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German Pages [277] Year 2014
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© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Claude-Hélène Mayer / Stephan Hausner (Hg.)
Salutogene Aufstellungen Beiträge zur Gesundheitsförderung in der systemischen Arbeit
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Mit 4 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-40370-0 Umschlagabbildung: fotoecho_com/www.shutterstock.com © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Umschlag: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Claude-Hélène Mayer und Stephan Hausner Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Spezifische Gesundheitsressourcen in der Aufstellungsarbeit
Claude-Hélène Mayer Magie und magisches Denken in der Aufstellungsarbeit – eine gesunde Sache? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Stephan Hausner Sich identifizieren, statt identifiziert zu sein . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Claude-Hélène Mayer Intuition als Gesundheitsressource im Kontext systemischer Resonanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Kulturspezifische Ansätze in gesundheitsorientierter Aufstellungsarbeit
Barbara Buch »All my relations« und Gesundheit – nordamerikanische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Tanja Meyburgh Familienaufstellungen und indigene Medizin im südlichen Afrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Inhalt
Theoretische Grundlagen gesundheitsfördernder Aufstellungsarbeit
Sarah Peyton Das Gesundheitspotenzial von Aufstellungen aus der Perspektive der Gehirnphysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Franz Ruppert Trauma, Gesundsein und »Krankheit« – wie Aufstellungen mehr Klarheit bringen können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Karin Huyssen Aufstellungen nach dem Modell der Ego-State-Therapie als salutogenetischer Integrationsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Henning Elsner Kraftlinien des Lebensstroms erfahren – von der Quelle ins Licht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Thomas Heucke Der Mensch auf Erden zwischen Sein und Werden: Gemeinsamkeiten eines Menschenbildes hinter Aufstellungsarbeit und Salutogenese? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Ottomar Bahrs Jean-Paul Sartres »Der Idiot der Familie« – ein Beitrag zu einer methodischen Grundlegung einer salutogenetisch orientierten Aufstellungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Das Herausgeberteam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
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Vorwort
Die Idee zu diesem Band entstand in einem Workshop von Stephan Hausner in Johannesburg, Südafrika, im Jahr 2013. In diesem Workshop zeigte sich, dass einerseits Menschen mit Anliegen teilnahmen, die Informationen suchten, um ihre chronischen oder akuten Krankheiten besser zu verstehen – oder sie in einem anderen Licht zu sehen. Andererseits waren Menschen auf der Suche nach einem angemessenen Platz in ihren Lebenssystemen, um die bestmögliche Heilung und optimales Wohlbefinden zu erreichen oder Krankheiten und Symptome besser ertragen zu können. Sicher gab es noch viele andere Erwartungen, Motivationen und Ziele der Teilnehmenden, die ihre Symptome und Krankheiten, aber auch ihre Ressourcen, die Systeme, in denen sie sich aufhielten und die sie mit anderen bildeten, aufstellten. In diesem Kontext beschäftigte uns die Frage, inwieweit und auf welchen Ebenen Gesundheit durch Aufstellungsarbeit gefördert, Krankheiten gelindert werden können: ȤȤ Wie würden wohl die Klientinnen und Klienten die neu gewonnenen Eindrücke, Wahrnehmungen und Informationen erleben und verarbeiten? ȤȤ Würde denn wirklich aus Perspektive der Teilnehmenden Gesundheit und Wohlbefinden kurz- und langfristig durch Aufstellungsarbeit gefördert werden? ȤȤ Waren es letztendlich die Aufstellungen an sich, die Gesundheit förderten, bestimmte Ressourcen, die nach Aufstellungen in Kraft traten, um Heilung zu schaffen, oder wurden wirklich Systemelemente durch Aufstellungen verändert, die dann in neuen Positionen und neuen Beziehungen eher zur Gesundheit als zur Krankheit beitrugen?
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Vorwort
Ausgehend von der gesundheitsorientierten Management- und Salutogeneseforschung begannen wir uns auf die Suche nach Untersuchungen, empirischen Forschungen und Studien zur Gesundheitsförderung durch Aufstellungsarbeit zu machen – jedoch mit wenig Erfolg. Bisher gibt es wenige empirische Untersuchungen zur Aufstellungsarbeit, noch weniger zu den Gesundheitspotenzialen, die durch Aufstellungsarbeit aktiviert werden können. Dennoch wird in vielen Fach- und Praxisbüchern zur Aufstellungsarbeit implizit und explizit die Meinung vertreten, dass Aufstellungen zur (mentalen) Gesundheit beitragen können. Wie dies geschieht, auf welchen Grundlagen, aufgrund welcher Annahmen und im Kontext welchen Verständnisses von Gesundheit und Krankheit, wird jedoch selten geklärt. Weder liegen Studien zum Gesundheitsverständnis von Aufstellungsleitenden vor noch von den Teilnehmenden an Aufstellungsworkshops. Diese Publikation soll ein erster Schritt sein, sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Thema der Gesundheit und Gesundheitsförderung – im Sinne der Salutogenese nach dem Medizin soziologen Aaron Antonovsky – in der Aufstellungsarbeit vertiefend auseinanderzusetzen und es kritisch zu reflektieren. Dabei werden diverse theoretische Ansätze, praktische Annahmen, kulturelle Perspektiven und Weltsichten einbezogen, um mögliche gesundheitsfördernde Aspekte der Aufstellungsarbeit aufzuwerfen und zu reflektieren. Zudem soll dieser Band dazu beitragen, Aufstellungsarbeit in Zukunft nicht nur praktisch erlebbar, sondern auch theoretisch verstehbarer zu machen. Vielleicht können diese Beiträge sogar das Interesse wecken, Gesundheit und Aufstellungsarbeit parallel zur praktischen Arbeit in Zukunft auch zu lebhaften Forschungsfeldern zu machen, ihre gesundheitsrelevanten systemischen Wirkweisen besser zu verstehen, Aufstellungsarbeit im Sinne der Gesundheitsförderung noch handhabbarer zu gestalten und ihre Sinnhaftigkeit in den Vordergrund zu rücken. Schließlich hoffen wir, dass das Buch neue Perspektiven auf Aufstellungsarbeit aufdeckt und zur Verbesserung der Gesundheit vieler Menschen beitragen wird. Claude-Hélène Mayer und Stephan Hausner © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
Claude-Hélène Mayer und Stephan Hausner
Einleitung
Die Aufstellungsarbeit nimmt seit den 1970er Jahren und der Pionierarbeit Virginia Satirs, Jacob Morenos und Bert Hellingers eine besondere Bedeutung im deutschsprachigen Raum, aber auch in internationalen beraterischen und therapeutischen Kontexten ein. Wenn es um Aufstellungsarbeit geht, scheiden sich oftmals die Geister: Einerseits ist die Aufstellungsarbeit ein hochgelobtes Tool und eine Methode, welche die Komplexität des Alltags drastisch reduziert und gleichzeitig einen Zugang zu anderen Ressourcen als denen des Bewusstseins zugänglich macht. Andererseits wird die Aufstellungsarbeit sehr kritisch betrachtet und ihre Wirkung wird angezweifelt oder aber sogar als problematisch interpretiert. Bisher gibt es vergleichsweise wenige empirische Forschungen in dem Gebiet der Aufstellungsarbeit. Dennoch zeigen sich neue Trends, die dazu anregen, Aufstellungsarbeit wissenschaftlich zu erforschen und ihre Wirkweise zu evaluieren (Schweitzer, Bonhäuser, Hunger u. Weinhold, 2012; Weinhold, Hunger, Bornhäuser u. Schweitzer, 2013). Jedoch ist die gegenwärtige theoretische Einbettung der Aufstellungsarbeit sowie die empirische Datengrundlage bisher ebenfalls als eher mangelhaft zu bezeichnen. Es fehlt an theoretischen Konstrukten und Theorien, um Aufstellungsarbeit aus Wissenschaftsperspektiven zu erfassen und auf Basis eines geeigneten und, wenn möglich, sogar systemtheoretischen Fundaments zu verstehen und zu interpretieren. Dies hat entsprechende Auswirkungen auf die theoretischen Grundlagen der Aufstellungsarbeit, auf die allgemeine und spezielle Aufstellungspraxeologie, auf die Diskurse zur Theorie und Praxis der Aufstellungsarbeit und die Anerkennung der Aufstellungsarbeit als eine mögliche beraterische und/oder therapeutische Intervention. Beraterische und therapeutische Interventionen haben grundlegend zum Ziel, der Klientel zu dienen und durch Hilfe zur Selbsthilfe © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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C.-H. Mayer und S. Hausner: Einleitung
anzuregen. Sie sollen in optimaler Weise zur Gesundheit und zum Wohlbefinden der Beteiligten beitragen, die Klienten und Klientinnen stärken und dabei unterstützen, dass individuelle und systemimmanente Ressourcen aktiviert und Plätze in Systemen eingenommen werden können, die gesundheitsförderlich sind (Mayer, 2011). Dieser Band nimmt sich vor allem der Fragestellung an, wie Aufstellungsarbeit zur Gesundheit – vor allem auch im Sinne der Salutogenese nach Aaron Antonovsky – von Klienten und Klientinnen beitragen kann. Gleichzeitig ist das Anliegen, herauszuarbeiten, wie die Salutogenese als ein theoretisches Rahmenkonzept einen Beitrag zur Aufstellungsarbeit leisten kann. Unterschiedliche Autorinnen und Autoren haben sich – aus verschiedenen Disziplinen kommend und aus unterschiedlichen Perspektiven argumentierend – mit Fragen und möglichen Antworten zu Gesundheit, Gesundheitsförderung und Aufstellungsarbeit auseinandergesetzt und ihr Wissen und ihre Erkenntnisse hier zusammengetragen. Das Buch ist in drei Teile untergliedert, die sich zum einen mit spezifischen Gesundheitsressourcen in der Aufstellungsarbeit, zum anderen mit kulturspezifischen Ansätzen in gesundheitsorientierter Aufstellungsarbeit und schließlich mit den theoretischen Grundlagen gesundheitsfördernder Aufstellungsarbeit beschäftigen. Die Beiträge zu diesen drei grundlegenden Bereichen sind einerseits spezifisch, andererseits stehen sie auch in enger Verbindung. Von den Herausgebern eingefügte Querverweise zeigen die direkten und indirekten Zusammenhänge der Beiträge. Im Folgenden wird eine kurze Einführung in die systemische Aufstellungsarbeit im Kontext von Gesundheit und Krankheit gegeben. Anschließend werden das Konzept der Salutogenese vorgestellt sowie die Komponenten der Widerstandsressourcen und des Kohärenzgefühls erläutert und es wird die Idee der Gesundheit und Gesundheitsförderung durch therapeutische Interventionen und Aufstellungsarbeit reflektiert. Schließlich werden die Beiträge kurz präsentiert, und es wird ein Ausblick auf den Inhalt des Buches gegeben.
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Systemische Aufstellungsarbeit im Kontext von Gesundheit und Krankheit Angeregt durch einen Workshop bei Thea Schönfelder Anfang der 1980er Jahre begann Bert Hellinger jene Form der Aufstellungsarbeit zu entwickeln, die man heute als das klassische Familienstellen bezeichnen kann (Struve u. Schönfelder, 2012). Dabei stellt ein Klient im Rahmen einer Gruppe seine Personen aus der Gegenwarts- und/oder Herkunftsfamilie mit Stellvertretern räumlich in Szene. In der Folge kommt ein bis dato nicht erklärbares Phänomen zum Tragen: Die Stellvertreter empfinden augenscheinlich wie die wirklichen Personen und haben teilweise sogar Zugang zu Informationen über deren Biografie und Lebensereignisse sowie zu früheren traumatischen Erlebnissen, die bis heute in der Familie des Klienten nachwirken und sein Leben mitbestimmen und -prägen. Aufstellungsleiter und Klient erhalten auf diese Weise Einblick in meist unbewusste, in der Familie des Klienten wirkende generationsübergreifende Familiendynamiken und Beziehungsmuster. Auf diese Weise können Aufstellungsleiter und Klient mithilfe der ans Licht gebrachten Zusammenhänge gemeinsam Lösungsansätze zu den zentralen Lebensthemen erarbeiten und entwickeln. Seit den Anfängen des klassischen Familienstellens nach Hellinger entwickelte sich die Aufstellungsarbeit beständig weiter. Es wurden sowohl neue Vorgehensweisen erarbeitet als auch neue Kontexte erschlossen. Zu den wesentlichen Formaten zählen heute Organisationsaufstellungen, die maßgeblich durch Gunthard Weber, Jan Jacob Stam und andere geprägt sind. Weiterhin gibt es Strukturaufstellungen, die vor allem nach Matthias Varga von Kibéd, Insa Sparrer und anderen durchgeführt werden. Mit Lösungen im Kontext von Schule und Pädagogik beschäftigen sich besonders Günter Schricker, Marianne Franke-Griksch und andere. Im Feld der Aufstellungsarbeit in Politik, Friedensarbeit und Konflikttransformation ist vor allem Albrecht Mahr tätig. Dem medizinischen Tätigkeitsbereich wandte sich Bert Hellinger bereits zu Beginn der 1990er Jahre zu, indem er regelmäßig auch Weiterbildungsveranstaltungen zu diesem Arbeitsfeld anbot. »Familienstellen mit Kranken« (Hellinger, 1995) lautet der Titel einer seiner ersten Veröffentlichungen. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Es folgten Dokumentationen zu Themen wie Krebserkrankung (Hellinger, 1997; Hellinger u. Kaden, 2001), Psychosen (Langlotz, 1998; Hellinger, 2001), Folgen von persönlichen und generationsübergreifenden Traumata (Hellinger, 1998b; 2000), Suchtkrankheiten (Döring-Meijer, 2000) sowie Eltern und Pflegeeltern von behinderten Kindern (Hellinger, 1998a). Im Jahr 2002 erschien das Buch »Was ist nur los mit mir? Krankheitssymptome und Familienstellen« (Kutschera u. Schäffler, 2002). Weitere Werke, die international Beachtung fanden und in mehrere Sprachen übersetzt wurden, sind: »Auch wenn es mich das Leben kostet! Systemaufstellungen bei schweren Krankheiten und lang anhaltenden Symptomen« (Hausner, 2008) und die Publikationen von Thomas Schäfer (2003, 2012) und Franz Ruppert zu Psychosen (Ruppert, 2002, 2007) sowie Bindungs- und Symbiosetrauma (Ruppert, 2005, 2009, 2012). Diese und zahlreiche andere Kollegen veröffentlichten ihre Erfahrungen zur Arbeit mit den verschiedensten somatischen und psychosomatischen Krankheitsbildern in weiteren Manuskripten, Büchern, wissenschaftlichen Artikeln und Fallbeschreibungen. Die Deutsche Gesellschaft für Systemaufstellung (2014) führt auf ihrer Website eine Literaturliste mit inzwischen mehr als hundert Veröffentlichungen zum Thema Aufstellungsarbeit und Gesundheit, wobei jedoch nicht alle Werke direkt von Gesundheit und Aufstellungsarbeit handeln. Lediglich ein Buch handelt vom Gesundheitskonzept der Salutogenese (Krause, Lehmann, Lorenz u. Petzold, 2007), stellt jedoch keinen Bezug zur Aufstellungsarbeit her. Um die Familiendynamiken in Beziehung zu Symptomen und Krankheiten noch klarer sichtbar zu machen, wurden neben den Stellvertretern für Familienmitglieder auch Stellvertreter für Symptome und Krankheiten hinzugestellt (z. B. Eidmann, 2001). Diese Aufstellungen zeigen oft überraschende Verbindungen und Beziehungsdynamiken zwischen Klient, Symptom, Krankheit und Familienangehörigen. Der Blick auf diese Beziehungskontexte lässt Krankheit und Gesundheit in einem neuen Licht erscheinen. Er führt deutlich vor Augen, dass Krankheit nicht unbedingt auf ein persönliches Phänomen des Kranken reduziert werden kann und darf, sondern vielmehr im größeren, generationsübergreifendem © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Kontext der Familie zu begreifen ist (Franke-Gricksch u. Hausner, 2007). Mit dieser Vorgehensweise entstand der Begriff der Symptomoder Krankheitsaufstellung (z. B. Jaruschweski, 2006; Alex, 2011). Die Stellvertreter für Krankheiten und Symptome führen dabei häufig zu vom Klienten und seiner Familie bewusst oder unbewusst ausgegrenzten Personen, die in Verbindung mit früheren, auch generationsübergreifenden traumatischen Ereignissen in der Familie stehen. Oftmals ist festzustellen, dass Menschen in Familien ausgegrenzt wurden bzw. werden, wenn die Ressourcen für eine Verarbeitung und Integration der traumatischen Erlebnisse nicht verfügbar sind oder waren und/oder nicht wahrgenommen werden können bzw. konnten. Durch die Symptome und/oder Krankheiten bleiben diese ausgegrenzten Personen und/oder (tabuisierten) Inhalte jedoch in der Familie lebendig und werden auch über die Generationen hinweg unbewusst weitergegeben. Aufstellungen ermöglichen es, diese ausgegrenzten Personen bzw. Inhalte (wieder) zu erkennen. Gelingt es dem Klienten, sich im Verlauf der Aufstellung mit diesen Personen bzw. Inhalten zu verbinden, diese mit ihren Wirkungen als wesentlich und zugehörig anzuerkennen, fühlen sich die Stellvertreter für Krankheiten und/oder Symptome oftmals geschwächt, weniger bedeutsam und teilweise sogar überflüssig. So können Symptome auch als Reste nicht befriedeter familiärer Konflikte oder Traumata gesehen werden. Die in den vergangenen Jahren mit Krankheits- und Symptomaufstellungen gesammelten Erfahrungen führten in Theorie und Praxis zu Überlegungen über die Entstehung und Aufrechterhaltung von Symptomen und Krankheiten im generationsübergreifenden familiären Kontext und auch zu Annahmen, über Systemaufstellungen Gesundheit zu verbessern oder gar zu erschaffen und Wohlbefinden beim Klienten und im System zu fördern. Diesem und ähnlichen Anliegen widmete sich eine internationale Forschungsgruppe unter der Leitung von Gunthard Weber in Verbindung mit dem Wieslocher Institut für systemische Lösungen. Im Rahmen der sogenannten SISC-Studie – Symptoms-Illness and Systems-Constellations – wurden verschiedene Krankheitsbilder in ihren Einbindungen und in Wechselwirkung mit gegenwärtigen © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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und vergangenen familiären und anderen kontextuellen Zusammenhängen sowie als Folge traumatischer Ereignisse und Erfahrungen betrachtet (Weber, 2007; Hausner u. Weber, 2009). Es wurde versucht, sie »aus den Verstrickungsdynamiken und als Folge der primären Bindungsliebe zu verstehen«, und auf die »Beeinflussungsmöglichkeiten von Bedeutungs- und Beziehungsmustern« im Sinne einer »Förderung von Autonomie bei gleichzeitiger Bezogenheit« fokussiert. Dabei wurde davon ausgegangen, dass »das Zu-Tage-Treten solcher oft unbewusster Dynamiken […] Beschwerden, Symptombildungen und Krankheiten«1 mildern, deren Verarbeitung erleichtern oder sie sogar zum Verschwinden bringen kann. Ein weiterer erwähnenswerter Arbeitskontext ist die ständig zunehmende Anwendung von Aufstellungsarbeit in unterschiedlichen klinischen Settings, vornehmlich in psychosomatischen Kliniken (Ingwersen u. Ingwersen, 1998, Ingwersen, 2000a, 2000b; Elsner u. Kölle, 2010), in der Kinderpsychiatrie (von Stosch, 1998), in den stationären Suchtkliniken (Schilling, 2000) und auch in allgemeinen Kliniken (von Ploetz, 2000). Siehe dazu auch den Beitrag von H. Elsner in diesem Band. Bei den meisten der beschriebenen Ansätze und Vorgehensweisen standen die Pathogenese und eine mögliche Beseitigung oder Abschwächung von Krankheitssymptomen und Krankheiten im Vordergrund der Betrachtung. Bisher ging es demnach vorwiegend um Einstellungen und Annahmen, die in der Pathogenese verankert sind. Diese beschäftigt sich mit der Entstehung von Krankheit und ihren Ursachen. Gegenstand des vorliegenden Buches ist nun die Salutogenese, die sich vor allem mit der Entstehung von Gesundheit beschäftigt. Das Konzept der Salutogenese kann der Bewegung der Positiven Psychologie zugeordnet werden. Grundlegend sind hier Fragen, inwieweit die Arbeit mit Systemaufstellungen sowohl präventiv, also gesundheitserhaltend, als auch aktiv gesundheitsfördernd auf Klienten und im Klientensystem wirken kann. Es kann zudem gefragt werden, inwieweit die Salutogenese als eine theoretische Grundlage, aber auch als eine handlungsorientierte Praxis in der Aufstellungsarbeit veran1 http://www.familienaufstellung.org/forschungs_db.php?a=view&recid=20
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kert werden kann, um das individuelle und systemische Kohärenzgefühl zu stärken und somit Gesundheit zu erhalten und zu fördern. Im Folgenden werden die Konzepte von Salutogenese und Kohärenzgefühl einführend vorgestellt.
Das Konzept der Salutogenese Seit den 1970er Jahren, in denen der Medizinsoziologe und Pionier Aaron Antonovsky (1979) das Konzept der Salutogenese vorgestellt hat, ist viel passiert. Sprachen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor einigen Jahren noch von einem großen Paradigmenwechsel von der Pathogenese zur Salutogenese (Eriksson u. Lindström, 2006), scheint sich die Salutogenese mittlerweile nicht nur in den Gesundheitswissenschaften langsam zu etablieren, sondern auch interdisziplinär und kulturübergreifend – wie in Arbeits- und Organisationspsychologie (Mayer u. Krause, 2011), Management (Mayer, 2011) sowie sozialen und erzieherischen (Krause u. Lorenz, 2009; Krause u. Mayer, 2010; Mayer u. Krause, 2010), beratungspsychologischen und therapeutischen Kontexten – immer mehr Interesse zu wecken und zu einem festen Bestandteil gesundheitsorientierter Diskurse zu werden (Krause u. Mayer, 2012; Mayer u. Krause, 2013). Im Gegensatz zur Pathogenese, die im biomedizinischen Paradigma beheimatet ist und deren Fokus auf der Herkunft und Entwicklung von Krankheit und Erkrankung liegt (Wells u. Ashizawa, 2006), blickt die Salutogenese auf die Herkunft und Herstellung von Gesundheit. Die Fragestellung der Salutogenese lautet grundlegend: »Was erhält Menschen gesund?« (Bengel, Strittmatter u. Willmann, 2001). Entsprechend steht im Zentrum immer die Frage nach der Stärke von Menschen, nach ihren Ressourcen und ihrem Gesundheitspotenzial (Strümpfer, 1995). In den theoretischen Annahmen der Salutogenese wird davon ausgegangen, dass Menschen im alltäglichen Leben multiplen Stressoren begegnen, mit denen sie umgehen müssen (Mayer u. Krause, 2012). Hier kann es sich um traumatische Erlebnisse handeln, um berufliche Herausforderungen oder Konflikte und Konfliktpotenziale, die es zu bewältigen gilt. Die Salutogenese ist ein Konzept, das auf die Entwicklung der Gesundheit einer Person blickt und darauf fokus© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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siert, was einem Individuum oder auch einer Gruppe von Menschen hilft, gesund zu bleiben, zu sein oder gesund zu werden – trotz der vielen alltäglichen Herausforderungen (Antonovsky, 1979). Die Salutogenese ist ein Ansatz, in dem die Gesundheit holistisch betrachtet wird. Dies bedeutet, dass sich Gesundheit aus körperlichen, sozialen, emotionalen, mentalen und spirituellen Aspekten zu einem Ganzen zusammensetzt (Mayer u. Krause, 2012). In Anlehnung an die Definition von Gesundheit der World Health Organization (WHO, 1948) wird Gesundheit als ein Zustand des körperlichen, mentalen und sozialen Wohlbefindens gesehen und nicht ausschließlich als die Abwesenheit von Krankheit definiert. Zudem begreift Antonovsky (1987) Gesundheit nicht als Zustand, sondern als einen dynamischen Prozess, der subjektiv erlebt wird und sich zwischen den Polen von Krankheit und Gesundheit – auf einem sogenannten »health-ease versus dis-ease continuum« – einpendelt (Antonovsky, 1979). Gesundheit ist demnach nie statisch, sondern vielmehr ein dynamischer, selbstregulierender Prozess (Bengel, Strittmatter u. Willmann, 2001), der auf dem bio-psycho-sozialen Modell nach Engels (1979, 2002) basiert. Antonovsky (1987, S. 90) beschreibt die Entstehung von Gesundheit wie folgt: »My fundamental philosophical assumption is that the river is the stream of life. None walks the shore safely. Moreover, it is clear to me that much of the river is polluted, literally and figuratively. There are forks in the river that lead to gentle streams or to dangerous rapids and whirlpools. My work has been devoted to confronting the question: Wherever one is in the stream – whose nature is determined by historical, social-cultural, and physical environmental conditions – what shapes one’s ability to swim well?« Der Fluss, der als Metapher für das Leben steht, hält einige Überraschungen bereit, und es bedarf individueller Fähigkeiten, sich den unterschiedlichen Anforderungen des Flusses anzupassen und sicher und wohlbehalten in ihm zu schwimmen, unabhängig davon, ob es mal schnelle Strömungen zu bewältigen oder ruhigere Gewässer zu durchqueren gilt. Im Leben stellt sich entsprechend die Frage, welcher Umstände und individuellen Fähigkeiten es bedarf, um gesund durch das Leben zu gehen. Antonovsky nahm sich dieser Fragestellung an und untersuchte Faktoren, die dabei behilflich sind, die Herausforderungen zu bewältigen und gleichzeitig Gesundheit zu © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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erhalten, herzustellen und/oder zu fördern. Diese Faktoren nennt Antonovsky (1997) generalisierte Widerstandsressourcen, die im Folgenden dargestellt werden.
Generalisierte Widerstandsressourcen Generalisierte Widerstandsressourcen (Antonovsky, 1989) haben vor allem die Funktion, auf die Lebenserfahrungen Einfluss zu nehmen, die Wahrnehmungen von Spannungen und Stressoren zu beeinflussen und in belastenden Situationen aktiviert zu werden. Sie sind Ressourcen, die den Menschen darin unterstützen, Herausforderungen relativ stressfrei zu begegnen und somit ihre Handhabbarkeit herzustellen. Dabei verweist Antonovsky (1979; Krause u Mayer, 2012, S. 21) auf die folgenden Widerstandsressourcen: ȤȤ Gesellschaftlich-kulturelle Faktoren: z. B. kulturelle Stabilität, Religion, Kunst, politisch-kulturelles und spirituelles Eingebundensein in die Gesellschaft. ȤȤ Materielle Faktoren: materieller Wohlstand und Besitz, z. B. Geld und Güter. ȤȤ Soziale Faktoren: Familie, die Freunde, die Erzieher(innen) und Lehrer(innen) und alle anderen bedeutsamen Bezugspersonen und sozialen Netzwerke. ȤȤ Personale Faktoren: Das sind neben der genetischen, konstitutionellen und immunologischen Ausstattung des Menschen die im Laufe des Lebens erworbenen Dispositionen wie Wissen (Intelligenz), emotionale Stabilität, Ich-Identität, Selbstwirksamkeit, Kontrollüberzeugungen, Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl, Handlungs- und soziale Kompetenzen. Je mehr Ressourcen ein Individuum innehat, sich ihrer bewusst ist und sie zur angemessenen Zeit und am richtigen Ort aktivieren kann, desto eher ist diese Person gewappnet, den Herausforderungen des Lebens zu begegnen. Dabei ist die Erfahrung wichtig, dass der Einsatz von eigenen Ressourcen erfolgreich in der Bewältigung der Lebensherausforderungen ist. Je öfter eine Person diese Erfahrung macht, desto eher erlebt sie das Leben als verstehbar, handhabbar und sinnvoll und gelangt sie zu der Überzeugung, dass die Herausforderungen © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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als positiv zu bewerten und grundsätzlich zu bewältigen sind. Diese grundlegende Lebensorientierung nennt Antonovsky (1979) das Kohärenzgefühl (Sense of Coherence, SOC), das nun erläutert wird.
Das Kohärenzgefühl Das Kohärenzgefühl ist eine generelle Lebensorientierung – »the way of looking at the world« (Antonovsky, 1979) –, die vor allem aus drei Komponenten besteht: Verstehbarkeit (Comprehensibility), Handhabbarkeit (Manageability) und Sinnhaftigkeit (Meaningfulness). Antonovsky (1979) nimmt an, dass das Kohärenzgefühl ein universelles Phänomen ist und kulturübergreifend vorkommt. Die Ausprägung dieser drei mentalen Komponenten hat sowohl einen grundsätzlichen Einfluss auf die mentale und körperliche Gesundheit (Wydler, Kolip u. Abel, 2000) als auch auf das Gesundheitsverhalten (Kivimäki, Elovainio u. Vahtera, 2000): Menschen mit einem starken SOC gesunden körperlich schneller in und nach Phasen der Krankheit, verhalten sich generell gesünder – in Bezug auf das eigene Essverhalten, die körperliche Betätigung, das Rauchen oder den Alkoholkonsum – und holen sich eher professionelle Unterstützung und Informationen ein als Personen mit einem geringer ausgeprägten SOC. Die drei Komponenten des SOC sind wie folgt definiert: Mit Verstehbarkeit ist die Auffassung gemeint, dass die Welt, die Erfahrungen und das Leben im Allgemeinen verstehbar und erklärbar sind. Je stärker die Verstehbarkeitskomponente ausgeprägt ist, desto eher nimmt eine Person die Welt als strukturiert, geordnet, vorhersagbar und verstehbar war. Je geringer die Verstehbarkeitskomponente ausgeprägt ist, desto chaotischer, verwirrender und unerklärbarer wird die Welt wahrgenommen. Als Handhabbarkeit wird die Überzeugung von der Kraft der Ressourcen verstanden. Eine Person mit einer starken Handhabbarkeitsüberzeugung ist der Meinung, dass sie die Ressourcen besitzt und aktivieren kann, die sie benötigt, um Herausforderungen aktiv anzugehen oder zu meistern. Eine Person mit starker Handhabbarkeitsüberzeugung ist sich sicher, dass sie die Dinge, die auf sie zukommen, meistern wird. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Die Sinnhaftigkeit ist die motivationale Komponente des Kohärenzgefühls. Sie ist dafür verantwortlich, welchen grundlegenden Sinn eine Person im Sein und Handeln sieht. Sie ist für die Fragestellung, ob das Leben Sinn hat – und ob es sich lohnt, Engagement und Partizipation im Leben zu zeigen –, verantwortlich. Herausforderungen werden als Teil des Lebens gesehen, die einen Sinn haben und zu einem Gesamtsinn des Lebens beitragen, wenn eine Person eine hohe Sinnhaftigkeit im Leben verspürt. Ist die Sinnhaftigkeit eher gering ausgeprägt, dann erlebt eine Person Herausforderungen eher als Belastungen und nicht so sehr als sinnvolle Herausforderungen. Menschen mit einem allgemein stark ausgeprägten Kohärenzgefühl erleben demnach das Leben als strukturiert, vorhersagbar und erklärbar. Sie vertrauen darauf, dass sie die Anforderungen des Lebens aus eigener Kraft heraus bzw. unter Einbezug ihrer Ressourcen in die Hand nehmen und bewältigen können. Schließlich sind sie auch der Auffassung, dass das Leben sinnvoll ist und dass es sich lohnt, die Anforderungen des Lebens als Herausforderungen zu verstehen und anzunehmen (Antonovsky, 1979, S. 123).
Salutogenese in Beratung und Psychotherapie sowie in beraterischen und therapeutischen Interventionen Diese drei Komponenten des Kohärenzgefühls werden vor allem in der Kindheit ausgebildet (Antonovsky, 1979). Neuere Untersuchungen gehen jedoch davon aus, dass das Kohärenzgefühl auch im Erwachsenenalter noch beeinflusst und verändert werden kann (Bahrs u. Matthiessen, 2007; Mayer, 2011). Das Kohärenzgefühl stellt wohl das gesamte Leben lang eine dynamische Komponente dar und ist grundsätzlich veränderbar. Dabei bestimmt heute eher die Fragestellung den Diskurs, wie das Kohärenzgefühl sich verändert bzw. positiv beeinflusst werden kann. Im Folgenden wird diese Annahme im Blick auf professionelle Settings zur Verbesserung sowohl der (mentalen) Gesundheit als auch des Wohlbefindens erläutert. Das Kohärenzgefühl kann durch körperliche Interventionen (wie beispielsweise Operationen) beeinflusst werden (Karlsson, Berglin u. Larsson, 2000). Aber auch andere gezielte gesundheitsorientierte körperliche Interventionen, wie Körperbewusstseinstherapie, Feldenkrais © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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und konventionelle Krankengymnastik, korrelieren mit Veränderungen des Kohärenzgefühls (Malmgren-Olsson u. Branholm, 2002). Galert (2007) stellt fest, dass unterschiedliche kognitive Interventionspraktiken, wie Körper-Geist-Medizin-Interventionen (beispielsweise »Die Heldenreise«), körperliche Interventionen und kombinierte kognitiv-körperliche Therapien Einfluss auf das Kohärenzgefühl ausüben. Interventionen, die das Körperbewusstsein stärken, scheinen auch Einfluss auf das Kohärenzgefühl zu nehmen (Galert, 2007). Andere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen beschäftigen sich mit dem Zusammenhang von psychologischen Interventionen und dem Kohärenzgefühl und stellen fest, dass gesundheitsfördernde Interventionen grundlegend das Kohärenzgefühl positiv beeinflussen (Ravesloot, Seekins u. Young, 1998). Darunter fallen beispielsweise der Besuch von Gesundheitsseminaren (Ravesloot, Seekins u. Young, 1998), Mindfulness-Trainings (Weissbecker et al., 2002), strukturierte Interventionen von medizinischem Fachpersonal bei chronisch kranken Patienten und Patientinnen (Delbar u. Benor, 2001). Zudem zeigen weitere Studien (Mittermair, 2003; Mittermair u. Singer, 2008), dass psychologische und therapeutische Interventionen zur Persönlichkeitsentwicklung die drei Komponenten des Kohärenzgefühls beeinflussen, da diese wahrscheinlich Gesundheitsressourcen ins Bewusstsein rufen und sie somit aktivieren (Sarnow-Wlassack, 2004). Zu diesen Gesundheitsressourcen gehören beispielsweise die professionelle Supervision (Berg u. Hallberg, 1999) wie auch Interventionen zu Narrationen der Lebensgeschichte (Bengel, Strittmatter u. Willmann, 2001). Schließlich gibt es Untersuchungen dazu, dass Therapien und Beratungen, die sich auf die Bedürfnisse der Klientinnen und Klienten einstellen, grundsätzlich das Kohärenzgefühl stärken können (Nilsson, Holmgren, Stegmayr u. Westman, 2003; Schnyder, Buchi, Sensky, u. Klaghofer, 2000). Dies scheint für unterschiedliche Ansätze zu gelten, wie z. B. psychotherapeutische Interventionen (Lazar, Sandell u. Grant, 2006; Sack, Künsebeck u. Lamprecht, 1997; Wiessmann, Rölker, Ilg, Hirtz u. Hannich, 2006). Sack, Künsebeck und Lamprecht (1997) nutzen einen psychodynamischen Therapieansatz, während Wiesmann Rölker, Ilg, Hirtz und Hannich (2006) einen verhaltenstherapeutischen Ansatz und © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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psychoedukative Programme einsetzen. Broda, Bürger, Dinger-Broda und Massing (1996) hingegen verweisen darauf, dass das Kohärenzgefühl vor allem durch patientenorientierte Verhaltenstherapie, die den Fokus auf Ressourcen und selbst-attribuierte Interaktionen legt, gestärkt wird. Wiederum andere Autorinnen und Autoren vertreten die Auffassung, dass das Kohärenzgefühl durch eine stabile, klare und strukturierte Alltagskommunikation und grundlegende Werteorientierungen wie Ermutigung, Empowerment, Akzeptanz und Wertschätzung von Kindheit an gestärkt werden kann (Krause u. Lorenz, 2009). Besonders in den letzten Jahren sind unterschiedliche Gesundheitstrainingsprogramme entstanden, die Gesundheit auf der Basis der Salutogenese fördern sollen. Darunter fällt beispielsweise das HEDE-Training (Franke u. Witte, 2009), das sich mit der Verbesserung von Gesundheit vor allem in Gesundheitskontexten auseinandersetzt. Andere Beratungs-, Selbstlern- und Trainingsprogramme beziehen sich auf spezifische professionelle Kontexte, wie auf den Erziehungs- und Schulbereich (Krause u. Mayer, 2012), die Umstrukturierung und systemisch-salutogene Beratung im internationalen Unternehmenskontext (Mayer, 2011) und interkulturellen Managementbereich (Mayer u. Boness, 2013). Zusammenfassend scheinen psychologische und therapeutische Interventionen ein großes Potenzial zur Stärkung des Kohärenzgefühls bereitzustellen. Dies gilt vor allem, wenn sie im Kontext der Positiven Psychologie angesiedelt und die Interventionen und theoretischen Ansätze salutogen orientiert sind. In diesem Kontext sollen in diesem Band Auffassungen zur Aufstellungsarbeit und zur Salutogenese und zu ihren möglichen Verbindungen, Überschneidungen oder Abgrenzungen diskutiert werden. Es wird gefragt, welche Beiträge die Aufstellungsarbeit zur Gesundheit im Allgemeinen, zur Gesundheitsförderung im Sinne der Salutogenese und der Stärkung des Kohärenzgefühls leisten kann und wie die Salutogenese eventuell auf die Aufstellungsarbeit in Theorie und Praxis Einfluss nehmen kann. Diesen und anderen Fragen wird hier aus unterschiedlichen Perspektiven nachgegangen. Die Beiträge sollen zum Nachdenken anregen, neue Impulse und Anregungen für die Praxis, aber auch für die theoretische Weiterentwicklung der Aufstellungsarbeit geben. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Die Beiträge dieses Bandes Die Beiträge beschäftigen sich mit der Thematik der Salutogenese, der Gesundheit und der Gesundheitsförderung im Kontext von Aufstellung und Aufstellungsarbeit. Dabei geht es sowohl um die Reflexion grundlegender Fragestellungen von Gesundheit und Aufstellungsarbeit als auch um die Betrachtung spezieller Kontexte und Perspektiven auf Gesundheit und Aufstellungsarbeit. Schließlich ist es auch ein Thema, Gesundheit und Aufstellungsarbeit in spirituellen und ausgewählten kulturellen Kontexten zu betrachten. Entsprechend untergliedert sich diese Publikation in die drei großen Themenkomplexe: ȤȤ spezifische Gesundheitsressourcen in der Aufstellungsarbeit, ȤȤ kulturspezifische Ansätze in gesundheitsorientierter Aufstellungsarbeit, ȤȤ theoretische Grundlagen gesundheitsfördernder Aufstellungsarbeit.
Spezifische Gesundheitsressourcen in der Aufstellungsarbeit Claude-Hélène Mayer wirft einführend in dem Beitrag »Magie und magisches Denken in der Aufstellungsarbeit – eine gesunde Sache?« die Frage der gesundheitsförderlichen Aspekte von Aufstellungsarbeit und magischem Denken auf. Es geht darum, die Aufstellungsarbeit im Kontext von Magie und magischem Denken zu betrachten und die Frage zu diskutieren, ob magisches Denken und Magie, wie sie im Zusammenhang mit Aufstellungsarbeit erlebt werden (können), als gesundheitsförderlich oder eher als gesundheitseinschränkend anzusehen sind. Am Ende des Beitrages steht nicht mehr nur die eine Frage, sondern es stellen sich viele weitere Fragen. Stephan Hausner beschreibt in seinem Beitrag »Sich identifizieren, statt identifiziert zu sein«, wie Gesundheit durch Aufstellungsarbeit gefördert werden kann. Dabei geht es um Kernkonzepte wie das Erkennen, das Anerkennen, die Integration bewusst oder unbewusst ausgegrenzter Identitätsanteile unter Einbeziehung der Systemaufstellung. In einem Fallbeispiel erläutert der Autor, wie Gesundheit © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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im Sinne der Salutogenese gefördert werden kann. Dabei stellt er den Zusammenhang zu den Qualitäten des Aufstellungsleiters her, die den Aufstellungsprozess grundlegend beeinflussen. »Intuition als Gesundheitsressource im Kontext systemischer Resonanz« – diese Fragestellung erörtert Claude-Hélène Mayer in einem weiteren Beitrag. Die Intuition ist zweifellos eine wichtige Ressource im Leben des Menschen, die sich im Zusammenhang mit kognitiven Fähigkeiten und Emotionen entwickelt. Auch das systemische Denken und Handeln ist durch die Intuition geprägt und sie ist gleichzeitig zu einer wichtigen Kompetenz geworden, um Entscheidungen in komplexen Realitäten zu treffen. Dabei spielt auch die systemische Resonanz eine Rolle, die wiederum an das Unbewusste geknüpft ist. Der Beitrag diskutiert mögliche Zusammenhänge zwischen Intuition, systemischem Denken, systemischen Resonanzen und dem Unbewussten im Kontext von Gesundheit, Salutogenese und Kohärenzgefühl.
Kulturspezifische Ansätze in gesundheitsorientierter Aufstellungsarbeit Barbara Buch stellt in ihrem Beitrag »›All my relations‹ und Gesundheit – traditionelle Perspektiven aus Nordamerika« Weltsicht und Praktiken nordamerikanischer Ureinwohner dar. Die Autorin zieht die salutogenetischen und gesundheitsfördernden Lebenselemente ausgewählter kultureller Gruppen heran und vergleicht sie mit verschiedenen Formen der Aufstellungsarbeit und salutogenen Charakteristika. Sie beschreibt ein kulturspezifisches Handwerkszeug, das gesundheitsförderlich wirken kann. Des Weiteren gibt Tanja Meyburgh einen Einblick in »Familienaufstellungen und indigene Medizin im südlichen Afrika«. Nach Meinung der Autorin reflektiert Hellingers Ansatz der klassischen Aufstellungsmethode die wichtigsten kulturellen Konzepte bezüglich Gesundheit und Wohlsein im südlichen Afrika. Gesundheit wird hier definiert im Zusammenhang der Beziehungen mit den Ahnen und den aktuellen sozialen Dynamiken. Die Autorin beschreibt anhand eigener Erfahrungen ihre Begegnungen mit traditioneller Medizin und Gesundheitskonzepten im südlichen Afrika, die über die Ver© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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ehrung von Ahnen, Würde, das Verbundensein und die Versöhnung zu salutogenen Konzepten und dem Kohärenzgefühl führen.
Theoretische Grundlagen gesundheitsfördernder Aufstellungsarbeit Sarah Peyton beschreibt »Das Gesundheitspotenzial von Aufstellungen aus der Perspektive der Gehirnphysiologie«. Sie weist auf aktuelle Forschungen hin und zeigt anhand eines Fallbeispiels wichtige Fragestellungen der Gesundheitsorientierung von Aufstellungen auf. Sie argumentiert, dass die Aufstellungsarbeit und die in Aufstellungen gemachten Erfahrungen zu einer verbesserten Immunfunktion führen können.2 Franz Ruppert beschäftigt sich mit »Trauma, Gesundheit und ›Krankheit‹ – wie Aufstellungen mehr Klarheit bringen können«. Der Autor definiert auftretende Krankheitssymptome als mögliche Folgen von Traumatisierungen, als Ausdruck des Traumas bzw. als Versuch, das Trauma zu bewältigen. Er stellt des Weiteren seinen Ansatz »Aufstellen des Anliegens« vor, setzt ihn in Beziehung zur Salutogenese und zum Kohärenzgefühl und beschreibt, wie er die grundlegenden Erkenntnisse der mehrgenerationalen Psychotraumatologie traumatherapeutisch und gesundheitsorientiert umsetzt. Karin Huyssen betrachtet »Aufstellungen nach dem Modell der Ego-State-Therapie als salutogenetischer Integrationsprozess« und geht vorwiegend auf die Arbeit mit inneren Anteilen und der EgoState-Therapie im Kontext von Aufstellungsarbeit ein. Sie beschreibt die Vorteile der Aufstellung und Integration innerer Anteile im Sinne der Salutogenese und führt ihre theoretischen Vorannahmen an einem Fallbeispiel aus. Aufstellungsarbeit sieht sie als einen Integrationsprozess innerer Anteile, der Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit fördern und somit zur Gesundheit beitragen kann. Henning Elsner schreibt über »Kraftlinien des Lebensstroms erfahren – von der Quelle ins Licht. Systemische Strukturaufstel2 Ein besonderer Dank geht an Frau Marlies Kiendl, Studium der Anglistik, Romanistik und Philosophie, die den Beitrag von Sarah Peyton mit viel Sorgfalt aus dem Englischen übersetzt hat.
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lungen (Familienstellen) als salutogene Wirkfaktoren einer sinnesbasierten und kohärenzorientierten Psychosomatik im stationären Setting«. Nach dem Autor fördert Salutogenese die sinnliche Erfahrungsfähigkeit von Lebenskunst und Aufgehobensein in einem tragfähigen, bindungsorientierten, kulturellen und spirituellen Kontext. Das salutogenetische Grundmotiv wie auch das der konstruktivistischen Aufstellungsarbeit werden als das Ausrichten des Lebens nach stimmiger Verbundenheit aufgefasst. Der Beitrag widmet sich der Ergründung der salutogenen Aufstellungsarbeit am Beispiel eines Krankenhauses, das salutogen, psychosomatisch und ganzheitlich arbeitet. Thomas Heucke nimmt sich der folgenden Fragestellung an: »Der Mensch auf Erden zwischen Sein und Werden: Gemeinsamkeiten eines Menschenbildes hinter Aufstellungsarbeit und Salutogenese?«. Damit lenkt er die Aufmerksamkeit – auch mit Bezug auf die Auslegung des Alten Testaments nach Friedrich Weinreb und ihre ursprüngliche Fassung im Hebräischen – auf ausgewählte Aufstellungsbilder und die Förderung der Selbstregulation, die zu einer gesundheitsfördernden Sinnfindung beitragen können. Ottomar Bahrs erläutert in »Jean-Paul Sartres ›Der Idiot der Familie‹ – ein Beitrag zu einer methodischen Grundlegung einer salutogenetisch orientierten Aufstellungspraxis«, wie sich ein Mensch zu dem macht, was er ist, und wie er so aus der vorgängigen Tatsache des Daseins sein sozial bedeutsames So-Sein gestaltet. Am Beispiel des Schriftstellers Gustave Flaubert zeigt Jean-Paul Sartre exemplarisch, wie man einen Menschen von innen heraus verstehen kann. Die Perspektive Sartres auf Gustave Flaubert macht der Autor im Blick auf Salutogenese und Aufstellungsarbeit nutzbar. Die Beiträge in diesem Sammelband sollen dazu anregen, auf theoretischer, jedoch auch auf praktischer Ebene Gesundheit und das Konzept der Salutogenese nach Antonovsky im Kontext von Aufstellungsarbeit näher zu betrachten, neue Sichtweisen auf Aufstellungsarbeit und Salutogenese zu eröffnen und Denkanstöße für die Aufstellungsarbeit und die Salutogenese in Forschung und Praxis zu schaffen. Wir wünschen viel Spaß und neue Einsichten beim Lesen!
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C.-H. Mayer und S. Hausner: Einleitung
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Spezifische Gesundheitsressourcen in der Aufstellungsarbeit
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Claude-Hélène Mayer
Magie und magisches Denken in der Aufstellungsarbeit – eine gesunde Sache?
Was immer du tun kannst oder erträumst zu können, beginne es. Kühnheit besitzt Genie, Macht und magische Kraft. Beginne es jetzt. Johann Wolfgang von Goethe
Die Aufstellungsarbeit ist ein therapeutischer Prozess, der unterschiedliche theoretische und praktische Ansätze integriert, wie die systemische Familientherapie, den existenzialistischen phänomenologischen Ansatz, aber auch traditionelle Heilmethoden, wie den Glauben an die Ahnen und Vorfahren (Cohen, 2006; vgl. auch den Beitrag von T. Meyburgh in diesem Band). Bert Hellinger ist einer der wichtigsten Vorreiter der systemischen Aufstellungsarbeit. Inspiriert durch seinen Aufenthalt bei den Zulu in Südafrika und seine Berührungspunkte mit unterschiedlichen therapeutischen Verfahren entwickelte er bereits in den 1970er Jahren die Interventionsmethode des »Familienstellens« (Hellinger, Weber u. Beaumont, 1998). Diese wurde von Vertretern unterschiedlicher theoretischer Richtungen aufgegriffen und weiterentwickelt. Sie wurde auch durchaus kritisch betrachtet (Haas, 2004), und auf Gefahrenpotenziale wurde explizit hingewiesen (Haas, 2009). Diese Kritik soll jedoch hier nicht Gegenstand sein. Vielmehr beschäftigt sich dieser Beitrag mit dem Phänomen der Magie und des magischen Denkens in der Aufstellungsarbeit. Magie und magisches Denken werden als universal bezeichnet und kommen kulturübergreifend vor. Magie ist ein fundamentales Konzept hinsichtlich der menschlichen Psyche und ihrer Entwicklung (Bender, 1981). Das Thema der Magie wird mit Aufstellungsarbeit in unterschiedlichen Kontexten in Zusammenhang gebracht: © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Spezifische Gesundheitsressourcen in der Aufstellungsarbeit
ȤȤ Einerseits werben Anbieter der Aufstellungsarbeit mit den Begriffen Magie, magische Erlebnisse, magische Erfahrungen.1 ȤȤ Andererseits ist Aufstellungsarbeit – je nach Autor mehr oder weniger kritisch – auch in der Populär- und Fachliteratur mit dem Thema Magie verbunden (Haas, 2004, 2009). ȤȤ Schließlich ist das Thema der Repräsentanz-Phänomene (siehe den Beitrag zur Intuition von C.-H. Mayer in diesem Band) auch Diskussionsthema in Ausbildungsgruppen, und die Frage nach rationaler oder magischer Deutung von Aufstellungsarbeit wird gestellt (Mayer, 2013). Ziel dieses Artikels ist es, die Aufstellungsarbeit im Blick auf Magie und magisches Denken zu betrachten, sie theoretisch zu erläutern und somit neue Perspektiven auf die Aufstellungsarbeit zu werfen. Entsprechend sollen hier die leitenden Fragestellungen erörtert werden: ȤȤ Was bedeuten Magie und magisches Denken? ȤȤ Welche Bedeutung haben Magie und magisches Denken im Kontext von Psychologie und Kultur? ȤȤ Wozu dient magisches Denken? ȤȤ Welche Rolle nimmt magisches Denken in therapeutischen Prozessen ein? ȤȤ Was bedeuten Magie und magisches Denken für die salutogene Aufstellungsarbeit? Nach Erörterung dieser Fragestellungen soll abschließend diskutiert werden, ob und wieweit magisches Denken in der Aufstellungsarbeit zur Salutogenese beiträgt bzw. beitragen kann.
1
Beispiele: die »Magie des wissenden Feldes« unter http://www.abendakademie-linz.at/content/inhalte/programm/vortraege/10_2013/heilende_kraft_ systemischer_aufstellungsarbeit/index_ger.html (12. 7. 14); »Aufstellungsarbeit ist Arbeit mit Magie« unter http://www.kgsberlin.de/archiv/eintrag/ art26574.html?PHPSESSID=tof (12. 7. 14); »Magische Erfahrung« unter http://www.antara-net.de/aufstellung.html (12. 7. 14).
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Magie und magisches Denken Magie und magisches Denken existieren seit dem Beginn organisierter menschlicher Kultur und nehmen eine wichtige Rolle im Leben vieler Menschen ein (Campbell, 1959). Entsprechend haben sich z. B. Sozialanthropologen mit Magie und Gender im Kontext historischer Hexenverfolgung beschäftigt (Labouvie, 1990). Andere Forscher (Streib, 1996) haben sich der Magie in Bezug auf die »Wiederverzauberung« und das Aufleben des Jugendokkultismus im gegenwärtigen deutschen Kontext gewidmet. Auch sind die Zusammenhänge von Religionen und Magie (Cunningham, 1999; Malinowski, 1978), Ritualen und Magie (Grimmes, 2003) sowie Magie und Geheimwissenschaften (Danzel, 2012) beleuchtet worden. Vorreiter der Magiestudien waren vor allem die bekannten Kulturanthropologen des 20. Jahrhunderts (Frazer, 2009; Malinowski, 1978; Mauss, 2010), die in ihren ethnografischen und ethnologischen Studien Magie im Kontext von Kultur und Interkulturalität untersucht haben. Aus diesen Studien entstanden die ethnologischen Magietheorien, die jedoch vor allem im Blick auf ihre ethnozentristische Sichtweise (Otto, 2013) und aus entwicklungspsychologischer Sicht besonders stark kritisiert wurden (Oesterdiekhoff, 2013). Auch die Psychologie hat sich den Themen Magie und magisches Denken angenommen und sich mit ihren Auswirkungen auf therapeutische Prozesse auseinandergesetzt (Eagle, 2004).
Was bedeuten Magie und magisches Denken? Die Phänomene der Magie und der magischen Handlungen sind kulturübergreifend anzutreffen. Sie unterscheiden sich nach Kippenberg (1998, S. 97) nur darin, welche Position magische Konzepte im Ganzen einer Kultur einnehmen. Diese Position kann sich grundlegend von einer Kultur zur anderen unterscheiden. Dies gilt auch für die Bedeutung von Magie. Aus Sicht der westlich geprägten Kulturpsychologie sind die Begriffe der Magie und des magischen Denken oftmals in den Kontext pejorativer Bedeutungen gesetzt worden. Auch gegenwärtig werden Magie und magisches Denken durchaus kritisch betrachtet und negativ bewertet (Mauss, 2010). © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Gleichzeitig argumentieren Feltham (2011) und Hendrix (2011), dass magisches Denken weder irrational noch unvereinbar mit anderen bzw. moderneren Weltansichten sei. Eine der bekanntesten Definitionen von Magie des 20. Jahrhunderts ist die von Aleister Crowley (1875–1947) (Frater, 2011, S. 22): »Magie ist die Kunst und die Wissenschaft, im Einklang mit dem Willen Veränderungen herbeizuführen.« Diese Definition ist sehr breit gehalten, wobei »Kunst« und »Wissenschaft« Schlüsselbegriffe sind. Unter Wissenschaft wird in diesem Zusammenhang verstanden, dass Magie sich am Denken und am Wissen über Zusammenhänge orientiert und erschließt, was beobachtbar erfolgreich ist, und mit wissenschaftlicher Methodik arbeitet (Frater, 2011). Die Kunst ist eher im intuitiven Bereich der Magie anzusiedeln und erschließt sich über Gefühle und Ahnung. Zusammen ergeben Kunst und Wissenschaft eine Basis der Magie, die sich vor allem aus Willen und Imagination speist und Rationales und Intuitives einbindet (Frater, 2011). Israel Regardie und Francis King (in Frater, 2011, S. 22) haben Crowleys Definition erweitert: »Magie ist die Kunst und die Wissenschaft, mit Hilfe veränderter Bewusstseinszustände im Einklang mit dem Willen Veränderungen herbeizuführen.« Hier liegt also der Fokus der Erweiterung auf den veränderten Bewusstseinszuständen, und die Magie bekommt einen transzendentalen Charakter, indem durch die Annahme eines veränderten Bewusstseinszustands Veränderungen eingeführt werden können. Dabei fügt Carroll (2005, S. 19) hinzu, dass es um die »Kunst der Verwendung materieller Grundlagen« geht, »um magische Transformationen zu bewirken.« Klass (1995, S. 89) hingegen definiert Magie wesentlich konkreter als angewandte Techniken, welche spezifische Umstände von Menschen, Kräften, und Situationen in die Einflussnahme und Kontrolle von Personen legen. Sie wird hier als anwendungsbezogen dargestellt: Magie wird zu einer individuellen Technik, die erlernbar ist und sich auf bestimmte Umstände oder Personen bezieht, die durch die magischen Techniken beeinflusst oder gar kontrolliert werden. Er zeigt sich, dass die hier vorgestellten Magiedefinitionen eher von einem »aktiven Magiekonzept« ausgehen, das nun beschrieben wird. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Konzepte magischen Denkens Magisches Denken ist vielfach theoretisch und konzeptionell diskutiert worden (Lindeman u. Aarnio, 2007; Markle, 2010; Oesterdiekhoff, 2013). Markle (2010, S. 18 ff.) unterscheidet zwischen »active magical thinking« und »passive magical thinking«: Unter aktivem magischem Denken versteht er den Sachverhalt, wenn Individuen glauben, dass sie aktiv Einfluss auf Kausalität und Kausalzusammenhänge nehmen können. In solch einem Fall gehen sie davon aus, dass sie Kausalität und Kausalzusammenhänge aktiv steuern, kontrollieren oder beeinflussen können. Diese Einflussnahme kann einerseits direkt durch die Individuen selbst oder aber über die Beeinflussung einer übernatürlichen Kraft geschehen. Wird Letzteres eingeschaltet, so nimmt das Individuum an, dass es diese Kraft so beeinflussen kann, dass sie in seinem Sinne handelt. Lindeman und Aarnio (2007) verstehen unter aktivem magischem Denken den Glauben, dass die eigenen Gedanken, Worte oder Handlungen ein bestimmtes Ergebnis in einem bestimmten Wissensfeld erzielen, welches den normalen Ursache-Wirkungs-Gesetzmäßigkeiten in einer bestimmten Wissensdomäne die Stirn bietet und sich ihnen sogar widersetzen kann. Passives magisches Denken bezieht sich nach Markle (2010) hingegen auf Situationen oder Ereignisse, von denen angenommen wird, dass sie an sich und von Natur aus magisch sind. In solch einem Fall braucht es keiner aktiven Einflussnahme des Individuums, keiner Gedanken oder Handlungen, um Einfluss zu nehmen. In diesem Artikel wird von der Annahme ausgegangen, dass es aktives und passives magisches Denken gibt und dass beide Formen des magischen Denkens im Alltag sowie auch in therapeutischen Interventionen, wie in der Aufstellungsarbeit, eine Rolle spielen können.
Magie im Kontext von Psychologie und Kultur Im Kontext der Psychologie spielen die Magie und das magische Denken besonders in der Entwicklungspsychologie eine Rolle. Jean Piaget (1928) war hier der Pionier, denn er entdeckte, dass Kinder kausale Zuschreibungen treffen, die mentale Prozesse mit realen Ereignissen © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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in einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang bringen, diese jedoch nicht unbedingt und unmittelbar in solch einem Zusammenhang stehen. Nach Oesterdiekhoff (2013, S. 158) hat die Entwicklungspsychologie des vergangenen Jahrhunderts bewiesen, »dass Kinder aller Kulturen unvermeidlich magisch denken« und somit Kinderpsyche und Magie unmittelbar miteinander verknüpft sind. Jedoch seien die ethnologischen und ethnografischen Studien aus entwicklungspsychologischer Perspektive wenig tiefgründig und von daher eher geringfügig aussagekräftig. Piaget (1954) schrieb die Entwicklung des magischen Denkens und Glaubens einer Entwicklungsstufe zwischen dem 3. und 7. Lebensmonat zu, in der das Kind zum ersten Mal mentale Intentionen und physische Effekte in der Welt miteinander in einen Zusammenhang bringt, nämlich in Form des Verständnisses von Wirksamkeiten (dem Glauben, dass interne Gefühle, Gedanken und Wünsche Ereignisse verursachen) und der Phänomenologie (der Annahme, dass zeitlich aufeinanderfolgende Ereignisse in einem Zusammenhang miteinander stehen). Oesterdiekhoff (2013, S. 158) konstatiert, dass das magische Denken ab dem siebten Lebensjahr bei Kindern in Industriegesellschaften abnimmt und ab dem zehnten Lebensjahr zum Großteil verschwunden ist. In dieser Altersspanne nimmt das Denken in von vorwiegend korrelationalen Beziehungen geprägten Denkmustern zugunsten des Denkens in Kausalzusammenhängen ab (Subbotsky, 2004a). Bereits in den 1980er Jahren wurde jedoch festgestellt, dass auch Erwachsene mit einer langjährigen Schul- und Ausbildung im Kontext des kritischen, logischen Denkens in Risikosituationen dazu neigen, ihre Entscheidungen auf Basis von Annahmen magischer Prinzipien zu fällen (Rozin, Millman u. Nemeroff, 1986). Zwar treten die kausal-logischen Interpretationen der Umwelt im Erwachsenenalter in den Vordergrund, jedoch gibt es weiterhin Anzeichen dafür, dass das magische Denken nicht gänzlich abgelegt wird (Markovits u. Vachon, 1989). Bildungsniveau und kognitive Reife haben dabei wohl keinen Einfluss auf das magische Denken (Subbotsky u. Quinteros, 2002). Inwieweit magisches Denken auch im Erwachsenenalter vorkommt, ist dabei nicht nur persönlichkeits-, sondern auch kulturabhängig (Adler, 2005), wobei es nach aktuellen kulturver© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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gleichenden Studien mehr oder weniger magietolerante Kulturen gebe (Subbotsky u. Quinteros, 2002).
Wozu magisches Denken? Das magische Denken dient in der Kindheit dazu, die Fantasie und das imaginierende Rollenspiel anzuregen, die gleichzeitig Copingmechanismen sind, um Schwierigkeiten zu meistern, mit (unbewussten) Wünschen umzugehen und Gefühle von Unabhängigkeit und Macht zu stärken (Subbotsky, 2004b). Aus dieser Perspektive hat magisches Denken als Copingstrategie eine durchaus gesundheitsfördernde Komponente, die zu einem neuen Verständnis und Verstehen der Welt beitragen kann. Dabei wird die Verstehbarkeit als Komponente des Kohärenzgefühls gefördert. Insbesondere aktives magisches Denken kann dazu anregen, Handhabbarkeit herzustellen, und dem Individuum vermitteln, dass es Einfluss auf die Umgebung und auch die Ereignisse nehmen kann. Subbotsky (2004b, S. 339) gibt Gründe an, warum auch Erwachsene zum magischen Denken neigen, die jeweils darauffolgend von der Autorin aus Sicht der Salutogenese interpretiert werden: 1. Magisches Denken macht das Leben interessant und aufregend (Magie bringt Leben in Routinen). Dies bedeutet aus salutogener Perspektive, dass Handhabbarkeit und vor allem jedoch Sinnhaftigkeit durch das magische Denken gesteigert werden können und das Leben interessanter und aufregender und somit sinnvoller gestaltet wird. 2. Es hilft, wenn es um Dinge geht, die außerhalb der rationalen Kontrolle liegen, und dient somit der illusorischen Annahme der Kontrolle in Zeiten des Kontrollverlustes, wie beispielsweise bei schweren Krankheiten oder Prüfungen. In solchen Fällen dient das magische Denken dem Erhalt der Hoffnung. Dieser Annahme entsprechend ermöglicht das magische Denken sowohl Verstehbarkeit, Handhabbarkeit als auch Sinnhaftigkeit für eine Person. Dem Kontrollverlust, der bei einer Krankheit beispielsweise erfahren wird, kann somit ein Gefühl von Kontrolle und Einflussnahme durch aktives magisches Denken ent© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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gegengesetzt werden. Es entsteht Hoffnung, die gleichzeitig stark an Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit von Ereignissen und den Erfahrungen einer Person geknüpft ist. Findet jedoch passives magisches Denken statt, indem eine Person sich in magischen Ereignisabfolgen gefangen sieht, ist magisches Denken eher als gesundheitseinschränkend zu betrachten. 3. Zudem kann magisches Denken eine Möglichkeit sein, zum Verstehen der Welt beizutragen und diese verstehbarer und humaner erscheinen zu lassen (wer spricht nicht zu seinem Auto, wenn es nicht anspringt!). Subbotsky (S. 339) bezieht sich somit direkt auf die Verstehenskomponente des Kohärenzgefühls, die einen wichtigen intrapsychologischen Beitrag leistet und zu handhabbaren Aktivitäten führen kann, wie etwa zur Kommunikation mit dem Auto. 4. Schließlich ist das magische Denken auch eine Basis des individuellen und sozialen Geistes, die dazu dient, menschliche Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten (man denke nur an kleine Rituale wie Umarmungen, das Daumendrücken vor Prüfungen oder das Übergeben oder Mitnehmen eines Talismans). Magisches Denken kann somit als eine Stütze im Aufbau sozialer und interpersonaler Beziehungen gesehen und entsprechend als eine Gesundheitsressource definiert werden, die Zugehörigkeit schaffen kann. Blickt man auf die Alltagsrituale, die aus magischem Denken im sozialen Kontext resultieren können, trägt magisches Denken wiederum zur Verstehbarkeit, aber vor allem zur Handhabbarkeit schwieriger Situationen bei, in denen sonst eventuell kaum aktiv Einfluss genommen oder Kontrolle ausgeübt werden kann. Findet jedoch wiederum passives magisches Denken statt – und es läuft einem am Tag des Examens eine schwarze Katze über den Weg und man interpretiert es magisch und negativ –, so kann dies eventuell negative Konsequenzen für die Person und ihre Gesundheit haben. Solch eine passivmagisch verstrickte Person könnte meinen, dass die Katze ein schlechtes Omen sei und nun sowieso alles schieflaufen wird. Dies wiederum könnte zu einer eingeschränkten Handhabbarkeit und eventuell auch zu einer geringen Verstehbarkeit und Sinnhaftigkeit führen. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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5. Subbotsky kommt zu dem Fazit, dass das magische Denken einem Copingmechanismus gleichkommt, um mit privaten, sozialen und emotionalen Herausforderungen umzugehen, wobei das rationale Denken eher dazu dient, analytische Probleme zu lösen. Unter der Prämisse, dass vor allem aktives magisches Denken als Copingmechanismus verstanden werden kann und somit zur Komponente der Handhabbarkeit hinsichtlich des Kohärenzgefühls beitragen kann, sollen nun Magie und magisches Denken in therapeutischen Prozessen betrachtet werden.
Magie und magisches Denken in therapeutischen Prozessen Gesundheit und Krankheit sind in vielen Kulturen historisch wie auch gegenwärtig mit Magie in Verbindung gebracht worden. Im alten Ägypten beispielsweise existierten magisch-religiöse und empirisch-rationale Annahmen von Krankheit und Heilung (Kolta u. Schwarzmann-Schafhauser, 2000). Dabei wurden z. B. exogenen Krankheitsursachen, wie einem Biss oder einer äußeren Verletzung, gleichzeitig endogene Ursachen zugeschrieben, wie ein Zauber oder eine Magie, die den Biss ausgelöst hat (S. 57). Entsprechend solch einer Interpretation muss eine Behandlung von Krankheit auf physischer, aber auch auf magischer Ebene stattfinden. Auch die Erhaltung und die Entwicklung von Gesundheit bedürfen in solch einem Fall der Magie oder magischer Rituale. Im europäischen Mittelalter galt Krankheit als eine Strafe des zürnenden Gottes und war eng verbunden mit Magie und magischen Vorstellungen. Erst in der Renaissance gewann die Einstellung zu Gesundheit und Krankheit wieder eine Basis der wissenschaftlichen Erforschung (Wilms, 1998, S. 318). Systematisch ist der Gebrauch von Magie in therapeutischen Settings bereits seit den 1980er Jahren eingesetzt worden, um beispielsweise Patienten zu motivieren, ihre oftmals repetitiven und frustrierenden Übungen in der Rehabilitation durchzuführen (Kaufman, 2002). Dabei scheint die aktive Anwendung von Magie und magischen Ritualen einen positiven Einfluss auf das Selbstwertgefühl © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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in der Psychotherapie zu haben, die Motivation zu steigern und die Aufmerksamkeitsspanne zu erhöhen (Howert, 1977). Auch wenn gegenwärtig die Wissenschaft eine beliebte Interpretationsgrundlage bietet, so bleibt das magische Denken weiterhin in Deutung von Ereignissen, Ereignisabfolgen oder Mustern erhalten, sobald Ungewissheiten auftreten (Shermer, 2000). Nach dem Primärtherapeuten Janov (1993) suchen Menschen nach der Magie, sei es in Pillen, Heilmethoden oder Vitaminen, in Wochenendseminaren, Vorträgen oder Konfrontationsgruppen, in Massagen oder therapeutischen Prozessen, um aus einer grundlegenden Hoffnungslosigkeit auszubrechen und einen Sinn zu finden, in den der gesamte Glaube und alles andere hineingelegt werden kann – unabhängig davon, ob es eine makrobiotische Diät oder ein Guru ist. Sinn und Zweck ist in diesem Sinne Magie und magisches Denken als eine allumfassende Sinnfindungsmöglichkeit. Dabei tendieren Menschen, die mit einer schweren Krankheit konfrontiert sind, eher dazu, sich dem magischen Denken bzw. dem magischen Verhalten zuzuwenden, als andere (Subbotsky, 2004b). Demzufolge gibt es viele Menschen, die angeben, »übernatürliche Heilkräfte« zu haben oder innere Kräfte zu aktivieren, um Heilung herbeizuführen. Im Blick auf therapeutische Verfahren gibt es unterschiedliche Therapien, wie die Reinkarnations- und Regressionstherapie (Fyfe, 2013), in der von magischem vergangenem Leben gesprochen wird. Durch die Erfahrung dieses Lebens und der positiven Erinnerungen – eben nicht nur der negativen Erinnerungen und ungelösten Probleme – werden Ressourcen und Heilkräfte geweckt. Nach Mindell (1993) machen sich besonders neuere Ansätze in der Psychotherapie diese Techniken zunutze: Sie basieren auf Annahmen aus Religion und Magie, wie beispielsweise Heilmethoden traditioneller Schamanen, Autosuggestion, Formen der Imagination und (Selbst-)Hypnose, die zu Therapie- und Heilungszwecken professionell eingesetzt und genutzt werden. Thomason (2008) verweist darauf, dass Therapeuten dazu da seien, die Klienten darin zu unterstützen, sich besser zu fühlen und neue Wahrnehmungen und Geschichten zu konstruieren, die für sie sinnvoll sind und ihnen ein Gefühl von Ressourcenfülle, Fähigkeit und Resilienz geben. Thomason vertritt demnach einen positiven Magieansatz in der Psychologie, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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der die drei Komponenten des Kohärenzgefühls einbezieht und Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit fördert. Gleichzeitig finden sich jedoch auch in anderen Formen der Therapie und Beratung, wie in der Pastoralberatung, Aspekte von Magie, wenn vorausgesetzt wird, dass therapeutische Prozesse zugleich von der Glaubensüberzeugung des Therapeuten begleitet sind und schließlich eine übergeordnete Kraft, wie Gott, als die grundlegende Quelle der veränderungsstiftenden Wirksamkeit gilt (Kwan, 2007). Zudem zeigen sich in bestimmten kulturellen Kontexten, wie beispielsweise Beratungs- und Mediationsformen im südlichen Afrika, magische Annahmen. Hier wird z. B. eine spirituelle Kraft einbezogen, um zu heilen oder Genesung zu bringen. Dieser Kraft wird gleichzeitig ein positiver Einfluss auf die Gesamtsituation zugeschrieben, und es wird angenommen, dass diese Kraft zu einer Lösung oder Verbesserung der Situation im Allgemeinen oder im Spezifischen beitragen kann (Mayer u. Boness, 2011). Dabei werden bestimmte Interpretationen der Gesamtsituation konstruiert, um sowohl Verstehbarkeit als auch Sinnhaftigkeit zu schaffen. Diese Erklärungen gehen oftmals einher mit der Durchführung bestimmter (magischer) Rituale, die Handhabbarkeit vermitteln und die Sinnhaftigkeit unterstreichen. Jos (2003) jedoch warnt davor, externe magische Elemente in psychologische Erklärungsansätze oder in Heilungsverfahren einzubinden, da sich eine Person mit der Einbeziehung externer Kräfte vom Selbst entfernen würde: »The more rituals there are, the greater the state of dissociation« (Jos, 2003, S. 102). Während heilige und sakrale Dinge als wichtig für die Beziehung zum Selbst und zur Umwelt angenommen werden und gleichzeitig Aktivatoren sein können, die Heilung bringen, kann Magie nur stattfinden, wenn eine Person sich mit ihrem Inneren verbindet (Jos, 2003, S. 102 f.). Ist dies nicht der Fall, können magische Kräfte auch als Abwehrmechanismus gedeutet werden, die eine gefühlte Ohnmacht in eine Allmächtigkeit umformulieren (Masson, 1992). So kann beispielsweise die Interpretation einer schwierigen Situation in Bezug auf magische Einflüsse eine Projektion eines nicht integrierten Schmerzes sein (Jos, 2003, S. 104). Wenn dies der Fall ist und Ablenkungen, Dissoziationen und Projektionen eine Rolle spielen, können nach Meinung von Jos weder © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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religiöse noch spirituelle, therapeutische, psychotherapeutische und andere Praktiken Heilung bringen. Echterling, Presbury und Cowan (2012) verweisen darauf, dass die Anwendung magischer Praktiken – wie sie auch bei Bühnenmagiern Anwendung finden – in der Beratung zur Transformation der Klienten beitragen können, indem sie neurologische Prozesse beeinflussen und somit Neuroplastizität herstellen, welche die Beratenden und Therapierenden unterstützen, beim Klienten das Bewusstsein zu erweitern und zu illuminieren, was der Klient dissoziiert, verneint, vermeidet oder unterdrückt. Pfeifer (1994) betont, dass unterschiedliche Formen von rituellen Heilungspraktiken in der Therapie von psychiatrischen Patienten, die magische Einflüsse als Ursachen ihrer Probleme in Betracht ziehen, zwar positiv wirken, ihre psychiatrischen Symptome jedoch nicht verbessern. Entsprechend gibt es demnach in der psychologischen Literatur zu Heilungsmethoden, Magie und magischem Denken konträre Auffassungen. Einerseits können magische Vorstellungen hilfreich sein, Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit im Sinne der Salutogenese zu stiften – vor allem, wenn es sich um magisches Denken handelt, welches die magische Kraft als eine aktive und vor allem vom Individuum innengeleitete Kraft definiert. Andererseits können Magie und magisches Denken auch negativ wirken, vor allem wenn es sich um eine negative Definition von Magie und magischem Denken handelt, die als kaum verstehbar oder nachvollziehbar, wenig handhabbar oder kontrollierbar und wenig sinnstiftend angesehen werden.
