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German Pages [182] Year 2011
Michael Fieger & Jörg Lanckau (Hrsg.)
Erschaffung und Zerstörung der Schöpfung
Mythen und Mythenbildung sind in den Wissenschaften der Postmoderne ein sehr aktuelles Thema. Der vorliegende Sammelband möchte als Beitrag zur kulturgeschichtlichen Arbeit am Thema des Mythos verstanden werden. Der interdisziplinär ausgerichtete Band vereint nach einer thematischen Einführung literaturwissenschaftliche, ägyptologische und bibelwissenschaftliche Perspektiven. Das Themenspektrum reicht von verschiedenen Repräsentationen des Mythischen bis hin zum Vergleich schriftlicher Überlieferungen aus dem antiken Griechenland, Mesopotamien, Ägypten und Israel, die von der Erschaffung der Welt und der Bedrohung in Katastrophen sprechen.
Michael Fieger & Jörg Lanckau (Hrsg.)
Erschaffung und Zerstörung der Schöpfung Ein Beitrag zum Thema Mythos
Michael Fieger ist ordentlicher Professor für Alttestamentliche Wissenschaften und Dozent für Althebräisch an der Theologischen Hochschule Chur.
DAS ALTE TESTAMENT IM DIALOG an
Asien und Europa der Universität Zürich und Pfarrer in Untervaz und Haldenstein GR. ISBN 978-3-0343-0479-5
www.peterlang.com
Peter Lang
Jörg Lanckau ist Post-Doc am Universitären Forschungsschwerpunkt
Peter Lang
outline
of
an
old testament Vol. 4
Peter Lang
dialogue
Michael Fieger & Jörg Lanckau (Hrsg.)
Erschaffung und Zerstörung der Schöpfung
Mythen und Mythenbildung sind in den Wissenschaften der Postmoderne ein sehr aktuelles Thema. Der vorliegende Sammelband möchte als Beitrag zur kulturgeschichtlichen Arbeit am Thema des Mythos verstanden werden. Der interdisziplinär ausgerichtete Band vereint nach einer thematischen Einführung literaturwissenschaftliche, ägyptologische und bibelwissenschaftliche Perspektiven. Das Themenspektrum reicht von verschiedenen Repräsentationen des Mythischen bis hin zum Vergleich schriftlicher Überlieferungen aus dem antiken Griechenland, Mesopotamien, Ägypten und Israel, die von der Erschaffung der Welt und der Bedrohung in Katastrophen sprechen.
Michael Fieger & Jörg Lanckau (Hrsg.)
Erschaffung und Zerstörung der Schöpfung Ein Beitrag zum Thema Mythos
Michael Fieger ist ordentlicher Professor für Alttestamentliche Wissenschaften und Dozent für Althebräisch an der Theologischen Hochschule Chur.
DAS ALTE TESTAMENT IM DIALOG
Jörg Lanckau ist Post-Doc am Universitären Forschungsschwerpunkt Peter Lang
Asien und Europa der Universität Zürich und Pfarrer in Untervaz und Haldenstein GR.
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Peter Lang
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old testament Vol. 4
dialogue
Erschaffung und Zerstörung der Schöpfung
DA S A LT E T E S TA M E N T I M D I A L O G an outline of an old testament dialogue
Band /Vol. 4 Herausgegeben von / edited by Michael Fieger & Sigrid Hodel-Hoenes
PETER LANG
Bern s Berlin s Bruxelles s Frankfurt am Main s New York s Oxford s Wien
Michael Fieger & Jörg Lanckau (Hrsg.)
Erschaffung und Zerstörung der Schöpfung
Ein Beitrag zum Thema Mythos
PETER LANG
Bern s Berlin s Bruxelles s Frankfurt am Main s New York s Oxford s Wien
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.
Umschlagabbildung: Zeichnung eines assyrischen Rollsiegels, Serpentin, 32,2 x 15,3 mm, Neuassyrische Zeit (900-700 v.Chr.). Fribourg, Sammlungen BIBEL+ORIENT, VR 1993.6, Ex-Sammlung Marcopoli. Gott im Kampf mit einem Schlangendrachen: Ein auf einem vorn aufgerichteten Schlangendrachen mit zwei Händen und Hörnern nach links dahineilender Gott im langen Fransenschlitzrock hält in der vorgestreckten Rechten ein Doppelblitzbündel, seine Linke ist nach hinten erhoben; achtstrahliger Stern und Mondsichel im oberen, Raute (Auge) und einzelne Keile im unteren Bildfeld; Randleiste. Beschreibung mit weiterer Literatur in: BIBEL+ORIENT Datenbank online: http://www.bible-orient-museum.ch/bodo/details.php?bomid=459 Umschlaggestaltung: Thomas Jaberg, Peter Lang AG ISSN 1662-1689 ISBN 978-3-0351-0182-9
© Peter Lang AG, Internationaler Verlag der Wissenschaften, Bern 2011 Hochfeldstrasse 32, CH-3012 Bern [email protected], www.peterlang.com, www.peterlang.net Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany
Inhaltsverzeichnis Vorwort .........................................................................................................7 Heinrich Reinhardt Was ist ein Mythos? Eine Hinführung zum Begriff und seiner Geschichte ...............................9
Marcel Weder Literatur als Manifestation des Mythischen ............................................. 17 1. 2. 3.
Einleitung ................................................................................................................... 17 Grundzüge des Mythischen .................................................................................... 19 Literatur als Aktualisierung des Mythischen ......................................................... 35
Jutta Krispenz Am heiligen Ort Der Hof im Tempel als mythischer Raum ................................................ 45 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Raumkonzepte und religiöse Erfahrung .............................................................. 45 Psalmen und „Heiliger Ort“ .................................................................................. 46 Die Textauswahl ...................................................................................................... 49 Psalm 84 .................................................................................................................... 53 Archäologische Zeugnisse ...................................................................................... 54 Der Hof im Tempel als mythischer Raum .......................................................... 60
Michael Fieger Die Erschaffung der Schöpfung Ein religionsgeschichtlicher Vergleich zwischen Enūma Eliš und Gen 1,1-2,4a ................................................. 65 1.
Das Gute in Verbindung mit dem Motiv der Ruhe in Enūma Eliš und Gen 1,1-2,4a ............................................................................ 66 1.1. Ruhe verknüpft mit dem Sieg über das Böse in Enūma Eliš ................ 66 1.2. Die friedlich-idyllische Alternative in Gen 1,1-2,4a ................................ 69 1.3. Marduk / Bel und Elohim im Gegensatz ................................................. 70 1.4. Zusammenfassung........................................................................................ 71
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Inhaltsverzeichnis
2.
Das Motiv des Wassers ............................................................................................ 72 2.1. Wasser versus Wasser .................................................................................. 72 2.2. tǝhôm und rāqîʿa im Alten Testament ...................................................... 74 Anthropologie ........................................................................................................... 77 3.1. Das Menschenbild in Enūma Eliš ............................................................. 77 3.2. Theologische Implikationen ....................................................................... 80 3.3. Der Mensch in Gen 1,26-29 und in Enūma Eliš ..................................... 82 3.4. Das Bild der Götter in Enūma Eliš ........................................................... 83 Zusammenfassung .................................................................................................... 87
3.
4.
Jörg Lanckau Göttliche Reue und menschlicher Trost Der Mythos der Zerstörung der Schöpfung und des Überlebens in der Katastrophe im Diskurs der biblischen Sintfluterzählung ........................................... 89 1. 2.
3.
4.
Fragestellung und Ziel ............................................................................................. 89 Vorüberlegungen ...................................................................................................... 91 2.1. Die vorderorientalisch-levantinische Flutüberlieferung ......................... 91 2.2. Methodische Überlegungen zur Textgenese von Gen 6-9 .................... 96 2.3. Begriff und Funktionen des Mythos ......................................................... 99 Problemfelder des Mythendiskurses in Gen 6-9................................................ 109 3.1. Der Sintflutheld als Repräsentation der überlebenden Menschheit ... 109 3.2. Das göttliche Rollenspiel ........................................................................... 112 3.3. Anlass, Begründung und Konsequenz der Flutkatastrophe ................ 115 3.4. Die Arche als Heiligtum ............................................................................ 124 Zusammenfassung .................................................................................................. 128
Sigrid Hodel-Hoenes Schöpfung im Alten Ägypten ................................................................... 131 1. 2.
3.
Einleitung ................................................................................................................. 131 Die Entstehung der Welt ....................................................................................... 132 2.1. Der Ur- oder Schöpfergott ....................................................................... 139 2.2. Chnum als Schöpfergott ............................................................................ 143 2.3. Weltentstehungsvorstellungen .................................................................. 144 2.4. Die Neunheit von Heliopolis ................................................................... 145 2.5. Die Götterlehre von Memphis ................................................................. 154 2.6. Die Achtheit von Hermopolis (Personifikation des Chaos) ................ 159 Die Zerstörung der Schöpfung ............................................................................ 167
Vorwort Mythen und Mythenbildung sind in den Wissenschaften der Postmoderne ein sehr aktuelles Thema. Der vorliegende Sammelband, der von Michael Fieger (Chur) und Jörg Lanckau (Untervaz und Zürich) herausgegeben wird, in Zusammenarbeit mit Sigrid Hodel-Hoenes (Fontnas Weite), Jutta Krispenz (Marburg), Marcel Weder (Zürich) und Heinrich Reinhardt (Zizers), steht unter der Überschrift „Erschaffung und Zerstörung der Schöpfung“ und möchte als Beitrag zur kulturgeschichtlichen Arbeit am Thema des Mythos verstanden werden. Die Idee einer gemeinsamen Publikation geht auf die Vorlesung „Mythen und Mythenbildung in der Tora“ an der Theologischen Hochschule Chur im Jahr 2009 zurück. Der bewusst interdisziplinär ausgerichtete Band behandelt nach einer thematischen Einführung zum Begriff „Mythos“ von H. Reinhardt (Philosoph) ein weit gefasstes Themenspektrum: M. Weder (Literaturwissenschaftler) reflektiert in einem ersten Beitrag über Literatur als Manifestation des Mythischen. Begreift man Mythen nicht nur als sprachliche, sondern vor allem auch als narrative Erscheinungen, rückt ihr Bezug zur Literatur ins Zentrum. Ausgehend von einer am Begriff der Bedeutsamkeit orientierten Definition des Mythischen soll gezeigt werden, worin der spezifische mythische Gehalt von literarischen Texten besteht. Neben der Formenvielfalt werden dabei auch die literarischen Grenzen des Mythos ins Auge gefasst. J. Krispenz (Alttestamentlerin) widmet sich im zweiten Beitrag dem Tempelhof als einem mythischen Ort. Sie erhebt den Hof im Tempel als denjenigen Ort, an dem der Psalmenbeter sich in der Tempelarchitektur situiert. Der Symbolik dieses Ortes nähert der Beitrag sich durch einen Blick auf Höfe in unterschiedlichen Gebäuden im alten Orient. M. Fieger (Alttestamentler) nimmt im dritten Beitrag die überlieferten Erzählungen von der Erschaffung der Welt in den Blick. Im
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Vorwort
Mittelpunkt steht ein religionsgeschichtlicher Vergleich zwischen dem altbabylonischen Schöpfungsmythos Enūma Eliš und dem priesterschriftlichen Schöpfungsbericht in Gen 1,1-2,4a. Dabei werden verschiedene Vorstellungen vom Schöpfer und der Schöpfung im Widerstreit verglichen. J. Lanckau (Alttestamentler) untersucht im vierten Beitrag die biblische Sintflutgeschichte auf Spuren eines israelitisch-jüdischen Mythendiskurses. Anhand von vier ausgewählten Problemfeldern zeigt er auf, wie die gemeinsame vorderorientalische Überlieferung von der Zerstörung der Schöpfung durch eine Flut und der Rettung des Einzelnen aus der Katastrophe in Gen 6-9 aufgenommen und transformiert wurde. S. Hodel-Hoenes (Ägyptologin) führt im fünften und letzten Beitrag in die verschiedenen ägyptischen Vorstellungen der Weltentstehung ein. Dabei stehen die ausführlichen Erzählungen aus Heliopolis, Memphis und Hermopolis im Mittelpunkt, wobei ein besonderes Augenmerk dem unendlichen Perpetuieren der Schöpfung gilt, das mit der Vorstellung von der Maat korreliert. Dennoch existieren auch in Ägypten vereinzelte Zeugnisse des Sterbens der Götter und der Vorstellung eines Weltuntergangs. Ohne die vielfältige, entweder finanzielle oder geistige, Unterstützung von Bischof Dr. Vitus Huonder (Chur), Bischof Markus Büchel (St. Gallen), Domdekan Walter Niederberger (Chur), Esther Herzog (Zürich), Christine Truog (Chur), René Romanin (St. Gallen), Prof. Dr. Philippe Talon (Brüssel) und der Kirchgemeinde Gais (AR) wäre dieser Sammelband nicht zustande gekommen. Ihnen allen sei herzlich gedankt. Besonderer Dank gilt Jörg Lanckau für die druckreife Erstellung des Layouts und Frau Sara Negro vom Peter Lang Verlag für das Lektorat. Die Herausgeber
Was ist ein Mythos? Eine Hinführung zum Begriff und seiner Geschichte HEINRICH REINHARDT
Die Beschäftigung mit Mythen war über Jahrhunderte hin ein wichtiger Bestandteil europäischer Selbstvergewisserung, Selbstdarstellung und Identität. Dabei war es fast ausschliesslich der Formenschatz der griechisch-römischen Mythologie in seiner spätantik-hellenistischen Ausprägung, der von der Frührenaissance (14. Jh.) angefangen über Barock und Klassik bis ins 20. Jahrhundert herein als gesamteuropäisches Ausdrucksmedium benutzt, der in den Gymnasien im Griechisch- und Lateinunterricht immer neuen Generationen nahegebracht, der in den Kunstakademien immerfort als Ausgangspunkt gebraucht und in Literatur und ‚kultivierten Alltagsgesprächen‘ zahllose Male variiert wurde. Erst an der Wende zum 19. Jahrhundert traten mythische Überlieferungen und Einzelgestalten aus dem ägyptischen, keltischen und germanischen Kulturraum als Ergänzungen zum klassisch antiken Fundus hinzu, blieben aber insgesamt eher marginale Impulse. Mythische Gestalten wurden in all diesen Jahrhunderten nicht ernsthaft religiös verstanden. Es ist ja überhaupt ein Grundzug der europäischen Vorstellungswelt, dass seit der Frührenaissance die ‚weltanschaulichen Hintergründe‘ in einem langsamen, aber stetigen Distanzierungsprozess von der konkreten Lebenswelt ‚weggeschoben‘, also immer weiter in den Hintergrund abgedrängt wurden. Die Konfessionskriege des 16./17. Jahrhunderts haben diesen Prozess vorangetrieben, sind jedoch nicht dessen Ursache. Diese liegt vielmehr wohl in der kollektiven Ermüdung der Europäer durch eine übermässig eifrig gepredigte christliche Religiosität im hohen und
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Heinrich Reinhardt
späten Mittelalter, in der Abstumpfung durch allzu viele, zu streng verpflichtende religiöse Praktiken sowie im fortschreitenden (lange unbewussten) Glaubwürdigkeitsverlust von Kirche und sakralem Herrschertum. Man suchte eine weniger penetrant an die Haut rührende, nur spielerisch religiöse ‚Hintergrundswelt‘ und fand sie in der vermeintlich ewig heiteren und spielenden Mythologie der griechischrömischen Antike. Heute wissen wir, dass dies ein reines Konstrukt war. Vor allem die griechische Mythologie war zumindest in den Jahrhunderten vor dem Peloponnesischen Krieg (431–404 v. Chr.) gar nicht so durchwegs lieblich und heiter. Sie hielt an vielen Punkten das erschreckend Entsetzliche (das tremendum)der Mythen wach. Solange die Tragödie bis ins Innerste der Menschen treffende Impulse gab und noch nicht zu blosser Theaterroutine abgesunken war, war auch sie ein Ort der Erfahrung des schrecklichen, manchmal extrem grauenhaften numinosen Aspekts der Mythen. Umgekehrt blieben die eleusinischen Mysterien mit ihren ‚Erleuchtungen‘ oder die AsklepiosHeiligtümer mit ihren Heilungswundern durchaus glückbringende Orte mythischer Lebensnähe. Aber dieser Ernst, der in der historischen Wirklichkeit des griechischen Mythos einmal enthalten gewesen war, wurde in der europäischen Neuzeit ausgeblendet. Man hatte schon im Rahmen des christlichen Glaubens genug, ja allzu viel Ernst und brauchte das Konstrukt einer lichten Folie: eben jene heitere, aber doch sinnvoll vernetzte, immer nur beglückende und gelegentlich sogar belehrende ‚Gegenwelt‘ ohne Verpflichtung – eine blosse, einfach schöne Anschauungswelt. In dieser Sicht wurden mythologische Gestalten ‚symbolisch‘ oder ‚allegorisch‘ verstanden (was immer das genau bedeutet). Sie waren Ausdrucksmittel einer leicht ironisch oder ästhetizistisch getönten Grundeinstellung, die sich als gesamteuropäische Identifikationsfolie neben dem Christentum etablierte – dies allerdings nur in den sozialen Schichten der Herrscher, der Künstler, der Gebildeten. Der Untergang der konstantinischen Staats- und Kirchenordnungen um 1800 riss diese Art der Gegenwart des Mythischen allein in den Oberschichten mit sich in den Abgrund.
Was ist ein Mythos?
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Das 19. Jahrhundert verändert den Umgang mit dem Mythos. Nun tritt die schreckliche Dimension des Mythischen in den Vordergrund. Das kann man gut an literarischen Beispielen erkennen. Jean Paul erprobt in seinem Roman „Der Titan“ den Mythos eines toten Christus, der vom Weltgebäude herab verkündet, dass es keinen Gott und keinen Sinn des Daseins gebe. Johann Wolfgang v. Goethe konstruiert in seiner „Iphigenie auf Tauris“ einen ‚Meta-Mythos‘ von der Möglichkeit der Überwindung des blutrünstigen Artemis-Mythos’ durch ein ‚Erlernen‘ wahrer Humanität – ein ‚Meta-Mythos‘ als apotropäisches Mittel gegen die Inhumanität des Mythos. Vergleichbares schafft Richard Wagner durch seinen Mythos vom verdienten Untergang aller Götter und Mythen und vom Neuanfang der gereinigten Menschheit in einer rein humanen Gesellschaft ohne Besitzgier und ohne Mythen („Götterdämmerung“). Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert spriessen zahlreiche ‚dunkle Mythen‘ mit politischer Schlagseite: Panslawismus und Antislawismus, Zionismus und Antisemitismus, Amerikanismus und Antiamerikanismus etc. Neomythologische Sekten entstehen, vorwiegend mit orientalischen Referenzpunkten, doch es gibt auch neodruidische Splittergruppen und neogermanische Sekten, letztere auch gewaltbereit. ‚Dunkle Mythen‘ sind ferner in der bildenden Kunst und in der Literatur nachweisbar. Diese Veränderung in der ‚Nutzung‘ des Mythos geht parallel mit den Fortschritten der Ethnologie, der Archäologie und der Geschichtsforschung, wo immer mehr dunkle, ambivalente, ja gewaltsame und vernichtende Elemente in den Mythen verschiedenster Traditionen gefunden werden. Dadurch verändert sich das Wissen um den Mythos – er wird zur ‚grossen Unbekannten‘ im europäischen Bewusstsein. Die Krise des Selbstbewusstseins und des Selbstverständnisses, die sich in allen europäischen Völkern rund um den Ersten Weltkrieg zeigt und die bis über den Zweiten Weltkrieg hinaus fortwirkt, spiegelt sich in der zeitgleichen Krise des Verständnisses vom Mythos. Es erscheinen gegen Ende des 20. Jahrhunderts zahlreiche Neuansätze zu diesem Verständnis – Kurt Hübner hat sie minutiös zusammengestellt. Doch es gelingt bis heute kaum, diese
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Heinrich Reinhardt
konkurrierenden Ansätze in eine einzige Gesamttheorie über das Mythische zu integrieren. Damit stellt sich uns die Frage: Was wollen wir, einigermassen bei der Sache bleibend, unter ‚Mythos‘ verstehen? Zunächst muss klargestellt werden, dass nach heutigem Sprachgebrauch die Begriffe Religion und Mythos nicht identisch sind. Während die Religion feste Dogmatik, feste Verpflichtungen und klare Verheissungen für das Jenseits enthält, hat der Mythos keineswegs immer diese Festigkeit der Dogmatik und der praktischen Verpflichtungen; oft ist er nur ein relativ lockeres Angebot zur Welterklärung, das kaum mit praktischen Verpflichtungen einhergeht. Hans Blumenberg bemerkt einmal: Metamorphosenist kein bloßer Sammeltitel für Mythen, sondern das Ausformungsprinzip des Mythos selbst, die Grundform einer noch unzuverlässigen Identität der aus der Formlosigkeit zur Erscheinung herausdrängenden Götter. Unzuverlässigkeit … nur als das Stigma der Hinterlassenschaft jener Herkunft aus dem Chaos. … Nicht zufällig ist das Chaos selbst schon ein Ge1 sicht…, die morphévor allen Metamorphosen.
Das gilt nicht nur für die griechische Mythologie! Umgekehrt bemühen sich viele Religionen, ihre Glaubwürdigkeit durch widerspruchsfreie Dogmatik zu erhärten und erschreckende Elemente möglichst nicht vorherrschen zu lassen. Mythen können ohne weiteres zueinander in Widerspruch treten, die ‚Bekenner‘ bald bis hin zu Todesschreien erdrücken, bald bis zu ekstatischen Glückseligkeitsgesängen in Besitz nehmen. In der Regel stehen sie aber eher in einer gleichmässigen Distanz ihren ‚Bekennern‘ gegenüber. Religionen kennen immer wieder Phasen der Rückbesinnung auf ihre Kernbotschaft (Reformen). Mythen ändern sich meistens unter der Hand, ohne zu dramatischen Rückbesinnungen zu führen. Religionen, besonders Erlösungsreligionen, stehen in einer klar bewussten Beziehung zu Zeit und linearer Geschichte. Mythen sind eher zeitlos und kennen höchstens zirkuläre Geschichtsmodelle. Das Wichtigste: Religionen 1
H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 1979, 384.
Was ist ein Mythos?
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haben ihre besonderen Institutionen, ihre sozial festgelegten Handlungsweisen u.ä., Mythen hingegen müssen nicht unbedingt institutionell abgesichert sein. Aber im Unterschied zu Religionen sind Mythen immer prall gefüllt mit wohlumrissenen, in typischem Bezug zu bestimmten Orten stehenden Gestalten. Diese können die Form von Hoch- oder Halbgöttern mit spezifischer Einzelgeschichte haben oder die Form von Trickstern annehmen. Sie sind aber immer irgendwie vorstellbar, sogar in der niedrigen Form von Gespenstern, die, obwohl unsichtbar, dann wenigstens ihren Wirkungsraum haben, den sie nicht verlassen dürfen. Man kann sie nicht immer und überall anrufen – ja, hören sie überhaupt auf den Ruf ihrer ‚Bekenner‘? Aber immer und überall kann sie sich der Mensch bildlich einprägen. In Religionen ist der Gott oder sind die Götter zwar prinzipiell immer und überall anrufbar, aber er ist bzw. sie sind weitgehend oder absolut über jede bildliche Dar- und Vorstellung erhaben. Ihr Wirken ist universal, so dass sie mit keinem Ort und keiner Zeit identifiziert werden können, und ihre Transzendenz bedingt, dass es da bewusst Ungläubige (Atheisten) geben kann. Mythen können keine Ungläubigen ‚produzieren‘, weil sich auch der ‚religiös Unmusikalische‘ mit mythischen Figuren beschäftigen kann. Die Religion prägt ihre Gläubigen und stirbt ohne diese erzieherisch-heilsgarantierende Prägungsmacht. Der Mythos ist in sich geprägt und lässt sich zu weiterer Ausformung prägen, ohne eine Erziehungsabsicht zu verfolgen. Eindrucksmacht besitzt er gleichwohl, sozusagen von Natur aus. Religion und Mythos sind andererseits Grössen, die sich partiell überschneiden können und unzählige Male auch tatsächlich überschneiden. Daher darf ihre Unterscheidung nie allzu rigoros geschehen. Angesichts des heute bekannten ethnologischen und religionsgeschichtlichen Materials kann man sagen, dass die allermeisten Völker Religionen (oder, modern, wenigstens Ersatzreligionen) haben. Eine absolute Ausnahme stellt jenes urtümliche Volk dar, das Karen Gloy in Papua-Neuguinea erforscht hat und das tatsächlich weder eine
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Heinrich Reinhardt
Religion noch irgendeinen Mythos zu kennen scheint.2 Der Mythos selbst agiert bei den allermeisten Völkern im Rahmen einer Religion oder zumindest einer religiösen Grundoption, so dass er immer eine regionale oder lokale Konkretion des Religiösen darstellt. Der Schamanismus scheint jene Schnittstelle zwischen Religion und Mythos zu belegen, wo das vage empfundene Numinosum durch die poetische (im Ursprungssinn poietische ) Beschwörung selbst Gestalt, Namen, Substanz und Macht gewinnt, d.h. wo ein Mythos ansatzhaft ‚entsteht‘, aber freilich über den schamanisch beherrschten Augenblick hinaus noch nicht als allgemein mitteilbarer Vorstellungskomplex Bestand haben muss. Was ist also ein Mythos? Mythos ist zu allererst Erzählung, Rede, gesprochene Geschichte. Mythos ist ein Modus des Sprechens, näherhin jener, der nicht definierend, nicht herrschaftsinteressiert, nicht rein spielerisch und auch nicht (im Sinn einer Bekenntnisreligion) ultimativ fordernd von Ereignissen einer göttlichen Sphäre um den Menschen herum berichtet. Die einzelnen Inhalte dieses Sprechens – wenn wir von Mythos reden, meinen wir meistens diese Inhalte und nicht das Sprechen selbst – bewegen sich um die grossen Fragen des Daseins: Herkunft der Welt, Sinn und Zweck des Lebens, Entstehung und Untergang der Götter, Tod und Unsterblichkeit, Ende der Welt. Im einzelnen sind das: Geburt, Geschlechtsreife, Ehe, Liebe und Hass, Freundschaftstreue und Verrat, Krieg und Frieden, Strafe und Versöhnung, Krankheit und Heilung, Stiftung von Kulten und Riten, Frömmigkeit, Frevel und Entsühnung. Ein mythischer Inhalt allein kommt nicht vor. Mythen gibt es eigentlich nur im Plural. Eine mythische Erzählung reiht sich an die andere, und in jeder kommt ein Gott oder kommen einige wenige vor. Sie werden genau beschrieben, ihre Namen und ihre typischen Taten werden erwähnt. Begründungen, warum sie so und nicht anders gehandelt haben, werden angefügt, ja, man kann sie nach der erzählten Geschichte geradezu mit physiognomischer Genauigkeit malen, wie überhaupt 2
Karen Gloy, Unter Kannibalen. Eine Philosophin im Urwald von Westpapua, Darmstadt 2010.
Was ist ein Mythos?
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zwischen mythisch erzählter Rede und künstlerisch-bildnerischer Darstellung eine enge Verbindung besteht. In den mythologischen Geschichten gibt es, wie später in Märchen und Legenden, noch keine strikte Trennung von materieller und ideeller Welt, von Tatsache und Traum, obwohl all das schon prinzipiell unterscheidbar ist. Es interessiert allerdings nur die letzte, unverbrüchliche Einheit der Dinge und Ereignisse, die alles verbindet. In den Mythen interessiert durchaus die einzelne modellhafte Lebensstation der Götter und Helden, die, in allen wichtigen Details beschrieben, ins Leben der sterblichen Menschen hereingenommen und hier irgendwie wiederholbar werden soll. Der Sinn der Mythen ist also gar nicht, eine abgehobene, für das Menschenleben irrelevante und müssige Erzählung zu liefern, sondern exemplarisch ausgeformte Zustände und Taten so zu erzählen, dass sich immer wieder Menschen per analogiam, per similitudinem davon angesprochen fühlen. Mythen sind wie ein riesiger, nie abreissender Stummfilm, der ständig zum Sprechen Anlass gibt, weil sich viele Menschen in ihm wiederzuerkennen glauben. So liefert dieser Stummfilm einen kohärenten Vorstellungs- und Handlungshintergrund. Daher kommt es, dass mythische Anschauungsformen im Lauf der Jahrhunderte bald durch vorherrschende Rationalität oder eine stark rational geprägte Religion verdrängt, bald aber mit Macht wieder zurückkehren, wobei sie bald freundlich, entspannend und ‚konstruktiv‘, bald einen unbegrenzten Horror ausübend und ‚destruktiv‘ wirken können, je nach dem vorbereiteten Verständnishorizont. Mythen sind aber deshalb nicht auszurotten, weil sie, wie Kurt Hübner mehrmals betont, einer anderen Ontologie folgen, die der rationalen Wissenschaftsontologie unseres heutigen Weltbildes gleichwertig ist.3 Sie hat aus sich heraus ihr Recht. Deshalb lehren uns die Mythen bisweilen etwas, das weit über unsere wissenschaftliche Vernunft hinausgeht.
3
Kurt Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985.
Literatur als Manifestation des Mythischen MARCEL WEDER
1. Einleitung Die kulturellen Erscheinungsformen des Mythischen sind zahlreich, so dass eine Fokussierung auf dessen literarische Realisierungen willkürlich erscheint. Insbesondere in der Moderne sind mythische Gedanken- und Repräsentationsmuster in vielen kulturellen Feldern anzutreffen. Nicht zuletzt populäre Formen wie Sport, Kino, Fernsehen, die Tagespresse, aber auch wirklichkeitsnähere Handlungsfelder wie Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft werden gerne als Nachfahren mythischer Denk- und Handlungsstrukturen gelesen.1 Eine soziologische Analyse, beispielsweise, wäre für das Verständnis mythischer Mechanismen und Funktionalismen in heutiger Zeit und aus heutiger Sicht vermutlich ergiebiger, als eine eingeschränkte Betrachtung mythischer Gesichtspunkte von Literatur. Zudem wird die Literarisierung des Mythischen, sprich der Schritt von mündlichen zu schriftlichen Repräsentierungen, gerne als Verfallsgeschichte gelesen, durch welche seine ursprüngliche, mündliche Archaik und Aussergewöhnlichkeit gezügelt wurde.2 So betont insbesondere Schlaffer, dass die Einführung der Schrift einen Verlust des Wahr1
2
Exemplarisch für mögliche Untersuchungen mythischer Denkstrukturen in populären Handlungsfeldern mag – nach wie vor – R. Barthes, Mythologies, Paris 1957, stehen. Vgl. Ch. Jamme, Einführung in die Philosophie des Mythos, Band II: Neuzeit und Gegenwart, Darmstadt 1991, 2: „Der Mythos war immer mündliche Erzählung des Mythos und an die schriftlose Kultur gebunden; mit dem Übergang zur schriftlichen Fixierung wurde sein Wesen verfälscht.“
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Marcel Weder
heitscharakters des Mythos zur Folge hatte: „Das Spiel der literarischen Fiktion ist ein Nachspiel der poetischen Wirklichkeit. Sobald Poesie durch schriftliche Fixierung zu Literatur geworden ist, hat sie ihren ,göttlichen‘ Charakter eingebüsst.“3 Wenngleich aber eine mögliche mythische Ursprünglichkeit heute nicht in erster Linie im Literarischen am Werk sein und erfahrbar werden sollte, lässt sich eine zentrale Wesensverwandtschaft zwischen mythischen Erscheinungsformen und moderner Literatur aber gleichwohl insofern ausmachen, als dass beiden Weltdeutungsformen ein Charakter des Narrativen eigentümlich scheint. Mit diesem Begriff sind hier in einem weiten Sinn all jene Formen sprachlicher Erzählungen, sprich narrativer Texte gemeint, bei denen der Rezipient das „dargestellte Geschehen zugleich als offen und gegenwärtig und als abgeschlossen und vergangen aufnimmt“.4 Mit Blick auf das Literarische trifft diese offene Bestimmung des Narrativen auf einen sehr grossen Teil epischer und dramatischer Werke zu. Ausnahmen bilden allenfalls phantastische Zukunftsvisionen, bei denen eine retrospektive Erzählsituation auf den ersten Blick nicht gegeben scheint, oder auch besondere Formen abstrakter Lyrik, die ohne offenkundige Erzähl- oder Handlungselemente auskommen. Auch für eine Bestimmung des Mythischen wird das Merkmal des Narrativen gerne explizit als Definition verwendet.5 Offen gelas-
3 4 5
H. Schlaffer, Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewusstseins und der philologischen Erkenntnis, Frankfurt am Main 2005 (1990), 51. Vgl. dazu M. Martinez, M. Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 22000, 119. So R.A. Segal, Mythos. Eine kleine Einführung, Stuttgart 2007 (Oxford NY 2004), 11: „Zunächst möchte ich Mythos als erzählte Geschichte definieren. Es scheint auf der Hand zu liegen, dass ein Mythos bei allem, was er sonst noch sein mag, vor allem auch eine Geschichte ist.“ Oder W. Burkert, Mythos – Begriff, Struktur, Funktionen, in: F. Graf (Hg.), Mythos in mythenloser Gesellschaft. Das Paradigma Roms, Stuttgart und Leipzig 1993, 9-24, hier 18: „Nehmen wir Mythen als traditionelle, bedeutsame Erzählungen, als anthropomorph-adäquate, speicherbare und abrufbare Programme.“
Literatur als Manifestation des Mythischen
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sen wird bisweilen, ob sich die Erzählung lediglich auf Vergangenes, Gegenwärtiges oder auch auf Zukünftiges bezieht.6 Als narrativ im oben beschriebenen Sinne kann der Mythos zudem gelten, insofern er in „vormoderner Welt“, ähnlich einem literarischen Text, ein Ereignis schilderte, „das sich gewissermassen einmal zugetragen hatte, zugleich aber ständig passierte.“7 Im Folgenden sollen in einem ersten Schritt wesentliche Merkmale mythischer Weltbewältigung ins Zentrum gerückt werden. Dabei wird insbesondere die Mythostheorie H. Blumenbergs einer genaueren Betrachtung unterzogen und immer wieder als Referenzpunkt in die Betrachtung einfliessen. In einem zweiten Schritt wird die Frage gestellt, ob und in welcher Form die hervorgehobenen Grundmuster mythischer Weltinterpretation in der literarischen Auseinandersetzung mit der Welt erkennbar sind, was gleichzeitig voraussetzen würde, dass mythische Handlungsmuster reaktualisierbar sind.
6 7
Oder auch N. Bischof, Das Kraftfeld der Mythen. Signale aus der Zeit, in der wir die Welt erschaffen haben, München 2004 (1996), 53: „Was ist eigentlich ein Mythos? Er gehört zur Klasse der Erzählungen; aber diese Klasse ist weit.“ Wie J. Söring, Dichtung ohne Mythos, in: M. Schmitz-Emans, Monika, U. Lindemann (Hg.), Komparatistik als Arbeit am Mythos, Heidelberg 2004, 55, anführt, beschreibt auch B. Hederichs „Gründliches mythologisches Lexikon“, Leipzig 1770, die Mythologie als „eine Art der Historie […], welche von den Göttern, Göttinnen, Helden und anderen in den μύθοις, oder Fabeln derer ehemaligen Egypter, Griechen und Römer bekannten Personen, wie auch denen dahin gehörigen Thieren, Oertern, Flüssen und dergleichen handelt.“ R.A. Segal, op. cit., 12f, berücksichtigt beispielsweise alle drei Zeitebenen. K. Armstrong, Eine kurze Geschichte des Mythos, München 2007 (Edinburgh 2005), 13.
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2. Grundzüge des Mythischen Bisher wurde der Begriff des Mythischen verwendet, ohne ihn ausführlicher zu bestimmen. In etymologischer Sicht führt „Mythos“ bekanntlich auf das altgriechische Wort μῦθος zurück, dessen enger Bedeutungsbereich ursprünglich, sprich im Griechenland im Übergang zur Schriftkultur (um etwa 800 v.Chr.), im Bereich von „Wort“ lag und mit der Zeit auf die weiteren Bedeutungsfelder der Rede, Erzählung und später, etwa bei Aristoteles und Platon, in das Bedeutungsgebiet des Fabelhaften überging.8 In der Forschung werden Mythen, wie schon angesprochen, häufig im Sinne einer Erzählung oder Geschichte verstanden, und sind insofern an das Medium mündlicher oder schriftlicher Sprache gebunden.9 Bilder oder vergleichbare Medien mögen zwar ebenfalls wichtige Formen sein, in denen sich Mythisches ausdrückt. Definiert man den Mythos in erster Linie durch seinen narrativen Charakter, wird das Bild allerdings in erster Linie als illustrierender Bestandteil aufgefasst, der letztlich immer an eine sprachliche Handlung gekoppelt bleibt. Bestimmt man den Mythos wesentlich durch seinen erzählerischen Charakter, heisst dies umgekehrt allerdings nicht, dass jede Erzählung oder Geschichte immer auch mythisch ist. Segal präzisiert seine Definition des Mythos beispielsweise weiter als „eine Geschichte über etwas Bedeutendes“, wobei er weiter betont: „Ich möchte nur darauf bestehen, dass die Hauptfiguren tatsächlich Personen sind, seien es Götter, Menschen oder auch Tiere.“ Mit Blick auf das oben angesprochene Narrative, fielen unter diese Definition demnach sämtliche „bedeutenden Geschichten“, wobei Segal einzig „unpersönliche Kräfte wie beispielsweise das platonische Gute“ ausnimmt.10 8 9
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Vgl. Ch. Jamme, op. cit., 1. R. Barthes, op. cit., 213ff, definiert den Mythos ganz explizit als „sprachliche Äusserung“ (parole ), wobei er unter Sprache alle Formen bedeutungstragender Einheiten versteht: „toute unité ou toute synthèse significative, qu’elle soit verbale ou visuelle“. R.A. Segal, op. cit., 12f.
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Wenn Segal hier von „bedeutenden“ Geschichten spricht, stellt sich freilich die Frage, was genau mit diesem Kriterium, das Mythen von herkömmlichen Geschichten trennt, gemeint ist. Segal erläutert den Ausdruck insofern genauer, als dass er sagt, „dass der Mythos für seine Anhänger etwas Entscheidendes leistet“, wobei er aber – abgesehen davon, dass er dem Mythos die Fähigkeit zuspricht, sich innerhalb seiner Anhängerschaft hartnäckig zu halten – zunächst offen lässt, „worin diese Leistung genau besteht.“11 Etwas deutlicher wird Segal am Ende seines als Einführung konzipierten Textes „Mythos“, indem er Mythen als „Wunschvorstellungen“ bezeichnet. Damit meint er, dass selbst der erwachsene Mensch bei der Rezeption von Mythen zwar weiss, dass ein Mythos „nicht die Realität ist“, jedoch trotzdem daran festhalte, „als ob er Realität wäre“. Die entscheidende Leistung, die Mythen im Leben eines Menschen vollbringen, besteht Segal gemäss darin, dass sie das Individuum in Form anderer Welten und Lebensweisen Wünsche erleben und realisieren lassen, die der Einzelne zwar von der Realität unterscheiden kann, die er sich aber während der Beschäftigung mit ihnen trotzdem als real vorstellt. Insofern sich in diesem Zustand „mythischer Wahrnehmung“, wie Segal ihn skizziert, bedeutende Wünsche (zumindest scheinhaft) erfüllen, lässt sich dieser auch mit einer Art Spielzustand vergleichen, wie er in F. Schillers Abhandlung „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ beschrieben wird. Schiller vergleicht dort die ästhetische Wahrnehmung schöner Kunstwerke mit einem Spiel,12 in welchem der Mensch zu seinem eigentlichen und wahren Sein gelange, 11 12
Ibid, 13f. „Denn […] der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ F. Schiller, Sämtliche Werke, hg. v. G. Fricke, H.G. Göpfert, Band 5: Erzählungen. Theoretische Schriften, München 1959, 618. R.A. Segal selbst vergleicht mythische Handlungen von Erwachsenen (mit Verweis auf die Theorie der Übergangsobjekte von D. Winnicott) in diesem Zusammenhang zudem ganz explizit mit dem kindlichen Spiel mit Objekten, denen spielerisch eine andere Form zugeschrieben wird.
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indem sein Spieltrieb sich ganz entfalte: „Durch jenes [sc. das herrliche Antlitz der Juno Ludovisi] unwiderstehlich ergriffen und angezogen, durch dieses [sc. die himmlische Selbstgenügsamkeit] in der Ferne gehalten, befinden wir uns zugleich in dem Zustande der höchsten Ruhe und der höchsten Bewegung, und es entsteht jene wunderbare Rührung, für welche der Verstand keinen Begriff und die Sprache keinen Namen hat.“13 Diese olympische Traumwelt, die Schiller der realen Wirklichkeit entgegen gesetzt sieht, sei von „den Griechen“ zudem bewusst im Sinne einer Wunschvorstellung imaginiert worden.14 Funktional entspricht sie damit Segals Definition von Mythen, wobei ihnen auch von Schiller eine „bedeutende Leistung“ innerhalb der Gesellschaft zuerkannt wird. Den Mythos in funktionaler Hinsicht als etwas Bedeutendes zu beschreiben, ist aber bekanntlich nicht erst seit Schiller oder wenig nach ihm insbesondere in den Mythosreflexionen der Frühromantik geschehen. Ex negativo lässt sich schon die Diskreditierung mythischer Erzählungen, wie sie in der griechischen Philosophie geleistet wurde, als Eingeständnis ihrer gesellschaftlichen Wirkungsmacht lesen – vergleichbar etwa mit heutigen akademischen Reflexen gegen die Boulevardisierung und Personifizierung der Pressewelt. Innerhalb zeitgenössischer Mythentheorie nimmt das Bedeutende, in begrifflicher Form der „Bedeutsamkeit“, insbesondere in der Mythostheorie H. Blumenbergs eine zentrale Stellung ein. Blumenberg selber könnte, auch wenn er das selber wohl kaum gerne hören würde, zum erweiterten Kreis der Sublimationstheoretiker gezählt werden, die die kulturelle Entwicklung und Leistung des Menschen unter anderem darin sehen, dass natürliche Gefahren und Schrecken symbolisch abgeschwächt und damit für den Einzelnen oder die 13 14
F. Schiller, op. cit., 619. „Von der Wahrheit desselben [= des Olympus] geleitet liessen sie sowohl den Ernst und die Arbeit, welche die Wangen der Sterblichen furchen, als die nichtige Lust, die das leere Angesicht glättet, aus der Stirne der seeligen Götter verschwinden, gaben die ewig zufriedenen von den Fesseln jedes Zweckes, jeder Pflicht, jeder Sorge frei, und machten den Müssiggang und die Gleichgültigkeit zum beneideten Lose des Götterstandes.“ Ibid., 618.
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Gesellschaft ertragbar werden. Im Zuge dieser Transformation, nennen wir es Sublimationsprozess, entstehe, so Blumenberg, „Bedeutsamkeit“. Dieser Entstehung zugrunde liegt eine Transformation eines zeitlich Vorangehenden, die Zweifaches leistet: Einerseits wird dieses Vorangehende durch die Transformation entmachtet, sprich, wie Blumenberg sagt, „depotenziert“. Andererseits wird dessen ursprünglicher Gehalt durch diese Wandlung aber auch komprimiert beziehungsweise „gesteigert“.15 Den Grund und Auslöser dieses mythischen Verwandlungsakts bezeichnet Blumenberg als „Absolutismus der Wirklichkeit“, dem ausgesetzt zu sein dem Menschen ohne mythische „Kunstgriffe“ nicht möglich sei.16 Die grundlegende Form eines solchen Kunstgriffs bildet nach Blumenberg das sprachliche Benennen: Archaisch ist die Furcht nicht so sehr vor dem, was noch unerkannt ist, sondern schon vor dem, was unbekannt ist. Als Unbekanntes ist es namenlos; als Namenloses kann es nicht beschworen oder angerufen oder magisch aufgegriffen werden. Entsetzen, für das es wenig Äquivalente in anderen Sprachen gibt, wird ,namenlos‘ als höchste Stufe des Schreckens. Dann ist es die früheste und nicht unsolideste Form der Vertrautheit mit der Welt, Namen für das Unbestimmte zu finden. Erst dann und daraufhin lässt sich von ihm eine Ge17 schichte erzählen.
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H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 2006 (1979), 85: „Bedeutsamkeit entsteht sowohl durch Steigerung als auch durch Depotenzierung.“ „Die generelle Spannung muss immer wieder reduziert werden auf Abschätzung besonderer Faktoren. Anders, nämlich in der der Sprache des Neurologen Kurt Goldstein ausgedrückt, heisst dies, dass Angst immer wieder zur Furcht rationalisiert werden muss, sowohl in der Geschichte der Menschheit wie in der des Einzelnen. Das geschieht primär nicht durch Erfahrung und Erkenntnis, sondern durch Kunstgriffe, wie den der Supposition des Vertrauten für das Unvertraute, der Erklärungen für das Unerklärliche, der Benennungen für das Unnennbare.“ Ibid., 11. Ibid., 40f.
