen Besuch im Wirklichkeits- und im Möglichkeitsraum unserer Organisationen und bringen uns in eine geschmeidigere Haltung gegenüber der Realität. Sie eröffnen damit auch einen weiteren Zugang zu Kreativität und Innovation (Rippel, 2019). Und weil uns als Menschen, die über Systeme reden, allzu leicht nur unsere eigene Problemsicht begegnet, können wir in Erkundungsaufstellungen lernen, nicht über das System zu reden, sondern mit dem System in einen Dialog zu gehen. Das Motto für Systementwicklung und -transformation in einer komplexen Welt könnte lauten: Listen to your system! Es scheint mir gerade diese Qualität zu sein, die Menschen in Organisationen die Aufstellungsmethode näherbringen könnte. Sie erfahren von Beratungsseite aus dann nicht neue Tools für den bewährten Problem-Lösungs-Modus, sondern erkennen den Wert des intensiven Hinhörens auf das System, um mit diesen Informationen wirklich neue Wege gehen zu können.

Literatur Bulling, K. (2018). The Systems Constellations as an Instrument for Change Agents. Wiesbaden: Springer Gabler. Fischer, H. R., Borst, U., Schlippe, A. von (2015). Was tun? Fragen und Antworten aus der systemischen Praxis. Ein Kompass für Beratung, Coaching und Therapie. Stuttgart: Klett-Cotta. Gehlert, T. (2020). System-Aufstellungen und ihre naturwissenschaftliche Begründung. Wiesbaden: Springer Gabler. Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Müller, A. von (2011). The Logic of Constellations. In S. Han, E. Pöppel (Eds.), Culture and Neural Frames of Cognition and Communication (pp. 199–213). Heidelberg: Springer. Müller-Christ, G. (2016). Systemaufstellungen als Instrument qualitativer Sozialforschung. Vier, vielleicht neue Unterscheidungen aus der Sicht der Wissenschaft. In G. Weber, C. Rosselet (Hrsg.), Organisationsaufstellungen. Grundlagen, Settings, Anwendungsfelder (S. 72–93). Heidelberg: Carl-Auer. Müller-Christ, G., Pijetlovic, D. (2018). Komplexe Systeme lesen. Über die Potenziale von Systemaufstellungen in Wissenschaft und Praxis. Wiesbaden: Springer Gabler. Pijetlovic, D. (2020). Das Potenzial der Pflege-Robotik für Wirtschaft und Gesellschaft – eine systemische Erkundung. Wiesbaden: Springer Gabler.

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Rippel, J. (2019). Systemische Kreativität – der inspirierende Zugang zur Innovation. Oder die Wiederentdeckung der Intuition in der Wirtschaft durch Systemaufstellungen. Heidelberg: Carl-Auer. Sparrer, I. (2001). Wunder, Lösung und System. Lösungsfokussierte Systemische Strukturaufstellungen für Therapie und Organisationsberatung. Heidelberg: Carl-Auer. Sparrer, I., Varga von Kibéd, M. (2010). Klare Sicht im Blindflug. Schriften zur Systemischen Strukturaufstellung. Heidelberg: Carl-Auer. Vogd, W. (2013). Polykontexturalität. Die Erforschung komplexer systemischer Zusammenhänge in Theorie und Praxis. Familiendynamik, 38 (1), 32–41. Wirth, J. V., Kleve, H. (2019). Die Ermöglichungsprofession. 69 Leuchtfeuer für systemisches Arbeiten. Heidelberg: Carl-Auer.

Thomas Hafer

Die Kunst der Erholung Führungskräfte-Retreats als alternatives Stressmanagement

Ich habe in den vergangenen zwanzig Jahren mit über 1.500 Führungskräften und Leistungsträgern im Business mehrtägige Seminare zur persönlichen Entwicklung durchgeführt. Systemaufstellungen waren von Anfang an ein wesentliches Element. Das Teilnehmer*innen-Feedback, insbesondere das sogenannte Transfer-Feedback nach drei Monaten ist außergewöhnlich. Besonders eine Rückmeldung kommt immer wieder: »Ich fühlte mich schon nach drei Tagen erholter als nach zwei Wochen Urlaub.« Inzwischen habe ich mich auf dieses Thema spezialisiert, habe einen siebenstündigen Videokurs zum Thema Erschöpfung im Business veröffentlicht (Hafer, 2017) und biete viertägige Retreats unter dem Titel »Die Kunst der Erholung« an. Denn Erschöpfung wird immer mehr zu einem der zentralen Themen der Führungskräfte. Wie genau tragen Systemaufstellungen so wirksam dazu bei, dass innerhalb weniger Tage dieser große Erholungseffekt entsteht, der auch anhält und drei Monate später bestätigt wird? Diese Frage möchte ich hier reflektieren.

Erschöpfung ist häufig Ich beobachte ein paradoxes Phänomen. Die meisten Teilnehmer*innen meiner Seminare arbeiten engagiert, sind erfolgreich, mögen ihren Job und auch die überall aufkommenden Aufbrüche in Agilität und New Work. Und gleichzeitig, wenn wir uns besser kennenlernen und es authentisch wird, zeigt sich: In fast jeder Gruppe waren ein oder mehrere Teilnehmer*innen schon einmal viele Wochen oder Monate im Burnout. Und in jeder Gruppe zeigt sich massiv Erschöpfung. Ich frage seit vielen Jahren oft in die Runde: »Wer würde dieser These zustimmen: Mein persönliches Empfinden von Druck und Stress im Job ist in den letzten fünf Jahren um 100 %, also auf das Doppelte von vor fünf

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Jahren gestiegen?« Durchschnittlich vier von zwölf Teilnehmer*innen zeigen auf. Erschöpfung ist überall, in kleinen und mittleren Unternehmen oft ein bisschen weniger, in Großunternehmen mehr. Auch objektiv und in seriösen Studien zeigt sich dieses Phänomen. Schon 2009 hat die Bertelsmann Stiftung in einer großen Studie festgestellt, dass 70 % der deutschen Manager objektiv dauerhaft in einem Zustand psychischer und physischer Erschöpfung arbeiten. Viel mehr Betroffene sprechen übrigens inzwischen das dringende Bedürfnis nach Erholung auch aus, im Seminar und beim Chef.

Erschöpfung ist geschäftsschädigend Mit dem Thema Erschöpfung wird meist das Risiko der drohenden monatelangen Ausfälle von Leistungsträgern durch Stresserkrankungen verbunden. Außerdem belastet Erschöpfung natürlich in extremer Weise die persönliche Lebensqualität. Es wäre nicht nur zynisch, sondern auch schlicht falsch, dies aus Sicht des Unternehmens als irrelevant zu sehen. Selbstverständlich leidet das Engagement im Job, wenn dieser so erschöpfend ist. Für noch relevanter halte ich aber zwei andere Aspekte, beide entscheidende Engpässe sehr vieler Unternehmen: Den Fachkräftemangel und die Zukunftsfähigkeit durch Agilität. Fast jedes Unternehmen betreibt hohen und oft teuren Aufwand, junge Informatiker*innen, Ingenieur*innen, Betriebswirtschaftler*innen und andere Fachkräfte zu gewinnen. Es ist wichtig, dass sie bleiben, weil sie ihren Arbeitsplatz als attraktiv erleben. Das wird sehr erschwert, wenn die Führungskräfte chronisch erschöpft und dadurch schlecht gelaunt, unkommunikativ und auch ausfallend werden, und vor allem, wenn sie ihre Führungsaufgaben auf den Tag verschieben, an dem Zeit dafür ist, der aber niemals kommt. Führungsauf­gaben sind wichtig, aber oft nicht dringend, d. h. termingebunden. Klassisch sind folgende: für Ziele sorgen, entscheiden, organisieren, kontrollieren, die Teamatmosphäre pflegen und Mitarbeiter entwickeln. In heutigen agilen Organisationsformen sind diese Führungsaufgaben nicht unbedingt auf eine Person an der Spitze konzentriert, sondern auf verschiedene Menschen mit verschiedenen Rollen verteilt. Sie bleiben aber unverändert wichtig und auch in diesen modern verteilten Führungsrollen muss der/die Zuständige energiemäßig dazu in der Lage sein, sie zu bewältigen. Mit Agilität ist kurz gefasst die Fähigkeit eines Unternehmens gemeint, schnell kreativ und klug auf immer rasantere Veränderungen im Wettbewerb und bei den Kundenbedürfnissen zu antworten. Ein erschöpftes Gehirn ist objektiv eingeschränkt, insbesondere in seiner kreativen Intelligenz. Die wirk-

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lich gute, ganz neue Idee kommt im Erschöpfungszustand auch bei den klügsten kreativsten und für Agilität ehrlich begeisterten Führungskräften nicht.

Erschöpfung entsteht aus Eile und Mangel an Resonanzerfahrungen Wie kommt es zum Phänomen der zunehmenden Erschöpfung im Business? Aus meiner Sicht sind die Gedanken zu Beschleunigung, Entfremdung und Resonanz des Jenaer Soziologen Hartmut Rosa sehr erhellend. Rosa (2013) beschreibt das paradoxe Phänomen der ständigen Beschleunigung durch zeitsparende Technologie. Ein Haupttreiber technologischen Fortschritts ist das Bedürfnis, Zeit zu sparen. Ein technologischer Fortschritt verkürzt sehr oft auch tatsächlich den Zeitaufwand für eine Tätigkeit. Die Folge ist aber nicht wie gedacht, dass Zeit übrig bleibt und der Zeitwohlstand wächst, sondern die Tätigkeit wird mit der neuen Technologie viel häufiger wiederholt vollzogen. Die Häufigkeitssteigerung übersteigt fast immer die Zeitersparnis pro Ausführung, manchmal sogar dramatisch. Wir schreiben heute eine E-Mail in einem Fünftel oder Zehntel der Zeit für einen entsprechenden Brief. Aber wievielmal häufiger schreiben wir heute eine E-Mail als früher einen Brief? Fünfzigmal? Hundertmal? Mehr? Diese sich ständig und immer verrückter steigernde Beschleunigung der Vorgänge im Business und im Leben ist ein systemisches Phänomen, dem sich der Einzelne so gut wie gar nicht entziehen kann. Wir leben in einer »Zeit-Hungersnot« (2013). Dieses Phänomen bewirkt Erschöpfung durch zwei wesentliche Dynamiken: Zunächst geschieht genau das, was der wohl bedeutendste deutsche BurnoutExperte, der Hamburger Psychologe Matthias Burisch (2013) in seiner großen Metastudie als einzige gemeinsame Erkenntnis aus allen greifbaren, seriösen Studien zum Thema destilliert: Burnout ist der Zusammenbruch der Selbstwirksamkeitsüberzeugung. Ich nenne sie etwas sinnlicher das Gefühl »Ich kann«. Dieses Gefühl wird durch Beschleunigung und ständige Eile auf verschiedene Weise geschwächt. Hier nur die wichtigste: Wer fast immer fast alles in Eile erledigen muss, der kann keine Sorgfalt walten lassen und damit seine/ihre eigenen Qualitätsansprüche nicht erfüllen. Er/sie kann nicht stolz auf seine Ergebnisse sein. Dieser Stolz aber ist eine der wichtigsten Quellen für den Aufbau des Gefühls: »Ich kann«. Hartmut Rosa (2013) aber interessiert sich vor allem für die durch die Beschleunigung entstehende Dynamik der Entfremdung. Die sinnliche und seelische Kontaktnahme zu meinem Projekt, meinem Gegenüber und mir selbst

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kann sich nur mit Zeit entfalten. Diese Kontaktnahme ist aber nicht nur im Sinne der Produktqualität und des Erfolgserlebnisses wichtig, sondern sie ist die Nahrung unserer Seele. In diesem Sinne bedeutet die Zeit-Hungersnot gleichzeitig eine seelische Hungersnot. Es entsteht, wie Hartmut Rosa es nennt, Entfremdung. Selbst, wenn ich an sich reizvolle Aufgaben habe und sie gemeinsam mit hoch kompetenten und sympathischen Mitarbeitern und mit Zugriff auf alle wichtigen Ressourcen angehe, verhungere ich mitten in dieser privilegierten Situation seelisch, wenn die Kontaktnahme, das Berührt-Werden chronisch verhindert wird. Rosa betont, dass Entschleunigung alleine noch keine Lösung ist. Er hat als Gegenbegriff zu dieser Entfremdung Resonanz gewählt. Dazu mehr weiter unten. Michael Opitz (2019) fasst in einer Deutschlandfunksendung zusammen: »Resonanz zeichnet sich nach Rosa durch vier Merkmale aus: einmal durch ›Berührung‹ oder ›Anrufung‹ (etwas muss uns ergreifen, innerlich berühren), darauf muss es zweitens eine Reaktion in Form einer Antwort geben (ein Schauer läuft einem über den Rücken), wodurch wir uns drittens in unserem Weltverhältnis verändern (neugierig werden, wach bleiben, nicht verstummen). Und viertens gehört laut Rosa das ›Unverfügbare‹ wesentlich zu einer gelingenden Resonanzerfahrung dazu, die ausbleiben kann, obwohl offensichtlich alle Bedingungen für ihr Eintreten erfüllt sind: Resonanz lässt sich weder planen noch akkumulieren.«

Das Retreat ist das neue Stressmanagement Wie arbeitet und wirkt nun ein Retreat so erholsam? Woher kommen nach vier Tagen so sehr entspannte Gesichter und so viel frische Aufbruchstimmung? Und warum ist die Zeit gekommen, dass auch im Business neue Wege in diesem Sinne gegangen werden? Ein Faktor ist das Setting. Retreat heißt Rückzug. Es geht um einige Tage Auszeit und Rückzug von Arbeit und Alltag, vor allem von jeglichen Arbeitsvollzügen, beruflichen Telefonaten und E-Mails. Ein weiterer Faktor ist der inhaltliche Fokus, die Persönlichkeit, der Blick nach innen. Im Business wächst in diesen Jahren sehr deutlich die Einsicht in die Wichtigkeit der Persönlichkeit. Das erleben Unternehmen zurzeit besonders im Veränderungsprozess hin zu Agilität. Die Erfahrung, dass aufwändig gelernte agile Toolsets oft scheitern, und die Erkenntnis, dass da offensichtlich das »Mindset« nicht mitspielt, öffnet im Business ein Interesse an innerer Arbeit. »Irgendwie war mir früh klar, dass nach der Agilitätswelle die Mindsetwelle kommen müsste« (Hofert, 2018, S. VI). Das Buch »New Work Needs Inner

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Work« (Breidenbach u. Rollow, 2019) ist in kürzester Zeit ein Bestseller und ein bekannter Slogan geworden. Als ich vor einigen Jahren in der Siemens-Hauptzentrale in München innerhalb einer großen Veranstaltung zum Thema Digitalisierung einen Kurzvortrag über Persönlichkeitsentwicklung für Führungskräfte hielt, war dies unter zehn anderen einer der meist beachteten Vorträge, gerade unter den anwesenden, an höchster Stelle die Entwicklung von Agilität vorantreibenden Top-Führungskräften. Ein dritter Faktor ist die Orientierung an Achtsamkeit. Im Retreat wird jeden Morgen meditiert, über den ganzen Tag gibt es kleine Achtsamkeitsmomente und die Arbeit findet insgesamt im Jetzt, im Spüren und in Achtsamkeit statt. Das löst heute im Business keine Reaktanz mehr aus. Der von Matthias Horx (2020) schon vor vielen Jahren als Gegentrend zur alles virtualisierenden Digitalisierung vorhergesehene Achtsamkeitstrend im Business ist da. Wissenschaftliche Studien zur Wirkung von Achtsamkeit haben Konjunktur und werden im Business aufmerksam rezipiert. Das bei Google entstandene achtsamkeits­ basierte Training zu emotionaler Intelligenz: »Search Inside Yourself«, erlebt eine geradezu riesige Nachfrage. Überall in der Welt werden SIY-Trainer aufwendig ausgebildet und massiv nachgefragt. Teilnehmer*innen meiner Persönlichkeitsseminare haben schon vor vielen Jahren öfters versucht, nach ihrer eigenen Begegnung damit, Achtsamkeitsangebote an ihrem Standort in der Mittagspause oder in einfach umsetzbarer Weise anzubieten, Jahre lang mit sehr mäßigem Erfolg. In den letzten Jahren ist das Interesse enorm gestiegen. Eine Person hat daraufhin von ihrem Chef einen neuen Vollzeitjob als Achtsamkeitsmanagerin angeboten bekommen. Übrigens hat das Wort Achtsamkeit im Deutschen noch eine zweite Bedeutung. Es meint auch rücksichtsvolles Achtgeben auf die Wirkungen des eigenen Denkens und Handelns auf die Betroffenen, die Stakeholder im Business-Deutsch. Auch das liegt im Trend. Vor allem die Einsicht, dass zu diesen auch das Klima und künftige Generationen gehören. Ein vierter Faktor ist authentische Begegnung. Schon am ersten Tag entsteht eine ungekannt offene, authentische Atmosphäre, indem alle sich öffnen und einander zeigen – indem sie ihre eigene Biografie mit den wesentlichen prägenden, oft auch schwierigen Ereignissen und Einflüssen in einer Fantasiereise noch einmal erleben, erforschen und dann einander erzählen. Bei alldem ist es nicht verwunderlich, dass auch von Erschöpfung betroffene Manager heute neue Antworten suchen. Kluge Tipps zum Stressmanagement fühlen sich für die Betroffenen gerade nicht nach Erholung, sondern im Gegenteil nach zusätzlichen Anforderungen und Pflichten an. Ohne das Konzept zu kennen, verstehen Betroffene, dass es genau die beschriebenen Resonanzerfahrungen sind, die sie bräuchten.

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Systemaufstellungen bieten Resonanzerfahrungen Wie wirken nun speziell Systemaufstellungen innerhalb des Retreats? Inwiefern sind sie ein entscheidender Teil der Wirkung? Ich glaube, der wichtigste Aspekt ist: Sie bieten Resonanzerfahrungen. Und zwar noch weit eindrucksvoller als Meditation oder eine Fantasiereise. Jedenfalls wenn sie wirklich phänomenologisch Schau auf die Seele halten, wie mein Lehrer Hunter Beaumont (2008) es immer genannt hat. Die bei Rosa (2019a) benannten vier wesentlichen Elemente von Resonanzerfahrungen erkennt jeder, der Aufstellungen kennt, sofort wieder: 1. Aufstellungen ergreifen uns intensiv und wir fühlen uns im Innersten berührt. 2. Wir antworten, indem wir still werden, uns sehr konzentriert zuwenden und schauen und fühlen, was sich dort entfaltet. 3. Wir werden neugierig, hellwach, und diese besondere Wachheit und Offenheit schließt sich auch keineswegs am Ende der Aufstellung, sondern wird eine Qualität des gemeinsamen Feldes, die bleibt, solange das Feld dieser Gruppe besteht. 4. Und selbstverständlich ist allen im Raum klar, dass das, was wir in der Aufstellungsarbeit eine lösende Bewegung der Seele nennen, niemals verfügbar ist, sich niemals einfach mechanisch machen lässt. Ohne jede Erklärung ist offensichtlich, dass sie, wenn sie geschieht, ein Geschenk ist. Die bekannten Elemente der phänomenologischen Haltung, die aus meiner Sicht konstitutiv für tiefe Resonanzerfahrungen in Aufstellungen sind, kann man alle als bewusste Unterbrechung des uns im Alltag gewohnten Herangehens aus der Haltung des Verfügbarmachens verstehen. Das jüngste Buch von Hartmut Rosa (2019) hat den Titel »Unverfügbarkeit«. Es beschreibt, wie unsere Lebens- und Arbeitsweise darauf ausgerichtet ist, alle möglichen kleinen und großen Dinge des Lebens verfügbar zu machen, und wie die Dinge gerade dadurch aufhören, uns zu berühren und in Resonanz mit uns zu treten. Aufstellungen lassen Zeit. Die Eile des Tuns wird bewusst unterbrochen und die Phänomene dürfen ans Licht und in Bewegung kommen – in einer Langsamkeit, die das Spüren unterstützt, wie meine Lehrerin Gila Rogers es immer formuliert hat. Aufstellungen sammeln die Aufmerksamkeit. Das schnelle Weitergehen der Aufmerksamkeit wird unterbrochen. Durch die bleibende, gesammelte Aufmerksamkeit aller im Raum auf dem Geschehen entsteht eine besondere Energie.

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Aufstellungen sind still. Und sinnlich. Das ständige Reden wird unterbrochen, um die Aufmerksamkeit im Spüren der Körpererfahrungen und im Fühlen zu lassen. Aufstellungen arbeiten im Nichtwissen. Ich stülpe nicht meine gewohnten Sichtweisen und Konzepte über das, was anfängt, sich zu zeigen. Ich benenne erst nach einer Weile vorsichtig ganz einfache Phänomene wie: »Die Chefin sieht belastet aus«, »Keiner von euch sieht auf die Kunden«, »Du suchst deinen Chef«. Ich behaupte nicht, sondern benenne meinen Eindruck und frage nach, ob das sein kann und bekannt vorkommt. Aufstellungen geschehen im Nichttun. Das zu schnelle, ordnende Eingreifen wird unterbrochen. Wir schauen zu, was sich zeigen und entfalten will. Und irgendwann erscheint in mir als Leiter dann eine Idee und Entschiedenheit zum Handeln, der ich auch folge. Aufstellungen geschehen im Ja. Das automatische Urteilen und Präferieren und das Wegschauen, Beschwichtigen oder Beschönigen wird unterbrochen. Alles was ist, auch das Überraschende, Schmerzliche, Erschreckende, Ernste darf sein und Wirkung entfalten. Dann und nur dann entsteht in der Seele des Klienten/der Klientin eine Antwort, die weiterführt. Ich glaube, einer der wesentlichen Vorteile des Phänomens der Stellvertreterwahrnehmung ist die Tatsache, dass Stellvertreter*innen weitgehend frei von den Abwehrmechanismen sind, die wir unseren eigenen schwierigen Gefühlen gegenüber haben. Sie nehmen sie einfach wahr. Und derart von außen betrachtet erkennen die Klient*innen sie auch als die eigenen wirklichen, tiefen Gefühle wieder. Ebenso können Stellvertreter*innen bekanntlich Impulse zu Klärungs- oder Lösungsbewegungen einigermaßen klar und frei wahrnehmen und zulassen, die bei uns selbst oft völlig verschlossen bleiben, durch das, was Bert Hellinger das Gewissen und die Tiefenpsychologie das Über-Ich oder den Inneren Richter nennt. All dies geschieht in Aufstellungen leicht, fast von allein. Menschen, die noch nie meditiert haben, werden absolut still und lassen sich ein auf feines Spüren im Jetzt. Ich staune manchmal, wie fein differenziert und präzise Menschen oft ihre Stellvertretungswahrnehmungen benennen können, obwohl sie über eigene Gefühle im einfachen Gespräch fast nichts Klares und Zutreffendes formulieren können. Und wie wehrlos und tief sie als Stellvertreter*innen Gefühle von Schmerz oder Wut oder Angst in sich erlauben und fühlen, auch wenn sie eigene tiefe Gefühle kaum zulassen können. Resonanz pur.

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Systemaufstellungen zeigen, wo’s brennt – in Selbstforschungsübungen Der zweite Aspekt der besonderen Wirkung von Systemaufstellungen in diesen Retreats: Systemaufstellungen sind ein wunderbares Mittel der Selbstforschung. Und Forschung braucht es. Befunde der persönlichen Selbstforschung zu den Faktoren der eigenen Erschöpfung sind präziser richtig und motivieren vor allem sehr viel stärker zu entschiedenen Änderungen im Arbeiten und Leben als allgemeine Tipps zum Stressmanagement. Selbstforschung, Erkundung oder englisch Inquiry ist wie ähnlich auch in anderen spirituellen Traditionen die wichtigste Praktik der Ridhwan-Schule oder des Diamond-Approach. Dort geht es um die Realisierung unseres wahren Wesens, um die innere Reise nach Hause, wie der Gründer Hameed Almaas (2004) es im Titel eines seiner Bücher nennt. Ich bin seit über 15 Jahren Schüler dieses modernen Ansatzes der Selbstforschung, der spirituelle Traditionen mit moderner westlicher Psychologie und Phänomenologie verbindet, und habe den dreijährigen ersten Teil der Ausbildung zum Ridhwan-Lehrer absolviert. Die Grundidee der Selbstforschung dort ist es, forschende Aufmerksamkeit nach innen, auf das eigene Bewusstsein zu richten und so seine möglichst freie, natürliche Entfaltung einzuladen. Die wichtigen Elemente ähneln nicht zufällig den wichtigen Elementen phänomenologischer Aufstellungsarbeit (Mahr, 2019), innerhalb eines gesetzten Zeitrahmens von in der Regel zehn oder 15 Minuten richtet sich die gesammelte Aufmerksamkeit auf das, was sich im eigenen Bewusstsein offen oder auch angeregt durch eine bestimmte Frage entfaltet. Was auftaucht, wird mit Worten benannt. Ein oder zwei vollkommen passive, schweigende Zeugen hören zu und empfangen das Gesagte. Denn innere Bewegungen kommen viel mehr ins Fließen, wenn sie ausgedrückt und empfangen werden. Beim Stellvertreter in der Aufstellung ist der Ausdruck die für alle sichtbare körperliche Bewegung, hier sind es Worte. Es bedarf einiger Übung, um nicht einfach ins Geschichtenerzählen zu geraten. Es geht um eine Erforschung des eigenen Bewusstseins. Körperempfindungen und Gefühle werden fast mehr beachtet als Gedanken. Zwei Elemente sind besonders wichtig in dieser Selbstforschung. Das erste ist die »Liebe zur Wahrheit«, so der Titel einer zusammenfassenden Darstellung des Ansatzes in Buchform (Davis, 2002), also das wachsende Vermögen, reale (wenn auch oft subtile) Erfahrungen von Einbildungen oder Ergebnissen von inneren Zensurvorgängen und emotionalen Einfärbungen zu unterscheiden. Das zweite ist das unbedingte Ja. Was immer auftaucht, wird mit freundlicher, ernst nehmender Aufmerksamkeit angeschaut. Es gibt kein Ziel, keine gewollten Ergebnisse,

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es gibt keinerlei Streben, Urteilen oder Manipulieren. Es geht ausschließlich um Bewusstheit, so feine und präzise Bewusstheit wie möglich. In diesen besonderen Erlaubnis- und Aufmerksamkeitsraum hinein zeigen sich die hemmenden, verfestigten persönlichen Muster und werden als solche erkennbar. In einem jahrelangen Prozess regelmäßiger Erkundungsübungen werden die Muster allmählich immer transparenter und weniger mächtig und unser wahres Wesen scheint durch, entfaltet sich immer freier und reiner. Unsere Seele liebt nichts mehr, als sich selber in dieser Weise wiederzuerkennen, nach Hause zu kommen (Krause, 2020). Innerhalb des viertägigen Retreats lernen die Teilnehmer*innen diese meditative Selbstforschungsmethode kennen und üben sie. Vier Tage sind allerdings viel zu wenig, damit diese Übung ihr Potenzial entfalten kann. Deshalb verbinde ich sie mit einem bekannten Element aus der Aufstellungsarbeit, den Bodenfeldern. Die Selbstforschung verbindet sich so sozusagen mit der Stellvertreterwahrnehmung, die ja bekanntermaßen viel leichter und schneller fein und präzise wird. Auf diese Weise funktioniert Selbstforschung sogar in zweistündigen Workshops mit völlig ungeübten Teilnehmer*innen. Ich benenne ein bestimmtes Selbstforschungsthema. Es hat sich gezeigt, dass es sich lohnt, die die Selbstforschung inspirierenden Fragen in einem kleinen Vortrag vorher einigermaßen präzise und differenziert zu erklären. Schon zu Beginn des Erholungs-Retreats erforschen wir z. B. die möglichen Felder, in denen die für den Einzelnen persönlich zurzeit am stärksten wirkenden Erschöpfungsfaktoren liegen könnten. Ich erkläre (hier sehr kurz zusammengefasst): »Es kann sein, dass dich vor allem bestimmte Bedingungen und Gegebenheiten in deiner aktuellen Arbeit erschöpfen. Die Art, wie dein Chef seine Führungsaufgaben erfüllt, die kollegiale Atmosphäre in deinem Team, bange Zukunftsaussichten deiner Abteilung oder deines Unternehmens. Es kann auch sein, dass dich deine derzeitige private Situation, deine Partnerschaft, deine Kinder oder ein Streit mit einer Freundin belasten. Es kann aber auch sein, dass dich hauptsächlich etwas aus deiner Kindheit und Herkunftsfamilie belastet, auch wenn dir das gar nicht mehr bewusst ist. Und schließlich kann es auch sein, dass irgendetwas spezielles anderes dich momentan belastet, z. B. eine Krankheit, besondere Ereignisse, Doppelbelastungen oder Ähnliches. Wahrscheinlich gibt es belastende Faktoren in allen vier Bereichen. Aber wir wollen wissen, wo ist die Belastung besonders groß, wo spürst du am meisten? Das kannst du in dieser Übung wahrnehmen und erforschen.« Dann beschreibe ich präzise die Technik der Übung, ähnlich wie oben. Und ich lege Karten in vier Ecken des Raumes, jeweils für eines der vier genannten Themen: Ȥ Arbeit, Ȥ Privatleben,

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Ȥ Herkunftsfamilie/Kindheit, Ȥ anderes. Es gibt z. B. zwanzig Minuten Zeit. Der Selbsterforscher bewegt sich frei durch die Bodenfelder, verweilt oder wechselt oder kommt zurück, wie er will, und spricht leise seinem nahebei stehenden schweigenden Zeugen ins Ohr, was er wahrnimmt. Anschließend gibt es noch einmal z. B. zehn Minuten Zeit zum Austausch, in dem der Zeuge die Forschung des anderen unterstützende Fragen stellt oder Beobachtungen mitteilen kann. Dann wird dasselbe noch einmal mit getauschten Rollen durchgeführt. Danach teilen alle in einer Runde ihre Erfahrungen mit und ich ordne mit jedem Einzelnen die Befunde. Ich bin immer wieder beeindruckt, wie viel präziser und gültiger die Befunde aus dieser Übung sind, als sie z. B. in einer schriftlichen Selbstreflexion oder einfach in einer Mitteilungsrunde würden sein können. Die Teilnehmer*innen sind von der Tiefe und Intensität und Klarheit berührt, mit der sie jetzt wissen und fühlen, was sie wirklich belastet. Manchmal sind sie überrascht, weil sie im Alltag und in der einfachen persönlichen Reflexion ganz andere Faktoren für die wesentlichen gehalten haben. Manchmal entsteht schon in dieser Übung ohne weiteres Coaching eine klare und kraftvolle Entscheidung: Genau das werde ich ab heute entschieden anders machen. Solche Selbstforschungsübungen mit Bodenfeldern sind natürlich zu vielen verschiedenen Fragestellungen möglich. Oft erfinde ich auch spontan für eine Gruppe spezielle, neue Fragestellungen. Eine öfters ausprobierte Variante ist die Frage: »Wie viel Lebensqualität und Gelingen und Fülle erlebst du gerade in jedem dieser vier Lebensbereiche?«, zu der folgende vier Bereiche gehören: Ȥ Körper, Gesundheit, Kraft, Lust, Ȥ Arbeit, Leistung, Wohlstand, Erfolg, Ȥ Beziehungen, Partnerschaft, Familie, Freundschaften, Ȥ Spiritualität, Religion. Ein weiteres Beispiel ist: »Welche Qualitäten erlebst du an deinem derzeitigen Arbeitsplatz?« mit folgenden vier Qualitäten: Ȥ das Gefühl »Ich kann«: nährende Erfolgserlebnisse, Sorgfalt, Passung der Jobanforderungen zu deinen Stärken, Gestaltungsfreiheit, Selbstbehauptung, Ȥ das Wir-Gefühl: Beziehungen, vor allem zum Chef/zur Chefin, auch zu Kolleg*innen, Feedbackkultur, Vertrauenskultur, virtuelle Teams, Ȥ Sinn: Erfüllung, Identifikation mit dem Produkt und dem Unternehmen, Ȥ einen gesunden Rhythmus von Spannung und Entspannung: Arbeitszeiten, Freizeitkultur, Achtsamkeitskultur, zu viel Selbstoptimierung.

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Systemaufstellungen können die Lösung innerer Erschöpfungsmuster unterstützen Der dritte Aspekt der Bedeutung von Aufstellungen: Die klassische Familienaufstellung und die Symptomaufstellung können bekanntlich innere Muster oft erstaunlich schnell und deutlich klären und lösen, darunter natürlich auch jene, die zur Erschöpfung beitragen. Eine solche klassische Aufstellung machen wir oft ein- oder zweimal im Retreat. Darüber, wie das geht, brauche ich hier nicht allzu ausführlich werden. Erwähnt sei nur: Extreme Erschöpfung hat in aller Regel sowohl mit besonderen äußeren Belastungen als auch mit persönlichen inneren Mustern zu tun. Der oft monatelange Krankenhausaufenthalt im Burnout bietet vor allem psychotherapeutische Behandlung solcher innerer Erschöpfungsmuster. Früh genug reichen oft vier Tage und darin ein Treffer in einem Aufstellungsprozess. Manchmal zeigen sich als innere Erschöpfungsmuster die üblichen Verdächtigen: Perfektionismus und Angst vor Fehlern, die Kindheitserfahrung: »Liebe nur für Leistung«, schon sehr frühe Verletzungen der Selbstwirksamkeitsüberzeugung oder Bert Hellingers klassische Gewissens- und Verstrickungsdynamiken aus der Aufstellungsarbeit. Öfters kommen aber auch individuelle Muster ans Licht. Wenn ein oder zwei Personen im Retreat so ihr wesentliches persönliches Erschöpfungsmuster verstehen und entspannen, hat das auf die ganze Gruppe eine erhellende und ermutigende Wirkung. Sie erlebt, dass auch vorher nur diffus geahnte innere Muster klar verstanden und gelöst werden können. Eine unmittelbar als wirklich heilsam empfundene Bewegung der Seele ist möglich. Diese Erfahrung lässt bei vielen in der Gruppe einen neuen, sehr beflügelten Optimismus entstehen. Und viele der Beobachter*innen kommen in Kontakt mit eigenen Themen: Es zeigt sich in Berichtsrunden, dass sich auch bei ihnen, allein durch das Dabeisein, heilsame Veränderungen ergeben.

Systemaufstellungen stiften Kontakt zu einer spirituellen Dimension Einen vierten Aspekt möchte ich noch benennen. Systemaufstellungen bieten nicht nur Resonanzerfahrungen im Sinne von berührt sein, Sinn und Bedeutung erfahren. Sie haben einen spirituellen Aspekt in einem weitergehenden Sinne. Eine Systemaufstellung ist – vor allem beim ersten Mal – eine erschütternde Erfahrung, die das in unserer Kultur übliche Selbst- und Weltbild konfrontiert.

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Diese klare und eindrucksvolle Wahrnehmung der Gefühle eines völlig unbekannten Menschen, die Erfahrung, dass ich offenbar auf eine fundamentale Weise verbunden mit ihm bin, ohne jede Begegnung und ohne jedes kognitive Wissen über ihn, ist schockierend unverstehbar und gleichzeitig überzeugend. Es könnte mehr zwischen Himmel und Erde geben?! Und zwar was? Was ist dieses Mehr? Moderne naturwissenschaftlich orientierte Annäherungen sprechen von »Information« und »Informationsfeldern«. Andere Annäherungen, die vielleicht dasselbe meinen und berühren, sprechen von Geist oder Bewusstsein, lateinisch Spiritus, von Spiritualität. Bei der Konferenz zur Aufstellungsarbeit »Ich bin …, Ihr seid … – Gefährliche Selbst- und Fremdbilder und ihre Wandlung zu kollektiver Intelligenz« in Würzburg 2008 war der damalige höchste Geistliche der Sikh Religion, Guruji Sri Vast, als Redner zu Gast. Mir ist in unvergesslicher Erinnerung, was er sagte: »In diesen Aufstellungen bekommen offenbar ganz normale Menschen Zugang zu inneren Schichten, die in der Sikh-Tradition nur als Frucht jahrelanger spiritueller Übung möglich sind.« Etwas scherzhaft fügte er hinzu, er sei neidisch, weil er selber dafür so viele Jahre so schrecklich viel Mühe habe aufwenden müssen. Wie erwähnt, bin ich selbst seit vielen Jahren Schüler eines modernen spirituellen Ansatzes, der Ridhwanschule. Es fühlt sich für mich nicht mühsam an, aber es geht auch dort um jahrelange Übung, um Selbstforschung in der schon beschriebenen Weise. Und darum, die Identifikation mit dem gewöhnlichen Bild unserer selbst, dem Ego zu öffnen und unser wahres Wesen zu erfahren, zu verstehen, zu realisieren. Dies mit Worten verständlich zu beschreiben, ist kaum möglich. Es braucht die Erfahrung. Es gibt in den vielen spirituellen Traditionen der Menschheit unterschiedliche Worte dafür: Tao, Brahman, Maha-Atman, Großer Geist, Pneuma u. v. a. In der Ridhwan-Arbeit sprechen wir von Essenz oder von unserem wahren Wesen, das einfach bewusst präsentes Sein ist. Den wenigsten Menschen wird diese Realisierung in einer plötzlichen Erleuchtung geschenkt. Für die meisten Menschen braucht es einen langen Weg der Selbstforschung und Übung. Es geht um spirituelle Entwicklung, in gewisser Weise um ein zweites Erwachsenwerden. Es geht darum, nicht nur die Kindheit und Jugend hinter sich lassen, sondern auch die Identifikation mit dem Ego, dem Selbstbild als getrenntem Subjekt. Systemaufstellungen können einen ersten Kontakt stiften, eine Ahnung entstehen lassen und Neugier wecken. Seit einiger Zeit traue ich mich, explizit von Spiritualität und dem, was ich damit meine, zu sprechen. Und ich erlebe, dass die gestandenen Manager ernsthaft interessiert sind, dass sie – vor die Wahl gestellt – lieber einen Vortrag darüber als über Durchsetzungskraft hören wol-

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len. Dass sie diese Gedanken und ihre Erfahrungen im Seminar wirklich als Legitimes und Relevantes erleben. Und dass viele dranbleiben wollen, mit regelmäßiger Meditation, mit regelmäßiger Selbstforschung und mit den entdeckten Möglichkeiten der Systemaufstellungen. Nach dem Seminar kommt der Alltag wieder. Er hört nicht auf, eilig zu sein. Aber das Transfer-Feedback drei Monate nachher (Was hat es Ihnen wirklich im Alltag gebracht?) zeigt: Das Retreat hat für fast alle eine nachhaltige Wirkung.

Literatur Almaas, A. H. (2004). The Inner Journey Home. Soul’s Realisation of the Unity of Reality. Boston: Shambala Publications. Beaumont H. (2008). Auf die Seele schauen. Spirituelle Psychotherapie. München: Kösel. Breidenbach, J., Rollow, B. (2019). New Work Needs Inner Work. Ein Handbuch für Unternehmen auf dem Weg zur Selbstorganisation. München: Vahlen. Burisch, M. (2013). Das Burnout-Syndrom. Theorie der inneren Erschöpfung. Zahlreiche Fallbeispiele. Hilfen zur Selbsthilfe. Heidelberg: Springer. Davis, J. (2002). Liebe zur Wahrheit. Eine moderne Weisheitsschule. Der Diamond Approach von A. H. Almaas. Bielefeld: Kamphausen. Hafer, T. (2017). Get Strong – Anregungen gegen Erschöpfung und Burnout im Business. Zugriff am 23.02.2020 unter https://www.udemy.com/course/anregungen-gegen-erschopfung-burnout-im-business/ Hofert, S. (2018). Das agile Mindset. Mitarbeiter entwickeln, Zukunft der Arbeit gestalten. Wiesbaden: Springer. Horx, M. (2020). Zukunftstrend Achtsamkeit. Zugriff am 23.02.2020 unter https://www.horx.com/ zukunftsreden/#acc-tb_2h6a398-11 Krause, F. (2020). Diamond Approach. Weg der Diamanten/Ridhwan-Arbeit. Zugriff am 23.02.2020 unter https://www.dasid.org/diamond-approach/ Langemak, S. (2009). 70 Prozent aller Manager sind ausgebrannt. Die Welt. Zugriff am 23.02.2020 unter https://www.welt.de/wissenschaft/article4355776/70-Prozent-aller-Manager-sind-ausgebrannt.html Mahr, A. (2019). Essenzielle Qualitäten in Systemaufstellungen – eine Ridhwan-Perspektive. In K. Nazarkiewicz, P. Bourquin (Hrsg.), Essenzen der Aufstellungsarbeit. Praxis der Systemaufstelung (S. 59–71). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Opitz, M. (2019). Hartmut Rosa: »Unverfügbarkeit«. Kritischer Blick auf unsere Erwartungshaltung. Zugriff am 09.02.2020 unter https://www.deutschlandfunkkultur.de/hartmut-rosa-unverfueg­ barkeit-kritischer-blick-auf-unsere.1270.de.html?dram:article_id=439171 Rosa, H. (2013). Beschleunigung und Entfremdung. Berlin: Suhrkamp. Rosa, H. (2019a). Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp. Rosa, H. (2019b). Unverfügbarkeit. Salzburg/Wien: Residenz.

II  Fokus Non-Profit-Organisationen

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Darf ich den neuen Kollegen in der Aufstellungsarbeit vorstellen? Sein Name: »TON«. Er kann uns in der Arbeit mit unseren Zielgruppen und Systemen begleiten. Der zweijährige Ole fiel schon seit einigen Wochen durch sein extremes Verhalten auf. Er besuchte seit einiger Zeit eine Krippengruppe. Sein tägliches Spiel bestand darin, dass er mit irgendwelchen Gegenständen gegen alle möglichen Möbel und Wände bohrte. Sein ausdauerndes Spiel begleitete er stimmlich durch lautstarke Bohrgeräusche. Zwischendurch versuchte er sich durch starkes Daumenlutschen zu stabilisieren. Dazu kam, dass er den anderen Kindern und Erzieher*innen gegenüber auch weitere aggressive Verhaltensweisen zeigte, er biss und kniff und lief über andere Kinder hinweg, die spielend auf dem Boden lagen. Und er stieß sich oft, schien also seine Außengrenzen nicht zu kennen. Außerdem nahmen andere Krippenkinder sein Spiel nachahmend auf. Auf manche Kinder wirkte er angsteinflößend. Elterngespräche hatten zu keinen lösungsorientierten Erkenntnissen geführt. Deutlich geworden war allein, dass die Eltern viele »weibliche« Anteile hatten, das Kind kognitiv überfrachteten, ihn kaum eigenaktiv werden ließen und ihm keine Grenzen setzten. Das gesamte Krippenteam fühlte sich inzwischen hilflos und »genervt« durch sein herausforderndes Verhalten. In einer Teamsupervision stellte seine Bezugserzieherin Nadja das Kind mit der Frage vor, was das Bedürfnis dieses Kindes sei und was uns dieses Kind mitteilen möchte. Ihr Eindruck sei, der Junge wolle sich nicht in den Alltag einordnen und brauche ständig die volle Aufmerksamkeit und Zuwendung durch eine der beiden zuständigen Fachkräfte. Außerdem gefährde er die anderen Kinder und störe sie in ihren eigenen Bildungsprozessen. Die Eltern der anderen Kinder äußerten schon, dass Ole eigentlich unerwünscht sei und dass sie als Fachkräfte da etwas tun sollten. Dies führe zu einer Überforderung und zu einer angespannten Situation mit den

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anderen Kindern. Sie sähen keine Möglichkeit, eine Verhaltensänderung bei dem Jungen zu bewirken. Den Jungen in seinem Tun zu unterbrechen oder ihn aus dieser Situation herauszuholen, führe nicht weiter. Alle hätten das Gefühl, der Junge spüre sich nicht, nähme sich selbst in seinem Tun nicht richtig wahr und käme nicht in neue, weitere Entwicklungsschritte. Der Ruf nach personeller Unterstützung durch eine Integrationskraft würde laut. Nadja fragte sich: »Was will Ole mit seinen lauten Bohrtönen und seinen Verhaltensweisen eigentlich erreichen?«

Dies ist ein Fallbeispiel aus der pädagogischen und therapeutischen Alltagspraxis, die ich im Folgenden mit sich neu entwickelnden Methoden vorstellen möchte. Ich werde am Beispiel von Ole sechs Wege vorstellen und zeigen, wie wir durch die pädagogische Arbeit am Ton, verknüpft mit der systemischen Aufstellungsarbeit eigene Erkenntnisse über uns selbst gewinnen und wie Menschen, die wir begleiten, Erkenntnisse über sich gewinnen und diese nachhaltig in sich verankern können. Weiterhin beschreibe ich, wie wir sie ihren Bedürfnissen entsprechend professionell begleiten können und wie gleichzeitig Entwicklungsschritte angeregt werden, sowohl für Ole als auch für die Bezugserzieherin Nadja. Die Beispiele entstammen einer dreijährigen Ausbildung in der pädagogischen Arbeit am Ton für das gesamte zwölfköpfige Team einer viergruppigen Krippeneinrichtung. In der Ausbildung erlebten neben Nadja auch alle anderen Teilnehmer*innen persönliche Tonprozesse.

Grundlegende, klärende Gedanken zur Arbeitsweise Ich gehe davon aus, dass jedes Verhalten Sinn ergibt. Ole zeigte mit seinem Verhalten eine sinnvolle Reaktion auf seine Umwelt. Er explorierte. Wenn das Bedürfnis entsteht, schwierige Lebenssituationen zu verändern, können wir zwei Grundideen verfolgen: Wir nehmen das Kind und die begleitenden Fachkräfte in den Blick. Wie können wir Oles Umwelt so gestalten, dass er in Entwicklung kommen kann? Welche haptischen Angebote benötigt er und wie begleiten wir ihn dialogisch? Was löst das erlebte »Genervtsein« in uns aus und wie können wir unser eigenes Verhalten entsprechend verändern? Wenn wir genervt sind, wollen wir in der Regel dieses unangenehme, stressige Gefühl beseitigen. Mit defizitärem Blick sagen wir: »Da stimmt etwas nicht mit dem Kind.« Und wir ergründen, wie wir das Symptom unterbinden oder sogar das Kind aus der Gruppe oder Kita sondieren könnten. Wir wollen den Kontakt zum Kind lösen. Unsere Arbeit basiert allerdings auf einem ressourcenorientierten Blick und wir stärken die Stärken des Kindes.

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Wenn ein Kind mit lauter Stimme Bohrgeräusche nachahmt, entstehen Vibrationen in seinem Mund und im gesamten Körper. Es öffnet Resonanzräume in sich. Jede Zelle und alle Faszien kommen in Bewegung. So belebt sich das Kind und holt sich seine eigene Vitalität in genialer Weise. Möglicherweise kommen die Fachkräfte in diesem Moment mit ihrer eigenen Nicht-Vitalität in Kontakt und entwickeln daraus ihr Abwehrverhalten. In einer derartigen Situation kann eine Fachkraft das Kind in seinen Bedürfnissen folgendermaßen begleiten. Sie zeigt ihm Material und einen Ort, wo es dieses Bedürfnis ausleben darf, und ermöglicht ihm, sein Verhalten zu verstärken, um es im nächsten Moment auf die »Bohrwerkstatt« zu begrenzen. In unserem Fall von Ole hätte sie sagen können: »Ole, du bohrst ja hier an der Wand! In der Bohrwerkstatt kannst du bohren!« Der explorierende Drang, um in die eigene Vitalität zu kommen, wird durch Wiederholungen der Bohraktionen verstärkt. Bohren ist eine Form von Kontaktaufnahme mit einem Gegenüber über Druck. Das Kind sucht Kontakt und will sich darin spüren. Hier können wir ihm verschiedene Angebote machen: Trampolinspringen, Hüpfen, Trommeln, Berührung mit Druck (Massagen) oder eben ganz viel Ton, mit dem es sich tiefbohrend ganzheitlich wahrnehmend selbst erleben kann. Dabei wird es dialogisch begleitet. Um uns in unserer Persönlichkeit zu entwickeln, benötigen wir vor allem den haptischen Sinn, auch Greifsinn genannt. Dieser setzt sich aus den drei Basissinnen: Hautsinn, Gleichgewichtssinn und Tiefensensibilität zusammen – dazu später mehr. Ton bietet sich hier als eine einzigartige Möglichkeit an, sich den Greifsinn in allen entwicklungsgemäßen Greifakten anzueignen. Ole glich mit seinem Verhalten das aus, was von den Eltern nicht zur Verfügung stand, weil er nicht genügend Grenzen, Widerstand und haptische Gestaltungsmöglichkeiten im Kontakt erlebte. Lautes Bohren war ein in ihm entstandener Impuls aufgrund eines inneren Entwicklungsplans. Sein Tun war demnach hoch sinnvoll, damit er ins Fühlen und Handeln kommen konnte. Die Fachkräfte benötigen ein fundiertes Fachwissen über die Wirkung von Verhalten und Sprache sowie die eigene Aufarbeitung ihrer Reaktionen – im Falle Oles des »Genervtseins«.

Pädagogische Arbeit am Ton und Systemaufstellungen Im Folgenden erhalten Sie einen Überblick über die vorgenommenen Herangehensweisen zur Bearbeitung des beschriebenen Fallbeispiels, ergänzt durch eine weitere Arbeit mit einem Erwachsenen. Die neuen Herangehensweisen, die ich

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hier vorstelle, basieren auf der Verknüpfung der beiden – für mich tiefenpsychologisch fundierten – Methoden, Arbeiten am Ton und Systemaufstellungen: Ȥ Fallarbeit 1: Eine systemische Aufstellung für Ole, Ȥ Fallarbeit 2: Die Stellvertreterinnen von Ole (Stv-O) und seiner Erzieherin Nadja (Stv-N) erlebten einen Tonprozess, Ȥ Fallarbeit 3: Aufstellung mit Stellvertreter*innen für Ole (Stv-O) und den Ton (Stv-T), Ȥ Fallarbeit 4: Prozessbegleitung von Ole am Ton, Ȥ Fallarbeit 5: Supervisionsaufstellung – Die Fachkraft und das »Bohren«, Ȥ Fallarbeit 6: Meditatives Gestalten am Ton in Kombination mit Aufstellungsarbeit, Ȥ Fallarbeit 7: Tonprozesse in der Aufstellungsarbeit.

Die pädagogische Arbeit am Ton Bevor ich die Fallbeispiele vertiefe, möchte ich kurz die Besonderheit der Arbeit mit Ton vorstellen, um zu verdeutlichen, wie Gestaltungsprozesse am Ton die Persönlichkeitsentwicklung positiv beeinflussen können. Ton ist ein Naturprodukt, das in großen Mengen zur Verfügung gestellt werden kann. Es ist ein »offenes Material«, dessen sinnliche und gestalterische Möglichkeiten vom Individuum prozesshaft selbst entdeckt werden können. Durch den ersten Impuls, den wir in den Ton hineingeben, verändert sich unmittelbar seine Gestalt. Schon ein winziger Kontakt hinterlässt in uns ein Gefühl und am Ton eine Spur, die unser Interesse weckt. »Wie fühlt sich das an? Was habe ich da bewirkt? Wie ist die Spur entstanden? Bin ich tatsächlich der- bzw. diejenige, der/die die Veränderung am Ton ausgelöst hat? Wenn ich die Berührung oder Bewegung wiederhole, kann ich dann das Gleiche oder etwas Neues bewirken? Was entsteht dann?« In einer derartigen Auseinandersetzung mit dem Material wird der Ton beseelt. Er erscheint uns als ein Gegenüber. Wir begegnen ihm wie einem dreidimensionalen, gestalt- und begreifbaren Spiegel. Wir bauen zum Ton und gleichzeitig zu uns selbst eine Beziehung auf, indem wir fühlend und spürend Gefühle und durch Greifen begreifbare Gestalten, Symbole und innere Bilder entstehen lassen. Wir erleben uns in einer eigenen Wirkmächtigkeit. Die sich ständig verändernden Gefühle und Gestalten wecken immer neue Impulse, so dass wir in einen »Flow« geraten und unsere Gefühle, Gedanken und Impulse in den Ton hineinarbeiten. So verstärkt das Arbeiten am Ton unsere Wahrnehmungsfähigkeit, unseren Selbstwert, unser Selbst-Verstehen und unsere Persönlichkeitsentwicklung.

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Ton in der Persönlichkeitsentwicklung Alle Sinne werden beim Tonen weiterentwickelt. Wie schon erwähnt, steht allerdings in unserer Arbeit der haptische Sinn im Vordergrund. Er spielt für unsere Entwicklung eine besondere Rolle. Wir benötigen ihn, um uns selbst und unser Sein in der Welt zu begreifen. Er setzt sich aus drei Basissinnen zusammen: Ȥ Der Hautsinn als Kontaktsinn ist nach der Geburt der Sinn, der über Berühren, Berührtwerden und Berührtsein den Aufbau unserer Beziehungen zu uns selbst bestimmt und uns ein erstes Bild von der Welt vermittelt. Der Säugling und später das Kind entwickelt über achtsame, verlässliche Hautberührungen der Erwachsenen Selbstwahrnehmung, Gefühle, Einfühlungsvermögen, Urvertrauen und Geborgenheit. So gewinnt das Kind emotionale Kompetenz. Der Hautsinn spielt in unseren Beziehungsgestaltungen eine wesentliche Rolle. Ȥ Der Gleichgewichtssinn ist der Sinn für Balance und seelische Ausgeglichenheit. Über ihn gewinnen wir Orientierung und Entscheidungskompetenz in Bezug auf uns selbst, unsere Beziehungen und unsere Umwelt. Wir organisieren uns über das Gleichgewicht in unseren inneren und äußeren Bewegungen. Ȥ Die Tiefensensibilität entwickelt sich über Druck auf unser physisches System der Muskeln, der Bänder und des Gewebes. Die Erfahrungen in der Tiefensensibilität führen ins Handeln, in das Tätigsein. Über das eigene Tätigsein eignen wir uns die Welt an, erfahren uns als wirkmächtig kompetent und erleben uns selbst bewusst. Das Kind gewinnt daraus Autonomie und Handlungskompetenz. In der Arbeit am Ton erfahren wir uns über unsere Hautberührungen, unser Gleichgewicht und über Druckerleben und Tiefensensibilität und folgen dabei unseren ganz individuellen Bedürfnissen, Interessen, Themen und Impulsen, die vom Ton aufgenommen werden. Das Material eignet sich in idealer Weise für individuelle Entwicklungsprozesse und bietet uns die Möglichkeit, durch die Hände und mit dem ganzen Körper zum Ausdruck zu bringen, was uns bewegt.

Professionelle Begleitung am Ton Wenn wir das Handeln von Kindern aufmerksam beobachten, so können wir erkennen, mit welchen Entwicklungsthemen und Interessen sie sich aktuell beschäftigen.

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Als Vorbereitung für die Arbeit legen wir einen Tonblock oder ein Tonfeld (Deuser, 2018, S. 218 f.) auf den Tisch oder an den Platz, wo wir unsere Klient*innen am Ton begleiten. Nun geht es darum, abzuwarten, wie Klient*innen auf den Ton reagieren und wie sie sich damit auseinandersetzen. Kinder erforschen die Masse neugierig, berühren den Ton, patschen mit den Händen darauf, hinterlassen Spuren, bohren Löcher hinein, zupfen Ton ab, stopfen ihn in die Löcher, riechen und schmecken ihn und verfolgen aufmerksam jede Veränderung, die entsteht. Sie reißen mehrere kleine Stückchen ab und untersuchen wiederum, was sie da in ihren Händen haben. Vielleicht zerquetschen sie die Teilchen, legen diese in eine Schale und füllen Wasser hinein, wenn ihnen dieses zur Verfügung gestellt wird. Dann untersuchen sie, wie sich die Tonteilchen im Wasser verändern. Auf diese Weise begeben sich die Kinder auf eine Forscherreise. Sie gehen dabei immer wieder unmittelbar ihren eigenen neuen Impulsen nach und entwickeln aus dem, was sie sehen und bewirken sofort wieder neue Impulse. Dabei entsteht eine Impulskette, die die Aufmerksamkeit von Kindern oft sehr lange und intensiv bindet. Mit jedem Greifakt verwandelt sich der Ton, er nimmt die Gefühle und Bewegungen der Kinder auf. Immer neue Gestalten entstehen. Das Kind erlebt sich am Ton in einem Wandlungsakt, wir nennen das auch Entwicklung. Es setzt sich am Ton mit sich selbst, seinem Gegenüber und seiner Umwelt auseinander. Ein Kind drückt am Ton das Thema aus, mit dem es gerade besonders beschäftigt ist. Gleichzeitig erarbeitet es sich über den haptischen Sinn das, was ihm für den inneren Ausgleich fehlt. Dabei eignet es sich Fühlqualitäten und Handlungskompetenzen an und erlebt sich selbst bewusster. Das Endprodukt ist meist ohne Bedeutung, es besitzt nicht den Stellenwert, den wir Erwachsene ihm meist geben. Das Gestaltete kann auf Wunsch des Kindes eine Weile sichtbar ausgestellt werden. Wichtig ist, dass das Kind entscheidet, was mit dem Endprodukt geschieht. Oftmals legt es den Ton wieder in den Tonbehälter zurück oder lässt das Gestaltete einfach stehen. Ist ein Prozess noch nicht abgeschlossen, wird das Kind auch darin begleitet. Das Geformte wird dann mit feuchten Tüchern abgedeckt, damit es zu einem späteren Zeitpunkt, der verbindlich mit dem Kind festgelegt wird, den Gestaltungsprozess fortführen kann. Während der Prozessbegleitung macht die Fachkraft keine Vorgaben. Sobald ein Erwachsener dem Kind zeigt, »wie es geht«, ahmt das Kind das Tun des Erwachsenen nach. Sein individueller Entwicklungsprozess wird unterbrochen und sein Forscherdrang unterbunden.

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Bohren, ein haptisch-aggressiver Impuls Ole zeigte in seinem Verhalten ein Symp­ tom, er bohrte. In diesem Kapitel werden wir uns zunächst diesem Impuls und dem Erleben von Bohren von verschiedenen Seiten nähern. Was empfindet ein Kind oder ein Erwachsener beim Bohren? Was erleben wir in unserem eigenen Körper und was erleben wir am Gegenüber? Um welchen Entwicklungsschritt geht es? Auf der Abbildung 1 sehen wir Kaspar: Kaspar, fünfzehn Monate, bohrt zunächst mit der rechten Hand viele Löcher ins Tonfeld. Er freut sich über das, was er da Abbildung 1: Kaspar am Tonfeld bewirkt, und macht immer mehr Löcher. »Loch machen« erlebt er als lustig. Was die eine Hand will, will auch die andere Hand tun. Er bohrt auch mit dem linken Zeigefinger in den Ton, dann mit beiden Zeigefingern gleichzeitig. Die parallelen Greifakte bringen ihn ins Gleichgewicht. Er strahlt. Nach einer Weile schaut er hoch und signalisiert: »Ich bin fertig.« Der Tonprozess ist abgeschlossen.