Aufstellungsarbeit, Magie und magisches Denken Sax, Weinhold und Schweizer (2010, S. 62) stellen in ihrem Vergleich von Familienstellen und rituellen Heilungen in den Garhwal Himalayas heraus, dass das Familienstellen durchaus als Ritual bezeichnet werden kann, da es bestimmten Skripten folgt, stilistische Performanzen hervorbringt, teilweise auf den »Mythos« der Vaterfigur Bert Hellingers zurückgreift, metaphysischen Prinzipien folgt, die restrukturiert werden können, und eine hohe emotionale Motiviertheit der © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Teilnehmenden erzeugt. Auch van Kampenhout (2003) und Weber (2001) stellen Aufstellungsarbeit in Zusammenhänge mit Ritualen, wobei beide ahnenbezogen sind und die Vorfahren meist in den Prozess des Rituals einbezogen werden (Austermann, 2001). Zirkler und Berreth (2006) vertreten die These, dass die Aufstellungsarbeit zu einer modernen, sinnvollen und nützlichen Form des Orakels geworden ist, die durchaus als sinnvoll und ernst zu nehmen angesehen werden kann. Dabei werden Systemaufstellungen als eine kulturelle Praktik aufgefasst, die nützlich ist, insofern sie Individuen entscheidungs- und handlungsfähiger macht. In diesem Zusammenhang könnte Aufstellungsarbeit ein salutogen orientiertes Ritual darstellen, welches gleichzeitig als Orakel auch magische Elemente aufweist. Aufstellungen scheinen zwei Funktionen zu erfüllen, die auch für Orakel benannt werden: eine psychologische, die aus der Angst vor einer unkontrollierbaren Welt erwächst und Handhabbarkeit schafft, und eine soziologische, die auf das Herstellen eines soziologischen Konsenses abzielt und öffentliche Legitimation für eine Entscheidung bekommt (Zirkler u. Berreth, 2006, S. 13) und somit auf soziale Akzeptanz, Verstehbarkeit und Sinnhaftigkeit abzielt. Dabei werden die Perspektiven auf das Problem verändert, »Zusammenhänge und Kausalitäten werden neu gesehen, alternative Handlungsmöglichkeiten tauchen plötzlich auf, und mögliche Lösungen geben Orientierung für die Gestaltung der Zukunft« (S. 14). Im Sinne der Salutogenese scheint die Aufstellungsarbeit – wie das Orakel auch – im optimalen Fall Verstehbarkeit zu schaffen, Handhabbarkeit auf Grundlage der neuen Erkenntnisse zu fördern und Sinnhaftigkeit zu kreieren. Magie und magisches Denken sind in der Aufstellungsarbeit bisher wenig beschrieben worden. In einer Studie von Kohlhauser und Assländer (2005), die Organisationsaufstellungen evaluieren, betont jedoch beispielsweise ein Teilnehmer im Kontext der Repräsentation in der Aufstellung, dass er sich nicht sicher ist, ob es sich bei der Aufstellungsarbeit um einen Actionfilm oder um eine »Tischerlrückerrunde« handle. Dieses Beispiel zeigt sehr deutlich, dass Phänomene, die nicht sofort erklärbar oder zuzuordnen sind – wie beispielsweise die reprä© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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sentierende Wahrnehmung –, in ein »mystisches« Licht gerückt werden können, wie es mit dem Ausdruck der »Tischerlrückerrunde« geschieht. In einem anderen soziokulturellen Kontext hingegen verweist van Kampenhout (2003, S. 62) darauf, wie wichtig es ist, einen bestimmten Bewusstseinszustand, einen sogenannten »specific state of awareness of timelessness«, beizubehalten. Dies geschieht, um ein in der Aufstellungsarbeit erarbeitetes Lösungsbild intakt zu halten und der Seele die Möglichkeit zu geben, dieses innere Bild zu nähren. Aus diesem Grund würden Aufstellungsleiter manchmal sagen: »Don’t speak about the constellation afterwards« (S. 63), damit keine Geschichten über das Bild entstünden und es kraftlos würde. Doch würden die Aufstellungsteilnehmenden nicht unbedingt über diesen Hintergrund informiert. In Aufstellungsseminaren hat sich gezeigt (Mayer, 2013), dass solche unausgesprochenen Annahmen zu magischem Denken bzw. magisch orientierten Annahmen führen können. So teilte eine Aufstellungsleiterin in einem Aufstellungsseminar (2010) den Teilnehmenden mit: »Nach der Aufstellung werden wir nicht darüber sprechen, was passiert ist. Das Geschehen muss dann wirken. Es sollte nicht zerredet werden. Wenn wir darüber sprechen, geht die Wirkung verloren.« Diese Aussage wurde jedoch nicht im Sinne einer Bewahrung des inneren Bildes, sondern als eine Anweisung verstanden, die direkt »magisch« interpretiert wurde. Die Teilnehmenden nahmen an, die Wirkung des Bildes ginge verloren, da »magische Kräfte« wirken müssten. Diese magischen Kräfte könnten nach Verständnis der Aufstellenden nur magisch wirken, wenn sie unangetastet und unberührt blieben. In diesem Sinn verstanden, hätte die Magie wohl eher eine negative Rückwirkung, da sie zum passiven magischen Denken gehören würde, das es zu akzeptieren gelte und welches bei aktiver Handlung eher in seiner Wirkung eingeschränkt als verbessert werden würde. Entsprechend geht diese Interpretation mit einem Kontrollverlust und mit Gefühlen einher, die eher als negativ bewertet werden, da ein Individuum nichts tun kann, das direkt zum Verständnis, zur verbesserten Handhabung und zur Sinnhaftigkeit beiträgt. Vielmehr gibt die aufstellende Person jegliche Verantwortung in die Hand der »Wirkung des Rituals«, dem sie dann ab dem Feststellen des Lösungsbildes im Prinzip ausgeliefert ist (Mayer, 2013). © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Diskussion Abschließend soll diskutiert werden, ob und wie magisches Denken in der Aufstellungsarbeit zur Salutogenese beiträgt bzw. beitragen kann. Magie, als ein universelles psychologisches Phänomen, das kulturspezifisch ausgeprägt ist, kann sich in einem stärkeren oder geringeren Maße gesundheitsförderlich im Sinne der Salutogenese (siehe Einleitungskapitel in diesem Band) auswirken, indem es den drei Komponenten des Kohärenzgefühls eher zuträglich oder eher abträglich ist. Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass magisches Denken gesundheitsförderlich sein kann, wenn es zur Verstehbarkeit, zur Handhabbarkeit und zur Sinnhaftigkeit beiträgt und eine Person durch magisches Denken und magische Rituale (auch in therapeutischen Settings) Möglichkeiten des Copings mit der Herausforderung erlangt (Howert, 1977; Kaufman, 2002) bzw. ein Gefühl der Sicherheit und Einflussnahme entsteht (Janov, 1993; Shermer, 2000). Hält Aufstellungsarbeit diese Aspekte bereit und wird sie als mögliche Heilmethode akzeptiert, so kann sie durchaus als Therapie- und Heilmethode eingesetzt werden und positiv auf die mentale Gesundheit wirken. Die Aufstellungsarbeit könnte somit genutzt werden, um im Sinne Thomasons (2008) sinnvolle neue Geschichten im Leben von Teilnehmenden der Aufstellungsarbeit zu konstruieren, die ressourcenorientiert und resilienzfördernd sind und nicht als Actionfilm oder »Tischerlrückerrunde« verkannt werden (Kohlhauser u. Assländer, 2005). Vielmehr sollte das Ritual in seinem spezifischen Anliegen als Seelenarbeit erkannt werden (van Kampenhout, 2003) und Aufstellende sollten dabei sicherstellen, dass vor allem ein Raum für ressourcenorientierte Interpretationen des Rituals gegeben ist und fundierte Interpretationsalternativen bei den Teilnehmenden vorliegen, sodass Kohärenz auf Wissens- und Kunstbasis geschaffen und Veränderungen eingeleitet werden können. Dabei ist es wichtig, dass die Auffassungen zur Interpretation von Resonanzphänomenen in der Aufstellungsarbeit thematisiert und Interpretationen diskutiert werden, da es durchaus grundlegend ist, ob die Wirkungen in der Aufstellungsarbeit einer über© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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geordneten Kraft (wie beispielsweise Gott) (Kwan, 2007; Mayer u. Boness, 2011) und somit extern oder aber intern (dem individuellen und kollektiven Unbewussten in einer Person) zugeordnet werden. Externe Zuschreibungen können zu Ablenkung, Dissoziationen und Projektionen (Jos, 2003) oder erlebtem Kontrollverlust führen, zu geringeren Handhabbarkeitserfahrungen und dann entsprechend eher gesundheitsbeeinträchtigend sein. Werden die externen Interpretationen konstruktiv und sinnstiftend verarbeitet, kann es durchaus sein, dass diese gesundheitsfördernd wirken. Dies wäre der Fall, wenn der externen Kraft eine verstehbarkeits- und sinnstiftende Wirkung zugeschrieben wird und diese so auch erlebt wird. Gleiches gilt für die internen Zuschreibungen. Auch diese sind nur gesundheitsfördernd, wenn sie dem Kohärenzgefühl zuträglich sind, nicht jedoch, wenn sie eine bis drei seiner Komponenten einschränken oder verringern. Es wird deutlich, dass Aufstellungsarbeit – verstanden als rituelle Heilungspraktik (Pfeifer, 1994; Austermann, 2001; Weber, 2001; van Kampenhout, 2003; Sax, Weinhold u. Schweizer, 2010; Echterling, Prexbury u. Cowan, 2012) – durchaus Gesundheit fördern und beeinträchtigen kann, abhängig von vielen Faktoren, wie beispielsweise den Einstellungen zu Magie und magischem Denken von Aufstellern und Teilnehmenden. Wird sie als Form des modernen Orakels gesehen und erlebt (Zirkler u. Berreth, 2006), so kann sie gesundheitsfördernd sein, wenn sie die Angst vor Unkontrollierbarem minimiert und eine öffentliche Legitimation für Entscheidungen darstellt. Aber auch hier gilt: Kann Aufstellung als moderne Form des Orakels als aktives magisches Denken erlebt werden und die drei Komponenten des Kohärenzgefühls fördern, so ist dieses Orakel sicherlich eher gesundheitsfördernd, als wenn es als passives magisches Denken erlebt wird.
Fazit und Ausblick Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Magie und magisches Denken kulturübergreifend im Kindes- und Erwachsenenalter eine mehr oder weniger große Bedeutung im Alltag sowie in therapeutischen Prozessen einnehmen. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Magisches Denken kann zu vielen positiven Ressourcenaktivierungen führen, als Copingmechanismus aufgefasst werden und sich durchaus positiv auf die Psyche auswirken (Subbotsky, 2004a, 2004b). Dies ist besonders bei dem aktiven magischen Denken der Fall, das auf die Definition Crowleys zurückgeht und Magie als Kunst und Wissenschaft bezeichnet, die in Harmonie mit dem Willen Veränderungen herbeiführt (Frater, 2011). Für die Aufstellungsarbeit bedeutet dies, dass magisches Denken langfristig gesehen reflektiert werden muss und die Schlüsse, die eine Person aus dem Beobachtbaren in der Aufstellungsarbeit zieht, im Blick auf Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit im Sinne der Salutogenese kontextualisiert werden sollten. Magisches Denken kann sich jedoch auch negativ auswirken, wenn von einem passiven magischen Denken (Lindean u. Aarnio, 2007; Markle, 2010) ausgegangen wird, bei dem das Individuum keine bzw. wenig Einflussmöglichkeit hat und Veränderung als wenig kontrollierbar oder steuerungsfähig anerkannt wird. Interpretiert beispielsweise eine Person eine getane Aufstellungsarbeit im Sinne des passiven magischen Denkens und meint, in der Aufstellungsarbeit »magische« intergenerationale Wiederholungen von Handlungen und Situationen festzustellen, so kann sich dies durchaus negativ auf die mentale Gesundheit auswirken, wenn die Person damit einhergehend einen Verlust der Einflussmöglichkeiten erfährt. Dies wäre der Fall, wenn sie die generationsübergreifenden Wiederholungen als gegeben, natürlich und unveränderbar annimmt (Markle, 2010). Magisches Denken kann zu Dissoziationen führen, die eher vom Selbst wegführen, als einer Heilung des Selbst zuträglich zu sein. Wird Aufstellungsarbeit als Ritual betrachtet, so kann davon ausgegangen werden, dass bei Teilnehmenden magisches Denken stattfindet oder aktiviert wird. Für die Aufstellungsarbeit ist es daher wichtig, das Phänomen der Magie bzw. des magischen Denkens ins Bewusstsein zu rufen, sodass Teilnehmende mit dem Thema und den Wirkweisen vertraut sind und sowohl ihre gesundheitsförderlichen als auch ihre gesundheitseinschränkenden Seiten kennen- und einschätzen lernen. Schließlich ist davon auszugehen, dass Aufstellungsarbeit nicht per se gesundheitsfördernd ist und ihre gesundheitsfördernde bzw. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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gesundheitseinschränkende Wirkung stark von vielen individuellen, aber auch kontextuellen Faktoren beeinflusst werden kann. Dies geschieht nicht zuletzt durch bewusste oder unbewusste Konzepte, die bei Aufstellenden und Teilnehmenden an der Aufstellungsarbeit wirken. Aufstellungsleitenden kommt somit eine große Verantwortung beim Ergründen der Interpretationsassoziationen und -mechanismen der Klientel zu. Denn hier muss geschaut werden, auch welche Art und Weise und unter welchen Prämissen ein Individuum die neu erkannten oder auch wiedererkannten Interpretationen verarbeitet und für sich nutzen kann. Dabei muss natürlich eine Rolle spielen, zu erfassen, ob und wenn ja in welchem Maße die Klientel aktive bzw. passive Magie und magisches Denken an den Tag legt. Für die Aufstellungspraxis können daher folgende Schlüsse gezogen werden: ȤȤ Magie und magisches Denken sollten bei der Aufstellungsarbeit thematisiert und reflektiert werden und grundlegende wissenschaftliche Erkenntnisse zum magischen Denken (Rozin, Millman u. Nemeroff, 1986: Markovits u. Vachon, 1989; Subbotsky u. Quinteros, 2002; Adler, 2005) bei der Interpretation von Aufstellungsarbeiten und beim Umgang mit dem Beobachteten aufgegriffen werden. ȤȤ Ihre gesundheitsförderlichen und möglicherweise gesundheitseinschränkenden Aspekte sollten offengelegt und ihr möglicher Einfluss auf die Aufstellungsarbeit unter Einbeziehung des soziokulturellen Kontextes reflektiert werden. ȤȤ Die Aufstellungsarbeit sollte als ein therapeutisches bzw. beraterisches Tool in seiner mächtigen Wirkung erkannt werden. Entsprechend bedarf es bei Aufstellungsleitenden ausgebildeter, professioneller Kompetenzen, um Aufstellungen gesundheitsfördernd durchführen zu können. Diese Kompetenzen umfassen unbedingt die grundlegende Auseinandersetzung mit Aufstellungsarbeit und Gesundheit auf theoretischen und praktischen Ebenen sowie grundlegende psychologische und therapeutische Kompetenzen.
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Bezüglich zukünftiger Forschung ist Folgendes zu empfehlen: ȤȤ Grundsätzlich bedarf es vertiefender empirischer Forschungen in Bezug auf die Aufstellungsarbeit in unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten unter Anwendung qualitativer und quantitativer Forschungsansätze. ȤȤ Die Themen Magie, magisches Denken und Salutogenese sollten in unterschiedlichen therapeutischen Settings empirisch tiefgreifend beforscht werden. Dabei wäre als Thema interessant, ob und inwieweit Teilnehmende im Aufstellungsseminar Magie wahrnehmen und erleben. Gleichzeitig sollte im Kontext von Aufstellungsarbeit erhoben werden, welche Persönlichkeiten zum magischen Denken neigen, wie magisches Denken und Identitätsbildung im Erwachsenenalter und in therapeutischen Prozessen zusammenhängen, welche Spiritualitäts- und Glaubenskonstrukte bei Aufstellungsarbeit und magischem Denken greifen und in welchen Aufstellungskontexten magisches Denken, in welchen eher rationales Denken bei Therapeuten und Therapeutinnen und Klientel stattfindet. Zu erfassen wären auch die Konzepte von Aufstellungsleitenden und ihre therapeutischen Ansätze im Blick auf magisches Denken und Spiritualität. Zudem wäre es wünschenswert, wenn gesundheits- und salutogenorientierte Studien untersuchten, inwieweit Gesundheit durch Aufstellungsarbeit kurz- und langfristig gefördert oder aber auch beeinträchtigt werden kann.
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Stephan Hausner
Sich identifizieren, statt identifiziert zu sein Gesundheitsförderung durch Erkennung, Anerkennung und Integration bewusst oder unbewusst ausgegrenzter Identitätsanteile mithilfe von Systemaufstellungen »Alles, was in Beziehung tritt, darf heilen.« Thomas Hübl
Systemaufstellungen legen nahe, dass Identität und Gesundheit zusammengehören, denn vieles aus unserer Geschichte und Biografie meldet sich offensichtlich über Symptomatik oder Krankheit zu Wort, wenn es vergessen oder ausgegrenzt wird. Dies betrifft nicht nur Erfahrungen unseres eigenen Lebens, sondern auch, über die Generationen hinweg, meist aufgrund von Überwältigung und Überforderung abgespaltene und ausgegrenzte traumatische Erfahrungen unserer Eltern und Ahnen (vgl. die Beiträge von F. Ruppert, K. Huyssen u. T. Meyburgh in diesem Band). Die Arbeit mit Systemaufstellungen vermag Zusammenhänge von Symptomatik und biografischen Familienereignissen auf anschauliche Weise ans Licht zu bringen und ermöglicht damit eine heilsame Auseinandersetzung und Integration der bisher meist als Belastung und Einschränkung erlebten Inhalte. Damit leistet sie einen wesentlichen Beitrag zu positiver Lebensgestaltung und Salutogenese. Aufbauend auf diesen Erfahrungen entwickelte sich die Aufstellungsarbeit mit Kranken in den vergangenen zwanzig Jahren zum Schwerpunkt meiner Praxistätigkeit – wohl wissend, dass sie nur einen Baustein in einem ganzheitlichen Behandlungskonzept darstellen kann, manchmal jedoch einen sehr wesentlichen. Ich freue mich über das entstandene Netzwerk mit zahlreichen Ärzten der verschiedensten Fachrichtungen, Heilpraktikern, Psychologen, Psychotherapeuten, Sozialarbeitern, psychosomatischen Kliniken und neuerdings auch einer Palliativärztin, die sämtlich komplementär zu ihrer Tätigkeit die Aufstellungsarbeit einbeziehen und ihren Klienten die Teilnahme an einer Gruppe für Systemaufstellungen empfehlen, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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um ihre therapeutische Arbeit zu unterstützen. All ihnen und auch all den internationalen Organisatoren und Instituten, die mich für Workshops und Weiterbildungen eingeladen haben und einladen, gilt mein besonderer Dank. Ohne ihr Vertrauen und ihren Einsatz für die Verbreitung dieses Therapieansatzes im Speziellen und das Wohl der Menschen im Allgemeinen wären die nachstehenden Ausführungen nicht möglich geworden.
Einleitende Gedanken In all den Jahren der Tätigkeit mit Systemaufstellungen für Kranke erlebte ich unzählige berührende Prozesse in Aufstellungen mit den unterschiedlichsten Wirkungen sowohl auf körperlicher, seelischer als auch der Beziehungsebene. Zahlreiche Klienten und behandelnde Kollegen berichteten von der Optimierung des Therapieverlaufs, von Linderung und sogar Genesung von Symptomen und Krankheiten nach Aufstellungen, teilweise auch bei langfristigen, manchmal lebensbedrohlichen Diagnosen, wo niemand es erwartet hätte (Franke-Gricksch u. Hausner, 2007; Hausner, 2014). Gleichzeitig war ich Zeuge von bewegenden Lösungsprozessen in Aufstellungen, die denkwürdig geringe Nachwirkungen zeigten. Diese immer wieder zu beobachtende Abweichung zwischen dem Ergebnis einer Aufstellung und ihrer Wirkung oder Umsetzung beschäftigt mich seit Anbeginn meiner Arbeit mit dieser Methode. Die vielen positiven Veränderungen sprechen für sich, doch: Was hat gewirkt, wenn sich Symptome oder Krankheiten nach der aktiven Teilnahme als Klient in einer Aufstellungsgruppe zurückziehen oder sogar, wie auch immer wieder beobachtet wird, nach der passiven Teilhabe als Beobachter oder Repräsentant in Aufstellungsprozessen, ohne ein eigenes Anliegen aufgestellt zu haben? Lassen sich also Bedingungen oder Qualitäten benennen, die ein Aufstellungsleiter berücksichtigen oder fördern kann, damit das offensichtlich heilsame Potenzial in der Arbeit mit Systemaufstellungen möglichst effizient zur Entfaltung kommen kann? Stetes Erforschen und Hinterfragen von Aufstellungsprozessen auf dem Hintergrund unterschiedlichster Gesundheitskonzepte sowohl der traditionellen Medizin der Antike, der Osteopathie, im © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Besonderen der Cranio-Sacralen Arbeit (Korpiun, 2010), als auch der Homöopathie (Fritsche, 1982), die Einbeziehung der Prämissen der unterschiedlichen Ansätze der Traumatherapie (Levine, 1998; Just, 2005; Reddemann, 2007), die Berücksichtigung der Konzepte von Bindungstheorie (Bowlby, 2011; Brisch, 2009) und der Salutogenese (Antonovsky, 1997) führten mich zu einer Reihe von Aspekten oder Qualitäten, die ich in enger Verbindung mit Gesundheitsentstehung und -förderung erlebe: ȤȤ Identität und damit verbunden Authentizität, ȤȤ Verbundenheit und Bezogenheit bei gleichzeitiger Autonomie, ȤȤ Präsenz und Kohärenz. Diese Qualitäten im Rahmen der Aufstellungsarbeit als Wirkfaktoren in den Blick zu nehmen, ist meines Erachtens ein wesentliches Kriterium, damit sich das offensichtlich in ihr liegende heilsame und gesundheitsfördernde Potenzial entfalten kann. Unter Identität im Kontext von Aufstellungsarbeit verstehe ich die seelische Bewegung einer bewussten und wertfreien Öffnung für die Eltern und Ahnen, unter Anerkennung ihrer Herkunft und Geschichte, und einer bewussten Zustimmung dazu, ohne das Eigene und Persönliche dabei außer Acht zu lassen. Ich spreche nicht von einer Identifizierung mit Eigenschaften oder Werten, sondern davon, anzuerkennen, dass das von den Vorfahren Erlebte und Gelebte, vielleicht sogar im Sinne einer Epigenetik, auch in einem selbst lebendig ist und Ausdruck, Entfaltung und Befriedung sucht (vgl. den Beitrag von T. Meyburgh in diesem Band). Wie bedeutsam es sein kann, einem Kind so weit wie möglich Klarheit über die eigene Abstammung zu vermitteln und ihm damit die Identifizierung mit den eigenen Eltern zu ermöglichen, zeigt das folgende Fallbeispiel aus der Praxis.
Angst und Panik eines Jungen – Ein Fallbeispiel Ein Paar stellt ihren zwölfjährigen Sohn in meiner Praxis vor. Dieser hatte, ohne erkennbare Ursache, vor einigen Wochen in der Schule einen seelischen Zusammenbruch erfahren. Seither litt er unter Angst und Panikzuständen, und es war ihm fortan nicht mehr © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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möglich, ohne Begleitung der Eltern die Wohnung zu verlassen. Nach wenigen psychotherapeutischen Sitzungen wurde der Junge medikamentös behandelt. Doch auch das brachte keine zufriedenstellende Linderung, sodass die Medikamente wieder abgesetzt wurden. Nun erhoffte sich die Familie Hilfe durch eine homöopathische Behandlung. Ich sagte ihnen, ich würde die Behandlung annehmen, gab jedoch auch zu bedenken, dass eine konstitutionelle homöopathische Behandlung, wie ich sie in diesem Fall empfehlen würde, in der Regel ihre Zeit benötigt. So empfahl ich den Eltern zur Unterstützung der Behandlung, an einer Aufstellungsgruppe teilzunehmen. Dabei würden wir eventuell belastende familiensystemische Verstrickungen erkennen, deren Lösung den Jungen in seinem Genesungsprozess unterstützen könnte. Die Eltern zeigten sich zu allem bereit, und wir stellten die Situation ohne Anwesenheit des Jungen in einer Gruppe mit Stellvertretern in Szene. Ich bat die Mutter, Stellvertreter für sich selbst, den Jungen und den Ehemann zu wählen und diese entsprechend ihrem Empfinden zueinander in Beziehung zu stellen. Da sich weder aus dieser Konfiguration noch aus den Rückmeldungen der Stellvertreter eine sinnstiftende Information in Bezug auf die Situation des Jungen ergab, bat ich darum, einen Stellvertreter für die Symptomatik des Jungen dazuzustellen. Die Mutter wählte einen weiteren männlichen Teilnehmer und brachte diesen stellvertretend für die Symptomatik des Jungen in Beziehung zu den bereits aufgestellten Repräsentanten. Dies berührte den Stellvertreter des Jungen auf unangenehme Weise, er begann aufgeregt zu zittern und bemerkte, er habe das eigenartige Gefühl, »um seinen Vater betrogen« zu werden. Dies war ein merkwürdiger Kommentar, und ich wandte mich an die Eltern mit der Frage, ob sie dafür eine Erklärung hätten. Die Mutter war sichtlich erschüttert von der Aussage des Stellvertreters, und aufgrund ihrer Sprachlosigkeit ergriff ihr Mann das Wort und teilte mit, dass er nicht der leibliche Vater des Jungen sei, doch jener würde nicht um diesen Sachverhalt wissen. Die Vorgeschichte: Nachdem sich der Kinderwunsch des Paares nicht erfüllte, suchten sie ärztliche Unterstützung. Eine medizinische Untersuchung ergab die Zeugungsunfähigkeit des Mannes. So hatten sie sich zu einer künstlichen Befruchtung mit Samenspende © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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entschlossen. Ich zeigte Verständnis für diese Entscheidung, äußerte jedoch auch die Mutmaßung, es könne im Jungen eine Verortung geben, die um diese Hintergründe weiß. Auf die zweifelnden Blicke der Eltern machte ich sie zum einen darauf aufmerksam, dass es doch erstaunlich sei, wie der Stellvertreter zu diesem »Wissen« gelange, und zum anderen, was der Junge wohl empfinden würde, wenn er sich im Spiegel betrachte und die unterschiedliche Physiognomie zwischen ihm und seinem »Vater« wahrnehmen müsste. Die Betroffenheit der Mutter war nach wie vor groß und sie brauchte Zeit, sich wieder zu sammeln. Schließlich meldete sich der Stellvertreter des Jungen noch einmal zu Wort und sagte aus der Position des Jungen: »Wenn ich darum weiß, komme ich irgendwie damit klar, aber wenn ich es nicht weiß, habe ich wirklich ein Problem!« Für die Mutter blieb die Situation schwierig. So bat ich, als einen nächsten Schritt, einen weiteren Gruppenteilnehmer, sich zur Verfügung zu stellen, und ersuchte ihn, als Stellvertreter für den biologischen Vater in den Kreis der Familie zu treten. Dieser wollte lieber abgewandt zur Familie stehen und meinte, er habe »wenig damit zu tun«. Wie auch immer: Sein Erscheinen genügte, dass sich der Stellvertreter der Symptomatik als nicht mehr zugehörig oder bedeutsam empfand. Er bat darum, sich aus dem Beziehungskontext der aufgestellten Familie zurückziehen zu dürfen. Die Einsicht in diesen möglichen Zusammenhang verhalf den Eltern, Stabilität zu gewinnen. Sie fassten Vertrauen und baten um Rat, was sie denn nun tun könnten. Ich schlug vor, den Jungen baldmöglichst über seine Herkunft aufzuklären und nicht, wie bisher geplant, bis in sein Erwachsenenalter damit zu warten. Diesem Gedanken konnten sie zustimmen, und bereits nach wenigen Tagen ließen sie mich dankbar wissen, wie sie bereits bei ihrer Rückkehr zu Hause von einer veränderten Gelassenheit des Jungen positiv überrascht waren. Dieser fragte, wie es ihnen ergangen war, und sie erlebten sich ermutigt, mit ihm über seine Herkunft zu sprechen. Dieser konnte den Sachverhalt annehmen und fühlte sich, warum auch immer, im Laufe der folgenden Tage imstande, wieder zur Schule zu gehen. Da er gut in die Klasse integriert war, wurde er dort ohne weitere Schwierigkeiten wieder aufgenommen.
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Kommentar zum Fallbeispiel Offensichtlich verbarg sich hinter der Symptomatik des Jungen eine Identitätskrise. Die Schwierigkeit lag meines Erachtens in der Abweichung zwischen dem Gesagten und dem, was er wahrnehmen und empfinden konnte. Die fehlende Übereinstimmung von Information, Wahrnehmung und Empfindung ist für ihn nicht verstehbar. Folglich gelingt es nicht, Vertrauen in die eigene Wahrnehmung und in die eigene Person zu entwickeln. Dies wiederum verhindert eine stabile Verankerung im Leben generell. Was immer der Auslöser für die plötzlich mangelnde Handhabbarkeit der Situation auch war: Es ist kein Zufall, dass die Verunsicherung in einer Lebensphase in Erscheinung tritt, in der die Ablösung von den Eltern und die Individuation zunehmend an Bedeutung gewinnen. Scheinbar hatte der Junge hinreichend Autonomie entwickelt, um sich abgegrenzt von den Eltern wahrzunehmen. Seine Suche nach Identität ließ die Unstimmigkeit zunehmend deutlich werden. Sicher ist die Situation dieser Familie eine besondere, doch in vielen Systemaufstellungen mit Kranken zeigt sich, wie Stellvertreter für Symptome oder Krankheiten als Ausweg oder Ausgleich fungieren, wenn die Klienten sich in Bezug auf ihre Identifizierung mit den Eltern in einem Loyalitätskonflikt zwischen diesen oder deren Familien als gefangen erleben. Hinreichend bekannt, nachvollziehbar und oftmals auch offensichtlich sind die Loyalitätskonflikte von Kindern in Trennungssituationen der Eltern bzw. wenn die Eltern aus Familien unterschiedlicher Kulturen oder Religionen stammen. Subtiler und schwieriger nachzuvollziehen, aber – wie Systemaufstellungen zeigen – in ihrer möglichen Wirkung auf Seele und Körper durchaus vergleichbar, sind Entscheidungskonflikte, die entstehen, wenn die Eltern sich nicht aus ihren Herkunftsfamilien lösen und es ihnen in der Folge nicht gelingt, ein neues gemeinsames Wertesystem zu schaffen, an dem sich die Kinder orientieren können. Die empfundene Spaltung verstärkt sich, wenn die Eltern, wiederum aus Loyalität zu ihren Eltern, ihren Kindern bewusst oder unbewusst vermitteln, dass die in der eigenen Herkunftsfamilie erfahrenen und geprägten Werte © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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richtiger und besser seien als die Werte der Familie des Partners. Aus Liebe und Loyalität zu beiden Eltern und deren Familien erleben sich die Kinder folglich nicht frei, sich mit ihrer Familie, Vergangenheit und Herkunft zu identifizieren. Ähnliche Dynamiken lassen sich in der Folge von schwerem Trauma, Verlust oder Schuld auch in früheren Generationen der Eltern beobachten – besonders dann, wenn der Schmerz bei den betroffenen Familienmitgliedern und Ahnen zu groß ist, um die vorgefallenen Ereignisse zu verarbeiten und zu integrieren. Dies kann zum Tragen kommen bei Suizid, bei Verbrechen oder dem Tod einer Mutter bei oder an den Folgen der Geburt eines Kindes. Derartig tiefgehende traumatische Erfahrungen führen oftmals zu Ängsten in der Familie, auch über die Generationen hinweg. Bewusst oder unbewusst entsteht die Vorstellung, man müsse oder könne sich selbst bzw. die Kinder vor den vom Unglück betroffenen Angehörigen oder Vorfahren abgrenzen oder schützen. Doch gerade die Ausgrenzung dieser Personen und die Verdrängung dieser traumatischen Ereignisse führen offensichtlich dazu, dass sie unterschwellig in der Familie weiterwirken und sich über Symptomatik bemerkbar machen (vgl. die Beiträge von F. Ruppert, K. Huyssen, S. Peyton u. T. Meyburgh in diesem Band).
Methodische Prinzipien Die Methode der Systemaufstellung ist für mich die Vorgehensweise der Wahl, diese unbewussten Zusammenhänge zwischen persönlichem und transpersonalem Trauma, Krankheit und Symptomatik ans Licht zu bringen. Wie bei jedem therapeutischen Ansatz, der sich um die Integration von traumatischen Ereignissen bemüht, ist vom Therapeuten Feinfühligkeit, Achtsamkeit und Sorgfalt zu erwarten. Das bedachte und behutsame, an den Ressourcen des Klienten orientierte Aufzeigen der meist unbewusst verdrängten Identitätsanteile beschreibt nur die erste Phase der therapeutischen Arbeit mit Systemaufstellungen. Die sorgfältige, am Körper des Klienten orientierte Unterstützung des Integrationsprozesses während und, wenn angezeigt, auch nach der Aufstellung, ist der noch wichtigere Teil der Arbeit, der © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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während der Aufstellung selbst oftmals zu sehr vernachlässigt wird. Vor allem an dieser Stelle kommen die Präsenz und Wahrnehmungsfähigkeit des Aufstellers zum Tragen, denn nur die Gegenwärtigkeit kann sich verändern. Um dieser gewahr zu sein, braucht der Therapeut einen zuverlässigen Indikator, mit dessen Hilfe er den Integrationsprozess des Klienten während des Aufstellungsgeschehens erfassen und begleiten kann. Wie in der Traumatherapie ist es der Körper des Klienten, der einerseits die Richtung, andererseits das Pacing und den Verlauf der Aufstellung vorgibt.
Präsenz und Wandlung Thomas Hübl (2009) schreibt in »Sharing the Presence« sinngemäß: Das, was von der Vergangenheit noch lebendig ist, möchte in die Gegenwart integriert werden, um nicht mehr fortwährend eine Zukunft schaffen zu müssen, in der die Vergangenheit sich permanent projiziert und reinszeniert. In die Sprache der Aufstellungsarbeit übertragen bedeutet das: Identifiziert zu sein führt zur Reinszenierung von Vergangenheit im Sinne von Wiederholung von Schicksal; sich zu identifizieren führt dagegen zu bewusstem Vergegenwärtigen und liebevollem Annehmen von persönlichen und transpersonalen ungelösten Vergangenheitserfahrungen. Es ist ein erster Schritt zur Beheimatung und Befriedung der als Bedrohung erlebten Schicksalskräfte. So beinhaltet die Arbeit mit Systemaufstellungen das Potenzial zu Transformations- und Lösungsprozessen, die die Geschichte im Sinne einer positiven Zukunftsgestaltung umzuschreiben vermögen mit dem Ziel, ein neues Gleichgewicht im Beziehungssystem des Klienten – sowohl zu seiner Familie als auch zu seinem Körper – zu schaffen und damit durch eine höhere Stimmigkeit ein Mehr an Gesundheit zu generieren. Um den Prozess der Integration während der Aufstellung begleiten zu können, ist es wesentlich, im Verlauf der Aufstellung konsequent Kontakt mit dem Klienten zu halten. Daher bringe ich den Klienten eher selten – wie sonst in der Aufstellungsarbeit meist üblich – in die Position seines Stellvertreters bei der Aufstellung. Meist belasse ich ihn an seinem Platz neben mir im Außenkreis und biete ihm von dort aus an, sich mit den entsprechenden Stell© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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vertretern seiner Familie und den bisher nicht integrierten Identitätsanteilen in Beziehung zu setzen. Wichtig dabei ist, den Klienten zu unterstützen, die ehemals traumatischen Ereignisse mit ihren Folgen als zugehörig anzuerkennen, doch das zu den davon unmittelbar betroffenen Personen Gehörige mit Liebe und Achtung bei ihnen zu lassen. Die damit geschaffene Außenperspektive des Klienten auf die eigene Bezogenheit zur Familie und zu den traumatischen Erfahrungen, die er selbst oder seine Vorfahren und Angehörigen durchlebten, hilft ihm, einen sicheren Abstand zu halten, und führt in der Regel über ein Verständnis der Beziehungsdynamiken zu einem Gefühl von Stimmigkeit und Kohärenz. So hört man von Klienten immer wieder den erstaunten und auch befreienden Satz: »Genau so fühle ich mich!« oder »So habe ich mich immer gefühlt!«, wenn sie ihren Stellvertreter in der Aufstellung erleben. Dieses Gefühl von »gesehen und erkannt zu sein« schafft im Klienten unmittelbar ein tiefes Gefühl von Stimmigkeit im Sinne von »Ich bin richtig« und »Ich mache Sinn, so wie ich bin«. Es führt auf körperlicher Ebene zu einer spürbaren Entspannung mit der Folge einer verbesserten Selbstregulation des Körpers und damit wiederum zu einem Gefühl von Handhabbarkeit der in der Aufstellung erlebten und bisher als Belastung erfahrenen Beziehungs- und Bindungsmuster. Hier stützt Aufstellungsarbeit die Salutogenese entsprechend dem von Aaron Antonovsky (1997) entwickelten Konzept. Ziel der Identifizierung mit den Eltern und Ahnen, ihrer Biografie und Vergangenheit ist letztlich die Aussöhnung mit ihnen und ihrer Geschichte, sodass es gelingt, das Leben durch sie anzunehmen und eine unterstützende und nährende Verbundenheit zu schaffen bei gleichzeitiger Individuation. Bedeutsam ist, dass es dabei vorrangig nicht um eine verbesserte gelebte Beziehung zu den Eltern geht – auch wenn das eine häufig zu beobachtende »Nebenwirkung« ist –, sondern vielmehr um eine innere Haltung und seelische Bewegung der Dankbarkeit (Beaumont, 2013). Bewusstes Identifizieren führt im Gegensatz zu Identifiziert-zuSein zu einer Verankerung im Leben. Unbewusstes Identifiziert-Sein bindet dagegen an die Reinszenierung herkömmlicher Muster. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Schlussbemerkung Abschließend möchte ich nochmals darauf hinweisen, dass es, wie in der Einleitung bereits dargestellt, viele verschiedene Anwendungsbereiche und Vorgehensweisen bei der Aufstellungsarbeit gibt. Wie das im Text angeführte Fallbeispiel zeigt, legen Systemaufstellungen mit Kranken nahe, dass der Blick auf die Symptome und Krankheiten als persönliches Phänomen des Kranken für eine Linderung oder Lösung oftmals zu eng gefasst ist und dass die Symptomatik als eingebunden in einen größeren, oft generationsübergreifenden Kontext der Familie anerkannt und betrachtet werden muss. Dabei verweisen die Stellvertreter von Symptomen und Krankheiten oft auf vom Klienten oder seiner Familie ausgegrenzte systemrelevante Ereignisse oder Angehörige, die mit diesen Ereignissen in Verbindung stehen. Aufstellungen wirken salutogen, indem sie die Identitätsfindung und Integrität einer Person fördern. Als sinnstiftende Erfahrung vermögen sie über ein umfassenderes Verständnis für die eingeschränkte und belastete Lebenssituation den Handlungsspielraum zu erweitern und lösende Ansätze aufzuzeigen.
Literatur Antonovsky, A. (1997). Salutogenese – Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: dgvt. Beaumont, H. (2013). Dankbarkeit als seelische Bewegung. Auditorium Netzwerk. Bowlby, J. (2011). Das Glück und die Trauer: Herstellung und Lösung affektiver Bindungen. Stuttgart: Klett-Cotta. Brisch, K. H. (2009). Bindungsstörungen. Von der Theorie zur Therapie (9. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Franke-Gricksch, M.; Hausner, S. (2007). Heilung im Einklang. Marianne Franke-Gricksch im Gespräch mit Stephan Hausner. Praxis der Systemaufstellung, 1, 68–73. Fritsche H. (1982). Die Erhöhung der Schlange. Mysterium, Menschenbild und Mirakel der Homöopathie. Göttingen: Burgdorf. Hausner, S. (2014). Auch wenn es mich das Leben kostet (3. Aufl.). Heidelberg: Carl Auer. Hübl, T. (2009). Sharing the Presence. Bielefeld: J. Kamphausen. Korpiun, O. (2010). Cranio-Sacral SELF waves: A scientific approach to cranio-sacral therapy. In Resonanz mit dem Universum. Berlin: Lehmanns Media.
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Levine, P. (1998). Trauma-Heilung: Das Erwachen des Tigers, unsere Fähigkeit, traumatische Erfahrungen zu transformieren. Essen: Synthesis Verlag. Reddemann, L. (2007). Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren. Stuttgart: Klett-Cotta. St. Just, A. S. (2005). Soziales Trauma – Balance finden in einer unsicheren Welt. München: Kösel.
© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
Claude-Hélène Mayer
Intuition als Gesundheitsressource im Kontext systemischer Resonanz
In den letzten Jahrzehnten haben sich Wissenschaftler und Praktiker mit der interdisziplinären Annäherung an die Themen Kognition (Frederick, 2005), Intuition (Dane u. Pratt, 2007) und Emotion (Bechara, Damasio u. Damasio, 2000) im Kontext von Entscheidungsfindung beschäftigt (Simon, 1987). Dabei geht es immer wieder um Schlüsselfragen, wie Kognition, Intuition und Emotion zu definieren sind, wie aus diesen Konzepten Sinn konstruiert wird, wie sie einander beeinflussen und wie sie sich sowohl auf kognitive als auch auf handlungsrelevante und handlungsleitende systemische Prozesse innerhalb und außerhalb von Individuen auswirken (Hänsel, 2002). Ein beachtenswertes Ergebnis ist dabei (De Martino, Kumaran, Sexmour u. Dolan, 2006), dass das Emotionssystem eine mediierende Rolle im Entscheidungsprozess einnimmt, welche die Wichtigkeit der Inkorporation emotionaler Prozesse in die Modelle und theoretischen Überlegungen zur Wahl(freiheit) des Menschen aufzeigt. Emotionen scheinen somit mehr Einfluss auf kognitive und verhaltensorientierte Prozesse zu haben als bisher angenommen. Oftmals wird in der früheren Literatur auf die Trennung von rationaler und intuitiver Entscheidungsfindung hingewiesen (Simon, 1987). Erst seit den 1990er Jahren steigt das wissenschaftliche Interesse daran, rationale und intuitive – mit anderen Worten kognitive und intuitive – Entscheidungsprozesse und Entscheidungsfindungen in neue Zusammenhänge zu bringen und diese zu erforschen (Klein, Moon u. Hoffman, 2006; Kahneman u. Klein, 2009; Gigerenzer, 2007; Kahneman u. Frederick, 2002). Hierbei ist die Aufstellungsarbeit als eine Möglichkeit zu sehen, Entscheidungen weniger kognitiv und eher intuitiv zu betrachten und anzugehen. Bisher gibt es jedoch kaum Forschungen in diesem Bereich. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Sowohl die Erforschung als auch die praktische Anwendung von Kognition, Intuition und Emotion stehen in einem engen Zusammenhang mit dem Diskurs um »Sensemaking« (Klein, Moon u. Hoffman, 2006) und somit im Kontext der Frage, »how people make sense out of their experience in the world« (Duffy, 1995). Diese grundlegende systemische Fragestellung der Wahrnehmung und Erfahrung der Welt stellt eine wichtige Basis systemischen Denkens und systemischer Resonanz im Kontext von Intuition und Feldwahrnehmungen – wie sie in der Aufstellungsarbeit greifen – dar. Gleichzeitig ist sie ebenso wichtig für die Gesundheit im Sinne der Salutogenese, in der das Augenmerk auf das Kohärenzgefühl und somit auf die drei Komponenten Verstehen, Handhabung und Sinnhaftigkeit gelegt wird. Das systemische Denken ist entsprechend zu einer Schlüsselkompetenz geworden, um die immer komplexer erscheinenden Realitäten zu erfassen, zu begreifen und ihnen Sinn zu verleihen (Mayer u. Boness, 2013). Dabei scheinen Konzepte wie systemische Resonanz (z. B. Ruppert, 2001; vgl. auch den Beitrag von F. Ruppert in diesem Band), wissende Felder (z. B. Mahr, 2001; 2003) oder repräsentierende Wahrnehmung (Varga von Kibéd, 2000) in einem engen Zusammenhang mit dem kollektiven Unbewussten nach C. G. Jung zu stehen (Fasching, 2009). Die Intuition vermag dabei eine wichtige Aufgabe und Funktion in der Wahrnehmung systemischer Resonanzen zu erfüllen und somit systemisches Denken und systemisches Fühlen zu verbinden. Ziel dieses Beitrags ist es, zu reflektieren, welche möglichen Zusammenhänge zwischen der Intuition, dem systemischen Denken, dem Phänomen der systemischen Resonanz – wie sie sich in theoretischen Annäherungen von Mahr (2003), Sheldrake (2006) und Varga von Kibét (2000) zeigen – und dem Unbewussten bestehen. Dies erscheint von besonderer Wichtigkeit, sind doch die Themen Intuition und Unbewusstsein im Kontext systemischen Denkens und systemischer Resonanz bisher wenig theoriebasiert reflektiert und empirisch untersucht worden. Gleichzeitig scheinen sie jedoch auch in engem Zusammenhang mit mentaler Gesundheit und Salutogenese zu stehen, die es in therapeutischen Prozessen grundlegend zu fördern gilt. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Spezifische Gesundheitsressourcen in der Aufstellungsarbeit
Der Beitrag ist entsprechend wie folgt aufgebaut: Definition der Begriffe Kognition, Emotion und Intuition; Intuition als Wissenssystem; kurze Einführung in ausgewählte systemische Denkansätze; grundlegende theoretische Annahmen zur systemischen Resonanz; ȤȤ Reflexionen zum Unbewussten; ȤȤ Zusammenhänge von Intuition, systemischem Denken, systemischer Resonanz und dem Unbewussten im Kontext der Salutogenese; ȤȤ Fazit zur übergreifenden Fragestellung mit Ausblick. ȤȤ ȤȤ ȤȤ ȤȤ
Definitionen grundlegender Begriffe: Kognition, Emotion und Intuition Unter dem Begriff Kognition werden die mentalen Prozesse eines Menschen wie Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Denken, Erinnern, Verstehen und Problemlösen zusammengefasst (Gerstenmaier, 1995). Dabei geht es um die »mentalen Prozesse der Informationsverarbeitung von der ersten Wahrnehmung eines Objektes bis zu seiner Integration in das eigene Denk- und Handlungsschema« (Klusendick, 2007, S. 106) und um die Erkundung der Zusammenhänge kognitiver Prozesse in ihrer Wechselwirkung mit emotionalen und motivationalen Prozessen. Im Sinne der Salutogenese und des Kohärenzgefühls handelt es sich somit vor allem um die Komponente der Verstehbarkeit, jedoch in der Folge auch um die Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit. Unter emotionalen Prozessen bzw. Emotionen versteht man ein komplexes Muster an Veränderungen, die vor allem die physiologische Erregung, Gefühle, kognitive Prozesse und Verhaltensweisen betreffen. Sie treten als Reaktion auf eine Situation auf, die das Individuum als persönlich bedeutsam erlebt (Kleinginna u. Kleinginna, 1981), und sind eng mit Kognition und Intuition verknüpft. Sie zeigen sich somit vor allem im Salutogenesekonzept im Blick auf die Handhabbarkeit und die Sinnhaftigkeit. Die Intuition wird als eine Kraftquelle bezeichnet, die eine wichtige Basis in der Biologie hat und als eine emotionale Reaktion auf antizipierte Konsequenzen einer zu bewertenden Entscheidungs© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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findung abzielt (Bechara, Damasio, Tranel u. Damasio, 1997). Sie wird definiert als eine Wissensform, die sich als ein Bewusstsein in Form von Gedanken, Gefühlen oder körperlichen Sinnen zeigt und in Verbindung mit einer tieferen Wahrnehmung, einem Verstehen und dem »making sense of the world« steht, das auf anderen Wegen entweder gar nicht, nur sehr schwierig oder nur mit anderen Mitteln erreicht werden kann (Sadler-Smith u. Shefy, 2004, S. 76). Andere Autoren definieren Intuition als die »psychological function transmitting perceptions in an unconscious way« (Jung, 1933, S. 567 f.), als »thoughts and preferences that come to mind quickly and prior to rational analysis« (Kahneman, 2003, S. 697) sowie als »acts of recognition« (Simon, 1996, S. 89). Demnach ist die Intuition ein umfassender Schlüssel des Individuums zur Konstruktion einer vertieften Verstehbarkeit, einer Handhabbarkeit und einer Sinnhaftigkeit. In diesem Beitrag soll das Augenmerk vor allem auf die Intuition gelegt werden, die in einen Zusammenhang mit systemischem Denken, systemischer Resonanz, dem Unbewussten und der Salutogenese gebracht wird.
Intuition als Wissenssystem Der Forschungspsychologe Gary A. Klein, der 1944 in New York geboren wurde, hat sich bereits in den 1990er Jahren intensiv mit den Themen des Zusammenspiels von Kognition, Intuition und Emotion beschäftigt und dieses komplexe Zusammenwirken auf die Entscheidungsfindung hin betrachtet (Bechara, Damasio, Tranel u. Damasio, 1997; Klein, 1998). Klein argumentiert, dass Menschen in ihrer natürlichen, alltäglichen Umwelt, also in komplexen »real-world scenarios« (Klein u. Klinger, 1991), viele Fähigkeiten und Kraftressourcen zur Verfügung stehen. Dabei sind jedoch gerade in Realsituationen nicht unbedingt konventionelle Kraftquellen wie deduktives, logisches Denken, die Analyse der Wahrscheinlichkeiten oder statistische Methoden notwendig, sondern vielmehr Intuition, geistige Stimulation, Metaphern und das Erzählen von Geschichten (Klein, 1998, S. 3). Kahneman und Klein (2009) heben hervor, dass zwar oftmals Intuition und Expertise in der Wissenschaft und Praxis als gegen© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Spezifische Gesundheitsressourcen in der Aufstellungsarbeit
sätzlich und konflikthaft beschrieben werden, dies jedoch nicht unbedingt der Fall sein muss. Ganz im Gegenteil basiert intuitive Entscheidungsfindung auf einer qualitativ hochwertigen Bewertung der Umwelt – des natürlichen, vertrauten Umfeldes –, der wiederum ein Assessment und eine hochwertige Analyse vorausgehen (Verstehbarkeit und Handhabbarkeit im Sinne der Salutogenese). Voraussetzungen für solch eine adäquate Analyse der Umwelt sind unabdinglich angemessene Möglichkeiten der Erfahrung einer üblicherweise vorkommenden Umwelt. Ausschließlich über das Erlernen einer regulären Umwelt können Fähigkeiten und Fertigkeiten – und somit auch intuitive Fähigkeiten – entwickelt werden (Hogarth, 2001). Dies trifft sich mit den Vorstellungen Antonovskys (1979), der davon ausgeht, dass der Mensch über wiederholte Erfahrungen lernt und das Kohärenzgefühl ausbildet. Zudem sorgt die Intuition auch für das Erlernen neuer oder außergewöhnlicher Regularien, die in der Umwelt auftreten können. Jedoch ist die subjektive Erfahrung nicht unbedingt ein zuverlässiger Indikator für Entscheidungspräzision (Kahneman u. Klein, 2009). Nach Khatri und Ng (2000, S. 67) bildet sich eine intuitive Synthese aus drei Aspekten: Die Synthese involviert die Bewertung, hängt von vergangenen Erfahrungen ab und manifestiert sich in Form eines »guten Feelings«, also eines Bauchgefühls. Die Intuition ist entsprechend einerseits keineswegs den Kognitionen und dem Verstand entgegengesetzt und andererseits nicht aus Emotionen entsprungen. Ganz im Gegenteil scheinen starke Gefühle mit intuitiven Operationen und intuitiver Wahrnehmung zu interferieren (Ray u. Myers, 1990), und es kann passieren, dass eine intuitive Botschaft durch die Überlagerung von Emotionen nicht das Bewusstsein erreicht (Vaughan, 1990). In den vergangenen Jahren hat sich vor allem die Idee der »dualen Modelle« durchgesetzt (Evans, 2007). Hier wird unterschieden zwischen System-1- und System-2-Operationen. Erstgenannte sind automatisch, unfreiwillig und geschehen fast ohne Anstrengung. Zweitgenannte sind bewusst gesteuerte Handlungen, wie z. B. das Lösen einer Mathematikaufgabe oder die Selbstbeobachtung. Diese Operationen bedürfen zumeist einer Anstrengung (Kahneman u. Klein, 2009, S. 519). Andere Autoren (Sadler-Smith u. Shefy, 2004, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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S. 76) sprechen von zwei parallel existierenden Wissenssystemen, die miteinander in Interaktion stehen und als »knowing (intuition-as-expertise) and sensing (intuition-as-feeling)« bezeichnet werden. Intuition und Rationalität werden somit nicht mehr als zwei getrennte, sondern vielmehr als zwei parallele, zusammenhängende Wissenssysteme gesehen. Diese beiden Wissenssysteme tragen gemeinsam zum Verstehen der Welt bei und bereiten das Individuum auf die Handhabbarkeit einer Entscheidungssituation vor.
Das System Nach von Bertalanffy (1968, S. 55) bezeichnet ein System eine Gesamtheit von Elementen, die aufeinander bezogen sind. Dabei stehen die einzelnen Elemente in einer Wechselwirkung, welche sie zu einer aufgaben-, sinn- oder zweckgebundenen Einheit werden lässt. Die Relationen der Elemente zueinander sind ausschlaggebend, um sich gegenüber anderen Systemen und Subsystemen durch Regeln, Organisation und Struktur abzugrenzen (Luhmann, 1984). Die Menge und Art der Relationen zwischen den Elementen wird als Struktur bezeichnet. Die Ordnung bzw. die Struktur der Elemente eines Systems, die sich über die Menge und Art der Relationen zwischen den Elementen definiert, stellt in den Systemtheorien die Organisation des Systems dar (Hill, Fehlbaum u. Ulrich, 1994, S. 22). In Bezug auf das Wissenssystem stellen die Intuition und die Rationalität zwei Elemente des Systems Gehirn dar, die miteinander verbunden entsprechend in Kommunikation sind und durch ihre Zusammenarbeit zur Wahrnehmung beitragen. Wichtigstes Kennzeichen eines Systems ist der Zusammenhang von Elementen, Subsystemen, Relationen und Prozessen. Dabei bestimmt das übergeordnete Ganze das Wesen der einzelnen Bestandteile. Der Leitsatz »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile« (Schiffkopf, 1982) beschreibt eine durch die Kommunikation zwischen den einzelnen Teilen entstehende, andere (höhere) Qualität als die der lediglich aggregierten Elemente eines Systems. Systemische Denkansätze basieren auf derartigen Systemdefinitionen und sind zu einem Schlüssel in interdisziplinärer Forschung und Praxis geworden, um bisher ungeklärte bzw. linear kaum erfass© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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bare Zusammenhänge zu überdenken und neue Perspektiven theoretisch fundiert und gleichzeitig anwendungsbezogen zu eröffnen (Mayer, 2011). Sie ermöglichen somit auch eine neue Sicht auf das Phänomen der Intuition, das nach linearen Gesichtspunkten in seiner Komplexität kaum erfassbar ist. Entsprechend bieten systemische Denkansätze einen neuen Zugang zur Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit und können mitunter salutogen wirken.
Systemische Denkansätze Basis des systemischen Denkens sind vor allem biologische und soziologische Annahmen, die auf Maturana (1998), Maturana und Varela (1990), Luhmann (1984) und Bateson (1987) zurückgehen und die Systemtheorien stark beeinflussten bzw. mitbegründeten (Ludewig, 2005). Systemisches Denken ist eine »Denk-Kultur« (Ludewig, 2005) und beantwortet die Frage, »wie in sozialen Systemen Menschen gemeinsam ihre Wirklichkeit erzeugen, welche Prämissen ihrem Denken und Erleben zugrunde liegen und welche Möglichkeiten es gibt, diese Prämissen zu hinterfragen und zu verstören« (von Schlippe u. Schweitzer, 2003, S. 17). Dabei ist systemisches Denken lösungsorientiert (De Shazer, 2004) und dadurch gekennzeichnet, dass es vom Ursache-Störung-Wirkung-Denken weg- und zur Annahme des Einflusses aller Mitglieder im System hingeht. Diesem Ansatz entsprechend sind Partizipation und Teilhabe grundsätzliche Elemente systemischen Denkens und somit als salutogen im Sinne der Herstellung von Sinnhaftigkeit einer Person im Kontext eines Systems zu sehen. Nach dem chilenischen Neurobiologen und Anthropologen Humberto Maturana (1998) besteht die Annahme darin, dass die operational und funktional geschlossenen Nervensysteme des Menschen nicht zwischen internen und externen Auslösern, Wahrnehmung und Illusion sowie inneren und äußeren Reizen unterscheiden. Sie stellen vielmehr sich selbst erhaltende, erzeugende und reproduzierende (autopoietische) Systeme dar, die autonom sind. Jegliches Erkennen ist subjektgebunden und resultiert aus subjektiven Beobachtungen, die auch als Unterscheidungen bezeichnet werden, und ist © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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geprägt durch die Struktur des Organismus: Man sieht, was man sieht (Maturana, 1998). Der Beobachter ist gleichzeitig ein sozial konstruiertes Lebewesen wie auch Erzeuger von innerer und äußerer Realität. Die subjektive Beobachtung und das gruppenbezogene Verhalten dienen dem Verstehen der konstruierten Realitäten, der Handhabung dieser Realitäten im sozialen Gefüge und können zudem Sinnhaftigkeit stiften. Sie sind somit grundsätzlich salutogen orientiert. Eine Prämisse des systemischen Denkens ist, dass die Perspektiven eines jeden Beobachters konstruktivistisch einbezogen und als bedeutsam angenommen werden: Wirklichkeit ist stets die Wirklichkeit des Beobachters (von Glaserfeld, 1987). In den Worten des Anthropologen Bateson (1987, S. 48) heißt es, dass eine Erfahrung immer durch die innere Erlebniswelt des Subjektes bestimmt und daher als subjektiv erlebt wird. Zudem ist der Beobachter als lebender Organismus autonom und selbstständig, zugleich aber Teil der Beobachtungswelt, also einbezogen (von Foerster, 1995). Bateson und Ruesch (1995, S. 305) nehmen die handelnde Person ausdrücklich als Element des jeweiligen (sozialen) Systems an, das aus »teilnehmenden Individuen« besteht. Diese teilnehmenden Individuen sind in der Lage, im System zu handeln und die Realität handhabbar zu gestalten. Nach Bateson (1987) ist es »der Unterschied, der einen Unterschied macht« – und der liegt beim Beobachter und nicht in der Sache. Im Kontext systemischen Denkens haben sich unterschiedliche Vertreter mit dem Phänomen der systemischen Resonanz beschäftigt (z. B. Holtzka u. Remmert, 2000; Ruppert, 2001; Varga von Kibéd, 2000), das im Folgenden aufgezeigt werden soll.
Systemische Resonanz und Felder Resonanz ist ein menschliches Grundbedürfnis (Bauer, 2008). Dabei wird Resonanz als Mitschwingen in Eigenschwingungen, als Antwortschwingungen in den eigenen Schwingungsfähigkeiten gesehen (Petzold, 2011a). Diese Definition der Resonanz gibt somit der individuellen Autonomie sowie der bezogenen Verbundenheit mit anderen Menschen einen Raum (Petzold, 2011a) und ist systemisch zu verstehen. Das Individuum resoniert mit größeren Kontextsys© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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temen, körperlich und psychisch, und kann sich je nach Bedürfnis und Fähigkeit auf die jeweiligen Kontexte einstellen. Ruppert (2001) bezeichnet die systemische Resonanz als einen »Bindungssinn«, Holtzka und Remmert (2000, S. 27) nennen sie »systemischen siebten Sinn« und Varga von Kibéd (2000) spricht von »repräsentierender Wahrnehmung«, also einer Form der supervenienten Wahrnehmung, die andere Wahrnehmungsformen überlagert (vgl. auch den Beitrag von O. Bahrs in diesem Band). Bei der repräsentierenden Wahrnehmung wird davon ausgegangen, dass einer Person Systemwissen zugänglich wird, sobald diese Person ein Teil des Systems ist bzw. ein Systemelement repräsentiert (Varga von Kibéd, 2002), wie es in der Aufstellungsarbeit der Fall ist. Dieser Zugang zum Systemwissen erschließt sich durch die systemische Resonanz, in die sich die repräsentierende Person begibt. Das erfahrene Systemwissen, das oftmals eher Repräsentanten als Systemangehörigen zugängig ist (Weber, 2002), drückt sich vor allem in körperlichen Reaktionen und Körperwahrnehmungen aus (Hellinger, 2001; Sparrer, 2001). Wissende Felder sind besonders durch die Teilnahme am System zu erfahren und werden vorwiegend sinnhaft erfasst (Hellinger, 2000). Mahr (2003) bezeichnet diese Teilnahme als teilhabende Wahrnehmung, denn einer Person erschließt sich durch die Teilhabe an dem System, wie beispielsweise durch die Repräsentation eines Systemelements, einerseits das System, andererseits bestimmte Beziehungen oder Qualitäten von Beziehungen innerhalb des Systems. Teilhabe wird hier ebenso wie in der Salutogenese (Antonovsky, 1979) als sinnstiftend gesehen. Wenn sich beispielsweise eine Person A in die Repräsentanz einer Person B begibt, sollte A während dieser Repräsentanz über körperliche Reaktionen und Körperwahrnehmungen und gleichzeitig über systemische Resonanz Systeminformationen aus dem System von B erhalten. Auch Ruppert (2002, S. 304) unterstützt die These durch eine empirische Untersuchung im Organisationskontext, dass repräsentierende Wahrnehmung und systemische Resonanz in Systemen wirken können. Dabei sieht er die systemische Resonanz jedoch darin begründet, dass Menschen vermutlich auf eine universelle © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Symbolik und (bildhafte) Muster in Systemen reagieren und entsprechend körperliche Wahrnehmungen und Gefühle haben sowie Bewertungen treffen. Für Ruppert ist die systemische Resonanz somit im Kontext der Archetypen nach Jung (1995) zu betrachten (siehe auch den Beitrag von F. Ruppert in diesem Band). Nach Albrecht Mahr (2003) entwickelt sich systemische Resonanz in einem wissenden Feld, das er auch als »dynamisches Feld« bezeichnet (Mahr, 2001, S. 169). Der Begriff »wissendes Feld«, der häufig synonym mit »seelisches Feld« benutzt wird (Mahr, 2003), bezieht sich oftmals auf die spezifische Intervention der systemischen Aufstellungsarbeit. Diese wird vor allem im Kontext systemischer Beratungs- und Therapieansätze genutzt. Mit »Feld« bezeichnet man das sich in einer Aufstellung zeigende spontan eintretende Kräftespiel, das sich durch die spontanen Bewegungen und Regungen der Stellvertreter auftut, ohne dass diese darauf willentlich Einfluss nehmen (Latka, 2011, S. 56). Mason Boring (2003) spricht von dem »indigenous field«, das vielen Menschen ihrer eigenen Kultur, der »Shoshone Nation«, bekannt und zugänglich sei. Aus ihrer Perspektive können indigene Felder beispielsweise durch ein Gebet geöffnet werden. Wenn sich die Vorfahren in dem Feld aufhalten, kann durch Rituale und Zeremonien Heilung stattfinden (Mason Boring, 2003). Van Kampenhout (2003) spricht im Zusammenhang schamanischer Rituale und systemischer Familienkonstellationen auch von »spirituellen Prinzipien«, die beiden zugrunde liegen. Der rituelle Charakter erhöht somit die Verstehbarkeit und die Handhabbarkeit einer Situation bzw. eines systemischen Zusammenspiels im Sinne der Salutogenese. Erb (2001) verweist darauf, dass es in menschlichen Systemen energetische Schichten gibt, über die oftmals nicht gesprochen wird, das Wissen jedoch indirekt vorhanden ist und im System wirkt. Das Feld wird nach Mahr (2003, S. 13) daher als ein »wissendes Feld« bezeichnet, da über dieses Feld Unbewusstes, Vergessenes oder Verleugnetes ans Licht kommt. Das Auftauchende wird körperlich, sinnlich erlebt und als wirklich und wirksam erfahren und erkannt (Mahr, 2003) (neue bzw. erweiterte Verstehbarkeit). Gleichzeitig wird auch vom »seelischen Feld« gesprochen, um zu verdeutlichen, dass auch seelische Aspekte eine Rolle spielen, die möglicherweise in © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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einen Zusammenhang sowohl mit dem Gewissen als auch mit dem (kollektiven) Gedächtnis in Verbindung gebracht werden (Mahr, 2003). Die systemische Resonanz und ihre Begründungen sind interdisziplinär in den vergangenen Jahren aufgegriffen worden (Petzold, 2011b; Sparrer, 1999). Dabei können die neurophysiologischen Vorgänge im Gehirn als Resonanzen der Kommunikation begriffen werden. Der Mensch wird somit als ein Resonanzwesen betrachtet, das in einer dynamischen Resonanz in unterschiedlichen Kontexten steht und sich kontextbezogen und in der Beziehung zu sozialen, kulturellen und geistigen Kommunikationen verändert und entwickelt (Petzold, 2011b). Resonanzen sind demnach feldbezogen und nach Gindel (2002) oftmals unbewusst, bis sie aktiv ins Bewusstsein gerückt werden. Tritt eine Verschiebung ins Bewusstsein auf, kann es zu einer erhöhten Verstehbarkeit der Systemzusammenhänge kommen. Eine Resonanztheorie, die im Zusammenhang mit jener der »wissenden Felder« nach Mahr (2001, 2003) genannt wird, ist die der »morphischen« bzw. »morphogenetischen Felder« nach Sheldrake. Sheldrake (2001, S. 30 ff.) argumentiert, dass Systeme die folgenden Eigenschaften aufweisen: ȤȤ Systeme haben mehrere Ebenen, die sich im Rahmen eines gesamten Systems bewegen. Dieses System ist wiederum eingebettet in ein größeres System. ȤȤ Morphische Felder haben ein Gedächtnis. ȤȤ Morphische Felder sind heilend in dem Sinne, dass Schäden im System ausgeglichen werden und so die Ganzheit des Systems erhalten bleibt. ȤȤ Morphische Felder hybridisieren und vermehren sich durch den Zusammenschluss mit Teilen anderer Systeme. Morphische Felder sind nach Sheldrake (2001) ähnlich wie elektromagnetische Felder, die eine gewisse Struktur und Ordnung besitzen, sind raum- und zeitübergreifend und stellen eine Art kumulatives Gedächtnis der betreffenden Art dar. Mit der Annahme, dass morphische Felder ein Gedächtnis haben, nähert sich Sheldrake (2001) stark der Idee des »kollektiven Unbewussten« von C. G. Jung an. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Das Unbewusste Der amerikanische Psychologe William James hat bereits vor Jung betont, dass der Begriff des Unbewussten mit dem Begriff des »Feldes« in der Physik vergleichbar sei. Wie ein Teilchen, das in ein elektromagnetisches Feld gerät, in bestimmter Art angeordnet wird, so scheinen auch Vorstellungen im Bereich des Unbewussten autonom angeordnet zu werden. Das, was meist nachträglich im Bewusstsein als »vernünftig« oder »einleuchtend« bezeichnet wird, dürfte nur deshalb so wirken, weil die bewusste Überlegung mit gewissen vorbewusst angeordneten Inhalten übereinstimmt (Jung, 1988, S. 308). Entsprechend ist die erlebte Verstehbarkeit durch das Vorbewusstsein bereits vorgeprägt. Jung spricht von der Psyche als bewusst-unbewusster Ganzheit (Jung, 1985, S. 108), wobei er dem Unbewussten eine große Kraft zuschreibt. Jung (1995) unterscheidet zwischen den drei psychischen Ebenen Bewusstsein, persönlichem und kollektivem Unbewussten: ȤȤ Bewusst ist nach Jung alles, was eine Beziehung zum Ich besitzt. Existiert keine Beziehung des psychischen Inhalts zum Ich, ist es unbewusst. ȤȤ Im individuellen Unbewussten befinden sich Vergessenes, Verdrängtes und psychische Inhalte, die nicht bis zum Bewusstsein vorgedrungen sind. Die Struktur des individuellen Unbewussten wird durch gefühlsbetonte Komplexe gebildet. ȤȤ Als »kollektives Unterbewusstes« bezeichnet Jung (1995, S. 53 ff.) das psychische Erbe der Menschheitsgeschichte, das sich durch die Evolution entwickelt hat und von verschiedensten Erfahrungen geprägt worden ist. Das, was ein Mensch jemals psychisch ausgedrückt hat, wird zum Bestandteil der psychischen Grundkonstitution des Individuums einerseits und andererseits zum Bestandteil der gesamten Menschheit auf einer kollektiven Ebene, auf der Ebene des kollektiven Unterbewusstseins. Das kollektive Unbewusste ist ausschlaggebend für Verhaltensweisen, Handlungsabläufe und Ideen. Dabei ist das kollektive Unbewusste auf der Basis typisch menschlicher Reaktionsweisen aufgebaut, im Gegensatz zu individuellem Unbewusstsein, das auf persönlich © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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erworbenen Erfahrungen beruht. Der Arbeit mit dem Unbewussten sind besondere Ressourcen zugeschrieben worden, die in enger Verbindung zur Kreativität und zur Intuition stehen (Moody, 1997). Gemäß dieser Annahme können Gesundheitsressourcen im Sinne individueller Ressourcen durch die Arbeit mit dem Unbewussten aktiviert werden. Jung (1972) versteht die Intuition im Sinne von »Ahnung« und fasst sie als Wirklichkeitszugang als eine Art von Ahnungsfunktion auf. Intuition ist somit nicht unbedingt auf das Vorhandene, sondern auf das Mögliche oder Wünschenswerte ausgerichtet. Dabei kann die auffällige Abwesenheit als »Zeichen dafür betrachtet werden, dass etwas zu ergänzen ist und das Mögliche zur Einbeziehung in die Wirklichkeit drängt« (Schmid, Hipp u. Capari, 1999). Somit hat die Intuition also Zugang zum Möglichen zu erschließen, das aller Voraussicht nach bereits im Unbewussten vorhanden ist. Die Intuition steht daher in engem Zusammenhang mit dem Kohärenzsinn und vor allem mit den Komponenten der Verstehbarkeit und Sinnhaftigkeit. Murphy (2008) betont, dass das Unbewusste vor allem durch verbale Interventionen und positives Denken zu beeinflussen ist. Dabei ist die innere Gedanken- und Einstellungswelt immer im Außen – das bedeutet im systemischen Umfeld eines Menschen – repräsentiert. Dies gilt auch umgekehrt: Das im Außen Wahrnehmbare zeigt sind im Inneren. Das innere Gedankensystem – sei es bewusst oder unbewusst – spiegelt sich in der Außenwelt wider. Innen- und Außenwelt resonieren somit und scheinen in systemischer Resonanz zu schwingen. Entsprechend können Menschen sich in äußeren Aspekten ihres Lebens verändern, wenn sie ihre inneren Einstellungen verändern (James, 1890). Diese Aspekte können dann in dem resonierenden Umfeld wahrgenommen werden, auch wenn sie der Person selber nicht bewusst sind. Handhabbarkeit kann somit auf innerer oder aber auch auf äußerer Ebene erlebt werden und auf die jeweils andere Ebene wirken. Neuere Studien zeigen, dass die Wahrnehmungen, das Denken und Handeln von Menschen vorwiegend vom Unbewussten gesteuert werden und nur Bruchteile der Wahrnehmungen überhaupt ins Bewusstsein rücken (Mlodinow, 2012). Besonders in Situationen, in © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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denen das Bewusstsein nicht genügend vorbereitet, überfordert oder zu langsam ist, übernimmt das Unbewusste wesentliche Funktionen. Die Intuition kommt vor allem dann zum Tragen, wenn das Verhalten eines Menschen aus den unbewussten Schichten des kollektiven Unbewussten resultiert (Jung, 1996). Das Individuum repräsentiert entsprechend den im kollektiven Gedächtnis angelegten Archetypus, der besonders angesprochen ist. Die Art, wie aus dem Unbewussten reagiert wird, kann den Archetypen zugesprochen werden. Bei Entscheidungsfragen, die einem Archetypus entsprechen, wird das Unbewusste aktiviert und eine Instinktreaktion durchgesetzt. Jung (1996) definiert die Intuition dabei als ganzheitliche Auffassung eines Tatbestandes, bei welcher der Ursprung nicht herzuleiten ist. Zudem scheinen bestimmte Menschen vorwiegend intuitive Funktionen zu nutzen, um Entscheidungen zu treffen. Diese Menschen sehen in Situationen vor allem die Möglichkeiten, sind ungeduldig, wenn es um weltliche Dinge geht, unpraktisch veranlagt und gelegentlich nicht präsent (Daniels, 2011). Intuition wird in diesem Zusammenhang als Wahrnehmung der Wirklichkeit gesehen, die dem Bewussten nicht bekannt ist und eher über das Unbewusste zutage tritt. Das Unbewusste ist »›subliminal‹, below the threshold« (Mlodinow, 2012, S. 5). Introvertierte, intuitive Menschen seien vor allem mit dem kollektiven Unbewussten im Einklang, hätten Visionen, prophetische Träume und erlebten religiöse und übernatürliche Erscheinungen und Erkenntnisse (Daniels, 2011). Demnach kann also angenommen werden, dass Menschen des intuitiven Typus eher Zugang zu systemischen Feldern und Resonanzen finden als Menschen, die weniger intuitiv sind.