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Den Absolutismus der Wirklichkeit kann man sich als eine Art Urwelt vorstellen, welcher der Mensch gewissermassen nackt und sprachlos gegenübersteht. Dabei ist zu betonen, dass es Blumenberg nicht darum geht, einen Ursprung oder Urakt des Benennens, als Anfang aller Kultur, historisch zu rekonstruieren. Eher entspricht diese Skizze einer Ursituation dem Versuch, sich hypothetisch vorzustellen, was wäre, gäbe es das Benennen nicht – was wäre, wenn der Mensch der Welt tatsächlich nackt und sprachlos gegenüberstehen würde. Insofern will Blumenberg auch nicht von einer Situation des „Anfangs“ sprechen, da diese jedes Vorstellungsvermögen übersteige: „Deshalb ist vorsichtiger von der ,Vorvergangenheit‘ zu sprechen, nicht von ,Ursprüngen‘. […] Dort lässt sich die einzige Erfahrung, die es gibt, nur vermuten: die der Übermacht des Anderen.“18 Wichtig ist Blumenberg primär, dass dieses Andere, der Absolutismus der Wirklichkeit, einerseits dasjenige ist, das die mythische Interpretation der Welt stimuliert, damit aber zugleich dem entspricht, was sich gar nie anders denn als bereits Bewältigtes zeigt: „Wie spät auch immer schon sein mag, was wir durch die überlieferten Namen zu fassen bekommen, es ist ein Stück zu Gestalt und Gesicht bringender Bewältigung eines uns entzogenen Zuvor.“19 Der Akt des Benennens, der dem Mythischen eigentümlich ist, ist in Blumenbergs Theorie demnach auch nicht einer, der den Schrecken der nackten Wirklichkeit ein für allemal zum Schweigen bringt. Blumenberg spricht zwar von einer „Bewältigung“ dieses Schreckens, der durch die mythische Beschreibung der Welt geleistet werde. Gleichzeitig gibt er aber auch zu verstehen, dass die Mythen einem Bedürfnis des Menschen nach Bedeutsamkeit entsprechen, das das menschliche Sein, fast schon naturhaft, ausmache: „Denn das Bedürfnis nach Bedeutsamkeit wurzelt darin, dass wir uns als der Ängstigung nie endgültig enthoben bewusst sind.“20 Eine mythenferne oder mythenlose Welt ist als solche zwar nicht vorstellbar, trotz-
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Ibid., 28. Ibid., 22. Ibid., 125.
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dem bleibt der Absolutismus der Wirklichkeit als negatives Element im Sinne eines Grundes menschlicher Existenz spürbar: Immer schon ist der Mensch diesseits des Absolutismus der Wirklichkeit, niemals aber erlangt er ganz die Gewissheit, dass er den Einschnitt seiner Geschichte erreicht hat, an dem die relative Übermacht der Realität über sein Bewusstsein und sein Geschick umgeschlagen ist in die Suprematie des Sub21 jekts.
Die Bewältigung einer Situation der Angst als zentrale Funktion des Mythischen ist also nicht als eine endgültige Zerstörung des namenlosen Schreckens, der ängstigt, zu verstehen. Insofern ist auch das Element der Depotenzierung der Bedeutsamkeit sinnfällig. Der Schrecken der nackten Welt, des Absolutismus der Wirklichkeit, wird durch das Sprechen zwar gemildert, dem Mythos selber haftet dieses Bewältigte aber nach wie vor an, wodurch sich auch sein gesteigerter Charakter und damit auch die „Geschichtsmächtigkeit des Mythos“ erklären liesse. In formaler Hinsicht bestimmt Blumenberg den Mythos wesentlich gerade dadurch, „dass er seinem Verfahren, seiner ,Form‘ nach etwas anderes nicht mehr ist.“22 Das bewältigte Andere wird zwar mittels Mythos depotenziert und ist in der mythischen Form „nicht mehr“, lässt sich aber – als negative Seite der Bedeutsamkeit – nicht von ihr trennen. Durch das Benennen wird der Absolutismus der Wirklichkeit behandelbar, sprich „durch die Metapher des Auch-Ich erschlossen“ womit eine „Weltauslegung“ beginnt, „die den erfahrenden Menschen in die Geschichte des erfahrenen Anderen verwickelt.“23 Ein Merkmal des Mythischen ist gemäss Blumenberg also nicht das plötzliche und schnelle Ausradieren des Schreckens – „der irreversible Fortsprung“24 –, sondern ein Verfahren der Umständlichkeit selber, die im Sinne eines digressiven Funktionsprozesses des Mythischen
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Ibid., 15f. Ibid., 22. Ibid., 28. Ibid., 34.
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beschrieben werden kann. Ein Kennzeichen der Wirkungsweise des Mythischen sei es nämlich auch, so Blumenberg, dass „das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit den Wunsch impliziert, die Übermacht möge stillhalten, mit sich beschäftigt bleiben oder wenigstens, wenn ihr Wohlwollen nicht fixiert werden kann, mit den Verzögerungen der Umständlichkeit wirksam werden.“25 Blumenbergs Mythostheorie wurde immer wieder auch als Versuch einer „Rehabilitierung des Mythos“ gegenüber einem streng wissenschaftlichen und rein begrifflich operierenden Zugang zur Welt gelesen.26 Sie steht damit innerhalb einer Tradition von Theorien, die eine radikale historische Zäsur zwischen einem Zeitalter des mythischen Denkens und einem solchen des logisch-begrifflichen Denkens abschwächen beziehungsweise nivellieren wollen. In diesem Sinne will er den Mythos – gestern wie heute – nicht auf eine rein ästhetische Funktion und einen rein fiktiven Gehalt reduzieren, wie dies beispielsweise H. Schlaffer tut.27 So spricht er unter anderem vom „Logos des Mythos“, der bei der Depotenzierung und Distanzierung des „status naturalis“ immerzu am Werk sei28, oder bezeichnet „die Antithese von Mythos und Vernunft“ als eine „schlechte Erfindung, weil sie darauf verzichtet, die Funktion des Mythos bei der Überwindung jener archaischen Fremdheit der Welt selbst als eine vernünftige anzusehen, wie verfallsbedürftig immer ihre Mittel im nachhinein erscheinen mögen.“29
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Ibid., 160. So O. Marquard, Erste Diskussion: Mythos und Dogma, in: M. Fuhrmann (Hg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption = Poetik und Hermeneutik 4, München 1971, 527. „Überzeugender als die hermeneutische Theorie Heideggers und Gadamers, der Kunst komme der gleiche – wenn nicht ein höherer – Wahrheitsgehalt zu wie der Philosophie, lässt sich die dekonstruktivistische Theorie Nietzsches und Derridas vertreten, philosophische Wahrheit sei im gleichen – wenn nicht im höheren – Masse eine Fiktion wie die poetische.“ H. Schlaffer, op. cit., 238. H. Blumenberg, op. cit., 140. Ibid., 56.
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Diese Nivellierung bedeutet aber auch keine Gleichsetzung zwischen Mythos und Logos. Blumenberg erkennt durchaus an, dass die Theorie „die geeignetere Bewältigungsform“ für „die episodischen tremenda wiederkehrender Weltereignisse ist“, hebt aber auch hervor: „Musse und Unbefangenheit der Weltansicht, die sie voraussetzt, sind bereits Erfolge jener jahrtausendelangen Arbeit des Mythos selbst, der vom Ungeheuren als dem längst Vergangenen und an den Rand Abgedrängten erzählte.“30 In dieser formelhaften Wendung spricht sich eine Sichtweise aus, die das begriffliche Denken innerhalb eines geschützten Raums des Mythischen ansiedelt. Blumenberg ist zwar der Auffassung, dass die Mittel des Mythos bei der Bewältigung des Schreckens „unzulänglich“ seien31, gleichwohl ist er der Ansicht, dass die mythischen Weltbilder vernünftig seien und zudem in einem Voraussetzungs- oder Begründungsverhältnis zur wissenschaftlichen Arbeit stehen und diese insofern überhaupt erst ermöglichen. Dass Mythen nicht nur als Antithese oder als Vorstufe der Wissenschaft gelten müssen, hat nicht zuletzt C. Lévi-Strauss in seiner ethnologischen Analyse mythischer Weltbilder von Urvölkern zu zeigen versucht, indem er auf die wissenschaftlichen Analogien in mythischen Erzählungen hinwies. In einem ähnlichen Sinn spricht auch P. Feyerabend – so beispielsweise in einer posthum unter dem Titel „Naturphilosophie“ erschienenen Abhandlung – von den offenkundigen Parallelen wissenschaftlicher und mythischer Theorien. Feyerabend selber interessiert sich in dieser Arbeit dafür, „Mythen und wissenschaftliche Theorien zu vergleichen und mit ähnlichen Massstäben zu messen.“32 Ähnlich wie Blumenberg spricht er von einer rationalen Funktion mythischer Weltbilder und stellt Formprinzipien mythischen Denkens solchen wissenschaftlicher Prägung
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Ibid., 33. Ibid., 133. P. Feyerabend, Naturphilosophie, hg. v. H. Heit und E. Oberheim, Frankfurt am Main 2009, 105.
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gleich. Als entscheidendes Kriterium wertet er die Leistung, die ein Weltbild, er spricht auch von „Ideologie“, auf eine Gesellschaft habe: So ist die formale Struktur der Epen, die auf den Inhalt und auf die wahrgenommene Welt einen entscheidenden Einfluss hat, ,rational‘ in unserem Sinn, wenn wir die Erfordernisse der mündlichen Dichtung und Überlieferung in Betracht ziehen. Sie ist nicht ,rational‘ in unserem Sinn, wenn der Zweck ist, ‚die Welt‘ – und damit meinen wir natürlich unsere Welt – adäquat darzustellen. Sie ist rational für den Epiker, der ohne sie nicht sehr weit käme, und sie ist darüber hinaus auch rational für seine Hörer, die die Welt als ein aus unveränderlichen Ereignisatomen zusammengesetztes Aggregat sehen, fühlen, 33 darstellen.
Feyerabend bestimmt den Mythos hier als eine wissenschaftliche Interpretation der Welt, die innerhalb mythischer Kulturformen verbindlichen und autoritären Charakter beanspruchte. Diese Sichtweise deckt sich auch mit aktuellen philologischen Untersuchungen, die behaupten, dass Mythen im antiken Griechenland gegenüber philosophischen oder naturwissenschaftlichen Zugängen lange Zeit einen vergleichbaren Wahrheitswert besassen: Wie in den letzten Jahren mehrfach betont worden ist, existiert mindestens bis ins 4. Jahrhundert v.Chr. kein wirklich adäquates griechisches Lexem für das, was wir als ,Mythos‘ bezeichnen. Noch im 4. Jahrhundert impliziert der griechische Mythos nicht den radikalen Gegensatz zum Logos, der ihm häufig beigemessen worden ist. Im 5. Jahrhundert v.Chr. benennen beide Begriffe unterschiedslos ,Erzählungen‘, die einen mehr oder weniger hohen Grad an Glaubwürdigkeit besitzen können, voneinander aber sind sie in ihrer Bedeutung nicht zu unterscheiden. Später sind Mythos und das abgeleitete Adjektiv mythôdês teils negativ konnotiert, was sich jedoch nicht so sehr auf die Art des Inhalts als vielmehr auf die Form der Erzählung bezieht: mythôdês ist, was mit dichterischer Finesse ausgeschmückt wird, um die Hörerschaft zu fesseln, 34 aber im Kern gleichwohl wahr ist.
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Ibid., 145. L.M. Gemelli (Hg.), Die Vorsokratiker, Band 1, Sammlung Tusculum, Düsseldorf 2007, 387.
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In vergleichbarer Weise ist auch P. Veyne der Ansicht, dass Mythen noch bis zu Thukydides von einer zeitgenössischen Hörerschaft hinsichtlich ihres Wahrheitswerts kaum angezweifelt wurden. Die mythischen Inhalte galten als real und tatsächlich geschehen und repräsentierten insofern einen gesellschaftlich verbindlichen Erkenntnis- und Wahrheitswert.35 Wann genau der Mythos gegenüber historisch exakterer Geschichtsschreibung ins Hintertreffen geriet, ist hier weniger interessant. Wichtiger ist, dass Mythen in älteren Gesellschaftsformen, bei Veyne im homerischen Griechenland, einen zentralen Platz einnahmen und ähnlich heutiger wissenschaftlicher Theorien orientierende Funktion aufwiesen und selbst als wissenschaftliche Quellen allgemein anerkannt waren. Am Beispiel Griechenlands lässt sich zudem ablesen, inwiefern im 4. Jh. v.Chr. im Übergang zum begrifflichen Denken eine Art Konkurrenzsituation entstanden ist, in der sich das logisch-begriffliche Denken gegenüber einem mythischen Weltzugang zunächst rechtfertigen und sich seine höhere Verbindlichkeit erkämpfen musste. Blumenberg selber weist im Übrigen daraufhin, dass dieser Übergang auch bei Platon keineswegs umfassend erfolgt sei, da auch er an zentralen Stellen seiner Arbeiten Mythen wie das Höhlengleichnis einsetzte, um Ideen und Denkprozesse verständlicher und klarer darzustellen.36 Wie bereits angedeutet, unterscheidet sich Blumenbergs Theorie allerdings in einem entscheidenden Punkt von Ansätzen, die die Gemeinsamkeiten zwischen Mythos und Logos betonen. Wissenschaftliche und begriffliche Formen seien zwar wohl effizienter bei der Überwindung „der Furcht“, führten aber ebenfalls nicht zu einem Ende: „Geschichten werden erzählt, um etwas zu vertreiben. Im harmlosesten, aber nicht unwichtigsten Falle: die Zeit. Sonst und schwerer wiegend: die Furcht.“ Ganz gelinge dies aber nie, selbst der Wissenschaft nicht, weil die Furcht selber mit einer Unwissenheit zu tun habe, die durch kein Wissen entmachtet werden könne: „In ihr 35 36
Vgl. P. Veyne, Les Grecs ont-ils cru à leurs mythes? Essai sur l’imagination constituante, Paris 1983, 34f. H. Blumenberg, op. cit., 194.
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[sc. der Furcht] steckt sowohl Unwissenheit als auch, elementarer, Unvertrautheit. Bei der Unwissenheit kommt es nicht darauf an, dass vermeintlich besseres Wissen – wie es die Späteren rückblickend haben zu können glaubten – noch nicht zur Verfügung stand. Auch sehr gutes Wissen über Unsichtbares – wie Strahlungen oder Atome oder Viren oder Gene – macht der Furcht kein Ende.“37 Darüber hinaus sieht Blumenberg die mythische Furchtbewältigung der begrifflichen gegenüber sogar im Vorteil. Während Wissenschaft die Welt „indifferent“ behandle und mit einer „obligaten Gleichmässigkeit verwalte und rubriziere“, sei es ein wesentliches Merkmal der mythischen „Aufladung von Bestandesstücken der menschlichen Welt mit Bedeutsamkeit“, dass die Welt dadurch eine „Prägnanz“ erhält, die Blumenberg als „Heraustreten aus dem diffusen Umfeld der Wahrscheinlichkeiten“ beschreibt.38 Diese Prägnanz, die in mythischen Grundmustern steckt, erkläre letztendlich auch ihr Fortdauern in der Zeit und Geschichte der Menschheit, die ohne das Element der Bedeutsamkeit auch eines wichtigen sinnstiftenden Elements entbehren würde. Diese hier erkennbare Melancholie mag als argumentative Verlegenheit erscheinen. Gleichwohl ist die Dringlichkeit, mit der Blumenberg nach der Möglichkeit einer Welt ohne Bedeutsamkeit fragt, bezeichnend – nicht zuletzt deshalb, weil er diese Frage letztlich gleichsetzt mit der Frage nach dem Wert der Welt an sich.39 Eine theoretische Reaktualisierung mythischer Weltinterpretation versuchten – wenngleich auf anderem Weg als Blumenberg – auch Th.W. Adorno und M. Horkheimer in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ zu leisten. Ähnlich Blumenberg sehen sie im mythischen Handeln zwar ebenfalls eine Handlungsform, die bereits begrifflichrationale Züge aufweist. Während aber für Blumenberg das vernünftige Element im Mythos, der „Logos des Mythos“, diesen als fundamentales Element einer Wissensgesellschaft betrachtet, konzentrieren 37 38 39
Ibid., 40. Ibid., 78f. „Weshalb sollte die Welt fortbestehen müssen, wenn nichts mehr zu sagen ist? Wie aber, wenn doch noch etwas zu sagen ist?“ Ibid., 689.
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sich Horkheimer und Adorno vorwiegend auf die Verdrängungsmechanismen, die in den Mythos, im Sinne einer aufklärerischen Tendenz, schon früh eingedrungen seien. Homer beispielsweise habe in seinen Epen das Wesen des Mythos entfremdet, indem er diesen „organisiert“ habe: „Das Epos zeigt, zumal in seiner ältesten Schicht, an den Mythos sich gebunden: die Abenteuer stammen aus der volksmässigen Überlieferung. Aber indem der homerische Geist der Mythen sich bemächtigt, sie ,organisiert‘, tritt er in Widerspruch zu ihnen.“40 Bei näherer Betrachtung erweist sich der Mythosbegriff von Horkheimer und Adorno allerdings als sperrig und schwer fassbar, wenn nicht als widersprüchlich. Einerseits wird thesenhaft behauptet, dass „schon der Mythos Aufklärung ist“ – was letztlich dazu führe, dass das durch die Aufklärung Verdrängte sich seiner Natur früher oder später Recht verschaffe, indem „Aufklärung in Mythologie zurückschlägt“.41 Andererseits wird aber zwischen originalem Mythos und kulturell verwendeten Mythen pointiert unterschieden: So sei beispielsweise erst durch die epische Strukturierung im Stile Homers ein Widerspruch zum Mythos „eingetreten“. Diesem Homerischen Sündenfall zum Trotz sei aber auch das ursprünglich Mythische schon in Ansätzen von einem aufklärerischen Grundzug belastet, denn im Grunde sei das, was sich im Epos entfalte, schon „die Entfaltung jenes fragwürdigen Edlen“ des Mythos – „der nackten Gewalt“ – oder anders: „Schon der originale Mythos enthält das Moment der Lüge, das im Schwindelhaften des Faschismus triumphiert, und das dieser der Aufklärung aufbürdet.“42 In Adornos „Negativer Dialektik“ wiederum wird der Mythos oder das Mythische aber auch als „die Zelebration des Sinnlosen als
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M. Horkheimer, Th.W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1944) = Th.W. Adorno, Gesammelte Schriften, Band 3,Frankfurt am Main 1997, 61. Ibid., 16. Ibid., 63.
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Sinn“ bezeichnet.43 Das mythische Bezeichnen wird als sinnstiftend betrachtet und insofern auch in ein antinomisches Verhältnis gesetzt zur wissenschaftlichen Bezeichnungspraxis. So sei im Mythischen noch eine ursprüngliche, symbolisch-animistische Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem vorhanden gewesen: „Mythen wie die magische Riten meinen die sich wiederholende Natur. Sie ist der Kern des Symbolischen: ein Sein oder ein Vorgang, der als ewig vorgestellt wird, weil er im Vollzug des Symbols stets wieder Ereignis werden soll.“44 An anderer Stelle wieder vergleichen Horkheimer und Adorno dieses Aufladen der Welt mit Sinn auch mit den „geprägten Worten der Sprache“, die von der logisch-begrifflich operierenden Wissenschaft als „falsche Spielmarken“ betrachtet werden und deshalb besser durch „neutrale Spielmarken“ ersetzt würden. War das Zeichen, als Symbol, ursprünglich sinnbeladen, wird es dieser Interpretation gemäss, im Prozess der neuzeitlichen Wissenschaft zum sinnentleerten Platzhalter, das ausschliesslich kalkulatorischem Kalkül zu Diensten sei: „Auf dem Weg zur neuzeitlichen Wissenschaft leisten die Menschen auf Sinn Verzicht.“45 In dieser Definition, wo das Mythische noch in einem engen Bezug zum Sinn gedacht, beziehungsweise sogar über sein sinnstiftendes Wirken bestimmt wird – als „Zelebration des Sinnlosen als Sinn“–, sind Gemeinsamkeiten mit Blumenbergs Konzeption der „Bedeutsamkeit“ durchaus vorhanden. Mit der Figur des mit verstopften Ohren an den Mast seines Schiffs gefesselten Odysseus verbinden Horkheimer und Adorno die indifferente, sinnentleerte Wissenschaft. Dieses antinomisches Verhältnis ist auch bei Blumenberg erkennbar, wenn er der Wissenschaft Indifferenz und nivellierendes, kühles Berechnen von Wahrscheinlichkeiten unterstellt, während die „Bedeutsamkeit“, wie sie durch eine Bewältigung der Welt durch mythische Geschichten entstehe, aus der Welt verschwinde. 43 44 45
Th.W. Adorno, Negative Dialektik (1966), in: ders., Gesammelte Schriften, Band 6. Frankfurt am Main 1997, 125. M. Horkheimer, Th.W. Adorno, op. cit., 33. Ibid., 21.
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Die Definition des Mythischen als symbolisches Zeichen, das mit dem Bezeichneten in einem magisch-ursprünglichen Beziehung stehe, hat unter anderen M. Frank verteidigt: „[…] das Wesentliche ist (und damit ist ein Einwand gegen C. Lévi-Strauss formuliert, der Mythen als Zeichensysteme untersucht), dass der symbolische Vollzug den Sinn an sein zeichenhaftes Substrat magisch anbindet.“46 Blumenberg vergleichbar – auch wenn dieser einen Ursprungsakt ablehnt und die mythische Bewältigung von Welt immer schon „an der Arbeit“ sieht – deutet Frank diese symbolische Benennung zudem als fundierende Leistung im Prozess des begrifflich-analytischen Denkens (im folgenden von Frank mit „Logos“ bezeichnet): „Der Logos kommt mithin als des Mythos eigener Logos zur Welt. Er ist von Geburt Mytho - logie, in einem der Tod und die Verinnerung des Mythos. Mächtig ist er als überwindendes Eingedenken seiner Abkunft. Doch ist ihm bestimmt, selbst in Gestalt des Mythos zu existieren, sobald er diesen Zusammenhang vergisst.“47 Gemäss dieser Auffassung, die in ihrem Kern an das dialektische Schema Horkheimers und Adornos erinnert, bilden Mythen in einem auf Sinn angewiesenen Gesellschaftssystem eine Basis, auf die nicht verzichtet werden könne. Frank orientiert sich bei seiner Konzeption an einer semiotischen Konzeption, gemäss der auf der Zeichenebene selbst kein Sinn vorhanden ist. Nur durch den stetigen Rückbezug auf „symbolische Handlungen und axiomatische Entscheidungen“, die Frank als „mythisch“ bezeichnet, könne der Zeichenprozess funktionieren. In diesem Sinne dient das symbolische, „permanente“ Festlegen des Verwendungssinns der Zeichen gemäss Frank zudem als „Kontrolle des analytischen Logos im Namen einer Totalität.“48 Frank selber wertet dabei insbesondere die poetische Sprache im Sinne der Frühromantiker als „Compass der Freiheit“ (Novalis).
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M. Frank, Die Dichtung als ,Neue Mythologie‘, in: K.-H. Bohrer (Hg.), Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt am Main, 1983, 15-40, hier 18. Ibid., 17. Ibid., 19.
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Versuchen, das Mythische durch Umschreibungen wie Sinn oder Bedeutsamkeit zu definieren, scheint im Übrigen ein retrospektiver Blickwinkel gemein. In Blumenbergs Konzeption wird ein Vorhergehendes durch einen Akt der Benennung überwunden, Feyerabends wissenschaftliche Interpretation von Mythen sieht in ihnen das Streben nach einer Erklärung für ein vormals Unerklärbares, und auch Adornos Zelebration des Sinnlosen als Sinn lässt chaotische Natur zu einem geformten Verstandenen werden. In diesem Rückbezug decken sich die angeführten Modelle mit M. Eliades Sichtweise, dass Mythos „immer der Bericht einer ,Schöpfung‘“ sei: „man erzählt wie etwas ausgeführt wurde, wie es zu sein begann“.49 Eliade definiert den Mythos aber gleichzeitig dadurch, dass dieser, als Bericht über die Schöpfung, als solcher nicht mehr in Frage gestellt werde, sobald er geschaffen worden sei. Für einen religiösen Menschen, der an den Mythos als das einzige für ihn verbindliche Weltmodell glaube, gelte ja gerade: „die einzige Geschichte, die ihm wichtig ist, ist die in den Mythen offenbarte heilige Geschichte, die Geschichte der Götter.“50 Eine Zerstörung und Reaktualisierung des Mythos wäre dieser Definition gemäss also nicht möglich, ohne den ursprünglichen Totalitätsanspruch des Mythos zu verfehlen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob eine solche Totalität durch den Mythos überhaupt je in vollkommener Form geleistet wurde oder geleistet werden kann. Auch Blumenberg bestimmt zwar eine der zentralen „Verfahrensweisen“ der Bedeutsamkeit des Mythischen durch die „Isolierung des Realitätsgrades bis zur Ausschliesslichkeit gegen jede konkurrierende Realität.“51 In einer Phase, in der diese Ausschliesslichkeit tatsächlich gegeben wäre, wäre die Bedeutsamkeit des Mythos folglich besonders gross, sprich die Depotenzierung und Steigerung, die durch das mythische Benennen der Welt geleistet 49
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M. Eliade, Das Heilige und das Profane, Kap. 7. Der Mythos als exemplarisches Modell, in: W. Barner, A. Detken, J. Wesche (Hg.), Texte zur modernen Mythentheorie, Stuttgart 2003, 78. M. Eliade, Das Heilige und das Profane, Kap. 8. Reaktualisierung der Mythen, in: W. Barner et al., op. cit., 82. H. Blumenberg, op. cit., 80.
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wird, wären entsprechend in hohem Mass gewährleistet. In Blumenbergs Schema gedacht, verlöre die „konkurrierende Welt“ in einer solchen Weltsituation aber ebenfalls ihr Sein. Blumenberg interpretierend liesse sich sagen, dass der Absolutismus der Wirklichkeit – „die konkurrierende Realität“ – in einer solchen Situation aufhörte zu existieren, sprich „nicht mehr“ wäre. Mit anderen Worten wäre damit auch das Bedürfnis nach Bedeutsamkeit gesättigt und käme zum Stillstand, was insofern auch die Arbeit am Mythos obsolet machen würde, sprich, in zweifachem Sinn, Endpunkt und Beginn der Negation des Mythos bedeutete. An diesem Endpunkt der Arbeit des Benennens angekommen, schwindet oder verliert sich aber auch das Bedürfnis nach dem Mythos selber. Weil Blumenberg aber gleichzeitig die Bedingung des Ursprungs nicht mitgeht, erlaubt ihm seine theoretische Konstruktion der mythischen Arbeit, Reaktualisierungen des Mythischen widerspruchsfrei als möglich zu betrachten.
3. Literatur als Aktualisierung des Mythischen Die Frage, um die es ihm folgenden gehen soll, unterscheidet sich kaum von jener, die J. Habermas in seinem „philosophischen Diskurs der Moderne“ bezüglich kompensatorischer Versuche einer Reaktualisierung von Sinngehalten – wie etwa jene des Mythischen – kritisch formulierte: „Wie sollen Traditionen, denen mit dem Zerfall religiöser und metaphysischer Weltbilder die einleuchtenden Gründe verlorengehen, als subjektive Glaubensmächte fortleben können, wenn nur noch die Wissenschaft die Autorität hat, ein Für-Wahr-Halten zu begründen?“52 Habermasʼ rhetorisch gemeinte Frage formuliert als Bedingung, dass etwas, um in Form einer subjektiven Glaubensmacht auftreten zu können, begründbar sein muss, um „Für-Wahr“ 52
J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1985, 91. Der Hinweis auf diese Stelle findet sich in H. Schlaffer, op. cit., 136.
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gehalten werden zu können. Aus diesem Grund bestehe beispielsweise auch in der Ideologiekritik Horkheimers und Adornos, wie sie in der „Dialektik der Aufklärung“ formuliert werde, ein grundsätzlicher „performativer Widerspruch“: Die Kritik im Namen eines mythischen „Eingedenkens der Natur im Subjekt“53 geschehe, so Habermas, „auf paradoxe Weise, weil sie im Augenblick der Beschreibung noch von der totgesagten Kritik Gebrauch machen muss“54. Eine „Versöhnung“ von Aufklärung und Mythos, oder auch eine Reaktualisierung mythischer „Glaubensmächte“ wäre also deshalb nicht zu leisten, weil Wirkungsmacht nur über einen rationalen Begründungsmechanismus zu leisten sei.55 Nun mag Habermas Recht haben, dass wissenschaftliche Theorien aufgrund ihrer Begründbarkeit und technischen Instrumentalisierbarkeit überzeugendere Glaubensmächte darstellen als jene metaphysischer oder mythischer Weltbilder, denen eines solches Fundament fehlt. Zu fragen bleibt allerdings, ob rationale Begründbarkeit allein als Kriterium genügt, um die Bedingungen einer Reaktualisierung mythischer Denkformen abzuschätzen. Blumenberg hat darauf hingewiesen, dass Mythen, anders als wissenschaftliche Texte, die Welt nicht erklären, sondern lediglich erzählen: „Aus der Nacht kann alles an Grauenhaftem und Ungestaltem hervortreten, um die 53 54 55
M. Horkheimer, Th.W. Adorno, op. cit., 58. J. Habermas, op. cit., 144. Es bietet sich hier ein Vergleich zu einem performativen Widerspruch an, wie er sich in Bernhards Roman Auslöschung (1986) in teils selbstironischer, teils dialektischer Weise auf den ersten Seiten findet: „Die deutschen Wörter hängen wie Bleigewichte an der deutschen Sprache, sagte ich zu Gambetti, und drücken in jedem Fall den Geist auf eine diesem Geist schädliche Ebene. […] Obwohl ich das Spanische, wahrscheinlich, weil es mir vertrauter ist, höher schätze, gab mir doch Gambetti an diesem Vormittag wieder eine wertvolle Lektion der Mühelosigkeit und Leichtigkeit und Unendlichkeit des Italienischen, das zum Deutschen in demselben Verhältnis stehe, wie ein völlig frei aufgewachsenes Kind aus wohlhabendem und glücklichem Hause zu einem unterdrückten, geschlagenen und dadurch verschlagenen aus dem armen und ärmsten.“ – Nichtsdestotrotz bleibt der Autor eben dieser deutschen Sprache treu, um die kulturelle Auslöschung – zumindest literarisch zu vollziehen.
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Ränder des Abgrunds zu besetzen, damit der Blick nicht in die Leere geht. Wenn alles aus allem hergeleitet werden kann, dann eben wird nicht erklärt und nicht nach Erklärung verlangt. Es wird eben nur erzählt.“56 Insofern bedürfen Mythen auch keiner Begründungen, sondern wirken, wie K. Hübner es ausdrückt, in Form einer magischen Kraft des Wortes: „Im Worte steckt eine Kraft, die den Menschen als numinose Substanz durchdringt, eine Kraft, durch die ein Mythos gegenwärtige Wirklichkeit wird und künftiges Heil oder Unheil herbeigezwungen werden kann.“57 Hinsichtlich der Frage nach dem mythischen Gehalt literarischer Texte wäre zu fragen, ob sich diese „Kraft“, die Hübner für den Mythos als typisch erachtet, auch in ihnen wirksam ist. Man muss hier freilich zwei Arten von Wirksamkeit unterscheiden: Die eine Form wäre jene, die für archaische Gesellschaften angenommen werden kann, wo der Mythos diejenige „Glaubensmacht“ darstellt, die in einem totalitären Sinn andere Formen der Weltaneignung nicht zulässt oder nicht kennt. Der Mythos selber ist in diesem Fall nicht eine unter vielen möglichen Erzählungen, sondern die Erzählung überhaupt – und korrespondiert somit gleichzeitig, in einem „symbolischen“ Sinn, mit der Wirklichkeit selber, da eine Unterscheidung zwischen der mythischen und der realen Welt nicht existiert. Die zweite Art wäre jene, gemäss welcher der Mythos lediglich als eine Erzählung neben anderen als „Glaubensmacht“ wirksam ist – was nicht zuletzt auch auf literarische Texte zuträfe, wenn man diesen innerhalb einer modernen Gesellschaft einen solchen Status zuschreibt. Im Sinne von Frank oder Blumenberg wäre die Verdrängung des Mythos durch die wissenschaftliche Analyse aber nicht gleichbedeutend mit seiner Entmachtung, solange man ihm in einem universalen Sinn, und damit kulturunabhängig, eine fundierende, sinnstiftende Funktion zuschreibt. Betrachtet man den Mythos als Glaubensmacht, deren Sinnfunktion durch ihre sprachliche Bedeutsamkeit nicht weiter begründbar ist, lässt sich fragen, ob 56 57
H. Blumenberg, op. cit., 143. K. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, 124.
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Literatur als nicht-argumentierendes, sondern lediglich erzählendes Medium in vergleichbarer Weise als Glaubensmacht wirksam sein kann. Sieht man im Mythischen eine sinnstiftende Glaubensmacht, wird dahinter auch ein Aspekt der Notwendigkeit sichtbar, der zur Klärung der Frage beitragen kann, ob Literatur als mythische Verfahrensweise zu betrachten ist. Wie E. Cassirer betont, zählt es zu den wesentlichen Eigenschaften mythischer Weltbilder, dass der Zufall aus ihnen ausgeschlossen ist, da nichts geschieht, ohne nicht selbst ein Teil des Sinnganzen zu sein.58 Oder anders formuliert: im Mythos selber gibt es nichts Sinnloses. Dieses Kriterium, dass im Mythos nichts willkürlich oder überflüssig sei, wird auch von Hübner, am Beispiel mythischer Figuren unterstrichen: „Innerhalb des Mythos hat daher die Frage, warum diese Gestalten so und nicht anders gezeichnet sind, warum sie aus einer denkbaren Welt von Möglichkeiten nicht anders ausgewählt wurden, keinen Sinn.“59 Die Geschichte und seine Protagonisten wurde von einem „mythischen Rezipienten“ nicht hinterfragt. Ähnlich dieser Beschreibung Hübners sieht auch U. Eco ein zentrales Merkmal literarischer Texte darin, dass sie eine Art von unbedingter Autorität beanspruchen: „Literarische Texte sagen uns nicht bloss ausdrücklich, was wir nie mehr in Zweifel ziehen können, sondern sie bedeuten uns auch im Unterschied zur realen Welt mit souveräner Autorität, was ihnen als relevant zu gelten hat und was wir nicht zum Ausgangspunkt freier Interpretationen nehmen können.“60 Im Gegensatz zum Hypertext, der während der Rezeption von den Teilnehmern laufend mitgestaltet und verändert werden kann, bilde, so Eco, gerade die Unausweichlichkeit und Notwendigkeit ein Zeichen literarischer Texte. Dem Rezipienten ist es innerhalb des Lektürevorgangs nicht möglich, auf die Handlung Einfluss zu nehmen. Wie Eco weiter betont, sei gerade diese Notwendigkeit, die 58 59 60
E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken, Hamburg 2010 (1925), 59f. K. Hübner, op. cit., 134. U. Eco, Die Bücher und das Paradies. Über Literatur, München 2006, 14.
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er auch als schicksalshaft beschreibt (er spricht von einem „Schauder des Schicksals“), wesentlich für die Spannung eines literarischen Textes verantwortlich. Eco selber sieht – man mag in diesem Gedankengang auch etwas Politik erkennen – hinter diesem „Schauder des Schicksals“ allerdings mehr als nur eine rein ästhetische Funktion: Entgegen allen unseren Wünschen, das Schicksal zu ändern, lassen sie [sc. die grossen Geschichten] uns mit Händen greifen, dass es nun einmal nicht zu ändern ist. Und indem sie uns das vor Augen führen, erzählen sie, gleich welche Geschichte sie gerade erzählen, immer auch unsere eigene Geschichte, und deswegen lesen und lieben wir sie. Ihre strenge und ,repressive‘ Lektion ist etwas, das wir benötigen. Das hypertextuelle Erzählen kann uns zu Freiheit und Kreativität erziehen. Sehr schön, aber das ist nicht alles. Die ,schon fertigen‘ Geschichten lehren uns auch zu sterben. Ich glaube, diese Erziehung zu 61 Fatum und Tod ist eine der Hauptfunktionen der Literatur.
Ähnlich wie Blumenberg sieht auch Eco eine zentrale Funktion des Mythos darin, den Absolutismus der Wirklichkeit mit kulturellen Mitteln zu bewältigen. Der „Schauder des Schicksals“ kann im Sinne Blumenbergs als Steigerung gelesen werden, während die Depotenzierung darin bestehen würde, dass der Mensch durch die Literatur dazu erzogen wird, den Schrecken des Todes zu mildern, indem er ihn als Unausweichlichkeit anerkennen lernt. Eco selber vergleicht diese Funktionalität literarischer Texte, die sich durch die Unausweichlichkeit des Handlungsverlaufs ergebe, allerdings nicht explizit mit dem Mythischen, obwohl der Begriff des „Fatums“, den er verwendet, eine solche Parallelisierung durchaus nahelegt. An anderer Stelle macht Eco sogar einen expliziten Unterschied zwischen mythischen und literarischen Texten, der insbesondere in der „Offenheit“ der literarischen Handlung bestehe: „Diese innerliche Offenheit der Erzählung wird mit einer geringeren ,Mythisierbarkeit‘ der Person bezahlt. Die Person des Mythos verkörpert ein Gesetz, eine universale Forderung, und muss deshalb in ihrer Entwicklung vorhersehbar sein; sie darf sich keine Überraschungen vorbehalten. Die Person des Romans jedoch handelt unter Bedingungen der Ungewissheit […] 61
Ibid., 24.
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und [ist] gerade deshalb nicht wie ein Mythos die Hieroglyphe oder das Emblem einer übernatürlichen Wirklichkeit.“62 Verbindet man die beiden Positionen Ecos miteinander, kann gesagt werden, dass ein literarischer Text sich gleichzeitig durch Offenheit und durch Notwendigkeit auszeichnet: Der Leser oder Rezipient weiss zwar nicht, was ihn erwartet, er weiss aber, dass er selber den Ausgang nicht beeinflussen kann, womit der Text für ihn eine gewisse Notwendigkeit und Fatalität besitzt. Diese Verbindung von Notwendigkeit und Offenheit scheint gleichzeitig auch gewisse Aporien, die sich im Zusammenhang mit dem Wegfall einer fatalistischen Spannung für das Drama der Moderne ergeben hatten, lösen zu können. Explizit hatte beispielsweise M. Frisch 1965 in seiner „Schillerpreis-Rede“ die Probleme angesprochen, die sich ihm als Schriftsteller in Form der Notwendigkeit der Handlung in den Weg gestellt hatten: Die Fabel, die den Eindruck zu erwecken sich bemüht, dass sie nur so und nicht anders hätte verlaufen können, befriedigt zwar eine Dramaturgie, die uns als klassisches Erbe formal belastet: eine Dramaturgie der Fügung, eine Dramaturgie der Peripetie. Nun gibt es aber […] nichts Langweiligeres als die Befriedigung dramaturgischer Postulate; wir kennen sie nämlich, verstehen sie auch als die verbindliche Spielregel eines Glaubens, den wir verloren haben, und was wir erkennen möchten im Theater, unsere Existenz-Erfahrung, ge63 nau das verhindert sie.
Frisch sieht gerade im schicksalshaften, notwendigen Verlauf des klassischen Dramas etwas, das Momente der Spannung und Bedeutsamkeit eher verhindere. Als Gegenmodell eines solchen Theaters der Notwendigkeit propagiert Frisch ein Theater des Zufälligen – das er auch als „Dramaturgie der Permutation“ bezeichnet: Es gibt ja doch Augenblicke, da Theater mich bestürzt wie nichts anderes, so, dass man nichts anderes möchte als Theater und begreift, warum man es im62
63
U. Eco, Apokalyptiker und Integrierte, Frankfurt am Main 1986, 196. Zitiert nach H. Gottwald, Spuren des Mythos in moderner deutschsprachiger Literatur. Theoretische Modelle und Fallstudien, Würzburg 2007, 139. M. Frisch, „Schillerpreis-Rede“, Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Fünfter Band, hg. v. H. Mayer, Frankfurt am Main 1976, 366f.
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mer wieder versucht und versucht. Das geschieht bei Proben. […] Da, mindestens für Augenblicke, geschieht etwas – ich habe Hemmungen vor dem Wort: Magie – etwas Einmaliges. […] Da entsteht etwas, Wirklichkeit von innen, indem Spiel triumphiert über alle Wirklichkeit aussen, die uns durch Undurchschaubarkeit bedrängt. Das kommt vor. Aber das sind, wie gesagt, Augenblicke, und dann ist es wieder verschüttet, so scheint mir, durch Theater, 64 dem der Erwachsene entwachsen ist.
Gerade im Zufall erblickte Frisch jenes Element, mit dem die Geschlossenheit des Schicksals aufgebrochen und der Handlung Bedeutsamkeit verliehen werden kann. Geht man, wie bei Cassirer gesehen, allerdings davon aus, dass der Mythos insbesondere durch die Absenz des Zufalls sich auszeichnet, wäre die von Frisch hier propagierte Theaterform ein Art antimythisches Theater. War das über den Schauspieler verhängte Schicksal, oder, im Mythos, das die Erzählung durchwirkende Numinose lange Zeit jenes Element, das alles dieser Realität Entgegenstehende ausschloss, so wäre bei Frisch gerade das ausserhalb dieser Realität sich Befindende, das von ausserhalb als absoluter Zufall ins Geschehen Eingreifende, dasjenige, was dem Geschehen allererst Bedeutsamkeit verleiht. Man kann in dieser offenen Konstellation insofern eine Parallele zu Blumenberg sehen, als dass bei Frisch die Theaterhandlung dazu dient einem „Absolutismus der Wirklichkeit“ Gegensteuer zu geben. Bei Frisch wäre dieser reale Absolutismus nun aber nicht mehr ein ungeordnetes chaotisches, sondern eine allzu geordnete und nach einem fixen Plan ablaufende Wirklichkeit, die die Theateraufführung absehbar macht. Durch das Spielerische des Theaters – in Form des Zufalls – kann dieser Wirklichkeit entkommen werden, wodurch – auch wenn nur momenthaft – Magisches entstehe. Trotz allem hat der Zufall aber auch bei Frisch nur akzidentellen und ephemeren Charakter.65
64 65
Ibid., 366. So wird in M. Frischs „Biografie: Ein Spiel“ eine Szene beschrieben, in welcher der Protagonist Rückschau auf sein Leben hält. Auf dem Sterbebett liegend erinnert er sich an eine Szene aus seiner Jugend, in der er mit einem Fahrrad auf einem offenen Feld steht, während ein grosses Gewitter aufzieht.
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Was er am Zufall hervorhebt, liesse sich mit Eco auch als jene Offenheit beschreiben, die der Zuschauer oder Leser erlebt, der die Handlung noch nicht kennt, und insofern von ihr überrascht werden kann. Dass er aber von ihr überrascht wird und ihrer Notwendigkeit nicht entkommen kann, bleibt der literarischen Rezeption gleichwohl eigentümlich. Diese Hervorhebung der Zufälligkeit lohnt auch einen Vergleich mit Effekten „epischer Naivität“ wie sie von Adorno für die „grossen Erzählungen“ zu beobachten glaubt: „Wenn bei Homer […] die Metapher gegenüber dem Bedeuteten, der Handlung, Selbständigkeit gewinnt, so prägt darin die gleiche Feindschaft gegen die Gebundenheit der Sprache im Zusammenhang der Intentionen sich aus. Das sprachlich ausgeführte Bild vergisst an die eigene Bedeutung, um die Sprache selber ins Bild hineinzuziehen, anstatt das Bild durchsichtig zu machen auf den logischen Sinn des Zusammenhangs.“66 In der Erzählung selber wird etwas sichtbar, was nur durch sie erinnert werden kann, während der nüchterne Bericht dieses Bildhafte nicht adäquat einzufangen vermöge und das Geschehene lediglich in Form eines Index markiere, wodurch dieses der kulturellen Erinnerung verlustig gehe. Wenn Adorno sagt, dass dieser Umschlag in den – wie er sagt – „objektiven Sinn“ des Bildes lediglich durch „Sinnverlassenheit“ geschehen könne, so kann darin ebenfalls ein Moment des Offenen (in Ecos Sinn) gesehen werden. Denn der naive Erzähler ist hier keineswegs der kalkulierende Protokollant, sondern jener, der die Wirklichkeit so nah wie möglich zu beschreiben „und das Wirkliche rein, unverstört von der Gewalt der Ordnungen hervortreten zu lassen“67 versucht. Die Kraft der Erzählungen liegt dieser Beschreibung zu Folge, im Idealfall, darin, dass sie etwas hervorzuheben
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In diesem Moment, so kann er sich erinnern, hatte er „eine Einsicht“, deren Inhalt ihm kurz vor seinem Tod ironischerweise aber entfallen ist. Th.W. Adorno, Über epische Naivität“ (1943), Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann unter Mitwirkung von G. Adorno, S. Buck-Morss und K. Schultz, Bd. 11: Noten zur Literatur, Frankfurt am Main 1997, 34-40, hier 39. Ibid., 37.