Das Fallbeispiel von Kaspar verdeutlicht, was das Bohren im Ton bedeutet: Das Ich dringt in Materie ein. Das Ich kommt in einen tieferen Kontakt mit dem Gegenüber – hier dem Ton – und gleichzeitig mit sich selbst. Ein Loch zu machen oder einzustechen ist zunächst eine rein motorische Bewegung. Wird das Loch dann näher betrachtet und erfühlt, erlebt ein Kind dies als eine weitere neue Welterfahrung. Das Ich klopft an Materie an, dringt aggressiv ein, nimmt das Material am Finger wahr, spürt das Loch als etwas Umhüllendes und erlebt sich selbst wirksam! Die Bewegung und Berührung des Bohrens können sowohl motorisch-bewegend als auch sensorisch-berührend erlebt werden. Mit dem Zeigefinger zeigt das Kind an, in was das Ich »eindringen« will. Es zeigt die Richtung an, den Erfahrungs- oder Gestaltraum, in dem sich das Ich entwickeln will, wo sich das Ich selbst entdecken und erkennen will, zunächst vielleicht im motorischen Bewegungserleben und später dann auch im sensorischen Gefühlserleben. Unsere Hände sind Vermittler zwischen innerer und äußerer Welt. Bohren gehört zum Instrumentarium der Haptik und der Ich-Entwicklung wie auch

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Greifen, Einstechen, Eindringen usw. (Deuser, 2018, S. 18 f.). Das Kind erlebt Druck an einem Widerstand, spürt sich an der Grenze, bricht den Widerstand auf und dringt dann ein. Es baut den Kontakt zu sich selbst auf. Die Ich-Entwicklung ist in diesem Alter voll im Gange. Für das Kind ist das einer der ersten haptisch-aggressiven Impulse, der ins Handeln führt, der tätig werden lässt und das Gefühl vermittelt, sich als tätig und selbstwirkmächtig zu erleben. Unser Verständnis von Aggression leiten wir von dem lateinischen Wort »aggredi« ab. Im lateinischen Wortursprung bedeutet »aggredi« nur herangehen, sich nähern, auf jemanden zugehen und im aktiveren Sinne etwas ein- bzw. herausfordern. Aggression ist daher immer auch ein Ausdruck der Fähigkeit zur Selbstbehauptung und eine wesentliche Voraussetzung für ein intaktes Selbstwertgefühl (Stangl, 2020). Deuser (2018, S. 18 f.) beschreibt Bohren als einen Weg der Ablösung aus der Symbiose von der Mutter hin in Richtung Autonomie. Das Ich entdeckt seinen ersten eigenen Aktionserfolg. Wenn das Loch dann später – vielleicht auch in Kombination mit Wasser – sinnlich erlebt wird, verbindet das Kind diese »männliche« Interaktion mit Fühlen – einer »weiblichen« Interaktionsqualität. So wird durch die Erfahrungen von Motorik, verbunden mit Sensorik beim haptischen Geschehen des Bohrens mit der Zeit Sensomotorik. Bohren kann also rein motorisch, aber auch sehr sinnlich und sehr lustvoll sein. Wenn Kinder die gebohrten Löcher mit Wasser füllen, werden die Löcher sinnlich erlebt. Das Einstechen erzeugt dann ein Spritzen, das ein Gefühl von Freude und Lust auslöst. Vielleicht erlebt das Kind sich hier erstmalig in einer Grenzüberschreitung mit dem Gefühl: Ich tue etwas Verbotenes. Oder es spürt die Spritzer am eigenen Körper, fühlt das Spritzen als Überraschung, vielleicht als Schreck, der wiederum ein Gefühl und eine Reaktion von Freude oder Abwehr auslöst. Wenn Erwachsene diese Tätigkeit als Provokation erleben, kann auf beiden Seiten durch gegenseitige Ablehnung ein Widerstand entstehen, der sich spiralförmig immer stärker für die Beziehung belastend aufbaut. Wird dieser Zustand manifestiert und chronisch, kann das Kind langfristig nur mit erstarrenden, flüchtenden oder angreifenden Verhaltensweisen antworten. Mehr hat es nicht gelernt. Wird diese Erfahrung allerdings von den Erwachsenen freudig begleitet, speichert das Kind das Erleben als lustige, freudige, handlungskompetente Erfahrung ab, die es weiterhin erleben möchte und darf. Weitere forschende, vitale Fühl- und Handlungsakte werden folgen, das Kind entwickelt sich. Motorische Bewegungen wollen mit sensorischem Fühlen verknüpft werden. Reaktionen aus dem Stamm-/Kleinhirn wollen mit dem sensomotorischen Fühlen aus dem Mittelhirn verbunden werden und die Verbindung will

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im Großhirn und im Ich als sensomotorische Welterfahrung abgelegt werden, in der Handeln und Fühlen »Sinn macht«. Wenn die Kinder sich selbst mit Daumen und Zeigefinger in den Löchern berühren, also den Ton mit einem Pinzettengriff durchdringen, oder sich ihre eigenen zwei Zeigefinger berühren, bezeichnet Deuser (2018) das Erleben dieser Bohrerfahrungen als bipolare Verknüpfung. »Das Kind selbst ist es, das da reinkommt, »durchkommt« und zu sich kommt« (S. 219). Bleibt die Frage: »Wo können Kinder im Alltag in ihren ersten Lebensjahren Bohrerfahrungen machen?« Kinder zeigen Bohrbedürfnisse beim Essen. Aber lassen die Erwachsenen das zu? Oder sie bohren in ihrem Mund- und Nasenraum oder in allen weiteren Körperöffnungen. Ist das erlaubt? Kinder bohren im Sand. Aber kann ein Kind da einen Widerstand im Gegenüber erfahren, haptisch-aggressiv eindringen und dann auch das Loch entdecken? Oder rieselt das Loch gleich wieder zu und das Kind kann gar kein Loch wahrnehmen? Auch diese Erkenntnis hat mich dazu veranlasst, Ton als Bildungs- und Entwicklungsstoff in Institutionen einzuführen.

Arbeit am Ton und systemische Arbeit: Vorstellung von sieben Methoden anhand von sieben Fallarbeiten Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, Ton als Ausdrucksmaterial in die systemische Arbeit einfließen zu lassen. An dieser Stelle möchte ich sieben Methoden vorstellen, sechs je mit einer und eine ohne eine Aufstellung. In der Aufstellungsarbeit stellen wir inzwischen jegliche Themen und Symptome, Widerstände und ausgrenzende Verhaltensweisen auf, die Klienten oder Systeme belasten. Wenn wir den Ton als Tonkugel oder Tonblock hinzunehmen, gewinnen wir durch Greifakte an diesem Material weitere Informationen, die das, worum es in der Aufstellung geht, zu erschließen helfen. Mit der Fallarbeit 1 stelle ich nun eine erste Methode und Möglichkeit vor, Ton in die systemische Arbeit einzubringen: Fallarbeit 1 – eine systemische Aufstellung für Ole Ich gehe davon aus, dass alle Menschen ein Grundbedürfnis nach Ausgleich zwischen Bindung und Autonomie haben. Um zu prüfen, ob sich in Oles Familie und in der Krippe Dynamiken verstärken oder übersehen werden, stellten wir Ole, seine Eltern, die Bezugserzieherin Nadja und die Institution Krippe auf. In dieser Aufstellung konnte sichtbar werden, dass beide Elternteile für Ole nicht präsent und mit ihren eigenen Themen beschäftigt waren, also das Kontaktbedürfnis des Kindes nicht entsprechend sättigend erfüllen konnten. Dabei wurde geprüft, warum die

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Eltern aus dem Kontakt zum Kind aussteigen und Druck/Tiefensensibilität mieden. Sie zeigten verstärkt überversorgendes bis hin zu verwöhnendem Verhalten. Ihnen war es nicht möglich, Grenzen zu setzen. Sie unterbanden dadurch die Vitalität des Kindes. Auch Nadja und die Stellvertreterin für die Institution Krippe wendeten sich ab und unterbanden auf ähnliche Weise das Kontaktbedürfnis von Ole, seine Vitalität und sein Autonomiebestreben. Im Eltern- und Ahnensystem von Ole wurden Kontakt und Vitalität unterdrückt, ebenso im System von Nadja und der Institution. Bereits das Anfangsbild der Aufstellung zeigte das vermeidende Kontaktverhalten von allen Beteiligten und machte ein Erlahmen in den Bewegungen deutlich. Deutlich wurde, wie die Zerrissenheit der Eltern in ihrer Beziehung zueinander und in ihrem eigenen Vermögen, liebevolle Grenzen zu setzen, sich auf das Verhalten von Ole auswirkten. Nadja erkannte, dass auch sie in einer ähnlichen Dynamik ihre eigenen Beziehungen gestaltet und liebevoll Grenzen zu setzen für sie ein neues Übungs- und Erfahrungsfeld ist. Das Krippenteam entschied, sich mit diesem Thema gemeinsam auseinanderzusetzen und gemeinsam neue Verhaltensweisen zu erarbeiten. Während der dreijährigen Teamausbildung zeigte sich bei Nadja unter anderem ein Heimaufenthalt aus ihrer Kindheit und sie setzte sich mit den Fragen/ Lebensthemen: »Warum hast du mich verlassen?«, »mein eigener Halt« und »eigene Denkmuster durchbrechen« auseinander.

Eine ähnliche, die Selbsterkenntnis fördernde Arbeit wie im Fallbeispiel 1 beschreibt auch die Fallarbeit 2. In Situationstrainings verknüpfen wir die Arbeit am Ton mit systemischen Methoden. Stellvertreter*innen arbeiten für Klient*innen am Ton und andere Stellvertreter*innen begleiten den Tonprozess, um herauszuarbeiten, wie eine einfühlsame, achtsame, dialogische Begleitung einen Entwicklungsprozess anregen kann. Die Wirkung von einzelnen Worten und Sätzen werden so herausgearbeitet. In unserem Fall wurde die Stellvertreterin von Ole (STv-O) in einem Tonprozess von einer Stellvertreterin seiner Erzieherin Nadja (Stv-N) begleitet. Die Stv-O meldete zurück, wie sich Worte oder Sätze der Stv-N auf ihre Berührungs- und Bewegungsimpulse auswirkten. Entwicklungsschritte des Kindes, angestoßen durch die professionelle Begleitung von Stv-N, wurden somit in der Fallarbeit 2, in der die Stellvertreterinnen von Ole und Nadja einen Tonprozess erlebten, unmittelbar begreifbar: Fallarbeit 2 Die Stv-O – in unserem Praxisbeispiel hat in einer Teamsupervision diese Rolle Nadja selbst übernommen – zeigte zunächst im Situationstraining Oles übliches Verhalten. Den Raum betretend, mit dem Daumen im Mund irrte Stv-O zunächst

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im Raum herum und suchte dann nach einem Gegenstand, mit dem sie bohren könnte. Es zeigte sich, dass sie als Stv-O gleich beim Ankommen Kontakt über ihre Schultern brauchte und deshalb direkt den Blickkontakt zur Stv-N aufnehmen konnte. Die Stv-N legte die Hand auf Stv-Os Schulter und zeigte Stv-O den Tonblock. Am Ton wurden die Bohrgeräusche leiser, da Stv-O spürte, was sie am Ton bewirken konnte. Die Bemerkung: »Ganz tief«, wurde als eine tiefe Wahrnehmung des Fühlens erfahren. Die Stv-O erlebte die Hand von Stv-N auf ihrer Schulter als erdend und Sicherheit gebend. Nach einer kurzen Bohrphase steckte Stv-O zur Entspannung und Verarbeitung wieder den Daumen in den Mund, wiegte sich hin und her und war fertig. Gleich darauf wurde in der weiteren Aufstellung Stv-O (Nadja) mit Körperkontakt beim Betreten des Raums empfangen. Mit dem Daumen im Mund lief sie neben der Stv-N zum Tonblock. Stv-O bohrte wieder, aber mit etwas weniger lauten Geräuschen in den Ton. Dann drückte sie mit den Zeigefingern beider Hände die Löcher immer tiefer. Sie arbeitete mit parallelen Bewegungen und begann dann, mit beiden Händen in den Ton hineinzugreifen. Stv-O baute ihr Gleichgewicht auf und kam mit beiden Innenhandflächen in den Vollkontakt mit dem Material. Beide Stellvertreterinnen erlebten einen enormen Spannungsabbau während des Prozesses und erhielten Erkenntnisse für Oles Begleitung.

Dem gesamten, an der Ausbildung am Ton teilnehmenden Krippenteam wurde durch die Erlebnisse der Fallarbeit 2 bewusst, dass besondere Verhaltensweisen von Kindern einfühlsame Verhaltensweisen der Fachkräfte erfordern. Deutlich wurde, dass nicht das Symptom fokussiert, sondern dass das Bedürfnis nach Kontakt aufgegriffen wird und die haptischen Tätigkeiten durch einen spiegelnden Dialog begleitet und bestätigt werden. In der späteren Arbeit mit Ole (siehe Fallarbeit 4) verschwand Oles Symptom durch das einfühlsame Verhalten von Nadja in kürzester Zeit und Ole entdeckte am Ton in Verbindung mit Wasser weitere Greifakte. So konnten sich schließlich in Oles Gehirn diese haptischen Erfahrungen von Mal zu Mal als neues und positives Selbsterleben verankern. Zunächst erfolgte, um dies zu ermöglichen, die Fallarbeit 3 – eine Aufstellung mit Stellvertreter*innen für Ole (Stv-O) und den Ton (Stv-T). Denn in dieser dritten Aufstellung haben wir auch einen Stellvertreter für den Tonblock aufgestellt, um durch ihn zu erfahren, was das Bedürfnis des Jungen sein könnte und was er erreichen möchte: Fallarbeit 3 Die Stv-O stand ca. 80 cm vom Stv-T entfernt und fixierte ihn daumenlutschend. Der Stv-T sagte: »Ich stehe hier fest mit dem Boden verwurzelt. Ich bin da. Ich

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habe keinen Impuls, bin einfach da und schaue. Du kannst mit mir alles machen, komm. Wenn du mich berührst, reagiere ich darauf mit Berührung. Wenn du mich bewegst, reagiere ich ebenfalls darauf. Ich folge deiner Bewegung und verändere meine Gestalt. Ich bin für dich da. Immer.« Die Stv-O lief sofort auf den Stv-T zu, deutete die Bohrbewegung mit ihrer rechten Hand an und lief unmittelbar in den Stv-T hinein, so als wolle sie mit ihm verschmelzen. Dieser umarmte sie haltgebend, so dass die Stv-O sich völlig entspannte.

In der Aufstellung der Fallarbeit 3 hat sich gezeigt, dass Ole nach kontinuierlichem Halt und Vollkontakt suchte, der ihm Sicherheit und Selbstvertrauen vermittelte. In der Ausbildung hatten wir in einem Situationstraining die Prozessbegleitung von Ole am Ton vorbereitet. Wir hatten uns anschauen wollen, wie sich Ole am Ton zum Ausdruck bringen würde. Welche Berührungen und Bewegungen könnten wir beobachten? Welchen Gestaltungsprozess würde er aufgrund einer dialogischen Prozessbegleitung durchlaufen? Nadja setzte diese Erkenntnisse mit Ole in der Fallarbeit 4 – der Prozessbegleitung von Ole am Ton um: Fallarbeit 4 – der Prozessbegleitung von Ole am Ton Nadja platzierte in ihrer Krippengruppe auf einem Tisch einen Tonblock. Ole näherte sich nach der Begrüßung am Daumen lutschend dem Ton. Er bohrte zunächst mit seinem rechten Zeigefinger hinein. Seine Fachkraft begleitete ihn dialogisch spiegelnd: »Ole bohrt. Ganz tief.« Ole spürte, dass er jetzt erstmalig für sein haptisches Bedürfnis Beachtung, Anerkennung und vor allem Kontakt erfuhr. Und er erhielt erstmalig eine Bestätigung, dass sein Bedürfnis und der Bewegungsimpuls richtig waren, im Sinne von: »Es ist gut, was ich da mache. Da schaut jemand ganz genau hin, was da passiert, was da entsteht, wie ich das mache, was ich da bewirke. Und diese Begleitperson ist mit mir im vollen Kontakt.« Nadja: »Ob das wohl noch tiefer geht?« Diese Worte erlebte das Kind wie eine positive Verstärkung, eine Aufforderung, weiter zu forschen. Ole meldete strahlend zurück: »Loch gemacht«. Nadja: »Ja, Ole, du hast ein Loch gemacht. Und du freust dich!« Ole erlebte eine positive Konnotation. Sein Tun wurde mit einem positiven Gefühl verknüpft und im Gehirn abgespeichert. Nadja: »Ah, die eine Hand …« Unbewusst spürte das Kind, da ist ja noch eine Hand, mit der ich bohren könnte. Bohren mit beiden Händen gleichzeitig führt das Kind ins Gleichgewicht durch parallele, gleichgewichtige Bewegungen mit Druck. Dieser Druck bewirkt im gesamten Körper des Kindes einen Gegendruck, der in die gesamte Muskulatur hineinwirkt. Ole kam mit Druck und Gegendruck in einen tieferen Kontakt zu sich selbst.

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Nadja: »Wie fühlt sich das Loch denn an? Wie fühlt sich das da drinnen an?« Ole fühlte in das Loch hinein. Er gab keine Antwort, hatte noch kein Wort für seine Erfahrung. Ole goss warmes Wasser hinein, spürte die Form des Loches und das wohlig warme Wasser darinnen.

Aus anderen Tonprozessen als dem im Fallbeispiel von Ole haben wir beobachtet, wie in weiteren haptischen Schritten aus Löchern Flüsse oder unterirdische Gänge entstanden sind, es fanden Begegnungen zwischen Fingern in den Gängen statt oder es sind Löcher entstanden, durch die wir hindurchschauen konnten, in denen wir uns auch mit den Augen gegenseitig begegneten. Flüsse wurden zu Seen, darin schwammen dann Tiere. In Oles Fall ermöglichte der Tonprozess ihm, in weitere Entwicklungsschritte zu kommen, indem er sich durch das Bohren am Ton und weitere Tätigkeiten Handlungsfähigkeiten aneignen konnte. Er erlebte den Ton und das Loch fühlend, eignete sich dadurch Fühlqualitäten an. Durch das Drücken gewann er ein Gefühl von Autonomie und Handlungskompetenz. Und durch parallele Bewegungen über den Gleichgewichtssinn auch ein inneres Gleichgewicht. Sein ausgeglichenes Verhalten wirkte sich auf alle Beteiligten aus. Nadja bot ihm eine längerfristige Begleitung am Ton an, worauf er freudig reagierte. Als Abschluss wollte ich Anregungen darüber bekommen, welche tieferen Hintergründe für Nadjas Abwehr auf das Bohren sich aus ihrem eigenen Herkunftssystem zeigen könnten. Erste Andeutungen hatten wir bereits über Nadjas Heimaufenthalt bekommen, haben aber, einer Teamsitzung angemessen, hier nicht weitergearbeitet. In einer Einzelarbeit am Schluss der Ausbildung ist das jedoch möglich und macht auch Sinn. Darauf wollte ich mich, noch ohne Nadja, mit einer Kollegin in der Fallarbeit 5 – einer Supervisionsaufstellung der Fachkraft und des Bohrens vorbereiten: Fallarbeit 5 Für die Supervisionsaufstellung stellte sich also eine Stellvertreterin von Nadja (Stv-N) auf einen Zettel mit dem Wort »Bohren« und erspürte, was in ihr entstand. Schon beim Sich-darauf-Zubewegen wollte sie eher in eine andere Richtung laufen. Sie nahm kurz Kontakt mit dem Bodenanker auf, richtete ihn neu aus und wollte sofort aus dem Kontakt gehen. Sie dissoziierte. Ihr Muster war, bei Berührungen durch Bohren aus dem Kontakt zu gehen. In der Aufstellung fühlte die Stv-N dabei eine enorme Aggression in Form von Wut. Gleichzeitig spürte sie eine körperliche Reaktion in Richtung Erstarrung. Sie konnte wahrnehmen, wie sehr sie als Nadja den Kontakt zu anderen mied und wie groß hingegen deren Bedürfnis nach Kontakt war.

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Der Zettel wurde dann durch eine Stellvertreterin für das Bohren (Stv-B) ersetzt. Im weiteren Verlauf wurde die Stv-N gegenüber der Stv-B sehr aggressiv und wollte das Bohren wegstoßen. Ihr Impuls ging sogar so weit, dass sie vernichtend auf das Bohren einschlagen wollte, bis da kein Bohren mehr war. Der Stv-B war das egal, sie fand das okay. Sie verspürte keine Angst. Die Stv-N hatte dann das Gefühl, da stünde eigentlich jemand anderes hinter dem Bohren, eine männliche Person. Hier wurde deutlich, dass es eine Projektion auf das Bohren gab.

Nach der Supervisionsaufstellung der Fallarbeit 5 ist mir aufgefallen, dass hier erstens vorausgegangene Erfahrungen Nadjas in deren eigenen Prozessen widergespiegelt und somit bestätigt wurden (siehe Fallarbeit 1). Zweitens hätte ich mit dieser Information in die Einzelarbeit mit Nadja gehen und sie ihr zur Verfügung stellen können. Die Einzelarbeit fand dann aus organisatorischen Gründen nicht statt. Wenn Eltern bereit sind, sich auf Tonprozesse und Aufstellungen einzulassen, bieten wir den Eltern, der Stellvertreterin für das jeweilige Kind und seiner Erzieherin einen meditativen Tonprozess mit einer sich anschließenden Aufstellung an. In einem solchen Tonprozess erhält jede/-r Teilnehmer*in eine Tonkugel, die – mit möglichst geschlossenen Augen – durch Berührungen und Bewegungen der Hände haptisch begriffen wird. Wir geben unsere inneren Impulse in den Ton hinein und machen diese sichtbar und »begreifbar«. Fühlend entstehen innere Bilder, Erinnerungen, angenehme oder unangenehme Gefühle kommen eventuell hoch. Jegliche Lebensthemen nehmen am Ton Gestalt an, werden zu etwas, was uns gegenübersteht, uns spiegelt, uns innerlich bewegt. Der Prozess endet mit jeweils einer Endgestalt. Während des Tonprozesses laufen innere Vorgänge ab, die in einer sich anschließenden Reflexion mit der Gruppe herausgearbeitet werden. Jede zum System gehörende Person kann einen solchen meditativen Tonprozess erleben: die Stellvertreter*innen für Ole, seine Eltern und/oder seine Erzieherin Nadja. In Oles Fall haben seine Eltern dies nicht tun können, denn im Rahmen der Ausbildung eines Teams arbeiten wir nicht mit Eltern. Daher habe ich in der Fallarbeit 6, die meditatives Gestalten am Ton in Kombination mit Aufstellungsarbeit beinhaltete, selbst den Tonprozess als Stv-O vollzogen, um die Kombination der beiden Methoden Aufstellung und Tonprozess zu demonstrieren: Fallarbeit 6 Als Stv-O ging ich in einen meditativen Tonprozess. Die Tonkugel erschien mir zunächst zu schwer zu sein. Ich legte sie vor mich hin, verspürte keinen Impuls mehr, sie zu berühren. Dann kam Wut hoch. Ich schlug mit der rechten Hand auf die Kugel, bis sie platt dalag. Ich griff nach der Tonscheibe, durchbohrte sie unruhig

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mit meinen Daumen, riss sie in zwei Teile auseinander und fügte diese dann wieder zur Kugel zusammen. Diesen Ablauf wiederholte ich mehrere Male, bis meine Wut nachließ und ich ruhiger wurde. Ich hielt zwei Teile rechts und links in meinen Händen und begann, sie zu Kugeln zu formen. Ich legte die Hände mit den beiden Kugeln auf meinen Oberschenkeln ab und spürte das Gewicht der Kugeln in beiden Handinnenflächen. Ich kam zur Ruhe, meine Wut war verschwunden. Das Gewicht der Kugeln in meinen Händen tat mir gut. So konnte ich eine Weile meine Hände auf den Oberschenkeln ruhen lassen. Ich spürte meinen Atem. So blieb ich eine Weile sitzen. Ich atmete ein, ich atmete aus. Dann fügte ich die beiden Kugeln zusammen und formte daraus eine dicke, runde Kugel, sie abwechselnd mit der rechten und linken Hand drückend, so dass sie sich immer mehr rundete. Ich umfasste die Kugel mit beiden Händen. Meine Hände waren gefüllt. Die Kugel war mir nicht mehr zu schwer. Ich kam noch mehr zur Ruhe. Ich öffnete meine Augen, betrachtete sie. Deutlich sichtbar war, dass sie aus zwei Teilen zusammengesetzt war. Ich erkannte darauf drei Linien, die sich in der Mitte begegneten und mich schaute ein großer, zufriedener Mund an, ein Schmunzelmund (s. Abb. 2).

Abbildung 2: Schmunzelmund

Ich vermute aufgrund der Fallarbeit 6, dass es in einer möglicherweise sich anschließenden systemischen Aufstellung um die Beziehung der Eltern zueinander gehen könnte. Denn ich spürte als Stv-O im Gestaltungsprozess die Zerris-

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senheit des Elternpaares zwischen sich verbinden und trennen, sich wieder neu verbinden und wieder trennen. Und ich spüre noch jetzt in der Nachbetrachtung die Haltlosigkeit, die diese Zerrissenheit der Eltern in Stv-O ausgelöst hat. Wenn es sich anbietet, gehen wir in unserer Arbeit mit dieser Kombination der Methoden noch einen Schritt weiter, indem wir diese berührten und bewegten Schlussgestalten z. B. als Anker, Widerstand, Ressource oder freies Element in einer sich anschließenden, systemischen Aufstellung integrieren oder einen Tonprozess in eine Aufstellung mit mehreren Stellvertreter*innen hineinnehmen. In Oles Fall fand dies nicht statt, jedoch in einer anderen Arbeit, die einen 60-Jährigen und seine Sorge um die Übertragung von Traumatisierungen auf seinen Enkel betraf und die ich in der Fallarbeit 7 – Tonprozesse in der Aufstellungsarbeit ausschnitthaft beschreibe: Fallarbeit 7 Der sechzigjährige David hatte die Sorge, die bislang noch unbearbeiteten Traumatisierungen seines Großvaters (Stv-G), die dieser als 18-Jähriger im Krieg erlebt hatte, an seinen neugeborenen Enkel weiterzureichen. Er selbst spüre die Folgen in seinen eigenen Verhaltensweisen und Gefühlserstarrungen. Während der Stv-G mit geschlossenen Augen reglos auf dem Boden lag, stand hinter ihm halb gebückt der traumatisierte Vater des Großvaters (Urgroßvater des Klienten, Stv-UG) und dahinter der Stellvertreter für die Heimat (Stv-H). Ich reichte dem auf dem Boden liegenden Stv-G eine weiche, kalte Tonkugel, die seine Handinnenfläche gut füllte. Der Stv-G hielt den Ton kurz in der linken Hand, drückte die Tonkugel fest in der Hand, bis der Ton zwischen den Fingern hindurchquoll und eine etwas größere Menge auf den Boden fiel. Er nahm die größere Menge Ton wieder auf und formte daraus ein Gebilde, das aussah wie eine Sturmkappe bzw. wie eine Mutterbrust. Sein hinter ihm gebeugt stehender Stv-UG, der nach späteren Aussagen bislang nichts von seiner Umgebung wahrgenommen hatte und weder denken noch fühlen konnte, schaute auf das, was in der Hand des Sohnes (Stv-G) geschah. Er begann, die Bewegungen der Hand und den Ton als Muttererde wahrzunehmen und hatte zunächst das Bild einer Pickelhaube aus dem Ersten Weltkrieg. Auch das Bild der Mutterbrust, das von weiteren Stellvertretern geäußert wurde, war für ihn stimmig. Das Symbol der Mutterbrust veranlasste den Aufstellungsleiter, die Mutter des Großvaters (Stv-GM) hinter den liegenden Stv-G zu stellen. Diese setzte sich und umarmte ihren Sohn. Der Stv-G äußerte, er fühle sich jetzt wie ein Säugling im Schoß seiner Mutter. Der Ton ermöglichte dem Stv-G, der sich verbal nicht vermitteln konnte, sein Bedürfnis auszudrücken. Das Drücken weckte seine kreativen Kräfte. Zunächst

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entstand eine Schale, vielleicht um sie zu füllen, dann ein Schutzhelm. Als dann jemand Mutterbrust sagte, folgte der Aufsteller diesem Impuls, um die Sehnsucht nach Genährt-Sein, Fühlen von Geborgenheit und Einssein über die Anwesenheit der Mutter wiederherzustellen.

Erkenntnisse aus den Wechselwirkungen beider Methoden Die kreative Verknüpfung der pädagogischen Arbeit am Ton mit Systemaufstellungen ermöglicht es uns, genau dann Verhaltensweisen verstehbar, sichtbar, fühlbar und begreifbar zu machen, wenn auch in Aufstellungen z. B. Erstarrung, Sprach­losigkeit oder Handlungsunfähigkeit auftauchen. Der Methodenmix ermöglicht es, uns durchgängig in unserem Körper zu spüren und ständig präsent da, d. h. im Kontakt mit uns selbst und mit unserem Gegenüber zu sein. Meines Erachtens brauchen wir für eine ganzheitliche Verkörperungsarbeit unterschiedliche Methoden, die sich ergänzen. Durch die beschriebenen Methoden werden sowohl Klient*innen als auch ihre Begleitpersonen sich ihrer eigenen Anteile an Verhaltensweisen und Konfliktsituationen bewusst und lernen, sich als ein Teil eines Gesamtsystems zu verstehen. Durch Selbsterfahrungen in eigenen Prozessen können Fachkräfte frei von übertragenen Emotionen auf herausfordernde Verhaltensweisen von Kindern eingehen: In unserem Beispiel konnte Ole seine stereotypen Verhaltensweisen aufgeben. Seine Erzieherin und das Krippenteam gewannen Erkenntnisse über ihren eigenen Umgang mit Grenzen. Wut wurde als Übertragungsphänomen erkannt. In dieser gefühlten Wut fand Begegnung statt, aus der sowohl Ole als auch die Fachkräfte mit Erkenntnissen und Entwicklungsschritten hervorgingen. Die Fallarbeiten zeigen, wie sich alle aus erstarrten Mustern und Verhaltensweisen – die zunächst Sinn ergaben – nachhaltig herauslösen konnten. Ton erhält in Systemaufstellungen eine Stimme und wird zum Wandlungsobjekt. Unangenehm kaltes, erstarrtes oder angenehm weiches, geschmeidiges Material verwandelt sich durch Berührungs- und Bewegungsimpulse. Ton kann als Einstimmung durch meditatives Gestalten zum Einsatz kommen, kann während der Aufstellung gerade an den Stellen, an denen Sprache nicht weiterhilft, zu weiteren Erkenntnissen führen oder am Ende bzw. nach einer Aufstellung in einem schöpferischen Akt den vollzogenen Entwicklungsschritt haptisch verankern (Essen, 2011, S. 16). In den geformten Tongestalten werden zusätzliche Informationsebenen sicht- und fühlbar manifestiert.

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Literatur Deuser, H. (2018). Arbeit am Tonfeld. Der haptische Weg zu uns selbst. Gießen: Psychosozial-Verlag. Essen, S. (2011). Selbstliebe als Lebenskunst. Ein systemisch-spiritueller Übungsweg. Heidelberg: Carl-Auer. Stangl, W. (2020). Aggression. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik. Zugriff am 14.06.2020 unter https://lexikon.stangl.eu/1007/aggression/

Christiane Hoffmann

Aufstellungen mit Geflüchteten in Erstaufnahmen

Ausgangslage: Situation in der Erstaufnahme, Hintergrund der Geflüchteten Der Herbst 2015 – er war für Deutschland eine neue Ära in dessen Geschichte im Umgang mit Flucht und Vertreibung. Die Grenzen wurden für Menschen, die aus Kriegs- und Krisensituationen flüchten mussten, geöffnet. Der Zuzug Schutzsuchender hatte Deutschland unvorbereitet getroffen, und viele Bürger und Bürgerinnen haben unterstützend mitgewirkt, damit niemand erfrieren oder verhungern musste. Für viele Ankommende war Deutschland ihre Hoffnung auf ein Leben in Freiheit. Fast überall öffneten die Städte und Gemeinden ihre Türen und schafften Platz für Menschen, die in Not geraten waren. Schnell wurde den Hilfsorganisationen und vielen Ehrenamtlichen klar, dass die Menschen, die bei uns Schutz suchten, mit der kollektiven Unterbringung in einer Sporthalle oder einem Baumarkt auf Feldbetten, mit gespendeter Kleidung und zwei warmen Mahlzeiten am Tag seelisch nicht lange durchhalten würden. Denn Ängste vor der Zukunft, Ängste um die Zurückgelassenen, Ängste vor Abschiebung, traumatische Erfahrungen etc. brauchen Zuhörer und einen entsprechenden beschützten Raum, um verarbeitet werden zu können. Das Innere gerät aus den Fugen, wenn es keine Möglichkeit zur Bewältigung gibt. Ehrenamtliche, Sozialarbeiter, Pädagogen, Ärzte und Security-­Mitarbeiter können sich für ihren jeweiligen Hintergrund bemühen, so gut es geht, aber die Not der Psyche in extremen Situationen kann sich auf unterschiedlichste Art entladen. Die Situation in den sogenannten Erstaufnahmen (EA) – wie die offiziellen Anlaufstellen und Unterkünfte für Asylbewerber bezeichnet werden, die diese zunächst aufsuchen müssen, um dort ihren Asylantrag zu stellen – war für viele Menschen schwer zu ertragen.

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Feldbett an Feldbett hatte jeder seine ganz eigene Fluchtgeschichte mitgebracht. Viele neue Probleme entstanden: Der Bettnachbar, der nachts weinte, weil die Albträume ihn wieder einholten; Kinder, die schrien und alle aufweckten oder der Nebenmann, der eine andere religiöse Auffassung hatte; viele neue Gerüche, eine ungewohnte deutsche Küche und zu wenig Strom für alle Handys oder gesellschaftlich gelebte »Gleichheit« von Männern und Frauen waren zum Teil eine große Herausforderung für manche Bewohner oder Bewohnerinnen – für die Betreuer selbstverständlich auch. Somit lauerten an allen Ecken neue Katastrophen – für alle Seiten. Deshalb wurde die Angst der Betreiber von Erstaufnahmen vor Selbsttötungen oder ausufernder Gewalt dringlich. Die ersten Wochen waren von Fragen der Bewohner geprägt wie: »Wohin komme ich? Wann darf ich das Camp verlassen? Wann darf ich mir eine Wohnung suchen? Wann kann ich einen Sprachkurs machen? Wann kann ich meine Familie nachholen? Wann kann ich arbeiten und der Familie Geld schicken?« Wir alle wissen, dass die Mühlen der Behörden oft sehr langsam mahlen und hier war jetzt noch zusätzlich eine ganz neue Situation entstanden, mit der alle konfrontiert waren: Es musste und sollte schnell gehen, damit die Bewohner solcher EA ihren Aufenthaltsstatus geklärt bekommen, damit sie hier ihr (ein neues) Leben beginnen können. Die Hilfsorganisation, bei der ich mit meiner Arbeit begann, schätze ich noch heute sehr dafür, dass sie das entsprechende Verständnis und den nötigen Weitblick dafür aufbrachte, dass die Notwendigkeit einer psychischen Unterstützung für die Geflüchteten von Beginn an unabdingbar war. Da ich außer der systemischen Arbeit auch eine traumapädagogische Zusatzausbildung habe, wurde ich eingestellt. In meinem Vorstellungsgespräch erwähnte ich, dass ich gerne mit Aufstellungen arbeite. Die erste Not wurde deutlich, als mir von der Einrichtungsleitung ans Herz gelegt wurde, dass ich einfach schnell helfen solle, welche Methode ich dabei anwenden werde, müsste ich letztlich selbst einschätzen. Dieses Vertrauen hat sich bewährt: Gewaltausbrüche oder Suizid konnten in einer Unterkunft, die fast drei Jahre von Menschen unterschiedlichen Alters und Herkunft bewohnt wurde, vermieden werden. Zunächst war es meine Aufgabe, die stark geforderten Mitarbeiterinnen im Umgang mit traumatisierten Menschen zu schulen und die psychische Betreuung der Geflüchteten zu übernehmen. Die Mitarbeiterinnen waren erleichtert, als ich mir ihre Sorgen und Ängste anhörte und bei den Schulungen wurde deutlich, wie hilfreich meine Ausbildung und die daraus resultierenden Tipps für sie waren. Hierdurch konnte ich einen Teil der seelischen Belastung der Helfenden in der EA ein wenig entschärfen, denn endlich war jemand da, der

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psychische Konfliktfelder einzelner Bewohnerinnen übernehmen konnte. Somit hatte jeder Bereich wieder mehr Zeit, seiner eigentlichen Arbeit nachzugehen und behördlich sachliche Problematiken zu bearbeiten. Eine Erstaufnahme ist ein ganz eigener Kosmos – schon am Eingang: Jeder, der in der EA wohnt oder arbeitet, bekommt eine Zugangschipkarte. Über diese Karte ist sofort ersichtlich, wer sich auf dem Gelände aufhält. Hier findet demnach eine erste Erfassung statt. Am Eingang überprüfen die Security-Mitarbeiter, ob die einkehrende Person berechtigt ist, die EA zu betreten. Das hatte auch bereits verhindert, dass Menschen Zugang bekamen, die aus unterschiedlichsten Gründen eine verzweifelte Lebenssituation für sich ausnutzen wollten (Pressefotos etc.). Unsere EA wurde nach und nach zu einem kleinen Dorf. Für viele Bewohnerinnen war in den ersten Tagen der Arztcontainer der wichtigste Anlaufpunkt, denn die schlechte ärztliche Versorgung in den Herkunftsländern und die körperlich anstrengende Flucht hatten Spuren hinterlassen. Der HygieneContainer war wichtig, die Essensausgaben, die Kleiderausgabe, ein Zelt für die Kinder, Polizeisprechstunden, erster Sprachunterricht von ehrenamtlichen Lehrern, Hebammensprechstunden, Spielangebote, Sozialarbeitersprechstunden, Waschcenter, Schneiderwerkstatt, Fahrradwerkstatt, Postausgabe, Fahrkartenausgabe und Kochgruppen. Ich bekam für meine Arbeit einen separaten Container, in dem ich meine Sprechstunden abhielt. Zusätzlich bekam ich Dolmetscherinnen in allen Sprachen der Geflüchteten an die Seite gestellt. Die Sozialarbeiterinnen machten entweder konkrete Termine für den jeweiligen Klienten bei mir, oder sie sagten mir, an welcher Stelle in der Halle der jeweilige Bewohner oder die Bewohnerin lebte. Dann suchte ich den oder die Bewohnerin diskret auf und bot an, dass sie mit mir reden könne, wenn sie Hilfe benötige. Für diese Situationen gab es kein Konzept und ich habe einfach nach meiner Intuition und Erfahrung gehandelt. Wenn ich das Gefühl hatte, dass der jeweilige Bewohner gerade sozial eingebunden war, bin ich am nächsten Tag wieder hingegangen und habe nach einer Situation Ausschau gehalten, in der der Bewohner möglichst allein war. Oftmals bin ich nur hingegangen und habe nur gefragt, wie es ihm oder ihr denn gehe. Das führte meistens zu einem guten Anfang und die Menschen fassten Vertrauen zu mir. Denn wir hatten die Erfahrung gemacht, dass der bessere Weg der sei, ganz persönlich zum Bett des jeweilig psychisch belasteten Geflüchteten zu gehen. Wenn er oder sie vom Sozialarbeiter zu hören bekam, er solle zu einer »Psychologin« gehen, stieß dies auf Abwehr bei den Bewohnern – man wollte vor der sozialen Community in der EA nicht als »verrückt« gelten.

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Anfänglich war es schwer, einen Zugang zu einzelnen Bewohnern oder Bewohnerinnen zu finden. Manchmal war es auch für die Bewohnerinnen schwer, sich zu öffnen, weil ein Übersetzer oder eine Übersetzerin mit im Raum saß. Für mich waren das keine wirklichen Hindernisse, mehr eine Herausforderung. Ich war mir sicher, dass ich mit der nötigen inneren Ruhe – nach und nach – eine größere Akzeptanz bei den Bewohnern und Bewohnerinnen bekommen würde. Die meisten meiner Klienten hatten noch nie etwas von »Aufstellungen« gehört, dennoch haben alle sofort verstanden, worum es ging und einen guten Zugang zur Methode bekommen. Dadurch, dass ich einem Mann geholfen hatte, der nachts von der Security immer wieder beruhigt werden musste, weil sonst alle anderen in der Halle keinen Schlaf gefunden hätten, sprach sich schnell herum, dass ich durchaus helfen konnte. Der unruhige Mann fand wieder seinen Schlaf und jetzt begannen sich auch andere Bewohner, für meine Arbeit zu interessieren. So wurde diese gelungene Intervention zu einer guten Empfehlung, die sich am Ende für viele auszahlte. Mit der Zeit, wenn der ein oder andere verspürte, dass seelische Unterstützung gebraucht werden könnte, kam man direkt zu meinem Container, um einen Termin zu vereinbaren. Mit meiner Arbeit hatte ich einen Status erreicht, mit dem es nicht mehr peinlich war, vor der jeweiligen sozialen Community dabei gesehen zu werden, wenn man mich aufsuchte. Der psychische Druck wurde größer, umso länger ein Mensch in der EA verweilen musste: Die Leiden verdichteten sich in körperlichen Beschwerden wie Schlafstörungen, Panikattacken, Migräne, Albträume, Depressionen, Drogensüchte und Selbstmordgedanken. Im Folgenden werde ich einige Fälle skizzieren, die für meine Arbeit mit Geflüchteten exemplarisch sind und einer Abwärtsspirale entgegenwirken konnten.

Exemplarische Beispiele aus meiner Arbeit in der Erstaufnahmeeinrichtung Traurigkeit Eine junge Frau, allein mit drei Kindern, kam mit dem Sozialarbeiter zu mir. Sie wollte über ihren Sohn sprechen. Da sie auf mich einen sehr depressiven Eindruck machte, sprach ich sie an, wie es ihr selbst gehe. Sie war komplett schwarz gekleidet und sah sehr unglücklich aus. Sie sagte, ihr Mann habe sie auf der Flucht verlassen und jetzt eine andere Frau. Das sei in ihrem Kulturkreis eine sehr große Schande und

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sie wolle es ihrer Familie nicht erzählen. Sie berichtete weiter, dass ihre Geschwister in der Heimat zurückgeblieben seien. Vor ihrer Geburt habe es auch noch drei Geschwister gegeben, all diese seien aber gestorben – dann sei sie geboren worden. Mein Gefühl war, dass sich dieses Thema für eine Aufstellung eignete. Wir machten auf dem Tisch eine Aufstellung mit Zetteln. Glücklicherweise war ein sehr guter Übersetzer dabei und ich konnte mit der Arbeit beginnen. Ich legte Zettel für die toten Geschwister hin und sämtliche Familienmitglieder dazu. Dann einen Zettel mit ihrem Namen darauf. Nonverbal verstand sie sofort, was ich damit beabsichtigte – das war für mich sehr beeindruckend. Ich schob den Zettel mit ihrem Namen neben die toten Geschwister. Sogleich reagierte sie darauf und ein innerer Prozess schien sich in Bewegung zu setzen. Sie umarmte mich und ging. Am nächsten Tag traf ich mich mit ihr bei einem Baum, der in der EA ein Treffpunkt für gemeinsames Teetrinken war, und sie schien mir fokussierter, offensichtlich hatte sie laut ihrer Schilderung gut geschlafen – ein kleiner, aber erster Schritt. In den nächsten Wochen war sie immer wieder Thema bei Dienstbesprechungen und gemeinsam stellten wir fest, dass die Frau auf einem guten Weg war. Sie war nun drei Jahre in unserer EA und nutzte seit der Aufstellung viele Angebote, die in der EA zur Freizeitgestaltung beitrugen. Vor Kurzem habe ich einen Übersetzer getroffen, der mir auch von dieser Frau berichtete, die er schon aus unserer EA kannte. Sie würde in der Folgeunterkunft leben und scheint mit ihrem Leben und den alltäglichen Herausforderungen gut zurechtzukommen.

Mit den meisten Geflüchteten habe ich zuerst ihre Ursprungsfamilie aufgestellt. Nach vielen Gesprächen und Aufstellungen mit Geflüchteten erkannte ich, dass in ihren Familien viele Kinder, Frauen und auch Männer in jungen Jahren, durch Krankheit, Krieg oder Armut gestorben waren. Das ließ mich vermuten, dass dadurch das System verschoben sei und diesen Menschen die Grundstabilität fehle. Ich war der Meinung, dass ich am besten helfen könne, ihre Anspannung abzubauen, wenn ich es schaffen würde, sie gut zu stabilisieren. Einer Regel der Familienaufstellungen folgend, versuchte ich zunächst, die Klienten in ihrem eigenen Familiensystem auf die für sie »richtigen Plätze« zu stellen. Im Laufe der Zeit stellte ich fest, dass durch diese Arbeit die Klienten stabiler wurden und ihre neuen Konflikte besser austarieren konnten. Außerdem konnte ich beobachten, dass sie trotz ihrer Flucht, also ihrer räumlichen Trennung über große Distanzen, verstanden, dass sie dennoch mit ihrer Familie verbunden sind. Auf Grund der sprachlichen Barriere versuchte ich, die Aufstellungen auf ein Minimum zu reduzieren, verwendete wenige einfache Worte, damit der Übersetzer auch klar kommunizieren konnte.

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Die Ärzte finden nichts Ein junger Mann musste sich aufgrund seiner täglichen Arztbesuche schnell mit dem Ruf des Hypochonders auseinandersetzen. Ständig war er beim Arzt und im Krankenhaus, doch nie gab es konkrete Befunde, die auf eine körperliche Krankheit hindeuteten. Er war also aus medizinischer Sicht kerngesund. Selbst das Personal in der Klinik, die er aufsuchte, bescheinigte ihm, dass er ein gesunder, junger Mann sei. Die Sozialarbeiterin riet ihm daraufhin, mit mir zu sprechen. Erwartungsgemäß war er der Ansicht, dass er kein psychisches Problem habe und kam erstmal auch nicht zu mir. Dennoch suchte er fast täglich unseren Arzt auf. Immer mit demselben Befund, er sei gesund. Ich wurde vom Ärzteteam informiert, dass sie ihn nicht mehr behandeln wollten. So stand er eines Tages verzweifelt vor meinem Container. Er beklagte sich bei mir, dass niemand seinen Krankheiten Beachtung schenke. Ich sei für ihn seine letzte Hoffnung und ich solle ihm helfen, dass die Ärzte ihm wieder glauben würden. Ich bat ihn in meinen Container und schlug ihm vor, es doch mal mit meiner Methode auszuprobieren. Da er keinen anderen Weg mehr für sich sah, ließ er sich drauf ein. Nachdem ich ihn nach seiner familiären Geschichte gefragt hatte, erzählte er mir, dass seine Mutter ihn täglich anrufe, weil sie sich große Sorgen um ihn mache. Wir schrieben alle Namen auf Zettel und ich stellte seine komplette Familie auf. Ich ahnte, dass hier jemand im System fehlte, da alle Zettel so auf dem Tisch lagen, dass alle Pfeile für die Blickrichtung auf einen Punkt zeigten. Dort lag jedoch kein Zettel. Der junge Mann hatte keine Idee, wer das sein könnte. Jedoch zeigte das Bild mit einer neu eingebundenen, noch unbekannten Person, dass es sich so für ihn stimmiger anfühlte. Zusammen integrierten wir die fehlende Person in das Bild der Familienaufstellung. Nach dieser Aufstellung rief – wie jeden Abend – seine Mutter an. An diesem Abend bestätigte sie ihm, dass sie einen älteren Bruder hatte, der aber als Kind verstorben sei. Nach der Aufstellung habe ich ihn einige Wochen nicht mehr gesehen. Die Sozialarbeiterin berichtete mir, dass er seither nicht mehr am Arztcontainer aufgetaucht sei. Er habe eine neue Frisur, gehe regelmäßig in den Deutschkurs und von Krankheiten sei keine Rede mehr. Als ich ihn nach Wochen wieder traf, berichtete er mir, dass sich nach der Aufstellung für ihn vieles verändert habe, denn er habe plötzlich mehr Kraft, die alltäglichen Dinge anzugehen.

Möglicherweise hat die Aufstellung im dargestellten Fall dazu gedient, dass der junge Mann in ein offenes Gespräch mit seiner Mutter gehen konnte. Die Mutter hatte wohl in ihrem Sohn unbewusst ihren toten Bruder gesucht und dieses Bild auf den Sohn projiziert. Durch das nachgeführte Gespräch mit seiner Mutter konnte er freier agieren.

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Schlaflos Ein Mann mittleren Alters erzählte mir, dass er nicht schlafen könne. Jede Nacht werde er von dem Bild heimgesucht, wie sein Nachbar und Freund von den Taliban vor seinen Augen ermordet werde. Er war in seiner Heimat mit diesem Nachbarn eng befreundet gewesen. Nachdem sein Freund gestorben war, übernahm er für dessen Frau und Kind die Verantwortung und versuchte sie zu unterstützen, solange er vor Ort war. Da dieses Erlebnis nur wenige Wochen zuvor passiert war, entschied ich eine Aufstellung zu dem Moment des Mordes an seinem Nachbar zu machen. Wieder benutzte ich die Zettel-Methode und ließ ihn, sich, den Nachbarn und die Taliban aufstellen. Hier wurde schnell deutlich, dass er noch viel zu tief im Geschehen feststeckte. Ich verschob die Zettel so, dass der Freund und die Taliban sich gegenüberstanden. Dann schob ich seinen Zettel mit seinem Namen weit von der Gruppe weg. Zu diesem Geschehen, das jetzt neu vor ihm lag, sagte ich ihm folgenden Satz: »Das war der Wille von Allah und es war das Schicksal deines Freundes, das musst du achten, denn du kannst an dieser Stelle nichts machen.« Glücklicherweise hatte ich einen hervorragenden Dolmetscher an meiner Seite. An den Augen des traumatisierten Mannes konnte ich erkennen, dass er eine neue Sicht auf die Dinge bekam. Tage danach berichtete er mir, dass das Bild verschwunden sei und er wieder schlafen könne. Mir war bewusst gewesen, dass, wenn das traumatische Erlebnis aufgestellt wird, die Gefahr einer Re-Traumatisierung groß sein könnte. Dennoch hatte ich mich entschieden, dieses konkrete Erlebnis aufzustellen, da der traumatische Moment zeitlich nicht lange zurückgelegen hatte. Es war während der Aufstellung deutlich geworden, dass der Mann sich schuldig fühlte, weil er nicht hatte helfen können. Dank seines Glaubens an eine höhere Macht hatte er sich aus dem Geschehen wieder befreien können.

Schlimme Bilder Eine ältere Frau kam zu mir, weil sie sich traurig fühlte. Auch sie war Zeugin eines schlimmen Geschehens in ihrem Heimatland gewesen. Sie erzählte mir, dass immer, wenn sie ein Flugzeug höre, sie dies an einen Luftgangriff erinnere. Ungünstig war für diese Frau, dass die EA ausgerechnet direkt neben einem Flughafen lag. An manchen Tagen hatte man das Gefühl, dass die Einflugschneise der Flugzeuge nur wenige Meter über den eigenen Kopf ging. Wenn die Bewohnerin am Abend zur Ruhe kam, wurde sie immer wieder von einem Bild eingeholt. Es hatte sich nach einem schweren Flugzeugangriff bei ihr festgesetzt. Das Kind ihrer Nachbarin wurde bei diesem Angriff schwer verletzt. Das Bild dieses schwer verletzten Kindes kam

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immer wieder in ihre Gedanken. Sie wurde es nicht los und ihr schien es, dass die Intervalle des schrecklich wiederkehrenden Bildes dichter aufeinander folgten. Ich machte mit ihr eine Aufstellung mit der Nachbarin und ihrem Kind. Auch sie legte ich vom Geschehen, dieses Mal der Flugzeugangriff, weit weg. Ich entschied mich für eine ähnliche Methode wie im vorangegangenen Fall: »Das alles ist Allahs Wille gewesen!« Mit dem ständigen Fluglärm über der EA bestand aber die Gefahr, dass sie möglicherweise wieder getriggert werden könnte. Deshalb gab ich ihr noch eine Selbstheilungsübung mit. Eine Methode, die mir aus der Traumatherapie bekannt war. Ich fragte sie nach einer besonders positiven Kindheitserinnerung. Sie erzählte mir, dass sie es liebte, bei ihren Großeltern im Rosengarten die Blumen zu beschnuppern. Dabei machte sie eine Handbewegung, die verdeutlichte, wie sie die Rose zu sich an die Nase zieht und dran riecht. Ich gab ihr die Aufgabe, wenn sie das nächste Mal ein Flugzeug über die EA fliegen höre, solle sie in Gedanken diese Kindheitserinnerung wieder hervorholen und genauso, wie sie es mir zuvor beschrieben habe, mit genau derselben Handbewegung an der imaginären Rose riechen. Einige Tage später berichtete sie mir, dass mein Ratschlag geholfen habe. Bei der nächsten Sitzung berichtete sie mir, dass sie am Abend wieder mehr Ruhe finden könne.

Kraftlos Ein Mann mittleren Alters suchte mich auf und war froh, endlich einen Termin bekommen zu haben. Er berichtete, dass er immer wieder den Termin habe verschieben müssen, weil ständig behördliche Dinge zu regeln gewesen seien. Ich bemerkte, dass er nicht gesund aussah, er war blass, hatte ein angeschwollenes Gesicht und schwarze Ränder um die Augen. Außerdem war er stark übergewichtig. Er klagte mir sein Leid, über Schlafstörungen und die tägliche Lustlosigkeit. Am liebsten wäre er den ganzen Tag in seinem Container auf seinem Bett. Ich ließ ihn seine Familiengeschichte erzählen und ahnte, dass eventuell in der Ursprungsfamilie die Ursache für seine Probleme liegen könnte. Das Bild, das sich bei der Aufstellung zeigte, war, dass auf der Seite seiner Mutter vermutlich eine Person fehlte. Den Zettel seiner Mutter legte der Mann so hin, dass der Pfeil für die Blickrichtung weg von der Familie zeigte – wo zunächst kein weiterer Zettel für eine Person lag. Ich legte dann eine Person an die Stelle, und konnte beobachten, dass der Geflüchtete sehr stark darauf reagierte. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich merklich. Er suchte mich am nächsten Tag erneut auf, um mir zu berichten, dass seine Mutter angerufen habe. Sie habe ihm dann während des Gesprächs auf seine Nachfrage hin erzählt, dass er vor seiner Geburt noch zwei tote Brüder gehabt hatte.

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Ein paar Monate später traf ich ihn auf dem EA-Gelände und es ging ihm laut seiner Aussage nach unserer Aufstellung besser, obwohl er noch immer viel Stress mit den Behörden habe. Ich hatte den Eindruck, dass er jetzt in der Lage war, vieles gelassener hinzunehmen. Er hatte sich auch äußerlich verändert, sein Gesicht war nicht mehr angeschwollen. Besonders freute ich mich über die Nachricht, dass er eine Frau kennengelernt hatte und auch schon Heiratspläne schmiedete. Meiner Vermutung nach hatte er sich mit seinen toten Brüdern innerlich verbunden.

Verzweifelt Ein junger Mann, den ich nach einer nächtlichen Auffälligkeit aufsuchen musste, hatte eine starke Alkoholproblematik entwickelt. Die Kollegen von der Security berichteten mir, dass er nachts lange auf einer Treppe zu einem Container gesessen und sich ein Messer an den Hals gehalten hatte. Sie hatten es noch rechtzeitig geschafft, ihm das Messer abzunehmen, bevor er sich eine Selbstverletzung hätte zufügen können. Bei der Aufstellung legte er die Zettel seiner Familie alle auf sich drauf. Ich legte danach die Ursprungsfamilie in eine Reihenfolge nach ihrem Alter vor ihm hin. Die Eltern den Kindern gegenüber wie bei einer klassischen Aufstellung. Daraus entwickelte sich ein Gespräch, in dem er eingestand, dass er ein Alkoholproblem habe. Er betrachtete das neue Bild und schien sich jetzt selbst zugewandter zu sein. Zusammen riefen wir bei einer Suchtberatungsstelle an und er bekam schnell einen Termin. Er ging regelmäßig zu seinen Terminen in der Beratungsstelle und von Tag zu Tag ging es ihm besser. Offensichtlich hat dem jungen Mann geholfen, dass wir ein »Klassisches Familienbild« aufgestellt haben. So war es ihm möglich, sich erst einmal selbst wahrnehmen zu können.

Verzaubert Ein älterer Mann kam zu mir, da er unter Schlafproblemen und Depressionen litt. Meistens hielt er sich in seinem Container auf und wollte nicht herauskommen. Er bekam aus den unterschiedlichsten Gründen Schwierigkeiten in der EA, da er sich einfach weigerte aufzustehen. Schließlich kam er dann doch zu mir und fragte mich auf Englisch, ob ich Therapeutin sei und ob er einen Termin bei mir haben könne. Bei dem Termin hatte ich einen Dolmetscher dabei, denn ich wusste, dass es für viele Klienten leichter ist, ihre emotionalen Geschichten in ihrer Muttersprache erzählen zu können. Ich ließ mir also von seiner Familie erzählen: Er glaubte, dass sein Vater von einer Zauberin verhext wurde. (In vielen Ländern, aus denen 2015 Geflüchtete zu

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uns gekommen sind, glaubt man an Dschinne [Mythenfigur] und hat auch viel Angst davor. Außerdem gibt es Kartenleger, Wahrsager, Zauberer, die behaupten schwarzmagisch arbeiten zu können.) Deshalb habe der Vater auch die Familie verlassen, für diese neue Frau – die Zauberin. Als ich anfing, Zettel auf den Tisch zu legen, fragte er erschrocken, ob ich auch eine Zauberin sei. Ich verneinte das und erklärte ihm, dass das eine bestimmte Arbeitsmethode der systemischen Beratung sei. Ich entschied mich, keine Zettel zu verwenden, weil ihm das offensichtlich Angst machte. Für diese Aufstellung benutzte ich lieber kleine Holzfiguren. Gemeinsam mit ihm entschieden wir uns, seine Familie mit dem Vater aufzustellen, allerdings ohne die neue Frau. In diesem Fall stellte ich ihm wieder eine klassische Familienaufstellung mit den Holzfiguren hin, um ihm zu zeigen, dass er immer noch mit seinem Vater verbunden war. Er fing dann an zu weinen und konnte offensichtlich das erste Mal das Gefühl annehmen, dass er seinen Vater schon lange vermisse. Nach der Aufstellung schlief er, wie er mir später erzählte, drei Wochen lang nachts durch. Danach meldete er sich zum Deutschkurs und im Fitnesscenter an. Durch die Aufstellung der Ursprungsfamilie konnte er seinen Platz und seine Verbundenheit in seinem Familiensystem wieder wahrnehmen und einen Bezug zu seinem Vater aufnehmen.

Mit welchen Problemen ich konfrontiert wurde Vor meiner Arbeit mit geflüchteten Menschen in der EA hatte ich in meinen Seminarräumen mit den unterschiedlichsten Menschen Aufstellungen durchgeführt. Als so viele Menschen bei uns Schutz suchten, war es mir ein großes Anliegen, meine Erfahrungen und Kenntnisse mit einzubringen und dabei zu helfen, dass die Menschen bei uns gut ankommen können. Über meine traumapädagogische Ausbildung wusste ich, dass ich schnell unterstützen wollte und auch konnte, damit sich eventuelle Traumen nicht weiter festsetzten und sich keine posttraumatischen Symptome entwickelten. In den ersten Tagen wurde ich in der Erstaufnahme mit Menschen konfrontiert, die eine lange und zum Teil sehr anstrengende Flucht hinter sich hatten. Viele brachen nach ihrer Ankunft in der Unterkunft erst einmal zusammen. Sie hatten unterwegs die schrecklichsten Dinge erlebt und gesehen. Einige hatten große Erwartungen an ihr neues und friedliches Leben und waren sehr enttäuscht, dass es so viele Hürden zu bewältigen gab. All das machte die ankommenden Menschen erst einmal unsicher und instabil. Tagelang lagen viele lethargisch auf ihren Betten und waren zu nichts mehr in der Lage. Ich lernte Menschen kennen, die noch

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nie etwas von Traumatisierung gehört hatten, nicht verstanden, warum sie oder ihre Kinder plötzlich nicht mehr schlafen konnten, unerklärliche Panik bekamen oder anfingen zu stottern und im schlimmsten Fall wieder einnässten. Andere Geflüchtete reagierten auf das Erlebte mit negativen und für uns unangenehmen Verhaltensweisen: Sie waren manchmal sehr fordernd oder aggressiv. Es gab Männer, die wenig Respekt vor Frauen zeigten und zunächst nicht akzeptieren wollten oder konnten, dass wir in Deutschland viel Wert auf Gleichberechtigung legen. Es war nicht immer einfach, mit Menschen zu arbeiten, die nur Krieg kannten oder aus patriarchal-autoritären Strukturen kamen. Ich weiß, wie belastend bürokratische Hürden für viele Geflüchtete sein können und wie schwer es ist, bei alledem auch noch die Zeit für eine positive Erkundung unserer Kultur zu finden. Mir wurde schnell bewusst, dass die Menschen auch nach der Erstaufnahme Hilfsmittel benötigen. So habe ich zu meinen täglichen Einzelsprechstunden wöchentliche Kurse in der EA angeboten, wo ich den Menschen die unterschiedlichsten Körperübungen aus der Traumatherapie zeigen konnte, damit sie bei seelischer Not auf etwas Unterstützendes zurückgreifen können. Denn in Krisensituationen wie Schlafstörungen, Panikattacken oder Angstzuständen ist es mit bestimmten Techniken durchaus möglich, diese einzudämmen. Auch rückblickend betrachtet, wird deutlich, dass systemische Aufstellungen für Menschen aus den verschiedensten multikulturellen Hintergründen sehr sinnvoll sind. Das liegt daran, dass alle Menschen mit ihrem Familiensystem verbunden sind und die Botschaft der Aufstellungen verstehen. Damit meine ich, wenn Menschen in psychische Not geraten, nutzt es manchmal nichts, wenn beispielsweise ein Übersetzer bis ins kleinste Detail versucht herauszufinden, was den Menschen bedrückt. Denn die klassische Aufstellung bietet die Möglichkeit, universelle Themen schnell aufzugreifen. Ganz egal, aus welcher Situation ein geflüchteter Mensch auch kommen mag – er ist immer familiär verbunden. Das ist in jeder Kultur der Fall. Ob sie nun aus Syrien, Afghanistan, Irak, Iran, Russland, Palästina, Eritrea, Sudan, Ägypten, Marokko, Pakistan kommen, alle Menschen haben eine Familie. Meine Hypothese ist, dass zur schnellen Verbesserung, die im akuten Bereich, in der Ersthilfe oder bei Kriseninterventionen nötig ist, die Lösungsdynamik der Ergebnisse nach nur einer Aufstellung in Bezug gesetzt werden muss. Oft geht es beim Ankommen in einem sicheren Land um eine erste Erleichterung im akuten Problemfall. Aufstellungsarbeit kann hier ein schneller Indikator in Krisen sein, jedoch nur in der Einzelsitzung. Aufstellungsarbeit in Gruppen, wie wir das in unseren Kulturkreisen schon kennen, hätte ich in der EA nicht gemacht. Denn die Menschen waren viel zu belastet, als dass sie sich auch noch mit den anderen Problemen hätten beschäftigen können.