Zusammenhänge von Intuition, systemischer Resonanz/systemischen Resonanzfeldern und Unbewusstsein im Kontext der Salutogenese Die Intuition ist ein Schlüssel zum Unbewussten und zudem ein wichtiges Tool für ein analoges Vorgehen. Mit ihr können systemische Felder – wie in der Aufstellungsarbeit angenommen – mit einer hohen Komplexität und Dynamik analog erfasst (z. B. Kahneman u. Klein, 2009) und Verstehbarkeit im Sinne des Kohärenzgefühls © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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geschaffen werden. Sie ist als ein Systemelement zu verstehen, das eng mit der Kognition und der Emotion verbunden ist. Gleichzeitig ist sie mitverantwortlich für die Beantwortung der Frage, wie Menschen ihre Welt erfahren und wahrnehmen (Duffy, 1995). Gleichzeitig sollte sie in Beziehung zum Kohärenzgefühl und vor allem zur Konstruktion von Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit stehen (Antonovsky, 1979). Im Kontext des systemischen Denkens ist die Intuition als ein wichtiges Element systemischer Realitätswahrnehmung zu sehen. Dabei scheint besonders die Intuition Vermittlerin einerseits zwischen Kognition und Emotion, andererseits zwischen innerer und äußerer Resonanz zu sein. Die Intuition bietet die Möglichkeit, systemische Resonanzen (Mahr, 2001, 2003; Ruppert, 2001; Varga von Kibéd, 2000) – wie sie in wissenden oder morphischen Feldern und repräsentierender Wahrnehmung auftreten und wahrzunehmen sind – aufzugreifen und diese insbesondere über körperliche Signale und Wahrnehmungen, jedoch auch in Form von Gedanken und Ideen in das Bewusstsein zu heben (Verstehbarkeit). Die Intuition ist somit ein unbewusster Weg, um Wahrnehmungen weiterzuleiten (Jung, 1933) und aus diesen Handlungsimplikationen und Entscheidungen abzuleiten (Verstehbarkeit und Handhabbarkeit). Den intuitiven Wahrnehmungen geht üblicherweise eine adäquate Analyse der Umwelt voraus. Dies bedeutet, dass ein Großteil systemischer Elemente eines Systems (oftmals unbewusst) wahrgenommen, analysiert und bewertet werden müssen, um intuitive Entscheidungen zu treffen. Diese Wahrnehmung, Analyse und Bewertung muss – bewusst oder unbewusst – in systemischer Resonanz stattfinden: einerseits in innerer Resonanz mit den von Khatri und Ng (2000) beschriebenen drei Aspekten der Synthese (Bewertung, Abgleich mit den vergangenen Erfahrungen und Wahrnehmung des »Bauchgefühls«), andererseits in Resonanz mit den äußeren, sozialen und kulturellen systemischen Feldern und ihren Systemelementen. Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit werden somit kreiert und immer wieder systemisch abgeglichen. Die Intuition ist im Individuum fortwährend in unbewusster systemischer Resonanz, die häufig erst bewusst wird, wenn Entscheidungen fallen. Gleichzeitig müssen Kognition, Intuition und Emotion in angemessener © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Balance zueinander stehen, um der Intuition den Weg ins Bewusstsein zu ebnen. Betrachtet man die Intuition im Kontext systemischer Resonanz, so zeigt sich, dass – beispielsweise in Systemaufstellungen – die System-1-Operationen (Evans, 2007) zur Geltung kommen, wenn es darum geht, Systeminformationen bewusst zu erfahren und mitzuteilen. Gleichzeitig werden jedoch mitunter in der Aufstellungsarbeit auch die System-2-Operationen (Evans, 2007) der Intuition angesprochen, wenn eine optimale Lösungskonstellation im System herzustellen ist. Auch in Realsituationen, wie beispielsweise im alltäglichen Familienleben, werden beide Systemoperationen genutzt, um sich optimal in systemischer Resonanz der Familie zu verhalten (System-1-Operation) und um auftretende Konflikte schnellstmöglich beizulegen (System-2-Operation). Im Sinne der Salutogenese werden somit Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit geschaffen, die zur Gesundheit des Individuums und des Systems beitragen sollten. In der Arbeit mit systemischen Resonanzen und wissenden Feldern werden optimalerweise sowohl die Intuition als Expertise als auch die Intuition als Gefühl (Sadler-Smith u. Shefy, 2004) genutzt, um wissende Felder und systemische Resonanzen wahrzunehmen, sie sowohl auf kognitiver als auch auf emotionaler Ebene zu erfahren. Dann kann eine Resonanz mit dem System und den Systemelementen entstehen, um zu agieren, zu interagieren oder zu reagieren. Dabei sind intuitiv-unbewusste Kompetenzen sicherlich ebenso wichtig wie strategisch-analytische Vorgehensweisen, wenn es um die Erschließung systemischer Felder geht (Hänsel, 2002). Es wird deutlich, dass die professionell ausgebildete Intuition, wie bereits von Kriz (1997) beschrieben, eine Systemkompetenz sein muss, da sie im Umgang mit systemtypischen Aufgaben der Komplexität und Dynamik von Nutzen ist. Die Intuition kann sich auf bestimmte Systemelemente – wie beispielsweise Menschen –, jedoch auch auf Systemprozesse (Beziehungsgestaltung zwischen den Menschen/ Elementen) beziehen oder aber auf Systemqualitäten (Beziehungsqualitäten zwischen den Menschen/Elementen) und gleichzeitig auf die Erfahrung, die implizite Analyse des Systems, eine Bewertung höherer Ebene, d. h. im Blick auf die Ganzheit des Systems – © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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die mehr ist als die Summe seiner Teile (Schiffkopf, 1982). Ist eine Entscheidung zu treffen, so bezieht diese sich intuitiv optimalerweise auf die Gesamtheit des Systems und nicht nur auf einzelne Elemente. Systemdenken (de Shazer, 2004) wie auch Intuition sind an der Lösung ausgerichtet und orientieren sich nicht am Denken nach dem Schema Ursache-Störung-Wirkung, sondern vielmehr an einer komplexen Zusammenführung der oben genannten systemischen Elemente. So wie Maturana (1998) davon ausgeht, dass Nervensysteme nicht zwischen Wahrnehmung und Illusion unterscheiden, kann auch angenommen werden, dass die Intuition nicht unbedingt zwischen inneren und äußeren Resonanzfeldern unterscheidet, denn nur wenn innere und äußere Resonanzfelder resonieren, können komplexe Wahrnehmungen optimal ins Bewusstsein transportiert und Verstehbarkeit geschaffen werden. Denn jegliches Erkennen ist subjekt- und beobachtungsgebunden (Bateson, 1987; Maturana, 1998). Das bedeutet, die Intuition kann nur das erfassen, was sie auch erfassen kann, denn man sieht, was man sieht (Maturana, 1998) oder beobachtet, was man beobachtet. Somit ist ein Individuum über die Intuition Erzeuger innerer und äußerer Realität, die, wenn sie auf entsprechende Resonanzen trifft, auch sinnstiftend sein kann. Ein Individuum und seine Intuition sind gleichzeitig immer autonom sowie Teil der Beobachtungswelt (von Foerster, 1995) und »teilnehmendes Individuum« (Bateson u. Ruesch, 1995). Die Intuition trägt dazu bei, die Realität handhabbar zu gestalten, Unterschiede wahrzunehmen und aus diesen komplexen Unterschiedsanalysen Handlungen zu konstruieren. Intuitive Entscheidungen und Handlungen im Kontext systemischer Resonanz zeigen somit, dass rein auf kognitiv-rationalen Überlegungen basierende Entscheidungen weitaus weniger systemische Elemente, Prozesse und Aspekte einbeziehen, als dies im Zusammenspiel mit der Intuition der Fall ist. Die Intuition ist somit auf individueller Ebene – im Inneren – das, was der »Bindungssinn« (Ruppert, 2001), der »systemische siebte Sinn« (Holtzka u. Remmert, 2000) und die repräsentierende Wahrnehmung (Varga von Kibéd, 2000) im systemisch-soziokulturellen äußeren Kontext sind. Dabei ist sicherlich zukünftig zu klären, ob und inwieweit die systemische Resonanz, wie vermutet (Ruppert, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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2001), auf universelle Symbolik und (bildhafte) Muster in Systemen reagiert oder aber doch eher individuell beeinflusst ist. Hier wird die Intuition vorerst als ein inneres, individuelles Resonanzfeld verstanden, das die Wahrnehmungen in Form von Handlungen, Körpersignalen oder Empfindungen transformiert (Hellinger, 2001; Sparrer, 2001) und in das äußere, systemische Resonanzfeld überträgt. Gleichzeitig ist die Intuition jedoch sicherlich auch mit universellen Resonanzfeldern im Kontakt und transformiert diese nach innen. Intuition wird somit als eine transformative Schnittstelle zwischen inneren und äußeren Resonanzfeldern, Feldern des Wissens und des Fühlens sowie bewussten und unbewussten Resonanzen gesehen. Dabei greift die Intuition u. a. auf bereits Erlerntes bzw. Erfahrenes zurück (Khatri u. Ng, 2000) und entwickelt ein »Gedächtnis«, wie es eventuell ähnlich in morphischen (Sheldrake, 2001) und indigenen Feldern (Mason Boring, 2003) zu finden ist. Zudem scheint die Intuition keinen Halt vor der Erfahrung von in Systemen aufbewahrten Tabus zu machen. Vielmehr ist es, als würde die Intuition im Feld Resonanzen wahrnehmen und diese über körperliche Empfindungen oder Signale ans Licht bringen, die eventuell unter »energetischen Schichten« (Erb, 2001) unbewusst oder bewusst verborgen gehalten werden. Entsprechend ist es für Repräsentanten, die beispielsweise in Systemaufstellungen bestimmte Systemelemente repräsentieren, leichter, die intuitiven Wahrnehmungen in bewusste Wahrnehmungen zu transformieren, da die Resonanzen der Systemelemente, -prozesse, -beziehungen und -qualitäten wahrscheinlich auf die Repräsentanten anders wirken als auf die Realpersonen bzw. diese anders beobachtet werden (Bateson, 1987). Gleichzeitig wird die Intuition eventuell auch nicht durch starke Gefühle in solch einer Weise eingeschränkt (Ray u. Myers, 1990), wie dies bei den realen Systemmitgliedern der Fall sein könnte. Entsprechend trägt die Intuition zum Systemverständnis bei. Die Intuition schafft eine Verbindung zwischen Bewusstsein und Unbewusstem. Gleichzeitig ist sie ein Katalysator der Erfahrung innerer Resonanzen aus dem Unbewussten und der Möglichkeit des Ausdrucks in einem systemischen Zusammenhang bzw. Feld. Die Intuition ermöglicht so die aktive Gestaltung selbstreferenter Kommunikation und die Nutzung impliziter wirklichkeitskonstruierter © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Prozesse (Hänsel, 2002). Die Intuition kann also als ein Verbindungsglied zur »bewusst-unbewussten Ganzheit« (Jung, 1985) verstanden werden. Dabei scheint die Intuition mit dem individuellen und mit dem kollektiven Gedächtnis (Jung, 1995) in Verbindung zu stehen und auf beide Formen des Gedächtnisses zuzugreifen bzw. zu diesen – beispielsweise in Form intuitiv geprägter Handlungen – beizutragen. Sie kann also auch auf die Handhabbarkeit wirken und diese beeinflussen. Die Intuition dient dazu, das Mögliche bzw. das Wünschenswerte einzubeziehen (Schmid, Hipp u. Caspari, 1999) und somit einen Beitrag zur Systembalance durch Resonanzen herzustellen, die mit großer Wahrscheinlichkeit im Unbewussten bereits vorhanden ist. Die Praxis der systemischen Arbeit mit Aufstellungen kann als ein Beispiel der Arbeit mit dem morphogenetischen Erlebnisfeld betrachtet werden, das vor allem über die Intuition von Individuen und Gruppen erschlossen wird. Die seelischen Erlebnisphänomene, die während der Aufstellungsarbeit auftreten, stammen aus einem soziokulturellen Feld, das intuitiv von den Teilnehmenden des Feldes erschlossen wird und – mithilfe des auf das Feld bezogenen Fokus – intuitiv-somatisch wahrgenommen werden kann. Doch dieses Feld kann nicht nur intuitiv wahrgenommen, sondern auch in spezifischen Teilen erschlossen werden. Bewusste und unbewusste Aspekte des Feldes können in den Vordergrund treten und – falls notwendig bzw. gewünscht – verändert bzw. entwickelt werden. Durch die Intuition kommt es zu einem bewussten bzw. unbewussten Kontakt mit dem eigenen, aber auch mit anderen systemischen Feldern und folgend zum Abgleich mit subjektiven Möglichkeiten. Besonders in Situationen, auf die das Bewusstsein nicht genügend vorbereitet ist, übernimmt die Intuition die Führung, indem sie Informationen aus dem individuellen und kollektiven Unbewussten einholt und diese verarbeitet. Sie erhöht somit alle drei Komponenten des Kohärenzgefühls. Nach Jung (1996) ist der Ursprung nicht herzuleiten. Für die Arbeit in systemischer Resonanz bedeutet dies, dass die Empfindungen und Körpersignale, die sich beispielsweise in Systemaufstellungen bei Repräsentanten zeigen, mit großer Wahrscheinlichkeit aus unterschiedlichen Systemquellen stammen: © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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ȤȤ individuelles und systemisches Bewusstes und Unbewusstes des Repräsentanten (A), ȤȤ Systemelemente des repräsentierten Individuums und Systems (B), ȤȤ kollektives Bewusstes und Unterbewusstes (C). Diese Quellen fügen sich gemeinsam in der Intuition zusammen und finden ihren (körperlichen) Ausdruck. Dabei könnte es sein, dass es Menschen gibt, die eher intuitiv sind als andere, wobei die Intuition eine natürliche und zum Leben gehörende Fähigkeit ist (Itten, 2008), die kultiviert werden kann. Sie ist nach Itten keineswegs paranormal, sondern biologischer Natur eines evolutionären Erbes. Die morphischen Felder sind somit als Resonanzfelder zu betrachten, die im Zusammentreffen (mehr oder weniger) kommuniziert und wahrgenommen werden, je nach individueller bzw. kollektiver Intuitionsgabe. In diesem Kontext verweist Kriz (2001, S. 217) darauf, dass es im Rahmen der modernen systemwissenschaftlichen Theoriebildung und Diskussion immer leichter wird, Prinzipien der Intuition angemessen zu erörtern. Dabei ist die Erschließung systemischer Felder immer nur über ein augenblickliches Wahrnehmungsfeld durch Beobachtung zu erkunden (Podirsky u. Würtenberger, 2011) und unterliegt starker Dynamik.
Fazit Die Themenkomplexe Intuition, systemische Resonanz, systemische Felder und Unterbewusstsein bilden an sich bereits sehr komplexe Bereiche, die, wenn sie in einen Zusammenhang gebracht werden, abermals dichter werden. Dieser Beitrag kann deshalb nur ausgewählte Aspekte der Themenkomplexe beleuchten und zur weiteren Reflexion anregen – und es bleiben mehr Fragen als Antworten zurück. Die Intuition spielt eine herausragende Rolle in der Erfassung systemischer Resonanzen und Resonanzfelder und leistet einen wesentlichen Beitrag zur Erfahrung von systemischen Feldern und Systemelementen. Sie kann stark zur Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit von Systemen beitragen und besitzt demnach einen salutogenen Charakter. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Sicherlich kann für die Zukunft ein Forschungsbedarf im Blick auf die Zusammenhänge von Intuition, systemischer Resonanz/systemischen Resonanzfeldern und der Einbeziehung des Unbewussten im Kontext der Salutogenese aufgezeigt werden. Interessante Fragestellungen sind dabei u. a.: ȤȤ Welche Systemquellen bezieht die Intuition in definierten systemischen Kontexten ein und welche werden wann, von wem, auf welche Art und Weise präferiert? ȤȤ Welche Intuitionsformen (System-1- oder System-2-Operationen) werden in welchen Resonanzfeldern wichtig? ȤȤ Wie sind Intuition und die beschriebenen systemischen Resonanzfelder miteinander verknüpft? ȤȤ Wie wirkt sich die Intuition in der systemischen Aufstellungsarbeit aus und welche Rolle kommt ihr dabei zu? ȤȤ Wie genau sind Intuition, Salutogenese und Kohärenzgefühl verknüpft? Nicht nur für zukünftige Forschungen zeichnen sich Fragen ab. Auch für die Praxis eröffnen sich neue Fragestellungen, die bisher wenig Beachtung gefunden haben: ȤȤ Wie kann die Intuition in unterschiedlichen Resonanzsystemen – in Organisationen, Beratungskontexten oder in der systemischen Aufstellungsarbeit – noch mehr genutzt werden, um systemrelevante, optimale Entscheidungen zu treffen? ȤȤ Welche (Trainings-)Verfahren und Möglichkeiten gibt es, Unbewusstes durch Intuition in systemischen Kontexten zu erschließen, zu »kultivieren«, zu professionalisieren und nutzbar zu machen? ȤȤ Welche Möglichkeiten hält die Intuition bereit, um auf Basis der Einbeziehung systemischer Resonanzen kontextspezifische und kontextübergreifende (universale) Zusammenhänge in einer größtmöglichen Komplexität zu verstehen und diesen Sinn zu verleihen? ȤȤ Wie können durch Intuition und intuitive Entscheidungsfindungen Kohärenzgefühl und Salutogenese beeinflusst werden? ȤȤ Und schließlich: Welchen Beitrag kann die Intuition für den alltäglichen Ausbau systemischen Denkens und die Einbeziehung © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Kulturspezifische Ansätze in gesundheitsorientierter Aufstellungsarbeit
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Barbara Buch
»All my relations« und Gesundheit – nordamerikanische Perspektiven
Wenn wir traditionelle Praktiken oder »schamanische« Methoden der nordamerikanischen Ureinwohner betrachten, gibt es wichtige Punkte zu berücksichtigen. Entsprechend Michael Harners (1990, S. xvii) Definition von Schamanismus als Anwendung weltweit verbreiteter alter Techniken, um Gesundheit und Heilung von Gemeinschaftsmitgliedern aufrechtzuerhalten bzw. zu erreichen, gehören nordamerikanische traditionelle Heilmethoden dazu. Allerdings ist der ursprünglich von Anthropologen geprägte und genutzte Begriff »Schamanismus« (zurückgehend auf die sibirische Sprache der Tungus) ein vielfältig angewendeter Terminus (Buch, 2006), der heute von nordamerikanischen Indianern für ihre Praktiken im Allgemeinen abgelehnt wird. Daher werden hier andere Begriffe, wie z. B. Medizinmann und Ältere/Älteste (»elder«), vorgezogen. Ein Großteil traditionellen Wissens der nordamerikanischen Ureinwohner ist im Zuge der Kolonisation systematisch vernichtet worden und damit verloren gegangen (Waldram, Herring u. Young, 2012). Traditionelle, nordamerikanische Zeremonien und Gebräuche, wie das »Potlatch« u. a., galten in den USA bis zum American Indian Religious Freedom Act von 1978 (Garrett u. Wilbur, 1999) und in Kanada bis zum Indian Act von 1951 (Waldram et al., 2012) als gesetzeswidrig. Heute treten traditionelle Methoden oft in abgewandelter Form auf, beispielsweise mit christlichen Elementen vermischt (Waldram et al., 2012). Traditionelle Praktiken wurden von Europäern oft fehlinterpretiert und waren bzw. sind Weißen verständlicherweise nicht oder nur begrenzt zugänglich (Waldram et al., 2012). Die westliche, europäische Sichtweise ist sehr verschieden von nordamerikanischen, indigenen Perspektiven, was nach wie vor zu Missverständnissen führen kann. In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass die Autorin ihre Wurzeln in Deutsch© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Kulturspezifische Ansätze in gesundheitsorientierter Aufstellungsarbeit
land hat und in diesem Beitrag nur beispielhaft Methoden aus der Literatur sowie eigene Beobachtungen aus persönlicher Sichtweise beschreibt.
Traditionelle nordamerikanische Weltsicht: grundlegende Elemente und salutogenetische Aspekte Bei den nordamerikanischen Indianern handelt es sich einerseits um viele, diverse Gruppen mit entsprechend unterschiedlichen Ansichten, kulturellen Gebräuchen und Sprachen (Garrett u. Wilbur, 1999; McCormick, 2009; Waldram et al., 2012). Andererseits gibt es aber auch gewisse Parallelen untereinander (Garrett u. Wilbur, 1999). Stark verallgemeinert beruht die Weltsicht der nordamerikanischen Ureinwohner laut Mason Boring (2012, S. 3) auf dem »Geist« (»spirit«) sowie auf dem »Wir«. Die westliche Weltsicht ist im Gegensatz dazu vom »Verstand« und Fokus auf dem »Ich« geprägt (Mason Boring, 2012, S. 149). Der Kreis bzw. das Netz in Form des Medizinrades ist die Basis der indianischen Weltansicht. Es symbolisiert Verbundenheit mit allem. Beispiele für die Kreisform sind die Erde, der Himmel oder ein Vogelnest (Garrett u. Wilbur, 1999). Auch die Schwitzhütte und das Tipi sind rund. Das Leben wiederholt sich kreisförmig (Geburt am Anfang und Tod am Ende), ebenso wie die vier Jahreszeiten. Im Medizinrad finden sich die vier Elemente und die vier Himmelsrichtungen. Das Kernelement dieser Weltsicht ist die Spiritualität, die auf vier übergreifenden kulturellen Grundelementen basiert: Harmonie, Medizin, Beziehung und Vision (Garrett u. Wilbur 1999), welche im Folgenden salutogenetisch erläutert werden. Harmonie Harmonie ist der zentrale Aspekt als Basis für Gesundheit. Sie bedeutet Gleichgewicht, Synchronizität und Ganzheit in Körper, Geist, Seele und allen Beziehungen, zu Familie, Gemeinschaft, Selbst, Natur/Umwelt und Universum (Struthers, 2003; van Gaalen, Wiebe, Langlois u. Costen, 2009; Buch, 2006; 2012). Grundlage hierfür ist eine auf der Basis von Respekt, Demut, Dankbarkeit und Akzeptanz erfolgende Kommunikation. Daher liegt Gesundsein im persönli© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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chen Verantwortungsbereich (Garrett u. Wilbur, 1999). Krankheit spiegelt Disharmonie wider (Garrett u. Wilbur, 1999; Buch, 2012). Die Missachtung natürlicher oder heiliger sozialer Gesetze sowie bösartige Zauberei können zu Disharmonie und damit zu Krankheit führen (Garrett u. Wilbur, 1999). Um gesund zu werden, muss das Ungleichgewicht korrigiert werden (Streuthers, 2003). Das Wechselspiel von fließend ineinander übergehenden Zuständen von Gleichgewicht und Ungleichgewicht gehört als ständige Herausforderung zum Leben und bedarf der permanenten eigenen Anstrengung (Buch, 2006). Dieses entspricht Antonovskys »Gesundheitskontinuum« (Antonovsky, 1985). In diesem Sinn werden indianische Älteste (»elders«) als weise und als Lehrer betrachtet, da sie im Laufe ihres Lebens viele Stressoren erfolgreich überwunden haben. Sie genießen hohes soziales Ansehen. In Ausnahmefällen werden bereits jüngere Personen zu »Ältesten« ernannt, wenn sie nach erfolgreicher Überwindung extremer Lebensherausforderungen zu besonderer Kraft und hohem Ansehen kommen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass auch nach Antonovsky (1985) die erfolgreiche Bewältigung von Stressoren, wie das Überwinden von Krankheit, zu einem gesteigerten Kohärenzsinn führt. Medizin Medizin im traditionellen indianischen Kontext umfasst alles, was heilen kann, und geht weit über das Verständnis des westlichen Medizinbegriffes hinaus. Sie beinhaltet nicht nur Kräuterheilkunde und Ähnliches, sondern alles, was erfahren werden kann und somit einen Einfluss hat. So kann z. B. eine erzählte Geschichte Medizin sein, wie auch eine Person, ein Stein, eine Pflanze, die Elemente usw. (Garrett u. Wilbur, 1999). Bewusstheit und Erkenntnis darüber, dass alles einen Sinn hat und Medizin ist, trägt zur Achtung und Respekt vor allem bei (Garrett u. Wilbur, 1999). Diese Sicht bietet Sinnhaftigkeit und Verstehbarkeit im Sinne der Salutogenese (Antonovsky, 1985). So können der Zugang zu einer Medizinperson mit ihren Fähigkeiten und ihrem Wissen sowie ein Verständnis des Vorhandenseins von Medizin in allem als allgemeine Widerstandsressourcen angesehen werden. Indianische Medizin hat auf Grundlage ihres Glaubenssystems das salutogenetische Potenzial, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Bedeutung, Sinnhaftigkeit, Verstehbarkeit und damit den Kohärenzsinn zu erhöhen (Antonovsky, 1985). Beziehung Der Ausdruck »all my relations« (»alle meine Beziehungen«) wird als Dankesgebet, als Abschluss von Gebeten und von gesprochenen bzw. geschriebenen Worten usw. häufig verwendet. Er bestätigt, dass ein Mensch im Netz aller seiner verwandtschaftlichen Beziehungen zur Schöpfung steht, was durch den Kreis bzw. das Netz des Medizinrades versinnbildlicht wird. Die Schöpfung umfasst »Mutter Erde, Vater Himmel, Großmutter Mond und unsere Brüder und Schwestern in der Pflanzen- und Tierregion«, Steine, »Geistmenschen [spirit people], unsere Ahnen und Generationen, die noch kommen werden« (McCormick, 2009, S. 3, Übers. B. B.), sowie Familie, Gemeinschaft, Gesellschaft, Nation, Kultur (McCormick, 2009). Insofern beschreibt die immer wiederkehrende Affirmation »all my relations« den zentralen Aspekt der nordamerikanischen indianischen Weltsicht. Die hierauf basierende traditionelle Sicht der Widerstandskraft (»resilience«), oder anders ausgedrückt, die Sicht von allem, was Gesundheit fördert, stammt von außerhalb des Einzelnen, nämlich von diesem »mentalen, physikalischen, emotionalen, spirituellen« und zwischenmenschlichen Beziehungsnetz (McCormick, 2009, S. 4, Übers. B. B.). Diese Feststellungen entsprechen wesentlichen Pfeilern zur Gesundheit im salutogenetischen Modell: dem Gefühl der Verbundenheit mit allem, was uns umgibt (Kohärenzsinn), in Verbindung mit allgemeinen Widerstandsressourcen wie soziales Netzwerk, Glaubenssystem und Magie (Antonovsky, 1985). Für die Wirkung der Salutogenese spielt es nach Antonovsky prinzipiell jedoch keine Rolle, ob das Glaubenssystem auf einer von außen kommenden »übersinnlichen« oder einer jeder Person innewohnenden Kraft beruht. Allerdings kann der Glaube an übernatürliche, allmächtige Kräfte eine starke Quelle von Widerstandsressourcen sowie Widerstandsressourcen selbst beinhalten (Buch, 2006; siehe den Beitrag von C.-H. Mayer zur Magie in diesem Band).
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Vision Visionen können u. a. durch Träume und direkte Kommunikation mit Geistwesen auftreten. Sie haben eine große Bedeutung und Einfluss auf das traditionelle Leben (Deloria, 2006). Die Visionssuche ist ein Beispiel dafür (siehe unten). Im salutogenetischen Sinn können Träume und Visionen die Kommunikation und Vernetztheit mit helfenden Geistern bestätigen. Folglich können sie als Widerstandsressourcen angesehen werden, die zu Bewältigungsstrategien beitragen und letztendlich zu einem erhöhten Kohärenzsinn führen (Antonovsky, 1985).
Beispiele nordamerikanischer Traditionen Teilaspekte aus Beispielen der sehr komplexen nordamerikanischen Traditionen, die bei vielen Ureinwohnern in unterschiedlichen Formen verbreitet waren und sind, werden hier in typischen Grundzügen mit ihrem salutogenetischen Potenzial beschrieben. Schwitzhütte Die Schwitzhütte ist ein etwa halbrundes enges Gewölbe, meist aus Weidenästen errichtet und traditionell bedeckt mit Tierhäuten oder Stoffen, in dem meist 10 bis 15 Personen Platz haben. Innen herrscht Dunkelheit und Hitze. Angeleitet durch den Leiter der Schwitzhütte werden heilige Gesänge gesungen, Gebete an den Schöpfer (»creator«) gesprochen, wird getrommelt und Geistwesen werden in die Zeremonie eingeladen (Lyon, 1996; Waldram et al., 2012). Im Laufe der Zeremonie wird die Hütte meist viermal geöffnet, um den Teilnehmenden eine Pause zu gönnen und mehr rot glühende Steine hereinzubringen, die im Laufe der Zeremonie mit Wasser, Kräutern und Tabak bespritzt werden (Lyon, 1996). Die Steine werden als Großväter und Großmütter (Ahnen) bezeichnet und als deren Repräsentanten in die Zeremonie eingeladen. Deloria (2006) beschreibt, dass die Steine für eine Schwitzhütte sorgfältig ausgewählt werden, indem einzelne von der Medizinperson gefragt werden, ob sie teilnehmen wollen. Nach der Zeremonie werden die Steine wieder an ihren ursprünglichen Fundort gebracht (Deloria, 2006). © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Die Schwitzhüttentradition hat vielfältige Funktionen: Gebet, Reinigung auf körperlicher und geistiger Ebene, Gesundheits- oder soziale Probleme zu thematisieren, Heilen, Gesundheit aufrechtzuerhalten sowie die Vorbereitung für andere Zeremonien (Waldram et al., 2012). Heutzutage werden Schwitzhütten erfolgreich bei Heilprogrammen für Indianer eingesetzt (Waegemakers Schiff u. Pelech, 2008). Waegemakers Schiff und Pelech beschreiben messbare Steigerungen in der Spiritualität und in dem Verbindungsgefühl (Kohärenz) der Teilnehmenden zueinander als Schwitzhütteneffekte. Diese Ergebnisse bestätigen die salutogenetische Wirkung von Spiritualität als einer der psychosozialen Widerstandsressourcen und von Kohärenzsinn. Weitere mögliche gesundheitliche Wirkungsmechanismen sind Entgiftung, veränderte Bewusstseinszustände, Placeboeffekt u. v. m. (Waldram et al., 2012; Buch, 2006). Pfeifenritual Das heilige Pfeifenritual und der Gebrauch von Tabak sind gemeinsam mit der Schwitzhütte, bei der es oft stattfindet, eines der verbreitetsten Rituale in Nordamerika (Lyon, 1996). Der Pfeifenträger sammelt und mischt normalerweise seine eigene Tabak-Kräuter-Mischung an, bei der traditionelle Kräuter verwendet werden. Die zeremonielle Nutzung der heiligen und symbolträchtigen Pfeife umfasst aufwendige Rituale. Sowohl Pfeife als auch Teilnehmer werden vor Ritualbeginn zur spirituellen Reinigung mit bestimmten Kräutern beräuchert (»Smudging«). Das Rauchen der Pfeife symbolisiert die Kommunikation mit den Geistwesen und gilt als Gebet zum Schöpfer. Dieses Ritual repräsentiert die direkte Verbindung zwischen den sterblichen Menschen und den Geistwesen sowie dem Schöpfer (Lyon, 1996). Nach dem Rauchen (ohne Inhalation) wird als Erinnerung, dass alles miteinander verbunden ist, in der Regel »All my relations!« gesagt (Lyon, 1996). Deloria (2006) beschreibt ein Beispiel, wo die Form der Rauchwolken der Pfeife interpretiert wird. Hier gilt eine einheitliche Rauchwolke als vereinigendes Symbol, während kleine Wölkchen das Gegenteil bedeuten. Diese »Magie«, die Rituale sowie die mögliche medizinische Wirkung der Kräuter gelten als Widerstandsressourcen im salutogenetischen Sinn (Antonovsky, 1985) (vgl. den Beitrag zur Magie von C.-H. Mayer in diesem Band). © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Visionssuche Bei der Visionssuche geht eine Person an einen abgelegenen Ort, wo sie fastet und betet. Dies geschieht meist nach entsprechenden Träumen oder anderen Erlebnissen, die zur Visionssuche aufrufen. Es handelt sich um ein Ritual, sich für die Kommunikation mit Geistwesen zu öffnen, das einige Tage oder so lange dauert, bis Kontakt hergestellt wurde (Deloria, 2006). Die erste Visionssuche erfolgt meist zur Pubertät (Lyon, 1996) und ist als Übergangsritual ein wichtiges Ereignis. Visionssuchen werden im Laufe des Lebens immer wieder durchgeführt, um die Lebensaufgabe und eigene Medizin zu finden (Garrett u. Wilbur, 1999). Das Wissen um die Lebensaufgabe (Glaubenssystem) macht das eigene Leben erklär- und verstehbar, bedeutet Sinnhaftigkeit. Es trägt somit zu einem gesteigerten Kohärenzsinn bei (Antonovsky, 1985). »Shaking Tent« oder »Spirit Lodge« Das »Shaking Tent« war eine in Kanada weitverbreitete Methode (Waldram et al., 2012; Deloria, 2006). In einer oft konischen Hütte aus Ästen, mit Tierfellen bedeckt, sitzt der Medizinmann und beginnt zu singen, um Geistwesen einzuladen. Wenn die Kommunikation mit Geistwesen beginnt, fängt das Zelt oder die Hütte mit wachsender Intensität zu wackeln an, wobei fremde Stimmen und Sprachen vernommen werden können. Der Medizinmann stellt dann Fragen zu Wetter, Wild und Jagd, Krankheiten, Diagnosen, verlorenen Objekten und anderen Themen. Hauptfunktion der »Shaking Tents« war in erster Linie, durch Kommunikation mit Geistwesen Informationen zu erhalten (Waldram et al., 2012; Deloria, 2006). Diese Erfahrung bestätigt das Glaubenssystem, dass eine Kommunikation mit existierenden Geistwesen möglich ist. Dieser Glaube, der Medizinmann, die »Magie« und die erhaltenen Informationen zur Heilung können salutogenetisch zu psychosozialen Widerstandsressourcen gezählt werden (Antonovsky, 1985). Indianische Geschichten (»Storytelling«) Die Traditionen nordamerikanischer Indianer basieren auf mündlicher Überlieferung. Das Geschichtenerzählen ist bzw. war die traditionelle Methode, um Informationen weiterzugeben (Struthers, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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2003). In vielen nordamerikanischen Ursprungsgeschichten, Volksmärchen, Legenden und Mythen (siehe z. B. Bruchac u. Bruchac, 2008) geht es immer wieder um wechselseitige Beziehungen und Abhängigkeiten sowie die symbolische Verwandtschaft der Menschen mit den Tieren und den Elementen. Durch jede Geschichte wird die Eingebundenheit (Kohärenzsinn) des Menschen und seine Sinnhaftigkeit neu verdeutlicht. Gleichzeitig dienen die Informationen in den Geschichten als psychosoziale Widerstandsressourcen (Antonovsky, 1985). Das »Potlatch« Das »Potlatch« war seit jeher eine bedeutende Zeremonie der Indianer der Nordwestküste Kanadas. Neben anderen Bedeutungen geht es hier um das Umverteilen von materiellen Gütern der »Potlatch«Familie auf andere Stammesmitglieder (Waldram et al., 2012). Nach Entledigung aller Habseligkeiten wird die »Potlatch«-Familie von den anderen Stammesmitgliedern als Gast aufgenommen. Das Weggeben von materiellen Gütern verschafft die höchste Form des sozialen Ansehens einer Person oder Familie (Waldram et al., 2012). Durch dieses Ritual werden gemeinschaftsschwächende Einflüsse, wie Neid und Missgunst, vermieden. Salutogenetisch stellt diese Stärkung der Gemeinschaft eine psychosoziale Widerstandsressource dar. Die Umverteilung von materiellen Gütern bringt den Empfängern neue materielle Widerstandsressourcen, während die Geber im Gegenzug die Widerstandsressourcen »höheres soziales Ansehen und soziale Unterstützung« erhalten. Diese Elemente des »Potlatch«-Rituals können einen starken Einfluss auf den Kohärenzsinn haben (Antonovsky, 1985). Die Sonnentanz-Feier (»Sundance Celebration«) Dieser Tanz war und ist eine alljährlich stattfindende, mehrtägige, bedeutende soziale Zeremonie der Indianer der Nordwestküste, um Sonne und Geistwesen zu ehren (Waldram et al., 2012), sowie ein Heilungsritual (van Kampenhout, 2008). Die Tänzer tanzen in der Regel vier Tage lang. Einige von ihnen befestigen Lederbänder an ihrer Brusthaut, um sich damit unter Schmerzen mit dem Sonnentanzpfahl zu verbinden. Sie opfern ihr Leiden dem Schöpfer © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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(Waldram et al., 2012) und wollen das Leiden anderer anwesender Menschen teilen und dadurch lindern (van Kampenhout, 2008; mündliche Aussagen von Teilnehmern). Der Sonnentanz ist ein wichtiges soziales Ereignis, bei dem auch Vertreter anderer Indianerstämme teilnehmen. Veränderte Bewusstseinszustände treten auf und können zu Visionen führen (wie oben beschrieben). Salutogenetisch können Aspekte dieser Zeremonie als eine Strategie beschrieben werden, um den Kohärenzsinn und damit die eigene Kraft und Gesundheit zu verstärken. Hierbei begeben sich die Tänzer bewusst in eine körperlich und geistig sehr stressvolle, angespannte Situation (Schmerz, Ausdauer usw.), die sie mit Unterstützung der anwesenden Gemeinschaft erfolgreich meistern, um daraus gestärkt hervorzugehen. Das »Zurschaustellen« dieser Erfahrung demonstriert auch den Zuschauenden eindrucksvoll die Möglichkeit, über starkes Leid zu mehr Kraft und Gesundheit zu kommen. Das diesem Ritual zugrunde liegende Glaubenssystem, ebenso wie das Gemeinschaftsgefühl und die soziale Unterstützung, werden als Widerstandsressourcen gestärkt und können den Kohärenzsinn steigern (Antonovsky, 1985). Die Steinzeremonie Steine spielen traditionell eine ganz besondere Rolle bei den nordamerikanischen Ureinwohnern. Sie gelten als beseelt, heilig und können besondere Kräfte haben (Deloria, 2006). Die Steinzeremonie (Stone Ceremony) wird laut Mason Boring (2012) bei den Santee Dakota Sioux praktiziert. Natürlich platzierte Steine eines bestimmten Ortes dienen als Stellvertreter der involvierten Personen und Elemente für eine angesprochene Situation. Die natürliche Umgebung der Steine liefert alle Informationen, die für die Situation von Bedeutung sind. Im Vorfeld kommt eine Rat suchende Person zu dem entsprechenden Ältesten, woraufhin zusammengesessen oder ein Gespräch geführt wird. Daraufhin gehen beide auf Initiative des Ältesten zu dem Steinort. Der Älteste wählt intuitiv die genaue Stelle und die einzelnen Stellvertretersteine aus (Mason Boring, 2012). Salutogenetisch bietet diese Methode verschiedene allgemeine Widerstandsressourcen: der Älteste als Lehrer und Helfer bei Problemen, das Glaubenssystem des genutzten »wissenden Feldes« (vgl. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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unten »Beziehungen zur Aufstellungsarbeit«) in der Natur, die Verstehbarkeit, die Sinnhaftigkeit und auch die daraus resultierende Bewältigbarkeit (Antonovsky, 1985). Mithilfe des Ältesten wird der Ratsuchende zum außenstehenden Beobachter und kann neue Lösungsansätze erkennen.
Gemeinsame Aspekte Den beschriebenen Gebräuchen und Traditionen ist gemeinsam, dass das Hauptaugenmerk auf den Beziehungen liegt: Beziehungen zu Geistwesen – wie Ahnen, Tiergeistern u. a. – sowie auch zu anderen Stammesmitgliedern und anderen Stämmen. Deren Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung durch Kommunikation mit Geistwesen (Waldram et al., 2012) bewirkt als Hauptfunktion eine Bestätigung »der eigenen Verbindung mit dem, was heilig ist« (Garrett u. Wilbur, 1999, S. 8, Übers. B. B.). In diesem Sinne bestätigt eine Studie von McCormick, dass die Hauptquelle zur Heilung nordamerikanischer Ureinwohner die »Wiederverbindung zur Familie, Gemeinschaft, Kultur, Natur und Spiritualität« ist (McCormick, 1995, zitiert in McCormick, 2000, S. 28, Übers. B. B.). Traditionelle Medizin mit ihren Gebräuchen und Praktiken stellt nicht nur Wissen dar, sondern erfüllt auch bedeutende soziale, religiöse und medizinische Funktionen (Waldram et al., 2012), die alle ebenso wichtige Widerstandsressourcen sein können (Antonovsky, 1985).
Beziehungen zur Aufstellungsarbeit Aufstellungsarbeit Die Grundzüge der Aufstellungsarbeit in ihren verschiedenen Formen sind prinzipiell gleich, auch wenn die Anwendenden und Anwendungsbereiche vielfältig sind. Diese reichen von Familien (Hellinger u. ten Hövel, 2007) über Natur (z. B. Mason Boring, 2012) bis hin zu abstrakten Begriffen und systemischen Strukturen (z. B. Sparrer, 2009; Daimler, 2013). Bei einer Aufstellung wird der Ist-Zustand des Themas einer Person erlebt. Dies erfolgt durch räumliche Darstellung oder Abbildung der Beziehungen einer Einheit (Person, Gemeinschaft etc.) zu © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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anderen Einheiten (von Familienmitgliedern über Arbeitskollegen bis hin zum Firmenlogo etc.) mithilfe von Stellvertretern (Daimler, 2013). Das abgebildete System kann dann im Sinne der Person unter Anleitung verändert werden (Sparrer, 2009). Beim Familienstellen werden Familienmitglieder (inklusive Ahnen) mithilfe von Stellvertretern in Bezug zueinander positioniert. Durch entsprechende Interventionen innerhalb dieser Aufstellung – z. B. räumliche Re-Positionierung von Stellvertretern, Anerkennung oder Abgrenzung (z. B. verbal) einzelner Elemente – werden andere Sichtweisen und Emotionen erfahrbar gemacht. Diese haben das Potenzial, im System mit der entsprechenden Person zu wirken und Veränderungen zu ermöglichen, indem Ungleichgewichte und Disharmonien mit Krankheitsfolgen innerhalb von Beziehungen ausgeglichen und harmonisiert werden (Daimler, 2013). Die disharmonisierenden Prozesse werden unterbrochen bzw. aufgelöst. Ein Beispiel sind traumatische Familienereignisse, die sich unverarbeitet im Laufe von Generationen auswirken bzw. wiederholen können. Die Aufstellungsarbeit besteht typischerweise aus nur einer, in sich abgeschlossenen Aufstellungssitzung, die nicht nachbearbeitet wird. Hierdurch werden interne Prozesse in Gang gesetzt, ohne dass bewusstes Auseinandersetzen im Anschluss nötig oder gewünscht ist (Cohen, 2006). Wie und warum Aufstellungsarbeit funktioniert, ist unklar. Das »wissende Feld« (»knowing field«) ist ein Erklärungsansatz (Payne, 2005; Mason Boring, 2012). Vergleich mit nordamerikanischen indianischen Traditionen Aufstellungsarbeit entspricht wichtigen Teilaspekten der komplexen, traditionellen nordamerikanischen Traditionen. Beide können sich gegenseitig ergänzen. Dies wird bereits von Mason Boring (2012) und van Kampenhout (2008) beschrieben und praktiziert. Mason Boring wendet systemische Aufstellungen in Verbindung mit traditionellen nordamerikanischen Zeremonien an (Mason Boring, 2012). Aufstellungsarbeit basiert auf dem Darstellen von Beziehungen. Ebenso ist das Hauptelement indianischer Traditionen die Beziehung des einzelnen Menschen zu allem, was ihn umgibt. Der häufige Ausspruch »all my relations« und die Zeremonien (wie Schwitzhütte, Pfeifenritual, Sonnentanzfeier, Steinzeremonie) bringen dies zum © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Ausdruck. Indianische Mythen (»Storytelling«) bieten in diesem Sinne ein weiteres Element für das Glaubenssystem der Vernetztheit. Das sogenannte »wissende Feld« von Sheldrake, auch als das »morphogenetische Feld« bezeichnet (Sheldrake, 1999; Payne, 2005; Mason Boring, 2012; siehe den Beitrag zur Intuition von C.-H. Mayer in diesem Band), spielt hierbei eine Rolle. Die Stellvertreter werden zu einem »Gefäß«, welches Informationen der jeweiligen betrachteten Einheit durch das »wissende Feld« aufnimmt und darstellbar, fühlbar und erfahrbar macht. In der indianischen Weltsicht existiert die Geistwelt parallel zur physischen Welt. Dazu gehören auch die Ahnen, die, insbesondere bei Familienaufstellungen nach Hellinger und ten Hövel (2007), eine besondere Rolle übernehmen. Die in der Schwitzhütte genutzten Steine werden als »Großväter und Großmütter« bezeichnet und als deren Stellvertreter in die Zeremonie eingeladen. Die Steinzeremonie, bei der Steine in Verbindung mit der umgebenden Landschaft und Natur zu Stellvertretern der entsprechenden Situation werden (Mason Boring, 2012), stellt eine direkte Parallele zur Aufstellung dar. Das oben beschriebene »Shaking Tent« mit dem Medizinmann ist ein Stellvertreter für Geistwesen und deren Informationen. Ähnlich der Bedeutung des Aufstellungsleiters hängt hier die Interpretation der gefundenen Konstellation vom durchführenden Ältesten ab (Mason Boring, 2012). Zuschauer sowie Teilnehmer o. g. Zeremonien, die durch Beobachtung die Wirkweise des »wissenden Feldes« bei der Arbeit erfahren können und die Veränderungen sehen, mögen hierdurch in ihrem Glaubenssystem beeinflusst werden (vgl. »Sonnentanz-Feier«). Die Änderung bzw. Bestätigung des Glaubenssystems durch Erfahrung und Beobachtung ist essenziell für eine mögliche Steigerung von Kohärenzsinn und Gesundheit im Salutogenesemodell (Antonovsky, 1985). Genauso können bisherige Anschauungen und Glaubenssysteme durch die Aufstellungsarbeit revidiert und möglicherweise sogar umgekehrt werden (z. B. Payne, 2005). Ein typisches Beispiel einer negativen Anschauung der modernen westlichen Kultur ist z. B. das Gefühl, allein und isoliert dazustehen (geringer Kohärenzsinn) (Mason Boring, 2012). Aufstellungsarbeit ermöglicht durch direkte © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Erfahrung die Umkehrung dieser negativen in positive Glaubenssätze (Payne, 2005). Sie kann die Erkenntnis vermitteln, dass wir als Einzelpersonen Teil einer großen Familie bzw. einer größeren Struktur sind, die in Wechselbeziehungen stehen (van Kampenhout, 2008; Mason Boring, 2012). Trotz fehlender Erklärbarkeit der Wirkweise und teils kontroverser Anschauungen repräsentiert Aufstellungsarbeit eine auf Erfahrung beruhende, immer mehr Verbreitung findende westliche Methode (vgl. Payne, 2005; van Kampenhout, 2008; Mason Boring, 2012; Daimler, 2013). Das, was Indianer schon seit Generationen anwenden, findet sich hier wieder. Der Aspekt der »Magie« des »indigenen«, »wissenden« (Payne, 2005; Mason Boring, 2012) oder »morphogenetischen« Feldes (Sheldrake 1999) kann als salutogenetische Widerstandsressource gesehen werden (vgl. auch den Beitrag zur Magie von C.-H. Mayer in diesem Band). Die Einbeziehung des »wissenden« oder hier »indigenen Feldes« (Mason Boring, 2012) ist auch bei den beschriebenen indianischen Traditionen zu finden: den Formationen der Tabakrauchwolken der Pfeifenzeremonie, der Wirkungsweise der Steinzeremonie, des »Shaking Tent« und der Schwitzhütte. Abhängig vom Aufstellungsleiter bzw. der Methodik gibt es selbstauferlegte Limitationen, wie z. B. die Behauptung, die Arbeit müsse im geschlossenen Raum durchgeführt werden, was wohl nicht der Fall bei indianischen Techniken ist. Van Kampenhout und Mason Boring integrieren die Natur als wichtiges Element in ihre Aufstellungsarbeit (Mason Boring, 2012): »[…] where the link between the personal in the here and now and the oldest forces of nature is made clear, have a deeply nourishing and balancing effect on clients, and bring a feeling of completeness« (van Kampenhout, zitiert in Mason Boring, 2012, S. 77). Dieses erfahrene Gefühl des Gleichgewichts, der Balance im Zusammenhang mit der Natur, kann meines Erachtens einen nachhaltigen Einfluss auf das Glaubenssystem haben sowie den Kohärenzsinn positiv beeinflussen. Das (An-)Erkennen unseres Platzes im Familiennetzwerk und als weiteren Schritt das (An-)Erkennen unseres Platzes in der Natur, auf der Erde, die ebenfalls Leben spendet (Mason Boring, 2012), kann zum »ultimativen« Kohärenzgefühl © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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beitragen. Die »Visionssuche« bestätigt in diesem Sinne den Glauben, das jeder seinen Platz, seine Aufgabe in der Familie und auf »Mutter Erde« hat. Obwohl die Aufstellungsarbeit eine neue, westliche Entwicklung ist, geht sie bei Hellinger, zumindest teilweise, direkt auf alte, traditionelle »schamanische« Wurzeln zurück. Hellinger lebte als Priester 16 Jahre bei den afrikanischen Zulus, von denen er traditionelle Techniken in Bezug auf Ahnenverehrung u. a. lernte, bevor er das Familienstellen unter Einbeziehung von Familientherapie und Phänomenologie entwickelte (Cohen, 2006). Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich Elemente der Aufstellung auch bei den nordamerikanischen Heiltraditionen wiederfinden. Beide (nordamerikanische und afrikanische Heiltraditionen) können dem »Schamanismus« zugeordnet werden, der sich durch weltweit parallel auftretende Techniken zur Heilung auszeichnet (Buch, 2006). Auch die moderne westliche Kultur stammt letztendlich ursprünglich von »eingeborenen Völkern« mit traditionellen Wurzeln ab, die schamanische Elemente enthielten (Buch, 2006; Mason Boring, 2012). »Western paradigms that have restricted our trust of intuitive knowing and other forms of informations« (Mason Boring 2012, S. 66) scheinen die Verbindung unterbrochen zu haben. Der westliche »Eroberungsgedanke« steht der laut Claudia Haarmann (zitiert in Mason Boring, 2012, S. 77) unerlässlichen Akzeptanz und dem Respekt vor der Schöpfung und »Mutter Erde« als Versorgerin konträr gegenüber. Diese fehlende Wahrnehmung und Achtung der Verbindungen zur Schöpfung und damit zu Geistwesen kann aus traditioneller nordamerikanischer Sicht zu einem »Geistverlust« (»loss of spirit«) mit Krankheitsfolge führen (McCormick, 2000, S. 28). Die Effekte dieses »verlorenen Geistes« können u. a. bei der euro-amerikanischen Kultur festgestellt werden (Hammerschlag, 1993, zitiert in McCormick, 2000). Demgegenüber steht die Notwendigkeit eines Gefühls der Verbundenheit, des Kohärenzsinns, wie Antonovsky erkannte. Aufstellungsarbeit kann augenscheinlich die Verbundenheit bzw. Vernetztheit unserer Existenz mit allem, was uns umgibt, erfahrbar machen. Sie kann ein diesbezügliches Glaubenssystem nicht nur stärken, sondern möglicherweise auch neu kreieren. Insofern kann © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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sie manchen von uns vielleicht ein Stück weit zu diesem verlorenen Aspekt (Kohärenzsinn) zurückverhelfen. Das »wissende Feld« enthält die nötigen Informationen, die fließen, wenn der Fokus auf bestimmte Fragestellungen gerichtet wird – wie z. B. bei einem Aufstellungsritual oder in einer indianischen Zeremonie durch Gebet und/oder die volle Aufmerksamkeit innerhalb einer Gruppe. Die unterstützende Gruppenerfahrung als Widerstandsressource hat innerhalb der Aufstellung zudem das Potenzial – entsprechend der Schwitzhütte (Waegemakers Schiff u. Pelech, 2008) –, das Gefühl der Verbundenheit zu steigern und somit dem Gefühl der Isolierung, welches in der westlichen Welt verbreitet ist (Mason Boring, 2012), entgegenzuwirken. In diesem Sinne äußerten sich Indianer, die an Mason Borings Aufstellungszeremonien teilnahmen: »Constellations are a tool to reveal what is obvious« (Mason Boring, 2012, S. 85). Diese Offensichtlichkeit allerdings fehlt uns westlichen Menschen, die wir dieses Werkzeug daher gut gebrauchen können.
Schlussfolgerungen Salutogenese ist ein ganzheitliches Modell der letzten ca. fünfzig Jahre zur Entstehung von Gesundheit. Es beschreibt die Faktoren – mit dem Kohärenzsinn im Mittelpunkt –, die in alten Traditionen, wie z. B. der nordamerikanischen Indianer, schon immer angewendet und gefördert wurden. Antonovsky hat in gewissem Sinne »wiederentdeckt« und modellhaft beschrieben, was in der Vergangenheit über Jahrtausende im Schamanismus praktiziert wurde und in neuerer Zeit in Vergessenheit geraten war (Buch, 2006, 2012). Die Verbunden- und Vernetztheit mit allem ist Teil des Glaubenssystems nordamerikanischer Indianer, im Unterschied zur westlichen Kultur, bei der das Individuum im Mittelpunkt steht. Traditionelle Methoden sowie Aufstellungserfahrungen haben das Potenzial, den Kohärenzsinn positiv zu beeinflussen. Wie die Salutogenese ist die Aufstellungsarbeit eine neue westliche Entwicklung der letzten fünfzig Jahre. Aufstellungsarbeit wendet praktisch an, was schon in alten Kulturen, wie bei den nordamerikanischen Ureinwohnern, zu den traditionellen Praktiken gehört. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Diese Feststellung wird durch Hellingers Werdegang bestätigt, der mit traditionellen afrikanischen Methoden konfrontiert wurde, die ihn in seiner Entwicklung der Aufstellungsarbeit nachhaltig prägten (Cohen, 2006). Aufstellungsarbeit hat das Potenzial, als salutogenetisches Handwerkszeug effektiv eingesetzt zu werden. Das Gleiche wurde für schamanische Methoden bereits beschrieben (Buch, 2012). Die Verbindung von Aufstellungsarbeit und traditionellen Methoden (Mason Boring, 2012; van Kampenhout, 2008) kann die Effektivität beider Methoden erhöhen. Bewährte, kraftvolle traditionelle nordamerikanische Elemente, wie Gebet, heilige Gesänge, Trommeln oder »Smudging«, könnten dazu beitragen, westliche Aufstellungsanwendungen in Intensität und Effektivität zu verbessern (vgl. van Kampenhout, 2008). Aufstellungsarbeit bietet aber auch eine integrierbare, westliche Technik, die verlorene Elemente indianischer Kultur in gewissem Grad ersetzen mag und damit zusätzliche Möglichkeiten zur Heilung bieten kann, wie z. B. zur gemeinschaftlichen Traumabewältigung der nordamerikanischen Ureinwohner (siehe Mason Boring, 2012).
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Tanja Meyburgh
Familienaufstellungen und indigene Medizin im südlichen Afrika Quellen der Heilung
In den indigenen Kulturen des südlichen Afrika wird jedwede gesundheitliche Störung, sei sie mental, körperlich, emotional oder spirituell, als Ausdruck eines aus der Balance geratenen Verhältnisses zwischen den Lebenden und den Ahnen, als Disharmonie zwischen Familie und Vorfahren begriffen (siehe auch den Beitrag von B. Buch in diesem Band). Dies wird in dem weiter unten folgenden Interview thematisiert. Ein im südlichen Afrika benutzter Begriff lautet »calling sickness«. Er bringt zum Ausdruck, dass eine lebensbedrohliche Krankheit nur geheilt werden kann, wenn man selbst ein Sangoma wird. Sangomas sind im südlichen Afrika die Weissager, die Heiler und im Allgemeinen diejenigen, die mit den Ahnen im Kontakt stehen. Wer zum Sangoma geworden ist, der wird und bleibt gesund durch aufwendige Rituale, die der Wiederherstellung einer guten Familienordnung dienen, sowie durch die Pflege regelmäßiger Beziehungen zu den Ahnen. Ich habe dieses »calling sickness« am eigenen Leib erlebt und entsprechend wurde mir geraten, eine Heilerin, ein Sangoma, zu werden. Der dafür im südlichen Afrika gebräuchliche Begriff lautet »tswasa«. Diesem Ratschlag bin ich damals nicht gefolgt. Ich wandte mich stattdessen dem Familienstellen zu, welches ich seit nunmehr zwölf Jahren praktiziere und lebe. Seit 2011 befasse ich mich erneut mit den traditionellen indigenen Heilpraktiken im südlichen Afrika, insbesondere denjenigen der Tswana-Kultur. Dabei leitet mich die Hoffnung, besser zu verstehen, was in Aufstellungen eigentlich passiert und was Heilung und Besserung bewirkt. Die Heilkulturen des südlichen Afrika können in der Tat einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis dieser Frage leisten. Darum geht es in diesem Beitrag. Gesundheit und Widerstands© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
T. Meyburgh: Familienaufstellungen und indigene Medizin113
kraft sind die Schlüsselkonzepte, die die tägliche Lebenspraxis im südlichen Afrika bestimmen und die nicht nur bei Krankheit und schwieriger persönlicher Lebenslage in Anwendung kommen. Auf allen Ebenen der Familie und der Lebenspraxis gibt es eine Vielzahl einzuhaltender Regeln, die dem Einzelnen als Teil der Familie und des Clans Kraft und Ressourcen zur Verfügung stellen. Von vorrangiger Bedeutung für die Gesundheit und Widerstandsfähigkeit des Einzelnen ist der Zugang zu bzw. die Verfügbarkeit von »Umoya« oder Lebenskraft. Dieser Begriff aus dem Setswana bedeutet so viel wie Lebenskraft, eine Kraft, die von der Schöpfung her kommt und durch Eltern, Großeltern und Vorfahren, den Ahnen also, auf uns kommt. Durch sie hat man Teil an dem Atem, der aus der Schöpfung kommt, der jede Generation durchläuft und uns mit den Ahnen verbindet. Einhaltung und Vermeidung, also die Observanz bestimmter Regeln versichern jedem seinen Platz und die Zugehörigkeit zur Familie und zum Clan. Sie sind sehr wichtig für den täglichen Lebensvollzug. Sie bieten Orientierung und Ordnung, sodass man sich in guter Ausrichtung auf und in Übereinstimmung mit den Ahnen befindet. Eine versöhnende Bewegung in den weiteren Kreisen der Großfamilie ist ebenso wichtig. Der hierfür verwendete Begriff lautet »living life towards ›beauty‹« – ein Leben in Schönheit leben, also etwa in Harmonie mit der Natur und ihren Gesetzen (Campbell u. Meyburgh, 2014). John Seed (Seed et al., 1988) beschreibt die Kompetenz bei Naturvölkern und ihren Schamanen, die nicht nur ein Verständnis für das Einssein, sondern geradezu die Erfahrung des Einsseins mit der Natur und der wechselseitigen Abhängigkeit von ihr ermöglicht. Francesca Mason Boring erwägt, ob etwa die Erfahrung dieser Wechselseitigkeit dazu führt, dass man ein neues Wertesystem, ein gänzlich neues Verständnis entwickelt (Mason Boring, 2013). Die weiteren Überlegungen dieses Aufsatzes vorwegnehmend, kann man hier aus afrikanischer Perspektive einfügen, dass sich Disharmonie und Krankheit zwangsläufig aus der westlichen Modernität und einer ausschließlich an der Einzelperson ausgerichteten Gesellschaft ergeben. Das Abgetrenntsein von unseren Familien, die Trennung von der Natur und unserem spirituellen Selbst machen uns schwach und verletzlich. Familienaufstellungen sind also eine Möglichkeit für © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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den Menschen des Westens, sich dieser unterbrochenen Beziehungen und Bewegungen erneut zu vergewissern, sie sich gewissermaßen zurückzuholen und sie zu heilen: die Achtung der Ahnen, die Würde, das Eingebundensein und die Versöhnung. All das kommt in dem folgenden Interview mit Niall Campbell zur Sprache: Gesundheit und Widerstandskraft, die Bedeutung der Ahnen und die sich daraus ergebenden sozialen Dynamiken, das Verständnis von Hexen als sozialem Phänomen im Zusammenhang traditioneller Heilsysteme im südlichen Afrika und die von Bert Hellinger und seinen Zeitgenossen begründete Methode der Familienaufstellungen.1 Niall Campbell ist ein anerkannter und respektierter Heiler und Ältester, der – von frühester Jugend an bei Medizinmännern ausgebildet – in die Heiltraditionen und Ahnenreihen der Tswana initiiert ist.
Interview mit einem afrikanischen Heiler und Ältesten TM: Was erachtet man in südafrikanischen indigenen Kulturen für die Erhaltung der Gesundheit, also auch für die Heilung von Krankheit, als unabdingbar? Wie bleibt man gesund? Und wenn man krank ist, wie wird man gesund? NC: Für das weitgehend von westlicher Erfahrung geprägte südliche Afrika ist zu konstatieren, dass die Lebenden kaum eine Verbindung mit den Toten haben. Indigene Völker des südlichen Afrika hingegen glauben und verstehen, dass die Toten weiterhin voll am Leben teilnehmen. Sie behalten ihren rechtmäßigen Platz im Familiensystem, bis sie in Vergessenheit geraten. Das ist normalerweise nach drei Generationen der Fall, also in nicht literaten Gesellschaften, in denen wir nichts aufschreiben, es also in der Regel keine schriftliche Fixierung von Geschichte gibt. Trotzdem sind es zwischen fünf und sieben Generationen, die im Familiensystem noch wirksam 1 Der fortlaufende Gebrauch der Begriffe »Hexe/Hexerei« ist übersetzt aus dem Englischen »witch/witchcraft«. Letztere haben im Englischen nicht jenen stark pejorativen Gebrauch wie im Deutschen, sondern beschreiben Personen und Tätigkeiten mit unerklärlichen, magischen und übersinnlichen Qualitäten. »Zauber«, »Zauberer/Zauberin« und »Zauberei« sind weitere Begriffe aus diesem semantischen Feld.
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sind, die also auch an den Ritualen teilnehmen und da sind, wenn die Ahnen angerufen werden. Gesundheit wird eben nicht ausschließlich als körperlich, sondern auch als sozial, emotional und mental verstanden. Eine Person ist nur dann wirklich gesund, wenn sich diese Aspekte alle in mehr oder weniger guter Ordnung befinden. Gute Familienstrukturen bewahren eine Ordnung, und oft geht es darum, in Unordnung geratene Strukturen in Familien neu zu richten und zu gliedern. Damit ist dann für stabile gesundheitliche Zustände gesorgt. Manche südafrikanischen Völker vertreten die Meinung, dass Kinder unter zwölf Jahren nicht krank werden können. Wenn sie krank sind, dann ist das eine Spiegelung dessen, was bei ihren Eltern in Unordnung geraten ist; auch reflektieren kranke Kinder etwaige Verstrickungen zwischen den Eltern und den Großeltern. Es handelt sich also um ein völlig anderes Konzept von Gesundheit. Wenn die Kinder krank sind, arbeitet man oft mit den Eltern und Großeltern, um die gute Familienordnung wiederherzustellen. Kinder und ihre Krankheiten werden dabei lediglich als ein Ausdruck ebensolcher Unordnung verstanden. Ihr Leiden wird eben nicht als individuelles Problem betrachtet. Gesundheit und Nichtgesundheit werden dahingegen kollektiv, als systemischer Ausdruck für in Unordnung geratene Familienverhältnisse verstanden. Weiterhin ist wichtig zu wissen, dass es sich nicht ausschließlich um eine genealogische Reihenfolge von Eltern, Kindern und Enkelkindern handelt; es wird auch gewissermaßen seitwärts gedacht, insofern auch Onkel und Cousins als dazugehörig begriffen werden. Sieht man also z. B. fünf Generationen in der Gesamtschau, dann hat sich eine ganze Anzahl von Menschen versammelt, die alle einen festen Platz im jeweiligen System haben. Krankheiten als Ausdruck in Unordnung geratener Verhältnisse in einem solchen System können deswegen auch anderswo als nur in der Elternlinie auftreten. Eine Störung, die an sich bei einem Onkel zu verorten wäre, kann auch bei einem anderen Kind des Systems auftreten. Die zugrunde liegende Struktur dieser traditionellen Familiensysteme beruht also auf der Annahme, dass jede dazugehörige Person einen ihr zukommenden, angemessenen Platz einnimmt, damit der Schöpfungsfluss sich seinen Weg durch die Generationen bahnen © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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kann. Je mehr Schöpfungsatem in einer Familie fließen kann, umso gesünder werden eine Familie und ihre einzelnen Mitglieder sein. Im Grunde kann man also sagen, dass die Schöpfung am Anfang steht. Der Atem eben jener Schöpfung bewegt sich von Generation zu Generation. Diese Bewegung kann jedoch immer und überall unterbrochen werden. Um gesund zu bleiben, muss eine Struktur aufrechterhalten werden, die das freie Fließen dieses Atems von einer Generation zur nächsten gewährt. TM: Was ist also genau passiert, wenn die Menschen krank sind? NC: Wenn bei uns die Menschen krank sind, dann drücken wir das so aus – »sickness is with witches or the ancestors« – die Krankheit ist von den Hexen oder den Ahnen gebracht worden.2 Die Krankheit ist also von Menschen verursacht, die böse Absichten haben, oder sie entsteht aus einer Schieflage bei den Ahnen. Wenn man die Krankheit nur in diesen Faktoren lokalisiert, arbeitet man meistens ausschließlich im Familiensystem, in der Familienstruktur, um der Krankheit Herr zu werden. Der Einzelne ist meist nur der Auslöser für eine Störung im System; die Krankheit ist also nicht einer Person inhärent, sie ist eine Spiegelung von etwas anderem, ein Symptom für etwas anderes. TM: Kann man also selber Entscheidungen treffen, Entscheidungen also, die einen krank machen? NC: Ja, das kann man. Es sind die Entscheidungen, die den Fluss im Familiensystem unterbrechen, die zu Krankheit und Leiden führen. Manche Krankheiten werden als natürlich begriffen, wie z. B. Kinderkrankheiten: Masern oder Windpocken und dergleichen. Die kommen mit dem Wind und jedes Kind muss da durch. Auch Grippe ist eine solche Krankheit, die als jahreszeitliche Erscheinung verstanden wird und die man wie eine normale Erkältung einfach übersteht. Handelt es sich dabei aber um eine Störung im Familiensystem, dann ist insgesamt die Widerstandsfähigkeit sehr viel niedriger und 2 Bei der Übersetzung von englischen Phrasen aus Südafrika ist immer zu beachten, dass diese bereits aus dem Idiom der einheimischen Sprachen stammen und manche grammatische Ungenauigkeit, die der Verstärkung des Ausdrucks dient, nicht ohne Weiteres in korrektes Deutsch zu übertragen ist.