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versuchen, was in einem vernunftgeleiteten Besprechen der Welt und seinem alles nivellierenden Sprachgestus untergeht. In einem ähnlichen Sinn betont auch O. Marquard, implizit ein Bedürfnis nach Erzählungen voraussetzend, ein komplementäres Verhältnis zwischen Wissenschaft und Erzählung: „Wo die modernen Versachlichungen die Geschichten ausklammern, werden die Geschichten – zum Ausgleich – gerade festgehalten und zentralisiert: die moderne Welt ist zugleich die Welt der Geschichtslosigkeit und die Welt der – kompensatorischen – Vergeschichtlichung.“68 In Anlehnung an W. Schnapp versucht Marquard zu zeigen, dass einzig die Erzählung die lebensweltliche Verstrickung des Menschen angemessen widergeben kann und insofern auf ein Grundbedürfnis des Menschen antworte, diese Verstricktheit in Form von Erzählungen aufzulösen. Bezeichnend ist, dass auch bei Marquard – wiederum im Sinne Schnapps – das Offene und Zufällige ein wesentliches Merkmal lebensweltlicher Geschichten und Erzählungen bildet, durch die der Mensch allererst Gestalt annimmt: „Einen Lebenslauf ohne Kontingenzen gibt es nicht: wir sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Leistungen.“69 Mythisch im Sinne Blumenbergs wäre das Erzählen Marquards insofern, als dass damit auf einen Absolutismus der Wirklichkeit reagiert wird, der sich in Form einer zunehmenden Rationalisierung und Kalkulierbarkeit der Wirklichkeit zeige, ohne aber deshalb, als Lebenswirklichkeit, seine Offenheit für den Einzelnen zu verlieren. Eine Schwäche dieses Ansatzes liegt freilich ebenfalls darin, dass Marquard dieses Bedürfnis nach Geschichten als Glaubensmacht postuliert, ohne es weiter begründen zu können. Die repetitiv vorgebrachte Formel „narrare necesse est“, mit der Marquard die Notwendigkeit des Erzählens behauptet, bleibt eine letzte Begründung schuldig. Insofern die Erzählung hier aber als jene Glaubensmacht aufgefasst wird, die sich am besten dazu eigne, den
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O. Marquard, Die Philosophie der Geschichten und die Zukunft des Erzählens (2004), in: ders., Skepsis in der Moderne. Philosophische Studien, Stuttgart 2007, 55-71, hier 66f. Ibid., 63.
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Absolutismus zu mildern, der in der Dialektik des Offenen und des Notwendigen lebensweltlicher Erfahrungen waltet, würde sie sich zumindest keines performativen Widerspruchs schuldig machen.
Am heiligen Ort Der Hof im Tempel als mythischer Raum1 JUTTA KRISPENZ
1. Raumkonzepte und religiöse Erfahrung Der „heilige Ort“ ist für Protestanten eine ambivalente Grösse: Im Unterschied zu den geweihten Gotteshäusern der katholischen Christen sind protestantische Kirchen im Grunde ganz normale und alltägliche Räume. Während im katholischen Kontext die geweihte Hostie im Tabernakel für den Gläubigen die Gegenwart Gottes repräsentiert, wird diese Gegenwart in protestantischen Kirchen nur jeweils ad hoc durch die Gemeinschaft der sich versammelnden Gemeinde Realität: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20). Sich einen heiligen Ort vorzustellen, sich mit der Vorstellung eines heiligen Ortes auseinanderzusetzen ist für Protestanten zumindest nicht nahe liegend. Andererseits sind unsere theologischen Vorstellungen und unsere religiöse Welt immer wieder auf subtile Weise in räumliche Vorstellungen gefasst. Besonders deutlich wird das an zwei Fassungen der Bitte „und führe uns nicht in Versuchung“ in den beiden in Norwegen gültigen Sprachformen des Vaterunser. Betet dort der Sprecher auf Bookmål: „Led oss ikke inn i fristelse“ („führe uns 1
Antrittsvorlesung als ausserplanmässige Professorin in Marburg am 29.10.2008. Für die Veröffentlichung überarbeitet, der Vortragsstil wurde weitgehend beibehalten.
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nicht in die Versuchung hinein“), so heisst dieselbe Bitte auf Nynorsk ausgesprochen „Før oss ikkje ut i freisting,“ („führe uns nicht in die Versuchung hinaus“). Deutlich sind hier jeweils „drinnen“ und „draussen“ unterschiedlich bewertet. Während der eine Beter die Versuchung als Einengung fürchtet, fühlt der andere sich von Ausgrenzung bedroht, dem Wunsch nach Freiheit steht die Sehnsucht nach Geborgenheit gegenüber, beides wird in einer Raummetapher ausgedrückt, was zeigt, dass der Raum, unabhängig von der Konfession, durchaus fähig ist, Teil des Symbolsystems zu werden.
2. Psalmen und „Heiliger Ort“ Die religiöse Lyrik des Alten Testamentes, die im Psalter überliefert ist, geht mit grosser Selbstverständlichkeit mit der Vorstellung von einem „heiligen“ Raum um. Die Psalmen sind verwurzelt im Ritual des alten Israel, das sein Zentrum in einem Tempel hat. In früher Zeit (die uns im Psalter wohl nicht überliefert ist) war dies der Gottesdienst in den verschiedenen Tempeln des Landes, in späterer Zeit der Gottesdienst am einzig legitimen Tempel in Jerusalem, am ersten, salomonischen Tempel oder am zweiten Tempel in nachexilischer Zeit. Der Tempel spielt in den Psalmen darum eine bedeutende Rolle. Der Tempel repräsentiert die göttliche Sphäre in der Welt der Menschen2. Er verbindet die Erde mit dem Himmel und den unter 2
B. Janowski, Die heilige Wohnung des Höchsten. Kosmologische Implikationen der Jerusalemer Tempeltheologie, in: ders., Der Gott des Lebens. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 3, Neukirchen-Vluyn 2003, 27-71. Zum Jerusalemer Tempel und seiner Konzeption vgl. allgemein: W. Andrae, Das Gotteshaus und die Urformen des Bauens im Alten Orient, Berlin 1930; A. Busink, Der Tempel von Jerusalem von Salomo bis Herodes. Eine archäologisch-historische Studie unter Berücksichtigung des westsemitischen Tempelbaus, Leiden 1970; A. Kuschke, Der Tempel Salomos und der „Syrische
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der Erde vorgestellten Bereichen der Welt und steht im Zentrum einer räumlich gedachten kosmologischen Symbolik. Der Tempel beherbergt zugleich Gott auf Erden, so wie der Palast den König beherbergt. Verglichen mit dem Tempel, der das Zentrum darstellt, ist die übrige Welt der Menschen peripher zu denken. Seiner zentralen Rolle im symbolischen Raumkonzept entsprechend, nehmen viele Psalmen Bezug auf den Tempel als den Ort, von dem Rettung und Heil erwartet werden: Höre den Ruf meines Flehens, wenn ich zu dir schreie, wenn ich meine Hände erhebe zum Allerheiligsten (Ps 28,2)
Aber der Tempel ist nicht nur das Zentrum der symbolischen Geographie, der Nabel der räumlichen Welt, von dem aus die Welt als sinnerfüllt erfahrbar wird. Der Tempel ist auch das Zentrum der Zeit, der Punkt, von dem die Schöpfung ihren Ausgang nimmt, der Ort, der die Gegenwart mit der Urzeit der Schöpfung verbindet3. Der Tempel bildet so das Zentrum und den Ursprung sowohl für den Raum als auch für die Zeit. Psalm 64,5 beginnt mit der Vorstellung einer Existenz im Raum des Tempels: Wohl dem, den du erwählst und nahen lässt, der in deinen Vorhöfen wohnen darf. Sättigen wollen wir uns an den guten Gaben deines Hauses, an der Heiligkeit deines Tempels.
um dann in den folgenden Versen unversehens hinüber zu schwenken auf ganz andere Vorstellungen, die Gott im urzeitlichen Kampf
3
Tempeltypus“, in: F. Maas (Hg.): Das ferne und das nahe Wort. FS L. Rost, BZAW 105, Berlin 1967, 124-132; M. Metzger, Himmlische und irdische Wohnstatt Jahwes, UF 2 (1970), 139-158; M. Ottoson, Temples and Cult Places in Palestine, Uppsala 1980. Zum mythischen Zeitkonzept im Psalter grundlegend K. Koch, Qädäm. Heilsgeschichte als mythische Urzeit, in: ders., Spuren des hebräischen Denkens. Beiträge zur alttestamentlichen Theologie, Gesammelte Aufsätze, Band 1, hg. von B. Janowski, M. Krause, Neukirchen-Vluyn 1991, 248-280.
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mit den Mächten des Chaos4 zeigen und ihn damit in eine zeitliche Perspektive stellen: Mit furchterregenden Taten antwortest du uns in Gerechtigkeit, Gott unserer Hilfe, du Zuversicht der Enden der Erde und des fernsten Meeres, der die Berge gründete in seiner Kraft, sich mit Macht umgürtet, der das Brausen des Meeres stillt, das Brausen der Wellen und das Tosen der Völker. Darum fürchten sich die Bewohner der Enden der Erde vor deinen Zeichen, die Pforten des Morgens und Abends lässt du jubeln. (Ps 64,5-9)
Die theologischen und kosmologischen Dimensionen des Tempels sind schon mehrfach behandelt worden. Das oben beschriebene Schema, das sich bei Bernd Janowski5 findet, zeigt das symbolische Raumkonzept, in das der Tempel eingebettet ist. Es zeigt dieses Konzept von aussen, gewissermassen aus der Vogelperspektive und legt den Fokus auf die theologische Einbindung Gottes in die Welt. Die folgenden Ausführungen unternehmen den Versuch, den Tempel aus einer etwas erdnäheren, menschlichen Perspektive in den Blick zu bekommen und kombinieren hierzu Beobachtungen an den Texten mit einem Blick auf archäologische Zeugnisse. Es geht um folgende Fragen: Wo im Tempel als einer existierenden architektonischen Struktur hatte der Beter wahrscheinlich seinen Platz? Was bedeutete dieser Ort für ihn? Es geht also um den Symbolgehalt des Tempels als einem realen Ort für die Person an diesem Ort. Ich möchte mich zur Beantwortung dieser Fragen, was die Texte betrifft, hauptsächlich auf Ps 84 beziehen. Nachdem aber dieser einzelne Psalm eine zu spezielle Sicht bieten könnte, soll zuvor ein Überblick über die Verwendung der einschlägigen Terminologie die Auswahl gerade dieses Psalms begründen.
4
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Dass die in Ps 64 angesprochenen Chaosmächte bereits eine weitreichende „theologische Bearbeitung“ erfahren haben, zeigt ein Vergleich z.B. mit Ps 93. Dies wie auch die chronologische Einordnung des Psalms kann hier jedoch ausser Betracht bleiben. B. Janowski, op. cit., 40.
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Zuvor möchte ich noch zwei Erläuterungen für das Folgende einfügen: Wenn im Folgenden „der Tempel“ genannt wird, so ist darin mitgemeint, dass die beiden Tempelgründungen, die das Alte Testament kennt, in einer Tradition stehen, der beide Bauwerke auch mit den anzunehmenden Tempelbauten in den Ortschaften Israels verbindet6. Wenn häufig „der Beter“ bedacht wird, so soll das in Erinnerung halten, dass die Welt des alten Orients und des Alten Testaments eine Männerwelt war, deren Vorstellungen auch aus diesem Grund nicht unvermittelt auf unsere Zeit übertragen werden können. Keinesfalls soll damit jedoch ausgeschlossen werden, dass Frauen den Tempel betreten konnten, dagegen spräche schon das Alte Testament selbst.7
3. Die Textauswahl Thematische Untersuchungen zu Texten sehen sich immer mit einer grundsätzlichen Frage konfrontiert: Welche Texte beleuchten das Thema? Zur Beantwortung dieser Frage kann man entweder das Repertoire aller in Frage kommenden Texte – also den ganzen Psalter – durchgehen und jeden Text, der etwas zum Tempel sagt, notieren. Oder man kann eine Liste von Wörtern definieren, die das Thema repräsentieren und damit per Konkordanz eine Textauswahl treffen. Während die erste Methode ganz intuitiv vorgeht, gibt die zweite eine bessere Kontrolle über das Vorgehen, kann aber zu einer unvollständigen Textbasis führen, wenn die Wörterliste zu knapp ist,
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Die Schriften des Alten Testaments erwähnen Heiligtümer – oft polemisch – z.B. in Bethel, Gilgal, Samaria, Dan, Beerscheba. Unter den zahlreichen archäologisch belegten Heiligtümern kann bisher jedoch lediglich der Tempel in Arad eindeutig der Kultur zugeordnet werden, die die Schriften des Alten Testamentes hervorgebracht hat. Siehe dazu unten. Vgl. 1 Sam 1.
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oder sie kann zu einer zu grossen Textmenge führen, wenn die gewählten Begriffe zu unspezifisch ist. Die Durchsicht des Psalters führt auf rund vierzig Psalmen8, die den Tempel erwähnen. Bei der zweiten Methode, Texte über das typische Vokabular herauszufiltern, ist stets die Wahl der Wörter ein entscheidender Punkt, Objektivität wird man an dieser Stelle nicht beweisen können. Folgende Wörter wurden zunächst ausgewählt: mizbe aḥ (Altar); ḥāṣer (Hof); šaʿar (Tor); ṣijôn (Zion); har (Berg); bajit (Haus); hêḵāl (Palast, Tempel); miškān (Wohnung); qodæš (Heiligtum). Damit erhält man eine Liste von 96 Psalmen9, die wenigstens eines dieser Wörter wenigstens einmal verwenden und die darum vielleicht über den Tempel reden oder ihn erwähnen. Hier zeigt sich rasch, dass die Textliste sowohl zu lang als auch zu kurz ist: nachdem das Wort dǝbîr (Allerheiligstes) nicht Teil der Liste war, fehlt Ps 28,2, die einzige Stelle im Psalter, die das Allerheiligste erwähnt ebenso wie Ps 61, der den Tempel mit dem Begriff ʾohæl „Zelt“ bezeichnet – ein Vergleich der intuitiv gewonnen Texte mit den aus der Begriffsliste erhalten, zeigt diese Lücken auf, die Gegenprobe zeigt, dass es sich im Psalter entweder um singuläre Verwendungen dieser Worte für den Tempel handelt oder um solche Psalmen, die auch über die anderen Begriffe Teil der Liste geworden sind. Aber offensichtlich enthält die Begriffsliste auch Wörter, die nicht spezifisch für den Tempel sind: ṣijôn, har, bajit, šaʿar; miškān, und hêḵāl werden offensichtlich auch verwendet, um andere Orte als den Tempel zu bezeichnen. Besonders bajit „Haus“ ist natürlich weit 8
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Ps 5; 15; 20; 21; 24; 26; 27; 28; 30; 36; 42; 43; 48; 51; 53; 55; 57; 60; 61; 63; 65; 66; 68; 69; 74; 76; 78; 79; 84; 87; 92; 93; 96; 100; 108; 116; 118; 122; 132; 134; 135; 138. Ps 2; 3; 5; 9; 10; 11; 14; 15; 18; 20; 23; 24; 26; 27; 28; 29; 30; 33; 36; 38; 39; 42; 43; 45; 46; 47; 48; 49; 50; 51; 52; 53; 55; 59; 60; 63; 65; 66; 68; 69; 72; 74; 76; 77; 78; 79; 80; 83; 84; 87; 89; 90; 92; 93; 95; 96; 97; 98; 99; 100; 101; 102; 103; 104; 105; 106; 107; 108; 110; 112; 113; 114; 115; 116; 118; 119; 121; 122; 125; 126; 127; 128; 129; 132; 133; 134; 135; 137; 138; 144; 145; 146; 147; 148; 149; 150.
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davon entfernt, ausschliesslich den Tempel zu bezeichnen. Andere Begriffe bezeichnen lediglich Teile von Gebäuden, unter ihnen ist nur das Wort mizbeaḥ „Altar“ stets mit dem Tempel verbunden, alle anderen finden sich auch bei anderen Gebäuden. Schliesslich bezeichnen har „Berg“ und ṣijôn „Zion“ nicht direkt den Tempel, eher seine topographische Situation. Bereits aus diesen Beobachtungen kann man schliessen, dass der Tempel semantisch keine Welt für sich darstellt, sondern dass die Terminologie und die Konzepte, die mit ihm verbunden sind, aus dem alltäglichen Leben der Menschen übernommen werden. Das Heilige wird imaginiert, indem das Profane als Vorbild verwendet wird. Die meisten Verweise auf den Tempel im Psalter blicken von aussen auf den Tempel, d.h. sie setzen eine Situation voraus, bei der der anzunehmende Sprecher des Psalms sich nicht im Tempel befindet, sondern mehr oder weniger weit von ihm entfernt. Unter diesen ist auch Ps 28,2 mit seinem Bezug auf das Allerheiligste. Die allermeisten Belege verwenden einen Begriff, der auf den Tempel als Ganzen verweist. Selbst der in Ps 28,2 verwendete Begriff dǝbîr „Allerheiligstes“ steht pars pro toto für den Tempel, aber gewöhnlich bezieht sich schon das verwendete Wort auf das ganze Gebäude. Dagegen werden im Psalter nur sehr wenige architektonische Details erwähnt. Diejenigen, die erwähnt werden sind: Der Hof, die Türen oder Tore, die den Übergang vom profanen Bereich der Menschen in die sakrale Sphäre der Gottheit markieren und der Altar, der die Verbindung zur Gottheit im Opfer, die Kommunikation entlang der vertikalen Achse repräsentiert. Nur sehr wenige Psalmen erwähnen mehr als eines dieser Details. Streicht man nach all diesen Beobachtungen aus der ursprünglich 98 Psalmen umfassenden Liste alle jene, die den Tempel tatsächlich nicht erwähnen, so verbleiben 54 Psalmen, die das Vokabular in unterschiedlicher Breite und Dichte verwenden. Reduziert man weiter um die eher beiläufigen Erwähnungen (1 oder 2 Nennungen in 1 oder zwei Versen), dann bleibt eine Gruppe von 11 Psalmen, die in der folgenden Liste zusammengestellt sind:
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mizbeaḥ ḥāṣer šaʿar
miškān qodæš
24,7.9 43,4
118,27
bajit
har
24,3
43,3
43,3
65,5
48,10
65,5
48,2.3 48,12
48,12 48,13 50,2
50,9
50,10 50,11
65,2
65,5
65,7
74,7
74,3
74,2
74,2
78,28 78,60
78,54
78,68
78,54 78,68
84,2
84,3 84,11
ṣijôn
24,3 48,2
84,4
hêḵāl
84,8
84,4.5. 84,11
118,19 118,20
118,3 118,26
122,2
122,1.5 122,9 134,2
134,3
134,1
Unter diesen wiederum zeigt Ps 84 die reichste Repräsentation des Vokabulars, nur in diesem Psalm werden alle drei architektonischen Details (Altar, Hof, Tür10) erwähnt. Darum ist Ps 84 als Beispiel besonders gut geeignet. Bemerkenswert ist ausserdem, dass die Erwähnungen der architektonischen Details im Psalter nirgendwo eine Raumerfahrung suggerieren, die voraussetzt, der Beter würde sich innerhalb der Tempelanlagen an einem anderen Ort situieren als dem Hof.
10
Auf die Tür wird in Ps 84,11aβ nicht mit einem der oben zitierten Substantive verwiesen, sondern, etwas indirekter in dem Verb sw Hitpolel, abzuleiten vom Substantiv sw „Schwelle“. Das Verb drückt in dieser Stammform eine unstete Bewegung aus, die im Kontrast steht zu dem Verb dwr „wohnen“ in V11b, also etwa: „besser die Schwelle wetzen im Haus meines Gottes als wohnen in den Zelten des Frevlers.“
Am heiligen Ort
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4. Psalm 84 Der Psalm wird heute gewöhnlich in 3 Strophen gegliedert11 (2-5; 6-9; 10-13), von denen die erste, V. 2-5, für unsere Thema die wichtigste ist: Wie lieblich sind deine Wohnstätten, JHWH Zebaoth! Meine Seele sehnte sich, ja sie schmachtete nach den Höfen JHWHs Mein Herz und mein Fleisch jubeln dem Lebensgott zu Selbst der Sperling hat ein Haus gefunden 12 und die Schwalbe (Taube? ) hat ihr Nest darin Wohin sie ihre Brut legt – deine Altäre, JHWH, Zebaoth, mein König und mein Gott! Gepriesen seien, die in deinem Haus wohnen, die dich fortwährend loben.
Die zweite Strophe (V. 6-9) schliesst an V5 mit einem weiteren Makarismus an und beschreibt eine Wallfahrt zum Tempel, während die dritte (V. 10-13) die eigentliche Gebetsbitte (12 [aβ].b) enthält, eingeleitet durch eine Bitte um Erhörung und ein weiteres Bekenntnis des Beters über seinen Wunsch, im Heiligtum zu bleiben. Die beiden letzten Strophen (6-9; 10-13) enthalten einiges an „sekundärem“ Material13, das den Gebetsduktus nicht klarer erscheinen lässt. Diejenigen Textbestandteile des Psalms, die den Tempel 11
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13
Vgl. E. Zenger in: F.-L. Hossfeld, E. Zenger, Psalmen 51 – 100, HThKAT, Freiburg u.a. 2000, 515; K. Seybold, Die Psalmen, HAT I/15, Stuttgart u.a. 21991, 331. H.-J. Kraus, Psalmen 2, BKAT, Neukirchen-Vluyn 1961, 581-587, findet keine Strophengliederung in diesem Psalm. H. Gunkel, Die Psalmen, HKAT II,2, Göttingen 41926, 368, nimmt die Seligpreisungen in V. 5.6 zusammen und hebt diese von dem vorangehenden Abschnitt V. 2-4 ab. Welcher Vogel an dieser Stelle gemeint ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Nach den unten angestellten Überlegungen wäre wohl am ehesten an Tauben zu denken. E. Zenger, op. cit., 509f; H.-J.Kraus, op. cit., 581f, emendiert schon in der ersten Strophe, um das Metrum zu retten, die meisten Textfragen findet aber auch er ab V. 6; vgl. K. Seybold, op. cit., 331, inwiefern diese Einschätzung hier berechtigt ist oder nicht, muss an dieser Stelle nicht diskutiert werden.
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ansprechen, sind davon jedoch nicht betroffen, sie beschränken sich auch hauptsächlich auf die bereits zitierte erste Strophe. In dieser ersten Strophe preist der Beter den Tempel als Ziel seiner Sehnsucht. Der Ort, an den der Beter zu gelangen wünscht, ist der Hof. Das ist nichts Ungewöhnliches, vielmehr gibt es keinen Psalm, der einen anderen Ort für einen betenden Menschen im Tempel angibt.14 Daraus würde ich schliessen, dass gewöhnliche Menschen in Israel die inneren Räume des Tempels durchaus nicht betraten, sondern im Hof blieben. So war es z.B. auch in Ägypten, wo selbst der Hof nur höhergestellten Personen zugänglich war, das „Volk“ blieb vor dem Tempeltor. Wenn wir Psalm 84 ernst nehmen, so dürfte der Hof genau der Ort der Sehnsucht des Beters gewesen sein, das heisst, der Hof des Tempels dürfte der primäre Ort religiöser Erfahrung im Tempel gewesen sein. Was ist die besondere Qualität dieses Ortes?
5. Archäologische Zeugnisse Der bisher einzige eindeutig israelitische Tempel, der im Heiligen Land ausgegraben wurde, ist der Tempel in Arad im Negev.15 Der Ausgräber (Y. Yadin) datierte das Stratum X, das die wichtigste Phase der Benützung darstellt, in die Mitte des 10. Jh. v.Chr., D. Ussishkin
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Vgl. Ps 92,14; 96,8; 100,4; 116,18; 135,2. Es sollte allerdings nicht unerwähnt bleiben, dass die wenigsten Psalmen den Ort des Beters im Tempel benennen – für die Autoren der Psalmen war das offenbar eine Selbstverständlichkeit, die keiner Erwähnung bedurfte. Erwähnt wird der Hof. Vgl. G.R.H. Wright, Ancient Building in South Syria and Palestine. Band 1.2, HdO 7,3, Leiden und Köln 1985, 252 und unten Anmerkung 19. Das Tempelgebäude in Arad ist möglicherweise mit dem Gebäude des salomonischen Tempels in Jerusalem nicht vergleichbar, vgl. ders., op. cit., 253.
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plädierte für das 7.-6. Jh. und eine recht kurze Benutzungsdauer16. In jedem Fall ist dieser Tempel der einzige, der uns -jenseits der biblischen Texte- die Gestalt eines israelitischen Tempels vor Augen führen kann. Von aussen kommend betritt man als erstes einen ummauerten Hof von 9 x 10 m Grösse, in dem sich ein aus Steinen aufgeschichteter Altar von 2,5 x 2,5 m Grundfläche befindet. Auf diesen folgt ein Breitraum von 2,7 x 9 m Grösse17. An den Wänden beschreibt der Ausgräber Reste von Bänken, die an den Wänden entlang verliefen. An der hinteren Breitseite dieses als Cella bezeichneten Breitraumes, gegenüber dem Eingang zum Raum, befindet sich das Adyton, das über zwei Stufen vom Breitraum zugänglich war, bei einer Grösse von ca 1,5 x 1,5 m aber wohl kein Raum war, in dem ausgeprägte Handlungen denkbar sind. An der Stirnwand des Adytons befand sich in diese eingemauert ein Stein, der als „Massebe“ eingestuft wurde, ein weiterer entsprechender Stein lag im Adyton auf der Seite, die bei einer beschrifteten Stele die Inschrift trüge. Zwei Räucheraltäre waren in den Stufen zum Adyton kultisch beigesetzt. Nicht zuletzt die Fundkonstellation im Adyton stützt die Deutung des Gebäudes als „Tempel“18, an der, ungeachtet einiger kritischer Einwände19, bis heute festgehalten wird. Der Zusammenhang 16
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J.-W. Meyer, Tempel und Palastbauten im eisenzeitlichen Palästina und ihre bronzezeitlichen Vorbilder, in: B. Janowski, K. Koch, G. Wilhelm (Hg.), Religionsgeschichtliche Beziehungen zwischen Kleinasien, Nordsyrien und dem AT. Internationales Symposion Hamburg 17.-21.3.1990, OBO 129, Fribourg 1993, 319-328, hier 323. Alle Massangaben nach A. Mazar in: A. Kempinski, R. Reich (Hg.), The Architecture of Ancient Israel. From Prehistoric to the Persian Period, Jerusalem 1992, 161-190, hier 186. Die Grösse der Breitraumcella bezieht sich auf die früheste Phase des Tempels. Zur Klassifizierung eines Gebäudes als „Tempel“ vgl. z.B. W. Zwickel, Der Tempelkult in Kanaan und Israel, FAT 10, Tübingen 1994; vgl. ders., Der salomonische Tempel, Kulturgeschichte der alten Welt 83, Mainz 1999. D. Ussishkin, The Date of the Judean Shrine at Arad, IEJ 38, 1988, 142-157; zustimmend zitiert von J.-W. Meyer, op. cit., 323; vgl. jedoch auch G.R.H. Wright, op. cit., 252: „This is the most clearly established, in fact perhaps the only clearly established, Israelite temple since there is sufficient correspond-
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mit der Kultur des alten Israel und dem Alten Testament ist durch die in Arad gefundenen Ostraka gesichert20. Der zum Tempel gehörende Hof ist ein Aussenraum im Tempelbezirk, d.h. die betende Person, so sie sich in diesem Hof befindet, steht im Freien, ausserhalb des eigentlichen Gotteshauses, und doch im Tempel, denn er oder sie hat das Tor zum heiligen Bezirk durchschritten. Der Hof ist in dieser Situation ein ambivalenter Ort, der in der Horizontalen Schutz gewährt und zugleich in der Vertikalen offen bleibt. Er reduziert die Möglichkeiten zur Wahrnehmung in der Horizontalen und bündelt so die Aufmerksamkeit auf die verbleibenden Wahrnehmungsmöglichkeiten in der Ebene und auf die vertikale Achse. Der Hof im Tempel, wie ihn der Tempel von Arad aufweist, ist ein architektonisches Element21, das Parallelen in der Profanarchitektur des alten Orients hat. Man findet Höfe in Palastanlagen wie auch in gewöhnlichen Wohnhäusern in Palästina; Parallelen gibt es in Ägypten ebenso wie in Mesopotamien in der Eisenzeit. Die drei Gebäudetypen, die gewöhnlich einen Hof aufweisen sind Häuser, Paläste und Tempel, wobei der Palast für alle diese Gebäude den Prototyp bildet. Das Vierraumhaus in Palästina ist wohl das bescheidenste, aber zugleich auch das am weitesten verbreitete Beispiel. Es hat insgesamt einen rechteckigen Grundriss, der als Langraum konzipiert ist, d.h. von der Schmalseite her betreten wird. Der erste Raum, der von aussen her betreten wird, ist wahrscheinlich ein Hof, der in einigen
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ence with biblical prescriptions (…) to indicate that it should be dedicated to the Yahweh cult“. Hier ist es besonders das Ostrakon Nr. 18, das ein bet JHWH erwähnt. Vgl. J. Renz, W. Röllig, Handbuch der althebräischen Epigraphik III, Darmstadt 1995, 29. Es ist durchaus bemerkenswert, wie häufig das Element „Hof“ unbeachtet bleibt. Die Architektur scheint mit den Bauwerken hinreichend beschrieben, aber auch Freiflächen sind potentiell Bestandteile eines Raumkonzeptes und im Fall von Innenhöfen handelt es sich sicher um mehr als blosse „Baulücken“.
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Fällen wohl teilweise von einer zum Hofraum offenen überdachten Fläche eingenommen wurde – darauf deuten Säulenbasen. Eine Längsseite ist häufig als eigener Raum mit einer Mauer abgeteilt, die Stirnseite nimmt regelmässig ein Breitraum ein. Der Grundriss beweist keinen Hof, aber in vielen Fällen ist der zentrale Raum, den man von aussen kommend zuerst betritt, mit Kieseln gepflastert und so von den anderen Räumen unterschieden. Ein Raum, der nach oben offen ist, ist hier sehr wahrscheinlich, entweder im Erdgeschoss oder auf dem Dach über dem von der Strasse her zuerst betretenen Raum. Die isometrische Rekonstruktion der Häuser in Ḫirbet el-Mšāš in V. Fritz’ Monographie über die Stadt im alten Israel22 zeigt, wie die Häuser ausgesehen haben können. Nachdem die überdachten Räume sehr eng waren, wird der Hof der Hauptarbeitsplatz gewesen sein, zumal er oft teilweise bedacht war. Auf jeden Fall dürfte er der wichtigste Bereich für die Kommunikation der Bewohner miteinander wie wohl auch mit Menschen, die nicht im selben Haus lebten, gewesen sein, liegt er doch dem Eingang und damit dem öffentlichen Bereich nahe. Generell ist der Hof ein durchgängig auftretendes Element des typischen israelitischen Hauses, das die Weise, wie die meisten Menschen einen Hof erlebten, stark beeinflusst haben dürfte. Der Hof als Schnittstelle zwischen Innen und Aussen im architektonischen wie im sozialen Sinn muss eine Grunderfahrung gebildet haben. Paläste andererseits stehen in einer deutlichen Beziehung sowohl zu Tempeln als auch zu Wohnhäusern. Sie stellen den elaboriertesten Haustypus dar, das Idealhaus, dessen Plan von keinen sachfremden Erwägungen – wie z.B. solchen über die ökonomischen Grenzen – unterworfen war. Als Beispiel dient hier der Plan des Palastes von Chorsabad.23 22 23
V. Fritz, Die Stadt im alten Israel, München 1990, 53. P. Matthiae, Geschichte der Kunst im Alten Orient 1000–330 v. Die Grossreiche der Assyrer, Neubabylonier und Achämeniden, Darmstadt 1999, 19. Die Höfe sind auch an anderen Palastgebäuden im alten Orient und auch in Syrien-Palästina belegt vgl. dazu z.B. R. Reich in A. Kempinski, R. Reich, op. cit., 202-222.
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Der Komplex besteht aus dem eigentlichen Palast mit Räumen für Verwaltung, Repräsentation, den königlichen Privaträumen sowie einem angegliederten Heiligtumsbezirk. Der Plan zeigt mehrere Höfe, auf zwei möchte ich eingehen. Einer liegt vor dem Thronsaal. Dieser Hof ist von aussen zugänglich und der Thronsaal öffnet sich auf ihn hin. Dieses Ensemble aus Hof und Thronsaal bildet den Ort, an dem der Kontakt zwischen dem Herrscher und seinem „Volk“ wie auch (vor allem) mit ausländischen Gesandten stattfand – wobei man sich die Volksnähe wahrscheinlich nicht allzu stark ausgeprägt denken sollte. Audienzen werden für diejenigen, die an ihnen teilnahmen, zumindest im Hof ihren Anfang genommen haben, nur die wichtigeren und wichtigsten Offiziellen werden in den Thronsaal gelangt sein. Dieser Hof ist die Schnittstelle zwischen dem Herrscher und denjenigen Menschen, auf die sich dessen Herrschaft bezog. Dies gilt unabhängig davon, wie und mit welcher Besetzung die Audienz vorgestellt wird. Der zweite Hof, auf den ich aufmerksam machen möchte, liegt hinter dem Thronsaal und gehört offensichtlich zu den Privatgemächern des Palastes. P. Matthiae bezeichnet den ersten Hof babanu, den zweiten mit bitanu entsprechend den Begriffen, die man für die Höfe in den Häusern assyrischer Nobler verwendet, die einen Hof in der Nähe des Eingangs hatten (babanu) als Übergang von der öffentlichen Sphäre zur privaten und als Ort für häusliche Arbeiten und einen zweiten bitanu, der dem Gebrauch der Familie (und der Frauen) gewidmet war.24 Der eine Hof der schlichten israelitischen Häuser wird beiden Zwecken gedient haben. Der Palast ist darüber hinaus der weltliche Prototyp für den Tempel. D. Arnold hat das für den ägyptischen Tempel gezeigt.25 24
25
Diese Aufteilung findet sich auch noch in traditionellen islamischen Häusern, in dem Hof für Gäste und Männer und dem der Frauen und der Familie. Siehe dazu auch S. Bianca, Hofhaus und Paradiesgarten. Architektur und Lebensformen in der islamischen Welt, München 1991, 196ff. D. Arnold, Die Tempel Ägyptens, Zürich 1992, 22. Zum ägyptischen Tempel vgl. A. Alt, Ägyptische Tempel in Palästina und die Landnahme der Philister, in: ders., Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel I., München 1968,
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Ihm zufolge ist das Hauptprinzip entlang der Längsachse des Gebäudes der abnehmende öffentliche Charakter der Räume. Hinter dem Thron befinden sich die Privaträume. Nach dieser Rekonstruktion wäre der Hof im Tempel der einzige für menschliche Besucher noch betretbare Raum des Tempels, während die Cella geladenen Gästen von hohem Rang vorbehalten wäre – im Falle eines ägyptischen Tempels wären diese selbst Götter. Kultpersonal hätte, entsprechend den Dienern im Palast, selbst zu den Privaträumen Zugang, die dem Allerheiligsten im Tempel entsprechen. Der Hof andererseits entspricht den öffentlichen Räumen, dem Ort der Audienz, dem Ort an dem das Individuum der Person mit dem höchsten Rang innerhalb der Gesellschaft begegnen konnte, dem fernsten menschlichen Wesen. Ferne, Distanz sind gewiss ein wichtiges Thema dieses architektonischen Konzeptes: Nicht nur der Hof in Chorsabad hat einschüchternde Dimensionen26, der Durchgang zum Thronsaal zeigt dem Besucher massive Wände, die darauf abzielen, Stärke, Reichtum und Uneinnehmbarkeit zu demonstrieren27. Die Dicke der Aussenwand des Thronsaals zum Hof hin ist weder durch statische Erfor-
26 27
216-202; H. Brunner, Die Rolle von Tür und Tor im Alten Ägypten, in: W. Röllig (Hg.): Das hörende Herz. Kleine Schriften zur Religions- und Geistesgeschichte Ägyptens, OBO 80, Fribourg und Göttingen 1988, 248-272; ders., Zum Raumbegriff der Ägypter, in: W. Röllig (Hg.), op. cit., 339-353. Dass dies nicht allein auf mesopotamische Bauwerke zutrifft, zeigt eindrucksvoll der Grundriss des Palastes in Yarmouth. In ähnlicher Weise verwendet nach E. Bloch-Smith das Tempelinventar die Monumentalität, um soziale Distanz zu kodieren: „Accordingly, the exaggerated size of the structures in the Solomonic Temple courtyard would suggest that they were not intended for human use but belonged to the realm of the divine.“ E. Bloch-Smith, Solomon’s Temple: The Politics of Ritual Space, in: Barry M. Gittlen (Hg.), Sacred Time, Sacred Space. Archaeology and the Religion of Israel, Winona Lake 2002, 83-94, hier 84. Ähnlich starke Mauern wie in den altorientalischen Palästen finden sich am Thronsaal der Alhambra. Dort sind zwar alle Mauern stärker als im übrigen Palast, aber die am Eingang zu durchschreitende Mauer ist noch mächtiger als die anderen. Vgl. S. Bianca, op. cit., 102.
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dernisse, noch durch tatsächlich militärische Notwendigkeiten begründbar. Das zeigt allein schon der Umstand, dass nur direkt an den Durchgängen zum Thronsaal die Mauern extrem stark sind, nur dort, wo die Dicke der Mauern im Durchschreiten des Eingangs sichtbar wird. Durch diese Türen hindurchzugehen wird keine Option für Jedermann gewesen sein, und nicht jeder wird sich gewünscht haben, dort hindurchzugehen. Der Hof im Tempel ist so mit widersprüchlichen Gefühlen aufgeladen: Der familiären Vertrautheit des Hofes als dem kommunikativen Zentrum des Hauses, stehen die Konnotationen des königlichen Hofes gegenüber, der das Individuum auf Distanz hält, indem er in seinen Dimension den sozialen Unterschied herausstreicht. Die Höfe in königlichen Gebäuden in Israel mögen vielleicht weniger beeindruckend gewesen sein, verglichen mit den bescheidenen Dimensionen gewöhnlicher Häuser dürften sie noch immer gross genug gewesen sein. Die Verbindung mit dem Königspalast wird in Ps 84 gestützt durch die Formulierung „mein König und mein Gott“ in V. 4, die andeutet, dass der Beter sich gewissermassen in einer Audienz vor dem König wähnt.28
6. Der Hof im Tempel als mythischer Raum Der Beter von Ps 84 wird, während er im Hof des Tempels steht, wahrscheinlich widersprüchliche Empfindungen haben: Er ist im Tempel und zugleich ausserhalb, er ist Gott als dem erhofften 28
Einige Exegeten halten diese Phrase für literarisch sekundär, was jedoch nichts aussagt über ihre sachliche Angemessenheit. Wenn die Begegnung mit Gott im Tempel derart im Bild der Audienz beim König imaginiert wird, so zeigt dies wiederum umgekehrt den „soziomorphen“ Charakter des Gottesbildes. Vgl. F. Hartenstein, Das Angesicht JHWHs. Studien zu seinem höfischen und kultischen Bedeutungshintergrund in den Psalmen und in Exodus 32-34, FAT55, Tübingen 2007, 47-52.
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Kommunikationspartner nah und erlebt ihn doch in der Distanz. Trotzdem scheint der Ort, an dem er sich befindet, dem Beter von Ps 84 zu behagen: Er ist gewiss, dass der mächtige Gott nicht seine Macht gegen ihn wenden wird. Der Psalm gibt uns zwei Hinweise, warum der Beter so gewiss ist. Beide deuten in dieselbe Richtung. Am Ende von V. 3 wird Gott der „Lebensgott“ genannt und V. 4 vervollständigt dieses Attribut, wenn er auf die Vögel verweist, die im Tempel nisten, sogar direkt auf dem Altar. J. Brettschneiders Untersuchung von Architekturmodellen29 ist für das Verständnis dieses Zuges möglicherweise von entscheidender Bedeutung. Viele der von ihm bearbeiteten Modelle stellen Tempelgebäude dar, sie bieten die einzigartige Möglichkeit, auch für die aufsteigenden Gebäudeteile, die in der archäologischen Fundsituation gewöhnlich nicht mehr vorhanden sind, begründete Vorstellungen zu entwickeln. Zwar hat der Tempelbau in Syrien-Palästina im Laufe der Zeit gewichtige Wandlungen durchgemacht, doch liegen Modelle auch aus Zeiten vor, die der Zeit des alten Israel nahe sind. Sie veranschaulichen gerade über das an ihnen sichtbare Baudekor Aspekte, die aus dem Grundriss nicht mehr zu erheben sind. Zwei Typen sind hier von Interesse: Einige Modelle zeigen Vögel als Baudekor an den Aussenwänden der Modelle. Zwei dieser Modelle sind deutlich früher zu datieren als das staatliche Israel, hier finden sich Friese von Vögeln am Dachgesims. Ein weiteres Modell stammt vom NeboGebirge um 900 v.Chr30 und weist einen Vogel mit ausgebreiteten Flügeln über dem Eingang auf. J. Brettschneider identifiziert diesen Vogel als Taube.31 Brettschneider sieht bei diesen Vögeln eine Beziehung zur Göttin Ischtar, somit zu Vorstellungen von Fruchtbarkeit. Eine zweite Gruppe von Modellen weist auf Löcher im oberen
29
30 31
J. Bretschneider, Architekturmodelle in Vorderasien und der östlichen Ägäis vom Neolithikum bis in das 1. Jahrtausend, AOAT 229, Kevelaer und Neukirchen-Vluyn 1991, 234: Tafel 30, Abb. 27; Tafel 31, Abb. 28. J. Bretschneider, op. cit., Tafel 91, Abb. 80a-b. J. Bretschneider, op. cit., 234. Nach E. Stern, in: A. Kempinski, R. Reich, op. cit., 305, stammt das Modell aus Tell el-Farʿah und aus dem 10. Jh. v.
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Bereich der Aussenwand hin32. Hier rechnet Brettschneider mit Taubenlöchern.33 So wird die Erwähnung der Vögel in Psalm 84 wohl eher nicht so zu deuten sein, wie E. Zenger vorschlug, der auf die Tauben am Markusplatz in Venedig verweist: „Es dürfte aber auch die Vorstellung mitschwingen, dass sich auf den Höfen bzw. Plätzen im Tempelbezirk viele Menschen versammeln, die sich dort ‚zuhause‘ fühlen – so wie die Vögel, die dort nisten (wer kennt nicht die Faszination der Touristen über die Taubenschwärme vor dem Markusdom in Venedig)“34. Nun werden die Vögel in Ps 84 nicht als Hinweis auf einen Ischtarkult zu lesen sein. Dass Vögel im Tempel willkommen waren, kann man sich mit der Funktion des Tempels erklären. Er war nicht nur der Wohnort Gottes auf Erden, sondern auch der Ort, von dem aus Gott stets als Schöpfer wirkt. Der Tempel ist so ein Ort des gesteigerten Lebens, ein Ort, an dem Leben hervorgebracht wird wie im Garten Eden. Die Erwähnung von Vögeln, die auf dem Altar nisten, ist schwerlich wörtlich zu verstehen: kein Vogel würde auf einem Altar nisten, auf dem Tiere geschlachtet oder gar verbrannt werden. Aber der Tempel als der zentrale Ort schlechthin, als der Ort, an dem die Zeit der Schöpfung und die schöpferische Kraft Gottes sich stets manifestieren und in die Welt hineinwirken, wird am besten durch den Altar35 repräsentiert, der als Weltachse in der Vertikalen die Erde mit der göttlichen Sphäre verbindet. Die Anwesenheit der Vögel und ihrer Nester mit Jungvögeln verdeutlicht die kreative Potenz, die an diesem Ort zur Geltung kommt.
32 33 34
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J. Bretschneider, op. cit., Tafel 60, Abb 52a-b aus Megiddo, 10. Jh. v.Chr. und Tafel 63, Abb. 54, Idalion 7.–6. Jh. v. J. Bretschneider, op. cit., 219. F.-L. Hossfeld, E. Zenger, op. cit., 517. Vgl. auch E. Zenger, Das Mythische in den Psalmen 84 und 85 In: Lange; Lichtenberger; Römheld (Hg.): Mythos im Alten Testament und seiner Umwelt. FS H.-P. Müller, BZAW 278, Berlin u.a. 1999, 233-254. Der Plural in Ps 84,4 ist als pluralis amplificationis zu verstehen.
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Die Person, die Ps 84 betet, hat mit dem Hof des Tempels nicht nur einen Raum betreten, dessen besonderen Qualitäten auf Erfahrungen mit ähnlichen Räumen und deren sozialen Implikationen basieren, sondern er oder sie ist in die eigene Zeitdes Tempels eingetreten, die mythische Zeit der Schöpfung. In der räumlichen Dimension kennzeichnet den Tempelhof, den der Beter erlebt, dass er innen und aussen zugleich ist, die Geborgenheit des Hauses mit der Freiheit des offenen Raumes verbindet. In der sozialen Dimension führt der Hof gleichzeitig die Wahrnehmungen von Intimität und Distanz ein. Hinsichtlich der Zeit ist der Hof des Tempels, den der Beter in seiner Gegenwart erlebt, zugleich mit der Urzeit der Schöpfung verbunden. Diese dreifache Ambivalenz von drinnen und draussen, von Nähe und Distanz, von Gegenwart und Ewigkeit bildet jede für sich eine coincidentia oppositorum und sie macht den Hof im Tempel zu einem mythischen Ort. Gott ist dem Beter so nahe, wie die Distanz zwischen ihm und den Menschen es nur zulässt. Der Tempel in Psalm 84 unterscheidet sich dann allerdings von demjenigen, den man in Rekonstruktionen öfter sehen kann: Dieser Tempelbau, in den die Menschen von allen Seiten hineindrängen, der offen ist an jedem Ort, hat mehr Ähnlichkeit mit einer Synagoge oder einer evangelischen Kirche, in der sich die Menschen versammeln, als mit einem Tempel, in dem Gott wohnt und den Psalm 84 voraussetzen dürfte36. An den fordernden Gott der vorexilischen Propheten, die die Zerstörung dieses Tempels androhen und damit das Ende dieses heiligen Raumes, denkt auch Psalm 84 freilich nicht. Nicht in der ersten Strophe, nicht in den übrigen Versen und nicht einmal in den für sekundär gehaltenen Teilen. Die Prophetie hat aber nicht nur die 36
Zur grundsätzlichen Unterscheidung dieser beiden Typen von Sakralräumen schreibt G.R.H. Wright: „At one extreme the temple is so much the (private) dwelling of the deity that it is taboo for men, or only one man in the highest state of purity / sanctity can set foot therein – i.e. it is an adyton. At the other extreme the deity is so transcendent that he cannot dwell in any house built by hands and the temple is par excellence the place of solemn public assembly for congregational worship.” G.R.H. Wright, op. cit, 226.