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Menschen, die in einer EA wohnen, kommen oftmals aus Herkunftsländern, die stark religiös geprägt sind. Das macht es ihnen möglich, einen Zugang zu Methoden wie beispielsweise zur Aufstellung zu finden, weil das »Sich-Einlassen« auf eine Ebene des nicht direkt Sichtbaren bei dieser Arbeit hilft. Ich konnte beobachten, dass es diesen Menschen viel leichter als Menschen aus unserer Kultur fiel, die Dinge, die geschehen waren, als eine Art »Schicksal« anzunehmen (der »Wille Allahs«). Das hat dazu beigetragen, ihre eigenen Schreckensmomente besser verarbeiten zu können. Das Realisieren des Moments des »Nicht-Eingreifen-Könnens« hat bei vielen Bewohnerinnen einen erlösenden Impuls gesetzt.

Resümee Die Erstaufnahme wurde Ende 2018 geschlossen. Die geflüchteten Menschen wurden entweder in andere Unterkünfte verlegt oder hatten inzwischen eine Wohnung gefunden, wenn sie nachweislich bleiben durften. Bei vielen Bewohnern wäre eine weitere Betreuung durch Therapeuten notwendig gewesen. In Folgeunterkünften gibt es in der Regel keine Therapeuten. Therapeutische Praxen oder Krankenhäuser haben zu lange Wartezeiten. Dabei wäre es hilfreich, Menschen, die in Not sind, schneller zu helfen, damit sich keine posttraumatischen Belastungsstörungen entwickeln. Eine Verarbeitung von traumatischen Erlebnissen braucht Zeit. Denn Menschen realisieren erst viel später, dass sie Hilfe benötigen. Teilweise kamen Menschen, die schon fast ein Jahr lang bei uns waren, urplötzlich in meinen Container und sprachen das erste Mal über ihre Flucht. Manchmal hat einfach nur das »darüber reden« schon geholfen: »Jetzt bin ich aber froh, dass ich das mal jemandem erzählen konnte!« Für das Verarbeiten, das wie gesagt Zeit braucht, wäre es sinnvoll, dass geflüchtete Menschen einen permanenten Ansprechpartner zur Verfügung hätten. Denn für die nachkommenden Generationen wird es viel schwerer, wenn unverarbeitete Geschehnisse nicht aufgearbeitet werden. Für mich ist die Aufstellung eine der effektivsten Methoden, Menschen, die in Krisensituationen geraten, schnell zu unterstützen. Die Arbeit in der EA und die dort täglich sichtbaren Erfolge haben mich in meiner Überzeugung bestärkt, dass Aufstellungen besonders in den Bereichen wichtig sind, in denen Familienthemen durch Entwurzelung, Heimatverlust, Tod, Bindungsverlust und andere existenzielle Tragödien im Mittelpunkt stehen.

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Nachklang Für Menschen, die traumatische Erlebnisse hatten und weiter unter einem Trauma leiden, sind bürokratische und demokratische Strukturen oder bestimmte Anforderungen wie das Einhalten von Abgabefristen, Formularlogik und Antragstellung (zu) große Herausforderungen. Dass Flucht und Krieg traumatische Spuren hinterlassen, wissen nicht nur psychologisch ausgebildete Experten, sondern eine große Anzahl von Politikern. Umso unverständlicher ist es für mich, dass psychische Unterstützung nicht immer als eine dringende Notwendigkeit gesehen wird. Gerade Folgeunterkünfte sollten jederzeit auf ein psychologisch geschultes Personal zurückgreifen können. Die wenigen Beratungsstellen, die es für Geflüchtete gibt, wie beispielsweise Trauma-Ambulanzen, haben mehrere Nachteile: Oftmals sind sie überfüllt und es dauert zu lange, bis die Geflüchteten einen Termin bekommen. Für Menschen, die aus Regionen kommen, wo es als Schande gilt, sich psychische Unterstützung zu holen, ist der Weg zu einer Beratungsstelle außerhalb ihrer Folgeunterkunft oftmals gar nicht denkbar. Sie fühlen sich sofort stigmatisiert und befürchten u. a., dass es Auswirkungen auf ihren Asylantrag habe. Dass es bei uns eine Schweigepflicht gegenüber allen staatlichen Institutionen gibt, ist ihnen oftmals nicht bekannt. Möglicherweise würde diese Information vielen helfen, sich ihrer Traumata bewusst zu werden und sich schneller mit ihnen zu befassen.

Francisco Herrera Garrido und Maria Natividad Martínez Villar

Familienaufstellungen im Strafvollzug aus dem Spanischen übersetzt von Deborah Althausen

Wir behandeln das Thema »Familienaufstellungen in Gefängnissen« am Beispiel der spanischen Justizvollzugsanstalt Jaén (Centro Penitenciario de Jaén), der Institution, die ihre Einführung ermöglicht hat und der Abteilung für Therapie und Bildung UTE (Unidad Terapéutica y Educativa) als idealen Raum für ihre Weiterentwicklung. Des Weiteren schildern wir, wie die Methodologie, die wir von Bert Hellinger gelernt haben, kontinuierlich an den Strafvollzug angepasst werden musste. Mit diesem Beitrag möchten wir unsere Arbeit vorstellen und die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sie auch in anderen Justizvollzugsanstalten umgesetzt werden kann, entgegen dem Vorurteil, dass in dieser Art von Räumen Familienaufstellungen nicht möglich seien. Wir hoffen viele Leser motivieren zu können, diese Herausforderung zu wagen, denn die Gefängnisse sind voll mit Menschen, die das Bedürfnis haben, Frieden zu schließen, mit sich selbst, mit ihrem Familiensystem, ihren Opfern und den Systemen der Opfer. Der erste Kontakt mit dem Gefängnis bedeutet, mit Kontrolle, Unsicherheit und Maßlosigkeit in Berührung zu kommen. Kontrolle ab dem Moment, in dem alle Schritte im Sinne der Sicherheit einer kontinuierlichen Ausweisungspflicht bedürfen, Türen, die sich öffnen und schließen, und Kategorisierung in Sektoren, Module, Stufen, je nach Entwicklungsgrad des Insassen und der Strafe. Die Unsicherheit steht im Zusammenhang mit der Gesellschaft als imaginäre Institution, zu der wir alle zählen, die davon ausgeht, dass es Gute und Böse gibt. Das Gefängnis ist den Letzteren vorbehalten, die isoliert leben sollen, fern von den anderen. Außerdem besteht auch ein gesellschaftliches Vorurteil: Wir, die auf der Seite der Guten stehen, haben für gewöhnlich Angst vor den Bösen und befinden uns in einer verteidigenden Haltung. Die Maßlosigkeit beginnt mit dem architektonischen Eindruck. Große Räume, riesige gerade Gänge, in denen die Temperatur extremer wird, Kälte im Winter und Hitze im Sommer,

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ungemein hohe Decken, mit abgehängten Sicherheitsgittern. Diese räumlichen Maße stehen nicht im Verhältnis zu den menschlichen Dimensionen. Dort fällt es nicht schwer, sich klein zu fühlen. Gleichwohl, nach Jahren des kontinuierlichen Kontakts zum Gefängnis und seinen Bewohnern ist das Gefühl der Kontrolle dem des Vertrauens gewichen. Jedes Mal, wenn man auf dem Weg stehen bleiben muss, um sich auszuweisen, bietet sich eine Möglichkeit, gefühlvoll mit Sicherheitsbeamten und Insassen zu kommunizieren. Unsicherheit wurde durch die Sicherheit ersetzt, dass es nichts gibt, was menschlicher ist, als die Menschlichkeit derer, die Grenzerfahrungen gemacht haben, die gelitten haben und in der Lage sind, der Realität ins Gesicht zu blicken, ohne auszuweichen, die das Leben akzeptieren, das sich seinen Weg bahnt. Die Guten sind nicht so gut und die Bösen sind nicht so böse. Die Maßlosigkeit ist der Vertrautheit des Alltags gewichen. Durch die Teilnahme an und den Austausch von Gefühlen wandelte sich unsere gegenseitige Wahrnehmung und fokussierte nun auf Einflussgrößen des persönlichen Umfeldes wie Größenordnung, Dimension oder Maß. Sogar Objekte haben begonnen, etwas über die Personen zu erzählen, die sie benutzen. Die Kreationen der Insassen, wie Gemälde, Zeichnungen, Texte, Töpferarbeiten, haben ihre Geschichte enthüllt und wir haben gegenseitig Anteil nehmen können, indem sich gleiche Erfahrungen und Schmerzen miteinander verwoben haben. Im Zusammen­ leben eignen wir uns den Raum an, der zuvor maßlos war. Zunächst möchten wir allen Insassinnen und Insassen gegenüber unseren größten Dank dafür aussprechen, dass sie uns vertraut und sich auf diese Arbeit eingelassen haben; Elena dafür, dass sie so viele Sitzungen dokumentierte; allen, die es möglich machten: dem Leitungsteam der Justizvollzugsanstalt Jaén, dem Gefängnispersonal der Abteilung für Therapie und Bildung (UTE): Sicherheitsbeamte, Betreuer, Sozialarbeiter, Ehrenamtliche, Praktikanten, Gäste; dem spanischen Fachverband für Systemaufstellung (AECFS) und Peter Bourquin dafür, dass er an diese Arbeit glaubt und uns motivierte, diese zu erweitern. Aufgrund der Rechtsordnung ist es die Aufgabe der Justizvollzugsanstalt, während der Haft über die Gefangenen zu wachen und ihnen das nötige Werkzeug zur Umerziehung und zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu liefern. Es liegt in der Verantwortung jeder einzelnen Justizvollzugsanstalt, die Werkzeuge bereitzustellen, entweder durch eigenes Personal oder durch die Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen. Unserer Erfahrung nach ist das Ehrenamt besonders wichtig, um ein würdiges Angebot an Beschäftigungsfeldern, Therapien und Workshops bereitstellen zu können, die die Arbeit der Psychologen, Erzieher, Sozialarbeiter, Lehrer, Tutoren, Sicherheitsbeamten

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und anderen Mitarbeitern der Einrichtung ergänzen. Für diese Arbeit bedarf es extremer Ernsthaftigkeit, Konstanz, Regelmäßigkeit und Sorgfalt sowie des tiefen Respekts gegenüber den Insassen und der Einrichtung. Möglicherweise ist das Besondere in diesem Projekt, dass Paco als ehrenamtlicher Mitarbeiter und Nati als Sozialarbeiterin der Einrichtung das Team bilden. Dadurch hat die Arbeit (dank Nati, Anm. der Übersetzerin) eine Kontinuität, die über den einen Tag im Monat hinausgeht, an denen (dank Paco, Anmerk. des Übersetzers) die Familienaufstellungen angeboten werden. Darüber hinaus haben wir (dank Nati, Anm. der Übersetzerin) meist eine bessere Kenntnis über die Problematik der Insassen und über ihre gegenwärtige persönliche Verfassung. Diese Vorkenntnisse helfen uns dabei, diejenigen Insassen zur Arbeit einzuladen, von denen wir glauben, dass der Zeitpunkt für sie optimal ist, um ihre Aufstellung bewältigen zu können, und die Aufstellung anderer zu verschieben, von denen wir denken, dass die Verarbeitung von dem, was sich dabei für sie öffnet, durch ihre Situation erschwert wird und eine Aufstellung daher eher hinderlich als hilfreich für ihren Prozess ist. Nach dieser Einführung ist es uns wichtig, das Feld, in dem wir arbeiten in einen Kontext zu setzen, bevor wir vertiefen, wie wir die Familienaufstellungen entwickeln und was wir im Laufe der Zeit beobachtet haben.

Das Gefängnis von Jaén in seiner Entwicklung Ende der 1980er und in den 1990er Jahren war die Situation der Strafvollzugsanstalten trostlos. In den vollen Gefängnissen saßen vor allem Drogenabhängige, die einen großen persönlichen Verfall aufzeigten und gesellschaftlich ausgegrenzt wurden. Drogen, vor allem gespritztes Heroin, AIDS und Bandenbildung unter den Insassen, die für Verkauf und Verteilung verantwortlich zeichneten, machten die Gefängnisse zu gefährlichen, konfliktreichen Räumen. Nicht selten kam es zu Aufständen, Entführungen von Sicherheitsbeamten, Verletzten oder dazu, dass Menschen aufgrund einer Überdosis oder durch Mord als Begleichungstat einer Rechnung starben. Die Insassen konnten die Gefängnisse nicht sauber halten. Daher wurden die Zellen und die Gemeinschaftsräume aufgrund von Schmutz und angesammelten Habseligkeiten, wie Kleidung und Papieren, zu gesundheitsschädigenden Räumen. Es war sehr schwierig, sich an die Regeln zu halten, Sanktionen waren üblich und wurden täglich durchgeführt. Es gab nur wenige Programme, um mit dieser Problematik umzugehen, was eine Veränderung fast unmöglich machte. Das Strafvollzugspersonal richtete seine gesamte Energie darauf, das Konfliktvorkommen zu verringern und den

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Drogenkonsum zu bekämpfen, wodurch die Sicherheitsmaßnahmen immer Vorrang vor der Therapie hatten. In den letzten Jahren erfuhren die spanischen Gefängnisse eine Veränderung in beeindruckendem Maße. Diese Veränderung fußt einerseits darauf, dass der Drogenhandel und der Drogenkonsum abgenommen haben, vor allem gilt dies für intravenös verabreichtes Heroin. Andererseits wurden Besserungsmaßnahmen für die Insassen mit spezifischen Programmen für die einzelnen Problematiken eingeführt. Diese wurden beispielsweise in die Bereiche Sexualstraf­täter, häusliche Gewalt, Drogenmissbrauch, Jugend unterteilt. Zeitgleich wurden neue Modelle des Zusammenlebens, wie Respektzonen und Abteilungen für Therapie und Bildung (UTE) ins Leben gerufen, die sowohl für die Insassen als auch für das Gefängnispersonal Sicherheit und Ruhe boten. Dort konnten therapeutische Initiativen gestartet werden. Diese Veränderungen ermöglichten die Entwicklung von Beschäftigungsfeldern und Projekten wie dem unseren. Wir danken allen Menschen, die den Mut hatten, den Arbeitsansatz in den Gefängnissen zu verändern, wodurch diejenigen neuen Modelle zum Einsatz kommen konnten, durch die ein therapeutischer Blick und ein ganzheitlicher Ansatz für die systemische Problematik ermöglicht wird. Das betrifft zum Beispiel Insassen, Gefängnispersonal, die Familie und die Gesellschaft. Die kleine Justizvollzugsanstalt Jaén, die 1991 erbaut wurde, schloss sich etwa im Jahr 2007 mit dem Einrichten von Respektzonen dieser innovativen Strömung an und legte damit das Fundament für die Abteilung für Therapie und Bildung (UTE), die im Jahr 2008 entstand. Mittlerweile sind zwölf Jahre vergangen und Jaén ist landesweit ein Beispiel für eine großartige, gelungene Wandlung. Von einer Einrichtung mit einigen der konfliktreichsten Gefangenen des Landes hin zu einem Ort mit Räumen, die den Insassen zur Bewusstwerdung dienen und in denen persönliche Veränderungen möglich sind. Wir haben eine Gefängnisstruktur geschaffen, in der Therapie und Sicherheit miteinander vereinbar sind. Das Gefängnis ist für 700 Insassen ausgerichtet. Zurzeit sind es 520, davon sind 35 Frauen und der Rest Männer. Innerhalb der Einrichtung werden die Gefangenen nach Geschlecht getrennt. Es gibt keine gemischten Trakte. Weiterhin wird nach verschiedenen Kriterien unterschieden: Ersttäter oder Wiederholungstäter, in Untersuchungshaft oder verurteilt, mit aktivem Drogenkonsum, Kranke, Senioren oder Menschen mit Behinderung, Konfliktpotenzial, Klassifizierungsgrad, spezifische persönliche Unvereinbarkeiten, wie die Zugehörigkeit zu gegnerischen Banden, die Art des Verbrechens oder Familienzugehörigkeiten. Die Bereiche sind wie folgt untergliedert: ein Ankunftstrakt für alle Neuzugänge, in dem sie bleiben, bis ihnen ihr Platz zugewiesen wird; ein Kranken-

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trakt für alle Insassen, die nach Ansicht des medizinischen Dienstes direkter gesundheitlich überwacht werden sollten; ein Trakt für alle Frauen, ohne weitere Unterteilungen; drei Respektzonen mit höchstem Anspruch, eine davon für mobilitätseingeschränkte Personen; eine Respektzone mit niedrigem Anspruch für Insassen mit geringem Konfliktpotenzial aus dem Trakt für Neuzugänge und für die, die aus anspruchsvolleren Zonen oder der Abteilung für Therapie und Bildung (UTE) verwiesen wurden; zwei UTE-Trakte; zwei klassische Trakte für Insassen, die nicht in die Respektzonen oder die UTE gehen möchten oder sich dort nicht eingliedern können; ein Zellentrakt für Insassen, die sanktioniert wurden und ein Trakt für konfliktbereite Insassen mit nicht situationskonformem Verhalten, von maximal zehn Personen. Im Allgemeinen ist die Konfliktbereitschaft gering und die Insassen fügen sich gut in die bestehende Strukturierung in verschiedene Bereiche ein. Die meisten werden dem zweiten Klassifizierungsgrad zugeordnet, die Verbliebenen mit dem ersten Klassifizierungsgrad sind aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu bewaffneten Banden in Haft. Das Gefängnis verfügt über Gemeinschaftsräume für soziokulturelle und sportliche Aktivitäten, wie eine Schule, eine Bibliothek, eine Sportanlage, eine Sporthalle und einen Theaterraum. In den Werkstätten bieten Privatunternehmen bezahlte sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze für Insassen an.

Die Abteilung für Therapie und Bildung (UTE) als therapeutischer Raum Die Abteilung für Therapie und Bildung (UTE) ist ein Raum, der für die Insassen geschaffen wurde, die während ihrer Haft freiwillig eine persönliche Veränderung erreichen möchten. Wir heben die Freiwilligkeit hervor, denn obwohl die Gefangenen auf gerichtliche Anweisung im Gefängnis sind, können sie frei entscheiden, ob sie diesen Abteilungen zugewiesen werden möchten. Des Weiteren legt die Gefängnisleitung von Jaén allen Neuankömmlingen, die aktiv Suchtmittel konsumieren, diese Ressource als Option nahe, wenngleich sie die Entscheidung am Ende selbst treffen. Daher sind die meisten Teilnehmer drogenabhängige Insassen, die einen Entzug und eine Entwöhnung von Suchtmitteln anstreben. Doch auch Insassen ohne Suchtprobleme, die sich ändern wollen, können teilnehmen. Der Raum wurde zur Bewusstseinsbildung und Verantwortungsübernahme geschaffen. Ziel ist es, unter Normalbedingungen entlassen zu werden und erneute Einweisungen zu verhindern.

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Die erste wichtige Veränderung war eine Einflussnahme auf den Raum. Das heißt, es wurde ein sauberes, sicheres, drogenfreies Umfeld geschaffen, mit Regeln und Aufgaben. Es gibt keinen Kontakt zu den restlichen Insassen der Einrichtung, um dem Rauschgifthandel vorzubeugen, mit der Subkultur der Drogen zu brechen und Nüchternheit zu ermöglichen. Die charakteristischen Merkmale dieses Raums bewirken klarere und uneingeschränkte persönliche Beziehungen, wodurch ein gesundes Therapieumfeld geschaffen wird. Außerdem erleichtern sie die Wertevermittlung zur Vereinbarkeit eines Lebens in Freiheit, mit Respekt vor dem Strafgesetz und verantwortungsbewusstem Verhalten gegenüber der Familie, den Kollegen und der Gesellschaft. Trotz dieser besonderen Umstände ist die Abteilung für Therapie und Bildung (UTE) keine Insel innerhalb des Gefängnisses, sondern sie steht in dessen Dienst und ist offen für alle Insassen, die mitmachen möchten, sofern sie das Einverständnis des multidisziplinären UTE-Teams bekommen. Die Abteilung kann auf die restlichen Gefängnisressourcen, wie z. B. Sportbereiche und Werkstätten, zugreifen. Grundlegend für diese Abteilung ist, dass der Insasse nicht allein den therapeutischen Prozess durchgeht, sondern dass er dabei von seinen Gefährten und vom Gefängnispersonal begleitet wird. Er ist Teil einer Therapiegruppe, die die Veränderung mitträgt. Das Hauptwerkzeug der Gruppe ist Selbsthilfe. Das heißt, die Hilfe kommt nicht von außen, sondern entsteht in der Gruppe selbst, aus der Verbindlichkeit und dem Bewusstwerdungsprozess ihrer Teilnehmer. UTE-Teilnehmer sind nicht nur für ihren eigenen Fortschritt verantwortlich, sondern nehmen aktiv am Fortschritt ihrer Gefährten teil. Der Sicherheitsbeamte hat in der Gruppe die Funktion eines Mentors. Als solcher übernimmt er andere Aufgaben und Aufträge als seine Kollegen in den anderen Abteilungen. Die Beziehung, die er zu dem Gefangenen entwickelt, ist vollkommen anders. Durch die engere Bindung kann er den Insassen auf einer persönlicheren Ebene kennenlernen und schafft ein offenes, vertrauensvolleres Verhältnis, um Interventionsstrategien entwickeln zu können. Auch der Insasse ändert seinen Blick auf den Sicherheitsbeamten und kann ihn als Person wahrnehmen. Ihr kann er vertrauen und muss sich nicht verstecken. Das Programm hat einen ganzheitlichen Charakter, da alle Aktivitäten als Einheit funktionieren und auf die Gesundung und die Wiedereingliederung des Insassen abzielen. In der UTE wird am Familienleben gearbeitet. Hierfür darf jeder Insasse zweimal im Jahr von zwei Familienangehörigen besucht werden, die an der Therapiegruppe teilnehmen. Dann können Insassen und ihre Familien im Beisein der restlichen Gruppe und der Mentoren das ausdrücken und sagen, was sie bisher nicht in der Lage waren, auszusprechen. Sie bitten um Entschuldi-

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gung, sie bedanken sich, erzählen sich Geheimnisse, rechnen miteinander ab usw. All das ist auf den therapeutischen Prozess ausgerichtet. Die UTE ist auch ein Raum der Weiterbildung. Diese hat einen großen Stellenwert. Bildung hat in der Gefängnisordnung Priorität. Die UTE setzt diese um, indem jeder Insasse, der über keine Grundschulbildung verfügt, die Schule besuchen muss. In diesem Bildungskontext nehmen die Insassen an einem Projekt teil, das in Zusammenarbeit mit der staatlichen Provinzialbehörde für Bildung (Delegación Provincial de Educación) geführt wird und eine vorbeugende Maßnahme gegen den Drogenkonsum ist. Während des gesamten Schuljahres besuchen vier Insassen die Sekundarstufen der Schulen, um mit den Schülern über ihre Erfahrung mit Drogenkonsum und seine negativen Folgen zu sprechen. Hierbei geht es um Offenlegung, persönliches Engagement und gesellschaftliche Wiedergutmachung. Daher ist die UTE ein Alternativmodell zum klassischen Gefängnis. Der Abteilung geht es um die Erfüllung von Verfassungsaufgaben und anderen Gesetzesnormen, die auf Umerziehung und gesellschaftliche Wiedereingliederung von Menschen, die zur Freiheitsstrafe verurteilt wurden, ausgerichtet sind. Es ist ein Modell der Mitbestimmung und Mitverantwortung zwischen dem Personal der Strafvollzugsanstalt und den Insassen, das auf Freiwilligkeit beruht. Jeder Insasse unterschreibt eine Selbstverpflichtung bei seiner Einweisung. Die Therapiegruppe ist die zentrale Achse. Die Schule und die restlichen Aktivitäten sind Instrumente der Intervention und der therapeutischen Entwicklung. So entsteht ein gesunder Raum, der die Bewusstwerdung fördert, die Grundlage für jeden persönlichen Änderungsprozess ist.

Beginn und Anpassung des Angebots von Familienaufstellungen im Gefängnis Die UTE bestand bereits in der Justizvollzugsanstalt Jaén als wir, die Autoren dieses Textes, uns in der Fortbildung von Bert Hellinger trafen. Wir sahen die therapeutischen Vorteile, die der Raum durch Familienaufstellungen gewinnen könnte und spielten mit dem Gedanken, diese Arbeit dort zu entwickeln. Diese Idee wurde zunächst dem multidisziplinären UTE-Team und später dem Direktor vorgestellt. Die Schwierigkeit bestand darin, die Arbeit zu beschreiben. Ohne vollständig die Arbeit verstanden zu haben und im Vertrauen in unsere Professionalität und unser Engagement, wurde uns erlaubt, eine erste Sitzung abzuhalten. Diese fand im Beisein von Leitungsmitarbeitern und Sicherheitsbeamten statt. Die Wirkung auf die Insassen und das anwesende Gefängnisper-

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sonal war so groß, dass das Projekt problemlos autorisiert wurde. Es waren keine weiteren Bescheinigungen nötig. Die Arbeit sprach für sich selbst und machte alles Weitere möglich. Nie zuvor hatte man einen so schnellen Zusammenschluss zwischen Insassen und Sicherheitsbeamten bei einer Arbeit im Dienste des Lebens gesehen. Das, was an diesem Tag erlebt und wahrgenommen wurde, prägte ein Vorher und ein Nachher. Seit Ende 2008 werden in der Justizvollzugsanstalt Jaén Familienaufstellungen durchgeführt. Die Jahre vergingen, die Gefängnisleitungen wechselten und die Arbeit der Familienaufstellungen hat sich im Laufe der Zeit als notwendiges Werkzeug für den Änderungsprozess der Gefangenen gefestigt. Damals gab es nur einen Bereich der UTE mit etwa 60 Insassen, der in sechs Gruppen unterteilt war. Zu Beginn fanden die Familienaufstellungen einmal monatlich statt, Dienstagvormittag von 10 bis 13 Uhr. Derselbe Tag war für die Treffen der Gruppen mit ihren Mentoren vorgesehen. Zwar war der Raum klein, doch die Gruppen waren nicht sehr groß (25 Teilnehmer). Daher konnte man gut arbeiten. Am Anfang war am eindrücklichsten, wie schnell die Insassen Zugang zu ihren Themen und ihren Gefühlen bekamen. Das geschah selbst bei Insassen, die stark durch Prisonisierung geprägt waren, die als gefährlich galten und mit kompliziertem Werdegang kamen und die von den anderen Insassen als Anführer innerhalb des Gefängnisses anerkannt wurden. Uns fiel ebenfalls auf, dass sich die meisten darüber einig waren, dass es eine erfüllende Aufgabe ist, hart und gleichzeitig erleichternd, bei der Knoten und Blockaden gelockert werden: Themen, so ein Insasse, die »ich in einem schweren Rucksack trage und seit vielen Jahren hinter mir herschleife«. Für einen Zeitraum konnten sie ihre persönliche Prägung hinter sich lassen und sich der neuen Erfahrung hingeben, im Vertrauen darauf, dass sie positiv für sie selbst und für den Rest der Teilnehmenden sein würde. Im Laufe der Jahre entstand ein weiterer UTE-Bereich mit weiteren sechs Therapiegruppen. Mit dem neuen Bereich wurde ein noch größerer Raum gebaut, in dem mehr Insassen an den Sitzungen teilnehmen konnten, die nun wöchentlich stattfanden. Gleichzeitig beobachteten wir, dass die weibliche Energie nicht oder nur kaum vorhanden war. Es nahmen nur Frauen teil, wenn Praktikantinnen (der Studienrichtungen Sozialwesen, Soziale Arbeit oder Psychologie), Beamtinnen oder Gäste anwesend waren, die kamen, um die Arbeit kennen zu lernen. Da die UTE keine gemischte Abteilung ist, hatten Insassinnen nicht die Möglichkeit teilzunehmen. In Anbetracht dessen und mit der Überlegung, dass auch die Insassinnen von dieser Arbeit profitieren könnten, erlaubte die Gefängnisleitung, dass jeden Dienstag maximal vier Frauen an der Therapiegruppe und an den Familienaufstellungen teilnehmen konnten. Zu Beginn

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bestand die Arbeit darin, das Vertrauen dieser Frauen zu gewinnen, damit sie sich der Gruppe öffnen und ihre Themen besprechen konnten. Für die Männer war das einfacher, weil sie sich bereits daran gewöhnt hatten. Wer neu dazu kam, passte sich schnell an die Dynamik an, da die Männer die gesamte Woche über zusammenlebten. Die Frauen dagegen nahmen nur dienstagvormittags an der Gruppe teil und kamen erst in der nächsten Woche zurück. Es war also eine Frage der Zeit, bis sich die Anwesenheit von Frauen letztlich normalisierte. Auch wenn es wenige im Vergleich zu der Gesamtanzahl an Männern waren, fanden sie jedoch bald ihren Platz. Monat um Monat, Jahr für Jahr etablierten sich die Familienaufstellungen als relevantes Angebot der Abteilung und der gesamten Einrichtung. Für die Sitzungen bedurfte es: eines Raumes mit Stühlen, freiwillig teilnehmender Gefangener, Gefängnismitarbeiter (z. B. Sicherheitsbeamte, Sozialarbeiter, Psychologen) und uns als Aufstellungsleiter. Mit der Zeit wuchs, wie oben erwähnt, die Zahl der Teilnehmenden auf durchschnittlich vierzig bis fünfzig Männer und Frauen. Jede Information und alle Bewegungen wurden von der ehrenamtlichen Mitarbeiterin Elena schriftlich festgehalten. Von außen hält man den Strafvollzug für einen feindseligen Raum, in dem der Körperkontakt eingeschränkt ist, was Familienaufstellungen unmöglich machen könnte. Auch wenn es stimmt, dass der meiste Körperkontakt im Gefängnis eine Folge von Auseinandersetzungen sowohl zwischen Insassen als auch zwischen Insassen und Sicherheitsbeamten ist, trifft es zu, dass es ein Umfeld ist, in dem man mehr Körperkontakt der Zuneigung, der Begleitung und der Unterstützung benötigt. Die Schaffung eines Raumes, in dem Sicherheit und Vertrauen gegeben sind und in dem man seine Gefühle wertfrei und ohne Vorurteile ausdrücken kann, macht Körperkontakt auf einer anderen Ebene möglich. Es ist berührend, zu sehen und mitzuerleben, wie sich die Stellvertreter auf ihre Bewegungen einlassen, sich umarmen, weinen, sich berühren, sich in den Armen wiegen, ihre Wut herauslassen, ihren Zorn, ihre Ängste, usw. – wie ein Sicherheitsbeamter und ein Gefangener als Stellvertreter Vater und Sohn nachstellen und in einer innigen Umarmung verschmelzen können, indem sie sich durch die Bewegung der Liebe leiten lassen, die sie verbindet und sie mit ihren tiefsten Gefühlen zusammenbringt. Auch wir Aufstellungsleiter haben keine Schwierigkeiten damit, in Körperkontakt mit ihnen zu treten. In diesem Sinne gibt es unserer Erfahrung nach keinen Unterschied zwischen dem Aufstellen innerhalb und außerhalb des Gefängnisses. Die Insassen reagieren genauso, wie es jede andere Person tut, die an einer Aufstellung außerhalb des Gefängnisses teilnimmt. Wer die Arbeit bereits kennt, geht mit mehr Vertrauen hinein. Wer noch nicht weiß, wie es funktioniert, ist etwas misstrauischer.

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Nach einer Sitzung treffen wir für gewöhnlich auf Insassen, die aufgewühlt sind oder bei denen das Erlebte an etwas gerüttelt hat. Viele von ihnen sprechen mit ihren Familien über die Erfahrung. Sie wissen, dass sie keine Inhalte aus dem Erlebten weitergeben dürfen. Obwohl sie es nicht tun, haben wir beobachtet, dass es zu entscheidenden Veränderungen in ihren Beziehungen kommt. Indem sich ihr Blick auf ihre Eltern, Partner, Kinder ändert, legen sie etwa das Kindische ab und ändern ihr Verhalten des steten Forderns. Denn es ist üblich, dass die Gefangenen von ihren Familien verlangen, ihnen z. B. Geld zu schicken, Kleidung zu kaufen, Anwälte und Strafen zu bezahlen. Sie übernehmen die Verantwortung für ihre Bedürfnisse, ohne etwas einzufordern. Das hilft ihnen dabei, herauszufinden, was sie ändern müssen, damit die Beziehung von der Liebe getragen wird und nicht vom Vorwurf. Auch wenn die Familienangehörigen nicht aktiv teilnehmen, es sei denn, es treffen unter den Gefangenen Väter und Söhne, Brüder oder Onkel und Neffen aufeinander, hat die Aufstellung doch eine Auswirkung auf sie. Es kommt nicht selten vor, dass wir sehen, wie Familienangehörige ihr Verhalten gegenüber dem Insassen ändern und nach einer Zeit, in der sie keinen Kontakt hatten, einen Besuchstermin oder die Genehmigung ihrer Telefonnummer beantragen, damit sie vom Insassen angerufen werden können. Andere, die bereits regelmäßig Kontakt zu ihren Familien haben, berichten, dass das Treffen nach der Aufstellung anders war. Sie konnten auf einer anderen Ebene mit ihren Familienangehörigen sprechen und umgehen. Sie konnten die Unterhaltung genießen und sich Dinge sagen, zu denen sie zuvor nicht fähig waren. Im Gefängnis aufzustellen unterscheidet sich jedoch in einigen Punkten von den üblichen Aufstellungssettings. Aus diesem Grund haben wir die Vorgehensweise angepasst und uns auf Hindernisse und Schwierigkeiten eingestellt, mit denen wir konfrontiert werden: Ȥ Es gibt unvermeidliche Unterbrechungen. Die kommen vor, wenn jemand einen Termin mit seinem rechtlichen Vertreter, Anwalt, Arzt oder Ähnliches hat. Manchmal müssen Stellvertreter oder Klient plötzlich gehen. Was man dann macht, ist, den Wechsel so zu vollziehen, dass er für die Gruppe und die Person, die gehen muss, am wenigsten traumatisch ist. Ȥ Wir arbeiten mit allen Gruppen der UTE. Das bedeutet, dass an jeder Sitzung zwei oder drei Gruppen teilnehmen. So bleibt die Teilnehmerzahl zwar gleich. Doch die Gruppe ändert sich. Denn einige Gefangene sind aufgrund von Vollzugslockerungen abwesend oder ihre Strafe endet. Andere Gefangene nehmen zum ersten Mal teil, da sie gerade neu dazugekommen sind. Manchmal wird in einer Sitzung an Themen gearbeitet, die in einer weiteren Sitzung fortgeführt werden sollen, die dann aber nicht stattfindet, weil der Klient nicht mehr da ist.

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Ȥ Zu den Themen, die wir am häufigsten bearbeiten, gehören Fragestellungen rund um die Herkunftsfamilie, Schuld, Verbrechen, Abhängigkeit, Opfer, Täter, Wut, Vernachlässigung. Ȥ Dieses Instrument eignet sich zur Einschätzung des persönlichen oder strafvollzugsbezogenen Entwicklungsstands des Insassen. Es hilft bei der Entscheidung, ob ihm strafvollzugstechnische Vergünstigungen angeboten werden können, wie Vollzugslockerungen (Ausführung, Ausgang und/oder Freigang). Zuweilen nutzen wir es, um Vorgänge abzuschließen oder das Ende der Freiheitsstrafe vorzubereiten und der Freiheit des Gefangenen ein Bild zu geben. Die Aufstellungen unterstützen den während des Gefängnisaufenthalts in Gang gebrachten Prozess. In anderen Fällen helfen sie dem Gefangenen dabei, sich der eigenen Verwundbarkeit und der Möglichkeit der Wiedereinweisung ins Gefängnis bewusst zu werden. Zur Mitarbeit eingeladen sind verschiedene Personen des multidisziplinären Teams, die zwischen den Sitzungen wechseln können, da sie unterschiedliche Arbeitszeiten haben, und Studenten, die ihr Praktikum im Gefängnis absolvieren. Auch wenn dem so ist, gelten die gleichen Bedingungen für alle Teilnehmenden: innerhalb des Felds und in seinem Dienst. Die meisten Gefangenen haben ein niedriges soziokulturelles Niveau. Bald haben wir gemerkt, dass wir einige psychologische Konzepte und Prozesse erklären müssen, die für die Mehrheit ungewohnt und unbekannt sind. In diesem Sinn ist es sehr hilfreich, dass die Sitzungen regelmäßig mit dem Gefängnispersonal stattfinden, das kontinuierlich und in den jeweiligen Kleingruppen den Weg ebnet, Grundkenntnisse vermittelt und damit das Persönlichkeitswachstum unterstützt. Wir haben auch festgestellt, dass es eines pädagogischen Rahmens bedarf, der ein besseres Verständnis für die Erlebnisse in der Arbeit schafft. Im Laufe der Jahre haben wir Erfahrungswerte gesammelt und Zusammenhänge erkannt, die uns halfen, einen spezifischeren und konkreteren Blick auf das Umfeld, in dem wir arbeiten, zu haben: das Gefängnis, die Umstände und Prozesse, in die die Gefangenen eingebunden sind, ihre Herkunftssysteme, ihr eigenes System und das Gefängnispersonal. Aus ihnen hat sich schrittweise ein theoretisches Modell entwickelt, das von dem erlebten Prozess geprägt ist.

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Bewegungen und ihre Bedeutungen Im Folgenden werden wir einige der Erkenntnisse des letzten Jahrzehnts zusammenfassend darstellen. Wir drücken sie als Bewegungen aus. Gerechtigkeit Gerechtigkeit ist ein menschliches Konstrukt. Es entsteht, indem wir uns darauf einigen, welche Grenzen wir für das, was für uns gerecht und ungerecht ist, beschreiben und setzen. Daraufhin werten wir Handlungen und Verhalten als gerecht oder ungerecht. Das Schicksal ist nicht gerecht oder ungerecht. Es ist, was es ist. Im Gefängnis bezahlen die Gefangenen einen Preis für ihre Vergehen, gemäß dem Rechtsrahmen des Systems, in dem wir leben. Trotzdem wird der Preis in vielen Fällen als ungerecht erlebt. Es wird als Transaktion wahrgenommen: »Ich habe das getan, daher muss ich das bezahlen.« Diese Formel verhindert das wahre Verständnis dafür, dass jedes Verhalten seine Konsequenzen nach sich zieht. Hier entsteht der einzige Weg, Verantwortung zu übernehmen und diese mit meiner Freiheit in Verbindung zu bringen. Das heißt, von dem Moment an, an dem wir akzeptieren, dass unsere Lage die Konsequenz unseres Handelns ist, öffnen wir die Tür dafür, die Verantwortung für das, was wir tun, zu tragen. Diese erste Bewegung ist für das Verständnis unabdingbar, dass unser Verhalten Folgen für uns und für alle hatte, die dadurch beeinflusst wurden, wie z. B. das Opfer oder die eigene Familie. Und dieses Verständnis ist die Grundlage dafür, dass später eine Bewegung der Wiedergutmachung folgt. Wenn diese späteren Bewegungen nicht stattfinden, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass trotz bezahlter Strafe, der Kreislauf von neuem beginnt und man immer wieder zu Gefängnisstrafen verurteilt wird. Trostlosigkeit Die Menschen, die neu ins Gefängnis kommen, beschreiben ihre ersten Kontakte mit dem Strafvollzugssystem und vor allem die ersten Nächte mit einem Gefühl tiefer Einsamkeit. Eine drastische Einsamkeit, die über das Fehlen von Gesellschaft, über physische Einsamkeit hinausgeht. Eine Einsamkeit mit der gebündelten Trauer darüber, niemanden zu haben, keine Bindung zu den Ihren zu spüren, sich weder geliebt noch beschützt zu fühlen. Dieses Gefühl, das wir Trostlosigkeit nennen, findet nach unserer Beobachtung Resonanz in gelebten Situationen der frühen Kindheit und mit den Bewegungen unterbrochener Liebe.

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Dabei handelt es sich um wesentliche Kindheitserlebnisse, an denen dem Kind unter verschiedenen Umständen seine Eltern entzogen wurden. Dies beeinflusste die Bindung zu ihnen. Die wesentlichen Folgen daraus stehen in Verbindung mit dem Erleben von Verlust, Schutzlosigkeit und Bedrohung. Wir konnten eine Verbindung zwischen dem Gefühl der Trostlosigkeit und den archaischen Resonanzen aus der Kindheit herstellen, die einen Prozess der Opferhaltung in den Gefangenen in Gang setzen: »Hier fühle ich mich hinausgeworfen, verlassen, schutzlos, aufgegeben: Opfer. Ich leide darunter, verlassen worden zu sein, und ich mache mich klein. Ich bin von der Liebe meiner Leute entfernt und kann daher keinerlei Kontakt haben.« Diese Opferhaltung mit atavistischen kindlichen Resonanzen ist nicht die beste Grundlage für Persönlichkeitswachstum. Von hier ab geht es um zweierlei. Einerseits spielt die Arbeit mit dem Herkunftssystem eine wichtige Rolle. Daher wird dem Kind ein neuer Blick auf seine Eltern ermöglicht. Es fühlt, dass es ihre Liebe genossen hat, auch wenn diese durch verschiedene Umstände beeinträchtigt worden sein kann. Vermittels dieser Bewegung des Annehmens von Vater und/oder Mutter kann es sich andererseits vom bisher aufrechterhaltenen Leid lösen: »Jetzt leide ich unter einer bestimmten Situation. Ich bin kein Kind mehr. Daher kann ich sie anders erleben als in meiner frühen Kindheit. Ich nehme den Schmerz an, den diese Realität mit sich bringt. Ich verwechsle sie nicht mit einer anderen Realität. Für diesen Schritt muss ich das Kleinsein hinter mir lassen. Ich stehe zu den Folgen meines Verhaltens und stelle mich meinem Handeln als Täter. Das eröffnet mir den Weg zu einer möglichen Wiedergutmachung und Versöhnung. Allerdings lässt mich das Gefühl der Trostlosigkeit an meiner Zugehörigkeit zweifeln. Ich fühle mich von meinem Familiensystem ausgeschlossen, sei es die Herkunftsfamilie oder die eigene Familie. Außerdem fühle ich mich noch nicht als Teil dieses Systems: der Gruppe von Gleichgestellten, der UTE, des Gefängnisses. Das ist ein heikler Moment, in dem in verschiedenster Form in mir die Rolle des Opfers und/oder des Täters entsteht.« Einige Gefangene treten ihren Leidensgenossen wie Haudegen gegenüber. Andere machen sich zum Opfer und werden sich immer wieder Situationen aussetzen, in denen sie bestraft werden. Anerkennen In dieser Bewegung wird die Theorie greifbar, dass Täter und Opfer Teil eines Ganzen sind, es nicht leicht ist, sie zu differenzieren. Wir wissen, wie polemisch diese Aussage sein kann. Sie bedeutet nicht, dass wir jemanden rechtfertigen, der Verbrechen begeht, auch nicht die Verbrechen selbst. Wir verorten uns in

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einem weiten, tiefen Blick und stellen fest, dass die Gefangenen häufig Opfer von schrecklichen familiären Situationen sind, die sie erleiden und ertragen mussten. Sie haben elementare Marginalitätserfahrungen gemacht und wurden mehrfach ausgeschlossen, z. B. aus dem Schulsystem oder dem Arbeitssystem. Wir wiederholen erneut, dass wir mit unserem weiteren Verständnis für die Wirklichkeit kein Verhalten rechtfertigen. Anerkennen bedeutet in diesem Sinne, das, was ist, anzuerkennen. Im Fall des Gefangenen bedeutet es, den Übergang von der Opferrolle zu schaffen und das Geschehene, die Fakten und die eigenen Handlungen so, wie sie sind, anzunehmen: »Ich erkenne die Folgen an, die diese Fakten und dieses Verhalten für mich hatten. Die deutlichste ist, dass mir die Freiheit entzogen wurde und ich mich im Gefängnis befinde. Diese geht mit vielen anderen Folgen einher. Ich wurde z. B. aus meinem System und aus der Unterstützung und der Zuneigung meiner Leute ausgeschlossen. Ich erkenne an, dass mein Verhalten Folgen für andere hatte, die direkt und als Opfer darunter litten, Folgen für die Personen, denen ich durch Gesetzesübertretung geschadet habe, die ich verletzt habe oder deren Leben ich beendet habe. Es ist ebenfalls nötig anzuerkennen, dass ich indirekt meiner Familie geschadet habe, meinen Freunden, meinen Kindern, die Opfer der Folgen meines Verhaltens sind. Es geht letztlich darum, dass ich mein Gewissen erweitere und die Wirklichkeit so, wie sie ist, annehme. An dieser Stelle hilft das Urteil nicht. Denn von meinem persönlichen Gewissen werde ich zur Schuld geführt, indem ich mir oder anderen Schuld gebe. Das ist nicht die beste Form, mir das Übernehmen von Verantwortung nahezubringen. Ich weiß jetzt, wie entscheidend das Verständnis dafür ist, Teil eines Systems zu sein, in dem Verbindungen zu meinen Vorfahren und Nachfahren bestehen. Mein Verhalten ist zuweilen blind und unbewusst mit anderen Mitgliedern des Systems verbunden, die als Täter Schäden verursacht haben oder als Opfer unter Schäden leiden mussten. Meine Rolle als Teil des Systems dient ihm in der systemischen Kompensation.« Durch die Anerkennung des Opfers als Teil des Systems des Täters beginnen die Gefangenen zu verstehen, welchen Sinn die inneren, sie verfolgenden Bilder haben, die etwa so beschrieben werden: »Ich bekomme seinen/ihren Blick nicht mehr aus dem Kopf oder seine/ihre Geste, ich habe das Gefühl, dass er/sie mich den Rest meines Lebens verfolgen wird.« In den annehmenden Bewegungen der Aufstellung, die zu dem Geschehenen führen, bei denen man dem Opfer den Platz gibt, der ihm zusteht, und in denen man sein/ihr Schicksal ehrt, wird das eigene Schicksal frei. Es gibt eine sichtbare Veränderung bei Gefangenen, die Zugang zu dieser Anerkennung haben. Es entsteht eine gewisse Befriedung, die milde stimmt und beruhigt.

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Wiederherstellen Das Fundament für die Bewegung des Wiederherstellens liegt in dem Bedürfnis nach dem Ausgleich zwischen geben und nehmen, das wir in zwischenmenschlichen Beziehungen beobachten. Systeme haben ein Bedürfnis und eine Fähigkeit der Kompensation. Daher wird das Vorhandensein von Ausgleich in das Gefühl des guten oder des schlechten Gewissens sowohl auf persönlicher als auch systemischer Ebene übersetzt. Das führt dazu, dass Angehörige eines Systems entscheidende Handlungen anderer Angehöriger, die innerhalb des Systems vor ihnen kamen, kompensieren. Mithilfe der Familienaufstellungen kann das Opfer entschädigt werden. Das kann die Person sein, die unter den direkten Folgen des verbrecherischen Handelns des Gefangenen litt. Es kann aber auch ein anderes Mitglied seines Systems sein, das die Folgen der Handlungen von Tätern desselben Systems erfuhr. In unserem Strafvollzugssystem beginnt man damit, Möglichkeiten zur Anerkennung und Entschädigung des Opfers anzubieten. Doch eine Anwendung dieses Modells ist nicht üblich. Häufig sind diese Prozesse anfänglich unmöglich, weil die Insassen ihre konkrete Sicht auf die Geschehnisse nicht ändern. Die Aufstellungsmethode ermöglicht jedoch diese Bewegung der Wiedergutmachung. Die Anerkennung und das Übernehmen von Verantwortung für den verursachten Schaden sind leichter, wenn man in einer Aufstellung leibhaftig erleben kann, was das Opfer fühlt und welche Auswirkungen sich auf das eigene System ergeben. Was bedeutet es für die Partnerin/den Partner? Was bedeutet es für die Kinder? In diesem Rahmen ist es möglich, dem Täter und dem Opfer ihren entsprechenden Platz zuzuweisen. So wird blinde Treue enthüllt, die wir für vorangegangene Mitglieder unseres Systems empfinden und in die wir eingebunden sind. Aufgrund dieser Treue verfallen wir unbewusst in Sühnebewegungen, die uns leiden und wiederholt die gleichen Fehler begehen lassen. So entsteht ein Bewusstsein für unaufgeklärte und unbewusste Verhaltensweisen, Wiederholungstaten und neue Strafen. Auf diese Weise können wir unsere Funktion als reine Schmerzüberträger überwinden. Wir haben beobachten können, dass die Bewegung der Wiederherstellung verschiedene Bereiche beeinflusst: Ȥ Einerseits ist sie die Grundlage dafür, dass der Gefangene Zugang zu einer bewussten Stufe der Rehabilitation bekommt. Dadurch, dass er in seiner Selbstachtung gefördert wird, kann er sich die Fähigkeiten wieder aneignen, die im Hinblick auf Gesundheit und Verhalten verloren gegangen sind. Ȥ Andererseits bringt die Bewegung Aufmerksamkeit und Ausgleich für das eigene familiäre System, das geschädigt wurde und häufig kaum Verständnis

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dafür bekam, wenn es das Verhalten des Gefangenen aus Liebe beschränkt hat. Weiter als das Anerkennen der Grenzen geht die Anerkennung der Liebe, die diese Grenzen verursacht hat. Das ermöglicht Erkenntnis und Ehrung. Das familiäre Zusammenleben, das in der UTE begünstigt wird, zeigt klar Situationen, die diesen Prozess fördern. Ȥ Letztendlich bieten bestimmte Aktivitäten, die von den Gefangenen in den Bereichen für Bildung und Soziales durchgeführt werden, wie Vorträge in Bildungseinrichtungen und Vereinen, eine Form der Wiedergutmachung, die durch das persönliche Engagement und die Öffentlichkeit der gemachten Erfahrungen mehr ist als eine Informationsveranstaltung. Versöhnen Die nötige Grundlage für diese Bewegung ist die Akzeptanz, die wir in verschiedenen Varianten beobachten konnten. Sie bedarf eines Weitblicks, den wir systemisch nennen könnten und der eine spirituelle Facette hat. Die Akzeptanz geht von einem persönlichen Gewissen aus, das über Schuld und Unschuld hinwegreicht und das, wie weiter oben erwähnt, auf der vollständigen Akzeptanz der Folgen des eigenen Verhaltens basiert. Auf der Grundlage einer Kontaktaufnahme, die frei von Schuldzuweisungen ist, kann das Geschehene irgendwie entschuldigt und gleichzeitig die indolente Opferhaltung verhindert werden, die der Verantwortungsübernahme für die begangenen Handlungen und ihre Folgen im Weg steht. Dies setzt das Erkennen bestimmter Verstrickungen innerhalb des eigenen Familiensystems voraus. Die einzige Möglichkeit, mit diesen Verhaltensmustern zu brechen, ist, den Blick zu öffnen und zu bemerken, dass wir aufgrund bestimmter Loyalitäten dem System dienen, während wir gleichzeitig aus Treue zu unserem System verhindern, dass es gesundet. Auf dieser Ebene Bewusstsein zu schaffen, bedeutet, dass Funktionen der Zugehörigkeit, Hierarchie und Kompensation fließend ineinander übergehen und heilend innerhalb des Systems wirken. Gleichzeitig unterstützt der Gefangene seine Familie dabei, einen Umgang mit der Situation zu finden, ohne sie überdramatisieren oder verstecken zu müssen. Diese Bewusstwerdung ist die einzige Art, die Haltung über das, was mir vorgeschrieben wird, abzulegen, um das, was ist, zu verstehen. Wir konnten beobachten, dass dieses Verständnis dabei hilft, den Blick für eine Ebene zu öffnen, die wir spirituell nennen könnten. Sie stellt sich in Form eines höheren Mitgefühls, der Liebe zu sich selbst, mehr Ruhe und Frieden, einer Erhöhung der empathischen Fähigkeiten und der Akzeptanz von Alterität dar. Letztendlich ist es eine Ebene der Versöhnung mit sich selbst, mit den anderen und mit der Realität, die uns zu leben bestimmt ist und von der wir Teil sind.

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Literatur Cohen, D. B. (2009). Llevo tu corazón en mi corazón. Madrid: Gaia Ediciones. Hellinger, B. (2009). El amor del espíritu. Un estado del ser. Barcelona: Rigden-Institut Gestalt Editorial. Hellinger, B. (2006). Los órdenes de la ayuda. Buenos Aires: Alma Lepik Editorial. Weber, G. (1999). Felicidad dual. Bert Hellinger y su psicoterapia sistémica. Barcelona: Herder Editorial.

Philipp Wradatsch

Die Aufstellungsarbeit in der ambulanten Jugendhilfe

Die Jugendhilfe in Deutschland hat mittlerweile eine lange Geschichte mit unterschiedlichsten Entwicklungen und Ausdifferenzierungen. Seit der letzten großen Reform im Jahr 1990 steht im Mittelpunkt der Betrachtung der junge Mensch und dessen individuelle und soziale Entwicklung, der Abbau von Benachteiligungen, die Beratung der Eltern, der Kinderschutz und die Gestaltung von positiven Lebensbedingungen für junge Menschen (SGB VIII, 1990). Dies war nicht immer so. Das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz aus dem Jahr 1922 bis 1961 und das Jugendwohlfahrtsgesetz von 1961 bis 1990 (Bundesministerium der Justiz, 1961) beinhalteten viele Momente des Eingriffs in Familien und in das Leben sowie der institutionellen Machtausübung und des Missbrauchs. Der Größe dieser Dimension kann an dieser Stelle allerdings nicht gerecht begegnet werden. Ein Wissen über diese Zusammenhänge ermöglicht den nötigen Respekt der Lebensschicksale und dessen Würdigung in der Zusammenarbeit zwischen Helfer und Klient (aus dem Grund der Textreduzierung wird hier die männliche Form gewählt). Zehn Jahre nach Inkrafttreten des heute noch gültigen Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII) gab es eine weitere wichtige Änderung: Seit dem Jahr 2000 (Bundesministerium der Justiz) gibt es das Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung in Deutschland. Denkt man, wie in der Aufstellungsarbeit, oft in Generationen, weiß man um die verzögerte Wirkungsweise und die Auswirkungen von beispielsweise Gewalt und Traumaerfahrungen im familiären Zusammenhang. Rückblickend hat sich im Jugendhilfegesetz und in der Praxis der Jugendhilfe zum Glück vieles zum Positiven nachhaltig verändert und verbessert. Es bleibt aber weiterhin eine professionelle Aufgabe, das eigene Tätigkeitsfeld kritisch zu hinterfragen und den eigenen geschichtlichen Kontext zu kennen – die Herkunftsfamilie. Denn es gilt auch hier: Ausschluss wirkt.

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Betrachtet man aus dieser Perspektive die Hilfeerbringung in der Jugendhilfe, bieten die Erkenntnisse aus der Aufstellungsarbeit wertvolle Aspekte der eigenen Reflexion und Selbsterfahrung (Struktur, Institution, Helfer und Klient). Daraus ergibt sich eine erweiterte Sicht auf das, was wirkt und wie Hilfe wirken kann und soll.

Ein aktueller Blick zum Einsatz der Aufstellungsarbeit Die Jugendhilfe hat viele Leistungs- und Aufgabenbereiche. Als Reflexionsmethode wird die Aufstellungsarbeit (auch Skulpturarbeit, Psychodrama, Familienbrett usw.) in allen Bereichen der Jugendhilfe im Rahmen der Supervision oder kollegialen Beratung erfolgreich eingesetzt. Meinen Blick richte ich an dieser Stelle auf die sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH) und den Einsatz der Aufstellungsarbeit mit den Klienten selbst. Bei der Recherche zu diesem Beitrag bin ich auf einige wenige Nennungen der Aufstellungsarbeit im Kontext der Jugendhilfe auf Internetseiten gestoßen. Innerhalb der stationären Angebote gab es beispielsweise die Benennung der Aufstellungsarbeit als Stichwort, aber keine ausführliche Darstellung, lediglich den Verweis auf die Arbeit mit dem entsprechenden Aufstellungsblick. Vielleicht steht dies auch im Zusammenhang mit der Notbremse in Bezug auf die Hellingerkritik durch die Fachverbände Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) und Systemische Gesellschaft (SG) ab dem Jahr 2003, dass eine Differenzierung der Aufstellungsarbeit in der Jugendhilfe bzw. eine Nennung aus Angst vor Repressalien nicht öffentlich vorgenommen wurde. Im Jahr 2006 benannte das Landesjugendamt Bayern sehr deutlich: »Hellingers Familienstellen kann […] nicht als adäquate fachliche Methode für die Jugendhilfe anerkannt werden.« (Wunsch, 2006), was vermutlich weitere Zurückhaltung mit sich brachte. Aus allen Beschreibungen ist jedoch nicht ersichtlich, um welche Art von Aufstellungsarbeit es sich handelt und welches Theoriekonzept verfolgt wird. Als Helfer den eigenen professionellen Standpunkt zu finden, ist auch für die Soziale Arbeit ein Dauerthema. Als noch recht junge Profession im Vergleich zu anderen steht sie in der Herausforderung, die eigene Identitätsklärung als »Evergreen der Verunsicherung« (Kleve, 2009, S. 109) zu erleben. Gleichsam gilt es für viele als die »Hohe Kunst«, Aufstellungen anzubieten und umzusetzen. Die derzeit stattfindende allgemeine Qualitätsdebatte in der Aufstellungsarbeit kann hier gut genutzt und als Grundlage herangezogen werden (Kleve, 2011; Klein u. Kannicht, 2011; Nazarkiewicz u. Kuschik, 2015; Wradatsch, 2018). Die

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feste Implementierung der Methode im Bereich der Jugendhilfe ist somit aus meiner Sicht der nächste Schritt.

Die sozialpädagogische Familienhilfe »Das Kind ist doch der Symptomträger, Ursache sind doch die schlechten Eltern.« So oder so ähnlich begegnete mir dieser Satz in der SPFH. Er beschreibt eine triviale Zuschreibung durch eine Wenn-dann-Abfolge, die gerade nicht systemisch, zirkulär-wechselhaft gedacht ist und doch oft als systemisch ausgelegt wird. Zu schnell erfolgt eine implizite Schuldzuweisung an die Eltern, die wiederum nicht mit ihren Kontexten und möglichen Verstrickungen verbunden gesehen werden. Ebenfalls muss der Prozess der Beobachtung und Beschreibung durch den Helfer berücksichtigt werden (vgl. Hosemann u. Geiling, 2013, S. 21). Gleiches findet sich in der Aufstellungsarbeit: »Du trinkst, weil dir dein Vater fehlt.« »Wenn sich durch Hinzustellen des Vaters eine erlebte Verbesserung des inneren Bildes einstellt, heißt das jedoch nicht, dass der fehlende Vater die Ursache für ein Symptom (z. B. Alkoholismus) ist« (Drexler, 2015, S. 221). Die immer wiederkehrende Gefahr des Helfers in der Jugendhilfe besteht darin, sich von der ersten einfachen Zuordnung, der kausalen Zuschreibung von Wenn-dann-Beschreibungen einfangen zu lassen. Dadurch geht Gestaltungskreativität verloren. Mitleid, nicht Mitgefühl zum Klienten, Leidensdruck und Leistungsdruck durch knappe strukturelle Ressourcen begünstigen diese schnellen und einfachen Zuschreibungsphänomene. Die Frage dabei ist: Wie können wir Eltern in ihre Handlungsfähigkeit bringen bzw. diese erweitern, obwohl wir als Helfer auch unsere Handlungsfähigkeit suchen, und zwar eine, die ohne die Haltung des Besserwissens auskommt? Im Rahmen der sozialpädagogischen Familienhilfe besuchen Sozialarbeiter oder Pädagogen Familien regelmäßig in ihren Wohnungen. Bei ihren Besuchen erleben Familienhelfer die vorliegenden Probleme unmittelbar und suchen vor Ort gemeinsam mit den Familien nach naheliegenden und passenden Lösungen. Den Familien soll die Verantwortung für die Bewältigung ihrer vielfältigen und gehäuften Probleme nicht abgenommen werden, sondern sie sollen durch die SPFH nach dem Motto »Hilfe zur Selbsthilfe« zu eigenen Lösungen angeregt werden, um die im Hilfeplan vereinbarten Ziele zu erreichen (Helming, Schattner u. Blüml, 1999, S. 22). Das Hilfeplangespräch ist ein Gespräch mit dem Jugendamt als Kostenträger der Maßnahme, dem freien Träger als Dienstleister und der Familie als Leistungsadressat. In diesem Gespräch werden die zu erreichenden Ziele sowie der Umfang der Maßnahme festgelegt (inhaltliche Ausrichtung des

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Hilfeplans). Ausgehend von dem Erziehungsverhalten bzw. der Erziehungssituation stehen das Wohl der Kinder und eine förderliche Entwicklung an erster Stelle. Da die Eltern einen großen Einfluss auf die Erziehungssituation haben, ist es wichtig, diese in ihrer »elterlichen Präsenz« (Omer u. von Schlippe, 2014, S. 29) zu bestärken. Eine gute, klare und förderliche Beziehung zum Kind, das Erkennen der Bedürfnisse des Kindes und eine förderliche Antwort auf diese, eine Ausgewogenheit zwischen Verbundenheit und Autonomie bzw. Achtung und Würdigung sind Grundpfeiler des Konzeptes der elterlichen Präsenz. Für die Umsetzung dieser wichtigen Elemente sind die eigene Ausrichtung und Standfestigkeit im Leben gefragt. Eigene Erfahrungen mit der Mutter- oder Vaterrolle, Herausforderungen und Lebenskrisen, sozioökonomische Rahmenbedingungen, eigene Entwicklungsmöglichkeiten und Ressourcen im Außen und Innen, aber auch Kommunikations- und Kontaktmöglichkeiten spielen dabei eine große Rolle. Der zu Beginn benannte Auftrag der Jugendhilfe setzt an der Entwicklung des Kindes/Jugendlichen im eben genannten Sinne an. An dieser Stelle kommt die Aufstellungsarbeit mit ins Spiel, da diese durch das bildhafte Verfahren Komplexität zu reduzieren hilft (Klein u. Kannicht, 2011, S. 93). Dadurch werden Handlungsmöglichkeiten und Optionen schneller erfassbar. Die Idee ist: diese Komplexitätsreduktion den Familien erlebbar zu machen und näherzubringen. Zudem bietet die Aufstellungsarbeit eine Herangehensweise, die es möglich macht, alle zuvor genannten Themenfelder innerhalb der Familienhilfe zu bearbeiten.