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dann kann eine Grippe auch tödlich enden. Diese wurde dann von den Ahnen oder Hexen verursacht. Wer sich hingegen in Übereinstimmung mit den Ahnen befindet, dem können die Hexen nichts anhaben. Im Gegenteil, die Ahnen schützen sogar vor den Hexen. Ist die Widerstandskraft des Körpers allerdings geschwächt, haben sie dich schnell erwischt. So erklärt sich auch das Hexenwesen, das im Zusammenhang mit der christlichen Missionierung im Augenblick des ersten Kontaktes mit westlicher Lebensweise im südlichen Afrika besonders grassierte. Die Leute verloren den Bezug zu den Ahnen, die Verbindung zur Familie, und die Hexen feierten fröhliche Urständ. So jedenfalls erklären sich Afrikaner diese Entwicklungen. TM: Was soll man also bei einer Krankheit tun, um wieder gesund zu werden? NC: Wenn man krank wird, sucht man bei uns nach der Ursache und sieht sich deshalb bei den Ahnen und den Hexen um. Hexerei wird hier aus anthropologischer Sicht als eine soziale Dynamik verstanden und nicht als ein direkter, zwischenmenschlicher Vorgang, bei dem jemand mit einem bösen Zauber belegt wird. Wir haben es also nicht mit Hexerei im herkömmlichen Sinn zu tun, sondern mit Hexerei aus einer sozialen Dynamik heraus, die jemanden aus dem System ausschließt. So werden z. B. negative Gefühle zwischen Leuten sehr schnell zu einer »witch craft accusation«, einer Vermutung, dass etwas nicht stimmt und der Grund im Bereich sozialer Dynamiken zu suchen ist. Wenn das passiert, muss also darauf hingearbeitet werden, dass sich die Leute wieder vertragen, dass es einen Versöhnungsprozess gibt und die richtige Ordnung wiederhergestellt wird, damit Harmonie einkehrt. Wir müssen die Harmonie wiederherstellen, und das geschieht, indem wir die betroffene Person gegen die Hexerei immunisieren, also widerstandsfähig machen. In unserer Tradition versöhnen wir die Person, von der die Hexerei ausgeht, mit der sie umgebenden Gemeinschaft. Wir versöhnen sie gewissermaßen in die Gemeinschaft hinein, damit sie einen Platz findet, an dem sie nicht länger unheilvoll zu wirken braucht. Es sind eigentlich immer Außenseiter oder zumindest marginalisierte Mitglieder einer Gruppe, die für die Hexerei verantwortlich zu © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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machen sind. So wird z. B. der neuen Frau oder Schwiegertocher als Eingeheirateter oft der Status der Hexe zugeschrieben oder auch der alten Mutter, die zu ihrem Sohn und seiner Familie zieht. Leute, die aufgrund ihres Außenseiterstatus assimiliert und in die Gemeinschaft integriert werden müssen, werden zunächst als Hexen bezeichnet und einem gründlichen Eingliederungsprozess ausgesetzt. Während eines solchen Assimilationsprozesses kommt in der Gruppe erst einmal alles zum Stillstand. Am Ende gibt es eine große Zeremonie, ein Fest, wo der ordnungsgemäße Abschluss und die totale Integration in die Gemeinschaft besiegelt werden. Damit stellt so eine Person keine Gefahr für die Gemeinschaft mehr dar. So gehen wir auf einer Ebene mit Krankheit um. Auf einer anderen Ebene wird Krankheit mit Blick auf die Ahnen angegangen. Man fragt dann z. B.: Wieso kommt sie überhaupt von den Ahnen? Mit großer Wahrscheinlichkeit und buchstäblich deswegen, weil sie verärgert sind! Ihnen missfällt, dass etwas, das sie erwarten, nicht erfüllt wurde, weil ihnen etwas Ungewohntes zugemutet wurde. Das erregt ihr Missfallen. Da geht es dann darum, dieses Missfallen Erregende zu assimilieren, zu integrieren, damit es sie nicht länger ärgert. Wir müssen eine Person daher wieder in eine gute Kongruenz, eine Übereinstimmung mit den Ahnen bringen, damit ihre Widerstandskraft gestärkt wird. Wir stellen die Harmonie mit den Ahnen wieder her, indem wir uns der Verantwortung stellen, die durch die Generationen auf uns gekommen ist, auch indem wir vermeiden, was den Ahnen zuwider ist. So wird die Harmonie wiederhergestellt. Wenn wir versuchen, dieser Verantwortung aus dem Weg zu gehen, sind wir nicht mehr Teil unseres Familiensystems. Dann ist das Generationengefüge bis zu fünf Generationen zurück aus dem Gleichgewicht geworfen. Eine Maßnahme, diesem zu begegnen, ist die Herstellung von Gemeinschaft, der Austausch mit den Ahnen.3 Wenn ich krank werde, wird der Heiler/die Heilerin davon ausgehen, dass ich mich mit den Ahnen überworfen habe. Da braucht es dann eine Zeremo3
Der hier verwendete Begriff »Gemeinschaft« für das Englische »communion« hat in diesem Zusammenhang auch noch eine aktivere Bedeutung, etwa im Sinn von Kontakt, Teilnahme, Austausch und Gleichgewicht.
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nie. Es kann sein, dass die Ahnen mich haben erkranken lassen, um mich daran zu erinnern, dass ich aufgerufen bin, für sie zu arbeiten, selber ein Heiler zu werden. Wir treten also in Kontakt mit den Ahnen. Die Mitglieder der Familie kommen statt meiner und für mich zusammen, also alle diejenigen, die älter sind als ich. Für mich sitzen sie im Kreis; sie bringen Opfer dar, teilen es mit den Toten, schlachten ein Tier, essen gemeinsam. Das bringt uns zusammen, und zwar an der jeweiligen guten Stelle, dem richtigen Platz, auch im Blick auf die Ahnen und die Zusammengehörigkeit. Der Zusammenhalt der Gruppe wird neu ins Gedächtnis gerufen und erinnert. In diesem erneut austarierten Gleichgewicht kann man sich mit den Forderungen der Ahnen auseinandersetzen, z. B. wenn sie sagen: »Oh, you need to go and tswasa!« Dabei handelt es sich um eine Reihe sogenannter Sitzrituale, in denen jeder neu hinzukommende Ahne in den Kreis, also das System, assimiliert wird und dann an der richtigen Stelle sitzt. Das ist die Behandlung. TM: Bitte, noch eine letzte Frage. Du kennst dich auch mit Familienaufstellungen aus. Was genau in diesem Heilansatz bewirkt deiner Meinung nach Heilung und Gesundheit? NC: Für mich gibt in diesem Zusammenhang nur einen Begriff, der das Ganze zusammenfassend erläutert. Dieser lautet: Kontext. Mit Kontext meine ich gezielt das Einssein mit den Leuten aus der eigenen Familie. Ich glaube, wenn der Kontext als solcher sicher ist, hast du auch eine entsprechend gute Widerstandskraft, dann bist du widerstandsfähig gegen allerlei Sorgen, Beschwerden, Kümmernisse, Pech, Krankheit und andere weniger definierbare Dinge. Wenn ich das auf die Methode der Familienaufstellung anwende, heißt das, dass wir hier auch eine Möglichkeit haben, dieses richtige Verhältnis zu unseren Menschen zu bekommen.
Überlegungen zu dem Interview mit Niall Campbell Dieses Interview zeigt die zwei grundlegenden Prinzipien auf, die im südlichen Afrika einem ganzheitlichen Gesundheitsverständnis zugrunde liegen: Ordnung und Gemeinschaft – Gemeinschaft in der Familie und mit den Ahnen. Diese mehren den Zugang zur © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Lebenskraft, der »life force«, die Integration von und Versöhnung mit Außenseitern oder sonstigen marginalisierten Mitgliedern des Familiensystems, also z. B. den »Hexen«. Ich bin, weil wir sind Wir sind, wer wir sind, wegen unserer Herkunftsfamilie und unserem Kontext. Alles, was der Einzelne in seinem Leben tut und wie er in der Welt dasteht, wird in diesem Sinn verstanden. Das ist das allen indigenen Kulturen des südlichen Afrika zugrunde liegende weltanschauliche Konzept. Tägliche Rituale und deren strikte Einhaltung dienen der Erhaltung von Widerstandskraft und Gesundheit. Gemeinschaftsrituale affirmieren den richtigen und guten Platz des Einzelnen in der Familie, wenn es Probleme gibt, sie versichern ihn seiner sozialen Identität (Campbell u. Meyburgh, 2014). Bei Störungen oder Unterbrechungen im Familiensystem, zwischen Lebenden und Toten, schafft man anlässlich und zu diesem Zweck besonders einberufener Familientreffen Abhilfe mit Gemeinschaftsritualen, die die Situation ordnen und bei denen der Einzelne seinen richtigen Platz im System zurückerhält. Dabei ist die strikte Einhaltung hierarchischer Strukturen von großer Bedeutung: Zuerst kommen die Ahnen, dann die Ältesten, die Eltern, dann erst die Kinder. Hier hat der Einzelne optimalen Zugang zu den Ressourcen der Ältesten und der »life force«, dem Atem der Schöpfung, der nur durch die Ahnen und die vorübergehenden Generationen fließt. Guni Baxa (2006) hat das als etwas »Übergeordnetes« beschrieben, etwas, das in indigenen Kulturen die Verbindung zwischen dem Heiligen, einem Geist oder einer Lebensenergie herstellt. Im isiZulu spricht man von »Ubuntu« und hat dabei die Vorstellung von etwas Universellem: »Ubu-« als das Sein und »-ntu« als die universelle Lebensenergie, die kollektive Seinsnatur. Diese Lebensenergie wird als die eigentliche Kraft, als Vitalität und das Lebensbejahende, Lebensfortsetzende verstanden. Bei den Völkern des südlichen Afrika gibt es kein »Ich«. Viel eher wachsen die Kinder hier im Sinne eines »Ich bin, weil wir sind« auf. Krankheitssymptome werden erst einmal als gemeinschaftlich verstanden, die Bezugsgrößen sind die Familie und der Clan: Unterbrochene Strukturen und gestörte Beziehungen zwischen den Leben© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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den und den Toten erhöhen die Anfälligkeit für Krankheiten und mindern den Widerstand. Afrikanische Gesellschaften werden wegen ihres patriarchalischen Charakters und des Fehlens persönlicher Freiheit gern kritisch beurteilt. In Familienaufstellungen hingegen sieht man oft, wie gerade die Herstellung einer guten Ordnung in der Familie und den größeren Zusammenhängen, die ja durchaus hierarchische Züge aufweisen, ein unglaubliches Zusammengehörigkeitsgefühl und auch Heilung bewirkt. Das ist nicht das Gleiche wie die Rückbesinnung auf traditionelle Lebensentwürfe und Lebensstile. Ich habe in meiner Aufstellungspraxis vielfach beobachten können, wie unendlich befreiend es ist, wenn man zuerst einmal dahin zurückkehrt, wo man herkommt, um dort zu einem Frieden zu kommen. Erst wenn wir uns mit unseren Eltern in guter Weise verbunden haben, wenn wir auch die »Täter« wieder in unseren Kreis hineingenommen haben, die »Täter« aus unseren eigenen Familien, und dem Geschehenen vorbehaltlos zustimmen, sind wir in der Lage, uns unserem eigenen Leben zuzuwenden. Dann können wir anderen begegnen, ohne die traumatischen und sich immer wiederholenden Muster der Vergangenheit zu wiederholen. Wir können langsam in die Ressource der Präsenz, des Ganz-Daseins gelangen und die Dinge so sehen, wie sie sind. Während der Abfassung dieses Artikels starb Nelson Mandela, der Vater des demokratischen Südafrika. Damit wurde er zu einem Ahnen und ein gutes Beispiel für jemanden, der seine Würde und die der anderen lebte. Er verkörperte den Geist von Ubuntu. Jemand drückte das beiläufig so aus: Er liebte einfach seinen Nächsten, seinen Nachbarn. Mandelas Vermächtnis besteht in der Erkenntnis, dass sich Südafrika nur durch Versöhnung, Einbindung und Integration der »Täter« zu einer gesunden und friedlichen Gesellschaft für alle entwickeln kann. Einbindung und Versöhnung Die zweite Grundvoraussetzung für Gesundheit in den Gesellschaften des südlichen Afrika ist die Einbeziehung und Einbindung von Hexen. Das bezieht sich auf böswillige Gedanken und heimtückische Intentionen bei denen, die Außenseiter sind oder nicht entspre© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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chend in das Familiensystem integriert sind. Frieden und Gesundheit sind nicht möglich, solange es böswillige Gedanken und Gefühle zwischen den Menschen der Familie, innerhalb des Clans und der Gemeinschaft gibt. Gewissermaßen als Assimilation zu verstehen sind die Interventionen, also die Versöhnungsprozesse, die in der Form von Begegnungen und Gesprächen, aber auch als Rituale und Feste von den Ältesten veranstaltet werden, um die Rückkehr der Ausgeschlossenen in die größeren Familienzusammenhänge zu ermöglichen. Im Westen will uns diese Art der Einmischung unerträglich erscheinen; sie führt jedoch in der Regel dazu, dass keiner alleingelassen wird, dass keiner sich um die Regelung dieser schwierigen Beziehungsverhältnisse allein zu kümmern braucht. Wovon wir reden, bezieht sich auf gestörte, verstrickte und böswillige Beziehungen. Das wird im südafrikanischen Kontext oft mit dem Wort »witch« oder »witches« beschrieben. Dies darf jedoch unter keinen Umständen mit Zauberei oder schwarzer Magie in Verbindung gebracht werden. Letzteres gibt es zwar auch, sie spielt aber in diesem Zusammenhang keine Rolle. Die Begriffe »witch« und »witches« beziehen sich in erster Linie auf unklare und gestörte Beziehungen. Vor jedem Heilritual muss zuerst das eventuell Ungesagte und Ungelöste zur Sprache kommen. Erst dann findet jeder im Kreis den ihm zukommenden und zustehenden Platz und erst dann kann an Heilung gedacht werden. Heilung setzt die Verbindung mit dem Atem des Lebens, der Schöpfung, voraus. Und vielleicht ist es gerade die Verbindung mit der Schöpfung, die unseren Körper zum Schöpfer unserer eigenen Heilung macht. Als moderne Frau in Afrika Mir ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass ich keinesfalls einer Rückkehr zu den traditionellen Werten und Lebensstilen südafrikanischer indigener Kulturen das Wort rede, solchen, die vom Westen oft als unterdrückende Männerherrschaften beschrieben werden. Grundsätzlich verstehe ich Entwicklung auch nicht als etwas, das kontinuierlich von primitiv zu fortgeschritten, von gemeinschaftlich zu individuell verläuft. Eher begreife ich, dass traditionelle Kulturen, vielleicht © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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durch ihr Eingebundensein in die Natur und ihr Verbundensein mit dem Geist der Schöpfung, etwas dem industrialisierten und individualisierten Westen Verlorengegangenes zur Verfügung stellen können. Eine afrikanische Großmutter, auf dem Land aufgewachsen und jetzt in der Großstadt lebend, hat mir einmal auf die Frage nach der Rolle von afrikanischen Frauen und Männern in der Gesellschaft geantwortet: »Ich stimme zu, wenn die Weißen sagen, dass man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten soll. So ist es nämlich.« Was sie damit ausdrückte, ist dies: Westliche Gleichberechtigung und demokratische Werte können nicht einfach gegen die spirituellen, von den Vorfahren ererbten afrikanischen Werte und Wurzeln ausgetauscht, sondern müssen sorgfältig gegeneinander abgewogen werden. Es ist mein Wunsch, die im südlichen Afrika marginalisierten Weisheitstraditionen, die teilweise bereits verloren sind, zu würdigen und zu ehren. Aus der eigenen Erfahrung als Aufstellerin kann ich sagen, dass das Wissen um diese und die Praxis mit diesen Traditionen unser Leben und unsere Arbeit außerordentlich bereichern und mit Ressourcen versehen. Ich verweise auf die vielen kontrovers diskutierten, widersprüchlichen Äußerungen von Bert Hellinger über die Rolle von Männern und Frauen. Sie spiegeln oft die südafrikanische Rollenverteilung und Erfahrung wider. Hellinger stellt Männer nach rechts und Frauen nach links in der Familienordnung. Das ist keine hierarchische Gliederung, sondern wird so auch in den südafrikanischen Traditionen praktiziert. Es handelt sich vielmehr um männliche und weibliche Prinzipien, die in jedem von uns angelegt sind und die, um es einmal etwas moderner und hirnphysiologisch auszudrücken, der linken und rechten Gehirnhälfte zugeordnet werden können (vgl. den Beitrag von S. Peyton in diesem Band). Die Ordnungen der Liebe, eines der zentralen Arbeitsprinzipien in Familienaufstellungen, sind als Werkzeug für den modernen Menschen genau das, was Kontext und Beziehung herstellt. Sie sind also unerlässlich für eine Heilung. Ich habe immer wieder festgestellt, dass ein spezifisch afrikanischer Ansatz geeignet ist, zu verstehen, was in der Heilbewegung einer Aufstellung eigentlich passiert und auf was zu achten ist. Dagegen wurde gerade in Hellingers früher Arbeit immer wieder direkt in die Heilbewegung gegangen, ohne die dabei vollzogenen Zwischenschritte weiter zu erläutern. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Familienaufstellungen und Heiltraditionen im südlichen Afrika: Gesundheit und Widerstandskraft Auch in den Familienaufstellungen nach Bert Hellinger finden sich die drei Schlüsselkonzepte: Zugehörigkeit, Ordnung und Einbindung der/des Ausgeschlossenen – also von Menschen und Gefühlen. Die Hellingerschen Ordnungen der Liebe spezifizieren genau das: die Zugehörigkeit zum Familiensystem als Grundlage für gute Lösungen in Aufstellungen. Nach Bertold Ulsamer (2003) hat jeder Mensch grundsätzlich das Recht, dazuzugehören. Dazu gehören tun alle, egal welches Schicksal sie haben: die großen Lieben, die geschiedenen Ehefrauen und -männer, früh verstorbene, fehlgeborene und abgetriebene Kinder, Geisteskranke, selbst diejenigen, die sich eines Verbrechens schuldig gemacht haben. Außerdem gibt es eine hierarchische Ordnung, die in Familiensystemen zu beachten ist. Wer zuerst da war, muss als solcher geachtet und gesehen werden. Alle, die einmal Teil einer Familie waren, egal ob lebend oder schon verstorben, haben einen Platz in einem solchen System. Bei Bert Hellinger stehen diese in der Regel im Uhrzeigersinn. Hinzu kommt, dass jede Person in einem solchen System die volle Verantwortung für sich, ihre Taten und die dazugehörigen Gefühle trägt. Stephan Hausner (2010, S. 35), der sich schwerpunktmäßig mit Gesundheit, Krankheit und Familienaufstellungen beschäftigt, betont (siehe auch das Einleitungskapitel in diesem Band): »aus der Sicht der Aufstellungsarbeit wirken im Umgang mit Krankheitsgeschehen nach bisherigen Erfahrungen folgende Aspekte ineinander und verstärken sich gegenseitig: ȤȤ die Bereitschaft des Patienten zum Ja zum Leben und damit verbunden zur Eigenverantwortlichkeit, ȤȤ die primäre Liebe des Kindes zu seinen Eltern und die Sehnsucht nach Nähe zu ihnen, ȤȤ die Ausgrenzung von systemrelevanten Personen und/oder Themen durch den Patienten selbst oder durch seine Familie.« Ja zum Leben sagen! »Umoya«, ein Begriff, den wir oben bereits erläuterten und der mit »life force«, also etwa Lebenskraft, nur annähernd übersetzt werden © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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kann, ist ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der südafrikanischen Heiltraditionen. Der Zugang zu dieser Kraft erschließt sich in der ehrerbietigen Haltung gegenüber den Eltern, Ältesten und Ahnen. Ihre Würdigung ist eine der zentralen Voraussetzungen für gute Gesundheit. Ehrerbietung und Würdigung geschehen mithilfe täglicher Rituale, religiöser Bräuche und gezielter Unheilsabwendung. Nur so kommt man in den Genuss von »umoya«. Der direkte Umgang mit den Ahnen, das gemeinsam verabreichte und getrunkene Bier, die Schlachtung von Opfertieren, das sind die Praktiken, mittels derer der Einzelne seinen guten Platz im Familiensystem erst findet, den Ort, an dem »umoya« den Einzelnen richtig erreicht. Als solches sind diese Rituale vergleichbar mit den Bewegungen in einer Familienaufstellung. Stephan Hausner (2010, S. 27) formuliert das Ja zum Leben so: »Das ›Ja‹ zum Leben durch die Eltern und die Ahnen ist für viele ein schwieriger Vollzug. Er gelingt über die Zustimmung zu den Eltern, wie sie waren und wie sie sind, sowie zur Geschichte der Familie, in die man hineingeboren wurde.« Jakob Robert Schneider (2009) beruft sich auf Hellinger, indem er sagt, dass wir die Ordnung als befreiend erleben, auch wenn sie uns etwas zumuten mag. Sie ist auch etwas Schöpferisches in unserem Leben, das uns herausführen kann aus Kreisläufen hilflosen und erfolglosen Bemühens. Hellinger (1998) selbst betonte immer wieder, dass, wer das Leben von seinen Eltern annimmt, mit Dankbarkeit und allem, was dazugehört, auch das eigene Leben in Fülle annehmen kann. Ich frage mich, ob dem späten Hellinger, dem es so wichtig ist, dieses »Ja« zu den Eltern immer wieder zu betonen, nicht auch diese südafrikanischen Traditionen zugrunde liegen. Integration Integration ist in beiden Heilmodalitäten wichtig, sowohl in den südafrikanischen indigenen Traditionen als auch für Familienaufstellungen. In Ersteren geht es um die Lebenden und die Toten und auch um die Ausgeschlossenen und die an den Rand Gedrängten. Hellinger, sich auf Freud berufend, schreibt, dass der Einzelne nur wachsen kann, wenn er das in der Seele Ausgeschlossene integriert. Oft lehnen Menschen wichtige Aspekte ihrer selbst ab, wie z. B. per© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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sönliche Schuld, auch wenn man genau weiß, dass sie zu einem gehört. In traditionellen Kulturen hingegen herrscht die Vorstellung, dass man die Rache der Ahnen auf sich zieht, wenn man moralisch verfallen lebt und familiären Verpflichtungen nicht nachkommt, verbindlich formulierten Verantwortlichkeiten, die sich aus der Clanzugehörigkeit ergeben, nicht Folge leistet. Bertold Ulsamer (2003) bezieht sich auf die Konsequenzen, die sich aus unterdrückten oder abgelehnten Gefühlen für zukünftige Generationen ergeben, und darauf, wie Familiensysteme immer versuchen, dieses Ausgeschlossene zu integrieren und Gleichgewicht herzustellen. Stephan Hausner begründet zusammenfassend, dass eine erfolgreiche Reintegration traumabedingt unterdrückter Aspekte zur Lösung vieler Schwierigkeiten führt (vgl. die Beiträge von F. Ruppert und K. Huyssen in diesem Band). Systeme und Bindungen Sowohl Familienaufstellungen als auch traditionelle südafrikanische Heilsysteme erkennen an, dass der Einzelne nicht aus seinem Familiensystem herausgerissen werden darf. Die Gesundheit des Einzelnen beruht auf versöhnten Eltern-Kind-Beziehungen, eingeschlossen aller Personen, die dazugehören. Damit ist die Gesundheit der Familie sowie der Gruppe gewährleistet. Der Mensch hat ein Grundbedürfnis nach Beziehung, nach Zugehörigkeit. Genau wie wir die tägliche Nahrung brauchen, brauchen wir gute und dauerhafte Beziehungen. Dieses Bedürfnis wurzelt tief in der Evolutionsgeschichte des Menschen, eine Erkenntnis mit weitreichender Bedeutung für die Psychologie des westlichen Menschen (Weir, 2012). Franz Ruppert (2005) hat das zum Thema seines Buches »Trauma, Bindung und Familienstellen« gemacht und die Bindungsbeziehungen des Menschen als Grundlage aller menschlichen Existenz und seelischen Gesundheit beschrieben (siehe auch den Beitrag von F. Ruppert in diesem Band). Er zitiert John Bowlby als den Entdecker dieses Bindungsphänomens, eines Phänomens, das nicht in uns passiert, sondern zwischen uns Menschen. Bert Hellinger weist auf die »unterbrochene Hinbewegung« hin, die Schwierigkeiten, die auftreten, wenn die primäre Bindungsbe© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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wegung des Kindes vom Elternteil aus irgendeinem Grund nicht erwidert werden kann: etwa weil der Elternteil emotional oder wegen langer Krankheit abwesend oder gar gestorben ist (Franke, 2009). Nach Ruppert (2005, S. 32) ist Bindung »ein universelles Prinzip in der Natur«. Wenn die ursprüngliche Bindung zwischen Mutter und Kind also ernsthaft gestört oder gar nicht vorhanden ist, wird der Aufbau einer stabilen Identität und eines guten Selbstwertgefühls sehr erschwert. Ruppert (S. 33) betont: »Hauptquelle seelischer Gesundheit für uns Menschen sind andere Menschen. Sie sind auch die Hauptursache für unsere seelischen Qualen. Im Grunde können nur Menschen andere Menschen seelisch krank machen. Wir können vieles an Belastungen (schwere Arbeit, widrige Umweltverhältnisse) verkraften, aber kaum schlechte Beziehungen zu anderen Menschen. Gute zwischenmenschliche Beziehungen sind heilsam, schlechte machen krank. Die größte Herausforderung, seelisch gesund zu bleiben, stellen Bindungsbeziehungen dar, da seelische Bindungen wechselseitige Abhängigkeiten voneinander erzeugen.« Diese Ansätze zeigen alle in die Richtung, die wir auch in indigenen Heilsystemen im südlichen Afrika finden. Der gesunde Einzelne ist in seinen Beziehungen und in seiner Identität durch sein tägliches Ritual und die kulturellen Werte geerdet. Das bindet ihn in seine Familie und sein System ein. Erfolgreiche wechselseitige und positiv besetzte Abhängigkeit anstelle von Unabhängigkeit wird daher als die Grundlage von Gesundheit verstanden. Es gibt jedoch einen gravierenden Unterschied: die Toten. Diese werden im südlichen Afrika immer als gegenwärtig verstanden und sind immer miteingeschlossen. Vor dieser zutiefst spirituellen Dimension scheuen konventionelle Psychotherapeuten eher zurück. Gemeinhin meint man nämlich, dass es sich hier um Ahnenanbetung, um Götzendienst handelt. Was so aussieht, ist aber in Wirklichkeit immer das Gespräch, die Gemeinschaft und Verbindung mit den Ahnen. Sie werden im Alltag wie lebende Personen behandelt, mit denen man reden kann. Und so erzählt man den Ahnen dann die Freuden und Leiden des Alltags und wie es den Kindern geht. Man bittet um Rat, um Kraft und Unterstützung, genau wie man auch die Eltern und Großeltern darum bittet. Dieses Gespräch wird immer mit der größten Ehrerbietung geführt, in dem Wissen, dass © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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man nur durch die Ahnen einen Zugang zum Atem der Schöpfung und letztendlich zu Gott hat.
Die Schöpfung als Lebensquelle: eine persönliche Geschichte von den Ahnen Unsere zwei Monate alte Tochter befand sich 2012 plötzlich auf der Intensivstation des Krankenhauses, wo sie schließlich sechs Monate bleiben musste. Manches Mal dachten wir, dass sie uns auf immer verlassen würde. In dieser Zeit entdeckten wir unser Familiensystem in Aufstellungen, wir hatten Zugang zu bester medizinischer Versorgung, und während ihrer wachen Stunden war immer einer von uns bei ihr. Wenn sie nicht gerade künstlich am Leben erhalten werden musste, hielten wir sie und redeten mit unseren Vorfahren. Von allen erwähnten Maßnahmen, so meine ich, waren es die Gemeinschaft mit den Ahnen und die Gebete, die dafür sorgten, dass sie am Ende überleben konnte. Der folgende Text ist ein solches Zwiegespräch mit den Ahnen, wie wir es täglich hielten: »Großväter und Großmütter, kommt und versammelt euch hier, aus allen vier Richtungen der Erde. Kommt und setzt euch hinter mich, euer Kind, und euer Enkelkind, das Enkelkind, das noch klein ist. Mutter und Vater, setzt auch ihr euch, Großväter, setzt euch, Großmütter, setzt euch, ihr alle, zurück bis zum ersten Mann, bis zur ersten Frau, ganz zurück bis an die wahre Quelle des Lebens, bis an die Schöpfung, zu Gott. Großväter und Großmütter, lasst Licht scheinen und Schönheit. Großväter und Großmütter, ich komme zu euch als euer Kind. Ich bin klein und ich verstehe nichts von den großen Dingen. Ich komme zu euch und bitte euch, dass ihr euch dazusetzt, damit unser kleines Mädchen Heilung finden kann. Dass sie den Atem der Schöpfung durch uns finden möge und im Leben bleibt. Großväter und Großmütter, unsere kleine Tochter kämpft um ihr Leben.
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Wir bitten, sie als Zweijährige rennen hören zu dürfen, lachend über die Felder. Wir bitten, dass wir ihren süßen Erdbeeratem durch dich, durch uns riechen können. Wir bitten, dass wir sie wieder in unseren Armen halten und ihre weiche Wange an unserer fühlen dürfen. Wir bitten, sie als junges Mädchen reiten sehen zu dürfen, auf einem schwarzen Pferd durch den Wald. Großväter und Großmütter, lasst Licht scheinen und Schönheit. Ich, die klein ist und nichts von diesen großen Dingen weiß. Kommt und setzt euch hinter uns, auf dass der Atem durch uns fließe. Großväter und Großmütter, lasst Heilung sein und Gesundheit. Lasst Licht scheinen und Schönheit.«
Heute reden wir noch immer mit unseren Ahnen und erzählen ihnen, wie unsere Tochter wächst und läuft und hüpft. Jede neue Freude teilen wir mit ihnen, jeden Triumph in ihrer Entwicklung. Und wenn wir sehen, dass unser Gebet erhört wurde, dann danken wir ihnen, indem wir mit ihnen teilen, wie das Leben vorangeht. Wir haben keinen Zweifel, dass sie mit uns sind und dass sie in ihr sind. Wir sind ihre Verbindung zum Atem des Lebens.
Wenn alles gesehen und gesagt ist, gibt’s was zu tun Aus dem bisher Gesagten ist ersichtlich, dass im südlichen Afrika persönliches und gesellschaftliches Wohlergehen eng an die Observanz, die Beachtung und Befolgung traditioneller Verhaltensformen gebunden ist. Die Gemeinschaft mit den Ahnen und der Familie und damit der direkte Zugang zum Leben, zu den Lebensressourcen, wie auch die Achtung der Ausgeschlossenen werden als essenziell für Gesundheit und Wohlergehen eingeschätzt. Die Einhaltung ritueller Vorschriften sowie die Gestaltung des Alltags mit seinen Geboten ermöglichen die Ahnenverehrung und -würdigung und damit die innerfamiliäre Vernetzung und die Versöhnung in der Großfamilie. Familienaufstellungen nach Bert Hellinger als Heilmodalität spiegeln traditionelles südafrikanisches Heilwissen. Sie mobilisie© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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ren Ressourcen und Widerstandskräfte, holen die ausgeschlossenen Mitglieder eines Systems zurück ins System, integrieren die Gefühle. Sie heilen unterbrochene Hinbewegungen und gestatten Beziehung, Bindung und Achtung. Ein »Ja« zum Leben wird (wieder) möglich. Nach meinem Dafürhalten wird der Bedeutung von Nacharbeit, gewissermaßen als Hausaufgabe nach Aufstellungen, zu wenig Beachtung geschenkt – von vielen Aufstellern jedenfalls. »Hausaufgaben« bieten die Möglichkeit, die in der Aufstellung erlebte Heilbewegung im täglichen Leben praktisch umzusetzen und sie in der Familie (neu) zu verankern. Nur so können die als wichtig erkannten Aspekte aus einer Aufstellung so umgesetzt werden, dass erhöhte Widerstandskraft und ein gestärktes Immunsystem auch für den typisch individualisierten Klienten aus dem Westen greifbar und erfahrbar werden. Wer sich im täglichen Lebensvollzug auf die »life force«, die Lebenskraft einlässt, wer in seiner spirituellen Praxis alles, was wir sagen und tun, als einen schöpferischen Akt sieht, der in direktem Austausch mit unseren Ahnen und der Schöpfung steht, der hat erhöhte Widerstandskräfte sowie große Möglichkeiten der Selbstheilung im Sinne der Salutogenese zur Verfügung.
Literatur Baxa, G. (2006). Ritual als ein Tanz mit Lebensenergien. Praxis der Systemaufstellung, 2, 34–37. Campbell, N., Meyburgh, T. (2014). Reverence and dignity: An exploration of the Southern African traditions and Bert Hellinger’s Orders of Love. Unpublished Document. Franke, U. (2009). Wenn ich die Augen schließe, kann ich dich sehen. FamilienStellen in der Einzeltherapie und -beratung. Ein Handbuch für die Praxis. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. Hausner, S. (2010). Auch wenn es mich das Leben kostet! Systemaufstellungen bei schweren Krankheiten und lang anhaltenden Symptomen (2. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. Hellinger, B. (1998). Love’s Hidden Symmetry. Phoenix, Arizona: Zeig, Tucker & Co. Hellinger, B. (2003). Peace begins in the soul. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. Mason Boring, F. (2013). Nature constellations: An ancient walk with knowing and healing. In F. Mason Boring, K. E. Sloan (Hrsg.), Returning to membership of earth community: systemic constellations with nature (S. 9–15). Pagosa Springs, Colorado: Stream of Experience Productions.
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Ruppert, F. (2005). Trauma, Bindung und Familienstellen. Seelische Verletzungen verstehen und heilen. Stuttgart: Klett-Cotta. Seed, J.; Macy, J.; Fleming, P.; Naess, A. (1988). Thinking like a mountain. Towards a council of all beings. Philadelphia: New Society Publishers. Schneider, J. R. (2009). Das Familienstellen. Grundlagen und Vorgehensweisen (2. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. Ulsamer, B. (2003). The Art and Practice of Family Constellations. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. Washington, K. (2010). Zulu Traditional Healing, Afrikan Worldview and Practice of Ubuntu: Deep Thought for Afrikan/Black Psychology. The Journal of Pan African Studies, 3 (8), 24–39. Weber, G. (Hrsg.). Zweierlei Glück. Die systemische Psychotherapie Bert Hellingers. Heidelberg: Carl Auer. Weir, K. (2012). The pain of social rejection. American Psychological Association. http://www.apa.org/monitor/2012/04/rejection.aspx (1. 8. 2014).
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Sarah Peyton
Das Gesundheitspotenzial von Aufstellungen aus der Perspektive der Gehirnphysiologie Forschungsgrundlagen für eine verbesserte Immunfunktion durch Aufstellungserfahrungen
»Große Dankbarkeit erfüllt mich, weil ich zu schätzen weiß, wie viel Heilung und Entwicklung ich in dem Jahr nach meiner Aufstellung erlebt habe. Mein Nervensystem hat aufgehört, auf gewisse Reize mit Zuckungen meines Körpers zu reagieren, außer ich muss mich mit einer Erkältung ins Bett legen. Ich habe nicht länger das Gefühl einer lauernden Gefahr hinter der nächsten Ecke. Ich kann wieder normal laufen und Dinge wie ein Geräusch, eine Berührung, Gerüche und Licht so verarbeiten, wie es ganz und gar zweckmäßig ist in unserer Welt.« Vivian Tanaka1, Seattle, Washington, USA
Gesundheit und Wohlbefinden beginnen mit unseren Neuronen Wenn alles für uns als Organismen gut funktioniert, erleben wir Zustände von Wohlsein, tiefer Ruhe, Freude, Erregung, Mitwirkung und entspannte soziale Verbindungen. Bei positiven Emotionen haben wir ein Gefühl von Sicherheit, das unserem Nervensystem erlaubt, unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden zu optimieren, indem es unsere Immunabwehr voll aktiviert, besonders indem es die Aktivität peripheral zirkulierender Killerzellen und peripheraler Dopaminspiegel erhöht (Matsunaga et al., 2008). Zusätzlich verzeichnen wir Verbesserungen beim Blutdruck, bei der Ausschüttung von Stresshormonen, im Verhalten und sogar in der Genexpression (Barak, 2006). Es gibt nur sehr wenige hirnphysiologische Untersuchungen, die sich direkt mit der Aufstellungsarbeit in ihrer Zielsetzung und 1
Name verändert.
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praktischen Durchführung befassen, aber es gibt etliche Forschungen darüber, was dem Stressmanagement und der Gesundheit dient. Dieser Beitrag vereint diese Untersuchungen mit unserer Kenntnis von Aufstellungserfahrungen, sodass wir folgern können, was möglicherweise vor sich geht, wenn wir sehen, wie unsere Klienten nachhaltige gesundheitliche Fortschritte machen. Um dieses Material zu verlebendigen, werden wir den Erfahrungen einer Klientin, Vivian Tanaka, folgen. Sie hat uns freundlicherweise ihre Aufzeichnungen darüber, wie sie mithilfe von Aufstellungsarbeit wieder gesund geworden ist, überlassen. Wir werden diese als eine Art Brille verwenden, durch die wir einen Blick auf den tatsächlichen gesundheitlichen, holistischen Nutzen von Aufstellungen werfen können. Im 1. Abschnitt werden wir drei Erfahrungen näher betrachten, die – wissenschaftlich nachgewiesen – unser Nervensystem beruhigen: mitfühlende Gemeinschaft, Benennung von Emotionen und Neubewertung schwieriger Situationen. Wir werden sehen, wie Aufstellungen diese drei Erfahrungen ermöglichen und wie sie ein unmittelbares Gefühl von Sicherheit und Anerkennung hervorrufen. Durch die Rekapitulation von bekannten und unbekannten Familien- und Krankheitsgeschichten ist die Aufstellungsarbeit besonders wirksam, weil sie unsere Lebenserzählungen aus der nicht bewussten Reaktivität ohne Wahlmöglichkeit in bewusste Eingestimmtheit und gesteuerte Bewegung verwandelt. Auf diese Weise begünstigen Aufstellungen Gesundheit und ein umfassendes Wohlbefinden. Abschnitt 2 beschäftigt sich mit der Integration von TraumaHeilung und wie diese der Gesundheit dient. Schließlich werden wir im 3. Abschnitt die Forschung erkunden, die den Einfluss der Ordnungen der Liebe (nach Hellinger) – Zugehörigkeit, Rangfolge und Ausgleich von Geben und Nehmen – auf Gesundheit und Wohlbefinden zeigt.
Abschnitt 1: Die drei Erfahrungen, die das Nervensystem beruhigen Beginnen wir mit den drei Erfahrungen, die unser Nervensystem beruhigen, zunächst mit dem Erleben von stärkender Gemeinschaft, das durch Aufstellungen unterstützt werden kann: © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Regulierung 1: Erfahrungen von warmherziger Gemeinschaft Vivian: Woher kamen die Lachausbrüche? Die gemeinschaftliche Freude und das Spielvergnügen? Das jähe Erkennen? Die bedrückten und die bestürzten Ausrufe? Die Inspiration und die plötzliche Kraft? Ich bin voller Staunen und Ehrfurcht, wie Menschen, die Teile repräsentieren, »wissen«, wie sie sein müssen. Es hat mir großes Vertrauen gegeben, dass ich erkannt bin, dass wir alle in der universalen Kenntnis unserer Menschlichkeit gehalten sind.
Wenn wir einsam sind, nehmen die endogenen Opioide ab und das Cortisol steigt; wir sind leichter alarmiert und unser Immunsystem leidet (Panksepp u. Biven, 2013, S. 333; Cacioppo u. Patrick, 2012, S. 105). Wenn wir Beziehungen haben, in denen ein gegenseitiges Interesse besteht, innerste Gefühle zu teilen, Gedanken, Sehnsüchte und Freuden, verändert sich unsere Weltsicht. Dinge, die uns gewöhnlich Angst machen, werden weniger bedrohlich, Berge erscheinen weniger steil, Schocks sind weniger schmerzlich (Coan, Kasle, Jackson, Schaefer u. Davidson, 2013). Je fester wir eingebettet sind in eine mitfühlende, unterstützende Gemeinschaft, desto sicherer fühlen wir uns, desto leichter ist es, uns selbst zu regulieren, desto weniger sind wir beunruhigt. Und je besser unsere Gesundheit ist, desto rascher kann Heilung eintreten. Nicht nur geht es uns besser, wenn wir in unserer Gemeinschaft sind, wir beginnen, die einzelnen Menschen in uns hineinzunehmen und in uns zu tragen, wenn wir nicht bei ihnen sind, wobei wir ihre Liebe und Fürsorge als Unterstützung aus der Ferne weiter nutzen, sogar nachdem diese Menschen gestorben sind (Coan, Becks u. Allen, 2013). Teil der Erfahrung von Aufstellungsarbeit ist das unmittelbare Erleben, mit Wärme gehalten zu sein, oft zum ersten Mal in unserem Leben, zunächst vom Aufstellungskreis selbst und dann, auf einer zweiten Ebene, von den Stellvertretern unserer Eltern, Großeltern, Vorfahren sowie anderen Ressourcen. Häufig erfahren wir eine tiefe Wiederanbindung an ausgeschlossene Familienmitglieder oder an verleugnete Teile von uns selbst. In den meisten Fällen verlassen wir unsere Aufstellungen, ob wir nun der Ratsuchende waren oder Stellvertreter, mit dem ganz neuen Empfinden, dass es möglich ist, mit Wärme gehalten zu sein. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Ein anderes Schlüsselerlebnis bei Aufstellungen ist es, Empfindungen zu benennen: Gefühle, Sehnsüchte, Unausgeglichenheiten und mangelnde Verbindungen, wie im nächsten Abschnitt zu sehen sein wird. Regulierung 2: Sagen, was ist Vivian: Was ich bei Aufstellungen so schätze, ist, dass ich dabei mit eigenen Augen verfolgen kann, wie Teile von mir in langsamer Bewegung ihre Existenz ausleben, ihre dynamischen Wechselbeziehungen, und dass ich so vor Augen geführt bekomme, was sonst unbewusst geblieben wäre. Es hat nichts mit Denken zu tun. Es ist ein Eingebundensein, zutiefst sehend und fühlend, und hat mich wiederholt zu einem Raum des Verstehens gebracht, der unendlich heilsam war.
Das emotionale Alarmsystem unseres Gehirns filtert jede eintreffende Information auf Anzeichen von Gefahr hin. Dieses Ganzkörpersystem wird von der Amygdala kontrolliert, Teile der inneren Gehirnstruktur, weit hinter unseren Augen. Unser Alarmsystem tastet fortwährend ab, was gerade im gegenwärtigen Augenblick passiert, um zu sehen, ob es da Verbindungen zu anderen Erfahrungen von uns gibt, und lässt uns gegenüber allen Bedrohungen auf der Hut sein (Fernández, 2013). Es wird entspannt und beruhigt durch die Aktivität des präfrontalen Cortex (PFC), des Gehirnabschnitts gleich hinter der Stirn und den Augen. Jeden Tag erleben wir kleine Ärgernisse und Ängste, die unsere emotionalen Alarmsignale auslösen. Dabei wird die HPA-Achse2 aktiviert, und es werden Ströme von Cortisol durch unseren Körper geschickt, die uns auf Touren bringen und uns helfen, den normalen (und heftigeren) Stressfaktoren in unserem Leben gewachsen zu sein. Je weniger wir uns selbst beruhigen können, desto länger sind wir im Alarmzustand und desto mehr Energie fehlt dem Körper und unserem Vermögen, Krankheit abzuwehren und unseren physischen Normalzustand wiederherzustellen, um die Energie für unser unmittelbares Überleben einzusetzen (Kemeny, 2007). 2 HPA = Hypothalamic-Pituitary-Adrenocortical/Hypothalamus-Hypophy sen-Nebennierenrinden.
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»Gefühle in Worte fassen« erschließt präfrontale Cortex-Ressourcen, die die Amygdala beruhigen (Payer, Baicy, Lieberman u. London, 2012). Fangen wir einmal an, Verbindungen zwischen Emotionen und Worten herzustellen, sehen wir, dass die Aktivität in der Amygdala abnimmt, und das wiederum vermindert den HPA- und Cortisol-Ausstoß, sodass wir wieder ins Gleichgewicht kommen. Verbalisierung hat eine tiefe Wirkung auf unseren Körper, auch durch die Entspannung unseres autonomen Nervensystems (Hoyt et al., 2013). Wenn uns Mitgefühl und Resonanz während des Benennens berühren, beginnt Oxytocin zu fließen. Unser emotionales Alarmsystem, die Amygdala, wird von den Neurotransmittern Oxytocin und GABA reguliert. Beispiele von Benennung in der Aufstellungsarbeit schließen die Anwendung von heilenden Sätzen ein, wie in Vivians Aufstellung: »Danke, Nervensystem, dass du dich so angestrengt hast, um mich im Bewusstsein der Gefahr zu halten, sodass ich am Leben bleiben konnte.« Wir können unsere Gefühle auch nonverbal ausdrücken. Es hat sich gezeigt, dass der spontane nonverbale Gefühlsausdruck – wie etwa Tränen, Umarmungen, Lachen, Berührung und die bewegten Gesichter, die wir bei Familienaufstellungen sehen – augenblicklich die Aktivität des autonomen Nervensystems reduziert. Je ausdrucksvoller wir uns verhalten und je mehr wir emotional verarbeiten, desto mehr vermindern wir die Erregung (Hoyt et al., 2013). Mit ihrer strukturierten Unterstützung beim Ausdruck trägt die Aufstellungsarbeit dazu bei, der in unserer Gesellschaft verankerten Unterdrückung von Emotionen entgegenzuwirken, die uns einem erhöhten Risiko von allen möglichen gesundheitlichen Problemen aussetzt (Berry u. Pennebaker, 1993). Wenn die Aktivität im PFC zunimmt, haben wir mehr Ressourcen für unsere gegenwärtige Berührung mit der Welt (Berry u. Pennebaker, 1993). Der präfrontale Cortex beinhaltet unsere Fähigkeit zum jeweiligen Funktionieren, Treffen von Entscheidungen, zur Empathie und Selbstregulierung, was zusammengefasst das ist, was wir »Weisheit« nennen (Siegel, 2012). Wann immer wir unsere Fähigkeit zur Weisheit aktivieren, beginnen wir, unsere Lebensweise in dieser Welt zu verändern, und kommen dem näher, dass wir unsere Situation neu bewerten können, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Regulierung 3: Neubewertung Mehr noch als der Ausdruck von Gefühlen ist es die Fähigkeit, tiefe innere Prozesse wahrzunehmen wie bewussten Wertewandel, erfahrene Mitbetroffenheit, Steigerung der Selbstachtung und zielgerichtete Handlungsstrategien. Dies ist eine Fähigkeit, die erheblich zu unserem Wohlbefinden beiträgt. Alle diese Aspekte sind Folgen der Teilnahme an Aufstellungsarbeit. Tiefe Prozessarbeit bringt so viele Vorteile, dass sie dem langfristigen Überleben von Menschen mit HIV sogar mehr dient als der Ausdruck von Gefühlen, weil sie die CD4-Immunzellen vermehrt und virale Belastungen vermindert (O’Cleirigh et al., 2003). Aufstellungsarbeit ermöglicht Neubewertung und Perspektivenwechsel in weitem Maßstab, der von Kindheitserfahrungen bis zu denen früherer Generationen reicht. Sie bietet uns eine Vogelperspektive auf unser Leben und auf seine vielfachen Zusammenhänge. Sie holt dadurch unsere Weisheit zurück an den Tisch. Oft sehen wir bei Aufstellungen, wie im Verlauf eines Neubewertungsprozesses schwere Lasten negativer Gefühle abfallen. Das wirkt äußerst vorteilhaft für den Ratsuchenden, da Personen mit einem negativen Affektverhalten – das bedeutet, Menschen, die oft ärgerlich, irritiert, traurig, niedergeschlagen oder gelangweilt sind – ein trägeres Immunsystem haben. Sie haben möglicherweise ein höheres Krankheitsrisiko als jene Menschen mit einem positiven Affektverhalten (Barak, 2006). Vivians Aufstellung begann in der Gegenwart mit Stellvertretern für Vivian und ihr Nervensystem in Beziehung zu einem permanenten Gefühl von Gefahr. Im Verlauf unserer Arbeit kamen wir dann zu den Wurzeln ihres beherrschenden Gefühls von Alarmierung, indem wir sie die mangelnde Sicherheit sehen ließen, in der ihr Ich während ihrer Kindheit lebte. Wir brachten das in Zusammenhang mit der Emigration ihrer Eltern aus Japan und ihren Verlusten bei ihrem neuen Leben in den USA. Wenn sich die Amygdala angesichts einer schwierigen Erinnerung oder Erfahrung beruhigt, kann ein anderer Teil des Gehirns, der Hippocampus, die Führung übernehmen und uns mit der Fähigkeit zur Neubewertung helfen, die unsere Emotionen reguliert und unser Immunsystem stärkt. Die vorliegende Forschung deutet darauf hin, dass Handlungsstrategien, die Bewertungen und emotionale © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Reaktionen verändern, die Gesundheit langfristig verbessern. Dies gilt besonders bei Stressfaktoren, akut oder bevorstehend, die den sozialen Status bedrohen oder zusätzliche Anstrengung erfordern (Denson, Spanovic u. Miller, 2009). Jedem dieser verschiedenartigen Stressfaktoren hilft ein anderer Aspekt der Aufstellungsarbeit. Das Talent, mit zusätzlicher Anstrengung gut umgehen zu können, wird durch die Einbeziehung von Vorfahren und anderen Ressourcen zugänglich. Fragen des sozialen Status werden im 3. Abschnitt dieses Kapitels behandelt, wo wir uns mit den Ordnungen der Liebe beschäftigen, und wir kommen jetzt zu der Frage nach Hilfe bei akuten oder drohenden Stressfaktoren: durch Traumaarbeit.
Abschnitt 2: Die Traumaheilung integrieren Es gibt vier Hauptkategorien von Traumata (zur Arbeit mit Traumata in der Aufstellungsarbeit vergleiche auch die Beiträge von F. Ruppert und K. Huyssen in diesem Band): 1. Die erste betrifft gegenwärtige oder fortwährende Erfahrungen von Verzweiflung, wie bei einem eben geschehenen Unglück oder beim Leben mit häuslicher Gewalt oder Mobbing am Arbeitsplatz. 2. Die zweite ist ein einmaliges Trauma aus der Vergangenheit, wie ein Autounfall, ein Erdbeben oder eine Vergewaltigung. 3. Drittens können wir durch ein Bindungstrauma aus unseren frühen Erfahrungen von Verstrickung mit einem Elternteil betroffen sein. 4. Die vierte Kategorie ist das generationsübergreifende Trauma, das unterschiedliche Erfahrungen umfassen kann, wie Hunger, Krieg, extreme Wettervorkommnisse und die Bindungstraumata früherer Generationen, die unsere Eltern und Großeltern epigenetisch verändert haben. Wo das geschieht, werden wir schon mit diesen epigenetischen Veränderungen geboren, die in unsere eigene Biologie und in unsere eigenen Immun- und Stressreaktionen integriert sind. Im Folgenden werden die vorgestellten Traumakategorien näher besprochen. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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1. Gegenwärtiges Trauma: unmittelbar mitschwingende Anteilnahme und unterstützende Lebensveränderungen Eine der schlimmsten Erfahrungen für jeden, der sich um das Wohl anderer kümmert, besteht darin, den Klienten in einer Situation fortwährender Gefährdung zu wissen. Das kann verschiedene Süchte einschließen, die Weigerung, Krankheit zu behandeln, häusliche Gewalt, Mobbing am Arbeitsplatz und unsichere Milieuverhältnisse. Zweifellos hat solche akute Gefahr einen negativen Einfluss auf Gesundheit und Wohlbefinden. Aufstellungen bieten dem Klienten sowohl Unterstützung für Lebensveränderungen und Kraftquellen an als auch für den Umgang mit dem, was nicht zu ändern ist. Sie helfen zu unterscheiden zwischen der Ohnmacht des ausgelieferten Kindes und den Fähigkeiten und Wahlmöglichkeiten, die viele Erwachsene zur Verfügung haben. In Vivians Aufstellung bestand ihre akute und andauernde Gefährdung in der Erfahrung, ihrem eigenen Nervensystem ausgeliefert zu sein. Jedes laute Geräusch und jede jähe Bewegung wurden als Angriff aufgefasst. Als diese Erfahrung benannt wurde, entspannte sich etwas in ihr. Vivian: Wie konnte ich wissen, dass der Schrecken, mich reduziert auf ein Bündel erstarrter Existenz zu sehen, mir zugleich einen seltsamen Trost gab, weil er mir vertraut war?
Doch selbst wenn einem Beobachter von außen alles sicher und gefahrlos erscheint, können bekannte und unbekannte Lasten aus der Vergangenheit es uns unmöglich machen, uns innerlich sicher zu fühlen. Anstatt ein Zellwissen (Neurozeption) von Sicherheit zu empfinden, leben wir im ständigen Bewusstsein von Unbehagen oder Gefahr, das sich, weil auf einer neuronalen Ebene »bekannt«, wie die absolute Wahrheit anfühlt. Wir können in Umgebungen leben, in denen wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt jeder Gefahr gegenüber geschützt sind, und es doch unmöglich finden, zu entspannen und unseren Organismus einfach tun zu lassen, was er gerade soll: Nahrung aufnehmen, Krankheit bekämpfen, heilen und unsere Zellen erneuern. Wie kann das sein? Warum können wir uns nicht einfach © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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selbst beweisen, dass wir sicher sind, wenn wir feststellen, dass keine Gefahr vorhanden ist in unserer Welt? Lasst uns sehen! 2. Einfaches Vergangenheitstrauma: Einführung der impliziten Erinnerung Wenn wir verstehen können, was mit Lasten aus der Vergangenheit gemeint ist, wird uns das helfen, einen Sinn zu finden in diesem Paradox, moderne Säugetiere zu sein, die sich in Erinnerung verlieren können. Wir Menschen sind wunderbar »enttäuschte« Wesen, die die Fähigkeit besitzen, unsere »bekannte« Realität aus den fünf bis sieben Informationsteilchen zu schaffen, die unser bewusster Geist jeweils auf einmal aufnehmen kann, während unser beinahe unendlich komplexes Gehirn Millionen von möglichen anderen ankommenden Eindrücken, Erfahrungen und Gedanken durchforstet (siehe auch den Beitrag zur Intuition von C.-H. Mayer in diesem Band). Zusätzlich kompliziert wird es dadurch, dass der Teil unseres Gehirns, der diese Durchforstung vornimmt und nach emotionalen Auffälligkeiten sucht, nämlich die Amygdala, kein Zeitempfinden kennt (Siegel, 2012). Für die Amygdala hat unser Leben keinen zeitlichen Verlauf. Alles, was uns je begegnet ist, was schmerzlich, furchterregend oder emotional wichtig war, bildet ein einziges Durcheinander ohne Chronologie, organisiert vielmehr nach der Ähnlichkeit von Gefühlen. Der knurrende Hund damals, als wir drei waren, ist genauso wichtig wie der ärgerliche Chef gestern, und die beiden sind verbunden, weil beide Angst machen. Und da wir bei dem knurrenden Hund drei Jahre alt waren, wissen wir nicht, dass wir jetzt bei unserem ärgerlichen Chef nicht drei Jahre alt sind. Für die Amygdala passiert alles, was uns je passiert ist, potenziell gegenwärtig. Zum Glück für unser Überleben, aber zum Pech für unseren gesunden Menschenverstand kann die Amygdala die vernünftigen Teile des Gehirns abschalten, um unser Überleben zu sichern (Siegel, 2012). Infolgedessen können Ereignisse, Wahrnehmungen und Empfindungen, die mit schmerzlichen Erfahrungen aus unserer Vergangenheit – Vorfälle aus unserer impliziten Erinnerung, gespeichert, aber nicht bewusst »erinnert« – korrespondieren, uns heute in ein emotionales Reaktionsverhalten treiben. Wir glauben, dass es sich bei dem, worauf wir aus der Vergangenheit reagieren, um Gefahr im © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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gegenwärtigen Augenblick handelt. Die Wirkung von Geruchserinnerungen in Verbindung mit positiven Emotionen hat einen bemerkenswerten Einfluss auf das Immunsystem durch die Verminderung proinflammatorischer Zytokine; das sind immun-signalisierende Moleküle, die systemische Entzündungen modulieren (Matsunaga et al., 2013). Da manche Leute während der Aufstellungserfahrung völlig in ihre Vergangenheit versunken sind und doch zutiefst positive Gefühle haben, postuliere ich, dass dieser Effekt eine generelle Folge von Aufstellungsarbeit ist. Es häufen sich augenscheinliche Beweise, die zeigen, wie sich unbearbeitete schmerzliche implizite Erfahrung auf unsere Gesundheit auswirkt. Diese überwältigende Masse unbearbeiteter Signale von Unbehagen und Gefahr scheint verantwortlich zu sein für unser Stressniveau, das wiederum eine direkte Auswirkung auf unser Immunsystem hat. So können wir durch das Benennen von Erfahrungen sowohl des Einzelnen als auch seiner Familie und durch das Bemühen, den Stress abzubauen, den unsere Klienten haben, tief greifende positive Veränderungen in Gesundheit und Wohlbefinden hervorrufen. Je mehr wir in Reaktivität verharren – d. h., je mehr Anzeichen von Gefahr aus nicht geheilten Traumata wir in uns tragen, die wir wie auch frühere Generationen unserer Familie durchlebt haben –, desto mehr Cortisol fließt durch unseren Körper und desto mehr ist unser Immunsystem auf jeder Ebene eingeschränkt: vom Heilen von Abschürfungen und Erholen nach Erkältungskrankheiten über die Bekämpfung von Krebs bis hin zu epigenetischen Veränderungen, die uns helfen, mit Stress umzugehen. Interessanterweise können wir diese Reaktivität als einen unbemerkten Grundzustand in uns tragen, der uns veranlasst, ständig Cortisol auszuschütten, ohne auch nur auf die Idee zu kommen, dass wir uns entspannter fühlen könnten, gelassen und mit einem Grundvertrauen in unsere Welt. Das liegt daran, weil sich unser bewusst zugänglicher Erfahrungsschatz (unsere explizite Erinnerung) und unsere unbewusste Ansammlung von Erfahrung (unsere implizite Erinnerung) nur in einem schmalen Grenzbereich berühren. Es ist, als ob unsere implizite Erinnerung wie ein Gletscher in uns liegt, von dem wir nur die Oberfläche kennen können. Wenn uns bewusst © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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wird, dass wir dieses unbekannte Eisfeld des Nicht-Bewussten in uns haben, und uns ihm zuwenden, um es zu erforschen, können wir erkennen, was unserem Bewusstsein am nächsten liegt. Wenn wir anfangen, in Sprache zu fassen, was wir sehen, bricht das, was wahrnehmbar wird, wie der Eisberg eines Gletschers ins Meer unseres expliziten Wissens, und eine neue Oberfläche impliziter Erfahrung wird zugänglich, um von uns entdeckt und sinnvoll eingeordnet zu werden. Vivian: Wie habt ihr bloß alle den Zusammenhalt für die Sicherheit, für die Wichtigkeit und für die aufzudeckende Wahrheit schaffen können? Und hattet ihr eine Ahnung von der Wucht des Eindrucks, zu sehen, wie ihr euch alle suchend herumbewegtet, suchend euch anrempelnd, um den Platz zu finden, wo jeder ihm gemäß atmen konnte? Hattet ihr eine Ahnung von der Wucht des Eindrucks, euch zu sehen, wie ihr so über dem Schmerz und der Last von alledem gebeugt wart, und es bis ins Innerste zu spüren?
Aufstellungsarbeit benennt und bewertet Traumata neu. Sie ermöglicht der Erinnerung, den heilenden Übergang zu vollziehen vom Bestimmtsein durch die Amygdala zum Gerufensein vom Hippocampus, sodass implizite Erfahrung explizit zugänglich wird. Das gilt nicht nur für ein einmaliges Trauma, sondern auch für die Heilung von komplexen Traumata und solchen der Entwicklungsstörung. 3. Komplexes Vergangenheitstrauma: Bindungs- und Mehrfachtraumatisierung Vivian: Ihr habt mir gezeigt, dass ihr in der Tiefe eures Wesens das Leiden von meinen Eltern, von den Männern, die ich zu Partnern gewählt hatte, und damit von mir und meinen Kindern versteht. Ich sah uns alle erstarrt und verzweifelt ringend nach Raum, Bewegung, Freiheit und Wahlmöglichkeit. Ich sah, wie Kummer und Schmerz ausgespielt wurden für diejenigen, die aus allzu vielen Gründen eines harten Lebens keinen Fürsprecher hatten.
Da mitschwingende Spiegelung und Benennung beruhigend für das menschliche Nervensystem sind, wäre es verständlich, dass es nicht © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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leicht ist, Wege zu finden, den Schmerz von Mehrfachtraumatisierung einzukreisen und auszudrücken. Es gibt wenig Modalitäten, die es einem Klienten gestatten, Jahre des Missbrauchs oder der häuslichen Gewalt zu sehen und neu zu bewerten, aber im Idealfall ist dies genau das, was Familienaufstellungsarbeit leistet. Die Auswirkungen von frühem Stress im Leben und vom Bruch der Mutter-Kind-Verbindung bei einem Säugling (frühe Trennung von Mutter und Neugeborenem) gehen tief. Die Forschung hat gezeigt, dass einige Folgen von Bindungstrauma Schäden des natürlichen Atmungsmusters, der Immunreaktion und der allgemeinen Körperreaktion bei Stress einschließen können (Heyda, 2013). Wenn wir uns bemühen, unsere Klienten durch Aufstellungen gesundheitlich zu stärken, dabei das Bindungstrauma berührt wird und neue Beziehungen zwischen den Klienten und deren Gefühl zur Mutter entstehen, verändern sich erkennbar ihre Atemmuster. Hierzu und zu anderen Aspekten von Aufstellungsarbeit brauchen wir noch weitere Untersuchungen, um nachhaltige Veränderungen beim Atmen, der Vagus-Aktivierung, des Herzschlags, des Blutdrucks und der Immunreaktion nach einer Aufstellungsarbeit belegen zu können. Selbst die Komplexität der Mehrfachtraumatisierung ist nur ein Teil in dem großen Bild von unserer Gesundheit, da wir ebenfalls von den Traumata betroffen sind, die unsere Eltern, Großeltern und Vorfahren überstanden haben. 4. Generationsübergreifendes Trauma: Was geschah unseren Vorfahren? Vivian: Wie schaffte es »Okasan« in ihrem stillen unerbittlichen Leiden, das Licht ihrer Liebe und Fürsorge für mich so tapfer brennend zu erhalten? Wie konnte »Otosan« mit seinem verzweifelten Bedürfnis nach Anerkennung sich mit jeder Faser seines Wesens ans Überleben klammern? Er verstand doch nichts anderes, als der zornige Tyrann zu sein, zumal seine verzehrende Angst und Qual, nicht gesehen worden zu sein, so unterschätzt wurde.
Es gibt weitere Schichten, die auftauchen, wenn wir die epigenetischen Auswirkungen von Traumata, die frühere Generationen erlebt haben, auf unsere DNA anerkennen – ein Phänomen, das die For© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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scher »generationsübergreifendes Trauma« nennen. Der Epigenetikforscher Moshe Szyf stellte 2013 in einem Vortrag die These auf, dass wir zukünftig in der Lage sein werden, die Traumaspur durch vergangene Generationen zu verfolgen – anhand der Entzifferung der Methylierungsmuster unserer DNA. Er stützte diese Vermutung auf eine eigene Untersuchung, die bei der Bevölkerung von Quebec nach einem Eissturm gemeinsame epigenetische Marker festgestellt hat (Szyf, 2013). Wenn uns ein epigenetischer Abdruck aus diesem und dem Leben unserer Vorfahren zugefallen ist, worin besteht die Hoffnung auf Veränderung? Wenn die Genexpression beeinflusst wird, kann sie, vor allem zum Besseren, verändert werden? Ist Heilung auf epigenetischer Ebene möglich? Die Forschung zeigt in zunehmendem Maße, dass unterstützende Veränderung, vor allem in der Stressregulierung, tatsächlich geschehen kann. Einige dieser Untersuchungen haben positive Veränderungen in der Genexpression von Menschen nachgewiesen. Dass auch negative Belastungen im Erwachsenenalter reversibel sein können, bestätigen Veränderungen, die bei Auswirkungen mangelnder mütterlicher Fürsorge auf die aus dem Hippocampus entstehenden angstverbundenen Verhaltensweisen bei Ratten beobachtet worden sind (Weaver, Meaney u. Szyf, 2006). Wenn wir uns mit Epigenetik beschäftigen und damit, wie die Nachwirkungen von Traumata von Generation zu Generation weitergegeben werden, kann man Hellingers nachdrückliches Bestehen auf der Herkunftsfamilie bei der Aufstellungsarbeit in einem neuen Licht sehen (vgl. den Beitrag von T. Meyburgh in diesem Band). Die Frage, die Systemaufsteller bei ihrer Arbeit häufig stellen, lautet: »Was ist dieser Familie zugestoßen, und wie hat es den Ratsuchenden berührt?« Im Hinblick auf eine langfristige positive Veränderung gibt es weitere grundlegende Fragen, wie etwa »Wenn der Ratsuchende dieses Problem klar sehen kann, wird es sich vom impliziten zum expliziten Wissen hin bewegen?« und »Wird diese Leidenslast durch das Sehen behoben werden?«. Und in gesundheitsbezogenen Aufstellungen: »Kann die Beziehung des Ratsuchenden zu dieser Gegebenheit erleichtert und erhellt werden, oder kann dieser Umstand sogar geheilt werden durch die Teilnahme an dieser Arbeit, nachdem © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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es ein wissenschaftlich begründetes Fundament für die Möglichkeit einer positiven Veränderung des Immun- und Stresssystems gibt?« Im Bereich der Traumaheilung wird die Neubewertung nach einem Trauma oft mit »posttraumatischem Wachsen« bezeichnet, entsprechend dem posttraumatischen Stress. Schauen wir, wie Aufstellungen diese Transformationsphase erleichtern, gleich, ob es sich beim ursprünglichen Trauma nun um eine Einfach-, Mehrfach- oder generationsübergreifende Traumatisierung handelt. Trauma: posttraumatisches Wachsen (noch einmal Neubewertung) Vivian: Ich wunderte mich, wie »Nervensystem« wusste, dass meine Haut brannte, einfach so? Und wie konnte »Nervensystem« der Schwere und dem Schmerz standhalten, die auf ihm lasteten? Wie konnte »Beschützer« die Hand von »Gefahr« mit solcher Behutsamkeit und Akzeptanz ergreifen? Wie konnte »Clemie« sich so tapfer schlagen, um vor »Gefahr« zu beschützen? Wie konnte sie mit so tröstlicher Solidarität die Hand meines erwachsenen Selbst halten? In jenem Augenblick erschütternd blendender Offenbarung wurde aus Blindheit Sehen. »Gefahr« ist nichts als ein Teil von mir, der sehnlichst gesehen, wertgeschätzt und in warmer Akzeptanz geborgen sein möchte.
Von Menschen, die in ihren traumatischen Erlebnissen einen Sinn finden, sagt man, sie seien im »posttraumatischen Wachsen« begriffen, im Gegensatz zu der bekannteren Reaktion, dem »posttraumatischen Stress«. Ersteres geschieht, wenn das Gehirn beim Sinnieren über das Trauma genügend unterstützt wird, sodass es sich weiterhin zu helfen weiß. Wenn wir von Gefühlen überwältigt werden, wenn wir dissoziieren oder einfach zurückfallen und in einer Endlosschleife das Trauma immer wieder durchspielen, dann bleiben dem Gehirn nicht genügend Ressourcen, um einen Sinn herzustellen. Ist das Nervensystem einmal herausgeführt aus einem Zustand erstarrter Hoffnungslosigkeit, schrecklicher Angst, der Überflutung, Verwirrung oder Bewusstseinsspaltung – einer der Gründe dafür, dass es für den Systemaufsteller wichtig ist, über Trauma Bescheid zu wissen –, dann kann das Gehirn ein Zeitgefühl und eine differenzierte Selbstwahrnehmung wiedergewinnen in Bezug auf den © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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traumatischen Vorfall oder die Beziehung, und dann wird Sinnfindung möglich. Dann wird auch Sinnfindung gemäß der Salutogenese möglich. Wir können sagen, dass Menschen Sinn finden und posttraumatisches Wachsen erleben, wenn sie in Verbindung mit dem Trauma Dinge wahrnehmen, die sie nie gewusst haben; wenn sie Mitleid haben mit den anderen Stellvertretern; oder wenn sie anfangen, über globale Auswirkungen und Folgen ihres Traumas nachzudenken. Beispiele: ȤȤ Eine Frau, die vergewaltigt worden war, konnte nicht erklären, wie ihr Vergewaltiger sie erwischt hatte. Nach ihrer Aufstellung war sie in der Lage, die ganze Ereignisfolge zu erinnern. ȤȤ Ein Mann, der vier Stunden in seinem Auto eingeklemmt gewesen war und mit dem hydraulischen Rettungsspreizer befreit werden musste, hatte immer gedacht, er sei in jener Zeitspanne allein gewesen. Nach seiner Aufstellung wusste er wieder, dass ein Nachbar herausgekommen und die ganze Zeit über bei ihm geblieben war. Eines der Geschenke der Aufstellungsarbeit wird im nächsten Abschnitt über Bert Hellingers Konzept von den Ordnungen der Liebe (Hellinger, 1998) vorgeführt, die posttraumatisches Wachsen unterstützen, indem sie Klienten aus jenen Lebenskräften herauslösen, die überwältigenden impliziten Schmerz verursachen.