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Zerstörung des Tempels angekündigt, sie hat im Verlauf ihrer Verkündigung dafür gesorgt, dass die Kommunikation der Menschen mit Gott nicht mehr durch den Tempel allein, sondern durch das ergangene und stets neu zu verstehende Wort Gottes gedacht wird. So haben dann die beiden Zerstörungen des Jerusalemer Tempels und ihre durch die Botschaft der Propheten vermittelte theologische Verarbeitung zu einer Ablösung des religiösen Erlebens weg von einem geographischen und architektonischen Ort und hin zu einem sozialen und geistigen Ort geführt. Damit hat sich aber das Bedürfnis nicht aufgelöst, das der Hof des Tempels für den Beter von Psalm 84 erfüllte: das Bedürfnis, physisch konkret am genau richtigen Ort zu sein. Die Frage, die Psalm 84 stellt, wenn er den mythischen Raum mit Worten evoziert, ist, ob es nicht sinnvoll und an der Zeit wäre, den Raum in das Nachdenken über Sinnerfahrung zurück zu holen.
Die Erschaffung der Schöpfung Ein religionsgeschichtlicher Vergleich zwischen Enūma Eliš und Gen 1,1-2,4a MICHAEL FIEGER
Der Impuls zu diesem Beitrag stammt von A. Heidel1 und W.G. Lambert2. Diesen beiden Autoren ist die Entstehung dieses vorliegenden Textes zu verdanken. Obwohl ihre Arbeiten vor vielen Jahren verfasst wurden, ist der Vergleich des biblischen Schöpfungsberichtes (Gen 1,1-2,4a)3 mit Enūma Eliš4 (Ee) immer noch sehr
1 2 3
4
A. Heidel, The Babylonian Genesis. The Story of the Creation, Second Edition, Chicago Ill 1954. W.G. Lambert, A New Look at the Babylonian Background of Genesis, JThS 16 (1965), 287-300. Den umfassendensten Kommentar bietet C. Westermann, Genesis (Gen 111), BK I/1, Neukirchen-Vluyn 31983. Der Exkurs bei B. Jacob, Das erste Buch der Tora. Genesis, Berlin 1934, Neudruck Stuttgart 2000, 69-71, unterstreicht v.a. die Unterschiede zwischen Ee und Gen. Edition: W.G. Lambert, Enūma Eliš. The Babylonian Epic of Creation. The Cuneiform Text, Oxford 1966. Weitere Literatur: St. Dalley, Myths from Mesopotamia. Creation, the Flood, Gilgamesh and Others. Edited and translated with an Introduction and Notes, Revised edition, Oxford 2000; L.W. King, The Seven Tablets of Creation, or the Babylonian and Assyrian Legends concerning the Creation of the World and of Mankind, vols. I/II, London 1902 (1999); B. Landsberger, J.V. Kinnier Wilson, The Fifth Tablet of Enuma Eliš, JNES 20 ( 1961), 154-179.
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Michael Fieger
ergiebig. Beim Verfassen dieser Quellenarbeit wurden hauptsächlich die Übersetzungen von W.G. Lambert5 und Ph. Talon6 zugezogen. Der folgende religionsgeschichtliche Vergleich zwischen Enūma Eliš und Gen 1,1-2,4a fokussiert folgende drei Themen: Das Gute und die Ruhe, das Motiv des Wassers und die Anthropologie.
1. Das Gute in Verbindung mit dem Motiv der Ruhe in Enūma Eliš und Gen 1,1-2,4a Zwei Momente, Ruhe und Unruhe, prägen den Mythos Enūma Eliš. Sie sind wie die Brennpunkte einer Ellipse. Der Ruhe als gewünschtem Zustand steht in Enūma Eliš die Unruhe kontrastierend gegenüber. Das Betrachten des Guten und das Aufhören (šabbat ) zu wirken nach einer Anzahl von Schöpfungstätigkeiten sind zwei entscheidende Momente, die Gen 1,1-2,4a prägen. Das Gute ist relational zu verstehen, denn das Gute ohne die Erfahrung des Bösen ist nicht denkbar.
1.1. Ruhe verknüpft mit dem Sieg über das Böse in Enūma Eliš
Bereits in der ersten Tafel von Vers 21 bis 28, das heisst gleich nach der Erschaffung der Götter, wird in Enūma Eliš festgehalten, dass ein nicht näher beschriebenes Götterkollektiv am Tag und in der Nacht Unruhe verursacht. Zunächst wird dadurch nur die Schöpfungsmutter Tiamat gestört, später auch der Schöpfungsvater Apsu. 5
6
W.G. Lambert, Enuma Elisch, in: O. Kaiser u.a. (Hg.), Texte aus der Umwelt des Alten Testaments (TUAT) III/4: Weisheitstexte, Mythen und Epen, Gütersloh 1994, 565-602. Ph. Talon, The Standard Babylonian Creation Myth. Enūma Eliš. Introduction, Cuneiform Text, Transliteration, and Sign List with a Translation and Glossary in French, SAA IV, Helsinki 2005.
Die Erschaffung der Schöpfung
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Apsu tat seinen Mund auf und redete Tiamat … an: Ihr Benehmen begann mir zu missfallen, Ich finde am Tag keine Ruhe und kann in der Nacht nicht schlafen. Ich will ihr Benehmen vernichten und zerstören, Auf dass Ruhe herrsche und wir schlafen können. Als Tiamat dies hörte, wurde sie wütend und schrie ihren Gatten an, sie schrie schmerzlich, wütend mit sich selbst, Grämte sich über das (geplante) Unheil: 7 Wie können wir vernichten, was wir schufen?
Um die gewünschte Ruhe zu erzielen und die störende Unruhe zu beenden, beschliesst Apsu als erster Gewalt anzuwenden. Er ist bereit, alles Erschaffene zu zerstören, seine ganze Schöpfung zu vernichten, Böses mit Bösem zu vergelten. Der Gedanke, seinen göttlichen Söhnen Böses anzutun, beglückt Apsu. Noch wehrt sich Tiamat entschieden gegen Gewalt und Zerstörung (I,45.51f.). Dieses Gewaltpotential ruft Gegengewalt hervor (I,55-72). Apsu, der Ahne der grossen Götter, wird dabei von Ea / Nudimmud getötet (I,69). Der Wunsch zu leben, bringen Ea / Nudimmud und die Göttersöhne zu der Erkenntnis, dass nur der Entscheid für Ruhe das Leben ermöglicht. Dazu sind Ea / Nudimmud alle Mittel recht: Dem Sieger bzw. dem Mächtigen wird Mord zum Guten, weil er ihm dient. Die Sehnsucht nach Ruhe und Leben rechtfertigt in Enūma Eliš den Tyrannenmord. Nachdem Ea / Nudimmud seine Feinde (Apsu und Mummu) beseitigt hatte, ruhte er (I,69-75). Aber die Erzählung geht weiter. Das Thema der Unruhe wird wieder aufgenommen. Das andere Lager, die von Tiamat abhängigen Göttersöhne, überschütten sie mit aggressiven Vorwürfen. Sie sprechen sogar von Liebesentzug (I,120) und fordern Tiamat ultimativ auf, mit gewaltsamen Mitteln gnadenlos auf den ihr und ihnen zugestossenen Verlust der Ruhe voller Kampfbereitschaft zu reagieren (I,112-II,2). Nun wird Tiamat selbst aggressiv. Sie wehrt sich, kämpft um Ruhe und ist bereit, böse zu handeln (II,3).
7
Ee I,35-45, Übersetzung: W.G. Lambert, TUAT III/4, 570f.
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Jetzt stehen sich zwei Götterkollektive gegenüber (vgl. I,110.120.130; III,20.78): hier die Götter um Tiamat und dort diejenigen um Anu, den Vater von Ea / Nudimmud. Der Gott Anu erschreckt Tiamat, die personifizierte Urflut, durch eine gewaltige Flut (I,108f.). Die Kommunikation der Götter untereinander ist völlig gestört. Es herrscht totale Unruhe, Krieg. Das Thema von Ruhe und Unruhe wird variiert. Ein bestimmtes Verhaltensschema bezüglich des Ruhemotivs wird in Enūma Eliš deutlich: die gestörte Ruhe provoziert Gewalt. Es ist ein bekannter Teufelskreis, dass Gewalt Gegengewalt hervorruft. Auch im weiteren Verlauf des Mythos wird dieses Schema in repetitiver Epik – d.h. indem ganze Textpassagen wörtlich wiederholt werden – narrativ fortgesetzt. Ein Seilziehen zwischen den verschiedenen Göttern beginnt, bis schliesslich Marduk / Bel das Zepter in die Hand nimmt. Er fordert Alleinherrschaft und beseitigt Tiamat auf Geheiss der anderen Götter (IV,31.103-105.128-132). Nach dieser Tat ruht Marduk / Bel (IV,135), so wie bereits Ea / Nudimmud ruhte, nachdem er Apsu, den Ahnen der grossen Götter, getötet hatte (I,69; I,73-75). Marduk / Bel wird schliesslich zum Gottkönig (II,127-162; III,59.117; IV,2830). Das Böse ist durch Gewalt besiegt. Jetzt hat der Gottkönig Marduk / Bel momentan Ruhe. Nun müssen die Götter dem Gottkönig einen Tempel bauen. Nach vollbrachter Arbeit dürfen auch diese Marduk / Bel unterstellten Götter ruhen (VI,51-54.130; vgl. VII,10f.). Nach der Erschaffung des Kosmos, der Erbauung von Babylon und der Schöpfung des Menschen wird bezeichnenderweise nicht erzählt, dass Marduk / Bel geruht hätte (V,1-VI,120). Nur die Bekämpfung des Bösen erschöpft Marduk / Bel so sehr, dass er ausruhen muss. Nach dem Schöpfungsakt hingegen kommt er nicht zur Ruhe. Neberu, das ist der 49te (VII,128) Name der insgesamt fünfzig Namen von Marduk / Bel, ist der allein bestimmende und gepriesene Gott. Er ist ruhelos tätig. Am Anfang der Erzählung ging es um Ruhe, im zweiten Teil um Macht. Der allmächtige Gott Babylons kommt nicht zur Ruhe.
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1.2. Die friedlich-idyllische Alternative in Gen 1,1-2,4a
Das Betrachten des Guten und das Aufhören zu wirken nach einer Anzahl von Schöpfungstätigkeiten sind zwei entscheidende Momente, die Gen 1,1-2,4a prägen. Das Wort „gut“ (tôv) begegnet siebenmal im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht. Immer nach einer abgeschlossenen Schöpfungstat wird diese als gut erkannt. Zum ersten Mal steht der Ausdruck kî tôv (dass gut) in Gen 1,4 nach der Erschaffung des Lichtes, ein zweites Mal in Gen 1,10 nach der Erschaffung der Erde und des Meeres, ein drittes Mal in Gen 1,12 nach der Erschaffung der grünen Pflanzen und Früchte, ein viertes Mal in Gen 1,18. – Der biblische Schöpfungsbericht fährt fort, indem er von der Erschaffung der Gestirne erzählt. Ausdrücklich genannt wird die Erschaffung der Sterne (Gen 1,16). Die für Babylon so wichtigen kosmischen Elemente Mond und Sonne werden dagegen unter die Himmelsleuchten subsumiert. Diese Nicht-Nennung von Mond und Sonne scheint absichtlich zu sein. Nach Dtn 4,19 (vgl. 2 Kön 23,5) ist der Anteil der Völker8 der Götzendienst. Sie dürfen andere Götter haben und das ganze Himmelsheer, Sonne, Mond und Sterne anbeten. Für Israel ist das strengstens verboten. – Ein fünftes Mal steht kî tôv in Gen 1,21 nach der Erschaffung der Fische und Vögel und ein sechstes Mal in Gen 1,25 nach der Erschaffung der verschiedenen Tiere. Nach der Erschaffung des Menschen als Mann und Frau – einander gleichgestellt – (Gen 1,27) ist das Schöpfungswerk offenbar abgeschlossen. Hier steht nichts von kî tôv. Erst in Gen 1,31stellt Elohim fest, dass wirklich alles sehr gut ist: wǝhinneh-tôv mǝʾod (und siehe sehr gut). Das Stichwort „gut“ stellt somit in Gen 1,1-2,4a ein siebenfaches Gliederungsmerkmal dar. Am siebten Tag schliesslich ruht (šabbat ) Elohim. Gen 1,1-2,4a vermittelt insgesamt eine friedlich-idyllische Stimmung. Die Macht Elohims wird nicht in Frage gestellt. Kampf und Auseinandersetzungen sind überhaupt kein Thema. Elohim ist 8
Vgl. M. Fieger, Art. Teil / teilen, 9. Anteil der Völker, Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet, www.wibilex.de (1.1.2011).
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und bleibt der Einzige. Nach vollbrachter Arbeit, nach Vollendung der Schöpfung, ruht Elohim.
1.3. Marduk / Bel und Elohim im Gegensatz
Marduk / Bel bekämpft seine Widersacher. Um die Alleinherrschaft zu erreichen, wendet Marduk / Bel Macht an. Die anderen Götter werden unterdrückt und depotenziert. Sie werden zwar von den Menschen in ihren Tempeln verpflegt, haben aber nur noch zu gehorchen. Von einer Freiheit dieser Götter kann nicht mehr die Rede sein. Er geht nach langen Kämpfen als einziger Gottkönig hervor. Endlich herrscht Ruhe und Ordnung. Ein klassischer Topos des absoluten Herrschers wird dabei deutlich. Marduk / Bel geht es um seine Macht; Elohim hingegen um die Schöpfung, von der er sagt, sie ist gut. Elohim übergibt dem Menschen seine Schöpfung. Marduk braucht die Menschen zur Pflege der Göttertempel. In Enūma Eliš haben die Menschen ausschliesslich eine dienende Funktion. In Genesis hingegen dient die Schöpfung dem Menschen. Der Mensch bekommt Verantwortung für die Schöpfung. Damit die Menschen dem Gottkönig besser dienen können, erhalten sie gemäss dem babylonischen Text in Fülle alles, was dazu notwendig ist. Marduk / Bel handelt folgendermassen: „der Reichtum auf die weite Erde regnen lässt und mit üppigem Grün versorgt.9 (VII,69)“ Auch an anderen Stellen wird beschrieben, wie der babylonische Gottkönig seine Geschöpfe mit Reichtum und Wohlstand beschenkt (VII,66.68). Die sich im Exil befindenden Juden hören im regelmässig vorgetragenen Enūma Eliš von den grosszügigen Wohltaten des babylonischen Gottes und entwerfen für sich ein Bild, nach dem die ganze Schöpfung in ihrer Vollendung und Fülle dem Menschen übergeben wird. Dies übertrifft bei weitem die Grosszügigkeit Marduk / Bels.
9
Übersetzung: W.G. Lambert, TUAT III/4, 599.
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Denn dieser schenkt ausgewählte Gaben, Elohim aber übergibt seine gesamte Schöpfung, von der er selber sagt, sie ist sehr gut. Marduk / Bel ruht nur nach der erfolgreichen Bekämpfung der Tiamat nachher nicht mehr. Elohim hingegen ruht nach sechs Tagen Arbeit. Das Motiv, dass Elohim ruht, begegnet im Alten Testament nur im priesterlichen Schöpfungsbericht. Zwar kennt die Priesterschrift wie Enūma Eliš den Erzählbogen, der sich von der Schilderung der Schöpfung bis zur Errichtung eines Tempels für eine allein bestimmende Gottheit spannt, doch sind Gewalt, Macht und Unterdrückung in der Darstellung des priesterschriftlichen Schöpfungsberichtes kein Thema.
1.4. Zusammenfassung
Aufgrund der vorgestellten Beobachtungen stellt sich die Frage, ob der priesterschriftliche Schöpfungsbericht die Krise des babylonischen Exils (586–539 v.Chr.) nicht dadurch zu verarbeiten sucht, indem das Böse ausgeblendet wird. Es wird ein idyllischer Urzustand beschrieben: frei von Machtgelüsten, frei von Neid und Misstrauen, frei von Angst, welche in der Folge Aggression bewirkt. Alles Erschaffene ist gut und wird aus der Retrospektive des babylonischen Exils und aus jedem späteren Rückblick als gut erkannt. Dieser idyllische Urzustand wird zum Topos, nicht nur für das Gute, sondern auch zum Topos für Ruhe. Gott hat diesen Ort des Guten und der Ruhe erschaffen. Die priesterschriftlichen Theologen schildern eine Alternative zu Enūma Eliš und entwerfen ein idyllisches Bild, das dem deportierten Volk helfen soll, sein Schicksal zu ertragen. Es wird der Glaube an eine gute Schöpfung vermittelt. Die priesterschriftliche Autorenschaft von Gen 1,1-2,4a war mit den Texttafeln aus Enūma Eliš vertraut und hat sich bewusst davon distanziert. Enūma Eliš ist nicht irgendein Text, ist nicht irgendein Schöpfungsbericht. Mit diesem Text haben sich die deportierten Judäer in Babylon intensiv auseinandergesetzt.
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2. Das Motiv des Wassers 2.1. Wasser versus Wasser
Im Anfang war das ungeschaffene Wasser: Apsu und Tiamat, beide Wasser. Diese vermischen sich (I,5): der erste Zeugungsakt ist vollzogen. Zuerst erwähnt wird der erste Erzeuger, Apsu, das Männliche, danach die erste Mutter, Tiamat. Das geschah „Als oben der Himmel noch nicht existierte und unten die Erde noch nicht entstanden war“ (I,1f.)10. Wie ein gesetzter Stempel klingt in I,9 die Aussage: aus dieser Wasserwelt wurden dann die Götter geschaffen. Die Personifizierung des Wassers ist vollzogen. Die Erschaffung der Götter macht erst Apsu und Tiamat zu Göttereltern und zu Schöpfern. In I,60-69 wird erzählt, wie der Weise und allwissende Gott Ea einen perfekten Plan ausarbeitet, nachdem er die Mordabsichten des Gottvaters Apsu erkannt hatte. Seine Beschwörungsformel, eine Art heiliger Austreibungsspruch, war gewaltig. Mit Hilfe des Wassers bewirkt er den Tiefschlaf des personifizierten Wassers Apsu. Wasser wird gegen Wasser eingesetzt. Man könnte I,63 so interpretieren, als würde das Wasser zur narkotisierenden Beruhigung beitragen. Es scheint, als trüge das Fluidum Wasser die Beruhigungsbeschwörung und bewirke Entspannung und Schlaf, damit Ea ihn schliesslich umbringen kann. Mit diesem Mord wird Ea mittels Absorption zu Apsu. Die Substanz wird verändert. Der Gott Ea baut auf dem Wasser Apsu seine Wohnung (I,71.76.81.f). Anu, der Ea zeugte, erschuf die Flutwelle. Diese Grundwelle wühlt nicht nur Tiamat auf (I,108-111), sie empört auch die Götter, die bei ihr sind, alle sind aufgewühlt und planen einen Aufstand. Nachdem die von Marduk / Bel gemachten sieben Winde sich hinter ihm aufgestellt hatten, um Tiamats Eingeweide, zu verwirren, erhebt 10
Übersetzung: W.G. Lambert, TUAT III/4, 569.
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der Gottkönig (IV,47-49) seine grosse Waffe die Sturmflut (Sintflut). Diese wirft er auf die wütende Tiamat (IV, 75f.). Winde, die von Marduk / Bel veranlasst, in den Leib der Tiamat bzw. des Wassers eindringen, führen zu einer Explosion (IV, 100). Den Tod von Tiamat, die Frau und Wasser zugleich ist, verursacht der durchbohrende Pfeil des Marduk / Bel (IV, 96-105). Tiamat wird ein zweites Mal umgebracht. Nach Tafel IV,128 ist Tiamat nicht getötet, sondern nur gebunden. Marduk / Bel setzt seine Füsse auf die unteren Teile Tiamats und mit seiner Waffe zerschmettert er ihren Schädel (IV,129f.). Er teilt ihren Körper in zwei Teile (IV,137). An dieser Stelle wird deutlich, dass das Motiv des Wassers im Zusammenhang mit der Schöpfung, die Marduk / Bel schafft, fortgesetzt wird. Aus der einen Hälfte lässt er den Himmel entstehen (IV,138. Vgl. IV,141-146) und trägt Sorge dafür, dass das sich in der Tiamat befindende Wasser nicht herausfliesst (IV,139f.). Am Himmel, im Bauch der Tiamat, werden Mond und Sonne angebracht (V,11-25.46), um über Nacht und Tag zu wachen. Aus dem Speichel der Tiamat werden die Wolken gemacht (V,47-49. Vgl. V, 50-52). Aus dem Kopf der Tiamat entsteht ein Berg, aus deren Tiefe eine Wasserquelle entspringt (V,53f. Vgl. VII,70). Aus ihren Augen liess er den Euphrat und den Tigris entspringen (V,55. Vgl. V,58). Nach Tafel VII, 83 ist Marduk / Bel der Schöpfer der Erde, die sich auf dem Wasser befindet (vgl. VII,60). In 1 Kön 7,23-26 wird gezeigt, wie man Urmächte in den Griff bekommt: man veredelt sie. Ein grosses Wasserbecken, dessen Bedeutung unklar ist, wird beschrieben. In Vers 23 heisst es: „er macht das Meer“. Mit „er“ ist nicht etwa Gott gemeint, sondern es handelt sich um einen Menschen: Hiram aus Tyrus (1 Kön 7,13), ein Bronzeschmied im Dienste Salomos. Interessant ist, dass dieses Meer sich im Allerheiligsten des salomonischen Tempels befindet. Hier ist das Meer vollkommen domestiziert. Da ist nichts mehr von Urgewalt und Kampf zu spüren. Aus dem archaischen Zustand, wie das Meer in Enūma Eliš beschrieben wurde, wird im Alten Testament ein Kunstwerk.
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2.2. tǝhôm und rāqîʿa im Alten Testament 2.2.1. tǝhôm, der unterirdische Ozean
Das Substantiv tǝhôm begegnet im Alten Testament nicht nur im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht Gen 1,2, sondern auch an fünfunddreissig weiteren Stellen, die nachstehend kurz skizziert werden. Der Vers Gen 1,2, der eine Beschreibung darstellt, besteht aus drei Teilen. In einem ersten Teil wird eine Aussage über den ungeordneten Zustand der Erde gemacht (Gen 1,2a). Weiterhin wird festgehalten, dass Finsternis über die Oberfläche der tǝhôm herrscht (Gen 1,2b) und, dass der Geist Elohims über der Oberfläche der Wasser schwebt. Könnte man daraus schliessen, dass tǝhôm bereits vorhanden war?ch habe Es fällt auf, dass die Bezeichnung tǝhôm in Gen 1,1-2,4a nicht mehr vorkommt, sondern im weiteren nur noch der assoziationsfreie Begriff Wasser (majim) benutzt wird. Wenn mit tǝhôm in Enūma Eliš die Tiamat gemeint sein sollte, ist es nicht erstaunlich, dass tǝhôm in Gen 1,1-2,4a nur ein einziges Mal vorkommt. Es soll hier nicht an eine mythische Person gedacht werden. Mit der weiteren Vermeidung des Ausdruckes zeigen die exilierten Juden einmal mehr, dass sie sich von dem ihnen vertrauten Text Babylons distanzieren. Es stellt sich die Frage, weshalb der Ausdruck tǝhôm überhaupt in Gen 1,1-2,4a aufgenommen wurde. Wohl um zu zeigen, dass man sich in Gen 1,1-2,4a für den Ausdruck majim (Wasser) entschieden hat. Wie kann man sich von der Semantik eines Wortes distanzieren, wenn man es nicht zitiert und anschliessend durch ein anderes ersetzt? Im Zusammenhang mit der Sintfluterzählung erscheint tǝhôm zweimal, einmal bei der Ankunft der Flut (Gen 7,11) und dementsprechend beim Rückzug des Wassers (Gen 8,2). Die tǝhôm ist gross und hat Quellen. An beiden Stellen wird die Vorstellung eines unterirdischen Wassers vorausgesetzt, denn im Gegenzug wird auch ein Wasser, das vom Himmel herkommt, erwähnt.
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Der Segen Jakobs über Josef lässt in Gen 49,25 eine auffallende Dreiteilung erkennen. Es geht um Segnungen des Himmels von oben, um Segnungen der tǝhôm, die unten liegt und schliesslich um Segnungen der Brüste und des Mutterleibes. Diese Dreiteilung erinnert an die neusumerische Trinität mit Anu im Himmel, Enki / Ea im Apsu und Enlil auf der Erde, wie sie im Atramchasis-Epos vorkommt. tǝhôm entspricht somit dem Apsu. Im Segen des Mose über den Stamm Josef dagegen in Dtn 33,13 wird aus der Dreiteilung eine Zweiteilung, nämlich nur Himmel und tǝhôm. Im Lied des Mose in Ex 15,5.8 wird deutlich, dass tǝhôm im Plural tǝhomot die Bedeutung „Fluten“ hat (ebenso in: Dtn 8,7; Ps 33,7; 78,15; 106,9). Dass tǝhôm im Plural auch die Bedeutung von „Tiefen“ einnehmen kann, erweist sich in Ps 71,20: Gott führt aus den tǝhomot der Erde herauf. Die Vorstellung eines unterirdischen Ozeans für tǝhôm wird auch in Ps 77,17; 104,6; 107,26; 148,7 deutlich. Aus Ps 135,6 wird eine Vierteilung des Kosmos ersichtlich, bestehend aus: Himmeln, Erde, Meeren und der tǝhôm im Plural. Die Vorstellung eines unterirdischen Ozeans für tǝhôm ist aus diesem Psalm gut ableitbar. Die Bedeutungen „Fluten“ und „Tiefe“ für tǝhomot bzw. tǝhôm fallen auch im Buch der Sprichwörter auf. Auch den Redaktoren der Sprüche 3,20 und vor allem 8,24.27.28, indem es um die Erschaffung der Schöpfung geht, ist die Vorstellung eines unterirdischen Ozeans für tǝhôm wahrscheinlich geläufig gewesen. Bei Ezechiel begegnet tǝhôm an drei Stellen. Im Zusammenhang mit der Klage über die Küstenstadt Tyrus lässt Gott in Ez 26,19 die unterirdische tǝhôm über die Stadt zur Strafe heraufsteigen. In Ez 31,4 ist es die tǝhôm, die die Zeder hoch aufwachsen lässt und in Ez 31,15 dagegen steigt die Zeder sogar in die Scheol hinab. Es fällt auf, dass in diesem Vers, Ez 31,15, Scheol und tǝhôm einander korrespondieren. Im Buch des Propheten Jesaja kommt tǝhôm bei Tritojesaja vor. Sowohl in Jes 51,10 als auch in 63,13 geht es um die Erinnerung an eine Heilstat Gottes, dem Durchzug durch die Fluten des Meeres.
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Was zur Materie wurde, wird im Buch Ijob wieder zur Person. Eine Angst vor vergangenen oder gegenwärtigen Mythen ist hier nicht zu erkennen. Im Buch Ijob begegnet tǝhôm jeweils in Verbindung mit dem Meer bzw. mit Wasser. Es handelt sich um metaphorische Aussagen, die eine mythologische Implikation ahnen lassen: in Ijob 28,14 spricht die tǝhôm, in Ijob 38,16 geht es um die Erforschung der tǝhôm, in Ijob 38,30 hat sie ein Angesicht und schliesslich in Ijob 41,(23)24 wird sie für graues Haar gehalten. Im Buch Ijob wird die tǝhôm somit personifiziert, steht aber im Dienste Gottes. In den wenigen Stellen, in denen tǝhôm in den Psalmen vorkommt, ist sie kein Mythos mehr, sondern Metapher. Im Glauben des Beters in Ps 36,7 ist die grosse tǝhôm gebändigt. Er hat keine Angst vor der Untiefe, weil er sich Gott anvertraut. Dem verzweifelten und depressiven Beter in Ps 42,8 werden die Fluten zu erschreckenden Erscheinungen. Die tǝhôm ruft der andern tǝhôm zu. Der Beter aber schreit zu Gott. Auch in den folgenden Stellen ist tǝhôm metaphorisch zu verstehen. Jona, der sich im Herz der Meere befindet (Jona 2,4), wird von der tǝhôm wie in einem Mutterleib umschlossen (Jona 2,6) und gemäss Hab 3,10 lässt die tǝhôm beim Anblick JHWHs ihre Stimme erschallen und hebt ihre Hände in die Höhe. Nach Am 7,4 frisst das Feuer die grosse tǝhôm. 2.2.2. rāqîʿa, der Himmel (haššāmajim)
Das Substantiv rāqîʿa begegnet siebzehnmal im Alten Testament und davon neunmal im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht (Gen 1,6.7{3x}.8.14f.17.20). Nach Gen 1,6 entsteht die rāqîʿa inmitten der Wasser und hat darin gemäss Auftrag von Elohim eine trennende Funktion. Gen 1,7 führt beschreibend aus, dass Elohim der Schöpfer der rāqîʿa ist, der eine Trennung zwischen den oberen und unteren Wassern vollzieht. Die rāqîʿa nennt Elohim selbst in Gen 1,8 im Plural Himmel (haššāmajim ). In Gen 1,14f.17.20 ist dann immer von rǝqîʿa haššāmajim die Rede. rǝqîʿa haššāmajim werden zu einem Begriff. haššāmajim löst nicht den Begriff rāqîʿa ab, wie hamajim (Wasser) den Begriff tǝhôm. Somit wird deutlich, dass die Semantik
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von rāqîʿa im Gegensatz von derjenigen von tǝhôm unbelastet ist. rāqîʿa kommt an folgenden weiteren Stellen vor: Im Psalter ist rāqîʿa an zwei Stellen anzutreffen. In Ps 19,2 entspricht haššāmajim (die Himmel) der rāqîʿa, beide preisen den Schöpfer: „Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes, und die rāqîʿa verkündet seiner Hände Werk“. Im letzten Psalm des Psalters, dem grossen Halleluja (Ps 150), verhalten sich das Heiligtum Gottes (Tempel) und die „rāqîʿa seiner Macht“ parallel zueinander. Mit „rāqîʿa seiner Macht“ ist der Himmel gemeint. Die irdische und die himmlische Wohnstätte, in der Gott anzutreffen ist, korrespondieren einander. In der apokalyptischen Literatur begegnet rāqîʿa fünfmal im Buch des Propheten Ezechiel (Ez 1,22f.25f.; 10,1) und einmal im Buch Daniel (Dan 12,3). In Ez 1,22 wird der Anblick der rāqîʿa mit einem furchteinflössenden Kristall verglichen. Nach Ez 1,25 ist oberhalb der rāqîʿa eine Stimme zu vernehmen und im darauffolgenden Vers, Ez 1,26, befindet sich ebenfalls oberhalb der rāqîʿa etwas wie ein Thron aus Saphirstein (vgl. Ez 10,1). Für Ezechiel eröffnet die rāqîʿa den Blick in die geheimnisvolle und furchterregende himmlische Sphäre Gottes. Nach Dan 12,3 leuchten die Verständigen gemäss dem Glanz der rāqîʿa.
3. Anthropologie 3.1. Das Menschenbild in Enūma Eliš
Nach VI,1 jubeln die Götter Marduk / Bel zu. Dies erweckt in seinem Herzen den Wunsch, kreativ zu werden (VI,2) und spricht zu seinem Vater, dem Gott Ea / Nudimmud (vgl. I,78-84): Lasst uns den Menschen machen. Dazu will Marduk / Bel Blut verwenden, um Knochen zu formen (VI,5). Die Arbeit der Götter soll von nun an dem Menschen auferlegt werden: dem Menschen die Arbeit – den
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Göttern die Ruhe (VI,8). Die Götter sind befreit von Arbeit. Ihr Privileg ist Ruhe. Die Ruhe wird den Menschen vorenthalten. Ea / Nudimmud schlägt Marduk / Bel vor, dass der Gott, auf dem Schuld liegt, ausgeliefert werden soll, damit Menschen entstehen (VI,11-16). Im weiteren Verlauf der Erzählung werden zwei Momente deutlich erkennbar: Eine Gerichtssituation mit Hinrichtung und die Erschaffung der Menschheit aus göttlicher Substanz. Kingu, Tiamats Heerführer, wird gebunden, als schuldig befunden und bestraft (VI,23-32). Er wird nicht als Stellvertreter bestraft, sondern, weil er der Kriegstreiber war. Aus Kingus Blut formt Ea / Nudimmud die Menschheit, um die Götter von ihrer Arbeit zu befreien (VI,33f.). Es wird von Menschheit gesprochen und nicht von Mann und Frau. Da es sich in Enūma Eliš um Götterpaare handelt, z.B. Apsu – Tiamat, versteht sich das Vorbild der Erschaffung von Mann und Frau von selbst. In VI,107 erhält Marduk / Bel den Auftrag, seine Geschöpfe, die die Schwarzköpfigen genannt werden, wie ein Hirte zu leiten (vgl. VI,124; Ps 23). Als Hirte hat Marduk / Bel die Aufgabe, die Menschen zu erziehen. Da er selbst die Opfer vollzieht, müssen die Menschen die Gaben vorbereiten. Marduk / Bel braucht Heiligtümer, daher befiehlt er den Menschen sie zu bauen. Er wurde beauftragt, zur Freude der Götter, Weihrauchduft entstehen zu lassen (VI,111). Also erzieht er die Menschen zum Kultdienst. Auf Erden soll man erkennen, was im Himmel geschah (VI,112). Der Mensch wird zur Liturgie erzogen. Ein zentrales Element dieser Liturgie ist die Verehrung von Marduk / Bel (VI,113). Wie die Menschen als lebende Wesen (VI,129) auf ihre Schöpfung zukünftig zu reagieren haben, wird in VI,108 festgehalten. Gegen das Vergessen werden die sie aufgefordert, von den grossen Taten ihres Schöpfers repetitiv zu erzählen. Dabei wird ein wichtiges pädagogisches Mittel deutlich. Weil die Menschen vergesslich sind und nicht mehr wissen, dass sie Geschöpfe sind und einen Schöpfer haben, sollen sie von den grossen Taten des Gottes Marduk / Bel immer wieder erzählen.
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Beim Studium der Übersetzungen von Lambert und Talon fallen erhebliche Unterschiede auf. So heisst es bei Lambert VI,113-120: (113) (114) (115) (116) (117) (118) (119) (120)
lass ihn die Schwarzköpfigen bestimmen, ihn zu verehren. Die untertänigen Menschen sollen daran denken und ihre Götter anrufen, da er es befahl, sollen sie ihre Göttinnen achten. Speiseopfer mögen (für) ihre Götter und Göttinnen gebracht werden, mögen sie nicht vergessen werden, sondern sie ihre Götter in Erinnerung halten, 11 und mögen sie … ihre …, ihre Heiligtümer … Auch wenn die Schwarzköpfigen irgendeinen, einen anderen Gott verehren sollten, ist er der Gott von einem jeden von uns!
Talons Übersetzung hingegen lautet folgendermassen: (113) (114)
(115) (116) (117)
(118)
(119)
11
Qu’il apprenne aux Têtes Noires à le révérer, (Er möge den Schwarzköpfigen beibringen, ihn zu verehren,) que les peuples se souviennent, que leur dieu soit invoqué! (dass die Völker sich daran erinnern, dass ihr Gott angerufen werden soll!) Qu’à son ordre, ils élèvent son Ištar, (Dass auf seinen Befehl, sie seine Ištar erheben,) Que soient apportées les offrandes, à leur dieu et à leur Ištar. (dass ihrem Gott und ihrer Ištar die Opfergaben dargebracht werden.) Que rien ne soit oublié, qu’ils entretiennent leur dieu, (dass nichts vergessen werden möge, dass sie ihren Gott unterhalten sollen,) que ceux-ci se manifestent dans leur pays, qu’ils se bâtissent leurs sanctuaires. (dass sie sich in ihrem Land darstellen, dass sie sich ihre Heiligtümer selber bauen.) Si les Têtes Noires sont partagées quant aux dieux, (Falls die Schwarzköpfigen uneins sind, was die Götter betrifft,)
Übersetzung: W.G. Lambert, TUAT III/4, 595, Anm. 118 a): „Trotz der grundsätzlichen Gleichförmigkeit aller erhaltenen Handschriften liegt in den Zeilen 116 – 118 eine beträchtliche Textverderbnis vor, für die es bisher keine Lösung gibt.“
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pour nous, de quelque nom que nous le nommions, il est seul notre dieu! (was uns betrifft, welchen Namen wir auch ihm geben würden, er allein ist unser Gott !)
VI,113 ist bei Lambert und Talon identisch übersetzt. In VI,114 übersetzt Lambert „die untertänigen Menschen“, Talon hingegen „die Völker“. In VI,115 übersetzt Lambert: „da er es befahl, sollen sie ihre Göttinnen achten.“ Talon hingegen „Dass auf seinen Befehl, sie seine Ištar erheben“. In VI,116 übersetzt Lambert „Speiseopfer mögen (für) ihre Götter und Göttinnen gebracht werden,“ Talon hingegen „dass ihrem Gott und ihrer Ištar die Opfergaben dargebracht werden“. In VI,117 übersetzt Lambert „mögen sie nicht vergessen werden, sondern sie ihre Götter in Erinnerung halten“, Talon hingegen „dass nichts vergessen werden möge, dass sie ihren Gott unterhalten sollen“. In VI,118 übersetzt Lambert nur „und mögen sie … ihre …, ihre Heiligtümer …“, Talon hingegen „dass sie sich in ihrem Land darstellen, dass sie sich ihre Heiligtümer selber bauen“. In VI,119 übersetzt Lambert „Auch wenn die Schwarzköpfigen irgendeinen, einen anderen Gott verehren sollten,“ Talon hingegen „Falls die Schwarzköpfigen uneins sind, was die Götter betrifft“. In VI,120 übersetzt Lambert „ist er der Gott von einem jeden von uns“, Talon hingegen „was uns betrifft, welchen Namen wir auch ihm geben würden, er allein ist unser Gott“. Talon schreibt von Ištar, Lambert hingegen nicht. Bei Talon wird dann aber nur von einem Gott gesprochen. Bei Talon handelt es sich um einen einzigen Gott mit verschiedenen Namen. Bei Talon haben die Völker mehr Eigenwillen. Talon spricht von Völkern nicht von Menschen. Völker sind in einem Verband stärker als einzelne Menschen, die unorganisiert sind.
3.2. Theologische Implikationen
In VI,35-38 wird eine wichtige erkenntnistheoretische Aussage gemacht. Der zentrale Inhalt dieser beiden Verse ist der Folgende: Die
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Erschaffung der Menschheit ist unmöglich zu begreifen. Marduk / Bel hat auf wunderbare Weise das Chaos beseitigt, für Ordnung gesorgt. Dank dieser Voraussetzung wurde die Erschaffung der Menschheit durch Ea / Nudimmud möglich. Sowohl Lamberts wie Talons Übersetzungen veranschaulichen diese Behauptung: Nachdem der weise Ea die Menschheit geschaffen hatte und den Dienst für die Götter ihr auferlegt hatte – dieses Werk ist unmöglich zu begreifen, 12 denn mit der Kunstfertigkeit Marduks hat Nudimmud geschaffen …
Der Vater wirkt durch die Kraft des Sohnes. Dies ist eine äusserst erstaunliche Feststellung, denn in Gen 1,1-2,4a gibt es nur eine Schöpferkraft. Alles geht von ihr aus. Anu ist gleich Anschar (I,15) und Nudimmud / Ea, der Sohn Anus, ist Anu gleich (I,16). Marduk / Bel ist der „Schöpfer seiner göttlichen Eltern“13 (VII,97). Hinter dieser Aussage steht die Vorstellung einer Eingott Lehre. Marduk / Bel vereinnahmt fünfzig erläuternde Namen (VI,121ff.), wie wenn er die Bedeutung jedes einzelnen Namens in sich aufnehmen wolle. Dies ist eine Art Potenzerweiterung. Der jüdische Gott braucht keinen Namen, der ihn beschreibt, denn seine Macht lässt sich nicht in Namen fassen (vgl. Ex 3,13-15). Es stellt sich die Frage, ob die jüdische Vorstellung, dass Elohim die Gesamtheit der Geschöpfe erschuf, von folgender Stelle in Enūma Eliš beeinflusst wurde: „créateur de la totalité des peuples, celui qui a fait les régions du monde“14 (Schöpfer der Gesamtheit der Völker, derjenige, der die Regionen der Welt erschuf; VII,89).
12 13 14
Übersetzung: W.G. Lambert, TUAT III/4, 592f. Übersetzung: W.G. Lambert, TUAT III/4, 600. Übersetzung: Ph. Talon, Enūma Eliš, 106.
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3.3. Der Mensch in Gen 1,26-29 und in Enūma Eliš
Die Unterschiede bezüglich der Erschaffung des Menschen in Gen 1,26-29 und Enūma Eliš sind offenbar so gross, dass eine Abhängigkeit im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung mit einem zugrunde liegenden Inspirationsmuster vorhanden zu sein scheint. Folgende brisante Unterschiede fallen auf: Der als Mann und Frau erschaffene und vegetarisch lebende Mensch soll herrschen bzw. unterwerfen und nicht dienen. Auch wenn Marduk / Bel über ein überdimensionales, menschliches Aussehen verfügt, fehlt in Enūma Eliš die Behauptung, dass der Mensch ein Bild (ṣælæm) bzw. ein Aussehen (dǝmût) hat, das der Gottheit korrespondiert. Beim näheren Hinsehen jedoch relativieren sich die Unterschiede. Sowohl in Enūma Eliš als auch in Gen 1,26-29 übernimmt das Geschöpf namens Mensch eine Verantwortung. Hier den stellvertretenden Dienst für die Götter dort das Herrschen bzw. Unterwerfen. Innerhalb der friedlich-idyllischen Atmosphäre von Gen 1,1-2,4a haben die Verben „herrschen“ bzw. „unterwerfen“ eine im Alten Testament einzigartig positive Konnotation, im Sinne eines verantwortungsvollen Dienstes an der von Elohim gemachten Schöpfung. Die Stellung des Menschen erfährt dadurch eine Aufwertung. In Enūma Eliš weisen die Götter in ihrem Verhaltensmuster derartig menschliche Züge, dass es selbstverständlich ist und somit unausgesprochen bleibt, dass der Mensch im Bild der Götter und somit aus seiner Substanz, aus göttlichem Blut (VI,5), geformt wurde. Daher ist es folgerichtig, dass der Mensch im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht ein Bild bzw. ein Aussehen hat. Die Idee, ihn zu erschaffen, wird kollektiv mit der nicht näher beschriebenen Aufforderung „lasst uns (den) Menschen machen“ zum Ausdruck gebracht. Auch die nähere Präzisierung als Mann und Frau, als gleichberechtigte Geschöpfe, ergibt sich aus der Überlegung, dass die Menschen, wie die Götter untereinander, gleich sind und sich nur von Marduk bzw. Elohim unterscheiden. In Enūma Eliš gleichen die Götter den Menschen in Gen 1,26-28 dagegen gleichen die Menschen Gott. Sich als Mensch ein Bild von Gott zu machen, wird in der priesterschrift-
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lichen Theologie verboten (Ex 20,4f.). Der Vorstellung einer Projektion wird somit gezielt entgegen gewirkt, denn der Mensch könnte das, was auf Erden ist, wie die Babylonier in den Himmel projizieren. Der Mensch ist in Genesis nach dem Bild Gottes geschaffen worden, darf sich aber kein Bild von Gott machen.