Intention, Anwendbarkeit und Zuständigkeiten Gerade die therapeutische Ausrichtung wird im öffentlichen Sektor traditionell den Krankenkassen zugeordnet und im Jugendhilfekontext eher abgelehnt. Ausnahmen, die je nach Angebot mittlerweile standardmäßig therapeutische Leistungen bereithalten, gibt es im stationären Jugendhilfebereich. Vor diesem Hintergrund stellt sich uns oft die Frage: Kann die Aufstellungsarbeit als pädagogisches und/oder therapeutisches Verfahren innerhalb der ambulanten Jugendhilfe überhaupt zum Einsatz kommen? Die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe als Hilfe zur Erziehung (§ 27 SGB VIII, 1990) sind an die Eltern in Bezug auf die Kinder und das soziale Umfeld adressiert. »Die Hilfestellung ist damit weder alleine auf das Kind als Individuum, noch auf die Eltern(teile) als Individuen konzentriert, sondern knüpft an der Erziehungs- und Lebensgemeinschaft von Eltern und Kind, am ›System Familie‹ an, sie ist zugleich Kind- und Eltern orientiert – mit unter-

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schiedlicher Schwerpunktsetzung entsprechend dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall: So kann die Hilfe stärker den Eltern als Hilfe zur Selbsthilfe geleistet werden, sie kann sich gleichzeitig an Eltern und Kinder wenden in Form von systemischer Hilfe bzw. Therapie, sie kann sich parallel und räumlich voneinander getrennt aber mit einander koordiniert an das Kind im Heim oder der Pflegestelle und an die Eltern richten« (Wiesner, 2005, S. 6). Dabei ist bei der Gewährung der Leistung eine grundsätzliche pädagogische Ausrichtung und damit einhergehend eine verbundene therapeutische Leistung maßgeblich (vgl. § 27 SGB VIII, 1990). In der Jugendhilfepraxis hält sich leider der doppelte Irrglaube, dass therapeutische Leistungen zum einen zunächst kostenintensiver sind und zum anderen Aufgabe der Krankenkassen. Das »Handbuch Psychotherapie in der Jugendhilfe« von Schmidt (2017) widerlegt zwar diese Annahmen in seiner Wirksamkeitsevaluation, nach der »die Behauptung aufgestellt werden [kann], dass die therapeutischen Hilfen sowohl im vergleichbaren Betreuungszeitraum als auch in der Gesamtbetreuung ökonomisch günstiger sind als die sozialpädagogischen Hilfen« (S. 23). Meiner Erfahrung nach setzt sich diese Erkenntnis aufgrund der kommunalen Selbstverwaltung der Kostenträger und unterschiedlicher fachlicher Abteilungen (Allgemeiner Sozialer Dienst und Wirtschaftliche Jugendhilfe) nicht durch. Das Handbuch empfiehlt weiter: »Aus diesem Grunde wäre es sehr wichtig, zu Beginn von Maßnahmen der Jugendhilfe gut zu klären (gegebenenfalls mit Hilfe von Fachdiensten), welche Hilfe(n) für den individuellen Fall am sinnvollsten und prognostisch erfolgversprechendsten sind« (Schmidt, 2017, S. 23). Lohnenswert ist der Versuch allemal, denn Ziel des Jugendamtes ist es, mit der Familie die Notwendigkeit und Geeignetheit einer Maßnahme in Abhängigkeit mit dem erzieherischen Bedarf und des dadurch vereinbarten Hilfeplans (Ziele) festzulegen und zusammen mit der Fachkraft des freien Trägers diese anzugehen und umzusetzen. Des Weiteren stellt Wiesner (2005) in seinem Gutachten klar, dass zum einen im SGB VIII nie von Psychotherapie die Rede ist und zum anderen Psychotherapie als solches auch nicht ausgeschlossen, jedoch approbierten Psychotherapeuten vorbehalten ist. Zunächst geht es um die Differenz zwischen Erziehungskompetenz der Eltern und dem Erziehungsbedarf des Kindes/Jugendlichen. »Therapie ist deshalb ausgerichtet auf den Erziehungsprozess. Sie mag zwar an einer kranken Person anknüpfen, ihr Ziel ist aber nicht die Behandlung der Krankheit, sondern die Förderung der Entwicklung des Kindes (oder Jugendlichen) durch Förderung der Eltern-Kind-Interaktion« (S. 37). Konkret geht es beispielsweise darum, dass durch eine psychische Störung eines Elternteils die Entwicklung eines Erziehungsziels und die entsprechende Entwicklung

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des Kindes nicht umgesetzt werden können. Therapeutische Behandlung und pädagogische Begleitung sollte hier innerhalb der Jugendhilfe Hand in Hand gehen. Aufgrund der unterschiedlichen Strukturen von Krankenkassenleistungen und Jugendhilfe ist dies bisher nur bedingt möglich und sollte weiter ausgebaut werden. Wo Veränderung nicht initiiert werden kann, weil Zuständigkeitsfragen offen sind, verlaufen sich Helfende oft in systemstützende Maßnahmen: Der Blick richtet sich ausschließlich auf die Kinder und die Förderung deren Entwicklung. Natürlich wird immer wieder versucht, die Eltern mit in den Prozess einzubinden. Dies benötigt einen langen Atem, der gerade dann ausgeht, wenn später Jugendliche in pubertäre Abgrenzung gehen oder finanzielle Aspekte wirken. Die Hilfe wird dann aufgrund von Frustration und Druck abgebrochen oder vorschnell eingestellt. Auf den Eltern lastet weiter die alleinige Verantwortung, sie werten sich und/oder die Hilfemaßnahme an sich weiter ab oder werden zudem von außen als Verursacher der nicht gelungenen Maßnahme herabgesetzt. Die systemische Therapie kann hier aushelfen. Sie »setzt als Hilfe zur Erziehung einerseits an den Erziehungsmustern oder Überforderungssituationen der Eltern an und andererseits an den korrespondierenden psychischen Störungen der jungen Menschen. Ziel bleibt jedoch immer die Unterstützung der jungen Menschen bei der Bearbeitung ihrer seelischen Konflikte und Symptome und die Verbesserung der Befähigung der Eltern, ihren Kindern angemessene Entwicklungsbedingungen zu bieten« (DGSF u. SG, 2019, S. 3). Auf den Punkt gebracht kann man sagen, dass die Aufstellungsarbeit in einem systemisch beraterischen und therapeutischen Verständnis, ausgerichtet am Hilfeplanverfahren der individuellen Familiensituation mit entsprechender pädagogischer oder therapeutischer Intention eingesetzt werden kann.

Wie können wir nun die Aufstellungsarbeit einsetzen? Die Aufstellungsarbeit wird im Allgemeinen immer wieder in unterschiedlichen Settings eingesetzt. Dabei stellt sich die Settingfrage nicht losgelöst von der pädagogischen oder therapeutischen Intention. Berthold Ulsamer (2015) kommt zum Schluss: »[B]ei ›normalen‹ Problemen, z. B. einer gestörten Beziehung mit den Eltern, können wir sie [die Aufstellungsarbeit] Lebenshilfe nennen. Bei heftigen psychischen Schwierigkeiten, wie z. B. bei Depression, wird eine Aufstellung zur therapeutischen Intervention. Das Vorgehen des Aufstellers […] bleibt grundsätzlich gleich« (S. 227). Die Intention und das Setting entscheidet. Die Autorinnen Nazarkiewicz und Kuschik (2015) und weitere benen-

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nen dies ebenfalls: »[S]tets geht es um die sensiblen Bereiche von Grenzgängern zwischen Therapie und Persönlichkeitsentwicklung, um die Handhabung von Interventionen, um die Steuerung der Wirkungen teilweise starker Effekte in und vor Aufstellungen und um die Nachsorge und Nachhaltigkeit« (S. 20). Für die Familienhilfe ist dies nicht anders, haben wir doch eben mit Hilfe der Darstellung von Wiesner erfahren, dass pädagogische und therapeutische Vorgehensweisen sich immer am erzieherischen Bedarf ausrichten müssen. Die Zielsetzungen der Familienhilfe, wie sie weiter oben schon benannt wurden, sind eins zu eins deckungsgleich mit vielen Anliegen und Anwendungsfeldern der Aufstellungsarbeit. Hierbei ließen sich noch weitere Schwerpunkte ergänzen, wenn es beispielsweise um gewaltfreie Erziehung, den guten Umgang mit Schuld und Scham, transgenerationale Aspekte, Rollenverständnis und Loyalität geht. Gerade auch die zunehmende öffentliche Auseinandersetzung mit dem Themengebiet der transgenerationalen Weitergabe von Traumata hat bisher in der alltäglichen Diskussion der Jugendhilfe wenig bis kaum Einzug erhalten. Auch hier bietet die Aufstellungsarbeit dem Helfer an, den eigenen Kontext und den der Arbeit zu sensibilisieren. Aufgrund der Möglichkeit, beide Intentionen (pädagogische und therapeutische) innerhalb der Familienhilfe zu verfolgen, braucht es eine klare Darstellung gegenüber den Teilnehmern im Sinne einer Produktinformation: Was wird wie und warum gemacht? (S. Drexler, 2015, S. 85). In diesem Sinne sind systemische Aufstellungen in allen Varianten in der Einzel- oder Gruppenarbeit in der Familienhilfe sehr gut umsetz- und anwendbar. Bei all der theoretischen Offenheit der Familienhilfe braucht es jedoch auch immer eine Passung zwischen Berater, Methode und Klient. Bezüglich der Kostenfrage ist die Aufstellungsarbeit als Vorgehensweise im Rahmen des Hilfeplanverfahrens zwischen Kostenträger (Vertreter des Jugendamtes), Familie und Helfer als Möglichkeit vorzuschlagen. Somit liegt die Finanzierung im Rahmen der bereits bewilligten Maßnahme und die qualitative Auswertung anhand der Zielerreichung und Befindlichkeit des Klienten kann im kommenden Hilfeplangespräch erfolgen.

Die Vorgehensweise Vorwiegend arbeiten wir in Gruppensituationen. Die Anliegen werden vorab festgelegt und in dem Tagesseminar konkretisiert. Teilnehmer sind die Eltern oder Elternteile der Familien, die wir im Rahmen der Familienhilfe begleiten, der unmittelbare Helfer, der die Familie im Rahmen der Familienhilfe begleitet,

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und weitere Familienhelfer sowie Familienmitglieder. Die Teilnehmerzahl ist schwankend, da viele Dynamiken in den Familien wirken und Termine nicht immer eingehalten werden können. Auch die Zusammensetzung von Helfern und Klienten ist im Verlauf sehr unterschiedlich. Außerdem können weitere Externe (Jugendhilfeträger, Therapeuten im Umkreis, Studierende meiner Lehrveranstaltungen …) jederzeit mit dabei sein. Zunächst werden organisatorische Rahmenbedingungen angesprochen, wie Ablauf und Vorgehen, Pausen usw. Die Gruppenzusammensetzung und das Verhältnis der Teilnehmer zueinander (Helfer und Klient) sind ebenfalls wichtige Informationen für ein Ankommen in der Runde. Der Ablauf einer Aufstellung wird erklärt. Im Anschluss erfolgt das Sammeln von Anliegen im Stil von Buchtiteln oder Zeitungsüberschriften. Auf die Durchführung der Aufstellung gehe ich an dieser Stelle nicht näher ein, mehr Informationen hierzu finden sie im Online-Artikel der Praxis der Systemaufstellungen (PdS) »Aufstellungen in der sozialpädagogischen Familienhilfe« (Wradatsch, 2018). Im Folgenden möchte ich die besondere Rolle der unterschiedlichen Akteure kurz beschreiben.

Die Helfer Für die Helfer ist die Struktur, in der sie die Hilfe erbringen, eng mit der institutionellen Entwicklung der Hilfeeinrichtung verbunden. Welche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster in einer Einrichtung entstehen, hängt von den Systemmitgliedern, deren Eingebundenheit, Geschichte und wechselseitiger Beschreibung ab. An der hypothetischen Bewertung bzw. Beschreibung der Eltern, in ihrer Elternrolle oder der gelebten Empathie gegenüber den jungen Menschen und ihrem Schicksal und damit verbundenen Lösungskompetenzen wird der Grad an Selbstprophezeiung hin zum Widerstand und Scheitern der Klienten messbar (vgl. Hellinger, 2004, S. 103). Somit geht es erst um das Ausloten des eigenen professionellen Selbstverständnisses und der eigenen persönlichen Haltung im entsprechenden Kontext, bevor wir mit der Aufstellungsarbeit in diesem Setting beginnen. Diana Drexler hält dies für so wichtig, dass sie dafür empfiehlt, an »den Knoten im Taschentuch« zu denken (Drexler, 2015, S. 204). Dabei gilt aber immer, dass wir unsere eigene Aufstellung als unsere und die Aufstellung des Klienten als dessen eigenes Bild verstehen. Die Interpretationshoheit liegt also beim Klienten selbst. Der Helfer entwirft für seine Orientierung Hypothesen, die jederzeit über Bord geworfen werden können.

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Zunächst lade ich die Helfer ein, die Aufstellungsarbeit kennenzulernen und eigene Erfahrungen damit zu sammeln. Im Team, bei den Aufstellungsseminaren, im Einzelgespräch oder im Einzelsetting ist dies möglich. Ich empfehle den Helfern auch, bei externen Weiterbildungsinstitutionen vereinzelt Seminare zu belegen, um sich ein unabhängiges Bild zu machen. Im Einzelsetting nutzen wir die Arbeit mit dem Systembrett, mit Bodenankern mittels Teppichvliesen oder in einem kleinen Team, um aus der Praxis Konstellationen zu stellen und eigene Standpunkte zu reflektieren. Häufige Aufstellungen bei uns sind: Zielaufstellungen, Werteaufstellungen oder verdeckte Aufstellungen sowie Familienaufstellungen und der Bezug als Helfer zur Familie. Ich habe festgestellt, dass die Aufstellungsarbeit für uns als Helfer immer wieder wertvolle Impulse für neue Ansatzpunkte in der Arbeit mit den Familien gibt. Zentraler Punkt ist die eigene Haltung und somit die An- und Abgrenzung von eigenen Themen und die bessere Verwendung von Ressourcen aufgrund der körperlichen Fühlbarkeit. Auch für die Helfer gibt die Aufstellungsarbeit wesentliche, neue Impulse in Fragen der Loyalität. Dieses Thema wird in der Jugendhilfe zwar zunehmend ernster angegangen, jedoch fehlt bisher oft noch ein Verständnis von übergreifenden Systemzusammenhängen, so dass meines Erachtens noch viel zu oft im Sinne einer kausalen Wenn-dann-Logik Zuschreibungen erfolgen. Diese Stigmatisierungen enden meist in einer Handlungsunfähigkeit der Helfer oder in einer selbsterfüllenden Prophezeiung bezüglich des Blickes auf die Klienten: Sie verhalten sich so, wie ich sie sehe. »Wir haben es hier mit einer Ausfallbürgschaft zu tun oder mit altem Sozialadel.« Dies sind Begriffe, die ich oft von Helfern in Bezug auf Schicksalsgemeinschaften von Harz-IV-Empfängern, strukturschwaches Klientel oder bildungsferne Hilfeempfänger höre. Mit dieser Zuschreibung ist die Handlungsunfähigkeit des Helfers zementiert und der gute Grund sowie der Lösungsversuch der Familie werden nicht gesehen. In solchen Fällen profitieren die Helfer über die Aufstellungsarbeit von der Erweiterung des Blickes für Zusammenhänge, und sie können dadurch Handlungsalternativen entwickeln. Verstrickungen werden mit einem guten Grund erfahrbar gemacht und Abwertungen vermieden. Gerade Loyalitätskonflikte werden spürbar. Die wechselseitigen Zusammenhänge werden deutlicher und das Verständnis für den Preis, den die Beteiligten bezahlen, ermöglicht dem Helfer positivere Einstellungen wie Mitgefühl oder die Würdigung der Widerstandskraft in einem System zu entwickeln, statt in bewussten oder unbewussten Schuldzuschreibungen oder Erwartungen verhaftet zu bleiben. Dieses Angenommensein seitens der Helfer hilft in der Arbeit mit dem Klienten als erster Ansatzpunkt für eine Richtungsänderung.

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Neue Impulse für die eigene Arbeit, eine Bestätigung des bisherigen Weges oder der Abgleich von unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten der Beteiligten, inklusive des Helfers sind gewinnbringende Erkenntnisse, die zu den bereits gewonnenen Wechselwirkungsideen im System hinzukommen. Die Aufstellungsbilder der Klienten oder auch die Aufstellungsergebnisse der Helfer durch deren eigene Aufstellung von Klientensystemen sorgen im Ergebnis für ein ausgeprägtes Kohärenzerlebnis. Dies strahlt in den Alltag aus und kann Orientierung, Zuversicht und Zutrauen, ja sogar neue Suchbewegungen nach Lösungen bei allen Beteiligten in Gang bringen.

Die Klienten Die Zugehörigkeit der Eltern zu einer Sippe, einer Schicht und auch die epochale Zuordnung, so wie die gesamtgesellschaftliche Entwicklung haben großen Einfluss auf Fragen der Erziehung. Erziehungsstile, Weltbilder, Rollenverständnisse, Vorstellungen davon, was Liebe sei, ethische und religiöse Konzepte sind dabei großen wechselintensiven Schwankungen ausgesetzt. Diese Schnelllebigkeit, verstärkt durch plurale Freiheiten und Grenzen komplizieren Orientierung durch alle Schichten und verstärken damit ein Ohnmachtsgefühl gerade für Eltern als Zuständige für Struktur, Weitsicht und Halt. Zu dieser allgemeinen Herausforderung kommen noch weitere hinzu: »Die meisten Menschen haben negative Erfahrungen mit Gruppen. Die Familie, unsere ›Primärgruppe‹, war nicht immer nährend, Erlebnisse im Kindergarten und in der Schule verletzten umso mehr, je schwieriger die Familie erlebt wurde. Heute scheint es darüber hinaus normal zu sein, andere zu mobben und zu verleumden. In sozialen Netzwerken gehört es dazu, andere zu verurteilen oder in ›shitstorms‹ dazu aufzufordern, sich der Verleumdung anzuschließen, ohne persönlich dafür geradestehen zu müssen. Der Respekt vor der persönlichen Integrität anderer gerät zunehmend in Vergessenheit. So ist ›Angst vor Gruppen‹ ein weit verbreitetes Phänomen« (Sautter u. Sautter, 2015, S. 302). Genau diese Angst vor und in Gruppen begegnet uns in unserer Arbeit. Eine subtile Sozialisationsbotschaft lautet in diesem Zusammenhang »der Stärkere gewinnt«. Wenn nun ein Kind dieser Botschaft folgt und auch die Kraft dazu hat, dies in einer Gruppe durchzusetzen, gerät es in einen anderen Konflikt: Es wird als »Monster« oder »Tyrann« problematisiert – und seine Anpassungsleistung wird nicht verstanden. Stigmatisierungsprozesse stehen außerdem dem Wunsch nach Zugehörigkeit und Ankommen entgegen. Statt also der Zuschreibung, ein Mädchen sei eine Tyrannin weiter zu folgen, können alle in einer Aufstellung

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erleben, welche auffälligen Aktionen das Kind zum einen nutzt, um nicht länger in einer ohnmächtigen Position zu bleiben, und wie es zum anderen versucht, auf seine Bedürfnisse aufmerksam zu machen. Eine weitere Strategie, auf Gruppenkonflikte zu reagieren, ist der Rückzug, etwa, indem man nicht auf Elternabende geht oder schwänzt. Bei mir teilnehmende Eltern sind eher durch das Rückzugsverhalten geprägt. Die Gedanken kreisen um die eigene Schuldigkeit und um die Angst, sich erneut einer Niederlage hingeben zu müssen. Durch die Arbeit in der Familie ist der Helfer hier eine wichtige Brücke für die Vorbereitung auf die Aufstellungsarbeit innerhalb einer Gruppe, vor allem, wenn dieser durch eine Vertrautheit zu ihm, das für Gruppen nicht vorhandene Vertrauen fördern kann. Anhand eines Zieles, welches im Hilfeplanverfahren bereits aufgegriffen wurde und der Zieldienlichkeit der Aufstellungsarbeit kann der Helfer diese als weitere Möglichkeit zur Zielerreichung dem Klienten anbieten. Die Fortsetzung und Umsetzung des Themas erfolgt dann wieder in der Familienhilfe. Es geht darum, mit Aufstellungen neuen Schwung für die Sache aufzubringen und eine festgefahrene Vorgehensweise sein lassen zu können. Zudem besteht im Nachgang die Möglichkeit, ein Einzelgespräch zwischen dem Klienten und dem Aufstellungsbegleiter zu führen. Das Aufstellungsangebot bei uns richtet sich derzeit hauptsächlich an die Eltern. In der Gruppenarbeit ist es für mich schnell erkennbar, dass gerade die Klienten einen schnellen Zugang zur Aufstellungsarbeit haben und gleich »drin« sind. Um in schwierigen Gruppensituationen »überleben« zu können, ist die intuitive Wahrnehmung als Seismograph ein hilfreicher innerer Kompass. Gerade auch dann, wenn sich »kognitiv-emotionale Kompetenzen« aus welchen Gründen auch immer bisher noch nicht gut entwickeln konnten (vgl. Kron-Klees, 2008). Allerdings dauert es eine Zeit, bis die Bereitschaft an der Gruppe teilzunehmen, gegeben ist – trotz der vermittelnden Arbeit der Helfer. Da mittlerweile die Familienhilfe für alle gesellschaftlichen Schichten eine etablierte Hilfeform ist, zeigt sich dies auch in der heterogenen Zusammensetzung der Aufstellungsgruppen. Besonders für Stigmatisierungen innerhalb und zwischen Gruppen ist dies sehr hilfreich: Hier können Verständnisbrücken für die jeweils anderen und deren Schicksale gebaut werden. Ein weiterer besonderer Punkt in der gemeinsamen Aufstellung von Helfer und Klient ist, dass die Helfer sich als Stellvertreter zur Verfügung stellen und dadurch den Kontakt auf einer weiteren Ebene vertiefen. Die Rahmung vorab enthält zwar die Regel, dass der unmittelbare Helfer nicht als Stellvertreter des Systems des Klienten, den er im Alltag begleitet, fungiert, es kommt allerdings öfters zu Wünschen, dass er als Partner oder eigener Elternteil aufgestellt werden solle. Das machen wir auch, wir prüfen allerdings besonders intensiv das

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Verhältnis Nähe und Distanz und sorgen im Nachhinein dafür, dass wir die Arbeit gut mit dem Helfer reflektieren. Wenn der Helfer sich nicht zur Verfügung stellen möchte, achten wir darauf, dass er sich respektvoll abgrenzen und den guten Grund dieses Wunsches würdigen kann. Ebenso ist geboten, diesen Lösungsversuch des Klienten nicht zu unterbrechen, sondern zu differenzieren und umzuleiten (Ressourcen stellen, die Mütterlichkeit, die »guten« Eltern usw.). Im Nachgang ist diese Erfahrung für viele Klienten eine wertvolle und weitreichende zugleich, ist doch im Vorfeld der Aufstellung die Anspannung groß, ein Anliegen vor den vielen Fachkräften zu teilen. So ist es eine doppelte Bereicherung: Das Anliegen konnte gelöst werden oder ein Zwischenschritt wurde initiiert und die negativen Gruppenerfahrungen konnten durch eine positive erweitert werden. Das Verständnis der Gruppe gegenüber der Situation und der wohlwollende Rahmen sind Verstärker der Erfahrung, dass es in Ordnung ist, wie es jetzt ist und es seinen guten Grund hat. In der Einzelarbeit mit Jugendlichen nutzen wir ebenfalls Aufstellungselemente, beispielsweise wenn Jugendliche Schicksalsschläge aktiv oder passiv wieder gutmachen wollen, da sie erfahren haben, wie die für sie wichtigen Bezugspersonen gelitten haben. Ich denke hier an die durch Allmachtsphantasien gespeisten oder von Zurückhaltung bestimmten Kinder und Jugendlichen. Phasenweise wechseln sich diese Pole durchaus auch ab. Einem Jugendlichen mit Allmachtsphantasien, der die Welt retten muss, ist einfach nicht zuzumuten, dass er Hausaufgaben macht. Aber auch die Unspektakulären retten die Welt. Gerade wenn sie ihre familiären Verstrickungen nicht mit lautem oder auffallendem Verhalten preisgeben, ist dies an einem zurückhaltenden und zwischenmenschlichen feinfühligen Vorgehen erkennbar. »Häufig sind sie zu dem Ernst und der Belastung, die sie tragen, auch in einer nicht altersgemäßen Weise differenziert, was oft dazu führt, dass sie keine oder nur einzelne Freunde haben. Selbst nicht wissend, was sie in der Tiefe bewegt, erfahren sie sich, indem, was sie tun, als unverstanden und nicht gesehen, als wenn sie mit jedem Schritt in ein neues Fettnäpfchen treten. Trotz allem tragen und halten sie aber ›die Welt‹, und mit ihrer unglaublichen Zähigkeit und Kraft unterscheiden sie sich nicht von den auffälligeren Jugendlichen« (Weser, 2004, S. 160). Auch für sie geht es um alles. Wenn es gelingt, dieses Verständnis für sie aufzubringen, ist es oftmals ein Leichtes, ihnen neue Perspektiven anzubieten. Hier spüren sie sehr schnell, was ihnen gut tut und begegnen dem offen. Wenn ich dann mit Ressourcen arbeite und diese bei einem Jugendlichen benenne, ist gleich klar, für was etwa diese Kraft steht und sie kann im Erleben verstärkt werden.

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Die Kinder Für Kinder und die Helfer ist das Finden oder Nehmen eines guten Platzes eine viel anspruchsvollere Aufgabe: »Hat das Kind in seiner Familie einen anerkannten und sicheren Platz, so kann es seinen eigenen Wert spüren und entfaltet mit Neugier und Freude seine individuelle Persönlichkeit. Muss es aber um die Zugehörigkeit zu seiner Familie kämpfen oder um sie fürchten, so sind seine Kräfte daran gebunden und seine persönliche Entwicklung verzögert sich oder stagniert« (Innecken, 2015, S. 19). An dieser Stelle tauchen für die Helfer viele weitere Fragen auf. Wer bemisst und bestimmt, was ein guter Platz ist und wie dieser aus der Perspektive der Beteiligten oder der Helfer eingenommen werden kann? Wer müsste sich hier wie bewegen und den ersten Schritt tun? Die Frage nach dem Kinderschutzmandat der in der Jugendhilfe Tätigen und dem damit verbundenen doppelten Mandat zwischen Hilfe und Kontrolle befeuert diese Frage nach dem Platz ungemein. Ob ein Kind in einer Familie bleiben kann oder nicht, bemisst sich aus einem komplexen Zusammenspiel zwischen Elternrecht, ethischen Betrachtungen, der herrschenden Meinungsmehrheit, fachlichen Standards, der eigenen Betrachtungsweise usw. und wäre einer weiteren Ausarbeitung im Zusammenhang mit der Aufstellungsarbeit wert. Aus meiner Perspektive schließen sich alle Punkte nicht aus, jedoch benötigen sie eine fachliche Auseinandersetzung und Auslotung und dürfen in der Aufstellung als eine Möglichkeit von vielen betrachtet werden. Als Helfer müssen wir uns immer der Frage stellen, ob wir das Größtmögliche unternommen haben, um eine Fremdunterbringung zu vermeiden. Wenn Helfer in dem Dilemma stehen, eine Fremdunterbringung als einzigen Ausweg gutzuheißen, bringt eine Aufstellung Erweiterung. Die Einrichtung als mögliche Unterbringungsform auf Zeit, die Pflegeltern und/oder das Jugendamt mit einem Stellvertreter repräsentiert, sind dabei wertvolle Impulsgeber für die Aufstellung. Ebenfalls sind die platzierten eigenen Aufträge, die des Jugendamtes oder der allgemeinen Jugendhilfe weitere wichtige Aspekte. Diese Ideen werden von mir zunächst anonym ausgewählt und vom Helfer in sein Bild gestellt. Aufgrund der zunächst anonymen Integration kommt es zu vorurteilsfreien Reaktionen. Das Benennen oder Hinzunehmen von Bedürfnissen, Ressourcen, eigenen Aufgaben oder der Schöpfungskraft des Kindes erweitern die Perspektiven des Helfers und bringen neue Ansatzpunkte oder Zwischenschritte der Auslotung der wichtigen Frage nach der Unterbringung. Wichtig ist mir dabei zu betonen, dass wir diese Hypothesen immer als Möglichkeiten sehen und nicht als festgesetzte Wahrheiten. Bis dahin gilt, was Stärken stärkt und Entwicklung fördert.

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Zu guter Letzt Ich möchte die Aufstellungsarbeit als gewinnbringende Methode und Ergänzung für die pädagogische Arbeit nicht mehr missen. »Wenn die Anerkennung und Achtung des Gegebenen gelingt, wird die Wahrscheinlichkeit von Veränderung erhöht« (Kleve, 2011, S. 101). Durch das schrittweise Vorgehen wird das Tempo des Klienten für Veränderungsimpulse angenommen. Die optische Erfassung des Geschehens und der emotionale Zugang dazu, eine komplexe Situation zu erfassen und selbst Lösungen zu erarbeiten, fördern ein großes Zutrauen in die eigene Problemlösungskompetenz. Dies setzt kreative Suchprozesse nach Lösungen im bewussten und unbewussten Erleben beim Klienten und beim Helfer in Gang. Alle haben das Problem in seiner Wechselwirkung und in seinen Bezügen erfahrbar gemacht und eine Zielvorstellung entwickelt. Ein zentrales Merkmal eines gelungenen Arbeitsbündnisses ist die Ausrichtung der Beziehungsarbeit auf die Autonomieentwicklungen oder Autonomiebestrebungen der Kinder, Jugendlichen und der Eltern sowie der Familie als Ganzes. Reduziert sich jedoch das Interesse auf ein Teilziel, beispielsweise auf die Optimierung des unzulässigen Verhaltens des Kindes, dann erfahren sich die Klienten als Objekte sozialpädagogischer Intervention. Hilfeverläufe sind hier durch gegenseitige Frustration, lange Laufzeiten oder festgefahrene Strukturen erkennbar, welche durch weitere Jugendhilfemaßnahmen ergänzt oder ersetzt werden müssen. Wir entwickeln uns immer in die Richtung dessen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten – auch Familien und deren Helfer. Wenn der Helfer das berühmte Glas nur halb leer sieht und nicht halb gefüllt, sieht er nicht, was da ist, und ist nicht offen, daran anzuknüpfen und darauf aufzubauen. Wenn ich etwas nicht möchte und ablehne, weiß ich, was ich nicht will, aber noch nicht, was ich will. Solange ich in dieser Vorstellung bin, kostet es mich Energie, die Ablehnung aufrechtzuerhalten. Dabei ist und bleibt das eigentliche Hauptbestreben der Jugendhilfe eine entwicklungsfördernde und selbstwirksamkeitserhöhende Haltung bei Kindern und Jugendlichen und den erziehenden Verantwortlichen ganz im Sinne des § 1 SGB VIII (1990) zu ermöglichen. Hier ließe sich viel mehr mit Zielaufstellungen arbeiten, um die Prozess- und Ergebnisqualität von Hilfeverläufen besser fassen zu können. Was bleibt, ist die Achtung und der Respekt vor den Eltern und sie mit dem zu nehmen, was sie bringen. So sind die Aufstellungsarbeit und die Familienhilfe wie füreinander geschaffen. Jede Familie hat ein ungeahntes großes Potenzial, das manchmal schon aufblitzt, wenn man die ersten Suchbewegungen einleitet. Familienhelfer sind

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meines Erachtens Schatzsucher und wollen die Schätze zum Glänzen bringen. Die Aufstellungsarbeit ist prädestiniert dazu, ihnen gerade dazu zu verhelfen. Ob pädagogisch oder therapeutisch, beide Ausrichtungen haben viele Ansatzpunkte und Möglichkeiten, Jugendhilfe für den Klienten individueller und somit selbstwirksamer zu gestalten. Ich erlebe in der Praxis immer wieder deutlich, dass Hilfeverläufe sich verkürzen. Hierdurch entstehen Einsparmöglichkeiten, was gleichfalls als Argument für die Anwendung von Aufstellungen herangezogen werden kann. Die Helfer und die Teilnehmer sprechen sich immer wieder für eine weitere Durchführung der Aufstellungen aus. All dies motiviert mich, am Ball zu bleiben und dieses Format weiterhin anzubieten. Hier würde ich mir wünschen, dass weitere Jugendhilfeträger die Aufstellungsarbeit ausbauen und sich ein Austausch über ein professionelles Selbstverständnis innerhalb der Jugendhilfe weiter ausdifferenzieren kann.

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Systemaufstellungen in der Ambulanten Suchtrehabilitation: ein evaluiertes Modell

Drogen und Suchtmittel verursachen in Deutschland erhebliche gesundheitliche, soziale und volkswirtschaftliche Probleme: Nach repräsentativen Studien (insbesondere Epidemiologischer Suchtsurvey 2018: vgl. ESA, 2020) rauchen zwölf Millionen Menschen, 1,6 Millionen Menschen sind alkoholabhängig; das sind rund 18 % der Männer und 14 % der Frauen mit einem riskanten Alkoholkonsum. Schätzungen legen nahe, dass 2,3 Millionen Menschen von Medikamenten abhängig sind (darunter sehr viele Menschen aufgrund dauerhaft von Ärzten verordneter Psychopharmaka). Rund 600.000 Menschen weisen einen problematischen Konsum von Cannabis und anderen illegalen Drogen auf und gut 500.000 Menschen zeigen ein problematisches oder sogar pathologisches Glücksspielverhalten. Auch eine exzessive Internetnutzung kann zu abhängigem Verhalten führen: Es ist davon auszugehen, dass in Deutschland etwa 560.000 Menschen onlineabhängig sind. In Deutschland werden jedes Jahr etwa 10.000 Neugeborene mit Alkoholschäden zur Welt gebracht. Fötale Alkoholspektrum-Störungen stellen demzufolge die häufigste aller angeborenen Erkrankungen dar. Von diesen Kindern zeigten etwa 4.000 das Vollbild des Fetalen Alkoholsyndroms. Das wäre ein FAS pro etwa 200 Geburten. Sie sind in der Regel ein Leben lang körperlich und geistig schwerbehindert (Bundesministerium für Gesundheit, 2020; Verband der Ersatzkassen, 2019). Das Thema Co-Abhängigkeit und das Thema Auswirkungen der Sucht von Eltern auf die Kinder wird zunehmend öffentlich zur Kenntnis genommen (Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz, 2012). Die innerfamiliären Suchtdynamiken zu kennen, stellt einen Bereich des notwendigen professionellen Wissens für die Familien- und Systemaufstellungen mit süchtigen Menschen dar. Wir beschreiben hier Erfahrungen aus der Zeit seit 2007, also von inzwischen über zwölf Jahren. Das Caritas-Suchtzentrum Mitte (Berlin) integrierte Aufstellungen in das Konzept und im Laufe der Zeit

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wurde die Nutzung von Systemaufstellungen immer differenzierter. Bald wurden die Vor- und Nachbereitung erweitert und intensiviert; die verschiedenen Schritte wurden umfangreicher dokumentiert. Die Erfahrungen und Wirkungen der Aufstellungsarbeit wurden regelmäßig miteinander reflektiert und die Rückmeldungen der Patienten (Rehabilitanden) waren wichtige Hinweise für die weiteren Seminare. Die Erwartungen der Autorengruppe an die Lesenden bestehen darin, dass unser Beitrag dazu beiträgt, dass Institutionen ihre Behandlungskonzeptionen um die systemischen Perspektiven und systemisch angelegten Handlungsschritte erweitern. Wir erleben, dass alle Aktivitäten, die mit den Aufstellungsseminaren verbunden sind, die Gesamtheit des Hauses (hier: das Suchtzentrum) stärkt. Das Haus an sich bietet, im Sinne der Begleitung von Menschen mit traumatischen Erfahrungen, Sicherheit und eine tragende Umgebung für Menschen, die sich in ihrer Krise hierher gewandt haben und ihre Schritte zur Verbesserung ihrer Lebenslage gehen lernen (Huber, 2011).

Ausgangslage: Systeme im System Es gibt verschiedene Ansätze, Institutionen systemisch aufzubauen (v. Schlippe u. Schweitzer, 2012; Luhmann, 1987), jedoch Systemaufstellungen direkt für die Vertiefung und Erweiterung von institutionellen Beratungs- und Therapieansätzen zu nutzen, blieb immer singulär. Eine Befragung von Konferenzteilnehmern ergab, dass es jedoch eine größere Anzahl an Sucht-Reha-Einrichtungen gibt, in denen auf unterschiedliche Weise Aufstellungen genutzt werden (Brömer, 2013). Im größeren Zusammenhang der ambulanten Suchtrehabilitation können wir folgende Systemebenen hinsichtlich des tatsächlichen Auftraggebers und der Beteiligten unterscheiden: Ȥ Systemebene A Leistungsträger Die Deutsche Rentenversicherung Bund bzw. die Rentenversicherungen in den Bundesländern bestimmen entsprechend der jeweiligen Indikationen und nach Prüfung durch den ärztlichen Dienst gemäß Sozialgesetzbuch (SGB VI, 2020) Zeit, Umfang und Ort der Behandlung. Ähnlich verhalten sich die Krankenkassen. Die die Therapie beantragenden Versicherten haben gemäß SGB IX (2020) nur ein Mitspracherecht. Das »System Leistungsträger (=Rentenversicherung und Krankenkassen)« fungiert als übergeordnete Instanz. Die Ambulante Suchttherapie gilt im Sinne der Rentenversicherung als »medizinische Rehabilitation«; demgemäß sprechen wir bei den Teilnehmern meist von Patienten bzw. Rehabilitanden.

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Ȥ Systemebene B Leistungserbringer Leistungserbringer sind der jeweilige soziale Träger und dessen anerkannte Behandlungseinrichtungen. Ȥ Systemebene C Leistungsempfänger Leistungsempfänger – und damit bestimmend – sind die Rehabilitanden (A > B > C + D). Ihr Therapieerfolg steht im Mittelpunkt aller Bestrebungen. Somit erscheint uns die therapeutische Beziehung die zentrale Begegnung zu sein, in deren Verlauf sich der Mut und die Bereitschaft zum Erfolg bei den Rehabilitanden einstellt; die Abstinenzfähigkeit und Zuversicht werden gestärkt. Ȥ Systemebene D Familien und Umfeld Familien und das persönliche Umfeld der Rehabilitanden gehören untrennbar zum Behandlungssetting. Sie werden als wichtige Bezugsgrößen in der ambulanten Rehabilitation beachtet und einbezogen. Bezüglich der vier Systemebenen der ambulanten Suchtrehabilitation, bei denen wir die Auftraggeber und die Beteiligten in Leistungsträger, Leistungserbringer, Leistungsempfänger sowie Familie und Umfeld unterschieden haben, müsste die Rangfolge der Systemebenen als »C + D > B > A« erscheinen: Somit sollte insbesondere die therapeutische Beziehung zwischen dem Therapeutenteam und den Klienten (Rehabilitanden) als erstrangig im Zentrum des Geschehens stehen, die Familie und das Umfeld in den direkten Bezug zu dieser Ebene gesetzt werden und beide Systemebenen gemeinsam zunächst den Leistungserbringern und dann alles zusammen den Leistungsträgern untergeordnet werden. Systeme und Ziele Für die vier hinsichtlich der Ambulanten Suchtrehabilitation von uns bezüglich Auftraggeber und Beteiligten unterschiedenen Ebenen lassen sich folgende Ziele benennen: Ȥ Systemebene A (Leistungsträger): Das wesentliche Ziel der Rentenversicherungsträger und Krankenkassen ist in Bezug auf die Suchtrehabilitation die »Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit« ihrer Versicherten. Wichtige Voraussetzungen für das Erreichen dieses Zieles stellen die Mitwirkung des Versicherten, die Krankheitseinsicht und die dauerhafte Abstinenz dar. Ȥ Systemebene B (Leistungserbringer): Die Ziele von Behandlungseinrichtungen sind u. a., dass sie weiterhin die Qualitäts- und Personalvorgaben der Leistungsträger erfüllen können, dass die Pflegesatzentwicklungen den Kos-

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tenentwicklungen entsprechen und dass die Nachfrage nach den vorgehaltenen Angeboten ausreichend hoch ist. Ȥ Systemebene C (Leistungsempfänger): Die Formulierung von Zielen der Leistungsempfänger klingt zumeist lebenspraktisch, z. B.: »Ich möchte wieder für meine Familie sorgen können«, »Ich möchte abstinent leben«, »Ich möchte wieder glücklich sein«, »Ich möchte für mich besser sorgen können«. Ȥ Systemebene D (Familie und Umfeld): Die Ziele von Familie und vom Umfeld können sein: Abbau vom suchtbedingten Stress, Verantwortungsübernahme des jetzt nüchternen Angehörigen, Stabilität im Berufsalltag, finanzielle Verbesserung der Familie, Erholung der Kinder, Verlassen der Rolle des coabhängigen Familienmitglieds und gesundheitliche Erholung des Partners/ der Partnerin. Grundlage für eine solch differenzierte Systembetrachtung bildet als Modell die ICF Version 2005 (International Classification of Functioning, Disability and Health, vgl. DIMDI, 2012). Das Modell der WHO erweiterte den Rahmen des ICD (International Classification of Diseases, vgl. DIMDI, 2019) um wesentliche Faktoren des bio-psycho-sozialen Verständnisses von Menschen und Umwelt. Es bildet die Basis der Konzepte z. B. in Reha-Einrichtungen. Für das psychosomatische Verstehen von Belastungen ist es interessant, weil das Modell die innerpsychischen und somatischen Phänomene und Zustände um die externen Lebensbedingungen ergänzt. Mit der ICF und der älteren, auch international erarbeiteten ICD liegen zwei umfassende Modelle für ein modernes Krankheitsverständnis vor. Die Neuausrichtung einer komplexen Institution im systemischen Verständnis ist dann noch eine andere Ebene, wie wir hier zeigen wollen (s. auch Ochs u. Schweitzer, 2012; v. Schlippe u. Schweitzer, 2012). Wir sprechen allgemein von Systemaufstellungen, im konkreten Einzelfall dann von Familienaufstellungen.

Suchtprobleme und Behandlungssysteme in Deutschland Das Behandlungssystem für Abhängigkeitserkrankungen ist inzwischen sehr differenziert. Es umfasst Präventionsangebote, ambulante und stationäre Therapieformen, Therapieangebote für bestimmte Zielgruppen (z. B. Spieler, computersüchtige Jugendliche, suchtkranke Eltern mit Kindern, suchtkranke Menschen im Rentenalter usw.). Grundlage dafür bildet der sogenannte bio-psycho-soziale Erklärungsansatz von Sucht. Sucht ist seit 1968 als Krankheit anerkannt. Die Finanzierung und Anerkennung erfolgt gemäß der Sozialgesetzbücher (s. SGB,

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2020): SGB V (Krankenkassen) und SGB VI (Rentenversicherung), aber auch SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) und SGB IX (Beteiligung, Inklusion) sowie SGB XII (Soziales). In einer Gesamtbewertung kann man im internationalen Vergleich von dem deutschen Behandlungssystem »Sucht« als einem der differenziertesten und erfolgreichsten Gesundheitssysteme sprechen. Die Deutsche Rentenversicherung dokumentiert regelmäßig, dass sich ihre Investitionen in das Reha-System auch wirtschaftlich bemerkbar machen: die Wiedereinzahlungen von Rentenbeiträgen von rehabilitierten, vormals suchtkranken Arbeitnehmern übersteigt deutlich den für die Rehabilitation aufgewendeten Betrag.

Ambulante Suchtrehabilitation im Caritas-Suchtzentrum Mitte (Berlin) Der psycho-sozial-therapeutische Ansatz der Suchtberatung Berlin-Mitte stellt einen besonderen, tiefenpsychologisch orientierten Ansatz dar. Der Ansatz basiert auf den Vorgaben der Leistungsträger und schließt die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der Therapieforschung und über Ursachen und Dynamiken von substanzgebundenen Suchterkrankungen wie auch sub­ stanzungebundenen Süchten (z. B. Medienabhängigkeit, Glücksspiel) ein. Die Realisierung des ambulanten Reha-Konzepts erlaubt, dass der Faktor »Zeit« als wirksamer Systemfaktor zur Geltung kommt: Die Teilnahme am Programm kann, wenn man auch die Nachsorge berücksichtigt, eineinhalb bis zwei Jahre »Dabeisein« ermöglichen. »Sucht« wird als sekundäre Erkrankung betrachtet; es liegen der Entstehung von Abhängigkeit (ICD-10, F 10–19, s. DIMDI, 2019) zumeist vorangehende Belastungen (z. B. affektive Störungen, ICD-10, F30–39 oder neurotische Störungen, ICD-10, F40 ff., s. DIMDI, 2019) zugrunde: Ȥ die körperliche Toleranzentwicklung, Ȥ der Zwang zur Fortsetzung des Suchtmittelkonsums, Ȥ die Unfähigkeit, den Konsum zu begrenzen, Ȥ die Steigerung der Konsummengen bzw. z. B. bei Glücksspiel die eingesetzte Geldmenge oder beim Online-Spiel die Menge an Spielstunden in sozialer Einsamkeit, Ȥ die zunehmende soziale Isolation, Ȥ körperliche und seelische Folgeschäden, Ȥ hohe Belastungen der Familie und Partnerschaft, insbesondere auch der Kinder in Suchtfamilien,

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Ȥ berufliche Beeinträchtigungen und finanzielle Schäden, Ȥ oft Arbeitslosigkeit. In der Konsequenz steht die Notwendigkeit der Abstinenz von Suchtmitteln als Lernprozess im Mittelpunkt (s. Brömer, 2007; Mentzos, 1989, S. 238; Schneider, 2012, S. 2 ff.). Die neueren Ergebnisse aus der psycho-neuro-physiologischen Forschung bestätigen den differenzierten Therapieansatz: Veränderungen im Verhalten und im Erleben sind dann nachhaltig, wenn Einsichten mit positiven emotionalen Eindrücken und Erlebnissen verbunden sind (Schmidt, 2019). Neue Überzeugungen und gute Lösungen entstehen in Verbindung mit der abstinenten Lebensführung im Verlauf der ambulanten Therapie. Die Behandlungseinrichtung bildet dann für alle Teilnehmenden das »gute Haus«, den »sicheren Ort«. In den Systemaufstellungen wird all dies in konzentrierter Weise neu erlebt.

Das Behandlungskonzept »Sucht« Das Behandlungsprogramm im Caritas-Suchtzentrum Mitte (Berlin) umfasst die hier benannten Ansätze und Erkenntnisse. Dabei haben sich in der Ambulanten Suchtrehabilitation gemäß dem Konzept von 2019 eine Reihe inhaltlicher Schwerpunkte herausgebildet: die Beschreibungen zu Zielgruppen und Suchtformen, Indikationsstellungen, Anamnesen und Diagnosen. Zum Therapiekonzept zählen zudem in Bezug auf die Kooperation der Suchtberatung mit anderen Einrichtungen: die psychotherapeutischen Gruppen, die Einzeltherapie, die Entspannung, das Gesundheitstraining, eine Ernährungsberatung, die Angehörigenarbeit, das Rückfallmanagement. Schwerpunkte der Suchttherapie Die »Bausteine« der Suchttherapie umfassen: die Motivationsphase, die Aufnahme, die ambulante Rehabilitation und die Nachsorge. Das Fachteam besteht aus anerkannten Suchttherapeutinnen, dem Facharzt sowie Honorarkräften (z. B. für Supervision, für Familienaufstellung). Die Bearbeitung erfolgt prozessorientiert im Rahmen der Einzel- und Gruppentherapie. In der Suchttherapie geht es schwerpunktmäßig um folgende Themen: Ȥ Einschränkungen der Aktivität und Teilhabe, Ȥ aktuelle Belastungsfaktoren und aktuelle Risikofaktoren aufgrund von Sucht, Ȥ Rückfallgefährdung und Rückfallbearbeitung, Ȥ familiärer und sozialer Entwicklungshintergrund,

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Ȥ Ȥ Ȥ Ȥ Ȥ Ȥ

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Beziehungserfahrungen und -gestaltung, Gewalterfahrungen und Grenzverletzungen, eigene Straftaten, Körpererleben, Identität und Selbstbild, Selbstkonzept.

Die therapeutische Haltung ist im Zusammenhang mit der Suchttherapie und ihrer Schwerpunktsetzungen entscheidend: Wir unterstützen und begleiten den individuellen Prozess der Selbstaufrichtung und des Erlernens des Lebens in Nüchternheit und Abstinenz.

Systemaufstellungen im Rahmen der ambulanten Rehabilitation Im von der Rentenversicherung anerkannten Konzept wird die Einbeziehung von Familienaufstellungen (wir übernehmen hier die Formulierung des Konzeptes) wie folgt im Therapiekonzept der Einrichtung beschrieben: »Intensivtherapeutische Wochenenden/Arbeit mit der Familienaufstellung: Die Arbeit mit Familienaufstellungen beruht auf dem Wissen, dass Gefühle, Bewertungssysteme und letztendlich auch das darauf aufbauende Verhalten wesentlich beeinflusst sind durch die Erfahrungen im frühen Familiensystem. Unsere Arbeit mit Familienaufstellungen ermöglicht auf bildhafte und selbst erprobende Art und Weise die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern zu sehen, das Familiensystem wird im Ganzen sichtbar. Dazu wählt die Patientin/der Patient aus der Gruppe sogenannte Stellvertretende für die Familie, für sich und das Suchtmittel aus, stellt sie intuitiv im Raum auf. Dieses System entwickelt sich in einer Eigendynamik während der Aufstellung weiter und wird therapeutisch durch diesen Prozess begleitet. Dabei werden häufig unbewusste Beziehungsmuster und Konflikte und/oder ungewollte Bindungen, Festlegungen sichtbar. Aus dieser Außenperspektive auf das eigene Erleben können neue Handlungsmöglichkeiten überprüft und ausprobiert werden. Bei Patientinnen und Patienten werden häufig intensive Gefühle ausgelöst und durch Stellvertretende aus der Gruppe auch alternative Gefühle und Reaktionen verdeutlicht. In einer unterstützenden Gruppenumgebung erhalten Patientinnen und Patienten damit die Möglichkeit, andere Gefühlswahrnehmungen, Überzeugungen, Bewertungen und Verhaltensweisen zu sehen und für

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sich auszuprobieren. Durch die Einbettung dieser Methode in unser Gesamtkonzept der Behandlung machen wir wiederholt die Erfahrung, dass Patientinnen und Patienten, die schon längere Zeit bei uns in Therapie sind und mit denen wir aufgrund von Beziehungserfahrungen in der Dyade oder Gruppe immer wieder ihr Verhalten und ihre Gefühle reflektieren, über eigene Aufstellungen eine sehr gute Möglichkeit haben, bereits Besprochenes nochmal bildhaft zu sehen und in einer Art ›Übungssituation‹ für sich verstärkt zu spüren. In der Mehrheit der Erfahrungen deckten sich die Bilder aus der Familienaufstellung mit den Themen, die bereits in der therapeutischen Arbeit aufgetaucht waren, über diese Methode traten aber viele dieser Zusammenhänge noch deutlicher und nachhaltiger in den Mittelpunkt. Die bei uns durchgeführte Familienaufstellung ist ausgerichtet an den Qualitätsstandards und ethischen Richtlinien, die von der Deutschen Gesellschaft für Systemaufstellungen (DGfS) entwickelt wurden. [Und zur Vorbereitung auf die Teilnahme am Aufstellungsseminar[:] Diese Standards berücksichtigend wird die Patientin/der Patient im Vorfeld der Aufstellung sorgfältig im Einzelgespräch vorbereitet und auch danach therapeutisch begleitet. Dazu werden Aufstellungen dokumentiert und diese im Einzelgespräch als auch in der Gruppe nachbearbeitet. Die Vorbereitung erfolgt nach einem von uns entwickelten halbstandardisierten Leitfaden. In der Nachbereitung wird auf das Verstandene aus der Familienaufstellung und dessen Umsetzung als auch auf Ängste und Ambivalenzen eingegangen. Auch hier arbeiten wir nach einem halbstandardisierten Leitfaden. Die Familienaufstellung ist keine öffentliche Gruppe. Die Familienaufstellung ist bei uns keine öffentliche Gruppe, sondern Teil der Gruppenpsychotherapie. Sie ist eine Art Ergänzung und findet ausschließlich im geschützten internen Rahmen statt. Die Aussagen von Stellvertretenden werden als Hypothesen gewertet, die die Patientin/der Patient für sich überprüfen, annehmen oder verwerfen kann. Lösungsansätze werden grundsätzlich immer gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten entwickelt. Die intensivtherapeutischen Wochenenden/Familienaufstellungen finden zwei-drei Mal während der gesamten Behandlungszeit statt. Die Familienaufstellung wird von einem approbierten psychologischen Psychotherapeuten durchgeführt, der Suchttherapeut und anerkannter Lehrtherapeut für Systemaufstellungen (DGfS) ist« (Gräbs, 2019). Die aufgrund der langjährigen Therapieerfahrungen entwickelten Vorlagen zur Vorbereitung von Systemaufstellungen sind: Vorlage zur Vorbereitung im Einzelgespräch, Erläuterungen zur Vorbereitung der Aufstellungsseminare, Vorlage Nachbereitungen, Vorlage Dokumentation der Ergebnisse. Mit diesen Unter­

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lagen werden – zusammen mit der Erarbeitung des Genogramms – die inhaltlichen Themen der Patienten besprochen und auch verschriftlich. Die Dokumente stehen in der konkreten Aufstellung zur Verfügung. Die Suchttherapeutin des Aufstellenden ist in der Familienaufstellung anwesend. Die einzelnen Familienaufstellungen werden protokolliert. Wie es im Konzept beschrieben ist, wird in kurzer Zeit nach einem Familienaufstellungsseminar die Auswertung im Gruppenkontext vorgenommen.

Erfahrungen mit den Aufstellungsseminaren Vor dem Seminar ist die individuelle Vorbereitung durch das Reha-Team auf das Seminar erfolgt. Ein Genogramm wurde erstellt und wird in die Aufstellung einbezogen. Das persönliche Thema wurde schriftlich festgehalten, wichtige Ereignisse in der Herkunftsfamilie benannt. Der Ablauf der Aufstellung wurde vermittelt. Am Wochenendseminar nehmen Rehabilitanden aus verschiedenen Bezugsgruppen teil bzw. solche, die bereits in der Nachsorgephase sind. Die Bezugstherapeutinnen sind immer dabei. Die Mitarbeiterinnen stehen wie die Gruppenteilnehmer/ -innen als Stellvertreter/-innen zur Verfügung. Die folgenden Informationen und bisherigen Therapieergebnisse fließen in die jeweilige Aufstellung ein: Ȥ Kontakt zur Einrichtung, Ȥ Leidensdruck bei Aufnahme, Ȥ körperliche Verfassung und Stabilisierung, Ȥ Klärung des Umfelds (Wohnen, Arbeit, Beziehungen, Kinder, Verpflichtungen), Ȥ Information über die Abhängigkeit für alle wichtigen Beteiligten (inklusive Partner, Kinder, Kollegen), Ȥ Festlegung des individuellen Systems der Selbstkontrolle (insbesondere bei Spielern wichtig: Abgabe der Verfügbarkeit über das eigene Geld, doppelte Aufsicht im Beruf bei Geldangelegenheiten; bei Suchtmittelabhängigkeit: der suchtmittelfreie Haushalt, körperliche Abstinenz), Ȥ Umgang mit dem Suchtdruck erarbeiten, Ȥ weitere Therapieziele benennen, Ȥ unterstützende Personen benennen, Ȥ gute und sichere Orte für Freizeit und Sport kennen. Die oben genannten Themen und Aufgaben hat das Therapeutinnenteam bereits in intensiven Schritten vor der Familienaufstellung erarbeitet. Im Interview werden dann mit zirkulären Fragen alle diese Elemente gestreift, so dass sie »auf-

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klingen« und das bisher Geleistete und Erreichte hörbar werden. Es geht also nicht um die Wiederholung einer Suchtanamnese, sondern um die Öffnung des ganz individuellen Feldes. Der Aufstellende bereitet sich und die Gruppenteilnehmer vor, und zwar emotional-energetisch, nicht biografisch-sachlich-exakt (s. dazu auch Lier u. Lier, 2019). Es wird so bereits nachfühlbar, wie sich die unterschiedlichen Mangelzustände in der Kindheit entwickelten und zum heutigen »Muster« führten. Das »oberflächliche« Muster heißt dann »Sucht«. Dieses Muster beeinträchtigt an sich bereits wirkmächtig das Schicksal eines Menschen. Das darunterliegende Muster bzw. der Mangel ergibt sich aus dem frühen Schicksal, der frühen Kindheit: in der Kindheit erlebtes Misstrauen, Verzweiflung, Gewalt, Einsamkeit, Lieblosigkeit, Aggressivität, sexueller Missbrauch. Die Grundbedürfnisse des Säuglings und Kindes nach Sicherheit und Schutz sowie »guter Ernährung« sind somit zum großen Teil nicht erfüllt worden (Keilson, 2005; Maslow, 1973; Schützenberger, 2012). Wir erreichen im Prozess der Aufstellung – auch auf intuitive, einfühlende Weise – ein gemeinsames Verstehen und Anerkennen, also von der »Sucht« und von den »Mustern«, die das bisherige Leben dominierten. So entsteht schließlich im Raum ein Erkennen und Bewusstsein, in welchem Rahmen und in welcher Lebensbezogenheit das Leid entstand und wie es überwunden werden kann. Die Hauptthemen der Rehabilitanden beziehen sich in der Rangfolge zumeist auf die Herkunftsfamilie, dann auf die eigene Familie, dann auf die eigene Person, dann auf das Thema körperliche Belastungen, immer verbunden mit dem zentralen Aspekt »meine Sucht«. Mit dem Auftrag sind die Fragen verbunden: »Wer gehört dazu?« und »Welche Qualitäten sollten wir einbeziehen?« Der Aufstellende benennt die Familienmitglieder, die für den konkreten Prozess wichtig sind; manchmal zeigt es sich, dass wir uns eher auf einen kleineren Kreis/bestimmte Personen der Herkunftsfamilie beschränken sollten. Hier erweisen sich Informationen aus der Eltern- und Großelternlinie als bedeutsam (Radebold, Bohleber u. Zinnecker, 2008; Böszörményi-Nagy u. Spark, 2006). Diese Informationen fokussieren oft das Anliegen (den Auftrag) neu. Denn das zirkuläre Fragen öffnet neue Zugänge zur Lebensgeschichte, indem es den Klienten intuitiv zu neuen Erkundungen einlädt. Die Übersicht der Tabelle 1 stellt oft gehörte Anliegen in Verbindung mit der Mangelsituation in den Herkunftsfamilien zusammen und benennt die Qualitäten, die dann zusätzlich zur Qualität der »Sucht« von einem Gruppenmitglied stellvertreten wurden.

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Tabelle 1: Anliegen in Verbindung mit Mangelsituation und der Benennung der zusätzlichen Qualitäten zur Sucht Das Anliegen

Der Mangel

Qualitäten

als positiv formulierte Aussage

als Hinweis auf die f­ amiliären Belastungen und frustrierten Grund­ bedürfnisse des Kindes

zusätzlich zur »Sucht«

Wie kann ich nüchtern weiterleben?

Meine Sucht sitzt mir sehr im Nacken.

Angst

Wie kann ich mit der tiefen Enttäuschung und Wut umgehen und zu mir kommen?

Der Vater verstarb so früh und die Mutter »war nicht für mich da«.

Aggressivität

Es soll meinem Kind besser gehen.

Ich war im Heim und so einsam.

Verzweiflung

Wie kann ich eine gute ­Partnerschaft leben?

Ich wurde immer wieder verlassen.