Abschnitt 3: Wie die Ordnungen der Liebe zur Heilung beitragen Ordnungen der Liebe: Zugehörigkeit Als menschliche Natur sind wir geschaffen, uns sozial zu verhalten, uns zugehörig zu unserer Familie, zu gesellschaftlichen und Interessengruppen zu fühlen. Das Bedürfnis, dazuzugehören, geht so tief, dass es eine schwere Belastung für unsere Gesundheit darstellen kann, wenn wir merken, dass wir ausgeschlossen sind. Eine andauernde Empfindung von Ablehnung oder Isolation kann sogar die DNA-Übertragung in unseren Immunzellen schädigen. Diese Störung beeinträchtigt auch das Denken, die Willenskraft und Ausdauer ebenso wie unsere Fähig© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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keit, soziale Signale zu verstehen und soziale Tugenden auszuüben. Sie beschränkt auch unsere Fähigkeit, die eigenen Emotionen innerlich zu regulieren. Das alles kann sich verbinden und uns in Verhaltensweisen der Verteidigung gefangen halten, die wiederum die Isolation und Ablehnung verstärken, die wir fürchten (Cacioppo u. Patrick, 2012). Soziale Ablehnung kann eine Depression auslösen, wahrscheinlich über eine anhaltende Entzündung, die aufgrund von Glucocorticoid-Widerstand, Catecholaminen, sympathischer Innervation der Immunorgane und von Immunzellenalterung auftritt (Kiecolt-Glaser, Gouin u. Hantsoo, 2009; Slavich, O’Donovan, Epel u. Kemeny, 2010). Wenn mithilfe einer Aufstellungsarbeit die Mitglieder eines Systems erkannt und reintegriert werden, wird deren Zugehörigkeit wiederhergestellt. Diese wohltuende Qualität der Verbindung wird spürbar den Raum durchschwingen. Wir brauchen weitere empirische Forschung, die Grade von Entzündungen vor und nach wirksamen Aufstellungsprozessen untersucht. Es wäre interessant zu sehen, wie hoch die Grade unmittelbar nach einem solchen Prozess sind und wie einige Monate später. Ordnungen der Liebe: Vorrang Die nächste Ordnung der Liebe ist »Vorrang«. Darin kommt die Vorstellung zum Ausdruck, dass ein System besser funktioniert, wenn es einen Fluss der Liebe von den Älteren zu den Jüngeren gibt und wenn Stellung, Autorität und zeitlicher Vorrang geachtet werden. Einer der berühmtesten heilenden Sätze in der Aufstellungsarbeit lautet: »Du bist klein und ich bin groß. Du bist das Kind und ich deine Mutter/ dein Vater.« Die Wissenschaft nennt die Rollenverkehrung vom Kind, das sich um einen Elternteil kümmert, »Parentifizierung«, und zu ihren Wirkungen zählt auch, dass elternverstrickte (parentifizierte) Kinder leichter Opfer körperlichen Missbrauchs werden (Bekir, 1993). Weil diese Beziehung von Klein und Groß so wichtig ist und weil der Einfluss einer warmherzigen Mutter gesundheitliche Schäden aufgrund sozioökonomischer Benachteiligung ausgleichen kann, ist Transformation in diesem Bereich sehr hilfreich. Der kanadische Epigenetikforscher Moshe Szyf sagt: »Unsere Mutter ist uns eingeschrieben in jede Zelle unseres präfrontalen Cortex« (Szyf, 2013, Übers. S. P.). Wenn wir unsere Beziehung zur Mutter also sozusagen im Verlauf von © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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posttraumatischem Wachsen nach einer Aufstellungsarbeit umschreiben können, stärken wir unsere Gesundheit und unser Immunsystem. Ordnungen der Liebe: Ausgleich von Geben und Nehmen Die dritte Ordnung der Liebe ist der »Ausgleich von Geben und Nehmen«, womit das Bedürfnis von Säugetieren nach Fairness in Beziehungen angesprochen wird. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass sogar Primaten reagieren, wenn Ressourcen unfair verteilt werden (Watson u. Platt, 2006). Bei Menschen ist eine Wirkung auf das Immunsystem erkennbar, abhängig davon, ob explizite und implizite Versprechen im Arbeitsbereich fairerweise auch tatsächlich eingehalten werden (Shain, 2001). Der Ausgleichseffekt von Anerkennung ist ein fest verankerter Teil der Aufstellungsarbeit und könnte ein weiterer Faktor sein, der zur Gesundheit von Klienten beiträgt. Ebenso kann Abhilfe bei sozialem Scheitern unter die Überschrift »Ausgleich von Geben und Nehmen« gefasst werden. Chronisches soziales Scheitern gefährdet Zellen im Freudezentrum des Gehirns, dem Nucleus accumbens, was bei Mäusen zu Depression und angstähnlichen Zuständen führt (Christoffel et al., 2012). Die Beruhigung und Wiederaufrichtung eines Menschen dank effektiver Aufstellungsarbeit sind Gegenmittel bei sozialem Scheitern. Da immer mehr Forschung betrieben wird zu den positiven und anhaltenden Veränderungen im Gehirn, die durch Aufstellungsarbeit herbeigeführt werden können, werden wir sehen, dass die Verbindungen zwischen Schädigungen des Immunsystems und Veränderungen auf zellulärer und epigenetischer Ebene direkt hergestellt werden können, statt sie aus Untersuchungen schließen zu müssen, die die negativen Gesundheitsfolgen aufzeigen – von eben jenen Gegebenheiten, denen sich die Aufstellungsarbeit zuwendet.
Fazit: Aufstellungen als Beitrag zu einem umfassenderen Bild von Heilung Vivian: Meine Heilung verdanke ich nicht nur den Aufstellungen, die ich bekam. Ich habe meine Gesundung auch ständig auf vielfache Weise unterstützt, z. B. durch Beratung, erhöhte Achtsamkeit mir selbst gegenüber, Entscheidungen in der Lebensführung, naturheilkundliche Unter-
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stützung und Physiotherapie. Aber ich merke, dass die Erkenntnisse, die ich aus meinen Aufstellungen gewann, als wahre Juwelen immer noch lebendig in mir sind, grundlegende Veränderungen, die sich unverwechselbar von anderen Heilungserfahrungen unterscheiden. Mir ist klar, dass diese dramatische Verbesserung meiner Gesundheit nur möglich geworden ist aufgrund der Integration meines emotionalen, mentalen, körperlichen und seelischen Befindens. Irgendwie spricht die Aufstellungsarbeit alle diese Aspekte meines Wesens an, und darum, glaube ich, ist meine im Ganzen verbesserte Gesundheit möglich geworden.
Der Einfluss von negativen Emotionen und stressigen Erfahrungen auf die Gesundheit ist gründlich erforscht worden, und die gesundheitsfördernde Rolle positiver Emotionen und herzlicher, stärkender Gemeinschaft wird zunehmend untersucht, wie wir in diesem Beitrag gesehen haben. Eine Entzündung, die gemeinsam mit negativen Emotionen auftritt, ist in Zusammenhang gebracht worden mit Herz-Kreislauf-Erkrankung, Osteoporose, Arthritis, Typ-2-Diabetes, einigen Krebserkrankungen, Alzheimer, Gebrechlichkeit und Funktionsabbau sowie Parodontose. Zudem sind negative Emotionen mit ein Grund für länger andauernde Infektionen und verzögerte Wundheilung (Kiecolt-Glaser, McGuire, Robles u. Glaser, 2002). Ausdruck von Emotionen und Unterstützung bei aktiver Problembewältigung haben erwiesenermaßen die Überlebenschancen bei Brustkrebs und Melanomen erhöht. Diese Ergebnisse legen die Vermutung nahe, dass der Ausdruck von Emotionen zu einem Ausgleich im Neuropeptiden-Rezeptor-Netzwerk führt und damit auch zu einem funktionierenden Heilungssystem (Pert, Dreher u. Ruff, 1998). Es gibt viele andere Ressourcen und Arten medizinischer Unterstützung, die zu Gesundheit und Wohlbefinden beitragen; Aufstellungen sind ein außerordentlich wirksames Zusatzmittel, um langfristige Stabilität und gute Beziehungen zum eigenen Selbst und zu anderen zu fördern. Obgleich Aufstellungen kaum direkt wissenschaftlich erforscht worden sind, wissen wir, dass die Ressourcen, die im Verlauf von Aufstellungen zugänglich und gestärkt werden, Beziehungen erleichtern, negative Emotionen verringern und durch ihre positiven Auswirkungen auf die Immun- und endokrine Regulierung die Gesundheit verbessern. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Franz Ruppert
Trauma, Gesundsein und »Krankheit« – wie Aufstellungen mehr Klarheit bringen können
Psychisch gesund sein Es ist seit Längerem bekannt, dass »Gesundheit« nicht mit der Abwesenheit von »Krankheit« gleichzusetzen ist (Fröschl, 2000). Gesundheit entsteht auch nicht automatisch, wenn »Krankheits«-Symptome beseitigt werden. Ohnehin ist es klarer, von Gesundsein zu sprechen, weil damit deutlicher zum Ausdruck gebracht wird, dass es hier nicht um einen abstrakten Zustand geht, sondern um die Art und Weise, das eigene Leben zu realisieren. Auch für uns Psychotherapeuten braucht es ein eigenes theoretisches Konzept, das definiert, was »psychisches Gesundsein« bedeutet. Eine Orientierung an Kategorien der Psychopathologie allein, wie sie etwa im DSM oder ICD aufgelistet sind, hilft nicht, um mit Menschen therapeutisch so zu arbeiten, dass sie wirklich gesund werden und es auch bleiben. Im Gegenteil: Psychopathologie-Kategorien sind oft die Grundlage dafür, Menschen psychisch noch kränker zu machen, als sie es schon sind. Eine Diagnose wie »Schizophrenie« oder »Borderline-Persönlichkeitsstörung« kann für einen Menschen eine schwere Kränkung seines Selbstwerts darstellen und ihn dazu verleiten, sich selbst aufzugeben und seine Bemühungen, wieder in einen Zustand des Gesundsein-Könnens zu gelangen, einzustellen. Meiner psychotherapeutischen Arbeit liegt ein Konzept psychischer Gesundheit zugrunde, das u. a. die grundlegenden Überlegungen von Daniel Siegel aufgreift. Die einzelnen psychischen Funktionen, die Realität zu erfassen und auf sinnvolle Weise relevante Informationen auszuwählen und weiterzuverarbeiten, müssen gut zusammenpassen. Der Fluss der Energien, welche die psychischen Informationsverarbeitungsprogramme voranbringt, darf nicht © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
F. Ruppert: Trauma, Gesundsein und »Krankheit«157
gestaut sein. Die Informationen müssen sich untereinander vernetzen und sich zu einem sinnvollen Ganzen fügen. Eine gesunde Psyche ist nach Daniel Siegel (2010, S. 352 ff.) energievoll, stabil, integriert, kohärent und komplex organisiert. Sie ist weder zu starr noch zu flexibel, sie ist maximal offen für Neues und führt dennoch nicht ins Chaos.
Trauma als Ursprung vielfältiger körperlicher und psychischer Symptome Im Kern gehe ich von der Annahme aus, dass psychische Auffälligkeiten, vor allem wenn sie chronisch vorhanden sind, die Folgen von psychischen Traumatisierungen sind. Psychisches Gesundsein ist demnach auch nur dann wieder erreichbar, wenn bereits gemachte traumatisierende Lebenserfahrungen in das Gesamtsystem der Psyche eines Menschen integriert werden können oder sich die betroffenen Menschen aus Beziehungskontexten lösen, die sie weiterhin und fortlaufend psychisch traumatisieren. Die Erkenntnisse, die ich aus meiner nunmehr 20-jährigen Tätigkeit als Psychotherapeut diesbezüglich gewonnen habe, habe ich in einer Theorie zusammengefasst: der mehrgenerationalen Psychotraumatologie, deren Grundkonzepte ich sukzessive in mehreren Büchern veröffentlich habe (Ruppert, 2001, 2002, 2005, 2007, 2010, 2012, 2014). Gemäß dieser Theorie gibt es im Prinzip drei Zustände eines lebendigen menschlichen Organismus, der ein Netzwerk von Materie, Energie und Information darstellt: 1. Zustände psychischen Gesundseins (»Wohlfühlzustände«), in denen sich ein Mensch nicht bedroht fühlt und deshalb für seine Umwelt offen ist und sich von dieser auch gut abgrenzen kann. 2. Stresszustände, in denen ein Mensch von Gefahren bedroht ist und daher besonders aktiviert und darauf fokussiert ist, diese möglicherweise äußerst schädigenden Einwirkungen auf ihn abzuwehren. 3. Traumazustände, in die der Organismus gerät, wenn die Bedrohungen aus seiner Umwelt übermächtig geworden sind, er sich mit seinen Stressabwehrreaktionen nicht mehr schützen kann © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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und seine Lage sogar noch verschlimmert, wenn er dies weiterhin versucht. Daher muss er die auf Hochtouren laufenden Stressreaktionen in sich zur Ruhe bringen, um seine Überlebenswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Um dies zu erreichen, muss er wesentliche seiner psychischen Funktionsbereiche blockieren: die Wahrnehmung muss abgeschaltet, das Fühlen eingefroren werden, das Denken muss wegdriften und das Handeln muss unterbunden werden. Der innere Zusammenhang des lebendigen Organismus geht durch die Auflösung seiner psychischen Integration verloren. Eine wesentliche Folge davon kann es sein, dass sich Körper und Psyche in weiten Bereichen voneinander trennen. Dauerhafter Stress, d. h. das fortgesetzte Erleben von Bedrohungen, ist eine Hauptquelle von körperlichen wie psychischen Symptomen, die wiederum enorme soziale Auswirkungen haben. Gestresste Menschen sind eher nur geringfügig beziehungsfähig und provozieren leicht zwischenmenschliche Konflikte. In meinem Modell ist dauerhafter Stress eine wesentliche Folge der Aufspaltung des lebendigen Organismus nach einer Traumaerfahrung, so gesehen also eine Traumafolgestörung. Hat ein Mensch einmal eine Traumaerfahrung gemacht, so erhöht dies auch das Risiko, dass er auch aufgrund seines eigenen Verhaltens weitere Traumaerfahrungen in seinem Leben macht. Teilweise, weil er durch die Verdrängungsmechanismen blind für Realitäten wird (z. B. beim übermäßigen Konsum von Medikamenten) oder weil er selbst Beziehungsrealitäten erzeugt, die fremd- und selbstschädigend sind. Ein Mensch hat nach einer Traumaerfahrung drei unterschiedliche Programme in seiner Psyche am Laufen (siehe Abbildung 1): 1. Programme, die den Zustand in der Traumasituation weiterhin repräsentieren, selbst wenn sich die äußeren Umstände bereits verändert haben (»traumatisierte Anteile«); 2. Programme, die darauf ausgerichtet sind, die Abspaltung der traumatisierten Anteile aus dem Bewusstsein und Handeln zu leisten (»Überlebensstrategien«); 3. Programme, die trotz der Traumaerfahrung weiterhin gesunde Funktionsanteile darstellen (»gesunde Anteile«). © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Spaltungen der Struktur eines lebendigen Organismus nach einer Traumaerfahrung Überlebensanteile
Traumatisierte Anteile
Gesunde Anteile
Abbildung 1: Spaltung der Struktur eines Menschen nach Traumatisierungen
Abgeleitet aus vielen psychotherapeutischen Arbeiten sind für mich folgende Merkmale wesentlich für eine gesunde Psyche: ȤȤ Die Wahrnehmung ist offen für die Realität. ȤȤ Die Gefühle sind den jeweiligen äußeren und inneren Gegebenheiten angemessen, d. h., sie können innerlich reguliert werden. ȤȤ Das Denken ist an Wahrheit und Klarheit orientiert. ȤȤ Die eigene Identität ist klar und abgegrenzt. ȤȤ Bedeutsame Erlebnisse können erinnert werden. ȤȤ Die Möglichkeiten des eigenen Handelns können klar eingeschätzt werden. ȤȤ Beziehungen zu anderen sind konstruktiv und werden beendet, wenn sie destruktiv werden. Menschen mit Traumaerlebnissen haben neben ihren gesunden zwei weitere psychische Strukturen in sich: ȤȤ einen emotionalen Brandherd, d. h. das psychische Erleben des Traumas; ȤȤ eine Feuerwehr, welche diesen Brandherd zu löschen oder zumindest dessen Wiederaufflammen zu verhindern versucht – die Überlebensanteile.
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In diesen beiden psychischen Strukturen steckt nach meiner Theorie das Reservoir für all das, was als Symptome in Erscheinung treten kann. Wenn die traumatisierten Strukturen in das Erleben und Handeln kommen, macht sich dies z. B. als »Panik« bemerkbar mit Symptomen wie Herzrasen, Herzrhythmusstörungen, Durchfall, Schweißausbrüche, Verdauungsprobleme, ungezügelte Aggressivität oder abgrundtiefe Trauer und Verzweiflung. Die Überlebensstrategien, die sich in einem Dauerstresszustand befinden, um die traumatisierten Anteile in Schach zu halten, produzieren ihrerseits eine Unzahl von Symptomen, z. B.: ȤȤ Schmerzen und Verwirrung, um abzulenken; ȤȤ Medikamenten- und Drogenkonsum, um sich noch intensiver zu betäuben; ȤȤ körperliche Überanstrengungen, die zum frühzeitigen Verschleiß von Gelenken und Organen führen; ȤȤ mentale und psychische Überforderungen, die in einem »Burnout« landen. Wenn wir die Symptome betrachten, die als »psychische Krankheiten« klassifiziert werden, so ist der gesamte Katalog an Symptomen im DSM-V in weiten Bereichen nichts weiter als die Auflistung der vielfältigen Trauma-Überlebensstrategien, welche Menschen zur Kontrolle ihrer traumatisierten Strukturen einsetzen. Der kleinere Teil der DSM-V-Diagnosen verweist unmittelbar auf traumatisierte Anteile (z. B. Panikattacke). Die Symptome, die aus den traumatisierten Strukturen kommen und aus ihren Gegenspielern, den Überlebensstrategien, sind nach meinen Erfahrungen je nach zugrunde liegender Traumatisierung spezifisch. Ich unterscheide in meiner Theorie verschiedene Formen von Trauma. Grundsätzlich gilt es zwischen ȤȤ »Schocktraumata«, also plötzlich eintretenden Traumaerlebnissen, und ȤȤ »Beziehungstraumata« zu unterscheiden. Ein Schocktrauma erleiden wir z. B. bei einem Autounfall oder dem plötzlichen Tod einer geliebten Person. Beziehungstraumata hingegen dauern an, z. B. innerhalb einer Paarbeziehung oder einer Eltern-Kind-Beziehung. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Eine andere Kategorisierung in meiner Theorie unterscheidet vier Traumaarten: ȤȤ das Existenztrauma, ȤȤ das Verlusttrauma, ȤȤ das Symbiosetrauma, ȤȤ das Bindungssystemtrauma. Existenz- und Verlusttraumata rufen meist Schockzustände hervor. Für Existenz- und Verlusttrauma habe ich zuvor schon Beispiele genannt. Symbiose- und Bindungssystemtraumata sind verschiedene Formen von Beziehungstraumata und belasten Menschen oft ein ganzes Leben lang. Von einem Symbiosetrauma spreche ich, wenn ein Kind nicht in der Lage ist, die lebensnotwendige sichere Bindung an seine Mutter und eine stabile und Halt gebende Beziehung zu seinem Vater zu bekommen. Was immer es versucht, es scheitert mit all seinen Bemühungen an seinen Eltern, weil diese aufgrund ihrer eigenen Traumatisierung nicht in der Lage sind, dem Kind den emotionalen Kontakt anzubieten, den es für seine Stabilität und sein psychisches Wachstum braucht. Ich stelle deshalb insbesondere die Mutter-Kind-Bindung in den Mittelpunkt, weil die Mutter die erste Person ist, an welche sich das Kind bereits vorgeburtlich bindet. Alle anderen Bindungen geschehen erst danach. So auch die Vater-Kind-Bindung, die unter Umständen emotional sehr intensiv sein kann, die jedoch immer unter dem Einfluss der Qualität der Mutter-Kind-Bindung steht, selbst wenn der Vater schon während der Schwangerschaft Kontakt mit dem Kind aufnimmt. Diese besondere Rolle von Müttern muss auch theoretisch ihren Ausdruck finden. In der Praxis der Psychotherapie ergibt es sich ohnehin, dass viel mehr Patienten unter ihrem verstrickten Verhältnis mit ihrer Mutter leiden als an ihrer Bindung zu ihrem Vater, die selbstverständlich auch eine traumatisierende Qualität haben kann. Bei einem Symbiosetrauma findet eine Umkehr des Eltern-Verhältnisses statt. Das Kind sorgt sich um das Wohlergehen seiner Mutter und opfert seine ganze Energie und Kraft dafür auf, seine traumatisierten Eltern zu stabilisieren. Es macht alles dafür, um in © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Kontakt mit ihnen zu kommen. Es identifiziert sich dafür sogar mit den abgespaltenen traumatisierten Anteilen seiner Eltern. Daneben kopiert es auch deren Überlebensanteile. Eine wichtige Folge des Symbiosetraumas ist es auch, dass sich das Kind an Ersatzpersonen bindet, wenn es bei seiner Mutter keinen sicheren Halt findet. So kann es geschehen, dass ein Kind anstelle der Mutter bei seinem Vater seine symbiotischen Bedürfnisse zu befriedigen versucht. Ist der Vater dazu in der Lage, ist das für das Kind eine große Hilfe. Da sich jedoch traumatisierte Frauen meist auch traumatisierte Männer suchen, kann es leicht geschehen, dass das Kind bei seiner Suche nach Halt vom Regen in die Traufe gerät. Seit einiger Zeit verwende ich auch folgende Unterscheidung, um die Arten von Traumata anhand des Themas »Gewalt« zu charakterisieren, unter dem wir Menschen hauptsächlich zu leiden haben (siehe Abbildung 2): ȤȤ Traumatisierungen durch Naturgewalten, ȤȤ Traumatisierungen durch Menschengewalt, ȤȤ Traumatisierung der Liebe, ȤȤ Traumatisierung der Sexualität.
Traumatisierung durch Naturgewalten
Traumatisierung durch Menschengewalt
Traumatisierung der Sexualität Traumatisierung der Liebe
Abbildung 2: Traumatisierungen aufgrund von Gewalt
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Die »Traumatisierung der Liebe« entspricht in weiten Teilen dem Konzept des Symbiosetraumas. Mit der Hereinnahme des Begriffs »Liebe« soll verdeutlicht werden, dass es sich hier um Traumatisierung in einem Bereich handelt, der zum Kern menschlicher Existenz und grundlegender Bedürfnisse gehört. Wenn wir nicht mehr lieben können, wenn wir vielleicht von Anfang an nicht lernen, was eine gesunde Form von Liebe ist, sind wir nicht bindungs- und beziehungsfähig. Das hat bedeutende Auswirkungen auf unser gesamtes Lebensgefühl und die Anstrengungen, die wir unternehmen, um in Paar-, Familien- oder Arbeitsbeziehungen sein zu können. Bei einer »Traumatisierung der Liebe« ist der Kontakt mit anderen Menschen fundamental gestört, wir grenzen uns entweder zu viel ab, ziehen uns extrem zurück und vermeiden Kontakt oder wir sind übergriffig, können die Grenzen anderer nicht respektieren und verschmelzen symbiotisch mit ihnen. Oft bildet die »Traumatisierung der Liebe« die Grundlage für »die Traumatisierung der Sexualität«. Wenn z. B. ein Kind von seiner Mutter den Körperkontakt und die emotionale Zuwendung nicht bekommt, die es dringend benötigt, wenn es zudem von seiner Mutter nicht ausreichend in Schutz genommen wird, wird es leicht zu einer Beute von den Menschen in seiner Umgebung, die ein sexuelles Interesse an ihm haben. Sexueller Missbrauch ist dann oft die Folge mit verheerenden Konsequenzen für das Kind. Die Symptomatik »Magersucht« ist eine mögliche Konsequenz davon. Die Symptomatik »Magersucht« entsteht nach meinen Erfahrungen aus der Arbeit mit Betroffenen in vielen Fällen, ȤȤ weil das Kind seinen Körper für den Missbrauchstäter unattraktiv machen möchte; ȤȤ weil es die Reaktionen seines Körpers unter Kontrolle bringen möchte, damit der Körper bei der erzwungenen sexuellen Stimulation nicht länger mit Lust reagiert; ȤȤ weil es sich vorstellt, ein Leben ohne seinen Körper führen zu können; ȤȤ weil es über den sexuellen Missbrauch nicht sprechen möchte und kann und weiterhin die Anerkennung seiner unnahbaren Mutter über Leistung und Erfolg bekommen möchte.
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»Krankheit« als Konstrukt Kopfschmerzen, Bluthochdruck, Krebs, Fibromyalgie, Rheuma, Ängste, Niedergeschlagenheit, Demenz … die Liste der körperlichen oder psychischen Symptome, die wir als »Krankheiten« bezeichnen, ist nahezu unendlich. Und sie wird immer länger: In der Neuauflage des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen, dem DSM-V, hat im Vergleich zur Vorgängerversion bereits wieder ein Zuwachs stattgefunden. Beispielsweise gibt es jetzt die »Krankheit« der »unangemessenen Wut«. Das Denken in »Krankheits«-Kategorien ist jedermann geläufig und selbstverständlich. Umso wichtiger ist es jedoch, dieses Konstrukt »Krankheit« auch kritisch zu hinterfragen. Denn in vielen Fällen handelt es sich, logisch betrachtet, lediglich um eine Tautologie, einen »weißen Schimmel«: Das Phänomen, z. B. heftige Kopfschmerzen, wird zu einer Krankheit erklärt, oft unter Zuhilfenahme eines lateinischen oder griechischen Namen, z. B. Migräne, sodass vor und nach dem Gleichheitszeichen zwar formal Unterschiedliches steht (heftige Kopfschmerzen = Migräne), inhaltlich aber das Gleiche. Die tautologische Gleichsetzung eines Symptoms mit einer »Krankheit« hat mehrere praktische Folgen: ȤȤ Die möglichen Ursachen, warum es dieses Symptom gibt, werden nicht mehr hinterfragt. ȤȤ Das betreffende Symptom wird nun als »Krankheit« sozial anerkannt. ȤȤ Aus dieser Anerkennung folgen Rechte und die Verpflichtung, dieses Symptom ärztlich zu behandeln. ȤȤ Diese Behandlungen sind aus Krankenversicherungsbeiträgen zu bezahlen. Das wäre an sich soweit nicht weiter verwerflich, hätte das ganze Verfahren nicht einen entscheidenden Nachteil: Weil Symptome als »Krankheiten« klassifiziert werden, setzt auch die Behandlung an den Symptomen an. Der Arzt oder Psychotherapeut, der den Auftrag hat, die »Krankheit« zu behandeln, soll durch seine Maßnahmen das Symptom entweder ganz beseitigen oder es zumindest so weit reduzieren, dass es nicht mehr stört. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Wird also z. B. bei einer Jugendlichen, die nichts mehr isst, eine »Magersucht« (Anorexia nervosa) als ihre Krankheit diagnostiziert, so setzt die Krankheitsbehandlung folglich daran an, diese Jugendliche wieder zum Essen zu motivieren und sie notfalls per Zwang zu ernähren. Selbst wenn diese junge Frau dann an Gewicht zugenommen hat, ändert das nichts an ihrer inneren Haltung zu sich selbst – sie lehnt ihren Körper weiter ab – und erst recht ändert eine solche Krankheitsbehandlung auch nichts an den symbiotisch verstrickten familiären Beziehungen, unter denen sie aller Wahrscheinlichkeit nach bei einer solchen Symptomatik leidet. Ohnehin geht es bei dem Konstrukt »Krankheit« nicht um den kranken Menschen, sondern um seine Symptome. Wenn wir also das Konzept »Krankheit« als Arzt, Therapeut oder Sozialarbeiter nicht nur aus einem blinden Helferidealismus heraus verwenden, um andere Menschen von ihren Symptomen zu befreien oder um damit unseren Lebensunterhalt zu verdienen, müssen wir eine andere Frage stellen: Was sind die Ursachen für die Symptome, unter denen ein Mensch leidet? Warum gibt es bei manchen Menschen zwar genau dieselben Symptome wie bei anderen, aber sie leiden gar nicht darunter? Welche Funktion erfüllen diese Symptome möglicherweise? Was wäre, wenn diese Symptome nicht mehr da sind? Ist dieser Mensch dann »gesund«?
»Krankheits«-Symptome als Folgen von symbiotischen Verstrickungen Nach meinen Erfahrungen speisen sich auch viele der »Krankheits«Symptome, die bei Menschen auftreten, aus symbiotischen Verstrickungen, die eine Folge von Traumata sind. Beim »Trauma der Liebe« verbindet sich das Kind über das Symptom mit seiner traumatisierten Mutter. Es leidet zwar unter diesem Symptom, kann es aber nicht loslassen, weil es sonst den Kontakt zu seiner Mutter vollständig verlieren würde und aufgeben müsste. Beim »Trauma der Sexualität« befindet sich ein Mensch in einer Täter-Opfer-Spaltung. Er leidet unter einer Vielzahl von Symptomen, deren Ursprung er aber nicht sehen möchte, weil ihm sonst die ganze Tragweite seines Opferseins bewusst werden würde. Oft lebt © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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er sogar noch in einer Beziehung mit dem Täter bzw. den Mittätern und müsste diese Beziehungen eigentlich beenden. Statt zu gehen, erscheint es daher leichter, sich in Krankheitssymptome zu flüchten und in eine Krankenrolle zu begeben, um einerseits den Täter vor weiteren Attacken abzuhalten und andererseits in der Beziehung mit dem Täter bleiben zu können. Beim Bindungssystemtrauma wird am klarsten, warum die Theorie der Psychotraumatologie mehrgenerational angelegt sein muss. Manche Kinder werden in Familien hineingeboren, die von TäterOpfer-Beziehungen durchsetzt sind. Um in einem solchen System von Paar- und Eltern-Kind-Bindungen zu überleben, bleibt dem Kind zunächst keine andere Wahl, als selbst Opfer und/oder Täter zu sein. Es entwickelt daher die entsprechenden Opfer- und Täterhaltungen als Trauma-Überlebensstrategien. Erst wenn ein Mensch aus solchen Beziehungssystemen aussteigt, kann er sich aus seiner verinnerlichten Täter-Opfer-Spaltung befreien und ein Leben jenseits von Täter- und Opferhaltungen anstreben.
Das Aufstellen des Anliegens Ich bin 1994 mit dem Familienstellen in Kontakt gekommen, das von Bert Hellinger in seiner Struktur und inhaltlichen Umsetzung in Büchern und öffentlichen Veranstaltungen bekannt gemacht wurde (Weber, 1995). Ich imitierte für eine gewisse Zeit Hellingers Vorgehensweise, um allerdings mehr und mehr zur Einsicht zu gelangen, dass das Familienstellen in Gefahr ist, symbiotische Illusionen einer heilen Familie zu bedienen, als den Realitäten menschlicher Beziehungen tatsächlich ins Auge zu sehen. Es muss daher im Einzelfall genau hingesehen werden, auf welcher Theoriebasis die Methode des Familienstellens angeboten wird. Seit dem Jahr 1998 entwickelte ich Schritt für Schritt meine eigene Theorie, um mit der Aufstellungsmethode zu arbeiten, welche sich stark an die Bindungstheorie (Bowlby, 2006a, 2006b, 2006c; Brisch, 2014) und an die Traumatheorie anlehnt (Fischer u. Riedesser, 1998; Levine, 1998, 2011; Herman, 2003; Huber, 2003, 2013; Putnam, 2003). Mit dem Fortschreiten meiner theoretischen Erkenntnisse änderte sich auch der Einsatz der Aufstellungsmethode, welche ich nach wie © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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vor als eine hervorragende Methode einschätze, um das innere psychische Geschehen im Außen strukturiert sichtbar zu machen und um unbewusste, vorsprachliche und abgespaltene psychische Inhalte ans Licht zu bringen. Der Aufstellende kann in den Stellvertretern sich selbst in seiner ganzen Vielschichtigkeit begegnen und damit in einen Spiegelungs-Resonanz-Vorgang einsteigen, der fundamentale Veränderungen in ihm bewirken kann. Ich nenne meine Vorgehensweise mittlerweile nicht mehr »Familien«-Aufstellungen, auch nicht »System«-Aufstellungen, sondern »Trauma«-Aufstellungen, weil der Hauptfokus die Traumata sind, die hinter den von den Aufstellenden präsentierten Symptomen liegen, seien diese körperlicher, psychischer oder sozialer Natur. Seit 2009 arbeite ich mit einem Verfahren, welches ich »das Aufstellen des Anliegens« nenne, weil ich erkannt habe, dass es für eine gelingende Aufstellung unabdingbar ist, dass der Aufstellende sein eigenes Anliegen formuliert. Das Anliegen zeigt, wo er gerade steht, was ihn bewegt, wozu in seinem Inneren er Zugang hat, was er öffnen möchte und was nicht. Das Anliegen kann nach meinem Modell aus seinen gesunden Anteilen heraus formuliert sein oder aus seinen Überlebensstrategien. Wenn z. B. jemand möchte, dass ein Symptom, unter dem er leidet, verschwinden soll, kommt es darauf an, ob er sich für den Ursprung und die Funktion dieses Symptoms interessiert. Macht er dies, so kommt sein Anliegen aus seiner »gesunden Struktur«, möchte er hingegen gar nicht wissen, welche Botschaft das Symptom für ihn enthält, so kann man als Aufstellungsleiter davon ausgehen, dass der Klient (noch) an einer Überlebensstrategie festhält. Beim Aufstellen des Anliegens wählt der Klient zunächst einen Repräsentanten für sein Anliegen und stellt sich zu diesem in Position. Aus den Dialogen und Interaktionen zwischen dem Repräsentanten für das Anliegen und dem Klienten wird sichtbar, um was es geht und was in dieser Aufstellung an Veränderungsprozessen für den Aufstellenden möglich ist. Es gibt dabei drei grundsätzliche Varianten: ȤȤ Aus einem Anliegen, das zunächst eine Überlebensstrategie darstellt, wird am Ende der Aufstellung ein gesunder Anteil, d. h., der Klient erfährt durch die Aufstellung einen Zuwachs an gesunden © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Strukturen und macht damit einen weiteren Schritt, um seine Überlebensstrategien zu entmachten. ȤȤ Mithilfe eines Anliegens, das aus einer gesunden Struktur des Klienten kommt, wird ein Zugang zu einem traumatisierten Anteil im Klienten möglich. ȤȤ Das Anliegen ermöglicht die Stabilisierung eines bereits durch die Begegnung mit traumatisierten Anteilen erreichten gesunden Zustands. Auf der Basis meines Spaltungsmodells habe ich auch ein Veränderungsmodell entwickelt (siehe Abbildung 3). Integration der Spaltungen nach einer Traumaerfahrung
Tor zu den Traumagefühlen öffnen
Illusionen verringern
Stabilisierung und mehr Autonomie
Gesunde Anteile stärken
Abbildung 3: Das Veränderungsmodell der mehrgenerationalen Psychotraumatologie
Das Aufstellen des Anliegens und die Salutogenese »Verstehbarkeit«, »Handhabbarkeit« und »Bedeutsamkeit« sind die Hauptfaktoren des »Salutogenese«-Modells von Aaron Antonovsky (1997). Alle drei Dimensionen finden sich auch in meiner Sichtweise von den gesunden psychischen Strukturen wieder. Nur wenn unsere Psyche ihrer eigentlichen Funktion nachkommt, uns den Zugang zur äußeren wie inneren Realität zu erschließen, sind wir im gesunden © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Bereich. Wenn wir hingegen von unseren Trauma-Überlebensanteilen beherrscht werden, wird die Realität weitgehend ausgeblendet, und damit steigt das Risiko für weitere Traumatisierungen. »Bedeutsam« sind unsere Erfahrungen vor allem dann, wenn sie mit Emotionen verbunden sind. Sind wir von unseren Gefühlen abgeschnitten, macht vieles keinen Sinn und wir sind in einem Zustand innerer Leere, aus der heraus wir auch Dinge tun können, die uns und anderen schaden, ohne dass wir dies realisieren. Trauma-Überlebensstrategien versuchen diese Zustände der inneren Leere z. B. mit süchtig machenden Drogen zu füllen, was den Weg zu weiteren Traumatisierungen und »Krankheits«-Symptomen ebnet. Wenn wir unter »Verstehen« eher die kognitive Dimension meinen, so ist auch hier klar: Nur eine gesunde Psyche versteht tatsächlich, was in der Realität passiert. Hingegen versuchen die TraumaÜberlebensanteile teilweise sehr gezielt, nicht zu verstehen, was gerade geschieht, um sich vor Angst und Schmerz zu schützen. Sie kreieren sich dazu Scheinwelten, in denen sie ersatzweise zu leben versuchen. Sie nehmen den Realitätsverlust in Kauf, um nicht mit Erinnerungen an ihr Trauma konfrontiert zu werden. Sie sind es auch, die sich entlastet fühlen, wenn die Symptome, welche sie selbst erzeugen, nicht nach ihren Ursachen hinterfragt, sondern als »Krankheiten« bezeichnet werden. So kann man auch die Verantwortung für die eigene Gesundheit leicht an Experten delegieren und sich in eine Opferhaltung den eigenen Krankheiten gegenüber begeben. »Handhabbarkeit« ist die praktische Seite der gesunden Psyche: Wir sehen die Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen, um konkret zu handeln. Dieses Handeln ist zielgerichtet und löst die Probleme dort, wo sie lösbar sind. Nur die gesunden Strukturen sind auch in der Lage, sich mit der Realität des Traumas auseinanderzusetzen. Auch auf dieser Ebene folgen die Trauma-Überlebensstrategien einer anderen Logik: Sie sehen dort Handlungsmöglichkeiten, wo es keine gibt, und sie übersehen die Chancen, Probleme zu lösen, wenn sie sich anbieten. Sie sind entweder zu optimistisch oder zu pessimistisch. Sie sehen auch nicht die Möglichkeiten, Traumata zu heilen und präventiv zu verhindern, weil für sie Traumata nicht existieren bzw. zumindest bei ihnen selbst nicht vorhanden sind. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Weil durch die Aufstellungsmethode psychische Strukturen in ihrer ganzen Komplexität dargestellt werden können, kann auch im Einzelnen geprüft werden, ob bestimmte Maßnahmen, die ein Mensch ergreift, um seine Gesundheit zu fördern, ihn tatsächlich gesünder werden lassen oder ihn ggf. sogar noch weiter in seine psychischen Spaltungen hineinführen. Schon oft hat es sich in der Arbeit mit Klienten gezeigt, dass das, wovon sie bislang überzeugt waren, dass es für sie gesundheitsförderlich sei, im Grunde nur eine weitere Überlebensstrategie darstellt, um die Folgen eines Traumas besser aushalten oder kompensieren zu können. Das größte gesundheitsförderliche Potenzial hat nach allen bislang gemachten Therapieerfahrungen die Reintegration abgespaltener psychischer Strukturen, sodass bei einem traumatisierten Menschen vor allem Emotionen und Kognitionen nicht länger in einem Widerspruchsverhältnis zueinander stehen, sondern sich wieder sinnvoll ergänzen können (siehe auch den Beitrag von K. Huyssen in diesem Band).
Fazit Ich sehe die Hauptursache, weswegen Klienten meine psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen, darin, dass sie Traumaerfahrungen gemacht haben. Meist reichen diese Traumaerfahrungen weit in ihrer Biografie zurück, oft sogar bis hinein in den vorgeburtlichen Bereich. Hierfür verwende ich den Begriff des »frühen Traumas« (Ruppert, 2014). Körperliche wie psychische Auffälligkeiten (»Symptome«) sind daher per se keine eigenständigen »Krankheiten«, sondern Indikatoren, die eine Botschaft für den betreffenden Menschen parat haben – über Lebenserfahrungen, die nicht gut verarbeitet werden können bzw. konnten. Wenn z. B. Kinder Symptome zeigen, sollte dies auch ein deutliches Signal an ihre Eltern und Erzieher sein, dass nicht mit dem Kind etwas nicht in Ordnung ist, sondern dass das Kind in Beziehungen steckt, die ihm nicht guttun. Häufig zeigt sich, dass, wenn Mutter und/oder Vater an ihren eigenen Traumatisierungen arbeiten, die »Krankheits«-Symptome bei ihrem Kind auch verschwinden. Gesundheit kann demnach keinesfalls als Symptomfreiheit definiert werden. Gesundheit basiert in meinem Verständnis auf gesun© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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den Strukturen in einem lebendigen Organismus, welche sich aus der Art der Ernährung, der körperlichen Bewegung und vor allem aus den psychischen Programmen ergeben, mit denen ein Mensch seine zwischenmenschlichen Beziehungen erlebt und gestaltet. Nicht das Verleugnen oder Verdrängen von Traumata fördert die »Salutogenese«, sondern die gezielte, konsequente und kontinuierliche Aufarbeitung von bereits geschehenen Traumata und das Sichlösen aus traumatisierenden Beziehungskontexten. Wenn wir Menschen dann noch aufhören würden, uns weiterhin gegenseitig zu traumatisieren (z. B. durch Kriege, durch Gewalt in partnerschaftlichen und Eltern-Kind-Beziehungen), wäre das der bedeutendste Beitrag zum größtmöglichen Gesundsein aller Menschen.
Literatur Antonovsky, A. (1997). Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: dgvt-Verlag. Bowlby, J. (2006a). Bindung. München: Reinhardt. Bowlby, J. (2006b). Trennung. München: Reinhardt. Bowlby, J. (2006c). Verlust. München: Reinhardt. Brisch, K. H. (2014). Säuglings- und Kleinkindalter. Stuttgart: Klett-Cotta. Fischer, G., Riedesser, P. (1998). Lehrbuch der Psychotraumatologie. München: Reinhardt. Fröschl, M. (2000). Gesund-Sein. Stuttgart: Lucius und Lucius. Herman, J. (2003). Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden. Paderborn: Junfermann. Huber, M. (2003). Trauma und die Folgen. Trauma und Traumabehandlung. Paderborn: Junfermann. Huber, M. (2013). Der Feind im Inneren. Psychotherapie mit Täterintrojekten. Paderborn: Junfermann. Levine. P. A. (1998). Trauma-Heilung. Das Erwachen des Tigers. Essen: Synthesis. Levine P. A. (2011). Sprache ohne Worte. Wie unser Körper Trauma verarbeitet und uns in die innere Balance zurückführt. München: Kösel. Putnam, F. W. (2003). DIS. Behandlung und Diagnose der Dissoziativen Identitätsstörung. Paderborn: Junfermann Verlag. Ruppert, F. (2001). Berufliche Beziehungswelten. Das Aufstellen von Arbeitsbeziehungen in Theorie und Praxis. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. Ruppert, F. (2002). Verwirrte Seelen. Der verborgene Sinn von Psychosen. Grundzüge einer systemischen Psychotraumatologie. München: Kösel.
© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Ruppert, F. (2005). Trauma, Bindung und Familienstellen. Seelische Verletzungen verstehen und heilen. Stuttgart: Pfeiffer bei Klett-Cotta. Ruppert, F. (2007). Seelische Spaltung und innere Heilung. Traumatische Erfahrungen integrieren. Stuttgart: Klett-Cotta. Ruppert, F. (2010). Symbiose und Autonomie. Symbiosetrauma und Liebe jenseits von Verstrickungen. Stuttgart: Klett-Cotta. Ruppert, F. (2012). Trauma, Angst und Liebe. Unterwegs zu gesunder Eigenständigkeit. Wie Aufstellungen dabei helfen. München: Kösel. Ruppert, F. (Hrsg.) (2014). Frühes Trauma. Schwangerschaft, Geburt und erste Lebensjahre. Stuttgart: Klett-Cotta. Siegel, D. J. (2010). Wie wir werden, die wir sind. Neurobiologische Grundlagen subjektiven Erlebens und die Entwicklung des Menschen in Beziehungen. Paderborn: Junfermann. Weber, G. (Hrsg.) (1995). Zweierlei Glück. Die systemische Psychotherapie Bert Hellingers. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme.
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Karin Huyssen
Aufstellungen nach dem Modell der EgoState-Therapie als salutogenetischer Integrationsprozess
Ich kenne eine Katze, die sich meistens verschreckt unter einem Schrank versteckt, sobald sich ihr jemand nähert. Nur wenn ich sie ignoriere, kann es sein, dass sie vorsichtig herausgekrochen kommt und sich sogar auf meinen Schoß legt. Sobald ich aber den Fehler mache, mich ihr zuzuwenden, mit ihr zu reden oder sie zu streicheln, verschwindet sie sofort wieder unter ihrem Schrank. Die Kunst, mit ihr Kontakt aufzunehmen, liegt also darin, überzeugend so zu tun, als ob ich keinen Kontakt will, und mich aber gleichzeitig so hinzusetzen, dass sie es sich bequem machen kann. Sie möchte auf meinen Schoß, aber nur, wenn ich sie nicht bemerke. Bei vielen Klienten1 geht es mir ähnlich wie mit dieser Katze. Sie fühlen sich nur sicher, wenn ich das, was sie wirklich bedrängt, ignoriere. Bei manchen ist es offensichtlich, andere können diese Aspekte sehr gut verstecken, vor allem auch vor sich selbst. Sie wissen nicht genau, was sie wollen, fühlen sich bedroht, wenn sie gesehen werden, und haben aber gleichzeitig ein großes Bedürfnis danach, gesehen zu werden. Ziel dieses Beitrags ist es, Aufstellungsarbeit als eine Methode zur Integration innerer Persönlichkeitsanteile zu betrachten. Aufstellungen mit inneren Anteilen sind so alt wie die Aufstellungsarbeit selbst, und ich verweise auf die Literatur, in der verschiedene Teilemodelle beschrieben oder vorgestellt werden (z. B. Ruppert, 2007; Eidmann, 1
Anmerkung der Verfasserin: Da ich selbst als Therapeutin tätig bin und mir daran gelegen ist, den Text möglichst leserfreundlich zu gestalten, habe ich nachstehend den Begriff »Therapeutin« ausschließlich in seiner weiblichen Form verwendet. Ich bitte meine männlichen Kollegen an dieser Stelle um Nachsicht. Der Gleichberechtigung halber habe ich dann den Begriff »Klient« in seiner männlichen Form verwendet. Hier bitte ich nun meine Klientinnen um Verständnis.
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2009; Langlotz, 2011; Bourquin, 2012, 2013). Vor allem bei traumatisierten Klienten ist die Arbeit mit inneren Anteilen sehr sinnvoll, ebenso auch bei der Lösung innerer Konflikte (vgl. auch den Beitrag von F. Ruppert in diesem Band). Ich gehe davon aus, dass die Persönlichkeit eines Menschen aus verschiedenen Anteilen besteht. Im besten Fall helfen uns diese, uns mit einem differenzierten Rollenrepertoire z. B. im Büro, auf dem Fußballfeld oder bei einem Kindergeburtstag angemessen zu verhalten. Im schlimmsten Fall, wie beispielsweise bei einer dissoziativen Identitätsstörung, wissen die Anteile nichts voneinander. Menschen, die mit Essstörungen, Suchtverhalten, Selbstmordgedanken usw. »kämpfen«, spüren deutlich, wie sie von inneren Konflikten zerrissen werden, denen gegenüber sie sich hilflos ausgeliefert fühlen. Im täglichen Leben kennen wir alle die peinlichen Situationen, in denen wir Dinge sagen und tun, von denen wir gar nicht wussten, dass sie in uns stecken. »Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist, ich bin eigentlich gar nicht so!« Und doch »bin« ich so oder wenigstens ein Teil von mir. Manchmal. Nach dem Teilemodell ist es klar: Je besser sich die Anteile einer Person kennen und respektieren, miteinander kommunizieren und sich gegenseitig liebevoll unterstützen, desto größer ist das Gefühl von innerer Kohärenz. Jemand, der mit sich selbst »im Reinen« ist, weiß, wer er ist und was er will (vgl. auch den Beitrag von S. Hausner in diesem Band). Er kann seine inneren und äußeren Ressourcen einsetzen, um das Leben zu meistern, und er kann sich auf sich selbst verlassen, hat genügend Energie zur Verfügung, Herausforderungen anzugehen, und erlebt das Leben als sinnvoll und lebenswert. Die Integration der eigenen inneren Anteile trägt also wesentlich zur Gesundheit bei (vgl. auch den Beitrag von F. Ruppert in diesem Band). In jeder Aufstellung geht es letztendlich um die Integration, ungeachtet der Tatsache, ob es sich um das Familiensystem handelt, welches mehrere Generationen umfasst, oder um die »innere Familie«. Die Aspekte, die aufgrund von Traumata oder psychischer Überforderung aus dem kollektiven oder persönlichen Bewusstsein verdrängt wurden, müssen (wieder) angenommen werden, damit sie sich nicht durch Symptome äußern. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Das persönliche Trauma des Klienten steht jedoch nicht im Vordergrund der traditionellen Familienaufstellungen. Wenn es um persönliches Trauma oder innere Konflikte geht, ist eine Aufstellung der inneren Anteile oft sinnvoll, auch wenn der Konflikt seinen Ursprung möglicherweise in einer generationsübergreifenden Dynamik hat. Selbst wenn es sehr hilfreich sein kann, den größeren familiären Zusammenhang zu verstehen, muss der Klient den Konflikt auch mit sich selbst in der Gegenwart lösen. Dazu können Aufstellungen der inneren Anteile dienen.
Aufstellung der inneren Anteile In meiner eigenen Praxis der Aufstellungsarbeit hat sich das Modell der Ego-State-Therapie als besonders sinnvoll erwiesen, weil es auf Dinge aufmerksam macht, die in Familienaufstellungen häufig nicht genügend berücksichtigt werden. Die Genauigkeit und Sorgfalt, mit der die verschiedenen Ego-States kennengelernt und respektiert werden, bestimmt die Tiefe der Aufstellung. Ich wende diese Methode sehr gerne in Gruppen an, aber sie kann auch gut bei individuellen Aufstellungen genutzt werden (Rechberg, 2007).
Ego-State-Therapie Über die Ego-State-Therapie ist in den letzten Jahren viel geschrieben worden (z. B. Fritzsche u. Hartman, 2010; Emmerson, 2010; Fritzsche, 2013). Ich gebe hier nur einen einführenden Einblick. Die Ego-State-Therapie wurde von John und Helen Watkins entwickelt (Watkins u. Watkins, 1997) und erlebt derzeit einen großen Zuwachs unter Therapeutinnen. Mithilfe des Modells kann unlogisches oder destruktives Verhalten auf leicht zugängliche Weise erklärt werden, therapeutische Interventionen sind effektiv und führen vergleichsweise schnell zum Ziel. Ego-States oder Ich-Zustände entstehen als Folge normaler Differenzierung (in unterschiedlichen Situationen sind auch unterschiedliche Verhaltensweisen nötig), Introjektionen (unbewusste Übernahme von Werten und Normen anderer Personen, die dann als Teil des eigenen Selbst erlebt werden) oder als Folge von Traumata © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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(Abspaltung oder Dissoziation als Überlebensfunktion) (Watkins u. Watkins in Fritzsche u. Hartman, 2010). Ego-States bestehen entweder als eigenständige Persönlichkeiten oder nur als Fragmente. Der Klient weiß von manchen seiner Ego-States, andere sind unbewusst. Ego-States arbeiten miteinander, gegeneinander oder in völliger Isolation, sozusagen mit »Autopilot«. Sie haben heimliche Koalitionen, tragen mehr oder weniger offene Konflikte aus oder sie verstecken sich ängstlich und hoffen, dass niemand sie bemerkt. Manche wollen sterben, andere wollen Spaß haben, wiederum andere wollen um jeden Preis überleben – auch wenn es sie das Leben kostet! Es gibt z. B. die bizarre Situation bei Patientinnen mit Anorexia nervosa, bei denen der für das Hungern zuständige Ego-State (schlank sein ist schließlich für das Glück lebensnotwendig) nicht merkt, dass die Patientin dabei sterben könnte. In der Arbeit mit traumatisierten und destruktiv wirkenden Ego-States wird ein fundiertes Wissen von Psychopathologie, Entwicklungspsychologie, Familien- und Gruppentherapie, Diplomatie und vor allem von Traumatherapie vorausgesetzt. Die meisten Ego-State-Therapeutinnen arbeiten in individueller Therapie und gebrauchen Hypnose, leere Stühle, Kunstobjekte, Figuren usw., um mit verschiedenen Ego-States zu arbeiten. Der Klient muss stabilisiert sein und über genügend Ressourcen verfügen, bevor irgendeine aufdeckende Arbeit mit traumatisierten Ego-States gemacht werden kann. Oft müssen stärkende oder helfende Ego-States aktiviert werden, damit der Klient nicht überwältigt und damit erneut traumatisiert wird. Diese Helfer sind während der ganzen Arbeit wichtig. Ziel der Therapie ist es, dass die für ein Problem verantwortlichen Ego-States gemeinsam auf dasselbe Ziel hinarbeiten, um der »Gesamtpersönlichkeit« dienen zu können. Dazu müssen sie sichtbar werden, sich kennenlernen, miteinander ins Gespräch kommen und Verständnis und Empathie füreinander entwickeln. Oft muss Entwicklungsarbeit oder Psychoedukation geleistet werden, damit in einem Trauma stecken gebliebene Ego-States nachträglich versorgt werden können. Langsames Arbeiten ist wichtig, damit neue Informationen aufgenommen und integriert werden können. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Während dieses Prozesses muss die Therapeutin dafür sorgen, dass alle Anteile zu Wort kommen, auch die Verschreckten und Versteckten. Sie müssen sich an bestimmte Gesprächsregeln halten, damit keiner sich angegriffen fühlt und sich wieder zurückzieht oder den ganzen Prozess sabotiert. Man kann nicht auf gegenseitige Unterstützung hoffen, wenn sich Ego-States am liebsten gegenseitig eliminieren möchten. Wie wir an politischen Konflikten sehen können, nützen Friedensverträge nichts, wenn die Parteien sich das Bestehensrecht absprechen.
Elemente der Ego-State-Therapie in der Aufstellungsarbeit Die Grundhaltung der Aufstellungsarbeit und der Ego-State-Therapie ist dieselbe: Alle Mitglieder der (inneren) Familie müssen einen Platz im System bekommen. Dabei müssen vor allem die anerkannt werden, die aus dem Bewusstsein ausgeschlossen wurden, die ein schweres Schicksal erlitten haben oder von denen wir nichts wissen wollen, weil sie für viel Leid gesorgt haben. Im Folgenden möchte ich auf einige Aspekte der Ego-State-Therapie eingehen, die in Aufstellungen mit inneren Anteilen sinnvoll einbezogen werden können. Ich werde von »Anteilen« reden, weil diese Aspekte auch bei Aufstellern, die keine Ego-State-Therapeuten sind, berücksichtigt werden sollten und weil es sich bei diesen Aufstellungen nicht um reine Ego-State-Therapie handelt. 1. Klärung der Beziehungsebenen Erst einmal ist es wichtig, zu wissen, wer als Klient neben mir sitzt. Ist es der beobachtende Anteil des Klienten, der die Fähigkeit hat, alle seine Anteile zu erleben und zu beobachten? Oder ist es der Anteil eines dreijährigen traumatisierten Kindes? Oder ist es ein erwachsener Anteil, der schon lange versucht, ein Problem zu lösen, dessen Versuche aber immer wieder durch einen anderen Anteil gekapert werden, der die Veränderung nicht will? Vor allem bei Klienten, die schon viele Aufstellungen gemacht haben und das Gefühl haben, stecken zu bleiben, ist es hilfreich, hierauf zu achten. Fritzsche und Hartman (2010, S. 69) beschreiben vier Beziehungs© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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ebenen, die in Aufstellungen geklärt werden müssen, damit eine sinnvolle Arbeit geleistet werden kann. Dies sind die Ebenen 1. zwischen Therapeut und Klient (die »Gesamtpersönlichkeit«), 2. zwischen Therapeut und Anteilen des Klienten, 3. zwischen Klient und seinen Anteilen, 4. zwischen den Anteilen. Dabei wird klar, wie komplex die Beziehungen sind, denn auf allen Ebenen gibt es mehrere Mitspieler. Fritzsche (2013) nennt noch eine wichtige fünfte Ebene, nämlich die zwischen den Anteilen der Therapeutin und den Anteilen des Klienten, auf die ich aber hier nicht weiter eingehen werde. Wir können in der Arbeit mit inneren Anteilen nicht davon ausgehen, dass diese wissen, wer die anderen Anteile sind, wer die Therapeutin ist und wer der Klient ist. So wie in einer Aufstellung oft Rollen geklärt werden müssen, müssen die Beziehungen auf den verschiedenen Ebenen ganz konkret klargestellt werden, wie z. B.: »Du bist ein Teil von Peter, der Angst hat. Da sitzt Peter; er hat mich gebeten, ihm zu helfen. Ich bin die Therapeutin. Und dies ist der Teil von Peter, der sich schämt wegen der Angst …« Diese Vorstellungsrunde ist wichtig, denn dabei kommt heraus, welche Anteile voneinander wissen, wie sie zueinander stehen, wie der Klient zu ihnen steht, wer noch fehlt usw. Oft kommen im Laufe des Prozesses noch weitere Anteile zum Vorschein. Meistens sind es die Ausgeklammerten, die für die Lösung unerlässlich sind. Wie in einer Familienaufstellung suchen wir diejenigen, die fehlen. 2. Genaues Kennenlernen der Anteile Wenn jemand seine inneren Anteile aufstellt, die für das zu lösende Problem wichtig sind, ist es unerlässlich, diese erst einmal genau kennenzulernen. Wie alt fühlen sie sich, was ist ihre Funktion, sind sie männlich, weiblich oder sächlich, seit wann sind sie Teil des Klienten, warum kamen sie damals im Leben des Klienten zur Entstehung, was sind ihre Ängste, was motiviert sie, wie denken sie, was sind ihre Überzeugungen usw.? Diese Informationen gehen über das hinaus, was wir in traditionellen Aufstellungen erfragen. Alle Anteile müssen gesehen, aber vor allem gehört werden. In diesen Aufstellungen mit © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Anteilen lasse ich vergleichsweise viel Dialog zwischen den Anteilen zu und als Vermittlerin habe ich eine sehr aktive und oft direktive Rolle, damit alle zu Wort kommen. 3. Beachtung der traumatisierten Anteile Wenn ein innerer Anteil noch traumatisiert ist, muss Traumatherapie angeboten werden, damit der Anteil aus der Erstarrung oder der Panik befreit werden kann. Da gibt es verschiedene Ansätze, die anderswo beschrieben werden und bereits in die Aufstellungsarbeit eingeflossen sind, wie beispielsweise das »Somatic Experiencing®« (Levine, 2010). Das Modell der Ego-State-Therapie veranschaulicht sehr eindrücklich, welchen Einfluss ein Trauma auf die Entstehung von verschiedenen Anteilen hat. Ebenso sieht man deutlich, wie oft seltsame und negative Glaubenssätze und Verhaltensweisen eine logische Folge des Traumas sind. 4. Beachtung des Alters und der Entwicklungsphasen der Anteile Wenn ich mit einem vierjährigen Anteil arbeite, muss ich eine einem vierjährigen Kind angemessene Sprache gebrauchen. Weil es in einer Person Anteile aller Altersgruppen geben kann, muss die Therapeutin auf alle anders eingehen. Sie muss oft eine konkrete Sprache benutzen, Dinge so oft wiederholen, bis sie aufgenommen werden können usw. Mit jugendlichen Anteilen muss sie die Ausdrucksweisen anpassen, ohne entfremdend auf die älteren Anteile zu wirken. Viele Therapeutinnen erwarten vom Klienten erwachsenes Verhalten in einer Aufstellung (z. B. Versöhnung mit den Eltern). Wenn es sich aber um einen kindlichen Anteil handelt, der z. B. ein Bindungstrauma oder körperliche Gewalt erlebt hat, wird diese Forderung der Therapeutin zu einer Überforderung. Es wird vom inneren Kind etwas erwartet, das es gar nicht kann – auch wenn der erwachsene Anteil dazu bereit ist und die Versöhnung gern durchführen möchte. Wenn die Therapeutin aber auf den kindlichen Anteil eingeht, diesen in Sicherheit bringt und für das Erlebte Verständnis zeigt, dann erst kann der erwachsene Anteil des Klienten sich mit der Realität auseinandersetzen, z. B. dass die Eltern womöglich wegen © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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ihres eigenen Traumas nicht verfügbar waren oder sich dem Kind gegenüber deshalb vielleicht sogar gewalttätig verhielten (vgl. auch den Beitrag von F. Ruppert in diesem Band). Aufstellungen, in der die Entwicklungsstadien der Anteile, die für die Lösung wichtig sind, nicht berücksichtigt werden, gehen oft an diesen Anteilen vorbei, ohne einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Diese Anteile verstehen womöglich gar nicht, was passiert, oder sie wehren sich dagegen, nicht berücksichtigt zu werden. Eine Aufstellerin, die mit dem erwachsenen Anteil eines traumatisierten Klienten arbeitet, ohne den kindlichen Anteil dabei zu berücksichtigen, kann davon ausgehen, dass sich grundlegend nichts ändert, außer dass das Kind sich wieder nicht verstanden fühlt oder weiß, dass es sich in Zukunft besser vor Therapeuten verstecken sollte. Oder es kann dem Gefühl nicht entfliehen, die Leiterin der Aufstellung zufriedenstellen zu müssen und so zu tun, als sei alles in Ordnung. Vor allem bei Traumata, die in früher Kindheit geschehen sind, gibt es Anteile, die über längere Zeit (z. B. in der Einzel- oder Gruppentherapie) gestärkt werden müssen, damit sie neues, angemesseneres Verhalten lernen und dies in einer vertrauensvollen Beziehung einüben können. Eine einmalige Aufstellung ist für diese Arbeit nicht genug. Klienten wissen trotz der neuen Einsicht nicht automatisch, wie sie sich in Zukunft anders verhalten können. Wer ein Leben lang zu viel Verantwortung für andere übernommen hat, muss z. B. lernen, wie man Grenzen setzt. Wer zwanzig Jahre lang von einem inneren Kritiker fertiggemacht wurde, wenn er sich seiner eigenen Bedürfnisse auch nur gewahr wurde, muss erst einmal lernen, wie sich solche eigenen Bedürfnisse anfühlen und dass es guttun kann, sie zu erfüllen.
Vorteile der Aufstellung innerer Anteile in der Gruppe Obwohl die meisten Ego-State-Therapeutinnen Klienten in der Einzeltherapie betreuen, finde ich die Arbeit in Gruppen besonders befriedigend und effektiv. Ich nenne hier nur drei ausgewählte Aspekte, die anderswo (z. B. Eidmann, 2009) genauer beschrieben werden. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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1. Externalisierung des inneren Prozesses Der Klient kann aus der sicheren Distanz des Zuschauers seine Anteile betrachten und ist gleichzeitig ganz aktiv dabei. Die Therapeutin kann durchweg mit ihm in Kontakt bleiben und nachfragen, ob das, was er sieht, für ihn so einen Sinn ergibt. Sie kann neben ihm sitzen und seine Reaktionen beobachten und die nötige Unterstützung anbieten. Therapeutin und Klient können gleichzeitig auf allen vier Ebenen arbeiten: Die Therapeutin bleibt die ganze Zeit in Kontakt mit dem Klienten, die verschiedenen Anteile des Klienten sind in Kontakt miteinander, der Klient kann sich mit seinen Anteilen direkt austauschen, und die Therapeutin kann mit den Anteilen im Gespräch sein. Weil die Anteile durch Stellvertreter »verkörpert« werden, steht die nichtverbale Kommunikation, wie Bewegungsimpulse, Körperhaltung, Körperempfindungen, Augenkontakt, Blickrichtung usw., als zusätzliche Information zur Verfügung. Die Erfahrung der Aufstellungsarbeit ist hier unerlässlich. Der Klient kann während der Aufstellung seine Position verändern, seine Sitzposition verändern und er hat jederzeit die Möglichkeit, die Arbeit zu unterbrechen. 2. Repräsentative Wahrnehmung Der größte Vorteil der Gruppe ist natürlich, dass Informationen über die repräsentative Wahrnehmung der Stellvertreter zur Verfügung stehen und ganz konkret dargestellt werden können (vgl. den Beitrag zur Intuition von C.-H. Mayer in diesem Band). Durch die Stellvertreter kommen die versteckten Dynamiken schnell ans Licht. Wie auch bei Familienaufstellungen ist hier darauf zu achten, dass es sich nicht um die »Wahrheit« handelt, sondern um eine »Wirklichkeit« des Klienten, die er bestätigen oder verwerfen kann. Die Möglichkeit, dass sich die verschiedenen Anteile in die Augen blicken können, sich anfassen können, sich aufeinander zubewegen oder voneinander abwenden können, ist von unschätzbarem Wert, den alle Teilnehmer meiner Gruppen immer wieder betonen. Auch die meisten Familienaufstellerinnen erleben dies für ihre Klienten als besonders heilsam (vgl. den Beitrag von S. Peyton in diesem Band).
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3. Die Gruppe als Ressource Gruppenteilnehmer können sich gegenseitig anders unterstützen, als Therapeutinnen dies können. Sie tauchen in das innere Leben des Klienten ein und entwickeln oft ein tiefes Verständnis füreinander. Dies ist vor allem dann wichtig, wenn es sich um ein Problem handelt, das beim Klienten Schamgefühle ausgelöst. Die therapeutischen Faktoren (Yalom, 1995), die zur Effektivität der Therapiegruppen beitragen, kommen hier alle zum Tragen, auch wenn es sich nicht um traditionelle Gruppentherapie handelt. Es sind vor allem Aspekte wie das Wecken von Hoffnung, Universalität, Altruismus und Gruppenkohäsion, die ich an dieser Stelle hervorheben möchte. Die Tiefe der Empathie, die in einer Aufstellungsgruppe erlebt wird, ist besonders hilfreich. »Das Wichtigste für mich war, dass alle in der Aufstellung traurig waren und auch geweint haben«, sagte eine Klientin, deren Mutter gestorben war, als sie drei Jahre alt war, und um die sie nie richtig trauern konnte. Das dreijährige Kind und der erwachsene Anteil der Frau fühlten sich zutiefst verstanden. Eine andere Klientin, die brutal vergewaltigt worden war und dies stets als etwas abgetan hatte, das ja nicht so schlimm sei, weil es so vielen Frauen passiere, konnte an der schockierten Betroffenheit der Gruppenteilnehmer zum ersten Mal begreifen, wie schlimm das Trauma wirklich war. Hier dienten die Gruppenteilnehmer als Realitätsprüfung, und ihr traumatisierter Anteil fühlte sich zum ersten Mal verstanden und war folglich bereit, aus dem Exil wieder zurückzukehren.
Der Aufstellungsprozess Wie auch in einer Familienaufstellung muss im Vorgespräch bei der Arbeit mit Ego-States geklärt werden, welche Anteile aufgestellt werden sollen. Nur die Anteile, die für die Lösung des Problems erforderlich sind, sollten aufgestellt werden. Manchmal frage ich den Klienten direkt, wie alt die Anteile sind, wie lange sie schon da sind usw. In anderen Fällen verlasse ich mich auf die repräsentative Wahrnehmung der Stellvertreter und frage dann beim Klienten nach, ob das Erlebte und Gezeigte so stimmig ist. Wenn alle Anteile aufgestellt sind, mache ich meine Runde, frage, wie es ihnen geht, und kläre am Anfang immer die Beziehungen. Bei © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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allen Teilen frage ich nach, ob sie wissen, wer ich bin, wer sie sind, wer der Klient ist, wer die anderen Anteile sind und warum sie hier sind. Dann versuche ich Kontakte herzustellen, Motivationen herauszuarbeiten, zu helfen, dass sie Verständnis füreinander entwickeln können, und kümmere mich um verletzte, traumatisierte Anteile. Die Interventionen richten sich dabei immer nach dem Anliegen des Klienten und nach der Phase der Behandlung. Wenn in der Aufstellung etwas anderes deutlich wird, muss mit dem Klienten abgesprochen werden, ob er den Fokus ändern will oder bei dem ursprünglichen Anliegen bleiben möchte. Ich sorge dafür, dass immer helfende oder stärkende Anteile dabei sind, und gebrauche diese oft als Ratgeber. Sie helfen mir, wenn der nächste Schritt nicht klar ist. Sie wissen oft, wer fehlt oder was ein anderer Anteil braucht. Hier können entweder innere Anteile aufgestellt werden (z. B. innere Stärke, Kreativität, der verständnisvolle Anteil) oder, wie in einer Familienaufstellung, ein unterstützendes, unbelastetes Familienmitglied. Oft wird während der Aufstellung klar, dass jemand fehlt. Dann frage ich zuerst den Klienten, ob er weiß, wer das ist. Manchmal weiß es aber auch ein Anteil oder ich habe selbst eine Ahnung, wer es sein könnte. Es handelt sich hier um Anteile, die den Prozess sabotieren, oder um Anteile, die Angst haben, gesehen zu werden. Meist ist sich der Klient eines solchen Anteils nicht bewusst, sonst wäre das Problem kaum so hartnäckig: In der Aufstellung einer Klientin kamen wir erst weiter, als der Anteil aufgestellt wurde, der den anderen erlaubte, wirklich zu sagen, was sie dachten. Vorher waren alle nett und freundlich und sich in allem einig, obwohl sie als konfliktgeladene Anteile aufgestellt worden waren. Nachdem dieser Anteil dazukam, wurde der Konflikt deutlich. Dann erst konnten wir wirklich mit der Arbeit beginnen. Destruktive Introjekte, die keine authentischen Anteile des Klienten sind, sondern die übernommene, verurteilende Stimme eines überaus kritischen Vaters z. B., müssen als solche erkannt werden und ihren richtigen Platz in der Aufstellung bekommen, nämlich als eine inzwischen internalisierte kritische Stimme – meist ohne Nuancen, die eine reale Person ausmachen. In diesem Fall ist es hilfreich, Stellvertreter für den Vater und auch für die »kritische Stimme« aufzu© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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stellen, damit der Klient den Ursprung dieses Anteils verstehen und sich davon erst einmal distanzieren kann. Im Laufe der Aufstellung ist es wichtig, dass dieser Anteil eine neue Aufgabe bekommt, die dem Klienten wirklich dient. Die Fähigkeit, kritisch zu denken, kann z. B. dafür eingesetzt werden, die Kommentare anderer Menschen oder anderer Anteile einer genauen Prüfung zu unterziehen, um den Klienten in Zukunft zu schützen. Dabei entsteht dann häufig eine Identitätskrise, vor allem wenn der Klient lange geglaubt hat, dass er schlecht sei oder nichts Gutes verdiene. Spätestens hier wird deutlich, dass in diesen Fällen eine weiterführende Therapie erforderlich ist. Wenn Dynamiken ans Licht kommen, wie z. B. eine Doppelbindung, nehme ich mir die Zeit, diese dem Klienten und den Anteilen zu erklären. Die Therapeutin erkennt die tieferen Zusammenhänge leichter, wohingegen der Klient die Absurdität der Kommunikation jedoch nicht immer sieht, weil er sie ein ganzes Leben als normal erlebt hat. Als Therapeutin ist es also meine Aufgabe, mich mit allen Teilen zu verbünden, dafür zu sorgen, dass alle einen Platz und eine Stimme bekommen, und dafür zu sorgen, dass sie sich am Ende alle im Interesse des Klienten einsetzen können, was dann zu größerer Kohärenz führt. Dies ist ein ähnlicher Prozess, wie er bei klassischen Familienaufstellungen auch erfolgt.