3.4. Das Bild der Götter in Enūma Eliš
Die Anthropologie von Enūma Eliš lässt sich vor allem aus den Aussagen über die Götter erschliessen, denn ihr Aussehen und Verhalten ist das von Menschen. Sowohl menschliche Körperteile und Organe, zwei Geschlechter mit familiären Bindungen, Emotionen und menschliche Verhaltensweisen als auch ein König mit seinem Hofstaat begegnen in der Sphäre der Götter. Die Frage nach einem Vorbild und nicht nach einer Projektion drängt sich somit zwangsläufig auf. Denn eine Projektion führt letztlich zur Ausschliessung von Gott. Die folgenden Abschnitte erläutern diese Behauptung. 3.4.1. Körperteile und Organe
Der Körper der Götter besteht in Enūma Eliš aus dem Kopf (IV,130), dem Mund (IV,100), den Augen (I,121), den Ohren (II,49.79), dem Bauch (IV,99.101), den Händen (II,94.118; V,133.135) und Füssen (IV,129). Die Lippen werden besonders hervorgehoben. Folgende Wendungen fallen auf: Auf die Lippen beissen (II,50), mit zusammengepressten Lippen sitzen (II,122), Lippen küssen (II,138), in den Lippen eine Beschwörung halten (IV,61; vgl. IV,72), Lippen nicht schliessen können (IV,98). Neben den Eingeweiden (IV,102), den Knochen (VI,5) und den Adern (IV,131) voller Blut (I,136; VI,5.32f.) nimmt das Organ Herz (I,31.90; II,51.61.72.100.137.154; IV,100.102) eine zentrale Rolle ein. Das Leben (IV,103) kann ein Ende nehmen und der leblose Körper wird schliesslich zu einem Leichnam (IV,104). Nur der überragende und ewig lebende (VII,134) Marduk / Bel verfügt über ein
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überdimensionales menschliches Aussehen mit ausgeprägten Sinnesorganen. Vier Augen und vier Ohren, Lippen und eine ausserordentliche Höhe zeichnen ihn aus (I,87-100). 3.4.2. Zwei Geschlechter mit familiären Bindungen
Von Mann (II,92.116.143) und Frau, Vater und Mutter, Sohn und Tochter und auch von Brüdern (VI,91) ist in der Sphäre der Götter öfters die Rede. Vater15 und Sohn16 werden besonders betont. Nach II,127-136 verhilft der Vater dem Sohn eine hervorragende Position einzunehmen. Zwischen den Geschlechtern gibt es Konflikte (II,144). Fokussiert wird die Stärke des Mannes. Folgende Aussage wird zweimal erwähnt: „Auch wenn die Stärke einer Frau sehr gross ist, ist sie nicht der eines Mannes gleich.“17 (II,92.116). In VI,87 wird paradoxerweise der Bogen des Marduk / Bel als „Tochter“ des Anu bezeichnet. In Enūma Eliš werden die Götter meistens als zweigeschlechtliche Paare in genealogischer Reihenfolge präsentiert. Apsu und Tiamat, das Urpaar (I,3-5.113.117), bringen zwei Geschwisterpaare, Lachmu und Lachamu gefolgt von Anschar und Kischar, hervor. Es wird betont, dass das zweite Paar das Erste übertraf, vermutlich in der Vollkommenheit (I,10-12). Anu ist der Sohn von Anschar und Kischar (I,14f.). Anu, dessen Partnerin nicht genannt wird, zeugt Nudimmud / Ea (I,16). Mit Damkina, seiner Gattin, zeugt Nudimmud / Ea den Bel / Marduk (I,78-84). Die Besonderheit von Marduk / Bel wird dadurch unterstrichen, dass er alleine ist. In I,45f. erweist Tiamat mütterliche Gefühle voller Verständnis, obwohl der Lärm, den ihre Kinder durch lautes Spielen verursachen, sie stört (I,22-24.112.119; vgl. IV,80). Tiamat wird in I,133; II,19; III,23.81 Mutter Chubur18 genannt, die alles erschaffen hat (vgl. 15 16 17 18
Ee II,60f.85.91.107.109.125.127.131.135.139.145; IV,44; VI,71.83.85.126. Ee I,14f.; II,53.73.96.132.149; V,109.153; VI,105.127. Übersetzung: W.G. Lambert, TUAT III/4, 577f. Ein Fluss in der Unterwelt. Vgl. W.G. Lambert, TUAT III/4, 573, Anm. 133a.
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II,11). Tiamat erweist sich nach dem Tod ihres Gatten Apsu als eine entschiedene, selbstbewusste und auf Ratschläge eingehende Herrscherin, die fähig ist, ein furchterregendes Heer mit einem von ihr ernannten Kommandanten an der Spitze zu organisieren.19 3.4.3. Emotionen
Neben dem Gefühl der Freude, das in Enūma Eliš oft vorkommt,20 der Liebe (I,120), des Küssens und Umarmens (II,138; III,132), des Jubelns und Lachens (I,90) begegnen dem gegenüber auch Gefühle der inneren Unruhe (II,51), der Angst und der Furcht (II,90.114.138; IV,108) und schliesslich der aggressiven Wut (I,25.42f.; II,5052.56.78.89f.95.113f.; IV,88f.), der Verwirrung und Verzweiflung (I,22f.109.116.119; II,49). 3.4.4. Verhaltensweisen
Verschiedene Verhaltensweisen aus Enūma Eliš werden im folgenden Katalog zusammengetragen: Beruhigende Worte sprechen (II,59f.65.71.101f.135), rhetorische Fragen stellen (II,143f.), befreien (VI,49), ein ästhetisches Gefühl aufweisen (V,89; VI,2.38; VII,112.116), ruhen und schlafen (I,38.40.50.64f.75.110.120.122), schweigen (II,122), bitten (II,102), sich versammeln (I,132; II,33.39.158; IV,106), festlich speisen und feiern (III,9.133-136f.; V,130; VI,71.75), Bedingungen stellen (II,156), Wünsche erfüllen (II,140.142), Schwäche eingestehen (II,85.109), Gefallen tun (VI,50.57-64), segnen (IV,28), fluchen (VI,97), der Magie verfallen sein (IV,22.25f.), beschwören (II,78.86.110.150), an ein Schicksal glauben (I,157; II,61.63.155.158.160; III,10.62.65.118.120.123.138; IV,4.6), streiten (I,42-44.112-124.132; II,4.36.54-56), Böses tun (I,52; II,3; IV,18), schuldig sein und strafen (VI,16.26.32), eine Tat rächen (II,156; III,10.58.138; IV,13), Waffen tragen (IV,16.30) und schliesslich Krieg führen (I,123.131; II,2.17.36.53; IV,31-56.86.93-96). 19 20
Ee I,126-162; II,1f.92.116. Ee I,31.51.90.132.135.137.145.147.153f.159; IV,28.133; VI,73.
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Das kluge Handeln wird besonders hervorgehoben. Ea / Nudimmud ist der Schöpfer der Weisheit (II,58, vgl. I,18; II,57). Dieser weist in II,4-9 einen klugen Umgang mit einer schlechten Nachricht auf. Folgende drei Schritte fallen auf: Nachdem die schlechte Nachricht vernommen wird, folgt eine Phase des absoluten Stillschweigens. Danach das Überlegen, das auf die innere Wut entspannend wirkt. Das resultierende Handeln schliesslich stellt den letzten Schritt dar. Auch der Umgang mit seinem Grossvater Anschar, der ihm wegen seines Verhaltens Vorwürfe macht, ist auffallend. Ea / Nudimmud beginnt die Begründung seines Verhaltens dadurch, dass er zunächst Grossvater Anschar auf seine vortrefflichen Eigenschaften hinweist (II,57-70). Auch sein Sohn Marduk / Bel ist mit aller Weisheit vertraut (II,149) und macht in vollen Zügen Gebrauch davon, indem er Anschar mit rhetorischen Fragen überzeugt, dass er der Richtige sei, um die Gefahren, die von Tiamat ausgehen, zu bändigen (II,150). Das Verhalten von Marduk / Bel wird in VI,137f. folgendermassen beschrieben: „Wild und doch besonnen, ärgerlich und doch nachgiebig, sein Sinn ist weit, sein Herz umfassend.“21 Auch eine ausgeprägte Dialogkultur ist in Enūma Eliš festzustellen: Mehrere mitreissende Dialoge sind zu verzeichnen: Apsu – Mummu (I,29f.;47); Tiamat – Apsu (I,45f.); Götter – Tiamat (I,112; 125); Ea / Nudimmud – Anschar (II,11f.49f.); Anschar – Anu (II,96); Ea / Nudimmud – Marduk / Bel (II,131); Marduk / Bel – Anschar (II,139). 3.4.5. Der König und sein Hofstaat
Der König mit seinem Hofstaat ist auch in der himmlischen Sphäre anzutreffen. Von der Götterversammlung erhält Marduk / Bel das Königtum über das ganze Universum (IV,14; VI,99). Als Würdezeichen erhält er Zepter, Thron und Rundstab (IV,29; vgl. V,9395.113.124.154; VI,20.39). Ihm steht auch ein Thronsaal zur Verfü-
21
Übersetzung: W.G. Lambert, TUAT III/4, 596.
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gung (V,104; vgl. VI,93). Gegenüber seinem Hofstaat weist Marduk / Bel ein absolutistisches Gehabe auf (II,161f.).
4. Zusammenfassung Laut Genesis schafft Gott Himmel und Erde. Von der Unterwelt ist nicht die Rede und die Vorstellung, dass nur der Himmel eine göttliche Sphäre sein könnte, wird nicht thematisiert. In Enūma Eliš herrscht Chaos im Himmel und dieses wird beschrieben. In Genesis wird Chaos nur mit der Erde in Verbindung gebracht. Dort, wo Gott nicht ordnet, ist Chaos. Die Juden haben die Vorstellung vom Chaos übernommen und anders ausgelegt. In Enūma Eliš ist es der Geist der Unruhe, des durcheinander Wirbelns, der das Chaos verursacht. Chaos heisst Streit und Kampf, ein Drunter und Drüber von menschlichen Schwächen. Elohim ist der Gott, der zuerst ordnet und dann schafft. Die jüdischen Exilanten stellen sich die Schöpfung als eine friedlich-idyllische Oase vor. Weder in Enūma Eliš noch in Genesis, weder bei Marduk / Bel noch bei Elohim wird irgendeine Partnerschaft erwähnt. Diesen Gedanken haben die exilierten Juden von Enūma Eliš übernommen. Im Gegensatz dazu gibt es in Gen 1,1-2,4a keinerlei Vorstellung einer familiären Bindung; ebenso fehlen in diesem Text Emotionen. Der babylonische Gott erfährt eine sehr differenzierte Charakterisierung, hingegen gibt es keine Beschreibung für Elohim, die ihn definiert. In Enūma Eliš sind die Elemente Wind (Marduk / Bel) und Wasser (Tiamat) Götter, in Genesis dagegen liegt über der tǝhôm Finsternis, über dem Wasser der Geist Elohims. In Enūma Eliš werden die Menschen aus Blut eines schuldigen Gottes, der zum Tode verurteilt worden war, geformt (VI,29-33; vgl. VI,5). In Genesis wird der Mensch nach Gottes Bild geschaffen.
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Dadurch erhält der in Genesis erschaffene Mensch eine grundlegend andere Wertschätzung. Die Art und Weise der Menschbildung wird in Gen 1,1-2,4a nicht thematisiert. Der Gedanke, dass der Mensch aus Blut entstanden sein könnte, ist für priesterschriftliche Autoren unvorstellbar, absurd. Der Auftrag ist ein anderer. In Genesis soll der Mensch Verantwortung übernehmen, in Enūma Eliš muss er dienen. Einmal mehr distanziert sich der Schöpfungsbericht in Gen 1,1-2,4a gezielt vom babylonischen Schöpfungsbericht. Obwohl die folgenden Ausführungen über das Thema hinausgehen, seien sie hier kurz angedeutet. Im Alten Testament stehen weitere Texte, von denen man sagen kann, dass der Impuls von Enūma Eliš stammen könnte. So steht z.B. in VII,26.30 „der die Toten wiederbelebt“ (VII,26)22, „in dessen Macht es steht, wiederzubeleben“ (VII,30)23. Es ist verständlich, dass die Propheten solche Heilsgedanken aufnehmen, befand sich das Volk doch in babylonischer Gefangenschaft. Die apokalyptische Vorstellung im Buch des Propheten Jesaja soll trösten: „Sie werden leben, deine Toten. Meine Leichen werden auferstehen“ (Jes 26,19a). Des Weiteren verheisst Ez 37 an zentraler Stelle folgendes: „So sprach der Herr, JHWH, zu den Gebeinen, denselben: Seht, ich selbst bringe in euch Geist und ihr lebet“ (37,5). So wird den Juden die Angst genommen, in fremder Erde verloren zu gehen: von den Seinen geht niemand verloren, auch wenn sie noch so zerstreut sind. Wenn in Enūma Eliš ein Gott aus Blut und Knochen (VI,5) Menschen machen kann, so ist es JHWH möglich, den Menschen aus „Asche“ wieder zu beleben.
22 23
Übersetzung: W.G. Lambert, TUAT III/4, 598. Ibid., 598.
Göttliche Reue und menschlicher Trost Der Mythos der Zerstörung der Schöpfung und des Überlebens in der Katastrophe im Diskurs der biblischen Sintfluterzählung JÖRG LANCKAU
1. Fragestellung und Ziel Der vorliegende Aufsatz geht auf die Vorlesung „Mythen und Mythenbildung in der Tora“ zurück, zu der ich auf Einladung von Prof. Dr. Michael Fieger an der Theologischen Hochschule Chur eine Analyse der biblischen Sintfluterzählung beitragen durfte. Ganz selbstverständlich haben wir beide vorausgesetzt, dass es Mythen oder zumindest mythische Stoffe, Motive oder Erzählungen im Pentateuch wirklich gibt. Bei unseren Hörerinnen und Hörern jedoch kam das nicht als selbstverständlich an. Kein Wunder, wird doch umgangssprachlich der Begriff „Mythos“ als Gegensatz zu einem Tatsachenbericht, ja zur Wahrheit schlechthin verstanden. Der Mythos steht mit dieser Abwertung heute nicht ganz allein. Wer einem anderen versucht, Märchen zu erzählen, steht schnell als Lügner da. Sagen und Legenden lassen moderne Menschen vielleicht erschauern, als „wahr“ gelten jedoch auch sie nicht. Der Begriff „Wahrheit“ ist zwar philosophisch gewichtig, aber umstritten. Historisch „richtig“ ist entsprechend heutiger, linearer Geschichtsauffassung allein das, was empirisch belegbar geschieht oder geschehen ist. Entsprechend kann kein biblischer Schöpfungsbericht mehr „richtig“ liegen, weil sich nach empirischer Überprüfung und Theoriebildung heute eine andere Sicht der Genese des Universums nahe legt. Eine „Wahrheit“ der Aussagen der biblischen Sintfluterzählung wäre in diesem Sinn
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nur bewiesen, wenn eine lokale oder globale Flut auch empirisch nachgewiesen werden könnte. Wir laufen in eine Sackgasse. Wir werden mit solchen Fragen nicht verstehen können, was ein biblischer Text vom Typ „Urgeschichte“ aussagen möchte. Wir werden nicht begreifen, solange wir uns nicht mit den Diskursen seiner Autoren und ihrer antiken Hörer und Leser auseinandergesetzt haben, mit ihrer ureigenen Sicht auf sich selbst und auf ihre Umwelt. Die antike Welt ist eine vormoderne Welt. Wir werden deshalb nichts von ihr verstehen, solange wir sie nur als dunkle Folie benutzen, um das Licht der Aufklärung und der ihr folgenden Moderne heller strahlen zu lassen. Die von uns konstruierten historischen Epochen erscheinen uns „dunkel“, und zwar im doppelten Sinn von „unverständlich“ und „grausam“. Aber bereits vor knapp einhundert Jahren hatten sich wache Zeitgenossen angesichts des Ersten Weltkriegs von der aufklärerischen Euphorie verabschiedet, dass sich die Menschheit in ethischer Hinsicht stufenweise höher entwickeln würde. Was uns heute als Lichtblick bleibt, ist nicht unser rasanter technologischer Fortschritt, sondern die Demokratisierung des Wissens selbst. Nur was in der Antike mündlich überliefert oder material geformt wurde, war prinzipiell auch dem einfachen Volk zugänglich. Die materiale Kultur Kanaans, Israels, Judas und ihrer weiteren Umwelt ist ausserordentlich reich. Sie gibt uns gute Auskünfte über die Weltbilder und Vorstellungen ihrer Schöpfer und Nutzniesser. Was aber im Altertum geschrieben wurde, wurde von Eliten geschrieben und war nur für Eliten bestimmt. In diesem Zuge wurden die Inhalte diskutiert und die Texte meist mehrfach überarbeitet. Biblische Texte bilden davon keine Ausnahme. Keiner von ihnen wurde, zumindest in heutiger Form, vor der exilischen Zeit schriftlich festgehalten, obgleich wesentlich ältere Inhalte aufgenommen wurden. In diesem Beitrag möchte ich den „mythischen Gehalt“ und die spezielle Aussageabsicht der biblischen Sintflutgeschichte untersuchen. Ich frage nicht primär nach ihrer literarischen Genese oder ihrer Funktionalität im Ganzen des Pentateuchs, sondern nach der Rezeption von mythischen Stoffen, Motiven und Aussagen. Damit frage ich auch nach der literarischen Auseinandersetzung mit Mythen
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überhaupt und umgekehrt nach Spuren von „Mythenbildung“ in der biblischen Sintflutgeschichte. Ich werde in diesem Rahmen weder die gesamte Sintflutgeschichte kommentieren noch jedes Detail der gemeinsamen Überlieferung ausführlich untersuchen können. Dazu sei auf die umfangreiche Literatur verwiesen. Ich beschränke mich auf vier Problemfelder, an denen der israelitisch-jüdische Mythendiskurs besonders gut sichtbar wird: die Figur des Fluthelden, die Rolle Gottes, der Begründungsrahmen der Flut und die Bedeutung des rettenden Fahrzeugs, der Arche. Drei Vorüberlegungen erscheinen mir dazu nötig: eine Bestandsaufnahme der gemeinsamen Flutüberlieferung, eine methodische Entscheidung zur umstrittenen Textgenese von Gen 69 und eine terminologische Reflexion zum Begriff des Mythos.
2. Vorüberlegungen 2.1. Die vorderorientalisch-levantinische Flutüberlieferung
In der biblischen Sintfluterzählung erscheint eine gemeinsame vorderorientalische Flutüberlieferung, wobei offen bleibt, ob diese auf eine einzige ursprüngliche Quelle zurückzuführen ist. Daher bietet der religionsgeschichtliche Vergleich einen heuristischen Ausgangspunkt für meine Überlegungen. Die früheste Überlieferung eines literarisch entfalteten Sintflutstoffes findet sich in der fragmentarisch erhaltenen Erzählung von Ziusudra1 von Shuruppak in der sumerischen Eridu-Genesis aus der 1. Hälfte des 2. Jts. v.Chr. (i.F. Eridu).2 1 2
Die Schreibweise variiert: zi.u4.sud4.ra2 bzw. zi.ud.su3.ra2. Edition: A. Poebel, PBS 5 (1914), Nr. 1; Übersetzungen: S.N. Kramer, in: J.B. Pritchard (Hg.), ANET2–3, 42ff.; M. Civil, The Sumerian Flood Story, in W.G.
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Die sumerische Königsliste3 zitiert in einigen Versionen diese Flutüberlieferung, entsprechende Passagen könnten allerdings anderen Ursprungs als die übrigen sein. Die Liste legitimiert die Institution des Königtums: The Flood swept over [the land]. After the Flood had swept over [the land] and kingship had descended from heaven [for a second time], Kish became 4 the seat of Kingship…
Das „vom Himmel hinabgestiegene“ Königtum konnte nach der Eroberung einer neuen Stadt jeweils auf diese übertragen werden. Die sumerische Königsliste unterscheidet die Genealogien vor und nach der Flut, wobei die vorflutlichen Könige mythologische Züge besitzen, z.B. Regierungszeiten von mehreren zehntausend Jahren. Je näher die Könige der Erzählzeit kommen, desto realistischer werden die Angaben. Vergleichbares lässt sich zwar auch in Gen 5 und 11 beobachten, aber die Unterschiede der Texte sind nicht zu unterschätzen.5 Der letzte vorflutliche König Urbatutu ist der Vater des Helden Ziusudra, der vom Gott Enki erwählt wird, mit seiner Familie aus der Flut errettet zu werden. Vom gleichen Rettergott ist in den Tafeln II v 13 – III viii des altbabylonischen Atra-ḫasīs-Epos (Atramchasis, kurz Atr) ausführlich die Rede. Mit diesem Epos liegt eine breit entfaltete Sintflutüberlieferung vom gleichnamigen Helden vor. Die ältesten Kopien stammen
3
4 5
Lambert, A.R. Millard, Atra-Hasīs. The Babylonian Story of the Flood, Oxford 1969, 138-145; W.H.Ph. Römer, TUAT III/3, 448-458. Weld-Blundell Prism: Ashmolean Museum, Oxford, AN1923.444; Edition: T. Jacobsen, The Sumerian Kingslist, AS 11 (1939); vgl. ders., The Eridu Genesis, in: R.S. Hess, D.T. Tsumara (Hg.), „I Studied Inscriptions from before the Flood. Ancient Near Eastern, Literary, and Linguistic Approaches to Genesis 1-11, Sources for Biblical and Theological Study 4, Eisenbrauns 1994, 129142; D.O. Edzard, Art. Königslisten und Chroniken. A. Sumerisch, RlA 6, 7786. Internet: ETCSL (Electronic Text Corpus of Sumerian Literature) with English Translation, http://etcsl.orinst.ox.ac.uk (24.1.2011). T. Jacobsen, op. cit., 77. Vgl. Pritchard, ANET, 265; W. Beyerlin, RTAT, 114. G.F. Hasel, The Genealogies of Gen 5 and 11 and Their Alleged Babylonian Background, AUSS 16 (1978), 361-374.
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aus dem 17. Jh. v.Chr.,6 sie sind also bereits früher als die EriduGenesis oder etwa zeitgleich zur sumerischen Flutüberlieferung entstanden. Zu diesem Epos gehört auch ein lokal bearbeitetes ugaritisches Fragment (RS 22.421).7 In der berühmten Tafel XI des in verschiedenen Fragmenten überlieferten, akkadischen Gilgamesch-Epos (Gilg)8 wird ein ausführlicher Ich-Bericht des Fluthelden Utnapischtim an die Hauptfigur Gilgamesch eingeflochten. Dieser Bericht ist aber mit dem übrigen Stoff allein durch das Lebensmotiv verbunden.9 Es tauchen andere Götter auf (Ea) bzw. spielen eine andere Rolle (Ištar) wie im übrigen Text v.a. der ninivitischen Fassung. Der Flutheld wird trotz des veränderten Namens wie in der sumerischen Königsliste als Sohn Ubartutus aus Schurippak bezeichnet. Es wird meist angenommen, dass der Text des Epos bereits in kassitischer Zeit, dem 12. Jh. v.Chr. standardisiert vorlag, die XII. Tafel ist allerdings wohl ein späterer Anhang, der aus dem Sumerischen übersetzt wurde. 10 Neuassyrische und neubabylonische Textzeugen bieten das von Kabti-ilani-Marduk um das 8. Jh. v.Chr. verfasste akkadische Epos von Išum und Erra.11 Das Werk zitiert den Sintflutstoff im Zusam6
7 8
9 10 11
Vgl. u.a. die Tafel BM (ME) 78941. W.G. Lambert, A.R. Millard, Atra-Hasīs. The Babylonian Story of the Flood, Oxford 1969; W. von Soden, Der altbabylonische Atramhasis-Mythos, TUAT III/4, Gütersloh 1993, 612-645; D. Shehata, Annotierte Bibliographie zum altbabylonischen Atra-ḫasīs-Mythos Inūma ilū awīlum, Göttinger Arbeitshefte zur altorientalischen Literatur 3, Göttingen 2001, 121-165. Vgl. R. Oberforcher, Art. Sintfluterzählungen, NBL III, 608-612, hier 609. A.R. George, The Babylonian Gilgamesh Epic. Introduction, Critical Edition and Cuneiform Texts. Vol. I + II, Oxford 2003; Übersetzungen: K. Hecker, Das akkadische Gilgameschepos, TUAT III/4, 646-744; S.M. Maul, Das Gilgamesch-Epos. Neu übersetzt und kommentiert, München 2005. Zum „Dichter“ Sîn-lēqi-unnini vgl. A.R. George, op. cit., I, 28-33. Vgl. R. Oberforcher, op. cit., 609; M. Jursa, Die Babylonier. Geschichte, Gesellschaft, Kultur, München 2004, 118-122. George, op. cit., 411-415.508-521.702-717.878-893; Maul, op. cit., 140-147. Edition: P.F. Gössmann, Das Erra-epos, Würzburg 1956; L. Cagni, L´Epopea di Erra, SS 34, Roma 1969; ders. Das Erra-Epos. Keilschrifttext, Studia Pohl
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menhang mit dem Motiv des Restes der Überlebenden, das auch in der prophetischen Literatur der Bibel eine wichtige Rolle spielt.12 Der babylonische Bēl-Marduk-Priester Berossos13 (340-270 v. Chr.) nennt seinen Helden nach dem sumerischen Ziusudra griechisch Xisuthros (Ξίσουθρος). Sein aus vielen antiken Zitaten bekannte Werk Babyloniaca gibt die mesopotamische Überlieferung in griechischer Sprache wieder (i.F. Ber.Bab), freilich kann es heute die inzwischen gefundenen Primärquellen nur ergänzen.14 In der griechisch-römischen Literatur klingt der sumerischbabylonische Flutstoff variantenreich an: Die griechische Tradition kennt zwei Fluten, zum einem im überlieferten Sagenkreis um Deukalion und Pyrrha bei Apollodoros, die sogenannte „deukalische“ Flut,15 und zum anderen die „ogygische“ Flut zu Zeiten eines boöthi-
12 13
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5, Roma 1970; ders., The poem of Erra, SANE 1/3, Malibu Calif. 1974; vgl. D.O. Edzard, Art. Irra (Erra)-Epos, RlA 5, 165-170; Übersetzung: G.G.W. Müller, Ischum und Erra, TUAT III/4, 781-801. Vgl. D. Bodi, The Book of Ezekiel and the Poem of Erra, OBO 104, Freiburg CH und Göttingen 1991, 288-293. Die griech. Schreibweise variiert: Βηρωσσος oder Βηρῶσος, akk. Bēl-rē ʾû-šu „Bel ist sein Hirte“, vgl. zur Einführung M. Saur, Art. Berossos, Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet, www.wibilex.de (1.11.2010). Editionen: F. Jacoby (Hg.): Die Fragmente der griechischen Historiker, Berlin und Leiden 1923-1958: FGrH III C 1 Nr. 680; vgl. FGrH II B Nr. 244 F 83f; FGrH III A Nr. 273 F 79.81; Nr. 275 F4; S. Mayer Burstein, The Babyloniaca of Berossus, SANE 1/5, Malibu Calif. 1978; G.P. Verbrugghe, J.M. Wickersham, Berossos and Manetho, Introduced and Translated. Native traditions in Ancient Mesopotamia and Egypt, Ann Arbor 1996, 35-67; weitere Literatur: D. Hämmerly-Dupy, Some Observation on the Assyro-Babylonian and Sumerian Flood Stories, in: A. Dundes (Hg.), The Flood Myth, Berkeley 1988, 49-59. Apollod. 1.7.2. Edition: J. Frazer, Apollodorus. The Library in 2 Vols., Cambridge 1921; vgl. G. Crane (Hg.), Perseus Digital Library, Internet: www.perseus.tufts.edu (1.11.2010). Vgl. J.N. Bremmer, Apollodorus’ Account of the Flood, in: F.G. Martínez, G.P. Luttikhuizen (Hg.), Interpretations of the Flood, Leiden u.a. 1999, 39-55.
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schen Herrschers Ogyges,16 schliesslich im platonischen Konzept des Kataklysmos (Überschwemmung)17, worin auch einige Traditionselemente auftauchen, die vom mesopotamischen „Vorbild“ unabhängig zu sein scheinen.18 Die gemeinsame vorderorientalische Flutüberlieferung beinhaltet folgende konstituierende Elemente: Bestimmte Götter beschliessen die Vernichtung der Menschheit durch eine Flut. Nicht immer wird dieser Entschluss begründet. Eine andere Gottheit plant die Rettung einzelner Menschen mittels eines wassertüchtigen Gefährtes, das gebaut, befrachtet und bestiegen wird. Die Passagiere als einziger Rest der Menschheit überleben darin die Katastrophe, und der menschliche Held bringt der rettenden Gottheit bzw. den Göttern ein Opfer dar. Der Götterrat beschliesst daraufhin, dass eine solche Katastrophe nicht wiederkehren wird. In Ägypten dagegen galt die Verbrennung als wirksamstes Mittel der Vernichtung, während eine Nilüberschwemmung auch dann noch Segen bedeutete, wenn sie lebensgefährliche Ausmasse angenommen hatte. Der Tod durch Ertrinken war zudem bereits durch das Schicksal des Osiris heiliggesprochen. Der ägyptische Mythos
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Clemens von Alexandrien, Stromateis XXI 102,5: „In Griechenland aber war zur Zeit des Phoroneus, des Nachfolgers des Inachos, die Überschwemmung unter Ogyges und die Herrschaft der Könige in Sikyon, zuerst des Aigialeus, dann des Europs, dann des Telchin, und die Herrschaft des Königs Kres in Kreta.“ O. Bardenhewer, Th. Schermann und K. Weyman (Hg.), Bibliothek der Kirchenväter: Eine Auswahl patristischer Werke in deutscher Übersetzung“ (BKV 2), 20 Bände, Kempten 1932-38, Internet: www.unifr.ch/bkv (10.12.2010). Zur deukalischen Flut vgl. ebenfalls Clemens, Stromateis XXI 103,2; 136,4 u.ö.; Origenes, Contra Celsum, 1,19. Platon, Timaios 22a-d; Edition: J. Burnet (Hg.), Platonis opera, Bände 1–5, Oxford 1900–1907, 21905–1913, Neuausgabe: E.A. Duke (Hg.) Oxford 1995ff. Online-Ausgabe: G. Crane (Hg.), Perseus Digital Library, Internet: http://perseus.mpiwg-berlin.mpg.de (19.1.2011). Vgl. bereits E. Kraeling, Xisouthros, Deucalion and the flood traditions, JAOS 67 (1947) 177-183.
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von der Himmelskuh19 erzählt dementsprechend von einem Sintbrand, der durch das strafende Auge des Sonnengottes Re ausgelöst und in Gestalt der Hathor zu den Menschen kommt. Der Sonnengott bleibt in diesem Mythos trotz der Rebellion gegen ihn selbst den Menschen wohlgesonnen und trägt daher den Götterrat zur Vernichtung nur zum Schein mit. Re überlistet schliesslich die Hathor mit blutroten Bier, das sie betrunken macht, und rettet so wenigstens einen Rest der Menschen (Verse 77-91).20
2.2. Methodische Überlegungen zur Textgenese von Gen 6-9
Mehr noch als in den altorientalischen Epen wurde in der Bibel der Flutstoff sorgfältig in die gesamte Urgeschichte eingebettet. Die intertextuellen Beziehungen spielen daher eine wichtige Rolle. Inwiefern diese Einbettung bereits in älteren Textschichten anzutreffen war, bleibt in der alttestamentlichen Wissenschaft stark umstritten. Seit den Anfängen der historisch-kritischen Methode wurde Gen 6-9 als „Mustertext“ zur Eruierung älterer Textschichten betrachtet, die zunächst als durchlaufende Quellenschriften verstanden wurden. Eine „jahwistische“ (J) sei mit einer „priesterschriftlichen“ „Urkunde“ (P) mit wenigen abschliessenden Ergänzungen (R) zur heute vorliegenden Erzählung zusammengefügt worden, ein nahezu einmaliger Fall redaktioneller Arbeit.21 Die berühmten Quellentexte bleiben 19
20 21
Edition der vollständigsten, nur z.T. zerstörten Textversion aus dem Grab Sethos’ I.: E. Lefébure: Les hypogées royaux de Thèbes, Teil I: Le Tombeau de Seti Ier , Paris 1886, 4. Teil: pls. 15–18. Übersetzung und Einführung: H. Sternberg el-Hotabi, Der Mythos von der Vernichtung des Menschengeschlechtes, TUAT III/5, 1018-1037. Vgl. E. Hornung: Der ägyptische Mythos von der Himmelskuh – Eine Ätiologie der Unvollkommenen, Göttingen 1982, 93. H. Seebass weist z.B. in seinem Kommentar folgende Texte diesen Quellen zu: Zu J gehöre Gen 6,5-8; Gen 7,1-2.3b-5-7a.10.16b.12.17b.22-23; Gen 8,2b3a.6-12.13.20-22. P umfasse Gen 6,9-22; Gen 7,6.11.13-16a.17a.18-21.24; Gen 8,1.2a.3b-5.14-19; Gen 9,1-17; R seien Gen 7,6b-9.23a. Vgl. ders. Genesis I. Urgeschichte (1,1-11,26), Neukirchen-Vluyn 1996.
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aber ein hypothetisches Ergebnis literarkritischer Arbeit, da externe Belege für ihre Existenz bis dato fehlen. Daraus ergibt sich ein bekanntes methodisches Problem. Wer die Quellenschriften bei der Textanalyse bereits voraussetzt, wird alle Probleme an der Textoberfläche sowie stilistische Beobachtungen literarkritisch hoch bewerten, auch wenn das erzählerische Gesamtkonzept Sinn macht und der religionsgeschichtliche Vergleich reiche Frucht getragen hat. Die Charakteristika eines Autors oder Tradenten können kein methodisches Apriori einer Einzeltextanalyse sein.22 Hatte sich B. Jacob bereits 1930 vehement gegen die Verfehltheit einer rein literarkritisch orientierten Exegese ausgesprochen,23 besteht heute über die Genese des Pentateuch kaum noch ein Konsens. Allein die „Priesterschrift“ scheint die Kritik der Kritik überlebt zu haben, wobei allerdings ihr inhaltlicher Endpunkt sowie ihr literarischer Charakter (Quelle, Redaktion oder Kompositionsschicht) stark umstritten bleiben.24 22
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E. Blum äusserte grundsätzliche und nach wie vor gültige Kritik am methodischen Inventar, vgl. ders., Die Komposition der Vätergeschichte, WMANT 57, Neukirchen-Vluyn 1984, 21.471-475. C. Dohmen unterstrich in seinem methodologisch orientierten Aufsatz zur Sintflutgeschichte das Problem: „In jedem Fall werden die Beobachtungen am Einzeltext in Verbindung gebracht mit Beobachtungen an anderen Texten und so in den Zusammenhang einer grösseren (literarhistorischen) Hypothese gestellt … Der Wert einer Hypothese misst sich aber entscheidend daran, wie viele Einzelphänomene und Beobachtungen mit ihr erklärt und verstanden werden können.“ Ders., Untergang oder Rettung der Quellenscheidung? Die Sintfluterzählung als Prüfstein der Pentateuchexegese, in: A. Wénin (Hg.), Studies in the Book of Genesis. Literature, redaction and history, BEThL 155, Leuven 2001, 81-104. „Als Glanzstück gilt seit Astruc-Eichhorn die Sintflutgeschichte. Hier habe die Quellenscheidung ihr unanfechtbares Meisterstück geliefert, an ihr könne der Anfänger die Wissenschaft erlernen. Demgegenüber behaupten wir, dass sie ein Schulbeispiel für die Verfehltheit der Theorie und Methode, für ihre Verständnislosigkeit, Willkür und Gewaltsamkeit ist.“ B. Jacob, Die biblische Sintfluterzählung, ihre literarische Einheit, Vortrag gehalten auf dem internationalen Orientalistenkongress zu Oxford am 30. August 1928, Berlin 1930, 1, Anm. 11. Vgl. E, Zenger, Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 52004, 161-167; K. Schmid, Erzväter und Exodus, Untersuchungen zur doppelten Begründung
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Doch kann hier noch am ehesten auf einen gewissen Forschungskonsens zurück gegriffen werden: Gen 6,9-22; 7,6.11.13-16a.1821.24; 8,1.2a.3b-5.13a.14-19; 9,1-17.28f scheinen einer Textschicht anzugehören.25 Neuere Untersuchungen konstatieren – en détail wesentlich sorgfältiger und vorsichtiger arbeitend – weiterhin eine oder mehrere Textschichten, wobei die „nichtpriesterschriftlichen“ Textbestandteile (nP) sowohl früher26 als auch später27 als die Priesterschrift datiert werden. Die bisherigen Theoriebildungen sind nicht nur eine Hypothek für alle, die sich mit dem Text neu befassen, sondern bieten auch ausserordentlich viele wertvolle und überprüfbare Beobachtungen am Text. Ich gehe dennoch in diesem Beitrag unter der oben genannten Fragestellung zunächst von literarischer Einheitlichkeit aus – als heuristischem Prinzip. Es bedeutet nicht, dass ich ein entsprechendes textgenetisches Modell voraussetze. Aber
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26
27
der Ursprünge Israels innerhalb der Geschichtsbücher des Alten Testaments, WMANT 81, Neukirchen-Vluyn 1999, 53-55. T. Pola, Die ursprüngliche Priesterschrift. Beobachtungen zur Literarkritik und Traditionsgeschichte von Pg, WMANT 70, Neukirchen-Vluyn 1995, 343, Anm. 144. Vgl. die Übersicht bei M. Witte, Die biblische Urgeschichte. Redaktions- und theologiegeschichtliche Beobachtungen zu Genesis 1,1-11,26, 333f. N.C. Baumgart konstatiert eine vorpriesterliche Urgeschichte (VPU), die priesterliche Grundschrift Pg und eine Redaktion, die die Urgeschichte dreiteilt, indem sie in Gen 1,1-2,3 die Darstellung von Pg, in Gen 2,4-4,26 die der VPU und erst in Gen 5,1-9,29 beide verflochten darstellt. Vgl. ders., Die Umkehr des Schöpfergottes: zur Komposition und religionsgeschichtlichen Hintergrund von Gen 5-9, Freiburg i.Br. u.a. 1999, 417; zur Kritik M. Arneth, Durch Adams Fall ist ganz verderbt … Studien zur Entstehung der alttestamentlichen Urgeschichte, FRLANT 217, Göttingen 2007, 16-18. Bei E. Bosshard-Nepustil umfasst die Textebene A: Gen 6,5-8; Gen 7,15.10.12.16b-17a.22-23; Gen 8,2b-3a.6-12.13b.20-22; die Textebene B: Gen 6,9-22; 7,6.11.13-16a.17b-21.24-8,1a; 8,1.2a.3b-5.13a.14.15-19; 9,1-17; Gen 7,7-9; 8,1b sind Nachträge. Er versteht B als Priesterschrift und A als nichtund nachpriesterschriftlich. Vgl. ders., Vor uns die Sintflut. Studien zu Text, Kontexten und Rezeption der Fluterzählung Genesis 6-9 (BWANT 165), Stuttgart 2005, 52.106. Auch Arneth sieht eine postpriesterschriftliche Bearbeitung, op. cit., 230-236.
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einen vorliegenden Text in seiner Aussagevielfalt verstehen zu versuchen, ist etwas ganz anderes, als zu erklären, wie er einmal entstand.28 Aus praktischen Gründen gebe ich die in der Literatur vermutete Zugehörigkeit zu den verschiedenen Textschichten immer mit an.
2.3. Begriff und Funktionen des Mythos
Wenn wir den Begriff „Mythos“ heute nicht entwertend gebrauchen wollen, dann müssen wir ihn sinnvoll definieren können. Dazu gehört auch, ihn von benachbarten Begriffen wie z.B. der „Sage“, dem „Märchen“ oder der „Ätiologie“ abzugrenzen. Da ein sumerisches oder akkadisches Äquivalent nicht vorhanden scheint, beginne ich bei der antiken, griechisch-römischen Tradition. Ein Mythos (μῦθος, fabula) ist demnach ganz allgemein eine prosaische oder poetische Erzählung von den Taten anthropomorpher Götter oder umgekehrt theomorpher, mit übermenschlichen Kräften ausgestatteten Ahnen und Helden. Dass Götter, Heroen und Ahnen in den Überlieferungen doch nicht so kategorial getrennt zu sein scheinen, lässt an der klassischen Unterscheidung H. Gunkels von Mythen als Göttergeschichten und Sagen als Heldengeschichten zweifeln.29 Der sich langsam herauskristallisierende Mythosbegriff bezieht sich vor allem auf eine mythische Zeit, die von der historischen Zeit (z.B. nach varronischer Zeitrechnung ab der Eroberung Trojas durch die Griechen 1193 v.Chr.) und einer davor liegenden prähistorischen Zeit (meist vom Weltanfang bis zur Flut) getrennt ist. Den Historiographen erschien die Chronologie dieser mythischen Zeit zwar reichlich unsicher und schlecht belegt, trotzdem wurde dem Mythos bzw. den mythischen Erzählungen eine inhaltliche Realität nicht abgespro-
28 29
Vgl. Dohmen, Untergang, 91.104. „Mythen – man erschrecke nicht vor diesem Worte – sind Göttergeschichten, im Unterschiede von den Sagen, deren handelnde Personen Menschen sind.“ H. Gunkel, Genesis, Göttingen 91977, XIV.
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chen.30 Hellanikos (5. Jh. v.Chr.)31, Anaximenes (6. Jh. v.Chr.)32, Diodor (1.Jh. v.Chr.)33 und die „Mythographen“ Varro (116–27 v.Chr.)34 und Ovid (43 v.Chr.–17 n.Chr.)35 integrieren gerade die Erzählungen von der Entstehung von Welt, Göttern und Menschen in ihre Darstellungen der universalen Geschichte. Was die Götter selbst betraf, unterschieden bestimmte antike Schriftsteller wie z.B. Varro die mythischen Erzählungen der Theaterdichter (theologia fabularis) mehr oder weniger streng von einer philosophischen (th. naturalis) und einer politischen Sichtweise (genus civile).36 Dabei sind es vor allem die erzählten Unsittlichkeiten der Götter sowie die unglaubwürdigen Details der Mythen, die bereits seit dem Vorsokratiker Xenophanes (ca. 570–475 v.Chr.)37 und im Gefolge Platons (ca. 427–347 v.Chr.)38 in der philosophischen und später auch in der christlichen, patristischen Literatur immer wieder scharf kritisiert werden.39 In bestimmten antiken Diskursen gerät der Mythos aufgrund seiner Form, besonders seiner Anonymität in Gegensatz zum Logosbegriff der Geschichtsschreibung. In der literaturtheoretischen Analyse Quintilians (ca. 35–100 n.Chr.) wird z.B. der in den Tragödien erscheinende Mythos als „lügenhaft“ abqualifiziert, die Fiktion
30 31 32 33
34 35 36 37 38 39
Vgl. H. Cancik, Art. Mythos I, NBL II, 864. F. Jacoby, Atthis. The local chronicles of ancient Athens, Oxford 1949; Nachdruck New York 1973. H. Diels, W. Kranz (Hg. und Übers.): Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und deutsch, Bd. 1, Berlin 1922, 171972. I. Bekker, L. Dindorf, C.T. Fischer (Hg.), Diodori bibliotheca historica, Bücher 1-20, 6 Bände, Bibliotheca Teubneriana, Leipzig 1888-1906; Neudruck Stuttgart 1964-1991. M. Salvadore (Hg.), M. Terenti Varronis Fragmenta omnia quae extant. Teil 2: De vita populi Romani libri IV, Olms, Hildesheim 2004. P. Ovidius Naso: Metamorphosen, Sammlung Tusculum, Düsseldorf und Zürich 1996. Varro, antt. rer. divin. I frg. 6-11, B. Cardauns (Hg. und Übers.), Varros Logistoricus über die Götterverehrung, Würzburg 1960. Xenophanes, frg. 10ff, in: H. Diels, W. Kranz, Fragmente, 54. Platon, Gorgias 527a, J. Burnet, op. cit., online: G. Crane, op. cit. (9.1.2011). Vgl. i.f. Absatz jeweils die Darstellung bei H. Cancik, op. cit., 864.
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der Komödien erscheint immerhin „wahrscheinlich“, allein die Historie ist „wahr“.40 Die skeptische Philosophie ist dieser Einschätzung gefolgt.41 Andererseits konnte der Begriff auch rein formal bestimmt werden: „Mythos“ hat in der aristotelischen Poetik (4. Jh. v.Chr.) eine erzähltechnische Bedeutung, die von konkreten Inhalten völlig unabhängig ist: Es ist die Handlung, die durch die Tragödie nachgeahmt und ausgeformt wird, und damit deren wichtigster Teil.42 Eine konsequente Antithese von Logos und Mythos ist auch bei Herodot (484–425 v.Chr.) und anderen griechischen Geschichtsschreibern und Philosophen nicht zu finden.43 Zwar präferiert der „Vater der Geschichtsschreibung“ Herodot den Logos mit seinen klaren Informationsquellen, beschreibt aber mythische Erzählungen ohne weiteres als tatsächlich geschehene Geschichte und bezeichnet sie dabei auch gelegentlich als Logos,44 und diskutiert an anderer Stelle die Glaubwürdigkeit ihrer Varianten.45 Ein inhaltlicher Antago40
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43 44
45
Quintilian, Inst Or II, 4, 2: „Et quia narrationum, excepta qua in causis utimur, tris accepimus species, fabulam, quae uersatur in tragoediis atque carminibus non a ueritate modo sed etiam a forma ueritatis remota, argumentum, quod falsum sed uero simile comoediae fingunt, historiam, in qua est gestae rei expositio, …“ M. Winterbottom (Hg.): M. Fabi Quintiliani Institutionis Oratoriae libri duodecim. Oxford 1970; H. Rahn (Hg.): Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners, Zwölf Bücher, 2 Bände, Darmstadt 1995; Internet: www.thelatinlibrary.com (1.12.2010). S. Emp. I, 147. Edition: H. Mutschmann (Hg.), Sexti Empirici opera, Leipzig 1912-1954; M. Hossenfelder (Hg. und Übers.), Grundriss der pyrrhonischen Skepsis, Frankfurt am Main 2002. Aristoteles, Poetik, Kap. 6, 1450a 16f.20–23. Edition: Aristotelis de arte poetica liber. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit Rudolfus Kassel. Clarendon Press, Oxford 1965; Übersetzung u.a.: M. Fuhrmann (Hg.), Aristoteles: Poetik. Griechisch/deutsch, Stuttgart 1994. Vgl. K. Nickau, Mythos und Logos bei Herodot, in: W. Ax (Hg.), Memoria rerum veterum, FS C.J. Classen, Stuttgart 1990, 83-100. Hdt. 7, 189, 1. Edition: H.W. Haussig (Hg.), Herodot - Historien Gesamtausgabe, Stuttgart 1971; J. Feix (Hg.), Herodot - Historien, Bibliothek der Alten Welt, Düsseldorf 2004 und 2006; vgl. R. Bichler, R. Rollinger, Herodot, Hildesheim 2000. Hdt. 4, 5-10.