Liebe

Ich möchte mich stark fühlen.

Dem Vater war ich nie genug.

Kraft

Ich möchte mich aufrichten lernen, selbstbewusst sein.

Die Mutter erlebte ich als so kalt.

Kälte

Ich lebe jetzt, in der Gegenwart.

Meine Mutter trauerte immer um ihren im Krieg gefallenen Vater.

Heimat

Wie kann ich das Verhältnis zur Mutter klären?

Die Mutter schützte mich damals nicht vor dem Stiefvater.

Hass

Wieso habe ich mich so verloren?

Es war niemand da, ich war ganz allein, oft im Heim.

Einsamkeit

Ich möchte gesehen werden.

Die Eltern waren nur mit ihren Streitigkeiten beschäftigt.

Familie

Ich möchte den Großeltern danken.

Ich wurde als Kind abgeschoben.

Zugehörigkeit

Ich beginne zu reden.

Wir Kinder durften nie ­etwas sagen, es war unerträglich zuhause.

Mut

Ich möchte wieder so kräftig sein, wie ich schon einmal war.

In der Kindheit hieß es: Das schaffst du nie.

Schwäche

Ich möchte meine Zerstörung beenden.

Ich weiß gar nicht, wann ich als Kind nicht geschlagen wurde.

Gewalt

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Das Anliegen

Der Mangel

Qualitäten

Wer bin ich eigentlich?

Es war doch alles immer gut, hieß es.

Unsicherheit

Ich war nur das Kind.

Die Scheidung der ­Eltern hat mich nie mehr losgelassen.

ADHS

Ich möchte meine leiblichen Eltern finden.

Die Adoptiveltern waren nicht meine Eltern, sie haben mir nie etwas gesagt.

das Kind

Ich möchte mit der Krebserkrankung besser umgehen lernen und nüchtern bleiben.

Meine Familie ist nur verzweifelt und weiß nicht, wie sie mir helfen kann.

Krebserkrankung

Ich möchte klar werden, Klarheit in mir und in meinem Alltagsleben finden.

Schon die Großmutter galt als sehr depressiv; es gab so viele kriegsbedingte Todesfälle bei uns.

Verwirrung

Wir entscheiden gemeinsam, welche Qualität wir zusätzlich zur »Sucht« dazu nehmen. Sie wird anschließend von einer Person stellvertreten. Aus der Interaktion zwischen den Repräsentanten von Personen und der Qualitäten ergeben sich beeindruckende, klärende Prozesse. Der Aufstellende drückt seine Selbstwahrnehmung mit eigenen Worten aus und wendet sich damit an die stellvertretende Person seiner Wahl. Das Zusammenwirken von Stellvertretern der »Sucht« und einer weiteren Qualität führt zu intensivem Wiedererleben lange überdeckter familiärer Verstrickungen und eröffnet den Weg, einen guten Platz für den Aufstellenden zu finden. Es kommt zu einer neuen Qualität in der Beziehung, wenn der Zyklus einer guten Kommunikation (nach Rosenberg, 2016; Hören – Spüren – Sich-Vergewissern, was gehört wurde – Antworten) geübt wird. Sich gewahr werden, wie eine achtsame Kommunikation die Beziehung (in der Familie) verbessert, wird bei den Aufstellungen gleich konkret mit geübt. Ein bedeutsames »Muster« entsteht oft als Folge eines länger andauernden Mangels; ist die Mangelsituation mit Gewalt, sexuellem Missbrauch oder vergleichbaren Übergriffen verbunden, so entsteht ein Trauma. Ein Trauma nicht zu benennen oder umgehen zu wollen, würde einen Fehler im Aufstellungsprozess darstellen. Die Einbeziehung von traumatischen Erlebnissen des Klienten in den Aufstellungsprozess erfordert u. a. das Fachwissen nach Peter Levine (2010), wenn es in der Therapie um die Unterstützung von »guten Fluchtreaktionen« geht, und von Michaela Huber (2011), wenn es um den »sicheren Ort« geht.

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Immer die »Sucht« repräsentieren In jeder Aufstellung wird die »Sucht« als Qualität durch eine Person vertreten. Nach unseren Beobachtungen hat die Konfrontation mit der »Sucht« für die als »Sucht« Aufgestellten und die Aufstellenden eine eindrucksvolle positive Erlebenskraft: wie die »Sucht« als Phänomen sich im Verlauf einer Aufstellung verändert, wie die Veränderungen der Qualität »Sucht« auf wundersame Weise das System der Herkunftsfamilien verändert, wie die »Sucht« im Prozess der Aufstellung an Kraft gewinnt bzw. an Kraft verliert, wie »die Sucht« ab einem bestimmten Zeitpunkt »keine Aufgaben mehr hat« (wie manche Stellvertreter der »Sucht« im Verlauf einer Aufstellung spüren und sagen). Aufgrund der langjährigen Erfahrungen bitte ich grundsätzlich, die »Sucht« aufzustellen. Die »Sucht« hatte lange die Funktion, das körperliche und seelische Leid nicht spüren zu müssen, bevor sie zu einem eigenständigen Krankheitsbild führte. Die »Sucht« nicht aufzustellen, würde der Aufstellung den bedeutenden Fokus und ihre Energie nehmen. Wir können daran, wie und wo die »Sucht« Position bezieht, erkennen, wie stark das Abhängigkeitssyndrom im Augenblick der Aufstellung noch erlebt wird. Die Repräsentanten werden befragt; sie ändern gegebenenfalls ihre Positionen; sie beziehen sich aufeinander und äußern, wie sie die jeweilige Beziehung erleben. Dadurch werden wichtige Informationen über die Verstrickungen im Familiensystem und emotionalen Prozesse den Aufstellenden sichtbar und dann erfahrbar. Hier sind es oft die Qualitäten der Eltern-Kind-Bindungen, z. B. sicher – unsicher – diffus (Bowlby, 2014). Es entsteht ein weiteres Bild im Raum, mit dem ein neues Verstehen des Ursachengefüges »Sucht« deutlich wird. Bisher unbewusste oder verdrängte Bedürfnisse und Handlungsmotive des Rehabilitanden werden von den Stellvertretern ausgedrückt. Die Stellvertreter zeigen uns die bisherigen Verstrickungen in der Familie, die Auswirkungen von strukturellen Veränderungen (z. B. Scheidung der Eltern) und Tatsachen (z. B. Gewalterfahrungen). Auf eindrückliche Weise erfahren wir von emotionalen Blockaden, von vergessener Trauer und nicht erfolgtem Verzeihen, von nicht mehr erinnerten, verlorenen Kindern. Der Aufstellende begleitet und sieht diese Veränderungen in seiner Aufstellung; und äußert oft: »So war das damals zuhause.« Der Prozess ermöglicht es dem Aufstellenden, Unbewusstes und verdrängte Erlebnisse wieder zu erinnern. In der sich verändernden Haltung mit der achtsameren Atmung werden sich verändernde Gefühle gut wahrnehmbar. Die Haltung verändert sich, z. B. von einer abwehrenden zu einer distanzierten und vielleicht dann zu

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einer annehmenden; dies können wir auch als Entwicklungsprozess der Person beschreiben, z. B. von abhängig-bedrohter zu einer autonomen-sicheren Person (Permantier, 2019). In jeder Aufstellung gibt es einen bedeutenden Wendepunkt, auf den wir in der Begleitung sorgsam unsere Aufmerksamkeit richten. Es ist der Zeitpunkt, ab dem sich die »Sucht« zurückzieht, sie stellt sich zu einer anderen Person aus dem Herkunftssystem (»Hier gehöre ich hin«) oder wendet sich ab (»Ich habe hier nichts mehr zu tun«). Die Aufstellenden antworten auf die Frage, wie sie den Wendepunkt in ihrer Aufstellung erlebten, oft: »Mein Stellvertreter begann an dem Punkt ganz anders zu sprechen; es wurde von Gefühlen gesprochen; es entstand eine körperliche Entspannung und eine andere Körperhaltung; die Eltern sahen auf einmal das Kind und konnten es annehmen; alle Geschwister waren da und standen in den richtigen Positionen.« Als eine bedeutende therapeutische Feststellung ist zu bemerken, ab wann die Aufstellung sich energetisch in Richtung Lösung bewegt. Es ist die Wahrnehmung dieses Moments, aus der sich gute Lösungen ergeben (können): die Wahrnehmung der eigenen Gefühle, das Anerkennen des (intensiven) Erlebens und das Dabeibleiben, das Aussprechen von Gefühlen, das Zuhören, das bewusste Antworten, die im ganzen Raum spürbare Öffnung für neue Lösungen (Rosenberg, 2016). So individuell eine Familienaufstellung ist, so individuell und unterschiedlich tauchen die Lösungen auf. Dies sind – zusätzlich zu dem Wahrnehmen, ab wann und wie sich die »Sucht« verändert hat und nicht mehr zum System des Aufstellenden gehört – Lösungsaspekte wie: Ȥ anerkennen, dass die eigene Wahrnehmung zutreffend ist und dass sie früher durch z. B. elterliche Einflüsse »verbogen« wurde, Ȥ aus der Wahrnehmung, anderen Menschen emotionalen oder materiellen Schaden zugefügt zu haben, entsteht das Bedürfnis nach Ausgleich und Wiedergutmachung, Ȥ Hilfe erkennen und annehmen, Überwindung der Einsamkeit, Ȥ der Verzicht auf die »alten« Urteile und Verurteilung von Familienmitgliedern und der Selbstabwertung als Öffnung zur Freude über das eigene Dasein, Ȥ das Freiwerden durch Anerkennung, dass jeder in der Familie auf die eigene Weise Lasten zu tragen hat, Ȥ den sicheren Ort bestimmen und hilfreiche Menschen benennen, Ȥ einen leichteren Umgang mit körperlichen und seelischen Leiden entdecken, Ȥ aus Angst (um einen Elternteil) wird Vertrauen, Ȥ Glück erkennen und zulassen,

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Ȥ die eigene Liebe und die Liebe zu den anderen (Partner, Familie, Kinder) als die entscheidende Lebenskraft spüren. Zum Abschluss achten wir darauf, die »gute Position« und die »gute Lösung« angemessen in Worten auszudrücken. Das Neue soll gut in das künftige Leben und Erleben integriert werden können; damit verbunden sind die Bitte und Empfehlung, konkrete Ziele im Täglichen immer wieder bewusst zu üben. So ergeben sich nachhaltige und stabile, gute Veränderungen. Die weitere Suchttherapie erfolgt dann in der Gruppen- und Einzeltherapie. Hier werden auch die Erfahrungen der Klienten nachbesprochen, die sie als Stellvertreter gemacht haben. Diese Erfahrungen hervorzuheben, hat sich als sinnvoll und den Therapieprozess stärkend herausgestellt (Homberger, 2019).

Unsere qualitative Evaluation Seit nunmehr zwölf Jahren finden Systemaufstellungen im Rahmen der Ambulanten Suchtrehabilitation vom Caritas-Suchtzentrum Mitte statt. In einem kollegialen Gespräch am 4. Dezember 2019 haben wir gemeinsam eine retrospektive Evaluation vorgenommen und die vielfältigen Erfahrungen und Eindrücke zusammengefasst. Wir haben uns in dem mehrstündigen Gespräch an dem Fragenkatalog von Jost (2007) orientiert. Das Gespräch, an dem die Autorinnen dieses Beitrags teilnahmen, ließ sich anschließend zur Gesamteinschätzung in Verbindung mit Aspekten des Modells der von den Rentenversicherungsträgern anerkannten »Ambulanten Suchtrehabilitation« verdichten. Das Teamgespräch: unsere Evaluation am 4.12.2019 Wir nutzen die zweitägigen Systemaufstellungen seit 2007; sie sind Teil des umfangreichen Konzeptes der Ambulanten Suchtrehabilitation. Das Konzept ist von der Deutschen Rentenversicherung (DRV) anerkannt und erfüllt die vielfältigen Qualitätsanforderungen. In der Rückschau gehen wir von 35 Seminaren mit ca. 900 Teilnehmern und Teilnehmerinnen aus. Von diesen haben ca. 360 Patienten ihr Thema bzw. ihr Anliegen aufgestellt. Davon haben 250 an zwei Aufstellungsseminaren teilgenommen, sehr wenige an drei Seminaren im Verlauf der ambulanten Therapie. Das Zahlenverhältnis Männer zu Frauen betrug und beträgt 4:1, so wie es in der ambulanten Suchtrehabilitation bundesweit zu sehen ist. Das Reha-Team in der Caritas-Suchtberatung besteht aus Therapeutinnen. Es arbeitet eng mit den Einrichtungen des Trägers (dem Café Beispiellos – einer

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Begegnungsstätte für Glücksspieler, den Caritas-Suchtberatungen in Steglitz und in Spandau) und anderen Einrichtungen (z. B. Entgiftungsstationen, Krankenhäuser, Entwöhnungseinrichtungen) zusammen. Wir haben in all den Jahren festgestellt, dass die Hauptthemen der Patienten sich fast immer auf die Herkunftsfamilien beziehen. In den individuellen Aufstellungen zeigen sich die Beziehungsqualitäten in den jeweiligen Familien in konzentrierter Form; oft ergeben sich überraschende neue Hinweise auf die familiären Beziehungen. Wir bereiten die Patienten intensiv auf die Aufstellung vor und werten die Ergebnisse in der Gruppen- und Einzeltherapie aus. Wir erleben, dass die Erfahrungen in den Aufstellungen die ambulante Therapie insgesamt sehr fördern. Die Patienten nehmen das Angebot zur Teilnahme an den Aufstellungsseminaren überwiegend gerne an. Sie sind mit der Organisation der zweitägigen Wochenendseminare sehr zufrieden, was wir aus den Nachbearbeitungen der Gruppen wissen. Die besondere Versorgung und Fürsorge an diesen Tagen tragen sehr zum therapeutischen Fortschritt der Teilnehmer bei. Denn die Einrichtung wird insgesamt als ein annehmendes und freundliches Haus wahrgenommen und beschrieben. Es geht im Erleben der Teilnehmer um »etwas wirklich Bedeutsames«, wenn sie das Überleben der Sucht, die Entmächtigung der Sucht und das nüchterne Weiterleben in der verdichten Zeit der eigenen Aufstellung intensiv erleben (Rückmeldungen aus den vielen Folgegruppen und Auswertungen). Für uns als Behandlungsteam war und ist wichtig: Das Vertrauen zum Seminarleiter war stets zu bemerken; es stellte sich in jedem Seminar bald nach Beginn des Wochenendes ein. Es entstand und entsteht regelmäßig eine gute und angstfreie Atmosphäre in den Seminaren, eine Stimmung gegenseitigen Verständnisses und Interesses. Dies führt zu der wichtigen Erfahrung und Haltung: Die Patienten fühlten und fühlen sich sicher und aufgehoben. Das liegt auch an der hohen Präsenz des Therapeutinnenteams. Viele betonen, dass ihnen die Aufstellungen der anderen auch viel für ihre eigene therapeutische Arbeit gegeben haben. Die Patienten konnten davon sehr profitieren und auf der Gefühlsebene nachvollziehen, wie alte Belastungen nachwirken und wie sich die neuen Lösungen anfühlen. Die Rückmeldungen der Teilnehmer zeigten und zeigen: Die Vorbereitungen und Auswertungen mit den Einzeltherapeutinnen werden sehr geschätzt. Die individuellen Anliegen und Ziele konnten und können aufgrund der guten Vorbereitung sehr klar herausgearbeitet werden. Das erstellte Genogramm zeigt oft neue Aspekte im familiären Kontext. Es wird in die jeweilige Aufstellung zusammen mit den anderen Dokumenten einbezogen. Dabei scheint es wichtig zu sein, dass mit diesem Vorgehen und Einbeziehen eine Gemeinsamkeit

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zwischen dem Therapeutinnenteam und dem Aufstellungsleiter hergestellt und von den Rehabilitanden als solche – auch modellhaft in »familiärer Hinsicht« – erlebt wird. »Es wird hier etwas Wichtiges gemeinsam für mich getan«, »Sie sind für mich da«: So würden wir die innere Haltung der Patienten in Worte fassen. Diese angestrebte und realisierte Transparenz in der Zusammenarbeit wirkt sich positiv auf die Therapie- und Aufstellungsprozesse aus. Zusammenwirken Das Mütterliche und das Väterliche entfalten eine Wirkung in freundlicher und fürsorglicher Zusammenarbeit. Die Zusammenarbeit und die Schritte in der Aufstellung sind für die Beteiligten auf jeden Fall als transparent und nachvollziehbar zu gestalten. Die Lösungen und die angebotenen »Sätze« sollten und müssen, so die langjährige Erfahrung, aufgegriffen und »übersetzt« werden; wir fassen die Ergebnisse jeder Aufstellung zusammen und gehen sie mit allen Teilnehmern noch einmal durch. Unser Verständnis zu den formulierten neuen Einsichten (Überzeugungen in Form konzentrierter Sätze und Aussagen) dienen dem Perspektivwechsel – ein Beispiel: »Ich sehe heute, dass meine Mutter selbst so belastet war, dass sie für uns Kinder kaum sorgen konnte; das entlastet mich von meinen Schuldzuweisungen an sie und macht mich freier.« Von großer Bedeutung ist, dass alle erleben, wie das Anerkennen von Tatsachen neue Perspektiven und emotionale Entlastungen eröffnet. Tatsachen in der Herkunftsfamilie, die ein Leben lang mit enormen emotionalen Belastungen verkettet blieben, auszusprechen und zu erleben, wie sich das Aussprechen anfühlt und wie Tatsachen im neuen Kontext der Gegenwart (»Ich lebe nüchtern, ohne Suchtmittel«, »Meine Familie weiß von meiner Sucht und meiner Therapie«) anders eingeordnet werden können: Das schätzen wir als besondere Stärke in diesen Aufstellungen. So gesehen begleiten wir wirksame Veränderungen, weil Tatsachen sich im Erleben und Benennen im Heute mit den aktivierten Erinnerungen und Gefühlen in der Anerkennung dessen, was ist, so zu einer hoffnungsgebenden, neuen Ausrichtung für die einzelnen Aufstellenden im Hier und Jetzt formieren. Unser Krankheitsverständnis Für uns ist die Vermittlung unseres Krankheitsverständnisses von »Sucht« wichtig hervorzuheben; Sucht als stoffgebundenes und nicht-stoffgebundenes (z. B. Glücksspiel) Phänomen wird als Krankheit eingestuft. Das Hauptziel besteht in

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der zufriedenstellenden Abstinenz, das Erreichen dieses Zieles steht in Verbindung mit positiven Veränderungen im Selbstbild, in der familiären und beruflichen Interaktion, in der Selbstannahme und dem Einrichten eines nüchternen Umfeldes. Die Gruppe übernimmt das Verständnis von Sucht und Abstinenz und bewegt es zumeist in konstruktiver Weise; so wird die gegenseitige Unterstützung wirksam. Die Aufstellungswochenenden werden von den Teilnehmern als hilfreich eingeschätzt. Sie heben hervor, dass ihre Lebensfreude und Zuversicht gestärkt werden. Wenn jemand erfährt, dass das bisherige Lebensmuster als solches anerkannt wird, so dass die Selbstabwertung abnimmt, entsteht zusammen mit der zunehmenden Selbstwürdigung (»Ich mache die Schritte hier für mich«) die emotionale Basis für das Neue. Die Qualität der »Sucht« wird in jeder Aufstellung von einer Person repräsentiert. Wir beobachten in den Aufstellungen immer das Phänomen, dass und wie »die Repräsentanz der Sucht« sich im Verlauf der Aufstellungen ändert. Sie ordnet sich anderen Repräsentanten von Familienmitgliedern zu; sie wirkt manchmal stärker (dies als Hinweise auf »gefährdende Momente im Leben des Klienten«); sie formuliert oft, es gebe hier nichts mehr für sie zu tun; die Qualität wandelt sich manchmal in die emotionale Qualität der Trauer, eines Abschieds oder in Erinnerung an etwas Verlorenes; sie wird schwächer. Dies sind für uns entscheidende Hinweise dafür, dass der Prozess der Aufstellung auf neue Weise zur Stärkung der Abstinenz beiträgt. Rückmeldungen Die überwiegende Rückmeldung der Patienten ist, dass sich nach den Aufstellungswochenenden familiäre Beziehungen verbessert haben und dass Belastungen durch körperliche Symptome abgenommen haben. Neben dem innerlichen Aussöhnen mit schwierigen Tatsachen und Familienmitgliedern gelingt oft auch die äußerliche Versöhnung. Dass diese Prozesse Zeit brauchen, wird durch uns als therapeutisches Team immer wieder verdeutlicht. Die Rückmeldung sehr vieler Patienten ist, dass sie gute Lösungen für das weitere Leben in den Aufstellungen erlebt, gesehen und für sich mitgenommen haben. Als Team ermuntern wir das »Üben der guten Lösungen«; die in Aufstellungen intensiv erlebten, neuen Perspektiven und Beziehungen sollen im Alltag nachvollziehbar sein und die Grundlage für die weiteren Wege bleiben. Die individuellen Erkenntnisse aus den vielen Angeboten der ambulanten Rehabilitation bilden zusammen mit den starken Gefühlserlebnissen und -einsichten eine sehr gute Basis zum Erreichen der Therapieziele.

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Fazit Die Familienaufstellungen, so, wie wir sie realisieren, passen gut zum Behandlungsansatz der ambulanten (wie auch der stationären) Suchtrehabilitation. Das seit zwölf Jahren verwirklichte Modell im Caritas Suchtzentrum Mitte (Berlin) ist übertragbar auf andere Indikationen der Rehabilitation, wie z. B. die psychosomatische Rehabilitation. Es ist ausgewiesen tiefenpsychologisch orientiert und umfasst ganzheitliche Aspekte der Suchtmittelabhängigkeit und der nichtstoffgebundenen Süchte in einer Weise, die den Menschen in seiner Individualität und Eingebundenheit in das soziale Umfeld zulassen und für die Neuausrichtung in Verbindung mit einer nachhaltigen Abstinenz wirksam werden. Die positive, auf den Menschen bezogene und jederzeit erlebbare Qualität im Hause des Suchtzentrums lädt die Betroffenen und ihre Angehörigen ein, sich den herausfordernden Themen und Aufgaben (»Wie kann ich die Sucht überwinden und besser weiterleben?«, »Was kann ich als Angehöriger dazu beitragen?«) zu stellen, Mut zu schöpfen und weiterzumachen. Wie das Gesamtprogramm und das Teilangebot »Systemaufstellungen« miteinander verbunden sind und wie alle Beteiligten davon profitieren, zeigen unsere gemeinsamen Erfahrungen.

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III  Fokus Business

Stefanie Rödel

Systemische Aufstellungen im Einzelcoaching von Führungskräften

Bin ich als Führungskraft gut »aufgestellt«? Diese Frage bewegt Manager aller Ebenen und motiviert sie, Entwicklungsmaßnahmen wie das Einzelcoaching in Anspruch zu nehmen. Als Coach bearbeite ich führungsspezifische Anliegen (z. B. Reflexion des eigenen Führungsstils, Erwartungen und Rollenkonflikte, Umgang mit Mitarbeitern, Vorgesetzten, Stakeholdern; Konflikte im Team, neue Aufgaben), personenspezifische Fragestellungen (z. B. Work-LifeBalance, Entwicklungsmöglichkeiten, Werte, Konkurrenzsituationen) sowie organisationsbedingte Anliegen (z. B. Umgang mit Veränderungen, problematische Organisationsstrukturen). Das 1:1-Business-Coaching zieht seine besondere Wirkung aus der Intensität und der individuellen Gestaltung. Im vertraulichen Rahmen können Situationen ergebnisorientiert reflektiert, Kompetenzen erweitert, destruktive Muster erkannt und spezifische Lösungsstrategien erarbeitet werden. Der personenzentrierte Ansatz von Carl Rogers, nach dem jeder Mensch die Fähigkeit besitzt, seine Probleme eigenverantwortlich zu lösen und sich konstruktiv zu entwickeln, wird dabei durch die systemische-soziale Perspektive erweitert (Greif, Möller u. Scholl, 2018, S. 3). Systeme verstehe ich mit Drexler (2015, S. 22) als eine Gruppe von Elementen, zwischen denen Beziehungen und Wechselwirkungen bestehen, die nach außen abgegrenzt sind und ständig neu ausgehandelt und konstruiert werden. Menschen werden als autonome Entitäten gesehen, die nach ihren eigenen Gesetzen leben. Sie sind von außen nicht steuerbar – sie können lediglich irritiert (Rosselet, 2005) und damit in Bewegung gebracht werden. Probleme lassen sich aus dieser Perspektive nicht nur durch eine Fokussierung auf das Individuum, sondern auch mit Blick auf das sie umgebende System lösen. In der Verbindung beider Sichtweisen können sich die Coaching-Partner einerseits auf die Persönlichkeit des Coachees, seine Stärken, Potenziale und Entwicklungsmöglichkeiten fokussieren und andererseits die Wechselwirkungen zwischen den

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Elementen der sozialen Systeme in der Organisation beleuchten. Dieses soziale Umfeld bzw. System umfasst (vgl. Winkelmann u. Enzweiler, 2018, S. 40 f.): 1. die dazugehörigen Menschen, 2. deren subjektive Wahrnehmungen und Deutungen, 3. die vorhandenen (sichtbaren/nicht sichtbaren) Interaktionsregeln, 4. die typischen und wiederkehrenden Verhaltensmuster, 5. die ökonomische bzw. materielle sowie die soziale Umwelt des Systems und 6. die Historie des Systems. Die eingangs formulierte Fragestellung von Führungskräften utilisiere ich und bette sie ein in den Kontext von Netzwerkkonstellationen, Rollen und Systemen in der Organisation. Damit kann ich meine Einzelcoaching-Klienten für Methoden gewinnen, die möglicherweise auf den ersten Blick für sie ungewohnt sind: systemische Aufstellungen.

Systemische Aufstellungsarbeit im Business-Coaching-Kontext In den letzten Jahren haben die Aufstellungskonzepte von Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer (2014; Sparrer, 2002) immer mehr an Bedeutung gewonnen und die Überführung in einen Organisationskontext gefördert. In ihren Theorien zeigen sich Einflüsse der Erickson’schen Hypnotherapie (Erickson, 1989) sowie der in den 1970er Jahren von Steve de Shazer und Insoo Kim Berg entwickelten lösungsfokussierten Kurztherapie (de Shazer, 1999/2015). In der repräsentierenden Wahrnehmung – sei es durch Stellvertreter oder den Coachee selbst, wird der Körper zu einem Wahrnehmungsorgan für Empfindungen, Haltungen, Emotionen und Kognitionen bezüglich der Mitglieder des fremden Systems (Sparrer, 2014, S. 103 f.). Sparrer geht dabei davon aus, dass der Klient das, was er im Aufstellungsprozess wahrnimmt, beeinflusst und daher nicht losgelöst von seinem Bewusstsein, seinen Erfahrungen und seinen Einstellungen wahrnehmen kann. Somit zeigt auch das Problembild seine persönliche und individuelle Sicht – es bildet also keinesfalls die Wahrheit ab. Dieser Prozess lässt sich als Rekonstruktion erklären, weil der Klient seine Sichtweise, sein inneres Bild externalisiert. Im darauffolgenden Schritt der Dekonstruktion kann der Klient mit diesem externen Bild arbeiten und es verändern – oder es als Aufsetzpunkt für weitere Entwicklungen »so stehen lassen«, denn auch dieses Lösungsbild stellt wiederum nur eine der vielen Lösungsmöglichkeiten dar. Schon durch das Sichtbarmachen werden Lösungsprozesse in Bewegung gesetzt, die im Laufe der Zeit zu einer neuen

Systemische Aufstellungen im Einzelcoaching von Führungskräften

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Wirklichkeitskonstruktion führen können (Sparrer, 2014, S. 417 ff.). Durch Aufstellungen können Strukturen und Mechanismen im System des Klienten sichtbar gemacht, unsichtbare Abhängigkeiten, unterschwellige Beziehungsmuster, dysfunktionale Übernahmen von verdeckten Rollen aufgezeigt und aufgelöst werden. Wenn darüber hinaus in der Arbeit Glaubenssätze auftauchen oder/ und sich abgespaltene Anteile bemerkbar machen, können Aufstellungen im Coaching durch das Aufdecken unbewusster Dynamiken dabei unterstützen, den eigenen Platz im Unternehmen bzw. im Team zu finden, einzunehmen und auszudrücken sowie Rollen, Hierarchien, Verantwortlichkeiten zu klären und abzugrenzen.

Systemische Aufstellungen im Führungskräfte-Einzelcoaching Systemische Aufstellungen können in verschiedenen Phasen des Führungskräfte-Einzelcoachings zum Einsatz kommen: zur Anliegenklärung, Zielfindung, Reflexion, Konfliktklärung, Entscheidungsfindung, Transferplanung etc. und mit anderen Methoden und Techniken kombiniert werden. Ich verfüge über spezifische Materialien, doch in einem Coaching in der Flughafenlounge kommen auch Servietten, Zuckerstückchen und Besteck zum Einsatz. Die verwendeten Gegenstände dienen dazu, dem Klienten zu helfen, sich von seinem Problem zu distanzieren und eine Außenwahrnehmung zu entwickeln. In meiner Coachingpraxis arbeite ich mit dem Systembrett, um Dynamiken von Beziehungen und Konflikten sowie die Rolle des Klienten darin zu klären und Handlungsmöglichkeiten zu erarbeiten. Das ursprünglich für die systemische Familientherapie entwickelte Systembrett (Wilken, 2000) kommt heute auch im Coaching, in der Mediation, der Supervision sowie der Organisationsberatung zum Einsatz. Das abzubildende System wird mit Figuren in verschiedenen Formen wie bei einem Brettspiel nachgestellt. Die Größe, Position, Nähe und Distanz sowie die Blickrichtung der Figuren geben Aufschluss über Beziehungen und Konfliktstrukturen. Es kann mit weiteren Materialien wie Schnüren, Symbolen, Spielzeug erweitert werden. Ich wendete das Brett z. B. in folgendem Beispiel an: Eine männliche Führungskraft suchte Lösungsstrategien für einen im Team offen ausgetragenen Konflikt zwischen zwei Mitarbeitenden. Ich bat den Klienten nach einer kurzen Einführung, das System inklusive seiner eigenen Person aufzustellen. Danach lud ich ihn ein, mir seine spontanen Gedanken dazu mitzuteilen. Ich nutzte insbesondere zirkuläre Fragen, damit der Klient den Konflikt oder die Situation aus

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der Sicht der anderen Beteiligten sehen konnte, so z. B.: »Was denken Sie, wie geht es Frau XY in dieser Position?«, »Was denkt Herr XY, wenn Sie ihn da hinstellen?«, »Wie erlebt Ihrer Meinung nach das restliche Team die Situation?« Der Klient war betroffen, als er sich der »Zustände« im Team bewusst wurde. Es stellte sich heraus, dass er den Konflikt bisher ignoriert hatte (er stand mit dem Rücken zu den Konfliktparteien und schaute auf die ebenfalls abgewandte Vorstandsebene), in der Hoffnung, das Pro­ blem werde sich von selbst lösen. Mit Blick auf das Zielbild fragte ich, ob und wenn ja wie das System verändert werden müsste: »Wie möchten Sie Ihre Position verändern?«, »Möchte Ihrer Meinung nach jemand anderes seine Position verändern?«, »Was könnte ein erster Schritt sein?«, »Was fehlt noch zur Lösung?« Er arbeitete ein für ihn stimmiges Zielbild aus, das wir in eine Transferplanung übergehen ließen.

Als eine weitere effektive Methode im Einzelcoaching nutze ich das als Persönlichkeitsmodell von Schulz von Thun (2013) entwickelte »Innere Team«. Danach bestehen wir aus diversen Teilpersönlichkeiten, die unsere innere Vielfalt und eventuelle Zerrissenheit ausmachen, widersprüchliche Dialoge führen, koalieren oder um Macht kämpfen. Die Intervention unterstützt die Selbstklärung von Klienten mit unterschiedlichen inneren Bestrebungen, so z. B. vor der Übernahme einer neuen Aufgabe, einem Jobwechsel oder dem Aussprechen einer Kündigung: Ich lade den Coachee ein zur Imagination, seine Anteile stünden auf einer Bühne, die lauten Stimmen vorne, die leiseren hinten bis hin zu Plätzen hinter dem Vorhang. Um dem Klienten die Angst vor diesen »multiplen« Persönlichkeitsanteilen zu nehmen, betone ich die innere Instanz, die den Prozess bewusst steuert: »Diese Instanz sind Sie selbst als Regisseur auf der Bühne Ihres (Er-)lebens.« Ich lasse den Klienten in der Aufstellung markante Namen der Anteile sowie einen typischen Satz aufschreiben, in eine Anordnung auf den Tisch bringen und damit das IstBild erstellen. Mit der einfachen Frage: »Wie geht es Ihnen, wenn Sie so auf Ihre Anteile schauen?«, wird ein Reflexionsprozess angeregt. Mit Blick auf das Anliegen des Klienten frage ich, was sich auf der Bühne verändern müsse, z. B.: »Wer will weiter nach vorne?«, »Was braucht Anteil XY?«. Eine Klientin verortete eine ihrer Stimmen im Soufleusenkasten und wurde sich darüber bewusst, wie dieser Anteil die anderen leise, aber machtvoll beeinflusste, indem er ihnen Glaubenssätze »einflüsterte«. Bei der Veränderung in das Wunschbild ist darauf zu achten, dass keiner der »Inneren Anteile« aus der Anordnung rausgenommen werden darf, denn alle »Stimmen« gehören zur Persönlichkeit und repräsentieren Bedürfnisse, Werte, Antreiber etc. Der Klient verändert das Bild so lange, bis es für ihn stimmig ist und daraus im Anschluss Ziele und Handlungsmöglichkeiten abgeleitet werden können.

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Systemische Aufstellungen im Einzelcoaching von Führungskräften

Des Weiteren arbeite ich in systemischen Aufstellungen mit Bodenankern (z. B. Kärtchen, Filzdeckchen), Stühlen oder Kissen, die jeweils Personen des Klientensystems repräsentieren. Ein Vorteil ist, dass die gesamte Situation persönlicher und »intimer« ist und der Coachee im vertraulichen Setting alles aussprechen kann, ohne sich möglicherweise durch weitere Anwesende gehemmt zu fühlen.

Strukturaufstellungen im Führungskräfte-Einzelcoaching Systemische Strukturaufstellungen nach Varga von Kibéd und Sparrer (2014; Sparrer, 2002) schaffen mit Hilfe von Stellvertretern ein räumliches Strukturbild von Organisationsmitgliedern, Teams, Abteilungen, der gesamten Organisation bis hin zu ihrer Umwelt. Auch können Projekte, Ziele, Werte und Kulturelemente oder »ausgeblendete (Glaubens-)Polaritäten« (Rosner, 2018, S. 73) einer Organisation aufgestellt werden. Durch die räumliche Metapher von Nähe-Distanz und Zu- bzw. Abgewandtheit (v. Ameln u. Kramer, 2016, S. 272) kann die Beziehungsdynamik zwischen den aufgestellten Teilen des Systems abgebildet werden. Ebenso ermöglichen die Strukturaufstellungen als Simulationsverfahren das Erproben und Durchspielen von Ideen, Alternativen und ihren Auswirkungen. Im Einzelcoaching arbeite ich mit Bodenankern, um dem Klienten zu ermöglichen, sich durch direktes Draufstellen in die jeweilige Position (oder Haltung, Einstellung, Meinung etc.) einzufühlen und unterschiedliche Empfindungen auszudrücken. Eine sehr wirksame Methode mit Bodenankern ist die Tetralemmaaufstellung (s. Abb. 1). Sie bezieht sich auf Gegensätze und das soge-

Abbildung 1: Tetralemma (eigene Darstellung in Anlehnung an Böhm, 2016, S. 13)

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nannte »Querdenken« (Varga von Kibéd u. Sparrer, 2014, S. 23 ff.). Sie erlaubt als Prozessaufstellung eine Entwicklung, die vom Einnehmen neuer Positionen, dem Erkennen der erweiterten Möglichkeiten bis hin zu daraus resultierenden Entscheidungen geht (Sparrer, 2014, S. 147 f.). Folgendes Fallbeispiel verdeutlicht die Tetralemmaaufstellung, wie ich sie praktiziere: Einer meiner Klienten stand vor einer weitreichenden beruflichen Entscheidung und kam trotz intensivem Nachdenken zu keinem Ergebnis. Es ging um die Frage, ob er seine sichere Festanstellung aufgeben und eine rein freiberufliche Tätigkeit ausüben sollte. Für das Tetralemma legten wir vier Bodenanker aus. Zwei dieser wortwörtlichen Standpunkte symbolisierten für ihn die eine oder die andere Möglichkeit, die dritte stand für beide gleichzeitig und die vierte für keine von beiden. Ergänzt wurden sie durch eine fünfte Position, die sogenannte »Nicht-Position« des »und auch dies nicht – und selbst das nicht!« (Varga von Kibéd u. Sparrer, 2014, S. 79), die im Vergleich zu den vier anderen aus einer Unterbrechung des rigiden Musters der Entscheidungsfindung besteht (siehe Abb. 1). Der Klient stellte sich auf die jeweiligen Bodenanker und fühlte sich so ein, als ob diese Option schon Wirklichkeit geworden sei. Mit geschlossenen Augen beschrieb er seine Gefühle, Bedenken, Hoffnungen, thematisierte günstige und ungünstige Auswirkungen für das »Eine« (Selbständigkeit), das »Andere« (Freiberuflichkeit), »Beides« (jeweils in Teilzeit), »Keins von beiden« (Frührente). Ich fragte so lange nach, bis er mir das Signal gab, dass alles gesagt sei. Schließlich kamen wir zur fünften Position. Ich leitete mit einem Als-ob-Rahmen ein: »Stellen Sie sich mal vor, Geld, Zeit, Moral oder Restriktionen aller Art spielten keine Rolle. Welche Position wäre das dann hier auf dieser Karte?« Der Klient nannte »Aussteiger auf Ibiza«. Ich schrieb alles mit, um diese ausführlichen Notizen dem Klienten später mitzugeben, damit er sich in der Aufstellung voll und ganz aufs Spüren einlassen konnte. Der Klient entschied sich für einen sanften Ausstieg, d. h. für »Beides« und nahm sich vor, auch für genügend Auszeiten zu sorgen. Diese berufliche Entscheidung konnte er fundiert und bewusst treffen.

Des Weiteren setze ich in meiner Coachingpraxis Skalen ein, um angestrebtes Verhalten und Erleben zu konkretisieren sowie Unterschiede und Entwicklungen zu verdeutlichen. Skalen helfen, Erfolge wahrnehmbar zu machen, indem die einzelnen Schritte auf dem Weg zum Zielzustand sichtbar werden (Freimuth u. Stein, 2017). Dabei gehe ich in meiner Praxis folgendermaßen vor:

Systemische Aufstellungen im Einzelcoaching von Führungskräften

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Bei einem Anliegen, in dem es um die Entwicklung einer bestimmten Fähigkeit wie z. B. »mehr Durchsetzungskraft« geht, nutze ich eine Skala von 0–10, die ich mit Klebeband auf dem Boden befestige oder mit einem Seil auslege, das ich mit einem Kärtchen mit Nummern von 0–10 als Bodenanker versehen habe. Ich veranlasse den Klienten, sich auf den Startpunkt-Bodenanker (Ist-Zustand im Jetzt) zu stellen und sich einzufühlen. Zur Verortung seines Zielzustandes frage ich: »Wo würden Sie gerne hinkommen?«, und bitte ihn, diesen Zielzustand sehr genau zu beschreiben. Dann lade ich den Klienten ein, von Skalenpunkt zu Skalenpunkt zu gehen, sich jeweils einzufühlen und notiere für ihn seine geplanten Handlungen, um zum nächsten Punkt zu kommen. Ich stelle vertiefende Fragen: »Was genau machen Sie jetzt anders?«, »Wie haben Sie das geschafft, von einer 3 auf die 4 zu kommen?«, »Was muss passieren, damit sie einen Punkt höher kommen?« etc. Dies erfolgt in Kombination mit oder in der Ergänzung durch Zeitlinien, mit denen z. B. Berufsbiografien, die eigene Entwicklung als Führungskraft, Projektverläufe, die Unternehmensentwicklung oder auch Konfliktentwicklungen abgebildet werden können. Die einzelnen Phasen, Meilensteine, Stationen und wichtigen Momente des Prozesses lege ich mit Kärtchen, Tüchern, Seilen oder beliebigen anderen Utensilien im Raum zu einem Strang aus, den die Klienten aus der »Adlerperspektive« betrachten und dadurch einen kompakten Überblick des komplexen Geschehens gewinnen können (v. Ameln u. Kramer, 2016, S. 310).

Die Verwendung von Spielzeug für Aufstellungen im Einzelcoaching habe ich aus meiner agilen Projektarbeit im Rahmen von Design Thinking übernommen. Ich verwende dabei Legosteinchen sowie Lego- und Playmobilfiguren und ihre Utensilien (z. B. Stoppschild, Straßensperren, Schwert o. Ä.). Das Spielen ist eine im Menschen angelegte Verhaltensweise, um neue Fähigkeiten zu erlernen und sich veränderten Bedingungen anzupassen. Die Klienten erleben durch die typischen Eigenschaften des Spiels, wie z. B. ein entspanntes Aufgehen in der Tätigkeit (Flow) und das Vorhandensein hoher intrinsischer Motivation, die Möglichkeit, in geschütztem Rahmen alternative Handlungs-, Interpretationsund Entscheidungsmöglichkeiten durchzuspielen (Kristiansen u. Rasmussen, 2015). Vorausgesetzt, die Klienten »spielen mit« und empfinden die Intervention nicht als kindisch, bietet sich damit eine abwechslungsreiche Alternative z. B. für die Entwicklung von Strategien, Ideen, Werten, Zielen, Visionen und Problemlösungen. Ich erlebe oft, dass die Klienten nach einer kurzen Skepsis oder dem Gefühl von Peinlichkeit (»Dafür bin ich doch zu alt«) wirklich Spaß an der Intervention haben.

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Fallstricke und Herausforderungen bei Aufstellungen im Business-Einzelcoaching Um die Qualität im Coachingprozess zu sichern (Nazarkiewicz u. Kuschik, 2015) sollte klar sein: Psychische Erkrankungen, Abhängigkeiten oder die gesamte Betrachtung der Lebensgeschichte eines Klienten sind nicht Aufgabe des Coachings, sondern der Therapie (Michalek, 2014, S. 39). Manchmal jedoch sind die Grenzen fließend, wie ich es in der nachfolgenden, einer Aufstellung ähnlichen hypnosystemischen Stühle-Arbeit erlebt habe: Eine weibliche Führungskraft, die ich schon seit etwa einem halben Jahr in einem guten Vertrauensverhältnis begleitete, berichtete von plötzlich aufgetretener Flugangst. Sie wollte diese »loswerden«, weil sie kurz vor der Entscheidung stand, eine verantwortungsvollere Position anzunehmen, die jedoch mit intensiver Reisetätigkeit verbunden sein würde. Sie konnte noch mit dem Flugzeug reisen, doch es war für sie mit Stress, Schwitzen und Herzklopfen verbunden. Wir beschäftigten uns zunächst bewusst mit dem Problem, um es intellektuell greifbarer zu machen. Mit Hilfe der Wunderfrage (de Shazer, 1999/2015) kam die Klientin in einen lösungsund ressourcenorientierten Zustand. In der nächsten Session war sie bereit, ihre Angst näher kennenzulernen. Wir saßen nebeneinander auf zwei Stühlen und sie stellte einen leeren Stuhl vor uns. Die Klientin schilderte, sie fühle sich blockiert, klein und eingeschüchtert. Sie begann zu schwitzen, bekam Herzklopfen und auch ich spürte förmlich ihre Anspannung. Sie konnte die Flugangst nicht anschauen, wollte aber in der Aufstellung bleiben. Wir standen auf und nach einer kurzen Mobilisierung entspannte sie sich, wir setzten uns wieder und sie signalisierte Bereitschaft, die Flugangst zu betrachten. Sie beschrieb sie als zotteliges Fellmonster mit großen Zähnen und Pranken. Je länger sie die Flugangst im Detail beschrieb, desto kleiner und ungefährlicher wurde diese in ihrer Wahrnehmung. Schließlich war sie so weit, dass sie sich neben die Flugangst setzen konnte – in den ersten Momenten gemeinsam mit mir und schließlich allein. In einer Aufstellung hätte ich die Klientin gebeten, sich in die Position der Flugangst zu begeben und sich einzufühlen. Da die Frau jedoch schon agitiert war, blieb ich im hypnosystemischen Setting und regte sie dazu an, der Flugangst Fragen zu stellen wie: »Warum bist du hier?«, »Was willst du mir sagen?« Nach jedem Dialog mit der Flugangst veränderte sich diese weiter: Sie war schließlich auf die Größe eines Kuscheltiers geschrumpft und das Bedrohliche verschwunden. Stattdessen stellte die Klientin fest, dass die Flugangst es gut mit ihr meine und sich dieses Symptom als Wächter entpuppe. Die Managerin deutete die Botschaft für sich dahingehend, dass die Angst sie vor dem Schritt des Postitionswechsels bewahren wolle und dass sie dementsprechend

Systemische Aufstellungen im Einzelcoaching von Führungskräften

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ihre jetzige Position halten und statt die neue Position anzunehmen, ihr Team aufbauen und fördern sollte. Wir überprüften dies in der folgenden Sitzung mit einem Tetralemma, in dem sich der Wunsch bestätigte und nach dem die Führungskraft eine fundierte Entscheidung treffen konnte.

Im Coaching verschwimmen die Grenzen per se, weil sich die Beratungsform aus dem therapeutischen Bereich entwickelt hat. Auch wenn ich mich im oben beschriebenen Fallbeispiel zurecht auf meine Intuition verlassen habe, war die daraus resultierende, intensive Aufstellungsarbeit eine Grauzone für mich. Ich achte sehr darauf, einen stabilen Rapport herzustellen, mich auf den Klienten zu kalibrieren, sachlich über emotionale Themen zu sprechen, offene Fragen zu stellen, durch Backtracking Verständnis sicherzustellen, den Coachee und die Auswirkungen der Interventionen gut zu beobachten, ihn in Kontakt mit seinen Ressourcen zu bringen und bei der Auflösung darauf zu achten, dass er wieder seine eigene Rolle übernommen hat. Damit sorge ich für einen guten Prozess (vgl. Kuschik u. Nazarkiewicz, 2019). Gleichzeitig brauchen wir Business Coaches ohne psychotherapeutische Ausbildung eine ausgeprägte Wahrnehmungsfähigkeit, damit wir uns unserer Kompetenzen wie auch unserer Grenzen bewusst sind (Maxwell, 2009; Rauen, 2001). In Ergänzung zum Fachwissen über die Arbeit in/mit Organisationen sollten wir Business Coaches fundiertes Wissen über Systemaufstellungen erwerben. Auch Kenntnisse zu Symptomatik, Verlauf und Behandlungsmöglichkeiten der häufigsten psychischen Störungsbilder und seelischen Erkrankungen ist hilfreich, um diese zu erkennen und gegebenenfalls die Weichen in Richtung Therapie stellen zu können. Anliegen wie die Bearbeitung von Alkoholismus oder Traumata nehme ich grundsätzlich nicht an. Wenn der Coachee diese erst im Laufe des Coachings offenbart oder ich Indizien für eine therapeutische Indikation sehe, spreche ich es sensibel an, mache es jedoch nicht zum Thema unserer Zusammenarbeit. Stattdessen biete ich an, einen Kontakt zu Kollegen mit entsprechender therapeutischer Ausbildung herzustellen und Strategien für diesen ersten Schritt zu erarbeiten. In der Arbeit als Führungskräfte-Coach im organisationalen Kontext können weitere Ambivalenzen auftreten, wie z. B. das Dreiecksspannungsfeld mit dem beauftragenden Unternehmen, das Entwicklungsziele für den Coachee definiert. Nun kann sich aber in einer Aufstellung zeigen, dass die Führungskraft zwar aus Sicht des Unternehmens »gut aufgestellt« ist und sich entsprechend der Ziele des Unternehmens entwickelt, dies jedoch nicht im Einklang mit ihren persönlichen Bedürfnissen ist. Hier obliegt es dem Coachee, wie er mit den aufgedeckten Themen weiter verfährt. Als Coach bin ich allparteilicher Begleiter, der mit dem arbeitet, was der Coachee gerade zu bearbeiten bereit ist.

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Gegebenenfalls muss die grundsätzliche Auftragsklärung gemeinsam mit dem Auftraggeber wiederholt werden.

Transfer in den Arbeitsalltag der Führungskraft sicherstellen Wie Winkler, Lotzkat und Welpe (2013) richtig feststellen, sollte Coaching als Reflexions- und Lösungshilfe für schwierige Führungssituationen notwendigerweise in ein Gesamtkonzept von Entwicklungsmaßnahmen eingebettet sein, um Kontinuität sicherzustellen (S. 32). Ich gebe daher praxisnahe Handlungsempfehlungen, um den Transfer zu fördern und den Coachee darin zu unterstützen, erlernte und erfahrene Inhalte aus der Aufstellung in sein Berufs- und Alltagsleben zu übertragen. Sie sollen der Führungskraft, die sich in der Aufstellung in eventuell ungewohnter Weise als »ganzer« Mensch mitsamt ihren Beziehungsdynamiken erfahren hat, helfen, das Erlebte zu verankern. Die vertiefenden und reflektierenden Interventionen entlang eines Coachingprozesses mit Aufstellung unterstützen den Coachee darin, die in der Aufstellung gespürte Leiblichkeit mit in den Alltag zu nehmen und aus den aufgedeckten Erfahrungen, Impulsen und Dynamiken produktive Entwicklungen anzustoßen (s. Tabelle 1). Darüber hinaus ist es sinnvoll, die Coachees selbst entscheiden zu lassen, wie sie im Nachgang mit dem Erlebten weiterarbeiten wollen. Eine Führungskraft entschied sich z. B., ihre Mitarbeitenden im nächsten Teammeeting zu einem Experiment einzuladen, und inszenierte mit ihnen ein unkompliziertes, im Raum aufgestellten Abbild des Team-Status-Quo. Sie knüpfte damit an ihre eigene Aufstellungserfahrung sowie das damit verbundene systemische Denken und Erleben an. So setzte sie Dynamiken in Gang, die dann zwar von der Methodik nicht mehr aufstellerisch weiter begleitet wurden, aber ein Gespräch anregten, aus dem heraus Lösungen abgeleitet werden konnten.

Fazit Systemische Aufstellungen eignen sich aus meiner Sicht sehr gut als Diagnoseund Simulationsverfahren in lösungsorientierten Kurzinterventionen im Führungskräfte-Einzelcoaching. Ich kombiniere sie mit für den Business-Kontext passenden Methoden aus der lösungsfokussierten Kurzzeittherapie sowie aus der hypnosystemischen Arbeit, modifiziere je nach Anlass und entwickle sie weiter. Aufstellungen sind in meiner Coaching-Praxis hilfreiche Instrumente, um das Wesentliche von Beziehungssituationen zu erkennen und die erforder-

Tabelle 1: Transfersicherung im Coaching, am Beispiel einer Aufstellung

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lichen Schritte einzuleiten, Situationen zu klären bzw. lösen, Entscheidungsprozesse zu katalysieren, alternative Konstellationen und Interaktionen zu erproben und Ressourcen greifbar zu machen. Durch den Wechsel auf eine symbolischerfahrungsorientierte Ebene werden über einen intuitiven Zugang die verborgenen Themen und Dynamiken des sozialen Klienten-Systems sichtbar gemacht (intra- und interpersonell, Team, Organisation, Arbeitsprozesse etc.). So können die Führungskräfte sehr deutlich eigene Anteile an der Konstruktion von Problemen und Lösungen erkennen. Hier ist Kreativität im Einsatz von Utensilien und gleichzeitig Achtsamkeit im Umgang mit dem Klienten gefragt. Mit einer professionellen Selbsteinschätzung wird ein Business Coach erkennen, für welche Themen systemische Aufstellungen geeignet sind und bei welchen eine Empfehlung für eine therapeutische Begleitung gegeben werden sollte. Indem der Coach während, nach und in den Folgesitzungen Kontakt zum Coachee hält und über Hausaufgaben, Impulse und Fragen die Reflexion anregt, werden das Gelernte und die Erfahrungen in die Arbeitswelt der Führungskraft überführt. Die Aufstellungsarbeit mit Führungskräften kann so dazu beitragen, den Horizont zu erweitern und dass sich durch die Berücksichtigung der verschiedenen, involvierten Systeme die Persönlichkeit wie auch die gesamte Organisation weiterentwickelt.

Literatur Ameln, F. v., Kramer, J. (2016). Organisationen in Bewegung bringen. Berlin/Heidelberg: Springer. Böhm, M. (2016). Intuitiver Methodeneinsatz in Coachingprozessen. Grundlagen und Praxisbeispiele. Wiesbaden: Springer. Breiner, G., Polt, W. (2016). Lösungen mit dem Systembrett. Ein umfassendes Handbuch für Aufstellungen mit dem Systembrett in Unternehmensberatung und persönlicher Beratung. Praxisnah und auf den Punkt gebracht. Münster: Ökotopia. Drexler, D. (2015). Einführung in die Praxis der Systemaufstellungen. Heidelberg: Carl-Auer. Erickson, M. H. (1989). The February Man. Evolving Consciousness and Identity in Hypnotherapy. New York: Brunner/Mazel. Freimuth, S., Stein, N. (2017). Werkzeugkiste (51). Lösungsorientierte Beratung mit Skalenfragen. OrganisationsEntwicklung, (2), 88–93. Greif, S., Möller, H., Scholl, W. (2018). Coachingdefinitionen und -konzepte. In S. Greif, H. Möller, W. Scholl (Hrsg.), Handbuch Schlüsselkonzepte im Coaching (S. 1–9). Wiesbaden: Springer. Kristiansen, P., Rasmussen, R. (2014). Building a Better Business Using the Lego Serious Play Method. Hoboken: Wiley. Kuschik, K., Nazarkiewicz, K. (2019). Zwanzig Thesen zum Aufstellen. In K. Nazarkiewicz, P. Bourquin (Hrsg.), Essenzen der Aufstellungsarbeit. Praxis der Systemaufstellung (S. 197–208). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Maxwell, A. (2009). How Do Business Coaches Experience the Boundary between Coaching and Therapy/counselling? An International Journal of Theory, Research and Practice, 2, 149–162.

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Michalek, C. (2014). Systemische Interventionen in Coachingprozessen. Referenztheorien, grundlegende Prinzipien und praktische Formen. Hamburg: Igel Verlag. Nazarkiewicz, K., Kuschik, K. (Hrsg.) (2015). Handbuch Qualität in der Aufstellungsleitung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Rauen, C. (2001). Coaching. Innovatives Management. Bd. 10. Göttingen: Hogrefe. Rosner, S. (2018). Systeme in Szene gesetzt. Organisations- und Strukturaufstellungen als Managementinstrument und Simulationsverfahren (2. Aufl.). Wiesbaden: Springer. Rosselet, C. (2005). Von der Irritation zur Information. Systemaufstellungen und Managementpraxis. Zeitschrift für Organisationsentwicklung, (3), 16–27. Schulz von Thun, F. (2013). Miteinander reden: Das »Innere Team« und situations- gerechte Kommunikation. Bd. 3 (22. Aufl.). Reinbek: Rowohlt. Shazer, S. de (1999/2015). Der Dreh. Überraschende Wendungen und Lösungen in der Kurzzeittherapie. Heidelberg: Carl-Auer. Shazer, S. de, Dolan, Y. (2008). Mehr als ein Wunder. Lösungsfokussierte Kurztherapie heute. Heidelberg: Carl-Auer. Sparrer, I. (2002). Vom Familien-Stellen zur Organisationsaufstellung. Zur Anwendung Systemischer Strukturaufstellungen im Organisationsbereich. In G. Weber (Hrsg.), Praxis der Organisationsaufstellungen. Grundlagen, Prinzipien, Anwendungsbereiche (2. Aufl., S. 91–126). Heidelberg: Carl-Auer. Sparrer, I. (2014). Wunder, Lösung und System. Lösungsfokussierte Systemische Strukturaufstellungen für Therapie und Organisationsberatung (6. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer. Varga von Kibéd, M. (2005). Ein Metakommentar. In G. Weber, G. Schmidt, F. B. Simon (Hrsg.), Aufstellungsarbeit revisited … nach Hellinger? (S. 200–250). Heidelberg: Carl-Auer. Varga von Kibéd, M., Sparrer, I. (2014). Ganz im Gegenteil. Tetralemmaarbeit und andere Grundformen Systemischer Strukturaufstellungen – für Querdenker und solche, die es werden wollen (8., überarb. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer. Wilken, U. (Hrsg.) (2000). Das Familienbrett. Göttingen: Hogrefe. Winkelmann, R., Enzweiler, T. (2018). Coaching als Führungsinstrument. Neue Leadership-Konzepte für das digitale Zeitalter. Wiesbaden: Springer. Winkler, B., Lotzkat, G., Welpe, I. (2013). Wie funktioniert Führungskräfte-Coaching? Orientierungshilfe für ein unübersichtliches Beratungsfeld. OrganisationsEntwicklung. Zeitschrift für Unternehmensentwicklung und Change Management, (3), 23–33.

Stephanie Hartung

Der Marken-Integrationsprozess

In der Organisationsentwicklung kommt man schnell zu der Frage: Wer genau ist die Organisation, wofür steht sie und was will sie eigentlich erreichen? Diese Frage berührt das Phänomen der Organisationsmarke, die autopoietisch entsteht und in ihrer Funktion Leitfaden für alle organisationalen Fragen ist. Was aber genau ist eine Marke, und warum gibt es so viele unterschiedliche Erklärungen dazu? Der Text stellt verschiedene Ansätze des herkömmlichen Markenverständnisses vor und leitet dann – ausgehend von einem ganzheitlichen Organisationsverständnis – zu einem systemischen Verständnis von Organisation und Organisationsmarke über. Im Anschluss daran wird das strukturelle Aufstellungsformat des Marken-Integrationsprozesses vorgestellt. Es kann Organisationen bei der Integration ihrer eigenen Identität zugunsten einer starken Markenperformance unterstützen. Marke ist ein merkwürdiges Gebilde. Marke ist, und sie ist nicht. Und das gleichzeitig. Sie ist da als grafisch gestaltetes Element, als Signet oder auch Logo. Als solches ist sie sichtbar und kann als Bildmarke und Wortmarke durch die Registrierung beim Deutschen Patent- und Markenamt geschützt werden – »Registered Trademark« heißt das Ergebnis dann auf Neudeutsch. Wenn aber von erfolgreichen Marken die Rede ist, dann ist selten das Logo gemeint, auch wenn man darauf zeigt und sagt: »Das ist eine erfolgreiche Marke.« Gemeint ist bei dieser Aussage nicht das Logo, sondern das, was irgendwie nicht da ist. Das Logo ist der Stellvertreter. Was aber ist es, was nicht da ist und doch so erfolgreich sein kann? »Entwickeln Sie uns bitte eine erfolgreiche Marke« – das habe ich häufiger von Organisationen gehört. Und es war in der Regel genau so gemeint, wie es klang: Die Auftraggeber wollten sich als Organisation oder als Unternehmen eine Marke aneignen, um damit Erfolg zu haben. Sie wollten quasi ein Zubehör kaufen, ein speziell für sie entwickeltes Add On für ihren Organisationserfolg –

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nicht zuletzt auch in Form einer Grafik. Das gleicht in etwa dem Wunsch einer Frau, die zum Friseur geht und sich in eine erfolgreiche Person färben, waschen und legen lassen will. Klingt schräg? Ist aber genau das, was häufig passiert – jedenfalls bei den Aufträgen rund um die Marke.

Markendurcheinander in der Praxis Verwunderlich ist dieses Missverständnis nicht. Denn schaut man in die gängige Markenliteratur, dann begegnen einem tatsächlich unzählige, unterschiedliche, teils sogar einander widersprechende Definitionen. Zumal: Marke steht da für alles Mögliche. Sie steht für die Anbieter einer Leistung, und sie steht für die Leistung selbst. In der Gruppe der Anbietermarken (Corporate Brands) steht sie für ProduzentenMarken (z. B. Mercedes), Dienstleister-Marken (z. B. Deutsche Bank) und Händler-Marken (z. B. REWE). Bei den Leistungen erscheint sie als Produkt-Marke (z. B. Mercedes E-Klasse), Dienstleistungs-Marke (z. B. Deutsche Bank Anlagekompass) und Handelsmarke (z. B. JA-Produkte). Sie steht außerdem für Dachverbände (z. B. Arbeitgeberverband) oder auch für einzelne Personen (z. B. Madonna). Schließlich, wie schon erwähnt, steht sie für eine Grafik, die als sogenannte Bildmarke oder Wortbildmarke beim Markenamt registriert werden kann, was auch für den Namen der Marke gilt, der als Wortmarke angemeldet werden kann. Was für ein Durcheinander! Oder nicht? Wenn all das Marke ist (siehe Abb. 1), was genau ist es dann, was all diese Definitionen von Marke gemeinsam haben?