Fallbeispiel Joyce, eine 44-jährige beruflich sehr erfolgreiche Frau, wollte abnehmen. Sie wusste, dass ihr Übergewicht etwas mit dem sexuellen Missbrauch zu tun hatte, der anfing, als sie vier Jahre alt war, und sich über mehrere Jahre erstreckte. Sie war frustriert mit sich selbst, weil sie es »albern« fand, dass es eine Verbindung zwischen Missbrauch und Gewicht gab. Sie wollte mit dieser Sache endlich abschließen und mit dem Leben weitermachen. Der Missbrauch war in der Therapie schon oft thematisiert worden, nachdem sie lange nicht darüber sprechen wollte. Sie hatte an zwei Familienaufstellungen teilgenommen, wo es um ein generationsübergreifendes Trauma ging, das sie sehr belastet hatte. Diese Arbeit erlebte sie als so positiv, dass sie auf den Vorschlag, eine Teileaufstellung zu machen, sofort einging. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Die Aufstellungsarbeit erwies sich als langatmig. Die Anteile wollten zunächst nichts voneinander wissen, unterbrachen sich gegenseitig, und ich hatte meine Mühe, alle dazu zu bringen, sich wenigstens gegenseitig zuzuhören. Da gab es z. B. die »Optimistin«, die nach vorne schauen wollte. »Das Leben geht weiter! Komm, wir vergessen, was war, das ist doch schon so lange her!« Die Optimistin sah sich als sehr weise, sehr erwachsen, sehr positiv. Aber es war klar, dass sie nicht bereit war, auf die anderen zu hören. Ihre Überlebensfunktion war sehr wichtig: Hätte es die Optimistin nicht gegeben, wäre Joyce nicht so erfolgreich im Beruf und in anderen Bereichen ihres Lebens gewesen. Sie hatte eine erstaunliche Fähigkeit, negative Gefühle einfach zu ignorieren. Dann gab es den vierjährigen Anteil des traumatisierten Kindes, das sich, wie nicht anders zu erwarten, wie ein vierjähriges traumatisiertes Kind benahm. Die Stellvertreterin konnte nicht still sitzen, verkroch sich, sobald ich mit ihr Kontakt aufnehmen wollte, war frech, unterbrach die anderen und verstand nicht, was die »Großen« die ganze Zeit redeten. Ich musste sie, wie die verschreckte Katze, aus ihrem Versteck herauslocken, indem ich so tat, als würde ich sie nicht bemerken. Ich redete mit den anderen Anteilen über das große Dilemma dieses kindlichen Anteils, seinen unglaublichen Mut und wie wichtig er für Joyce war. Das »Kind« hörte sehr aufmerksam zu, solange ich es nicht anschaute. Ich konnte ihm aber eine weiche Decke hinschieben, auf die es sich nach einer Weile legte und anfing zu weinen. Es brachte dann seinen gesamten Schmerz zum Ausdruck und sagte, dass es für alle besser sei, wenn es sterben würde und die anderen ohne es weitermachen würden. Die »Optimistin« wurde still und nachdenklich, als sie das kleine Kind so verzweifelt sah, und verstand zum ersten Mal, warum sie sich erst einmal um das Mädchen kümmern musste, bevor sie »endlich diese Sache hinter sich bringen« konnte. Als Helfer gab es einen wirklich weisen Anteil, eine »weise Frau«, und einen lebensfrohen kindlichen Anteil, der trotz aller Schmerzen Spaß haben konnte und der immer wieder Humor in die Aufstellung brachte, was allen guttat. Auf die anderen Anteile gehe ich hier nicht weiter ein, aber sie waren nicht alle kooperativ! © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Es dauerte ungefähr zwei Stunden, bis alle Anteile im Kreis saßen und dazu bereit waren, zusammenzuarbeiten. Ich musste immer wieder auf Joyce zeigen, damit sie sich klarmachen konnten, dass sie als Teile von ihr auf eine Zusammenarbeit gar nicht verzichten konnten. Keiner konnte gehen, keiner konnte sterben, ohne dass die anderen auch sterben mussten, keiner konnte sich der Verantwortung entziehen und keiner konnte mehr so tun, als ob sein Verhalten nur ihn etwas angehe. Joyce sagte nach der Aufstellung erstaunt: »Von manchen dieser Anteile wusste ich, von dem Bestehen der anderen hatte ich keine Ahnung!« Sie war während der ganzen Zeit gespannt dem Gespräch gefolgt und hatte immer wieder, wie in Trance, mit dem Kopf genickt. Viele der ihr unerklärbaren Verhaltensweisen ergaben plötzlich einen Sinn. Ihr selbstzerstörerisches Verhalten, die unkontrollierten Essanfälle, die sie erfolglos durch eiserne Disziplin zu bekämpfen versucht hatte, konnte sie nun anders sehen: Es war ein desperater Versuch des traumatisierten inneren Kindes, sich vor sexuellen Übergriffen zu schützen. Als sie die Stellvertreterin plastisch vor sich sehen konnte, bekam sie ein tiefes Verständnis für ihr eigenes Leiden. Sie konnte die Trauer über die Einsamkeit des Kindes und vierzig »verpasste Jahre« zulassen und sich dann bei diesem Anteil, der über Jahrzehnte unermüdlich für ihre Sicherheit gekämpft hatte, bedanken. In den Worten der Salutogenese wurde ihr Verhalten verstehbar, sie kam in Kontakt mit wichtigen inneren Ressourcen, die die Handhabbarkeit verstärkten, und sie hatte das Gefühl, »zu sich zu finden« – ein stärker ausgeprägtes Gefühl von Kohärenz. Niemand hatte sich bisher um das vierjährige Mädchen gekümmert. Wie sollte es wissen, was inzwischen alles passiert war, dass der Missbrauch aufgehört hatte, dass der Täter vor vielen Jahren gestorben war, dass es nicht ihre Schuld war, dass sie nicht schlecht war und dass Joyce inzwischen eine starke Frau war, die sich in der Welt erfolgreich behaupten konnte. Ich übernahm erst einmal die Rolle, ihr diese Dinge zu erklären, aber nach und nach konnte die »weise Frau« diese Funktion weiterführen. In der darauffolgenden Woche erzählte Joyce mir, wie wunderbar es sei, nicht mehr von einem vierjährigen Kind »herumkommandiert« zu werden. Sie könne bei einer Eisdiele vorbeilaufen, ohne © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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dass sie plötzlich ein Eis in der Hand habe. Der innere Kampf habe aufgehört, ihr Essverhalten habe sich spontan geändert – sie werde schneller satt. Sie könne außerdem ihrer ebenfalls stark traumatisierten Mutter, die in der Beziehung zu ihrer Tochter oft eine destruktive Rolle gespielt hatte, ohne Aggression klare Grenzen setzen. Gleichzeitig entwickelte sie Verständnis für die Mutter, die der Tochter damals nicht hatte helfen können. Sie fing zum ersten Mal seit Jahren wieder an, Zukunftspläne zu schmieden, besann sich auf Dinge, die ihr wirklich wichtig waren, und beendete Freundschaften mit Leuten, die sie eigentlich noch nie mochte. Erinnerungen an den Missbrauch kamen hoch und diese wurden in der Einzeltherapie aufgearbeitet. In den darauffolgenden Wochen und Monaten gab es Rückfälle, die immer damit zu tun hatten, dass sie sich in einer ihr bedrohlich erscheinenden Situation befand. Sie brauchte neue Bewältigungsstrategien – das vierjährige Kind hatte die Entwicklung von vierzig Jahren nachzuholen. Da sie jedoch ohne Wut auf sich selbst reagieren konnte, beruhigte sie sich immer schneller und fühlte sich in den Beziehungen bei der Arbeit und in der Familie kompetenter und sicherer.
Fazit Abspaltung oder Dissoziation muss nicht als Pathologie aufgefasst, sondern kann als eine kreative Lösung des Systems betrachtet werden, mit der überwältigende Situationen gemeistert werden (vgl. auch den Beitrag von F. Ruppert in diesem Band). Wenn wir diese Lösungen in Aufstellungen als das Beste anerkennen, was unter schwierigen, manchmal lebensgefährlichen Umständen (oder Missständen!) möglich war, dann können wir die abgespaltenen Teile mit großem Respekt zusammenführen. Und genau diese schon vorhandene Kreativität lässt sich dann einsetzen, um gemeinsam mit dem Klienten neue Lösungen zu finden, die der »Gesamtpersönlichkeit« dienen. Wir suchen die innere Stärke und andere Ressourcen, die oft verdeckt sind oder dem Klienten nicht zugänglich zu sein scheinen. Wenn die Anteile, die sich vorher bekämpft haben, miteinander arbeiten, werden im System Energien freigestellt, die der Klient für das einsetzten kann, was zu einem erfüllten Leben führen kann. Dies trägt dann grundsätzlich zu einem Ausbau des Kohärenzgefühls bei. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Theoretische Grundlagen gesundheitfördernder Aufstellungsarbeit
Aufstellungen mit Anteilen ist eine Methode, die davon ausgeht, dass die menschliche Psyche über unglaubliche Selbstheilungskräfte verfügt, die mit professioneller Unterstützung zu größerer Gesundheit beitragen können.
Literatur Bourquin, P. (2012). »Mir selbst begegnen« oder wie sich innerpsychische Beziehungen heilen lassen. Praxis der Systemaufstellung, 2, 54–57. Bourquin, P. (2013). Vom Umgang mit Trauma im Familienstellen. Praxis der Systemaufstellung, 2, 102–110. Eidmann, F. (2009). Trauma im Kontext. Integrative Aufstellungsarbeit in der Traumatherapie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Emmerson, G. (2010). Ego-State Therapy. Bethel: Crown House Publishing. Fritzsche, K. (2013). Praxis der Ego-State-Therapie. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. Fritzsche, K., Hartman, W. (2010). Einführung in die Ego-State-Therapie. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. Huber, M. (2013). Der Feind im Innern. Paderborn: Junfermann. Langlotz. R. (2011). Seelisches Trauma und Abspaltung. Praxis der Systemaufstellung, 1, 40–45. Levine, P. (2010). In an unspoken voice. Berkeley, CA: North Atlantic Books. Philipps, M., Frederick, C. (1995). Healing the divided self. New York: Norton. Rechberg, R. (2007). Die Babuschka-Methode. Praxis der Systemaufstellung. 1, 89–94. Ruppert, F. (2007). Seelische Spaltung und innere Heilung. Stuttgart: Klett-Cotta. Watkins, J., Watkins, H. (1997). Ego-States. Theory and Therapy. New York: W.W. Norton & Co. Yalom, I. (1995). Group psychotherapy. New York: Harper Collins.
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Henning Elsner
Kraftlinien des Lebensstroms erfahren – von der Quelle ins Licht Systemische Strukturaufstellungen (Familienstellen) als salutogene Wirkfaktoren einer sinnesbasierten und kohärenzorientierten Psychosomatik im stationären Setting »Lasst uns das Geheimnis nicht durch Konzepte ausplündern!« Ein Zen-Meister
Salutogenese fördert die sinnliche Erfahrungsfähigkeit von Lebenskunst und Aufgehobenheit in einem tragfähigen, bindungsorientierten, kulturellen und spirituellen Kontext. Innere Entfaltungsmöglichkeiten, Selbstausdruck, Lebendigkeit, Entspannung, Akzeptanz, Integration von ungeliebten Seiten, Annäherungsziele, Anliegen und Vertikalspannung (Sinnfindung) werden angeregt. Das salutogenetische Grundmotiv wie auch das der konstruktivistischen Aufstellungsarbeit ist das Ausrichten des Lebens nach stimmiger Verbundenheit. Die Antonovsky’schen Grundkategorien Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnbezug werden vielfältig in psychoedukativ ausgerichteten Konzepten zur Gesundungsförderung weiterentwickelt. Sie finden sich als Grundmuster im Familienstellen wieder. Dem Kohärenzbegriff kommt eine Schlüsselposition zu: KohärenzSinn (SOC = Sense of Coherence) bedeutet, sich selbst auf dem Weg zu spüren, das Grundvertrauen in sich zu tragen, sich dem Stimmigen annähern zu können, Passung zu erlangen. Er beinhaltet die Fähigkeit, auch in schwierigen Situationen Zuversicht aufzubringen. Kohärenz-Gefühl meint das Erleben des eingebundenen Seins, das Erfahren von positiven »Schlüsselmomenten«, die das »magische Register« füllen und unsere »Lebensgeschenke« wie Sterntaler zu einem Lebenshemd verweben (siehe auch das Einleitungskapitel und den Beitrag zur Magie von C.-H. Mayer in diesem Band). Zuversicht und der Zuspruch in einer einbindenden Kultur aktivieren die körpereigene Apotheke, mit der wir über Blut und Ner© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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venbahnen die Organe erreichen. Immunität, Enzymaktivität und Blutdruck werden beeinflusst. Mit diesem Ansatz ist die Anerkennung eines »Schicksalsweges« als biografische Schöpfung in »bezogener Individuation« (Stierlin, 2003, S. 70) verbunden. Eine breite Schnittmenge der Salutogenese mit konstruktivistischen und autopoietischen Aspekten der positiven Psychotherapie wird in den Anwendungsformen so bezeichneter »Salutogener Aufstellungsarbeit« sichtbar. Ausgehend von dem salutogenetischen Modell und einem entwicklungs- und ressourcenorientierten Menschenbild wird nachfolgend aufgezeigt, mit welchem Gesundungs- und Entwicklungsverständnis ein salutogen ausgerichtetes psychosomatisches und ganzheitliches Krankenhaus arbeitet, welche klimatischen Wirkfaktoren entstehen, wann im klinischen Prozess, in welchem Kontext, in welcher Rahmung und mit welchem therapeutischen Selbstverständnis Aufstellungen praktiziert werden. Allgemeine und spezifische Wirkfaktoren werden beschrieben. Im stationären psychosomatischen Setting wird durch das Zusammenwirken der leibbezogenen und künstlerischen Therapien ein multisensorischer Fühl- und Selbsterfahrungsraum angereichert. Das prozedurale, implizite Gedächtnis jenseits des regulierten Sprachraumes wird einbezogen. Die Klienten werden zu übenden, selbsterforschenden Gesundungsexperten in einer salutogenen Lebensgemeinschaft. Im Fach Aufstellungen üben sie die Anwendung des salutogenen Könnens. Muster öffnen sich, Erinnerungen und Gefühle werden frei und können im Aufstellungsfeld angemessen Platz finden (siehe auch den Beitrag von S. Peyton in diesem Band). Eine feinfühlige, achtsame therapeutische Haltung, ein sinnesbasiertes und kohärenzorientiertes Verständnis der Psychosomatik, ein auf Passung und Resonanz bezogenes und am Kairos-Prinzip orientiertes Wachstumsverständnis sind wesentliche Zutaten. Professionelle Therapie lernt so von der natürlichen Therapie der einbindenden Kultur (Kegan, 2011), in der die Bezugssysteme dem in die Krise geratenen Menschen die Entwicklung gemäß den Phasen des Überganges (Trennung, Schwelle, Integration) erleichtern. Dem entsprechen die therapeutischen Gesten des Haltens, Lassens und © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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In-der-Nähe-Bleibens sowie eine grundsätzliche Haltung des Teilens, Sorgens und Respekts.
Antonovskys Salutogenese und ihre Weiterentwicklungen – SOC Das Konzept der Salutogenese und Aufstellungsarbeit wirken synergistisch. Die Aufstellungsarbeit ist genauso an den Lebensordnungen orientiert und aus ihr entstanden wie die Lehre Antonovskys. Lebensbejahung und Gesundheit sind Kooperationspartner. Weiterentwicklungen in den therapeutischen Raum hinein haben die Salutogenese über die vom Namensgeber vermuteten Grenzen hinaus zu einem modernen, psychoedukativen Konzept der Gesundungsförderung wachsen lassen. Neurobiologische Forschungsergebnisse stützen dies (vgl. den Beitrag von S. Peyton in diesem Band). Salutogenese ist Lebensschule, die die Aufstellungsarbeit integrieren kann und Einblick ermöglicht in den Chemiebaukasten der menschlichen Entwicklung und Schöpfung. Dabei sind die Beteiligten sich gegenseitig Schüler und Lehrer zugleich (vgl. den Beitrag von K. Huyssen in diesem Band). Eine zuversichtliche Grundhaltung gegenüber der Welt kann geübt und gefördert werden. Jeder wird geboren in einen Herkunftsstrom und an einem Ort mit einem einzigartigen bio-psycho-sozialen Klima und immunologischen Prägungen und strebt nach der Vollständigkeit seines Lebens mit seinen Lebensthemen. Krankheitspassagen fordern Neu- und Reorientierung heraus. Sie gehen mit Passungsverlust einher. Das bisherige Lebenshemd ist dabei als »guter Grund« für den bisherigen Bewältigungsmodus zu würdigen, erscheint aber unpassend für die zukünftigen Wegabschnitte. Symptombildungen blockieren den Lebensfluss, die seelische Schwingung und den geistigen Anschluss. Der SOC »driftet«. Das Kohärenzgefühl als Navigationsspannung für den inneren Kompass wird schwächer. Die wortwörtliche Wahrnehmung der eigenen Gefühle ist irritiert. Verstrickungen binden Lebensenergien in Ko-Abhängigkeiten (vgl. auch den Beitrag von F. Ruppert in diesem Band). Hier setzt klärende, salutogene Aufstellungsarbeit ein. Dabei ist das Klima, in dem Aufstellungen stattfinden, wichtig. Es soll die © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Erschließung der Ressourcen und Integration von Leidvollem für die Lebensgestalt ermöglichen. Die Freisetzung oder Wiederaufnahme von Fähigkeiten fördert die Lebensmeisterschaft. Den Umschlagpunkt für die Krise bildet oft das Gewinnen an Zuversicht. Die Klienten ahnen, sich dem sie meinenden Leben wieder annähern und in ihrer persönlichen Lebensbewegung den Lebensfaden aufgreifen zu können. Das Anstimmen des Lebensstückes wird möglich. Es geht darum, gute Musik auf dem vorhandenen Instrument zu machen und auch im Orchester spielen zu können. Einem schlechten Musiker nutzt auch die Stradivari nicht. Mag also der eine einen durch optimale frühkindliche Bindungsbedingungen hohen SOC haben, der einer Stradivari vergleichbar wäre, und der andere mit niedrigem SOC ohne begünstigende Sonderausstattungen zurechtkommen müssen, so bleibt beiden die lebenslange Entwicklungsaufgabe, mit den vorhandenen Ausstattungen das eigene Stück authentisch zu befreien und auf die Lebensbühne zu stellen. So mag der Koheränzsinn gemäß Antonovsky im Sinne der genannten Basisausstattung unveränderbar sein. Niemals ist er in seiner Wirksamkeitsentfaltung aber unbeeinflusst. Aufstellungsarbeit trägt zu einer solchen authentischen positiven Wirksamkeitsentfaltung gemäß dem Konzept der bezogenen Individuation zwischen Symbiose und Autonomie bei.
Das Dynamische am Gleichgewicht – das KrankheitsGesundungs-Kontinuum: Aufstellungserfahrung ist Biografiearbeit Der Lebensweg kann als fortwährende Suche nach Gesundung in dem »Krankheits-Gesundungs-Kontinuum« beschrieben werden. Immunität ist an allen Übergängen (z. B. allein schon bei Ortswechsel) neu zu personalisieren als dasjenige Regulationssystem, das die Balance zwischen der leiblichen, seelischen, geistigen Individualität und der Umgebung so herstellt, dass sich der unverwechselbare Fußabdruck nach den eigenen Wachstumsgesetzen prägen kann. Damit verbunden sind ein fortwährender Verlust von Ganzheit und die Suche nach dem erneuten Heilwerden. Entsprechend der Höhe des SOC fördert der Kohärenzsinn die Lebensmeisterschaft. Das © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Kohärenzgefühl vermittelt Teilhaftigkeitserleben und eine Ahnung von der uns innewohnenden Reifungsgestalt (i. S. d. Entelechie). Es wird angetrieben von der Sehnsucht nach zeitlosem Sinn unserer Existenz. Wir streben danach, uns selbst zu bewähren und doch verbunden zu bleiben. »Es gibt keine Identität ohne das Gefühl strömender Verbindung zur Welt. Wenn dieses fehlt, befinden wir uns in einer ängstlich abwartenden und das Schlimmste erwartenden Unbeweglichkeit. Wir schützen uns vor dem schwelenden Feuer um uns her, indem wir unser Herz zu Eis gefrieren lassen« (Schellenbaum, 1987, S. 15). Die Einnahme der salutogenetischen Perspektive in einem entwicklungs- und ressourcenorientierten Menschenbild erkennt den Vermeidungsmodus als passageren Beschützer an, sieht jedoch in der Annäherung das ins Leben führende Interaktionsmodell. Die Schule von Chartres lehrt uns, dass jedes mit jedem zusammenhängt. Der Lebenspilger tanzt im Labyrinth stets zwei Schritte vor, dann wieder einen zurück und so fort um die mal nähere, mal fernere Mitte. Dabei trägt ihn der Bezug zur Quelle, halten ihn die Ordnungen, verbinden ihn die Rhythmen, bilden ihn ganzheitlich die Künste (Quadrivium und Trivium), verwandelt das heranwirkende Licht sein Herz fortwährend. Hat er die Mitte erreicht, schließt sich die diesseitige Lebensgestalt, kann er über die Schwelle gehen.
Die Energie der Symptome – Krise als Gefahr und Gelegenheit Krisenhafte, als Krankheiten daherkommende Übergänge haben Bedeutung für den Lebenspilger! Im Chinesischen gibt es zwei Zeichen für Krise: Das eine Zeichen bedeutet Gefahr, das andere Gelegenheit. Die Gefahr macht Angst, verwirrt, geht mit existenzieller Bedrohung, Krankheit, Verlust des Bezugs- und Bewältigungssystems einher. Die Gelegenheit fasst Krisen als Schritt in Richtung Wachstum auf. In einer Krise verlieren wir das bisherige Geborgenheitsgefüge und können das Neue noch nicht sehen. Es ist, als müssten wir über eine Brücke das vertraute Ufer verlassen, ohne zu wissen, was uns erwartet. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Initiation im Übergang verläuft in Phasen: 1. Trennung und Lösung vom bisherigen Gleichgewicht. Das Vertraute wird fremd. 2. Schwellenphase, die von hoher Sensitivität (damit auch transpersonaler Durchlässigkeit und Gefügelockerung) gekennzeichnet ist. Wir werden das alte Gleichgewicht nie wieder erreichen. Ich erkenne mich selbst nicht wieder. Ich fühle mich von der Welt nicht erkannt und erkenne sie nicht. Verlust der Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und des Sinnbezuges. Verfremdung, Verwirrung, Außer-sich-Sein, Irritation, Musterverstörung, Konflikte. 3. Phase der Angliederung des neuen Status, der quasi wie auf einer Metaebene den alten Status enthält und integriert. Wir werden mit dem Fremden vertraut. Die meisten Klienten stehen mit einem Fuß auf der Brücke. Dazu gehören jede Menge Ambivalenzen zwischen altem Ufer und Brücke, wie auch Brücke und neuem Ufer. Die Aufstellungsarbeit macht diese sichtbar, würdigt die alten Muster und lädt zu Verprobungen ein.
Moderne Zeiten liefern die Krisenzutaten – dissoziative und assoziative Kräfte Mobilität und somit mehr Heimatlosigkeit, Beschleunigung und Orientierungserschwernis, Taktung und folgender Rhythmusverlust, Standardisierung und zunehmende Dissoziation sind der Preis der Moderne und Herausforderung, die zur Überforderung werden kann. Takt ist der tote Rhythmus. Der Körper schützt sich mit dem Körperpanzer, der ihn in eine Art Energiekäfig sperrt: »Wir werden zu toten Geschöpfen der ohne Rücksicht auf unsere natürliche Beweglichkeit vorwärts peitschenden oder zügelnden Schrittmacher unseres technischen Zeitalters!« (Schellenbaum, 1987, S. 185). Die Digitalisierung, Beschleunigung, Medialität und Vernetzung in Pseudokommunikation attackieren permanent unseren Rhythmus-, Bewegungs-, Energie- und Beziehungskörper. Eine getaktete Welt zergliedert, analysiert, zerzupft und fragmentiert viele lebendigen Zusammenhänge. Sinnliche Wahrnehmung als Urerfahrung (sinnan heißt erfahren) von uns an der Welt wird verstellt von Fassade, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Makulatur, medialer Illusion und Täuschung. Die echten Sinneskanäle verkümmern zugunsten digitaler Formen der Aufmerksamkeit. Wir können nicht sicher erwarten, dass selbst ein durch positive frühe Bindungserfahrung gut hinterlegter SOC in dieser Welt krisenfrei und durchweg resilient zur Verfügung steht. Mobilität mit ihren schnell wechselnden Bezugs- und Arbeitsszenarien sowie an der Konsumsteuerung ausgerichtete, verführende Aufforderungen zur selbst optimierten raschen Entwicklung eines Selbstideals attackieren die Resilienz des SOC selbst. Die Bindungsverunsicherung der modernen Welt überholt oft eine hinreichend erfahrene frühkindliche Geborgenheit. Authentizität und Passung aufrechtzuerhalten bzw. zu entwickeln, wird in einer Zeit der Unterritualisierung, der Unnötigkeit, im Längsschnitt mit der regionalen Umgebung gemeinsam zu wachsen, und angesichts der oft nur scheinbaren Auswahlfreiheit in Chats zu einer inzwischen anders gefärbten Herausforderung als zu Zeiten, wo es »nur« darum ging, sich von den Aufträgen aus dem Herkunftsstrom zu befreien. Die Frage wird immer brennender nach dem passenden, Wahrhaftigkeit und Bezogenheit verbindenden Hinkunftsstrom. Das Konzept der bezogenen Individuation selbst steht vor neuen Passungsherausforderungen. »Im Westen empfing das Individuum seine ›Individuation‹ ohne waches Bewusstsein für das Gemeinwohl oder die Balance von Körper, Geist, Herz und Gemeinschaft. Diesbezüglich hoch individualisierte Menschen haben die Welt kolonialisiert und ihre imperialistische Version des Christentums vorbereitet« (Rohr, 2012, S. 49).
Spezielle Gesundungszutaten der Salutogenese für eine salutogenetische Ausrichtung Salutogenese heißt, »an die Stelle einer Vermeidungsstrategie eine positive Strategie der Förderung im Sinne der Stärkung der Fähigkeiten, der Fertigkeiten, der Interaktionen, der Kommunikation, der Rahmenbedingungen zu setzen« (Reinshagen, 2008, S. 144; zitiert nach Weidling, 2010, S. 58). Generelles Leitbild bleibt dabei die Betonung des eigenverantwortlichen und aktiven Beitrags des Menschen, gute und förderliche Bedingungen für seine Gesundheit und sein Wohlergehen herzu© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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stellen. Die bio-psycho-sozialen Zusammenhänge sollten so gestaltet werden, dass sie ein Klima für gute Erfahrungen erzeugen. Die Neurobiologie betont die Anbahnungsmöglichkeiten guter Erfahrungen und von »Musterergänzungen«. Wir wissen: Hirnphysiologisch gesehen ist bis zur Pubertät das »Startpaket« bereitgestellt: Spiegelneurone und Synapsen haben den höchsten Vernetzungsgrad erreicht. Die Länge des Nervennetzes entspricht der Entfernung zwischen Erde und Mond und zurück. In der Pubertät beginnt bereits die Schneeschmelze der Synapsen (Freeman, 1995), mit der bis zum 21. Lebensjahr bereits ein Drittel der Bahnungen veröden – die viel benutzten Hauptverkehrsadern bleiben. Wir wissen auch, dass die Hirnplastizität abnehmend ein ganzes Leben anhält. Hinzu kommt unsere Kenntnis über das Zuspiel der Transmitter hinsichtlich der Neubahnung von positiven, die Selbstwirksamkeit, das Lebensvertrauen und damit den SOC verbessernden oder zumindest reaktivierenden Erfahrungsmustern. Wir wissen, dass Gänsehauterlebnisse, z. B. in der Musik, diejenigen Hirnareale stimulieren, die für das Glücksempfinden zuständig sind, und positive Kurzschlüsse (synaptische Vernetzungen) zu anderen hinterlegten, bisher in der Krankheit gefangenen Ressourcen und positiven Grunderfahrungen im Leben regelrecht neu wachsen lassen. (Es gilt das Hebb’sche Gesetz: »cells that fire together, wire together« und andersherum: »cells that are wired together, fire again together«.)
Navigieren im wirksamen Feld – Navigationshilfe Sinnesbasierung – Gesichtspunkte zum Embodiment Stimmigkeit ist das übergeordnete Ziel intrinsischer Bedürfnisse. Wir wollen uns vertrauensvoll verbinden können und uns eines Navigationsmittels sicher sein. Das Selbst soll wenigstens zeitweise von unserem »Schattenkabinett« freistellbar sein. Ein Selbst, das zur Teilhaftigkeit am großen Ganzen befähigt ist – quasi Gottes Wartezimmer. Ein Selbst, das nährend blicken kann auf kindliche Zustände, eines, das all die Antreiber, Kontrolleure, Katastropheure, Opferprofiteure, Verbannten, Manager, Brandbekämpfer und Pressesprecher seines inneren Parlaments erkennt und anhören kann: »Ein solches, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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das nicht verschmolzen ist mit den Teilen, deren Gefühle erlebt und dabei zentriert bleibt« (Sonneborn, 2013). Eine sich an den Wahrnehmungen korrigierende Stimmigkeitsausrichtung nutzt das Annäherungs-Vermeidungssystem. Intrinsische Regungen werden u. a. über die Sinneswahrnehmungen permanent mit den extrinsischen Korrekturen abgeglichen. Wir erfahren uns an der Welt. Die Welt teilt sich uns multimodal mit. Neben den bekannten physiologischen Sinnen spielen auch andere, den üblichen Sinnen gleichwertige, teils kinästhetische Wahrnehmungs-»Kanäle« eine Rolle. Die Kinesiologie nutzt dies. Nach dem Physiker Popp kann der Mensch auf Veränderungen im Quantenfeld resonieren und dies im Gehirn registrieren. Das proprio- und viscerorezeptive System (Wahrnehmung von Lage, Eigenbewegung, Tiefensensibilität, Muskelspannung und Organtätigkeit) sowie die Herzresonanz sind solche Stimmigkeits-»Fühler«. Um die Herzgegend, im Bereich des Sonnengeflechtes oder auch am Ich-Punkt in der Brustbein-Region verorten viele Menschen ihre Sehnsucht nach dem Wahren, Schönen, Guten. Sehnsucht spüren wir im Körpergewebe! Eine abgewiesene liebende Person spürt dies als Schmerz im Herzraum. Die Grundschritte in der Aufstellungsarbeit bewegen sich zwischen Annäherung und Vermeidung. Diese Stimmigkeitssuche und der Vergleich mit Unstimmigkeiten, z. B. in der »unterbrochenen Hinbewegung«, ist vergleichbar mit der Sehstärkenfindung beim Optiker: »Ist es so besser oder schlechter?« »Durch Annäherung an Stimmigkeit sind wir motiviert, in unserem Leben Unstimmigkeiten zu klären – vielleicht auch ungelöste Probleme aus unserer Elterngeneration zu lösen« (Petzold, 2010, S. 67). In der salutogenen Aufstellungsweise findet wie bei anderen Externalisierungsverfahren eine Art »Zirkeltraining« für die Sinne als »Stimmigkeitsfühler« statt. Gemeint ist, dass wir zum Informationsgewinn und Testen von nächstmöglichen stimmigen Schritten zwischen Annäherung und Vermeidung die Sinnesqualitäten befragen und damit beüben. Dies wird Erlebbar für alle Beteiligten. Wir üben, die Sinne wahrzunehmen und ihnen wegweisende, hinweisende Funktion zuzuerkennen. Die fünf klassischen Sinne werden durch weitere »Wegweiser«-Sinne vervollständigt. Eine natürliche Orientierung als »Landkartenabfrage« mit Einbezug aller Sinne hat © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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sich dabei bewährt: Die sogenannten »unteren Sinne« sind die Tore zur Wahrnehmung des Eigenen, daher nenne ich sie auch die »idiopathischen« Sinne. Die mittleren Sinne erschließen uns ein mehr oder minder mögliches »Mitschwingen« mit der uns umgebenden physischen und seelischen Welt – sie werden nachfolgend »sympathische Sinne« genannt. Die oberen Sinne öffnen unsere Tore den Mitmenschen, dem Gedanklichen, Sprachlichen und der geistigen Welt. Sie ermöglichen eine aktive Hinwendung und werden in diesem Zusammenhang »empathische Sinne« genannt. Die folgende Übersicht charakterisiert nochmals diese drei Ebenen der Sinnesqualitäten als Stimmigkeits-Erfühler (siehe auch Abbildung 1): 1. Die Welt ist gut! Die idiopathischen Sinne verbinden uns mit unserer Natur, melden, was unsere somatischen Marker registrieren. Der Lebenssinn zeigt uns über die viscerorezeptiven Meldungen zur Organwahrnehmung Wohlbehagen und Missbefinden an. Er ist verkoppelt mit dem Gleichgewichtssinn (Schwindel, aufrechter Stand). Der Bewegungssinn vermittelt über die popriorezeptiven Fühler die Eigenwahrnehmung zum Stand, der Haltung und zu Impulsen wie Flucht, Angriff oder Erstarrung. Es werden teilweise früher »eingespeicherte«, auch inadäquate muskuläre Spannungsprofile vermeldet. Mit dem Tastsinn fühlen wir uns in unserer Haut und fühlen die Welt an der Haut. Charlotte Selver lenkte unter dem Begriff der »Sensory Awareness« die Aufmerksamkeit auf diese Art, den eigenen Körper wahrzunehmen, seinen Impulsen nachzuspüren. Sie hat diesen humanistischen und sinnesbasierten und darüber auch ganzheitlich Sinn gebenden Entwicklungsansatz von Elsa Gindler aufgenommen. »Die Beschäftigung mit dem ›Unbewussten‹ hat sich an dem Ziel einer bestmöglichen Vermittlung zwischen innerer Welt einschließlich erlebter Leiblichkeit und Außenwelt zu orientieren« (Fürstenau, 1994, S. 163). 2. Die Welt ist schön! Die sympathischen Sinne verbinden uns mit der uns umgebenden Kultur. Unsere sympathischen Sinne vermitteln uns das sinnliche Erleben der umgebenden Welt, spüren die Wärmeverteilung, öffnen oder verschließen uns den einströmenden Farben, Gerüchen und Geschmacksereignissen. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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3. Die Welt ist wahr! Die empathischen bzw. sozialen Sinne verbinden uns mit dem sozialen und geistigen Raum. Auch im Umgang mit den Dynamiken zwischen Menschen und zu Übermenschlichem verspüren wir mittels der Empathiefähigkeit und einer Art transpersonalen Gestimmtheit Annäherung und Vermeidung. Kann der Mensch sich verbinden, zeigt er Mitgefühl, die Spiegelneuronen sind aktiviert. Er sieht die anderen Menschen als andere, eigene und zueinander unterschiedene »Ichs«, respektiert diese. Er kann sich in ihnen finden und auch von ihnen unterscheiden. Dialog kann stattfinden über Aktivierung des Gedankenraumes und Austausch im Sprachverständnis. Im Annäherungsmodus ist das dritte Ohr aufgestellt, das Herz hört mit, die Welt spricht sich ein in erweiterter spiritueller und metaphysischer Dimension. So betrachtet ist die Aufstellungsarbeit mit der Stimmigkeitssuche eine Art »Nachstimmen«: ȤȤ Im Vermeidungsmodus sehen wir unterbrochene Hinbewegung mit Hemmung, Unsicherheit, Unterdrückung, Trennung, Aktivierung »alter Spinnenwebe aus erfahrenen Verletzungen«, eingedrückt ins negative Leibgedächtnis mit den Folgen dissozialer Kommunikation, Dissoziation, Misstrauen, Macht, Betrug, Korruption, Diskriminierung, Konkurrenz, Krieg, Gewalt und Feindschaft. Das »Geh weg!« ist aktiviert, Eskalation wahrscheinlich. Aktivierung der Amygdalazone, als der Teil des für die Emotionen zuständigen Gehirnareals, der unsere »Angstprogrammierung« unterhält – Stresshormone werden nicht genügend abgebaut, Erregung baut sich weiter auf, Serotonin vermindert sich, Befriedigung stellt sich nicht ein, die Ampel springt auf Rot, wir sind in unserer Kraft- und Potenzialentfaltung gestoppt. Symptome sind ein Geschenk der Liebe an die Abweisenden (vgl. Smith Benjamin, 2001). ȤȤ Im Annäherungsmodus sehen wir ein »Con-Tangere« und eine Öffnung. Das »magische Register« ist aktiviert (vgl. den Beitrag zur Magie von C.-H. Mayer in diesem Band). Es webt mittels neuer synaptischer Vernetzungen und Bahnungen aus »Now«und Sterntaler-Momenten der guten Erfahrungen den »Gol© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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SINN Konstitution und soziale Anlage Bindungsinventar befreien
KOHÄRENZSINN SOC
Schlüsselmomente Biografische Reifung EMBODIMENT Annäherung »Komm her«
»Geh weg« Vermeidung
bestimmen
KOHÄRENZGEFÜHL Stimmigkeitsgefühl
MAGISCHES REGISTER
Idiopathische Sinne Somatoviszeral: Lebenssinn Propriorezeptiv: Gleichgewicht Bewegung Tastsinn
Sympathische Sinne Wärme Riechen Schmecken Sehen
Empathische Sinne Sprachraum Gedankenraum Ich-Sinn Hören
SINNE Abbildung 1: Zusammenhänge zwischen Sinn, Koherenzgefühl und Sinne
denen Vlies« zum Anstimmen des Lebensliedes im positiven Leibgedächtnis. Eine dann mögliche »Salutogene Kommunikation« (Petzold, 2009, S. 114) ist charakterisiert durch Assoziation, Gleichheit im Recht, Brüderlichkeit beim Teilen, Freiheit im Geiste, Respekt, Fürsorge (Caring, Sharing, Respect), Kooperation der Teile, Anschluss an tragende und verbindende Rhythmen, Frieden, Unterstützung und Liebe. Das »Komm her!« ist aktiviert, Kraft- und Liebesfluss und damit Wachstum und »Gärtnern im grünen Garten« (vgl. Smith Benjamin, 2001) sind © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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ermöglicht. Der Nucleus accumbens als das Lust- und Belohnungszentrum wird angesprochen. Serotonin, Oxytocin und Endorphine werden ausgeschüttet. Verstrickungen, Verwechselungen werden sicht- und annehmbar. Bestenfalls wird das Selbst als ordnende, nicht eingreifende Kraft freigestellt von Fremdaufträgen aus dem »Schattenkabinett«. Die Bezugswahrscheinlichkeit zu der anvertrauten inneren Weisheit und dem Vertrauen auf den individuellen Wesenskern wird erhöht. Das Vertrauen in die eigene Lebenswanderschaft in Bezogenheit zu den Schicksalskräften kann wachsen. In der Aufstellungsarbeit wird das Feingefühl für diese Lebensstimmungen ausbildbar. Das Hin- und Herkommen zwischen Vermeidungs- und Annäherungsmodus wird erprobt. Dynamiken werden aus wechselnden Positionen ansehbar. An- und Aussprache mit Sätzen werden möglich. Manchmal zeigen sich Lösungen wie mögliche Vorwegnahmen und Verheißungen, in die es sich »hineinzuleben« lohnt. Die Navigation kann dann aufgenommen werden. Charlotte Selver postulierte einst mit dem Begriff der »Sensory Awareness« (vgl. Marlock u. Weiss, 2006, S. 19), die Wachheit des Körpers durch die Wiederbelebung der Sinne zu fördern.
Konzeptualisierung für die Klinik und Entwicklungs wege der Klienten: Wirkfaktoren Schlüsselmomente, »Einbindende Kultur« und Zeugenschaft Daniel Stern (vgl. Marlock u. Weiss, 2006, S. 357) bezeichnet Veränderungsmomente im therapeutischen Geschehen als »Now-Moments«, also »Gegenwarts-Momente«. Es handelt sich dabei um seltene, nicht gezielt herbeiführbare, irgendwann vom Patienten zugelassene Momente, in denen er eine tief greifende Erfahrung macht. Indem er sich für sich selbst öffnet, erfährt er, dass er wieder Verbindung zu etwas in ihm, zu sehr frühen, längst verschütteten Erfahrungen und Potenzialen gewinnt. Diese Momente sind mit Vertrauensbildung verbunden. Er kann vertrauen auf eigene innere Potenziale und fühlt sich gleichzeitig geborgen wie in einer guten äußeren Macht. Das Kohärenzgefühl erholt sich. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Ein salutogenetisch eingerichtetes Heilklima begünstigt die Emergenz positiver Schlüsselmomente. Was gemäß den modernen Traumakonzepten hinsichtlich der seelischen Einkerkerung des Leidenden im Spinnengeflecht der vernetzten Verletzungen im Leibgedächtnis erkannt ist, darf auch der Heilkraft der positiven »SterntalerMomente« mit ihren Neu- oder Wiedervernetzungen im »magischen Register« zugesprochen werden, aus denen sich unser »goldenes Vlies« in unser Lebens- und Leibeshemd einwebt. In diesem Sinne hat die Aufstellungsarbeit im entsprechenden klimatischen Kontext hohe salutogene Potenz beim Anbahnen von Überschreibungsmöglichkeiten negativer Skripte. Dabei ist es nicht ihre Aufgabe, die goldenen Momente zu generieren. Sie schafft aber die Öffnung für das Wahrnehmen und Einbeziehen solcher in der Vergangenheit erfahrenen Momente wie auch eine bessere Grundlage für eine gleichschwebende Aufmerksamkeit zum Wahrnehmen zukünftiger Schlüssel im Sinne des Kairos-Prinzips – ganz anders als das Planungsprinzip des zeitlichen Nacheinanders, wie wir es vom Zeitgeist Chronos kennen. Ein Anspüren innerer Kompetenzen wird erlebnisnah möglich, genauso wie ein Aufspüren innerer Ambivalenzen und einsprechender innerer Anteile (Ego-States – IFS: Internal Family Systems) (vgl. auch den Beitrag von K. Huyssen in diesem Band). Durch die generelle Sinnes- und Achtsamkeitsbasierung des salutogenetisch ausgerichteten multimodalen klinischen Kontextes mit der Einbeziehung kinästhetischer Wahrnehmungskanäle werden quasi die Sinne geputzt und Durchlässigkeit in die Welt wie aus der Welt begünstigt. In den Aufstellungen werden die eine Problemtrance unterhaltenden Vergangenheitskräfte konkret und leibhaftig erfahrbar bzw. sichtbar ebenso wie die Qualitäten der hilfreichen inneren Kompetenzen, deren Assoziation bzw. Re-Assoziation den Möglichkeitsraum für die gewünschte Zukunft erschließen helfen. Dabei spielt der von Fürstenau (1994, S. 79) beschriebene »bekannte normale Sachverhalt aus dem gewöhnlichen Leben« eine maßgebliche Rolle, »dass Menschen am ehesten in der Beziehung zu anderen Menschen, von denen sie wertvolle oder heilsame Anregungen erwarten, lernen und sich weiterentwickeln und dass sie einen für sie individuell gangbaren Weg im Leben suchen«. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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So befindet sich der sich entwickelnde Mensch mit seiner Biografie zwischen Erkrankung und Gesundung in einem permanenten Transformationsprozess. Erkrankung und Gesundung und damit die Herausforderung von Beratung und Therapie hängen mit den Krisen auf diesem von Antonovsky als Kontinuum angesprochenen permanenten Transformationsprozess zusammen. Die Entwicklungsübergänge sind natürliche Wachstumsbewegungen und nicht per se krank, wenngleich sie zunächst mit Verlust des vertrauten Geborgenheitsgefüges und Dekonstruktion der bisherigen Bewältigungsstrategie – ohne schon einen neu sichtbaren Lebensentwurf und ein damit übereinstimmendes Selbstverständnis – krisenhaft und mit erheblichen Symptombildungen daherkommen (vgl. auch den Beitrag von F. Ruppert in diesem Band). Annelie Keil schildert in ihrem Buch »Auf brüchigem Boden Land gewinnen« auf natürliche Weise, »wie es gelingen kann, sich trotz Bruchstellen und Krisen immer wieder neu mit dem Leben zu verabreden, sich selbst auf die Spur zu kommen und der eigenen Kraft, Lebenskompetenz und Fantasie zu vertrauen« (Keil, 2012, Buchcover). Wegen eben dieser Natürlichkeit bedarf es schlüssigerweise erstrangig der Einbeziehung der natürlichen Therapien neben den Zutaten der zweitrangigen »unnatürlichen«, somit professionellen Helfersysteme. Auf die richtige Mischung kommt es an. Im Krankenhaus ist – damit es zu einem Gesundungshaus werden kann – zunächst einmal das Paradigma des Krankhaften zugunsten des Gesundenden aufzulösen. Krise ist eben Gefahr und Gelegenheit. Dies ist umso schwerer, als es im Krankenhaus um bezahlte Dienstleister geht, die ihre Berechtigung aus der Krankenbehandlung erhalten. Sie sichern ihren Expertenstatus durch Diagnosen an den Kranken gegenüber den Kostenträgern ab. Dies zieht ein Gefälle nach sich, das es aufzulösen gilt, damit die natürlichen Therapien erstrangig wirksam werden können und die Experten als Gesundungshelfer zweitrangig in ihre unterstützende, Halt gebende und gewährende Rolle zurückfinden. Dabei kommt es darauf an, dass die professionellen (unnatürlichen) Therapeuten von den natürlichen Therapien lernen und diese kopieren. Gelingende therapeutische Prozesse nehmen ihren Ursprung mehr in der Einmischung natürlicher Bedingungen als in theo© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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riegeleiteten, die Definitionsmacht der Experten akklamierenden Konstrukten. Je mehr das Krankenhaus zur Kopie eines natürlichen Gesundungsraumes oder sogar zu einem eigenständigen Heilbezirk mit Natürlichkeit ermöglichenden klimatischen Bedingungen wird, desto salutogenetischer wirkt es. Das natürliche soziale Bindungsgewebe zwischen den Menschen wird wirksam. Der therapeutische Raum in einem als Gesundungshaus dienenden psychosomatischen Krankenhaus soll im salutogenetischen Verständnis so geartet sein, dass die dort andauernd hindurchgehenden Passagegemeinschaften der Klienten und die dort unterstützenden sogenannten professionellen Helfer ein dem anstehenden Transformationsprozess dienliches Entwicklungs- und Induktionsklima zur Entzündung einer heilsamen Gesundung ermöglichen. Dieses bringen sie mit einem an Authentizität (Wahrhaftigkeit), Mitwirkung, Feinfühligkeit, Achtsamkeit und Gleichwertigkeit orientierten Beziehungsstil gemeinsam verantwortet auf den Weg, ohne dabei die Rollen zwischen Klienten und Professionellen vollständig aufzulösen. Der Umgangsstil ist orientiert an den Konzepten der gewaltfreien Kommunikation gemäß Marshall Rosenberg. Die konsequente Reflexion der interaktionellen Perspektive interpretiert und utilisiert den Mehrpersonenraum für die Ermöglichung korrigierender Erfahrung, zumindest für neues Sehen und Umlernen als individuell dosierte Beziehungsmedizin im geschützten Bindungsmilieu. Der Gemeinschaft als der Klimaerzeuger einer »einbindenden Kultur« kommt die Rolle des Transformationsgenerators neben den sinnesbasierten Heilanwendungen aus dem Bereich der Körper- und Kunsttherapien, den achtsamkeitsbasierten Anwendungen und den natürlichen Tages-, Nahrungs- und Jahresrhythmen mit ihren Ritualen und Festen zu. Kegan (2011, S. 338) betont: »In einer Gemeinschaft, die dieses Namens würdig ist, gibt es Symbole, Festlichkeiten, Rituale und sogar Gesten, an denen ich während des Prozesses meiner Entwicklung erkannt werde und die mir helfen, mich selbst zu erkennen. Die Gemeinschaft muss in vielfältiger Form auf verschiedenen Entwicklungsstufen wirksam sein, sie sollte sich weniger für eine bestimmte Entwicklungsstufe einsetzen als für den Entwicklungsprozess selbst.«
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Spezielle Konzeptionalisierung am Beispiel Krankenhaus Lahnhöhe (siehe Elsner u. Kölle, 2010) Im Krankenhaus Lahnhöhe wird seit 14 Jahren die Aufstellungsarbeit umfassend praktiziert. Sie wurde für das Haus mit 202 kassenzugelassenen Betten für multimodale psychosomatische Medizin zu einem geschätzten »Markenzeichen«. Zum übrigen Standard gehören Einzelgespräche, therapeutisch geleitete Selbsterfahrungsgruppen, in denen es gelegentlich eine »Miniaufstellung« geben kann, sowie körperpsychotherapeutische, kreativtherapeutische und kunsttherapeutische Verfahren einzeln und in Gruppen. Hinzu kommen Stationsvollversammlungen, Psychoedukation und Achtsamkeitsüben sowie zahlreiche physikalische und naturheilkundliche Therapien, inklusive homöopathischer, phytotherapeutischer und anthroposophischer Medikation. Die therapeutische Gemeinschaft wird lebendig durch freie, nicht verordnete Angebote, wie u. a. das sogenannte »offene Atelier«, Feldenkrais-Kurse, Konzerte, Vorträge am Abend und an den Wochenenden. Der besondere Wirkeffekt entsteht aus der Vielfalt der Methoden und deren Vernetzung. Information der Patienten Die Patienten erhalten mit Beginn der Behandlung ein im Hausbegleiter hinterlegtes Informationsblatt (siehe Anlage) und werden in der Begrüßungsgruppe vom Chefarzt und in verschiedenen psychoedukativen Formaten an die besondere Qualität des Aufstellens herangeführt. Die Aufstellungsgruppen Zurzeit verfügt das Krankenhaus Lahnhöhe über insgesamt je fünf stationsgebundene Gruppen mit 20–35 Teilnehmern, die zweimal wöchentlich jeweils neunzig Minuten arbeiten. Eine sechste Gruppe wird stationsübergreifend gebildet und arbeitet 14-täglich als Blockveranstaltung Freitagabend und am darauffolgenden Samstag je drei Stunden. Die Aufsteller Es gilt die Vorgabe, dass die Aufstellungsarbeit in die Hände erfahrener und zusätzlich im Aufstellungsverfahren ausgebildeter Psycho© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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therapeuten gehört. Aktuell arbeiten in unserem Haus fünf Oberärzte, ein Stationsarzt und eine Psychologin mit Aufstellungen nach festem Plan. Haltung des aufstellenden Therapeuten ist, dass nicht er in der sich vollziehenden Aufstellung zu Hause ist (sondern der Fallgeber), er bleibt Gast und dient dem sich zeigenden Prozess. Insofern macht er nichts! Er überlässt dem Fallgeber und den miterlebenden im Felde An-Wesenden, Teil-Nehmenden die persönliche Bedeutungsbildung. Er ist hilfreich, aber gibt nicht Hilfe im Sinne von fertigen Bedeutungen oder gar erzwungenen Lösungsbildern. Aufstellungen müssen weder dramatisch sein noch »fertig haben«. Der Aufsteller ist feinfühlig in gleichschwebender Aufmerksamkeit für den ganzen Prozess, sorgt gemeinsam mit dem Außenkreis für die Haltekräfte, die das innere Geschehen für seine Entfaltung braucht, und ist dann professionell, wenn er den Klienten vor den »Hoffnungen des Therapeuten für diesen« (Kegan, 2011) schützt und dessen Entwicklung zur eigenen Wahrheit fördert. Er hilft differenzieren im Sinne von »ein Teil von mir; ein anderer Teil«. Eventuell verstärkt er die Suche nach einer zukünftigen »Bewährungsfigur« auf dem Wege. Rolle der Bezugstherapeuten Der Bezugstherapeut begleitet die Themenfindung und ermöglicht, die Beziehung herzustellen zwischen den im Milieu aufgenommenen Erfahrungen und der gelebten Frage. Er ist positiver Prozesszeuge und hilft, Erlebtes der Lösung zu erschließen bzw. Ernte zu halten. Die Aufstellungsarbeit übernimmt in solchen Passagen eine Wegweisung, insofern sie im Übergang dem an der Schwelle bzw. quasi auf der Brücke Stehenden Re- und Prä-Orientierung ermöglicht.
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Gemeinschaftsbezogene salutogenetische Effekte der Aufstellungsarbeit in der klinischen Rahmung »Es sind immer Menschen, die andere Menschen anziehen, so dass eine gemeinsame Bewusstseinssphäre entsteht!« Richard Rohr (2012, S. 100). »Ich glaube daran, dass das größte Geschenk, das ich von jemandem empfangen kann, ist, gesehen, gehört, verstanden und berührt zu werden. Das größte Geschenk, das ich geben kann, ist, den anderen zu sehen, zu hören, zu verstehen und zu berühren. Wenn dies geschieht, entsteht Kontakt.« Glaubenssatz nach Virginia Satir (Satir, Banmen, Gerber u. Gomori, 1995)
Die intensiven emotionalen Prozesse der Aufstellungen haben tiefe Wirkungen auf den Einzelnen wie auf die Gemeinschaft. Das achtungsvolle Miterleben der Schicksale und Lebenssituationen der anderen, das wortwörtliche »Nahestehen« und der gemeinsame Suchprozess sind echt und fördern das Gefühl für das Wesentliche. Die Klienten erleben, wie heilsam es ist, den Blick für neue Perspektiven frei zu bekommen, das Vertrauen in ordnende Kräfte zu suchen und sich wach zu machen für das, was sich zeigt, wie z. B. Synchronizität, Schlüsselerlebnisse, Kohärenzerlebnisse, Anbindung an Lebenskräfte. Die Aufstellungen tragen bei zur Konstituierung und Entwicklung der therapeutischen Gemeinschaft und dem Reinszenieren des angesprochenen Wachstumsklimas der »einbindenden Kultur« im Sinne des Dreischritts: halten, loslassen und »in der Nähe bleiben«. Organismische salutogenetische Effekte – Wiederaneignung (Verstehbarkeit) des Körperhauses Die Aufstellungsarbeit ist ein klinisch praktikabler Ansatz, um Patienten während ihrer »Passage-Zeit«, also einer durchschnittlichen Vier-Wochen-Beziehung, biografische Wandlungsphänomene erlebbar aufzuschließen und damit organismische Reorganisation anzuregen. Unschätzbar für die professionellen, unnatürlichen Therapeuten ist die Sichtbarmachung komplexer Wechselwirkung in Systemen, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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wie sie im Einzelsetting nie möglich ist – die Mehrgenerationenperspektive mit der Erfassung von transgenerational weitergegebenen Themen, die Be-Deutung des Ausgeklammerten, wie z. B. früh verstorbener, abgetriebener oder fehlgeborener Kinder, die Spätwirkung von Krieg und Vertreibung und viele andere Aspekte, die jeder Aufsteller kennt. Intellektuelle Einsichten lassen sich zwar vorausdenken, Gefühle aber bekanntermaßen nicht vorausempfinden, wohl aber nachempfinden und vergegenwärtigen. Das multimodale klinische Verfahrenssetting bildet eine Verstärkung von Wechselwirkungen durch Berührung (Haut und Haptik), Bewegung, Flexibilisierung von Haltungen, Interaktionen, Spiegelung, Halt und Konfrontation. So können Veränderungs- und Entwicklungsbewegungen parallel und selbstorganisierend den ganzen Organismus beleben, Kopplungen optimieren und die selbstermächtigte Handlungsfähigkeit verbessern (»embodied Intelligence«) – dem Geist im beseelten Körper den Boden zurückgeben. Sowohl tiefe Stoffwechselumstimmung als auch Regulationsmöglichkeiten der Atmung und der Herzfrequenzlabilität bilden eine gesamtorganismische Stimmung, welche das Pausieren einseitiger bewusster, kognitiver Kontrolle erlaubt. Verleiblichte (»embodied«) positive wie negative, ggf. in impliziten Mustern abgelegte Lebens- und Lernerfahrungen lösen sich so aus dem Körpergedächtnis. In der eingebetteten Situation können »Stressspeicher« sich öffnen und unbewusste intuitive Verknüpfungen angebahnt werden. Die Klienten sind dafür durch den gesamten Therapiekanon im guten Sinne multisensorisch und therapeutisch »vorstimuliert«. Aufstellungsarbeit als salutogene Lebenskunde – Wiederaneignung (Verstehbarkeit) der Lebensgeschichte Das Krankhaus Lahnhöhe selbst hat seit Beginn der 1970er Jahre eine natürliche salutogenetische Entwicklung gemacht. Fußend auf der ganzheitlichen Ernährungslehre des Pioniers Max Otto Bruker wurden bald ernährungs- und lebensbedingte Erkrankungen differenziert. Den Ärzten der 1980er Jahre mit ihren humanistisch integrativen Bezügen war wesentlich, die Klienten in ihrem unverwechselbaren © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Wesen zu respektieren, Krisen als Geburtshelfer zur Vervollständigung des Sinns der »fahrenden« Lebenspilger anzusehen. Mit diesem biografisch orientierten »Willen zur Lebenskunde« wurde deutlich, dass jeder Mensch aus der Fülle der gesamten Kette seiner Lebensereignisse selektiv einzelne Licht-, Wende- und Dunkelpunkte auswählt, die er zu seiner persönlich erzählten Lebensgeschichte – mal als Geisterbahn, mal ins »magische Register« – zusammenwebt. Die im Krankenhaus Lahnhöhe geübte biografische Spurenerkundung lebt von aktivem Zuhören, der Integration vergessener oder verdrängter schattenhafter Ereignisse wie von der Wiederbelichtung kraftvoller innerer Bilder im Kontext der menschlichen, ichorientierten liebevollen Begegnung. So wird eine Wandlung der bisherigen Lebensschau im Sinne einer »Wieder-Aneignung der eigenen Lebensgeschichte« möglich. Dieser neu belebte eigene Mythos hilft, den Lebensgang zu achten, und unterstützt die weitere Individuation so, dass es besser gelingt, dysfunktionale Festlegungen, Sichten, Haltungen und Verstrickungen zu verabschieden. Die Dynamik zwischen dem gestaltenden Erfahren und dem, was einem widerfährt, wird belebt: Nicht, was wir erlebt haben, macht uns krank, sondern das, was wir nicht gelebt haben (Weizsäcker, 1956). Krisen als »Wandlungsbeginn des Erstarrten« (Gebsattel, 1954) rufen auf, das wartende Leben aufzuspüren und die Erlaubnis zu ermöglichen, es nun doch endlich in die Welt zu entlassen. »Ich schulde mir noch mein Leben!« Das fordert, sich zuzumuten, und es fordert das Gefühl für Grenzen und Identität heraus. Ein Nein kann heilig sein! In diesem Sinne wurde ab 2000 die aufgekommene Aufstellungsarbeit in der klinischen Anwendung selbst zum Biografiehelfer. Klienten finden im Abschmecken zwischen Annäherung und Vermeidung in die ihnen innewohnende Bewegung, kommen in Resonanz mit dem eigenen und dem Schwingungsmuster der zu ihnen Gehörenden. Unterbrochene Hinbewegungen werden sichtbar, der eigene Einfluss ausprobiert: »Was ändert sich im Feld, wenn ich mich bewege?« Probehandeln geschieht in unmittelbarem Bezug zu dem inneren Navigationssystem mit seinen somatischen und multimodalen Markern (somatoviszeral, präverbal, myofunktional) und zu dem mitfühlenden Feld der anderen. Innerhalb wohlwollender, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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kohäsiver Geborgenheit dürfen individuelle Lebensbewegungen durchprobiert (per sonare) und nach Resonanz (re sonare) gesucht werden. Auf der ansehbaren Lebensbühne wird eigene Regie geprobt. Immer wieder überrascht, wie klar die inneren Bilder sind, wenn sie in den mitfühlenden, nicht mitleidenden Raum – gehalten von den Mitklienten – freigesetzt werden. Endlich nicht mehr unsichtbar wirksam, verlieren sie ihre Vergiftungspotenz: »Was ist, darf sein, und was sein darf, kann sich verändern« (Werner Bock nach Staemmler, 2009, S. 2). Aufstellungen helfen aufrichten – von der Handhabbarkeit im Leben Für die Klienten bedeutet dies eine körperliche Introspektion. Leibliche Erfahrungsbildung geschieht. Symptomverständnis für Zusammenhänge zwischen seelischer Gestimmtheit und unmittelbaren körperlichen Bewegungen als Atem, Kreislauf, Stoffwechsel, Gleichgewicht und Impulse entwickelt sich. Die Feinfühligkeit der idio-, sym- und empathischen Sinne wird geübt. Damit erlernen Klienten wahrzunehmen, was im Leib gedacht wird. Sie erwerben eine Sprache des Fühlens. Sie klären den Blick für die Umgebungskräfte und verbessern ihre interaktionelle Kompetenz. Seelische Gesundheit heißt, das »ganze Paket zu nehmen« mit allem Schwierigen, Leidvollen und allem Hilfreichen, Wohlbehaglichen. Das Leben entsteht an den Umschlagpunkten! »Seelische Gesundheit heißt fließende Identität. Diese entsteht durch unzählige, bewusst erlebte und zugelassene Übergänge von der Stockung in die Bewegung. Übergänge sind nie einfach, obgleich sie im Rückblick aus der Perspektive der jetzt wieder ›vibrierenden Existenz‹ als das Selbstverständlichste und leichteste der Welt erscheinen können« (Schellenbaum, 1987, S. 191). Im Aufstellungsraum setzen die Klienten ganz natürlich affektive, spiegelnde Nähe via Spiegelneurone zueinander frei. Zu unserer Selbstentfaltung und zur Aufnahme unserer Lebensschwingung kann uns das spiegelnde Gegenüber oder die Teilnahme im Außen anstecken. Wir beobachten dieses Ansteckungsphänomen in den Aufstellungsgruppen mehr als in allen anderen Formaten! Diese Gefühlsanstiftung im Aufstellungsfeld leitet die Aufnahme der © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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authentischen inneren Schwingung, ein Stellvertreter und der (fallgebende) Klient kommen in Resonanz. Mit diesem sich wechselseitig im Feld spiegelnden Beziehungsgeschehen kann der Klient seine in früheren Loyalitäten gefangene Bewegungssymbiose (Verstrickung) zumindest probeweise verlassen und die eigene Bewegungsidentität erforschen. Er richtet sich auf, wird aufrichtig. Diese Selbstermächtigung kommt der Inthronisation des Ich gleich – oft gehen dem voraus Verneigung, Anerkennung des Schicksals als Ur-Kraft und angemessene Demut oder Dank. Es lassen sich noch eine Fülle weiterer, z. B. kathartischer, affirmativer, anstiftender Wirkfaktoren beobachten, die im Zusammenhang mit der hier gewählten salutogenetischen Perspektive nicht weiter ausgeführt werden. So sehen wir in der Aufstellungsarbeit auch die gemäß der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD) gefundenen psychodynamischen Beziehungsgestaltungsmuster wieder, wie z. B. die Konflikte Individuation versus Abhängigkeit, Unterwerfung versus Kontrolle, Versorgung versus Autarkie, Selbstwert-, Schuld-, ödipale und Identitätskonflikte. Es finden sich eben die Grundschritte des Lebens. Die Symbiosechance und Präsenzerfahrung – Kohärenzerfahrung zum Letzten Es geht darum, dass wir Pilger auf der Lebenswanderschaft (Schwimmer im Lebensstrom) werden! Und immer behalten wir die Sehnsucht, Autonomie und Bezogenheit »all einig« verschmolzen zu erfahren. Der reife Mensch kann die Voraussetzung zum Erleben von Wohlbefinden und Lust aus sich heraus freisetzen (aktive Gestaltungs- und Beeinflussungsmöglichkeiten), ohne dabei in Angewiesenheit auf andere Menschen zu verharren (passive Erwartungshaltung – Bindungsfalle). Das stimmt als Entwicklungsideal. So kann er Liebe empfangen oder mit anderen in der Liebe sein. Im günstigen Fall verbindet sich eine früh erfahrene Grundgeborgenheit mit der Fähigkeit zum Teilhaftigkeitserleben (Kohärenz). »Ich liebe die Welt. Die Welt liebt mich.« Im Umkehrschluss ist es aber in der Regel falsch, zu glauben, der reife Mensch käme ohne die Nahrung der Mitmenschlichkeit, den © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Kontakt zu Bezugspersonen, menschliche Nähe, wärmende Wesen und das Teilen aus. Und doch fühlen wir uns in der gelingenden Lebensreife mehr und mehr an die uns sich zunehmend klarer offenbarenden, immer einfacher und archetypischer erscheinenden Grundrhythmen des uns tragenden Lebens und an eine im besten Falle uns behütende geistige Welt angeschlossen. Die Lebens- und Schöpfungsprinzipien werden im Sinne einer didaktischen Reduktion immer simpler und durchtönender. Auch in komplexen, früher mehr verwirrenden Situationen können sie erscheinen, nähren und tragen. Dies ermöglicht auch eine Individuation im wachen Bewusstsein für das Gemeinwohl – es ermöglicht, ein anderes Wesen zu fördern. Die Erfahrung vom »Fluss der Liebe«, wie sie manche Klienten aus der Aufstellungsarbeit berichten, ist wie eine Verheißung, auch Versöhnung, eine Herausnahme aus der Zeit im Sinne der »puren Präsenz« (Rohr, 2012), und doch Religio als erlösende Zurückgebundenheit mit der anfänglichen Urerfahrung von Symbiose und Ganzheit in der Zeugung bzw. Schwangerschaft. Sie ist wie die zeitliche Heraus- und Ausnahme auf dem eigenen Individuationsweg. Sie kündet, dass das verloren gegangene Prinzip, nach dem wir im Heil suchen, ubiquitär doch da ist im »Da-Sein«. Daher kennt sie keine Zeit, nur Präsenz, Gnade, Resonanz und Schöpfung. Und es braucht das Vertrauen darauf, dass ich das mich meinende Leben auch aufgreifen kann und nicht im falschen Film als Statist der Erwartungsaugen der anderen feststecke. »Präsenz wird als ein Moment tiefer, innerer Verbundenheit erfahren und sie zieht uns als zutiefst Erfüllte unweigerlich in das nackte und ungeschützte Hier und Jetzt hinein. Das kann mit profunder Freude und mit profunder Traurigkeit verbunden sein. An diesem Punkt möchte man entweder dichten, beten oder einfach nur völlig still sein« (Rohr, 2012, S. 31).
Fazit Aufstellungsarbeit ist eine konsequente Ausarbeitung des salutogenetischen Ansatzes (zum Überblick siehe Abbildung 1). In den nunmehr in 14 Jahren am Hause erfolgten ca. 10.000 Aufstellungen hat sich gezeigt, dass dieses Verfahren, insbesondere kombiniert mit © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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der salutogenetischen Ausrichtung des Gesundungshauses Lahnhöhe, tief greifende Gesundungseffekte hat. Es werden Körperverständnis und Lebenskunde vermittelt, die Handhabbarkeit des Lebensweges in Aufrichtigkeit gefördert und dabei organismische Selbstorganisation Energiefluss, Bindungsgestaltung und Teilhabe angebahnt.