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nismus von Logos und Mythos ist also kaum zu finden, weder bei Herodot und seinen Zeitgenossen und noch bei den späteren Autoren: Diodor, Varro und Ovid wurden bereits genannt.46 Eine unreflektierte Übernahme ganz bestimmter Mythenkritik aus der Antike in die heutige Zeit und die Unterwerfung antiker mythischer Aussagen, Stoffe und Inhalte unter ein ganz bestimmtes heutiges Wahrheitskriterium ist dem kulturgeschichtlichen Phänomen Mythos völlig unangemessen. Wenn wir antike Mythen verstehen wollen, müssen wir uns mit Bewertungen zurückhalten. Es ist sinnvoll, die vorliegenden Repräsentationen in ihrer Funktion und Aussageabsicht sowie ihre Form genau zu beschreiben, und dabei ethnologische, soziologische, archäologische, literaturwissenschaftliche und eben auch theologische und religionswissenschaftliche Perspektiven zu kombinieren. Ich beginne mit der einfachen, bekannten Definition von M. Eliade: Jeder Mythos erzählt, wie eine Realität entstand, sei es nun die totale Realität, der Kosmos oder nur ein Teil davon: Eine Insel, eine Pflanzenart, eine 47 menschliche Einrichtung.
Menschen finden schon immer Phänomene der materiellen Umwelt wie den Erdboden oder den Sternenhimmel vor. Im Mythos äussert sich das jeweilige Wirklichkeitsverständnis in bestimmten Denkmustern (though pattern).48 Die Verschiedenheit der Völker, gesellschaftliche Ordnungen wie Kulte, Sitten, Eigentum und Herrschaftsverhältnisse sind erfahrbare Tatsachen.49 Sie alle können durch die Erklärung ihres Anfangs (ἀρχη) in ihrer Realität begründet, im Fall 46
47 48
49
Vgl. S. Jahn, Der Troia-Mythos. Rezeption und Transformation in epischen Geschichtsdarstellungen der Antike, Köln u.a. 2007, 13, u. Anm. 73, vgl. auch L.M. Gemelli (Hg.), Die Vorsokratiker, Band 1, Düsseldorf 2007, 387 und den Beitrag von M. Weder in diesem Band, Anm. 34. M. Eliade, Mythos und Wirklichkeit, Frankfurt am Main, 1988, 57. B.S. Childs, Myth and Reality in the Old Testament, London 1960, 17f.43; vgl. auch die umfassende Diskussion mit weiterer Literatur bei S.U. Gulde, Der Tod als Herrscher in Ugarit und Israel, FAT2 22, Tübingen 2007, 31-45. Vgl. H. Cancik, op. cit., 865.
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von Institutionen auch legitimiert werden. Insofern beantworten Mythen ebenso wie viele Sagen ätiologische Fragen. Ätiologien fragen aber nicht vordergründig kausal nach Ursachen. Sie wollen Sinn stiften und die „Gegenwart durch das Transparent der Vergangenheit“50 zeigen. Diese Vergangenheit kann dann in einem mythischen oder einem „logischen“, d.h. geschichtlichen Szenarium gezeigt werden. Damit ist zweierlei klar: Mythen können ätiologische Funktionen erfüllen, sind aber nicht mit Ätiologien identisch. Mythen stiften Sinn und repräsentieren diesen Sinn in verpflichtender Weise mittels der Rezitation ihrer Inhalte. Damit beseitigen sie Grundängste, stabilisieren soziales Verhalten und befriedigen nicht zuletzt den Wissensdurst gerade angesichts der Katastrophen – und protestieren damit gegen die Erfahrung der Kontingenz des Übels in der Welt.51 Sogar die Mythenkritik am unmoralischen Verhalten der Götter dient in paradoxer Weise der Sozialhygiene. Die Götter erscheinen genau den Massstäben, die sie selbst garantieren sollen, grundsätzlich enthoben. Sexuelle und aggressive Wünsche erhalten eine Projektionsfläche, und der Druck der jeweils gültigen sexuellen Tabus wie Ehebruch, Sodomie, Kastration und Inzest und des allgemeinen Tabus des Mordes durch die menschliche Götterburleske sinkt.52 Die erzählte Zeit und der erzählte Ort stellen zwei augenscheinliche Besonderheiten des Mythos dar. Mythen sagen Sachverhalte aus, die auf einer Metaebene über der Erzählzeit liegen. Die mythische Aussage vergegenwärtigt den Mythos und ist deshalb von diesem zu unterscheiden.53 Die im Mythos erzählte Zeit geht der Erzählzeit als Vorzeit in Distanz zum Jetzt voraus. Der antike Mensch verstand sich – trotz des grossen chronologischen Interesses54 – als Resultat von Ereignissen in illo tempore und will mit der Vergegenwärtigung 50 51 52 53 54
Vgl. A. Scherer, Art. Ätiologie, Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet, www.wibilex.de (2.11.2010). Vgl. C.-F. Geyer, Mythos. Formen – Beispiele – Deutungen, Beck’sche Reihe Wissen 2032, München 1996, 48. Vgl. H. Cancik, op. cit., 865. Vgl. J. Assmann, Ägyptische Geheimnisse, München 2004, 45ff. Vgl. bereits für die sumerischen Quellen T. Jacobsen, Eridu Genesis, 141.
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von Mythen diese Distanz überbrücken. Die auf der Ebene der Aussagen gemeinte Zeit ist, mit E. Cassirer gesprochen, „Urzeit“, eine „absolute Vergangenheit“55, die immer gleich weit von der Erzählzeit entfernt ist. Mit anderen Worten: Was als einmalig als in der Vorzeit geschehen erzählt wird, ist überzeitlich, mithin auch im Jetzt gültig. Aber nicht nur die Zeit des Mythos ist besonders, sondern auch sein Ort. Der erzählte Ort ist, analog zur Zeitdimension, gleich weit vom Erzählort entfernt oder ihm gleich nah. Er ist ein Meta-Ort, ein Nicht-Ort, eine „Utopie“. Mit anderen Worten: Was als einmalig als im „Jenseits“ geschehen erzählt wird, ist im „Diesseits“, „global“ und mithin auch im „Hier“ gültig. Der Mythos erklärt, wie das sichtbare Diesseits im unsichtbaren Jenseits begründet ist. Genau in diesem doppelten Aussagesinn von Raum und Zeit erklären, definieren und determinieren Mythen das Hier und Jetzt. Damit enthalten mythische Erzählungen das Wahrheitskriterium des „immer Gleichen“, Gesetzmässigen, Wiederholbaren: Was immer und überall erlebbar ist und dadurch immer und überall gilt, das ist wahr. Was im Gegensatz dazu einmal geschieht, kann in mythischer Weltsicht zufällig sein und muss deshalb keine gültige Wahrheit enthalten. Das „immer Gleiche“ wird so in der Empirie verankert. Das, was einmal geschehen ist oder geschieht, beobachtbar oder durch Quellen belegbar ist, bestimmt unsere Wirklichkeit ebenso und kann deshalb Gültigkeit beanspruchen. Darin liegt der berechtigte Anspruch des „Logos“ bzw. der antiken Mythenkritik, der Geschichtsschreibung und anderer wissenschaftlicher Theorien. „Logos“ und „Mythos“ müssen daher als komplementäre menschliche Zugänge zur Wirklichkeit betrachtet werden. Ob die jeweiligen Geltungsansprüche von Mythos und Logos praktisch auch akzeptiert werden, bleibt erst einmal offen. Je nach Gesellschaftsordnung, Gruppen- oder Milieuzugehörigkeit gilt ein bestimmter Geltungsanspruch als berechtigt, weil er auf Tradition oder einen anderen ver55
E. Cassirer, Gesammelte Werke, hg. v. B. Recki, Band 12: Philosophie der symbolischen Formen, Teil 2: Das mythische Denken, Hamburg 2002, 124f.
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einbarten Konsens gestützt ist, oder eben als unberechtigt, weil er als Gerücht oder Lügengeschichte bezeichnet wird. Mythen sind also weder geoffenbarte Wahrheiten noch einzelne Ausgeburten menschlicher Phantasie. Sie sind auch nicht einfach eine kindliche Vorstufe zu begrifflichem Denken. Ein Mythos projiziert menschliche Grunderfahrungen, Existenzängste und kollektive Hoffnungen auf übermenschliche, doch menschenähnliche Charaktere. Diese Charakteristik macht ihn psychoanalytisch oder tiefenpsychologisch deutbar. Aber diese Deutungen bleiben ebenfalls konsensabhängig. Wenn der Mythos Welt und menschliches Leben in Bildern und Szenen eines Jenseits von Raum und Zeit symbolisch ausmalt, dann bleibt seine Bildwelt dabei polyvalent, und die enthaltene Symbolik lässt sich nicht immer in begrifflicher Klarheit fixieren. Der Mythos stiftet in diesen „Urbildern“ Sinn und vermittelt Legitimation, und er besitzt Macht, auch in seiner irrationalen Dimension. Dies muss ein moderner Rationalismus als Herausforderung begreifen, um die Chance zu wahren, auch die destruktiven Elemente des Mythos mit ihren gefährlichen Implikationen erfassen zu können.56 Wie steht es aber um die Erscheinungsformen des Mythos, wie und wo wird er repräsentiert? „Den Mythos“ gibt es nämlich nicht als eine abgrenzbare Gattung wie das Märchen, die Sage oder die Legende. In der sumerischen und akkadischen Überlieferung finden sich weder der Terminus noch eine Gattung „Mythos“. Texte, die Mythen wiedergeben, heissen hier manchmal einfach „Lied“ (sum. zà-mí, akk. zimru). Mythen werden sehr unterschiedlich, nämlich mündlich, schriftlich und auch bildlich wiedergegeben.57 Mit J. Assmann ist daher die Transzendenz der Mythen i.S. einer Überschreitung bestimmter Repräsentationsformen festzuhalten:
56
57
Vgl. O. Depenheuer, Die Kraft des Mythos und die Rationalität des Rechts, in: ders., Mythos als Schicksal. Was konstituiert die Verfassung?, Wiesbaden 2009, 12. Vgl. H. Cancik, op. cit., 865.
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Jörg Lanckau Mythen sind grundsätzlich gattungs-, ja medientranszendent und in die Formen eines Epos, eines Märchens, eines Vierzeilers, eines Dramas, eines Tanz58 spiels und etwa auch eines Vasen- oder Siegelbildes übertragbar.
Ikonographische Repräsentationen von Mythen finden sich sowohl in Griechenland (häufig auf Vasenbildern) als auch in Mesopotamien (mehr auf Siegelbildern). Je nach funktionaler Differenzierung in den verschiedenen Situationen ihres Gebrauchs werden die Mythen sehr verschieden in unterschiedlichen Textgattungen und eben auch Bildern materialisiert, realisiert und vergegenwärtigt. Auch diejenigen schriftlichen Zeugnisse in Historiographie, Drama und Lyrik, die Mythen mehr oder weniger vollständig wiederzugeben scheinen, zeigen nicht einfach einen in sie eingeschriebenen Mythos i.S. eines vorsprachlichen und vorkommunikativen „Genotextes“. Die auf die textsemiotische Untersuchungen J. Kristevas zurückgehende Unterscheidung von Geno- und Phänotext versteht ersteren als einen nur zu rekonstruierenden Prozess der Sinngebung, der immer nur entstellt in bestimmten Phänotexten erscheint, die an der symbolischen Norm der Sinnsetzung 59 orientiert, und in diesem Sinn „traditionell“ sind. Der Genotext ist „vorsprachlich“ und „vorkommunikativ“. Er bildet die Grundlage der Sprache bzw. des Phänotextes, der entsprechend den Regeln der Kommunikation zwischen Sender und Empfänger erzeugbar ist. Genotext und Phänotext lassen sich nicht aufeinander reduzieren. In seiner Intertextualität entspricht der Genotext bei Kristeva dem Schreiben, der Phänotext dem Sprechen.
Wenn J. Assmann eine Analogie der generativen Beziehung von Mythos und mythischer Aussage zu diesen Begriffen herstellt, versteht er den Mythos als Genotext i.S. eines gemeinsamen thematischen Kerns „von Handlungen und Ereignissen, Helden und Schicksalen“.60 Zumindest für die altägyptischen Beispiele betont Assmann die primäre Mündlichkeit dieses textgenetischen Prozesses, und damit die Analogie der Beziehung von Mythos und mythischer Aus58 59 60
J. Assmann, op. cit., 54f. J. Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt am Main 1978, 96f. J. Assmann, op. cit., 53.
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sage zur mündlichen Realisierung (parole)61 einer bestimmten Überlieferung (langue). In der Dynamik des Vortragens wird bei mythischen Erzählungen wie auch beim Volksmärchen und der Sage ein mündlicher Phänotext geschaffen, der sich aus den Elementen des Genotextes speist, nämlich den variablen Gedanken, Bildern und Symbolen. Dieser mündliche Text wird in den vorliegenden Überlieferungen in bestimmte literarische Formen gegossen, es entsteht ein schriftlicher Phänotext, der die Intentionen der Autoren enthält. Nur in diesem Sinn kann es auch „Antimythen“ geben, die in Wirklichkeit Phänotexte mit bestimmten Aussagen sind, die in einem Umkehrverhältnis zu bereits bestehenden mythischen Aussagen stehen, in unserem Fall die Flut als Zerstörung der Schöpfung.62 Etwas anders verhält es sich bei einer Legende. Sie kann zwar mythische Motive enthalten, beruht aber von vornherein auf einer schriftlichen, also literarischen Überlieferung. Ebenso wie viele ätiologische Stoffe nicht im Zentrum der Textpragmatik einer Erzählung stehen, sondern die grössere Einheit nur als Motiv begleiten,63 finden wir auch mythische Motive in vielen Erzählungen beigemischt. Das mythische Motiv (hier das Flutmotiv) als kleines literarisches Element zitiert einen nachweisbaren Mythos in einem nicht-mythologischen Kontext (z.B. der Ominaliteratur), ohne dass dieser dadurch selbst zum Mythos wird. Die ursprüngliche mythische Aussage kann zudem durch den Kontext des Zitates verändert werden.64 Was ihren thematischen Kern betrifft, enthalten mythische Texte ebenso wie Volksmärchen und Sagen nicht nur kollektive Vorstellungen, sie sind kollektive Schöpfungen. Sie bleiben deshalb immer anonym und sind gerade darum kein Werk eines Dichters, welches 61 62
63 64
Vgl. den Beitrag v. M. Weder in diesem Band, dort Anm. 9, zur Terminologie R. Barthes, Mythologies, Paris 1957, 213ff. Zum m.E. unscharfen Begriff des Antimythos vgl. H.-P. Müller, Das Motiv für die Sintflut. Die hermeneutische Funktion des Mythos und seiner Analyse, ZAW 97 (1985), 295-316. A. Scherer, op. cit. Vgl. H. Cancik, op. cit., 866.
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immer Falsches und Wahres zugleich enthält, wie Platon meinte.65 Zwar bleiben kollektive Vorstellungen immer auf das sie ausbildende Kollektiv bezogen und sind mithin nicht für alle Zeiten und alle Orte gültig, trotzdem geben mythische Phänotexte wie auch Volksmärchen existentielle Grunderfahrungen des Menschseins wieder, die schwer belasten oder hoffen lassen. Angewendet auf den Flutstoff, ist C. Westermanns Urteil nach wie vor gültig: Die Sintflut ist Archetyp der Menschheitskatastrophe, als solche zur Erzählung gedichtet. Was in der Fluterzählung ausgedrückt werden soll, ist das Her66 kommen aus der Bewahrung des einen aus dem Untergang aller anderen.
Während aber die Sagen an konkreten Orten, Personen und Begebenheiten und sogar bestimmten Zeiten haften, betrifft das die mythischen Texte nicht. Mythen konnten und können daher besonders leicht in andere Kulturen übersetzt werden. Begünstigend kommt hinzu, dass die mediterranen und vorderasiatischen Kulturen bereits im 2. Jts. v.Chr. in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht durchaus miteinander verflochten und untereinander auch kulturell durchlässig waren. Doch die Übersetzung der Mythen ist nicht nur als sprachliche, sondern als metaphorische Übersetzung zu verstehen, die Vorstellungsinhalte, Werten, Denk- und Verhaltensmustern und Praktiken eines kulturellen Kontexts in einen anderen überträgt. Diese „kulturelle Übersetzung“ geschieht innerhalb von Diskursen und vor sprachlichen Horizonten.67
65 66 67
Platon, Politeia 377a. Vgl. C. Westermann, Genesis, BK I/1, Neukirchen-Vluyn 1983, 537. Vgl. zu den Grenzen jeder Übersetzung W. Benjamin, Charles Baudelaire, Tableaux Parisiens. Deutsche Übertragung mit einem Vorwort über die Aufgabe des Übersetzers, Heidelberg 1923; zum Begriff der kulturellen Übersetzung H. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000; zur neueren kulturwissenschaftlichen Diskussion D. Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006; B. Wagner, Kulturelle Übersetzung. Erkundungen über ein wanderndes Konzept, 2009, Internet: www.kakanien.ac.at/beitr/postcol/BWagner2.pdf (2.11.2010).
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3. Problemfelder des Mythendiskurses in Gen 6-9 3.1. Der Sintflutheld als Repräsentation der überlebenden Menschheit
Der Sintflutmythos sagt in allen Überlieferungen nicht die Katastrophe an sich, sondern die Rettung von Einzelnen aus der Katastrophe aus. Dies kann oft bereits am Namen der Helden festgemacht werden. Der König Ziusudra (Eridu) bzw. Xisuthros (Ber.Bab) tragen einen sprechenden Namen, der ihr glückliches Schicksal und das ihrer Gefährten widerspiegelt. Sie erhalten das ewige Leben. Auch Utnapischtim lebt mit seiner Frau vergöttlicht in einer paradiesischen Umgebung, sein Name mag daher das Gleiche bedeuten: „Ich habe mein Leben gefunden“ (Gilg XI 198-208). Dass der babylonische Flutheld vergöttlicht wird, resultiert aus dem Einlenken des kriegerischen Enlil angesichts der deutlichen Kritik der menschenfreundlichen Schöpfergottheiten, der Muttergöttin Nintu / Ishtar / Belet-ili sowie des weisen Gottes Ea. Mit dieser Lösung wird der Götterkönig zugleich nicht desavouiert, denn sein Vernichtungsbefehl bleibt vollstreckt. Der biblische Held begegnet zum ersten Mal in der „Familiengeschichte Adams“ (tôlǝdot ādām) in dem Wortspiel „Noah, er wird uns trösten“ (noaḥ … jǝnaḥămenû Gen 5,29). Damit ist aber keine Namensetymologie gemeint: Er (Lamech) gab ihm den Namen Noah, indem er sagte: Dieser wird uns trösten über unserer Arbeit und über der Mühsal unserer Hände von dem Erdboden, den JHWH verflucht hat.
Vielmehr führt in Gen 8,21a-c das Wohlgefallen Gottes am Opfer dazu, das der bereits in 3,17-19 ausgesprochene, in 4,11f wirksame und in 5,29 nochmals beklagte Fluch über den Erdboden um des Menschen willen nach der Sintflut nicht weiter verlängert oder neu ausgesprochen wird. Darin besteht der Trost, den alle Zukünftigen haben werden:
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Jörg Lanckau JHWH roch den wohlgefälligen Geruch, und JHWH sprach in seinem Herzen: Ich will den Erdboden nicht weiterhin verfluchen um des Menschen willen… (wajjāraḥ JHWH ʾæt-rêaḥ hannîḥoaḥ wajjoʾmær JHWH ʾæl-libbô loʾʾosif ləqallel ʿôd ʾæt-hāʾădāmāh baʿăvûr hāʾādām)
Die „Epiloge“ in Gilg und Genesis vom Schicksal der Haupthelden können als Teil sekundärer Theologisierungen des Sintflutstoffes verstanden werden, die das kontingente Ereignis einer Katastrophe in Bezug zum Verhältnis von Gott bzw. Göttern und den Menschen setzen.68 Der individuelle „Jedermann“ Gilgamesch – der als Halbgott dennoch sterblich ist – begegnet dem vergöttlichten Fluthelden Utnapischtim, der die unsterbliche Menschheit symbolisiert (Gilg I 48; IX 51).69 Der biblische Hauptheld wird nach der Rettung mit seinen Söhnen und damit in seinen Nachkommen gesegnet (Gen 9,1). Die genealogische Formel in Gen 6,9 eröffnet eine weite Perspektive hin zur Völkertafel der überlebenden Menschheit bis hin zur Schlussnotiz in Gen 10,32. Die Noahfigur aus Gen 6,9ff; 9,8-17 (P) steht daher ebenfalls für die überlebende und mithin unsterbliche Menschheit. An dieser Stelle zeigt sich im biblischen Text eine feine Differenzierung, die einen Mythendiskurs der Verfasser der biblischen Texte belegen kann. Die vergöttlichten Helden der altorientalischen Epen der Welt sind der Welt entzogen. Deukalion und Pyrrha werfen hinter sich Steine, aus denen durch die Schöpfermacht des Zeus bzw. seines Wortes70 Männer und Frauen neu erstehen, ehe das Paar selbst königliche bzw. halbgöttliche Nachkommen bekommt:71 But Deucalion, floating in the chest over the sea for nine days and as many nights, drifted to Parnassus, and there, when the rain ceased, he landed and
68 69 70
Vgl. Westermann, op. cit., 541. A.R. George, op. cit., 528. Das bekannte Wortspiel mit „Steine“ (laas ) und „Volk“ (laos ) in Apollod. 1.7.2 verweist auf die Macht des göttlichen Wortes: καὶ Διὸς εἰπόντος ὑπὲρ κεφαλῆς ἔβαλλεν αἴρων λίθους, καὶ οὓς μὲν ἔβαλε Δευκαλίων, ἄνδρες ἐγένοντο, οὓς δὲ Πύρρα, γυναῖκες. ὅθεν καὶ λαοὶ μεταφορικῶς ὠνομάσθησαν ἀπὸ τοῦ λᾶας ὁ λίθος.
71
Zur Multifunktionalität der griechischen Variante des Flutmythos’, der auch zur Markierung sozialer Differenzen dient, vgl. J.N. Bremmer, op. cit., 53-55.
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sacrificed to Zeus, the god of Escape. And Zeus sent Hermes to him and allowed him to choose what he would, and he chose to get men. And at the bidding of Zeus he took up stones and threw them over his head, and the stones which Deucalion threw became men, and the stones which Pyrrha threw became women. Hence people were called metaphorically people (laos) from laas, ‘a stone.’ And Deucalion had children by Pyrrha, first Hellen, whose father some say was Zeus, and second Amphictyon, who reigned over Attica after Cranaus; and third a daughter Protogenia, who became the mother of 72 Aethlius by Zeus.
Das Überleben der Geretteten der Genesis wird dagegen allein durch natürliche Nachkommen ermöglicht und jede Vergöttlichung des Fluthelden damit abgelehnt. Ihn selbst bewahrt der göttliche Segen auch nicht vor einer kaum verhüllten Blutschande, die ihm in seiner Trunkenheit angetan wird (Gen 9,21-24). Eine Entrückung in die göttliche Sphäre bleibt allein Henoch vorbehalten, dessen literarische Figur im mesopotamischen Enmenduranna / Utuabzu73 vorgezeichnet ist. Im vorliegenden Text der Genesis strahlt Noahs Schicksal weniger hell auf. Die Noahfigur besitzt dennoch eine ausserordentlich reichhaltige Wirkungs74 geschichte in der jüdisch-hellenistischen und frühchristlichen Literatur: 1Chr 1,4; Tob 4,12; SapSal 14,6; Mt 24,37-39; Hebr 11,7. Im Genesisapokryphon entsühnt Noah mit seinem Opfer das Land vom vergossenen Blut (1QapGen 10,13, vgl. Jub 6,2.10; äthHen 65,6ff). Auch im äthiopischen Henochbuch wird Noah als exemplarischer Gerechter vor Augen gemalt, aus dessen Nachkommen die Welt neu entsteht (äthHen 65,11; 67,1; 89,9).
Sowohl der „überaus Weise“ Atramchasis als auch Utnapischtim sprechen mit ihrem persönlichen Gott Enki / Ea (Atr III i 11-14; Gilg XI 33-35). Der biblische Noah ist dagegen ein schweigender
72 73 74
Übersetzung: J. Frazer, op.cit., Internet: www.perseus.tufts.edu (30.1.2011). Vgl. R. Borger, JNES 33 (1974), 183-196; W. Beyerlin, RTAT, 114, Anm. 108. Vgl. die Beiträge im Sammelband F.G. Martínez, G.P. Luttikhuizen (Hg.), Interpretations of the Flood, Leiden u.a. 1999 zu Jub (J. van Ruiten), Qumran (F.G. Martínez); gnostischen Schriften (G.P. Luttikhuizen), der rabbinischen Tradition (W.J. van Bekkum) und dem frühen Christentum (H.S. Benjamins).
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Held. Er antwortet nicht auf die göttliche Anrede, rechtfertigt sich nicht vor seinen Mitmenschen und reagiert nicht auf die dramatischen Geschehnisse. Selbst nach der Rettung fällt beim Opfer kein Wort, während Deukalion wenigstens in diesem Moment spricht75 und nach seinem Opfer am Parnassosgebirge den Wunsch nach Menschen äussert. Die Menschheit wird nicht gerettet, weil Noah gerecht, weise oder fromm ist, sondern weil Noah gerettet wird, wird in ihm auch die Menschheit am Leben erhalten.76 Im Bild des eigentümlich teilnahmslosen männlichen Helden spiegelt sich deutlich die Überzeugung der Autoren, dass Gott allein der Handelnde ist und es eigentlich keiner Heldentat bedarf. Dies verschiebt den Fokus auf das Gottesbild.
3.2. Das göttliche Rollenspiel
In der Bibel handelt nur ein Gott, nicht mehrere. Dieser wird jedoch verschieden bezeichnet. Das für die Urkundenhypothese einmal so gewichtige Argument des Gebrauchs unterschiedlicher „Gottesnamen“ wurde bereits von B. Jacob im Bezug auf die Hauptfigur inhaltlich und erzähltechnisch erklärt: In unserer Erzählung liegt die Lösung in der zweifachen Natur Noahs. Einerseits ist er Mensch und Vertreter des Menschengeschlechts, das er als zweiter Adam nach der Flut erneuern soll. Dafür ist der Gottesname Elohim, der Gott der Schöpfung. Andererseits ist er Frommer, und darum wird die Menschheit gerade in ihm errettet. Dafür ist der Gottesname JHWH.
Jacob greift dabei auf rabbinische Erklärungen zurück, die in „Elohim“ den Aspekt der Gerechtigkeit, in „JHWH“ aber den Aspekt der Barmherzigkeit Gottes ausgedrückt fanden. Ob dies einleuchtend 75 76
Deukalion wird vor der Flut von Prometheus beraten, ein Dialog ist nicht erwähnt (Apollod. 1.7.2). Vgl. E. Drewermann, Strukturen des Bösen I: Die jahwistische Urgeschichte in exegetischer Sicht, Paderborn u.a. 1988, 215-218.
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erscheint oder nicht, sei dahingestellt. Ein gravierender Unterschied zu den altorientalischen Überlieferungen sticht bereits beim ersten Lesen ins Auge: Während die diametral entgegengesetzten göttlichen Absichten von Vernichtung und Rettung in den altorientalischen Epen auf verschiedene Götter verteilt sind, werden sie in Gen 6-9 als Aspekte desselben Gottes dargestellt, der alles allein bewirkt.77 JHWH sendet die Flut und lässt die Menschen sterben, aber rettet den Einzelnen, den aus „bösem Geschlecht“ Herausgehobenen und Vereinzelten, und schliesst selbst die Tür der Arche hinter ihm zu (Gen 7,16 vgl. dagegen Gilg XI 93). Es ist schon lange erkannt worden, dass diese Darstellung der monolatrischen, tendenziell monotheistischen Grundeinstellung der biblischen Autoren geschuldet sein muss. Der ägyptische Mythos vom Sintbrand lässt Re ebenfalls sehr zentral erscheinen, er übernimmt aber primär die menschenfreundliche Seite, die menschenfeindliche Rolle wird auf die vollziehende Hathor übertragen. N.C. Baumgart hat in Aufnahme grundlegender Untersuchungen zu diesem Thema vorgeschlagen, nicht nur zwei antagonistische, sondern drei verschiedene Seiten des biblischen Gottes zu unterscheiden, und dies bereits für eine vorpriesterliche Überlieferungsschicht zu veranschlagen. Ein strafender JHWH (Seite A) übernimmt die Rolle des kriegerischen Enlil, dessen Rat an die Götter und dessen Bewirken der Flut das menschliche Leben fast vollständig vernichtet (Atr II i 5-21; Gilg XI 39-41.167.173). Ein wohlwollender JHWH (Seite B) wendet sich den Menschen zu und rettet den Einzelnen und seine Familie aus dieser Katastrophe wie der weise Enki / Ea, der der persönliche Gott des Helden ist, und diesen durch direkte Anweisungen lenkt (Atr III i 1-50; Gilg XI 19-48). Der dritte Aspekt JHWHs (Seite C) adaptiert das bereuende und schliesslich umkehrende Verhalten der Muttergöttin Mami / Nintu (Atr) bzw. Ištar / Mach, der „Götterherrin“ (Gilg), wobei letztere im Laufe der Religionsgeschichte die meisten Epitheta auf sich versammelt hat. Im sumerischen Flutbericht treten noch zwei vom Leiden bewegte 77
Vgl. C. Westermann, op. cit., 537.
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Göttinnen auf, die Muttergöttin (Nindu, Eridu III 15) und die Göttin Inanna (Eridu III 16). Deren emotionale Intervention kann den Entscheid der Götter jedoch nicht umstimmen. Im Atra-ḫasīs-Epos und im Gilgamesch-Epos schreit die Muttergöttin ihren Schmerz über den Tod ihrer von ihr selbst geborenen Menschenkinder heraus (Atr III iv 4-11; Gilg XI 116-123) und überzeugt den Götterrat, dass der Tod nicht das Ziel der Schöpfung sein kann. Der Entschluss Gottes in Gen 8,21, den Erdboden nicht mehr zu verfluchen und „alles Lebendige“ nicht mehr zu schlagen, ist keine theologische Aussage, die die entgegengesetzten Absichten von Vernichtung und Rettung durch eine anthropomorphe göttliche Umkehr miteinander in Einklang bringt, sondern besitzt als dritte Seite in Gottes Verhalten ein klar erkennbares religionsgeschichtliches Vorbild, das v.a. im Atra-ḫasīs-Epos und im Gilgamesch-Epos entfaltet wurde. An dieser Stelle ist das Ergebnis des israelitischjüdischen Mythendiskurses wieder gut zu erkennen: Die göttliche Umkehr wird gerade nicht als Reue bezeichnet, der entsprechende Ausdruck findet sich nur beim Vernichtungsbeschluss in Gen 6,7.78 In der biblischen Sintfluterzählung wird also nicht nur einfach einem Systemzwang gefolgt, mit der Adaption des Sintflutstoffes antagonistische Absichten der Götter mit dem Monotheismus zu versöhnen. Vielmehr wird das sich exilisch-nachexilisch herausbildende monotheistische Gottesbild selbst in seiner inhärenten, und bis heute drängenden Theodizeeproblematik auf den Prüfstand gebracht.79 Bereits B. Jacob unterschied treffend die verschiedenen Perspektiven: Der Erzähler gebraucht den Gottesnamen JHWH, die Akteure oder Erzählfiguren sprechen von „Elohim“.80 Auch im Hiobbuch, das mit 78 79
80
Vgl. bereits L. Ruppert, Genesis, 1. Teilband: Gen 1,1-11,26, FzB 70, Würzburg 1992, 309f., hier als Konzept des „Jehowisten“. Vgl. die kontroversen Artikel von E. Drewermann, Ein Ort der Verlorenheit, und Ch. Kummer SJ, Ein Ort der Ergriffenheit, Publik Forum 2/2011, 25-28, über heutige Chancen und Grenzen einer theologia naturalis und der verantworteten Rede vom Schöpfergott angesichts weltweiter Naturkatastrophen. Vgl. B. Jacob, Das erste Buch der Tora. Genesis, Berlin 1934, Neudruck Stuttgart 2000, 1032, mit Bezug auf Gen 2,4b – 3,24 sowie Gen 37-50. Eine
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Gen 6-9 nicht nur den „gerechten“ Haupthelden, sondern auch Motive wie das „Leben“ und Themen wie den Schöpfungsbezug gemeinsam hat, liegt ein gravierender Unterschied in der Beurteilung darin, wie viel eine Erzählfigur im Vergleich zum „allwissenden“ Erzähler über ihr Schicksal und den mutmasslichen Sinn der Geschichte erfährt. In der Einleitung richtet Utnapischtim seinen Blick zunächst auf die Gesamtzahl der Götter unter dem Göttervater Anu, die den Beschluss zur Flut getroffen haben (Gilg XI 10). Erst danach treten die wichtigsten Götter einzeln in ihren Rollen auf. JHWH übernimmt in der biblischen Erzählung nicht nur die Funktionen der drei genannten Götter, sondern zusätzlich die Rolle des gesamten Götterrates, so dass die Beschlüsse zur Flut und zu ihrem dauerhaften Ende allein von ihm ausgehen und auch nur von ihm selbst vermittelt werden. Damit zeigt sich in der biblischen Flutgeschichte auch eine Differenz zu jenen alttestamentlichen Texten, die von einer Götterversammlung oder einem Thronrat JHWHs sprechen, wobei allerdings dessen Mitglieder klar subordiniert sind, fast immer dienend zur Seite stehen und auch den Ratschluss den Menschen vermitteln sollen, wozu eben denn sogar berufene Menschen Zugang zur Sphäre des Rates erhalten können.81
3.3. Anlass, Begründung und Konsequenz der Flutkatastrophe
Gilg und Ber.Bab nennen keine Begründung für den Entscheid der Götter insgesamt, dieser erscheint gedankenlos und unmotiviert. Im Atra-ḫasīs-Epos ist Enlil über den ruhestörenden Lärm der zahlreich
81
Ausnahme bildet Gen 46,2. Der (alleinige) Verfasser der Flutgeschichte teile zwischen Gen 6,6f und 6,13f bzw. zwischen 8,21f und 9,1ff die Worte Gottes in ein Selbstgespräch JHWHs und eine Anrede Elohims. Vgl. zu dieser Erweiterung des Thronrates durch Menschen 1Kön 22,19-20; Jes 6,8; Jer 23,18.22; Am 3,7. Zum Götterrat insgesamt vgl. H.-D. Neef, Gottes himmlischer Thronrat. Hintergrund und Bedeutung von sôd JHWH im Alten Testament, Ath 79, Stuttgart 1994; kurz im Überblick ders., Art. Götterrat, Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet, www.wibilex.de (20.1.2011).
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gewordenen Menschen verärgert und beschliesst zunächst keine Flut, sondern eine Dürre, die den Menschen die Getreideernte vernichten soll (Atr II i 1-18). Im etwa zeitgleich abgefassten sumerischen Flutbericht ist, soweit dies noch rekonstruiert werden kann, ebenfalls Enlil der Initiator, und die vier Götter An, Enlil, Enki und Ninchursaga beschliessen die Flut (Eridu III, 18f).82 Der „Lärm“, der auch im Erra-Epos eine tragende Rolle spielt, spiegelt die urbane Situation der Überbevölkerung wider, die als Folge der Vermehrung der Menschen gezeigt wird (Erra I 41-44.81; Atr II i 1f). Genau mit dieser Situation setzt Gen 6,1 ein. Die Menschen wurden zahlreich. Doch ist das Grund genug für eine Flut? Im Atraḫasīs-Epos stellt die menschliche Vermehrung nur einen Anlass für den menschenfeindlichen Gott dar, die Menschen zu vernichten.83 Atr III v 41f. (vgl. vi 1-19) beurteilt nach der Flut im Munde der reuigen Muttergöttin Nintu den zum Opfer herbeieilenden, aber keineswegs seinen Entschluss bereuenden Enlil, der „ohne rechte Überlegung die Sintflut herbeigeführt“ habe. Im sumerischen Bericht stimmt Enlil nach der Flut dem Götterrat zu, dem Priesterkönig Ziusudra wohlwollend gegenüber zu stehen und das Leben zu schützen, ja ihm diesen Schutz zu übertragen (Eridu VI 9-10). Grund, Anlass und Begründung der Flut sowie ihre Konsequenzen waren ein unvermeidlicher und zentraler Bestandteil des israelitisch-jüdischen Diskurses über den Flutmythos. Wenn das Gottesbild und die Geschichtstheologie im Exil neu überdacht werden mussten, musste sich dies auch auf die überlieferten mythische Urgeschichten auswirken. Wenn der Schöpfergott Israels in der Geschichte „Heil und Unheil“ zugleich schafft, wie der monotheistische Gedanke bei Deuterojesaja ausformuliert wird (Jes 45,7), war der Prüfstein der Darstellbarkeit und Erzähllogik der Urgeschichten nicht zu umgehen. Zwischen die Liste der Nachkommen Adams (tôledot ādām) und der Flutgeschichte wird mit Gen 6,1-4 ein in der exegetischen Litera-
82 83
T. Jacobsen, The Eridu Genesis, JBL 100/4 (1981), 520. Mit H. Seebass, op. cit., 188; anders L. Ruppert, op. cit., 265-268.
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tur kontrovers diskutierter Abschnitt eingeschoben.84 Der Inhalt ist auf wenige Sätze komprimiert. Mit der Notiz der Vermehrung der Menschen (Gen 6,1 vgl. Atr II i 2) scheint zunächst ein selbstständiger Mythos über die reguläre Eheschliessung von „Göttersöhnen“85 (bǝnê-haʾĕlohîm) und Menschentöchtern zitiert zu werden. Ob die Vermischung von Gott und Mensch in diesem Kontext an sich schon eine Verfehlung darstellt und mithin einen Anlass zur Sintflut enthält, wird nicht explizit ausgesagt und blieb in der Forschung bis dato umstritten.86 Mit Gen 1,22.28; 9,1 (P) ist die Vermehrung selbst klar als Segen bezeichnet. Erst am Schluss (Gen 6,4) folgt die ätiologischen Notiz über die Entstehung von „Gefallenen“ (hannǝfilîm, von Num 13,33 her meist als „Riesen“ verstanden), die mit den positiv bewerteten Heroen (haggibborîm) gleichgesetzt werden. Die Redundanz von „Göttersöhnen und Menschentöchtern (Gen 6,2.4) betont die Gottesrede in Gen 6,3. Es ist wichtig, die Leserichtung zu beachten. JHWH reagiert nicht auf die Entstehung von „Riesen“ oder „Helden“, sondern auf die Vermischung von Göttersöhnen und Menschentöchtern mit einer Rede ohne explizit genannte Zuhörer, die das maximale Menschenalter auf ideale 120 Jahre begrenzt (Gen 6,3), ein „Maximum geisterfüllten Lebens“.87 Gen 6,1-4 ist nicht vom Flutgeschehen zu isolieren,88 fungiert aber auch nicht als dessen Begründung oder Anlass. Ein ausführliche Begründung zu Flut gehört, wie im Vergleich zu sehen ist, gar nicht zum überlieferten Sintflutstoff hinzu, und Atr II i 1f. bildet davon 84 85
86 87
88
Zur Gattung L. Ruppert, op. cit., 267. An eine Angelologie, wie sie in hellenistischer Zeit bekannt ist, ist nicht gedacht, vgl. B. Jacob, op. cit., 170-172; C. Westermann, op. cit., 500-503; H. Seebass, op. cit., 192f. Vgl. L. Ruppert, op. cit., 264-284. B. Ziemer, Erklärung der Zahlen von Gen 5 aus ihrem kompositionellen Zusammenhang, ZAW 121/1 (2009), 5, Anm. 21. Das ideal gedachte Alter von 1·2·3·4·5 Jahren erreicht in dieser Systematik allein Mose (Dtn 31,2; 34,7), die nachsintflutlichen Menschen überschreiten es deutlich: vgl. die Liste bis Terach 205 (Gen 11,10-32), Sara 127 (23,1), Abraham 175 (25,7), Ismael 137 (25,17), Isaak 180 (35,28) und Jakob 147 (47,28). Anders W. Seebass, op. cit., 188; vgl. L. Schmidt 1967, 246.
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gerade keine Ausnahme. Wirkungsgeschichtlich wurde Gen 6,1-4 dennoch so verstanden. Das zeigt die mittelalterliche Kapiteleinteilung. Gen 6,1-4 wurde als weiterer Prolog mit dem Thema des sexuellen Tabubruchs in Korrespondenz zu einem entsprechenden ätiologischen Epilog in Gen 9,20-27 über die verbotene sexuelle Handlung des Noahsohnes Cham als Präfiguration des kanaanäischen Feindes her gelesen. Gen 6,1-4 trifft vielmehr bereits vor dem Flutgeschehen wichtige theologische und anthropologische Entscheidungen: JHWH hat keinen Götterrat bei sich. Er übernimmt dessen Funktion, und es wird daher keinerlei Spaltung der göttlichen Macht geben. Niedere Götter sind aus dem ugaritischen Pantheon als „Göttersöhne“ (bn il [m] )89 bekannt, sie bilden die Götterversammlung. Sie spielen aber in der Flutgeschichte keine Rolle, werden nicht einmal mehr als Depotenzierte erwähnt wie bei Hiob (1,6; 2,1; 38,7) oder in den Psalmen (29,1; 89,7). Der göttliche Entschluss der Minderung des Lebens hat als Begrenzung der absoluten Zahl der lebenden Menschen keinen Sinn. Damit wäre eine Flut, i.S. von Atr II i 2 verstanden als Eindämmung der Zahl der Menschen buchstäblich „überflüssig“. Der Beschluss definiert aber die gültige Distanz zwischen Gott und Mensch. Der Mensch allein ist Gottes Gegenüber, wohl aber von ihm getrennt. Daraus folgt: Die Gottmenschen der Vorzeit sind nur noch berühmte Helden, aber keine Götter mehr, und der künftige Flutheld wird nie vergöttlicht werden. Daher endet Gen 6,1-4 ohne jede negative Wertung. Weder die Vorstellung, dass die „Göttersöhne“ sich menschliche Frauen nahmen, noch die Erinnerung an riesenhaft erscheinende Menschen werden dem Menschengeschlecht zum Vorwurf gemacht, es wird nur indirekt festgestellt, dass es dämonische Mächte gibt, die in das menschliche Leben eingreifen können.90 Der nächste Abschnitt über die Reue JHWHs schliesst sich formal nahtlos an (Gen 6,5-8). Die Hörer und Leser sehen die Welt 89
90
KTU2 1.40; 1.65; Edition: M. Dietrich, O. Loretz, J. Sanmartín, The Cuneiform Alphabetic Texts from Ugarit, Ras Ibn Hani and Other Places, KTU: second, enlarged edition, Münster 1995. Zur Schlange und zum „Lagerer“ vgl. N.C. Baumgart, op. cit., 128-133.
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immer noch durch die Augen Gottes. Der Abschnitt fungiert explizit als Prolog zur Sintflutgeschichte, denn inhaltlich wird jetzt eine Begründung für die Flut geliefert, allerdings in summarischer Form: Die Menschheit ist böse, und zwar grundsätzlich: Gen 6,5: „JHWH sah, dass die Bosheit des Menschen auf der Erde gross war und jede Intention der Gedanken seines Herzens nur böse, den ganzen Tag.“ (wajjarʾ JHWH kî rabbā rāʿat hāʾādām bāʾāræṣ wǝkŏl-jeṣær maḥšǝvot libbô raq raʿ kŏl-hājjôm )
Der Mensch ist permanent böse, weil er böse veranlagt ist. Das Übel wurzelt in der menschlichen Intention. Das in der biblischen Weisheitsliteratur benannte und in der weiteren jüdisch-christlichen Geistesgeschichte oft diskutierte Problem von Freiheit und ethischer Entscheidung wird nicht angesprochen. Da aber JHWH die Menschen „veranlagt“ und gemacht hat, gleichzeitig ihre Bosheit nicht seiner Intention entspricht, wird er sie samt den übrigen Lebewesen zu Land und Luft vernichten. Der todbringende Fluch JHWHs hat bereits den Ackerboden für die Menschen zweimal verkümmern lassen (Gen 3,17; 5,29), exemplarisch gibt er dem Brudermörder gar keinen Ertrag mehr (Gen 4,12). Der Boden „stirbt“ insofern für Menschen, als er ihnen keinen Ertrag mehr gibt. Explizit ist von einem Fluch über dem Boden in Gen 6,6f aber nicht die Rede, allein aus der Rückschau (Gen 8,21) lässt sich herauslesen, dass der Fluch auch den Boden getroffen haben musste.91 Der Aufriss der genannten, früher oft als Quelle J bzw. heute meist als nichtpriesterlich bezeichneten Passagen der Genesis zeigen insofern eine Korrespondenz zu Atr II i 1-18, da erst der Boden keinen Ertrag mehr gibt, und in einem zweiten Schritt die Flutkatastrophe erfolgt. In Gen 6,6f wird der göttliche Vernichtungsbeschluss aber von der doppelt ausgesagten und mithin betonten Reue Gottes gerahmt (wajjinnāḥæm JHWH mit derselben Verbalwurzel wie in Gen 5,29: nḥm trösten, bereuen). Da der Mensch gut gemacht ist, aber nicht 91
So R. Rendtorff, Genesis 8,21 und die Urgeschichte des Jahwisten, KuD 7 (1961), 69-78.