Abbildung 1: Marke steht für …

Der Marken-Integrationsprozess

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Markendurcheinander in der Geschichte Der Blick in die Geschichte hilft beim Versuch, das Dickicht zu lichten, nicht wirklich weiter. So kam Marke erstmals rund 4.000 Jahre v. Chr. bei den Sumerern als produktanhängende Warenmarkierung in den Handel. Marke zeigte sich ab 800 v. Chr. als megalomane Phantasie der Römer, die ganze Welt sollte Rom sein – die erfolgreiche Akkulturierung des mitteleuropäischen Raums wirkte durch die Jahrtausende. Auf den italienischen Kanaldeckeln prangt noch heute die Wort-Bildmarke des einstigen Weltreiches (S.P.Q.R., Senatus Populusque Romanus, der Senat und das römische Volk, s. Abb. 2).

Abbildung 2: Kanaldeckel Rom (Wikimedia Commons, 2019)

Die römisch-katholische Kirche, die aus dem Römischen Reich um 100 n. Chr. in ihrer uns heute bekannten, dreigliedrigen Organisationsstruktur hervorgegangen ist, gilt unter Experten als bislang erfolgreichste Anbietermarke mit einem spirituellen bzw. religiösen Markenkern. Die Hanse, die sich ab dem 12. Jahrhundert formierte, war die erste Dachmarke der Wirtschaftsgeschichte überhaupt, und ihre Werte und Überzeugungen sollten weitreichende Folgen für unser heute noch geltendes Verständnis vom ehrbaren Kaufmann haben. Handels- und Händlermarken gewannen ab dem 15. Jahrhundert besondere Bedeutung. Durch die europäischen Eroberungen anderer Kontinente lebten Produzenten, Händler und Konsumenten plötzlich derart weit voneinander entfernt, dass Markenaspekte wie Bekanntheit und Vertrauen zur Bedingung für den Handelserfolg wurden. Marke erschien erstmals als Personenmarke in der Renaissance, als der junge Albrecht Dürer im Jahr 1500 die Chuzpe besaß, sich selbst als Jesus Christus zu

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porträtieren und das Bild (erstmals überhaupt in der Weltgeschichte der Malerei) zu signieren – wodurch der Maler, der bis dahin als namenloser Handwerker gegolten hatte, in den Stand des Künstlers erhoben wurde. Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert entschieden die Manufakturmarken des Merkantilismus im europäischen Frühkapitalismus oft über Misserfolg oder Erfolg der europäischen Königs- und Kaiserhäuser, die ihre sich immer weiter aufblähenden Beamtenapparate sowie Prunk- und Prachtbauten damit finanzieren wollten. Ab dem 18. Jahrhundert schließlich spielten Produktmarken im Zuge der Industrialisierung kapitalistisch ausgerichteter Märkte eine zunehmend bedeutende Rolle. Diese fand ihre Höhepunkte in Folge zweier Weltkriege und führte ab Mitte der 1950er Wirtschaftswunderjahre zu Definitionen, die noch heute gelten: Marke ist ein Produkt mit einer unterscheidungsfähigen Markierung, einem Qualitätsversprechen mit dauerhafter und werthaltiger, nutzenstiftender Wirkung, einem systematischen Absatzkonzept und ubiquitärer Erhältlichkeit. Coca Cola ist also eine Marke. Oder Mercedes. Das Unternehmen oder das Produkt? Oder was eigentlich? Können wir mit Blick auf diese Aufzählung verstehen, was Marke ist? Und haben wir auch nur annähernd eine Ahnung, warum Marken bisweilen so erfolgreich sind?

Von der Organisation zur Organisationsmarke Um die möglichen Wirkungsdimensionen von Marke zu verstehen, muss man die Verbindung von Organisation und Marke verstehen. Hier komme ich noch einmal zu der Organisation zurück, die eine Marke für sich, einen Corporate Brand entwickelt haben will. Wie geht der Weg von einer Organisation zu einer Organisationsmarke? Oder anders gefragt: Was ist der Unterschied zwischen der Organisation und der Organisationsmarke? Für die Antwort hilft ein Blick auf die Entstehung und Selbstidentifikation von Systemen. Menschen wollen gemeinsam etwas unternehmen. Ihre Zusammenarbeit führt unvermittelt zur Ausbildung eines Systems, das auf ein Ziel ausgerichtet ist. Dass dieses System, bzw. die Organisation quasi automatisch entsteht, berücksichtigen wir in unserer Rechtsprechung: Sobald zwei oder mehr Menschen zusammenarbeiten, gelten sie automatisch – auch ohne eigens entwickelten Gesellschaftsvertrag – als GbR, als Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Die Menschen beginnen nun, von »wir« oder von »unserer Organisation« zu sprechen. Systemtheoretisch betrachtet tun sie das als Systemelemente mit

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einer spezifischen Funktion, als Funktionselemente also, und genau hier zeigt sich das Phänomen der Autopoiesis: Das Organisationssystem erschafft sich selbst. Die Einheit des Systems und mit ihr alle Elemente, aus denen das System besteht, werden durch das System selbst produziert. Natürlich produziert das Organisationssystem nicht die Menschen, es produziert (fordert) aber die Funktionen, denen die Menschen gerecht werden müssen, damit die Organisation sich selbst erhalten und weiterentwickeln kann. Der deutsche Soziologe und Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhman (1927– 1998) ist in seinem Verständnis eines solcherart entstehenden Systems sogar noch einen Schritt weitergegangen. Er definierte, die Organisation entstehe und bestehe nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikationen, weil wir Menschen in unseren Köpfen eingeschlossen seien. Durch unsere Verbindung bzw. unsere Kommunikation aber bringen wir – gemäß Luhmann (1987) – ein soziales System hervor, das sich von uns ablöst, seine eigenen Gesetzmäßigkeiten hat und entsprechend dieser Gesetzmäßigkeiten und Eigenarten verstanden, gestaltet und entwickelt werden muss. Ähnlich hat die Gestalttheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Erkenntnisse formuliert. Sie beschrieb die Organisation als »übersummative« Gestalt, die nicht nur mehr, sondern etwas anderes ist als die Summe ihrer Teile. Übersummativ bedeutet: mehr als die Summe. Einmal entstanden, geben übersummative Gestalten ihren Teilen vor, welche Qualität diese haben und in welcher Beziehungsstruktur sie zueinander sein sollten. Dabei bezogen sich die Gestalttheoretiker auf den österreichischen Philosophen Christian von Ehrenfels (1859–1932), der 1890 erstmals den Begriff Gestalt in seinem Text »Über Gestaltqualitäten« verwendete. Als Beispiel für die Übersummativität der Gestalt nannte von Ehrenfels die Melodie. Sie entsteht durch die Komposition einzelner Töne. Ist sie einmal entstanden, kann sie in eine andere Tonart umgeschrieben werden, und dabei werden alle ursprünglichen Töne ausgetauscht. Die Beschreibung zeigt: Eine Gestalt ist definiert durch ihre Übersummativität und ihre Transponierbarkeit. »Der Begriff Übersummativität beschreibt die Tatsache, dass eine Gestalt aus mehr besteht als dem Zusammen der Elemente, und der Begriff der Transponierbarkeit bedeutet die Übertragbarkeit der Gestalt auf andere Ebenen oder Orte, ohne dass diese ihren Wiedererkennungswert einbüßt« (Stangl, 2020). Weil die autonome Organisation als solche benennbar und also unterscheidbar (wir/nicht-wir) ist, muss sie auch identifizierbar sein – das ist sie deshalb, weil ihre (System-)Grenze markiert ist. Die Markierung sagt: Hier beginnt die Organisation, und das kannst du daran oder daran erkennen. Die so markierte Organisation gibt es kein zweites Mal. Sie ist absolut einzigartig. Die Gestalt-

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theorie hat hierzu wiederum gesagt: Die Gestalt hat eine spezifische Struktur, eine besondere Ganzbeschaffenheit und ein einzigartiges Wesen. Genau diese drei Aspekte sind das, was die vielen verschiedenen Markenformen verbindet: Ursprünglich sind sie aus einem Zusammenspiel von Elementen entstanden und in diesem Moment zu einer autonomen Gestalt geworden – mit einem eigenen Wesen, einer spezifischen Struktur und einer besonderen Ganzbeschaffenheit. In ihrer Einzigartigkeit muss sich eine Organisation ihrer selbst bewusst sein und ihr Sosein integrieren, um dann – förmlich aus ihrer Mitte heraus – nach außen zu strahlen und dabei eine wiedererkennbare, vertrauensbildende Identität zu entwickeln. Denn als ein von Menschen gebildetes, soziales Konstrukt ist sie ein offenes System und als solches auf den physischen, psychischen und geistigen Austausch mit ihrem Umfeld angewiesen. Ohne Austausch kann sie sich weder erhalten noch weiterentwickeln. Dieser Austausch gelingt optimal auf der Basis von Wiedererkennbarkeit (ich weiß, mit wem ich es zu tun habe) und Vertrauen (ich vertraue der Organisation und lasse mich auf die Zusammenarbeit oder das Verkaufsangebot ein). Unsere sozialen Konstrukte, die Organisationen, die wir aufbauen, »funktionieren« nach denselben Prinzipien wie wir selbst. Sie sind – so wie wir – ein sich selbst erschaffendes, offenes System, das als identifizierbare Einheit auf den Austausch mit seinem Umfeld angewiesen ist. Wenn wir uns vor diesem Hintergrund wieder der Frage nach der Marke zuwenden, wird jetzt ihre »Persönlichkeits-Dimension« deutlich. Die erfolgreiche Organisationsmarke kann wie eine Person mit einem Ego, einem Selbst und einer Persönlichkeit, die sich kontinuierlich weiterentwickelt, verstanden werden. Natürlich sind die Begriffe »Ego«, »Selbst« und »Persönlichkeit« der einfacheren Verständlichkeit halber hier metaphorisch gemeint. Dabei – und auch das hat die Gestalttheorie erkannt – bevorzugen wir in unserer Wahrnehmung prägnante, geschlossene Gestalten. Aufgabe der Organisation also ist es, ihre Systemmarkierung entsprechend ihrer Einzigartigkeit ebenso einheitlich geschlossen (konsistent) wie prägnant zu gestalten. Das Ergebnis der Prägnanz soll sein, dass wir uns – als Zielgruppe oder Marktumfeld – bevorzugt der Organisation (bzw. ihren Angeboten) zuwenden. Damit die Organisation weiß, wie ihr das erfolgreich gelingen kann, muss sie sich zunächst selbst verstehen. Genau hierbei kann der Marken-Integrationsprozess die Organisation unterstützen. Bevor ich den Prozess beschreibe, braucht es noch eine Erläuterung dessen, was genau im Prozess integriert werden kann. Ich beschreibe daher im Folgenden, wie die Gestalt der Organisation mit ihren Eigenheiten metaphorisch verstanden werden kann.

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Das Organisations-»Ego« Jede Organisation hat ein Ego, das auf sich selbst bezogen entscheidet und handelt. Ego steht hier metaphorisch für die »Ich«-Idee, die eine Organisation von sich selbst hat. Aufgrund des Egos denkt die Organisation, sie wüsste, wer sie ist und wie sie funktioniert. Natürlich »denkt die Organisation« nicht wirklich – das tun die Menschen darin. Sobald sich aber bestimmte Überzeugungen über die Identität einer Organisation gebildet haben, wirken diese auf die Organisation, die wiederum als Resonanzraum für die Menschen darin wirkt. Das Organisations-Ego betrachtet seinen Selbsterhalt und seine Entwicklung wie eine Maschine, bei der immer dieselben Knöpfe gedrückt werden müssen. Aus Input folgt Output, denkt das Ego. Der Fokus des Egos liegt dabei auf der Kontrollierbarkeit des Geschehens, und es tendiert dazu, sein Ich-Konzept, also die Idee vom eigenen Organisations-Ich mit der multidimensionalen Komplexität der Organisation zu verwechseln. Diese Erkenntnis spielt eine besondere Bedeutung im systemischen Verständnis: Die Selbstorganisation der Systeme, so sagt die Systemtheorie, geschieht selbstreferenziell (v. Bertalanffy, 1969; Ashby, 1947; Maturana u. Varela, 1984; Kauffmann, 1993). Wenn die Organisation ihr eigenes, multidimensionales Wesen aber nicht kennt, weiß sie nicht wirklich, worauf sie sich bei ihren Handlungen beziehen soll. Hinzu kommt – und auch das findet sich in der Systemtheorie –, dass das Organisations-Ego in seiner Selbstbezüglichkeit dazu neigt, rückwärts zu analysieren und daraus Entscheidungsgrundlagen für zukünftige Handlungen zu extrapolieren. Die menschliche Tendenz, heuristisch wahrzunehmen und daraus Schlüsse für Folgeentscheidungen zu ziehen, überträgt sich auch auf das organisationale Geschehen: Gegenwart und Zukunft werden in der Regel aus der Vergangenheit abgeleitet. Das Organisations-Ego versteht sich als das Ergebnis seiner vergangenen Handlungen: »Ich bin so, weil ich es so getan habe. Und ich muss es weiter so tun, damit ich so bleibe.« So beschreibt es die Systemtheorie, und meine eigenen Erfahrungen aus der Organisationsberatung decken sich mit dieser Beschreibung. Die Organisations-»Person« Die Organisations-»Person« kann hingegen wie ein Klangkörper vorgestellt werden (lateinisch per = durch, sonare = klingen). Die Person beschreibt alle wahrnehmbaren Aspekte der Organisation. In ihr werden Vision und Mission, Haltungen, Überzeugungen und Werte wahrnehmbar und erlebbar zum »Erklin-

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gen« gebracht. Wir sprechen in diesem Zusammenhang auch vom Erscheinungsbild einer Organisation, und die Frage ist: Was soll erscheinen und wie soll es wahrnehmbar und leicht wiedererkennbar sein? Die Beantwortung der Frage bezieht sich ebenso auf alle strategischen Entscheidungen wie auf die Organisationsstruktur und Prozessgestaltung, Kommunikation, Portfolio, Kundenbeziehungsmanagement etc. sowie schließlich auf das ganzheitliche Erscheinungsbild, also die visuelle, auditive, olfaktorische, gustatorische und taktile Gestaltung des Organisationskörpers auf allen Ebenen. Das Organisations-»Selbst« Das »Selbst« der Organisation ist die Quelle der Handlungen und die Quelle all dessen, was die Organisation in ihrem Kern und ihrer Einzigartigkeit ausmacht. Und weil die Organisation als einzigartig identifizierbar und also als solche markiert ist (sein muss), ist sie mit Blick auf die innere und äußere Identifizierbarkeit eine Marke (als Synonym für ein markiertes System). Der Unterschied zwischen einer Organisation und einer Organisationsmarke ergibt sich demnach dadurch, dass es eine Organisations-Bewusstheit über die eigene Systemmarkierung mit all ihren Facetten gibt. Das heißt auch: Die Organisation kann keine Marke werden, sie ist immer schon eine, ungeachtet der Frage, ob sie als solche erfolgreich ist oder nicht. Wenn das Organisations-Selbst die Organisation in ihrem Kern ausmacht – quasi wie eine identitätsstiftende DNA – dann kann der Kern als Markenkern verstanden werden. Als solcher bildet er die Grundlage für die identifizierbare Systemmarkierung. Er umfasst das Organisations-Selbst mit Vision, Mission und Werten.

Die Positionen im Aufstellungsformat Marken-Integrationsprozess In dem von mir entwickelten Aufstellungsformat »Marken-Integrationsprozess« bilden die im Abschnitt Organisations-»Selbst« benannten drei Aspekte, die Vision, die Mission und die Werte die zentralen Positionen. Damit verständlich ist, was genau mit diesen Aspekten gemeint ist, beschreibe ich sie im Folgenden, bevor ich mich dem Prozess selbst widme.

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Die Vision Wenn Menschen gemeinsam eine Organisation aufbauen, dann folgen sie einer Vision. Ohne eine Vorstellung davon, welchen Zustand sie durch ihr Tun herstellen wollen, würden sich die Menschen nicht auf den (gemeinsamen) Weg machen. Auch wenn es sein kann, dass ihnen nicht bewusst ist, dass sie eine Vision haben oder von etwas getrieben sind, das größer ist als z. B.: »Gemeinsam geht es nun mal besser« oder »Wir wollen erfolgreich oder Erster im Markt werden«. Die Vision ist kein Ziel. Sie sagt nicht, wo man hinwill. Sie ist auch nicht quantifizierbar. Die Vision ist eine Utopie, ein Nicht-Ort (altgriechisch, ou = nicht, topos = Ort), eine Phantasie jenseits der bestehenden Wirklichkeit. Sie ist ein inneres Bild davon, wie die Welt ist, nachdem man seine Vision verwirklicht hat. So war z. B. die Vision des Römischen Reiches: Die ganze Welt ist Rom – eine kulturelle Einheit, in der niemand fremd ist und jeder jeden versteht. Die Vision der römisch-katholischen Kirche ist das Einssein in einem Gott. Die Vision von Walt Disney war Freude. Die Vision von Apple ist im Bild des angebissenen Apfels visualisiert: die Selbstermächtigung des Menschen. Vision erzeugt Bewegung. Hinter jeder Bewegung steht eine Idee, die sagt: »Es ist sinnvoll, sich zu bewegen, um das zu erreichen.« So wie Menschen (autopoietisch und oft unbewusst) davon angetrieben werden, ihr Potenzial zu entfalten, so streben Organisationen (ebenfalls autopoietisch und oft unbewusst) danach, ihre Vision zu realisieren. Weil die Menschen von dem Moment an, in dem die Organisation als autonome Einheit mit einem eigenen Charakter entstanden ist, als deren Funktionselemente verstanden werden müssen (denken Sie nochmal an die Melodie und ihre Töne), sollten sie die Vision der Organisation kennen. Anderenfalls gerieten ihre Aktivitäten möglicherweise »kopflos«, »ziellos« oder auch »Selbst-los«. Die Frage nach der Vision lautet: »Welchen Zustand will die Organisation durch ihre Aktivitäten erreichen? Welcher Zustand von Welt soll gestaltet werden? Wie genau soll es sein?« Gefragt ist hier also nach einer Idee davon, in welchem Zustand ein Markt, eine Technologie, eine Entwicklung oder ein soziales Miteinander durch die aktive Organisation sein wird. Die Mission Mit Blick auf die Vision stellt sich nun die Frage: »Was muss die Organisation tun, um diesen Zustand zu erreichen bzw. ihre Vision Wirklichkeit werden zu lassen?« Die Beantwortung dieser Frage wird zur Mission der Organisation. Sie ist die übergeordnete Bewegung, an der sich alle Aktivitäten ausrichten.

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In der Römischen Republik war die Mission zunächst die Eroberung der Welt und wandelte sich später zur Pax Augusta, zur Konsolidierung der nationalen Einheit des Römischen Reiches. Bei der römisch-katholischen Kirche heißt die Mission: »Wir tragen die frohe Botschaft in die Welt.« Bei Walt Disney: »Wir bringen den Menschen Freude.« Und die Apple Mission tönte lange Zeit wie das Mantra der Moderne: »Think different.« Die Werte Wenn die Mission definiert ist, stellt sich die Frage nach dem »Wie«: »Wie wollen wir handeln bzw. mit welchen Qualitäten wollen wir unsere Mission durchführen? Meine gewählten Beispiele zeigen die unverzichtbare Bedeutung der Werte für die Organisation. Die römischen Werte etwa lauteten: Treue, Tapferkeit und Pflichtgefühl (fides, virtus, pietas), was angesichts der militärischen Eroberungsidentität nicht verwundert. Die christlichen Werte der römisch-katholischen Kirche sind spiritueller und ethischer Natur und in den zehn Geboten und der Bergpredigt (Liebe zu Gott, Nächstenliebe) aufgeschrieben. Die Werte von Walt Disney sind nicht veröffentlicht, könnten aber mit Blick auf das Portfolio sein: unschuldig, berührend, frei. Bei Apple sind diese Werte erfahrbar: erfinderisch, neu, rebellisch.

Vom Lebens- zum Marken-Integrationsprozess Als ich vor rund sechs Jahren das erste Mal den von Wilfried Nelles (Nelles u. Gessner, 2014) entwickelten Lebensintegrationsprozess (LIP) erlebte, war ich wie elektrisiert, weil ich – noch unscharf – ahnte, dass dieses Format auf einen Marken-Integrationsprozess übertragbar sei und neue Möglichkeiten der Selbst- bzw. Identitäts-Bewusstwerdung von Organisationen erlaube. Auch wenn das LIP Konzept der Bewusstseinsphasen von Wilfried Nelles einen ganz anderen Inhalt als meine Überlegungen zur Autopoiese der Systemmarkierung hat, so wusste ich

Abbildung 3: Marken-Integrationsprozess ­Version 1

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zugleich, dass es strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Individuum und sozialem Konstrukt gab. Marken-Integrationsprozess Version 1 In den Anfängen experimentierte ich mit den vier Positionen Vision, Mission, Werte und Organisation (Organisations-Ego und -Person werden auf einer Position gemeinsam stellvertreten). Analog zum LIP steht dabei (siehe Abb. 3): Ȥ die Vision auf Platz 1 – sie sagt, was sich entfalten will; Ȥ die Mission auf Platz 2 – sie verwirklicht, was sich entfalten will; Ȥ die Werte auf Platz 3 – sie bestimmen die Kernqualität der Organisation; Ȥ die Organisation auf Platz 4 – dem Platz des Betrachters. Dieses erste Format bzw. der Marken-Integrationsprozess Version 1 erlaubte umfassende Einsichten mit einer tiefen spirituellen Dimension, die nicht zuletzt die Erkenntnisse der Gestalttheorie in Bezug auf das autopoietische Wesen der Gestalt bestätigte. Denken Sie auch hier noch mal an das Beispiel der Melodie. Ich habe mit dieser ersten Version des Marken-Integrationsprozesses sowohl in Organisationen als auch mit allein arbeitenden Freiberuflern gearbeitet. Bei Freiberuflern sind zwar der Unternehmer bzw. der Freiberufler und seine Organisation ein und derselbe Mensch. Tatsächlich aber sollte der Mensch erstens nicht mit seiner Funktion und Rolle als Unternehmer/Freiberufler und zweitens eben auch nicht mit seiner Identität als Organisation verwechselt werden. Hier ist es hilfreich, hinter die Organisation (hinter den Freiberufler) einen zweiten Stellvertreter für den Menschen zu stellen, damit der Klient den Unterschied zwischen sich als Funktionsträger, bzw. sich als Organisation und als Mensch differenzierter wahrnehmen kann (siehe Abb. 4). Wie beim LIP sind die Positionen festgelegt, und die Stellvertreter dürfen ihre Bewegungen nur am Platz ausführen. Ebenfalls wie beim LIP begegnet die

Abbildung 4: Marken-­Integrationsprozess ­Version 1 und Ergänzung

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Organisation dann ihren Aspekten nacheinander, in der Reihenfolge der nummerierten Positionen. Sie wird sich erst ihrer Mission zuwenden, nachdem sie ihre Vision integriert hat. Und sie wird sich erst ihren Werten zuwenden, wenn sie ihre Mission integriert hat. Marken-Integrationsprozess Version 2 Als ich den Marken-Integrationsprozess in meinem eigenen Familienunternehmen (welthölzer Gebäcke und Schokolade) anwendete, bekam ich umfassende und wertvolle Informationen über den Markenkern. Aber angesichts der Notwendigkeit, Entscheidungen für die nötige Weiterentwicklung zu treffen, merkte ich, dass mir etwas fehlte, das mir Hinweise diesbezüglich geben würde. Außerdem bot der LIP ja noch zwei weitere Positionen – Position 5 und 6, auf denen im LIP der Erwachsene im Alter von 55 bis 60 bzw. im Alter von 65 bis 85 (oder älter) steht. Ich besann mich auf die zentrale Frage, die bei meinen Markenberatungen immer wieder eine Rolle spielt: Wie gelingt die Weiterentwicklung der Organisation, ohne sie als Marke zu verwässern oder gar unkenntlich zu machen? Anders ausgedrückt: Wie kann man anders handeln, ohne ein anderer zu werden? Im Kontext dieser Frage habe ich den Marken-Integrationsprozess schließlich um zwei Positionen erweitert, die eine zentrale Rolle bei der polaren Struktur von Organisationssystemen spielen. Bevor ich die beiden Positionen 5 und 6 benenne, hole ich hier noch einmal aus und beschreibe den Aspekt der systemischen Polarität, die für diese Positionen von Bedeutung ist. Systeme, so sagt die Systemtheorie, haben zwei Grundfunktionen: Selbsterhalt und Weiterentwicklung. Ist eine Organisation einmal entstanden, geht es im Kern also andauernd um die Frage: »Was müssen wir tun, um uns selbst zu erhalten, und was, um uns weiterzuentwickeln?« Die Frage bringt beinahe jede Organisation in einen Dauerkonflikt, der verkürzt mit: »Weiter so oder anders weiter?«, beschrieben werden könnte. Ich habe oben die Selbstbezüglichkeit von Systemen erläutert, die dazu führt, dass sie sich in ihren Entscheidungen in der Regel auf Vergangenes beziehen. Das klingt dann in der Regel so: »Das haben wir hier immer so gemacht.« Dieses »so machen« führt dazu, dass die Organisation sich selbst entlang ihrer Handlungen identifiziert: »Ich bin so, weil ich es so tue. Und ich habe mich bis hier und heute erhalten können, weil ich es so getan habe – warum also sollte ich es anders tun?« Die Gedankenkette folgt einer verständlichen Wenn-dann-Logik des Organisations-»Egos«. Will sich die Organisation aber nun weiterentwickeln – und das muss sie als offenes System – dann muss sie jetzt die Dinge anders als bisher tun. Wie aber soll die Organisation dieselbe bleiben, die sie ist (weil sie

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so gehandelt hat, wie sie gehandelt hat), wenn sie gezwungen wird, anders zu handeln und mögliche Unsicherheiten in Kauf zu nehmen, um einen nächsten Entwicklungsschritt zu gehen? Was hier vielleicht für die eine oder den anderen wie eine theoretische Frage klingen mag, ist tatsächlich ebenso die Kernfrage der Kunst der Organisationsentwicklung wie der erfolgreichen Markenführung. Zumal Selbsterhalt und Weiterentwicklung als systemische Polarität verstanden werden müssen, die keinesfalls in Widerspruch zueinander stehen, sondern in ein immer neu zu justierendes Gleichgewicht – die Systemtheorie spricht hier von Fließgleichgewicht – gebracht werden müssen. Da ist die Organisation wieder dem Individuum strukturell ähnlich oder sogar gleich. Wenn zu uns Klienten kommen, dann häufig mit dem Anliegen, dass sich etwas ändern solle – allerdings unter der Maßgabe, dass sie nicht anders handeln müssen. Was den Kollegen vielleicht als therapeutisches Paradox bekannt ist, nennt sich auch: »Wasch mich, aber mach mir den Pelz nicht nass.« Es ändert sich sowieso, ob wir wollen oder nicht – und ein immer gleiches Verhalten kann dann hinderlich werden. Was jedoch bei uns Menschen einem fließenden Prozess der kontinuierlichen Veränderung und Weiterentwicklung gleicht (auch wenn es spürbare Sprünge gibt), das muss in einer Organisation bewusst und willentlich gestaltet werden. Der deutsche Organisationspsychologe Peter Kruse (1955–2015) hat darauf hingewiesen, dass die Entwicklung in Organisationen nicht fließend, sondern in immer abwechselnden Phasen von Stabilität (weiter so) und Instabilität (anders weiter) vollzogen – unternehmensdeutsch: gemanagt – werden müsse (2008). Blickt man vor diesem Hintergrund nochmals auf die organisationale Notwendigkeit, eine starke Marke mit hoher Wiedererkennbarkeit und einer sicheren Vertrauenswürdigkeit entwickeln, führen und weiterentwickeln zu müssen, wird angesichts einer bestehenden Markierung deutlich, wie wesentlich die Frage ist, woran sich die Organisation bei ihrem steten, stufenweisen Wandel orientieren soll. Die Antwort heißt: am Markenkern. Entscheidend ist dabei der Unterschied zwischen der Substanz im Markenkern (die unveränderlich ist) und der Selbstorganisation der Systemelemente sowie der resonanten Kommunikation mit dem Umfeld der Organisation (die sich ständig weiterentwickeln und dabei an der Unveränderlichkeit des Markenkerns mit Vision, Mission und Werten orientieren sollen). So habe ich den Marken-Integrationsprozess in der zweiten Version um die Positionen 5 = Selbsterhalt und 6 = Weiterentwicklung erweitert und dadurch eine Verbindung aus Sein (Vision, Mission, Werte) und Tun (Selbsterhalt und Weiterentwicklung) hergestellt (siehe Abb. 5).

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Abbildung 5: Marken-­ Integrationsprozess ­Version 2

Meine Erfahrungen mit diesem Format haben gezeigt, dass mehr »MarkenSelbst«-Erkenntnisse mit Blick auf den zu gestaltenden Praxisalltag der erfolgreichen Markenentwicklung und -führung ermöglicht werden. Diese finden nicht im Markenkern, sondern vielmehr in den Resonanzräumen von Organisation und Organisationselementen sowie Markt und Umfeld statt, so dass sich aus Markenkern und organisationsinterner und wirtschaftssozialer Interaktion die Marken-»Persönlichkeit« herausbildet. Der Marken-Integrationsprozess fokussiert dabei ausschließlich auf den unveränderlichen Kern der Marke. Die Betrachtung der Resonanzräume erfordert ein anderes Markenformat. Bis heute habe ich den Prozess in verschiedenen Unternehmen einsetzen dürfen. Unter ihnen war z. B. ein großes Softwarehaus, das durch eine inkonsistente Expansionsstrategie in eine Schräglage geraten war und mit Blick auf das Problem nach den adäquaten Maßnahmen auf die Frage nach der eigenen Marke gestoßen war. Unter ihnen war auch die Tochter eines japanischen Konzerns, bei der die Frage nach der Integration der Kernwerte des Mutterunternehmens in einem europäischen Umfeld aufkam. Ein anderes Beispiel war ein Zulieferunternehmer der Maschinenbauindustrie, dessen Portfolio im Lauf der Jahre derart umfassend geworden war, dass im Kontext der Entwicklung eines neuen Erscheinungsbilds die Frage aufkam, wer das Unternehmen eigentlich sei – oder auch eine Sozietät, die im Kontext der Konzentration im Rechtsmarkt nach möglicher Expansion suchte und dafür ein Verständnis über die

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eigene Marke benötigte. Grundlegend kann ich sagen, dass sich der Prozess immer ebenso im Kontext von Neuentwicklung oder Redesign (Modernisierung) eines Erscheinungsbilds wie auch bei strategischen Fragen zu Fusionen, Übernahmen, Expansionen und Konzentrationen oder auch bei Portfoliostrategien eignet. Da ich der Verschwiegenheit unterliege, kann ich hier keine Aufstellungsverläufe abbilden, möchte aber einige zentrale und wiederkehrende Erkenntnisse aus der Praxis ergänzen: Ȥ Organisationen sind sich selten ihrer Vision, Mission und Werte bewusst. Da, wo sie diese kennen, orientieren sie sich im alltäglichen Geschehen eher wenig daran. Das schwächt die Vision und in der Regel dann auch die Performance. Ȥ Die Vision erscheint häufig wie das »schlagende Herz« der Organisation, und sie hat nicht selten eine beinahe feinstoffliche Qualität in ihrer Erscheinung. Ȥ Die Mission zeigt immer wieder den Charakter eines treuen Dieners – wenn sie sich an der Vision orientiert. Tut sie das nicht, tendiert sie zu Aktionismus und Stress. In diesem Kontext habe ich Kampf, Orientierungslosigkeit und auch Erschöpfung auf dieser Position gesehen. Ȥ Die Werte haben einen hohen Stellenwert und erscheinen selten mit einer persönlichen, vielmehr in der Regel mit einer übergeordneten, unpersönlichen Qualität. Ȥ Selbsterhalt und Weiterentwicklung sind – oft zu Ungunsten der Weiterentwicklung und weniger oft zu Ungunsten des Selbsterhalts – selten in einem Gleichgewicht und noch viel seltener in Kontakt miteinander. Wenn sie beginnen, sich mehr miteinander zu befassen und aufeinander zu beziehen, stärken sie auch die anderen Positionen im Kreis. Bisweilen nehmen sie die anderen Positionen überhaupt erst wahr, nachdem sie sich miteinander ausbalanciert haben. So, wie ich es hier beschrieben habe, reihen sich hinter dem scheinbar so einfachen Strukturformat die komplexen Erkenntnisse der großen Metatheorien ebenso wie zahlreiche praktische Erfahrungen aus dem Organisationsalltag. Was ich hier für die Organisationsmarke entwickelt habe, kann auch auf Angebotsmarken (Produkte, Dienstleistungen) übertragen werden. Zwar sind sie in der Regel keine offenen Systeme, funktionieren aber als Tauschmittel der Organisation nach deren Prinzipien. Insgesamt: Für die Praxis bietet der Marken-Integrationsprozess umfassende Erkenntnisse, die für den »Einzelkämpfer« ebenso wertvoll sein können wie für einen Konzern.

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Literatur Ashby, W R. (1947). Principles of the Self-Organizing Dynamic System. Journal of General Psychology, 37, 125–128. Bertalanffy, K. L. v. (1969). General System Theory. Foundations, Development, Applications. New York: Braziller. Ehrenfels, C., Freiherr v. (1890). Über Gestaltqualitäten. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 14, 249–292. Kauffmann, S. (1993). The Origins of Order. Self-Organization and Selection in Evolution. Oxford: Oxford University Press. Kruse, P. (2008). Change Management. Zugriff am 21.01.2020 unter https://www.youtube.com/ watch?v=FLFyoT7SJFs Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Maturana, H., Varela, F. (1984). Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens. Bern u. a.: Scherz. Nelles, W., Gessner, T. (2014). Die Sehnsucht des Lebens nach sich selbst. Der Lebens-Integrations-Prozess in der Praxis. Köln: Innenwelt Verlag. Stangl, W. (2020). Gestaltqualität. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik. Zugriff am 21.01.2020 unter https://lexikon.stangl.eu/19940/gestaltqualitaet/

Bildquellenverzeichnis Wikimedia Commons (2019). Kanaldeckel 2019. S.P.Q.R. Signet auf einem römischen Kanal­ deckel: Selbst fotografiert, CC BY-SA 3.0. Zugriff am 26.06.2020 unter https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=40641976 Alle anderen Graphiken: © Stephanie Hartung

Romy Gerhard

Radikale Innovation mit Purpose Constellations Ein Bericht aus der Unternehmenspraxis

Shanghai, 2. November 2018 – nie zuvor spürte ich als Repräsentantin eine derart intensive Kraft. Meine Ausdehnung reichte weit über die Veranstaltungshalle hinaus. Ich empfand eine unglaubliche Ruhe in mir und gleichzeitig eine Energie, die stärker war als alles andere im Feld. In dieser Rolle war ich pures Sein, ohne etwas zu tun – verbunden mit Himmel und Erde. Ich bewegte mich keinen Millimeter und wusste, dass alle anderen auf der Bühne sich an mir ausrichten würden. Frederic Laloux, der Autor von Reinventing Organizations (2014, 2016), stand zwei Armlängen von mir entfernt und drehte sich zu mir um. Er repräsentierte »die gewünschte Zukunft« Chinas. Ebenso richteten sich »die aktuelle Situation« des Landes, »die Ressourcen« und »die Grenzen« an mir aus – Letztere irrwitziger Weise durch einen echten chinesischen Kameramann mit laufender Kamera vertreten. Da stand ich also vor 500 Organisations- und Leadership-Experten – als Stellvertreterin für »den Purpose« dieses 5.000-jährigen Landes.

Die diesem Beitrag vorangestellte, unverhoffte Aufstellung beim »The Second China Organizational Evolution Forum« war keineswegs so geplant gewesen und wurde zu einem unverhofften Schlüsselerlebnis für mich. Blitzartig wusste ich, dass dieses Erlebnis viel mit meinem persönlichen Purpose zu tun hatte und meine berufliche Ausrichtung von diesem Moment an maßgeblich beeinflussen würde. Ich war auf Einladung nach China gereist, um Business Constellations in mehreren Workshops vorzustellen. Business Constellations sind dynamische Analyse- und Simulationsverfahren, welche speziell für anspruchsvolle Unternehmenskunden entwickelt wurden. Es handelt sich dabei um agile Werkzeuge für die innovative Unternehmenspraxis. Aufsteller klassieren Business Constellations als Sonderform von Organisationsaufstellungen. Top-Führungskräfte aus Konzernen, managementgeführten Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen verantworten ihre Tätigkeiten gegenüber Auf-

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sichtsgremien, Inhabervertretern und der Öffentlichkeit. Riskante Entscheidungen oder Methoden würden sie angreifbar machen. Deshalb brauchen sie beim Einsatz von wenig verbreiteten oder gar umstrittenen Managementmethoden mehr Sicherheit als Verantwortliche aus kleineren oder mittelgroßen Unternehmen, die weniger rechenschaftspflichtig sind. Diese spezifische Kundengruppe verlangt also eine größtmögliche Sicherheit bei der Anwendung von mächtigen Management-Werkzeugen. Business Constellations achten und schaffen genau diesen sicheren Raum und gewähren dieser Kundengruppe eine hohe Qualität. Mehr dazu später. Zurück zu Frederic Laloux: Rund ein halbes Jahr vor dem China-Erlebnis hatte ich ihn in Amerika besucht. Wir vertieften die Möglichkeiten, dem »evolutionären Sinn«, der im Management schlicht »Purpose« genannt wird, durch systemische Aufstellungen zuzuhören und ihn zu erleben. Mit »Purpose« ist der tiefere Sinn und Zweck, der Kern oder auch der Daseinsgrund von Organisationen gemeint. Wir beide verstehen Organisationen als lebende Organismen, als eigenständige Wesen, die über eine eigene Energie verfügen und ihrer individuellen Bestimmung folgen. Auch gehen wir beide davon aus, dass jedes Unternehmen ab dem Zeitpunkt seiner Gründung über eine solche unsichtbare Dimension verfügt. Seit fast zwanzig Jahren experimentiere ich damit, diese unsichtbare Dimension von Organisationen mit systemischen Aufstellungen zu erkunden. Friedrich Glasl, bei dem ich eine Mediationsausbildung absolvierte, machte mich ab 2004 mit den sieben Wesenselementen von Organisationen vertraut. Fasziniert erforsche ich diese »Wesen« seither auf meine Weise. Ich unterscheide dabei Körper, Seele und Geist von Unternehmen, wie Abbildung 1 zeigt (Gerhard, 2014) – mit verblüffenden Resultaten. »Geist«, also die unsichtbare Dimension, oder auch Purpose, zeigt sich bei solchen Simulationen regelmäßig als Drehund Angelpunkt für lebende Systeme. Frederic Laloux vergleicht die Gründung einer Firma mit dem Schaffen von Künstlern. Es gehe darum, eine Idee in die Welt zu bringen, bevor sie wieder weg sei. So kämen Lieder, Gedichte und Romane zu Künstlern – und Geschäftsideen zu Unternehmern. Evolutionärer Sinn könne keine Erfindung von Menschen sein, »Ideen bestehen außerhalb von uns und suchen sich uns aus«, erklärte er anlässlich der Konferenz »WE DISCOVER PURPOSE« (2019). Diese Denkweise ist radikal (also von der Wurzel her) anders als die bisherigen Organisationslehren. Es geht nicht darum, Unternehmen aus unserer Perspektive bestmöglich zu gestalten – verbunden mit unseren Vorstellungen, unseren Ansprüchen und unseren Zielen, die wir Organisationen überstülpen. Vielmehr

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Abbildung 1: ­Körper, Seele und Geist von Organisationen

geht es darum, uns auf diese ureigene Perspektive einer Organisation einzulassen. Das Hinschauen, Zuhören, Spüren und Erleben aus dieser ungewohnten Sicht trainiert unsere Achtsamkeit auf fünf unterschiedlichen Ebenen (körperlich/sinnlich, emotional, mental, intuitiv, geistig, s. Abb. 2). Eine viel umfassendere Wahrnehmung wird möglich, fördert unser Bewusstsein und schafft die Grundlage für sinnvollere, ganzheitlichere und nachhaltigere Entscheidungen. Auf diese Weise entdecken wir möglicherweise unsere Welt der Arbeit ganz neu.

Abbildung 2: Die fünf Wahrnehmungsebenen

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Frederic Laloux (2019, 1. Link) begrüßt es, dem Purpose mittels Aufstellungen zuzuhören und ihn zu verstehen. Er sagt, dass dies etwas vom Spannendsten sei, was man heute in Organisationen tun könne. Solche Aufstellungen nennen wir »Purpose Constellations«. Sie bringen die Kernthemen in den Fokus und zeigen klar und deutlich auf, worum es beim jeweiligen System gerade geht. Das kann bedeuten, dass fehlende Verbindungen deutlich werden, dass längst vergangen geglaubte Themen wieder auftauchen, dass sich Kurskorrekturen aufdrängen und natürlich genauso, dass Potenziale sichtbar werden und erweiterte Perspektiven neue Entwicklungsrichtungen aufzeigen. Üblicherweise führen solch umgekehrte Betrachtungen (nicht was wir wollen, sondern was die Bestimmung des Unternehmens ist) aus Blockaden raus und machen den Weg für mehr Flow und Lebendigkeit in Organisationen frei. Zu Beginn braucht es vielleicht etwas Mut. Es kommt nämlich vor, dass sich Bilder zeigen, welche Auftraggeber erst einmal als unangenehm empfinden. Sei es, weil sie Dinge in ihrer Wahrnehmung anders sehen, oder sei es, weil sie sie in ihrer Wunschvorstellung gerne anders hätten. Das gilt es erst einmal auszuhalten. Dabei ist es wichtig, dass der Aufstellungsleiter den Raum gut zu halten vermag. Das bedeutet, dass er einen sicheren Rahmen schafft, der es dem Kunden erlaubt, sich alles genau so anzuschauen, wie es sich zeigt. Es kann betrüben, wenn große Ziele sich als suboptimal für die Organisation erweisen oder wenn eine vermeintlich akzeptable Situation doch größere Schwierigkeiten anzeigt, als zu erwarten gewesen wäre. Aber gerade in solchen Momenten lohnt es sich, wirklich auf die Bilder und Aussagen von Purpose Constellations zu achten. Eine der Stärken von Purpose Constellations ist, dass sie das in einem System aktuell angelegte Potenzial sehr gut wiederzugeben vermögen. Erfahrungsgemäß zeigt sich dieses nicht immer als riesengroß – was dann jeweils Gründe und Ursachen hat. Interessant ist, dass Potenziale sich im Laufe eines Prozesses durchaus größer zeigen können – je nachdem, welche Blockaden und Ursachen für Störungen erkannt und ausgeglichen werden konnten. Mit Purpose Constellations lassen sich also Spannungen, Konflikte, Druck und Stress mitsamt ihren Ursachen erkennen – und Purpose Constellations zeigen ebenso auf, wie Zusammenarbeit in Organisationen deutlich leichter, schneller, freudvoller und mit Mehrwert gelingt. Purpose kann somit als Wegweiser für Innovation dienen, um die natürliche Entwicklung von Organisationen auf direktem Weg zu ermöglichen. »Ohne Trial and Error«, wie Frederic Laloux (2019, 2. Link) sagt, »mit mehr Flow und Leichtigkeit«. Aber schauen wir etwas genauer hin.

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Was bedeutet »Purpose« oder »evolutionärer Sinn«? Heute ist es modern, dass Firmen einen sogenannten »Purpose« beschreiben oder sogar von Marketingprofis beschreiben lassen. Dieser englische Begriff ist inzwischen im deutschsprachigen Managementvokabular fest verankert und die deutschen Begriffe »Sinn« oder »Zweck« vermögen ihn nicht hinreichend wiederzugeben. Homepages und Hochglanzbroschüren bilden ab, was Mitarbeitende motivieren, Kunden zum Kaufen bewegen oder das Image aufbessern soll. Oft wird unter »Purpose« auch beschrieben, was die Firma tut und welche Marktstellung sie erreichen will. Um all dies geht es aber nicht wirklich! Purpose ist weder mit einer Vision noch mit einem Mission Statement zu verwechseln. Purpose muss ebenso wenig in einen einzigen Satz gefasst werden, um spürbar zu sein – er ist jener Teil des Unternehmens, welcher zwar mit bloßem Auge nicht sichtbar ist, aber die Kraftquelle einer Organisation darstellt. Egal, ob wir diesen Teil nun evolutionären Sinn, höheres Selbst, Stimme von (Firma XY) oder eben Purpose nennen, es geht um das geistige oder energetische Abbild einer Organisation. In weit über hundert Purpose Constellations konnte ich bisher erkennen, dass die Stellvertreter für diese unsichtbaren Elemente meist sehr bedeutende Plätze einnehmen in ihrem System. Sie können oft aussagekräftig Auskunft darüber geben, was gut und nützlich ist für ihre Organisation, wo es klemmt und welche Chancen es für Entwicklung gibt. Sie scheinen über eine besondere Art von Energie und ein höheres Bewusstsein zu verfügen, welches sich von denen anderer repräsentierter Elemente unterscheidet. Hier laufen meine Forschungen weiter, denn darüber wissen wir noch viel zu wenig. Purpose, wie Frederic Laloux ihn beschreibt und wie er sich in Purpose Constellations zeigt, dient somit als »Leitstern« oder »Kompass«, an und mit welchem sich die Verantwortlichen und die Mitarbeitenden einer Organisation orientieren können und sollten.

Vertrauen als Basis Purpose Constellations basieren auf dem Vertrauen in die Weisheit des größeren Ganzen und dem natürlichen Fluss von Energie. Es geht darum, sich möglichst vorbehaltlos und absichtslos einzulassen. Das bedeutet, dass jeder Facilitator sich in den Dienst des großen Ganzen stellt, höchste Achtsamkeit pflegt und sein Ego sowie seinen Gestaltungswillen so weit wie möglich zurücknimmt. Im Zentrum stehen der natürliche Energiefluss, das Entdecken und Erkennen von dem, was in dem Organisationssystem tatsächlich angelegt ist, und das Vertrauen dar-

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auf, dass sich das zu zeigen vermag, was im Moment gerade wesentlich ist. Auf künstliche Steuerung oder Beeinflussung von außen wird möglichst verzichtet. Der Purpose – das unsichtbare Wesen der Organisation – ist der Leitstern. Die Aufgabe des Facilitators ist es, dem Energiefluss zu folgen. Wird mit Repräsentanten gearbeitet, finden diese in der Regel selber den passenden Platz, sowohl in offenen wie auch in verdeckten Constellations. Auftraggeber und Facilitator nehmen eine Haltung des Entdeckens, Erkundens und Erkennens ein. Anders als bei Lösungsaufstellungen fokussieren wir bei Purpose Constellations weder auf Probleme, die verschwinden sollen, noch auf Ziele, die es zu erreichen gilt. Diese sind meist eine natürliche Folge, wenn die Dynamiken in Organisationen erkannt und verstanden werden und das Bewusstsein über wichtige Gegebenheiten und Zusammenhänge wächst. Anders als bei wissenschaftlichen Erkundungsaufstellungen (Müller-Christ u. Piejetlovic, 2019) werden keine fixen Annahmen getroffen oder Laborsituationen geschaffen. So bekommen Elemente keine zugewiesenen Plätze (z. B. fixes Spannungsfeld), einschränkende Rollen (z. B. Element »nur« mit Beobachterfunktion), respektive Sonderbewilligungen (z. B. freies Element). Sie bewegen sich stets im natürlichen Miteinander mit den weiteren relevanten Elementen des Systems. Welche und wie viele Stellvertreter eingesetzt werden, hängt von der Situation und Fragestellung ab. Es empfiehlt sich, mit möglichst wenigen Elementen zu starten – wobei es trotzdem vorkommen kann, dass zehn oder mehr Stellvertreter von Anfang an sinnvoll und nötig sind, um komplexe Systeme darzustellen. Generell ist bei Purpose Constellations das Vertrauen darauf groß, dass fehlende Elemente sichtbar werden, deshalb bleibt die Auswahl der Elemente meist in überschaubarem Rahmen.

Welche Formate gibt es? Die Elemente (z. B. Purpose, CEO, Mitarbeitende, Dienstleistungen, Kunden, etc.) können frei nach Bedarf ausgewählt werden. Einige hilfreiche Grundformate seien hier dennoch erwähnt. Sie können natürlich nach Belieben ergänzt und erweitert werden. Das Wesen von Organisationen – Körper, Seele und Geist Das folgende Schema eignet sich sehr gut für eine Kurzanalyse der Gesamtorganisation. Es wird untersucht, wie die wesentlichen Elemente des Systems

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zueinander stehen. Jede Ebene wird durch einen oder mehrere Stellvertreter dargestellt, weitere Elemente kommen je nach Fragestellung dazu: Ȥ Geistige Ebene: Purpose (Geist, Sinn, Daseinsgrund, Kern, Stimme von Firma …). Ȥ Seelische Ebene: Verwaltungsrat, CEO, Führungspersonen, Mitarbeiter, etc. Ȥ Körperliche Ebene: Dienstleistungen, Produkte, Finanzen, Gebäude, etc. Ȥ Weitere Elemente: Vision, Strategie, Struktur, Prozesse, Kultur, Kunden, Lieferanten, etc. Entscheidend ist, ob und wie die Verantwortlichen der Organisation mit dem kraftspendenden Purpose verbunden sind und welchen Platz dieser einnimmt. Hält der CEO den Raum für den höheren Sinn und hat er die volle Rückendeckung vom Verwaltungsrat? Dies sind übrigens die Grundvoraussetzungen für erfolgreiche Transformationen von Gesamtunternehmen. Wahrer versus propagierter Purpose Manchmal verhält sich der aufgestellte Purpose nicht so, wie es zu erwarten wäre. Zeigt er sich anmaßend (steigt z. B. auf einen Stuhl), wird er von Systemmitgliedern angefeindet oder bringt auf andere Weise Störung und Spannungen ins System, handelt es sich meist um einen nicht stimmigen bzw. propagierten Purpose, der aus welchen Gründen auch immer von Menschen geschaffen wurde. Dann ist es sehr empfehlenswert, den »wahren Purpose« hinzuzustellen, der seit Anfang an schon zu diesem System gehört. Dies führt in der Regel zu einer sofortigen Beruhigung des Systems, sobald dieser von den entscheidenden Personen wirklich gesehen wird. Die Jury-Constellation Jury-Constellations eignen sich generell, um mögliche Maßnahmen, Produkte, Vorgehensweisen, Bewerber, Varianten, Ideen, Wörter oder andere Elemente aus unterschiedlichen Perspektiven zu »testen«. Dabei bekommt der Purpose der Organisation genauso einen Platz in der Jury wie andere Aspekte auch, z. B. die Mitarbeiter, die Politik, die Bevölkerung – oder ausgewählte Kompetenzen bei einer Stellenbesetzung (z. B. Fachkompetenz, Sozialkompetenz) oder Werte wie Qualität, Design, Preis etc. bei einer Produktanalyse. Die Jury-Mitglieder stellen sich in einer Reihe nebeneinander auf, während die zu testenden Varianten eine nach der anderen vor die Jury treten und von dieser beurteilt werden. Es ergeben sich oft verblüffend präzise Aussagen und es erstaunt immer wie-

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der, wie klar der Purpose meist aussagen kann, was für das Unternehmen passt und was nicht. Varianten von Purpose Purpose ist keine stabile Größe, sondern entwickelt sich im Laufe der Zeit und je nachdem, wie viel Raum er bekommt. Die Organisation in Bezug zu unterschiedlichen Purpose-Varianten zu setzen, kann daher sehr spannend sein und verborgene Potenziale sichtbar machen: Ȥ den Gründungspurpose, Ȥ den aktuell wirkenden Purpose, Ȥ den propagierten Purpose, Ȥ den potenziell möglichen Purpose. Das Spezielle bei allen Formaten von Purpose Constellations ist, dass das »größere Ganze« mit ins Bild genommen wird. Also jenes Element, zu welchem alle anderen Beteiligten einen Beitrag leisten. Je nach Wortwahl des Auftraggebers nennen wir dieses Element Purpose, Sinn, Zweck, Geist, Stimme von (Firma), etc. Meist ist es sogar sinnvoll, über das Projekt, die Abteilung, die Unternehmung oder das, worum es bei einer Constellation vordergründig geht, hinauszugehen. Je nach Kontext spielen manchmal auch die Branche, eine Region, die Gesellschaft, ein Land oder gar die Erde eine wichtige Rolle, wenn es um die Betrachtung dieses größeren Ganzen geht. Wo immer möglich, geben wir also auch dem größeren Kontext eine Stimme, in welchen ein System eingebettet ist und zu welchem es beiträgt.

Wie laufen Purpose Constellations ab? Es gibt zahlreiche Varianten, wie solche Purpose Constellations dargestellt werden können: Ȥ mit Figuren auf einem Systembrett, in der Regel zu zweit, manchmal auch in Teams, Ȥ mit Bodenankern im Raum, entweder zu zweit oder mit wenigen zusätzlichen Stellvertretern, Ȥ mit menschlichen Repräsentanten in einer Gruppe. Hierbei wird unterschieden zwischen: • öffentlichen Veranstaltungen, firmeninternen Veranstaltungen, extern stattfindenden Firmenveranstaltungen mit neutralen Stellvertretern und

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• offenen, ganz oder teilweise verdeckten Darstellungen (Elemente werden offen benannt bis hin zu Stellvertreter, Kunde und manchmal haben auch wir Aufsteller keine Ahnung, worum es geht, respektive wofür sie stehen), Ȥ mit digitalen Tools am Computer – spezielle Anwendungen machen es möglich. Dies entweder zu zweit, in kleineren oder gar in großen Gruppen: • Ideal sind einfache Tools, welche zweidimensional per Videokonferenz eingesetzt werden können (beliebt sind Google Docs, virtuelle Figuraufstellungstools, und diverse andere Instrumente per Zoom, Teams, Skype und über andere Kanäle). • Noch viel mehr Möglichkeiten bieten 3-D-Räume, die mit Avataren betreten werden. Dabei gelingen Constellations mit Repräsentanten ähnlich gut wie physische Aufstellungen. Zudem können Kegel in allen Farben und Formen genutzt werden, genauso wie virtuelle Bodenanker und andere Hilfsmittel. • Es gibt inzwischen bereits Anwendungen, bei denen ein Computer Energiefelder abzubilden und zu harmonisieren vermag. Mittels künstlicher Intelligenz und durch Algorithmen verschiebt so ein Computerprogramm die aufgestellten Elemente selbstständig. Zu den digitalen Aufstellungsmöglichkeiten gibt es einen ausführlichen Artikel, der online verfügbar ist (Gerhard, 2020). Bei Purpose Constellations braucht es keine langen Problemschilderungen oder Zielformulierungen – und schon gar keine Erklärungen. Meist gehen wir nach kurzer Vorbesprechung an die praktische Arbeit. Dargestellt wird zuerst ein Abbild der aktuellen Situation, wobei besonders auf die Verbindungen zwischen den wesentlichen Elementen (z. B. Purpose, Geschäftsleitung, Eigentümer, Kunden) geachtet wird. Sind die impliziten Dynamiken, die Energieflüsse und die Entwicklungstendenzen des Systems erkannt, kann es hilfreich sein, die Constellation in das aus der aktuellen Gegebenheit mögliche Potenzialbild zu versetzen. Eine virtuelle App unterstützt den Zeitsprung. Die Repräsentanten bleiben in ihrer Wahrnehmung stets im Hier und Jetzt, auch wenn mitunter »Sprünge« in andere Zustände möglich sind. Nicht selten zeigen sich im Anfangsbild relativ starre Verhaltensweisen mancher Repräsentanten. Blickt jemand auf den Boden oder in die Leere, lohnt es sich wie in anderen Aufstellungsformaten auch, zu erkunden, was der Grund dafür ist. Bleibt dies nämlich unerkannt, schmälert es automatisch den Möglichkeitsradius und den Energielevel im Potenzialbild – und natürlich in der erlebten Wirklichkeit.

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Bei Purpose Constellations darf jedes System sich so zeigen, wie es ist, mit allem, was dazu gehört, und allem, was geschehen ist. Es kommt vor, dass gerade der Purpose interessante Dinge zu berichten weiß, hier ein Beispiel aus der Praxis: Einmal zeigte sein Stellvertreter in einer verdeckten Aufstellung direkt auf den Repräsentanten des CEO und sagte: »Du hast betrogen!« Der anwesende Verwaltungsratspräsident, mein Auftraggeber, bestätigte, dass dies wohl stimme. Er hätte nie gedacht, dass diese alte Geschichte ein wichtiger Grund dafür war, dass die Unternehmenskultur buchstäblich am Boden war – in der Constellation hatte sie sich hingesetzt.

Es kann vorkommen, dass eine aktuelle Herausforderung sich in ihrer Dynamik in den vergangenen 15 Jahren bereits dreimal wiederholt hat – schaut man dann genauer hin, erkennt man plötzlich, dass bei der Gründung etwas schief gelaufen ist, dass der Grund mit dem Ausscheiden eines Gesellschafters zusammenhängt oder dass eine Übernahme oder ein Verkauf eine Rolle gespielt haben. Der Auswertung kommt keine besondere Bedeutung zu, denn diese würde primär die Verstandesebene nähren, welche oft überbewertet wird. Mit Interpretationen gehen wir vorsichtig um – lieber stellen wir öfter auf und registrieren Entwicklungen über alle Wahrnehmungsebenen. Was zählt, sind die gemeinsam erlebten Bilder, die vor allem die intuitive Ebene aller Beteiligten aktivieren und die Sensitivität für die geistige Ebene erhöhen. Dies macht es leichter, auch im Alltag auf die Zeichen zu achten, die jedes System permanent sendet. Voraussetzung – ein sicherer Raum Business-Kunden sind mehr als andere Zielgruppen auf spezielle Sicherheiten angewiesen. Sie müssen sich meist in alle Richtungen rechtfertigen. Von ihnen wird erwartet, dass sie die Dinge steuern und im Griff haben. Für sie sind die Facilitatoren von Constellations die Haupteinflussgrößen. Daher erwarten sie von diesen höchste Qualität, Achtsamkeit und ein Verhalten, das klaren Rahmenbedingungen unterliegt und kontrolliert werden kann. Bei Purpose Constellations geben wir deshalb eine »Qualitätsgarantie«, welche durch überprüfbare Haltungen und Prinzipien gewährleistet wird. Letztere beugen allfälligen Befürchtungen von Auftraggebern vor (die in der folgenden Aufzählungsliste in Begriffe gefasst und in Anführungszeichen gesetzt sind). Business-Kunden sollen sich sicher und wohl fühlen, weil Aufsteller und Facilitatoren:

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1. das anerkennen, was ist und was sich zeigt (Achtsamkeit statt »Interpretationen«), 2. ihre Sprache verstehen und sprechen (Anschlussfähigkeit statt »Ahnungs­ losigkeit« in dem Geschäftsfeld), 3. das Professionelle in den Vordergrund stellen (Organisationsorientierung statt »Therapieorientierung«), 4. sich vom Feld führen lassen und den Raum halten (Präsenz statt »Manipulation«), 5. dicht am Anliegen und Auftrag bleiben (Klarheit statt »Abschweifen«), 6. persönliche und systemische Grenzen beachten (Respekt statt »Übergriffigkeit«), 7. sich in den Dienst des größeren Ganzen stellen (Demut statt »Anmaßung«).