Nachdenkliches Nachspiel: Höhlenkinder oder Hänschen klein »Sie saßen unter dem Schirm und hingen ihren Erinnerungen nach. Wie zwei Kinder, die sich verirrt haben und nach Hause sehnen, dachte er. Ihm fielen Lieblingsbücher seiner Kindheit ein, in denen Jungen und Mädchen sich verirrten und in Höhlen und Hütten überlebten, auf einer Reise überfallen und in die Sklaverei verschleppt, in London geraubt und zum Betteln und Stehlen gezwungen oder aus dem Tessin als Schornsteinfeger nach Mailand verkauft wurden. Er hatte mit den Kindern um den Verlust der Eltern getrauert und auf die Rückkehr zu ihnen gehofft. Aber der Reiz der Geschichten lag darin, dass die Kinder ohne die Eltern zurechtkamen. Wenn sie schließlich nach Hause zurückkehrten, waren sie den Eltern entwachsen. Warum ist es so schwer, selbstständig zu sein, wozu man doch nur sich selbst braucht und niemand anders?« (Schlink, 2012, S. 17)
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© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Anlage: Information zur Familienaufstellung In der Familienaufstellung arbeiten wir mit dem »inneren Bild«, das wir von unserer Familie bzw. unserer aktuellen Lebens- oder Arbeitssituation in uns tragen. Mithilfe von Stellvertretern, die die eigene Person oder Familienmitglieder vertreten, wird dieses innere Bild im Außenraum sichtbar und erlebbar gemacht. Mit den Wahrnehmungen der Stellvertreter werden Störungen im System aufgespürt und in einem Gemeinschaftsprozess bearbeitet. Ziel kann es sein, mit der Vergangenheit Frieden zu finden und Lösungen für die Zukunft aufzuspüren und auszuprobieren. In der Aufstellungsarbeit können Erkenntnisse über biografische Ereignisse und zwischenmenschliche Beziehungen gewonnen werden. Wir lernen z. B., unsere kindliche Sichtweise auf die Eltern zu verändern und sie mit ihren Verstrickungen und Schattenseiten, aber auch mit ihren ungelebten liebevollen Impulsen erwachsen anzuschauen. Wir können uns mithilfe der Aufstellung entscheiden für den Abschied von alten Mustern, für einen neuen Umgang mit eigener Verantwortung, fremder Schuld oder schicksalhaften Ereignissen, für eine neue Haltung zu geistigen Qualitäten wie Wahrheit, Liebe und Vertrauen. Die Stellvertreter erleben ohne entsprechende Vorinformationen oft an ihren Plätzen intensive Gefühle und körperliche Empfindungen, die eine erstaunliche Entsprechung zu der Lebenssituation des Aufstellenden haben. Es entsteht der Eindruck, als bewegten sie sich in einem sogenannten »wissenden Feld«. Der Prozess der Aufstellung und die Wahrnehmung der Situation durch die Teilnehmer geschieht weniger ausgedacht oder »gemacht« als vielmehr intuitiv. Unter den Teilnehmern entsteht eine offene, heilsame Atmosphäre für die Lösungsfindung. Häufig fragen sich Stellvertreter, ob ihre Wahrnehmungen zu ihrer Rolle oder zu ihrer eigenen Person gehören. Dabei geht es oft nicht um »Entweder-oder«, sondern um ein »Sowohl-als-Auch«, da eigene Themen des Stellvertreters in Resonanz treten zur vertretenen Person. Wichtig ist jedoch, dass die Stellvertreter am Ende ihre Rollen ganz ablegen und wieder in ihre eigene Kraft gehen. Auch der Außenkreis ist ein tragendes Element in der Aufstel© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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lungsarbeit. Die Aufstellung ist eine erlebnisaktivierende Methode, in der oft intensive Gefühle auftreten, von denen auch Teilnehmer im Außenkreis ergriffen werden. Bei der ersten Teilnahme an einer Aufstellung ist es sinnvoll, zunächst als »teilnehmender Beobachter« im Außenkreis dabei zu sein. Jeder Teilnehmer kann sich frei entscheiden, wann er sich als Stellvertreter zur Verfügung stellt. Eine innerlich liebevolle, unterstützende Haltung zu dem Aufstellenden wird vorausgesetzt. Der Aufstellende erlebt den Prozess zunächst aus der Distanz des Außenkreises. Sichtbar werden Wechselwirkungen in familiären oder anderen Systemen, die oft in der Einzeltherapie nicht erkennbar sind. Auch Zusammenhänge zwischen körperlicher, seelischer und geistiger Welt können unmittelbar wahrnehmbar werden. Das Ergebnis einer Aufstellung ist nicht als unmittelbare Handlungsanweisung zu verstehen, sondern als Verwandlung des inneren Bildes, das es ermöglicht, mit neuem Blick auf nahestehende Menschen oder die eigene Lebenssituation zu schauen. Dabei bleibt der Aufstellende frei, von der Aufstellung das zu nehmen, was ihm nützlich ist, und auf der Grundlage der Aufstellung zu einer eigenen bewussten Entscheidung zu gelangen. Am Anfang steht die Klärung des Anliegens und des Zieles der Aufstellung. Dementsprechend wird entschieden, ob die Herkunftsfamilie, das gegenwärtige Familiensystem oder evtl. auch ein anderes System aufgestellt wird, wie z. B. die Arbeitsplatzsituation oder die verschiedenen Kräfte der inneren Seelenlandschaft. Die Familienaufstellung ersetzt nicht einen längerfristig angelegten psychotherapeutischen Prozess, sondern kann eingebettet in eine kontinuierliche Psychotherapie ihre Wirkung entfalten.
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Thomas Heucke
Der Mensch auf Erden zwischen Sein und Werden: Gemeinsamkeiten eines Menschenbildes hinter Aufstellungsarbeit und Salutogenese?
Auf den ersten Blick Aufstellungen bringen (oft dem Einzelnen unbewusste bzw. im Alltagserleben verborgene) Aspekte von generationenübergreifenden Bindungen zwischen Menschen, d. h. auch zwischen Lebenden und Verstorbenen, ans Licht. Das »eine« abschließende Lösungsbild empfinden die Teilnehmer häufig als wohltuende Befreiung. Die von dem Juden Aaron Antonovsky begründete Salutogenese möchte in ähnlicher Weise durch ein Zusammenwirken von Bedeutsamkeit, Verstehbarkeit und Handhabbarkeit die Gesundheit des Einzelnen in seinem gesellschaftlichen Kontext, im Hier und Jetzt, empfunden als Zugehörigkeit umfassendes Kohärenzgefühl, d. h. ein Erleben von Stimmigkeit, fördern. Beide suchen einen Zugang zum leidenden Menschen, wie er sich in dieser »Welt der Zwei« vorfindet: Hier auf Erden erfährt er sein Dasein im Wechsel von Sein und Tun, von Kommen und Gehen. Von ihm, von seinem Werden und Vergehen, wie es hier auf Erden erscheint, vom Sein und von der Beziehung des Einen zur Zwei erzählt schon die im Zuge ihrer Weitergabe vielen unbegreiflich gewordene Bibel. Nach meinem Theologiestudium in den 1970er Jahren lernte auch ich sie neu kennen, nachdem meine Schulfreundin Bärbel Wiesmann mich darauf hingewiesen hatte, wie der jüdische Wirtschaftswissenschaftler Friedrich Weinreb sie von ihrer hebräischen Ursprache her neu erschlossen hat. (Juden, näherhin »Hebräer«, nennt er nicht nur diejenigen Menschen, die von einer jüdischen Mutter geboren wurden, sondern alle, die an den EINEN Gott glauben.) Der vorliegende Beitrag möchte Sie einladen, einige Zusammenhänge zwischen dem biblischen Menschenbild nach Friedrich Weinreb »vom Wesen her« und seinen Entsprechungen zu entdecken, die © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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sich als Haltungshintergrund einer der Salutogenese verbundenen Aufstellungsarbeit wiederfinden. Daraus werden Prinzipien erkennbar, wie Aufstellungsbilder der Förderung der Selbstregulation im Sinne von Hilfe zur Selbsthilfe als Wegbereiter zu heilsamem Einheitserleben dienen.
Der leidende Mensch im gesellschaftlichen Kontext heute: Erste heilsame Ansätze Das Dasein des Menschen im heutigen gesellschaftlichen Kontext erscheint gekennzeichnet von einer Flucht in die Vielheit und die Form. Das Studium der Bibel lehrt, dass es sich dabei offenbar um Urformen menschlicher Lebensgestaltung auf Erden handelt. In der Geschichte von der Sintflut und der Arche Noah (1. Mose 6–8) wird erzählt, dass es vierzig Tage und vierzig Nächte regnete (Kapitel 7,14), sodass Wassermassen für alle Lebewesen bedrohlich anschwollen. Daraufhin reute es das große Ganze (Gott) und es tat seinem »Herzen« weh (Kapitel 6,6). Deswegen besann Es/ER sich auf den Ursprung des Anfangs, die Zweiheit, und bewahrte Paare und Gruppen von Lebewesen mit sieben Angehörigen (Kapitel 6,19), um dennoch Nachwuchs zu ermöglichen (Kapitel 7,1). Dies konnte nach der Überlieferung geschehen, weil ein Wind das Wasser sinken ließ. Zur Deutung trug Friedrich Weinreb Wesentliches bei: Bilder des Wassers sind Sinnbilder für die Zeit, die gleichermaßen fließt. »Vierzig Tage und Nächte« steht für alle Zeit. Die Ursache der oben skizzierten Entwicklung besteht darin, dass die seelisch-geistige Verbindung des Menschen zum Sein abgerissen erscheint. In Aufstellungen erweist sich gerade der-, die- oder dasjenige als wirksam, was verleugnet, ausgeklammert oder auch nur (unbewusst) vergessen wurde. Dies geschieht, obgleich (als seelisches Bild) der Regen vom Himmel zur Erde herabfällt und neben der Sonne erst »Leben« hier ermöglicht. Deshalb schmerzt das Herz als das dem Verbinden dienende Organ, wie es das körperliche Herz mit dem Kreislauf bewerkstelligt. Der Wind, in der hebräischen Ursprache dasselbe Wort wie Geist (»ruach«), sorgt ebenfalls für die Verbindung zwischen dem Sein und dem Einzelnen: »Der Lebensatem wird durch die Nase eingeblasen« (1. Mose 2,7). Heutzutage schwillt die Zeit © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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an: Beschleunigung. Aus der »Sintflut« ist die Informations- und Medienflut geworden. In einer weiteren alten Geschichte mit dem Titel »Der Turmbau zu Babel« (1. Mose 11,1–9) wird erzählt, dass alle Menschen die gleiche Sprache sprechen und die gleichen Worte gebrauchen. Trotzdem haben sie Angst, dass die Menschen sich zerstreuen. Deshalb bauen sie im Stadtzentrum einen Turm aus geformten Steinen, dessen Spitze bis zum Himmel reicht, damit die Menschen den Mittelpunkt ihres Lebensraumes im Blick behalten mögen. Infolge dieser Ursache entstehen als Wirkung siebzig (d. h. alle) Sprachen und keiner versteht mehr den anderen. Es mutet an, als hätte der Mensch es »gut gemeint, aber nicht gut gemacht«. Erst die Bindung an die eigentlich wertfreien Phänomene Vielheit und Form führt zu starker Angst, die erlitten wird und zugleich gebannt werden soll durch Sätze wie »Geht nicht, gibt’s nicht!«, »Alles ist machbar!« und »Alles lässt sich kontrollieren«. Bemühungen um Leistung genügen nicht mehr. Erfolg und Fehlerfreiheit sollen durch (oft ausufernde und gegenüber dem zieldienlichen Handeln vorrangige) Dokumentation und Qualitätsmanagement gesichert werden (Retzer, 2012). Das Leiden gehört zur menschlichen Existenz auf Erden. Als Folge aller Anstrengungen, dieses zwangsläufig mit der Zweiheit einhergehende Erleben zu leugnen, wird auch das Gegenteil von heute oft angestrebter Perfektion immer offensichtlicher, nämlich Vergänglichkeit, Endlichkeit, Verletzlichkeit, und dadurch zunehmend Wut, Trauer und Schmerz. Der als Mann oder Frau inkarnierte Mensch sehnt sich nach Ergänzung, z. B. in einer Partnerschaft, und nach seinem einen Ursprung in der Ewigkeit jenseits von Raum und Zeit. Wer im Alltag vom Erfolgskurs »umkippt« in das Gegenteil oder dorthin, wo sich beides bis hin zu einem Schwanken zwischen Todesangst und Todessehnsucht (mit Ruhebedürfnis als Vorstufe) mischt, bei dem taucht eine Grundfrage menschlicher Existenz auf: »Wer bin ich und wo stehe ich?« (Seifge-Krenke, 2012). Sie zieht die Fragen nach sich »Woher komme ich?« und »Wohin gehe ich?«. Dies geschieht umso stärker, je weniger Geborgenheit und Halt, z. B. in Familien, durch Glaubensgemeinschaften usw., vielen Einzelnen spürbar zur Verfügung stehen. Während die Auf© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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stellungsarbeit grundsätzlich eher von der Vergangenheit her nach Antworten auf die gestellten Fragen schaut, richtet die Salutogenese ihren Blick auf gesunde Entwicklung in der unmittelbar bevorstehenden Zukunft, sodass hier bereits anklingt, wie beide Ansätze in der jeweiligen Gegenwart eins werden (siehe das Einleitungskapitel in diesem Band). Während früher Krankheit, z. B. depressive Erschöpfung, vorrangig durch die Erlebnisweise des Einzelnen als Einbuße an Leistungs- und Anpassungsfähigkeit erklärt wurde, gelten heute gesellschaftliche Bedingungen als Brutstätte von Burnout, wenngleich in Wirklichkeit wohl beides zusammentrifft. Die Lebensaufgabe des Menschen auf Erden, zu deren Bewältigung Aufstellungsarbeit und Salutogenese beitragen möchten, besteht im Bewusstwerden, für eine Zeitlang herausgetrennt aus »Allem« (als Geschöpf, als Existenz, in der Erscheinung hier: Kind der Eltern usw.) zu lernen, dass die im Rahmen der Schöpfung vollzogene Trennung zur Schulung der Fähigkeit der Unterscheidung dient, um mithilfe der Kraft der Wandlung (Hierke-Sackmann, 2012) die Erfahrung im großen Ganzen durch Entwicklung zu bereichern. Aufstellungsarbeit folgt ihrerseits dieser Bewegung nach dem Prinzip: »So wenig Form (Intervention) wie nötig, so viel Inhalt (z. B. von den Stellvertretern vollzogene Bewegung der Seele) wie möglich«: Eine Konstellation entsteht am Anfang, dann werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede deutlich (beispielsweise wenn Identifizierungen sich lösen), bis sich am Schluss ein gewandeltes Bild möglichst für alle Beteiligten stimmig anfühlt. »Alles ist eins« wird erst dann als Freude wahrgenommen, wenn beispielsweise zwei, als Menschen grundsätzlich gleiche und dennoch als Mann und Frau verschiedene Personen (wie auch der Einzelne innerlich in seinem männlichen und weiblichen Teil) in ihrem jeweils abgegrenzten Ich (im Unterschied zum völlig losgelösten Ego bei Eckhart Tolle) und ihrem sich zugleich verbunden fühlenden Selbst (nach Siegfried Essen, der Aufstellungen mit den Anteilen »Ich« und »Selbst« anbietet) ins Gleichgewicht kommend eins werden, Kohärenz erleben, d. h. Heilung erfahren. Vielleicht spürt jemand dann: »Jetzt fühle ich mich (erstmals oder wieder?) im großen Ganzen aufgehoben, liebevoll verbunden, ›in Ordnung‹«. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Der Mensch lässt sich in diesem Sinne verstehen als Teil von »Alles«, als Teil des Seins, »nur« als Aspekt, als Ebenbild oder Gegenüber Gottes, des Göttlichen, sowohl unterschieden als auch im Einklang. Zugleich ist der Mensch aber auch Kind seiner Ahnen (vgl. den Beitrag von T. Meyburgh in diesem Band). Darin kommt sein Wesen als Teil von »Alles« zur Erscheinung hier in dieser Welt, in der – wohl zu unterscheiden von einer Spaltung im Sinne von paradoxem Dualismus – das Prinzip der Zweiheit herrscht als Voraussetzung für die Erfüllung der oben genannten Lebensaufgabe, Einswerdung: »Wie innen so außen« und »Wie oben so unten« immer wieder neu zu fördern und entstehen zu lassen.
Woher stammt der Mensch auf Erden? Ist der Mensch ein mithilfe von Trennung und Wandlung aus der Einheit heraus erschaffener Teil von »Alles«, d. h. von seinem Wesen her ein – ganzer, »gesunder«, heil(ig)er – Mensch im Sein? Oder ist er das Kind eines Mannes und einer Frau, die dadurch zu Vater und Mutter werden, ja der Nachkomme vieler Ahnen (also von 2 Elternpersonen, 4 Großeltern, 8 Urgroßeltern, 16 Ururgroßeltern, 32 Urururgroßeltern), ein Mensch im Werden, der im Laufe seines Daseins erlebt, wie er selbst vom Kind allmählich bestenfalls zur Urgroßmutter oder zum Urgroßvater voranschreitet, bevor er oder zumindest seine hiesige Erscheinungsform wieder (ver)geht? Beide Beschreibungen treffen für diese Welt zu, auch hier: Zweiheit als Prinzip. Aufgrund ihrer Verstehbarkeit und Handhabbarkeit erscheint die zweite Frage einer wissenschaftlichen Betrachtung, z. B. durch die Salutogenese, unmittelbar zugänglich. Sie lässt sich in Aufstellungen und ergänzend mithilfe des Genogramms im Rückblick nachzeichnen und dank der Familienbiografik (Adamaszek, 2003, 2011; Heucke, 2008) in ihren Prinzipien, Zusammenhängen und Wechselwirkungen erforschen. Das vom Kognitiven ausgehende Kennenlernen der eigenen Zugehörigkeit im Genogramm und ihr mehr emotional getragenes Erleben in Aufstellungen münden ein in Zugehörigkeitsgefühl, das unmittelbar als Stimmigkeit, Kohärenz (schon während des Entstehungsprozesses und am Schluss im © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Lösungsbild) erlebbar wird. Daraus erhellt, dass der Mensch eben »doppelten Ursprungs« ist (Dürckheim, 2009b). Eine Aufstellung kann stattfinden, wenn eine Person mit einem Anliegen, (ggf. gegenständliche) Stellvertreter und ein Prozessbegleiter sich zur selben Zeit an einem Ort einfinden. Für den Verlauf der Arbeit hieß es schon früh: »Einschließen statt ausschließen« (Nelles, 2003, S. 91). In der Praxis tauchen immer wieder berührende Bilder auf, wenn durch eine veränderte Sichtweise (Wirklichkeitskonstruk tion) auf die Beziehungen, wie sie sich (als Phänomene) zeigen, etwas oder jemand in den Blick kommen (»Anerkennen, was ist«, Hellinger u. ten Hövel, 2002) und »ins Herz geschlossen« werden darf, das/der lange im inneren Bild gefehlt hat.
Bewusstseinsentwicklung als Sinn des Menschen auf Erden Über die eben skizzierte leibliche Ebene hinaus vollzieht der Mensch im Laufe seines Daseins nicht nur Wachstum, sondern auch eine Entwicklung, namentlich seines Bewusstseins. Ein sehr eindrucksvolles Modell mit sieben Bewusstseinsstufen hat Wilfried Nelles (2009) beigesteuert und daraus das Aufstellungsformat des Lebensintegrationsprozesses (LIP) entwickelt. Um den Hintergrund der Salutogenese und die Vorgehensweise von (Genogramm- und) Aufstellungsarbeit besser zu verstehen, erscheinen die fünf von Wilfried Belschner (2007, S. 76) genannten Merkmale bedeutsam, die er als Faktoren für das »rationale Wachbewusstsein und die Konstruktion vom Wirklichkeit in westlichen Kulturen« beschrieben hat: 1. der dreidimensionale Raum, 2. die lineare Zeit, 3. die Subjekt-Objekt-Trennung (Einheit versus Isoliertheit, Verbunden-Sein), 4. die lokale Kausalität (Person UND Kontext), 5. die konsistente Ich-Organisation (Ich und Ich-Transzendenz). Der dreidimensionale Raum mit Länge, Breite und Höhe wird beim Zeichnen der grafischen Darstellung des Genogramms auf zwei Ebenen (oben/unten sowie rechts/links) reduziert und beim Familien© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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stellen genutzt, wenn Stellvertreter beispielsweise am Boden sitzen oder liegen und im Verlauf des Prozesses wieder auf(er)stehen. Beide Verfahren tragen dazu bei, einen heilend wirkenden seelischen Erlebnisraum zu eröffnen (Bourquin, 2012). Neben der Unterschiedlichkeit des Zeiterlebens (ein Zeitabschnitt kann sich hinziehend oder wie im Flug vergehend erlebt werden) legt ein lineares Verständnis der Zeit nahe, dass die Vergangenheit ständig zu-, die Zukunft dagegen abnimmt, während die Gegenwart laufend, heute oft als rasend empfunden, voranschreitet. In einer Aufstellung lässt sich ebenfalls die Entwicklung von Systemen abbilden: Sie beginnt dann beispielsweise mit einem Paar. In einem nächsten Schritt wird beobachtet, was geschieht, wenn ein Kind hinzukommt usw. Auf ein Gesundheit förderndes Verständnis von Zeit werde ich noch kurz zu sprechen kommen (Schmitz, 2012). Um Erfahrung als Grundlage von Bewusstseinsentwicklung – wie Wilfried Nelles (2012) sie in seinem Aufstellungsformat des Lebensintegrationsprozesses darstellen lässt – zu ermöglichen, braucht es eine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt mithilfe von Grenzen, wie Ero Langlotz (2005) sie beschrieben hat: Grenzen, die ermöglichen, Eigenes von Fremdem zu unterscheiden, die trennen und verbinden, und Grenzen, die einen eigenen Raum schaffen. Vom Gesetz der Wechselwirkung her ist bekannt, dass z. B. in Paarbeziehungen beide folgenden Prinzipien gelten, indem sie einander ergänzen: »Gleich und Gleich gesellt sich gern« und »Gegensätze ziehen sich an« (Jellouschek, 1992). Siegfried Essen (2013) unterscheidet, wie gesagt, zwei seelische Anteile: ein »Ich«, das unterschieden von anderen in der Welt steht (entsprechend dem »Welt-Ich« bei Graf Dürckheim, 2009a) und das »Selbst«, das sich zugehörig verbunden weiß und fühlt. Eckhart Tolle (2005) beschreibt ein »Ich« als »Ego«, das das Selbst verleugnet oder abspaltet und dadurch Schmerz verursacht. Zugleich kennt die Psychotherapie auch die Ego-States, d. h. Ich-Zustände (wie z. B. das verletzte innere Kind oder den erwachsenen Beobachter), die im inneren Bild am runden Tisch versammelt und ins Gespräch gebracht werden (Watkins u. Watkins, 2012). Salutogenese wendet sich an den Menschen in der »Welt der Zwei«. Wer nicht mehr weiß, was beispielsweise ein Symptom bedeu© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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tet, wer seine Botschaft nicht als Hinweis verstehen oder gar handhaben kann, möge zum Erleben von Zugehörigkeit in einem engeren und Stimmigkeit in einem weiteren Sinne, zusammengenommen Kohärenz, zu Einheitserleben und zu Permanenzgefühl durch Rhythmus ermuntert werden. Auch Aufstellungsarbeit und die skizzierten Modelle wollen den Menschen immer wieder einladen, sich für das Einheitserleben zu öffnen, das dann gleichermaßen wie die Zukunft der Gegenwart demjenigen Menschen, der sich in achtsamer Stille dafür öffnet, als Geschenk entgegenkommt. Aufstellungsarbeit beginnt mit einem bedeutsamen Anliegen bezüglich der Beziehung zu sich selbst oder zu anderen. Entsteht eine »geschlossene Gestalt« (Blanke, 2014) und ein (gutes) Lösungsbild mit Zufriedenheit bzw. Wohlbefinden der beteiligten Stellvertreter, erleben sie für einen Moment Kohärenz, sodass sie das Bild als Ressource mitnehmen können, um daraus einen nächsten Schritt, bezogen auf ihr Anliegen, abzuleiten.
Die hebräische Ursprache als Zugang zu einem glaubwürdigen biblischen Menschenbild Die meisten Aufstellungen beginnen damit, dass jemand kurz von seinem Anliegen bzw. seinen Familienangehörigen erzählt. Dann öffnet sich ein »wissendes Feld« (Mahr, 1999) und Informationen beginnen sowohl aus dem inneren Wissen der Beteiligten als auch von den Seelen der Betroffenen bzw. der geistigen Welt her zu sprudeln und lassen sich anschließend zusammen mit dem bereits bewussten persönlichen Wissen um die vertretenen Menschen und Umstände zu einem erweiterten Bild zusammenfügen. Friedrich Weinreb hat aufgrund eigener Erfahrungen und durch sein immenses Wissen die Bibel, insbesondere das Alte Testament, von ihrer hebräischen Ursprache her erschlossen und in zahlreichen Veröffentlichungen neu zugänglich gemacht. Wie sich im Wort »erzählen« wiederfindet, entspricht dort jedem Konsonanten des Alphabets eine Zahl mit einer besonderen Bedeutung (Weinreb, 1995, 2002, 2007). Der erste Buchstabe Aleph (griechisch: Alpha) entspricht der Eins, der zweite, die Beth, der Zwei usw.: in Einserschritten bis 10, dann in Zehnerschritten bis 100 und schließlich in Hunderterschritten bis zur © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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500. Die Vokale bleiben dabei übrigens ungeschrieben und werden nur gesprochen. Durch Würdigung des Zusammenhangs zwischen Konsonanten und Zahlen innerhalb der Worte ergeben sich ein neuer, leicht handhabbarer Einblick und ein tieferes Verständnis des bedeutsamen Sinnes der gesamten Bibel, besonders des Alten Testaments. Die auf diese Weise als »Meisterwerk der Kohärenz« zugängliche Bibel kann so, wie sie uns vorliegt, unmöglich von einem oder einigen Menschen erfunden, sondern »nur« weitergegeben worden sein. Sogar das, was niedergeschrieben ist, beruht letztlich immer auf der »mündlichen Thora« (Überlieferung der fünf Bücher Mose), wie etwa auch Reiki (Günther u. Marché, 2005) stets mündlich weitergegeben und persönlich unterrichtet wird. Wer die Bibel als historisches Buch im Sinne unserer raumzeitlichen und kausalen Weltanschauung liest, muss bald zu dem Schluss kommen, dass Abstriche zu machen sind, weil die Alten, vielleicht gar als Primitive verunglimpft, es in grauer Vorzeit eben nicht besser wussten. Versteht man die Bibel jedoch als Quelle der Nachrichten darüber, wie das Wesen(tliche) sub specie aeternitatis (von der Ewigkeit her betrachtet) von »außerhalb unserer Zeit« her, in der Welt des Daseins hier und vor allem in jedem Menschen selbst erscheint, eröffnen sich bisher ungeahnte Einsichten. Eine detaillierte Einführung würde den hiesigen Rahmen sprengen. Im Folgenden komme ich jedoch gerne kurz darauf zurück, weil sich auf diese Weise über bloßes, beispielsweise im Internet abrufbares Faktenwissen hinaus immer wieder neu größere Bedeutungszusammenhänge leicht verstehbar erschließen. Freilich bleibt das Durchdringen der Botschaft des Alten Testaments eine »Lebensaufgabe«, die sich über das gesamte Dasein erstreckt. Ohne sich darauf zu beziehen, fordert auch der Oldenburger Professor für Psychologie Wilfried Belschner (2007, S. 35): »Wir müssen die Medizin, die Psychotherapie und alle anderen heilungsrelevanten Settings ›vom Wesen her‹ konzipieren.«
Das Sein im Wesen Aufstellungen gewähren, ausgehend von einem minimalen Rahmen, mithilfe punktueller Interventionen Einblicke in das Sein des Menschen, während die Salutogenese ergänzend eine schlüssige Wissen© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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schaft vermittelt, wie im Handeln mit dem Sein, gesunde Entwicklung fördernd, umgegangen werden kann. Deswegen soll zunächst vom Sein im Wesen gesprochen werden. Karlfried Graf Dürckheim (2009a, S. 57) schreibt dazu: »Das Wesen ist der eigentliche Kern des Menschen, darin er unaufhebbar teilhat an der überweltlichen Wirklichkeit des universalen göttlichen Geistes […] Wesen ist die Weise, in der dieser [der Mensch] in ihm anwesend ist und auf individuelle Weise als eigenschöpferische Kraft in ihm und durch ihn Gestalt gewinnen möchte in der Welt.« »Menschliches Leben erfüllt [oder verfehlt] sich in der Spannung zwischen seinem unbedingten überweltlichen Wesen und seinem weltbezogenen und weltbedingten Ich« (S. 37). Ohne an dieser Stelle in eine theologische Diskussion eintreten zu können oder zu wollen, möchte ich dennoch zum Begriff GOTT ein paar Sätze anfügen. In Johannes 1,1 heißt es: »Im Anfang war das Wort, das Wort war bei Gott und Gott war das Wort.« Auch in der Schöpfungsgeschichte (1. Mose 1) »spricht« Gott, er erschafft die Welt durch das Wort (Weinreb, 2002). Die Sprache (hebräisch: s a p h a r ) bildet somit zunächst die halboffene Grenze zwischen Diesseits und Jenseits. Auch in Aufstellungen sprechen die Stellvertreter von Verstorbenen und können angesprochen werden. Ihrem Wesen nach ist »Komm-uni-kation« (Watzlawick, 1974; Schulz von Thun, 2010) ihrerseits eine Weise, miteinander eins zu machen und zu werden, ein Gespräch zu führen oder auch innere Zwiesprache zu halten, also sich (gemeinsam) auf Einheit hin auszurichten. Vielleicht lassen sich salutogene Aufstellungen in diesem Sinne sogar implizit als Gottesdienst auffassen. Im Alten Testament durfte der Name »Gott« nicht ausgesprochen werden. Der erste Buchstabe des Alphabets, die Aleph, die Eins (nicht zu verwechseln mit der »1«, mit der unsere Zahlenreihe beginnt) bleibt lautlos. Das geschriebene Wort für »Gott« heißt »Jahwe« mit dem Zahlenwert 10–5–6–5. Das kommt von »howe«, das Sein. Das »J« oder »Je« (wie in Jehova, nicht zu verwechseln mit den Zeugen Jehovas) steht für die dritte Person. Wörtlich übersetzt heißt »Jahwe« also: »ER-Sein«. Ausgeschrieben im Hinblick auf sein Erscheinen hier in der Welt umfasst er 10–5–6–5. »6« steht immer für »und«, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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d. h., 10 (ist) 5 und 5. An anderer Stelle steht geschrieben: »Er war, er ist, er wird sein«, ewig, jenseits unserer Zeit. Überdies erzählt die Überlieferung, dass es 70 Sprachen und für Gott 70 Namen gibt. (»70« bedeutet »alle«.) Nach der Schöpfungsgeschichte (1. Mose 1–2,4a) wurde die Welt durch 10 Taten in 6 »Tagen«, d. h. in 6 Schritten, geschaffen. In der 10 erscheint die 1 auf einer anderen Ebene: 4 + 3 + 2 + 1 = 10. Entsprechendes gilt freilich für die Beziehung zwischen Zehnern und Hundertern. Die Schöpfungstaten beginnen stets mit »Gott sprach …, es werde …« und enden mit »Und Gott sah, dass es gut war«. Am 7. Tag, wie wir auch 7 Wochentage kennen, soll die Schöpfung ruhen, weil dann »alles da« ist (vgl. das oben zu »70« Gesagte). Von einem Ende ist dort keine Rede. Beim 7. Tag handelt es sich also um die Welt, in der wir heute leben. Anders formuliert könnte es heißen: GOTT IST ALLES IN ALLEM (Hierke-Sackmann, 2012). Das SEIN im WESEN ist also der SCHÖPFER, im (von Aufstellungen her bekannten) Familienbild gesprochen: der Vater der Welt und des Menschen, wie er hier erscheint. Vom großen Ganzen wird mithilfe der Kraft der Trennung ein Teil ausgesondert, entäußert und mit der Möglichkeit zur Wandlung ausgestattet, die ihm Wachstum und Entwicklung ermöglicht (Hierke-Sackmann, 2012). Wenn doch in der Einheit im Wesen alles da ist, lässt sich fragen, warum das Sein den Aufwand treibt, solche Geschöpfe wie die Welt und erst recht den Menschen entstehen zu lassen. Von der Schöpfung und ihrer Bedeutung für diese Welt, von ihrem Sinn, erzählt die Bibel. Sie beginnt mit dem Wort »Bereschit« (1. Mose 1,1). Es wird für gewöhnlich mit »Am Anfang« übersetzt, was den Trugschluss einer raumzeitlichen Beschreibung nahelegt. Eigentlich heißt es »In der Haupt-Sache« oder »Im Prinzip«. Es trägt den Wortstamm »bara« mit dem Zahlenwert 2–200–1. Das Prinzip der Schöpfung besteht also in der Erschaffung der Zweiheit. Die Bibel berichtet davon, wie diese hier in der Welt erscheint. Die Schöpfung endet nach biblischer Überlieferung mit dem Menschen. Wie das mit der »1« endende Wort »bara« erkennen lässt, erfordert die Vollendung der Schöpfung den Weg zurück zur »1«. Was also ist die Bestimmung des Menschen, in deren Dienst auch salutogene Aufstellungen stehen? © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Der Mensch vom Wesen her An dieser Stelle sei an die Ausführungen zur Frage »Woher stammt der Mensch auf Erden?« angeknüpft. Als erste Schöpfungstat entsteht der Dunst, hebräisch »ed«, mit dem Zahlenwert 1–4. Der oben genannte Regen folgt gleichsam als Gegenstück des Dunstes erst später (vgl. 1. Mose 2,5). Sobald Licht, Wasser, Pflanzen, Tiere und, ausgehend von der ursprünglichen, »göttlichen« Trennung, die Fähigkeit zur Unterscheidung (von Meer und Land) als Voraussetzungen geschaffen sind, kommt am Ende, am 6. Tag, der Mensch – bekanntlich: Adam, 1–4–40. »4« ist die Vollendung der »2«, 2 x 2. Das Wort enthält die »4« und die »40«, wie dem Menschen die schöpferische Fähigkeit gegeben ist, die Ebene zu wechseln. Der Mensch ist, wie gesagt, in der Lage, vier Möglichkeiten, nämlich »A«, »B«, »weder A noch B« und »sowohl A als auch B« zu unterscheiden. Auch in Aufstellungen ist das Tetralemma als Format bekannt, das vier Stellvertreter für den Protagonisten, sein Ziel, das Hindernis und eine gute Kraft vereint (Varga von Kibéd, 1999): Ein Daumen und vier Finger finden sich auch an der menschlichen Hand auf der körperlichen Ebene. »40« ist die Zeit, alle Zeit, die in ihrem Fließen dem Wasser ähnelt (1. Mose 6 ff.). So wird bei der Taufe ursprünglich vom Eintauchen in den Jordan analog zum Schöpfungsgeschehen gesprochen. Die bedeutsame Bewegung besteht dabei darin, dass der Täufling aus dem Wasser – symbolisch für diese Wasser-Welt, unsere Welt der Zeit – wieder heraus ans Licht gezogen wird. (Die Geburt nennt man ja auch: »Das Licht der Welt erblicken«.) Das Neugeborene kommt an die Luft, beginnt zu atmen, in der Welt, in der es erstmals seinem Vater begegnet. So dauert auch der Weg des Menschen aus der Verbannung Ägyptens (ein Bild für diese Welt) durch die Wüste heim ins »Gelobte Land Kanaan« 40 Jahre (wie alle Orte in der Bibel nicht geografisch gemeint; hier nicht zu verwechseln mit dem Staat Israel). Die Zahl »400« beschreibt stets das Äußerste hier, die »500« den Abstand zwischen Himmel (als Bild für das Wesen) und Erde (Weinreb, 2002, S. 223 ff.). Im Hebräischen heißt »ab«, 1–2, Vater, daher auch Gott-Vater, freilich nicht anthropomorph gemeint, sondern in dem Sinne, dass er © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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sich seiner Einheit »entäußert«, indem er die Zweiheit erschafft. Die Mutter ist »em«, 1–40, der Sohn »ben«, 2–50 (von »boneh«, bauen, 2–50–5, was sich noch in dem Ausspruch wiederfindet, jemand sei Baujahr, also Geburtsjahr, soundso), und die Tochter »bath«, 2–400. Gemeint ist jeweils nicht eine einzelne Person, z. B. auch nicht »die Frauen«, sondern eher ein übergeordnetes, weibliches Prinzip, das als »4« auf den verschiedenen Ebenen dazu beiträgt, dass überhaupt etwas, auch Männer, hier in der Welt erscheinen können. Das damit von vornherein verbundene Werden und Vergehen findet sich auch im weiblichen Zyklus wieder, der mit den Mondphasen in Beziehung steht. Wenn also der Vater »3« als 3 x 3 und die Mutter als 4 x 4 (4, 40 und 400 meinen dasselbe Prinzip auf verschiedenen Ebenen) sich selbst verwirklichen, entsteht das (von den Eltern »gebaute«) Kind(prinzip) 5 x 5, wie schon Pythagoras wusste: 9 + 16 = 25. Im Bild der Schöpfungsgeschichte steht der Vater, das Männliche, oben rechts, die Mutter, das Weibliche, links und das Kind darunter als Drittes in der Mitte (Weinreb, 2002). Das Genogramm, das die Entstehung eines Menschen von seinen vielen Vorfahren her rückblickend abbildet, ist, dem Prinzip der Zweiheit entsprechend, genau umgekehrt aufgebaut. Es zeigt den ältesten Mann, meist den Vater des Vaters, oben links (Heucke, 2008). So dienen das Männliche und das Weibliche einander »als Hilfe gegenüber«, um Einheitserleben im hiesigen Dasein in der Welt, in der das Prinzip der Zweiheit wirkt, überhaupt erst zu ermöglichen. Der Satz: »Seid fruchtbar und mehret euch!«, der den Auftrag zum Handeln (Tun) an den Menschen als Geschöpf umfasst, ergibt als Summe den Zahlenwert »500« (Weinreb, 2002). Aufgabe und Sinn des Hierseins des Menschen, dem sich auch salutogene Aufstellungen verpflichtet fühlen, bestehen also darin, die Einheit durch Einswerden immer wieder neu erfahrbar werden zu lassen. So stammt auch das Wort »Religion« von lateinisch »religare«, d. h. »zurückbinden«. Dazu hat Gott dem Menschen, wie schon erwähnt, die »menschliche Seele«, »neschama«, 50–300–50–5, eingeblasen und ihn als sein Ebenbild, also als Gegenüber von 10–5–6–5 geschaffen. Der Geist, hebräisch »ruach«, 200–6–8, auch als Wind oder Richtung zu übersetzen, wirkt als Führer von der Welt der Sieben hier »zurück« © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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und zugleich hin zum 8. Tag, zu dem, was »nach« bzw. jenseits dieser Welt ist. In diesem Zusammenhang ist zuweilen von der Freude Gottes über das Einswerden die Rede. So werden wir Menschen auch »Kinder Gottes« genannt, nicht etwa, weil wir kindisch, gleichsam blind, glauben (anstelle von Wissen), sondern weil wir vielmehr aus »freiem Willen«, mit dem wir ausgestattet sind, vertrauen sollen, um der zu erfüllenden Aufgabe gerecht zu werden. Dazu braucht es die »erwachsene« Fähigkeit zur Unterscheidung und ebenso zum Einheitserleben, wie sie Kindern eigen ist. Einheitserleben leuchtet zuweilen auch in Aufstellungen sowie bei der Meditation aus der gesuchten Stille heraus auf und trägt bei einem Vorgehen im Sinne der Salutogenese zum nicht erzwingbaren, sondern stets auch geschenkten Kohärenzerleben bei. Die berühmt-berüchtigte Geschichte von der Schlange im Alten Testament (1. Mose 3) (»naschach«, 50–8–300, vom selben Wortstamm wie »Messias«, »Erlöser«, und verwandt mit »nophal« 50–80– 30 (d. h. auf eine niedrigere Ebene fallen), die Schlange, die über den Boden kriecht und nicht, wie der Mensch, zum aufrechten Gang fähig ist, gaukelt dem Menschen vor, er könne das Erleben, eins zu werden, hier in der Welt all-ein bewerkstelligen. Angesichts dieser Begegnung wird der Mensch schließlich »gewahr, dass er nackt ist«. Die gemeinsame Wurzel des Baumes im Paradies, des Baumes des Lebens (Zahlenwert 233) und des Baumes der Erkenntnis (Zahlenwert 932), also wiederum das Verhältnis 1:4, wird gespalten. Der Mensch begnügt sich nicht mit dem ihm zuerkannten, ihm erteilten Auftrag, sondern wird (anstatt ge-führt) dazu ver-führt, sein Heil vollkommen selbst in die Hand zu nehmen, ohne dabei zugleich auf ein Entgegenkommen, z. B. durch Gnade, angewiesen zu sein. Er ernennt sich selbst zum Schöpfer, ja zum Alleinherrscher, der nur ein Leben hat, nach dem »alles aus« (und vorbei) ist. Er flüchtet sich in die Vielheit (z. B. in Konsum und Sucht) und in die Form (z. B. herrschende Bürokratie usw.). Sogar die Vollendung sucht er nicht in der vollkommenen Einheit, sondern in der Vielheit (2, 4, 16, 32, 64, 128, 256, 512, 1024 usw.), und erlebt dennoch häufig Verdruss. Einheit erzeugt er dabei zuweilen durch Spaltung bis hin zu dem Punkt, dass er seine eigene Meinung als die einzig richtige proklamiert. Dies geschieht natürlich nicht durch eine oder die (mit der Schlange kooperierende) Frau in Person, sondern auf dem Hinter© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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grund der »weiblichen Seite Gottes«, des weiblichen Prinzips, das es unbedingt braucht, damit überhaupt irgendetwas vom Wesen her, dem männlichen Prinzip, hier in dieser Welt erscheinen kann (Weinreb, 1990). Vielmehr schuf Gott den Menschen als Mann und Frau, damit er (der Mensch – und auch Gott?) in der Welt »eine Hilfe als Gegenüber« habe. Um hier für eine Weile überleben zu können, ist der Mensch mit der Tierseele, »nephesch« (50–80–30; vgl. das Wort für Schlange und Fallen), ausgestattet. Wir leben nicht ständig im Licht, sondern erfahren den Wechsel, den Rhythmus von Hell und Dunkel, Tag und Nacht. Während wir uns in der linearen Zeit als »unstet und flüchtig« (Zeit vergeht wie im Fluge) empfinden, ermöglicht das Erleben von Rhythmus ein Gefühl von Dauer, Permanenzgefühl, das ebenfalls zu gesunder Entwicklung hilfreich ist. Das Erscheinen des Menschen hier wird ermöglicht durch den Dunst, ed, 1–4, also das weibliche Prinzip, das allem und jedem, eben auch a l l e n Menschen, ebenso gleichermaßen innewohnt wie das männliche. Der Weg durch diese Welt des Wassers, d. h. durch die Zeit, ist ein Weg des Werdens und Vergehens als Ausdruck des Seins. So sind auch jede Aufstellung und jede (selbst die Gesundheit fördernde) Entwicklung von einer Begrenzung, von Anfang und Ende, umrahmt. Wir sehen, wie gesagt, das Prinzip »1–4« beim Menschen vielfach wieder. Die Hand hat einen Daumen und vier Finger. Vom darin verborgenen Geheimnis des Daseins hier auf Erden war bereits die Rede. Es findet sich ebenfalls bei der Atmung wieder: Graf Dürckheim (2009a, S. 91) beschreibt die vier Phasen jedes Atemzuges (ein Atemzug umfasst zwei Abschnitte des Ausatmens, eine Pause und das Einatmen) als »sich Hergeben, sich Hingeben, sich Aufgeben und sich Wiederfinden«. Bei Herz-Lungen-Wiederbelebungen erfolgen auf einen Atemzug ebenso vier Herzmassagen. Auf der Ebene der Kommunikation umfasst die vollständige Erörterung eines Themas mit den Standpunkten »A« und »B« ebenfalls vier Möglichkeiten: »A«, »B«, »weder A noch B« oder (insgesamt letztlich) »sowohl A als auch B«, wiederum ein Verhältnis 1 zu 4 (vgl. das über das Tetralemma Gesagte nach Matthias Varga von Kibéd). Vielleicht bedeutet es, dass wir nur dann eine realistische Weltsicht gewinnen und unser Lebensziel erreichen können, wenn wir, entsprechend unserem © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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»doppelten Ursprung« (Dürckheim, 2009b), die Aufmerksamkeit auf das irdische Tun unten richten und zugleich den »Blick nach oben« mit einbeziehen, wie es auch das Symbol des Kreuzes (vgl. die Jesus-Geschichte, weniger historisch als Ereignis in jedem einzelnen Menschen) nahelegt. Kommt also der Mensch aus dem Wesen dort als Geschöpf ins Dasein hier und jetzt, aus der Einheit in die »Welt der Zwei«, geschieht ein Doppeltes. Natürlich bleibt er Teil der Einheit, des großen Ganzen, leiblich betrachtet: Kind seiner Eltern. Er erfährt sich aber zugleich getrennt. Dies geschieht auf der körperlichen Ebene mit der Durchtrennung der Nabelschnur bei der Geburt. Seelisch gesehen kommt er aus einer jenseits unserer Alltagswahrnehmung gelegenen Welt hierher ins Raumzeitliche, um zu wachsen und auf dem Hintergrund der geistigen Gesetze (Anziehung der Gleichart, Ursache und Wirkung, Wechselwirkung, Schwere zur Erde hin) sein Bewusstsein ähnlich einer Schriftrolle zu entwickeln. Dabei erlebt er sich zunächst getrennt, schließlich mehr und mehr bloß unterschieden und verbunden zugleich. Nach Beendigung seiner Aufgabe in dieser Inkarnation kehrt er zurück »in den Himmel«, eine Welt jenseits unserer Alltagswahrnehmung, und erweitert den Erfahrungsschatz seiner Seelenfamilie und des großen Ganzen (HierkeSackmann, 2012; Weinreb, 2002). So tauchen wir auch im Rahmen einer salutogenen Aufstellung als Modell des Daseins aus dem Alltagsbewusstsein kommend ein in den Bereich des Seins und kehren anschließend verwandelt zurück in die hiesige Welt des Tuns und Lassens. Da wir bezüglich unseres Hierseins »weder Tag noch Stunde wissen« und jedes Mal wieder von vorn anfangen dürfen (vgl. das über den Atem Gesagte), tragen wir, ausgestattet mit dem freien Willen, zu wählen und von uns aus etwas zu tun (oder zu lassen), ein großes Potenzial in uns, das es in Dankbarkeit zu entfalten gilt (Hellinger, 2008). Der Mensch, »Adam«, 1–4–40, kommt aus der Erde, »adama«, 1–4–40–5, mit dem Gesamtwert 50 (vgl. Pythagoras), wohin sein Körper im Rahmen der Beerdigung zurückgegeben wird. Ob man ihn vorher womöglich allein schon aus finanziellen Gründen eilends, ggf. entgegen seinem Willen, d. h. gewaltsam, ins Feuer des Krematoriums stecken soll, möge jeder selbst auf Stimmigkeit prüfen. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Stirbt der Mensch oder ermordet man ihn gar, wird der Kreislauf unterbrochen. Es bleibt nur, ohne die Eins, »dam«, Blut, 4–40. Ihn erwartet der Tod, »meth«, 40–400. »Der Mensch segnet das Zeitliche«, schließt das Dasein ab, »macht sich auf den Weg«, »geht heim«, so nennen wir es. Die Wahrheit heißt dagegen mit voranstehender Eins »emeth«, 1–40–400, wie Jesus sagte: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben« (Johannes 14,6). Erlösung heißt dann, die Verbindung zum großen Ganzen, zur All-Einheit, zu vollenden, wiederherzustellen, wie es in Kommunion und Abendmahl symbolisch vollzogen wird. Indem salutogene Aufstellungen manchmal wie erlösend empfunden werden, zeichnen sie diesen Weg auf menschliche Weise nach. »Die Erde zu hüten und zu bebauen«, sogar ein Kind zu zeugen und zu empfangen, versteht sich somit »nur« als Teilhabe an der Schöpfung. Wer sich die Sichtweise der Schlange zu eigen macht und vorgibt, der Mensch schaffe alles ganz vollkommen allein (auf der Ebene der Kommunikation heißt das, wie gesagt, manchmal: »Meine Meinung ist die einzig richtige«), betreibt meines Wissens das, was das Alte Testament Blutvergießen nennt. An anderer Stelle heißt es, der Mensch mache sich ein Bild. Die zehn Worte, die sogenannten Gebote (2. Mose 20), raten uns in Vers 4 davon ab: »Du sollst dir kein Bildnis (Gottes) machen.« Der Mensch, der so handelt, erhebt sich selbst zum Schöpfer der Form, presst doch jedes Bild die Wirklichkeit in einen Rahmen, eine Form. Diese Einsicht weist über die Möglichkeiten von Aufstellungen hinaus auch auf ihre Grenzen hin. Dort mutet es ohnedies an, dass das Bild mehr »entsteht«, von woher es auch immer kommen mag, als dass es aktiv konstruiert oder erschaffen wird. Hierher gehört auch alles Ur-Teilen, wie schon das Wort selbst nahelegt. Das ursprüngliche Teilen ist Gottes Angelegenheit, des Seins, und nicht Obliegenheit des Menschen, der sich die Welt untertan machen und dabei sehr wohl mit seinen Mitmenschen teilen möge. Nur, zum aktiven Handeln ist er auf eine vorherige Bewertung angewiesen, eine Entscheidung, aus prinzipiell mindestens zwei Möglichkeiten einen möglichst dem als stimmig empfundenen Ziel dienlichen Weg zu wählen. Tut er dies bewusst und bringt bzw. setzt er damit dem Wort von Innen oder Außen sein Eigenes, die Ant-Wort, entgegen, sprechen wir von der © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Übernahme des eigenen Teils der Verantwortung als grundlegendem Vollzug unseres Daseins. Nicht umsonst heißt ein spöttisches Sprichwort: »Auf hoher See und vor Gericht ist man Gott am nächsten!« Das Thema lässt sich gut am Beispiel von Landschaft und Landkarte verdeutlichen. Das Vorbild der Landschaft vor der Schöpfung liegt »oben«, im Verborgenen als Ganzes, bevor sie hier erscheint, wie auch ein Samen seinem Wesen nach die gesamte Information enthält, die für das Entstehen der Frucht erforderlich ist. Die Landkarten, die wir vor Einführung der Navigationssysteme zu nutzen pflegten, um uns auf Erden zurechtzufinden, bezeichnen entsprechend kein erschaffenes Bild in diesem Sinne, sondern nur eine übersichtliche Darstellung dessen, was, ggf. auch im inneren Bild, schon da ist. Auch wenn sie es verleugnen, brauchen Menschen eine Ahnung (vgl. die »Ahnen«; siehe dazu auch den Beitrag von T. Meyburgh in diesem Band) von diesem teils gänzlich verborgenen, teils unbewussten Plan, wenn sie ihrem angestammten Auftrag hier gerecht werden wollen. Zur Klärung und zum Verstehen solcher oft intuitiv wahrgenommener Ahnung wollen salutogene Aufstellungen beitragen (siehe den Beitrag zur Intuition von C.-H. Mayer in diesem Band).
Das Wesen von Aufstellungen im Lichte der Salutogenese In früheren Zeiten fragten Ärzte, als sie noch »Doktoren« (d. h. Gelehrte, »Dozenten«, von lat. docere) waren, ihre Patienten einfühlsam: »Was fehlt Ihnen?« Auch heute kommen Menschen zu Aufstellungen mit einem Anliegen. Als Ressource zu einer stimmigen, guten Lösung fehlt ihnen »etwas« im inneren Bild. Das Fehlende kann unbewusst in Vergessenheit geraten oder bewusst persönlich oder in der Familie ausgeblendet bzw. verschwiegen worden sein. Manchmal handelt es sich um unbewusstes, oft mit Schmerz, Scham- und Schuldgefühlen verbundenes Geschehen aus dem Familiensystem oder etwas dem Alltagsbewusstsein gänzlich Verborgenes (z. B. aus einer früheren Inkarnation) bzw. um etwas, was dem menschlichen Wissen trotz allem Fortschritt überhaupt unzugänglich ist und bleiben dürfte. Diesen Bereich (gänzlich) durchdringen zu wollen, ist wohl in der Paradiesgeschichte (1. Mose 2,4b ff. u. 3) gemeint, wenn vom © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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»Essen vom Baum der Erkenntnis« gesprochen wird. Der Mensch kann in seiner Not verzweifeln, dass sich in seinem Dasein etwas nicht mehr verstehbar und/oder handhabbar, also zerbrochen und entzwei, anfühlt. Er erlebt dann etwas, das ihn bewegt, Hilfe zu suchen, um sich Wohlbefinden, näherhin Kohärenzerleben, neu zu eröffnen.
Folgerungen für die Praxis Auf dem Hintergrund der Betrachtung eines biblisch fundierten Menschenbildes vom Sein her lässt sich Leiden als unausweichliche Folge menschlichen Daseins in der »Welt der Zwei« verstehen. Zugleich wird deutlich, dass dem Menschen auch die Sehnsucht nach Vollkommenheit, näherhin nach dem Erleben von Einheit, innewohnt. Sie fordert ihn heraus und ermutigt ihn, die von seinem Wesen herstammenden Selbstheilungskräfte bewusst zu entdecken und in den Dienst der Förderung seiner immer wieder aufs Neue zu gewinnenden Gesundheit zu stellen. Die von Wilfried Belschner (2007) beschriebenen drei Aufgaben von Psychotherapie gelten dementsprechend auch für salutogene Aufstellungen: 1. Minderung von Leiden (Klinische Psychologie), 2. Aufbau von Stärken (Positive Psychologie), 3. Freilegung des Wesens (Psychologie des Bewusstseins). Über die Beschäftigung mit Gesundheit fördernder Kommunikation und Hilfen zur Lebensorganisation hinaus finden Aufstellungen ihren Schwerpunkt darin, mit eigenen Erfahrungen, z. B. Traumata, bewältigend »ins Reine« zu kommen, mit sich selbst neu Frieden zu schließen oder um Unerledigtes aus der Paargeschichte und der Herkunftsfamilie in seiner Bedeutsamkeit zu verstehen, d. h. um durch einen Prozess von Integration, also eins werdend, handhabbare Wege für den inneren und interaktionellen Umgang mit Beziehungen und Situationen zu finden (Jellouschek, modifiziert in Heucke, 2008; siehe die Beiträge von F. Ruppert und K. Huyssen in diesem Band). Der Prozessbegleiter (und die Stellvertreter in Aufstellungen) stellen sich als Spiegel zur Verfügung, um frühere dysfunktionale Muster zu durchschauen und eine befriedigende Beziehungserfah© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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rung zu ermöglichen, die der Betroffene in seinen Alltag mitnehmen kann. Er steht als Anteil nehmender Zeuge an der Seite des Betroffenen mit dem gemeinsamen Blick auf das Anliegen und gibt Hilfe als Ermutigung zur Selbsthilfe (Rudolf, 2008).
Salutogene Aufstellungen fördern gute Familienbeziehungen und gesundes Selbstvertrauen, d. h. »bezogene Individuation« (Helm Stierlin) Nach dem biblischen Menschenbild erscheint der Mensch auf Erden, um das Sein in der Zweiheit, im Werden und Vergehen, so bewusst als möglich zu erfahren. Folgt er dem Weg der Schlange, seinem tiefen, inneren Streben nach Einheit, dadurch, dass er sich vom großen Ganzen (und – manchen – Mitmenschen, z. B. Familienangehörigen), wie in Aufstellungen zu Beginn oft sichtbar, abkapselt, versucht er auf diese Weise, dem Schmerz kurzfristig zu entfliehen. Führt er dagegen die Zwei im eigenen Inneren gleichermaßen wie in den Beziehungen im Außen immer wieder neu zusammen zur Einheit (wie beim Darbringen eines Opfers oder wie es das Symbol des Kreuzes zeigt), findet er einen Weg zur Freude daran, eins zu werden, schon im Dasein hier in dieser Welt trotz Leiden und Schmerz – wie sogar Streiten verbinden kann. Auf diesem Haltungshintergrund tragen Aufstellungen, die das von der Salutogenese herstammende Wissen beherzigen, ihrerseits dazu bei, eine liebevolle Beziehung zu sich selbst zu entwickeln, in Einklang mit sich selbst zu kommen und zugleich den eigenen Platz im Familiensystem als Beispiel für den Stand in der Welt kraftvoll zu spüren. Dazu gehört, wachsende Bewusstheit hinsichtlich der eigenen Möglichkeiten anzustreben, aber auch der zum Dasein gehörigen Grenzen, die dem Menschen durch Vergänglichkeit, Endlichkeit und Verletzlichkeit gesetzt sind. Sie möge geprägt sein von Achtsamkeit (vgl. dazu die Hinweise auf den 8. Tag im Alten Testament). Das als Zeichen für Unendlichkeit bekannte Bild der liegenden Acht (im Genogramm auch als Zeichen für »verheiratet«) zeigt den Zusammenhang zweier eins werdender Hälften in einer Linienführung. Während die Vergangenheit »nicht mehr« und die Zukunft »noch nicht« ist, geschieht achtsame Präsenz in der Gegenwart zwischen © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Sein und Werden: »noch nicht, nicht mehr« und zugleich »nicht mehr, noch nicht« (Schmitz, 2012). Dabei werden in jedem bewusst erlebten Augenblick, z. B. in salutogenen Aufstellungen, Vergangenheit und Zukunft zugleich gesammelt und erneuert. Es geht darum, anstelle der blinden Übernahme von Vorurteilen der eigenen Wahrnehmung, »den eigenen Augen«, zu trauen und sie angesichts der Wirklichkeit (auch von Erfahrung und Wissen) auf eigene Weise immer neu zu überprüfen. Kindheitserfahrungen gilt es von erwachsenen Gefühlen und Bedürfnissen zu unterscheiden und anzunehmen, insbesondere Aggression sowie die häufig dahinter verborgene Trauer in Abgrenzung und angemessener Durchsetzung zu integrieren, wiederum ein Prozess des Einswerdens als eine von einem biblischen Menschenbild her aufleuchtende, zentrale Lebensaufgabe. Vom der Existenz innewohnenden und zusätzlich durch riskantes Verhalten oder unbewusst herbeigeführten Leiden führt der Weg in der Praxis hin zum entschiedenen, selbstverantwortlichen, Gesundheit fördernden Denken, Reden und Handeln, das sowohl dem Eigenen, dem jeweils betroffenen Menschen, als auch dem ihm anvertrauten Stand in seiner Familie bzw. dem zugehörigen Bezugssystem (Petzold, 2010) entspricht. Dies dient mithilfe von Aufstellungen – in meiner Praxis kombiniert mit Genogrammarbeit – dazu, die Kräfte der Selbstregulation und das Kohärenzerleben umfassend, »ganzheitlich« (leiblich, seelisch, geistig, spirituell) zu fördern im Sinne der Salutogenese. Als Teil von »Alles« und zugleich Individuum bedeutet Bewusstseinsentwicklung das Entfalten der Fähigkeit, Trennung zunehmend als Unterscheidung zu begreifen, um (im Gegensatz zur Erzeugung von Paradoxien) immer wieder neu eins zu werden im Gleichgewicht zwischen den Polaritäten (vgl. »Bezogene Individuation«, Stierlin, 1978), die das Dasein dem Menschen bietet, bevor er gewandelt in das große Ganze eingeht, aus dem er gekommen und durch zahllose Ahnen erschienen ist. Daraus erwachsen Folgerungen für die Beziehungen zur Welt und den Mitmenschen. Stellvertretungen, im Unterschied zu Stellvertretung bei Aufstellungen, wie die Familienbiografik (Adamaszek, 2011) sie eingehend erforscht hat, mögen bewusst werden. Auf Fragen, warum gerade dieser Mensch, an dieser Stelle in der Geschwisterreihe, in diesem Alter ein bestimmtes Thema (»Warum gerade © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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so?«) erlebt oder erleidet, lassen sich nachvollziehbare Antworten finden. Reparaturversuche, die Vergangenheit aus Bindungsliebe nachbessern zu wollen, gilt es, z. B. mithilfe von Genogramm- und Aufstellungsarbeit, loszulassen, denn sie bleiben letztlich scheiternde, zweitbeste Lösungen, weil sie zu spät kommen. Dies trägt dazu bei, den eigenen Platz im Dasein vollkommen (bewusst und gefühlt) stimmig einzunehmen. Wenn Eltern durch Vernachlässigung oder Traumatisierung zwiespältig erlebt werden, kann in Aufstellungen hilfreich sein, je einen Stellvertreter für das Männliche und das Weibliche, durch das das Leben kam, hineinzunehmen. Dies erleichtert es ggf., die Familienstrukturen so zu würdigen, wie sie entstanden sind, wie sie wurden, und sich selbst im Fluss des Lebens, so wie es ist, sowie Gutes (Ressourcen, was stärkt) fühlend als Individuum und zugleich verbunden wahrzunehmen. Das zu anderen Familienmitgliedern gehörige Eigene (Tun, Gefühle wie Ängste und Trauer) empfiehlt sich, als Aspekt von Erwachsensein (Nelles, 2012) bei den jeweils unmittelbar Betroffenen ohne Vorwurf mit Liebe zu lassen.
Ausblick Das hinter Aufstellungen, die im Sinne der Salutogenese im Dienste der Förderung von Gesundheit angeleitet werden, verborgene Menschenbild findet sich also bereits in der Bibel, namentlich, wenn sie mithilfe ihrer hebräischen Ursprache verstanden wird. Dort, wie in salutogenen Aufstellungen, ergeht die Einladung, sich von der Zweiheit des Daseins her bewusst immer wieder neu für das Einheitserleben zu öffnen, das nicht erst posthum im Jenseits als AllEin(s)-Sein, sondern schon hier im Einswerden als Gleichgewicht zwischen Polaritäten erfahren werden kann. Mögen auf der Grundlage entsprechend gestalteter innerer Bilder (Olaf-Axel Burow, 2008, spricht von dem einen, aus verschiedenen Komponenten bestehenden einheitlichen Bildwissen) von der Familie, wie Aufstellungen sie sichtbar werden lassen, Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, einhergehend mit Abgrenzungsfähigkeit und Zugehörigkeitsgefühl, bei jedem Einzelnen weiter wachsen, um den © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Umgang mit sich selbst, mit Angehörigen und ggf. Klienten sowie allen Angehörigen der Menschheitsfamilie im Hier und Jetzt vom jeweils eigenen Platz im Leben aus nach freier Wahl aller Beteiligten eigenverantwortlich und mit Freude gemeinsam zu gestalten! Dann kann konkret Gestalt gewinnen, was in Lukas 10,27 geschrieben steht: »Du sollst Gott, deinen Herrn [›das Sein‹, T. H.], lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit allen Kräften und von ganzem Gemüte und deinen Nächsten wie dich selbst!«
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Ottomar Bahrs
Jean-Paul Sartres »Der Idiot der Familie« – ein Beitrag zu einer methodischen Grund legung einer salutogenetisch orientierten Aufstellungspraxis »Leben heißt Bedeutungen hervorbringen; leiden heißt sprechen; es ist für von außen kommende Sinngehalte durchlässig, weil es selbst sinngebend ist.« Jean-Paul Sartre (1977–1979, Bd. 1, S. 25)
Vorbemerkung Eine Aufstellung visualisiert das innere Bild des Aufstellenden von einer sozialen Struktur, in die er eingebunden ist, veranschaulicht, wie er die Beziehungen verortet und welchen Platz er sich in diesem System gibt. Im Alltag ist diese Explikation weder nötig noch möglich: Man nimmt seinen Platz ein und handelt unter Nutzung eines impliziten Wissens entsprechend den damit verbundenen Anforderungen. Ein Nach-Denken erfolgt erst in Reaktion auf »Störungen« und reflektiert auch die eigene Position, die damit zur Disposition steht. Die Struktur wird dann (zunächst gedanklich) restrukturiert. Eine Aufstellung geht über solcherlei alltägliche »Reparaturprozesse« weit hinaus. Mit der Aufstellung werden aus Sicht des Aufstellenden potenziell auch die wechselseitigen Beziehungen anderer Mitglieder des sozialen Systems thematisch. Die Einführung von Stellvertretern eröffnet unter Bezug auf »repräsentierende Wahrnehmung« (O. König, 2004, S. 152) eine fiktive Kommunikation der am System Beteiligten darüber, welches die ihr angemessene Ordnung sei (vgl. den Beitrag zur Intuition von C.-H. Mayer in diesem Band). Auch wenn dies letztlich vom Aufstellenden selbst für sich zu entscheiden ist, bleibt aus methodischer Sicht bemerkenswert, dass die Stellvertreter die in den Positionen vermittelten emotionalen Konstellationen nachvollzieh© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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bar zum Ausdruck bringen können und ein implizites Wissen über ein ihnen fremdes System haben. Zu vermuten ist, dass die Figurationen mit sozialem Sinn durchtränkt sind, der überindividuelle Komponenten enthält (Stresius, 2014), die sich den Gesellschaftsmitgliedern in der sozialen Interaktion einschreiben und fallspezifisch ausformen. Dies erklärt, warum auch die Stellvertreter im Sinne von Selbsterfahrung davon profitieren. Zugleich ergibt sich die Frage, wie Selbst- und Fremdverstehen miteinander kompatibel zu machen sind. »Hinter jedem therapeutischen Handeln verbirgt sich eine therapeutische Philosophie, auch wenn eine solche nur selten explizit ausformuliert wird« (O. König, 2004, S. 198). Oliver König hat mit seinem Buch »Familienwelten« einen Vorschlag für eine philosophische und sozialwissenschaftliche Rahmung der Familienaufstellung gemacht und seine Überlegungen an der eigenen Aufstellungsarbeit exemplifiziert. Er greift dabei auf Jean-Paul Sartres »Phänomenologie des Raumes« zurück. Daran anknüpfend möchte ich Sartres Studie über Gustave Flaubert vorstellen, die die philosophischen Überlegungen in konkrete Analyse umsetzt und der meines Erachtens ambitionierteste Versuch ist, die individuelle Ausbildung des Familienbildes von innen heraus exemplarisch nachvollziehbar zu machen. Der Schwerpunkt meines Textes liegt auf der Darstellung des sartreschen Ansatzes. Die darin vorhandenen Bezüge zur Salutogenese bleiben zunächst implizit und werden in einem abschließenden Abschnitt knapp skizziert. Ergänzend versuche ich, mögliche Anregungen für die Aufstellungsarbeit abzuleiten.1
Einführung Was können wir von einem Menschen wissen? Diese Frage legt Sartre seiner fünfbändigen Studie über Gustave Flaubert zugrunde: Er stellt Methoden exemplarisch dar, die – ausreichende Informationen vorausgesetzt – prinzipiell das Verstehen jedes beliebigen Menschen ermöglichen (Sartre, 1977–1979, Bd. 1, S. 7), und zielt damit auf die 1
Ich danke Claude-Hélène Mayer für Einladung und Ermutigung zu diesem Beitrag sowie Susanne Heim und Karl-Heinz Henze für ihre konstruktiven Anregungen.
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Grundlegung einer existenziellen Hermeneutik (vgl. Frank, 1977, 1980). Sartre wollte seine Studie als Entwicklungsroman2 verstanden wissen, der eine Lehrzeit, die zum Scheitern eines ganzen Lebens führte, rekonstruiert (Klappentext, König, 1980). Sein einzelfallrekonstruktiver Ansatz hat Bildungswissenschaften (Marotzki, 1990) und soziale Arbeit (Knopp, 2013) beeinflusst. In der Medizin fand Sartres existenzielle Psychoanalyse kaum ein Echo, nur Klaus Dörner betonte ihr Potenzial für eine philosophische Grundlegung der Psychiatrie, die die überlieferte binäre Unterscheidung nach »gesund« und »krank« überwindet (Dörner, 1980). Gegenstand meiner Skizze ist das sartresche Verständnis von Gesundheit und Krankheit als Gesamtprozess. Ich möchte nachvollziehbar machen, dass der sartresche Ansatz gut geeignet ist, die Herausbildung des Kohärenzgefühls (Antonovsky, 1997) gleichsam nacherlebbar werden zu lassen. Ich stelle die Flaubert-Studie unter der Leitfrage vor, wie sich die Familie als System zum inneren Bild formt, das in Interaktionen immer erneut bestätigt und weiterentwickelt wird sowie in Handlungen und Symptombildungen konkreten Ausdruck findet. Daraus sind auch Anregungen für die Aufstellungsarbeit abzuleiten. Sartres Flaubert-Studie legt nicht nur die Entwicklung eines genialen Literaten dar, sondern ist zugleich Krankengeschichte. Flaubert war Autor der »Madame Bovary« – aber er war auch ein Leidender, dessen Krise in dem großen epileptischen (oder hysterischen?) Anfall gipfelte, der Sartre zufolge zugleich zur grundlegenden Wende wurde und die Voraussetzungen für Flauberts Schriftsteller-Sein schuf. Wie kann ein »Neurotiker« Weltliteratur hervorbringen? Diese Frage führt Sartre über die doppelte Geschichte Flauberts hinaus und stellt implizit die Normvorstellungen einer Epoche infrage, die gar zu sehr noch den unseren ähneln (vgl. König, 1980a). Die Frage, wie Flaubert zu dem wurde, der er war, stellt sich für Sartre zweifach: Geht es zunächst um die gewissermaßen »objekti2 Einen Einblick in die Vielfalt möglicher Lesarten vermittelt der vom Übersetzer Traugott König herausgegebene Sammelband »Sartres Flaubert lesen« (König, 1980).
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ven« Bedingungen der Entwicklung Flauberts (Sartre, 1977–1979, Bd. 1), so weist die Frage »Wie hat sich Gustave zu dem gemacht, der er war?« jeden Determinismus zurück (Sartre, 1977–1979, Bd. 2 u. 3). Die doppelte Problemformulierung zeigt am Beispiel Flauberts die Verantwortlichkeit des Menschen für sein »Schicksal« (Krankheit ebenso wie Genialität) und erkennt doch an, wie die Macht der Umstände die Freiheit von vornherein bedingt und begrenzt. Flaubert ist für Sartre Opfer und Komplize – beide Selbstdeutungen lassen sich aus Flauberts Jugendschriften und Briefen rekonstruieren. Sartre folgert, dass sich Flaubert zum Komplizen macht: Er willigt ein, der zu werden, der er nicht sein will; der identitätssetzende Kompromiss ist der Anfall von Pont l’Evêque (Sartre, 1977–1979, Bd. 4). Sartre deutet Flauberts Krankheit als Ausdruck von »Unaufrichtigkeit« (»mauvaise foi«), die insofern eine Aufrichtigkeit ist, als sie die konstituierende Übermacht der sozialen Verhältnisse offenbart. »Die grundlegenden Verhaltensweisen nimmt man nur an, wenn sie zunächst existieren« (Sartre, 1977–1979, Bd. 1, S. 53). Flaubert verschafft sich mit seiner spezifischen Unangepasstheit die subjektiven und objektiven Voraussetzungen für seine Kunst: Gerade indem er sich entgeht, findet er zu seiner Wahrheit, dem Schriftsteller-Sein. Dass sich die Gesellschaft seiner Epoche in seinem Werk wiedererkennt, indiziert die »Neurose des objektiven Geistes« (Sartre, 1977–1979, Bd. 5). Krankheit ist immer (auch) Bewusstsein der Krankheit: Diese These beansprucht Geltung nicht erst im »Flaubert« und für Flauberts »Hysterie«, sondern allgemeiner für den psychosomatischen Gesamtprozess. Schon in »Bewusstsein und Selbsterkenntnis« heißt es: »[Der] Schmerz [ist] […] genaugenommen ein ständig durch das Bewusstsein, das man von ihm hat, geschaffener Schmerz […], der nie ernst genug, schmerzhaft genug ist« (Sartre, 1973, S, 47 f.). In analogem Sinne begreift Sartre Flauberts Krankheit nicht als das ganz andere, das über diesen hereinbricht, sondern als ein auch gesteuertes Verhalten, das intentional – oder besser: final – erscheint.3 Strikt empathisch den Aussagen Flauberts folgend zeigt Sartre in 3 Eine solche Figur haben Hess und Hess-Cabalzar (2006, S. 240) als »causa finalis« bezeichnet.
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Flauberts eigener Krankheitsdeutung neben einer Verursachungstheorie (Kausalität, d. h.: Das Leiden ist die Schuld des anderen) eine geheime Komplizenschaft auf. Als zumindest auch intentionales Verhalten können die Anfallsphänomene in ihrer Konflikthaftigkeit kaum dem Bewusstsein Flauberts entzogen sein: Es handelt sich nicht um Somatisierung unbewusster Prozesse. Flaubert verfügt prinzipiell über ein klares (aber präreflexives) Bewusstsein der Abwehr – einschließlich des Inhalts des Abgewehrten. »Flaubert betrachtet seine Neurose […] als das bezeichnendste Faktum seines Lebens: (Sie ist kein Zwischenfall, sondern […]) er selbst, insofern er geworden ist, was er war; er hat niemals gedacht, […] dass er sich seiner Krankheit anpasse oder anpassen würde, sondern ganz im Gegenteil, dass seine Krankheit selbst Anpassung sei: kurz, er hielt sie für eine Antwort, für eine Lösung« (Sartre, 1977–1979, Bd. 4, S. 50). Sartre versucht mit seinem strukturgenetischen Verfahren den Nachweis, dass menschliches Handeln – aller (Selbst-)Entfremdung zum Trotz – rational rekonstruierbar ist. Doch ein »Mensch ist […] niemals ein Individuum; man sollte ihn besser ein einzelnes Allgemeines nennen: von seiner Epoche totalisiert und eben dadurch allgemein geworden, retotalisiert er sie, indem er sich in ihr als Einzelnheit wieder hervorbringt« (Sartre, 1979–1979, Bd. 1, S. 7). Das Gelingen einer Rekonstruktion verweist darum auf eine für die menschliche Praxis insgesamt konstitutive Rationalität. Insofern ist »Der Idiot der Familie« ein höchst politisches Buch: Wenn die »Totalisierung« möglich ist, dann ist Geschichte als kollektive Aktion »intelligibel« (Sartre, 1967, S. 71) und kann prinzipiell selbstbewusst gestaltet werden.