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gut handelt, bereut Gott sein Wohlwollen, weil der Mensch nicht bereut. Dass Noah davon ausgenommen wird, ist ein Gnadenakt eines barmherzigen Gottes und damit gerade kein Rechtsakt, der auf der Gerechtigkeit des Helden beruhen könnte. Dass die Tiere in die Vernichtung eingeschlossen werden, impliziert die Vorstellung, dass sie dem Menschen zugeordnet geschaffen sind. Da der Mensch als Herrscher verantwortlich ist, wird auch sein ihm gegebener Besitz, die Welt aller Lebewesen, vernichtet. Der Gedanke und seine Ausformulierung wird klarer, wenn wir die prophetische sowie die deuteronomisch-deuteronomistische Kritik an Israel im Hintergrund mit lesen. Über weite Passagen der deuteronomisch-deuteronomistisch geprägten Texte hinweg reizt das Böse in Israel überhaupt und speziell das böse Handeln der Herrscher Israels JHWH zum Zorn und gibt zu Vernichtungsdrohungen Anlass. Wer „das Böse in den Augen JHWHs“ (hāraʿ bəʿênê JHWH ) tut, bereitet dessen vernichtenden Zorn über das ganze Volk vor. Diese Metapher drückt eine ganz bestimmte Theologie und Weltsicht aus: Das Böse muss immer aus der Mitte der idealen, theokratischen Gesellschaft „weggeschafft“ werden, ehe es zu spät ist. Das bedeutet konkret, dass alle Menschen, die etwas Böses tun, getötet werden müssen, sei es durch Gott selbst, sei es durch die Gerichtsbarkeit in seinem Namen. Wenn dies nicht geschieht, und die umfassende Katastrophe dann Realität und über alle hineingebrochen ist, ist ein Neubeginn ganz von der Gnade und Barmherzigkeit JHWHs abhängig. Die Monarchie wird ebenfalls aus diesem theokratischen Blickwinkel beurteilt. Entgegen dem ersten Augenschein wird in Gen 8,20-22 nicht das Gleiche ausgesagt wie in 6,5. Gleichwohl sind beide Aussagen durch das gleiche Vokabular als aufeinander bezogen markiert. Gen 8,21f.: JHWH roch den wohlgefälligen Geruch, und JHWH sprach in seinem Herzen: Nicht noch einmal will ich den Erdboden verfluchen um des Menschen willen (loʾ-ʾosif ləqallel ʿôd ʾæt-hāʾădāmāh baʿăvûr hāʾādām vgl. Gen 3,17-19); denn die Intention des menschlichen Herzens ist böse von seiner Jugend an (kî jēṣær lev hāʾādām raʿ minnǝʿurāw) und nicht noch einmal will ich alles Lebendige schlagen, wie ich getan habe (wǝloʾ-ʾosif ʿōd lǝhakkōt
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ʾæt-kŏl-ḥaj kaʾăšær ʿāśîtî ). Von nun an, alle Tage der Erde, sollen nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.
Die differenziertere Aussage korrigiert sanft die Anthropologie: Menschen sind nicht an sich, aber von klein auf böse. Das heisst implizit: Eigentlich ist der Mensch gut geschaffen. Damit ist das Theodizeeproblem wieder vom Tisch. Der Mensch lernt Schlechtes und wird so bereits früh böse. Daraus wäre zu schlussfolgern, dass Menschen nicht zu vernichten, sondern zu erziehen sind, und wenn jemand schuldig ist, dass nur jener zu bestrafen ist. Aber derartiges wird noch nicht gesagt. Statt dessen wird der Fluch über den Erdboden als unwiederholbar und damit implizit als aufgehoben dargestellt. Alle Lebewesen erhalten ihren eigenen Stellenwert, und der Mensch bekommt seine ursprünglich als ideal gedachte Herrschaft entzogen. N.C. Baumgart hat die Emphase hervorgehoben, mit der JHWH das erste Mal auf die Flut als seine eigene Tat rekurriert, und daraus seine Distanzierung von dieser Tat geschlussfolgert.92 Die Formulierung lässt die rhetorischen Fragen anklingen, die JHWHs Entsetzen über das Böse in Gen 3,13; 4,10 ausdrücken. Zudem sieht Baumgart in der Formulierung „alles Lebendige“ (kŏl-ḥaj ) den muttergöttlichen Part JHWHs ausgedrückt, der klar in Gen 3,20; 4,1 zum Ausdruck kommt – dort allerdings nicht in JHWH selbst, sondern in der erzählerischen Figur der „Mutter alles Lebens“, der Eva (ḥawwāh ).93 Mehrere Exegeten haben überzeugend deutlich gemacht, dass sich in der Figur der Eva die Muttergöttin Nintu, die „Frau der Rippe“ und „lebendig machenden Frau“ spiegelt.94 Richtig erkannt ist auch, dass 92 93 94
Vgl. N.C. Baumgart, op. cit., 448. Vgl. N.C. Baumgart, op. cit., 444-448. Vgl. A.S. Kapelrud, Art. חוה, ThWAT II, 796f.; S.N. Kramer, The Sumerians. Their History, Culture and Character, Chicago 1963, 149; H. SchüngelStraumann, Weibliche Dimensionen in mesopotamischen und alttestamentlichen Schöpfungsaussagen und ihre feministische Kritik, in: Der eine Gott und die Göttin. Gottesvorstellungen des biblischen Israel im Horizont feministischer Theologie, QD 121, Freiburg 1991, 54f.; dies., Die Frau am Anfang. Eva und die Folgen, Freiburg 1989, 145; C. Uehlinger, Nicht nur Knochenfrau. Zu einem wenig beachteten Aspekt der zweiten Schöpfungserzählung,
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es genau die Stelle ist, an der die Muttergöttin im Atra-ḫasīs-Epos und Gilgamesch-Epos ihr Entsetzen über den Tod ihrer Menschenkinder und ihr künftiges Gedenken zum Ausdruck bringt (Atr III v 30 - vi 4; Gilg XI 156-169).95 Dennoch muss festgehalten werden, dass hier zwar von einer Emphase, aber eben gerade nicht von einer Reue JHWHs wie in Gen 6,7 die Rede ist, vielleicht genau darum, eine direkte Identifikation desselben mit einer Muttergöttin zu vermeiden, auch dies dürfte als Ergebnis des israelitisch-jüdischen Diskurses um den Flutmythos im Horizont des sich herausbildenden Monotheismus verstanden werden. Das Schicksal von Erdboden und allen Lebewesen wird im Ergebnis von Gen 8,20-22 von dem des Menschen entkoppelt. Erst dieser Entzug der Herrschaft ermöglicht die weiterführende Konzession, dass Fleisch gegessen werden darf. Dies wiederum führt dazu, dass der Mensch in der Natur „Furcht und Schrecken“ auslöst. Was nicht gesagt wird, ist ebenso aufschlussreich. Es wird nicht gesagt, dass der Mensch vom Zorn Gottes verschont bleibt. Der Mensch kann und wird weiterhin vernichtet werden, wenn er böse ist. Gott bzw. die Gerichtsbarkeit in seinem Namen werden nach wie vor das menschliche Blut fordern, wenn jemand das Leben antastet. Jedoch euer eigenes Blut werde ich einfordern; von jedem Tiere werde ich es einfordern, und von der Hand des Menschen, von der Hand eines jeden, seines Bruders, werde ich die Seele des Menschen einfordern. (Gen 9,5)
Damit ist eine individualisierende und ethisierende Tendenz zu erkennen, die sich auch im Umgang des Gilg mit dem Sintflutstoff zeigt: Nachdem Enlil wutentbrannt die Überlebenden entdeckt, kritisiert Ea – parallel zur Rede Nintus in Atr III v 41f. – diesen als schlechten Ratgeber und fordert eine individuelle Bestrafung jedes Schuldigen:
95
BiKi 53, 1998, 32. In Ugarit wird manchmal Aschera als Muttergöttin bezeichnet, vgl. KTU2 1.6 VI 11, 15. Vgl. N.C. Baumgart, op. cit., 447f.
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Ea öffnet seinen Mund und spricht, er sagt zu Enlil, dem Helden: „Du, der Weise unter den Göttern, der Held, wie konnte es nur geschehen, dass du keinen (guten) Rat erteiltest, sondern die Sintflut sandtest? (Nur) dem, der selbst eine Sünde beging, laste seine Schulden an! (Nur) dem, der eines Fehlers sich schuldig machte, laste seinen Fehler an! Lockre (die Zügel), (denn) nie sollten (sie) zerschnitten werden! Zieh sie (dennoch) straff (genug), damit 96 (sie) nicht erschlaffen!“ (Gilg XI 181-187)
Genau diese individualisierende Sicht auf Schuld und Strafe, die sich in Gen 9,5f (P) ausdrückt, wird in Ez 18 systematisch thematisiert. Was soll das bei euch, dass ihr diese Redensart braucht auf Israels Boden: Die Vorfahren essen unreife Früchte, den Kindern aber werden die Zähne stumpf! So wahr ich lebe, Spruch des Herrn JHWH, diese Redensart werdet ihr nicht mehr verwenden in Israel! Seht, alle Menschenleben gehören mir! Das Leben des Vaters wie das Leben des Sohns – mir gehören sie! Derjenige, der sündigt, der muss sterben! … Der Mensch, der sündigt, der muss sterben! Ein Sohn trägt nicht die Schuld des Vaters, und ein Vater trägt nicht die Schuld des Sohns. Die Gerechtigkeit des Gerechten kommt nur ihm selbst zugute, und die Ungerechtigkeit eines Ungerechten lastet nur auf ihm selbst. … Habe ich etwa Gefallen am Tod eines Ungerechten?, Spruch des Herrn JHWH. Nicht vielmehr daran, dass er zurückkehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt? (Ez 18,2-4.20.23)
Bereits Gen 6,9ff (P) zeigt im Vergleich zu Gen 6,5-8; 8,20-22 eine signifikant andere Aussageabsicht – die „weltanschauliche Matrix des Tun-Ergehen-Zusammenhangs“97 steht dennoch und sogar noch stärker im Hintergrund. Zum einen wird die Gerechtigkeit Noahs dreifach hervorgehoben, wobei v.a. die kultische Vollkommenheit auffällt (noaḥ ʾîš ṣaddîq tāmîm hājāh bǝdorotāw ʾæt-hāʾĕlohîm hithallæch-noaḥ vgl. Gen 7,1). Zum anderen wird die Degeneration der guten Schöpfung nüchtern konstatiert: Das Leben (bāśār) ist verdorben, die Erde (hāʾāræṣ) mit Gewalt (ḥāmās) gefüllt. Auf die Frage nach dem Bösen gibt es nur eine angemessene Antwort, nämlich die unausweichliche Gewissheit, dass das Schöpfungswerk neu begonnen 96 97
S. Maul, op. cit., 146f. M. Arneth, op. cit., 235.
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werden muss. Weil die Welt „verdorben“ ist, wird sie Gott „verderben“ (Leitverb šḥt Ni, Hi). So ist die Schöpfung jenem Weinberg vergleichbar, der trotz aller Mühe schlechte Früchte bringt (Jes 5,1-4). Während die Schriftpropheten das Übel konkret im Lande Israel lokalisieren, erscheint hier die Gewalt in kosmischer Weite. Dazu korrespondierend wird der Neuanfang (Gen 9,8-17) in kosmischer Weite als Bund Gottes nicht nur mit dem Menschen, sondern auch mit den Lebewesen (Vögel, Nutztiere, wilde Tiere nach Gen 9,10) gefeiert. Es wird aber nicht ausgesagt, dass Gott unwandelbar ist, sondern erzählerisch impliziert, dass Gott das So-Sein der Menschen praktisch akzeptiert. Der göttliche Schwur, das Leben (bāśār) und mit ihm die Erde (hāʾāræṣ) nie mehr zu vernichten (Gen 9,11), findet ihr Äquivalent im Rat Eas nach einem spätbabylonischen Textzeugen des Atra-ḫasīs-Epos: Von diesem Tag an soll keine Flut mehr stattfinden und die Menschheit (soll) 98 ewig bestehen (MMA 86.11.378A rev. v 13´-14´).
Durch die individuelle Endlichkeit des Menschen hindurch bleibt die Menschheit unsterblich. Ein Opfer ist dabei nicht nötig (so nahe dieses dem „priesterlichen“ Denken stehen mag). Was den Einzelnen angeht, so wird nur der Gerechte leben, alle anderen wird Gott bestrafen.
3.4. Die Arche als Heiligtum
Gemäss der Erzähllogik muss der Rettungsort bei einer Flutkatastrophe ein Schiff oder ein hoher Berg sein. Während im sumerischen Text (Eridu V 5.7f.: (giš)ma-gur4-gur4) und im Atra-ḫasīs-Epos (III i 22-26, ii 55: makūru) von einem profanen Schiff gesprochen wird, werden Schiff und Berg im Gilgamesch-Epos und Gen 6-9 in ähnlicher, aber doch markant unterschiedlicher Weise miteinander verknüpft. Das Wasserfahrzeug landet direkt am rettenden Berg bzw. 98
A.R. George, op. cit. I, 527f.
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Gebirge (Nimuš99 Gilg XI 140-146; Ararat Gen 8,4 nP/J). Im Gilgamesch-Epos (XI 27f.76.93f) ist das Holzschiff ((gis)elippu(m) ) mit seinen Toren (XI 89.94; vgl. Atr III ii 51f) für die Vorstellung des Weltberges und seiner kultischen Repräsentation in der ziqquratu, dem babylonischen Stufenturm, transparent. Die würfelförmigen Raumkörper der Arche werden in Gilg XI 59-62 wie bei der idealen Berechnung jener Zikkurrate konzipiert,100 wie sie sicher für die neuassyrische und neubabylonische Zeit belegt sind, und für die mittelbabylonische Abfassungszeit des Gilg begründet vermutet werden können.101 Die siebente und letzte Etage der Arche stellt einen Hochtempel (kiṣṣu elū) dar. Das abschliessende Opfer findet am siebenten Tag auf dem Schiff selbst statt, das der Nimuš bereits über sechs Tage lang auf seiner Spitze festhält. Ich brachte ein Schüttopfer dar oben auf dem Stufenturm, dem Fels. áš-kun 102 sur-qin-nu ina muḫḫi(ugu) ziq-qur-rat šadî(kur)i (Gilg XI 158)
N.C. Baumgart hat vorgeschlagen, unter ziqquratu hier nicht die Bergspitze, sondern die Arche selbst als Stufenturm zu verstehen.103 Bereits bei Fertigstellung des Schiffs feiern die Arbeiter, als wären es die Feiertage des babylonischen Akitu-Festes, bei dem gemäss dem entsprechenden Festtext Enūma Eliš (Ee V 119) die Gründung des Heiligtums im Zentrum steht (Gilg XI 75, vgl. das Gastmahl Atr III ii 41). Dach und Böden des Rettungsfahrzeugs werden nach dem Apsu gebildet, dem die Welt umwölbenden Süsswasserozean (Atr III i 29.31; Gilg XI 31). Damit symbolisiert das Rettungsfahrzeug nicht
99 100
101 102 103
Ältere Lesung: Niṣir, vgl. W.G. Lambert, Niṣir oder Nimuš ? RA 80 (1986), 185f. Vgl. N.C. Baumgart, Utnapischtims Arche. Ihre Transparenz für eine Zikkurrat und die Flutchaosüberwindung im mesopotamischen Kultbau, MARG 12 (1997), 181-229. N.C. Baumgart, Die Umkehr des Schöpfergottes, 519f. A.R. George, op. cit., 712; vgl. S. Maul, op. cit., 146; Übers. hier nach N.C. Baumgart, op. cit., 520. Vgl. N.C. Baumgart, op. cit., 510-523.
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nur die bewohnbare Welt, sondern wird zugleich als über dem Apsu gegründetes Heiligtum dargestellt.104 In den biblischen Texten, die der Priesterschrift Pg zugerechnet werden, wird diese Konzeption eines mesopotamischen ArcheHeiligtums nicht nur aufgenommen und für die eigene Aussageabsicht fruchtbar gemacht, sondern zugleich auch an genuin israelitischen Überlieferungen angepasst und damit umgedeutet. Eine Reihe von Untersuchungen beleuchteten die Korrespondenz von Gen 6,922 P und Ex 24-40* P bzw. die aufeinander bezogenen Konzeptionen von Arche und Stiftshütte.105 Bei der Beschreibung der Arche in Gen 6,14-16 steht aber nicht nur die Form und Funktion der Stiftshütte, sondern deutlich auch der Jerusalemer Tempel als Langhaus im Unterschied zum zum babylonischen Kubus im Vordergrund.106 Die Höhe der Bauwerke ist mit 30 Ellen (rund 15 m) gleich (Gen 6,15; 1Kön 6,2), die Grundflächen stehen im Verhältnis 6:1 (Arche) bzw. 3:1 (Tempel). Auch das architektonische Detail der nun nicht mehr sieben (Gilg XI 62), sondern drei Etagen ist, wie Baumgart nachweisen konnte, an den Jerusalemer Tempelbautraditionen orientiert, nämlich der salomonischen (1Kön 6-8), der nachexilischen (Sach 4,9; Sir 49,11-12), und herodianischen (Josephus Bell Jud V 55; Mischna Traktat Middot IV,3).107 Noah selbst wird wie ein ideal gedachter Besucher dieses JHWH-Heiligtums beschrieben, dessen exemplarische Gerechtigkeit ihn zum wahren „Bild Gottes“ macht, einem reinen Menschen, der in Gottesgemeinschaft den Berg Gottes betreten darf und der dem hereinbrechenden Chaos nicht unterliegt (Gen 6,9; vgl. die Texte zur „Einlassliturgie“ Ps 15; 24,2-5; Jes 33,14104 Vgl. N.C. Baumgart, op. cit., 525f. 105 Vgl. T. Pola, Die ursprüngliche Priesterschrift. Beobachtungen zur Literarkritik und Traditionsgeschichte von Pg, Neukirchen-Vluyn 1995; P. Weimar, Sinai und Schöpfung. Komposition und Theologie der priesterschriftlichen Sinaigeschichte, RB 95 (1988) 337-385; E. Zenger, Gottes Bogen in den Wolken. Untersuchungen zu Komposition und Theologie der priesterschriftlichen Urgeschichte, Stuttgart 21987. 106 Vgl. N.C. Baumgart, op. cit., 554f. 107 Vgl. N.C. Baumgart, op. cit., 543-548.
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16).108 Baumgarts inhaltliche Argumentation wird durch eine ganze Reihe bereits lange erkannter stilistischer Argumente untermauert: Einige hebr. Hapaxlegomena klingen an entprechendes akkadisches Vokabular an: 1. kpr II „verpichen“ / „Asphalt“ statt des bekannten ḥmr, akk. kupru; 2. qānîm „Schilf“, akk. qanûm; 3. ṣohar „Dach“, akk. ṣerū). Für die Bezeichnung der Arche selbst wird aber kein akkadisches Vokabular gebraucht. Der masoretische Text109 nennt sie „Kasten“ (tebāh) aus Gofer-Holz. Diese Bezeichnung erinnert an die tebāh aus Papyrus, in der Mose als Kind auf dem Nil überlebt (Ex 2,3.5 MT) und ruft damit die genuin israelitische Exodustradition auf. tebāh ist ein ägyptisches Lehnwort „Kasten“ (ḏb Ꜣ.t / tb.t ).110 In der mesopotamischen Fluttradition wird das Überleben in der Katastrophe durch das Heiligtum und den Kult plastisch vor Augen geführt. Umgekehrt werden der Sakralbau und die heiligen Handlung durch den Mythos inhaltlich ausgedeutet. In der israelitischen Konzeption ist allein JHWH der Garant des Überlebens, sein Tempel und sein Kult – aus exilischer Perspektive noch eine Utopie – wird zum Nabel der Welt und allen Lebens. In diesem Sinn liegt mit der Konzeption der Sintflutgeschichte auch eine Umbildung und Umformulierung des Flutmythos vor, immer unter der theologischen Vorgabe der Einzigartigkeit JHWHs. Die (priesterschriftliche) Bundeskonzeption am Schluss der biblischen Sintflutgeschichte zeigt dabei eine neue, universale Sichtweise der Gnade Gottes, die Leben und Schöpfung nun nicht allein an den Tempel in Jerusalem bindet, sondern für alle Menschen als gültig sein lässt. 108 Vgl. N.C. Baumgart, op. cit., 548-552. 109 Die Septuaginta zeigt ein ganz anderes Konzept: Die Bedeutung „Kasten“, lat. arca, bleibt zwar bestehen, mit der gemeinsamen Übersetzung kibōtos wird aber die Arche bewusst mit der Bundeslade verknüpft. Der masoretische Text verbindet die hāʾārôn genannte Bundeslade mit dem gleichnamigen Sarg Josefs (Gen 50,26; Ex 25,10). Die Septuaginta nennt diesen Sarg wie in Hi 21,33 soros „Grab“. 110 Vgl. A.S. Yahuda, Die Sprache des Pentateuch in ihren Beziehungen zum Ägyptischen, Berlin und Leipzig 1929, 198-200; P. Weimar, Art. Arche, NBL I, 160f.
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Das Brandopfer (hier im Plural: ʿolot ) Noahs nach der Flut wird zu Recht nicht zu diesem priesterlichen Konzept gerechnet, denn es ist ohnehin ein Element der gemeinsamen vorderorientalischen Flutüberlieferung. Noah opfert gerade nicht auf der Arche, diese ist deshalb in der Darstellung von Gen 8,20-22 gerade kein Heiligtum. Noah baut erst nach der Flut einen Altar vor der Arche auf der Erde. Es widerspricht aber auch nicht der Jerusalemer Konzeption, steht doch der Brandopferaltar vor dem Tempel.
4. Zusammenfassung
Der in der gemeinsamen vorderorientalischen Flutüberlieferung repräsentierte mythische Stoff wurde in Gen 6-9 nicht nur rezipiert, sondern auch signifikant transformiert. Dies lässt sich exemplarisch – nicht erschöpfend – an den vier Problemfeldern deutlich machen, in denen der israelitisch-jüdische Mythendiskurs besonders gut sichtbar wird: an der Figur des Fluthelden, der Rolle Gottes, dem Begründungsrahmen und der Bedeutung der Arche. Während die altorientalischen Helden als Gottmenschen der Welt bei aller Tragik auch entrückt sind, wird das Überleben der Geretteten der Genesis allein durch natürliche Nachkommen ermöglicht. Die Vergöttlichung eines Menschen wird abgelehnt. Gott und Mensch bleiben strikt getrennt, wobei Gott allein handelt und der rechtschaffene Mensch nicht heldenhaft sein muss, sondern sich als Überlebender seinem Gott anvertrauen kann. In diesen pointierten Nuancierungen des Stoffes spiegelt sich vielleicht auch der historische Ort des israelitisch-jüdischen Mythendiskurses, nämlich die prekäre Situation einer Diasporagemeinde in der Minorität. Bei der Frage nach dem Grund der im Leben der Menschen immer wieder erfahrbaren Katastrophe zeigt sich eine starke Ethisierung, die in den altorientalischen Epen in dieser Form nicht vor-
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kommt. Es ist allein das Böse im Menschen, nicht ihre pure Vielzahl, ein böswilliger Gegenspieler oder das blinde Schicksal, das die Katastrophe scheinbar kontingent hereinbrechen liess. Wenn aber erkannt ist, das ein Mensch von Geburt an weder so gut ist, dass er als idealer Herrscher über die Schöpfung fungieren könnte, noch so böse ist, dass seine Existenz auf der Welt ein dauerhafter Schaden für die Schöpfung ist, sondern dass er verschiedensten Einflüssen seit frühester Jugend ausgesetzt ist, dann muss der Mensch lernen, die guten Wege einzuschlagen und für Böses konsequent bestraft zu werden, jede und jeder für sich. Der Mensch ist nicht der Herrscher über die Welt, sondern die Erde und die Lebewesen sind dauerhaft und gültig Gottes Eigentum. Eine solche Katastrophe über alle wird es nicht mehr geben, dies sei den Menschen zum Troste gesagt. Im anfangs beschriebenen Sinn des Mythos ist diese anthropologische Nüchternheit nicht als Entmythologisierung zu begreifen, vielmehr werden bestimmte mythische Aussagen theologisch und ethisch überlegt nuanciert, damit sie wider die angstmachende Kontingenz des Übels in der Welt bestimmte Ursachen für Katastrophen aufdecken, die Lebenssituation hinreichend erklären, darin Sinn stiften und orientierend wirken können. Mit allen Schwierigkeiten, den der sich entwickelnde monotheistische Gedanke von Anfang an verursacht hat, steht Gott allein dem Menschen gegenüber. Das aus der biblischen Sintflutgeschichte hervorgehende Bild Gottes ist aber kein statisches, dogmatisch definiertes Bild von Unwandelbarkeit, Allmacht oder dergleichen. Der eine Gott übernimmt die Funktion des Götterrates, schafft Heil und Unheil zugleich in dynamischer Abfolge, indem er mitfühlt und bereut, wieder und wieder umkehrt und seine Menschen nicht der Vernichtung preisgibt. Gott bekommt in diesem Eifer anthropomorphe Züge. Es sind die Züge eines drohenden Kriegers, einer liebenden Mutter und eines treuen Freundes zugleich. Er lässt seine Menschen nicht los, weder im Angesicht roher Gewalt noch in der schlimmsten Katastrophe. Typisch judäische Züge sind zu erkennen, wenn die Arche den Tempel in Jerusalem symbolisiert. Aus exilischer Sicht wäre es der
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ehemalige, zerstörte und wieder erhoffte, künftige Tempel. Wie JHWH allein der Garant des Überlebens ist, weil er allein das Leben erschafft und wieder zerstören kann, wird sein Tempel und sein Kult zum Nabel der Welt und allen Lebens. Die weiterführende, priesterschriftliche Bundeskonzeption korrigiert dies in eine universalistische Sichtweise, die das Überleben der Schöpfung nicht allein an den Tempel in Jerusalem bindet, sondern für alle Menschen gültig sein lässt. Weder stilistische Eigenheiten noch die mehrfachen Redundanzen können literarkritische Unterscheidungen zwischen den vermuteten Textschichten zweifelsfrei begründen, ohne externe Evidenzen bleiben die beeindruckenden Ergebnisse der rezenten Studien immer auf hypothetischer Basis. Der heute vorliegende Text der biblischen Sinflutgeschichte zeigt sich zwar nicht an der Textoberfläche, aber doch inhaltlich weitgehend kohärent. Dennoch lassen sich zwei inhaltlich verschiedene theologische, anthropologische und soziale Perspektiven unterscheiden, die wohl beide auf die exilische Herausforderung anworten. Sie stehen sich aber nicht antagonistisch gegenüber, sondern haben beide ihre Stärken und Schwächen. Ob die Rettung aus einer universalen oder auch persönlichen Katastrophe ganz von der Gnade und Barmherzigkeit Gottes abhängig ist, oder ob die Gerechten wirklich immer überleben werden, ist nicht nur anhand des Flutstoffes diskutiert worden, sondern eine Frage, die viele biblische Texte bewegt. Dies mag der Grund sein, warum diese Perspektiven in der Sintflutgeschichte, anders als bei anderen Texten, in der Überlieferung nebeneinander gestellt und in ihrer Aussage erkennbar belassen wurden.
Schöpfung im Alten Ägypten SIGRID HODEL-HOENES
1. Einleitung Das griechische „Mythos“ bedeutet „Wort, Rede, Erzählung“ – das Ägyptische kennt hierfür kein Äquivalent. Man kann für Mythos oft Urzeit, Jenseits oder Götterwelt setzen. Mythen vermitteln die Kunde einer vor dem Menschen erschaffenen, über ihn erhabenen Welt. Die auch seine Erde umschliesst und sein Schicksal leitet. Sie setzen als Gegensatz das Bewusstsein geschichtlicher, in die Gegenwart einmündender Wirklichkeit voraus und können sich schon deshalb erst nach Anbruch der Geschichte jenseits einer in Annalen und Archiven greifbaren Überlieferung herausbilden. Die Weite menschlicher Vorstellung und Ahnung sind ihre Grenzen, überkommene, rätselvolle Gestalten, heilige Gegenstände und vieldeutige Handlungen ihr Kernbestand an Symbolen des nicht anders 1 Fassbaren. Einen Mythos erzählen heisst verkünden, was sich ab initio ereignet hat…. Es handelt sich natürlich um sakrale Wirklichkeiten, denn für die ar2 chaischen Gesellschaften ist das Sakrale das eigentlich Wirkliche. …
Solche in der Götterwelt spielende Handlungen oder Erzählungen sind in Ägypten erst in der spätesten Epoche seiner Geschichte belegt, was nicht bedeutet, dass aus mythischen Bildern, bzw. Sentenzen, Geschichten entstehen können. Wie Schott so einfühlsam formulierte: „im Rahmen symbolhaft gedeuteter Wirklichkeit schläft 1 2
S. Schott, Mythe und Mythenbildung, UGAÄ 15, Leipzig 1945, 28. M. Eliade et al. (Hg.), Die Schöpfungsmythen. Ägypter, Sumerer, Hurriter, Hethiter, Kanaaniter und Israeliten, mit einem Vorwort von M. Eliade, Darmstadt 1980, 11.
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noch die Mythe.“3 Wir haben es im Folgenden also zumeist mit ursprünglich nicht narrativen „Erzählungen“ zu tun. Sucht man ausführlichere Darstellungen der Schöpfungsvorstellungen, muss man auf späte Texte und solche der ptolemäischen und römischen Zeit zurückgreifen, aber selbst da wird man einen Text vergleichbar dem Enuma Eliš oder der Genesis selten finden. Generell sind erzählte Mythen in Ägypten sehr spät. Der Osiris-Mythos als bekanntestes Beispiel ist als Erzählung erst bei Plutarch überliefert. Religiöse Texte dagegen gibt es bereits Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. Auf diese „Pyramidentexte“, wird im Folgenden oft Bezug genommen. Nach diesen Prämissen wird vielleicht verständlich, warum der Titel nur „Schöpfung“ und nicht „Schöpfungsmythen“ im Alten Ägypten lautet.
2. Die Entstehung der Welt Die ägyptische Religion versucht wie andere auch, die Entstehung der Welt mit Kosmogonien zu erklären. Diese stehen in enger Verbindung zum Weltbild bzw. zur Weltanschauung und werden in Bildern und Texten veranschaulicht. Gleichzeitig dienen sie zur ätiologischen Erläuterung des Bestandes der Welt. Die vielfältigen Aussagen über die Schöpfung befassen sich mit den Grundgegebenheiten; die Entstehung der Vielheit aus der Einheit ist dabei ein wichtiger Aspekt. Auf der anderen Seite kennt auch der Ägypter Theogonien von selbstentstandenen Göttern und von Göttern, die geschaffen oder gezeugt wurden. Für den Ägypter bestand die Welt bereits vor der Schöpfung, sie war im Urgewässer Nun verborgen, es herrscht das sog. Chaos. 3
S. Schott, op. cit., 68.
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NN ist geboren im Nun, als der Himmel noch nicht entstanden war, als die Erde noch nicht entstanden war, als die beiden Randgebirge noch nicht entstanden waren, als die Unruhe (der Streit) noch nicht entstanden war, als jene 4 Furcht noch nicht entstanden war, die entstand wegen des Auges des Horus.
Diese grenzenlose träge Wasserfläche, in der die zukünftige Schöpfung angelegt ist, ist auch anderen Kulturen geläufig. Nach Eliade ist zugleich die Orientierung im Raume für die archaischen Kulturen und damit auch für Ägypten von eminenter Bedeutung. Der Mensch schafft sich so seine eigene Welt. Das Gebiet, das er besetzt hält, wie beispielsweise sein Haus, widerspiegelt ein Idealbild, dasjenige der Götter als der Schöpfer des Universums. Der Mensch kann nicht in einem Chaos leben. Die Umwandlung des Chaos in den Kosmos durch den göttlichen Akt der Schöpfung ist daher von grundlegender Bedeutung. Dies zeigt sich auch bei Landnahmen verschiedener Kulturen, die jeweils einen primordialen Akt ausführten.5 So findet die ägyptische Vorstellung von Chaos und der Schöpfung, die durch Ordnung initiiert wird, in anderen Ländern Analogien. Sie ist aber wohl selten so ausführlich und eindringlich wie in Ägypten beschrieben worden. Diese „‚Welt vor der Schöpfung’ erscheint durchaus als ‚Mangelzustand’, aber nicht als Chaos im Sinne eines Urbösen; es handelt sich um die Abwesenheit, aber nicht um eine Negation der Ordnung, und zwar eine Abwesenheit, die auch als Potenzialität erscheint.“6 Der Zustand vor der Schöpfung kann durch furchterregende Dunkelheit charakterisiert werden. Man erkennt nichts und niemand, das Negative nimmt überhand. Das Chaos endet erst, wenn der wirkt, „der den Himmel hochhob für den Umlauf seiner beiden Augen, der die Erde schuf, um seinen Lichtglanz auszubreiten, um zu bewirken, dass ein Jeder 4
5 6
K. Sethe, Die altägyptischen Pyramidentexte, 4 Bde., Leipzig 1908-1922. Im folgenden Pyramidenspruch (Pyr. Spruch) 1040a-d Anrufung des Urgewässers durch den Toten. Nach Sethe wohl ursprünglich in der 1. Person. Der Tote setzt sich mit dem Sonnengott gleich. Ausführlich: Schöpfungsmythen, 15-20. J. Assmann, Zeit und Ewigkeit im Alten Ägypten, AHAW, Heidelberg 1974, 21, Anm. 53.
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seinen Nächsten kennt“7. Die Präexistenz wird weiterhin auch charakterisiert als ein Zustand, in dem es noch nicht „zwei Dinge gab“ oder „als es noch nicht … gab“.8 Es ist eine Welt, in der „das Gebären noch nicht entstanden war.“9 oder „bevor der Himmel entstand, bevor die Erde entstand, bevor die Menschen entstanden und die Götter geboren wurden, bevor der Tod entstand.“10 Gott hat nicht einmal einen Platz, an dem er stehen könnte11. Es herrscht die undifferenzierte Einheit. Erst seit der Schöpfung existieren jegliche Arten von Begrenzung und Differenzierung. Generell wird kaum das Wie, sondern eher das Was der Schöpfung thematisiert. Aus diesem Chaos heraus entsteht die Welt, genauer gesagt, die Weltordnung, Maat (m ꜢꜤt ).12 Maat ist der im Schöpfungsakt gesetzte richtige Zustand in Natur und Gesellschaft und von da aus je nachdem das Rechte, das Richtige und das Recht, die Ordnung, die Gerechtigkeit und die Wahrheit. Diesen Zustand gilt es allenthalben im Grossen wie im Kleinen zu wahren oder herzustellen, so dass Maat, die zunächst als richtige Ordnung gesetzt ist, Ziel und Aufgabe menschlicher 13 Tätigkeit wird.
So ist für die ständig zu erneuernde Schöpfung auch das menschliche Handeln im Sinne der Aufrechterhaltung der Maat ein entscheiden7 8 9 10 11
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ÄHG: J. Assmann, Ägyptische Hymnen und Gebete, Zürich-München 1975, Nr. 44, 6-8. Zahlreiche Beispiele bei: H. Grapow, Die Welt vor der Schöpfung, ZÄS 67 (1931), 34-38; E. Hornung, Der Eine und die Vielen, Darmstadt 2005, 186. S. Schott, Rś-N.t und Mḥ-N.t als Häuser der Neith, RdE 19 (1967), 99 (Udjahorresenet). Pyr. Spruch 1466c-d. Papyrus (i.F. p) Bremner Rhind, 26,23 und 28,24. R.O. Faulkner, The Papyrus Bremner Rhind (BM 10188), BAe III, Brüssel 1933. Übers. G. Roeder, Urkunden zur Religion des Alten Ägypten, Jena 1923, 98-115, siehe unten Anm. 22 und 61. J. Assmann, Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten. München 1990, 30ff. Er möchte als Kernbedeutung von Maat „Gerechtigkeit“ bzw. „Weltordnung als Gerechtigkeit“ ansetzen. S. Morenz, Ägyptische Religion. Stuttgart 1977, 120.
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der Faktor. Chaos und Weltordnung bilden wie Finsternis und Licht mit der Schöpfung die Polarität, den Dualismus, der das Denken der Ägypter durchzieht. Dieser Urzustand wird in Hymnen des Neuen Reiches bereits als ‚erste Manifestation’ des Schöpfergottes gesehen. Es wird also nicht mehr der Schöpfergott dem Chaos gegenübergestellt, sondern er wird mit dem personifizierten Urzustand identifiziert.14 …Verborgener, denn Du schufst, als Du allein warst, als ‚Der seinen Mund 15 auftat’ deine erste Gestalt war der Urozean…
Das zeigt, dass neben der Schöpfung auch der Aspekt der Verwandlung beim Übergang von der Präexistenz zur Existenz eine Rolle spielt. „… Gott war bereits vor der Entstehung der Welt als der Eine und der Verborgene vorhanden. Die Verborgenheit beruht im Geheimnis seines Ursprungs, der als spontane Autogenese, als ‚Entstehung aus sich selbst’ beschrieben wird. Die Kosmogonie, der Übergang von der Einheit zur Vielheit, wird in zwei komplementären Aspekten dargestellt: als Schöpfung und als Transformation, als Handlung und Prozess. Gott erschafft die Welt und verwandelt sich in sie, als der ‚Eine, der sich zu Millionen macht’, wie es in Hymnen heisst “16 Aus dem Gesagten wird ersichtlich, dass es sich bei der ägyptischen Schöpfungsvorstellung um keine creatio ex nihilo wie beim Alten Testament17 handelt, sondern um einen Schöpfungsakt, bei dem Vorhandenes transformiert wird. Dem Schöpfergott zur Seite stehen die Schöpferkräfte Sia (planende Einsicht), Hu (wirkender
14 15 16 17
J. Assmann, Zeit, 21 und Anm. 55. ÄHG Nr. 36. ÄHG Nr. S.67. Der Satz „die Erde war tohû wābohû“ (Gen 1,2) legt allerdings nahe, dass auch hier bereits etwas vorhanden gewesen sein muss. Ausserdem scheint die Erde schon vor ihrer Erschaffung existiert zu haben. So kann man im engeren Sinn auch im Alten Testament eigentlich nicht von einer creatio ex nihilo sprechen.
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Ausspruch) und Heka (Zauber). Im „Vorwurf an Gott“18, einem Text, der das Elend, das Chaos im Lande schildert und in dem Gott der Vorwurf gemacht wird, er sehe dem Unrecht zu und dulde es, erklärt der Schöpfergott selbst, was er veranlasst hat. Es gibt jedoch Hoffnung, denn es gibt eine „Wiederholung der Schöpfung“. Der Ägypter glaubt an einen Anfang der Welt, die jedoch nicht vollkommen ist, denn die Schöpfung ist in Raum und Zeit begrenzt.19 Der Ägypter nennt den Weltbeginn zep tepi, „das Erste Mal“. Dieser Ausdruck enthält die (zwingende) Möglichkeit der Wiederholung und das sofortige Gelingen der Schöpfung. Mit der creatio prima beginnt die Vielheit, die aus der Einheit hervorgeht. Die Schöpfung ist in Ägypten jedoch kein einmaliger Akt, sondern sie muss sich ständig regenerieren, sie ist ein fortwährender Prozess, eine creatio continua.20 Die Sicherheit, dass die Wiederholung gelingt, geben Riten. Ein augenfälliges Bild dieser creatio continua ist der Sonnenlauf. Jeden Morgen erhebt sich der Sonnengott aus dem Urgewässer Nun und beginnt seinen Weg über den Himmel. Im Verlaufe des Tages wandelt sich der Sonnengott vom Sonnenkind oder der morgendlichen Käfergestalt zu einem Greis, der im Westen untergeht. Die Nachtfahrt kulminiert dann in der zwölften Stunde in der Verjüngung des Sonnengottes, der dann wieder aus der Unterwelt wieder
18
19
20
Ipuwer: G. Fecht, Der Vorwurf an Gott in den ‚Mahnworten des Ipu-wer‘ (Pap. Leiden I 344 recto, 11-13,8; 15,13-17,3). Zur geistigen Krise der ersten Zwischenzeit und ihrer Bewältigung, AHAW.PH, Heidelberg 1972. Vgl. Sargtext (i.F. CT) Spruch 1130. A. de Buck, The Egyptian Coffin Texts, 7 Bde., Chigaco 1935-1961 ; Totenbuch (i.F. TB) Spruch 175. E. Naville, Das aegyptische Todtenbuch der 18.-20. Dynastie, Berlin 1886 (reprint Graz 1971). Übersetzung: E. Hornung, Das Totenbuch der Ägypter, ZürichMünchen 1979. O. Keel, S. Schroer, Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen. Göttingen-Freiburg 2002, 191, stellen die creatio prima der creatio continua gegenüber. Zur creatio continua vgl. J. Assmann, Re und Amun, OBO 51, Freiburg 1983, 114-125.
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emporsteigt.21 Das Urgewässer Nun ist also ständig zugegen und damit das Chaos, die Welt vor der Schöpfung. Das birgt Gefahren, aber auch die Chancen des ständigen Neuanfangs. Die Gefahren, die der notwendigen perpetuierenden Erneuerung drohen, äussern sich bildhaft z.B. in der Bedrohung der Schöpfung durch die Schlange Apophis, die sich jede Nacht dem Sonnengott in den Weg stellt und neu bekämpft und vernichtet werden muss, jedoch nie völlig besiegt werden wird.22 Apophis hat zur Zeit des Abends eine Elle und drei Handbreit vom Hochwasser (d.h. des Nun) eingeschlürft und damit die Sonnenbarke des Re zum Stillstand gebracht. Um diesen Stillstand zu verhindern und den Fortbestand der Erneuerung der Schöpfung zu sichern, stösst Seth seinen Speer von Erz in den Leib des Apophis, und dieser speit alles Wasser, was er eingeschlürft hat, wieder aus, so dass die Barke weiter ihren Weg ziehen kann.23 Es werden ihm zusätzlich schlimme Verletzungen und Verstümmelungen zugefügt, sogar sein Kopf wird abgetrennt, sein Gesicht zerschnitten, seine Knochen zerbrochen und seine Glieder verstümmelt.24 Im Pfortenbuch muss Apophis die von ihm verschlungenen Menschen wieder von sich geben die dann ihrerseits seine Windungen verschlingen und ihn zugrunde richten.25 Zauberkraft bannt Apophis, der hier als Verkörperung des Chaos, also der Zeit vor der Schöpfung, angesehen werden darf. Dieses ist immer latent vorhanden und kann nur zurückgedrängt, aber nicht beseitigt werden. Das Ende der Schöpfung droht jede Nacht von neuem und muss daher jede Nacht von neuem bekämpft werden. Wie aber der 21 22
23 24 25
Die Nachtfahrt der Sonne ist in den verschiedenen Unterweltsbüchern thematisiert. Zum Beispiel: CT Spruch 1094. Amduat 7. und 12. Stunde; Pfortenbuch 13.,14.,34.,35., 66., 67., 69. und 89. Szene Höhlenbuch 6. Abschnitt. Übersetzung: E. Hornung, Ägyptische Unterweltsbücher, Zürich-München 1972. TB Sprüche 7; 39 und 108. Hervorzuheben ist das sog. Apophisbuch, Pap. Brermner-Rhind, BM 10188, siehe oben Anm. 11 und unten Anm. 61. TB Spruch 108. Vgl. CT Spruch 414. TB Spruch 39. Pfortenbuch Szene 34 .35.
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Weltuntergang den Keim des Neuanfangs in sich trägt, so trägt auch Apophis positive, regenerierende Kräfte in sich. Bildlich wird dies z.B. in der Abbildung des Apophis ohne Messer im Rücken gezeigt.26 Noch eindrücklicher offenbaren sich diese regenerativen Kräfte, die dem Ende innewohnen, wenn der Uroboros dann die Altgewordenen verschlingt und sie, nachdem sie seinen Leib durchlaufen haben, wieder verjüngt hervortreten. Konsequenzen kann diese Umkehr der Zeitachse jedoch erst im Jenseits haben.27 Deswegen kann Neferti bei der Beschreibung des katastrophalen Zustandes des Landes sagen: „Geschaffenes ist, als wäre es nicht geschaffen, so dass Re die Schöpfung neu beginnen muss.“28 Da die Präexistenz ständig zugegen ist, verkörpert durch das Urgewässer, besteht latent immer die Möglichkeit eines Neuanfangs – sei es, um nach Schlechtem neu anzufangen, oder nach dem Weltende die Schöpfung (wieder) neu zu beginnen! Die Ordnung zu gewähren ist eine der vornehmsten Aufgaben des Herrschers. Er ist der Garant der Maat, die mit Hilfe von Riten aufrechterhalten wird. Dazu gehört auch, dass verhindert wird, dass der Himmel auf die Erde fällt, der Lauf der Sonne seinen geregelten Gang geht und der Nil nicht austrocknet.29 Daher „vertreibt der König die Unordnung (jsft ), indem er erschienen ist als Atum selbst.“30 Folgerichtig muss beim Tode eines Herrschers schnellstmöglich ein neuer inthronisiert werden, denn ohne ihn herrscht eine maatlose Zeit, würde das Land in das Chaos stürzen. Die ständige Erneuerung der Schöpfung ist ohne König unmöglich.
26 27 28 29
30
E. Hornung, Unterweltsbücher, 46-47. Ibid. 31-33. Neferti Z. 22, W. Helck, Die Prophezeiung des Nfr.tj., KÄT, Wiesbaden 1970. P. Derchain, Le rôle du roi d’Egypte dans le maintien de l’ordre cosmique, in: L. Heusch (Hg.), Le Pouvoir et le Sacré, ACER I, Brüssel 1962, 61-73 ; ders., Le Papyrus Salt 825 (B.M. 10051). Rituel pour la conservation de la vie en Egypte. I-II, MAB 58, Fasc 1a-b, Brüssel 1965, 13ff. Urk VII: K. Sethe, Historisch-biographische Urkunden des Mittleren Reiches, Leipzig, 1935, 27.