Beispiele aus der Praxis Als Organisationsberaterin begleite ich Prozesse gern bis zur Erreichung der gewünschten Entwicklungsziele. Das dauert meist mehrere Monate und bei großen Vorhaben sogar mehrere Jahre. Wenn so etwa alle sechs bis acht Wochen die jeweils aktuellen Themen mit Constellations visualisiert werden, kommt es durchaus zu einer gewissen Aufstellungsroutine. Mit etwa vier bis fünf regulären und bis zu acht kleineren Constellations pro Tag kann es auf diese Weise durchaus zu einer größeren Anzahl an Constellations pro Organisation kommen. Die zwei hier aufgeführten Beispiele sollen einen kleinen Einblick zu praktischen Purpose-Constellations vermitteln und aufzeigen, welch breite Palette an Erkenntnissen möglich ist. Im ersten Beispiel geht es um einen Hotelneubau von »Schenna Resort« in Schenna: Sieben Jahre lang plante die Hoteliersfamilie von »Schenna Resort« ihren Hotelneubau, der einfach nicht gelingen wollte und sich von Jahr zu Jahr verzögerte. Bereits in den ersten Simulationen zeigten sich die Gründe ganz klar und die Familie beschloss, nochmals ganz von vorne zu beginnen, mit einem neuen Team und einer neuen Planung. Nur ein halbes Jahr später lagen alle Pläne, Bewilligungen und die Bankfinanzierung vor und ein weiteres halbes Jahr sowie insgesamt fünfzig Business Constellations später konnte das neue Hotel eröffnet werden. Es lohnte sich auch finanziell, auf den Purpose zu hören: Die Einsparung gegenüber dem ursprünglichen Planprojekt betrug mehrere Millionen Euro, obwohl das tatsächlich realisierte Projekt sogar mehr Zimmer hat. Als es darum ging, die passende Baufirma für dieses 15-Millionen-Projekt aus-

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zuwählen, kam eine Art von Jury-Constellation zur Anwendung. Die wichtigsten Elemente, die durch menschliche Repräsentanten dargestellt wurden, waren die Stimme des Hotelbetriebs (also das geistige Abbild des Unternehmens oder auch der Purpose) und die Betreiberfamilie. Diese standen nebeneinander und ihnen gegenüber traten der Reihe nach die Stellvertreter für die einzelnen Baufirmen auf, welche allesamt verdeckt dargestellt wurden – also ohne das Wissen der Stellvertreter, wen sie repräsentierten. Seitlich daneben stand (offen benannt, also nicht verdeckt) der Rest der Jury, nämlich die wichtigen Faktoren, auf welche es bei diesem Bau ankam: – der Faktor Kosten, – der Faktor Zeit, – der Faktor Qualität, – der Faktor Zusammenarbeit. Die einzelnen Baufirmen traten unterschiedlich auf – von sehr selbstbewusst bis unsicher, von Raum einnehmend bis eher distanziert – und die Jurymitglieder äußerten sich individuell zu ihrer Wahrnehmung. Die Aussagen der Stellvertreter deckten sich gut mit den Wahrnehmungen der Hoteliersfamilie, stimmten bezüglich Preis mit den bereits eingegangenen schriftlichen Offerten überein, und halfen so den Auftraggebern bei der Entscheidungsfindung. Der Purpose (oder eben die Sichtweise des Hotelbetriebs) wurde manchmal auch bei scheinbar »einfachen« Anliegen befragt – so etwa bei der Frage, wie die beiden Seminarräume heißen sollten. Eine stattliche Anzahl an Wortpaaren wurde von der Hoteliersfamilie beigesteuert, weitere Ideen brachten die teilnehmenden Repräsentanten ein. Diese Ideen (z. B. »Berg und Tal«, oder »Kristall und Quarzit«) begegneten nun dem »Schenna Resort« (also dem Hotel), der Hoteliersfamilie, den Seminarräumen und den Kunden. Von all den vielen Wortpaaren gab es nur gerade ein einziges, das allen Repräsentanten hervorragend gefiel: Luis und Rosa, die Eltern und Gründer von Schenna Resort. Sehr ähnlich verhielt es sich mit dem Claim, den wir aus sich selbst heraus entstehen ließen. Die beteiligten Stellvertreter, welche die Aufgabe hatten, das Wesen des Hotels als Claim darzustellen, äußerten sich mit sehr viel Helligkeit und lebendigem Sprudeln. Die beobachtenden Teilnehmer formulierten ihre Wahrnehmungen in 16 möglichen Claim-Varianten. Diese wurden einzeln durchgetestet und es gab nur eine einzige Version, die schließlich alle überzeugte: »Quelle des Lichts«. Wenn man bedenkt, dass Schenna mehr als 300 Sonnentage im Jahr zählt, passt das schon ganz gut – und natürlich ist die Bedeutung eine noch viel tiefere.

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Das zweite Beispiel betrifft eine Südtiroler Volksbank in Bozen: Die Geschäftsleitung einer Südtiroler Volksbank in Bozen sowie mehrere Projektteams dieser Bank mit rund 1.300 Mitarbeitenden nutzten Constellations, um mehr Klarheit zu gewinnen. Zu Beginn ging es vor allem um die Begleitung des Übernahmeprozesses einer anderen Bank, deren Wesen es zuerst zu verstehen galt. Es wurden also die beiden Banken und deren relevanten Hierarchieebenen parallel nebeneinander bis hin zum Kundenberater mitsamt den jeweiligen Kunden dargestellt. Schnell zeigten sich Ähnlichkeiten und Unterschiede, Empfindlichkeiten und Stärken. Der CEO fand Bestätigung darin, dass die beiden Banken vom Wesen her sehr gut zueinander passten und viele Gemeinsamkeiten hatten, und er erkannte z. B., wie wichtig die Würdigung der Herkunft und Geschichte der zu übernehmenden Bank für eine erfolgreiche Fusion sein würde. In einer weiteren, vertiefenden Darstellung zu »Körper, Seele und Geist« der Volksbank zeigte sich »der Geist der Bank«, wie wir das Element nannten, sehr stark und ganz ruhig, etwas im Hintergrund, aber trotzdem raumfüllend. In enger Verbindung dazu stand der CEO und dicht neben ihm die Geschäftsleitung. Der Abstand zur mittleren Führungsebene war etwas größer und nicht sonderlich von Vertrauen geprägt. Die Mitarbeitenden standen in guter Verbindung zum CEO, aber wenig verbunden mit der mittleren Führungsebene und daher etwas allein und eher belastet. Die Produkte und Dienstleitungen nahmen einen zentralen Platz ein und standen in guten Kundenkontakt. Etwas abseits stellte sich der Verwaltungsrat, der wenig Verbindung zum Rest des Systems zeigte und eher kraftlos schien. Aufstellungen wie diese zeigten dem CEO auf, wo es welchen Bedarf gab, welche seiner Aktionen welche Auswirkungen nach sich ziehen und welche Möglichkeiten und Grenzen es für ihn in dieser Bank geben würde. Eine Jury-Constellation betraf die Entwicklung der Vision, bei welcher der Purpose (wir nannten es die »Bank«) wie auch die »Vision« selber durch Repräsentanten vertreten waren, neben »Mitarbeitenden«, »Aktionären«, »Kunden« und »Bevölkerung«. Diese offen benannten Elemente bildeten die Jury, vor welcher einzelne Stellvertreter auftraten und beurteilt wurden. Jeder der vor der Jury auftretenden Repräsentanten symbolisierte einen Begriff, wobei erst nach dem JuryUrteil offen gelegt wurde, worum es sich konkret handelte. Die ca. 35 Begriffe waren zuvor aus Visions-Rohentwürfen der Geschäftsleitungsmitglieder gesammelt worden und sortierten sich aufgrund der Jury-Rückmeldungen in die drei Kategorien: gefällt allen, gefällt teils-teils und gefällt gar nicht. Traditionelle Begriffe wie »Regionalbank«, »Gewinn«, »Erfolg« etc. wurden auf diese Weise schnell und gründlich aussortiert. Zurück blieben nur wenige Begriffe, welche in einer weiteren Aufstellung zueinander in Bezug gestellt wurden. Nach insgesamt drei Stunden

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war der Visionssatz bereits klar: »Wir finden einfache und nachhaltige Lösungen für mehr Lebensqualität.« Insgesamt führten die Bankverantwortlichen rund dreißig Aufstellungen durch, zu unterschiedlichsten Anliegen wie z. B. einer 100-Millionen-Kapitalerhörung, dem Markenkern, der Zielgruppenkonkretisierung und diversen strategischen, strukturellen und kulturellen Themen. Ein »Verdienst« der Constellations-Arbeit ist sicher, dass der CEO selber noch um Jahre länger in der Bank geblieben ist – war sein erstes Anliegen doch im Jahre 2015: »Ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um zu kündigen?« Das Wesen der Bank sagte damals ganz klar: »Nein.«

Fazit und Ausblick Purpose Constellations sind dynamische Analyse- und Simulationsverfahren und eignen sich als agile Managementwerkzeuge. Sie ermöglichen es, den evolutionären Sinn von Organisationen sichtbar, spürbar und erlebbar zu machen. Sie bilden Situationen und Entwicklungen mehrperspektivisch ab und machen Zusammenhänge und Potenziale in ihrer impliziten Tiefenstruktur bewusst. Generell stellt der Purpose die Kraftquelle einer Organisation dar. Wie viel dieser Energie dem Unternehmen tatsächlich zur Verfügung steht, hängt davon ab, wie gut die Leitung mit dem Purpose in Verbindung steht und wie bereit sie ist, sich vom größeren Ganzen führen zu lassen. Sind in einer Organisation Dinge geschehen, die gegen die systemischen Prinzipien verstoßen, bringt dies Störungen und Energieverlust mit sich. Der Purpose weiß intuitiv Bescheid und kann darüber oft verblüffend präzise Auskunft geben. Werden z. B. Unrechtmäßigkeiten, Verstöße gegen die Würde, nicht adäquate Maßnahmen (Entlassungen, Namensänderungen), unausgeglichenes Geben und Nehmen, Ungerechtigkeiten etc. unter den Teppich gekehrt, wirken sie so lange im System nach, bis sie – allenfalls bei einer späteren Wiederholung des schicksalhaften Musters – gesehen, gewürdigt, ausgeglichen und damit gelöst werden. Solche Geschehnisse sabotieren oft die schönsten Zukunftskonzepte und blockieren die Entwicklungspläne ganzer Betriebe. Der Purpose wirkt also wie ein Seismograph und zeichnet jede Erschütterung des Organisationssystems auf. Verletzungen der Grundprinzipien können durch Purpose Constellations schnell und einfach sichtbar gemacht werden. Manchmal braucht es auch eine detektivische Ader, denn nicht selten liegen Ursachen für Störungen weit zurück. Persönlich glaube ich, dass wir noch ganz am Anfang mit Purpose Constellations stehen und dass diese Herangehensweise das Potenzial hat, Immenses

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bei der Entwicklung von Organisationen, menschlichem Bewusstsein und der Gesellschaft zu leisten.

Literatur Gerhard, R. (2014). HRM-Dossier Organisationsaufstellung. Implizites Wissen sichtbar machen. Zürich: SpektraMedia. Gerhard, R. (2020). Praxis der Systemaufstellung online: Online-Constellations – wie Aufstellungen virtuell gelingen. https://www.praxis-der-systemaufstellung.de/online-constellations. html. Zugriff am 28.07.2020. Laloux, F. (2014). Reinventing Organizations. Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. München: Vahlen. Laloux, F. (2016). Reinventing Organizations visuell. Ein illustrierter Leitfaden sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. München: Vahlen. Laloux, F. (2019). Videobotschaft von Frederic Laloux zu WE DISCOVER PURPOSE – https:// radicalbusinessinnovation.com/eindruecke-vom-event-2019/. Zugriff am 07.03.2020 unter https://www.youtube.com/watch?v=SJZK392dHrc&t=602s Müller-Christ, G., Pijetlovic, D. (2019). Komplexe Systeme lesen: Das Potential von Systemaufstellungen in Wissenschaft und Praxis. Wiesbaden: Springer Gabler.

Peter Klein und Eva Maria Kroc

Organisationsaufstellung im Kontext der Steuer- und Unternehmensberatung

Die Ausgangslage: Steigende Komplexität führt zu neuen Anforderungen an Unternehmen und deren Berater. Die Rahmenbedingungen für viele Unternehmen haben sich verändert. Einflussfaktoren sind die Digitalisierung, Globalisierung (internationaler Wettbewerb) und die Ökologiewende, um nur einige zu nennen. Die Rahmenbedingungen sind zunehmend VUCA: volatil (schwankend), unsicher, komplex und ambivalent. Unternehmer benötigen u. a. neue Visionen und Strategien, persönliche Resilienz, schnelle bewegliche Organisationen (Agilität), Change-Management und Berater, deren Beratungsansatz dieser Komplexität angemessene Lösungsansätze anbieten kann. Dabei wird nach unserer Meinung die Zukunft ein interdisziplinäres Expertennetzwerk sein, in dem hochqualifizierte Spezialisten ihr Know-how gemeinsam dem Kunden zur Verfügung stellen. Der Erfolg eines Unternehmens entscheidet sich nicht nur über die Zahlen, sondern auch über die Haltung und das Bewusstsein des Unternehmensinhabers, der Führungskräfte und der Mitarbeiter. Diese aktuellen Anforderungen führen zu Neuorientierung und Offenheit auch für neue Methoden wie der Aufstellungsarbeit.

Integrale Beratung mit einem interdisziplinären Expertenteam – ein Ansatz »Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel.« (Paul Watzlawick)

Wenn ein Burnout-Betroffener um Hilfe bittet und zu einem Ernährungsberater kommt, wird dieser ihm empfehlen, die Ernährung umzustellen; ein Sportmediziner, mehr Sport zu treiben; ein Qigong-Lehrer, entspannende Achtsamkeitsübungen zu machen. Der Therapeut behandelt die Themen aus der Kindheit.

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Peter Klein und Eva Maria Kroc

Der Arbeitspsychologe analysiert das Arbeitsumfeld, ob es mehrere BurnoutFälle unter den Kollegen gibt. Der spirituelle Lehrer hinterfragt, ob der Sinn in der zweiten Lebenshälfte verloren gegangen ist. Und der Aufstellungsleiter wird die Burnout-Situation aufstellen. Jeder der vorgenannten Experten könnte damit den sprichwörtlichen Nagel auf den Kopf treffen. Aber in anderen Fällen eben auch nicht. Deshalb ist es aus einer Integral-Systemischen Perspektive wichtig, die verschiedenen Expertenfelder zu verbinden, um damit wirksamere Ergebnisse zu erzielen. Dazu befasst sich die integrale Beratung mit Fragen des Bewusstseins, der Haltung, unterschiedlichen Weltbildern und Perspektiven (Klein, 2010, S. 4 ff.). Die Visionen des Neurobiologen Gerald Hüther (2015) sind Kulturen der interdisziplinären Expertenteams und Potenzialentfaltungsgemeinschaften (s. S. 181 ff.). Durch die interdisziplinäre Vernetzung von verschiedenen Experten mit sich ergänzenden Sichtweisen, Perspektiven, Kompetenzen und Dienstleistungen wird eine größere Wirksamkeit erreicht.

Steuerberater, Aufstellungsleiter und Unternehmensberater als Potenzialentfaltungsgemeinschaft Als Steuerberater analysiert man die Zahlen und Daten eines Unternehmens, erstellt Monatsberichte und Bilanzen oder auch Planungs- und Investitionsrechnungen. Der Blick auf Systeme und Menschen ist grundsätzlich nicht vorherrschend – und wenn, dann nur hinsichtlich Kosten oder Einsparungspotenzialen. Die ausschließlich zahlenorientierte Analyse von Problemen ist eine einseitige; oft sind es die Menschen und deren Persönlichkeit in Systemen, welche über Erfolg oder Misserfolg in Unternehmen und bei Projekten entscheiden. Dies bedingt zusätzliche Kompetenzfelder und interdisziplinäre Kooperationen. Mit systemischer Aufstellungsarbeit betrachten wir in erster Linie Beziehungsstrukturen, wie z. B. Unternehmer, Führungskräfte, Mitarbeiter, aber auch non-personale Elemente, wie z. B. das Unternehmen, die Ziele, die Vision, oder den Purpose (»Seinszweck«). Dabei sind Organisationsaufstellungen ein In­­ strument für eine IST-Analyse. Es zeigen sich Konflikte in der Unternehmenskultur oder in einem Team. Menschen können in Aufstellungen erfahren, wie sich Dynamiken wie Ausschluss und Wertschätzung oder »gesehen versus nicht gesehen zu werden« auf Menschen und damit auch die Unternehmensergebnisse auswirken. In Szenario-Techniken werden neue Strategien erprobt. Was diesem intuitiv-emotionalen Verfahren manchmal fehlt, ist der Bezug zu den harten Fakten, der Zahlenwelt des Unternehmens. Aufstellungen allein schaffen in den Führungsetagen oft keine Entscheidungsgrundlage: »Wir können doch

Organisationsaufstellung im Kontext der Steuer- und Unternehmensberatung

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nicht aufgrund von Gefühlen entscheiden.« Hier sind Steuer- und Unternehmensberater optimale Partner. Die wichtigsten Tätigkeitsbereiche des Unternehmensberaters, in Kombination mit einer Steuerberatung, sind Analyse und Konzepterstellung zur Betriebsoptimierung, Beratung zu Finanzierungs- und Investitionsoptionen sowie Beurteilung und Organisation der Markt- und Kundenausrichtung, je nach Spezialisierung auch die Diagnose von Umsatzsteigerungs- bzw. Kosteneinsparungspotenzialen in Form von Businessplänen, Rentabilitätsrechnungen, Kennzahlenanalysen, Einführung von Kostenrechnungssystemen und auch ITund Digitalisierungsberatung. Zumeist wird rational, sachlich und logisch mit Sachkompetenz agiert: Zahlen, Daten, Fakten. Manchmal ergänzt der Unternehmensberater die Betrachtung der »harten Fakten« von Bereichen wie der Organisations-, Personal-, oder HR-Entwicklung, auch durch »Soft-Facts«. Aber oftmals entscheidet über Erfolg und Misserfolg nicht die Logik. Regeln haben Ausnahmen. Was sich gut rechnet, stellt sich in der Realität manchmal anders dar, sobald der Faktor Mensch ins Spiel kommt. Denn der Faktor Mensch ist oft im Voraus nicht berechenbar.

Eine integrale Vorgehensweise Die integrale Vorgehensweise stellt eine Verbindung der analytischen, logischen Steuer- und Unternehmensberaterwelt mit ihren Zahlen, Daten und Fakten mit der systemisch-intuitiven Aufstellungswelt dar: Im ersten Schritt werden bei der Projektplanung die Zahlen in Form von Businessplänen erfasst und analysiert, ob das Projekt überhaupt profitabel ist. In einem zweiten Schritt werden die in einem System ausschlaggebenden Erfolgsfaktoren, wie beispielsweise das Produkt, die Mitarbeiter, die Führungsebene, die Investoren, der Markt, die Kunden, Marketingaktivitäten, etc. im Rahmen einer Aufstellung beleuchtet. Die aus der Aufstellung gewonnen Rückschlüsse werden in den ursprünglichen Businessplan eingearbeitet. So könnte z. B. mit Hilfe einer Aufstellung die Erkenntnis gewonnen werden, dass für die erfolgreiche Markteinführung des Produkts verstärkte Marketingmaßnahmen nötig sind oder zusätzlich ein höher qualifizierter Mitarbeiter angestellt werden muss, um das Projekt erfolgreich zu gestalten. Natürlich hat das Auswirkungen auf den ursprünglich erstellten Businessplan, da beide Maßnahmen höhere Kosten verursachen. Dies führt zu einer Verminderung des Gesamtgewinns des Projekts und macht dieses eventuell in seiner Gesamtheit unrentabel. Das Fazit könnte sein, das Projekt aus diesem Grund überhaupt nicht zu starten oder nach neuen Investoren zu suchen. Wäre der

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Businessplan die alleinige Entscheidungsgrundlage gewesen, hätte man diese Überlegungen überhaupt nicht angestellt. Ein gesamtheitlicher Blick kann daher zu besseren unternehmerischen Entscheidungen führen.

Organisationsaufstellung im Kontext der Steuer- und Unternehmensberatung aus der Perspektive der Steuerberaterin Eva Kroc Als Steuerberaterin auch systemische Beratung und Organisationsaufstellungen mit den eigenen Klienten durchzuführen, birgt einige von vornherein nicht offen ersichtliche Themen in sich, welche beachtet werden müssen. Dies war mir vor meiner Ausbildung als Aufstellungsleiterin nicht bewusst. Nachdem ich an einer Familienaufstellung meiner Schwester, in der sie unser Familiensystem aufgestellt hatte, nur als Beobachterin teilnahm und von der Effizienz der Methodik begeistert war, wollte ich das unbedingt auch in meiner eigenen Steuer- und Unternehmensberatung meinen Klienten anbieten. Die kombinierte Analyse der Zahlen mit den Systemen und Menschen erschien mir als hilfreiche Ergänzung für das Finden optimaler Lösungswege. Im Laufe meiner Arbeit mit den Steuerberatungsklienten kristallisierten sich aber Unterschiede heraus, wenn Aufstellungen im Kontext Steuer- und Unternehmensberatung eingesetzt werden. Sachlichkeit in der professionellen Beratung – und Emotionen! Als Steuerberaterin kenne ich meine Klienten meist seit vielen Jahren und habe sie oft durch Krisen, Unternehmenserweiterungen und Einsparungsszenarien hindurch begleitet. Und mit manchen habe ich auch persönliche Erlebnisse, wie Hochzeiten, Trennungen oder Nachfolgethemen in sehr enger Verbundenheit miterlebt. Dabei entstehen mit Klienten auch persönliche Freundschaften. Jeder, der Organisationsaufstellungen einmal erlebt hat, weiß, dass es im Unternehmenskontext meist weniger emotional zugeht, es aber auch zu einem Wechsel in das Familiensystem kommen kann. Meine Befürchtung ist noch immer, dass es manchen Klienten im Nachhinein vielleicht peinlich ist, wenn ich als Aufstellungsleiterin und zugleich Steuerberaterin in einer Aufstellung persönliche Details erfahre. Dass sich z. B. in einer Aufstellung eines Familienbetriebes das Geheimnis lüftet, dass der Klient ein Verhältnis mit seiner Sekretärin hat, obwohl er verheiratet ist. Wie gehe ich als Steuerberaterin damit in der nächsten Bilanzbesprechung um, wenn die Ehefrau auch die Buchhalterin des Unter-

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nehmens ist? Bei aller Rollenklarheit, Diskretion und Professionalität sind dies große Herausforderungen für alle Beteiligten. Die Auftragsklärung einer Aufstellung Vor der Aufstellung braucht es eine Klärung, in welche Bereiche wir mit einer Aufstellung vordringen. Die Grenze des Klienten ist mein persönliches Stopp-Kriterium und muss auch während der Aufstellung immer wieder neu geklärt werden. Praktisch habe ich das in meiner eigenen Kanzlei so gelöst, dass die Leitung von Aufstellungen meiner eigenen Klienten oft meinem Kollegen Peter Klein übergeben wird. Ich lasse dann mein Hintergrundwissen in den Aufstellungsprozess mit einfließen, um neue Lösungswege zu finden, ohne selbst in eine verfängliche Situation zu geraten. Alles Wissen erzeugt Bilder in unseren Köpfen, die wir nicht immer so leicht wieder beiseiteschieben können. Dies kann für beide Seiten beim nächsten Bilanzbesprechungstermin hinderlich sein, um jetzt wieder auf rein sachlicher Zahlenebene weiterzuarbeiten. Im Gegensatz zu mir, wissen Klienten vor einer Aufstellung oft nicht, worauf sie sich einlassen. Daher sehe ich es als meine Verantwortung, sie darüber im Vorfeld zu informieren, insbesondere wenn sie noch wenig oder keine Erfahrung haben, was bei einer Aufstellung passieren kann. Die Herausforderung der Objektivität bei der Hypothesenbildung Als Aufstellungsleiterin und zugleich Steuerberaterin in einer Person habe ich langjährige Kenntnisse über den Klienten und sein Firmensystem. Diese Insiderkenntnisse können bei der Hypothesenbildung und der Suche nach neuen Lösungswegen von Vor- oder von Nachteil sein. Kann ich mich frei von diesem Vorwissen machen, um vorurteilsfrei mit dem Blick eines staunenden Kindes oder – wie im Buddhismus gesagt wird – mit der Qualität des »Anfängergeistes« auf ein System zu schauen? Dies erscheint mir aus heutiger praktischer Erfahrung noch immer schwierig – insbesondere, wenn man anfangs noch unerfahren in der Aufstellungsleitung ist. Hier spielt auch die Haltung eine Rolle, inwiefern mir bewusst ist, dass mein Vorwissen die Ideen für Interventionen in der Aufstellung beeinflusst. Berufshaltung und Mindset des Steuerberaters vs. Aufstellungsleiters In der Steuerberatung bin ich als »Beraterin« tätig – denn Klienten müssen oft ganz konkrete Handlungsanweisungen oder Grenzen des Gesetzlichen aufgezeigt werden; manchmal auch sehr nachdrücklich, um sie vor Nachteilen wie

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Steuernachzahlungen oder Haftungsthematiken zu schützen. In der systemischen Beratung unterstütze ich den Prozess des Findens von Lösungswegen, d. h. ich gebe keine konkreten Lösungen vor. Rollen und Haltungswechsel müssen klar sein und manchmal auch kommuniziert werden. No-Gos im Kontext der Steuerberatung Für mich gab es No-Gos im Kontext der Steuerberatung, welche bei Familienaufstellungen kein Problem darstellen. Heute sehe ich das entspannter, kann mir aber vorstellen, dass es Steuerberaterkollegen ähnlich geht. Beispielsweise war für mich nicht vorstellbar, dass in meinem Besprechungsraum, in dem auch die Bilanzbesprechungen mit Klienten stattfinden, jemand ohne Schuhe, nur mit Socken oder vielleicht sogar barfüßig in einer Aufstellung herumläuft. Obwohl ich dies aus meiner Ausbildung kannte, war es in meiner Kanzlei sehr gewöhnungsbedürftig für mich. Im Vorfeld machte ich mir darüber keinerlei Gedanken, bis beim ersten Aufstellungsabend eine Repräsentantin die Woll­ socken auspackte und unter ihren Stuhl legte.

Überlappung der Berufsrollen Das situative Wechseln von Berufsrollen bedarf der eigenen Klarheit. Andernfalls arten Bilanzbesprechungen in Coaching aus oder der Klient kommt zu einem Coaching und will ganz schnell noch ein Steuerthema behandeln. Beides ist unbefriedigend, da es thematisch oft nicht zusammenpasst, einer anderen persönlichen Vorbereitung oder spezifischer Anforderungen bedarf. Darüber hinaus werden die Dienstleistungen auch unterschiedlich abgerechnet. Wenn man beide Rollen in einer Person vereint, gehört zur Klarheit der Vereinbarung auch, unterschiedliche Stundensätze zu kalkulieren und zu benennen. Kundenvereinbarungen: langjährige Kundenbindung vs. offener Beratungsprozess Als Steuerberaterin habe ich oft ein Dauermandat, d. h., wenn der Kunde zufrieden ist, bleibt er in der Regel über viele Jahre treu. Beim Coaching wird häufiger, je nach Anliegen, der Coach gewechselt. Selbst wenn Unzufriedenheit in der Zusammenarbeit entsteht, ist dies im Steuerberatungsbereich leichter zu objektivieren: Ist der Klient mit der Höhe seiner Steuernachzahlung nicht zufrieden, ist, sehr vereinfacht gesagt, nicht der Berater dafür verantwortlich,

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sondern das Steuersystem. Versteht man seinen Steuerberater nicht, dann sind die Steuersachverhalte oder die Steuergesetze zu komplex. Der Berater macht nur, was im Gesetz steht und trägt keine persönliche »Schuld«. Und dass man die Steuergesetzgebung als Nicht-Fachmann nicht versteht, ist »normal« und kein Grund seinen Berater zu wechseln. Nach einem Coaching ist der Klient selbst verantwortlich, welche Entscheidungen er trifft. Ob das dann richtig oder falsch war, unterliegt der subjektiven, nachträglichen Beurteilung des Klienten. Eine Befürchtung für mich ist, dass sich eine Unzufriedenheit im Coachingkontext negativ auf die Klienten-Steuerberater-Beziehung auswirkt.

Organisationsaufstellung im Kontext der Steuer- und Unternehmensberatung aus der Perspektive des Aufstellungsleiters Peter Klein

Persönliche Herausforderungen bei interdisziplinären Kooperationen In unterschiedlichen Berufsgruppen arbeiten in interdisziplinären Beraterteams oft Menschen mit verschiedenen Persönlichkeitsmerkmalen, Denkweisen und Kommunikationsstilen zusammen. Als Aufstellungsleiter brauchte ich oft etwas Zeit, um die Mindsets zu erkunden. Überraschenderweise wurden von meinen interdisziplinären Kollegen Dinge hinterfragt, die mir in meiner Arbeitsweise bisher völlig selbstverständlich erschienen, die ich überhaupt nicht reflektierte, geschweige denn kommunizierte. Dies erfordert eine neue Offenheit, Kritikfähigkeit, einen Dialog auf Augenhöhe und die Wertschätzung für andere Perspektiven. Die Auftragsklärung einer Aufstellung in Etappen Im Kontext der Steuer- und Unternehmensberatung kann es öfters zum Wechseln von Fragestellungen in der Aufstellung kommen. Zusammenhänge zwischen Strategie, Betriebsklima und Teambildung werden sichtbar. Sachfragen werden emotionaler, wenn es um Menschen geht. Zeigt sich dann hinter der Wut auf den Chef ein ungelöster Vaterkonflikt, geht dies über den Anfangsauftrag hinaus. Aber wenn dieser neu verhandelt wird, kann eine Aussöhnung in der Familie dazu führen, dass sich ein neues Gefühl der Zufriedenheit auch im Arbeitsteam einstellt. Welche Möglichkeiten ich hier als Aufstellungslei-

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Peter Klein und Eva Maria Kroc

ter anbiete, liegt in meinem persönlichen Ermessens- und Kompetenzbereich. Wichtig ist dabei auch, zu berücksichtigen, wer bei der Aufstellung dabei ist. Der Klient allein oder auch Mitarbeiter seines Unternehmens? Dann ist die Frage, wie gut sich die Prozesstiefe mit der Privatsphäre in Einklang bringen lässt. Weitere Kriterien können sein: Welche Prozesserfahrung hat der Klient? Und natürlich ist legitim, wenn er mit seinen persönlichen Themen zu einem anderen Berater (Familiensteller, Therapeut) als zu seinen Firmenberatern geht. Solche Fragen können mehrmals und unerwartet in einem einzigen Beratungsprozess (Aufstellung) auftauchen. Daher ist es wichtig, Ebenenwechsel zu erkennen und in Klarheit den Auftrag neu zu verhandeln, anders zu organisieren oder auch zu stoppen: um zu vermeiden, dass der Kunde im Nachhinein reklamiert, dass er eigentlich wegen einem anderen Anliegen gekommen sei oder mehr von sich gezeigt habe, als er gewollt habe. Fehlende Repräsentanten im Steuerberatungskontext Unternehmer haben meist die Devise: Zeit ist Geld. Wir führen in der Steuerkanzlei in Graz regelmäßig Aufstellungsabende durch, an denen dann mehrere Klienten der Kanzlei und andere Unternehmer und Führungskräfte aufstellen, bei denen sich unsere Arbeit mittlerweile herumgesprochen hat. Ist ein Aufstellungsabend angesetzt, kommen Unternehmer oft nur zu ihrer eigenen persönlichen Aufstellung. Falls sie den ganzen Abend bleiben und sich auch als Repräsentanten zur Verfügung stellen, sind sie erfahrungsgemäß nicht so oft bei Veranstaltungen dabei, wie die Menschen, die zu Familienaufstellungen kommen. Daher kommt es in diesem Kontext eher zu einer Knappheit an Repräsentanten. Wir haben dafür einen zusätzlichen Pool an erfahrenen Repräsentanten aufgebaut, die wir im Bedarfsfall einladen. Diese Repräsentanten müssen kompetent und vor allem auch verschwiegen sein. So können wir auch Zusatz­ angebote durchführen, wie z. B. unternehmensinterne Aufstellungen, bei denen wir neutrale Repräsentanten mitbringen. Kompetenz in verschiedenen Kontexten Als Aufstellungsleiter benötige ich in einer interdisziplinären Zusammenarbeit Erfahrung und Kompetenz, welche Denk-, Kommunikations- und Verhaltensweisen es in den anderen relevanten Kontexten gibt. Hier ist es wichtig, auch Aufstellungsrituale oder den Umgang mit Ergebnissen anzupassen. Ein Ritual aus der Familienaufstellung, wie z. B. den früheren Generationen »die Ehre zu geben«, sie, mit dem »Dank fürs Leben« zu würdigen, kann im Kon-

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text Unternehmen befremdlich wirken. Mir ist leider ein Fall bekannt, bei dem ein Aufstellungsleiter eine Unternehmerin aufgefordert hat, sie möge sich vor ihrem Vater (der auch der Unternehmensgründer war) verneigen. Dies empfand die Unternehmerin im Selbstverständnis ihres Berufsbildes, in Anwesenheit anderer Unternehmer, ohne Erklärung des Sinns dieses Rituals als demütigend. Während im persönlichen Aufstellungskontext meistens ein persönliches Nachgespräch genügt, wird im Businesskontext oft eine Dokumentation des Prozesses oder ein Nachbericht eingefordert. Im Kontext Unternehmensnachfolge überlappen sich die Kontexte Unternehmen und Familie. Firmen- und Familienmitglieder sind oft identische Personen. Von Vorteil ist, wenn mir diese unterschiedlichen Welten vertraut sind. Kunden haben in der Regel ein feines Gefühl dafür, ob mit »Stallgeruch« oder nur nach Lehrbuch agiert wird. Der Aufstellungsleiter ist in langfristige Beratungsprozesse mit einbezogen In den Anfangszeiten der Familienaufstellungen war es nicht unüblich, dass Klienten mit der Aufforderung nach Hause geschickt wurden: »Lass das Lösungsbild nachwirken und sprich nicht darüber.« Der Versuch, eine eben neu erworbene innere Erfahrung nicht zu zerreden, ist ehrenhaft. Dennoch ist eine derartige Aufforderung in einer Businessberatung eher irritierend. Hier erwarten meine Kunden nach der Aufstellung bei der Integration, Reflexion und Umsetzung Unterstützung. Wie sind die neuen Sichtweisen in eine konkrete Handlung zu übersetzen? Auch meine Beraterkollegen, z. B. Steuer- und Unternehmensberater, die dem Klienten die Aufstellung empfohlen haben, hinterfragen den Nutzen der Aufstellung für den Kunden. Kurzfristige Resultate sind beliebt. Das Ganze kostet ja schließlich auch Geld! Das Erkunden von Emotionen darf dabei nicht zum Selbstzweck werden. Als Aufstellungsleiter bin ich selbst Teil eines komplexen, oft längerfristigen Beratungsprozesses und erhalte mehr Feedback, wie die Aufstellung durch die »Nutzen- und Effizienzbrille« der anderen Beteiligten gesehen wird. Ergänzendes Einzelcoaching kann ein notwendiger Erfolgsfaktor sein. Dies sollte auch bei der Angebotsabgabe und Reiseplanung berücksichtigt werden. Wird die Nachbetreuung nicht von Anfang an thematisiert, wird sie später als »Nachverkauf« betrachtet, wenn ich als Aufstellungsleiter nicht umsonst arbeiten will. Habe ich Businesskunden an verschiedenen Orten, beeinflusst das auch meine Reise- und Lebensplanung. Arbeite ich mit einer regionalen oder überregionalen Strategie? Lehne ich Aufträge ab oder vernetze ich mich überregional? Außerdem bin ich als Aufstellungsleiter an

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Entscheidungsprozessen beteiligt, bei denen es um Arbeitsplätze und viel Geld gehen kann. Auch mit dieser Verantwortung muss ich lernen umzugehen. Methodische Erweiterungen – Arbeit mit Modellen und Aufstellungen Durch die Arbeit im Steuerberaterkontext wird auch die Methodik der Aufstellungsarbeit differenzierter und verfeinert. Es stellen sich viele neue methodische, systematische und strategische Fragen, z. B.: Welche Aufstellungsrituale müssen in diesem Kontext neu angepasst werden? Wie arbeitet der Aufstellungsleiter mit mehreren Kollegen eines Unternehmens: gemeinsam oder einzeln? Mit Personen aus einem Unternehmen, die repräsentiert werden, oder Modellen mit Dimensionen und Überbegriffen? Die Merkmale bei der Arbeit mit Modellen werden wir noch genauer vorstellen. Ein Vorteil ist, dass hierbei die Privatsphäre der realen Personen besser geschützt werden kann.

Fallstudien aus unserer Praxis (Kontext Steuer- und Unternehmensberatung) In diesem Kapitel stellen wir nun zwei Aufstellungsbeispiele aus der Steuerkanzleipraxis im Kontext der Steuer- und Unternehmensberatung vor. Zunächst Fallstudie 1, bei der eine Unternehmerin die Klientin ist: Aufstellungs-Klientin: Chefin eines Frisiersalons. Anliegen: Soll zusätzlich zum Frisiersalon auch noch ein neuer Unternehmensbereich (Maniküre, Pediküre, Kosmetik) angeboten werden? Findet das neue Angebot Interesse bei den Kunden und wie stehen die derzeitigen Mitarbeiter dazu? Aufstellungssetting: Klientin (Chefin); Mitarbeiterin 1, 2 und 3; neue Mitarbeiterin (für Pediküren, Maniküre und Kosmetik); neuer Unternehmensbereich; bisheriger Unternehmensbereich Frisiersalon; Kunden; nach Intervention zusätzlich neue Mitarbeiterin für Frisiersalon. In der Aufstellung zeigt sich, dass ein Konflikt innerhalb des bisherigen Teams die erfolgreiche Etablierung des neuen Unternehmensbereichs blockiert und dieser zuerst gelöst werden muss, bevor etwas Neues erfolgreich entstehen kann. Im Zuge der Aufstellung wird klar, dass eine Mitarbeiterin, welche auch eine Freundin der Chefin ist, innerlich bereits gekündigt hat und dies aber aufgrund der Freundschaft mit der Chefin nicht direkt kommunizieren »kann«. Das »Unausgesprochene« führt zu Unruhen innerhalb des Teams. Im Rahmen der Aufstellung wird nunmehr von der Chefin all dies ausgesprochen und die Repräsentantin der innerlich bereits

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gekündigten Mitarbeiterin kann sich daraufhin im Guten vom Unternehmen lösen. In einer Szenario-Technik wird eine neue Mitarbeiterin als Ersatz in das System gestellt – und alle fühlen sich erleichtert und wohl im neuen Team. Erst dann wird der neue Unternehmensbereich auch für die Kunden interessant und auch die Mitarbeiterinnen des bisherigen Unternehmensbereiches sind dem Projekt wohlgesonnen. Die weitere Entwicklung nach der Aufstellung (Zeithorizont zwei Jahre): Als Steuerberaterin, die die Aufstellung mit initiierte, kann ich, Eva Kroc, die Entwicklung des neuen Unternehmensbereichs auch anhand der Zahlen mitverfolgen. Das Dienstverhältnis mit der »Freundin der Chefin« wird einvernehmlich und im Guten aufgelöst, der neue Geschäftsbereich ist auch zahlenmäßig höchst profitabel und die beiden neuen Mitarbeiterinnen sind ein Gewinn für das gesamte Team. Als Nächstes steht der Kauf des Gebäudes an, in dem sich der Frisiersalon befindet, zuvor soll – und die Klientin hat schon Interesse bekundet – dies mit Hilfe einer Organisationsaufstellung analysiert werden.

Im zweiten Beispiel, unserer Fallstudie 2, ist ein Steuerberaterkollege der Klient: Aufstellungs-Klient: Inhaber einer Steuerkanzlei. Anliegen: Der Inhaber einer Steuerkanzlei hat im operativen Geschäft einen langjährigen Klienten, ein mittelständisches Unternehmen. Einerseits ist dort der Seniorchef sein Auftraggeber, anderseits ist er mit dem etwa gleichaltrigen Sohn befreundet, der ebenfalls im Unternehmen arbeitet. Unser Aufstellungskunde (Steuerberater) will in der Aufstellung sehen, ob es dabei »Rollen-Konflikte« gibt. Aufstellungssetting: Steuerberater-Ich; Persönliches Ich (des Steuerberaters); das Klienten-Unternehmen, der Seniorchef (Auftraggeber der Kanzlei), Sohn des Klienten (Freund des Steuerberaters). In Absprache mit dem Aufstellungsklienten lassen wir ihn in der Aufstellung durch zwei Repräsentanten vertreten: Sein Steuerberater-Ich und sein Persönliches Ich. In der Aufstellung steht das Steuerberater-Ich in der Nähe des Unternehmens. Das Persönliche Ich in der Nähe des Sohnes des Klienten, eher weiter vom Unternehmen entfernt. Der Seniorchef steht im Hintergrund. Noch wirkt es so, als ob er mit dem Ganzen nichts zu tun habe. Der Aufstellungskunde (Steuerberater) berichtet, dass eine geplante Unternehmensübergabe (Nachfolgeregelung) des Seniorchefs, der bereits im Rentenalter ist, an seinen Sohn trotz mehrmaliger Versuche gescheitert ist. Der Steuerberater persönlich habe diese Übergabe für gut befunden. Daraufhin beginnt der Repräsentant des Sohnes sich in der Aufstellung vom Unternehmen zu entfernen. Das Persönliche Ich (Aufstellungskunde Steuerberater) folgt ihm. Das Unternehmen ist besorgt.

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Peter Klein und Eva Maria Kroc

Jetzt stellt sich der Seniorchef direkt neben das Unternehmen. Beide fordern das Steuerberater-Ich auf, sich ebenfalls zu ihnen zu stellen: »Du wirst hier gebraucht!« Erst als dies erfolgt, sind beide zufrieden. Der Aufstellungskunde (Steuerberater) kommentiert: »Das zeigt meinen Rollenkonflikt: Beruflich muss ich beim Seniorchef und dem Unternehmen stehen. Privat gehe ich mit dem Sohn, der in meinem Alter ist, ein Bier trinken und höre mir seine Klagen über den Vater an. Ich bin nicht sicher, ob er noch lange im Unternehmen bleibt.« Im nachfolgenden Coachinggespräch zwischen Aufstellungsleiter und Aufstellungskunden wird ein Lösungsansatz herausgearbeitet: Die beiden Rollen sind stärker zu trennen. Der Steuerberater nimmt sich vor, zukünftig bei privaten Kontakten mit dem Sohn nicht mehr über den Vater (Seniorchef) und das Unternehmen zu sprechen. Beruflich ist »sein Platz« für ihn nun klarerweise beim Seniorchef und dem Unternehmen.

Methodische Weiterentwicklung der Aufstellungsarbeit Modelle aus dem Kontext Steuerkanzlei und Unternehmensberatung werden durch Aufstellungen nicht nur kognitiv erlernt, sondern mit allen Sinnen erlebbar. Ein weiterer Vorteil von Modell-Aufstellungen ist, dass die Privatsphäre der involvierten Personen des Unternehmens besser geschützt werden kann. Die Aufstellungen sind in der Regel nicht so emotional. Die Ergebnisse sind abstrakter, es benötigt mehr Reflexion und Dialog. Die Deutungshoheit über die Aufstellung liegt eher beim Klienten, d. h., Aufstellungsbilder werden von den Kunden mit der Realität im Außen abgeglichen. Dabei handelt es sich oft um »laufende Verfahren«, d. h., die Aufstellung ist eine Momentaufnahme, die durch die Realität schon schnell wieder überholt ist. Wir möchten diese Weiterentwicklungen am Beispiel des »Lebensrads des Marktes« skizzieren. In Verbindung mit dem Modell wurden zahlreichen Aufstellungen im Steuerberatungskontext durchgeführt.

Die Arbeit mit Modellen und Aufstellungen – am Beispiel des Lebensrads des Marktes Das Modell des Lebensrads des Marktes wird im Steuer- und Unternehmensberaterkontext z. B. für die Gebiete Strategie, Marketing und Forschung verwendet. Implizites (Markt-)Wissen wird durch systemische Aufstellungen sichtbar. Jede (Markt-)Entscheidung trägt eine Polarität in sich – ein Spannungsfeld zwischen

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zwei Polen. Diese Entweder-oder-Entscheidung trägt paradoxerweise aber auch das Potenzial des »Sowohl-als-auch« in sich. In experimenteller Aufstellungsarbeit und Forschung, gemeinsam mit Jürgen Rippel (Hochschule Ansbach), Georg Müller-Christ (Universität Bremen) und dem internationalen Forum für Systemaufstellungen in Organisationen und Arbeitskontexten (infosyon) forschen wir über die relevanten polaren Spannungsfelder eines Marktes. Ein Ergebnis dieser Forschung ist das Lebensrad des Marktes (Klein u. Rippel, 2018).

Konstruktion der Landkarte als Visualisierung des Lebensrads des Marktes Jeder Markt hat seine eigenen Gesetze, seine eigene Topographie. Bei einer Aufstellung visualisieren wir das imaginäre Feld durch markante Punkte (Pole) des Lebensrads des Markts. Im Folgenden stellen wir die vier Polaritäten dar, die sich dabei als sehr nützliche Optionen erwiesen haben (s. Abb. 1).

Abbildung 1: Das Bewusstseins- und Beziehungskreuz

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Peter Klein und Eva Maria Kroc

Die Bewusstseins-Dimension und die Beziehungs-Dimension Vision (Traum) und Umsetzung (Wirklichkeit) spannen als Bewusstseins-Dimension einen Raum zwischen Sein und Schein auf. Das Sein ist die Quelle aller visionären Ideen. Manche nennen diesen Raum auch den »Purpose«, den »Seinszweck«, den wir manchmal durch einen gesonderten Repräsentanten in der Aufstellung vertreten lassen. Die Vision ist dann der Ausgangspunkt für den Eintritt in den Markt. Aus ihr heraus entstehen Ideen und bilden die Basis der Innovation, die aus der Umsetzung der Vision entsteht. Sie prägt das Image, den Mythos, den Erfolg. Oft ist die Differenz zwischen der idealen Vision und der pragmatischen Umsetzung mit ihren Kompromissen und Quick Wins (»Das machen doch alle so«, »Der Zweck heiligt die Mittel«) ein enormes unternehmensinternes Konfliktfeld. In Zeiten des Internets trägt dies mit größerer öffentlicher Transparenz sichtbar zum Unternehmensimage bei. Im Spannungsbogen der Beziehungs-Dimension geht es auch um die Ethik und um die Moral, die sich durch eine kooperierende oder eine konkurrierende Haltung im Markt widerspiegeln kann. Die Zeit-Nutzen-Dimension und die Raum-Segment-Dimension Die nächsten beiden Achsen des Rades betreffen die Zeit-Nutzen-Dimension und die Raum-Segment-Dimension (s. Abb. 2). Oft steht das Unternehmen im Spannungsfeld zwischen kurzfristigem Gewinn und langfristiger Nachhaltigkeit. Kurzfristiger Gewinn (die Jetzt-Entscheidung) bedient im Shareholder-Ansatz durch höhere Dividenden die Aktionäre. Der Langfristgedanke und die damit verbundene Nachhaltigkeit kommen dabei manchmal zu kurz. Nachhaltigkeit erfordert Investitionen und Voraussicht durch Führungskräfte, Entscheidungen für die Zukunft zu treffen. Aber ein Unternehmen braucht auch den kurzfristigen Gewinn, um zu überleben. Bei dieser Achse geht es also um den Zeit-Nutzen-Aspekt. Der Markt lässt sich als Gesamt-Potenzial mit seinem Volumen und in Form von Teilsegmenten darstellen. Oft startet ein Produkt universell. So führte z. B. Beiersdorf die Nivea Creme zunächst für alle Zielgruppen gleich nutzbar ein – ob Mann, Frau oder Kind. Erst erhöhtes Anspruchsniveaudenken der Konsumenten und Wettbewerbsdruck führten das Unternehmen zur Segmentierung des Marktes. Mittels Einzigartigkeit und Differenzierung (USP – Unique Selling Proposition) sollen Wettbewerbsvorteile erzielt werden. Aus dieser Dynamik heraus können neue Marktsegmente entstehen. Bei dieser Achse geht es somit um den Raum-Segment-Aspekt.

Organisationsaufstellung im Kontext der Steuer- und Unternehmensberatung

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Abbildung 2: Das Raum-Zeit-Kreuz

Aus dem Zusammenfügen der beiden vorgestellten Kreuze entsteht das Lebensrad des Marktes. Die Matrix für das Feld der Aufstellung Beide vorgestellten Kreuze stehen exemplarisch für das Verbinden logisch zusammenhängender Dimensionen. Auch andere Kombinationen mit anderen individuellen »Spannungsfeldern« in Märkten sind möglich. Diese Pole bilden die Matrix für das Feld der Aufstellung (s. Abb. 3). Vorgehen Durch ein Sondierungsgespräch mit dem Kunden entsteht eine individuelle Landkarte. Gewünschte Marktelemente werden herausgearbeitet. Dann beginnt die Aufstellungsarbeit. Repräsentanten übernehmen dabei die Rollen der Elemente im Markt. Zuerst wird die Landkarte durch das Positionieren der acht Pole mit den jeweiligen

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Peter Klein und Eva Maria Kroc

Abbildung 3: Lebensrad des Marktes mit Purpose

Repräsentanten aufgespannt. Die Pole können auch teilweise durch Bodenanker vertreten werden. Sie stehen am Anfang auf einem vordefinierten Platz und geben das Spannungsfeld vor. Weitere Repräsentanten können beispielsweise die Produkte, die Kunden, die Vision, den Wettbewerb oder firmeninterne Konfliktpositionen darstellen. Die Systemaufstellung wird dadurch zu einem interessanten Marktforschungstool, was nicht nur Unbewusstes sichtbar machen kann, sondern auch Möglichkeiten bietet, kreative Handlungsoptionen durchzuspielen. Das Lösungsbild am Ende kann das Unternehmen inspirieren, weitere Fragen hinsichtlich Zielsetzung, Strategie und Maßnahmen zu stellen. Innerhalb von ein bis zwei Stunden taucht der Auftraggeber so, geführt durch den Aufstellungsleiter, in die individuelle Welt seines eigenen Marktes ein.

Fallstudie zur Anwendung vom Lebensrad des Marktes In der folgenden Fallstudie 3 wird die praktische Anwendung vom Lebensrad des Marktes zur individuellen Landkarte eines Unternehmens exemplarisch am Beispiel Neumarkter Lammsbräu erläutert: Die Brauerei und Mälzerei »Neumarkter Lammsbräu« wurde unter der Leitung von Dr. Franz Ehrnsperger in den vergangenen dreißig Jahren zu einem ökologischen Vorzeigebetrieb weiterentwickelt. Mittlerweile ist »Neumarkter Lammsbräu« mit einem Marktanteil von über 60 % (Raum-Segment-Dimension) der Bio-Bier Markt-

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führer in Deutschland. Mit der Vision – der nachhaltigste Bio-Pionier unter den Getränkeherstellern der Welt zu werden – begann Ehrnsperger, einen ganz neuen Markt zu kreieren. Durch sein Bewusstsein entstand die Innovation. Getragen wurde diese Vision von einem ethisch-moralischen Gedankengut. Verantwortung und Schutz für andere ist ihm ebenso wichtig wie die Nachhaltigkeit als oberstes Unternehmensziel. So wurde die komplette Malz- und Bierproduktion auf Bio-Produktion umgestellt. Von der Vision (1977) bis zur Produktion der ersten Bio-Biersorten (1986) dauerte es neun Jahre. 1995 konnte schließlich das gesamte Sortiment zu 100 % auf »Bio« umgestellt werden. Die Zeitdauer war auch aufgrund finanzieller Gegebenheiten notwendig. 1980 gab es noch keinen einzigen anerkannten Biobauern. Das Netz des neuen Marktes musste erst aufgebaut werden. Das Neumarkter Lammsbräu kooperiert mit seinen Lieferanten, die Bio-Rohstoffe aus der Region nach gemeinsamer Absprache produzieren. Der langfristige Gewinn steht für alle im Vordergrund. Das Unternehmen zahlt seinen Lieferanten keine Marktpreise, sondern Nachhaltigkeitspreise – für hochwertige und nachhaltige Rohstoffe. Und der Verbraucher würdigt dieses »Mehr-sein« durch gute Umsätze, trotz höherer Preise. Durch diesen Erfolg beflügelt, wurden weitere (Markt-)Segmente eingeführt und bereits 2011 übertraf der Absatz nicht alkoholischer Bio-Produkte den Bierabsatz (s. Abb. 4).

Abbildung 4: Systemorientierte Landkarte des Unternehmens Neumarkter Lammsbräu

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Peter Klein und Eva Maria Kroc

Die Landkarte des Marktes kann durch eine Ist-Analyse in der Beratung in Kombination mit einer Modell-Aufstellung entstehen. Sie hilft dem Kunden Klarheit zu gewinnen, z. B. für Fragen der Strategie, des Marketings und der Außendarstellung des Unternehmens. Sie ist ein systemisch erarbeitetes Lösungsbild für den Auftraggeber, als relevanter Teilausschnitt der wahrgenommenen Wirklichkeit des Lebensrads des Marktes. Lebensrad und Landkarte des Marktes bieten die Chance, die Spannungs- und Störungsfelder zu lokalisieren und neue Lösungsansätze zu erarbeiten. Oft geht es dabei um eine Rückbesinnung auf alte Werte oder eine Ausrichtung auf eine Vision mit Nachhaltigkeit, die Mitarbeiter und Kunden gleichermaßen motivieren und aktivieren kann.

Persönliches Fazit von Eva Kroc und Peter Klein Die Integration der systemischen Aufstellungsarbeit in Verbindung mit klassischer betriebswirtschaftlicher Unternehmens- und Steuerberatung ist ein Schritt zu einer integralen (ganzheitlichen) Sicht, welches Unternehmen zu wirksamen, nachhaltig erfolgreichen Entscheidungen in der heutigen VUCA-Welt führen kann. Die Voraussetzung dafür ist Pioniergeist und die Erweiterung des eigenen Mindsets aufgrund der Bereitschaft, auch andere Sichtweisen miteinfließen zu lassen. Die Arbeit in einem interdisziplinären Beraterteam erfordert zusätzlichen Zeitaufwand, der vom Kunden oft nicht bezahlt wird, u. a. für das Entwickeln von Konzepten, den Dialog, persönliche Prozesse und Supervision. Die Bereitschaft zum »lebenslangen Lernen« ist wichtig. Immer mehr Unternehmen sind bereit, ihr Bewusstsein zu erweitern und in größeren Komplexitäten zu denken. Dieser Weg erfordert Mut zu Neuem und kann viel Freude bereiten.

Literatur Günsoy, A. (2016). Bist du Steuerberater oder lebst du schon? Ihr Update auf eine progressive Steuerkanzlei. Wie Sie mit meinem praxiserprobten Kanzleikonzept Ihre berufliche Zukunft neu gestalten. Berlin: Book On Demand. Hübner, G. (2008). Rudern Sie noch oder steuern Sie schon? Kanzleimanagement auf den Punkt gebracht. Herne: NWB Verlag. Hüther, G. (2015). Etwas mehr Hirn, bitte. Eine Einladung zur Wiederentdeckung der Freude am eigenen Denken und der Lust am gemeinsamen Gestalten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Klein, P. (2010). Integrale Aufstellungen. Wien: Verlag arcus-lucis. Klein, P. (2012). Das Aufstellungsbuch. Wien: Braumüller. Klein, P., Rippel, J. (2018). Lebensrad des Marktes. In M. Lockert (Hrsg.), Perlen der Aufstellungsarbeit (S. 260–263). Heidelberg: Carl-Auer.

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Kroc, E., Gaedke, K., Pinter, G., Lugger, N., Stadler, C. (2017). Erfolgsfaktor Betriebswirtschaft für KMU. Graz: DBV. Lami, S. (2011). Spitzenleistungen in der Steuerberatung. Wien: Linde. Müller-Christ, G., Pijetlovic, D. (2018). Komplexe Systeme lesen. Wiesbaden: Springer Gabler. Rippel, J. (2019). Systemische Kreativität – der inspirierende Zugang zur Innovation. Oder die Wiederentdeckung der Intuition in der Wirtschaft durch Systemaufstellungen. Heidelberg: Carl-Auer.

Michael Wingenfeld

Konfigurationen in Industrie und Wirtschaft – Erfahrungen seit 1984

Aufstellungen habe ich 1983 im Rahmen meiner Ausbildung in Organisationsentwicklung von Ilse Kutschera kennengelernt. Seit 1984 nutze ich als Techniker, Manager und Moderator fast täglich »Aufstellungen« in verschiedensten Kontexten, nenne diese aber industriekonform »Konfigurationen«, da der Begriff Aufstellung in der Industrie und Wirtschaft eher negativ belegt war und ist. Der Begriff »Konfiguration« ist eine gängige Bezeichnung dafür, Systeme rational aus Elementen zusammenzufügen, weshalb ich für meine Aufstellungen seit 1984 den Begriff KonFigurRation benutze und die Wortherkunft in meinen Workshops durchaus auch diskutiere: kon = zusammen, Figur = Form und Ratio = Vernunft, also »Bewusst zusammenstellen«. Die Diskussion von Wort- und Satzzusammenstellungen in Workshops mit Aufstellungen sensibilisiert die Teilnehmer auf eine sehr interessante Weise. Ich gebe dazu einigen Teilnehmer die Worte eines Satzes und lasse diese hin und her gehen, bis es für sie und die anderen passt. Begonnen habe ich 1984 mit einer einfachen Konfiguration zur Reduzierung eines Lagerbestandes (s. Abb. 1).

Abbildung 1: Konfiguration Reduzieren 1984

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Michael Wingenfeld

Wichtig war und ist es, nicht darüber zu reden, sondern einfach zu machen »Lassen Sie uns die Höhe des derzeitigen Lagerbestands doch mal kurz im Raum verdeutlichen. Eine Million Euro ist ein Meter, wie viel Euro liegen bei uns im Lager? 12,7 Millionen! Okay, dann lassen Sie uns zunächst im Flur mit 12,7 Meter Abstand hinstellen, um dann zu probieren, was wir tun können, um die 12,7 Meter Kapitalbindung so zu reduzieren, dass diese hier in den Raum von 7 Meter Länge passt.« Und schon begann die Konfiguration. Dieses Vorgehen ermöglichte es den Mitarbeitern und Führungskräften sehr schnell und intuitiv einen Sachverhalt zu erfassen und zielorientiert an dessen Verbesserung zu gehen. Jeder Teilnehmer nahm anschließend seine Aufgabe in Form eines Stück Seils mit. Bei der nächsten Besprechung brachte er dieses wieder mit und konnte daran verdeutlichen welche Verbesserung er inzwischen erreicht hatte.

Wesentliches Kennzeichen von Aufstellungen sind für mich das Ergehen und Erleben von Räumen und Strukturen, die Integration von Denken und Fühlen sowie das repräsentative Wahrnehmen der Personen. Das Format einer Aufstellung ist für mich die Formgebung und der Ablauf einer Aufstellung (Formatierung), welche für gleiche oder ähnliche Aufgaben jeweils gleich oder ähnlich und durch ihre ständige Verfeinerung und Ergänzung eine Art Wissenssammler oder besser Wissensspeicher sind. Um einen Wiedererkennungseffekt zu nutzen, orientiert sich die Grundstruktur jedes Aufstellungsformats zunächst an grafischen Darstellungen der jeweiligen industriellen und wirtschaftlichen Methode (s. Abb. 2).

Abbildung 2: Methodengrafiken als eine Grundlage für Aufstellungsformate 1993

Vom 1984 bis 1994 hatte ich die Möglichkeit, als Projektleiter und dann als Manager in einigen großen deutschen Maschinenbauunternehmen Aufstellungen anzuwenden. In dieser Zeit hatte ich die Freude, gemeinsam mit Thomas Siefer, Bert Hellinger und Gunthard Weber viele Grundlagen der Aufstellungen

Konfigurationen in Industrie und Wirtschaft

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in Organisationen zu erforschen und zu entwickeln. Diese Arbeiten mündeten 1994 in den 1. Kongress für System- und Organisationsaufstellungen in Kufstein. Von 1994 bis 2004 habe ich Aufstellungen hauptsächlich für Vertrieb, Service, Engineering und Logistik entwickelt und eingesetzt. Diese Aufstellungswerkzeuge wurden und werden von einigen großen deutschen Unternehmen hundertfach in entsprechenden Workshops und Trainings unter dem Begriff SERVE-IN (Service-Innovationen) eingesetzt. Von 2004 bis 2014 habe ich insbesondere Aufstellungsformate für die Lösung »unlösbar« erscheinender – paradoxer – Aufgaben in Industrie und Wirtschaft entwickelt. Diese Sammlung an Aufstellungsformaten habe ich unter dem Begriff ParadoxInnovation zu einem Werkzeugkasten zusammengefasst, welcher von Unternehmen und Kommunen genutzt wird. Seit 2014 arbeite ich an der effizienten Multiplikation von Aufstellungsergebnissen und -erkenntnissen. Organisationen haben den Anspruch, die Ergebnisse und Erkenntnisse von Aufstellungen optimal und hoch effizient in ihrer Organisation zu verbreiten und zu nutzen. Jetzt kann man aber nicht überall und immer wieder in einer Organisation Aufstellungen machen. Also ist mein Ansatz, erstens Aufstellung so effizient wie möglich durchzuführen, zweitens die Ergebnisse und Erkenntnisse von Aufstellungen sehr nachvollziehbar zu dokumentieren und so bereitzustellen, dass Dritte die Ergebnisse und Erkenntnisse nutzen können, ohne dafür selber eine Aufstellung machen zu müssen. Dabei verwende ich verschiedenste Multimedia- und Virtualisierungstechnologien. Diese fasse ich zurzeit zu einem Werkzeugkasten und Weiterbildungsangebot für Konfigurationen mit Technikern und Wirtschaftlern zusammen. Bei der Gliederung dieses Textes ergaben sich Phasen von fünf Jahren, in denen jeweils ein Anwendungskontext für Aufstellungen im Vordergrund stand. Zu jeder Phase werde ich jeweils ein typisches Aufstellungsbeispiel vorstellen, insgesamt haben wir ca. 150 verschiedene Aufstellungsformate entwickelt und erfolgreich eingesetzt. Die Beschreibungen der beispielhaften Aufstellungsformate sind gegliedert in: Situation, Format, Ergebnisse und Details. Zu diesen Beispielen gibt es auf unserer Internetseite weiterführende Informationen, Materialien, Bildsequenzen und Videos. Um möglichst viele Praxiserfahrungen zu teilen, zeigt der nächste Abschnitt des Beitrages hauptsächlich, wie wir es tun. Im Anschluss an die Beispiele aus den verschiedenen Dekaden habe ich noch einige Erfahrungen zu Aufstellungen in Unternehmen zusammengestellt.