Methodische Grundlagen der existenziellen Psychoanalyse Textförmigkeit der sozialen Welt und Entwurf Als einem der exponiertesten Vertreter des »Textparadigmas« (Brunkhorst, 1980, S. 31) erscheinen Sartre »soziale Tatsachen« durchtränkt vom gesellschaftlichen Symbolzusammenhang, in den der Mensch hineingeboren wird und den er, ihn sich aneignend, modifiziert. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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»Selbst das rudimentärste Verhalten muss sich zugleich mit Bezug auf reale, vorliegende Faktoren, die es bedingen, und mit Bezug auf ein bestimmtes zukünftiges Objekt, das es entstehen zu lassen sucht, bestimmen« (Sartre, 1964, S. 75). Dieser Entwurf trägt dem Forderungscharakter der Situation – als Verschränkung naturhafter und gesellschaftlicher Objektivität verstanden – Rechnung auf eine persönlich zurechenbare Weise. Die Selbstsetzung zeigt sich in den konkreten Wahlakten, ohne mit diesen identisch zu sein. Sie ist gleichsam die Regel, nach der sich der Mensch immer erneut hervorbringt (»choix fondamental«). »Der Grundsatz dieser [existenziellen] Psychoanalyse ist es, dass der Mensch eine Ganzheit und keine Ansammlung von irgend etwas ist; dass es folglich in der bedeutsamsten und in der oberflächlichsten seiner Verhaltensweisen ganz und ungeteilt zum Ausdruck kommt – anders ausgedrückt, dass es keine Liebhaberei, keine Absonderlichkeit, keine menschliche Tätigkeit gibt, die nichts enthüllt« (Sartre, 1980, S. 715). Die existenzielle Psychoanalyse versteht sich als hermeneutische Rekonstruktion. Sie unterstellt, dass der Mensch sich selbst nie vollständig kennt, und verzichtet auf die Kategorie des »Unbewussten«: Die Deutung des Therapeuten hebt nichts ins Bewusstsein, sondern lässt den Patienten eine veränderte Haltung einnehmen; er erkennt wieder, was gewusst, aber nicht verstanden worden ist. Bewusstsein – ganz Spontaneität – kann nicht bewirkt werden, es kann nur sich selbst kreieren (Sartre, 1971, S. 182). Der im therapeutischen Prozess beobachtbare Bewusstseinswandel beruht auf dem im reflexiven Prozess der gemeinsamen Deutung veränderten Gebrauch von vorreflexivem Wissen. Als Entwurf auf ein seiner selbst nicht bewusstes Ziel hin enthält jedes Verhalten ein unreflektiertes (nichtthetisches, präreflexives) Bewusstsein seiner selbst, dessen sich das Subjekt im reflexiven Akt gewahr werden kann. Sinnverstehen meint das Nacherfinden der die Handlungen begleitenden Selbstdeutung. Transzendenz des Ego Bewusstsein ist objektbezogen, es ist stets Bewusstsein von etwas (thetisches Bewusstsein) und zugleich (präreflexives) Bewusstsein von sich als einem reflektierenden Bewusstsein (nichtthetisches © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Selbstbewusstsein) (Sartre, 1973, S. 31). Zwar kann das unreflektierte Bewusstsein Gegenstand eines reflexiven Akts werden, ist jedoch nur indirekt und in Annäherung zu fassen. Selbsterkenntnis hat eine systematische Grenze, sie erreicht nie die Dichte des Erlebens: »›Sich ganz erkennen‹ ist also zwangsläufig sich selbst gegenüber den Standpunkt anderer einnehmen, das heißt einen zwangsläufig falschen Standpunkt« (Sartre, 1982, S. 78). Indem sich der Mensch im reflexiven Akt wiederzufinden sucht – er ist sich im handlungsbegleitenden präreflexiven Bewusstsein stets voraus –, wird die Welt dem Bewusstsein neu gegeben. Der reflexive Akt ist nicht Moment eines dialektischen Prozesses, sondern eine Initiative (Sartre, 1973, S. 69), in der sich der Mensch, von seiner Freiheit Gebrauch machend, zur Freiheit bestimmt. Dies hat historische (und biografische) Voraussetzungen (Sartre, 1973, S. 69). Das Ego ist keine anthropologische Konstante, sondern gesellschaftliches Produkt. Es dient der Angstabwehr angesichts der schwindelerregenden Freiheit des Subjekts (Sartre, 1982, S. 87 f.). Der Leib Der Leib ist eine der wesentlichen Strukturen des präreflexiven Bewusstseins. Er ist gleichzeitig als Werkzeug gleichsam Ding unter Dingen und als Bedeutungszentrum Verteilungsordnung einer Welt, in die sich das Bewusstsein entwirft. »Darum ist die Beziehung des Leibs-als-Standpunkt zu den Dingen eine gegenständliche Relation und die Beziehung des Bewusstseins zum Leib eine existentielle Relation« (Sartre, 1980, S. 429). Der Leib existiert das Bewusstsein, doch er bleibt selbst unerkennbar. Nur wenn er etwas anderes als das Bewusstsein wäre, könnte der Leib Objekt des Bewusstseins werden. Der Versuch, am Bild des anderen Leibes Leibbewusstsein zu gewinnen, muss scheitern. Körper und Seele sind keine getrennten Entitäten. Es gibt »keine ›seelischen Phänomene‹, die mit dem Leib erst zu vereinigen wären; es gibt nichts hinter dem Leib, sondern der Leib ist ganz und gar ›seelisch‹« (Sartre, 1980, S. 410). Auch der Leib des anderen ist a priori »Bedeutung-tragend« (Sartre, 1980, S. 446). Als leibhaftiger Weltentwurf bedeutet der Leib des anderen sich selbst und bietet sich dar als »das psychische Objekt © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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schlechthin« (Sartre, 1980, S. 449). Er ist dingliches Objekt und imaginiertes Zentrum der sinnhaften Welt des anderen: »Charakter und Leib sind realidentisch« (Sartre, S. 1980, S. 452). Allerdings nimmt die Konstitution des »Charakters« den anderen als Objekt und verfehlt damit dessen Chance zum Neuentwurf. Die Freiheit des anderen entzieht sich dem definierenden Blick – und bleibt doch konstitutive Möglichkeit des anderen Leibs. Neben dem Ego ist auch das als »Charakter« bestimmte Alter Ego transzendent. Während die Konstitution des Charakters eine pragmatisch notwendige, immer vorläufige Abstraktion sein mag, die die Freiheit des anderen nicht wirklich einschränkt, ist eine die eigene Wahlchance vernachlässigende Selbstdeutung, z. B. als »Charakter«, Ausdruck von Unwahrhaftigkeit. »Mauvaise foi« Die Unwahrhaftigkeit hat die Struktur einer Lüge, bei der Täuschender und Getäuschter dieselbe Person sind. Die Selbsttäuschung ist begleitet vom präreflexiven Bewusstsein der Selbsttäuschung. Der Unwahrhaftige kennt als Täuschender die Wahrheit, die ihm als Getäuschtem entgeht. Die Unwahrhaftigkeit ist ein Handeln, das sich als Erleiden tarnt. »Es bedarf einer ursprünglichen Absicht und eines Entwurfs der Unwahrhaftigkeit; dieses Entwerfen beinhaltet ein Verständnis der Unwahrhaftigkeit als solcher und eine präreflexive Erfassung des von der Unwahrhaftigkeit gestalteten Bewusstseins« (Sartre, 1980, S. 93 f.). Die Selbsttäuschung setzt den Glauben an die Wahrheit des Entwurfs zur Unwahrhaftigkeit voraus: Unwahrhaftigkeit ist ein Glaubensproblem (Sartre, 1980, S. 117) und kann sich nicht selbst hervorbringen, als Vertrauensmangel ist die »mauvaise foi« auf der Ebene des präreflexiven Bewusstseins immer schon da. Andererseits wird die »Unwahrhaftigkeit« immer erneut hervorgebracht und ist insofern individuell zurechenbar. Grundlegende Wahl Die »choix fondamental« kommt in jedem Akt zum Ausdruck. Es gibt keinen zeitlich ersten »Urentwurf«: Jeder Entwurf ist zugleich Urwahl und kann, da in jedem Akt unreflektiert thematisch, jederzeit revidiert werden (Sartre, 1980, S. 589, 720). Er hat die paradoxe © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Struktur, zugleich sich selbst setzendes Zentrum der Subjektivität zu sein und auf eine Kontinuität zu verweisen, die sich durch ihn vollzieht. Die grundlegende Wahl muss daher als Emergenz verstanden werden: eine dem Gegebenen strukturell immanente Möglichkeit der Überschreitung. Das Subjekt findet sich immer schon deutend in einer Welt vor: Man muss wählen, und insofern sich der grundlegende Entwurf auf keine Kriterien stützen kann, ist er frei. Er setzt erst die Werte, die das Subjekt definieren. Dennoch ist die Wahl als Entwurf in eine selbst strukturierte Welt seinerseits bedingt. »Der Sinn eines Lebens geschieht dem Lebenden durch die menschliche Gesellschaft, die ihn trägt, und durch die Eltern, die ihn hervorbringen: deshalb ist er immer auch ein Unsinn« (Sartre, 1977–1979, Bd. 1, S. 142). Faktizität und Transzendenz sind doppelt gegeben: als körperliches und soziales Ding findet sich der Mensch in einer Welt sozialer Tatsachen. Sein Platz ist vordefiniert. Als sinnproduzierender Körper hat er Teil an der gesellschaftlichen Praxis, die symbolische Ordnung interpretiert und entwirft. So bestimmen Leib, Geschichte und Umgebung den sozialen Ort, den ein Mensch wird einnehmen können, und konstituieren ihn als Teil des sozialen Körpers, der sich reproduziert und transformiert, indem der Mensch sich durch seine Entwürfe zum Individuum macht und seinen Platz einnimmt. Die Konstitution als sinntragender Körper vermittelt sich in der Säuglingspflege. In dieser prägenden Interaktionsform sind die Akteure besonders deutlich als »ganze Menschen« aufeinander verwiesen; jedoch betrifft die »choix fondamental« prinzipiell als Haltung gegenüber sich und der Welt immer die psychosomatische Einheit und hat eine affektive Struktur. Sie indiziert jenen »verborgene[n] Kern, in dem der erlebte Körper und der Sinn sich vermischen, jene Ununterschiedenheit, die empfunden wird als die körperliche Textur der Leidenschaften« (Sartre, 1977–1979, Bd. 1, S. 56). Progressiv-regressive Methode – Sinnverstehen als Nacherfinden Der »doppelten Geburt« des Mensches entsprechend nutzt die existenzielle Psychoanalyse im Verstehensprozess parallel zwei Verfahren. Die regressive Analyse bestimmt die Grundstruktur der sozialen Tat© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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sachen, in die ein Mensch hineingeboren wird, als objektiven Bedeutungszusammenhang, der den grundlegenden Entwurf ermöglicht. Die progressive Synthese rekonstruiert den sich selbst erzeugenden (und dabei entdeckenden) Sinnzusammenhang als die spezifische Art, in der der vorbestimmte Platz eingenommen wird. Die regressive Analyse gehört zum Typus des thetischen Bewusstseins. Weil ihr das Erkenntnisobjekt gegeben ist, ermöglicht die methodisch kontrollierte Reflexion prinzipiell intersubjektiv gültige Erkenntnis. Gleiche Informationslage und sachgemäße Anwendung der Interpretationsverfahren vorausgesetzt, gibt es hier kein bevorrechtigtes Erkenntnissubjekt: Auch Therapeut und Klient gelten auf der Ebene des reflexiven Bewusstseins einander gleich. Die progressive Synthese zielt demgegenüber mittels vergleichender Analyse von Handlungen auf die Rekonstruktion des sie begründenden Urentwurfs. Der grundlegende Entwurf ist als präreflexives Bewusstsein weder dem Akteur noch anderen unmittelbar gegeben. Er kann zwar erlebt, aber nicht selbst erkannt werden. Erschließt sich der grundlegende Entwurf aber keiner reflexiven Erkenntnis, so wird er nur auf präreflexiver Ebene verstehbar, im »erratenden Nacherfinden«. Dieses ermöglicht nur eine plausible Verständnishypothese, die Interpretation ist insofern prinzipiell anfechtbar. Gleichwohl bleibt diese Imagination notwendige Voraussetzung jeder Verständnisleistung – auch im Alltagsgespräch. Erst das kreative Nachvollziehen der dem anderen selbst undurchsichtigen Art des Sich-Entwerfens macht ihn als Subjekt erfahrbar. Das Verstehen gründet auf einer »Hermeneutik des Schweigens«. »Das Nicht-Verstehen ist nicht als Ausnahme mehr zu behandeln, sondern muss aus Gründen des Prinzips als Regelfall der Begegnung mit konstituiertem Sinn angenommen werden« (Frank, 1977, S. 152). Exkurs: Existenzielle Psychoanalyse und Fallaufstellung – erste Annäherung Auch die spontane Fallaufstellung ist als sinnhafter Entwurf zu sehen und grundsätzlich verstehbar. Sie ist nicht Struktur, sondern Strukturierung, in der retrospektiv das Bild von den prägenden Bedingungen und prospektiv die Möglichkeit ihrer Überschreitung in eine offene Zukunft erscheint. Beides erscheint dem Aufstellenden nicht © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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ausreichend klar – andernfalls bedürfte es nicht des Aufstellens, das eine Entscheidung zum Neuentwurf transportiert. Der Prozess der Selbstverständigung in der Gruppe macht Gebrauch davon, dass sich das Beziehungsverhalten von bedeutungstragenden Körpern in Haltungen ausdrückt, und befragt diese auf ihre Bedeutung. Die Visualisierung reicht in den vorsprachlichen Bereich (vgl. König, 2004), dessen strukturierende Atmosphäre u. a. über die Dialoge der Stellvertreter imaginiert wird. Indem den Stellvertretern das Wort gegeben wird, können diese aus der Rolle der Verkörperung von Charakteren heraustreten und sich als virtuelle Ichs äußern. Sie zeigen damit mögliche Spielräume im Gesamtsystem an, die in Korrespondenz oder auch in Kontrast zu den Veränderungstendenzen des Aufstellenden stehen und von diesem bei seinem (Neu-)Entwurf zu berücksichtigen sind. Wahrnehmungen der Stellvertreter und Interventionen des Aufstellungsleiters erweitern das Blickfeld und begleiten den Aufstellenden bei der Selbstverständigung, ohne ihm die Verantwortung für seinen Zukunftsentwurf abzunehmen. Die Aufstellung liefert nicht Wahrheit, sondern Anregung. Ein Kriterium für die Überschreitung der »mauvaise foi« könnte ein Gefühl des Aufgehobenseins und der Stimmigkeit sein. Die Aufstellung kann die progressiv-regressive Methode nutzen. Dabei ist die Aufstellung als progressive Synthese zu sehen, die eine erste Verständnishypothese prüft und modifiziert, die Aufstellungsleiter und Aufstellender in regressiver Analyse mit Bezug auf »objektive Daten« anfänglich zur Auftragsklärung erstellen.
Flaubert in der Sicht Sartres: vom Idiot der Familie zum Weltliteraten Regressive Analyse: Erste Geburt und passive Konstitution »Das größte Abenteuer des Werkes besteht für mich im Ersten Teil als ganzem. Wann hat jemand beim Versuch, einen Menschen zu verstehen, schon mal 660 Seiten auf die vorgeburtliche Existenz dieses Menschen verwandt?« (Dörner, 1980, S. 64). Schon vor seiner Geburt war Gustave Flaubert in angebbarer Weise festgelegt. Unter »Konstitution« versteht Sartre keine biolo© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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gische Erbmasse, sondern Gustaves durch soziale, historische, kulturelle und familiare Strukturen definierten »Platz«. Er wurde 1821 in der französischen Provinzstadt Rouen als zweiter Sohn des dem Bürgertum entstammenden Chefarztes Achille Chléophas und seiner Frau Caroline, einer Adeligen, geboren. Gustave war a priori ein (Klein-)Bürger und ein jüngerer Bruder. Die geschichtlichen Aspekte vernachlässigend stelle ich im Folgenden die Familienkonstellation dar, die nach Sartre wesentlichste Voraussetzung dafür, dass Flaubert ein passiv Konstituierter wurde. Ein jüngerer Bruder zu sein, das war beinahe ein Todesurteil in der Familie Flaubert, denn ein solcher war nicht erforderlich. Der Vater betrachtete die Familienplanung als Nachfolgesicherung, und ein Nachfolger war mit dem ältesten Sohn Achille bereits vorhanden. Die Mutter wünschte sich nur eine Tochter, in der sie sich selbst noch einmal realisieren konnte. Ein Sohn und eine Tochter, so sah die Familienplanung aus. Ein jüngerer Bruder war überflüssig. Frau Flaubert gebar fünf Jungen, von denen drei starben – zwei waren vor Gustave geboren worden, einer nach ihm. Erst dann erfolgte die erlösende Geburt der Tochter. »Die Kindersterblichkeit war in dieser Zeit groß. Dennoch ist mir das Verschwinden dieser drei Jungen suspekt. Wenn ein Kind nicht ›maternisiert‹ wird, so kann es nach einem Monat, nach drei Monaten verlöschen. Kann man sich vorstellen, dass die tugendhafte und ›eisige‹ Caroline senior die Ursache ihres überstürzten Rückzugs gewesen ist? Unter dem Eindruck der früheren Trauerfälle hatte sie sich vielleicht bei Gustave zusammengenommen. Und dem verdankte er sein Leben. Mit knapper Not. Aber beim folgenden hatte sie vielleicht ausgerufen: ›Noch einer!‹ Der Neugeborene hatte sich wohl bei diesem Empfang beeilt, wieder unter die Erde zu kommen« (Sartre, 1977–1979, Bd. 2, S. 83). So war Gustave ein Kind ohne Mandat. Seine Mutter verbarg ihre Ablehnung hinter Überfürsorglichkeit, die ihm das Leben rettete und die Lebenslust nahm. Die fehlende Mutterliebe führte zu mangelnder Selbstliebe und zu Selbstablehnung. Flaubert war nicht geschaffen zum Leben: Er hatte ein ursprünglich schlechtes Verhältnis zum Handeln und erlitt seine Existenz. Zurückgewiesen von der Mutter hätte Gustave noch von seinem Vater valorisiert werden können. Aber dieser hatte wenig Zeit für ihn © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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und schlug den ohnehin Verletzbaren mit einer zweiten Wunde. Der ehrgeizige Mann konnte nicht fassen, dass sein Sohn sich im Alter von sieben Jahren schwertat, lesen zu lernen. Unduldsam zwang er ihm das Pensum auf und erklärte ihn seiner Leseschwäche wegen zum »Idioten der Familie«. Der schlecht geliebte Sohn empfand sich zurückgesetzt gegenüber seinem sieben Jahre älteren Bruder, der – obgleich selbst nur eine matte Kopie des Vaters – der unerreichbare Rivale blieb. So konnte Gustave befriedigenden emotionalen Kontakt im familiären Rahmen nur zur drei Jahre jüngeren Schwester erleben. Die Bruder-Schwester-Beziehung wurde zum Modell für seine späteren Freundschaften (Sartre, 1977–1979, Bd. 2). Die Familie Flaubert war geprägt von der Dominanz des Vaters. Sein Wort war Gesetz. Angehimmelt von seiner Frau, die in ihm ihren eigenen Vater wiederauferstanden sah, war er der uneingeschränkte Herrscher der Familie. Flaubert senior hatte sich seine Position kraft seiner Tüchtigkeit erworben und wollte den Aufstieg in seinen Kindern fortgesetzt sehen. Stolz war eine beherrschende Familieneigenschaft, von väterlicher Seite auf Leistung, von mütterlicher auf Herkunft gegründet. Die hierarchische Struktur der Familie unterstützte einen im Grunde feudalen Modus der Sozialisation und konfligierte mit der explizit vermittelten aufklärerischen und emanzipativen analytischen Vernunft des Vaters. Ein Flaubert konnte nur Erster sein. Gustave als der jüngere Bruder war aber von vornherein nur Zweiter, sein »Versagen« prognostizierbar. Die unterschiedliche soziale Herkunft der Eltern schlug sich als Widerspruch hinsichtlich der führenden Philosophien der Zeit in Gustaves Grundeinstellungen nieder. Folgte er intellektuell dem Agnostizismus der analytischen Vernunft seines Vaters, so stand dem emotional eine größere, wenn auch uneingestandene Glaubensbereitschaft entgegen, die auf die Religiosität der Mutter zurückging. So sahen, grob skizziert, die Einflüsse aus, in die Gustave hineingeboren wurde. Die regressive Analyse indiziert die »passive Konstitution« (Sartre, 1977–1979, Bd. 1, S. 47) als Flauberts Urentwurf. Die Struktur seines Handelns und seines Erlebens sind darin angelegt, entfalten sich aber erst im Laufe des Lebens und entwickeln sich zu dem, als was sie im Nachhinein verständlich sind. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Diese Disposition gründet – neben möglicherweise »organischen Besonderheiten« bzw. solchen des »Temperaments« – auf den primären Interaktionen, über die die familiale Bezugsgruppe ihre Vorstellungen zur Zukunft des Kindes weiterreicht und ihr familiales und soziales Milieu rekonstituiert. Im Fall Flauberts war die Interaktion von der unausgesprochenen Annahme geprägt, dass Gustave ein todgeweihtes Kind sei (Sartre, 1977–1979, Bd. 1, S. 137). Die Pflege gegen den Tod erlaubte Gustave nicht, selbst Bedürfnisse anzumelden und sich als bedürftig zu erfahren (Sartre, 1977–1979, Bd. 1, S. 139). Seine grundlegende Passivität erscheint im Verhältnis zu sich selbst, zur Sprache, zum Handeln, zur Geschichte und zu anderen Menschen. Sprache
Säuglingspflege ist sprachvermittelte Interaktion. Gustave wurde von Anfang an keine Gelegenheit zum Ausdruck gegeben. Er erfährt sich und die Wörter als Dinge, sodass ihm entgeht, dass die Rede von Intention geprägt ist und auf Interessen und ein Praxisfeld verweist. Der Doppelcharakter der Sprache – als überliefertes Sprachsystem (»langue«) geronnene Praxis und Objektivation der Entwürfe anderer Gesellschaftsmitglieder einerseits, die in der Anwendung (»parole«), dem individuellen Neuentwurf, realisiert wird andererseits – bleibt ihm verborgen. In der Rezeption verfehlt er die Bedeutung der Rede und erscheint (u. a. im Zusammenhang mit dem Lesen) als naiv und leichtgläubig. In der Expression sucht er vergeblich nach dem subjektiv angemessenen sprachlichen Ausdruck für die empfundenen Gefühle. Er nimmt nicht aktiv am Diskurs teil und zieht sich in Tagträume und Geistesabwesenheiten zurück. Seine Domäne ist das Pathos, die passive Emotionalität. Er wird von Emotionen ergriffen, ohne sie ausdrücken zu können, und sein Begehren bleibt unstillbar. Selbst Flaubert ist sich selbst fremd, sein »Selbst ist fremdstämmig« (Sartre, 1977–1979, Bd. 1, S. 178). Ohne Mission fehlen ihm die Kriterien zur Bewertung sozialer »Tatsachen«, sodass er sich Vertrauen in Form des Glaubenschenkens leihen muss. Die anderen sollen ihm seine Wahrheit entdecken, er ist auf ständiger Suche nach Legitimation. Sein Ego ist eine Rolle. Er © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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macht sich zum Schauspieler seiner selbst. Weil aber gleichursprünglich dem Bedürfnis zu Glauben der Zweifel ist (Sartre 1973, S. 47), muss Flaubert überkompensatorisch in ständiger autosuggestiver Übertreibung sich allererst selbst überzeugen. Seine Ambivalenz zeigt sich darin, dass er sich sowohl in positiven Protagonisten wie in ihren Peinigern entwirft. Handeln
»Leben ist für [Gustave] zu anstrengend; er muss sich zwingen, um von einem Augenblick zum nächsten zu gelangen« (Sartre, 1977– 1979, Bd. 1, S. 45). Es gibt bei ihm eine »Neigung zur Apathie, die ständig zur Selbstaufgabe ermuntert« (Sartre 1977–1979, Bd. 1, S. 45). Das Unbehagen gegenüber dem Eintritt ins praktische Feld äußert sich als Hemmung und resultiert in »passiver Aktivität«. Diese ist erlittene Aktivität. Der Wille des anderen zwingt sich Gustave auf. Aber seine Unterwerfung ist gar zu perfekt. Keine Situation, wie quälend sie auch sein mag, kann aus sich selbst heraus »über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, gelebt zu werden, entscheiden« (Sartre, 1977–1979, Bd. 1, S. 416). Indem Gustave sein »Schicksal« annimmt und seine Ohnmacht lebt, macht er sich zum Komplizen. Die Überschreitung der grundlegenden Option, der »passiven Konstitution«, ist zugleich deren Bestätigung: eine provokatorische Ohnmacht also. »Weil sie gemacht wird, wenn der Feind bereits Sieger ist: wenn jeder Widerstand unmöglich ist, reagiert der Besiegte durch aggressives Vorführen der Passivität, zu der man ihn verurteilt hat; er nimmt stolz auf sich, was der Andere aus ihm gemacht hat« (Sartre, 1977–1979, Bd. 1, S. 195). Damit wird der Übergang zu dem sichtbar, was Sartre »Personalisation« heißt. Progressive Synthese: Zweite Geburt und Personalisation Wie kann sich ein passiv Konstituierter auf seinen Entwurf hin überschreiten? Sartre zufolge geschieht dies durch ein Handeln, das sich als Erleiden tarnt. Bei Flaubert besitzt dieses Handeln zwei Seiten: das Misserfolgsverhalten und den »Gleitflug«. Das Misserfolgsverhalten ist (Über-)Erfüllung fremdgesetzter Ziele, das diese zum Scheitern bringt. Es tritt an den gesellschaft© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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lich relevanten Initiationen – Lesenlernen, Schulabschluss, Übergang vom Studium in den Beruf – in Erscheinung und vollzieht die widersprüchliche Einheit von flaubertschem Familienhochmut und Jüngerer-Bruder-Sein. Der »Gleitflug« ist die Form eines Abwehrabsentismus, in die Flaubert angesichts ihn bedrohender (äußerer und innerer) Gefahren flüchtet. Absence und Tagtraum ermöglichen ein imaginäres Ausleben von Wünschen, die aus Mangel an Macht nicht realisiert werden können (Sartre, 1977–1979, Bd. 3, S. 713) oder zensiert werden müssen. Geistesabwesenheiten und Ekstasen werden zu angesteuerten Fluchtpunkten. Autosuggestion ist das Mittel der Wahl. Flaubert entwickelt verschiedene Techniken des Überfliegens der Realität, in deren Mittelpunkt die Beschwörung der Wörter steht (Sartre, 1977–1979, Bd. 2, S. 287). Die wirksamste Form der irrealen Wunschbefriedigung ist das Schreiben. Die konstituierte passive Aktivität wird von der sich konstituierenden aktiven Passivität gestützt. Als Vermittlungsinstanz fungiert die Autosuggestion, Flauberts Hauptlebenslinie (Sartre, 1977–1979, Bd. 1, S. 285). Bei der Autosuggestion »hat das ›Denken‹ zwei Seiten: es wird bewusst erlebt als passive Aktivität, weil es sich als aktive Passivität in den Funktionen des Lebens selbst realisiert hat; und die bewusste Anstrengung, daran zu glauben, das heißt, eine Lebensbestimmung der Person daraus zu machen, beschleunigt umgekehrt seine organische Realisierung« (Sartre, 1977–1979, Bd. 3, S. 1144). Gustaves große autosuggestive Fähigkeiten führen nicht von allein zum Anfall von Pont l’Evêque, der zum Wendepunkt in seinem Leben wurde. Gustave muss über die psychophysischen Voraussetzungen verfügen, die Situation für ihn unhaltbar geworden und eine sofortige Entscheidung notwendig sein. Der Stress als Einheit der quälenden Situation und des Abwehrprozesses ist nach Sartre eine sich entwickelnde Einheit. Stress als Prozess
Stress beinhaltet für Sartre gleichzeitig die Bedrohlichkeit der Situation, die Deutung Gustaves und seine Art, sie zu leben. Stress ist Verinnerung des Äußeren (Gefahr) und Veräußerung des Inneren (Abwehr) in einem. Er ist ein gerichteter Prozess, denn die Abwehr © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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beseitigt das Übel nicht, sondern verstärkt es (Sartre, 1977–1979, Bd. 5, S. 11). Gustaves Unglück hebt an mit seinen Schwierigkeiten beim Lesenlernen. Durch die schlechte Sozialisierung in die Sprache sind die Probleme angelegt, die sich in einer familialen Konstellation entfalten können, die ihn das Lesenlernen als Stress verarbeiten lässt. Durch den »Makel«, kein Mädchen zu sein, wurde Gustave ursprünglich von der Mutter zurückgewiesen. Auch sein Vater zog zu jenem Zeitpunkt, da Gustave von ihm hätte Notiz nehmen können, seine zweieinhalb Jahre jüngere Schwester vor. »Wenn Gustave errät, dass die Zärtlichkeit des Vaters sich an sein Kindesalter wendet, so ist das ein ausreichendes Motiv dafür, dass er sich weigert, größer zu werden. Unglücklicherweise kommt diese regressive Absicht zur Unzeit: die Eltern haben beschlossen, dass mit der Dressur begonnen wird; man gibt ihm eine Fibel. Das Kind sieht darin ein Symbol: es erkennt in der Fibel den Weg, der zur einsamen Lebensweise der Jungen, der Erwachsenen führt. Damit ist sie zugleich ein Mittel, sein Kindesalter zu erhalten: es stellt dem Symbol eine symbolische Weigerung entgegen; es wird nicht lesen lernen: sein ganzer Körper wehrt sich gegen diese Lehre« (Sartre, 1977–1979, Bd. 1, S. 371). Der Vater zwingt ihm das Lesen schließlich auf, wirft ihm aus eigener Verletztheit sein Verhalten vor und stempelt ihn im Vergleich mit dem Erstgeborenen Achille zum Versager. Damit ist der »Idiot der Familie« geboren. Gustave kann sich nicht zur Wehr zu setzen, verinnert den Fluch und wendet seine Aggressionen gegen sich. Das Ressentiment ist entstanden. Gustave macht sich zum Idioten der Familie (Sartre, 1977–1979, Bd. 2, S. 97). Im Internat, auf das Gustave, etwa 10-jährig, geschickt wird, macht er erneute Zurückweisungserfahrungen. Die Mitschüler sind für ihn zugleich verachtenswerte Dummköpfe – ihre Familien verkehren nicht bei den Flauberts – und Vollstrecker des väterlichen Fluchs. Er eignet sich das väterliche Urteil in einer aggressiven Abwehrhaltung an. »Er treibt sein Unglück bis zum Äußersten und redet sich ein, dass er der Enterbteste ist; schon ist er der erste aller Menschen, eben gerade weil ein raffinierter und bösartiger Vorsatz ihn zum Letzten gemacht hat. Dieses merkwürdige Verfahren – ein © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Hochmut, der sich über der verletzten Eigenliebe schließt, um deren Wunden zu vertiefen und deren Schmerz durch Radikalisierung zu verringern –, ist […] Gustaves präneurotischer Stress während seiner Schuljahre« (Sartre, 1977–1979, Bd. 3, S. 549). Die Schule ist anstrengend und Gustave hat Angst vor der Zukunft. Er wird nervös, was seinen Vater umdisponieren lässt: Gustave wird nicht Medizin, sondern Jura studieren. Doch dieses Studium ekelt ihn an, weil am Ende die Bürgerlichkeit steht: Beruf, Familie, Regelmäßig- und Mittelmäßigkeit. Er wehrt sich passiv, indem er versucht, sich ein Bewusstsein seiner Zukunft als Bürger zu ersparen und sich durch Apathie und »Unbeweglichkeit« zu entziehen (Sartre, 1977–1979, Bd. 3, S. 1047). Er fällt durch die zweite juristische Zwischenprüfung. Mit Misserfolgsverhalten sucht er seinem Vater praktisch zu beweisen, dass er für die Juristerei ungeeignet ist. Doch dies bringt keine Lösung, sein Vater kennt kein Pardon. Daher muss die Lösung radikal sein. Nur der Tod des Vaters oder sein eigener Tod könnten eine endgültige Wende bringen. An Ersteres wagt Gustave nicht zu denken. Ein natürlicher Tod des vor Gesundheit strotzenden Vaters ist vorerst nicht zu erwarten, ein Mordimpuls ist Gustave nicht einmal bewusst. 1842, eineinhalb Jahre vor der Krise von Pont l’Evêque, versucht er, sich selbst zu töten, vergeblich – auch er will leben. Er muss »sterben ohne zu sterben«, die Situation ist dringlich. Die Wiederholungsprüfung, auf die sich Gustave schlampig-eifrig vorbereitet, steht Anfang 1844 unmittelbar bevor. Gustave »begreift, dass er nicht mehr gehorchen und ebensowenig revoltieren kann. Zwei einander widersprechende strikte Unmöglichkeiten; und dennoch muss ein Entschluss gefasst werden. Damals ›musste etwas auf ziemlich tragische Weise in [seinem] Hirnkasten vor sich gegangen sein‹« (Sartre, 1977–1979, Bd. 3, S. 1162). Die Autosuggestion
Die autosuggestive Hervorbringung des Anfalls von Pont l’Evêque ist keine spontane Fähigkeit Gustaves, sie hat eine Geschichte, die sich seinem Körper eingeschrieben hat. Sartre führt die Autosuggestion als Übertreibung des Rollenspiels ein, mit dem Gustave zugleich sich selbst und die anderen © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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überzeugt. Die für Gustaves Leben bezeichnende Rolle ist die des Überlebenden. Sie synthetisiert Flauberts doppelte Zeitperspektive. Geschichte erscheint ihm als ursprüngliches Verhängnis – er ist ein Jüngerer-Bruder und kein Mädchen, also eine Missgeburt –, das sich schicksalhaft noch erst vollzieht: Gustave ist der Idiot der Familie. Die zeitliche Orientierung wird auf dem Hintergrund des flaubertschen Familienstolzes zugleich zur örtlichen. Gustave strukturiert sich nach der vertikalen Differenzierung oben-unten (Sartre, 1977– 1979, Bd. 1, S. 598). Gustave wird nicht »der Erste« sein, wohl aber »der Letzte«. Er wählt das Los des Märtyrers. Diese Übersetzung der flaubertschen Familienhierarchie schlägt sich auch räumlich nieder: die Erde zieht ihn an. »Der symbolische Charakter dieser Anziehung äußert sich merkwürdigerweise darin, dass Gustave, wenn er sozusagen auf die Nase fällt, sich in seinen Träumen auf wunderbare Weise immer auf dem Rücken liegend findet. […] Man muss hinzufügen, dass auf einer anderen Ebene diese (ihn anziehende) Körperhaltung […] in seinen Augen, ohne dass er es ausdrücklich erklären könnte, die Rückkehr zu seiner frühesten Kindheit symbolisiert, zur Wiege, den müßigen Appell an die starken mütterlichen Hände, dass sie bis ins Unendliche jene flinke Arbeit wieder aufnehmen mögen, die einen Menschen schaffen sollte und die ihn verpfuscht hat« (Sartre, 1977–1979, Bd. 1, S. 680 f.). So meint die Faszination durch das Untere in zeitlicher Perspektive eine Regression (zurück zur Kindheit), in örtlicher einen Sturz (zu Staub und Asche und in den Dreck) und in moralischer und sozialer Hinsicht einen Ver-Fall. Gustave hat den Familienehrgeiz ungebrochen übernommen, aber umgekehrt. Er befriedigt die Option zur Selbstzerstörung freilich im Imaginären. Die Folge ist eine moralische und körperliche Impotenz, die zwar intentional ist, ihn aber dennoch überrascht und ängstigt. Die Gefügigkeit seines Körpers lässt ihn spüren, dass er sich mit dem Wahnsinn, den er spielt, infizieren könnte (Sartre, 1977–1979, Bd. 3, S. 1135). Das Denken ist mächtig, vermöchte aber nichts über seinen Körper, wenn dieser nicht seinerseits geprägt wäre. Offenbar haben sich der Stress und die Autosuggestion in seinen Körper eingegraben. Die Autosuggestion weist über sich hinaus, weil der Körper die finsters© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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ten Fantasien unwillkürlich vollziehen kann. Gustave erkennt seine Gefährdung etwa eineinhalb Jahre vor dem Erstanfall. Ihm wird angst – und er bleibt doch von seinen autosuggestiven Fähigkeiten fasziniert. Die Krankheit, auf die er zusteuert, entzieht sich ihm und verrät doch eine geheime Intentionalität. »Um mit der väterlichen Hartnäckigkeit fertig werden zu können, müsste der junge Mann seinen Störungen einen radikalen Sinn geben; er dürfte nicht mehr denken: ich bin krank – sondern ich bin ein Kranker, kurz, auf der psychosomatischen Ebene müsste die Passivität zum Eid, zur Hypothek auf die Zukunft werden« (Sartre, 1977–1979, Bd. 3, S. 1061). Einheit des Krankheitsprozesses
»Zwischen 1838 und dem Anfall von Pont l’Evêque wird Flaubert von einer Krise geschüttelt und dann zu Boden geworfen, die ich […] psychosomatisch nennen werde. […] [Es handelt sich, O. B.] um einen einzigen unabweichlichen Prozess, der sich ständig entfaltet, bereichert und vertieft, bis er schließlich den Ausbruch vom Januar 1844 unvermeidlich macht« (Sartre, 1977–1979, Bd. 3, S. 851). Der (Gesundheits- und Krankheits-)Prozess ist kontinuierlich, gerichtet und intentional. Psychische Kopfschmerzen, Apathie, Albträume, Beklommenheit sowie körperlicher Widerstand tauchen immer wieder auf (Sartre, 1977–1979, Bd. 3, S. 1049, 1060, 1061, 1064, 1065) und werden durch Gähnen, Müdigkeit, Langeweile, Entschlusslosigkeit sowie die gewollte, aber erlittene sexuelle Enthaltsamkeit (Sartre, 1977–1979, Bd. 3, S. 1132–1135) ergänzt. Bereits 1842 ist die »Neurose aktuell und die Krise potentiell« (Sartre, 1977–1979, Bd. 3, S. 1149). Der Anfall von Pont l’Evêque ist deren Realisierung. Auch in späteren Jahren treten immer wieder neue Beschwerden auf. Die Einheit von künstlerischer Krisis und körperlichen Beschwerden dauert gut vierzig Jahre und ist eine Gesamtreaktion, die »Somatisierung der Unmöglichkeit zu leben« (Sartre, 1977–1979, Bd. 1, S. 217). Flauberts Krankheit ist »eine intentionale Anpassung der ganzen Person an seine ganze Vergangenheit, an seine ganze Gegenwart und an die sichtbaren Gestalten seiner Zukunft« (Sartre, 1977–1979, Bd. 1, S. 178).
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Die sinngebende Krankheit Die Krise von Pont l’Evêque stellt den entscheidenden Einschnitt in Flauberts Leben dar. Sartre widmet ihr einen ganzen Teil-Band seiner Flaubert-Studie (vgl. Sartre, 1977–1979, Bd. 4). Er betrachtet die Krise zunächst unter einem negativen strategischen Gesichtspunkt: als verhinderte Rede an den Vater, als Fluchthaltung, als Regression, als Autoaggression usw. In diesem Abschnitt folgt Sartres Interpretation psychoanalytischen Deutungsmustern. Im zweiten Teil geht er darüber hinaus. Nunmehr untersucht er die Krise unter dem Aspekt der Wahlfreiheit als positive Strategie und thematisiert, wie sich Flaubert mit der Krise innerlich die Voraussetzungen geschaffen hat, Künstler zu werden. Hier soll die am Beispiel Flauberts exemplifizierte Krankheitstheorie im Vordergrund stehen, ergänzt um den Hinweis, dass das individuelle Gesund- und Kranksein als Einheit verstanden und – über die Flaubert-Rezeption – rückgekoppelt werden kann an die Art, in der sich der Gesellschaftskörper insgesamt interpretiert. In der Ausarbeitung eines motivierten und als Strategie zurechenbaren Verhaltens, das sich dennoch fremdgesteuert dem Körper aufzwingt, liegt der Kern der sartreschen Analyse. Gustaves Krankheit ist »mauvaise foi«; sie ist nur möglich, wenn keine vollständige Bewusstheit bezüglich eines gewollten und bejahten, aber erlittenen Handelns zu bestehen scheint. Die Krise war dringlich, eine Lösung nötig. Die doppelte Unmöglichkeit, zu gehorchen und zu revoltieren, kann nicht bewusst gelebt werden. Gustave muss, um gehorsam bleiben zu können, seinen Ungehorsam erleiden. Die spezifische Weise, sich zum Erleiden zu bestimmen, ist »Glauben« (Sartre, 1977–1979, Bd. 4, S. 53). »Für konstituierte Passivität ist also, wegen ihrer Unfähigkeit, einen Zweck zu vermöglichen, das Glauben die Rückwendung eines Verlangens auf sich selbst, das sich nicht entfalten kann und sich deshalb nicht als Verlangen versteht, sondern als orakelndes Vorwissen. Umgekehrt hat das Glauben eine teleologische Struktur, da es ja Somatisierung des anvisierten Zwecks und Übernahme der Option durch den Körper ohne Verantwortung ist. Insofern kann der Autosuggestive nur glauben, aber was er glaubt, ist immer manipulierbar« (Sartre, 1977–1979, Bd. 4, S. 58). © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Im Glauben wird der väterliche Fluch reaktiviert. Gustave lebt die Unmöglichkeit zu leben als Unmöglichkeit, Jura zu studieren. Der Glaube wird unter der Dringlichkeit zum Vorwissen. Die Umstände der Wagenfahrt aktivieren und verstärken die Vorahnung. Jede Wagenraddrehung macht ihm klarer, dass die nächtliche Reise das verhasste Jurastudium näher bringt: Denn die Reise geht nur kurzzeitig ins Elternhaus und dann zurück zum Studium in Paris. Er versinkt in Gedanken und ist näher bei der zu fliehenden Realität als bei der Wagenfahrt. Dennoch hat er die Verantwortung für die Fahrt übernommen: Er lenkt selbst. »Dadurch restituiert er seine gesamte Pariser Existenz, findet er sich in jenem – vergangenen, zukünftigen, hundertfach wiederholten – fixen Moment wieder, da der passive Gehorsam – in den er sich schicken würde – sich durch Radikalisierung in Aktivität verwandelt. Das Pferd lenken, den Code civil studieren ist eins. Die erste dieser Handlungen ist nicht allein das Symbol der anderen, sie führt logisch dahin, sie ist deren notwendiger Beginn. Das Resultat kann man sich leicht denken: je mehr er seinen Körper in einem willentlichen Unternehmen instrumentalisiert, delegiert er den passiven Widerstand an jenen dunklen inneren Teil des Organismus, der ihm keineswegs gehorcht, das heißt, der nicht seinem Gehorsam gehorcht« (Sartre, 1977–1979, Bd. 4, S. 64 f.). Es scheint, als habe er die Zügel gerade wegen seiner Gefährdung übernommen: ein Hinweis auf eine Bereitschaft, dem Schicksal, das auf ihn wartet, zuzustimmen. Allerdings darf, »wenn er im vollen Gehorsam zu Boden geschmettert […] [wird], seine rechte Hand nicht wissen, was seine linke tut; hinsichtlich der drohenden Somatisierung muss er ja im Zustand der Zerstreuung sein. Aber die Zerstreuung wäre nicht einmal möglich, wenn sie Gegenstand einer Entscheidung sein müsste: in Wahrheit ist sie ganz einfach das Resultat jener realen und symbolischen Handlung, in der er aufgeht und die seine ganze Aufmerksamkeit verlangt: im Dunkeln lenken« (Sartre, 1977–1979, Bd. 4, S. 65). Die Umgebung derealisiert sich, zugleich werden Gustaves Wünsche und Befürchtungen realer. Seine Zerstreuung ist Voraussetzung der passiven Bereitschaft, umzufallen. Die äußere Umgebung, durch die er sich bezeichnen lässt, wird zum Angebot. Die Krise muss sich © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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vor Zeugen abspielen, und sein Bruder ist anwesend, als legitimer Vertreter des Vaters, an den sich die Krise richtet und der als Zeuge ausscheidet, weil er Gustaves geheimste Absichten durchschauen würde. Achilles Anwesenheit verleiht der Situation die objektive Struktur einer Versuchung: Man muss sie ausnutzen. Da auch diese »Wahl« nur erlitten sein kann, ist ein Auslöser nötig: das Licht des entgegenkommenden Fuhrwerks. Flaubert reagiert, als hätte er darauf nur gewartet: Der Stimulus hat Aufforderungscharakter. Er sieht darin die Anweisung zu sterben und den väterlichen Fluch wirklich werden zu lassen. Natürlich besitzt der Stimulus nicht »an sich« diese Bedeutung, wohl aber für Gustave, der sich seine eigenen Absichten verbirgt und sich durch die Umgebung bezeichnen lässt. Die Krise zeigt ein Sterben; aber Gustave überlebt als Toter. An die Stelle der unmöglichen Selbstauslöschung tritt der zeitweilige Untergang des Ich. Diese Todeserfahrung ist grauenhaft und wird von Gustave als physischer Schmerz empfunden, in dem er sich vergewissert, dass er er selbst bleibt, und sich wehrt gegen den geheimen Verdacht der Komplizenschaft: Die Schmerzen sind so grauenvoll, er kann sie nicht gewollt haben. »Wie man die Störungen von Pont l’Evêque auch deuten mag, sie entfalten sich unter der Leitung eines kräftigen selbständigen Schemas, das wir psychomotorisch nennen können, weil es sich seit vielen Jahren Flauberts Körper und Sensibilität aufzwingt« (Sartre, 1977–1979, Bd. 4, S. 96). So gesehen findet Gustave in der Krise seine Wahrheit wieder und erlebt dies als übermächtige Erleuchtung (Sartre, 1977–1979, Bd. 4, S. 100). Diese Offenbarung nimmt der Krise ihre Kraft. Indessen enthält der Anfall das Moment der Unumkehrbarkeit. Die Krise impliziert eine »neurotische Hypothek auf die Zukunft«: die Verpflichtung zur Wiederholung. Die spezifische Form der Krise, das Fallen, hat eine tiefere Bedeutung: die Regression. In einem ersten Sinn meint dies die Zurücknahme der im Pariser Studierzimmer symbolisierten Selbstständigkeit. Da die Selbstständigkeit nur scheinbar war, bedeutet die Regression aber zugleich Freiheit, und die Rückkehr in die Familie bringt zugleich ihr Gegenteil zum Ausdruck: Gustave findet mit der Halbklausur die seit Jahren ersehnte Lebensweise. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Darüber hinaus ist die Regression ein Fall in die Unverantwortlichkeit. Nach der Verweigerung des Älterwerdens in Kindheit und Adoleszenz wird Gustave nun unwandelbar. Nichts betrifft ihn mehr. Gustave hat damit die subjektiven Voraussetzungen geschaffen für die zu schaffende Kunst: die ästhetische Haltung. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist das Zurückfallen zugleich ein Entwurf: Gustave macht sich zum Kind, zum Greis, zum Idioten – und zum Künstler. Nach Sartres Darstellung ist es kein Zufall, dass die Krise »die Form eines Sturzes angenommen hat, auf den eine Lähmung folgt: er hat den Gebrauch aller erlernten Gesten verloren, kann nicht mehr sprechen noch gehen oder sich auch nur aufrecht halten; einen Säugling bringt Achille ins Hotel-Dieu zurück« (Sartre, 1977–1979, Bd. 4, S. 106 f.). Gustave zwingt so nachträglich seiner Familie die Liebe ab, die ihm verweigert wurde. Insbesondere der Vater ist zu einer Aufmerksamkeit aufgefordert, die er Gustave nie hatte zuteil werden lassen. Die Hierarchie wird umgekehrt. »So ist es eine Absicht des Sturzes […], dass er diesen vergesslichen und ungerechten Vater, diesen schrecklichen und männlichen Moses zwingen will, mütterlich zu werden, seinen Sohn anzufassen, wie es Frau Flaubert tat, diesen zusammengebrochenen, aufgelösten Körper, den sie 1821 konstituiert hatte, zu rekonstruieren, kurz, seine lehnsherrliche und männliche Autorität vor Gustaves Tür zu lassen, in Frauenröcken in sein Zimmer zu treten und ihn mit einer weiblichen Sanftmut zu handhaben und zu sokratisieren« (Sartre, 1977–1979, Bd. 4, S. 107). Gustave will nicht nur sein Schicksal rückgängig machen, sondern sich auch rächen und seinen Vater demütigen. Insofern kann die Krise von Pont l’Evêque als symbolischer Vatermord verstanden werden, als Rede an den Vater, die nicht gehalten werden kann, weil Gustave »ein Stummer (ist), der sprechen will« (Sartre, 1977–1979, Bd. 4, S. 124) und sein Vater das Zuhören nicht gelernt hat. Nun ist der Vater aber nicht so schrecklich wie das Bild, das Gustave verinnerlicht hat. Am empirischen Vater rächt sich Gustave im Namen des symbolischen – und kommt überhaupt nicht von jenem los. Am realen Machtverhältnis ändert sich nichts. Dennoch fühlt sich Gustave zwei Jahre später, als der Vater tatsächlich stirbt, schuldig. »So sind die überzeugtesten Vatermörder – im Traum – jene © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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passiv Handelnden, die die Vernichtung von Hindernissen wünschen, weil sie nicht fähig sind, es zu umgehen oder beiseite zu schieben« (Sartre, 1977–1979, Bd. 4, S. 137). Wie sehr Flaubert den Tod seines Vaters gewünscht hat, lässt sich am Gefühl der Befreiung ablesen, das er bei dessen Ableben empfindet: Er erklärt sich für geheilt, will wieder arbeiten und nach Jahren seiner »hysterischen Kastration« mit einer Frau schlafen (Sartre, 1977–1979, Bd. 4, S. 138). Nach dem Tod seines Vaters stürzt sich Gustave in Arbeit. So gehören der Anfall von Pont l’Evêque und der Tod des Vaters zusammen. Mit Flauberts Re-Integration in die Familie erhält diese die eigentümliche Struktur von Versorgungseinheit und Schutzwall. Gustave wird gepflegt und versteckt (Sartre, 1977–1979, Bd. 4, S. 188). Gustave bleibt an die Familie – besser: an deren räumliche Symbolisierung – gebunden. Das Domizil ersetzt ihm sein Außen und ist Grundlage seiner Innerlichkeit, der Kunst. Gustaves Krise hat damit auch eine ökonomische Fundierung: Er macht sich zum Rentier und ist auch finanziell der Verantwortung enthoben. Doch der Besitz macht ihn gleichzeitig zu einem »Besessenen«. Pikanterweise hat ihm juristisch sein Haus nie gehört, sodass er nicht wirklich zu Hause war. Der Anfall von Pont l’Evêque ist nunmehr in seiner negativen Funktionalität bestimmt. Sartre wirft, weitergehend, die Frage auf, ob man nicht einen positiven Zusammenhang zwischen Krankheit und Kunst Flauberts sehen müsse, insofern die durch die Krankheit erzwungene Isolation die Möglichkeitsbedingung für die zu schaffende Kunst ist. »Von daher erscheint Gustaves Krise als eine gigantische Bemühung, den Willen zum Leben in sich zu bekämpfen – anders gesagt, den Ehrgeiz und den Hochmut Flauberts –, indem er ihm einen Sturz entgegensetzt, von dem er sich nicht erholen wird. Er befreit sich von den Begierden, indem er nur noch eine ›Augenbeziehung‹, nicht allein zu Menschen, sondern auch zu den Gütern dieser Welt hat« (Sartre, 1977–1979, Bd. 4, S. 178). Dies ist die ästhetische Haltung. Dieser Aspekt der Krise von Pont l’Evêque berührt zu sehr die flaubertsche Kunstauffassung, als dass eine Diskussion hier möglich wäre (vgl. König, 1980b, 1988).
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Existenzielle Psychoanalyse und Salutogenese Nunmehr möchte ich Sartres Ansatz auf das Salutogenesekonzept Antonovskys beziehen, das in den Gesundheitswissenschaften zunehmend an Akzeptanz gewinnt (Antonovsky, 1997). Ausgehend von der Beobachtung, dass eine Reihe von Personen trotz stärkster Belastungen nicht krank wird (»positive Devianz«), hatte Antonovsky nach den Bedingungen fürs Gesundbleiben gefragt. Er machte auf die Wirksamkeit generalisierter Widerstandsressourcen aufmerksam und brachte diese mit der Ausbildung des Kohärenzgefühls in Verbindung, das für Herstellung und Aufrechterhaltung von Gesundheit zentral sei und vor allem in der primären Sozialisation erworben werde. Der »sense of coherence« wird als dynamisches und doch stabiles Gefühl verstanden, dass die Welt nach Regeln organisiert ist (Verstehbarkeit), Aufgaben zumeist gelöst werden können (Handhabbarkeit) und es im eigenen Leben Anstrengungen gibt, die der Mühe wert sind (Bedeutsamkeit). Das Leben wird mit einem mitunter reißenden Fluss verglichen, Hindernisse werden als Herausforderungen begriffen (vgl. das Einleitungskapitel in diesem Band). Krisenbewältigung sei nicht Ausnahme, sondern Regel. Gesundheitsbildung ist damit eingebunden in lebenslanges Lernen, eine beständige Aufgabe. Antonovsky hatte die binäre Unterscheidung nach gesund und krank kritisiert, für ein Gesundheits-Krankheits-Kontinuum plädiert und gefordert, Ressourcenorientierung in Forschung und Praxis neben die bislang vorherrschende Suche nach Risiken und Ursachen für Störungen zu stellen. Von der Abweichung zur Regel Auch Sartre nähert sich der Gesellschaftlichkeit vom sozial abweichenden Verhalten her – aber in seinem Fall sind es Randständige wie der Dieb Genet oder der Idiot der Familie Flaubert (Dörner, 1988). »Denn man muss schon wählen: wenn jeder Mensch der ganze Mensch ist, muss dieser Abweichler entweder nur ein Kieselstein oder ein Ich sein« (Sartre, 1983, S. 910). Im Unterschied zu der im Umgang mit abweichendem Verhalten vorherrschenden Frage nach den Störungen interessiert sich Sartre auch für das, was der jeweilige Mensch kann, mag oder will (Dörner, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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1988). Dies bereichert das Verständnis für die jeweilige Person, ihren individuellen Stil, und lässt am Einzelnen allgemeine gesellschaftliche Regeln erkennbar werden (Frank, 1980, S. 103). Konstitution und Entwurf Was Antonovsky als Strom des Lebens beschreibt, ist bei Sartre der Prozess unablässiger Wahlakte. Diese Herausforderung wird auf Grundlage körperlicher, familialer und gesellschaftlicher Dispositionen gemeistert – eine Analogie zu Antonovskys generalisierten Widerstandsressourcen. Diese werden zu einem Mandat – dem Kohärenzgefühl vergleichbar – synthetisiert und finden ihren Ausdruck in sinngebenden Entwürfen, in denen sich auf immer neue Weise die »choix fondamental« zeigt, die ihren Sinn aus der projizierten Zukunft gewinnt. Für die sartresche Figur des Entwurfs, die die Eigenverantwortlichkeit prononciert, gibt es bei Antonovsky keine Entsprechung. Sartre geht von einem sich entwickelnden und zugleich sich durchhaltenden Steuerungszentrum aus, das für sich selbst und für andere nicht direkt erkennbar ist. Ich sehe Sartres Ansatz als Erweiterung des Salutogenesekonzepts, der mit seinem hermeneutischen Akzent Professionalisierungsprozesse in therapeutischen und bildungsbezogenen Berufen unterstützen kann. Der Gesundheits-Krankheits-Prozess im Strom des Lebens In Sartres »Idiot der Familie« wird das Erkranken als Modus einer Problemlösung beschrieben, die im Dienste der Gesundung steht (Sartre, 1977–1979, S. 157). Der von Geburt bis zum Tod andauernde kreative Prozess, in dem sich jeder Mensch zu dem macht, der er ist – ein Prozess der Anerkennung seiner gegebenen Voraussetzungen und deren Überschreitung zugleich –, ist eingebettet in einen Gesundheits-Krankheits-Prozess, der gerichtet erscheint und doch vom Ende her zu verstehen ist. Sartre macht – dem Salutogenesekonzept vergleichbar – Gebrauch von einem dynamischen Konzept von Gesundheit und Krankheit, die er aber im Unterschied zu Antonovsky nicht als Pole eines Kontinuums, sondern als ineinander verschränkt begreift. Dementsprechend ist es eine Frage des Zeitpunkts und/oder des Standpunkts, © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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ob ein Verhalten als »gesund« oder »krank« bewertet wird. Meines Erachtens bietet sich das sartresche Konzept an als Grundlage für prozess- und interaktionsorientierte Forschung und Praxis, wie sie z. B. in Begleitung zur systemischen Familientherapie (Hildenbrand, 1999; Welter-Enderlin u. Hildenbrand, 2004) durchgeführt wird und für die Aufstellung hilfreich sein könnte. Es bietet eine Chance zur philosophischen Grundlegung der gesundheitswissenschaftlichen Forschung und Praxis insgesamt, die die Kluft zwischen dem naturwissenschaftlichen und dem interpretativen Paradigma überwindet.
Ausblick: Existenzielle Psychoanalyse und Fallaufstellung Ich vermute, dass jemand, der aktiv an einer Fallaufstellung teilnimmt, sich in einer wie auch immer gearteten kritischen Situation befindet, seine soziale Positionierung als problematisch erlebt und nach Änderungsmöglichkeiten sucht. In Sartres Worten: Der Fallaufsteller möchte sich der Bedingungen seiner eigenen Bedingtheit gewahr werden und sich neu entwerfen. Insbesondere bei der Familienaufstellung wird die doppelte Geburt des Aufstellenden – Konstitution und Personalisation – thematisch. Die Fallaufstellung ist das Experimentierfeld, in dem im geschützten Rahmen Alternativen imaginiert werden. Dies hat Konsequenzen für das professionelle Handeln: 1. Als diagnostisches Instrument zeigt die Aufstellung auf, wie sich der Aufstellende in seiner jeweiligen sozialen Umwelt positioniert. Es ist gleichsam eine Inszenierung seiner Ich-Umwelt-Beziehung und damit auch des Platzes, den er in seiner Vorstellung darin besetzt. Wenn man dieses Bild in seiner Spezifität verstehen will, muss man die darin implizierten Bedeutungsmuster rekonstruieren können – historische, kulturelle, soziallagespezifische, familiäre, individuelle. Sartres progressiv-regressive Methode kann Anregungen bieten, die es erleichtern, die Bildungsgeschichte der Figuration nachzuvollziehen. Da die Aufstellung auch ein Akt der (sich selbst nicht bewussten) Selbstinterpretation ist, kann deren Deutung nur eine gemeinschaftliche Leistung sein (vgl. den Beitrag zur Intuition von C.-H. Mayer in diesem Band). © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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2. Im Sinne der »mauvaise foi« kann der Aufstellende versucht sein, sich durch die Aufstellung bezeichnen zu lassen und seinen eigenen aktiv gestaltenden Anteil zu »vergessen«. Wenn dann Stellvertreter Wünsche zur Veränderung der Positionierung im Rekurs auf ein Gefühl der Stimmigkeit artikulieren, macht dies de facto Gebrauch von Sartres Konzept des Körpers als Bedeutungsträger. Die leibhafte Erfahrung macht auf Veränderungsmöglichkeiten aufmerksam und kann damit weitergehend auch Leiberfahrungen des Aufstellenden (z. B. Krankheit) thematisch werden lassen. 3. Verstehen findet als Erfahrungsprozess der gesamten Aufstellungsgruppe statt. In Analogie zu Sartres Bewusstseinsphilosophie kann man vermuten, dass damit der Sinn der die Konstruktion des aufgestellten Systems begleitenden Praxis erratend nacherfunden wird. Insoweit dies explizit reflexiv erfolgt, kann darüber Einigkeit hergestellt werden. Daneben gibt es unteilbare Einsichten anlässlich atmosphärischer Wahrnehmungen, in denen das in der Aufstellung Symbolisierte und eigene Erinnerungen sich überlagern. 4. Als therapeutisches Instrument geht die Aufstellungsarbeit mit möglichen Zukünften um und versucht, die geronnenen Strukturen zu verflüssigen. Im Sinne der existenziellen Psychoanalyse ließe sich sagen: Hier geht es um die grundlegende Wahl. Weil dieser Entwurf vom Aufstellenden selbst zu verantwortenden ist, kann ein Aufstellungsleiter nur Hilfestellung bei der Erprobung alternativer Entwürfe machen, aber selbst keine Option verordnen. Sartres existenzielle Psychoanalyse ist insofern geeignet, die methodische Grundlegung einer förderlichen therapeutischen Haltung und eines methodisch kontrollierten Fremdverstehens zu unterstützen.
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Literatur Antonovsky, A. (1997). Zur Entmystifizierung der Gesundheit (Deutsche Herausgabe von Alexa Franke). Tübingen: dgvt. Brunkhorst, H. (1980). Wie man sich zu dem macht, der man ist. In T. König (Hrsg.), Sartres Flaubert lesen – Essays zu »Der Idiot der Familie« (S. 27–43). Reinbek: Rowohlt. Dörner, K. (1980). Die Wiedergeburt der Psychiatrie aus der Philosophie in Sartres Flaubert und die Kritik an Sartre daraus. In T. König (Hrsg.), Sartres Flaubert lesen – Essays zu »Der Idiot der Familie« (S. 60–83). Reinbek: Rowohlt. Dörner, K. (1988). Über die Randständigkeit des Menschen. In T. König (Hrsg.), Sartre – Ein Kongress (S. 451–460). Reinbek: Rowohlt. Frank, M. (1977). Das individuelle Allgemeine. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Frank, M. (1980). Das Individuum in der Rolle des Idioten – Die hermeneutische Konzeption des Flaubert. In T. König (Hrsg.), Sartres Flaubert lesen – Essays zu »Der Idiot der Familie« (S. 84–108). Reinbek: Rowohlt. Hess, C., Hess-Cabalzar, A. (2006). Menschenmedizin – Für eine kluge Heilkunst. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hildenbrand, B. (1999). Fallrekonstruktive Familienforschung. Opladen: Leske+Budrich. Knopp, P. (2013). Biographische Diagnostik im soziohistorischen Kontext. Der methodische Ansatz in der Flaubert-Studie von J.-P. Sartre. In G. Jüttemann (Hrsg.), Biographische Diagnostik (S. 65–73). Lengerich: Pabst. König, O. (2004). Familienwelten – Theorie und Praxis von Familienaufstellungen. Stuttgart: Klett-Cotta. König, T. (Hrsg.) (1980a). Sartres Flaubert lesen – Essays zu »Der Idiot der Familie«. Reinbek: Rowohlt. König, T. (1980b). Von der Neurose zur Absoluten Kunst. In T. König (Hrsg.), Sartres Flaubert lesen – Essays zu »Der Idiot der Familie« (S. 9–26). Reinbek: Rowohlt. König, T. (Hrsg.) (1988). Sartre – Ein Kongreß. Reinbek: Rowohlt. Marotzki, W. (1990). Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie: biographietheoretische Auslegung von Bildungsprozessen in hochkomplexen Gesellschaften. Weinheim: Deutscher Studien-Verlag. Sartre, J. P. (1964). Marxismus und Existentialismus – Versuch einer Methodik. Reinbek: Rowohlt. Sartre, J. P. (1967). Kritik der dialektischen Vernunft. Reinbek: Rowohlt. Sartre, J. P. (1971). Das Imaginäre. Reinbek: Rowohlt. Sartre, J. P. (1973). Bewusstsein und Selbsterkenntnis. Reinbek: Rowohlt. Sartre, J. P. (1977–1979). Der Idiot der Familie (5 Bände). Reinbek: Rowohlt. Sartre, J. P. (1979). Betrachtungen zur Judenfrage. In J. P. Sartre, Drei Essays (S. 108–191). Frankfurt a. M.: Ullstein. Sartre, J. P. (1980). Das Sein und das Nichts. Reinbek: Rowohlt.
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Sartre, J. P. (1982). Die Transzendenz des Ego. Reinbek: Rowohlt. Sartre, J. P. (1983). Saint Genet. Komödiant und Märtyrer. Reinbek: Rowohlt. Stresius, K. (2014). Wissenschaftliche Untersuchungen zur Aufstellungsarbeit – Der Forschungs(gegen)stand, http://www.familienaufstellung.org/studien (13. 8. 2014). Welter-Enderlin, R., Hildenbrand, B. (2004). Systemische Therapie als Begegnung (4. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta.
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Das Herausgeberteam
PD Dr. habil. Claude-Hélène Mayer, Phd (Rhodes University, RSA) Visiting Professor an der University of South Africa, Pretoria, Distinguished Visiting Professor (2013) und Senior Research Associate an der Rhodes University, Grahamstown, South Africa; Privatdozentin am Lehrstuhl für Sprachgebrauch und Therapeutische Kommunikation, Europa Universität Viadrina, Frankfurt (Oder). Interkulturelle Trainerin, Mediatorin und Ausbilderin für Mediation (BM), systemische Beraterin (NIS) und systemische Familientherapeutin (SG), Hypnosetherapeutin (TIM) und integrierte Lerntherapeutin (ILT). Forschungsthemen: Mentale Gesundheit, Gender und Führung, Spiritualität und Management, transkulturelles Konfliktmanagement, Mediation und Beratung, systemisches Denken. Kontakt: [email protected], [email protected] Website: www.interkulturelle-mediation.de, www.pctm.de Stephan Hausner Heilpraktiker, ausgebildet in TCM, Homöopathie, Osteopathie. Praxis mit Schwerpunkt Systemaufstellungen für Kranke. Lehrtherapeut der DGfS, Lehrtätigkeit im Rahmen internationaler Institute in mehr als 35 Ländern auf fünf Kontinenten. Kontakt: [email protected] Website: www.stephan-hausner.de © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
Die Autorinnen und Autoren
Dr. Ottomar Bahrs, Medizinsoziologe (Universität Göttingen), Sprecher des Dachverbands Salutogenese, Mitherausgeber von »Der Mensch – Zeitschrift für Salutogenese und anthropologische Medizin«. Arbeitsschwerpunkte: Arzt-PatientenKommunikation, Salutogenese, Qualitätsentwicklung durch Qualitätszirkel, Qualitative Forschung. Kontakt: [email protected] Barbara Buch, Magister in Gesundheitsbildung, Abteilung Psychologie der Universität Flensburg; Diplom-Biologin (Universität Göttingen). Lebt mit ihrer Familie auf einer Selbstversorgerfarm in der Wildnis Zentral-Britisch-Kolumbiens, Kanada. Hauptinteressen: Gesundheit, Salutogenese, Natur und alte Heiltraditionen. Kontakt: [email protected] Dr. med. Henning Elsner, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt für Allgemeinmedizin, Chefarzt Krankenhaus Lahnhöhe, Lahnstein. NHV – Homöopathie, Kinderund Jugendlichenpsychotherapeut, Anthroposophische Medizin (GAÄD) (DtGAP). Ausbildungen: Hypnose, Autogenes Training, EMDR, Katatymes Bilderleben, Systemische Therapie (SG); Familienaufstellung; Psychotraumatologie; Biografiearbeit; Balintleiter, Supervisor. Kontakt: [email protected] Website: www.lahnhoehe-psychosomatik.de. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
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Die Autorinnen und Autoren
Dr. med. Thomas Heucke, Allgemeinarzt, Psychotherapeut in eigener Praxis, Lehrtherapeut der DGSF. Ausbildungen: tiefenpsychologisch fundierte Einzel- und Psychodramatherapie, körperorientierte Psychotherapie, Systemische Familientherapie, Familienstellen, Familienbiografik, Genogrammauswertung. Kontakt: [email protected], Website: www.isbe-linz.de Karin Huyssen, Klinische Psychologin in eigener Praxis. Ausbildung: systemisch und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Therapeutische Ansätze: systemisch-interaktionelle Therapie, EgoState-Therapie, Somatic Experiencing®, Spontaneous Healing Intrasystemic Process (SHIP®). Aufstellungsarbeit: offene Seminare, geschlossene Therapiegruppen, Einzeltherapie. Bildet Systemaufsteller aus. Vorstandsmitglied bei Systems Constellations Association of South Africa (SCASA). Als Lehrbeauftragte und Supervisorin bei der Ausbildung von Beratungs- und Psychologiestudenten involviert. Kontakt: [email protected] Website: www.khuyssen.co.za Tanja Meyburgh ist registrierte Psychologin; Gründerin, Direktorin und Trainerin des »Africa Constellation Institute«. Sie leitet seit mehr als zehn Jahren Familienaufstellungen in Südafrika. Therapeutischer Hintergrund: Narrative Therapie, Wildernis-Therapie, Kunsttherapie. Besonderes Interesse an der indogenen afrikanischen Weltanschauung; Training in indogener Medizin zum besseren Verständnis der in den afrikanischen Traditionen basierten Weisheiten der Ahnenreihe. Ausbildung von Familienaufstellern in Südafrika. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403709 — ISBN E-Book: 9783647403700
Die Autorinnen und Autoren277
Internationale Vorträge, Fachartikel. Private Praxis. Therapeutische und organisatorische Beratung von multikulturellen NGO. Kontakt: [email protected] Website: www.tanjameyburgh.co.za Sarah Peyton, zertifizierte Trainerin in Nonviolent Communication, Aufstellerin mit großem Interesse für die Synthese Interpersonaler Neurobiologie (IPNB) und darin, wie Sprache und Erfahrung Heilung und Integration unterstützen. Entwicklung von »Brain Constellation«. Beiträge zum »Global Association of Interpersonal Neurobiology Studies Journal«. Kontakt: [email protected] Website: www.empathybrain.com Prof. Dr. Franz Ruppert, Diplom-Psychologe, Professor für Psychologie an der Katholischen Stiftungsfachhochschule in München, psychologischer Psychotherapeut. Aufstellungen in der Einzel- und Gruppentherapie; Seminare in Deutschland und international. Begründer von »mehrgenerationaler Psychotraumatologie« und »Aufstellen des Anliegens«. Fortbilder für die Aufstellungsmethode in deutsch und englisch. Website: www.franz-ruppert.de
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