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2.1. Der Ur- oder Schöpfergott
Über die Entstehung des Ur-bzw. Schöpfergottes, aus dem alles heraus entstanden ist oder der alles schuf, finden wir keine Aussage. Er ist „von selbst, ohne dass er geboren wurde“31 entstanden. Dieser Schöpfergott hat die Götter und die Menschen erschaffen.32 Den Schöpfergott, der sogar andere Götter erschafft, kann man in Ägypten jedoch nicht als festgelegte Gottheit erfassen. „Denn dieser götterschaffende Gott, dem der gesamte Kosmos sein Dasein verdankt, ist kein bestimmter Gott hinter und über allen Göttern, sondern von Fall zu Fall der jeweilige Schöpfergott, es kann Ptah, es kann Re, Amun oder Atum sein – im Grunde jeder Gott, der als Schöpfer verehrt wird.“33 Wobei noch hinzugefügt werden muss, dass alle Gottheiten, die als Schöpfergötter angesehen werden, einen vielschichtigen Charakter haben und auch andere Zuständigkeiten besitzen und hier also nur ein einziger Aspekt ihres differenzierten Wesens als relevant erachtet wird. Eine anthropozentrische Schöpfungsvorstellung wird erstmals ca. 2000 v.Chr. in der Lehre für Merikare dargelegt. Gott – der nicht explizit genannt wird – hat alles dem Menschen, der sein Ebenbild ist, zuliebe geschaffen. Es ist die wohleingerichtete Welt, die hier im Mittelpunkt steht, wie sie auch in der „Naturlehre“ von CT 80 und verschiedenen Hymnen bis hin zu Echnaton geschildert wird.34 Es wird die Sorge des Sonnengottes und seine Liebe zur Menschheit geschildert. Er hat alles für den Menschen geschaffen. Nicht nur Himmel, Erde, Tiere, Pflanzen, sondern auch Tempel, damit sie ihm nahe sein können, und den Zauber zu ihrem Schutz. Man sieht, die Schöpfung umfasst ein weites Gebiet, das für unser Empfinden in gewissen Aspekten gar nicht mehr zur göttlichen Schöpfung zu
31 32 33 34
E. Hornung, Der Eine, 155, Anm. 8. E. Hornung, op. cit., 156-157; ÄHG 87, passim. E. Hornung, op. cit., 157-158. Ausführlich bei J. Assmann, Re und Amun, 170-175.
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zählen ist. Im Gegenteil – Zauber wird in unserer heutigen Kultur als negativ und verwerflich angesehen. 35
Wohlversorgt sind die Menschen, das Vieh Gottes. Um ihretwillen hat er Himmel und Erde geschaffen und für sie den Gierigen des Wassers vertrieben. Er hat die Luft geschaffen, damit ihre Nasen leben können. Seine Abbilder sind sie, aus seinem Leib gekommen. Er geht um ihretwillen am Himmel auf, für sie hat er die Pflanzen geschaffen, Vieh, Vögel und Fische, um sie zu ernähren. Er hat seine Widersacher getötet und (sogar) seine eigenen Kinder verringert, 36 weil sie planten sich zu empören. Für sie schafft er das Licht und fährt am Himmel um sie zu sehen. Er hat sich eine Kapelle errichtet zu ihrem Schutz, und wenn sie weinen, so hört er. Er hat für sie Herrscher gebildet im Ei, Machthaber, den Rücken des Schwachen zu stützen. Er hat ihnen den Zauber geschaffen, Waffen, dem Schlag des Unheils zu wehren, über dem gewacht wird bei Tag und Nacht. Er hat die Aufrührer unter ihnen getötet, wie ein Mann seinen Sohn züchtigt, dessen Bruder zuliebe. 37 Gott kennt jeden Namen.
35
36 37
Gott als Hirte und die Menschen als (Klein)vieh Gottes ist eine häufig verwendete Metapher. So spricht. z.B. in der 5. Stunde des Pfortenbuches Horus zu diesem Vieh des Re (d.h. den Menschen). D. Müller, Der gute Hirte. Ein Beitrag zur Geschichte ägyptischer Bildrede, ZÄS 86 (1961), 126-144. Im Mythos von der Himmelskuh wird die Empörung der Menschen gegen Re geschildert, siehe unten Anm. 86. Übers. nach J.F. Quack, Studien zur Lehre des Merikare; GOF 23, Wiesbaden 1992.
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Später wird die Gottebenbildlichkeit des Menschen sogar noch präzisiert: Die Menschen sind Ebenbilder Gottes in ihrem Brauch, einen Mann mit seiner Antwort zu hören. Nicht der Weise allein ist sein Ebenbild, während die 38 Menge wie lauter Vieh wäre.
Der berühmte „Monolog des Allherrn“ berichtet dann von dessen Schöpfungstaten:39 Ich habe viererlei Vollendetes getan im Inneren des Horizont-Tores. Ich habe die vier Winde geschaffen, damit jedermann atmen kann in seinem Lebensraum. Das ist eines davon. Ich habe die grosse Flut geschaffen, damit der Arme wie der Reiche sich ihrer bemächtige. Das ist eines davon. Ich habe jedermann wie seinesgleichen geschaffen und nicht befohlen, dass sie (die Menschen) Unrecht (jsft ) tun. Aber ihre Herzen (d.h. ihr eigener Wille) haben das, was ich angeordnet habe, verletzt. Das ist eines davon. Ich habe veranlasst, dass ihre Herzen den Westen (d.h. das Totenreich) nicht vergessen können, damit den Gaugöttern Opfer dargebracht werden. Das ist eines davon. Ich habe die Götter entstehen lassen aus meinem Schweiss, 40 aber die Menschen aus den Tränen meiner Augen.
Hier ist noch deutlicher als bei Merikare auch der Gedanke einer Theodizee enthalten. Nach der eigentlichen Schöpfung von Luft und Wasser, die allen Menschen gleich zur Verfügung stehen, folgt jedoch ein neuer Gedanke. Aller Herzen sind zwar gleich geschaffen worden, aber es gibt einige, deren Herzen seinem Gebot zuwiderhandeln. 38
39 40
Ani, 10,15. J.F. Quack, Die Lehren des Ani. Ein neuägyptischer Weisheitstext in seinem kulturellen Umfeld, OBO 141, Freiburg und Göttingen 1994. B. Ockinga, Die Gottebenbildlichkeit des Menschen im Alten Ägypten und im Alten Testament, Wiesbaden 1984. Allerdings ist in Ägypten mit „Ebenbild“ und „Sohn Gottes“ in den meisten Fällen der Herrscher gemeint. CT Spruch 1130. „Mensch“ rmṯw und „Tränen“ rmjt bilden im Ägyptischen ein Wortspiel. Eine Analogie findet sich in der 5. Stunde des Pfortenbuches.
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Die Frage, wie das Böse in die Welt kommt, wenn Gott doch gut ist, bewegte offenbar auch den Ägypter. Dazu ist das Gewärtigen des Totenreichs – und das damit verbundene Sein im zweiten Leben – im ständigen Gedenken, auch zum Wohle der Götter, denen geopfert wird. Zur Schöpfung gehört auch der Name. Kennt man den wahren Namen eines Gottes, so hat man Macht über ihn. Dies ist in Ägypten anschaulich in der Geschichte von der „List der Isis“ geschildert. Wird in einem Text der Name eines Menschen ausgemerzt, so wird dieser dem zweiten, endgültigen Tod anheimgegeben. Symbolhaft für das Beleben durch die Stimme (d.h. das Wort bzw. den Namen) steht der „Grosse Gackerer“, der als Form des Schöpfergottes gilt. Der Schrei dieses Urvogels beendet die Stummheit der Welt vor der Schöpfung und ist die erste Kommunikation mit dem noch Ungeschaffenen, aber zu Schaffenden. Die Trennung von Ländern und Sprachen erfolgt später wie auch die „Öffnung“ des Lichts in der Finsternis und die Gestaltung des Lebens durch Geburt und Tod. Der Urgott ist allein, aus sich heraus schafft er. Alles Seiende entsteht aus Einem, der wiederum durch Masturbation oder Selbstbegattung den Schaffensprozess in Gang bringt. Geburt ist das zweite Schlüsselwort der Schöpfung. Diese Vorstellung ist selbst noch in der Amarnazeit anzutreffen. In dem berühmten Sonnenhymnus heist es: Der den Samen sich entwickeln lässt in den Frauen, der Wasser zu Menschen macht; der den Sohn am Leben erhält im Leib seiner Mutter und ihn beruhigt, indem er Tränen stillt; Amme im Mutterleib, der Luft gibt um alles zu bele41 ben, was er geschaffen hat.
Allen Vorstellungen aber ist gemeinsam: der ägyptische Schöpfergott schafft am Anbeginn in vollkommener Weise, ohne irgendwelche Vorstufen, vielmehr in einem grossen Wurf und einem 42 vorher konzipierten Plane folgend.
41 42
ÄHG 92, 59-64. E. Hornung, Verfall und Regeneration, Eranos Jahrbuch 46 (1977), 415.
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2.2. Chnum als Schöpfergott
Die allgemein bekanntesten Schöpfergottheiten sind Atum, Amun und Ptah, die bei den jeweiligen Schöpfungsvorstellungen behandelt werden. Recht bekannt und bedeutend ist noch Chnum, ein handelnder Schöpfergott. Er schafft jedoch nahezu ausschliesslich den Menschen. Beachtenswert dabei ist, dass nicht der Mensch als Gattung, sondern jeder einzelne geschaffen wird. Im Totentempel der Königin Hatschepsut von Deir el Bahari ist das bekannteste Bild dieser Vorstellung. Bei der Geburt des Gottkönigs werden das Kind und sein Ka von Chnum auf der Töpferscheibe getöpfert. „Chnum, der sehr grosse Gott, der Götter und Menschen (als Töpfer) geformt hat, der dieses Land mit seinen Händen gegründet hat.“ 43 Chnum ist der Gott, der „alles was existiert, mit seinen Händen gemacht hat:“44 Der römische Tempel von Esna, der aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. stammt und Chnum und Neith geweiht war, macht mit der ägyptischen Schöpfungslehre von Esna (Latopolis) bekannt, die als einzige Welt- und Menschenschöpfung unterscheidet. Chnum besitzt in ihr eine weit über seine früheren Aufgaben hinausgehende Bedeutung, wahrscheinlich durch seine Verbindung mit Re. Du bist der Meister der Töpferscheibe, dem es gefällt auf der Scheibe zu bilden, der wohltätige Gott, der das Land belebt, der die Keime der Erde (miteinander) in Berührung bringt… Du bist der Allmächtige…und du hast die Menschen auf der Scheibe gebildet, du hast (die Götter) erschaffen, Kleinvieh und Grossvieh hast du gestaltet, alles hast du auf deiner Scheibe gebildet, täg45 lich in deinem Namen Chnum der Töpfer.
Aus den zahlreichen kosmogonischen Texten von Esna seien zwei kryptographische hervorgehoben, die nahezu ausschliesslich mit Widdern, resp. mit Krokodilen geschrieben sind. Der Widder ist das Tier des Chnum. Ersterer richtet sich an Chnum-Re den Herrn von 43 44 45
A. Badawi, Der Gott Chnum, Diss. Berlin 1937, 53. Ibid., 54. S. Sauneron, J. Yoyotta, Ägyptische Schöpfungsmythen, in: M. Eliade et al. (Hg.), Schöpfungsmythen, 94.
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Esna und preist den grossen lebenden Widder. Letzterer wendet sich an das „Oberhaupt der Götter und Menschen Chnum-Re, der Herr des Feldes.“ 46
2.3. Weltentstehungsvorstellungen
Verschiedene Orte Ägyptens haben ihre eigenen Vorstellungen der Weltenstehung, was nicht ausschliesst, dass einzelne dieser Ideen sich gegenseitig beeinflusst haben und miteinander zu neuen verbunden wurden. So haben wir ausführlichere Erzählungen von der Weltentstehung in Heliopolis, Memphis und Hermopolis. Daneben sind jedoch zahlreiche weitere Vorstellungen beispielsweise aus Theben oder Esna bekannt. Als Beispiel für eine weitverbreitete Vorstellung kann der Urhügel stehen. Die als Folge des Sommermonsuns in Äthiopien und dem Sudan jährlich wiederkehrende Nilflut war Grundlage des Lebens in Ägypten. Wenn bei ihrem Zurückweichen allmählich das Land aus der schier unendlichen Weite der Nilflut /des Urgewässers wieder auftauchte, hatte der Ägypter eine ihm gut bekannte Weltentstehungsvorstellung plastisch vor Augen. Nach der Überlieferung kam aus dem Urgewässer Nun als erstes Land der Urhügel hervor, auf dem die Sonne aufgeht. Er war Schauplatz der eigentlichen Schöpfung durch das Urei, den Sonnengott oder andere Schöpfergötter. Anschaulich wird diese Vorstellung bei dem Sonnengott auf der Blüte.47 Bei diesem Bildmotiv sitzt das Sonnenkind in dem Kelch einer Blüte des Urlotos, die aus dem Urgewässer auftaucht. Der Urhügel wird vornehmlich mit Heliopolis verbunden. Der Urgott Atum selbst erscheint als Urhügel, bzw. als dessen Erscheinungsform, als Benben-Stein. Bereits in den Pyramidentexten wird Atum direkt als Hügel angesprochen:
46 47
C. Leitz, Die beiden kryptographischen Inschriften aus Esna mit den Widdern und Krokodilen, SAK 29, Hamburg 2001, 252-276. H.A. Schlögl, Der Sonnengott auf der Blüte, AH 5, Basel-Genf 1977.
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Gruss dir Atum, Gruss dir Chepre, Selbstentstandener. Du bist hoch in deinem Namen ‚Hügel‘. Du entstehst in diesem deinem Namen ‚Entstehender‘ 48 (Chepre).
In Memphis ist die chthonische Gottheit Tatenen ein personifizierter Urhügel. Tatenen lebt als Beiwort des Schöpfergottes Ptah-Tatenen weiter. Hermopolis besitzt einen Urhügel, der durch die Kosmogonie der dort beheimateten Achtheit eine wichtige Rolle spielt. Gut bekannt als Orte der Weltentstehung sind noch der Kenotaph Sethos I. in Abydos, der einen Urhügel nachbildet, oder Armant, das „oberägyptische Heliopolis“, und Esna, die Heimat des Schöpfergottes Chnum, um nur die wichtigeren Orte zu anzuführen, die einen Urhügel besitzen. Lokale Traditionen vereinen sich bei den zahlreichen Orten, die einen „heiligen“ oder „göttlichen“ Hügel ihr eigen nennen. Eng verbunden mit dem Urhügel sind die Tempel, denn in ihnen vollzieht sich täglich die Weltschöpfung neu. Daher können sie als Bild des Urhügels angesehen werden. Die häufige Darstellung des Urhügels als getreppte Erhöhung findet ihr Pendant in der Anlage des Tempels, dessen Räume langsam ansteigen bis sie im höchstgelegenen Raum, dem Allerheiligsten, enden. Wenn der König, der als Stellvertreter Gottes auf Erden gilt, die Schöpfung nachvollzieht, steigt er auf den getreppten Thronsockel, der für den Urhügel steht.49 Auf Göttergemeinschaften hingegen basieren zwei der bekanntesten Schöpfungsvorstellungen.
2.4. Die Neunheit von Heliopolis
Atum Schu – Tefnut Geb – Nut Osiris – Isis Seth – Nephthys 48 49
Pyr. Spruch 1587. Grundlegend: A. de Buck, De Egyptische Voorstellingen betreffende den Oerheuvel, Leiden 1922.
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An der Spitze dieser Göttergemeinschaft steht der Schöpfer- und Urgott Atum. Sein Name ist eine Partizip-Bildung des Verbums tm, was sowohl „nicht sein“ als auch „vollendet sein“ bedeuten kann. Der Name dieses Gottes wird daher in einer grossen Bandbreite von „Der Vollendete“ bis zu „Der noch nicht Vollendete“ gedeutet.50 Hornung hat „Der (noch) Undifferenzierte“ vorgeschlagen, weil diese Übersetzung beide Aspekte in sich vereint. Atum ist derjenige Gott, der „anfangs alles war“, vollständig im Sinne einer undifferenzierten Einheit und zugleich nichtseiend, weil das Sein erst mit seinem Schöpfungswerk offenbar wird.51 Er trägt als der Schöpfergott, der vor allem Geschaffenen existierte, die Vollständigkeit der später von ihm ausgehenden Schöpfung als Programm in sich. Er könnte daher ein künstliches theologisches Produkt sein, das sich im Laufe der Zeit verselbständigt hat um im Rahmen seiner vorgegebenen Bedeutung allmählich sein komplexes Wesen zu entfalten.52 Atum kann anthropomorph, als Kompositgestalt oder zoomorph dargestellt werden. Bei letzteren Erscheinungsformen ist diejenige als Aal erwähnenswert, denn diese steht dann für die noch nicht gestaltete feuchte Urmaterie, die jedoch bereits die Potenz des Werdens beinhaltet.53 Atum ist Universal- und Weltengott, aber in erster Linie ist er Ur- und Schöpfergott, wie deutlich gesagt wird: 54
Ich aber war alleine mit Nun in Trägheit; ich konnte keinen Ort finden, an dem ich hätte aufstehen können, ich konnte keinen Ort finden, an dem ich mich hätte setzen können, bevor noch Heliopolis gegründet war, in dem ich hätte weilen können, bevor noch mein Sitz (?) geknüpft war, auf den ich mich
50
51 52 53 54
Zur Deutung des Namens Atum liegen etliche, zum Teil sehr verschiedene Interpretationsversuche vor. Einen Überblick gibt K. Myśliwiec, Studien zum Gott Atum 2, HÄB 8, Hildesheim 1979, 78-83. E. Hornung, Der Eine, 62-63. W. Barta, Untersuchungen zum Götterkreis der Neunheit, MÄS 28, BerlinMünchen 1973, 79-80. K. Myśliwiec, Studien zum Gott Atum 1, HÄB 5, Hildesheim 1978, 131-138, Taf. 35-41. Das Wasser der Nilüberschwemmung wird als träge ruhend charakterisiert im Gegensatz zum fliessenden Nil.
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hätte niederlassen können, bevor ich noch Nut geschaffen hatte, damit sie über mir sei, bevor noch die erste Generation geboren war, bevor noch die 55 urzeitliche Neunheit entstanden war.
Atum ist so zwingend der Selbstentstandene oder derjenige, „der sich selbst geschaffen hat“56 Mit dem Auftauchen des Urhügels aus dem Nun beginnt er sein Schöpfungswerk, denn er ist der, aus dem einst alles hervorkam: „Mögest Du stehen (als König) über ihm, diesem Lande, das aus Atum hervorgekommen ist, dem Speichel, das aus dem Käfer hervorgekommen ist“57, und er ist „Schöpfer dessen, was existiert.“58. Nach seinem Befehl verläuft das Leben von Mensch und Tier, denn alles unterliegt dem Schöpferwort von Atum.59 In sinnlicher Weise bringt Atum in Heliopolis das erste Götterpaar durch Masturbation zur Welt. Seine Schöpfungswerkzeuge sind Hand und Phallus, bzw. Finger und Same. In den Pyramidenexten heisst es: „Atum, der zum Selbstbefriediger geworden ist in Heliopolis, er nahm seinen Phallus in seine Faust, um damit Lust zu erregen. Ein Geschwisterpaar ward erzeugt, Schu und Tefnut.“60 Noch in der Zeit Alexanders, in dem sogenannten Apophisbuch, ist diese Vorstellung geläufig: „Ich begattete in meine Faust, wodurch mir mein Herz in meine Hand kam und Same (d.h. Nachkommen) aus meinem Mund fiel.“61 Damit wird die Einheit mit einer Zweiheit verknüpft. Ich entstand als einziger Gott, (aber) drei Götter waren bei mir, als die beiden 62 Götter in diesem Land entstanden waren.
55 56 57 58 59 60 61 62
CT Spruch 80,33-34; vgl. auch TB Spruch 78, Zeile 47 und TB Spruch 17,1. Weitere Beispiele bei K. Myśliwiec, Studien 2, 142-143. Beispiele bei K. Myśliwiec, op. cit., 175-176. Pyr. Spruch 199a. TB Spruch 79, CT Spruch 80, 42-43. Pyr. Spruch 1248a-d. Übers. nach H. Kees, Der Götterglaube im Alten Ägypten, Berlin 31977, 219. pBremner-Rhind 26,22 und 28,27, siehe oben, Anm. 11 und 22. pBremner-Rhind 21,1-2 und 28,26.
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In einem Sargtext heisst es: …als er (Atum) Schu und Tefnut in Heliopolis gebar, als er Einer war und zu 63 Dreien wurde.
Der entscheidende Schöpfungsvorgang wird somit durch die Entstehung der Zweiheit aus der Einheit charakterisiert. Aus dem geschlechtslos-einen Urgott geht ein geschlechtlich differenziertes Götterpaar hervor, das wiederum geschlechtlich differenzierte Paare hervorbringt und damit Zeugung und Geburt in Gang setzt.64 Erst jetzt ist die Schöpfung vollzogen, und so kann man mit Fug und Recht schreiben, dass Atum bereits existierte, „ehe noch zwei Dinge in diesem Lande entstanden waren.“ 65 Diese Dualität äussert sich in dem Entstehen der verschiedenen Geschlechter. Atum formt bei Tefnut die Vagina und bei Schu den Phallus.66 Die in Atum latent angelegte Doppelgeschlechtlichkeit tritt so zutage und ermöglicht dadurch erst den Fortgang der Schöpfung und das Verlassen der Urzeit. Diese ersten Götter Schu und Tefenet/Tefnut, die aus dem Munde des Urgottes ausgehustet jšš bzw. ausgespuckt tf werden, gehören noch zur Urzeit. Sie stehen in enger Verbindung zu Atum. Bei der „Geburt“ beider Gottheiten dürften Paronomasien, die der Ägypter generell gerne anwendet, eine grosse Rolle gespielt zu haben. „Du Atum-Chepri kamst hoch als Urhügel, du quollst auf als Benben im Phönixhaus zu Heliopolis. Du spucktest aus als Schu, du hustetest aus als Tefnut, du legtest deine Arme um sie als Arme des Ka, damit dein Ka in ihnen sei.“67 Schöpfung ist hier ein Emanationsprozess, vor allem in Form körperlicher Ausscheidungen. Der Name Schu wird gewöhnlich von šw „leer sein“ abgeleitet und als Personifikation der Leere bzw. des leeren Luftraumes ange63 64 65 66 67
CT Spruch 80. E. Hornung, Der Eine, 181. Vgl. H. Grapow, op. cit., siehe oben Anm. 8. Pyr. Spruch 2065b. Pyr. Spruch 1652a-1653a
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sehen. Genauso gut könnte der Name jedoch von šw „das Trockene“ bzw. dem Verbum šwj„trocken werden“ abgeleitet sein. Schu könnte dann präziser als Personifikation des leeren, trockenen Luftraumes betrachtet werden. Zu dieser Annahme fügt sich die seit den Sargtexten bekannte Betrachtung von Schu als Licht- und Sonnengott,68 der von sich sagen kann: „denn ich bin der, der für es (das Sonnenauge) die Finsternis erleuchtet hat.“69 Tefnut bleibt eher farblos, es gibt kaum Texte, die über ihr Wesen Auskunft geben. Sie wird vom Alten Reich bis zur Spätzeit in erster Linie als Partnerin von Schu angesehen. Bedeutend ist sie als Tochter von Re (Re-Atum), denn sie ist so die erste weibliche Gottheit und Gebärerin der Götter bzw. der Neunheit.70 Als Tochter des Re (Re-Atum) gerät sie in den Sagenkreis um das Sonnenauge. Ihr Wesen äussert sich am ehesten in Verbindungen mit anderen Gottheiten und da wiederum besonders als Hathor-Tefnut in dem Sagenkreis um das zürnende Sonnenauge, das in der Ferne ist. Mythologisch verkörpert sie die Eigenschaft dieses Auges, sich zu entfernen und wieder zurückzukehren. Galt Schu als rechtes, als Sonnenauge des Sonnengottes Re, wird Tefnut als linkes, als Mondauge angesehen. Deine beiden Augen an deinem Kopf, die Abend- und die Morgenbarke, die dir Atum gegeben hat. Dein rechtes Auge ist die Abendbarke, dein linkes Auge ist die Morgenbarke, deine beiden Horusaugen, die aus Atum hervorgin71 gen; das sind Schu und Tefnut.
In ihrer Gestalt als Löwin, die weit in der Ferne haust, verkörpert Tefnut die Angst und Unsicherheit bei der Dunkelheit in Neumondnächten und die Freude in hellen Vollmondnächten.72 Im Laufe der Zeit nähern sich jedoch die beiden Augen in ihrem Wesen an. Das 68 69 70 71 72
Ausführlich bei W. Barta, op. cit., 86-87. CT Spruch 76. W. Barta, op. cit., 94. H. Kees, Ein alter Götterhymnus als Begleittext zur Opfertafel, ZÄS 57 (1922), 92-120, hier 108. P. Derchain, Hathor Quadrifrons, Istanbul 1972, 45.
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Auge, das sich wütend entfernte, wird wegen seiner Glut zum Sonnenauge und damit wird auch Tefnut zum Sonnenauge. Schu hingegen hat nun vom Gott Onuris die Aufgabe übernommen, das erzürnte Auge zurückzubringen. Es wurde nun vorgeschlagen73, ihren Namen von einem Terminus tfn abzuleiten, der eine Deformation von Metallgegenständen bezeichnet.74 Wird der Name Tefenet als „Die sich Verformende“ angesehen, ergibt sich eine beschreibende Bezeichnung des Mondes, der sich bekanntlich ständig wandelt und damit verformt. Wenn man, wie oben gesagt, für Schu als Ursprung den terminus šwj „trocken werden“ annimmt und die Verbindung zur Sonne hinzuzieht, ergibt sich eine neue Betrachtung dieser beiden Gottheiten, die sich einleuchtend in die Schöpfungsgeschichte einfügt. Sie verkörperten demnach den Tag und die Nacht, das Licht und die Finsternis und ständen für die Dimension der Zeit. Einer kann nicht ohne den anderen existieren, Licht definiert sich durch Finsternis, Tag durch Nacht und umgekehrt. Schu–Tefnut wären so als Prinzip des Dualismus, als sich ergänzendes Paar anzusehen. Tefnuts Rolle im Kosmos wäre einerseits das Prinzip des Wandelbaren, wie es der Mond verkörpert, andererseits das Prinzip der Ergänzung, keine Nacht ohne Tag usw. Wenn Schu und Tefnut für die Zeit stehen, dann steht die nächste Generation, die Kinder von Schu und Tefnut, für den Raum zwischen Himmel und Erde. Geb, dessen Name etymologisch nicht zu deuten ist, verkörpert die Erde, wie zahllose Texte belegen. „Geb“ wird später sogar in gehobener Sprache zu einem Ausdruck für Erde und wird dort metonymisch als Synonym für das gewöhnliche „ta“ verwendet. Als „Erde“ verkörpert er ein Grundelement des Kosmos. Auf Geb wächst alles, wie z.B. Getreide. Wasser quillt aus ihm hervor, und in ihm befinden sich z.B. kostbare Steine. So liegt es nahe, dass all diese Dinge Geschenke dieses Gottes sind. Nie wird er jedoch zum Fruchtbarkeitsgott. Möglicherweise war Geb nicht in Heliopolis daheim, sondern wurde dorthin verpflanzt und Teil des dortigen 73 74
U. Verhoeven , Art. Tefnut, LÄ VI, Wiesbaden 1986, 300. R. Hannig, Grosses Handwörterbuch Ägyptisch-Deutsch, Mainz 1995, 93.
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theologischen Systems. Dies geschah offenbar nicht ohne Schwierigkeiten, denn er galt wegen seiner ausserhalb erworbenen Geltung immer noch als oberster Götterherr, dessen Macht sich andere Götter unterordnen mussten. Er wird sogar zum „Vater der Götter“75. Nach einem alten Mythos zeugt Geb mit Nut den Sonnengott Re. Wahrscheinlich musste Geb bei der Aufnahme in die Neunheit von Heliopolis dem Sonnengott weichen und wurde in die dritte Generation versetzt. Die Vorstellung, dass der Sonnengott am Abend in Geb eintritt und am Morgen aus seinem Scheitel wieder hervorkommt, gehört in diesen Kontext.76 Geb kann als Verbindung zwischen „Natur und Geschichte“ angesehen werden, denn er ist auch urzeitlicher Herrscher, und der König sitzt als Göttererbe auf dem Thron des Geb.77 Nut verkörpert den Himmel, und es gilt wie bei ihrem BruderGatten Geb, ihr Name ist etymologisch nicht zu erklären. Wie „geb“ wird auch „nut“ bereits in den Pyramidentexten metonymisch für Himmel verwendet, als Synonym für das gebräuchliche „pet“. Ursprünglich könnte sie jedoch als weibliches Pendant zu Nun, dem Urgewässer, gegolten haben. Diese Vorstellung lebt in den Jenseitsführern des Neuen Reiches weiter.78 Es ist übrigens nicht nur bei diesen Gottheiten, sondern auch bei anderen kosmischen Gottheiten, wie z.B. Mond und Sonne bemerkenswert, dass die jeweilige Gottheit keinen mit dem Gestirn, bzw. kosmischen Element übereinstimmenden Namen trägt. Nut ist schon in den Pyramidentexten die Sonnenmutter, die Re täglich gebiert,79 nachdem sie ihn am Abend verschluckt hat80, und in den Sargtexten gebiert sie sogar auch den Mond. Daneben gebiert sie
75 76 77 78 79 80
W. Barta, op. cit., 97. Ausführlich bei W. Barta, op. cit., 96. H. Kees, Götterglaube, 227. Ausführlich bei W. Barta, op.cit., 100-101. Pyr. Spruch 1688b. Jenseitsführer des Neuen Reiches zeigen dies in Bild und Wort, z.B. im Grab von Ramses VI.
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auch als „die mit tausend Seelen“81 bezeichneten Sterne (d.h. Seelen) jeden Abend von neuem. Sie gebiert im Osten, im Westen gehen in ihren Mund Sonne, Mond und Sterne ein. In Darstellungen befinden sich also „ihr Unterleib im Osten, ihr Haupt im Westen“.82 Ikonographisch wird sie als Frau dargestellt, die mit ihrem Leib den Himmel bildet und mit den Beinen und Armen auf ihrem Gatten Geb steht.83 Schu hatte die beiden ja einst auf Befehl seines Vaters Atum getrennt und trägt sie seitdem als Himmelstütze mit ihren Gestirnkindern.84 Das Verschlingen der Gestirne führt dann zum Bild der Nut als Mutterschwein, das ihre Jungen auffrisst.85 Daneben ist Nut auch gerne in Gestalt einer Kuh dargestellt, an deren Leib die Sterne entlanglaufen. Diese Himmelskuh trägt den Sonnengott Re und wird von Schu gestützt.86 Bemerkenswert ist, dass sowohl Schu und Tefnut als auch Geb und Nut komplementär sind und sich nicht die Frau dem Mann unterordnet. Die Deutung Sonne – Mond für Schu und Tefnut entspricht bei dieser Sichtweise der Beziehung von Erde zu Himmel. Beide sind eindeutig komplementäre Paare. Bei ersterem werden beide Partner absolut gleichwertig von Atum erschaffen und sind auch in ihrer Beziehung zueinander gleichwertige Partner. Entsprechendes gilt auch vom zweiten Paar. Erst die Ergänzung der Verkörperungen der beiden Paare und die Ergänzung der beiden Geschlechter machen das Vollendete aus und offenbaren den (über-) 81 82 83
84 85
86
Pyr. Spruch 785b: „1000 sind ihre (der Göttin) Seelen“. pCarlsberg I, 4, 34; H.O. Lange, O. Neugebauer, Papyrus Carlsberg Nr. 1, ein hieratisch-demotischer kosmologischer Text, Kopenhagen 1940. Zu sehen z. B. beim Hathorkiosk im Tempel von Dendera oder auf dem Totenpapyrus des Neskapaschuti aus der 21. Dynastie im Louvre (Inv. 17401). Diese Gedanken ausführlich bei H. Kees, Götterglaube, 226. H. Grapow, Die Himmelsgöttin Nut als Mutterschwein, ZÄS 71 (1935), 4547. H. Frankfort, The Cenotaph of Seti I at Abydos, EES 39, London 1933, Taf. 84, Zeile 4. Ausführlich beschrieben im Mythos von der Himmelskuh. E. Hornung, Der ägyptische Mythos von der Himmelskuh, OBO 46, Freiburg 1982, 41-44 (Übersetzung) und 81-87 (Kommentar).
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lebensnotwendigen Dualismus. Mit Geb und Nut schliessen die Verkörperungen der grossen Erscheinungen des Kosmos. Nach H. Kees liegen in der Neunheit Beziehungen vor, die zeigen, dass gewisse Götter berücksichtigt werden mussten. Ungewöhnlich ist, dass Schu, die Luft, als Vater von Himmel und Erde gilt und so seine Kinder trennen muss. Schu ist eigentlich in der falschen Generation, er gehört viel enger zu Geb und Nut, mit denen er die Dreiheit Erde – Luftraum – Himmel bildet, als zu Atum. Für das Weltbild mit seinen Gestirnsbeobachtungen wären eigentlich Geb und Nut die wichtigeren Gottheiten.87 Geb und Nut, Erde und Himmel haben vier Kinder, Osiris, Seth, Isis und Nephthys. Isis ist die Gattin des Osiris, der ursprünglich ein Fruchtbarkeitsgott war, und Nephthys die des Seth, des Gottes der Wüste. Man könnte ersteres Paar als Verkörperung des fruchtbaren Landes und des Nils und letzteres als Gottheiten der Wüste betrachten. Im Kontext der heliopolitanischen Weltentstehung ist davon jedoch nicht die Rede. Die Mythe erklärt diese vier zwar als Kinder der Nut, aber sie verkörpern keine Weltgötter und Naturgötter mehr, wie eigentlich zu erwarten wäre, sondern sind eher als Heroen der Urzeit, des „Goldenen Zeitalters“ anzusehen und gehören zum Osiriskreis, der nicht in Heliopolis beheimatet war. Sie waren jedoch grosse Gottheiten und fanden wohl deshalb Eingang in die Göttergemeinschaft von Heliopolis. Dazu fehlt Horus, der Sohn von Osiris und Isis in dieser Gemeinschaft. Dies zeigt, dass sich System und Mythe nicht decken. Erst in der Erzählung der Entstehung der fünf Schalttage ist Horus miteinbezogen. Diese fünf Tage gelten als Kinder der Nut und Horus wird hier neben Osiris, Isis, Seth und Nephthys als Kind der Nut angesehen, rückt also sogar eine Generation vor. Dies nur kurz skizzierte Beispiel dürfte zeigen, dass die Schöpfungsvorstellungen Ägyptens nicht aus einem Guss entstanden sind, sondern dass in ihnen verschiedene Ansichten verschiedener Orte und Göttersysteme
87
Vgl. H. Kees, op. cit., 227.
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miteinander verwoben wurden und erst viel später zu Mythen geformt wurden.
2.5. Die Götterlehre von Memphis
Weiterentwickelt und vermischt mit anderen Schöpfungslehren werden die Vorstellungen der Schöpfungslehre von Heliopolis in dem sog. Denkmal Memphitischer Theologie.88 Es entstand wohl kaum vor der Ramessidenzeit,89 auch wenn es angibt, nach einem verderbten Papyrus des Alten Reiches unter Schabaka (715/13 – 700/698) neu in Stein gemeisselt worden zu sein. Leider hat dieser sog. Schabaka-Stein als Mühlstein gedient, so dass der Text grosse Zerstörungen aufweist. Dies ist umso bedauerlicher, da er einer der wenigen ist, die eine methodische Entstehungsgeschichte erzählen. Ptah von Memphis ist ursprünglich ein Handwerkergott, der das Urei auf der Töpferscheibe schafft. Er setzt die im Herzen ersonnene und durch das Wort (!) Wirklichkeit gewordene Schöpfung um.90 Ptah-Tatenen ist hervorgegangen aus den Urgöttern und verkörpert den „Raum“. Tatenen steht für die Erde, die sich erhebt und damit für den Urhügel. Im sog. Berliner Ptahhymnus heisst es von Ptah: Der sich selbst zeugte, da noch kein Gewordenes war, der die Erde formte nach dem Ratschluss seines Herzens; der entstand in seinen Verkörperungen, Vollkommener, der alles was ist, hervorbrachte, Erzeuger, der alles Seiende schuf. …Der seinen eigenen Leib baute, da der Himmel und die Erde noch 88
89 90
Heute noch grundlegend: H. Junker, Die Götterlehre von Memphis (Schabaka-Inschrift), APAW 23, Berlin 1939. Im ersten Teil des Gesamttextes schlichtet Geb einen Streit zwischen Horus und Seth, der zweite ist ein Auszug aus der Osirismythe und der dritte eben die Götterlehre. Das Folgende einschliesslich Übersetzung basiert auf dieser Arbeit. H.A. Schlögl, Der Gott Tatenen, OBO 29, Freiburg 1980, 110-117, vgl. E. Hornung, Himmelskuh, 79. Vgl. H. Junker, op. cit., zu Ptah generell: M. Sandman-Holmberg, The God Ptah, Lund 1946.
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nicht entstanden, die Flut noch nicht hervorgedrungen war. …Kein Vater, der dich zeugte in deinem Entstehen, keine Mutter, die dich gebar… Du standest auf aus dem Land in seiner Trägheit und es raffte sich zusammen daraufhin, als du in deiner Erscheinungsform des Tatenen warst, in deiner Transformati91 on des Vereinigers der beiden Länder.
Ptah, der, besonders in der Verbindung mit Tatenen, schon immer als ein chthonischer Schöpfergott angesehen wurde, wird in diesem Hymnus in das thebanische System eingebunden und an die Spitze aller Götter gesetzt. Gewisse Analogien finden sich dann in der Götterlehre von Memphis. In einem demotischen Papyrus92 wird Ptah als Erdgott gesehen, der aus dem Nun hervorgeht und in der Finsternis einen Leib annimmt. Er erschafft die vier hermopolitanischen Urpaare, die sich in einem fünften, Amun und Amaunet, vollenden. Es entstehen weitere Schöpfungselemente wie die Lotosblüte. Im zweiten Teil dieses Hymnus wird er als Vater und Mutter angesehen, hervorgekommen aus dem Nun. Diese Zweigeschlechtlichkeit kann als typisches Merkmal eines Urgottes gelten. Wie auch in thebanischen Vorstellungen richtet Ptah die Welt gut für die Menschen ein. Gerste und Emmer und damit Brot werden geschaffen, und er schafft Arbeit für die Menschen, von denen diese dann leben werden. Zu berücksichtigen ist, dass hier ein sehr später Text vorliegt, der bewusst die verschiedensten heliopolitanischen, hermopolitanischen und thebanischen Vorstellungen miteinander verwebt. Solche aus einem Eklektizismus entstandene Schöpfungsvorstellungen sind in Ägypten mehrfach anzutreffen und machen für uns die Schöpfungsideen oft verwirrlich und nicht einfach zu verstehen. In der Götterlehre von Memphis selbst wird eingangs „Ptah auf seinem grossen Thron“ als Allgott genannt, in dem verschiedene Götter Gestalt haben, sie sind Pah selbst, er hat sie nicht geschaffen. Noch erhalten ist:
91 92
ÄHG 143, Zeile 21-24, 61-62 und 66-67. W. Erichsen, S. Schott, Fragmente memphitischer Theologie in demotischer Schrift (Pap. demot. Berlin 13603), Wiesbaden 1954.
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Sigrid Hodel-Hoenes Nun – der Vater, der den Atum [erzeugte], Naunet – die Mutter, die den Atum gebar, Ptah, der Grosse – der Herz und Zunge der Götterneunheit ist.
H. Junker93 ergänzt als weitere Götter, die in Ptah Gestalt haben, Horus und Thot. Die letzte Zeile dieses Abschnitts lautet „Ptah [der Lotos] – Nefertem an der Nase des Re alle Tage“. Bemerkenswert ist, dass in dem „Denkmal Memphitischer Theologie“ als Eltern des Atum, des Schöpfergottes von Heliopolis, Nun und Naunet genannt werden, die in der Lehre von Hermopolis zu finden sind. Dies ist mythologisch zu erklären, denn zu Anbeginn existierten nur der Urozean Nun und seine Gefährtin Naunet, der Gegenhimmel oder der unterirdische Himmel. Aus dem Urozean entsprang der Gott Nefertem als eine Lotosblume, aus deren Blüte der Sonnengott hervorging. Dieser schuf Sia die Verkörperung der Erkenntnis, und Hu, die Verkörperung des Befehls. Das bedeutet, er schuf durch seinen Verstand und seinen Befehl die Welt. Der aus der Lotosblüte hervorgehende Gott wird zumeist Re genannt, kann jedoch auch Atum sein. Die enge Verbindung von Re mit Atum zu Re-Atum leistet dieser Annahme Vorschub. Ob diese Vorstellung wirklich in Hermopolis entstanden sind, wie man dort behauptet, ist jedoch nicht mehr festzustellen. Die Gleichsetzung des Ptah mit Nun und Naunet ist grundsätzlich logisch und konsequent, wenn Ptah als der älteste Gott, als der Vater aller Götter und der Urozean angesehen wird. So wohnen die anderen Urgötter in ihm inne.94 Das zweite und dritte Hauptstück sagt, warum Ptah grösser als Atum ist, zusätzlich zu dem, was bereits im ersten Hauptstück ausgedrückt worden ist. Urgrund aller Dinge ist Ptah allein – er schafft mit Herz und Zunge, denen die Abstrakta Erkenntnis (Sia) und Ausspruch/Befehl (Hu) entsprechen, die gemäss der Lehre von Heliopolis in Atum wirken. Die beiden Glieder besitzen die Vorherrschaft über alle anderen. Der Ausspruch wird vom Schöpfergott auch benützt, wenn er seine Geschöpfe als „seine Namen“ ins Leben ruft.
93 94
H. Junker, op. cit., 39. H. Junker, op. cit., 20-25; K. Sethe, Amun, 41.
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Es hat etwas Gestalt als Herz, als Sinnbild des Atum. Es ist Ptah. Es hat etwas Gestalt als Zunge, als Sinnbild des Atum. Es ist Ptah, der sehr Grosse, da er [Leben] überwiesen hat allen Göttern und ihren Kakräften durch dieses Herz aus dem Horus hervorgekommen war als Ptah und durch diese Zunge aus der Thot hervorgekommen war als Ptah. Es haben das Herz und die Zunge Macht über alle (anderen) Glieder, auf Grund der Erwägung, dass es (das Herz) im jedem Leibe ist, dass (die Zunge) in jedem Munde ist von allen Göttern, allen Menschen, allem Vieh, allem Gewürm und (allem) was lebt – indem das Herz denkt alles, was es will und die Zunge befiehlt alles, was sie will.
So kann es im vierten Hauptstück folgerichtig heissen, dass Ptah die Neunheit durch Zähne und Lippen geschaffen hat, Atum hingegen durch Same und Hand. Seine (des Ptah) Götterneunheit ist vor ihm als Zähne und Lippen, das sind der Same und die Hände des Atum. Es entstand ja die Götterneunheit des Atum durch seinen Samen und seine Finger. Die Götterneunheit aber ist (in Wirklichkeit) die Zähne und Lippen in diesem Munde, der den Namen aller Dinge nannte, aus dem Schu und Tefnut hervorgegangen sind, der die Neunheit geschaffen hat.
Diese Passage spielt auf die oben behandelte Schöpfungsgeschichte von Heliopolis an, in der Atum als der Urgrund allen Seins gilt. Die Neunheit des Ptah unterscheidet sich – ausser eben im ersten Gott – nicht von der des Atum. Entscheidend sind Schu und Tefnut, die hier aus dem Munde von Ptah hervorgehen, sonst aber gleichfalls die Ahnen der anderen Mitglieder der Neunheit sind. Diese Abstrahierung des Schöpfungsvorganges bedeutet nun nicht eine Erhöhung oder Aufwertung. Der Ägypter fand bei dem sinnlichen Schöpfungsakt gewiss nichts Anstössiges. Die Vergeistigung ist eher als eine Weiterentwicklung und Neukreation eines Schöpfungsvorganges zu sehen, der sich bewusst von dem allgemein bekannten von Heliopolis absetzen wollte. Im fünften Hauptstück werden die äusseren Sinne Sehen und Hören den Organen Herz und Zunge dienen und die Eindrücke zur „Erkenntnis“ werden.
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Sigrid Hodel-Hoenes Das Sehen der Augen, das Hören der Ohren, das Luftatmen der Nase, sie erstatten dem Herzen Meldung. Es ist es, das jede Erkenntnis hervorkommen (entstehen) lässt; die Zunge ist es, die wiederholt, was vom Herzen erdacht wird.
Im sechsten Hauptstück wird die weitere Schöpfungstätigkeit von Ptah beschrieben. Der Abschnitt, der völlig neue Perspektiven zeigt, steht jedoch isoliert zu den anderen. So wurden alle Götter geschaffen und wurde seine Neunheit vollendet. Es entstand ja jedes Gotteswort durch das, was von dem Herzen erdacht und von der Zunge befohlen wurde. – So wurden auch die Ka-Kräfte geschaffen und die Hemuset (weibliches Pendant zum Ka) bestimmt, die alle Nahrung und alle Speisen hervorbringen durch dieses Wort,