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Michael Wingenfeld

Produktion und Logistik 1984–1989 In der ersten Phase von 1984 bis 1989 stand der Anwendungskontext »Produktion und Logistik« im Zentrum. Im Fallbeispiel dieser ersten Phase von 1986 geht es um die Reduzierung eines Bestandes und die Durchlaufzeit der Produkte, also um folgende Konfiguration und Situation: Konfiguration: Bestand-Durchlaufzeit-Matrix 1986. Situation: Ziel war es, die Kapitalbindung eines kompletten Konzerns in allen Bereichen drastisch um die Hälfte zu reduzieren: Bestand/2. Damit die Versorgung der Kunden mit Produkten trotz dieser drastischen Reduzierung des Lagerbestands zukünftig gewährleistet werden konnte, mussten parallel die Durchlaufzeiten (DLZ) der Produkte reduziert werden, ebenfalls mindestens um die Hälfte. Damals sollten möglichst viele Mitarbeiter und Führungskräfte mit einer einfachen Methode von der Sinnhaftigkeit dieses Vorgehen überzeugt werden.

Die Konfiguration in Bezug auf die Reduzierungssituation sah folgendermaßen aus: Das durch die Reduzierung der Bestände freiwerdende Kapital sollte zunächst in die drastische Reduzierung der DLZ investiert werden. Nach der Amortisation sollte dies zu einer erheblichen Verbesserung des betrieblichen Ergebnisses führen. Um die Führungskräfte und Mitarbeiter diesen Zusammenhang sinnfällig zu verdeutlichen und erleben zu lassen, wurde das oben vorgestellte, eher eindimensionale Aufstellungsformat Bestandsreduzierung (s. Abb. 1) um eine zweite Achse »DLZ« ergänzt. Dazu wurde ein Koordinatensystem aus zwei Schnüren auf dem Boden gelegt, die X-Achse war der Bestand die Y-Achse war die DLZ (s. Abb. 3, Bild 1: »Bestand-DLZ-Matrix«). Es wurden zwei Mitarbeiter gebeten, sich in dieses Koordinatensystem zu stellen, einer repräsentierte den Bestand, der andere die durchschnittliche DLZ eines konkreten Produktes, welches die beiden Repräsentanten möglichst in der Hand halten sollten. Da beide betrieblichen Kennzahlen sehr hoch waren, standen die beiden Mitarbeiter jeweils am Ende ihrer Achse. Der Repräsentant der Kapitalbindung ist dann schrittweise entlang der X-Achse in Richtung Nullpunkt gegangen und der Repräsentant der Durchlaufzeit hat sich nach eigenen Vorstellungen und eigenem Gefühl ebenfalls bewegt (s. Abb. 3, Bild 2: »Bestände + DLZ«). Die um das Koordinatensystem herum stehenden Mitarbeiter haben dann in kleinen Gruppen diskutiert, was die einzelnen Schritte in der Realität bedeuten. Danach haben sie ihre Ideen mit Moderationskarten entlang der Schnüre (zunächst verdeckt) hinterlegt.

Konfigurationen in Industrie und Wirtschaft

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Abbildung 3: Konfiguration Matrix am Beispiel von Warenbestand und Durchlaufzeit 1986

Folgende Ergebnisse sind festzuhalten: Durch das geschilderte Vorgehen haben die jeweiligen Teilnehmergruppen schnell ein gemeinsames Bild und Verständnis des notwendigen Vorgehens und der dazu notwendigen Maßnahmen entwickelt. Überraschend war, wie viele kreative Ideen von den Mitarbeitern kamen. Interessant war des Weiteren, dass die außen stehenden Kollegen gern selbst mit in die Matrix gehen wollten, und zwar immer dort, wo sie die Wirkung der eigenen Verbesserungsidee zeigen und letztendlich auch selbst erleben wollten. Darüber hinaus wurde vorgeschlagen, nicht mit einzelnen Personen an den Achsen, sondern gemeinsam am Maximum der XY-Achse zu starten (s. Abb. 3, Bild 3: »abgestimmt«). So wanderten im Laufe der Aufstellungsanwendung praktisch alle beteiligten Mitarbeiter samt ihrer Moderationskarten in das Koordinatensystem hinein (s. Abb. 3, Bild 4: »reduzieren«). Folgende Details ergaben sich: Besonders interessant war, dass die Mitarbeiter je nach ausgewähltem Produkt zu unterschiedlichen Vorschlägen kamen, was sich im Nachhinein als sehr sinnvoll herausstellte. So wurden bei der Reduzierung der Kapitalbindung unterschiedliche Vorgehensweisen für A-, B- und C-Teile (Wert) herausgearbeitet, was sich als erheblicher Beitrag zur gleichzeitigen Reduktion der Kapitalbindung und Durchlaufzeit herausstellte. A-Teile haben einen besonders hohen Wert, die Reduktion um wenige Teile reduziert also die Kapitalbindung erheblich. C-Teile haben einen geringen Wert, die Mengen müssen also um viele Teile reduziert werden, um die Kapitalbindung zu reduzieren. Neben den beabsichtigten technischen, organisatorischen und ökonomischen Effekten sind durch die Nutzung von Aufstellungselementen noch einige weitere positive Entwicklungen angestoßen worden. Für einige Teilnehmer war es überraschend, plötzlich ökonomische und technische Größen wie Kapitalbindung »spüren« zu können. Alle Teilnehmer waren wesentlich intensiver bei der Sache und haben

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Michael Wingenfeld

sich mit der Aufgabenstellung weitaus mehr identifiziert, als sonst zu beobachten ist. Insgesamt entstand ein Lösungsteam, in dem alle für alle mitgedacht haben. Ein Personaler sprach in diesem Zusammenhang von einer Humanisierung der Arbeitswelt.

Strategie und Organisation 1989–1994 In der zweiten Phase von 1989 bis 1994 stand der Anwendungskontext »Strategie und Organisation« im Mittelpunkt. Hier zunächst die Konfiguration und die Situation des Fallbeispiels dieser zweiten Phase aus dem Jahr 1993: Konfiguration: Vertriebsorganisation 1993. Situation: Für einen aus drei ehemals selbstständigen Maschinenbauunternehmen bestehenden Konzern sollte eine gemeinsame Vertriebsorganisation aufgebaut werden. Dazu wurden mehrere ausführliche Interviews geführt und Kunden gebeten, ihre Wünsche und Vorstellungen eines idealen Lieferanten von Maschinen mit Zetteln auf einem Tisch darzustellen. Dabei kam heraus, dass eine passende Vertriebsorganisation auch die Funktionen Engineering und Service beinhalten sollte.

Folgende Konfiguration resultierte aus der zuvor benannten Situation des Aufbaus einer Betriebsorganisation: Bei der Realisierung der neuen Vertriebsorganisation wurden möglichst viele Mitarbeiter und Führungskräfte der drei Maschinenbauunternehmen eingebunden. Dazu wurden aus den Interviews mit den Kunden drei Flächen für die Aufstellung mit unterschiedlichen Strukturen abgeleitet: 1. der Markt mit den verschiedenen Kunden, 2. der Konzern mit den drei Maschinenbauunternehmen und 3. dazwischen die Vertriebsorganisation mit den drei Bereichen Vertrieb, Engineering und Service.

Abbildung 4: Konfiguration Vertriebsorganisation 1993

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Ausgewählte Mitarbeiter und Führungskräfte der drei Maschinenbauunternehmen haben sich dann in Workshops in die verschiedenen Felder gestellt und sich die jeweiligen Interviewsequenzen durchgelesen. Anschließend haben die Repräsentanten dann mit den anderen daran gearbeitet, wie der neue Vertrieb mit Engineering und Service organisiert werden solle (s. Abb. 4).

Das Ergebnis der Konfiguration stellte sich folgendermaßen dar: Durch dieses Vorgehen wurde allen beteiligten Führungskräften und Mitarbeitern sofort das Gesamtsystem und die Anforderungen an die einzelnen Systemelemente der neuen Marktorganisation und die drei Maschinenbauunternehmen klar. Die Akzeptanz für die notwendigen Veränderungen war dadurch sehr hoch.

Folgende Details sind hervorzuheben: Überraschend war für mich damals, dass die Vertreter der drei Konzernunternehmen aus den Positionen der Aufstellung heraus bereit waren, eigene Funktionsbereiche an die Vertriebsorganisation abzugeben, so z. B. die komplette Ersatzteilversorgung. Es ist also leichter, sich zu »bewegen« und das Ganze zu verändern, wenn man die Struktur des ganzen Systems sieht, aus verschiedenen Strukturelementen heraus fühlt und Veränderungen positiv erlebt. Interessant war auch, dass die Veränderungen gegenüber den Kunden äußerst positiv dargestellt und den Kunden dabei sogar von Erlebnissen in der Aufstellung berichtet wurde: »Als ich sah, wie der Vertrieb, das Engineering und der Service zusammenspielen, war mir klar, dass wir unser Ersatzteillager in deren Hände legen müssen.«

Sanierung und Fusionen 1994–1999 In der dritten Phase von 1994 bis 1999 stand der Anwendungskontext »Sanierung und Fusionen« im Mittelpunkt. Hier zunächst die Konfiguration und die Situation des Fallbeispiels dieser dritten Phase aus dem Jahr 1995: Konfiguration: PolyKontexuRal 1995. Situation: Im Laufe von zehn Jahren wurden von einem Anlagenbauunternehmen über zehn Wettbewerber aufgekauft, diese lagen alle in einem Umkreis von ca. 70 Kilometern. Da keine Maßnahmen durchgeführt worden waren, um diese zehn Wettbewerber in irgendeiner Form zu fusionieren, kam es zu keinen Synergie-Effek-

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ten. Im Gegenteil, der Konkurrenzkampf ging innerhalb des Konzerns verstärkt weiter und es drohte eine Insolvenz des Gesamtkonzerns.

Aus der genannten, komplexen Fusions-Situation ergab sich folgende Konfigu­ ration: Um allen Beteiligten die Komplexität und Schwierigkeiten der notwendigen Fusion deutlich spürbar zu machen, wurde ein spezielles Aufstellungsformat, angelehnt an die Kybernetik von Gotthard Günther (aus persönlichen Gesprächen mit seinem Schüler Rudolph Kaehr), mit drei absichtlich schwierigen Bezeichnungen gewählt: »PolyKontextual«, »PolyKontextuRal« und »Inkommensurabel«. PolyKontextual bedeutet, dass es verschiedene Kontexte (Firmen) gibt, polyKontextuRal, dass diese verschiedenen Kontexte jeweils unterschiedliche KontextuRen (Binnenstrukturen) haben und Inkommensurabel bedeutet, dass diese Firmen dadurch tendenziell nicht in der Lage sind, einen gemeinsamen Sinn (Common Sense) auszubilden. Die Wahl dieser drei schwierigen philosophischen Bezeichnungen für das Vorgehen führte zu einer erheblich gesteigerten Aufmerksamkeit und einem erhöhten Interesse. Die Teilnehmer waren daran interessiert, zu erfahren, wie wissenschaftstheoretische Überlegungen ihnen bei der Fusion ihrer Firmen helfen können. In mehreren Workshops haben die Mitarbeiter und Führungskräfte der verschiedenen Firmen auf getrennten Flächen in einem Raum die Struktur ihrer jeweiligen Firma mit Seilen und Flipcharts auf dem Boden abgebildet. Anschließend haben sich diese auf zufällig ausgewählte Positionen gestellt, um dann mit den Repräsentanten der anderen Firmen ihre Erkenntnisse und Erlebnisse auszutauschen (s. Abb. 5).

Abbildung 5: Konfiguration PolyKontexuRal 1995

Die Konfiguration führte zu folgenden Ergebnissen: Allein schon das Erleben des »PolyKontextuRalen« und »Inkommensurablen« reichte aus, um die meisten Mitarbeiter und Führungskräfte dazu zu motivieren, zukünftig

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gemeinsame Strukturen und eine gemeinsame Sprache auszubilden. Als hilfreich wurde dabei die Erfahrung benannt, die ungewöhnlichen Begriffe polykontextual, polykontextuRal und inkommensurabel kennengelernt zu haben.

Auch in diesem Fallbeispiel gab es Details, die hervorzuheben sind: Die Workshops wurden sowohl in einem Seminarhotel, in der Unternehmenszentrale und in einigen Werken durchgeführt. Im Vergleich stellte sich heraus, dass es am besten ist, die Workshops in den verschiedenen Unternehmen durchzuführen, und zwar möglichst in den Funktionsbereichen, um die es gerade geht, also z. B. in der Produktion, Endmontage oder im Lager. An diesen Orten war die Wechselwirkung mit der Komplexität der realen Umgebung besonders stark, zum Teil haben wir während der Aufstellung reale Materialien, Maschinen und Regale umgestellt und die unmittelbare Wirkung in der Aufstellung gespürt. Die Akzeptanz dieser Veränderungen war ganz besonders hoch.

Engineering und Service 1999–2004 In der vierten Phase von 1999 bis 2004 stand der Anwendungskontext »Engineering und Service« im Mittelpunkt. Hier zunächst die Konfiguration und die Situation des Fallbeispiels aus dem Jahr 2001 dieser vierten Phase: Konfiguration: CustomerJourney 2001. Situation: In vielen Branchen reichte es 2000 nicht mehr aus, sich über reine Produkteigenschaften am Markt zu differenzieren. Es wurde zunehmend notwendig, für Produkte differenzierende Dienstleistungen zu entwickeln und aktiv anzubieten. Unter Dienstleistung wurden alle nicht materiellen Leistungen verstanden, welche den Kunden so viel Nutzen bringen, dass diese gern dafür bezahlen.

Folgende Konfiguration verdeutlichte die Situation hinsichtlich der zu entwickelnden Dienstleistungen: Da Dienstleistungen immaterielle Leistungen sind, waren diese für Kunden zumeist nicht sichtbar. Man sah einem Lager nicht an, dass es optimiert worden war. Deshalb war es sehr wichtig, die Erbringung einer Dienstleistung, insbesondere die eingesetzten Ressourcen (Know-how, Software etc.) und den Nutzen für die Kunden explizit sichtbar, bemerkbar und weiterempfehlbar zu machen. Um die Dienstleistung »sichtbar« zu machen, haben wir u. a. die Methode CustomerJourney mit

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Michael Wingenfeld

einer Aufstellung genutzt. Bei einer CustomerJourney werden die Erlebnisse eines Kunden während einer Dienstleistung wie die Erlebnisse eines Touristen bei einer Reise analysiert: »Wo war ich?«, »Was habe ich gesehen?«, »Was hat mich beeindruckt?«, »Was hat mich enttäuscht?«, »Was hatte ich erwartet?« usw. Dazu wurde einem Raum zunächst eine zeitliche Richtung und Dimension, angelehnt an den Dienstleistungsprozess, gegeben. Des Weiteren wurde der Raum der Länge nach in eine Hälfte für den Kunden (rechts) und eine Hälfte für den Dienstleister (links) unterteilt. Die Linie zwischen diesen beiden Hälften war die Linie entlang der Interaktionen zwischen dem Dienstleister und dem Kunden. Auf der linken Seite wurde dann z. B. ein industrieller Dienstleistungsprozess wie die Reparatur einer Maschine simuliert und im Anschluss analysiert, ob und was der Kunde davon mitbekommen habe. Leider wurde die Interaktionslinie zu Beginn nur selten berührt, der Kunde hatte also nur wenig Kontakt mit der Dienstleistung. Anschließend wurden in der Aufstellung Sichtbarkeits- und Interaktionspunkte mit dem Kunden entlang des Dienstleistungsprozesses definiert und gestaltet, um möglichst viele positive Eindrücke beim Kunden zu hinterlassen (s. Abb. 6).

Abbildung 6: Konfiguration CustomerJourney 2001

Das Ergebnis der Konfiguration führte zu Mustern von Praktiken, die noch immer von unseren Kunden genutzt werden: Hunderte von CustomerJourney-Aufstellungen in Workshops und Projekten haben gezeigt, dass das proaktive Design von Kundengesprächen einen äußerst positiven Effekt auf die Geschäfte mit Dienstleistungskunden haben. Insbesondere Servicetechniker konnten mit dieser Methode ihre Best-Practices einbringen, so dass im Laufe der Zeit ein ganzer Werkzeugkasten mit wirkungsvollen Gesprächswerkzeugen und Aufstellungsformaten entstand, mit denen viele unserer Kunden auch heute noch ihre Dienstleistungsprozesse und Kundenkommunikation gestalten, es ist eine Art NLP des Vertrieb und Service entstanden.

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Folgende nennenswerte Details sind zudem festzuhalten: Überraschend war, dass viele Ingenieure und Servicetechniker sich ihrer eigenen Kommunikationsstrategien und Best-Practices nicht bewusst waren. Dieses Aufstellungsformat war so praktikabel, dass Servicetechniker ihre Kundenbesuche gezielt selber damit vorbereiten und ganze Kundenstützpunkte damit gestaltet werden konnten. Für einige Unternehmen haben wir kleine Hefte mit ganzen Storyboards der CustomerJourney entwickelt, die jeder Techniker in seiner Tasche oder auf seinem Smartphone dabei hat. Für einen Kunden wurden Audio- und Video-Podcasts entlang der CustomerJourney aufgezeichnet.

Value und Business 2004–2009 In der fünften Phase von 2004 bis 2009 stand der Anwendungskontext »Value und Business« im Mittelpunkt. Im Fallbeispiel dieser Phase von 2006 ging es um einen großen deutschen Anlagenbauer: Konfiguration: ValueChain 2006. Situation: Investitionsgütergeschäfte haben direkte Kunden und Kunden von Kunden. Damit der direkte Kunde mit seinen Investitionen erfolgreich ist, hat es Vorteile, auch den Nutzen des »Kunden-Kunden« zu kennen. Der betroffene Anlagenbauer wollte bzw. musste gemeinsam mit seinen Kunden neue Kundengruppen und Anwendungsfelder erschließen.

Aus der Situation des Anlagenbauers entwickelte sich die Konfiguration ValueChain: Die Bedürfnisse des direkten Kunden konnten zum damaligen Zeitpunkt sehr gut mit der Methode Value Proposition und einem entsprechenden Aufstellungsformat abgebildet werden. Bei der Methode Value Proposition wird beim Kundennutzen (Value) deutlich zwischen der Lösung aktueller Probleme eines Kunden (pain) und möglicher zusätzlicher Leistungen (nice) unterschieden und dabei zunächst auf die Problemlösung fokussiert. Im Investitionsgütergeschäft (Business to Business) spielten die Bedürfnisse der Kunden der Kunden eine wesentliche Rolle. Deshalb wurden die Methode und das Aufstellungsformat um einen Kunden-Kunden zu einer Value Chain erweitert (s. Abb. 7). Der Anbieter ging dann in der Aufstellung gemeinsam mit seinem Kunden zu dessen Kunden und analysierte dessen Probleme. Anschließend ging er zurück auf seine Ursprungsposition und überlegte, was er

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seinen Kunden anbieten könne, damit dieser wiederum seinem Kunden bessere Lösungen anbieten könne.

Abbildung 7: Konfiguration ValueChain 2006

Folgende Ergebnisse ließen sich aus Aufstellungen gemäß der Konfiguration ValueChain ableiten: Interessant wurden Value-Chain-Aufstellungen, wenn mit verschiedenen Positionen entlang der Value Chain experimentiert wurde, z. B. die Frage gestellt wurde, wie man ein Kettenglied überflüssig machen bzw. mit welcher Technologie man eine Value Proposition substituieren könne. Entwicklern wurde in diesem Moment klar, dass der direkte Kunde nicht der ausschlaggebende Kunde sei, sondern die Folgeglieder der Value Chain für die zukünftige Entwicklung viel wichtiger seien.

Außerdem waren folgende Details aufschlussreich: Bei dem Vorgehen, die Value Chain zwei oder drei Stufen nach hinten, also mit den eigenen Lieferanten durchzugehen, wurde allen Beteiligten klar, dass auch die eigenen Lieferanten wichtige Beiträge zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit leisten konnten, z. B. durch spezielle Technologien und Patente. Einige Unternehmen spielten daher jährlich ihre verschiedenen Value Chains mit Aufstellungen durch. Hilfreich war dabei, mit den Bodenankern der Aufstellungen des jeweiligen Vorjahres zu beginnen oder eine Aufnahme der letztjährigen Aufstellung in realer Größe an die Wand zu projizieren.

Konfigurationen in Industrie und Wirtschaft

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Innovation und CoCreation 2009–2014 Die sechste Phase von 2009 bis 2014 fokussierte auf den Anwendungskontext »Innovation und CoCreation«: Konfiguration: DesignThinkingSimultaneous 2012. Situation: Zur Ausarbeitung und Konkretisierung wirklicher Innovationen mussten zunehmend Kunden eingebunden werden.

Um die Situation des Fallbeispiels von 2012 in Konfigurationen umzusetzen, wurde (und wird) u. a. die Methode Design Thinking eingesetzt. Bei Design Thinking werden gemeinsam mit dem Kunden vier bis sechs Phasen mehrfach in verschiedener Reihenfolge durchlaufen. So können wesentlich schneller kunden- und marktgerechte Produkte entwickelt werden: Ȥ Verstehen: Wie tickt der Kunde? Ȥ Beobachten: Was zeigt sich am Kunden? Ȥ Fokussieren: Was bearbeitet man zuerst? Ȥ Kreieren: Welche Lösungsideen fallen uns ein? Ȥ Prototyping: Ein Prototyp wird gebastelt. Ȥ Testen: Der Prototyp wird am Kunden ausprobiert. Für das Fallbeispiel des Jahres 2012 wurde die Konfiguration DesignThinkingSimultaneous entwickelt: Beim Aufstellungsformat DesignThinkingSimultaneous wurden die Arbeitsschritte Beobachten, Verstehen, Prototyping und Testen zusammengefasst und so simultan und damit wesentlich schneller durchlaufen. Außerdem konnten reale Kunden durch Repräsentanten ersetzt werden, was den Aufwand erheblich reduziert. Da die Repräsentanten aus den eigenen Reihen kamen, hatte das zudem den Effekt, dass sich diese anschließend wesentlich besser in Kunden hineinversetzen konnten (s. Abb. 8).

Abbildung 8: Konfiguration DesignThinkingSimultaneous 2012

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Hier die aus dem Einsatz von DesignThinkingSimultaneous gewonnenen Ergebnisse: Durch den Einsatz des simultanen Design Thinking konnte die durchschnittliche Dauer eines Design-Thinking-Sprints von vier bis fünf auf drei bis zwei Tage gesenkt werden. In Kombination mit den eigenen Kundenrepräsentanten konnten z. B. neue Service-Produkte von Servicetechnikern und Ingenieuren in dreitägigen Workshops entwickelt werden. Im mehreren Fällen haben Techniker dieses Vorgehen »standup« bei Kundeneinsätzen angewandt, was durchaus wörtlich zu verstehen war: Die Techniker sind mit ihren Kunden im Besprechungsraum aufgestanden und haben sich gemeinsam mit ihren Kunden auf die verschiedenen Positionen des Design Thinking gestellt und sich ausgetauscht.

Darüber hinaus sind folgende Details zu erwähnen: Beim Arbeitsschritt Prototyping wurden beim Design Thinking Prototypen von Lösungen z. B. mit Bastelmaterialien gebaut. In Aufstellungen konnten mögliche Lösungen von Repräsentanten simuliert werden, um zu beobachten, wie Kunden darauf reagieren. Dabei gaben Repräsentanten auch Auskunft, welche zusätzlichen Eigenschaften ihre Beziehung zu Kunden verbessern könnten. Auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Systemaufstellung (DGfS) 2009 wurde dieses Format in der Wuppertaler Stadthalle unter dem Namen InnoProcess mit über 100 Teilnehmern drei Stunden lang aufgestellt.

Digitalisierung und Virtualisierung 2014–2019 Die siebte Phase von 2014 bis 2019 befasste sich mit dem Anwendungskontext »Digitalisierung und Virtualisierung«. Die zwei hier vorgestellten Fallbeispiele beziehen sich auf eine Konfiguration von 2018 und eine von 2017. Zunächst die Konfiguration und Situation des ersten Beispiels: Konfiguration: Fotografieren 2018. Situation: Die Digitalisierung, Industrie 4.0, Virtual Reality, Augumented Reality, Big Data, Internet of Things und Künstliche Intelligenz eröffnen viele neue Möglichkeiten, sowohl in der industriellen Anwendung als auch für Aufstellungsformate. In einem dreijährigen Forschungsprojekt mit der Firma real.scan.service und mehreren Anlagenbauern und Produktionsunternehmen haben wir die Möglichkeiten der Digitalisierung und Virtualisierung gemeinsam mit Aufstellungen erforscht.

Konfigurationen in Industrie und Wirtschaft

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Die Konfiguration beinhaltet folgende Vorgänge der Aufstellungserforschung hinsichtlich Digitalisierung und Virtualisierung: Wir haben Industrieanlagen dreidimensional eingescannt und in Aufstellungen mit Virtual-Reality-/(VR)- und Augmented-Reality-/(AR)-Brillen sowie mit großflächigen Projektionen zur Verfügung gestellt. Des Weiteren haben wir Aufstellungen mit verschiedensten Technologien vom 3-D-Laser-Scan und von 360-Grad-Fotos über binaurale Audioaufnahmen bis hin zu Schnittbildern quer durch Aufstellungen erfasst (s. Abb. 9). Bei einer binauralen Tonaufnahme werden die Aussagen von Repräsentanten mit zwei Spezialmikrofonen an den beiden Ohren eines zuhörenden Repräsentanten richtungsgenau aufgenommen, so dass diese später ebenfalls wieder richtungsgenau abgehört werden können. So können die Positionen der Repräsentanten in einer Aufstellung auch akustisch reproduziert werden. Die erste Idee, ein Schnittbild durch eine Aufstellung zu machen, ist von ca. 1991 aus einem Aufstellungsworkshop mit Jakob Schneider in München. Dabei wird z. B. eine Hälfte der Repräsentanten herausgenommen und von den verbleibenden Repräsentanten ein Foto aus Sicht der anderen Repräsentanten geschossen. Dieses Schnittbild kann dann mit einem Beamer auf eine Wand projiziert werden und neue Repräsentanten können gebeten werden, sich relativ dazu aufzustellen. Damit sind wie bei der Reproduktion realitätsnahe immersive Effekte zu erzielen. 360-Grad-Fotos werden genau aus der Position der Köpfe der Repräsentanten aufgenommen. So kann die Rundumsicht eines Repräsentanten mit einer VR-Brille realitätsnah reproduziert werden. In Kombination mit einem 360-Grad-Foto in einer VR-Brille erzielen wir auf diese Weise einen beeindruckenden immersiven Effekt. Immersion meint dabei den Effekt, dass das Gehirn eine virtuelle Umgebung als real empfindet. Zurzeit arbeiten wir daran, diese Signale live an einen anderen Ort zu übertragen und so auch einer nicht am Ort anwesenden Person einen immersiven Eindruck zu vermitteln. Danach wollen wir das Ganze dann interaktiv gestalten. Ziel ist der Einsatz in weiteren Aufstellungen oder zur Multiplikation der Aufstellungserkenntnisse an weitere Personen. Zusammen mit einem Berliner Medien-

Abbildung 9: Konfiguration Fotografieren 2018

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forscher haben wir (virtuelle) Repräsentanten mit Software und sogar Künstlicher Intelligenz verbunden, so dass diese auf Berührung oder »Anschauen« reagieren. Nächste Schritte sind die Erfassung von Körpersignalen des Repräsentanten oder seines Gegenübers, z. B. mit Internet-of-Things-Sensoren (IoT) und Gesichtserkennungssoftware.

Hier das Ergebnis der Konfiguration Fotografieren 2018: Bei den verschiedenen Versuchen waren wir selbst überrascht, mit welchen relativ einfachen Mitteln wir bereits Aufstellungen intensivieren bzw. wirkungsvoller machen können. So reichte z. B. die einfache Tatsache, dass wir in einer Aufstellung von einer speziellen Position aus ein Foto geschossen haben, um die Aufmerksamkeit und Sensibilisierung von Repräsentanten zu intensivieren. Die Repräsentanten sahen und spürten dabei unmittelbar, von welchen Positionen auf welche Details der Fokus gerichtet war. Projiziert man z. B. das Schnittbild einer halben Aufstellung lebensgroß auf eine Wand, reagieren neue Repräsentanten darauf ähnlich wie die ursprünglichen Repräsentanten in der ursprünglichen Aufstellung. Spielt man Sprachaufnahmen einer früheren Aufstellung z. B. mit einem kleinen Bluetooth-Lautsprecher von der Schulter eines Repräsentanten ab, reagieren die neuen Repräsentanten darauf ähnlich den vorhergehenden Repräsentanten.

Zudem sind folgende Details erwähnenswert: Die Positionen, von denen Medien wie Kameras in Aufstellungen eingesetzt werden, haben ganz besondere Wirkungen in und für Aufstellungen. Deshalb haben wir für den Medieneinsatz in Aufstellungen ein eigenes Koordinatensystem entwickelt. Das leicht zur Seite versetzte Foto eines Repräsentanten von 80 Zentimeter hinter und 15 Zentimeter über dem Kopf eines anderen Repräsentanten hat z. B. eine ganz besonders starke Erinnerungswirkung für beide Repräsentanten, wenn darauf der Hinterkopf und die Schulter des ersten Repräsentanten zu sehen sind. Die erste Anregung für diese Fotoposition kam von Bert Hellinger während der Vorbereitung des Organisationsaufsteller Kongresses 1994 in Kufstein und hat sich auch dort gleich bewährt. Schaut man sich dieses Foto mit einer VR-Brille an, ist die Wirkung noch einmal größer. Ich nehme an, dass sich der Repräsentant mit einem solchen Foto von sich besonders gut in sich selbst hineinversetzen kann, weil er gleichzeitig sich selber sieht (Hinterkopf), seine eigene Blickrichtung (Kopf), den anderen angeschauten Repräsentanten und wo der andere Repräsentant hinschaut.

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Das zweite Fallbeispiel dieser Phase mit dem Anwendungskontext »Digitalisierung und Virtualisierung« bezieht sich auf folgende Konfiguration und Situation: Konfiguration: Kanban-Projektion 2017. Situation: Ein Software-Unternehmen wollte in bestimmten Arbeitsbereichen die Methode Kanban für die Selbstorganisation der Softwareentwicklungsteams einführen. Kanban ist das japanische Wort für Karte. Auf einer Kanban-Tafel sind z. B. vier Spalten aufgetragen (von links nach rechts: 1. Arbeitsvorrat, 2. dringend, 3. in Arbeit, 4. erledigt. Die Teammitglieder nehmen sich z. B. jeden Morgen eine Karte aus dem (dringenden) »Arbeitsvorrat« und bearbeiten diese den Tag über. Am nächsten Tag geben sie die Karte in die Spalte »erledigt« und nehmen sich die nächste Karte aus dem »Arbeitsvorrat«. Leider brachten aufgehängte Kanban-Boards nicht den gewünschten Effekt schnellerer Abarbeitung und höherer Transparenz des Arbeitsfortschritts.

Die Konfiguration verdeutlicht nun die Situation des Kanban-Board-Einsatzes in Form der Projektion: Ein aktuelles Kanban-Board wurde mit einer einfachen WLAN-Kamera abgefilmt und mit einem Beamer live und großflächig von der Decke auf den Boden projiziert. Jeder Mitarbeiter ging jetzt sukzessiv von »hinten« über das projizierte Kanban-Board: 1. Was habe ich als letztes erledigt? 2. An was werde ich heute arbeiten und es gegebenenfalls fertigstellen? 3. Was werde ich heute beginnen und wie lange brauche ich? 4. Was wird als Nächstes dringend zu tun sein? Anschließend wurden die entsprechenden Karten auf dem Kanban-Board umpositioniert.

Abbildung 10: Konfiguration Projektion am Beispiel einer Kanban-Tafel 2017

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Die Ergebnisse bezeugen die positive Wirkung der Kanban-Tafel-Projektion: Die morgendliche Kanban-Besprechung wurde durch den kleinen täglichen Spaziergang über das Kanban-Board wesentlich lebendiger. Die Aufmerksamkeit für die Gesamtzusammenhänge wurde gesteigert. Die Identifizierung mit den übernommenen Arbeitsaufträgen wurde gesteigert. Es entstand eine Art Gruppenidentität. Neue Mitarbeiter konnten schneller integriert werden. Die Programmierprojekte wurden schneller und pünktlicher fertig.

Folgende Details sind zu beachten: Man nutzt am besten einen einfachen, kleinen, hellen und leicht zu handhabenden Laserbeamer oder einen Nearwallbeamer, eventuell mit einer direkt anschließbaren Webcam. Nach einer gewissen Anlaufzeit machten die Mitarbeiter ihren täglichen KanbanSpaziergang auch ohne Kamera und Beamer, sie liefen auf der ehemaligen Projektionsfläche herum, als würden sie diese noch sehen und spüren können. Auch die Kommunikation im Kanban-Team veränderte sich, es wurde z. B. davon gesprochen, dass man noch einige Schritte im nächsten Feld machen müsse.

Partizipation und Nachhaltigkeit 2019–2024 Die achte und noch bis ins Jahr 2024 laufende Phase hat im Jahr 2019 begonnen. Sie fokussiert auf den Anwendungskontext »Partizipation und Nachhaltigkeit«. Hier Konfiguration und Situation des Fallbeispiels von 2019: Konfiguration: ZeitReise 2019. Situation: Ein Unternehmen entwickelt und produziert Produkte für die technische Infrastruktur von Kommunen: Stromverteilung, Smart Metering, Wasserver- und -entsorgung usw. Die Mitarbeiter und Führungskräfte in der Produktentwicklung, im Vertrieb, im Engineering und Service sollen ein gemeinsames Verständnis von Nachhaltigkeit für Kommunen, Smart-City-Konzepte, zukünftige Produkte und Projekte entwickeln.

Die Konfiguration beinhaltet eine Zeitreise zu zukünftig möglichen Szenarien: Nachhaltigkeit bedeutet immer auch Nachhaltigkeit einer heutigen Handlung in der (fernen) Zukunft. Der heutige Ausbau kommunaler Infrastrukturen kann durchaus eine Festlegung für die nächsten dreißig bis achtzig Jahre bedeuten. Es wurde

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also ein Aufstellungsformat gewählt, mit dem verschiedenste Zukunftsszenarien simuliert und angetestet werden konnten. Um die Bedeutung langer Zeiträume für alle Teilnehmer konkreter und erlebbar zu machen, wurden exemplarisch auch Auswirkungen einiger weit zurückliegender Entscheidungen auf das Hier und Heute simuliert. Einem langen Raum (38 Meter) wurde eine zeitliche Ausrichtung – Zukunft und Vergangenheit – gegeben und die Zeit dann in fünf Phasen unterteilt: in der Mitte die Gegenwart, zwischen der Zukunft und der Gegenwart die Entwicklung und die Vergangenheit, unterschieden in bekannte und nicht bekannte Vergangenheit (welche aber sehr wohl noch wirkt). Die Unterscheidung in bekannte und unbekannte bzw. vergessene oder gar verdrängte Vergangenheit kam bereits bei einer Aufstellung in den 1980er Jahren von einer Repräsentantin, ich glaube es war Brigitte Gross aus Anthering bei Salzburg. Die Teilnehmer durchlaufen diese Phasen in kleinen Gruppen: 1. Gegenwart, 2. Vergangenheit und 3. Blick in die unbekannte Vergangenheit, 4. kurzer Besuch der Gegenwart, 5. weiter Sprung in die ferne Zukunft. Dort werden mit verschiedensten Methoden unterschiedliche Zukünfte (auch disruptive) simuliert. 6. Anschließend kommen die Zukunftsforscher zurück in die Gegenwart und beraten dort die »gegenwärtigen« Kollegen bei der zukunftsorientierten Gestaltung der nächsten Entwicklungsschritte. Die Rückmeldung in dieser Art vorzunehmen, kam Anfang der 1990er Jahre während einiger Zukunftsworkshops mit Christian Lutz im Gottlieb Duttweiler Institut in der Schweiz auf.

Abbildung 11: Konfiguration ZeitReise 2019

Ergebnisse der Konfiguration ZeitReise: Wir setzen dieses Format bereits seit zwanzig Jahren zum Teil mit bis zu 300 Teilnehmern ein und sind immer wieder überrascht, welche erheblichen Erkenntnisse die Teilnehmer dadurch gewinnen, wobei ich insbesondere auf die Erkenntnisse, ja

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das entstehende Bewusstsein des Kollektivs hinweisen möchte. Es wird klar, dass wir die Zukunft nur gemeinsam meistern können.

Außerdem sind folgende Details noch aufschlussreich: Um den Teilnehmern eine einfachere Orientierung im Raum zu geben, wurden die verschiedenen Zeitabschnitte mit gut sichtbaren Gurten auf dem Boden abgegrenzt und mit gut lesbaren Blättern markiert. In der »Zukunft« wurden den Teilnehmern mehrere Zukunftsszenarien zur Verfügung gestellt, z. B. vom International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA) in Laxenburg bei Wien, an dem ich als Young Scientist im Summer Program (YSSP) 1989 daran forschen durfte. Bei diesem Aufstellungsformat ist immer wieder überraschend, welche intensive Betroffenheit bei den Teilnehmern induziert wird und welche Nachhaltigkeit bei persönlichen und institutionellen Veränderungen damit bewirkt werden können. Die Teilnehmer kommen einfach verändert aus den Zukunftsszenarien zurück, sind plötzlich sensibler gegenüber auch kleinen Signalen und verlangen bzw. erwarten andere Herangehensweisen ihrer Organisation an die Zukunft.

Aufstellen mit Technikern und Managern Im Laufe der letzten 35 Jahre haben sich viele kleine Regeln als hilfreich bei der Nutzung von Aufstellungseffekten in Workshops mit Technikern und Managern erwiesen, hier ein kleiner Auszug: Ȥ Reden Sie nicht von Aufstellungen, stellen Sie einfach auf. Ȥ Fragen Sie nicht, wie sich jemand fühlt, sehen und spüren Sie, wie sich jemand fühlt. Ȥ Geben Sie den Teilnehmern Rätsel auf, z. B.: Was könnte diese Struktur bedeuten? Ȥ Geben Sie dem Raum eine Richtung und Struktur, indem Sie einfach Zettel an die vier Wände kleben, z. B. Zukunft und Vergangenheit, Kunde und Anbieter. Probieren Sie auch einmal aus, die Zettel verdeckt hinzukleben. Ȥ Eröffnen Sie eine Galerie, hängen Sie mehrere kleine Bilder auf, an die die Teilnehmer nahe herangehen müssen, um etwas lesen zu können. Ȥ Geben Sie auch dem Boden eine Struktur mit Seilen, Gurten, Zetteln, Papierbahnen und gegebenenfalls auch Pinnwänden, Tischen, Lampen und Stühlen. Ȥ Geben Sie den Teilnehmern keine Chance, sich hinzusetzen: keine Stühle im Raum (allenfalls ein kleiner Stuhlturm in der Ecke).

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Ȥ Gestalten Sie den Raum, z. B. links mit sechs Pinnwänden und rechts mit sechs blanken Tischen. Ȥ Bitten Sie Teilnehmer, eigene Strukturen zu gestalten oder gegebene Strukturen umzugestalten. Ȥ Gehen Sie immer mal wieder draußen spazieren und lassen Sie die Teilnehmer draußen arbeiten und präsentieren. Achten Sie dabei darauf, wie sich die Teilnehmer relativ zueinander hinstellen. Ȥ Nutzen Sie Objekte in der Umgebung (Denkmäler, Skulpturen, Treppen …) und bitten Sie Teilnehmer, sich relativ dazu zu positionieren. Ȥ Stellen Sie in Unternehmen an den Originalorten auf, also z. B. im Lager oder an einer Maschine. Ȥ Lassen Sie möglichst alle Strukturen auf dem Boden liegen, es erinnert die Teilnehmer permanent an die gewonnenen Erkenntnisse.

Zusammenfassung und Ausblick Induktion, Deduktion, Zustandsgraphen und Konfigurationen: Als Ingenieur schaut man hauptsächlich, dass etwas funktioniert, und nicht so sehr, warum etwas funktioniert. Und Aufstellungen funktionieren einfach in der Praxis von Ingenieuren, Wirtschaftlern, Managern und Moderatoren sehr gut. Zudem zeigen Aufstellungen immer wieder die Wege zu ihrer eigenen Verbesserung und zu neuen Aufstellungsformaten, man muss bloß offen, aufmerksam und bereit dazu sein, Experimente zuzulassen. Überlege nicht lange, was man tun sollte, damit es funktioniert, oder gar, warum es eventuell nicht funktionieren könnte, sondern stell einfach auf und du wirst sehen, was geht und was nicht. Zur theoretischen Reflexion: Während meines Studiums der Wissenschaftstheorie in Zürich, München und Wien habe ich die Induktions- und die Deduktionsmethode von Karl Popper kennengelernt. Bei der Induktion schließt man von vielen einzelnen Fällen auf eine allgemeingültige Theorie, bei der Deduktion überlegt man sich, ausgehend von einer allgemeinen Theorie, wie diese in konkreten Fällen helfen könnte. Bei der Nutzung und Entwicklung von Aufstellungen habe ich beide Wege beschritten, tendenziell gleichzeitig, sozusagen im Gegenstromverfahren: 1. Induktion: Was zeigen uns einzelne Aufstellungen, was eventuell Bestandteil einer Theorie von Aufstellungen werden könnte? 2. Deduktion: Welche Theorien könnten einem helfen, wirkungsvollere Aufstellungen zu ermöglichen?

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Abbildung 12: Zustandsgraph

Im Rahmen eines kleinen Forschungsprojekts der European Space Agency (ESA) in Bremen über die Kommunikation zwischen den Erdfunkstationen und dem Weltraumlabor Spacelab habe ich 1984 von Thomas Herter die Theorie der Infiniten Automaten, auch offene Zustandsgraphen genannt, kennengelernt. Ein Zustandsgraph ist eine mathematische Form, die Zustände eines komplexen Systems und deren mögliche Zustandsübergänge zu beschreiben (s. Abb. 12). Der Zustandsübergang eines Repräsentanten auf einer Position in einer Aufstellung kann z. B. die Veränderung seines Gefühls von zufrieden zu traurig sein. Ein Repräsentant kann an einer Position tendenziell mehrere Zustände repräsentieren, z. B. fröhlich, zufrieden oder traurig. Die Übergänge zwischen diesen Zuständen kann man sich auch als Kontinuum vorstellen, was mathematisch mit einer Unschärfefunktion (fuzzy) oder einem neuronalen Netzwerk beschrieben werden kann. Ein Übergang ist z. B. auch die Einnahme einer neuen Position in einer Aufstellung. Man kann sich einen Zustandsgraphen wie ein großes Netz von Bahnen vorstellen, in dem mehrere Kugeln hin und her rollen und deren jeweilige Position die aktuellen oder möglichen Zustände eines realen Systems repräsentieren. In einem offenen Zustandsgraphen (infiniten Automaten) können nun auch Zustände eines Systems abgebildet werden, welche zuvor (noch) nicht bekannt waren, das Netz kann sich also jederzeit verändern und erweitern. Und man kann sich überlegen (und auch simulieren), welche Änderung oder Ergänzung im Netz welche Änderungen oder Ergänzungen in der Realität bedeuten. Und genauso denke ich mir Aufstellungen z. B. für eine »Theorie«, wie die Theory U von Otto Scharmer (2009). Ich überlege mir zunächst einen Zustandsgraphen, der möglichst viele Zustände und möglichen Übergänge der Theorie abbildet. Daraus leite ich dann eine Idee für das Anfangsbild einer Aufstellung bzw. eines Aufstellungsformats ab. Dann stelle ich einfach mal auf und schaue, was passiert. Anschließend überlege ich, ob in der oder den Aufstellungen Zustände und Übergänge geschehen sind, welche eine Veränderung oder Ergänzung des

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jetzt offenen Zustandsgraphen als sinnvoll erscheinen lassen und damit in meine »allgemeine Theorie« dieser Aufstellungen eingehen (sollten). Wie in diesem Abschnitt oder auch dem Abschnitt zu den Digitalisierungsmöglichkeiten der Aufstellungsarbeit deutlich wird, gibt es viele offene Fragen zu Anwendungsideen und zur Theorieentwicklung. Zurzeit experimentieren wir mit Big Data Analytics, die auch feinste Änderungen in Aufstellungen interpretieren und Künstliche Intelligenz die Avatare fühlen, steuern und reden lassen können. Wir würden uns freuen, eine Erforschung bzw. Beantwortung von Fragen im Austausch und mit vielen Interessierten zu unternehmen. Bei Interesse wenden Sie sich bitte an den Autoren.

Die Autorinnen und Autoren

Marcus Andreas Marcus Andreas, Dr. phil., studierte Pädagogik und Ethnologie. Seine Dissertation schrieb er über Ökodörfer, parallel war er am Münchner Rachel Carson Center for Environment and Society tätig. Er unterstützt seit über fünf Jahren Kommunen im Klimaschutz, fördert den Dialog zwischen Akteuren, ist freiberuflich tätig und gründete zusammen mit Nikolaus von Stillfried das RaumZeit.team. Christiane Bennewitz Christiane Bennewitz ist Diplom-Sozialpädagogin und -Sozialarbeiterin, Suchttherapeutin beim Gesamtverband für Suchthilfe e. V. (GVS) mit Orientierung Tiefenpsychologie. Sie besitzt die VDR-Anerkennung und ist für Systemische und Familienaufstellungen und als Somatic Experiencing Practitioner zertifiziert. Horst Brömer Horst Brömer ist Diplom-Psychologe, approbierter Psychotherapeut, anerkannter Lehrtherapeut und Weiterbildner für Familienaufstellungen (DGfS). Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Teamentwicklung, Führungskräftetraining, Familienund Systemaufstellungen inkl. Fortbildungen, Paar- und Familientherapie im transgenerationalen Kontext, Einzelpsychotherapie, Supervision, Erkenntnisarbeit im Systemkontext und erweiterte Orientierungen. Bianca Büter Bianca Büter ist Diplom-Sozialpädagogin, Systemische Therapeutin/Familientherapeutin (DGSF) und Suchttherapeutin (VDR). Francisco Herrera Garrido Francisco Herrera Garrido ist diplomiert in Psychologie und Erziehungswissenschaften an der Universidad de Granada. Er hat sich in verschiedenen humanistischen Psychotherapieverfahren weitergebildet: in Integrativer Psychologie bei Claudio Naranjo; Bioenergetik von John C. Pierrakos hat er am Institute of

Die Autorinnen und Autoren

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Core Energetics durchgeführt, personenzentrierte Psychotherapie bei J. Lafarga, Familienaufstellungen mit Bert Hellinger (2000–2010). Er leitet Familienaufstellungen in Spanien, Brasilien und Kolumbien, ist Aufsichtsmitglied und Dozent im Spanischen Fachverband für Gestalttherapie (AETG), Psychotherapeutisches Mitglied, Aufsichtsmitglied und Dozent des Spanischen Dachverbands Psychotherapeutischer Verbände (FEAP), Leiter des psychotherapeutischen Zentrums Nahual in Jaén (Centro Nahual de Jaén). Weitere Informationen finden Sie unter: www.nahual.es Romy Gerhard Romy Gerhard ist Organisationsforscherin und Expertin für Purpose Constellations. Die zertifizierte Master Trainerin infosyon engagiert sich auch als Mitglied des Qualitätsteams beim internationalen Verband für Systemaufstellungen in Organisationen. Sie praktiziert Organisationsaufstellungen seit 2001 und hat sich auf die Durchführung von digitalen Constellations spezialisiert. Seit 1996 beschäftigt sie sich mit sinnstiftender Zusammenarbeit, Selbstorganisation, New Work, Agilität, Teal etc. Weitere Informationen finden Sie unter: https://radicalbusinessinnovation.com Christine Gräbs Christine Gräbs, Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin TP, ist Leiterin des Caritas-Suchtzentrums Mitte (Berlin). Thomas Hafer Thomas Hafer hat Philosophie studiert und u. a. Humanistische Psychotherapie, Gestalttherapie, Tiefenpsychologie, Psychoonkologie und Coaching gelernt. Vor allem ist er geprägt durch 15 Jahre psychologisch-spirituelle Selbstforschung bei Hunter Beaumont und Gila Rogers und er ist seit jetzt 15 Jahren in der Ridhwan-Schule, einem modernen Weg, der spirituelle Traditionen wie Zen mit moderner Psychologie und Phänomenologie verbindet. Er ist Weiterbildner DGfS und unterrichtet Systemaufstellungen in Köln und im Ausland. Weitere Informationen finden Sie unter: www.Thomas-Hafer.de Stephanie Hartung Stephanie Hartung sitzt im Vorstand der International Systemic Constellations Association, ISCA. Sie arbeitet als Unternehmensberaterin, Gestalttherapeutin, Weiterbildnerin für System- und Organisationsaufstellungen, Hochschuldozentin und Autorin im eigenen Unternehmen FELD INSTITUT in Köln. Weitere Informationen finden Sie unter: www.feld-institut.de

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Die Autorinnen und Autoren

Ilse-Marie Herrmann Ilse-Marie Herrmann ist Diplom-Sozialpädagogin. Sie hat die Leitung PädArT (Pädagogische Arbeit am Ton) inne, ist Entwicklungspädagogin in der Arbeit am Tonfeld®, Systemische Familien- und Organisationsaufstellerin und Expertin für Kitas. In ihrer eigenen Praxis begleitet sie Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Weitere Informationen finden Sie unter: www.pädart.de Christiane Hoffmann Christiane Hoffmann ist Diplom-Pädagogin, Lehrtrainerin der DGfS, Traumapädagogin der DeGPT und Dozentin. Von 2015 bis 2018 war sie bei einem Sozialunternehmen in einer Erstaufnahme für Geflüchtete angestellt und arbeitet nun in eigener eigene Praxis für Seminare und Einzelberatungen. Klaus P. Horn Klaus P. Horn, Dr. phil, Managementberater und Coach, arbeitet seit den 1990er Jahren mit Systemaufstellungen und leitet seit 18 Jahren Aufstellungstrainings in Europa und Asien. Weitere Informationen finden Sie unter: www.horncoaching.de Peter Klein Peter Klein ist Geschäftsführer der Integral Systemics Peter Klein GmbH, Mitentwickler der Integralen Aufstellungen Innere Form und Internationaler Ausbildungsleiter des Lehrsystems Innere Form . Er ist Vorstand von infosyon (Development & PR), war Arbeitsgruppenleiter der WKW (Wirtschaftskammer Wien) für die Expertenliste Aufstellungen LSB, Stellvertretender Vorsitzender des DVNLP, Mitbegründer der Integralen LebensArchitekten. Er ist der Autor von zahlreichen Publikationen. Weitere Informationen finden Sie unter: https:// www.integral-systemics.com.

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Eva Maria Kroc Eva Maria Kroc ist selbstständige Steuer- und Unternehmensberaterin in Graz. Sie ist Integral-Systemischer Coach der Inneren Form , Trainerin für Mindfulness in Organisationen sowie Vortragende und veranstaltet regelmäßig Organisationsaufstellungen. Zudem ist sie Mitautorin des Buchs »Erfolgsfaktor Betriebswirtschaft« (DBV-Verlag, 3. Auflage 2017) und hat einen Beitrag mit Peter Klein im Buch »Perlen der Aufstellungsarbeit« (Carl-Auer-Verlag) verfasst. Informationen finden Sie unter: www.kroc.at

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Die Autorinnen und Autoren

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Kerstin Kuschik Kerstin Kuschik studierte Literaturwissenschaft, Musikpädagogik und Soziologie, M. A. Heilpraktikerin (psych.), Hypnotherapeutin, Achtsamkeitslehrerin sowie Systemaufstellerin (DGfS) und arbeitet als Coach, Trainerin und Therapeutin in Hochschulen, Unternehmen und in eigener Praxis in Frankfurt am Main: www.kuschik-stimmt.de. Tim Lüschen Tim Lüschen, MSc, studierte Umweltwissenschaften und ganzheitliche Wissenschaften in den Niederlanden, Schweden und England. Seine Masterarbeit handelt vom Potenzial von systemischen Aufstellungen in transformativen Nachhaltigkeitskontexten. In diesem Zusammenhang organisierte er gemeinsam mit dem RaumZeit.team, bei dem er nun Ko-Entwickler ist, den im Text vorgestellten Workshop in Berlin und wertete ihn aus. Zurzeit bereitet er seine Doktorarbeit vor, bei der systemische Aufstellungen innerhalb der Nachhaltigkeitswissenschaften und -praktiken weiterentwickelt und untersucht werden sollen. Georg Müller-Christ Georg Müller-Christ ist Professor für Nachhaltiges Management an der Universität Bremen. Er entwickelt Systemaufstellungen zu einer Forschungsmethode im Rahmen der qualitativen Sozialforschung weiter und hat dabei den Begriff der Erkundungsaufstellung geprägt. Er ist infosyon-Mastertrainer und bietet eine Fortbildung zur Aufstellungsleitung in Führungs-, Forschungs- und Weiterbildungskontexten an (www.mc-managementaufstellungen.de). Zahlreiche Publikationen finden sich auf seiner Uni-Homepage: www.wiwi.uni-bremen.de/nm Kirsten Nazarkiewicz Kirsten Nazarkiewicz ist Professorin für Interkulturelle Kommunikation am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften an der Hochschule Fulda, Sozialwissenschaftlerin (Dr. rer. soc.), Erwachsenenpädagogin (M.A.), zertifiziert in »Systemischer Traumapädagogik und Traumafachberatung« (DGEPT). Sie hat eine Ausbildung zur Integrativen Praxis von Systemaufstellungen bei Albrecht Mahr absolviert und erforscht mit Frank Oberzaucher und Holger Finke die Aufstellungsarbeit als interaktive Konstruktion. María Natividad Martínez Villar María Batuvudad Nartínez Villar ist diplomiert in Sozialer Arbeit an der Universidad de Granada. Sie ist Sozialarbeiterin im Strafvollzug seit 1992 und derzeitig Koordinatorin der Abteilung für Soziale Arbeit der Justizvollzugsanstalt

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Die Autorinnen und Autoren

Jaén (Centro Penitenciario de Jaén). Sie hat sich in verschiedenen humanistischen Therapieverfahren weitergebildet: Gestalttherapie und Familienaufstellungen in der Aula de Montera (Sevilla), bei Hellinger Sciencia und Bert Hellinger; Basiskurs Enneagramm bei Claudio Naranjo. Sie hat die Leitung von Familienaufstellungen, Gruppenaufstellungen und Einzelsitzungen im psychotherapeutischen Zentrum Nahual in Jaén (Centro Nahual de Jaén) und in der Justizvollzugsanstalt Jaén (Centro Penitenciario de Jaén) inne.

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Stefanie Rödel Stefanie Rödel, Dr. phil., hat Romanische Philologie und Politikwissenschaft studiert und Ausbildungen in Change Management sowie Systemischem Business und Personal Coaching (ECA) absolviert. Sie arbeitet selbstständig als Organisations- und Teamberaterin und Führungskräftecoach. Die Schwerpunkte ihrer systemischen Beratungs- und Coachingtätigkeit sind Leadership Exzellenz, Unternehmenskultur und Zusammenarbeit in der Digital Economy. Sie ist an verschiedenen Hochschulen als Dozentin tätig. Weitere Informationen finden Sie unter: www.dr-roedel-consulting.com Nikolaus von Stillfried Nikolaus von Stillfried, Dr. phil., Diplom-Biologe, ist Wissenschaftler mit Schwerpunkt Bewusstseinsforschung und Wissenschaftstheorie, Berater für wissenschaftliche Stiftungen in den USA und Deutschland, Systemischer Prozessbegleiter für Projekte und Organisationen aus den Bereichen Wirtschaft, Politik, NGO und Wissenschaft, Mitglied bei Infosyon (Berufsverband Systemaufstellungen in Organisationen) und Mitgründer des RaumZeit-Teams (www.raumzeit.team) sowie des Instituts für Systemische Intelligenz (www.systemische-intelligenz.com). Michael Wingenfeld Michael Wingenfeld ist Diplom-Ingenieur für Automatisierungstechnik und Master of Operations Research. Seit 1979 ist er durchgehend für Industrieunternehmen tätig sowie für Kommunen und NPOs. Er kommt aus einer Familie mit einer langen Tradition von Technikern und Wünschelrutengängern. Parallel zum Beruf hat er zahlreiche Weiterbildungen absolviert (Organistionsentwicklung, NLP) sowie Philosophie und Soziologie studiert. Seit 1984 erforscht er, beginnend mit I. Kutschera, B. Hellinger und G. Weber, die Nutzung von Aufstellungen in Unternehmen. 1994 hat er den ersten Kongress System- und Organisationsaufstellung in Kufstein veranstaltet und stellt seine Erkenntnisse regelmäßig bei der DGfS und Infosyon vor. www.ParadoxInnovation.de.

Die Autorinnen und Autoren

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Philipp Wradatsch Philipp Wradatsch ist Diplom-Sozialarbeiter und Diplom-Sozialpädagoge, systemischer Therapeut (SG) und Heilpraktiker für Psychotherapie, systemischer Supervisor (SG) und Mediator. Er gründete 2009 die Kinder- und Jugendhilfe MIO. Mit um die sechzig Mitarbeitern werden alle Lebensthemen innerhalb der Jugendhilfe begleitet: Weitere Informationen finden Sie unter: www.kjh-mio.eu

Über den Cartoonisten Detlef Dolscius

Detlef Dolscius, Jahrgang 1937, war von 1957 bis 1997 als Pilot bei der Lufthansa tätig. Er schrieb nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Flugdienst Storyboards für die Pilotenausbildung und erforschte zusammen mit Kirsten Nazarkiewicz, Holger Finke und Jörg Bergmann die Kommunikation im Flugzeugcockpit. Nachdem er viel gereist war und dabei sich in der Welt entdeckt hatte, fing er an, die Welt in sich zu erkunden und drückt seitdem das, was er findet, mit zahlreichen Charakteren, insbesondere aus dem Tierreich aus. Zeitgleich mit dem Ende seiner Tätigkeit als Flugkapitän und der Arbeit an E-Learning-Programmen tauchte der erste Charakter auf, die Möwe Jonathan, die – in der Regel vor dem Computer sitzend – Zwiesprache mit weiteren allzu menschlichen Tieren hält. Im Laufe der Jahre kamen Schwein, Geier, Maulwurf, Storch, Frosch, Erdmännchen, Huhn, Krokodil, Schildkröte, Elefant, Schnecke, Regenwurm, Delfin und viele weitere Protagonisten hinzu, oft inspiriert vom heimischen Kleinzoo. Die Themen für die Cartoons liefern politische Entwicklungen, Medien, Personen und Projekte, so entstanden die Ereignisse begleitend, Reihen zu Sportevents in Deutschland, zur Auseinandersetzung zwischen den Religionen allgemein und mit dem Islam im Besonderen, jeweils buchbegleitend zum Interkulturellen Coaching und zur Qualität in der Aufstellungsleitung sowie zur Kommunikation im Cockpit, und natürlich kam es jüngst zu einer Corona-Serie.

Über den Cartoonisten Detlef Dolscius

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Vorbilder für Detlef Dolscius sind Wilhelm Busch, Gary Larson und vor allem Robert Gernhardt. Er zeichnete zu Beginn mit Kugelschreiber auf Papier, und zwar solange, bis die Bilder perfekt im Ausdruck waren. Inzwischen ist auch das Erstellen und Verfeinern bereits digitalisiert und in einem fertigen Cartoon sind Ausgangsidee, Zeichnungselemente und Bildbearbeitungsprogramm amalgamiert. Detlef Dolscius lebt in Kronberg im Taunus.

Praxis der Systemaufstellung

Die Zeitschrift »Praxis der Systemaufstellung« wurde 1997 von Wilfried ­De ­Philipp, Jakob Schneider, Eva Madelung, Gunthard Weber u. a. ins Leben gerufen. Ab 1998 erschien sie fast zwanzig Jahre lang zweimal jährlich als Fachzeitschrift, die sich den verschiedenen Aspekten der Aufstellungsarbeit widmete. Herausgegeben im Namen der Deutschen Gesellschaft für Systemaufstellungen (DGfS), erscheint die »Praxis der Systemaufstellung« (PdS) seit 2017 einmal jährlich als Themenbuch bei Vandenhoeck & Ruprecht. Das PdS-Printarchiv mit Zugang zu allen zwischen 1998–2017 p ­ ublizierten Artikeln der ehemaligen Zeitschrift finden Sie im PDF-Format auf der ­Website: www.praxis-der-systemaufstellung.de Außerdem ist die Webseite das Forum für weitere, aktuelle Online-­ Publikationen. Bislang bei Vandenhoeck & Ruprecht veröffentlichte PdS-Jahrbücher: Ȥ Trauma und Begegnung (2017), Ȥ Einflüsse der Welt. Individuelles Schicksal im kollektiven Kontext (2018), Ȥ Essenzen der Aufstellungsarbeit (2019), Ȥ Aufstellungen im Arbeitskontext (2020). In Vorbereitung: Ȥ Aufstellungsarbeit lernen und lehren (2021), Ȥ Aufstellungsarbeit digital (2022).